Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit [4. ed.] 9783868549003, 9783936096521


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German Pages 451 [448] Year 2005

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Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit [4. ed.]
 9783868549003, 9783936096521

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Zygmunt Bauman Moderne und Ambivalenz Das Ende der Eindeutigkeit Aus dem Englischen von Martin Suhr

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-900-3 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 1992, Neuausgabe 2005, 2. Aufl. 2012 by Hamburger Edition ISBN 978-3-936096-52-1 © der Originalausgabe 1991 by Zygmunt Bauman First published 1991 by Politiy Press Titel der Originalausgabe: »Modernity and Ambivalence« Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Typografie und Herstellung: Jan Enns Satz aus Amsterdamer Garamont und Frutiger von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Danksagung Einleitung: Die Suche nach Ordnung

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Der Skandal der Ambivalenz Der Traum der gesetzgebenden Vernunft Der Staat als Gärtner Gärtnerische Ambitionen und der Geist der Moderne Wissenschaft, rationale Ordnung, Genozid Über Inhumanität berichten

38 41 51 57 71 81

Die gesellschaftliche Konstruktion der Ambivalenz Die Angst vor dem Unbestimmten Der Kampf gegen das Unbestimmte Mit der Unbestimmtheit leben Die Verlagerung der Last

92 97 105 111 123

Die Selbsterzeugung der Ambivalenz Ausschluß in die Objektivität Exkurs: Franz Kafka oder Die Wurzellosigkeit der Universalität Die neolithische Revolution der Intellektuellen Die Universalität der Wurzellosigkeit Die Bedrohung und die Chance

125 129

Eine Fallstudie zur Soziologie der Assimilation I: In der Falle der Ambivalenz Der Fall der deutschen Juden Die Modernisierungslogik der jüdischen Assimilation 5

140 148 154 159

166 174 178

Die Dimensionen der Einsamkeit Das wirkliche Deutschland imaginieren Scham und Verlegenheit Die inneren Dämonen der Assimilation Unbeglichene Rechnungen Das Assimilationsprojekt und Strategien der Reaktion Die letzten Grenzen der Assimilation Die Antinomien der Assimilation und die Geburt der modernen Kultur Eine Fallstudie zur Soziologie der Assimilation II: Die Rache der Ambivalenz Der Gegenangriff der Ambivalenz Freud oder Ambivalenz als Macht Kafka oder Die Schwierigkeit des Benennens Simmel oder Das andere Ende der Moderne Die andere Seite der Assimilation

189 199 207 213 221 226 238 247

255 264 275 285 292 299

Die Privatisierung der Ambivalenz Die Suche nach Liebe oder Die existentiellen Grundlagen des Fachwissens Die Verschiebung der Fähigkeiten Die Selbst-Reproduktion des Fachwissens Marktkenntnis Sich vor der Ambivalenz verbergen Die Tendenzen und Grenzen der von Experten entworfenen Welt

311

Die Postmoderne oder: Mit Ambivalenz leben Von der Toleranz zur Solidarität »Der Exorzist« und »Das Omen« oder Moderne und postmoderne Grenzen des Wissens Neotribalismus oder Die Suche nach Schutz Die Antinomien der Postmoderne

364 369

6

316 329 335 348 352 358

374 385 396

Die Zukunft der Solidarität Sozialismus: Die letzte Festung der Moderne Hat Sozialtechnologie eine Zukunft? Die politische Tagesordnung der Postmoderne

404 414 424 427

Anhang Namenregister

443

Sachregister

448

Zum Autor

452

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Danksagung

In verschiedenen Stadien meiner Arbeit habe ich von verständnisvollen kritischen Kommentaren zu verschiedenen Kapiteln oder Bruchstücken von Kapiteln dieses Buches profitiert, die von David Beetham, Bryan Cheyette, Agnes Heller, Irving Horowitz, Richard Kilminster, Ralph Miliband, Stefan Morawski, Paul Piccone, Ritchie Robertson, Gillian Rose, Nico Stehr, Dennis Warwick, Wlodzimierz Wesolowski, Jerzy J. Wiatr und vielen anderen Kollegen und Freunden stammten. Ich bin für ihre Hilfe zutiefst dankbar. Anthony Giddens’ gründliche und umsichtige Kritik spielte bei der endgültigen Fassung des Projekts eine entscheidende Rolle. Ganz besonders freue ich mich, David Roberts für seine glänzende herausgeberische Leistung danken zu können. Bei der Abfassung dieses Buches habe ich Material einiger Artikel und Rezensionen benutzt, die ich in Jewish Quarterly, Marxism Today, Sociological Review, Sociology, Telos und Theory, Culture and Society veröffentlicht habe.

Man muß auf das Ende der Geschichte warten, um das Material in seiner bestimmten Totalität zu begreifen. Wilhelm Dilthey Der Tag, an dem es eine Lektüre der Karte von Oxford geben wird, die einzige und wahre Lektüre, wird das Ende der Geschichte sein. Jacques Derrida Wer nichts als Postkarten schreibt, dem stellt sich nicht Hegels Problem, sein Buch zum Abschluß zu bringen. Richard Rorty

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Einleitung: Die Suche nach Ordnung

Ambivalenz, die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen, ist eine sprachspezifische Unordnung: ein Versagen der Nenn-(Trenn-)Funktion, die Sprache doch eigentlich erfüllen soll. Das Hauptsymptom der Unordnung ist das heftige Unbehagen, das wir empfinden, wenn wir außerstande sind, die Situation richtig zu lesen und zwischen alternativen Handlungen zu wählen. Weil die Erfahrung der Ambivalenz von Angst begleitet wird und Unentschiedenheit zur Folge hat, erfahren wir sie als Unordnung – und werfen entweder der Sprache Mangel an Genauigkeit oder uns selbst sprachlichen Mißbrauch vor. Und gleichwohl ist Ambivalenz nicht das Ergebnis der Pathologie der Sprache oder Rede. Sie ist viel eher ein normaler Aspekt der sprachlichen Praxis. Sie entsteht aus einer der Hauptfunktionen der Sprache: der des Nennens und Klassifizierens. Ihr Umfang wächst in Abhängigkeit von der Effektivität, mit der sie diese Funktion erfüllt. Ambivalenz ist deshalb das alter ego der Sprache und ihr permanenter Begleiter – ja, ihr Normalzustand. Klassifizieren bedeutet trennen, absondern. Es bedeutet zunächst zu postulieren, daß die Welt aus diskreten und unterschiedenen Elementen besteht; dann, zu postulieren, daß jede Einheit eine Gruppe von ähnlichen oder benachbarten Einheiten hat, zu denen sie gehört und mit denen – gemeinsam – sie bestimmten anderen Einheiten entgegengesetzt ist; und dann bedeutet es, das Postulierte dadurch zu verwirklichen, daß verschiedene Handlungsstrukturen mit verschiedenen Klassen von Einheiten verknüpft werden (wobei die Erzeugung einer spezifischen Verhaltensstruktur zur operativen Definition der Klasse wird). Mit anderen Wor11

ten, klassifizieren heißt, der Welt eine Struktur zu geben: ihre Wahrscheinlichkeiten zu beeinflussen; einige Ereignisse wahrscheinlicher zu machen als andere; sich so zu verhalten, als wären Ereignisse nicht zufällig, oder die Zufälligkeit von Ereignissen einzuschränken oder zu eliminieren. Durch ihre Benennungs-/Klassifizierungsfunktion stellt sich die Sprache selbst zwischen eine fest gegründete, ordentliche Welt, die für Menschen bewohnbar ist, und eine kontingente Welt des Zufalls, in der menschliche Überlebenswaffen – Gedächtnis und Lernfähigkeit – nutzlos, wenn nicht geradezu selbstmörderisch wären. Sprache strebt danach, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Zufall und Kontingenz zu leugnen oder zu unterdrücken. Eine ordentliche Welt ist eine Welt, in der man »weiterweiß« (oder, was auf das gleiche hinausläuft, in der man herauszufinden vermag – und zwar mit Sicherheit –, wie es weitergeht, in der man die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses berechnen und diese Wahrscheinlichkeit erhöhen oder verringern kann; eine Welt, in der die Beziehungen zwischen bestimmten Situationen und den Folgen bestimmter Handlungen im großen und ganzen konstant bleiben, so daß man sich auf vergangene Erfolge als Anleitungen für zukünftige verlassen kann. Wegen unserer Lern-/Erinnerungsfähigkeit haben wir spezifische Interessen an der Aufrechterhaltung der Ordnung der Welt. Aus demselben Grunde erfahren wir Ambivalenz als Unbehagen und als eine Drohung. Ambivalenz wirft die Berechnung von Ereignissen über den Haufen und bringt die Relevanz erinnerter Handlungsstrukturen durcheinander. Die Situation wird ambivalent, wenn die sprachlichen Werkzeuge der Strukturierung sich als inadäquat erweisen; entweder gehört die Situation zu keiner der sprachlich unterschiedenen Klassen oder sie fällt in verschiedene Klassen zugleich. Es könnte sich erweisen, daß keines der erlernten Muster in einer ambivalenten Situation richtig ist – oder mehr als eines der erlernten Muster angewendet werden kann; was immer der Fall ist, das Ergebnis ist das Gefühl der Unentschiedenheit, Unentscheidbarkeit und infolgedessen des Verlustes an Kontrolle. Die Konsequenzen der 12

Handlung werden unvoraussagbar, während die Zufälligkeit, die doch eigentlich durch die Bemühung um Strukturierung aufgehoben sein sollte, ungebeten zurückzukehren scheint. Die Benennungs-/Klassifizierungsfunktion der Sprache hat vorgeblich den Zweck, Ambivalenz zu verhindern. Ihre Leistung bemißt sich an der Sauberkeit der Trennungen zwischen den Klassen, der Präzision ihrer definitorischen Grenzen und der Unzweideutigkeit, mit der Objekte Klassen zugewiesen werden können. Und doch sind die Anwendung solcher Kriterien und gerade die Aktivität, deren Fortschritt sie überwachen sollen, letztlich die Quellen der Ambivalenz und die Gründe, die es äußerst unwahrscheinlich machen, daß Ambivalenz jemals wahrhaft ausstirbt, wie groß das Ausmaß und die Leidenschaft der strukturierenden/ordnenden Anstrengung auch immer sein mag. Das Ideal, das die Benennungs-/Klassifizierungsfunktion zu erreichen sucht, ist eine Art geräumiger Aktenschrank, der all die Akten enthält, die all die Einzelheiten enthalten, welche die Welt enthält – aber jede Akte und jede Einzelheit auf einem gesonderten Platz ganz für sich beschränkt (wobei etwaige Zweifel durch einen Querverweisungsindex gelöst werden). Es ist die Unmöglichkeit eines solchen Aktenschranks, die Ambivalenz unvermeidlich macht. Und es ist die Beharrlichkeit, mit der die Konstruktion eines solchen Schrankes verfolgt wird, die immer neue Schübe an Ambivalenz hervorbringt. Klassifizieren besteht aus den Handlungen des Einschließens und des Ausschließens. Jede Benennungshandlung teilt die Welt in zwei Teile: in Einheiten, die auf den Namen hören; und in alle übrigen, die dies nicht tun. Bestimmte Einheiten können nur insoweit in eine Klasse eingeschlossen – zu einer Klasse gemacht – werden, wie andere Einheiten ausgeschlossen werden, draußen bleiben. Unabänderlich ist eine solche Operation der Einschließung/Ausschließung ein Gewaltakt, der an der Welt verübt wird, und bedarf der Unterstützung durch ein bestimmtes Ausmaß an Zwang. Sie kann Bestand haben, solange der Umfang des angewandten Zwanges der Aufgabe adäquat bleibt, das Ausmaß der erzeugten Diskrepanz auszuglei13

chen. Ungenügender Zwang zeigt sich in dem offenbaren Widerstreben von Einheiten, die erst im Akt der Klassifikation bestimmt wurden, sich in die zugewiesenen Klassen einzufügen, und in dem Auftreten von unter- oder überdefinierten, mit ungenügender oder übermäßiger Bedeutung beladenen Einheiten – die entweder keine lesbaren Signale für das Handeln aussenden oder aber Signale, die die Empfänger verwirren, weil sie einander widersprechen. Ambivalenz ist ein Nebenprodukt der Arbeit der Klassifikation; und sie verlangt nach immer mehr Bemühung um Klassifikation. Obgleich sie dem Drang zu benennen/klassifizieren entstammt, kann Ambivalenz nur durch ein Benennen bekämpft werden, das noch genauer ist, und durch Klassen, die noch präziser definiert sind: d.h. durch Eingriffe, die noch härtere (kontrafaktische) Anforderungen an die Diskretheit und Transparenz der Welt stellen und so noch mehr Gelegenheit für Mehrdeutigkeit schaffen. Der Kampf gegen Ambivalenz ist daher selbstzerstörerisch und selbsterzeugend. Er ist unaufhaltsam, weil er seine eigenen Probleme erzeugt, während er sie zu lösen sucht. Seine Intensität variiert freilich mit der Zeit, je nach der Verfügbarkeit von Kraft, die der Aufgabe gewachsen ist, den bestehenden Umfang an Ambivalenz zu kontrollieren, und auch je nach dem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des Bewußtseins, daß die Reduktion von Ambivalenz ein Problem der Entdeckung und Anwendung einer richtigen Technologie ist: ein Problem des Managements. Beide Faktoren verbanden sich, um aus der modernen Zeit eine Ära des besonders bitteren und unnachgiebigen Krieges gegen Ambivalenz zu machen. Wie alt die Moderne sei, ist eine umstrittene Frage. Es herrscht keinerlei Übereinstimmung in der Frage der Datierung. Es herrscht keinerlei Konsens in der Frage, was datiert werden soll.1 Und so1 Es scheint unvermeidlich, hinsichtlich der Datierung seine eigene Wahl zu treffen, wenn auch nur, um eine unfruchtbare Diskussion zu vermeiden, die von substantiellen Fragen abhält (die gängigen Datierungen gehen weit auseinander – wie sich z.B. in den Beiträgen der französischen Histo-

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bald einmal die Anstrengung der Datierung im Ernst beginnt, fängt der Gegenstand selbst an zu verschwinden. Die Moderne, wie alle anderen Quasitotalitäten, die wir aus dem kontinuierlichen

riker in dem Sammelband Culture et idéologie de l’état moderne zeigt, der 1985 von der École Française de Rome veröffentlicht worden ist –; sie reichen von der Annahme, daß der moderne Staat gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstand und gegen Ende des 17. Jahrhunderts an Spannkraft verlor, bis zu der Beschränkung des Ausdrucks »Moderne« durch einige Literaturkritiker auf kulturelle Trends, die mit dem 20. Jahrhundert beginnen und gegen Mitte des Jahrhunderts enden). Die Entwirrung der definitorischen Uneinigkeit wird besonders durch die Tatsache der historischen Koexistenz von »zwei unterschiedenen und einander bitter bekämpfenden Modernen«, wie Matei Calinescu sie nannte, erschwert. Schärfer als die meisten anderen Autoren porträtiert Calinescu die »irreversible« Spaltung zwischen der »Moderne als einem Stadium in der Geschichte der westlichen Zivilisation – einem Produkt des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, der industriellen Revolution, der umfassenden ökonomischen und sozialen Veränderungen, die durch den Kapitalismus herbeigeführt wurden – und der Moderne als einem ästhetischen Begriff«. Letztere (die man besser Modernismus nennen sollte, um die allzu häufige Verwechslung zu vermeiden) kämpfte gegen alles, wofür die erstere stand: »Denn was die kulturelle Moderne definiert, ist ihre rückhaltlose Verwerfung der bourgeoisen Moderne, ihre verzehrende negative Leidenschaft« (Faces of Modernity: Avant-Garde, Décadence, Kitsch, Bloomington 1977, S. 4, 42); diese steht in krasser Opposition zu der vorhergehenden, weitgehend positiven und enthusiastischen Darstellung der Haltung und der Errungenschaft der Moderne wie etwa bei Baudelaire: »Alles, was schön und edel ist, ist das Ergebnis der Vernunft und des Denkens. Das Verbrechen, für das das menschliche Tier einen Geschmack im Mutterleib erwirbt, ist natürlichen Ursprungs. Die Tugend ist dagegen künstlich und übernatürlich.« (Baudelaire as a Literary Critic: Selected Essays, übers. von Lois Boe Hylsop und Francis E. Hylsop, Pittsburgh 1964, S. 298.) Ich möchte von Anfang an klarmachen, daß ich mit »Moderne« eine historische Periode bezeichne, die in Westeuropa mit einer Reihe von grundlegenden soziostrukturellen und intellektuellen Transformationen des

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Fließen des Seins heraushebeln wollen, entzieht sich uns: Wir entdecken, daß der Begriff mit Vieldeutigkeit überladen ist, während sein Bezugsobjekt gleichzeitig im Innersten dunkel und an den Rändern ausgefranst ist. Infolgedessen ist es unwahrscheinlich, daß sich der Streit lösen läßt. Das die Moderne bestimmende Merkmal, das diesen Essays zugrunde liegt, ist selbst ein Bestandteil des Streits. Unter den vielen unmöglichen Aufgaben, die die Moderne sich selbst gestellt hat und die die Moderne zu dem gemacht haben, was sie ist, ragt die Aufgabe der Ordnung (genauer und höchst wichtig, der Ordnung als Aufgabe) heraus – als die am wenigsten mögliche unter den unmöglichen und die am wenigsten entbehrliche unter den unentbehrlichen; ja, als der Archetyp für alle anderen Aufgaben, eine, die alle anderen Aufgaben zu bloßen Metaphern ihrer selbst macht. Ordnung ist, was nicht Chaos ist; Chaos ist, was nicht ordentlich ist: Ordnung und Chaos sind moderne Zwillinge. Sie waren empfangen worden inmitten des Aufruhrs und Zusammenbruchs der göttlichen Weltordnung, die weder Notwendigkeit noch Zufall kannte; eine Welt, die einfach nur war – ohne jemals darüber 17. Jahrhunderts begann und ihre Reife erreichte: (1) als ein kulturelles Projekt – mit dem Entstehen der Aufklärung; (2) als eine sozial vollendete Lebensform – mit dem Entstehen der industriellen (kapitalistischen und später auch kommunistischen) Gesellschaft. Moderne ist daher, wie ich den Ausdruck gebrauche, in keiner Weise identisch mit Modernismus. Letzterer ist ein intellektueller (philosophischer, literarischer, künstlerischer) Trend, der – obgleich er sich auf viele einzelne intellektuelle Ereignisse der vorhergehenden Epoche zurückverfolgen läßt – seinen Höhepunkt zu Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts erreichte und in der Rückschau (in Analogie mit der Aufklärung) als ein »Projekt« der Postmoderne oder als Vorstadium der postmodernen Situation angesehen werden kann. Im Modernismus richtete die Moderne ihren Blick auf sich selbst zurück und versuchte die Klarsicht und die Selbstwahrnehmung zu erreichen, die schließlich ihre Unmöglichkeit enthüllen sollte, wodurch sie den Weg für die postmoderne Neubewertung frei machte.

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nachzudenken, wie sie sich selbst erschaffen konnte. Wir finden es schwierig, jene gedankenlose und unbekümmerte Welt, die der Zweiteilung in Ordnung und Chaos voranging, in ihren eigenen Begriffen zu beschreiben. Meistens versuchen wir, sie mit Hilfe von Negationen zu verstehen: Wir erklären uns selbst, was jene Welt nicht war, was sie nicht enthielt, wessen sie sich nicht bewußt war, was sie nicht wahrnahm. Jene Welt hätte sich in unseren Beschreibungen selbst kaum wiedererkannt. Sie verstünde nicht, worüber wir reden. Sie hätte ein solches Verstehen nicht überlebt. Der Augenblick des Verstehens wäre das Zeichen ihres nahenden Todes gewesen. Und er war es. Historisch war dieses Verstehen der letzte Seufzer der vergehenden Welt; und der erste Laut der neugeborenen Moderne. Wir können uns die Moderne als eine Zeit denken, da Ordnung – der Welt, des menschlichen Ursprungs, des menschlichen Selbst und der Verbindung aller drei – reflektiert wird; ein Gegenstand des Nachdenkens, des Interesses, einer Praxis, die sich ihrer selbst bewußt ist, bewußt, eine bewußte Praxis zu sein und auf der Hut vor der Leere, die sie zurücklassen würde, wenn sie innehalten oder auch nur nachlassen würde. Der Einfachheit halber (das genaue Geburtsdatum, lassen Sie mich das wiederholen, muß strittig bleiben: das Projekt der Datierung ist nur einer der vielen foci imaginarii, die, wie Schmetterlinge, den Augenblick nicht überleben, da eine Nadel durch ihren Leib gestoßen wird, um sie an einem Platz zu fixieren) können wir Stephen L. Collins zustimmen, der in seiner jüngst veröffentlichten Untersuchung Hobbes’ Vision als Geburtsstunde des Bewußtseins der Ordnung nahm, d.h. – in unserer Wiedergabe – des modernen Bewußtseins, der Moderne. (»Bewußtsein«, sagt Collins, »erscheint als die Qualität, Ordnung in den Dingen wahrzunehmen.«) »Hobbes begriff, daß eine im Fluß befindliche Welt natürlich war und Ordnung geschaffen werden mußte, um das, was natürlich war, zu unterdrücken […] Gesellschaft ist nicht mehr eine metaphysisch begründete Widerspiegelung von etwas schon Definiertem, Externem und jenseits ihrer selbst Befindlichem, das die Existenz hierarchisch ordnet. Sie ist jetzt eine nur nominelle

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Entität, die von einem souveränen Staat geordnet wird, der sein eigener sich selbst begründender Repräsentant ist […] [Vierzig Jahre nach Elizabeths Tod] wurde Ordnung nicht mehr als etwas Natürliches, sondern als etwas Künstliches verstanden, als von Menschen geschaffen und offensichtlich politisch und sozial […] Ordnung muß geplant werden, um das zu unterdrücken, was als allgegenwärtig erschien [d.h. das Fließen] […] Ordnung wurde zu einer Frage der Macht und Macht zu einer Frage des Willens, der Gewalt und der Berechnung […] Grundlegend für die gesamte Neukonzeptualisierung der Idee der Gesellschaft war der Glaube, daß das Gemeinwohl, wie die Ordnung, eine menschliche Schöpfung sei.«2

Collins ist ein sorgfältiger Historiker, der sich vor den Gefahren der Projektion und des Anachronismus hütet, aber er kann trotzdem kaum vermeiden, auf die Welt vor Hobbes so manche Eigenschaft unserer nachhobbesschen Welt zu übertragen – sei es auch nur dadurch, daß er deren Abwesenheit feststellt; freilich würde die Welt vor Hobbes ohne eine solche Beschreibungsstrategie für uns blaß und bedeutungslos bleiben. Um diese Welt zu uns sprechen zu lassen, müssen wir sozusagen ihr Schweigen hörbar machen: aussprechen, wessen sich diese Welt selbst nicht bewußt war. Wir müssen einen Gewaltakt begehen: jene Welt zwingen, Stellung zu Fragen zu beziehen, an die sie nicht gedacht hat, und auf diese Weise jenes Nichtdenken beiseite zu schieben oder zu übergehen, das sie zu jener Welt machte, einer Welt, so verschieden der unseren und so unmitteilsam. Der Versuch zu kommunizieren wird seinen Zweck verfehlen. In diesem Prozeß der erzwungenen Konversation werden wir uns von der Hoffnung auf Kommunikation noch weiter entfernen. Am Ende werden wir, statt diese »andere Welt« zu rekonstruieren, nicht mehr tun als »das Andere« unserer eigenen Welt zu konstruieren. Wenn es wahr ist, daß wir wissen, daß die Ordnung der Dinge nicht natürlich ist, bedeutet dies nicht, daß sich die andere, die 2 Stephen L. Collins, From Divine Cosmos to Sovereign State: An Intellectual History of Consciousness and the Idea of Order in Renaissance England, Oxford 1989, S. 4, 6f., 28f., 32.

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Welt vor Hobbes Ordnung als Werk der Natur vorstellte: Sie dachte überhaupt nicht über Ordnung nach, nicht in einer Form, die wir uns als »nachdenken über« denken, nicht in dem Sinne, wie wir jetzt darüber nachdenken. Die Entdeckung, daß Ordnung nicht natürlich ist, war die Entdeckung der Ordnung als solcher. Der Begriff der Ordnung trat gleichzeitig mit dem Problem der Ordnung ins Bewußtsein, der Ordnung als einer Sache von Entwurf und Handlung, Ordnung als einer Obsession. Um es noch grober auszudrücken, Ordnung als Problem tauchte erst im Kielwasser der Beunruhigung über Ordnung auf, als eine Reflexion auf die ordnenden Praktiken. Die Erklärung der »Nicht-Natürlichkeit von Ordnung« stand für eine Ordnung, die bereits das Dunkel, die Nicht-Existenz und das Schweigen hinter sich gelassen hatte. »Natur« bedeutet schließlich nichts anderes als das Schweigen des Menschen. Wenn es wahr ist, daß wir, die Modernen, Ordnung als eine Sache des Entwurfs denken, bedeutet dies nicht, daß die Welt vor der Moderne hinsichtlich des Entwerfens gleichgültig gewesen sei und erwartet hätte, daß Ordnung sich von allein und ohne Hilfe einstellen und bestehenbleiben würde. Jene Welt lebte ohne eine solche Alternative; sie wäre überhaupt nicht jene Welt, hätte sie Gedanken darauf verwendet. Wenn es wahr ist, daß unsere Welt durch den Verdacht der Sprödigkeit und Zerbrechlichkeit der künstlichen, von Menschen entworfenen und von Menschen gemachten Inseln der Ordnung inmitten eines Meeres von Chaos geformt wurde, so folgt daraus nicht, daß die Welt vor der Moderne glaubte, daß sich die Ordnung über das Meer und den menschlichen Archipel gleichermaßen erstreckte; sie war sich eher des Unterschieds von Land und Wasser nicht bewußt.3 3 Ein Beispiel: »Das Individuum erfuhr weder Isolierung noch Entfremdung« (Collins, From Divine Cosmos, S. 21). Das ist in Wirklichkeit unsere – moderne – Konstruktion des vormodernen Individuums. Es wäre vielleicht klüger zu sagen, daß das Individuum der vormodernen Welt nicht die Abwesenheit der Erfahrung der Isolierung oder Entfremdung erfuhr. Es erfuhr weder Zugehörigkeit, Mitgliedschaft, Zu-Hause-Sein noch das Zu-

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Wir können sagen, daß die Existenz modern ist, sofern sie sich in Ordnung und Chaos spaltet. Die Existenz ist modern, insoweit sie die Alternative von Ordnung und Chaos enthält. Ordnung und Chaos, Punkt. Wenn sie überhaupt erstrebt wird (d.h. insoweit über sie nachgedacht wird), wird Ordnung nicht als Ersatz für eine alternative Ordnung angestrebt. Der Kampf um Ordnung ist nicht ein Kampf der einen Definition gegen eine andere, einer Möglichkeit, Realität auszudrücken, gegen eine andere. Es ist ein Kampf der Bestimmung gegen die Mehrdeutigkeit, der semantischen Präzision gegen Ambivalenz, der Durchsichtigkeit gegen Dunkelheit, der Klarheit gegen Verschwommenheit. Ordnung als ein Konzept, als eine Vision, als ein Zweck konnte nicht ausgedrückt werden, hätte es nicht die Einsicht in die totale Ambivalenz, die Zufälligkeit des Chaos gegeben. Ordnung ist ständig im Überlebenskampf begriffen. Das Andere der Ordnung ist nicht eine andere Ordnung: Die einzige Alternative ist das Chaos. Das Andere der Ordnung ist das Miasma des Unbestimmten und Unvorhersagbaren. Das Andere ist die Ungewißheit, jener Ursprung und Archetyp aller Furcht. Entsprechungen für das »Andere der Ordnung« sind: Undefinierbarkeit, Inkohärenz, Widersinnigkeit, Unvereinbarkeit, Unlogik, Irrationalität, Mehrdeutigkeit, Verwirrung, Unentscheidbarkeit, Ambivalenz. Chaos, »das Andere der Ordnung«, ist reine Negativität. Es ist die Verneinung all dessen, was Ordnung zu sein sucht. Gegen ebendiese Negativität konstituiert sich die Positivität der Ordnung. Aber die Negativität des Chaos ist ein Produkt der Selbstkonstitution der Ordnung: ihre Nebenwirkung, ihr Abfall, und gleichwohl sammengehören. Zugehörigkeit setzt das Bewußtsein des Zusammenseins voraus oder des »Teilseins von«; auf diese Weise enthält Zugehörigkeit unvermeidlich das Bewußtsein der eigenen Unsicherheit, der Möglichkeit der Isolierung, des Bedürfnisses, die Entfremdung abzuwehren oder zu überwinden. Sich selbst als »nicht unisoliert« oder als »nicht entfremdet« zu erfahren ist ebenso modern wie die Erfahrung der Isolierung und Entfremdung.

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die conditio sine qua non ihrer (reflexiven) Möglichkeit. Ohne die Negativität des Chaos gibt es keine Positivität der Ordnung; ohne Chaos keine Ordnung. Wir können sagen, daß die Existenz modern ist, sofern sie von dem Gefühl »ohne uns die Sintflut« durchdrungen ist. Die Existenz ist modern, insofern sie von dem Drang geleitet wird, zu entwerfen, was andernfalls nicht da wäre: von dem Drang, sich selbst zu entwerfen. Das bloße Dasein, das Dasein ohne jede Intervention, das ungeordnete Dasein, oder der Rand des geordneten Daseins, werden jetzt zur Natur: etwas, was als menschlicher Wohnort einzigartig ungeeignet ist – etwas, dem man nicht trauen kann und das man nicht sich selbst überlassen kann, etwas, das beherrscht, unterworfen, neu gemacht werden muß, damit es von neuem an menschliche Bedürfnisse angepaßt werden kann. Etwas, das unter Kontrolle gehalten, eingeschränkt und gezügelt werden, das aus dem Zustand der Formlosigkeit in eine Form überführt werden muß – durch Anstrengung und durch Gewalt. Selbst wenn die Form von der Natur selbst vorgegeben war, wird sie ohne Hilfe nicht zustande kommen und ohne Verteidigung nicht überleben. Das naturgemäße Leben bedarf einer Menge Entwürfe, organisierter Anstrengung und wachsamer Kontrolle. Nichts ist künstlicher als Natürlichkeit; nichts weniger natürlich, als sich den Gesetzen der Natur auszusetzen. Macht, Unterdrückung und zielgerichtete Handlung stehen zwischen der Natur und jener sozial bewirkten Ordnung, in der Künstlichkeit natürlich ist. Wir können sagen, daß die Existenz modern ist, insoweit sie durch Entwurf, Gestaltung, Verwaltung und Technologie aufrechterhalten wird. Die Existenz ist modern, insoweit sie durch ressourcenreiche (an Wissen, Geschicklichkeit und Technologie) souveräne Agenturen verwaltet wird. Agenturen sind souverän, insofern sie das Recht, die Existenz privat und öffentlich zu verwalten, beanspruchen und erfolgreich verteidigen: das Recht, Ordnung zu definieren und infolgedessen Chaos als jenen Rest, der sich der Definition entzieht, zu beseitigen. 21

Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte. Die moderne Praxis ist nicht auf Eroberung fremder Länder gerichtet, sondern auf das Ausfüllen der leeren Stellen in der completa mappa mundi. Es ist die moderne Praxis, nicht die Natur, die wahrhaft keine Leere duldet. Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte – und der Gründe – all dessen, was nicht assimiliert werden kann – nach der Delegitimierung des Anderen. Solange der Drang, einen Schlußstrich unter die Ambivalenz zu ziehen, das kollektive und individuelle Handeln leitet, wird Intoleranz folgen – selbst wenn sie sich verschämt hinter der Maske der Toleranz verbirgt (die oft bedeutet: du bist abscheulich, aber ich lasse dich, weil ich großzügig bin, leben).4

4 In ihrer klugen Darstellung der Rolle, die der Begriff der Toleranz in der liberalen Theorie spielt, kommentiert Susan Mendus: »Toleranz impliziert, daß die tolerierte Sache moralisch tadelnswert ist. Weiterhin, daß sie änderbar ist. Von Toleranz gegenüber einem anderen zu reden, impliziert, daß es gegen ihn spricht, daß er jene Eigenschaft nicht ändert, die Gegenstand der Toleranz ist.« (Toleration and the Limits of Liberalism, London 1989, S. 149f.) Toleranz schließt die Akzeptanz des Wertes des andern nicht ein; ganz im Gegenteil, sie ist eine weitere, vielleicht etwas subtilere und schlauere Methode, die Unterlegenheit des anderen noch einmal zu bekräftigen, und dient als warnende Ankündigung der Absicht, die Andersheit des anderen zu beenden – verbunden mit einer Aufforderung an den anderen, mitzuhelfen, das Unvermeidliche zustande zu bringen. Die bekannte Humanität der Toleranzpolitik geht nicht über die Zustimmung hinaus, den letzten showdown aufzuschieben – unter der Bedingung freilich, daß ebender Akt der Zustimmung die bestehende Ordnung der Überlegenheit weiter stärkt.

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Das Andere des modernen Staates ist Niemandsland oder umkämpftes Gebiet: die Unter- oder Überdefinition, der Dämon der Mehrdeutigkeit. Da die Souveränität des modernen Staates in der Definitionsmacht und deren Anwendung liegt – ist alles, was sich selbst definiert oder der machtgestützten Definition entzieht, subversiv. Das Andere dieser Souveränität ist unbetretbares Gebiet, Unruhe und Ungehorsam, der Zusammenbruch von Recht und Ordnung. Das Andere des modernen Intellekts ist Polysemie, kognitive Dissonanz, polyvalente Definitionen, Kontingenz; einander überschneidende Bedeutungen in der Welt der sauberen Klassifikationen und Schubladen. Da die Souveränität des modernen Intellekts die Macht ist, zu definieren und den Definitionen Wirksamkeit zu verschaffen – ist alles, was sich der unzweideutigen Zuordnung entzieht, eine Anomalie und eine Herausforderung. Das Andere dieser Souveränität ist die Verletzung des Gesetzes vom ausgeschlossenen Dritten. In beiden Fällen schränkt Widerstand gegen die Definition die Souveränität, die Macht, die Transparenz der Welt, ihre Kontrolle,

Paul Ricœur (Histoire et Verité, Paris 1955) hat die Auffassung vertreten, daß – historisch – »die Versuchung, das Wahre mit Gewalt zu vereinheitlichen, aus zwei Lagern kam, der klerikalen und der politischen Sphäre« (S. 165). Trotzdem war das »Klerikale« nichts anderes als das Intellektuelle, das in den Dienst des Politischen gestellt worden war, oder das Intellektuelle mit politischen Ambitionen. Sobald dies einmal ausgesprochen ist, verwandelt sich Ricœurs Auffassung in eine Tautologie: Die Ehe von Wahrheit und Gewalt macht gerade die Bedeutung der »politischen Sphäre« aus. Die Praxis der Wissenschaft ist in ihrer innersten Struktur nicht verschieden von der der Staatspolitik, beide zielen auf ein Monopol über ein beherrschtes Territorium, und beide erreichen ihr Ziel durch das Mittel der Inklusion/Exklusion (von der Wissenschaft schreibt Ricœur, daß sie »durch die Entscheidung konstituiert werde, alle affektiven, utilitären, politischen, ästhetischen und religiösen Erwägungen außer Kraft zu setzen und nur das für wahr zu halten, was den Kriterien der wissenschaftlichen Methode entspricht« (S. 169).

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die Ordnung ein. Dieser Widerstand ist die störrische, grimmige Mahnung an das Fließen, das die Ordnung, wenn auch vergeblich, einzudämmen wünschte; an die Grenzen der Ordnung und an die Notwendigkeit des Ordnens. Der moderne Staat und der moderne Intellekt brauchen beide gleichermaßen das Chaos – wenn auch nur, um weiterhin Ordnung zu schaffen. Beide gedeihen auf dem Boden der Vergeblichkeit ihrer Anstrengung. Die moderne Existenz wird durch das moderne Bewußtsein sowohl geplagt wie zu ruheloser Aktion angestachelt; und das moderne Bewußtsein ist der Verdacht oder die Wahrnehmung, daß es der bestehenden Ordnung an Endgültigkeit fehlt; ein Bewußtsein, das von der Ahnung der Unangemessenheit, ja Lebensunfähigkeit des Ordnung-entwerfenden, Ambivalenz-eliminierenden Projekts angespornt und in Bewegung gesetzt wird; ein Bewußtsein der Zufälligkeit der Welt und der Kontingenz von Identitäten, die sie konstituieren. Bewußtsein ist modern, insofern es immer neue Schichten von Chaos unter der Ebene machtgestützter Ordnung aufdeckt. Das moderne Bewußtsein kritisiert, warnt und ruft zur Wachsamkeit auf. Es macht das Handeln unaufhörlich, indem es seine Wirkungslosigkeit immer von neuem demaskiert. Es verewigt die ordnende Geschäftigkeit dadurch, daß es ihre Errungenschaften disqualifiziert und ihre Mängel bloßlegt. Infolgedessen ist die Beziehung zwischen moderner Existenz und moderner Kultur von einer Haßliebe geprägt (in der fortgeschrittensten Form der Selbst-Wahrnehmung), eine Symbiose, die immer wieder von Bürgerkriegen heimgesucht wird. In der Moderne ist Kultur jene widerspenstige und wachsame Opposition Ihrer Majestät, die die Regierung ermöglicht. Es gibt keine verlorene Liebe oder Harmonie noch eine spiegelbildliche Ähnlichkeit zwischen den beiden: Es gibt nur einen wechselseitigen Bedarf und Abhängigkeit – jene Komplementarität, die aus der Opposition kommt, die Opposition ist. Wie sehr die Moderne auch ihrer Kritik grollt – sie würde den Waffenstillstand nicht überleben. Es wäre vergeblich, entscheiden zu wollen, ob die moderne Kultur die moderne Existenz untergräbt oder ihr dient. Sie tut beides. 24

Sie kann das eine nur zusammen mit dem anderen tun. Zwanghafte Negation ist die Positivität der modernen Kultur. Die Dysfunktionalität der modernen Kultur ist ihre Funktionalität. Der Kampf der modernen Mächte um eine künstliche Ordnung bedarf der Kultur, die die Grenzen und Beschränkungen der Macht der Künstlichkeit erkundet. Der Kampf um Ordnung belebt jene Erforschung und wird seinerseits durch ihre Ergebnisse belebt. In diesem Prozeß verliert der Kampf seine anfängliche Hybris: seine aus Naivität und Ignoranz geborene Streitsucht. Er lernt statt dessen mit seiner eigenen Permanenz, seiner Ergebnislosigkeit – und seiner Aussichtslosigkeit zu leben. Vielleicht wird er am Ende sogar die schwierige Kunst der Mäßigung und Toleranz lernen. Die Geschichte der Moderne ist eine Geschichte der Spannung zwischen gesellschaftlicher Existenz und ihrer Kultur. Die moderne Existenz zwingt ihre Kultur in eine Opposition zu sich selbst. Diese Disharmonie ist genau jene Harmonie, deren die Moderne bedarf. Die Geschichte der Moderne zieht ihre unheimliche und beispiellose Dynamik aus der Geschwindigkeit, mit der sie einander ablösende Versionen der Harmonie ad acta legt, nachdem sie sie zuvor als nur blasse und fleckige Widerspiegelungen ihrer foci imaginarii diskreditiert hat. Aus demselben Grunde kann sie als eine Geschichte des Fortschritts angesehen werden, als die Naturgeschichte der Menschheit. Als Lebensform ermöglicht sich die Moderne dadurch selbst, daß sie sich eine unmögliche Aufgabe stellt. Es ist gerade die endemische Ergebnislosigkeit der Anstrengung, die das Leben der beständigen Ruhelosigkeit sowohl möglich als auch unentrinnbar macht und in Wirklichkeit die Möglichkeit ausschließt, daß die Anstrengung jemals zur Ruhe kommen kann. Die unmögliche Aufgabe wird durch die foci imaginarii 5 der absoluten Wahrheit, der reinen Kunst, der Menschlichkeit als solcher,

5 Vgl. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1991, S. 316.

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der Ordnung, der Gewißheit, der Harmonie, des Endes der Geschichte gestellt. Wie alle Horizonte können sie niemals erreicht werden. Wie alle Horizonte ermöglichen sie ein zielgerichtetes Gehen. Wie alle Horizonte weichen sie zurück, während und weil man geht. Wie alle Horizonte weichen sie um so schneller zurück, je schneller man geht. Wie alle Horizonte erlauben sie niemals, daß der Wille zu gehen erlahmt oder Kompromisse schließt. Wie alle Horizonte bewegen sie sich kontinuierlich mit der Zeit und verleihen auf diese Weise dem Gehen die hilfreiche Illusion eines Zieles, eines Wegweisers und und eines Zwecks. Foci imaginarii – die Horizonte, die den Raum der Moderne ausschließen und eröffnen, umzingeln und aufblähen – beschwören das Phantom der Reise im Raum, der an sich ohne Richtung ist. In jenem Raum entstehen Wege beim Gehen und verwischen sich wieder, wenn die Wanderer vorüber sind. Vor den Wanderern (und vorn ist da, wo der Wanderer hinschaut) ist die Straße markiert durch die Entschlossenheit des Wanderers weiterzugehen; hinter ihnen können die Wege aus den dünnen Linien der Fußabdrücke erschlossen werden, die auf beiden Seiten von dickeren Linien von Müll und Abfall gesäumt werden. »In einer Wüste« – sagte der französische Dichter und Essayist Edmond Jabès – »gibt es keine Avenuen, keine Boulevards, keine Sackgassen und keine Straßen. Nur – hier und da – bruchstückhafte Fußabdrücke, die schnell ausgelöscht und vernichtet werden.«6 Die Moderne ist das, was sie ist – ein besessener Marsch nach vorne – nicht deshalb, weil sie immer mehr will, sondern weil sie niemals genug bekommt; nicht weil sie ehrgeiziger und abenteuerlustiger wird, sondern weil ihre Abenteuer bitter sind und ihre Hoffnungen nichtig. Der Marsch muß weitergehen, weil jeder Ort der Ankunft nur eine zeitweilige Station ist. Kein Ort ist privilegiert, kein Ort besser als ein anderer, da von keinem Ort aus der

6 Edmond Jabès, Un Étranger avec, sous le bras, un livre de petit format, Paris 1989, S. 34.

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Horizont näher ist als von jedem anderen. Das ist der Grund, weswegen die Unruhe und die Hast als ein Marsch nach vorne erlebt werden; das ist in Wirklichkeit der Grund, weswegen die Brownsche Molekularbewegung ein Vorne und ein Hinten zu erwerben scheint und Ruhelosigkeit eine Richtung: Es sind die Reste verbrannten Treibstoffs und der Ruß erloschener Flammen, die die Flugbahnen des Fortschritts markieren. Wie Walter Benjamin beobachtete, treibt der Sturm die Gehenden unwiderstehlich in die Zukunft, der sie ihren Rücken zuwenden, während der Trümmerhaufen vor ihnen gen Himmel wächst. »Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«7 Bei näherem Hinsehen erweist sich die Hoffnung auf Ankunft als der Drang zu fliehen. In der linearen Zeit der Moderne steht nur der Punkt der Abreise fest: Und es ist die unaufhaltsame Bewegung jenes Punktes, die das unglückliche Dasein an einer historischen Zeitlinie ausrichtet. Nicht die Antizipation einer neuen Seligkeit gibt dieser Linie eine Richtung, sondern die Gewißheit vergangener Schrecken; das Leiden von gestern, nicht das Glück von morgen. Was das Heute betrifft – es verwandelt sich in Vergangenheit, noch bevor die Sonne untergegangen ist. Die lineare Zeit der Moderne erstreckt sich zwischen der Vergangenheit, die nicht dauern, und der Zukunft, die nicht sein kann. Es gibt keinen Raum für ein Mittleres. Im Verfließen verflacht sich die Zeit in ein Meer des Elends, so daß sich der Wegweiser über dem Wasser halten kann. Sich eine unmögliche Aufgabe zu stellen bedeutet nicht, die Zukunft überzubewerten, sondern die Gegenwart abzuwerten. Nicht zu sein, was sie sein soll, ist die unverzeihliche Ursünde der Gegenwart. Das Gegenwärtige ist immer mangelhaft, was es häßlich, abschreckend und unerträglich macht. Das Gegenwärtige ist obsolet. Es ist obsolet, bevor es entsteht. In dem Augenblick, da sie in der Gegenwart landet, ist die begehrte Zukunft von den toxischen

7 Walter Benjamin, Illuminationen. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt/M. 1977, S. 255 [Über den Begriff der Geschichte IX].

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Ausdünstungen der verwüsteten Vergangenheit vergiftet. Ihr Genuß kann nur einen flüchtigen Moment lang dauern: darüber hinaus (und das Darüberhinaus beginnt am Anfangspunkt) gewinnt die Freude eine nekrophile Färbung, Leistung wird zur Sünde und Unbeweglichkeit zum Tod. In den ersten beiden Zitaten, mit denen diese Essays beginnen, sprechen Dilthey und Derrida von demselben: Vollständige Klarheit bedeutet das Ende der Geschichte. Der erste spricht aus dem Inneren der noch jugendlichen und wagemutigen Moderne: Die Geschichte wird zu einem Ende kommen, und wir werden sie für verfallen erklären, indem wir sie universal machen. Derrida schaut zurück auf die zerschlagenen Hoffnungen. Er weiß, daß die Geschichte nicht enden wird und daß deshalb der Zustand der Ambivalenz ebenfalls nicht enden wird. Es gibt einen weiteren Grund, weshalb die Moderne der Ruhelosigkeit gleichkommt; die Ruhelosigkeit ist eine Sisyphusarbeit, und der Kampf mit der Unbehaglichkeit der Gegenwart nimmt das Aussehen historischen Fortschritts an. Der Krieg gegen das Chaos zersplittert sich in eine Vielzahl lokaler Kämpfe um Ordnung. Solche Kämpfe werden von Guerilla-Einheiten geführt. Den größten Teil der modernen Geschichte über gab es keine Hauptquartiere, um die Schlachten zu koordinieren – gewiß keine Oberkommandierenden, die imstande gewesen wären, die ungeheure Weite des zu erobernden Universums zu kartographieren und lokales Blutvergießen in eine territoriale Eroberung umzuformen. Es gab nur die mobilen Propagandaeinheiten mit ihrem aufmunternden Gerede, das darauf abzielte, den Kampfgeist wachzuhalten. »Die Regierenden und Wissenschaftler (ganz zu schweigen von der Geschäftswelt) betrachten menschliche Angelegenheiten stets nach dem Muster Absicht, Mittel und Zwecke […]«8 Aber Regierende und Wissenschaftler gibt es

8 Gregory Bateson, Ökologie des Geistes, Frankfurt/M. 1981, S. 220.

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viele, und ebenso zahlreich sind ihre Absichten. Alle Gouverneure und Wissenschaftler bewachen eifersüchtig ihre Jagdgründe und ganz genauso ihr Recht, Zwecke zu setzen. Weil die Jagdgründe auf die Größe ihrer Zwangsgewalt und/oder intellektuellen Kräfte zurechtgeschnitten sind und die Zwecke auf das Maß ihrer Gründe, sind ihre Schlachten siegreich. Absichten werden erreicht, das Chaos wird vor die Tür gesetzt, Ordnungen werden im Innern eingerichtet. Die Moderne rühmt sich der Fragmentierung der Welt als ihrer bedeutendsten Leistung. Fragmentierung ist die primäre Quelle ihrer Stärke. Die Welt, die in eine Fülle von Problemen auseinanderfällt, ist eine handhabbare Welt. Oder besser, seitdem die Probleme handhabbar sind – erscheint die Frage der Handhabbarkeit der Welt vielleicht niemals auf der Tagesordnung oder wird zumindest unbegrenzt aufgeschoben. Die territoriale und funktionale Autonomie, die die Fragmentierung der Kräfte zur Folge hat, besteht zuerst und vor allem in dem Recht, nicht über den Zaun zu schauen und nicht von der anderen Seites des Zauns aus angeschaut zu werden. Autonomie ist das Recht zu entscheiden, wann man die Augen offenhält und wann man sie schließt; das Recht zu trennen, zu unterscheiden, zu beschneiden und zu stutzen. »Die gesamte Tendenz der Wissenschaft ging dahin […] das Ganze als die Summe seiner Teile und als nichts mehr zu erklären. In der Vergangenheit wurde angenommen, daß dann, wenn ein holistisches Prinzip gefunden wurde, es lediglich als ein Organisator zu den schon bekannten Teilen hinzugefügt werden konnte. Mit anderen Worten, das holistische Prinzip würde so etwas sein wie ein Verwalter, der eine Bürokratie beherrscht.«9

Die Ähnlichkeit, das muß hinzugefügt werden, ist keineswegs zufällig. Wissenschaftler und Verwalter teilen das Interesse an Souveränität und an Grenzen und können das Ganze kaum anders begreifen denn als immer mehr Verwalter und immer mehr Wis-

9 John P. Briggs und F. David Peat, Looking Glass Universe: The Emerging Science of Wholeness, New York 1984, S. 147.

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senschaftler mit ihren souveränen und sauber eingezäunten Funktionen und Feldern des Expertenwissens (ziemlich genau in der Weise, wie sich Mrs. Thatcher Europa vorstellte). Urologen und Laryngologen hüten die Autonomie ihrer klinischen Abteilungen (und also, stellvertretend, von Nieren und Ohren) genauso eifersüchtig wie die Whitehall-Bürokraten, die Industrie und Beschäftigung verwalten, die Unabhängigkeit ihrer Abteilungen und der Gebiete menschlicher Existenz, die ihrer Rechtsprechung unterstellt sind. Eine Form, dies auszudrücken, ist, die großartige Vision der Ordnung in lauter kleine lösbare Probleme einzuwechseln. Etwas genauer: Die große Vision der Ordnung entsteht (wenn überhaupt) aus der Problemlösungs-Aufregung – als die »unsichtbare Hand« oder eine ähnliche »metaphysische Stütze«. Denkt man darüber nach, soll sich die harmonische Totalität, wie einst Phönix aus der Asche, aus den eifrigen und erstaunlich erfolgreichen Anstrengungen, sie abzuspalten, erheben. Aber die Fragmentierung verwandelt das Problem-Lösen in eine Sisyphusarbeit und macht es als Werkzeug des Ordnung-Schaffens untauglich. Lokale und funktionale Autonomie ist nur eine Fiktion, die durch Erlasse und Gesetzbücher plausibel gemacht wird. Sie ist wie die Autonomie eines Flusses oder eines Strudels oder eines Hurrikans (unterbinde den Zu- und Abfluß von Wasser und es gibt keinen Fluß mehr; unterbinde den Zu- und Abfluß von Luft und es gibt keinen Hurrikan mehr). Selbstherrschaft (Autarkie) ist der Traum aller Macht. Mangelt es ihr an Autarkie, ohne die keine Selbstherrschaft leben oder sicher sein kann, kommt sie nur langsam voran. Es sind die Mächte, die fragmentiert sind; die Welt ist es störrischerweise nicht. Leute bleiben multifunktional, Wörter polysem. Oder besser, Menschen werden multifunktional aufgrund der Fragmentierung von Funktionen; Worte werden polysem aufgrund der Fragmentierung von Bedeutungen. Undurchsichtigkeit entsteht am anderen Ende des Kampfes um Transparenz. Verwirrung entsteht aus dem Kampf um Klarheit. Kontingenz wird an der Stelle entdeckt, wo viele fragmentarische Werke der Bestim30

mung sich treffen, zusammenstoßen und sich miteinander verwirren. Je sicherer die Fragmentierung, desto flüchtiger und weniger kontrollierbar ist das daraus resultierende Chaos. Selbstherrschaft erlaubt es, die Mittel auf die vorliegende Aufgabe zu konzentrieren (es gibt eine starke Hand, die die Aufgabe sicher festhält), und macht auf diese Weise die Aufgabe möglich und das Problem lösbar. Insofern Problem-Lösen eine Funktion des Erfindungsreichtums der Macht ist, steigt die Skala der lösbaren und gelösten Probleme mit dem Umfang an Selbstherrschaft (in dem Grad, bis zu dem Praktiken der Macht, die die relativ autonome Enklave zusammenhalten, sich vom »Relativen« auf das »Autonome« verlagern). Probleme werden größer. Und ebenso ihre Konsequenzen. Je weniger relativ die eine Autonomie, um so relativer die andere. Je gründlicher die anfänglichen Probleme gelöst worden sind, um so weniger handhabbar sind die Probleme, die sich daraus ergeben. So gab es die Aufgabe, die Ernten zu vergrößern – gelöst dank der Nitrate. Und es gab die Aufgabe, die Wasserversorgung zu sichern – gelöst dank des Aufstauens von Wasser mit Hilfe von Staudämmen. Dann gab es die Aufgabe, die Wasservorräte vor dem Einsickern unabsorbierter Nitrate zu schützen – gelöst dank der Anwendung von Phosphaten in speziell gebauten Abwasserverarbeitungsanlagen. Dann gab es die Aufgabe, toxische Algen zu zerstören, die in Reservoirs gedeihen, die reich an Phosphatverbindungen sind … Der Trieb nach zweckgerichteter Ordnung bezog seine Energie, wie jeder Ordnungstrieb, aus dem Abscheu vor Ambivalenz. Das Produkt des modernen, fragmentierten Ordnungsdrangs aber war letztlich mehr Ambivalenz. Die meisten Probleme, mit denen die Verwaltungen lokaler Ordnungen heute konfrontiert sind, sind das Ergebnis der Problemlösungs-Aktivität. Der größte Teil der Ambivalenz, denen sich Praktiker und Theoretiker der gesellschaftlichen und intellektuellen Ordnungen gegenübersehen, entsteht aus dem Bemühen, die endemische Relativität der Autonomie zu unterdrücken oder als nicht-existent zu erklären. Probleme werden 31

durch das Problem-Lösen geschaffen, neue Gebiete des Chaos werden durch die Ordnungs-Aktivität erzeugt. Fortschritt besteht zuerst und vorrangig im Veralten der Lösungen von gestern. Der Schrecken vor der Vermischung reflektiert die Besessenheit von dem Gedanken an Trennung. Die lokale, spezialisierte Leistungsfähigkeit, die moderne Methoden, Dinge zu tun, ermöglicht haben, hat die Trennungspraktiken zu ihrer einzigen – wenngleich empfehlenswert soliden – Grundlage. Der zentrale Rahmen sowohl des modernen Intellekts wie der modernen Praxis ist die Opposition – genauer, die Dichotomie. Intellektuelle Visionen, die baumähnliche Bilder fortschreitender Zweiteilungen schaffen, reflektieren und durchdringen die Verwaltungspraxis des Aufsplitterns und der Trennung: Mit jeder weiteren Zweiteilung wächst die Distanz zwischen Abzweigungen von dem ursprünglichen Stamm, ohne horizontale Glieder, um die Isolierung auszugleichen. Dichotomie ist eine Übung in Macht und zur gleichen Zeit ihre Verhüllung. Obgleich keine Dichotomie ohne die Macht, zu trennen und abzusondern, Bestand hätte, schafft sie eine Illusion der Symmetrie. Die vorgespiegelte Symmetrie der Resultate verbirgt die Asymmetrie der Macht, die ihre Ursache ist. Die Dichotomie stellt ihre Glieder als gleich und austauschbar dar. Trotzdem bezeugt gerade ihre Existenz das Vorhandensein einer differenzierenden Macht. Es ist die machtgestützte Differenzierung, die den Unterschied macht. Man sagt, daß nur der Unterschied zwischen Einheiten der Opposition, nicht die Einheiten selbst, bedeutungsvoll seien. So wird Bedeutsamkeit, wie es scheint, in den Praktiken der Macht ausgetragen, die imstande ist, einen Unterschied zu machen – zu trennen und auseinanderzuhalten. In für die Praxis und die Vision gesellschaftlicher Ordnung entscheidend wichtigen Dichotomien versteckt sich die differenzierende Macht in der Regel hinter einem der Glieder der Opposition. Das zweite Glied ist nur das Andere des ersten, die entgegengesetzte (degradierte, unterdrückte, exilierte) Seite des ersten und seine Schöpfung. Auf diese Weise ist die Abnormität das Andere 32

der Norm, Abweichung das Andere der Gesetzestreue, Krankheit das Andere der Gesundheit, Barbarei das Andere der Zivilisation, das Tier das Andere des Menschen, die Frau das Andere des Mannes, der Fremde das Andere des Einheimischen, der Feind das Andere des Freundes, »sie« das Andere von »wir«, Wahnsinn das Andere der Vernunft, der Ausländer das Andere des Staatsbürgers, das Laienpublikum das Andere des Experten. Beide Seiten hängen voneinander ab, aber die Abhängigkeit ist nicht symmetrisch. Die zweite Seite hängt von der ersten hinsichtlich ihrer ins Werk gesetzten und erzwungenen Isolierung ab. Die erste hängt von der zweiten hinsichtlich ihrer Selbstbehauptung ab. Geometrie ist der Archetyp des modernen Geistes. Das Raster ist ihr beherrschender Ausdruck (und unter diesem Aspekt ist Mondrian der repräsentativste unter ihren bildenden Künstlern). Taxonomie, Klassifikation, Inventar, Katalog und Statistik sind vorherrschende Strategien der modernen Praxis. Moderne Meisterschaft besteht in der Macht zu trennen, zu klassifizieren und zuzuteilen – im Denken, in der Praxis des Denkens und im Denken der Praxis. Paradoxerweise ist aus diesem Grund die Ambivalenz der größte Schmerz der Moderne und die beunruhigendste ihrer Sorgen. Geometrie zeigt, wie die Welt wäre, wäre sie geometrisch. Aber die Welt ist nicht geometrisch, sie kann nicht in geometrische Raster eingezwängt werden. Somit ist die Erzeugung von Abfall (und infolgedessen das Interesse an Abfallbeseitigung) ebenso modern wie die Klassifikation und das Entwerfen von Ordnung. Unkraut ist der Abfall des Gärtnerns, armselige Straßen der Abfall der Stadtplanung, Dissidenz der Abfall der ideologischen Einheit, Häresie der Abfall der Orthodoxie, Fremdheit der Abfall der Errichtung des Nationalstaates. All das ist Abfall, da es der Klassifikation trotzt und die Sauberkeit des Rasters zerstört. All das ist die unerlaubte Mischung von Kategorien, die sich nicht mischen dürfen. Sie haben ihr Todesurteil verdient, weil sie der Trennung widerstanden haben. Die Tatsache, daß sie nicht quer über der Barrikade sitzen würden, wäre nicht zuerst die Barrikade gebaut worden, würde vor dem 33

modernen Gerichtshof nicht als gültige Verteidigung in Betracht gezogen werden. Das Gericht ist dazu da, die Sauberkeit der errichteten Barrikaden zu bewahren. Wenn die Moderne es mit der Erzeugung von Ordnung zu tun hat, dann ist Ambivalenz der Abfall der Moderne. Ordnung wie Ambivalenz sind gleichermaßen Produkte der modernen Praxis; und keine von beiden besitzt irgend etwas anderes außer der modernen Praxis – kontinuierliche, wachsame Praxis –, um sie zu stützen. Beide teilen sich in die typisch moderne Kontingenz, die Grundlosigkeit des Seins. Ambivalenz stellt unstrittig die genuinste Beunruhigung und Sorge für die Moderne dar, da sie, anders als andere Feinde, geschlagen und versklavt, mit jedem Erfolg der modernen Mächte an Stärke zunimmt. Es ist ihr eigenes Versagen, das die Aufräumaktivität als Ambivalenz konstruiert. Die folgenden Essays konzentrieren sich zunächst auf verschiedene Aspekte des modernen Kampfes gegen Ambivalenz, der in seinem Verlauf und kraft seiner inneren Logik zur Hauptquelle gerade des Phänomens wird, das er doch auslöschen sollte. Weitere Essays verfolgen die allmähliche Einigung der Moderne mit der Differenz und fragen, wie ein friedliches Zusammenleben mit Ambivalenz aussehen könnte. Das Buch beginnt mit der Skizzierung der Bühne für den modernen Krieg gegen Ambivalenz, die mit Chaos und Mangel an Kontrolle identifiziert wird, deshalb Angst erregt und für die Vernichtung freigegeben wird. Sodann wird ein Überblick über die Elemente des Projekts der Moderne gegeben – Ambitionen philosophischer Vernunft, Gesetze zu geben, Ambitionen des Staates, als Gärtner zu fungieren, Ambitionen der angewandten Wissenschaften, Ordnung zu schaffen –, die Unter-Determination/Ambivalenz/Kontingenz als Bedrohung konstruierten und ihre Eliminierung zu einem der wichtigsten foci imaginarii der gesellschaftlichen Ordnung machten. In den folgenden zwei Kapiteln werden die logischen und praktischen Aspekte des Ordnung-Errichtens (Klassifikation und Tren34

nung) als Ursache der notorisch ambivalenten Kategorie der Fremden betrachtet. Die Frage wird gestellt – und beantwortet –, warum die Bemühungen, ambivalente Kategorien aufzulösen, in noch mehr Ambivalenz enden und sich am Ende als kontraproduktiv erweisen. Ebenso werden die Reaktionen derer, die in die Position der Ambivalenz geworfen sind, in Augenschein genommen und bewertet. Die Frage wird gestellt – und beantwortet –, warum keine der denkbaren Strategien Aussicht auf Erfolg hat und warum das einzig realistische Projekt der Fremden das ist, ihre ambivalente Stellung zu akzeptieren, mit all ihren pragmatischen und philosophischen Konsequenzen. Dann werden eine Fallstudie des modernen Kampfes gegen Ambivalenz und die nicht antizipierten, gleichwohl unvermeidbaren kulturellen Rückwirkungen dieses Kampfes präsentiert, wobei die Konzentration zunächst auf dem assimilatorischen Druck, der auf die europäischen, insbesondere deutschen Juden ausgeübt wurde, auf den inneren Fallen des Assimilationsangebots und den rationalen, dennoch zum Untergang verurteilten Reaktionen seiner Adressaten liegt. Ich verfolge dann einige (und, wie sich später zeigen sollte, die zukunftsträchtigsten) kulturelle Konsequenzen des Assimilationsprojekts – das auf die Ausmerzung der Ambivalenz gerichtet war und gleichwohl immer mehr davon erzeugte: besonders die Entdeckung der Unterdetermination/Ambivalenz/ Kontingenz als einer dauernden condition humaine; ja, als ihr wichtigstes Merkmal. Aussagen von Kafka, Simmel, Freud, Derrida (und einiger weniger bekannter, gleichwohl entscheidender Denker wie Schestow oder Jabès) werden in diesem Kontext neu analysiert. Und es wird der Weg verfolgt, der von der unheilbar ambivalenten gesellschaftlichen Lage zur Selbstkonstitution des kritischen modernen Bewußtseins und letztlich zu dem Phänomen führt, das »postmoderne Kultur« genannt wird. Das anschließende Kapitel erkundet das zeitgenössische Problem der Ambivalenz: ihre Privatisierung. Damit, daß sich der moderne Staat von seinen Gärtner-Ambitionen zurückzog und die philosophische Vernunft für den interpretativen statt den gesetz35

gebenden Modus optierte – tritt das Netzwerk des Fachwissens, unterstützt und vermittelt vom Verbrauchermarkt, als eine Situation auf, in der Individuen, im Verlaufe ihrer privaten selbstkonstruktiven Anstrengungen, der Suche nach Gewißheit, die sich in gesellschaftlicher Anerkennung dokumentiert, allein mit dem Problem der Ambivalenz konfrontiert sind. Die kulturellen und ethischen Konsequenzen der gegenwärtigen Situation werden bis zu Ende verfolgt – was zum nächsten Kapitel führt, in dem versucht wird, Schlußfolgerungen aus der historischen Niederlage des großen modernen Kampfes gegen die Ambivalenz zu ziehen; insbesondere untersucht dieses Kapitel die praktischen Konsequenzen, »ohne Grundlagen«, unter Bedingungen eingestandener Kontingenz, zu leben; einem Hinweis von Agnes Heller folgend wird die Chance erwogen, Kontingenz als Schicksal in ein bewußt übernommenes Geschick zu transformieren; und die nahe beieinanderliegenden Aussichten der Postmoderne, Stammesfehden oder menschliche Solidarität zu erzeugen, werden gegenübergestellt. Es ist nicht die Absicht dieses Kapitels, sich auf das Unternehmen einer gesellschaftlichen Prognose einzulassen, zweifelhaft, wie es innerhalb einer notorisch kontingenten Welt sein muß, sondern eine Tagesordnung für die Diskussion der politischen und moralischen Probleme des postmodernen Zeitalters zu erstellen. Gewiß wird jeder Leser des Buches bemerken, daß sein zentrales Problem fest in Aussagen verwurzelt ist, die zuerst von Adorno und Horkheimer in ihrer Kritik der Aufklärung (und, durch sie hindurch, von der modernen Zivilisation) formuliert worden sind. Sie waren die ersten, die laut und deutlich zum Ausdruck brachten, daß »Aufklärung […] radikal gewordene mythische Angst [ist] … Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist«; daß, was die modernen Menschen »von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt. Rücksichtslos gegen sich selbst hat die Aufklärung noch den letzten Rest ihres eigenen Selbstbewußtseins ausgebrannt. Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zer36

brechen, das sich selbst Gewalt antut.«10 Dieses Buch versucht, historisches und soziologisches Fleisch um das Skelett der »Dialektik der Aufklärung« zu hüllen. Aber es geht auch über Adornos und Horkheimers Aussagen hinaus. Es möchte den Gedanken nahelegen, daß die Aufklärung in ihrem Drang, »jede Spur ihres eigenen Selbstbewußtseins auszubrennen«, letztlich spektakulär versagt hat (Adornos und Horkheimers eigenes Werk ist ganz gewiß einer der vielen lebendigen Beweise für jenen Fehlschlag), und daß mythenzerbrechendes Denken (das die Aufklärung nur verstärken konnte, statt es zu marginalisieren) sich nicht so sehr als selbstzerstörerisch erwies als vielmehr zerstörerisch für die blinde Arroganz, die Anmaßung und die legislativen Träume des Projekts der Moderne.

10 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969, S. 27, 14.

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Der Skandal der Ambivalenz Die Katastrophengefahr des Baconschen Ideals der Herrschaft über die Natur durch die wissenschaftliche Technik entsteht nicht so sehr aus den Mängeln als vielmehr aus der Größe seines Erfolgs. Hans Jonas

Im Laufe meines Studiums der vorliegenden Interpretationen des Holocaust (wie auch anderer Fälle modernen Genozids)1 mußte

1 Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992. Die Unfähigkeit, das Beweismaterial für die modernen Tendenzen zum Völkermord zu würdigen, ist noch offensichtlicher in den Fällen, wo der Völkermord von Staaten begangen wurde, die, im Unterschied zu Nazi-Deutschland, nicht in einem Krieg geschlagen wurden und infolgedessen niemals der Entschlossenheit des Siegers unterworfen waren, die verbrecherische Natur des Feindes zu beweisen. Beinahe drei Jahre nach der Entdeckung von Massengräbern nahe der belorussischen Ortschaft Kuropaty und nach der öffentlichen Bekanntmachung der Spuren summarischer Exekutionen ganzer Bevölkerungsgruppen, die zur Ausrottung bestimmt waren, fühlte sich Wasil Bykow, ein prominenter belorussischer Romancier, gezwungen, von neuem Fragen zu stellen, die schon lange hätten beantwortet sein sollen: »Nachdem die grausigen Entdeckungen öffentlich bekannt geworden sind, die in dem Ödland in der Nähe von Minsk gemacht worden sind, erschienen in der Presse Dutzende von Berichten über ähnliche Massengräber, die in allen regionalen Zentren der Republik und vielen kleineren Städten aufgedeckt worden sind. Wer liegt in diesen Gräbern, wer waren die Leute, die in all diesen Jahren erschossen worden sind, und – vor allem – wer waren die Mörder? Wir haben auf diese Fragen noch keine Antwort, und man bekommt den Eindruck, daß es mächtige Kräfte gibt, die überhaupt nicht daran interessiert sind, daß

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ich zu meiner Überraschung feststellen, daß die theoretischen Konsequenzen, die aus einer sorgfältigen Untersuchung des Falles folgen würden, offensichtlich selten bis zu Ende verfolgt und fast nie ohne Widerstand akzeptiert werden: Zu drastisch und zu weitreichend scheint die Revision, die sie dem Selbstbewußtsein unserer Zivilisation abverlangen. Der Widerstand, die Lehre zu akzeptieren, die die Episode des Holocaust enthält, zeigt sich vor allem in den vielfältigen Versuchen, den Holocaust als eine einmalige historische Episode zu exotisieren oder zu marginalisieren. Der verbreitetste dieser Versuche ist die Interpretation des Holocaust als einer spezifisch jüdischen Angelegenheit: als Höhepunkt der langen Geschichte der Judaeophobie, die weit in die Antike zurückreicht, und bestenfalls als Resultat ihrer modernen Form, des Antisemitismus in seiner rassistischen Variante. Diese Interpretation übersieht eine wesentliche Diskontinuität zwischen selbst den heftigsten Ausbrüchen der prämodernen Judaeophobie und der sorgfältig geplanten und durchgeführten Operation, die Holocaust genannt wird; sie geht auch über die Tatsache hinweg, daß – wie Hannah Arendt schon vor langer Zeit nachgewiesen hat – (wenn überhaupt etwas) nur die Auswahl der Opfer, nicht die Natur des Verbrechens aus der Geschichte des Antisemitismus abgeleitet werden kann; ja, sie verkürzt die wesentlichen Streitfragen der Natur des Verbrechens auf die Frage der einzigartigen Eigenschaften der Juden oder der Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden. »Exotisierung« wird aber auch durch die Anwendung einer anderen Strategie erreicht: durch den Versuch, den Holocaust als eine spezifisch deutsche Angelegenheit zu interpretieren (bestenfalls auch solche Antworten jemals gegeben werden.« In jüngster Zeit verweigerte das Präsidium des Belorussischen Obersten Sowjets einem Korrespondenten der Litaratura i Mastactva – einer Zeitung, die als erste die KuropatyGeschichte veröffentlicht hatte – die Akkreditierung (vgl. Wasil Bykow, »Zhazhda peremen« [»Durst nach Veränderung«], Prawda, 24. Nov. 1989, S. 4).

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noch als eine Angelegenheit einiger anderer, noch fernerer und bizarrerer Nationen, deren verborgene, gleichwohl angeborene mörderische Neigung durch die deutsche Herrschaft ausgelöst und gelockert worden sei). Man hört von dem unvollendeten Geschäft der Zivilisation, von dem gescheiterten Liberalisierungsprozeß, von einer besonders morbiden Abart einer nationalen Philosophie, die den Geist der Bürger vergiftet habe, von den frustrierenden Wechselfällen der jüngeren Geschichte, selbst von der eigenartigen Perfidie und Schläue eines Haufens von Verschwörern; aber kaum jemals etwas von dem, worüber die Herausgeber der Times, des Figaro und anderer höchst angesehener Organe der aufgeklärten Meinung ins Schwärmen gerieten, wenn sie sehnsüchtig das Deutschland der dreißiger Jahre als Vorbild eines zivilisierten Staates beschrieben, als ein Muster an Prosperität, an sozialem Frieden, an gehorsamen und kooperativen Gewerkschaften, an Recht und Ordnung. Ja, wegen seiner schnell sinkenden Kriminalitätsrate, der beinahe totalen Unterbindung der Gewalt auf den Straßen (einmal abgesehen von den kurzen Exzessen während der Flitterwochen der Nazis und natürlich der Kristallnacht), des industriellen Friedens, der Sicherheit und Sorglosigkeit des täglichen Lebens sogar als ein Vorbild für die kränkelnden europäischen Demokratien. Die im wesentlichen dabei verfolgte Strategie, die gleichzeitig das Verbrechen zu einer Randerscheinung macht und die Moderne entlastet, ist die Interpretation des Holocaust als einer singulären Eruption vormoderner (barbarischer, irrationaler) Kräfte, die durch die (angeblich schwache oder fehlgeschlagene) deutsche Modernisierung bislang nur unzureichend gebändigt oder wirkungslos unterdrückt worden seien. Es war zu erwarten, daß diese Strategie die Lieblingsform der Selbstverteidigung der Moderne ist: Schließlich bestätigt und bestärkt sie indirekt den ätiologischen Mythos von der modernen Zivilisation als Triumph der Vernunft über die Leidenschaften und die sich daraus ergebenden Folgen: den Glauben, daß dieser Triumph einen unzweideutig progressiven Schritt in der historischen Entwicklung der öffentlichen Moralität bezeichnet habe. Diese Strategie läßt sich noch dazu leicht ver40

folgen. Sie paßt zu der festen Gewohnheit (die von der modernen wissenschaftlichen Kultur kräftig unterstützt wird, aber vor allem in der andauernden militärischen, ökonomischen und politischen Herrschaft des modernen Teils des Erdballs über den Rest verwurzelt ist), automatisch alle alternativen Lebensformen und insbesondere jede Kritik an den modernen Werten als Ausfluß prämoderner, irrationaler, barbarischer Positionen zu definieren, die es nicht wert seien, ernsthaft erwogen zu werden: als ein Beispiel ebender Klasse von Phänomenen, die die moderne Zivilisation unterdrücken und ausmerzen wollte. Wie es Ernest Gellner vor zwanzig Jahren in gewohnter Kürze und Direktheit ausdrückte: »Wenn eine Lehre der Überzeugung entgegensteht, die wissenschaftlich-industriellen Gesellschaften seien den anderen überlegen, dann ist sie in der Tat erledigt.«2

Der Traum der gesetzgebenden Vernunft Während der ganzen Epoche der Moderne harmonierte die gesetzgebende Vernunft der Philosophen wunderbar mit den nur allzu materialistischen Praktiken der Staaten. Der moderne Staat entstand als eine missionierende, bekehrende, Kreuzzüge führende Macht, die entschlossen war, die beherrschten Bevölkerungen einer gründlichen Kontrolle zu unterwerfen, um sie in eine ordentliche Gesellschaft zu transformieren, die den Vorschriften der Vernunft entsprach. Die rational geplante Gesellschaft war die erklärte causa finalis des modernen Staates. Der moderne Staat war ein Gartenbau betreibender Staat. Seine Haltung war die Haltung eines Gärtners. Er entzog dem gegenwärtigen (wilden, unkultivierten) Zustand der Bevölkerung die Legitimation und zerstörte die vorhandenen Reproduktions- und Gleichgewichtsmechanismen. An

2 Ernest Gellner, »The New Idealism«, in: Problems in the Philosophy of Science, hrsg. von I. Lakatos und A. Musgrave, Amsterdam 1968, S. 405.

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ihre Stelle setzte er planmäßig konstruierte Mechanismen, die dazu dienen sollten, die Veränderung in Richtung des rationalen Entwurfs zu lenken. Der Entwurf, angeblich von der höchsten und unbezweifelbaren Autorität der Vernunft diktiert, stellte die Kriterien bereit, um die bestehende Realität zu bewerten. Diese Kriterien unterteilten die Bevölkerung in nützliche Pflanzen, die sorgsam zu kräftigen und fortzupflanzen waren, und Unkraut – das entfernt oder samt Wurzeln herausgerissen werden mußte. Die Bedürfnisse der nützlichen Pflanzen (wie sie von dem Entwurf des Gärtners vorgesehen waren) wurden befriedigt, während den Bedürfnissen derer, die zu Unkraut erklärt worden waren, die Grundlage entzogen wurde. Beide Kategorien wurden zu Objekten des Handelns erklärt und beiden die Rechte sich selbst bestimmender Handelnder verweigert. Der Philosoph, insistierte Kant in der Kritik der reinen Vernunft 3, »ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft« (B 867). Die Aufgabe der Vernunft, als deren oberster Sprecher der Philosoph handelt, ist es, »einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlosen Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne« (A XI). Die Idee der »Gesetzgebung« des Philosophen wird »allenthalben in jeder Menschenvernunft angetroffen«, und »die Philosophie ist die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)« (B 867). Philosophie kann nur eine gesetzgebende Macht sein; es ist die Aufgabe guter Philosophie, der richtigen Metaphysik, den Menschen zu dienen, die fordern, »daß ein Erkenntnis, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen […] solle« (B 859). »Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Er-

3 Zitiert wird nach I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. R. Schmidt, Hamburg 1956.

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kenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen.« (B 860) Die Art des Wissens, das tatsächlich den gemeinen Verstand überschreiten könnte, der aus bloßen Meinungen und Glauben besteht (Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten; Glaube ist die unzuverlässigste Art von Urteil, ein Fürwahrhalten, das »für objektiv unzureichend gehalten« wird und nur subjektiv zureichend ist [B 850]), könnte und sollte »euch nur von den Philosophen entdeckt werden« (B 859). In der Erfüllung dieser Aufgabe wäre Metaphysik die »Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft« (B 878); sie wird jene Vernunft aus dem rohen und unordentlichen Zustand, in dem sie natürlicherweise gegeben ist, auf die Höhe des ordentlichen Systems erheben. Die Metaphysik wird zu Hilfe gerufen, um die harmonische Vollendung des Denkens zu kultivieren. Daß die Metaphysik, »als bloße Spekulation, mehr dazu dient, Irrtümer abzuhalten als Erkenntnis zu erweitern, tut ihrem Wert keinen Abbruch, sondern gibt ihr vielmehr Würde und Ansehen durch das Zensoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinsamen Wesens sichert, und dessen mutige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Gluckseligkeit, zu entfernen« (B 879).

Sein Urteil über Fragen des menschlichen Glücks abzugeben, ist die Prärogative des Philosophen und seine Pflicht. Hier wiederholt Kant lediglich die jahrhundertealte Tradition der Weisen, die zumindest bei Platon ihren Ursprung hat. Im 7. Buch von Platons Politeia 4 gibt Sokrates Glaukon den Rat, sobald er einmal das Reich der »wahren Philosophie« besucht habe und auf diese Weise »zum wirklichen Sein« emporgestiegen sei (indem er seine Seele von einem Tag, der wie die Nacht ist, zu einem wahren Tag umgewendet habe), müsse er zu denen zurückkehren, die ihm bei seinem Aufstieg nicht gefolgt seien. (Die Weisen, die aus ihrer

4 Zitiert wird nach: Platon, Der Staat, Stuttgart 1988, übers. v. K. Vretzka.

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Flucht in die Welt ewiger Wahrheiten niemals zurückkehren, tun ebenso unrecht wie die gewöhnlichen Männer und Frauen, die diese Reise niemals angetreten haben; zusätzlich sind sie des Verbrechens schuldig, eine Gelegenheit versäumt und eine Pflicht nicht erfüllt zu haben.) Dann wird er »tausendmal besser sehen als die, die dort leben« – und dieser Vorteil wird ihm das Recht und die Verpflichtung auferlegen, sein Urteil zu fällen und Gehorsam gegenüber der Wahrheit zu erzwingen. Man muß die Pflicht des Philosophen verkünden – »sich um die andern zu kümmern und sie zu betreuen«. »Unsere Aufgabe als Gründer ist es nun, die besten Naturanlagen zu zwingen, sich jener Wissenschaft zu widmen, die wir vorher als die höchste bezeichnet haben: das Gute zu erschauen und jenen Aufstieg zu gehen: wenn sie dann dort oben hinreichend gelebt haben, dann dürfen wir ihnen nicht erlauben, was man ihnen heute erlaubt.« (519c)

»Es ist glaublicher«, daß die Wahrheit »von Wenigen gefunden werden konnte als von vielen« – erklärte Descartes5 in der dritten Regel der Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Die Wahrheit zu wis-

5 Zitate aus Descartes nach R. Descartes, Regulae ad directionem ingenii/Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, hrsg. v. Springmeyer, Gäbe, Zekl, Hamburg 1973. Spinozas »Über die Verbesserung des Verstandes« wird zitiert nach Baruch de Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, hrsg. v. Carl Gebhardt, Hamburg 1977. In seiner Untersuchung The Mind of God and the Works of Man, Oxford 1987, beobachtete Edward Craig, daß die frühe Neuzeit »eine Epoche war, die die Vernunft vergöttlicht hat« – was auch den Glauben der Philosophen bedeutete, daß »der Mensch ist wie Gott«. Galileo vertrat die Ansicht, daß das menschliche Wissen zwar extensiv vernachlässigt werden könne (wenigstens bislang), intensiv aber dem Wissen Gottes gleich komme. Craig betont die überaus wichtige Korrelation zwischen der Überzeugung, daß der Mensch objektiver Gewißheit fähig sei und daß eine totale Freiheit von äußeren Bestimmungen erreicht werden könne: Der Traum der kognitiven und der praktischen Herrschaft gingen zusammen, konnten nicht getrennt werden und verschafften einander Legitimation (S. 13–37).

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sen, sie mit einer Gewißheit zu wissen, die den Neigungen der vulgären Erfahrung Widerstand leisten und gegenüber den Versuchungen durch enge und parteiische Interessen immun bleiben kann, ist genau die Eigenschaft, die die wenigen von den vielen trennt – und sie über die Masse erhebt. Die Gesetze der Vernunft zu geben und durchzusetzen ist die Bürde jener wenigen, der »Wahrheitswisser«, der Philosophen. Sie sind berufen, die Aufgabe zu erfüllen, ohne welche das Glück der vielen niemals erreicht werden wird. Diese Aufgabe würde manchmal einen gütigen und wohlwollenden Lehrer erfordern; zu einer anderen Zeit die sichere Hand eines strengen und unnachgiebigen Wächters. Zu welchen Handlungen der Philosoph auch immer gezwungen sein mag, ein Element wird – muß – konstant bleiben: die unangefochtene Prärogative des Philosophen, zwischen wahr und unwahr, gut und böse, richtig und falsch zu entscheiden; und auf diese Weise sein Recht, Urteile zu fällen, und seine Autorität, dem Urteil Gehorsam zu verschaffen. Kant hatte wenig Zweifel hinsichtlich der Natur dieser Aufgabe; um sie deutlich zu machen, entnahm er seine Metaphern häufig dem Vokabular der Macht. Metaphysik war die »Königin«, deren »Herrschaft« unter »der Verwaltung« der Dogmatiker despotisch, aber immer noch unverzichtbar war, um »die Nomaden« in Schach zu halten, »die beständigen Anbau des Bodens verabscheuten« und daher »von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung« zertrennten (A VIII). Der spezifische Dienst, den die Metaphysik leisten soll, ist die Kritik der Vernunft: »Diesem Dienste der Kritik den positiven Nutzen abzusprechen, wäre eben so viel, als sagen, daß Polizei keinen positiven Nutzen schaffe, weil ihr Hauptgeschäft doch nur ist, der Gewalttätigkeit, welche Bürger von Bürgern zu besorgen haben, einen Riegel vorzuschieben, damit ein jeder seine Angelegenheit ruhig und sicher treiben könne.« (B XXV)

Man könnte versucht sein, diese oder ähnliche Bilder, die der Rhetorik der Macht entstammen, als üblichen Bestandteil aller Protreptik herunterzuspielen – die gewöhnlich lobenden Präambeln vor philosophischen Abhandlungen, die dazu dienen sollen, die voraussichtlichen Leser, besonders die mächtigen und begüterten un45

ter ihnen, für das Thema einzunehmen. Trotzdem richtete sich die Fürsprache für die gesetzgebende Vernunft an eine spezielle Art von Leser, und folglich war die Sprache, in der die Bitte um Aufmerksamkeit und Gunst abgefaßt war, eine, die einem solchen Leser vertraut war und mit seinen Interessen übereinstimmte. Dieser Leser war zuerst und vor allem die jeweilige Regierung, der Despot, an den man sich mit einem Aufklärungs-Angebot wandte – mit einem Mittel, genau die Sache, die er betreiben wollte, effektiver zu tun. Wie die weltlichen Herrscher stählte sich die kritische Philosophie für die Aufgabe, »die Wurzeln abzuschneiden«. Die Feinde, die zu durchbohren und zu überwältigen eine solche Philosophie besonders geeignet war, waren die dogmatischen Schulen des Materialismus, Fatalismus, Atheismus, des Freidenkertums, des Fanatismus und des Aberglaubens, »die allgemein schädlich werden können« (B XXXIV). Es mußte also gezeigt werden, daß diese Gegner gleichermaßen weltliche wie intellektuelle Ordnungen bedrohen; daß ihre Vernichtung in demselben Maße in Übereinstimmung mit den Interessen der bestehenden Mächte wie mit denen der kritischen Philosophie steht; und daß sich daher die Aufgabe des königlichen Gesetzgebers mit dem Ziel der gesetzgebenden Vernunft überschneidet. »Wenn Regierungen sich ja mit Angelegenheiten der Gelehrten zu befassen gut finden, so würde es ihrer weisen Fürsorge für Wissenschaften sowohl als Menschen weit gemäßer sein, die Freiheit einer solchen Kritik zu begünstigen, wodurch die Vernunftbearbeitungen allein auf einen festen Fuß gebracht werden können, als den lächerlichen Despotismus der Schulen zu unterstützen, welche über öffentliche Gefahr ein lautes Geschrei erheben, wenn man ihre Spinneweben zerreißt, von denen doch das Publikum niemals Notiz genommen hat, und deren Verlust es also auch nie fühlen kann.« (B XXXV)

Hinter Kants Metaphernwahl steckt aber mehr als die Erwägung der Zweckdienlichkeit bei der Bewerbung um die königliche Gunst. Es bestand eine echte Affinität zwischen dem Gesetzgebungsehrgeiz der kritischen Philosophie und dem Planungsehrgeiz des entstehenden modernen Staates; ebenso wie es eine echte Symmetrie zwischen dem Geflecht des traditionellen Provinzialis46

mus gab, den der moderne Staat zu entwurzeln hatte, um seine eigene höchste und unbestrittene Souveränität zu etablieren, und der Kakophonie der »dogmatischen Schulen«, die zum Schweigen gebracht werden mußten, damit die Stimme der universalen und ewigen Vernunft (und infolgedessen der einen und unbestrittenen Vernunft: »so daß nichts für die Nachkommenschaft übrig bleibt als in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können« [A XX]) gehört und ihre apodiktische Gewißheit gewürdigt werden konnte. Moderne Herrscher und moderne Philosophen waren zuerst und vor allem Gesetzgeber; sie fanden Chaos vor und gingen daran, es zu zähmen und durch Ordnung zu ersetzen. Die Ordnungen, die sie einzuführen wünschten, waren per definitionem künstlich; sie mußten daher auf Entwürfen beruhen, die sich auf Gesetze beriefen, die sich einzig auf die Vernunft stützten und die aus ebendiesem Grunde aller Opposition die Legitimation entzogen. Der Planungsehrgeiz moderner Herrscher und derjenige moderner Philosophen waren füreinander bestimmt und wohl oder übel dazu verurteilt, zusammenzubleiben, sei es in Liebe oder Krieg. Wie alle Ehen zwischen eher ähnlichen als einander ergänzenden Partnern war sie dazu bestimmt, die Freuden leidenschaftlicher wechselseitiger Begierde zugleich mit den Folterqualen einer hemmungslosen Rivalität zu kosten. Die Sicherung des Supremats für eine geplante, künstliche Ordnung ist eine doppelte Aufgabe. Sie verlangt Einheit und Integrität des Reichs und Sicherheit seiner Grenzen. Beide Seiten der Aufgabe laufen auf eine hinaus: das »Innere« vom »Äußeren« zu trennen. Nichts, was innen bleibt, kann für den Gesamtentwurf irrelevant sein oder angesichts der ausnahmelosen Regelungen der Ordnung seine Autonomie bewahren (»gültig für jedes rationale Wesen«). Denn die reine spekulative Vernunft »enthält einen wahren Gliederbau, worin alles Organ ist, nämlich alles um eines willen und ein jedes einzelne um aller willen, mithin jede noch so kleine Gebrechlichkeit, sie sei ein Fehler (Irrtum) oder Mangel, sich im Gebrauche unausbleiblich verraten muß« (B XXXVII) – 47

genau wie im Fall der politischen Vernunft des Staates. Im Reich der Vernunft und der Politik muß die Ordnung gleichermaßen sowohl exklusiv als auch umfassend sein. Deshalb verschmilzt die doppelte Aufgabe zu einer einzigen: zu der, die Grenze der »organischen Struktur« scharf und deutlich zu markieren, was bedeutet, das »Mittlere auszuschließen«, alles Zweideutige, alles, was quer über der Barrikade sitzt und auf diese Weise den vitalen Unterschied zwischen innen und außen kompromittiert, zu unterdrükken oder auszurotten. Ordnung zu schaffen und zu bewahren bedeutet Freunde zu erwerben und Feinde zu bekämpfen. Zuerst und vor allem freilich bedeutet es, sich von der Ambivalenz zu befreien. Im politischen Bereich bedeutet die Beseitigung der Ambivalenz, Fremde auszugrenzen und zu verbannen, einige lokale Mächte zu sanktionieren und die unsanktionierten zu entrechten, »Gesetzeslücken« zu füllen. Im intellektuellen Bereich bedeutet das Beseitigen von Ambivalenz vor allem, allen philosophisch unkontrollierten oder unkontrollierbaren Gründen des Wissens die Legitimation abzusprechen. Vor allem bedeutet es, den common sense zu verdammen und für ungültig zu erklären – sei es als »bloßer Glaube«, »Vorurteile«, »Aberglaube« oder bloße Manifestationen der »Ignoranz«. In seiner vernichtenden Kritik an der bestehenden dogmatischen Metaphysik war es Kants krönendes Argument, daß »die Geburt jener vorgegebenen Königin aus dem Pöbel der gemeinen Erfahrung abgeleitet wurde« (A IX). Die Pflicht des Philosophen, die Kant festsetzen wollte, war im Gegensatz dazu, »das Blendwerk, das aus Mißdeutung entsprang, aufzuheben, sollte auch noch so viel gepriesener und beliebter Wahn dabei zunichte gehen« (A XIII). In einer solchen Philosophie »ist es auf keine Weise erlaubt zu meinen«. Die Urteile, die in das philosophische Tribunal der Gründe Eingang fanden, sind notwendig und führen »Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit« bei sich, d.h. sie dulden keine Rivalität und lassen nichts außen vor, das irgendeine anerkannte Autorität beanspruchen könnte. Für Spinoza ist das einzige Wissen, das diesen Namen verdient, eines, das gewiß, absolut und 48

sub specie aeternitatis ist. Spinoza teilte Ideen in strikt getrennte Kategorien (wobei er für »mittlere Fälle« keinerlei Raum ließ) von solchen, die Wissen konstituieren, und solchen, die falsch sind; den letzteren wurde pauschal jeder Wert abgesprochen, und sie wurden auf pure Negativität reduziert – auf die Abwesenheit von Wissen. (»Falsche und fingierte Ideen haben […] nichts Positives, wegen dessen sie als falsch oder fingiert bezeichnet werden; bloß wegen ihres mangelnden Erkenntniswertes werden sie als solche betrachtet.« Nach Kants Ansicht ist der spekulative Philosoph »ausschließlich Depositär einer dem Publikum ohne dessen Wissen nützlichen Wissenschaft« (B XXXIII) (für die Gültigkeit der Wohltaten ist das Bewußtsein der Öffentlichkeit, daß ihr wohlgetan wird, irrelevant; es ist die Berechtigung des Philosophen, die zählt). Kant wiederholt: »In Urteilen aus reiner Vernunft ist es gar nicht erlaubt zu meinen […] weil subjektive Gründe des Fürwahrhaltens wie die, so das Glauben bewirken können, bei spekulativen Fragen keinen Beifall verdienen.« (B 851) Descartes kommt in diesem Punkt bereitwillig zu Hilfe: »Ich sollte wohl, da ich klüger als die Menge sein will, mich schämen, aus den Redewendungen, welche doch die Menge erfunden hat, einen Anlaß zum Zweifel entnommen zu haben« (Zweite Meditation, § 22); Intuition und Deduktion, beide systematisch von den Philosophen angewandt, sind die »zuverlässigsten Wege zur Wissenschaft«, »und weitere darf man von seiten der Erkenntniskraft nicht zulassen, sondern alle anderen sind als verdächtig und Irrtümern preisgegeben abzuweisen […] Und so weisen wir mit diesem Grundsatz alle jene bloß wahrscheinlichen Erkenntnisse zurück und beschließen, daß ausschließlich vollkommen Erkanntem, das nicht bezweifelt werden kann, Vertrauen zu schenken ist« (Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, III, 9; II, 1). Dies sind im Umriß die Hauptcharakteristika dessen, was Richard Rorty die foundational philosophy, die Philosophie als Fundamentalwissenschaft, genannt hat – nachdem er zuerst Kant, Descartes und Locke der gemeinsamen Verantwortung dafür bezichtigt hatte, dieses Modell den folgenden beiden Jahrhunderten der 49

Philosophiegeschichte aufgebürdet zu haben.6 Wie ich oben angedeutet habe, hatte eine solche fundierende Philosophie ihr Korrelat in dem, was die fundierende Politik des entstehenden modernen Staates genannt werden kann; es bestand eine auffällige Symmetrie zwischen den erklärten Ambitionen und praktizierten Strategien, wie auch eine vergleichbare Besessenheit von der Frage der Souve6

[Philosophie] »vermag jegliche übrige Kultur zu fundieren, da Kultur überhaupt im Ansammeln von Wissensansprüchen besteht und die Philosophie es ist, die über derartige Ansprüche ein Urteil fällt. Die Idee der Philosophie als ein Tribunal der reinen Vernunft, das über alle anderen kulturellen Ansprüche zu Gericht sitzt, verdanken wir dem achtzehnten Jahrhundert und insbesondere Kant. Dieser Kantische Philosophiebegriff hatte jedoch die allgemeine Billigung der Lockeschen Konzeption mentaler Prozesse und der Cartesischen Konzeption des Mentalen zur Voraussetzung.« (Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt/M. 1981, S. 13f.) In einem Kommentar zu Kants Behauptung, daß die Erscheinungen selbst noch Gründe haben müssen, die nicht Erscheinungen sind, beobachtete Hannah Arendt, daß »die theoretischen Bemühungen der Philosophen um etwas hinter den Erscheinungen Liegendes in ziemlich heftige Ausbrüche gegen die ›bloßen Erscheinungen mündeten« (Vom Leben des Geistes, Teil I, Das Denken, München 1979, S. 34). Philosophen hätten den »theoretische[n] Vorrang des Seins und der Wahrheit vor der bloßen Erscheinung, de[n] Vorrang des Grundes, der nicht erscheint, vor der Oberfläche, die erscheint« (S. 34) zu beweisen gesucht. Lassen Sie mich hinzufügen, daß der postulierte »Grund« per definitionem jenseits der gewöhnlichen, laienhaften und sinnlichen Eindrücke des gesunden Menschenverstandes lag und sein Vorrang infolgedessen den Vorrang des Geistigen vor dem Physischen und den der Praktiker der theoretischen Praxis vor denen, die nur mit knechtischen, manuellen Operationen beschäftigt waren, symbolisch widerspiegelte und legitimierte. Die Suche nach Gründen und die Anschwärzung der Erscheinungen war ein integraler Teil des Angriffs gegen nicht-philosophische, autonome Wahrheitsansprüche. Um Arendt noch einmal zu zitieren, so sind »so gut wie keine Beispiele bekannt, in denen die vielen von sich aus den Philosophen den Krieg erklärt hätten. Bezüglich der vielen und der wenigen war es eher umgekehrt.« (S. 87)

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ränität der als Prinzip der Universalität legaler oder philosophischer Prinzipien vorgestellt legislativen Gewalt. Kant, Descartes und Locke (wie Francis Bacon vor ihnen) waren alle vom Traum einer herrschenden (d.h. kollektiv von Zwängen freien) Menschheit bewegt – die einzige Bedingung, unter der, wie sie glaubten, die menschliche Würde respektiert und bewahrt werden könne. Die Souveränität der menschlichen Person war ihr erklärtes und subjektiv echtes Interesse; im Namen dieser Souveränität wollten sie die Vernunft in das Amt des höchsten Gesetzgebers einsetzen. Und dennoch gab es eine gewisse Wahlverwandtschaft zwischen der Strategie der legislativen Vernunft und der Praxis der Staatsmacht, die entschlossen war, die geplante Ordnung einer widerspenstigen Realität aufzuzwingen. Ungeachtet der bewußten Absichten der Denker standen die gesetzgebende Vernunft der modernen Philosophie und die moderne wissenschaftliche Mentalität im allgemeinen in Übereinstimmung mit den praktischen Aufgaben, die der moderne Staat stellte. Die beiden Aktivitäten bezogen sich aufeinander, verstärkten einander, bestärkten die Glaubwürdigkeit des jeweils anderen und das Vertrauen zueinander. So wie der ehrgeizige Despot der Gewißheit der universalen Gültigkeit seiner partikulären Intentionen bedurfte, konnte die gesetzgebende Vernunft der Versuchung nicht widerstehen, zu erziehen – den Despoten aufzuklären und zu der Rolle zu befähigen, diese Vernunft in die Praxis umzusetzen.

Der Staat als Gärtner An der Schwelle der Neuzeit gab Friedrich der Große, zugestandenermaßen der Monarch, der dem Idealbild, das sich les philosophes von einem aufgeklärten Despoten gemacht hatten, am nächsten kam und der auch tatsächlich ein Lieblingsadressat ihrer Pläne war, das Stichwort für die sozialreformerischen Ambitionen des neuen Staates: 51

»Ich ärgere mich, wenn ich sehe, welche Mühe man sich in diesem rauhen Klima gibt, um Ananas, Bananen und andere exotische Pflanzen zum Gedeihen zu bringen, während man so wenig Sorgfalt auf das menschliche Geschlecht verwendet. Man mag sagen, was man will: Der Mensch ist wertvoller als alle Ananasse dieser Welt. Er ist die Pflanze, die man züchten muß, die alle unsere Mühe und Sorgfalt verdient; denn sie bildet die Zier und den Ruhm des Vaterlandes.«

Zeigte Friedrich der Große nur, wie leidenschaftlich er die Lehre der Aufklärung in sich aufzunehmen wünschte, taten zumindest einige seiner Nachfolger ihr Bestes, »Philosophie zu einer materiellen Gewalt« zu machen und Menschen wie Bananen und Ananas zu behandeln, wobei sie zu diesem Zwecke die beispiellosen technologischen Hilfsmittel und Verwaltungskapazitäten nutzten, die der moderne Staat zur Verfügung stellte. Und sie nahmen die Züchtungsvorschrift, die für Friedrich den Großen kaum mehr als eine sehnsüchtige Metapher war, wörtlich. Im Jahre 1930 schrieb R. W. Darré, der spätere Reichsernährungsminister der Nazis: »Wer in einem Garten die Pflanzen sich selbst überläßt, wird zu seiner Überraschung feststellen müssen, daß in kurzer Zeit alle Pflanzungen vom Unkraut überwuchert sind, daß sich also das Bild des Pflanzenbestandes grundlegend geändert hat. Soll daher der Garten die Stätte pflanzlicher Vererbung bleiben, d.h. sich über das rauhe Walten der Naturkräfte emporheben, dann gehört dazu der gestaltende Wille des Gärtners, der mit hegender Hand das fördert – (sei es durch Zurverfügungstellen von geeigneten Lebensbedingungen, sei es durch Fernhalten von schädlichen Einflüssen oder durch beide Maßnahmen zusammen) –, was gefördert werden soll, und mit merzender Hand das ausjätet, was den höher gearteten Pflanzen den Ernährungsraum beengen und ihnen Luft, Licht und Sonne zu rauben vermöchte […] Wir stehen so bereits vor der Erkenntnis, daß die Zuchtfragen nicht Nebensachen staatlichen Denkens sind, sondern daß sie im Mittelpunkt aller Betrachtungen zu stehen haben […] Man muß wohl sogar sagen, daß die seelische und sittliche Gleichgewichtslage eines Volkes erst erreicht ist, wenn ein wohlverstandener Zuchtgedanke im Mittelpunkt seiner Gesittung steht […]«7 7 R. W. Darre, »Die Grundgedanken der Zuchtaufgaben und die Ehegesetze«, in: Neuadel aus Blut und Boden, München 1930, S. 133 f. Mona Ozouf

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Im Jahre 1934 wurde der weltbekannte Biologe Erwin Baur, Träger vieler akademischer Auszeichnungen, damals Direktor des KaiserWilhelm-Instituts für Züchtungsforschung, noch konkreter: »Jeder Landwirt weiß, daß seine Zucht hoffnunglos entarten würde, wenn er die besten Exemplare seiner Haustiere schlachten würde, ohne sie sich fortpflanzen zu lassen, und er statt dessen weiterhin minderwertige Tiere züchten würde. Diesen Fehler, den kein Bauer bei seinen Tieren und Kulturpflanzen begehen würde, lassen wir in unserer Mitte in einem großen Ausmaß zu. Zur Erhaltung unserer heutigen Menschheit müssen wir darauf achten, daß diese minderwertigen Völker sich nicht vermehren. Eine einfache Operation, die sich in wenigen Minuten vornehmen läßt, macht dieses ohne weiteres möglich […] Niemand begrüßt die neuen Sterilisierungsgesetze mehr als ich, aber ich muß immer wieder betonen, daß sie nur ein Anfang sind.«

Im gleichen Sinne äußerte sich sein gelehrter Kollege Martin Stämmler im Jahr 1935: »Ausrottung und Selektion sind die beiden Pole, um die sich die ganze Rassenzüchtung dreht. Ausrottung ist die biologische Zerstörung des erblich Minderwertigen durch Sterilisation, dann quantitative Unterdrückung des Ungesunden und Unerwünschten […] Die […] Aufgabe besteht darin, das Volk vor einem Überwuchern des Unkrauts zu schützen.«8

legte in ihrem Buch L’homme régénéré, Paris 1989, dar, daß die Französische Revolution, selbst der Höhepunkt in der Geschichte der Aufklärung, ihre Absichten auf die »Bildung« eines nouveau peuple konzentriert und sich aus dem gleichen Grunde »die neue Züchtung von Menschen« als Aufgabe gestellt habe (S. 119). Die angestrebte »regenerierte« Gesellschaft, die aus dem »neuen Volk« bestehen sollte, sollte unter anderem »une société purgée de ces membres douteux« sein (S. 143). Auf diese Weise war, laut Ozouf, die Französische Revolution in gewissem Sinne eine »Vorahnung« zukünftiger Zeiten; sie antizipierte den Gang späterer Versuche, eine »Gesellschaft zu errichten«; verführerisch ließ sie das »projet de visibilité absolue où l’indétermination est insupportable« unerfüllt und begann einfach auf dem Weg, der »des Lumières au Goulag« führte (S. 120). 8 Zitiert nach Max Weinreich, Hitler’s Professors, New York 1946, S. 30–34.

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Um die Ambitionen des Staates zu unterstreichen, der jetzt fest entschlossen war, einen vom Staat überwachten Plan an die Stelle der unkontrollierten und spontanen Mechanismen der Gesellschaft zu setzen, verband sich die medizinische Metapher bald mit der traditionellen des Gärtners. So erklärte einer der prominentesten und berühmtesten Zoologen, Professor Konrad Lorenz, ein Mann von weltweitem Ruhm und Nobelpreisträger des Jahres 1973, im Juni 1940: »Aus der weitgehenden biologischen Analogie des Verhältnisses zwischen Körper und Krebsgeschwulst einerseits und einem Volke und seinen durch Ausfälle asozial gewordenen Mitgliedern andererseits ergeben sich große Parallelen in den notwendigen Maßnahmen […] Jeder Versuch des Wiederaufbaus der aus ihrer Ganzheitsbezogenheit gefallenen Elemente ist daher hoffnungslos. Zum Glück ist ihre Ausmerzung für den Volksarzt leichter und für den überindividuellen Organismus weniger gefährlich als die Operation des Chirurgen für den Einzelkörper.«9

Ich möchte betonen, daß keine der obigen Aussagen ideologisch motiviert war; insbesondere war keine von ihnen spezifisch gegen die Juden gerichtet oder entsprang vorwiegend antisemitischen Gefühlen. (Tatsächlich gab es unter den wortgewaltigsten gelehrten Predigern der gärtnerischen und medizinischen Techniken in der Sozialtechnologie einige Juden. So empfahl z.B. noch im Jahre 1935, kurz bevor er wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen wurde, der bekannte Psychiater Dr. F. Kallmann die Zwangssterilisierung selbst der gesunden, heterozygoten Träger »einer Kopie des Schizophrenie-Gens«. Da Kalimanns Plan die Sterilisierung von nicht weniger als 5 Prozent der Gesamtpopulation zur Folge gehabt hätte, mußte der Eifer dieses Autors von seinen nicht-jüdischen Kollegen gebremst werden.) Die zitierten Wissenschaftler ließen sich einzig und allein vom eigentlichen und unbestrittenen Verständnis der Rolle und Aufgabe der Wissenschaft leiten – und

9 Zitiert nach Benno Müller-Hill, Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933–1945, Hamburg 1984, S. 18.

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von dem Gefühl der Verpflichtung gegenüber der Vision einer guten Gesellschaft, einer gesunden Gesellschaft, einer ordentlichen Gesellschaft. Insbesondere ließen sie sich von der gar nicht einmal idiosynkratischen, eher typisch modernen Überzeugung leiten, daß der Weg zu einer solchen Gesellschaft über das endgültige Zähmen der inhärent chaotischen natürlichen Kräfte und über die systematische und, wenn nötig, rücksichtslose Ausführung eines wissenschaftlich entworfenen, rationalen Plans führte. Wie es sich ergab, war das zugegebenermaßen eigensinnige und anarchistische Judentum eines der vielen Unkräuter, die das Stück Land bewohnten, das für den sorgfältig entworfenen Garten der Zukunft vorgesehen war. Aber es gab auch andere Unkräuter – Träger von Erbkrankheiten, Schwachsinnige, körperlich Deformierte. Und ebenso gab es Pflanzen, die sich einfach deshalb in Unkraut verwandelten, weil eine höhere Vernunft forderte, daß das Land, das sie für sich in Anspruch nahmen, in den Garten eines anderen verwandelt werden sollte. Die extremsten und gut dokumentierten Fälle globaler »Sozialtechnologie« (social engineering) in der modernen Geschichte (die von Stalin und Hitler organisierten) waren, ungeachtet all ihrer begleitenden Scheußlichkeiten, weder Ausbrüche einer Barbarei, die noch nicht vollkommen von der neuen rationalen Ordnung der Zivilisation ausgelöscht war, noch der Preis, der für Utopien entrichtet wurde, die dem Geist der Moderne fremd waren. Ganz im Gegenteil, sie waren legitime Kinder des modernen Geistes, jenes Dranges, den Fortschritt der Menschheit zur Vollkommenheit zu unterstützen und zu beschleunigen, der durchweg das hervorstechendste Merkmal der Moderne war – jener »optimistischen Ansicht, daß wissenschaftlicher und industrieller Fortschritt im Prinzip alle Beschränkungen der möglichen Anwendung von Planung, Erziehung und Sozialreform im Alltagsleben beseitigt habe«, jenes Glaubens, »daß soziale Probleme endgültig gelöst werden konnten«. Die Vorstellung der Nazis von einer harmonischen, ordentlichen, uniformen Gesellschaft bezog ihre Legitimität und Attraktivität aus Ansichten und Überzeugungen, die sich durch anderthalb 55

Jahrhunderte einer Nach-Aufklärungsgeschichte längst im öffentlichen Bewußtsein festgesetzt hatten und mit szientistischer Propaganda sowie einer sichtbaren Zurschaustellung der phantastischen Macht der modernen Technologie angefüllt waren. Weder die nazistische noch die kommunistische Vision standen im Widerspruch zu dem kühnen Selbstvertrauen und der Hybris der Moderne. Sie boten lediglich an, das besser zu tun, wovon andere moderne Mächte träumten, was sie vielleicht sogar versuchten, aber nicht erreichten: »Wir dürfen nicht vergessen, daß der faschistische Rassismus ein Modell für die Neuordnung der Gesellschaft, ihre innere Neuausrichtung anbot. Es beruhte auf der rassistisch begründeten Aussonderung aller aus der Norm herausfallenden Elemente, von aufsässigen Jugendlichen, von Arbeitsbummlern, von Asozialen, von Prostituierten, von Homosexuellen, von beruflich Erfolglosen und Leistungsuntüchtigen, von Behinderten. Die nationalsozialistische Eugenik (also die Auslese nach dem ›Wert‹ des Erbguts) beschränkte sich nicht nur auf die Sterilisierung und Euthanasie bei angeblich wertlosem und die Nachwuchsförderung bei angeblich wertvollem Leben, sie stellte zudem Beurteilungskriterien zur Verfügung, die auf die Einpassung, Einordnung und Normierung des Leistungsverhaltens auch der übrigen Bevölkerung ausgerichtet waren.«

Man muß Detlev J. K. Peukert in der Tat zustimmen, daß der Nationalsozialismus lediglich »den utopischen Glauben an allumfassende ›wissenschaftliche‹ Endlösungen sozialer Probleme zum letzten logischen Extrem führte«.10 Die Entschlossenheit und die 10 Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 264, 263, 246, 295. Der moderne Traum einer einheitlichen, harmonischen Ordnung der Gesellschaft und die gleichermaßen moderne Überzeugung, daß die Auferlegung einer solchen Ordnung auf die widerstrebende Realität ein fortschrittlicher Zug sei, eine Förderung der allgemeinen Interessen, der aus dem gleichen Grunde alle »Übergangskosten« legitimiere, kann hinter jedem Fall modernen Genozids gefunden werden. So ermordeten die Erbauer des modernen türkischen Staates die Masse der »harmoniestören-

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Freiheit, »den Weg bis zu Ende« zu gehen und das Ziel zu erreichen, gehörten zu Hitler selbst, aber die Logik war vom Geist der Moderne konstruiert, legitimiert und bereitgestellt worden.

Gärtnerische Ambitionen und der Geist der Moderne Sobald erst einmal die Fragen der Wünschbarkeit der Ordnung und der Pflicht der Herrscher, über ihre Herstellung zu wachen, geklärt waren, war der Rest eine Sache kühler Berechnung von Kosten und Nutzen – eine Kunst, in der der moderne Geist ebenfalls brillierte. Wiederum können die Nazis keinerlei Recht auf die Erfindung und Kodifizierung dieser Kunst beanspruchen. Jede einzelne Regel der Kunst war längst etabliert, bevor der Anblick eines mit einem Kaftan angetanen Juden im jungen Hitler die Angst um die Reinheit der Weltordnung erregte. Wie David Gasman nachweisen konnte, entstand »eins der frühesten, wenn nicht sogar das früheste umfassende Programm, das die nationalsozialistischen Prinzipien in Deutschland verkörperte, im Kontext einer Bewegung, die sich selbst ihrer wissenschaftlichen Ideologie und modernen Weltanschauung rühmte«. Diese den« armenischen Bevölkerung, weil sie »die Gesellschaft aus ihrem heterogenen Zustand in eine homogene Einheit überführen wollten. Hier wurde der Genozid ein Mittel für den Zweck einer radikalen strukturellen Veränderung im System.« Die Vision eines vom Staat verwalteten Fortschritts beseitigte alle moralischen Bedenken, die die Bestialität des Massenmordes vielleicht hätte verursachen können. Der Architekt des armenischen Genozids, Innenminister Taleat, erklärte: »Ich habe die Überzeugung, daß, solange eine Nation das Beste für ihre Interessen tut und dabei erfolgreich ist, die Welt sie bewundert und für moralisch hält.« (Vgl. Vahakn N. Dadrian, »The Structural-Functional Components of Genocide: A Victimological Approach to the Armenian Case«, in: Victimology, hrsg. v. Israel Drapkin und Emilio Viano, Lexington, Mass. 1974, S. 133, 131.) Wie die spätere Wendung der Ereignisse zur Genüge bewies, lag Taleat, wie man zugeben muß, gar nicht einmal so weit daneben.

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Bewegung war der berühmte »Monistenbund«, geleitet von Ernst Haeckel, einem der einflußreichsten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, der auf seine makellosen wissenschaftlichen Beglaubigungen und die allgemeine Anerkennung in der akademischen Welt seiner Zeit stolz war und bis heute wegen seines außergewöhnlichen Beitrags zur Förderung und Popularisierung der Autorität der modernen Wissenschaft Ansehen genießt. Für viele Zeitgenossen war es »der deutsche Monistenbund von Haeckel mit seinem radikal wissenschaftlichen und positivistischen Geist und Programm, der, wenn überhaupt eine Organisation, wahrhaft den modernen Geist zum Ausdruck brachte«. Eine der führenden Persönlichkeiten in dem Bund, Dr. Schallmayer, mahnte die Deutschen, daß jede die ererbten Ressourcen der Nation leichtfertig behandelnde und vernachlässigende Politik als schlecht und gefährlich bekämpft werden müsse. Es blieb Haeckel selbst vorbehalten, die logischen Schlußfolgerungen zu formulieren: »Durch die unterschiedslose Vernichtung aller unverbesserlichen Kriminellen würde nicht nur der Kampf ums Dasein unter den besseren Teilen der Menschheit leichter gemacht werden, sondern es würde auch ein vorteilhafter künstlicher Ausleseprozeß in die Praxis umgesetzt werden, da die Möglichkeit, die schädlichen Qualitäten weiterzugeben, diesen entarteten Außenseitern genommen wird.« In dem Maße, wie der Strom der »schlechten Gene« sich – dank der Kombination zweier »wissenschaftlicher« Maßnahmen: physischer Destruktion und reproduktiver Manipulation – ausdünnt, wird die Nation spürbare Vorteile davon haben – »sich verringernde Gerichtskosten, Gefängniskosten und Aufwendungen für die Armen«.11 11 David Gasman, The Scientific Origins of National Socialism, London 1971, S. XIV–XV, XXVI, 91, 98. In seiner enthüllenden Studie der »naturwissenschaftlichen« Obsessionen der Nazi-Bewegung belegt Robert A. Pois, National Socialism and the Religion of Nature, London 1986, Hitlers »absoluten Glauben an die Überlegenheit der Wissenschaft über jede andere Form religiösen Glaubens […] Ja, Hitlers offensichtliche Neigungen zu einer

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Ein halbes Jahrhundert später erhielt Deutschland eine Regierung, die entschlossen war, diesen wissenschaftlichen Rat in die Praxis umzusetzen. Vermutlich zum erschrockenen Aufstöhnen der Zuhörerschaft informierte der Führer des nationalsozialistischen Bundes der Physiker den Parteikongreß im Jahre 1935, daß »mehr als eine Milliarde Reichsmark auf die genetisch Behinderten verwandt werde; man kontrastiere dies mit den 776 Millionen, die für die Polizei ausgegeben werden oder den 713 Millionen, die für lokale Verwaltungen ausgegeben werden, und man sieht, was für eine Last und unüberbietbare Ungerechtigkeit dieses dem normalen, gesunden Mitglied der Bevölkerung auferlegt«. Die Zahlen waren durch unangreifbare statistische Methoden gesichert, auf die jedes wissenschaftliche Institut stolz gewesen wäre. Die Berechnung war sorgfältig und skrupulös und die Ergebnisse atmeten den Geist der wissenschaftlichen Respektabilität: im Jahre 1933 gab der Preußische Staat für jeden normalen Volksschüler 125 Mark aus, aber für jeden Hilfsschüler 573 Mark, 950 Mark für jeden Bildungsunfähigen und Geisteskranken und 1500 Mark für jeden blind- und taubgeborenen Schüler.12 Die Daten bedurften kaum des Kommentars. Die moderne Vernunft beugte sich den Tatsachen: Das Problem war klar formuliert worden, das übrige war eine Sache der richtigen technologischen Lösung. Art Biologismus haben einige Forscher des Nationalsozialismus dazu veranlaßt anzunehmen, daß Hitler keine Ideologie gehabt habe, sondern eher einem bunten Gemisch von naturalistischen Überzeugungen angehangen habe.« (S. 39) Hitlers Sprache war voll von Hinweisen auf die »Gesetze der Natur«, und sein Lob der Wissenschaft als der Leiterin richtigen Handelns war grenzenlos und ohne Einschränkungen. Er bestand darauf, daß der Nationalsozialismus eine »Lehre ist, die nichts weiter ist als ein Kultus der Vernunft« und daß »die Wissenschaft […] die Siegerin sein [wird]!«. (Vgl. Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, hrsg. v. Werner Jochmann, Hamburg 1980, S. 66f., 87.) 12 Vgl. Robert Proctor, Racial Hygiene: Medicine under Nazis, Harvard 1988, S. 181.

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Die Gärtner-Züchter-Chirurgen-Ambitionen waren in keiner Weise spezifisch deutsch. Selbst der in der Rückschau unheimlichste unter den Ausdrücken der anspruchsvollen sozial-technologischen Ambitionen – Eugenik, jene »Wissenschaft der menschlichen Vererbung und Kunst der Menschenzüchtung« – war außerhalb Deutschlands entstanden. Sie genoß das internationale Prestige und die Anerkennung, die eine fortgeschrittene und ressourcenreiche Wissenschaft erwarten konnte, lange bevor Hitler und seine Genossen ihre Vision des tausendjährigen Reiches zusammenstückelten. Kein Geringerer als der hervorragende Leiter des Gold Spring Harbor Laboratory, Professor C. B. Davenport, gab dem obersten deutschen Zuchtexperten der menschlichen Lebewesen, Prof. E. Fischer, den öffentlichen Ritterschlag und Segen, indem er ihn zu seinem Nachfolger als Präsident der internationalen Föderation der Eugenischen Organisationen machte.13 Der grandiose deutsche Plan, die Reproduktion der Gesellschaft auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen und die bislang unkontrollierten (und deshalb zufälligen) Kräfte der Vererbung und Selektion zu eliminieren, war einfach ein radikaler Ausdruck der allgemeinen Ambitionen, die der modernen Mentalität inhärent waren; 13 Müller-Hill, Tödliche Wissenschaft, S. 32f. Die Versuchs-Station in Cold Spring Harbor, die seit 1904 von Charles Benedict Davenport geleitet wurde, war von der Carnegie Institution in Washington mit dem Ziel gegründet worden, Individuen zu identifizieren, die »fehlerhaftes GermPlasma« trugen. (Vgl. Stephan L. Chorover, From Genesis to Genocide: the Meaning of Human Nature and the Power of Behaviour Control, Cambridge, Mass., 1979, S. 41.) Tatsächlich dienten eugenische und andere demographisch-regulatorische Praktiken, die von amerikanischen Wissenschaftlern empfohlen und von amerikanischen Politikern mit den nötigen Hilfsmitteln versehen worden waren, in vielerlei Hinsicht als Quelle der Inspiration für die deutschen Planer des Völkermords. Deutsche »Rassehygieniker bezogen sich auf die Beispiele der amerikanischen Immigration, Sterilisation und Rassenmischungsgesetzgebung, um ihre eigene Politik auf diesen Gebieten zu formulieren« (Robert Proctor, Racial Hygiene, S. 286).

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er war in Wirklichkeit ein relativ kleiner Teil einer viel umfassenderen Totalität. Er errang seinen schrecklichen Ruhm nicht wegen seiner Einzigartigkeit, sondern weil er, im Unterschied zu den meisten vergleichbaren Haltungen anderswo, sein Ziel wirklich erreichte: Er wurde mit Hilfe technologischer und organisatorischer Ressourcen verwirklicht, die einer modernen Gesellschaft verfügbar waren, welche durch die nicht in Frage gestellte Macht eines zentralisierten Staates voll mobilisiert war. Wie groß die Gesellschaft, in der sich deutsche Träumer einer maßgefertigten und planmäßig entworfenen Welt befanden, tatsächlich war, kann an Fällen gezeigt werden, die aus weit entfernten, selbst entgegengesetzten kulturellen Traditionen und politischen Lagern stammen. Auf dem Gebiet der Eugenik wurde in mehreren europäischen Ländern gleichzeitig Pionierarbeit geleistet. Wie auf vielen anderen Gebieten moderner intellektueller Tätigkeit wetteiferten englische Gelehrte mit ihren deutschen Kollegen um den ersten Platz. Die Eugenics Education Society wurde im 19. Jahrhundert in England gegründet (Galton rief das sehr erfolgreiche Journal Eugenics im Jahr 1883 ins Leben) und erhielt einen ungeheuren Auftrieb durch die Panik, die durch die Entdeckung des armseligen physischen und geistigen Zustandes der Rekruten während des Burenkrieges ausgelöst wurde. Britischen Eugenikern fehlte es nicht an technologischen Ambitionen. Sie stellten dem gebildeten Publikum einen wahrhaft atemberaubenden Ausblick vor Augen: »Wäre es nicht möglich, bestimmte schwerwiegende erbliche Leiden auf dieselbe Weise ›herauszuzüchten‹, wie Mendelsche Genetiker es gelernt hatten, aus dem Weizen den ›Rost‹ herauszuzüchten, und vielleicht auch geistige oder physische Fähigkeiten in Menschen zu entwickeln, die allgemein als wünschenswert angesehen wurden? […] Eugenik würde dann zur Genetik in etwa demselben Verhältnis stehen wie die Ingenieurskunst zur Mathematik.«

Die Aussicht, die gegenwärtig mangelhafte menschliche Rasse wissenschaftlich zu kontrollieren, wurde in den aufgeklärtesten und ausgesuchtesten Kreisen ernsthaft debattiert. Biologen und Mediziner standen dabei selbstverständlich an vorderster Front. Jedoch 61

schlossen sich ihnen berühmte Leute aus anderen Gebieten an, wie die Psychologen Cyril Burt und William McDougall, die Politiker Arthur Balfour und Neville Chamberlain, die Gesamtheit der noch in den Kinderschuhen steckenden britischen Soziologie und bei verschiedenen Gelegenheiten J. B. S. Haldane, J. M. Keynes und Harold Laski. Begriffe wie »tabid and wilted stock«, »schwindsüchtige und schlaffe Rasse« (geprägt von Whethams im Jahre 1911), »entarteter Schlag«, »Untermenschen«, »minderwertige Typen« und »biologisch untauglich« wurden zu gebräuchlichen Formeln in der Debatte der Intelligenz. Zugleich wurde die lesende und debattierende Öffentlichkeit im Jahre 1909 durch den Alarm aufgeschreckt, den der ungeheuer einflußreiche Karl Pearson schlug: »Das Überleben der Untauglichsten ist ein ausgeprägtes Merkmal des modernen Stadtlebens.« (Er brachte lediglich weitverbreitete Sorgen zum Ausdruck; hier wie anderswo befanden sich die britischen Gelehrten in vollkommener Übereinstimmung mit dem intellektuellen Tagesklima. Sechs Jahre vor Pearson schrieb Wilhelm Schallmayer in seinem preisgekrönten Essay, daß der Zivilisationsmensch von physischer Entartung bedroht sei und daß man sich nicht auf die natürliche Auslese als Grundlage für gesellschaftlichen Fortschritt und die Vervollkommnung des Menschen verlassen könne; sie müßte durch irgendeine Form sozialer Selektion gelenkt werden. In ihrer Tagebucheintragung vom 16. Januar 1903 notierte die sanfte und menschliche Beatrice Webb, daß »die wichtigste aller Fragen die Züchtung der rechten Sorte von Menschen sei«.)14 H. G. Wells, der englische Liberale, Sozialist und tapfere Streiter gegen engstirnigen Nationalismus, Religion und alles, was nach einem vorwissenschaftlichen Zeitalter schmeckte, dachte sein ganzes langes Leben lang gründlich über die Dringlichkeit nach, »Unordnung durch Ordnung zu ersetzen« und wissenschaftlich ausgebildete Planungsbehörden an das Kontrollpult der gesellschaftlichen

14 Vgl. J. R. Searle, Eugenics and Politics in Britain, 1900–1914 (Leiden, Noordhoff, 1976), S. 8, 13, 29, 75.

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Entwicklung zu stellen, und predigte dies unablässig seinen zahlreichen gierigen Lesern. (»Ich bezweifle, daß irgend jemand, der zwischen 1900 und 1920 Bücher geschrieben hat, zumindest in englischer Sprache, die Jugend so stark beeinflußt hat« – bezeugte George Orwell den Einfluß von Wells auf das Denken der englischen gebildeten Klassen.15) Für Wells war das krönende Argument zugunsten einer geplanten, sozialistischen Gesellschaft ihre Verwandtschaft ( ja, Synonymität) mit der Anerkennung der fundamentalen Idee, auf der alle wahre Wissenschaft beruht: »der Verneinung, daß zufälliger Impuls, individueller Wille und ungeplante Ereignisse die einzig möglichen Methoden darstellen, durch die Dinge in der Welt getan werden können«. Wie der Wissenschaftler, wünscht der Sozialist »eine vollständige Organisation für all die menschlichen Angelegenheiten, die von kollektiver Wichtigkeit sind […] An Stelle der unordentlich individuellen Anstrengung, wo jeder Mensch tut, was er will, wünscht der Sozialist organisierte Anstrengung und einen Plan.«

Und hier wird die inzwischen vertraute Garten-Metapher zu Hilfe genommen, um zu überzeugen: Der Sozialist, wie der Wissenschaftler, »sucht einen Plan zu machen, wie man einen Garten entwirft und anlegt, damit süße und angenehme Dinge wachsen können, sich weite und schöne Aussichten eröffnen und Unkraut und Fäulnis verschwinden […] Was all seine Anmut und Schönheit möglich macht, sind der Plan und die beharrliche Absicht, das Beobachten und das Eingreifen, das Graben und Verbrennen, die Gartenschere und die Hacke.«16

Seine Liebe zu den weiten Aussichten und den geraden Pfaden war der Grund für Wells’ Abneigung gegen die Juden: Juden standen

15 George Orwell, »Wells, Hitler, and the World State«, in: Collected Essays, London 1961, S. 164. 16 H. G. Wells, »Socialism and the New World Order«, in: Journalism and Prophecy, 1893–1946, London 1984, S. 278ff.

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»fest auf der Seite der Reaktion und Unordnung«17, und als solche verunstalteten sie die Landschaft und vereitelten die Anstrengungen der Planer. Von diesem Verdikt bis zur Anwendung der Gartenschere war es nur ein kleiner Schritt. So, wie es kam, wurde dieser Schritt niemals getan. Aber es gab nur wenig in Wells’ Erklärung und in den wissenschaftlichen Ambitionen, in deren Namen er sie niederschrieb (mag dies in anderen Teilen seines reichen Vermächtnisses auch anders sein), das ein Hindernis dargestellt hätte, ihn zu tun. Oberflächlich gesehen würde der konservative und romantische T. S. Eliot auf so manchem Kontinuum, auf dem auch der liberale und progressive H. G. Wells eingetragen werden könnte, einen entgegengesetzten Pol einnehmen. Ja, Wells’ draufgängerischer, ungehemmter Mut, der von wissenschaftlicher Hybris gespeist wurde, würde in krassem Widerspruch zu T. S. Eliots Weltanschauung stehen. Jedoch war der Wunsch nach einer harmonischen, ästhetisch gefälligen und »sauberen« Gesellschaft beiden Denkern ebenso gemeinsam wie die Überzeugung, daß die Gesellschaft nicht sauber oder harmonisch werden würde, wenn sie sich allein von ihren natürlichen Neigungen leiten ließe. »Die Population sollte homogen sein; wo zwei oder mehr Kulturen an demselben Platz existieren, werden sie wahrscheinlich entweder leidenschaftlich selbst-bewußt oder beide dazu neigen, verfälscht zu werden. Was noch wichtiger ist, ist die Einheit des religiösen Hintergrunds; und Gründe der Rasse und Religion zusammen machen jede große Anzahl von freidenkerischen Juden unerwünscht. Es muß eine richtige Balance geben zwischen städtischer und ländlicher, industrieller und landwirtschaftlicher Entwicklung. Und ein Geist der exzessiven Toleranz ist abzulehnen.«

Allzuoft wird Eliots häßlicher und böser Satz über die Unerwünschtheit von freidenkenden Juden aus seinem Kontext gerissen, als ob er von sich aus die vollständige und hinreichende Ein-

17 Bryan Cheyette, »H. G. Wells and the Jews: Antisemitism, Socialism, and English Culture«, Patterns of Prejudice, Bd. 22, Nr. 3 (1988), S. 23.

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sicht in die Struktur von Eliots antisemitischem Vorurteil böte. Dies ist ein Fehler, und ein gefährlicher Fehler obendrein, wie Christopher Ricks in seiner jüngsten gründlichen Untersuchung von Eliots Antisemitismus überzeugend begründet hat. Wie abstoßend der zitierte Satz auch immer klingen mag, »er ist entschieden weniger zu beanstanden als die Folge von Sätzen, innerhalb deren er steht«. Die Sequenz ist, so zeigt Rick, »eine hinterhältigere Anstachelung zum Vorurteil als jeder einzelne Satz«. Das Vorurteil ist dann am kraftvollsten es selbst, wenn es »sich in plausiblen Schritten einer verderbten Argumentation ausdrückt, in der Verschleierung eines non-sequitur «.18 Tatsächlich verkehrt sich die alte Judaeophobie erst dann – zumindest potentiell – in den modernen Genozid, wenn antijüdische Gefühle in der verführerischen Vision eines harmonischen Gesamtentwurfs, den die Juden angeblich stören und an seiner Vollendung hindern, festgemacht sind. Erst die Vermischung des Ressentiments gegen den »Anderen« mit dem Selbstvertrauen des Gärtners ist wahrhaft explosiv. Das Lob der Garten- und Heckenscheren wurde nicht nur von intellektuellen Träumern und selbsternannten Wortführern der Wissenschaft gesungen. Es durchdrang die moderne Gesellschaft und blieb der wohl hervorstechendste Zug ihres kollektiven Geistes. Politiker und Praktiker des ökonomischen Fortschritts stimmten in den Chor ein. Wissenschaftliche Untersuchungen über Eugenik von Terman, Yerkes und Goddard und der beliebte IQ-Test von Binet wurden im US Johnson Immigration Act von 1924 dazu benutzt, die »gefährlichen Klassen«, die »die amerikanische Demokratie« zerstörten, auszusondern; während Calvin Coolidge 1922 argumentierte, daß »die Gesetze der Biologie bewiesen haben, daß die nordischen Völker sich verschlechtern, wenn sie sich mit anderen Rassen vermischen«. Nach John R. Rockefellers Glaubensbekenntnis, das beiden Ereignissen ungefähr um eine Generation vorausging, kann »die Rose American Beauty in dem Glanz und

18 Christopher Ricks, T. S. Eliot and Prejudice, London 1988, S. 41.

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Duft, die jeden, der sie anschaut, in Begeisterung versetzen, nur dadurch hervorgebracht werden, daß man die frühen Knospen, die um sie herum wachsen, opfert. Das ist keine üble Tendenz im Geschäft. Es ist nur das Befolgen eines Gesetzes der Natur und eines Gesetzes Gottes.«19 Genetische Defizienz, die sich in Verbrechen und Idiotie manifestierte, wurde – infolge des Einflusses oder Ratschlags der Wissenschaftler – zum legitimen Grund für Zwangssterilisation in den Staaten Indiana, New Jersey und Iowa (wo das Gesetz sich auf »Kriminelle, Vergewaltiger, Idioten, Geistesschwache, Imbezile, Wahnsinnige, Trinker, Drogensüchtige, Epileptiker, Syphilitiker, moralisch und sexuell Perverse und krankhafte und degenerierte Personen« bezog). Ingesamt einundzwanzig Staaten der USA erließen zwischen 1907 und 1928 Gesetze zur Regelung eugenischer Sterilisation.20 Und gleichwohl konnten sich nur wenige Demonstrationen der genozidalen Potenz, die die grandiose Vision einer perfekten und rationalisierten Gesellschaft offenbart, wenn sie sich mit den respekteinflößenden Mächten des modernen Staates verbindet, an bloßem Umfang mit den kommunistischen Revolutionen messen (die ihrerseits durch die Eruption der sozialtechnologischen Hoffnungen des späten 19. Jahrhunderts ermutigt, wenn nicht gar verursacht worden waren). Der moderne Kommunismus war ein sehr lernwilliger und getreuer Schüler des Zeitalters der Vernunft und der Aufklärung und unter ihren Erben intellektuell wohl am konsistentesten. Er nahm das Gebot der philosophes betreffs der Notwendigkeit und Dringlichkeit des Reichs der Vernunft in vollem Umfang in sich auf. Sein Selbstvertrauen (und seine Ungeduld) wuchsen in dem Maße, wie die spektakulären Erfolge und die entstehende Autorität der modernen Wissenschaft das Projekt als immer plausibler erscheinen ließen. Auf seinem Weg zum zurückge19 Zitiert nach William J. Ghent, Our Benevolent Feudalism, New York 1902, S. 29. 20 Vgl. Chorover, From Genesis to Genocide, S. 42.

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bliebenen und wirtschaftlich elenden Osten, der auf die allzu fühlbare okzidentale Überlegenheit neidisch war, verband sich jenes Gebot mit der einheimischen Entschlossenheit (d.h. an erster Stelle mit der einheimischen Intelligenz), mit Menschenhand zu tun, was die Natur zu tun versäumt hatte; wodurch seine Hast und Selbstsicherheit einen Siedepunkt erreichte. Aus der begünstigten Sicht der Retrospektive könnte man beinahe sagen, daß die Vision der Aufklärung wie geschaffen war, auf die Träume und Sehnsüchte der osteuropäischen politischen Visionäre zu reagieren – der Intellektuellen und, allgemeiner, der »gebildeten Klassen«. Keine andere soziale Stellung spiegelte sich in der Bilderwelt dieses sozialen Ideals, das der sozialen Realität voraus war und sie nach vorne riß, vollkommener wider; in der Vision der Gesellschaft als formbaren Rohmaterials, das durch Architekten, die mit einem richtigen Plan ausgerüstet waren, zu gestalten und in die richtige Form zu bringen sei; in dem Bild einer Gesellschaft, die, falls man sie ihrem eigenen Gang überließe, unfähig wäre, entweder sich selbst zu reformieren oder auch nur darüber nachzudenken, wie Reformen aussehen könnten; in dem Begriff des Wissens als Macht, der Vernunft als Richterin über die Realität und als Autorität, die berechtigt war, den Vorrang des »Sollens« vor dem »Sein« zu diktieren und durchzusetzen. Die gebildeten Klassen Osteuropas im 19. Jahrhundert waren die eifrigsten Schüler und die treuesten Erben des Vermächtnisses der Aufklärung. Sie waren an allererster Stelle Sozial-Ingenieure, erst weit danach Kommentatoren und Interpreten, Verwaltungstechniker gar nicht. Sie waren berauscht von Politik, Macht und dem Staat. Sie brauchten einen mächtigen Hebel, um die Gesellschaft den weiten Weg nach oben zum Ideal zu führen. Nur ein Staat, der absolute Macht ausübt, konnte als solcher Hebel dienen; und ein solcher Staat, der sowohl fähig wie willens war, dazu zu dienen, mußte erst noch geschaffen werden. Der gegenwärtige war entweder nicht mächtig genug oder wurde von seinen Herrschern an der Anwendung seiner Macht für die richtigen Zwecke gehindert. Wie das Ideal, dem sie nachstrebten, lag auch der Staat der ge67

bildeten Klassen in der Zukunft. Das machte ihn um so mehr zu einem Sitz der Freiheit, war er doch von der ernüchternden Erfahrung politischer Praxis unbelastet. Notwendigkeit konnte sozusagen nur im Zusammenhang mit der unwiderruflichen Gewißheit der Vergangenheit erblickt werden. All dieses schuf jenen »délire universaliste de la table rase«, die »prometheische Vision des absoluten Anfangs, der jede Abscheulichkeit rechtfertigt«, deren Ursprung Jean-Marie Benoist21 bis zum jakobinischen Experiment der Rationalisierung durch die Guillotine zurückverfolgte – die freilich erst zu voller Blüte kam, als sie sich mit dem Gefühl der historischen Verspätung verband und auf einer leeren (oder gewalttätig geleerten) politischen Bühne inszeniert wurde. Es war eine solche Verbindung, die schließlich und unwiderruflich die Menschen ihrer Rechte als moralischer Subjekte beraubte, nachdem sie sie zuerst in Bausteine verwandelt hatte, mit denen die neue Ordnung errichtet werden sollte, oder aber in den Schutt, der weggeräumt werden mußte, um den Baugrund zu reinigen. Zwei Bemerkungen können nach diesem kurzen – ja flüchtigen – Überblick über die ansonsten weit auseinandergehenden, oft diametral entgegengesetzten Visionen gemacht werden, die bei wenigen Gelegenheiten den modernen Genozid auslösten und ihm bei anderen seine Plausibilität verliehen. Zum einen: Der moderne Genozid ist kein unkontrollierter Gefühlsausbruch und kaum jemals ein absichtsloser, völlig irrationa21 Jean-Marie Benoist, »Au nom des Lumières …«, Le Monde, 6. Jan. 1989. Mit Blick zurück auf die Logik der Errichtung der »neuen Ordnung« während der Jakobinerherrschaft schrieb Bronislaw Baczko: »pour être pure et vertueuse, fidèle à ses propres représentations, la République devait necessairement s’épurer, se débarasser des ›impurs‹, des trâitres, des intrigants, des carriéristes, des vils profiteurs, éléments indignes d’elle, voire de ses pires ennemis cachés et dissimules. La Révolution progressait donc nécessairement par l’exclusion.« (Comment sortir de la Terreur: Thermidor et la Révolution, Paris 1989, S. 52.)

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ler Akt. Er ist, ganz im Gegenteil, eine Übung in Sozialtechnologie und in der, mit Hilfe künstlicher Mittel vorgenommenen, Schaffung jener ambivalenzfreien Homogenität, die die schmutzige und undurchsichtige soziale Realität selbst nicht hervorgebracht hat. Darin muß man Helen Fein zustimmen: »Um Genozide als eine Klasse kalkulierter Verbrechen zu verstehen, müssen solche Verbrechen vom Gesichtspunkt der Täter aus als zielgerichtete Akte gewürdigt werden: Der Genozid ist ein rationales Instrument für ihre Ziele, obgleich er in den Termini einer universalistischen Ethik psychopathisch sein mag […] Der moderne geplante Genozid ist eine rationale Funktion der Wahl eines Mythos oder einer ›politischen Formel‹ (wie Mosca es ausgedrückt hat) durch eine herrschende Elite, die die Existenz des Staates als eines Vehikels für das Schicksal einer dominanten Gruppe legitimiert, einer Gruppe, deren Mitglieder eine fundamentale Ähnlichkeit teilen, aus der das Opfer per definitionem ausgeschlossen ist.22

Zum anderen: Alle Visionen einer künstlichen Ordnung sind notwendig (in ihren praktischen Konsequenzen, wenn auch nicht immer in ihrem ursprünglichen Entwurf ) inhärent asymmetrisch und führen auf diese Weise zu einer Dichotomie. Sie spalten die menschliche Welt in eine Gruppe, für die die ideale Ordnung errichtet werden soll, und eine andere, die in dem Bild und der Strategie nur als ein zu überwindender Widerstand vorkommt – als das Unpassende, das Unkontrollierbare, das Widersinnige und das Ambivalente. Dieses Andere, das aus der »Schaffung von Ordnung und Harmonie« hervorgegangen ist, das Überbleibsel des klassifikatorischen Bestrebens, wird aus jenem Universum der Verpflichtung herausgeworfen, das die Mitglieder der Gruppe bindet und ihr Recht anerkennt, als Träger moralischer Rechte behandelt zu werden. Ordnen – die Ordnung planen und ausführen – ist wesentlich eine rationale Aktivität, die mit den Prinzipien moderner Wissenschaft und, allgemeiner, dem Geist der Moderne in Übereinstim-

22 Helen Fein, Accounting for Genocide, New York 1979, S. 8.

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mung steht. Wie ein modernes Geschäftsunternehmen, das sich vom Haushalt trennen mußte, um den nagenden Einfluß der ökonomisch nicht zu rechtfertigenden moralischen Verantwortlichkeiten, verwandtschaftlichen Beziehungen und aller anderen Arten von Konstellationen, die von personalen Begegnungen beherrscht wurden, zu hemmen – so mußte der Rationalisierungsdrang der politischen Agenturen Befreiung von »ethischen Zwängen« suchen. Er wollte versuchen, eine solche Emanzipation zu erlangen und sie absolut zu machen, sofern es ihm möglich war, d.h. wenn er nicht vom Widerstand noch nicht kolonisierter sozialer Kräfte vereitelt wurde. Infolgedessen tendiert jede Vision totaler Ordnung dazu, die Möglichkeit der Ausschaltung solcher Kräfte einzuschließen. Wenn sie konsistent ist, verfügt sie nicht einfach über eine Strategie, durch die die Ordnung herbeigeführt werden kann, sondern auch über eine, die es ihr erlaubt, in Zukunft intakt und immun gegenüber allen und jedweden »störenden Faktoren« zu bleiben. Die Vorstellungskraft der Rationalisierer wird durch die Aussicht auf einen Zustand letzter und stabiler Perfektion in Versuchung geführt: einen Zustand, aus dem auch nur die Möglichkeit der Herausforderung der etablierten Ordnung eliminiert sein wird. Die Verwirklichung einer solchen Vision erfordert freilich die Unterdrückung oder Neutralisierung autonomer Determinanten individuellen Handelns. »Was wurde der Erfolg des Baconschen Projekts bedeuten, wenn es bis zu der gewollten Eroberung des Willens als Grenze der Beherrschung durchgeführt wird? Er würde die universale Herrschaft des Systems und die Abwesenheit des Menschen bedeuten. Nur so würde die ›Natur‹ endlich besiegt werden.« (Theodore Olson) Francis Bacons Traum vom Haus Salomonis oszilliert zwischen der Utopie und der Dystopie, die die geschäftigen Tage und die von Gespenstern heimgesuchten Nächte der Moderne füllten. Der Traum aber wurde weiter geträumt, wie Olson uns erinnert – Skinners Walden Two ist nur ein etwas ehrgeizigeres und unverblümteres Beispiel seiner letzten Manifestationen. Ein Erfolg von Skinners Plan würde bedeuten: »Eliminierung der Selbst-Bestimmtheit und Partikularität des Menschen. Wieder 70

einmal ist das Ergebnis die Abwesenheit von Menschen und ihre Ersetzung durch die experimentelle Umwelt und ihr subjektives Korrelat: universale Anpassungsfähigkeit. Kein Wille bleibt, um die Eroberung der – oder durch die? – Natur zu vereiteln.«23

Wissenschaft, rationale Ordnung, Genozid Die moderne Wissenschaft entstand aus dem überwältigenden Ehrgeiz, die Natur zu besiegen und sie menschlichen Bedürfnissen unterzuordnen. Die vielgerühmte wissenschaftliche Neugier, die angeblich die Wissenschaftler vorwärts trieb, »dahin zu gehen, wohin die Menschen sich bislang nicht wagten«, war niemals frei von der erfreulichen Vision der Kontrolle, Verwaltung und Verbesserung der Dinge (d.h. von der Vision, sie fügsamer, gehorsamer, dienstwilliger zu machen). Ja, Natur bedeutete zunehmend etwas, das dem menschlichen Willen und der menschlichen Vernunft subordiniert werden sollte – ein passives Objekt zweckgerichteten Handelns, ein Objekt, das selbst zweckfrei war und deshalb darauf wartete, die Zwecke in sich aufzusaugen, die ihr von menschlichen Herren eingeflößt wurden. Der Begriff der Natur steht in seiner modernen Fassung im Gegensatz zum Begriff der Humanität, durch den er geschaffen wurde. Er steht für das Andere der Humanität. Er ist der Name für das Ziellose und das Bedeutungslose. Die Natur scheint, da ihr eine inhärente Integrität und Bedeutung abgesprochen wird, ein willfähriges Objekt für die Freiheiten des Menschen zu sein. Das Schweigen der Natur und die Beredtheit der Wissenschaft sind durch ein unverbrüchliches Band reziproker Legitimation miteinander verknüpft. Als das Andere des Menschlichen ist das Natürliche der Gegensatz zum Subjekt des Willens und der Moralität.

23 Theodore Olson, Millenarianism, Utopianism, and Progress, Toronto 1982, S. 283f.

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Der machtvolle Wille der Menschheit als »Herr des Universums« und die Ausübung ihres alleinigen Rechts, Bedeutungen und Qualitätsmaßstäbe festzulegen, machen die Objekte der Herrschaft und Gesetzgebung zu »Natur«. Die Objekte können Flüsse sein, die sinnlos in die falsche Richtung fließen – dorthin »wo sie nicht gebraucht werden«; oder Pflanzen, die sich selbst an Orten aussäen, »wo sie die Harmonie stören«; oder Tiere, die nicht genügend Eier legen oder nicht hinreichend große Euter entwickeln, »um nützlich zu sein«; oder Kriminelle, Trunkenbolde und Geistesschwache, die zu nichts taugen, was einem Zweck gliche, und deshalb zu degenerierten »ehemaligen Menschen« »re-naturalisiert« werden; oder Geschöpfe von bizarrer Hautfarbe, Körpergestalt oder Verhaltensweise, die sich mit Dingen beschäftigen, die »keinen Sinn« haben – deren Dasein »keinem nützlichen Zweck dient«. Alles, was die Ordnung, die Harmonie, den Entwurf verdirbt und sich auf diese Weise gegen Zweck und Bedeutung sträubt, ist Natur. Und sobald es erst einmal Natur ist, muß es auch als solche behandelt werden. Und es ist Natur, weil es so behandelt wird. Das Argument ist zirkulär und deshalb unangreifbar. Vision und Praxis verbinden sich aufs engste miteinander und delegitimieren gemeinsam jenes »Außen«, von wo aus ihre geheime Verbindung beurteilt, unbeachtet gelassen oder auch verurteilt werden könnte. Wie W. Ryan warnte, »ist es wichtig, daß wir uns nicht selbst vormachen, daß ideologische Ungeheuerlichkeiten von Ungeheuern konstruiert worden sind. Das war nicht so und wird nicht so sein. Sie werden durch einen Prozeß entwickelt, der alle Zeichen gültiger Gelehrsamkeit trägt, komplett mit Zahlentafeln, massenhaften Fußnoten und wissenschaftlicher Terminologie. Ideologien sind ganz oft akademisch und sozial respektabel und nehmen in vielen Fällen Positionen exklusiver Gültigkeit ein, so daß Nichtübereinstimmung als unrespektabel und radikal angesehen wird und Gefahr läuft, als unverantwortlich, unaufgeklärt und wertlos etikettiert zu werden.«24

24 William Ryan, Blaming the Victim, London 1971, S. 22.

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Ryan spricht hier weder von den überzeugten Nazis noch von der »sowjetischen Wissenschaft« unter Stalin, die durch ihre bedenkenlose Unterordnung unter eine unverhohlen politische Ideologie berüchtigt ist. Wenn er es täte, könnte er auf eine uneingeschränkte Unterstützung seiner Worte durch gleichgesinnte Wissenschaftler zählen. Seine Warnung betrifft vielmehr ein Phänomen, das selten in der Öffentlichkeit diskutiert wird: die normativen technologischen Ambitionen, die jedem wissenschaftlichen Unternehmen, der wissenschaftlichen Tätigkeit als solcher, inhärent sind und die sich leicht und problemlos politisch verwenden lassen – jederzeit und überall; Ambitionen, die selbst Politik sind. Chorover ist in diesem Punkt sehr deutlich: »Das sozio-biologische Gerüst, auf das sich die Rechtfertigungen für den Genozid letztlich stützten, war offensichtlich keine Erfindung der Nazis. Es war im Namen der Wissenschaft errichtet worden, lange bevor der Nationalsozialismus zu einer Realität geworden war […] Das Ausrottungsprogramm der Nazis war eine logische Erweiterung sozio-biologischer Ideen und eugenischer Lehren, die nichts Spezifisches mit den Juden zu tun hatten und in Deutschland lange vor der Zeit des Dritten Reichs weite Anerkennung gefunden hatten […] Der Weg führte direkt von einer angeblich objektiven Form des wissenschaftlichen Diskurses über die menschliche Ungleichheit zu einer vorgeblich rationalen eines moralischen Arguments über ›lebensunwertes Leben‹ und dann zur Endlösung: ›die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‹.«25

Die nicht- und vornazistischen wissenschaftlichen Wurzeln des Genozids werden allmählich von einer wachsenden Anzahl von 25 Chorover, From Genesis to Genocide, S. 109, 80f., 9f. Der Ausdruck »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« war schon im Jahre 1920 in Gebrauch und wurde im Titel des Buches verwendet, das von dem Psychologen Alfred Hoche und dem Juristen Karl Bindung geschrieben wurde. Akademische Institute, die sich gänzlich der biologischen Erforschung der Rassen widmeten, gab es mindestens seit Beginn des Jahrhunderts; sie erfreuten sich hoher wissenschaftlicher Achtung und zogen die hervorragendsten Wissenschaftler und Forscher an.

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Historikern aufgedeckt, die ihre Forschung beginnen, ohne von der lediglich retrospektiven Natur und den kümmerlichen historischen Grundlagen der hochmütigen Verwerfung der Theorie und Praxis der »Rassenhygiene« als einer einmaligen Abirrung beeinflußt zu sein. Robert Proctor hat nachgewiesen, daß die gemeinhin vorherrschende Version der Ereignisse, die deutschen Wissenschaftler der Nazi-Ära seien gegen ihren Willen von den skrupellosen Führern dazu gezwungen worden, an den teuflischen Praktiken teilzunehmen, den Tatsachen in keiner Weise gerecht wird: »Es waren weitgehend Mediziner, die die Rassenhygiene überhaupt erst erfanden. Viele führende Institute und Kurse, die sich mit Rassenhygiene und Rassenkunde befaßten, wurden an den deutschen Universitäten, lange bevor die Nazis an die Macht kamen, eingerichtet. Und man kann mit Recht behaupten, daß um 1932 herum Rassenhygiene zu einer wissenschaftlichen Orthodoxie in der deutschen Mediziner-Gemeinschaft geworden war.« Und damit auch keine Spur von der gewöhnlichen (tröstlichen) Überzeugung zurückbleibe, daß der Drang zur rassischen Reinheit eine idiosynkratisch deutsche Verdrehung wissenschaftlicher Unternehmungen sei, sollten wir feststellen, daß das infame Baur-Fischer-LenzBuch, das als die wichtigste Quelle und höchste wissenschaftliche Autorität für die nazistischen Völkermord-Projekte und ihre Ausführung diente, von den hervorragendsten und aufgeklärtesten Zeitungen im Westen enthusiastisch rezensiert worden ist. Der New Statesman and Nation nannte es »ein großartiges Lehrbuch« und »Meisterwerk an objektiver Forschung und vorsichtigen Hypothesen«. The Spectator, Sociological Education, American Sociological Review, Sociology and Social Research und zahlreiche andere Zeitschriften, die stolz auf ihre Objektivität und ihr Streben nach Wahrheit waren, echoten die Bewunderung und zeigten sich außerstande, irgendeinen ernsthaften Fehler in den gelehrten Schlußfolgerungen der geistigen Väter des Völkermords zu finden.26

26 Proctor, Racial Hygiene, S. 38, 58.

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Christopher Simpson hat jüngst das schockierende Beweismaterial dafür gesammelt, wie leicht die deutsche Wissenschaft in eben der Form, die ihr unter der Nazi-Herrschaft gegeben worden war, nach der Niederlage Hitlers vom westlichen liberal-demokratischen Establishment absorbiert werden konnte. »Die Mystik der weißen Kittel und der Hochtechnologie«, scharf verfochten von Wissenschaftlern jeder politischen Schattierung, half, die deutschen Experten, die jetzt im Dienst der Sieger standen, von der Verantwortung für ihre Kriegstaten in allen außer den allergräßlichsten Fällen, die schon einen politischen Aufschrei verursacht hatten, freizusprechen. Im Jahre 1945, als das Ausmaß der genozidalen Ungeheuerlichkeiten zum ersten Mal voll in den Blick geriet, legte die US National Academy of Science die Grundlage für die nachfolgende retrospektive Entlastung deutscher Wissenschaftler und mit ihnen, stellvertretend, der Wissenschaft als solcher – trotz ihrer eifrigen Kooperation mit dem, was zu dieser Zeit (aufgrund der Logik der militärischen Niederlage) als Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschrieben werden mußte. Ein spezielles Komitee der Academy trat mit der wahrhaft hirnrissigen Idee auf den Plan, daß der treue Dienst für die Nazis während des Krieges tatsächlich eine Form des Widerstands der Wissenschaftler gewesen sei: Dadurch, daß sie stur an ihrem »traditionellen Elfenbeinturm« der nicht-parteiischen Objektivität festgehalten hätten, hätten die deutschen Wissenschaftler »eine Insel des Nonkonformismus im nazifizierten politischen Körper« gebildet.27 Und trotzdem ist Proctors Schlußfolgerung unzweideutig und gnadenlos: Es gibt »wenig Beweismaterial dafür, daß sich Ärzte jemals geweigert hätten, an Nazi-Programmen teilzunehmen.« Wer sich hätte weigern wollen, hatte mit keinerlei Bestrafung zu rechnen. Niemand befahl den Wissenschaftlern, an den Experimenten teilzunehmen, die an Gefangenen, Geisteskranken und anderen Ausgestoßenen vorgenommen wurden und wahrhaft das Blut gerinnen 27 Vgl. Christopher Simpson, Blowback: America’s Recruitment of Nazis and its Effects on the Cold War, London 1988, S. 34.

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ließen: »Diejenigen, die teilnahmen, taten es, weil ihnen dazu die Gelegenheit gegeben wurde, und sie taten es freiwillig.« Die Ergebnisse der Experimente wurden normalerweise vom akademischen Establishment als wertvolles Material von hoher Qualität begrüßt: Die Experimente wurden nicht von Quacksalbern, Sadisten und Verrückten vorgenommen, sondern »von ausgebildeten Spezialisten; die Resultate wurden auf angesehenen Konferenzen und in wissenschaftlichen Akademien präsentiert«. Ja, der anfängliche Versuch einiger überenthusiastischer Anhänger einer Volksmystik, eine »natürliche Medizin« zu instituieren und die akademische Orthodoxie zu verwerfen, fand keinerlei Resonanz bei dem gründlich modernen und wissenschaftlichen Charakter des genozidalen Projekts: Die Wissenssysteme, die mit der Rassenhygiene verbunden waren, »waren im allgemeinen das Spezialgebiet der orthodoxen, nicht der heterodoxen Medizin; die Techniken, die für die Sterilisation, Kastration usw. erforderlich waren, konnte die organische medizinische Tradition nicht anbieten« – wohingegen die rationale Wissenschaft und ihre moderne Ausstattung sie sicher beherrschten.28 Die Ergebnisse der »Forschungen« von Ravensbrück wurden von den erlauchtesten Akademikern von internationalem Ansehen diskutiert, einschließlich des prominentesten deutschen Arztes, Ferdinand Sauerbruch. Weder er noch seine mit nicht weniger eindrucksvollen wissenschaftlichen Beglaubigungen ausgestatteten Kollegen sahen den geringsten Widerspruch zwischen ihrer wissenschaftlichen Berufung und den Praktiken, denen sie eine theoretische Grundlage und praktische Hilfsmittel verschafften. Allzu häufig ergriffen sie mit Vergnügen die echte Gelegenheit, die Forschung voranzubringen, die die Gönnerschaft der Partei und die großzügige Staatspatronage boten. Die Liste berühmter Namen von Experten und sorgfältiger Mitarbeiter (die außer den erstrangigen Leuchten wie Lenz, Verschuer oder Fischer die Namen von Rudolf Kamm, Kurt Blome, Gerhard Wagner, Lehmann, Baurmeister und eine Reihe anderer von ähnlich respektablem Rang 28 Proctor, Racial Hygiene, S. 220f.

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enthielt – viele von ihnen setzten ihre brillante wissenschaftliche Karriere nach dem Zusammenbruch von Nazi-Deutschland als allgemein angesehene reputierliche Spezialisten in Humangenetik fort) würde ihren berechtigten Platz in jedem »Who’s Who in the World of Science« finden. Die Träger dieser Namen sahen sich selbst als Nachfolger und Schüler von Virchow, Semmelweis, Koch, Lister, Pasteur und Ehrlich; das Problem dabei ist, daß dieser Anspruch kaum in Frage zu stellen ist. Sie folgten tatsächlich den unparteiischen Regeln wissenschaftlicher Tatsachenforschung und setzten die rationalsten Mittel zur Erreichung gegebener Ziele ein (und instrumentelle Rationalität ist, wie wir alle glauben, politisch und moralisch neutral); sie arbeiteten tatsächlich daran, die Lage der menschlichen Rasse zu verbessern, die nicht völlig gesichert war, solange sie der Spontaneität der Natur überlassen wurde; sie wünschten tatsächlich, eine bessere, sauberere, ordentlichere Welt zu erbauen, die besser angepaßt war an all das, was man als das richtige menschliche Leben ansehen mochte. Und so hat man keine andere Wahl, als Proctors Urteil zu akzeptieren: »Man könnte gut argumentieren, daß die Nazis, genaugenommen, nicht die Resultate der Wissenschaft mißbrauchten, sondern eher das in die Tat umsetzten, was Doktoren und Wissenschaftler selbst schon in Gang gesetzt hatten.«29 Es hatte ohne das Nazi-Projekt eines rassisch reinen Deutschland keinen Genozid gegeben. Aber gleichermaßen hätte es kein solches Projekt gegeben ohne die Wissenschaft und die Technologie, die es sowohl denkbar wie – so sei es – respektabel machten. Beinahe vier Jahrzehnte nach der Niederlage der Nazis besuchte Amitai Etzioni eine internationale Konferenz, an der die besten Köpfe, die die Wissenschaftsgemeinschaft aufzubieten hatte, wie auch die Politiker der Nationalstaaten teilnahmen, die eifrig darauf bedacht waren, die allerneuesten wissenschaftlichen Theorien und Techniken anzuwenden, um das Los der Bevölkerung, über die sie herrschten, zu verbessern. Etzioni bemerkt dazu: 29 Ebenda, S. 296.

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»Die Teilnehmer der Konferenz wechselten bei der Erklärung, etwa der Amniozentese, auf die eine Abtreibung folgte, schnell von der Perspektive der Eltern (die ein behindertes Kind wünschen mögen oder auch nicht) zur Perspektive der Gesellschaft (die willens sein mag oder auch nicht, jährlich 1,75 Milliarden Dollar aufzuwenden, um sich um die mongoloiden Kinder zu kümmern), von therapeutischen Zielen (der Verhinderung der Geburt eines deformierten Kindes) zu der Verwendung derselben Verfahren zu Züchtungszwecken (z.B. der Wahl des Geschlechts des werdenden Kindes), von individuellen Rechten zu den Problemen der Gesellschaft, von freiwilligen Plänen zu Zwangsinterventionen (z.B. Gesetzen, die die Ehe zwischen geistesschwachen Individuen verhindern sollen).«

Das Bemerkenswerte hieran ist, daß Wissenschaftler und Politiker gleichermaßen die Verlagerung der Perspektive kaum bemerkten. Man darf annehmen, daß genau diese Verlagerung der Perspektive und die Leichtigkeit, mit der sie vorgenommen werden konnte, einigen Teilnehmern überhaupt erst die Einladung sicherte und für die anderen die Anziehungskraft der Konferenz ausmachte. »Wenn es etwas Dummes gibt, was man tun kann«, warnt Etzioni, »dann gibt es früher oder später eine Regierung, die es tun wird […] An diesem Punkt sind wir nicht einmal auf dem Papier im Besitz der Mechanismen, eine bestimmte Entwicklung zu stoppen, sobald sie sich als nicht wünschenswert erwiesen hat.«30 30 Amitai Etzioni, Genetic Fix: The Next Technological Revolution, NewYork 1973, S. 102, 20, 30. In den letzten beiden Dekaden scheinen sich Einstellungen, die Etzionis Warnungen als realistisch erscheinen lassen, verstärkt zu haben. Man hört von früher undenkbaren Versuchen, die Nazi-Experimente an Insassen von Konzentrationslagern »als wissenschaftlich zuverlässiges Material« zu rehabilitieren. Aber man findet auch zeitgenössische Wissenschaftler, die immer mehr Schwierigkeiten dabei haben zu verstehen, warum sie sich zurückhalten sollen, das menschliche Leben nach Art von Ingenieuren zu behandeln, mit oder ohne Zustimmung der Betroffenen, wenn sie wüßten, daß die antizipierten Resultate besser sein werden als der Status quo und wenn die notwendigen Werkzeuge, Fähigkeiten und Gelder verfügbar wären. Und so schreibt z.B. Norman Stone in The Guardian (14. Dez. 1989) in einer Rezension von Paul Windlings Health,

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Müller-Hills Chronik der »Erkennung, Aussonderung und Vernichtung Andersartiger«, die die Daten von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und der Wannsee-Konferenz einschließt, endet

Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945, (Cambridge University Press): »Auf seine schreckliche Weise verwies Hitler auf ein Problem, das ständig besteht und in den heutigen ›Unterklassen‹ sogar sehr ernst ist. Wie kann man alleinstehende minderjährige Mütter daran hindern, die Fußball-Rowdies von morgen zu kriegen?« Ein Satz, der so ganz »nebenbei« fällt, schiebt das traurige Wissen beiseite, das die Geschichte Wissenschaftlern gegen ihren Willen aufgezwungen hat. In wenigen Worten (die um so erschreckender sind, als sie offenbar als selbstverständlich angesehen werden) formuliert Norman Stone von neuem die gesamte Philosophie, die praktisch zu den nazistischen politischen Praktiken einlud: Er weiß, daß die »Unterklasse« (natürlich, wer sonst?) ein »Problem« ist (wessen Problem?); er weiß, daß Rowdies von alleinstehenden Müttern stammen (aus und in der Unterklasse, natürlich); und so weiß er, daß die bereitwilligen alleinstehenden Unterklassen-Mütter an der Unzucht gehindert werden sollten. Wie? Hier, darf man annehmen, »wies Hitler auf ein Problem hin, das ständig besteht«. In seiner jüngsten Rezension von Proctors Untersuchung schrieb Geoffrey Cantor von den »Gefahren, die darin liegen, daß Wissenschaftler beschränkte Ziele verfolgen, die von der Wissenschaft definiert werden. Denn die Macht ohne Verantwortlichkeit kann leicht in die Richtung unmenschlichster Ziele gelenkt werden. Was den deutschen Ärzten und Wissenschaftlern deutlich fehlte, war eine offene und kritische Diskussion der sozialen, politischen und ethischen Bedeutung ihrer Forschung. Sogar heute ist eine solche Diskussion allzu selten.« (Geoffrey Cantor, »Biology and Destiny«, Jewish Quarterly, Winter 1989.) Unterstellt man den unentwirrbaren Zusammenhang zwischen »Entmoralisierung« und der Instrumentalität der Wissenschaft, den Cantor so gut dokumentiert, kommt das »sogar« in seinem letzten Satz sehr überraschend. All dies findet seine kompetente Zusammenfassung in Hans Jonas’ Urteil: »Niemals war so viel Macht mit so wenig Lenkung für ihren Gebrauch verbunden. Gleichwohl gibt es einen Zwang, sobald Macht erst einmal da ist, sie auf jeden Fall zu gebrauchen.« (Philosophical Essays: From Ancient Creed to Technological Man, Englewood Cliffs 1974, S. 176.)

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mit einem Eintrag, der Watson und Cricks Entdeckung der Struktur der DNS und die Explosion der folgenden genetischen Forschung und genetischen Ingenieursexperimente verzeichnet. Er fragt: »Ist aus dem Ausbruch der Barbarei in Deutschland gelernt worden, oder wird sie sich weltweit in noch schrecklicherem Ausmaß wiederholen?«31 Nach der Entdeckung der DNS erscheint das Wissen von Genetik und Eugenik, auf das man zu Zeiten der Professoren Fischer, Lenz oder Verschuer so stolz war, lächerlich primitiv. Moderne Genetiker haben das Ziel, das gesamte, endgültige »Buch des Lebens« niederzuschreiben – den gesamten menschlichen genetischen Code mit all seinen möglichen Variationen. Es ist schnell erkannt worden, daß die Medizin, die in der DNS ihren Ursprung hat, einer neuen Industrie bedarf, die sie betreibt. Es gibt bereits private Gesellschaften, die sich dem menschlichen »Genom« widmen, so eine, die sich Biogen nennt und die sich einfallsreich beeilte, in Vorwegnahme des wundervollen (und hochprofitablen) angewandten Wissens, das die neue wissenschaftliche Forschung zwangsläufig hervorbringen muß, sich copyrights zu sichern. Der United States Congress ist, seiner traditionellen und weithin anerkannten Funktion getreu, in Sorge, daß Stiftungsgelder gefunden werden müssen, um die Pionierarbeit zu fordern, damit Amerika nicht seine gegenwärtig führende Rolle in der Biotechnologie verliert, während das US Department für Energie die Erforscher der DNS-Struktur einlädt, seine umfangreichen und nicht ausreichend genutzten elektronischen Mittel für ihre Experimente zu verwenden. Wenn sie von einzelnen, deren Gewissen immer noch von den frischen Erinnerungen an das wissenschaftliche Management des »Rassematerials« geplagt wird, in die Enge getrieben werden, antworten sowohl die Wissenschaftler und die Geschäftsleute, die begierig sind, ihre Funde auszuschlachten, als auch die Politiker, die erpicht darauf sind (wenigstens im Augenblick), ihr Prestige auszuschlachten, empört: »Wir haben nicht die Absicht,

31 Benno Müller-Hill, Tödliche Wissenschaft, S. 25.

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›schlechte‹ Eigenschaften zu definieren, sondern wollen nur die guten veredeln …« Es gibt keinen Grund, die edlen Absichten der Wissenschaft zu bezweifeln. Es gibt noch weniger Grund, ihr böse Absichten vorzuwerfen. Der Holocaust hat uns freilich gelehrt, an der Weisheit des Anspruchs der Wissenschaftler, gut und böse zu unterscheiden, zu zweifeln; ebenso wie am Vermögen der Wissenschaft als moralischer Autorität, der Fähigkeit der Wissenschaftler, moralische Probleme zu benennen und moralische Urteile über die Folgen ihrer Handlungen zu fällen.

Über Inhumanität berichten Dehumanisierende Definitionen des Feindes sind nichts Neues in der Menschheitsgeschichte und schwerlich ein eigentümliches Merkmal der modernen Zeit. Sie haben die meisten Kriege begleitet, vielleicht jeden Krieg. Während der Schlacht waren sie wahrscheinlich unverzichtbar. Der Soldat mußte seine Aversion zu töten und zu verstümmeln unterdrücken, wenn er nicht selbst getötet oder verstümmelt werden wollte. Es besteht eine grimmige Symmetrie in den Kämpfen auf dem Schlachtfeld. Auf beiden Seiten wird die Aussetzung des Gebotes »Du sollst nicht töten« in bezug auf den Anderen zur Bedingung seiner Aufrechterhaltung gegenüber sich selbst (oder, noch perverser, zur Bedingung dafür, den Anderen zu zwingen, ihm zu gehorchen). Die Verteidigung des eigenen Rechts zu leben setzt voraus, daß man dem Anderen ebendieses Recht verweigert. In einer solchen Konstellation muß der Andere nicht definiert werden – so scheint es wenigstens. Der Andere definiert sich selbst – als der Feind – insofern er jemandes Respekt vor seiner moralischen Identität in Konflikt mit dem Schutz der eigenen Identität bringt. Man kann sein Feind-sein nur auf eigene Gefahr bestreiten. Die alte Tradition, den Feind in der Schlacht zu dehumanisieren, die das Aufkommen der modernen Zeit sichtlich intakt über81

lebt hat, ist gleichwohl, wie alles übrige, durch die moderne Organisation und Technologie gründlich revolutioniert worden. Der Wettstreit individueller Fähigkeiten in der Schlacht – das Duell, in dem die Chancen zu überleben auf beiden Seiten gleichmäßig verteilt waren – wurde durch eine Massenvernichtung aus der Ferne ersetzt. Die Symmetrie der Intentionen ist nicht mehr selbstverständlich noch sich selbst bestärkend – sie muß konstruiert und demonstriert werden. Wichtiger noch, die Symmetrie der Intentionen verweist immer auf die Symmetrie der Praktiken, und moderne Massenvernichtungswaffen werden mit dem Ziel rationalisiert, solche Symmetrie gar nicht erst entstehen zu lassen. Ungleich den Kombattanten in einer Mann-gegen-MannSchlacht kann den Objekten der Massenvernichtung ihre Menschlichkeit, wie eingeschränkt auch immer, nicht zugestanden bleiben. Moderne Waffen erfordern eine vollständige Auslöschung der moralischen Identität ihrer Opfer, bevor sie deren Körper vernichten. Paul Fussell, Englischprofessor in Pennsylvania und ein Veteran des Pazifik-Krieges, erinnert sich, daß »unter Amerikanern die weitverbreitete Überzeugung herrschte, daß die Japaner wirklich untermenschliche, kleine gelbe Biester seien und die populäre Bildersprache sie als Läuse, Ratten, Fledermäuse, Vipern, Hunde und Affen beschrieb«. Armee- und Marine-Journale schrieben von der »gigantischen Aufgabe der Ausrottung«, und einige der Marinesoldaten, die auf von Japanern besetzten Inseln landeten, schrieben pflichtschuldigst Rodent Exterminator (Nagetiervernichter) auf ihre Helme. Die Dehumanisierung des Feindes wurde natürlich von beiden Seiten betrieben. Ihre Fortdauer auf beiden Seiten, das gemeinsame Vergessen der Menschlichkeit auf der anderen Seite machten die Massaker möglich – wie sie auch den Teilnehmern erlaubten, sie eher als sanitäre Operationen denn als Mord anzusehen. »[…] Laßt uns Benzin in ihre Bunker schütten und es anzünden und dann alle abschießen, die versuchen, brennend herauszukommen. Warum nicht? Warum sie nicht alle in die Luft fliegen lassen, mit Ranzenladungen oder mit irgend etwas noch 82

Stärkerem? Ja, warum nicht eine neue Art Bombe auf sie werfen …?«32 Trotz all seiner modernen Innovationen bleibt der Krieg (zumindest in seinem entwickelten Stadium, selbst wenn nicht immer zum Zeitpunkt des ursprünglichen Angriffs) eine Situation, in der die Gegner das Recht auf Selbstdefinition behalten. Der Feind scheint objektiv ein Feind zu sein, wohingegen mein Versuch, ihm sein Recht, durch moralische Gebote geschützt zu sein, zu bestreiten, als eine Übung in Reziprozität erscheint. Anders beim Genozid. Hier wird das Objekt der Ausrottung einseitig definiert. Keinerlei Symmetrie wird in irgendeiner Form angewendet oder unterstellt. Man mag seine Phantasie noch so anstrengen, die andere Seite ist kein Feind, sondern ein Opfer. Es ist für die Vernichtung freigegeben, weil die Logik der Ordnung, die die stärkere Seite zu etablieren wünscht, keinen Platz für seine Anwesenheit hat. Die meisten der kleinen Kriege, die sich zu dem großen Krieg verbanden, der von Nazi-Deutschland gegen die Welt geführt wurde, wiesen diesen deutlich wahrnehmbaren asymmetrischen Charakter auf – Entfernung der Fremden, die den deutschen Lebensraum besetzten, oder der fremden Rassen, die das deutsche Leben unterwühlten und den deutschen Geist korrodieren ließen. Das zu zerstörende Objekt wurde vollständig durch die Vision des zukünftigen deutschen Reichs definiert. Und wie Rubinstein und Roth aufzeigen: »Wenn der Holocaust eine einzelne überragende Lehre enthält, dann die, daß es absolut keine Grenze für die Obszönitäten gibt, mit denen ein entschlossener und mächtiger Aggressor ungehindert staatenlose, machtlose Individuen überziehen kann.«33 Wer erklärt, daß eine bestimmte Kategorie von Menschen keinen Platz in der zukünftigen Ordnung habe, sagt damit, daß diese Kategorie hoffnungslos verloren ist – nicht reformiert, angepaßt 32 Paul Fussell, »Thanks God for the Bomb«, zuerst veröffentlicht in: New Republic, wiederabgedruckt in: The Guardian, 21./22. Jan. 1989. 33 Richard L. Rubinstein und John K. Roth, Approaches to Auschwitz, New York 1987, S. 333f.

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oder gezwungen werden kann, sich anzupassen. Der Andere ist kein Sünder, der seinen Lebenswandel noch bereuen oder verbessern kann. Er ist ein erkrankter Organismus, »sowohl krank wie ansteckend, beschädigt wie beschädigend«.34 Für ihn ist nur eine chirurgische Operation geeignet; noch besser Vergasung und Vergiftung. Er muß zerstört werden, damit der Rest des Gesellschaftskörpers seine Gesundheit behält. Seine Vernichtung ist eine Sache der Medizin und der Hygiene. Hitler gab den Ton für alle späteren Nazi-Darstellungen an, als er seinen Dienst an der Menschheit (das Töten der Juden) als »Ausrottung von Ungeziefer« beschrieb. Streichers Der Stürmer hämmerte diese Definition mit unerbittlicher Monotonie ein: »Bakterien, Schädlinge und Ungeziefer können nicht geduldet werden. Aus Gründen der Sauberkeit und Hygiene müssen wir sie unschädlich machen, indem wir sie töten.«35 Der moderne wissenschaftliche Diskurs der Rasse (einer unveränderlichen, zugeschriebenen Qualität – hoffnungslos »naturbestimmt«, anerkanntermaßen erblich, kulturell unmanipulierbar, gegen jede Heilung resistent), den die nazistische Manufaktur des Anderen so üppig ausbeutete, war von Beginn an angefüllt mit den Bildern pathologischer Deformation, Degeneration, Verrücktheit, sexueller Perversion. Theoretische Begriffe waren unentwirrbar mit medizinischen Praktiken verwoben, taxonomische Operationen mit chirurgischen, begriffliche Gegensätze mit Rassentrennungsaktionen, abstrakte Bewertungen mit sozialen Diskriminierungen. Den Anderen als Ungeziefer zu definieren stellt tiefsitzende Ängste, Widerwillen und Ekel in den Dienst der Ausrottung. Aber es bringt auch, und mit viel weitreichenderen Folgen, den Anderen in eine große geistige Distanz, auf die hin moralische Rechte nicht länger erkennbar sind. Sobald er der Humanität beraubt und als Ungeziefer neu de-

34 S. L. Gilman, Difference and Pathology, Stereotypes of Sexuality and Madness, Ithaca 1985, S. 130. 35 Zitiert nach Norman Cohn, Warrant for Genocide, London 1967, S. 87, 205.

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finiert ist, ist der Andere nicht länger ein Objekt moralischer Bewertung. Angesehene deutsche Wissenschaftler von heute, die sich noch an die illustren Gelehrten erinnern, die die nazistische Politik der rassischen Auslese, Rassentrennung und »Säuberung« inspirierten und später ihre Ausführung leiteten, können sich nicht erinnern, daß ihre älteren Kollegen oder Lehrer Antisemiten oder auch nur (mit sehr wenigen Ausnahmen) politisch engagierte Menschen waren, ganz zu schweigen davon, daß sie überzeugte Nazis gewesen seien. Selbst wenn die heilende Arbeit der Zeit sehr wahrscheinlich ihre Spuren in der Erinnerung der Zeugen hinterlassen hat, die Einmütigkeit ihres Verdikts ist wahrhaft schlagend. Selbst wenn man einräumt, daß das Urteil den Tatsachen der Vergangenheit gegenüber nicht völlig treu ist, wirft ihre erklärte Motivation gewiß einiges Licht auf das normale Klima des wissenschaftlichen Establishments; schließlich wird die Vergangenheit in den Termini des gegenwärtigen Klimas interpretiert. Und so nehmen wir zur Kenntnis, daß Professor Fischer eine gänzlich apolitische Person gewesen ist, die sich nur der Wissenschaft und der Erweiterung des Wissens widmete – ein freundlicher, empfindsamer und anspruchsloser Mann. Wir hören, daß sich Professor Lenz ebenso ganz seiner Berufung widmete. Er war eine Mischung aus Wissenschaftler, der vom Hunger nach Wissen getrieben wurde, und außerweltlichem Utopisten; keine Spur von Bosheit – ein Mann mit ausnahmslos guten Absichten. Wir hören von einem früheren Assistenten von Fischer, daß letzterer darauf bestand, akkurate Expertenberichte (über den Grad der rassischen Kontamination von untersuchten Personen) nach rein wissenschaftlichen Kriterien zu schreiben; Milde war, nach seiner Ansicht, fehl am Platze, da es sich um keinen wissenschaftlichen Begriff handele. Irmgard Haase, Professor Verschuers frühere Mitarbeiterin, äußert ganz entschieden: Wir hatten – erinnert sie sich – keinerlei Gewissensbisse; schließlich handelte es sich um Wissenschaft. Professor E. Z. Rüdin, die Tochter von Ernst Rüdin, sprach von den bösen Vorahnungen ihres verstorbenen Vaters hinsichtlich des Gebrauchs, der 85

von seinen objektiven wissenschaftlichen Resultaten gemacht worden war. Aber, fragt sie, »was hätte er denn machen sollen? Er hätte sich dem Teufel verkauft, um Geld für sein Institut und seine Forschung zu bekommen.«36 Und er verkaufte sich tatsächlich dem Teufel, und zwar bedenkenlos. Schließlich verteidigte er ja nur die Sache der Wissenschaft, ihre Ressourcen, ihren Fortschritt, die Freiheit der Forschung – und was er als Wissenschaftler tat, war, wie die Wissenschaft selbst, objektiv und deshalb moralischen Einwänden gegenüber immun; es war gar kein moralisches Problem. Bis auf wenige rassistische Fanatiker dachten die anderen titelgeschmückten Verwalter und Berater des Genozids wahrscheinlich ähnlich – und bedurften keiner anderen Motivation für das, was sie taten. »Objektivität öffnete den Wissenschaftlern die Tür zu jeder Barbarei.«37 So faßt Müller-Hill seine sorgfältigen Untersuchungen zusammen. Wissenschaftler begrüßen Objektivität. Sie lehnen Werturteile ab und vermeiden sie. Wenn sie erst einmal soweit sind, ist der Rest eine Sache instrumenteller Rationalität. Wenn das Töten von Geisteskranken ökonomisch sinnvoll und technisch machbar ist, warum um Himmels willen sollte man es nicht tun? Oder warum sollte man die Chancen zur Förderung der Wissenschaft dadurch mindern, daß man sich weigert, das »Juden- und Zigeunermaterial« als Versuchstiere zu behandeln? Unterstützt wird diese Haltung dadurch, daß moderne Wissenschaftler selbst in einer bürokratischen Struktur organisiert sind – mit ihrer vertikalen und horizontalen Arbeitsteilung, die viele von 36 Vgl. Müller-Hill, Tödliche Wissenschaft, S. 131. 37 Ebenda, S. 88. Hans Jonas schrieb über den Ansturm der gegenwärtigen Wissenschaftler auf die Gentechnologie: »Das potentiell unendliche ›transzendente‹ Bild würde auf Pläne erwünschter Eigenschaften zusammenschrumpfen, die von computerunterstützten Genetikern, autorisiert durch die politische Macht, in Blaupausen verwandelt und schließlich mit schicksalhafter Finalität in die zukünftige Bewertung der Spezies durch biologische Technologie eingefügt werden würden.« (Philosophical Essays, S. 180f.)

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ihnen die meiste Zeit über in die Position von »intermediären Menschen« (Lachs) versetzt und sie auf der »Stellvertreter-Stufe« (Milgram) hält. Selten beobachten die Experten die letzten Konsequenzen ihrer Handlungen. Noch seltener verfolgen sie ihre Entscheidungen bis zu ihrem logischen Ende. (Ihre Beiträge stellen nur Teilfunktionen in einem komplexen Netzwerk verwobener Aktivitäten dar; als Funktionäre, als Einheiten in einer Totalität, die viel größer ist als ein einzelner von ihnen, fühlen sie sich eminent austauschbar; wenn sie nicht dieses oder jenes tun, tut es irgendein anderer. Auf diese Weise wird die Personalität ihrer Handlungen zusammen mit der persönlichen Verantwortung so gut wie ausgelöscht.) Vor allem stellen sie sich kaum jemals den Endergebnissen. Wenn sie wollen, können sie diese Resultate sogar ignorieren. Müller-Hill äußert die Vermutung, daß es aus genau dem Wesen der Praxis, die Wissenschaft genannt wird, folgt (demselben Wesen, das wir auch für die spektakulären Erfolge der Wissenschaft verantwortlich machen, für die wir Bewunderung und Dankbarkeit empfinden), daß »die andere Person« aus dem Blick gerät, sich immer weiter entfernt und daher weniger bedeutsam wird (mit Sicherheit weniger ethisch bedeutsam). Die Reduktion »des Individuums« auf eine Ziffer ist ein unverzichtbarer Faktor des Fortschritts der Spezialisierung und des Expertenwissens. »Der im achtzehnten Jahrhundert beginnende Einbruch der Wissenschaft in die Ebene des sprechenden und Zeichen gebenden Menschen war ein fundamentaler Irrtum.«38 Was in der Wissenschaft zählt, ist, interessante und genaue Resultate zu erzielen und sie schnell und billig zu erhalten. Andere Erwägungen sind lediglich Hürden, die zu überspringen sind oder aus dem Weg geräumt werden müssen. Sie können nichts anderes als »Zwänge« sein, regressive Faktoren, Manifestationen von Obskurantismus und Kräfte der Finsternis. Die Moderne machte den Genozid möglich, als sie das zweckgerichtete Handeln von moralischen Zwängen emanzipiert hatte.

38 Müller-Hill, Tödliche Wissenschaft, S. 100.

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Die Moderne ist zwar nicht die hinreichende Ursache des Genozids, aber ihre notwendige Bedingung. Die Fähigkeit, menschliches Handeln in großem Maßstab zu koordinieren, eine Technologie, die es erlaubt, in großer Entfernung von dem Objekt des Handelns wirksam zu agieren, eine minutiöse Arbeitsteilung, die einerseits einen spektakulären Fortschritt des Expertenwissens und andererseits ein Schwinden der Verantwortlichkeit zur Folge hat, das Anhäufen von Wissen, das dem Laien unverständlich ist und damit die Autorität der Wissenschaft erhöht, das von der Wissenschaft geförderte geistige Klima instrumenteller Rationalität, die erlaubt, sozialtechnologische Entwürfe allein in bezug auf ihre technische Machbarkeit und die Verfügbarkeit »unterbeschäftigter« Ressourcen zu begründen und zu rechtfertigen (wobei sie alle in den Dienst der unerbittlichen Lust nach Ordnung, Transparenz und Unzweideutigkeit gestellt werden sollen), sind die integralen Attribute der Moderne. Aber sie bedingen ebenso die Ersetzung der Moral durch instrumentelles Handeln (oder besser: das Impfen der Instrumentalität mit einer eigenen moralischen Bedeutsamkeit) und ermöglichen damit den Genozid, sofern Kräfte existieren, die entschlossen sind, ihn durchzuführen. Mit anderen Worten, mittels einer radikalen Schwächung moralischer Hemmungen und der Durchführung großangelegter, von moralischer Beurteilung unabhängiger und von jedem hemmenden Einfluß individueller Moralität ausgenommener Projekte stellt die Moderne die Mittel für den Genozid bereit. Sie liefert freilich auch seinen Zweck. Stanley Milgram faßte die Ergebnisse seiner berühmten Experimente auf folgende Weise zusammen: »Der Akt der Schockverabreichung [der Akt ostentativer Grausamkeit, mit dem sich zufällig ausgewählte, gewöhnliche, der Mittelklasse angehörige und gesetzestreue Amerikaner beschäftigen sollten, Z.B.] entspringt nicht destruktiven Trieben, sondern der Tatsache, daß die Versuchspersonen in eine Sozialstruktur integriert wurden und unfähig sind, aus ihr auszubrechen.« Erinnern wir uns, daß diese »Sozialstruktur« die der Wissenschaft gewesen ist. Den Versuchspersonen von Milgrams Experimenten wurde gesagt, daß die Grausamkeit, die sie 88

begehen sollten, durch den kognitiven Nutzen, den sie erbringen, und durch den Beitrag, den sie zur Entwicklung der Gelehrsamkeit leisten würde, »gerechtfertigt« sei. Auf jeden Fall war den Versuchspersonen so viel schon klar, als sie sich auf dem Gelände der renommiertesten Universität einfanden und Befehle von Leuten in respekteinflößenden weißen Kitteln erhielten. Sie waren nicht geneigt, solchen Befehlen zu widersprechen. Sie vertrauten darauf, daß Wissenschaftler etwas Gutes im Sinn haben und keinerlei unnötige Grausamkeit zufügen. Das auffälligste (obgleich eines der am wenigsten diskutierten) von Milgrams Resultaten war freilich, daß eine solche »integrierte« (lies: unbestrittene) Befehlsstruktur dann geschwächt wurde, wenn eine Nicht-Übereinstimmung zwischen mehreren gleichermaßen renommierten und sachkundigen Autoritäten vorgespielt wurde. »Es wird also deutlich, daß Nicht-Übereinstimmung von Autoritätspersonen das Handeln völlig lähmte«39 – d.h. es lähmte die Bereitwilligkeit der Versuchspersonen, Befehle auszuführen, die ihnen vorschrieben, Grausamkeiten zu begehen. Angesichts eines Pluralismus der Autorität behaupteten sich die moralischen Triebe der Versuchspersonen und gewannen wieder die Kontrolle über ihr Verhalten. Die Ethik kehrte sozusagen aus dem erzwungenen Exil zurück. Gesichtslose Objekte des Experiments waren wieder zu Gesichtern geworden. Der Schutzschild, den die gutstrukturierte, monolithische und einem einzigen Zweck dienende Organisation benutzte, um das Subjekt von seiner Verantwortung abzutrennen, brach auseinander. Es scheint, daß der einzige Faktor, der wahrhaft fähig ist, das genozidale Potential, das in den instrumentellen Kapazitäten der Moderne und ihrer instrumentell-rationalen Mentalität schlummert, auszugleichen und schließlich außer Kraft zu setzen, ein Pluralismus der Macht und folglich der Pluralismus autoritativer Mei-

39 Stanley Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Hamburg 1974, S. 193, 128.

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nung ist. Nur Pluralismus gibt die moralische Verantwortlichkeit für das Handeln ihrem natürlichen Träger zurück: dem handelnden Individuum. Die Aufsplitterung der zentralen Verwaltung, die unvermeidlich einen Pluralismus zur Folge hat, bedeutet die Abwesenheit eines Verwaltungszentrums, das fähig ist, von einer »einheitlichen und universalen« Ordnung zu träumen, ganz zu schweigen davon, sie zu verwirklichen. Einheit von Definitionen und Bedeutungen, von Zwecken, Strategien, Kriterien des Fortschritts, Bildern der Vollkommenheit und vom Sinn der Richtung, die der Wandel nimmt und nehmen sollte – diese leidenschaftlichste aller Sehnsüchte der modernen Mentalität –, müssen dann unerfüllt bleiben oder überhaupt von der Tagesordnung gestrichen werden. Statt dessen scheint eine gewisses Maß an semiotischer und axiologischer Ambivalenz ein permanentes Merkmal sozialer Existenz zu bleiben – und keineswegs nur ein flüchtiger, noch nicht behobener Mangel. Die Ambiguität, die die moderne Mentalität so schwer erträglich findet und die zu vernichten moderne Institutionen sich Mühe gaben (wobei beide ihre schreckliche kreative Energie aus genau dieser Absicht zogen), erscheint von neuem als die einzige Kraft, die imstande ist, das destruktive, genozidale Potential der Moderne einzuschränken und zu entschärfen. Daher stammt die bekannte Dualität der Tendenz der Moderne, die zwischen Freiheit und Genozid oszilliert, die ständig fähig ist, sich in jede Richtung zu erstrecken, die gleichzeitig die erschreckendsten aller zeitgenössischen Gefahren und die wirksamsten Mittel, sie zu verhindern, erzeugt – das Gift und das Gegengift. In seinem letzten Buch und Testament schrieb Primo Levi von den zahllosen Tätern der großen und kleinen Holocaust-Verbrechen, die versuchten, sich selbst dadurch zu entlasten, daß sie darauf bestanden, »nur Befehle ausgeführt« zu haben. Levi bezichtigt sie der Lüge. Am wichtigsten scheint freilich, daß die Mörder sagen konnten, was sie taten, und immer noch auf die Glaubwürdigkeit der Lüge hoffen durften. Es war die bürokratisch-technologische Seite der Moderne, die ihnen diese Hoffnung gab. Einzig der Plu90

ralismus der modernen Demokratie kann ihre Ausreden des Trugs überführen und die Hoffnung vernichten, daß die Lüge nicht an den Tag kommt. Vielleicht kann sie sogar die Handlungen, die eine Lüge erfordern, ein für allemal aus der Welt schaffen. Nach einem Überblick über Verlauf und Ergebnisse des modernen Krieges gegen die Ambiguität fand Hans Jonas in der bislang unzerstörten Ambivalenz die einzige Kraft, die fähig ist, die moderne technologische Zivilisation vor ihren eigenen, geplanten oder unbeabsichtigten Konsequenzen zu bewahren: »Hier steckt der Grundfehler der ganzen Ontologie des Noch-Nicht-Seins und des darauf gegründeten Primats der Hoffnung. Die schlichte und weder erhebende noch niederdrückende, aber allerdings in ehrfürchtige Pflicht nehmende Wahrheit ist, daß der ›eigentliche Mensch‹ seit je da war – in seinen Höhen und Tiefen, in seiner Größe und seiner Erbärmlichkeit, seinem Glück und seiner Qual, seiner Rechtfertigung und seiner Schuld – kurz, in aller von ihm unzertrennlichen Zweideutigkeit. Diese selbst beheben wollen heißt den Menschen in der Unergründlichkeit seiner Freiheit aufheben wollen.«40

40 Hans Jonas, Das Prinzip, Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 1979, S. 381f.

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Die gesellschaftliche Konstruktion der Ambivalenz

Es gibt Freunde und Feinde. Und es gibt Fremde. Freunde und Feinde stehen in Opposition zueinander. Die ersten sind, was die zweiten nicht sind, und umgekehrt. Das beweist freilich nicht, daß sie einen gleichen Status haben. Wie die meisten Gegensätze, die die Welt, in der wir leben, und zugleich unser Leben in dieser Welt ordnen, ist dieser Gegensatz eine Variation der obersten Opposition zwischen dem Innen und dem Außen. Das Außen ist die Negativität der Positivität des Innen. Das Außen ist das, was das Innen nicht ist. Die Feinde sind die Negativität der Positivität der Freunde. Die Feinde sind das, was die Freunde nicht sind. Die Feinde sind entstellte Freunde; sie sind die Wildnis, die das Sich-zu-Hause-fühlen der Freunde verletzt, die Abwesenheit, die eine Verneinung der Anwesenheit der Freunde ist. Das abstoßende und erschreckende »da draußen« der Feinde ist, wie Derrida sagen würde, ein Supplement – sowohl eine Ergänzung als auch eine Ersetzung des gemütlichen und tröstlichen »hier drinnen« der Freunde. Nur dadurch, daß sie das, was sie nicht sind (oder was sie nicht sein oder wofür sie nicht gehalten werden wollen), in dem Gegenbild der Feinde kristallisieren und verfestigen, können die Freunde behaupten, was sie sind, was sie sein wollen und wofür sie gehalten werden möchten. Offensichtlich besteht hier eine Symmetrie: Es gäbe keine Feinde, wenn es keine Freunde gäbe, und es gäbe keine Freunde, wenn es nicht den gähnenden Abgrund der Feindschaft draußen gäbe. Die Symmetrie ist freilich eine Illusion. Es sind die Freunde, die die Feinde definieren, und der Anschein der Symmetrie ist selbst ein Zeugnis ihres asymmetrischen Rechts auf die Definition. Es sind die Freunde, die die Klassifikation und die Zuordnung kontrol92

lieren. Die Opposition ist eine Leistung und Selbstbehauptung der Freunde. Sie ist das Produkt und die Bedingung der narrativen Herrschaft der Freunde, der Geschichtsschreibung der Freunde als Herrschaftsausübung. Insofern sie die Erzählung beherrschen, ihr Vokabular bestimmen und es mit Bedeutung füllen, sind Freunde wahrhaft zu Hause, unter Freunden, entspannt. Der Riß zwischen Freunden und Feinden macht die vita contemplativa und die vita activa zu wechselseitigen Spiegelbildern. Noch wichtiger, er garantiert ihre Koordination. Wissen und Handeln sind in Einklang, da sie demselben Prinzip der Strukturierung unterworfen sind, so daß das Wissen das Handeln durchdringen und das Handeln die Wahrheit des Wissens bestätigen kann. Die Freund/Feind-Opposition trennt Wahres von Falschem, Gutes von Bösem, Schönes von Häßlichem. Sie differenziert auch zwischen eigentlich und uneigentlich, richtig und falsch, geschmackvoll und ungehörig. Sie macht die Welt lesbar und deshalb instruktiv. Sie zerstreut Zweifel. Sie setzt den Klugen in den Stand, »weiterzuwissen«. Sie stellt sicher, daß man dahin geht, wohin man soll. Sie läßt die freie Wahl als Enthüllung der naturgeschaffenen Notwendigkeit erscheinen – so daß die menschengemachte Notwendigkeit immun gegenüber den Launen der Wahl sein kann. Freunde entstehen durch die Praxis der Kooperation. Freunde werden aus Verantwortung und moralischer Pflicht geformt. Freunde sind die, für deren Wohlergehen ich verantwortlich bin, bevor sie sich erkenntlich zeigen und ungeachtet ihrer Erwiderung; nur unter dieser Bedingung kann die Kooperation, die ja offensichtlich eine zweiseitige Verpflichtung ist, wirksam werden. Verantwortlichkeit muß ein Geschenk sein, wenn sie jemals zu einem Gegenstand des Tausches werden soll. Feinde entstehen andererseits durch die Praxis des Kampfes. Feinde werden konstruiert aus dem Verzicht auf Verantwortung und moralische Pflicht. Die Feinde sind die, die Verantwortung für mein Wohlergehen ablehnen, bevor ich meine Verantwortung für ihr Wohlergehen aufgebe und ungeachtet meines Verzichts; nur unter dieser Bedingung kann der Kampf, der ja offensichtlich eine 93

zweiseitige Feindschaft und reziproke feindliche Aktion ist, wirksam werden. Während die Antizipation von Freundlichkeit für die Konstruktion von Freunden nicht notwendig ist, ist die Antizipation von Feindschaft bei der Konstruktion von Feinden unabdingbar. Auf diese Weise ist die Opposition zwischen Freunden und Feinden eine Opposition zwischen Tun und Leiden, zwischen Subjekt und Objekt des Handelns. Es ist eine Opposition zwischen sich vorwagen und zurückzucken, zwischen Initiative und Vorsicht, Herrschen und Beherrschtwerden, Handeln und Reagieren. Bei aller Opposition zwischen ihnen oder – eher – wegen dieser Opposition steht jeder der beiden einander entgegengesetzten Modi für Beziehungen. Simmel folgend können wir sagen, daß Freundschaft und Feindschaft, und nur sie, Formen der Vergesellschaftung sind; ja, sie sind die archetypischen Formen aller Vergesellschaftung und bilden zusammen ihre zweiteilige Matrix. Sie bilden den Rahmen, innerhalb dessen Vergesellschaftung möglich ist; sie erschöpfen die Möglichkeit des »Seins mit Anderen«. Ein Freund zu sein und ein Feind zu sein sind die beiden Modalitäten, in denen der Andere als ein anderes Subjekt anerkannt, als ein »Subjekt wie man selbst« konstruiert und in der Lebenswelt des Selbst zugelassen werden kann, für relevant gehalten, relevant werden und bleiben kann. Gäbe es nicht die Opposition zwischen Freund und Feind, wäre nichts dergleichen möglich. Ohne die Möglichkeit, die Verpflichtung zur Verantwortung zu brechen, würde sich keine Verantwortung als eine Pflicht erweisen. Gäbe es keine Feinde, gäbe es auch keine Freunde. »Ohne diese Möglichkeit der Differenz«, sagt Derrida, »würde das Verlangen nach der Präsenz als solcher nicht zum Leben erweckt werden. Gleichzeitig heißt das, daß dieses Verlangen die Bestimmung seiner Unstillbarkeit schon in sich trägt. Die Differenz bringt hervor, was sie versagt, sie ermöglicht gerade das, was sie unmöglich macht.«1

1 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1989, S. 247f.

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Gegen diesen behaglichen Antagonismus, dieses von Konflikten zerrissene Zusammenspiel von Freunden und Feinden rebelliert der Fremde. Die Bedrohung, die er mit sich bringt, ist erschrekkender als die, die man vom Feinde fürchten muß. Der Fremde bedroht die Vergesellschaftung selbst – die Möglichkeit der Vergesellschaftung. Er stellt die Opposition zwischen Freunden und Feinden als die completa mappa mundi in Frage, als den Unterschied, der alle Unterschiede aufzehrt und deshalb nichts außerhalb seiner läßt. Da diese Opposition die Grundlage ist, auf der alles gesellschaftliche Leben und alle Unterschiede, die es zusammenflicken und zusammenhalten, beruhen, untergräbt der Fremde das gesellschaftliche Leben selbst. Und all dies, weil der Fremde weder Freund noch Feind ist; und weil er beides sein kann. Und weil wir nicht wissen, und über keine Methode verfügen zu erfahren, was von beiden der Fall ist. Der Fremde ist ein (vielleicht das wichtigste, das archetypische) Mitglied der Familie der Unentscheidbaren – jener verwirrenden, gleichwohl universalen Einheiten, die, wiederum in Derridas Worten, »nicht mehr innerhalb des philosophischen (binären) Gegensatzes eingeschlossen werden können und ihm dennoch innewohnen, ihm widerstehen, ihn desorganisieren, aber ohne jemals einen dritten Ausdruck zu bilden, ohne jemals zu einer Lösung nach dem Muster der spekulativen Dialektik Anlaß zu geben«. Hier sind ein paar Beispiele von »Unentscheidbaren«, die Derrida diskutiert: Das pharmakon: der griechische Gattungsbegriff, der sowohl Heilmittel wie Gifte einschließt (der Terminus, der in Platons Phaidros als Gleichnis für das Schreiben verwendet wird und aus diesem Grunde – nach Derridas Ansicht – indirekt, durch Übersetzungen, die darauf abzielten, seiner Ambiguität auszuweichen, für die Richtung verantwortlich ist, die von der nachplatonischen Metaphysik im Westen genommen worden ist). Pharmakon ist »die reguläre, geordnete Polysemie, die durch eine Schräglage, Indetermination oder Überdetermination, aber ohne Fehlübersetzung die Wiedergabe desselben Wortes durch ›Heilmittel‹, ›Rezept‹, ›Gift‹, ›Droge‹, ›Filter‹ usw. erlaubt.« Wegen dieser Fähigkeit ist pharmakon 95

zunächst und vor allem machtvoll, weil ambivalent, und ambivalent, weil machtvoll: »es hat am Guten wie am Üblen teil, am Angenehmen wie am Unangenehmen«.2 Pharmakon ist schließlich »weder das Heilmittel noch das Gift, weder gut noch böse, weder das Drinnen noch das Draußen«. Pharmakon verzehrt und überrennt alle Opposition – die pure Möglichkeit der Opposition selbst. Der hymen: wiederum ein griechisches Wort, das sowohl für Häutchen wie für Hochzeit steht und aus diesem Grund gleichzeitig Jungfräulichkeit – den unkompromittierten und unnachgiebigen Unterschied zwischen dem »Drinnen« und dem »Draußen« – und ihre Verletzung durch die Fusion des Selbst und des Anderen bezeichnet. Infolgedessen ist hymen »weder die Vereinigung noch die Trennung, weder die Identität noch die Differenz, weder der Vollzug noch die Unberührtheit, weder Hülle noch Enthüllung, weder Drinnen noch Draußen usw.«. Das Supplement: im Französischen steht dieses Wort sowohl für Ergänzung wie für Ersetzung. Es ist deshalb das Andere, das »sich vereint«, das Draußen, das das Drinnen betritt, die Differenz, die sich in Identität verwandelt. Infolgedessen ist das Supplement »weder ein Mehr noch ein Weniger, weder ein Draußen noch die Ergänzung eines Drinnen, weder etwas Akzidentelles noch etwas Wesentliches usw.«.3 Unentscheidbare sind alle weder/noch; was soviel sagt wie, daß sie gegen das entweder/oder kämpfen. Ihre Unterbestimmtheit ist ihre Macht: Weil sie nichts sind, können sie alles sein. Sie machen Schluß mit der ordnenden Macht der Opposition und ebenso mit der ordnenden Macht des Erzählers der Opposition. Oppositionen ermöglichen Wissen und Handeln; Unentscheidbare lähmen sie. Unentscheidbare exponieren brutal das Künstliche, die Fragilität,

2 Jacques Derrida, Disseminations, übers. v. Barbara Johnson, London 1981, S. 71, 99. 3 Jacques Derrida, Positionen, Wien 1986, S. 90f.

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das Heuchlerische der lebenswichtigsten unter den Trennungen. Sie bringen das Außen nach innen und vergiften das Tröstende der Ordnung durch den Argwohn gegen das Chaos. Dies ist genau das, was die Fremden tun.

Die Angst vor dem Unbestimmten Kognitive (klassifikatorische) Klarheit ist ein Spiegelbild, ein intellektuelles Äquivalent der Verhaltenssicherheit. Sie kommen und gehen zusammen. Wie eng sie miteinander verbunden sind, begreifen wir blitzartig, wenn wir in ein fremdes Land kommen, eine fremde Sprache hören, fremdes Verhalten anstarren. Die hermeneutischen Probleme, denen wir uns dann gegenübersehen, vermitteln einen ersten Eindruck von der furchtbaren Paralyse des Verhaltens, die der Unfähigkeit zur Klassifikation folgt. Verstehen heißt, wie Wittgenstein ausführte, weiterzuwissen (Phil. Unters. 154). Das ist der Grund, weswegen hermeneutische Probleme (die sich ergeben, wenn die Bedeutung nicht unmittelbar evident ist, wenn wir gewahr werden, daß Wörter und Bedeutung nicht dasselbe sind, daß es ein Bedeutungsproblem gibt) als belastend erfahren werden. Ungelöste hermeneutische Probleme bedeuten Ungewißheit darüber, wie die Situation gelesen werden sollte und welche Antwort am ehesten die gewünschten Resultate bringt. Im besten Falle ist Ungewißheit verwirrend und wird als unbehaglich empfunden. Im schlechtesten Falle bringt sie ein Gefühl der Gefahr mit sich. Ein großer Teil der gesellschaftlichen Organisation kann als Sediment der systematischen Bemühung interpretiert werden, die Häufigkeit, mit der man hermeneutischen Problemen begegnet, zu reduzieren und die Qual zu lindern, die solche Probleme verursachen, sobald man ihnen einmal gegenübersteht. Wahrscheinlich ist die üblichste Methode, dies zu erreichen, die der territorialen und der funktionalen Trennung. Würde diese Methode in vollem Ausmaß und mit maximaler Wirkung angewendet, würden hermeneu97

tische Probleme in gleichem Maße schwinden wie die physische Entfernung schrumpft und der Bereich und die Häufigkeit der Interaktion wächst. Die Möglichkeit des Mißverständnisses wurde kaum jemals wirklich werden oder nur eine marginale Störung herbeiführen, wenn das Prinzip der Trennung, die konsistente »Beschränkung der Interaktion auf Gebiete eines unterstellten gemeinsamen Verständnisses und des wechselseitigen Interesses« sorgfältig beachtet würde.4 Die Methode der territorialen und funktionalen Trennung wird sowohl nach außen wie nach innen angewandt. Personen, die in ein Territorium überwechseln müssen, in dem sie hermeneutische Probleme verursachen und ertragen müssen, suchen Enklaven, die für Besucher vorgesehen sind, und nehmen die Dienste funktionaler Vermittler in Anspruch. Reiseländer, die einen steten Zustrom von »kulturell unvorbereiteten« Besuchern erwarten, schaffen von vornherein solche Enklaven und bilden ganz bewußt derartige Vermittler aus. Territoriale und funktionale Trennung ist eine Widerspiegelung bestehender hermeneutischer Probleme; sie ist freilich auch ein höchst mächtiger Faktor bei ihrer Verewigung und Reproduktion. Solange die Trennung kontinuierlich aufrechterhalten bleibt, besteht nur wenig Aussicht, daß die Wahrscheinlichkeit des Mißverständnisses (oder zumindest die Antizipation solchen Mißverständnisses) jemals geringer wird. Das Fortbestehen und die stete Möglichkeit hermeneutischer Probleme kann deshalb zugleich als das Motiv und als das Produkt des Bemühens um eine Grenzziehung angesehen werden. Als solche haben sie eine eingebaute Tendenz zur Selbstverewigung. Da die Grenzziehung niemals narrensicher ist und eine gewisse Grenzüberschreitung sich kaum vermeiden läßt, ist es sehr wahrscheinlich, daß hermeneutische Probleme als eine permanente »Grauzone« bestehenbleiben, die die

4 Frederick Barth, Ethnic Groups and Boundaries; The Social Organization of Cultural Difference, Bergen 1969, S. 15.

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vertraute Welt des alltäglichen Lebens umgibt. Diese Grauzone ist von Unvertrauten bewohnt; von den noch nicht Klassifizierten oder – eher – von dem, was nach Kriterien klassifiziert ist, die den unseren gleichen, uns bis jetzt aber unbekannt sind. Das Unvertraute erscheint in einer Anzahl von Arten ganz ungleicher Bedeutsamkeit. Ein Pol des Bereichs ist von denen besetzt, die in praktisch weit entfernten (d.h. selten besuchten) Ländern wohnen, und deren Rolle sich deshalb darauf beschränkt, Grenzen des vertrauten Territoriums zu ziehen (das ubi leones, das als Warnung vor Gefahr auf den römischen Karten an die äußeren Grenzen geschrieben wurde). Ein Austausch mit solchen Unvertrauten (wenn er überhaupt stattfindet) wird aus der alltäglichen Routine und dem normalen Interaktionsgewebe ausgesondert – als Funktion einer besonderen Kategorie von Leuten (etwa Geschäftsreisenden, Diplomaten oder Ethnographen) oder als besondere Gelegenheit für die übrigen. Beide (territoriale und funktionale) Mittel institutioneller Trennung schützen – ja, verstärken – ganz bequem die Unvertrautheit der Unvertrauten, zusammen mit seiner alltäglichen Irrelevanz. Sie schützen ebenso, wenn auch indirekt, die sichere Vertrautheit des eigenen Territoriums. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung hat das Fernsehen, dieses riesige und leicht zugängliche Schlüsselloch, durch das alltäglich ein Blick auf die unvertrauten Verhaltensweisen geworfen werden kann, weder die institutionelle Trennung beseitigt noch ihre Wirksamkeit verringert. Man kann sagen, daß McLuhans »globales Dorf« sich nicht verwirklicht hat. Der Rahmen eines Films oder des Fernsehbildschirms verhindert die Gefahr des Überschwappens noch effektiver als Touristenhotels und eingezäunte Campinggelände; die Einseitigkeit der Kommunikation schließt das Unvertraute auf dem Bildschirm als im wesentlichen unkommunizierbar sicher weg. Die neueste Erfindung der »thematischen« Einkaufszonen, die karibische Dörfer, Indianerreservate und polynesische Schreine eng unter einem Dach zusammendrängen, hat die alte Technik der institutionellen Trennung auf die Höhe der Perfektion gebracht, die bisher nur der Zoo erreicht hat. 99

Das Phänomen der Fremdheit kann freilich nicht auf die Erzeugung von hermeneutischen Problemen reduziert werden, so belastend sie auch sein mögen. Der Zusammenbruch der erlernten Klassifikation ist verwirrend genug, wird jedoch kaum als Katastrophe angesehen, solange er auf mangelndes Wissen zurückgeführt werden kann. Hätte ich nur jene Sprache gelernt, nur das Geheimnis jener fremden Bräuche gelöst … Hermeneutische Probleme unterminieren allein noch nicht das Vertrauen in das Wissen und die Erreichbarkeit von Verhaltenssicherheit. Wenn überhaupt, verstärken sie beides. Die Art und Weise, wie sie das Heilmittel als Erlernen einer neuen Methode der Klassifikation definieren, als eine neue Menge von Oppositionen, die Bedeutungen einer neuen Gruppe von Symptomen, verstärkt nur das Vertrauen in die wesentliche Ordentlichkeit der Welt und besonders in die ordnende Kraft des Wissens. Eine moderate Dosis Verwirrung ist genau deshalb erfreulich, weil sie sich in dem Komfort der erneuten Bestärkung auflöst (dies bildet, wie jeder Tourist weiß, einen wesentlichen Bestandteil der Attraktion, die Reisen ins Ausland bieten, je exotischer, desto besser). Der Unterschied ist etwas, mit dem man leben kann, solange man glaubt, daß die verschiedene Welt »eine Welt mit einem Schlüssel« ist wie unsere, eine ordentliche Welt wie unsere; einfach eine andere Welt, die entweder von Freunden oder von Feinden bewohnt wird, ohne Hybriden, die das Bild stören und das Handeln durcheinanderbringen, und mit Regeln und Trennungen, die man vielleicht noch nicht kennt, die man aber, falls nötig, lernen kann. Einige Fremde sind freilich nicht die bis-jetzt-Unentschiedenen; sie sind im Prinzip Unentscheidbare. Sie sind die Vorahnung jenes »dritten Elementes«, das nicht sein sollte. Sie sind die wahren Hybriden, die Monster – nicht einfach unklassifiziert, sondern unklassifizierbar. Sie stellen nicht einfach diese eine Opposition hier und jetzt in Frage: Sie stellen Oppositionen überhaupt in Frage, das Prinzip der Opposition selbst, die Plausibilität der Dichotomie, die es suggeriert, und die Möglichkeit der Trennung, die es fordert. Sie demaskieren die brüchige Künstlichkeit der Trennung. Sie zerstören die 100

Welt. Sie verwandeln das zeitweilige Unbehagen des »nicht mehr Weiterwissens« in eine endgültige Paralyse. Sie müssen tabuisiert, entwaffnet, unterdrückt, physisch oder geistig exiliert werden – oder die Welt könnte zugrunde gehen. Territoriale und funktionale Trennungen genügen nicht länger, sobald sich einmal das lediglich Unvertraute als der wahre Fremde herausstellt, der von Simmel sehr treffend als »der Mann« beschrieben wurde, »der heute kommt und morgen bleibt«.5 Der Fremde ist tatsächlich jemand, der sich weigert, sich auf das »ferne Land« beschränken zu lassen oder aus unserem eigenen fortzugehen und der daher a priori dem bequemen Hilfsmittel der räumlichen oder zeitlichen Absonderung Widerstand leistet. Der Fremde kommt in die Lebenswelt und läßt sich hier nieder, und folglich wird es – im Unterschied zum bloß Unvertrauten – relevant, ob er ein Freund oder ein Feind ist. Er hat seinen Weg in die Lebenswelt uneingeladen gemacht, wodurch er mich auf die Empfängerseite seiner Initiative gestellt, mich zum Objekt des Handelns gemacht hat, dessen Subjekt er ist: All dies ist, wie wir uns erinnern, ein notorisches Merkmal des Feindes. Gleichwohl wird er, im Unterschied zu anderen, »direkten« Feinden, weder auf sicherer Entfernung gehalten noch auf der anderen Seite der Schlachtlinie. Schlimmer noch, er beansprucht das Recht, Gegenstand von Verantwortlichkeit zu sein – das vertraute Attribut eines Freundes. Drängten wir ihm die Freund/ Feind-Opposition auf, erschiene er gleichzeitig als unter- und als überdeterminiert. Auf diese Weise würde er stellvertretend das Versagen der Opposition selbst ans Licht bringen. Er stellt eine konstante Bedrohung für die Ordnung der Welt dar. Aber nicht nur aus diesem Grund. Es gibt noch andere. Zum Beispiel die unvergeßliche und daher unverzeihliche Ursünde des

5 Georg Simmel, »Der Fremde« (1908), in: Soziologie, Berlin 1968, S. 509. »Der Fremde«, schrieb Robert Michels, »ist der Repräsentant des Unbekannten« (»Materialien zu einer Soziologie des Fremden«, in: Jahrbuch für Soziologie, 1925, S. 303).

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späten Eintritts: die Tatsache, daß er den Bereich der Lebenswelt zu einem genau bestimmbaren Zeitpunkt betreten hat. Er gehört nicht »von Anfang an«, »ursprünglich«, »schon immer«, »seit undenklichen Zeiten« in diese Lebenswelt und stellt infolgedessen die Extemporalität der Lebenswelt in Frage, bringt die bloße »Historizität« der Existenz zum Vorschein. Die Erinnerung an das Ereignis seiner Ankunft macht deshalb gerade seine Gegenwart eher zu einem Ereignis der Geschichte als zu einer Naturtatsache. Sein Übergang aus der Geschichte in die Natur würde eine wichtige Grenze auf der Karte der Existenz durchlässig machen, und dem muß entschlossen Widerstand geleistet werden. Ein solcher Übergang würde schließlich auf das Eingeständnis hinauslaufen, daß die Natur selbst ein Ereignis in der Geschichte ist und daß deshalb die Berufung auf die natürliche Ordnung oder die Naturrechte keine Vorzugsbehandlung verdient. Weil sie ein Ereignis in der Geschichte ist, weil sie einen Anfang hat, führt die Gegenwart des Fremden immer die Möglichkeit eines Endes mit sich. Der Fremde hat die Freiheit zu gehen. Er kann auch gezwungen werden zu gehen – oder zumindest kann man erwägen, ihn zum Gehen zu zwingen, ohne die Ordnung der Dinge zu verletzen. Wie lange es sich immer hinziehen mag, das Bleiben des Fremden ist zeitlich begrenzt – eine weitere Verletzung der Einteilung, die im Namen der sicheren, ordentlichen Existenz unangetastet bleiben sollte. Selbst hier hört freilich die trügerische Inkongruenz des Fremden nicht auf. Der Fremde unterminiert die räumliche Ordnung der Welt – die ersehnte Koordination zwischen moralischer und topographischer Nähe, zwischen dem Zusammenhalt von Freunden und der Distanz von Feinden. Der Fremde stört den Einklang zwischen physischer und psychischer Distanz: Er ist physisch nahe, während er geistig fern bleibt. Er bringt die Art von Differenz und Andersheit in den inneren Kreis der Nähe, die nur in einer gewissen Entfernung erwartet und toleriert wird – wo sie entweder als irrelevant übergangen oder als feindlich vertrieben werden kann. Der Fremde stellt eine inkongruente und daher abgelehnte »Syn102

thesis aus Nähe und Ferne«6 dar. Seine Anwesenheit stellt die Verläßlichkeit orthodoxer Grenzen und der universalen Werkzeuge zur Herstellung der Ordnung in Frage. Seine Nähe (wie, nach Lévinas7, alle Nähe) legt den Gedanken einer moralischen Beziehung nahe, während seine Ferne (wie, nach Erasmus8, alle Ferne) lediglich eine vertragliche gestattet: eine weitere wichtige Opposition, die kompromittiert ist. Wie immer, folgt der begrifflichen die praktische Inkongruenz. Der Fremde, der sich weigert zu gehen, verwandelt schrittweise seinen zeitweiligen Aufenthaltsort in ein heimatliches Territorium – und zwar um so mehr, als seine andere, »ursprüngliche« Heimat in die Vergangenheit zurückweicht und vielleicht völlig verschwindet. Andererseits freilich behält er (wenn vielleicht auch nur in der Theorie) seine Freiheit zu gehen und ist folglich imstande, seine Situation mit einem Gleichmut anzuschauen, den sich die einheimischen Bewohner kaum leisten können. Von daher rührt eine weitere inkongruente Synthese – dieses Mal zwischen Engagement und Gleichgültigkeit, Parteilichkeit und Neutralität, Distanz und Teilnahme. Man kann dem Engagement, das der Fremde zeigt, der Loyalität, die er verspricht, der Hingabe, die er demonstriert, nicht trauen: Sie haben das Sicherheitsventil der leichten Flucht, um das die meisten Einheimischen den Fremden oft beneiden, das sie aber selten selbst besitzen. Die unverzeihliche Sünde des Fremden ist deshalb die Unvereinbarkeit zwischen seiner Anwesenheit und anderen Anwesenheiten, die für die Weltordnung fundamental sind, sowie sein gleichzeitiger Angriff auf mehrere entscheidend wichtige Oppositionen, die für die unaufhörliche Suche nach Ordnung relevant sind. Es ist diese Sünde, die sich durch die ganze moderne Ge-

6 Simmel, »Der Fremde«, S. 510. 7 Vgl. Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches, Wien 1986, S. 72–79. 8 Vgl. Charles J. Erasmus, In Search of the Common Good, New York 1974, S. 74, 87.

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schichte hindurch an der Verfassung des Fremden als Träger und Verkörperung der Inkongruenz ablesen läßt; tatsächlich ist der Fremde eine Person, die mit einer unheilbaren Krankheit, der multiplen Inkongruenz geschlagen ist. Der Fremde ist aus diesem Grund das tödliche Gift der Moderne. Er mag sehr wohl als das archetypische Beispiel für Sartres le visqueux, das Klebrige, oder Mary Douglas’ the slimy, das Schleimige, gelten – eine unauslöschlich ambivalente Entität, die quer über einer umkämpften Barrikade sitzt (oder eher eine Substanz, die von oben über sie ausgeschüttet ist, so daß sie sie auf beiden Seiten schlüpfrig macht), die eine Grenzlinie verwischt, die für die Konstruktion einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung oder einer bestimmten Lebenswelt grundlegend ist. Keine binäre Klassifikation, die in der Konstruktion von Ordnung verwendet wird, kann sich vollkommen mit der wesentlich nicht-diskreten, kontinuierlichen Erfahrung der Realität decken. Die Opposition, die aus dem Schrecken vor der Ambiguität entsteht, wird zur Hauptquelle der Ambivalenz. Die Durchsetzung jeder Klassifikation bedeutet unvermeidlich die Hervorbringung von Anomalien (d.h., von Phänomenen, die nur insofern als »anomal« wahrgenommen werden, als sie die Kategorien überspannen, deren Getrenntheit die Bedeutung von Ordnung ist). Auf diese Weise »sieht sich jede gegebene Kultur zwangsläufig Ereignissen gegenüber, die ihre Annahmen in Frage zu stellen scheinen. Sie kann die Anomalien, die ihr Schema produziert, nicht ignorieren, ohne Gefahr zu laufen, das Vertrauen, das in sie gesetzt wird, zu verspielen.«9 Es gibt kaum eine Anomalie, die anomaler wäre als der Fremde. Er steht zwischen Freund und Feind, Ordnung und Chaos, dem Innen und dem Außen. Er steht für die Treulosigkeit von Freunden, für die schlaue Verstellung von Feinden, für die Fehlbarkeit von Ordnung, die Verletzlichkeit des Innen.

9 Vgl. Mary Douglas, Purity and Danger, London 1966, S. 39.

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Der Kampf gegen das Unbestimmte Von vormodernen kleinen Gemeinschaften, die für die meisten ihrer Mitglieder die Universen waren, in die das Ganze ihrer Lebenswelt eingeschrieben war, wird oft gesagt, daß sie durch eine dichte Soziabilität charakterisiert gewesen seien. Dieses allgemeine Urteil wird freilich verschieden interpretiert. Am häufigsten wird »dichte Soziabilität« als eine Intimität, geistige Harmonie und uneigennützige Kooperation im Sinne von Tönnies mißverstanden; mit anderen Worten, als Freundschaft ohne Feindschaft, oder mit unterdrückter Feindschaft. Wie wir schon gesehen haben, ist Freundschaft freilich nicht die einzige Form der Vergesellschaftung; Feindschaft erfüllt diese Funktion ebensogut. Ja, Freundschaft und Feindschaft konstituieren zusammen jenen Rahmen, innerhalb dessen die Vergesellschaftung möglich und wirklich wird. Die »dichte Soziabilität« der Vergangenheit erscheint uns in der Retrospektive nicht deshalb als verschieden von unserer eigenen Situation, weil sie mehr Freundschaft enthält, als wir in unserer eigenen Welt gewöhnlich erfahren, sondern weil ihre Welt dicht und beinah vollständig mit Freunden und Feinden angefüllt war – und zwar nur mit Freunden und Feinden. Wenig Raum, ein marginaler Raum, wenn überhaupt, blieb in dieser Lebenswelt für die schlecht definierten Fremden. Auf diese Weise entstanden die Probleme der Semantik und des Verhaltens, die die Freund/Feind-Opposition erzeugen muß, nur selten, und konnten im Prinzip schnell und effizient in der Dualität der Verhaltensformen abgehandelt werden, die die Opposition legitimierte. Die Gemeinschaft verteidigte ihre dichte Soziabilität durch die Reklassifizierung der wenigen Fremden, die gelegentlich an ihrem Horizont auftauchten, prompt als entweder Freunde oder Feinde. Als ein allem Anschein nach zeitweiliges Stadium stellte die Fremdheit für die saubere und solide Dualität der Welt keine ernsthafte Herausforderung dar. Alle überindividuellen Gruppierungen sind zuallererst Sedimente (oder eher fortlaufende Prozesse) der Vergemeinschaftung von Freunden und Feinden – jener Koordinierung der Freunde von 105

Feinden trennenden Linien, die viele Individuen in den Stand setzt, gemeinsame Freunde und Feinde zu haben. Genauer, Individuen, die eine Gruppe oder Kategorie von Feinden gemeinsam hatten, konnten einander aus diesem Grund als Freunde behandeln. Für Gemeinschaften, die durch dichte Soziabilität charakterisiert waren, war dies völlig oder doch beinahe völlig hinreichend. Und dieses konnte so bleiben, solange die Zuweisung von Fremden leicht war und in der Macht der Gemeinschaft stand. Der letzten Forderung wird freilich unter modernen Bedingungen nicht Genüge getan. Solche Bedingungen sind durch die Trennung zwischen physischer Dichte und dichter Soziabilität gekennzeichnet. Ausländer erscheinen innerhalb der Grenzen der Lebenswelt und weigern sich wegzugehen (obgleich man niemals aufhört zu hoffen, daß sie es – zu guter Letzt – doch tun …). Diese neue Situation scheint nicht notwendig von der gestiegenen Unrast und Mobilität herzurühren. Tatsächlich ergibt sich die neue intensive und fiebrige Mobilität selbst aus der vom Staat erzwungenen »Uniformisierung« riesiger Räume; Räume, die viel zu groß sind, als daß sie durch die alten von der Gemeinschaft praktizierten Methoden der Kartographierung und des Ordnens assimiliert und domestiziert werden könnten. Die neuen Fremden sind nicht Besucher, diese Flecken der Obskurität auf der durchsichtigen Oberfläche der alltäglichen Realität, die man erträgt, solange man hofft, daß sie morgen wieder abgewaschen werden (obgleich man immer noch versucht sein mag, dieses auf der Stelle zu tun). Sie tragen keine Schwerter; und sie scheinen keine Dolche in ihren Mänteln zu verbergen (obgleich man da nicht sicher sein kann). Sie sind nicht wie die Feinde, die man kennt. Oder zumindest geben sie das vor. Freilich sind sie auch nicht wie die Freunde. Man trifft Freunde an dem anderen Ende der eigenen Verantwortlichkeit. Man trifft Feinde (wenn überhaupt) an der Spitze des Schwertes. Es gibt keine klare Regel dafür, wie man Fremden begegnet. Der Verkehr mit den Fremden ist immer eine Inkongruenz. Sie steht für die Unvereinbarkeit der Regeln, die der verworrene Status des Fremden beschwört. Am besten ist es, Fremde über106

haupt nicht zu treffen. Wenn man aber nicht wirklich den Ort meiden kann, den sie einnehmen oder teilen, ist die nächstbeste Lösung ein Treffen, das nicht wirklich ein Treffen ist, ein Treffen, das so tut, als sei es keins, eine Vergegnung (um Bubers Ausdruck zu verwenden, Vergegnung im Unterschied zu Begegnung). Die Kunst der Vergegnung ist zuerst und vor allem eine Anzahl von Techniken, die dazu dienen, die Beziehung zu dem Anderen zu entmoralisieren. Ihre Gesamtwirkung ist die Negation des Fremden als moralisches Objekt und als moralisches Subjekt. Oder eher der Ausschluß aus solchen Situationen, die dem Fremden moralische Signifikanz zubilligen. Dies ist freilich ein armseliger Ersatz für die ideale Bedingung, die vielleicht überhaupt verloren, auf jeden Fall aber jetzt unerreichbar ist: eine Situation, in der die Opposition zwischen Freunden und Feinden überhaupt nicht in Frage gestellt wird und infolgedessen die Integrität der Lebenswelt mit den einfachen semantischen und Verhaltensdichotomien, die von Gemeinschaftsmitgliedern ganz selbstverständlich gehandhabt werden, erhalten bleiben kann. Wie alle anderen auf Selbsterhaltung bedachten sozialen Gruppierungen, seien sie vergangen oder zukünftig, territorial oder nicht-territorial, vergemeinschaften auch die modernen Nationalstaaten Freunde und Feinde. Zusätzlich zu dieser gemeinsamen Funktion erfüllen sie freilich auch eine neue Funktion, die ihnen ganz allein spezifisch ist: Sie eliminieren die Fremden oder versuchen es zumindest. Nationalistische Ideologie, sagt J. Breuilly, »ist weder ein Ausdruck nationaler Identität (zumindest gibt es keine rationale Möglichkeit zu zeigen, daß dies der Fall ist) noch die willkürliche Erfindung von Nationalisten zu politischen Zwecken. Sie entsteht aus der Notwendigkeit, eine Erklärung für komplexe soziale und politische Einrichtungen zu finden.«10 Was da erklärt werden muß, damit man »damit leben kann«, ist eine Situation, in der die traditionelle, bewährte Freund/Feind-Dichotomie nicht als

10 John Breuilly, Nationalism and the State, Manchester 1982, S. 343.

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selbstverständlich angewendet werden kann und deshalb notwendig kompromittiert wird – als eine armselige Führerin zur Kunst des Lebens. Der Nationalstaat ist primär dazu bestimmt, mit dem Problem der Fremden, nicht mit dem der Feinde fertig zu werden. Genau diese Eigenschaft unterscheidet ihn von anderen überindividuellen gesellschaftlichen Einrichtungen. Anders als ein Stammesverband dehnt der Nationalstaat seine Herrschaft über ein Territorium aus, bevor er den Gehorsam des Volkes beansprucht. Wenn sich Stämme die benötigte Vergemeinschaftung von Freunden und Feinden durch die Zwillingsprozesse der Anziehung und Abstoßung, der Selbst-Selektion und SelbstSegregation sichern können, müssen territoriale Nationalstaaten die Freundschaft erzwingen, wo sie nicht von allein zustande kommt. Nationalstaaten müssen das Versagen der Natur künstlich korrigieren (um durch einen Plan zu schaffen, was die Natur versäumt hat). Im Falle des Nationalstaates erfordert die Vergemeinschaftung der Freundschaft Indoktrination und Gewalt, den Kunstgriff der legal konstruierten Realität und die Mobilisierung von Solidarität mit einer imaginären Gemeinschaft (dieser treffende Ausdruck stammt von Benedict Anderson), um die kognitiven/ verhaltensbezogenen Strukturen, die innerhalb der Grenzen des Bereichs mit Freundschaft assoziiert sind, zu universalisieren. Der Nationalstaat definiert die Freunde neu als die Einheimischen; er befiehlt, die Rechte, die »nur Freunden« zugeschrieben werden, auf alle – die vertrauten ebenso wie die unvertrauten – Bewohner des beherrschten Territoriums auszudehnen. Und umgekehrt gewährt er die Bewohnerrechte nur, wenn eine solche Ausdehnung der Freundschaftsrechte wünschenswert ist (obgleich Wünschbarkeit oft als »Machbarkeit« verschleiert wird). Aus ebendiesem Grund sucht der Nationalismus den Staat. Aus diesem Grund erzeugt der Staat Nationalismus. Aus diesem Grund ist der Nationalismus ohne Staat während der Dauer der Moderne, die jetzt zwei Jahrhunderte alt ist, ebenso unvollständig und letztlich impotent gewesen wie der Staat ohne Nationalismus – bis zu dem Punkt, daß der eine ohne den anderen kaum begreifbar war. 108

In allen Analysen moderner Staaten ist wiederholt betont worden, daß sie »versucht haben, alle Loyalitäten und Trennungen innerhalb des Landes, die der nationalen Einheit im Wege stehen könnten, zu reduzieren oder zu eliminieren«.11 Nationalstaaten fördern den »Nativismus«, die Bevorzugung der Einheimischen vor den Einwanderern, und verstehen unter ihren Untertanen »die Einheimischen«. Sie unterstützen und fördern die ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Homogenität. Sie sind mit einer ununterbrochenen Propaganda der gemeinsamen Haltungen beschäftigt. Sie konstruieren gemeinsame historische Erinnerungen und tun ihr Bestes, widerspenstige Erinnerungen, die nicht in die gemeinsame Tradition hineingezwängt werden können, zu diskreditieren oder zu unterdrücken – die jetzt in den staatstragenden quasilegalen Termini als »unser gemeinsames Erbe« neu definiert wird. Sie predigen den Sinn für eine gemeinsame Mission, ein gemeinsames Schicksal, eine gemeinsame Bestimmung. Sie züchten oder legitimieren zumindest Feindseligkeit gegen jeden außerhalb der heiligen Union und geben ihr ihre stillschweigende Zustimmung.12 Mit anderen Worten, Nationalstaaten fördern die Gleichförmigkeit. Nationalismus ist eine Religion der Freundschaft; der Nationalstaat ist die Kirche, die die künftige Herde zwingt, den Kult zu praktizieren. Die staatlich erzwungene Homogenität ist die Praxis der nationalistischen Ideologie. Wie Boyd C. Shafer geistreich bemerkte, mußten »Patrioten gemacht werden. Das 18. Jahrhundert traute der Natur vieles zu, aber bei der Entwicklung des Menschen mußte man ihr schon unter die Arme greifen.« Der Nationalismus war ein Programm der Sozialtechnologie, und der Nationalstaat sollte die Fabrik sein. Der Nationalstaat wurde von Beginn an auf die Rolle eines kollektiven Gärtners festgelegt, dem die Aufgabe zugefallen war, Gefühle und Fähigkeiten zu züchten, die andernfalls sehr wahrscheinlich nicht

11 Boyd C. Shafer, Nationalism, Myth and Reality, London 1955, S. 119, 121. 12 Vgl. Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt/M. 1985, S. 7ff.

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entstehen würden. »Die neue Erziehung«, schrieb Fichte in seinen Reden von 1806, würde »gerade darin bestehen müssen, daß sie auf dem Boden, dessen Bearbeitung sie übernehme, die Freiheit des Willens gänzlich vernichte und dagegen strenge Notwendigkeit der Entschließungen und die Unmöglichkeit des Entgegengesetzten in dem Willen hervorbrächte. Willst du etwas über ihn vermögen. So mußt du mehr tun als ihn bloß anreden: du mußt ihn machen, ihn also machen, daß er gar nicht anders wollen könne, als du willst, daß er wolle.«13

Währenddessen erteilte Rousseau dem polnischen König, der im Begriff stand, die Polen zu »machen«, den Ratschlag (aus der Entfernung wurde »der Mensch als solcher« besser in seiner wahren Qualität als nationaler Patriot erkannt): »Es ist die Erziehung, die den Seelen nationale Kraft verleihen und ihre Ansichten und Vorlieben so lenken muß, daß sie aus Neigung, aus Leidenschaft, aus Notwendigkeit zu Patrioten werden. Wenn ein Kind die Augen aufschlägt, muß es das Vaterland erblicken und es darf bis zum Tage seines Todes nichts anderes sehen als das Vaterland […] Mit zwanzig Jahren darf ein Pole kein anderer, er muß Pole sein […] Das Gesetz muß den Stoff, die Ordnung und Form ihres Unterrichts bestimmen. Als Lehrer dürfen sie ausschließlich Polen haben.«14

Wäre der Nationalstaat imstande, sein Ziel zu erreichen, gäbe es in der Lebenswelt der in Einheimische verwandelten Bewohner, die ihrerseits wiederum in Patrioten verwandelt worden sind, keine Fremden mehr. Es gäbe nur Einheimische, die Freunde sind, und die Fremden, die wirkliche oder mögliche Feinde sind. Tatsächlich war freilich kein Versuch, die ethnische, religiöse, sprachliche, kulturelle und andere Heterogenität zu assimilieren, zu transformie13 J. G. Fichte, »Reden an die deutsche Nation«, 2. Rede: Vom Wesen der neuen Erziehung im Allgemeinen, in: Fichtes Werke (hrsg. v. I. H. Fichte), Bd. VII, S. 281f. 14 Jean-Jacques Rousseau, »Betrachtungen über die Regierung von Polen und ihre beabsichtigte Reformierung«, in: ders., Kulturkritische und Politische Schriften, Berlin 1989, Bd. 2, S. 447f.

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ren, zu akkulturieren oder zu absorbieren und sie in den homogenen Körper der Nation aufzulösen, unbedingt erfolgreich oder konnte es auch nur sein. Viel häufiger waren Schmelztiegel entweder Mythen oder fehlgeschlagene Projekte. Die Fremden weigerten sich, sich sauber in »wir« und »sie«, Freunde und Feinde, einteilen zu lassen. Ärgerlicherweise beharrten sie in ihrem Eigensinn auf ihrer Unbestimmtheit – ihre Anzahl und ihre besorgniserregende Kraft schien mit der Intensität der Anstrengung zur Dichotomisierung zu wachsen. Es war, als wären die Fremden »Industrieabfälle«, die mit jedem Anwachsen der Produktion von Freunden und Feinden an Umfang zunehmen; ein Phänomen, das durch ebenden Assimilationsdruck entstand, der dazu gedacht war, es zu zerstören. Der unverhohlene Angriff auf die Fremden mußte von Beginn an durch einen riesigen Aufwand an Techniken unterstützt, verstärkt und ergänzt werden, die ein langfristiges, vielleicht permanentes Zusammenleben mit Fremden ermöglichen sollten. Und das geschah auch.

Mit der Unbestimmtheit leben Das Inventar an Reaktionen auf die eigensinnige Gegenwart von Fremden läßt sich aus dem Standardkatalog von Reaktionen auf die »Schleimigkeit« als solche ersehen. Die meisten Punkte in einem solchen Katalog beziehen sich auf die Versuche, das »Schleimige« dadurch zu entschärfen, daß man es seiner Schleimigkeit beraubt. Alle solchen Versuche folgen der logischen und doch unplausiblen Strategie, wieder zu trennen, was die mit semantischer Vieldeutigkeit einhergehende Anomalie vereint; und der, das widerständige Residuum unsichtbar zu machen – sei es physisch oder geistig. Die erste Wahl besteht natürlich darin, den Knoten von Inkongruenzen radikal durchzuhauen, indem man den Fremden dazu zwingt, sich zu entfernen; die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen, indem man sozusagen persönliche und räumliche Entfremdung zusammenbringt. Diese konsistenteste aller Maßnah111

men ist freilich nicht immer möglich – das Fehlen eines natürlichen Aufenthaltsortes für den fraglichen Fremden als Extremfall genommen. Der Fremde, der nicht nur einfach nicht am Platz, sondern obendrein im absoluten Sinne heimatlos ist, kann ein verlockendes Objekt des Genozids werden. (In der beißenden Zusammenfassung von Cynthia Ozick: »Die deutsche Endlösung war eine ästhetische Lösung; sie war eine Art Redaktion, der Finger des Künstlers, der einen Fettfleck entfernt, sie vernichtete einfach, was als nicht harmonisch angesehen wurde.«15) In Ermangelung einer solchen Radikallösung kann man die Anomalie in eine der zahllosen Varianten von Naartürmer oder Naarshiffen fallen lassen16 – und auf diese Weise Kongruenz zwischen inhärent unvereinbaren »exterritorialen Territorien« und gleichermaßen unvereinbaren »überörtlichen Orten« erreichen. Reservate, Homelands, und ethnische Ghettos sind die bekanntesten solcher Varianten. Wenn radikale oder fast radikale Lösungen entweder nicht möglich oder unbequem sind, kommt ein kultureller Zaun als zweitbestes Mittel zu Hilfe. Kann der Fremde schon nicht nicht-existent gemacht werden, so doch zumindest unberührbar. Der gesellschaftliche Verkehr mit dem Fremden kann strikt reduziert und alle noch erlaubte Kommunikation von einem lästigen Ritual umgeben werden, dessen Hauptfunktion es ist, den Fremden aus dem Bereich des Gewöhnlichen herauszudrängen und ihn als mögliche Quelle eines normativen Einflusses zu entwaffnen. (Das ist die Lösung nach der Art: »Der Fremde hat seine eigenen fremden Bräuche, soll er sie behalten, aber sich klar darüber sein, daß sie nur zu ihm und nicht zu uns, den gewöhnlichen Leuten, passen.«) Strikte Verhinderungen von connubium, commercium und commensalitas sind die üblichsten Methoden kultureller Isolierung und der Beschränkung des Kontakts. Einzeln oder in Kombination angewendet,

15 Cynthia Ozick, Art and Ardour, New York 1984, S. 165. 16 Vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1969, S. 25–35.

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setzen sie den Fremden als den Anderen und verhindern, daß die Ambiguität seines Status die Klarheit der einheimischen Identität beschmutzt. Kultureller Ausschluß des Fremden, seine Konstruktion als permanenter Anderer außerhalb der »normalen« Trennungen und Kategorien »impliziert eine Anerkennung der Grenzen gemeinsamer Verständigung, unterschiedliche Kriterien des Werturteils und der Leistung sowie eine Beschränkung der Interaktionen auf Gebiete eines unterstellten gemeinsamen Verständnisses und des wechselseitigen Interesses«. Zwänge werden »den Rollen auferlegt, die ein Individuum spielen, und den Partnern, die er für verschiedene Arten von Transaktionen wählen darf«.17 Daß man den Fremden dadurch auf geistige Distanz hält, daß man ihn in einer Muschel des Exotizismus »einschließt«, reicht freilich nicht aus, um seine inhärente und gefährliche Inkongruenz zu neutralisieren. Schließlich bleibt er ja in der Nähe. Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, und der Verkehr konnte sehr wohl über die erlaubten Grenzen hinwegspülen. Infolgedessen bleiben die Fremden ständig die »Schleimigen«, die immer drohen, die Grenzen aufzuweichen, die für die einheimische Identität lebenswichtig sind. Diese Gefahr muß deutlich gemacht werden, die Einheimischen müssen gewarnt werden und auf der Hut sein, damit sie nicht der Versuchung erliegen, die spezifischen Lebensformen, die sie zu dem machen, was sie sind, zu kompromittieren. Dies kann dadurch erreicht werden, daß man den Fremden diskreditiert; daß man die äußerlichen, sichtbaren und leicht zu entdeckenden Eigenschaften (diakritika, in der Terminologie Frederic Barths) des Fremden als Zeichen der versteckten, aber ebendeshalb nur um so abscheulicheren und gefährlicheren Qualitäten darstellt. Dies ist die gesellschaftliche Institution des Stigmas, das vor zwei Jahrzehnten von Erving Goffman in den Brennpunkt der Sozialanalyse gestellt worden ist. In seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnete ›Stigma‹ die körperlichen Zeichen, welche die Minderwertigkeit des Charakters

17 Barth, Ethnic Groups and Boundaries, S. 15, 17.

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oder moralische Verworfenheit signalisierten. Dieser Begriff kann in einem weiteren Sinne auf alle Fälle angewandt werden, da ein beobachtbares – dokumentiertes und unbezweifelbares – Merkmal einer bestimmten Kategorie von Personen zum ersten Mal dadurch Bedeutsamkeit erhält, daß sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf es richtet und es dann als ein sichtbares Zeichen eines verborgenen Fehlers, einer Ungleichheit oder moralischen Schimpflichkeit interpretiert wird. Ein sonst unauffälliges Merkmal wird zu einem Makel, zum Zeichen eines Unglücks, zur Ursache einer Schande. Die Person, die diesen Makel trägt, ist leicht als weniger wünschenswert, unterlegen, schlecht und gefährlich erkennbar. Partner werden aufmerksam gemacht und vor den möglicherweise finsteren Konsequenzen einer sorglosen Interaktion gewarnt. Sie werden auch mit der Information über die virtuelle soziale Identität der Mitglieder der stigmatisierten Kategorie versorgt; eine Identität, die nachträglich schwer widerlegt werden kann, wie mühsam die Stigmatisierten auch immer versuchen, die wirkliche Identität zu behaupten, die sie definiert haben.18 Das Stigma scheint eine bequeme Waffe für die Verteidigung gegen die unwillkommene Ambiguität des Fremden zu sein. Das Wesen des Stigmas ist die Betonung der Differenz, einer Differenz, die im Prinzip unaufhebbar ist und infolgedessen eine permanente Ausgrenzung rechtfertigt. Gewöhnlich werden ja solche äußerlichen Zeichen eines angeblich morbiden Inneren ausgewählt, die für kosmetische Techniken unzugänglich sind. In der modernen Welt mit ihrem Glauben an die Allmacht der Kultur und Erziehung (der Mensch ist »lediglich, was die Erziehung aus ihm macht« – behauptete Kant zuversichtlich; »l’éducation peut tout« – bestätigte Helvétius), mit ihrer ständigen Ermahnung zur Selbstverbesserung und dem Axiom der individuellen Verantwortlichkeit für die Selbst-Erschaffung – bleibt das Stigma eines der wenigen Resi-

18 Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/M. 1962, S. 10.

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duen der »Natur«, die die Leidenschaft für den Neuentwurf und die Neukonstruktion von jeder Art Einmischung ausnimmt und in ihrem angeblich jungfräulichen Zustand beläßt. Das Stigma zieht der Transformierungskapazität der Kultur ihre Grenzen. Die äußerlichen Zeichen mögen verhüllt sein, aber sie können nicht ausradiert werden. Das Band zwischen Zeichen und innerer Wahrheit kann bestritten, aber nicht zerschnitten werden. Dank solcher Qualitäten ist die Institution des Stigmas hervorragend geeignet, den Fremden in seiner Identität als ausgeschlossener Anderer zu immobilisieren. Wäre der Fremde lediglich eine »ungebildete« Person, bislang in den örtlichen Bräuchen ungeübt und nicht richtig an die einheimischen Bedingungen angepaßt, würde die praktische Bedrohung, die seiner »multiplen Inkongruenz« inhärent ist, die Einheimischen wehrlos machen. Noch gefährlicher, die inhärente Brüchigkeit aller Identität, einschließlich der einheimischen, würde kraß deutlich werden. Eine Identität, die jeder durch Sorgfalt und Mühe erwerben kann, ist eine Identität, die auch nach Belieben verschüttet werden kann. Eine derartige »An-Aus«-Identität ist freilich eine viel zu schwache Grundlage, als daß sie die sichere Existenz (»Integrität«) der Gruppe gewährleisten könnte. Die Annahme der »lediglich kulturellen« (d.h. von Menschen gemachten, manipulierbaren und korrigierbaren) Wurzeln der Idiosynkrasie des Fremden bedeutet in der Praxis den Verzicht der Gruppe auf ihre Autorität, Pässe und Visa auszustellen, und auf ihr Recht, den Grenzverkehr zu kontrollieren. Und eine unbewachte Grenze ist für alle praktischen Zwecke eine contradictio in adiecto. Das Stigma wehrt alle solchen Gefahren ab (oder verspricht zumindest, dies zu leisten). Das Stigma ist ein kulturelles Produkt, das der Macht der Kultur eine Grenze setzt. Im Stigma zieht die Kultur dem Territorium eine Grenze, das zu kultivieren sie als ihre Aufgabe ansieht, und umschreibt ein Areal, das brachliegen muß und soll. Da die Zeichen des Stigmas im wesentlichen unauslöschlich sind, kann eine Stigmatisierung nur beendet werden, wenn der Stigmatisierte als unschuldig oder neutral neu interpretiert wird 115

oder ihm jede semantische Signifikanz vollständig abgesprochen und er auf diese Weise sozial unsichtbar gemacht wird. In der modernen Gesellschaft besteht ein ständiger Druck, genau dies zu tun. Der Druck kann nicht leicht neutralisiert werden. Er rührt von Attributen her, die für die moderne Gesellschaft ganz zentral und konstitutiv sind, wie das Prinzip der Chancengleichheit, Freiheit der Selbstbestimmung, Verantwortung des Individuums für sein eigenes Schicksal – und darf nicht ohne Widerspruch und ohne das Schaffen neuer Inkongruenzen demontiert werden. Denn schließlich ist die Moderne eine Rebellion gegen das Schicksal und die Zuschreibung, im Namen der Allmacht von Plan und Leistung. Das Stigma ist zwangsläufig ein Stachel im Fleisch; es gibt dem Schicksal seine Würde zurück und wirft einen Schatten auf das Versprechen der grenzenlosen Möglichkeiten zur Vervollkommnung. Es steht deshalb quer zu allem, wofür die Moderne steht, und zu allem, was die moderne Gesellschaft glauben muß, um ihre Existenz in der einzigen Form zu reproduzieren, die sie kennt und zu deren Kultivierung sie erzogen ist. Auf der anderen Seite gerät freilich das Prinzip der Selbstkonstitution, wenn es bis in seine logischen Konsequenzen hinein verfolgt wird, mit der Berechtigung des Nationalstaates in Konflikt, legitime von illegitimen Verantwortungen zu trennen, legitime von illegitimen Feindschaften zu sondern; die Grenzen der Gemeinschaft von Freunden zu ziehen und die Lokalisierung von Feinden zu kartographieren. Diese Funktionen des Nationalstaates, die mit dem Namen »Gründung des Nationalstaates« bezeichnet werden ( jener spezifisch modernen Variante der Aufgabe, eine kollektive Identität zu konstruieren, der sich jede menschliche Gruppierung gegenübersieht), erreichen unter modernen Bedingungen eine Wichtigkeit, der sich nur wenige Funktionen jemals, wenn überhaupt, gegenübersahen. Kollektive Identitäten, die früher einmal unproblematisch, »natürlich« und ganz selbstverständlich »gegeben« waren, müssen jetzt sozusagen künstlich hervorgebracht werden. Das macht sie prekärer als jemals zuvor, zum Gegenstand gespannter Aufmerksamkeit der planenden – technisch-konstruie116

renden – gartenbauenden modernen Mächte.19 Es besteht deshalb ein echter Widerspruch im Herzen der Moderne. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, beiden gleichermaßen dringlichen Bedürfnissen gleichzeitig Genüge zu tun. Über einen gewissen Punkt hinaus mindern die Mittel, die eingesetzt werden, um eines der Bedürfnisse zu befriedigen, die Wahrscheinlichkeit, daß das andere Bedürfnis jemals erfüllt werden kann. In der modernen Gesellschaft ist das Stigma genau im Zentrum des obigen Widerspruchs lokalisiert. In einem wichtigen Sinne steht das Stigma auffällig quer zu den ausgesprochenen Prinzipien, die das Mittel für die Reproduktion des modernen Lebens darstellen; aus diesem Grunde ist gerade die Institution des Stigmas illegitim und wird in vielen Fällen in eine untergründige Existenz getrieben und nur klammheimlich und verstohlen praktiziert. Gleichzeitig ist es praktisch unverzichtbar. Und also gibt es eine paradoxe Symmetrie zwischen der Situation des Stigmas und der der Gruppen, die es stigmatisiert. Beide sind Angriffen ausgesetzt, beide müssen ihre wahre Identität verbergen und täuschende Legitimationen suchen. Beide arbeiten unter Bedingungen, die ihre Aktionen selbstzerstörerisch machen oder zumindest ihre Effektivität scharf begrenzen. Der liberale Aufruf zur Assimilation, den man mit guten Gründen als die spezifischste, authentischste moderne Politik des Nationalstaates bezeichnen darf, leidet unter ähnlichen Spannungen, die einen der zentralen Widersprüche der Moderne widerspiegeln. Oberflächlich angesehen läutet die liberale Botschaft von der kulturellen Assimilation dem Stigma das Totenglöcklein, da sie das kräftigste seiner Fundamente unterminiert – die zugeschriebene Natur der Inferiorität. Die Botschaft läuft auf eine dauernde Einladung an alle und jeden hinaus, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und es so gut wie möglich zu gestalten. Sie verkündet

19 Mehr zu diesem Thema in: Zygmunt Bauman, Legislators and Interpreters, Cambridge 1987, Kap. 4.

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das universale Recht, die höchsten, wertvollsten und infolgedessen begehrtesten Werte in Anspruch zu nehmen. Sie bietet nicht nur einfach Hoffnung, sondern ein klares Rezept zu ihrer Realisierung: Die besten Werte sind, in der bezaubernd zirkulären Formulierung von John Stuart Mill, die, welche von den besten Leuten anerkannt und praktiziert werden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich freilich ein innerer Widerspruch. Der Widerspruch macht das Angebot ebenso irreführend (und schließlich frustrierend) wie es verführerisch ist. Aber es ist ein Widerspruch, auf den der Nationalstaat, der sich an die respekteinflößende Aufgabe gemacht hat, das von ihm beherrschte Territorium zu »homogenisieren« und dadurch seinen Anspruch auf Vorherrschaft zu legitimieren, schwerlich verzichten kann – da das Assimilationsangebot (Assimilation ist immer ein einseitiger Prozeß) indirekt bestätigt, was zu beweisen war – nämlich die Überlegenheit und das Wohlwollen der einheimischen Herrscher.20 20 Um als Legitimation effektiv zu sein, muß das liberale Programm in allen seinen Formen (und diese schließen die Idee der Akkulturation als einer Garantie der Mitgliedschaftsrechte ein) darauf bestehen, daß die Werte, die die besseren Leute besitzen, und die es zur Nachahmung empfiehlt, tatsächlich allgemein verfügbar sind, und infolgedessen ist ihr Besitz der Beweis für die Überlegenheit derjenigen, die sie besitzen. In dem unwahrscheinlichen Fall freilich, daß das Angebot in großem Umfang und erfolgreich angenommen worden ist, wird eben die Überlegenheit, die es doch beweisen sollte, nicht länger bestehen. Man kann sagen, daß der Liberalismus sein Angebot nur deshalb ohne Furcht machen kann, weil eine große Anzahl erfolgreicher Bewerber sehr unwahrscheinlich ist (und es infolgedesssen unwahrscheinlich ist, daß die Täuschung, die es mit sich führt, jemals aufgedeckt wird); oder, um von der anderen Seite darauf zu blicken, der Liberalismus kann dieses Angebot nur deshalb so vertrauensvoll predigen, weil er glaubt, daß die Annahme eine viel zu große Aufgabe für die meisten Leute ist, die nicht »zu den Besten« gehören. Die wichtigste Funktion der Hoffnung, die dieses Angebot nährt, ist die Möglichkeit, »das Opfer zu tadeln«: Wenn man sich selbst am Boden findet, kann man nur sich selbst Vorwürfe machen. Und wenn man sich

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Nirgendwo ist der innere Widerspruch der »liberalen Lösung« des Problems der Heterogenität deutlicher sichtbar als in dem Druck, die ethnischen, religiösen oder – allgemeiner – kulturellen Fremden zu »assimilieren«. Determinanten der »Fremdheit« sind in diesen Fällen eminent geschmeidig; von Menschen gemacht, können sie im Prinzip von Menschen annulliert werden. Sie können auch (durch die Definition des »lediglich Kulturellen« im Unterschied zum Ökonomischen, Politischen oder, ja, Sozialen) mit der letzten Verausgabung solcher Ressourcen annulliert werden, die knapp oder, weil jemand anders ein Monopol hat, nicht mehr verfügbar sind: Das Annullieren verlangt lediglich einen Orientierungswechsel, eine Verlagerung an kommunaler Bindung, eine ehrliche Anstrengung der Selbstkultivierung und Selbstverfeinerung oder religiöse Konversion – alles Dinge, die offensichtlich in der Macht des einzelnen liegen. Aus diesem Grund gibt das Feld, um das es geht, den offensichtlichsten Testboden für das liberale Programm ab; und das Gelände, auf dem dieses Programm (wenngleich nicht notwendig die Intention, die es hervorbrachte) scheitert. Ethnisch-religiös-kulturelle Fremde sind allzuoft versucht, sich die liberale Vision der Gruppenemanzipation (das Auslöschen eines kollektiven Stigmas) als Belohnung für die individuellen Anstrengungen zur Selbstverbesserung und Selbsttransformation zu eigen zu machen. Häufig geben sie sich alle Mühe, alles, was sie

selbst Vorwürfe macht, stehen die Wetten gut, daß man sich brav verhalten wird, während man gleichzeitig zu dem Ruhm der herrschenden Werte beiträgt, die ebenso trügerisch sind wie, so glaubt man wenigstens, allmächtig. Und wenn man sich weigert, seine Schuld oder Unfähigkeit zuzugeben, wäre die Rückkehr zum Stigma eine höchst vernünftige und folglich sehr wahrscheinliche Reaktion. Es scheint, daß der Liberalismus paradoxerweise die Kriegserklärung an das Stigma als Legitimationswerkzeug nur dann benutzen kann, wenn er erwartet, daß der Krieg nicht als totaler Krieg geführt, und falls er so geführt wird, niemals gewonnen wird.

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von den rechtmäßigen Mitgliedern einer einheimischen Gemeinschaft unterscheidet, zu unterdrücken – und zu hoffen, daß eine devote Nachahmung einheimischer Bräuche sie von den Gastgebern ununterscheidbar macht und eben dadurch ihre Reklassifikation als Insider garantiert, die ein Recht auf die Behandlung haben, die Freunde gewohnheitsmäßig erfahren. Je angestrengter sie sich bemühen, desto schneller scheint die Ziellinie zurückzuweichen. Wenn sie endlich in Reichweite zu sein scheint, wird unter dem liberalen Mantel der Dolch des Rassismus hervorgezogen. Die Spielregeln werden ohne große Vorwarnung geändert. Oder eher, erst jetzt entdecken die Fremden, die sich ernsthaft um »Selbstverfeinerung« bemühen, daß das, was sie fälschlicherweise für ein Spiel der Selbstemanzipation gehalten haben, in Wirklichkeit ein Spiel der Beherrschung gewesen ist. Sander L. Gilman schrieb von dem »konservativen Fluch«, der über dem liberalen Projekt schwebe: »Je mehr du bist wie ich, desto mehr kenne ich den wahren Wert meiner Macht, die du teilen willst, und desto mehr erkenne ich, daß du nur ein schäbiges Abbild, ein Außenseiter bist.«21 Und Geoff Dench, der Verfasser einer eindringlichen Analyse der Strategien, die in dem ungleichen Kampf der Emanzipation angewendet werden, hat den Fremden, die im Begriff stehen, dem liberalen Versprechen in die Falle zu gehen, folgenden Ratschlag anzubieten: »Erkläre mit allen Mitteln einen Glauben an die zukünftige Gerechtigkeit und Gleichheit. Das ist Teil der Rolle. Aber erwarte nicht, daß er sich erfüllt.«22 Die Bedeutung des liberalen Angebots im allgemeinen und des Programms der »kulturellen Assimilation« im besonderen ist die Bestätigung der Dominanz jener Schicht in der Gesellschaft, von der das Angebot ausging. Das Angebot so anzunehmen, wie es er-

21 Sander L. Gilman, Jewish Self-Hatred: Antisemitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore 1986, S. 2. 22 Geoff Dench, Minorities in the Open Society: Prisoners of Ambivalence, London 1986, S. 259.

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scheint (und, noch schlimmer, sein Handeln danach auszurichten), heißt, diese Bedeutung ans Licht zu bringen. In der Tat: Definiert man das Problem der »Aufhebung der Entfremdung«, der Eingemeindung des Fremden als eine Frage des Anstands und der Bemühung des Fremden um eine Assimilationdurch-Akkulturation, heißt das nur, die Minderwertigkeit, Unerwünschtheit und die Deplaziertheit der Lebensform des Fremden erneut zu bestätigen; zu verkünden, daß der Urzustand des Fremden ein Fleck sei, der abgewaschen werden müsse; zu akzeptieren, daß der Fremde von Geburt an schuldig ist und daß es an ihm liege, Buße zu tun und seinen Anspruch auf Absolution zu beweisen. Seine Schuld ist fraglos; was er jetzt unter Beweis stellen muß, ist, daß die Entfernung derjenigen Attribute, die die Schuld ausmachen, irreversibel ist. Der Fremde muß die Abwesenheit alter Schändlichkeit beweisen. Noch schlimmer, um seine Demonstration wirklich überzeugend zu machen, muß er auf magische Weise erzwingen, daß sie in der Retrospektive in der Vergangenheit niemals existiert hat. Der Nachweis der Gegenwart einer neuerworbenen Korrektheit wird nicht ausreichen. Der Fremde kann nicht aufhören, ein Fremder zu sein. (»Ich war früher Jude«, sagt ein assimilierter Held eines jüdischen Witzes. »Oh ja«, antwortet sein Gesprächspartner, »ich kenne das Gefühl. Ich war früher bucklig.«) Bestenfalls kann er ein ehemaliger Fremder sein, ein Freund »auf Bewährung« und permanent vor Gericht, eine Person, die aufmerksam bewacht wird und ständig unter dem Druck steht, jemand anderes zu sein, als sie ist, der ständig gesagt wird, sie solle sich ihrer Schuld, nicht zu sein, was sie sein sollte, schämen. Die Abwesenheit einer Eigenschaft zu beweisen ist eine Aufgabe, die niemals schlüssig gelöst werden kann (die Vergangenheit ungeschehen zu machen ist schlechterdings unmöglich). Es ist unwahrscheinlich, daß die Anstrengung jemals ein Ende findet. Noch weniger wahrscheinlich ist die Erlangung eines Status, in dem kein Verdacht entstehen und kein Zweifel geäußert werden kann, daß die Rehabilitation, wie spektakulär auch immer, noch unvollkommen, oberflächlich oder eine Täuschung ist. Schließlich ist das, was 121

die »kulturellen Fremden« durch Selbstverfeinerung erreichen sollen, letztlich die Eliminierung ihres Ursprungs (sogar des Ursprungs ihrer entfernten Vorfahren). Dies ist die letzte Grenze für die Domestikation-durch-Akkulturation, aber nicht ihre einzige Schwierigkeit. Die Aneignung der einheimischen Kultur ist eine durch und durch individuelle Angelegenheit, während die Produktion der »kulturellen Fremdheit« immer auf ein Kollektiv zielt.23 Aus der Perspektive der einheimischen Mehrheit »sind alle Fremden gleich«. (Wie Simmel beobachtete, war in Gesellschaften, wo Steuern für die Einheimischen nach Reichtum und Status differenziert waren, die »Judensteuer« für jedes Mitglied der Gemeinde dieselbe.) Die Individualität des Fremden wird in der Gruppe aufgelöst. Es ist die Gruppe, nicht ihre individuellen Mitglieder, die als der echte, überpersönliche Träger jener kulturellen Differenz gesetzt und gesehen wird, die einer unzweideutigen Unterscheidung zwischen einem Freund und einem Feind trotzt. Die echte pars pro toto, der individuelle Fremde, wird metonym als ein Mikrokosmos der Gruppe überhaupt gezählt. Er trägt sozusagen die Last der Gruppe auf seinen Schultern. Es ist unwahrscheinlich, daß er diese Last abwirft, solange die Gruppe selbst existiert. Ja, wer versucht, dem Stigma des Fremden allein, durch individuelle Anstrengung, zu entgehen, findet sich selbst bald in einer Beziehungsfalle gefangen. »Wenn die fähigsten und erfolgreichsten Mitglieder der Minorität moralisch an die am wenigsten erfolgreichen gebunden sind, wird die Teilnahme auf Wettbewerbsgebieten des gesellschaftlichen Lebens für sie so etwas wie ein Rennen auf drei Beinen.«24 Wenn sie ihre Hände in Unschuld waschen und jede Verbindung mit »kulturell Unterlegenen« verweigern, die gesellschaftlich als ihre Brüder definiert sind, laden sie zu Anklagen wegen der Vernachlässigung der Pflicht und der

23 Vgl. Zygmunt Bauman, »Exit Visas and Entry Tickets«, in: Telos, Nr. 77 (Herbst 1988), S. 45–77. 24 Dench, Minorities in the Open Society, S. 127.

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Komplizenschaft bei der Perpetuierung der kollektiven Schuld ein. Wenn sie ihre Anstrengungen der schwierigen Aufgabe widmen, die Brüder aus ihrem Elend zu befreien und als die Agenten ihrer kollektiven Erhebung handeln, wird dies unmittelbar als Beweis (wenn noch einer nötig war) ihrer fortdauernden Zugehörigkeit zu ebender Gruppe von Fremden angesehen, aus der sie zu entkommen suchten. Die fortdauernde Existenz der Gruppe der Fremden wird als ein Argument gegen die Authentizität der individuellen Konversion benutzt. Aber das geschieht auch mit jedem individuellen Versuch, die Emanzipation der Gruppe als Ganzes zu unterstützen. Wenn du etwas tust, verlierst du. Wenn du nichts tust, gewinnen sie.

Die Verlagerung der Last Wie häufig beobachtet worden ist, neigen die individuellen Opfer der liberalistischen Versuchung, wenn sie erst einmal in dieser Klemme stecken (die als der Köder sozialer Förderung und letztlich der Anerkennung angeboten wird, wenn auch zu dem Preis, zuerst die eigene Unterlegenheit einzuräumen – ein Zugeständnis, das die hochherzigen Urheber des Angebots niemals vergessen würden), dazu, einen Selbsthaß zu entwickeln, ein machtvolles, schöpferisch-destruktives Gefühl, das besser mit dem Begriff der inneren Dämonen von Norman Cohn eingefangen wird. Die Qual, die diese inneren Dämonen verursachen, verwandelt sich oft in eine Aggression gegen die Ursprungsgruppe – die als ihr Prototyp dient und als ihre Verkörperung angesehen wird. Aber sie führt auch zu der Übelkeit erregenden Aversion gegen das eigene Selbst, das als unheilbar und von einem Bazillus befallen empfunden wird, der eine lähmende und schändliche Krankheit verursacht hat. Die notorische Ruhelosigkeit des Fremden, der sich in der Position der Ambivalenz befindet, die er nicht gewählt und über die er keine Kontrolle hat (eine Ruhelosigkeit, die immer wieder von der Meinung der Einheimischen als Beweis für eine erratische, neu123

rotische Persönlichkeit interpretiert und prompt der angeborenen Defizienz des Stammes des Fremden zugeschrieben worden ist), wird auf diese Weise sozial erzeugt. Sie kann als ein Beispiel aus dem Lehrbuch für eine sich selbst erfüllende Prophezeiung angesehen werden. Sie ist nicht das Ergebnis einer kulturellen Differenz, sondern ein Leiden, das durch den Versuch, sie auszulöschen, verursacht wird; eine endemische Krankheit des Assimilationsdrucks und der unrealistischen Träume der Neuklassifikation, der Zulassung und der Anerkennung. Man mag zu dem Schluß kommen, daß die Definition der Fremdheit als kulturelles Phänomen der Beginn eines Prozesses ist, der unbarmherzig zu der »Offenbarung« führt, daß Ambivalenz nicht aus der Existenz herausgewünscht werden kann, daß Fremdheit Grundlagen hat, die viel solider und viel weniger manipulierbar sind als »bloß kulturelle«, transitorische und menschengemachte Differenzen im Lebens- und Glaubensstil. Je erfolgreicher die Praxis der kulturellen Assimilation – desto schneller wird diese »Wahrheit entdeckt«, da die zunehmend störrische Inkongruenz des sich kulturell assimilierenden Fremden selbst ein Kunstprodukt seiner Assimilation ist. Die inhärente Unmöglichkeit, das »Selbstverfeinerungs«programm durchzuführen, wird dann als Unfähigkeit oder Böswilligkeit des Fremden konstruiert, als Unfähigkeit oder fehlender Wille, sich selbst zu verfeinern. In dem Maße, wie das Scheitern des Programms der kulturellen Assimilation immer augenfälliger wird, findet die Idee des natürlichen Schicksals der Rasse immer weitere Verbreitung.

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Die Selbsterzeugung der Ambivalenz

Die Last, die Ambivalenz aufzulösen, ruht letztlich auf dem einzelnen, der in die ambivalente Situation geworfen ist. Selbst wenn das Phänomen der Fremdheit sozial strukturiert ist, führt die Übernahme des Status des Fremden, mit all seiner begleitenden Zweideutigkeit, mit all seiner belastenden Über- und Unterdefinition, Attribute mit sich, die letztlich unter aktiver Beteiligung ihrer Träger in dem psychischen Prozeß der Selbstkonstitution konstruiert, erhalten und entfaltet werden. Wie alle anderen Rollen (vielleicht sogar etwas mehr als andere Rollen) bedarf die Rolle des Fremden des Lernens, des Erwerbs von Wissen und praktischen Fertigkeiten. Ein Fremder zu sein bedeutet zuerst und vor allem, daß nichts natürlich ist; nichts wird von Rechts wegen gegeben, nichts geschieht gleichsam von selbst. Die ursprüngliche Einheit von Selbst und Welt, die den Einheimischen kennzeichnete, ist aufgelöst. Jede Seite der Verbindung ist einzeln in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit gerückt – als Problem und als Aufgabe. Sowohl das Selbst als auch die Welt sind deutlich sichtbar. Beide bedürfen einer ständigen Überprüfung und beide verlangen dringend danach, daß man sie »bearbeitet«, »handhabt«, managt. In all diesen Hinsichten unterscheidet sich die Stellung des Fremden drastisch von der Lebensweise des Einheimischen, mit weitreichenden Konsequenzen. Der Begriff der tabula rasa, der unendlichen Formbarkeit und Selbstformung des Menschen, der unter Pädagogen und Kulturaposteln einmal beliebt war, könnte gut aus den Erfahrungen des Fremden entstanden sein. Unverkennbar spiegelt er die Situation des »Einheimischen« wider, der »in« die Gemeinschaft hineingeboren ist und in ihr ohne allzu große Herausforderungen von außen aufwächst. Er ist im Zustand der Befindlichkeit oder »Stimmung« (Heidegger), der zwangsläufig zur relativ-natürlichen Weltanschauung (Max Scheler) führt, d.h. zu einer natürlichen Neigung, die anson125

sten beschränkten Bedingungen bezogen auf diesen Platz hier und diese Zeit jetzt als »natürlich« und folglich undiskutierbar anzusehen. Ein einheimisches Mitglied einer Sinngemeinschaft zu sein ist gleichbedeutend damit, über garantierte, »objektive« Relevanzkriterien zu verfügen und einen »in Zonen verschiedenen Grades strukturierten Wissensvorrat« (A. Schütz) zu besitzen, der, je nach der Relevanz seiner Objekte, eher oberflächlich oder gründlich ist – aber auch tiefe Löcher der Ignoranz aufweist, die oft nur dünn mit einer Schicht von »Selbstverständlichkeiten« bedeckt sind.1 Die Tatsache, daß solches Wissen einem Logiker oder überhaupt jedem Fremden, der nicht oder nur unvollkommen »gestimmt« ist, inkohärent und inkonsistent erscheinen kann, ist gänzlich ohne Belang. Das, was wahrhaft zahlt, ist, daß es »für die Mitglieder der in-group den Schein genügender Kohärenz, Klarheit und Konsistenz annimmt, um jedermann eine vernünftige Chance zu geben, zu verstehen und selbst verstanden zu werden.« (Man beachte, daß es ein Fremder ist, der Soziologe und Flüchtling Alfred Schütz, der hier von Schein spricht.) Dank dieser beschränkten, wenngleich entscheidenden Hinlänglichkeit sind »für diejenigen, die mit den Kultur- und Zivilisationsmustern aufwuchsen, […] nicht nur die Rezepte und deren mögliche Nützlichkeit, sondern auch die typischen und anonymen Haltungen, die sie selbst erworben haben, eine fraglose ›Selbstverständlichkeit‹, die ihnen sowohl Sicherheit wie auch Rückversicherung bietet«.2 Man kann es sich nur schlecht leisten, Sicherheit und Vertrauen leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Man sollte erwarten, daß die Mitglieder der Gruppe der Einheimischen in dem Ausmaß, in dem sie von der als selbstverständlich hingenommenen Haltung abhängig sind, den nichtverhandlungsfähigen, unwandelbaren, ja absoluten Charakter ihrer Weltanschauung, die aus dem gemeinsamen gestuften Wissens1 Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, S. 10–15. 2 Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1971, S. 57, 66.

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vorrat konstruiert ist, verteidigen. Solange sie ihn mit Erfolg verteidigen, bleiben sie hinlänglich gegen die Schrecken der ambivalenten Existenz geschützt. Die existentielle Situation des Fremden ist radikal anders. Ihm wird der Luxus der Selbstzufriedenheit oder des Selbstvergessens verweigert. Seine Existenz ist undurchsichtig, nicht transparent. Der Fremde ist sein eigenes Problem. Seiner Identität ist die Legitimation entzogen worden; ihre bestimmende, »harmonisierende« Kraft ist im schlimmsten Fall als kriminell und im besten Fall als erniedrigend erklärt worden. Damit sind freilich die Sorgen des Fremden nicht zu Ende. Die Eigentümlichkeit der Situation des Fremden gegenüber den Einheimischen ist nicht auf die Bedingung, nicht auf die richtige Weise »gestimmt« zu sein und auf die daraus resultierende Abwesenheit von relevantem Wissen und Fertigkeiten beschränkt. Sie kann nicht einfach durch den Prozeß des Lernens und der Selbst-Bildung aufgehoben werden. Ein solcher Prozeß muß sich selbst zerstören. Dasselbe Wissen, das den Lebensfunktionen der Einheimischen so adäquat dient, kann sich sehr wohl für die Fremden als nutzlos herausstellen, selbst wenn (und besonders wenn) es gewissenhaft aufgenommen und assimiliert wird. Trotz des gegenteiligen Anscheins ist es nicht die Unfähigkeit, einheimisches Wissen zu erwerben, die den Außenseiter als Fremden konstituiert, sondern die inkongruente existentielle Konstitution des Fremden, insofern er weder »innen« noch »außen«, weder »Freund« noch »Feind«, weder eingeschlossen noch ausgeschlossen ist, die das einheimische Wissen unassimilierbar macht.3 Alle wesentlichen Deter3 Man beachte, daß eben die Konstitution der Wirtspopulation als der »Einheimischen« – denkbar nur insofern, als es einen Standpunkt gibt, der nicht einheimisch ist – schon den zersetzenden, relativierenden Blick des Fremden enthüllt. Indirekt bestärkt er die Fremdheit des letzteren. Der Fremde bestätigt die dominante Definition seiner selbst durch die bloße Anerkennung des anderen Modells als »einheimisch«, und auf diese Weise als ein Modell, das die Autorität hat, die Regeln des Verhaltensspiels und die Bedeutung der eigentlich menschlichen Existenz zu definieren.

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minanten des Problems des Fremden liegen außer Reichweite all dessen, was der Fremde selbst tun kann. Die Inkongruenz des Fremden wird im Prokrustesbett der binären Opposition geboren – die einzige Gastlichkeit, die die »relativ-natürliche Weltanschauung« der Einheimischen der ambivalenten Welt bieten kann. Der erste Grund, der es unmöglich macht, der Fremdheit zu entkommen, ist gerade die »Natürlichkeit« der Situation des Einheimischen. Man ist entweder »in Situation« oder nicht, entweder »in der Gestimmtheit« oder nicht. Die ganze Pointe der »Gestimmtheit« ist die, daß sie nur einen alternativen Status erlaubt oder, genauer gesagt, alle denkbaren Alternativen in eine einzige zusammenfallen läßt und dadurch ihre eigene Bedingung absolut setzt. Man bleibt nur so lange »gestimmt«, als diese eine Situation keine Geschichte hat – nicht ins Sein gebracht oder erzeugt worden ist. Man kann sich nicht selbst »situieren« und »stimmen«. Oder besser: Die Tatsache, daß »situieren« und »stimmen« Leistungen und nicht Schicksale sind, beraubt sie genau der Natürlichkeit, die sie zu dem macht, was sie sind, und sie, wie sie sind, wirksam macht. Die Idee der »Selbst-Stimmung« ist für alle praktischen Absichten und Zwecke ein Oxymoron. Die Bedingung, »situiert« oder »gestimmt« zu sein, währt nur so lange, als sie nicht in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit gerät und nicht zu einem Objekt der Manipulation wird (d.h. solange sie voll unter dem Bann von Heideggers Man, Sartres l’on bleibt). Trotzdem ist es gerade dies – aufmerken und manipulieren –, wozu der Fremde gezwungen wird oder was er – freiwillig oder aus Gefälligkeit – zu tun versucht. Entweder ist er buchstäblich neu in der Gruppe: dann ist ihm das, was den Einheimischen offensichtlich erscheint, kaum offensichtlich, und das, worauf die Einheimischen kaum einen Gedanken verschwenden, verwandelt sich für ihn in ein Ziel intensiver Reflexion; oder das Emporheben des »gestuften Wissens« aus der Grauzone der »Selbstverständlichkeiten« auf die Ebene des Selbstbewußtseins wird für den Fremden durch die einheimische Gruppe selbst vollzogen, wenn sie sein natürliches Recht in Frage stellt, an dem teilzuhaben, woran die Mitglieder der Gruppe der 128

Einheimischen einfach und fraglos beteiligt sind. Wegen seiner Ignoranz oder wegen des Wissens, das ihm aufgezwungen worden ist, kann der Fremde nicht anders, als die meisten der Dinge in Frage stellen, die die Einheimischen als selbstverständlich oder ohne nachzudenken hinnehmen. Er ist a priori als eine Herausforderung für die Klarheit der Welt und folglich für die Autorität der Vernunft definiert worden. Nun wird die a priori-Definition durch sein Handeln bestätigt. Sein Blick verdinglicht, macht den Modus des Lebens fühlbar, der nur wirksam ist, soweit er durchsichtig, unsichtbar und unkodifiziert bleibt. Ein anderer Grund reicht noch tiefer. Der Fremde kann die einheimische Kultur so, wie sie ist, nicht annehmen, ohne zuerst zu versuchen, einige ihrer Vorschriften zu revidieren; unter Umständen sogar solche, die für das Gefühl der Sicherheit und Selbstgewißheit der Einheimischen entscheidend sind. Die einheimische Kultur definiert ihn als einen Ungläubigen und schließt ihn aus – »weder Freund noch Feind«; als jenes ambivalente Innen/Außen, das die Grenze der Ordnung der Lebenswelt bildet. Dem Fremden wird kein Status innerhalb des Kulturbereichs zugewiesen, den er sich zu eigen machen will. Sein Eintritt bedeutet deshalb eine Verletzung der Kultur, in die er eintritt. Durch den Akt seines Eintritts, sei er wirklich oder nur beabsichtigt, verwandelt sich die Lebenswelt der Einheimischen, die ein sicherer Schutz zu sein pflegte, in ein umkämpftes Gebiet, unsicher und problematisch. Aus dem gleichen Grund wirkt sich selbst der gute Wille des Fremden gegen ihn selbst aus; seine Anstrengung, sich zu assimilieren, trennt ihn noch weiter ab, läßt seine Fremdheit deutlicher hervortreten und liefert den Beweis für die Drohung, die sie enthält.

Ausschluß in die Objektivität Man kann nicht an eine Tür klopfen, wenn man nicht draußen ist; und es ist der Akt des An-die-Tür-Klopfens, der die Bewohner auf die Tatsache aufmerksam macht, daß jemand, der klopft, tatsäch129

lich draußen ist. »Draußen sein« bringt den Fremden in die Position der Objektivität: Er verfügt über einen äußeren, unparteiischen und autonomen Standpunkt, von dem aus die Insider (samt ihrer Weltanschauung, einschließlich ihrer Karte von Freunden und Feinden) beobachtet, überprüft und zensiert werden können. Allein schon dieses Gefühl, von einem solchen Standpunkt von außen beobachtet zu werden (von einem Standpunkt, der sich im Status des Fremden verdichtet hat), bereitet den Einheimischen Unbehagen und macht sie in ihren heimischen Bräuchen und Wahrheiten unsicher. Außerdem ist der Eintritt immer ein Durchgang, ein Statuswechsel – und dieses mysteriöse Ereignis des Avatara [Verkörperung göttlicher Wesen beim Herabsteigen auf die Erde, d. Übers.] bringt den »Fremden von gestern – Einheimischen von morgen« mehr als alles andere in Konflikt mit der Welt, in die er einzutreten wünscht, eine Welt, deren Zuverlässigkeit (und vor allem deren Anziehungskraft für den Fremden) auf der Annahme beruht, daß keiner jemals transformiert wird, keiner sich bewegt und sich jemals außen befindet. Die Episode des Eintritts brandmarkt den »früheren Fremden« für immer – als einen Wechselbalg, als jemand, der wählen kann, der die Freiheit hat, die die »gewöhnlichen Einheimischen« nicht haben, dessen Status niemals denselben Grad an Festigkeit, Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit haben kann wie der der Einheimischen. Die Loyalität, die im Falle der Einheimischen als selbstverständlich gilt (und dann nicht als eine Entscheidung, loyal zu sein, sondern als eine Gemeinsamkeit des Schicksals verstanden wird), verlangt im Falle des Fremden von gestern nach mißtrauischer und wachsamer Überprüfung; und das für immer, weil seine Bindung von Anfang an und über jede Hoffnung der Erlösung hinaus durch die Ursünde kompromittiert ist, frei gewählt worden zu sein. Was man gewählt hat, darauf kann man auch verzichten. Die Loyalität des Fremden wird immer zweifelhaft bleiben. Gerade der Eifer, mit dem er sich mit der neuen Heimat identifiziert, unterscheidet ihn. Seine Insistenz, zu Hause zu sein, wird als Eingeständnis seiner Schuld aufgefaßt. 130

Die objektivistische (wurzellose, kosmopolitische oder geradezu ausländische) Tendenz des Fremden ist der ernsteste Vorwurf, den die Gemeinschaft der Einheimischen ihm gegenüber erhebt. Mit Hilfe dieses Vorwurfs kann die einheimische Form des Lebens sogar ihre eigene Natürlichkeit, ihre Innerlichkeit, ihre Selbstzentriertheit am besten erhalten und reproduzieren – all diese höchst soliden Säulen ihrer Identität. Aus der Sicht der Einheimischen ist das Wesen des Fremden die Heimatlosigkeit. Anders als ein Ausländer ist der Fremde nicht einfach ein Neuankömmling, eine Person, die zeitweilig an einen fremden Ort versetzt ist. Er ist ein ewiger Wanderer, der immer und überall heimatlos ist, ohne Hoffnung darauf, jemals »anzukommen«. Die »Objektivität« (Kosmopolitismus, Antipatriotismus, Nicht-Gebundenheit, Anpassungsfähigkeit) seiner Ansicht besteht genau in seiner Unfähigkeit, einen Unterschied zwischen den Stationen seiner unaufhörlichen Pilgerreise zu machen: Für ihn sind es einfach alles Orte, die räumlich beschränkt sind und bald der Vergangenheit angehören werden. Durchlaufen und früher oder später zurückgelassen sehen sie für ihn alle gleich aus; sie sind alle identisch in ihrer Negativität, da keiner von ihnen eine Heimat ist. (»Wir sind gute Deutsche in Deutschland gewesen, und deshalb werden wir gute Franzosen in Frankreich sein.« Hannah Arendt erinnert sich an diese Erklärung eines Flüchtlings, der auf der Flucht vor Hitler gerade den Rhein überquert hatte. Ihm wurde von seinen Schicksalsgenossen völlig ernsthaft applaudiert. Niemand lachte, kommentiert Arendt.) Die Einheimischen sehen vielleicht die Freiheit, die sie dem Fremden zuschreiben, mit echtem Schrecken, mit Neid oder (meistens) mit einer Mischung aus beidem. Dem Fremden selbst erscheint die Freiheit freilich zunächst als akute Ungewißheit. Ohne wenigstens eine zeitweilige Zuflucht in einem sicheren Hafen wird sie eher als Fluch denn als Segen erlebt. Eine gänzlich uneingeschränkte Freiheit wird als Einsamkeit erfahren und ist auf Dauer beinahe unerträglich. Im extremen Fall tendiert sie zum Wahnsinn – aber selbst in einer milden Version neigt sie dazu, als ein mentales Problem medikalisiert zu werden. (Man vergleiche z.B. 131

Sander L. Gilmans eindringliche Untersuchung der Geschichte der Neurasthenie – ein psychiatrischer Begriff, mit dem man im späten 19. Jahrhundert die erhöhte Ruhelosigkeit, rasende Selbstkritik und die Besessenheit von dem Gedanken an Erfolg und soziale Anerkennung, die bei den unterschiedlichsten Menschen beobachtet oder antizipiert wurden – alles Menschen, die in Begriffen der akzeptierten sozialen Kategorien nur mangelhaft definiert oder in den bestehenden sozialen Trennungen nur schwach verankert waren –, in einer einzigen Krankheit zusammenfaßte.)4 Auf jeden Fall ist es ein Zustand, in dem keiner verharren will. Zumindest nicht freiwillig. Hauptsächlich aus diesem Grunde erscheint dem Fremden das Angebot, durch Übernahme der einheimischen Kultur, d.h. durch Assimilation, »heimisch zu werden« – trotz aller inneren Inkongruenz –, als eine verlockende Vorstellung. Es verspricht dem Fremden, wessen er am meisten bedarf – eine unzweideutige Stellung, einen sicheren Hafen, eine Heimat. Das Bedürfnis vergrößert die Anziehungskraft dessen, was fehlt. Man erwartet deshalb vom Fremden einen Grad an Ernsthaftigkeit, an Engagement und moralischer Identifikation, der unter Einheimischen nur selten anzutreffen ist. Auch rechnet man mit einer Neigung, sich laut und öffentlich zu der ersehnten Identität zu bekennen. Man geht davon aus, daß das Lob der Symbole und der Glaubensartikel der erstrebten Gemeinschaft überschwenglich und blumig ausfällt. All dies folgt natürlicherweise aus einem Bedürfnis, die Allgemeinheit davon zu überzeugen, eine Qualität erworben zu haben, die andere Leute – gleichzeitig Zuschauer und Handelnde – von Rechts wegen besitzen. Aber diesen anderen Leuten – den »Einheimischen« – kann dies alles übertrieben erscheinen, als »schlechter Geschmack«, lächerlich oder heuchlerisch. In jedem Fall wird das, was sie sehen, dahin tendieren, genau das zu entkräften, was der Fremde so eifrig zu beweisen suchte. 4 Sander L. Gilman, Difference and Pathology: Stereotypes of Sexuality, Race and Madness, Ithaca 1985, S. 129f., 162, 214f.

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Die Strategie, die sich auf das Assimilationsangebot einläßt, hat deshalb ihre inneren Grenzen, wie das Angebot selbst. In der Regel ist sie selbstzerstörerisch; wenn überhaupt, dann macht sie die Fremdheit des Fremden noch aufdringlicher und quälender. Unweigerlich enthüllt sie diese Fremdheit als untilgbar – als genau die Eigenschaft, die das Assimilationsversprechen zu verbergen suchte. Dem Fremden war versprochen worden, daß der kulturellen Reform eine vollständige »Einbürgerung« folgen würde; daß die Verfeinerung der Sitten, korrektes und etikettebewußtes öffentliches Verhalten, sorgfältige Vermeidung von allem, was auch nur entfernt fremd klingt, als Eintrittskarte für den exklusiven Klub der tonangebenden einheimischen Gesellschaft genügen würde. Dieses Versprechen wird seines Trugs in dem Augenblick überführt, da es ernstgenommen und an einem Verhalten gemessen wird, das es eigentlich erfordern würde. Die wirklichen Hindernisse, die über den Zugang wachen, werden nun enthüllt. Sie erweisen sich als ökonomische, politische und vor allem soziale – und wahrscheinlich ist keines von ihnen so geschmeidig, so sehr durch subjektive Intentionen beeinflußbar, wie es die »bloß kulturellen« Hindernisse vorgaben. Es wird offensichtlich, daß soziale Trennungen durch Unterschiede im Grad der Bildung und des Geschmacks weder verursacht noch aufrechterhalten werden; daß der Hochmut der Etikette genau in der schweigenden Hinnahme – gleichermaßen von seiten der Gewinner wie der Verlierer – der Verfügung besteht, die wahren Gründe der Unterscheidung und des Privilegs zu verbergen, und in dem Verbot, sie zu enthüllen. Und während sich die Gründe der Ungleichheit als hart und unnachgiebig erweisen, werden ihre beliebtesten Verteidigungen als Betrug entlarvt. Kein Wunder, daß das Handeln, das sich an dem Akkulturationsangebot orientiert, dazu tendiert, Verteidigungsreaktionen der einheimischen Gemeinschaft auszulösen, die von der Wiedereinführung der zugeschriebenen Kriterien der Differenz (sei es auch in einem modernen, »rationalen«, rassistischen Gewand) über die Medizinalisierung der Andersheit als solcher bis zur Vernichtung des widerspenstigen Rests der Differenz 133

durch gerichtliche Vertreibung oder Vernichtung des Fremden reichen. Wenn die Zuflucht zum Rassismus der natürliche Weg zu sein scheint, das Ziel des »Assimilationsprogramms« im Kielwasser des Bankrotts seiner vorgeblichen Mittel zu retten, dann scheint der Rückzug in die »Fremdheit« als einer Ersatzheimat für die Verwurzelung und das Vertrauen ein gleichermaßen natürlicher Weg, den Zweck der kulturellen Selbstanpassung zu retten, wenn sich erst einmal das Mittel, das von dem Programm angeboten wird, als unwirksam erwiesen hat. Das Programm eines solchen Rückzugs ist kaum jemals so eindringlich dargestellt worden wie in dem Werk des russisch-jüdischen Philosophen Lew Schestow, der gegen Ende seines Lebens Professor an der Sorbonne und eine der Säulen des religiösen Existentialismus war. Gezeichnet mit dem Stigma einer verachteten und mit Ressentiments betrachteten Minorität, zeichnete er sich gerade in der Tätigkeit aus, die die verachtungsvolle und ressentimentgeladene Mehrheit als das Zeichen ihrer Überlegenheit und Tüchtigkeit ansah. Nachdem er mit fliegenden Fahnen alle Zulassungsexamina bestanden hatte und ihm gleichwohl der Zugang zur akademischen Welt verwehrt worden war, die sich selbst als Hüterin der absoluten, universalen Werte und deshalb über alle kleinlichen Unterschiede erhaben definierte, antwortete Schestow5 mit einem Frontalangriff gegen das, was (wie er zu beweisen suchte) eine unheilbare Standortgebundenheit eben der Suche nach dem Absoluten im allgemeinen und nach den absolut überlegenen Werten im besonderen war. Die Suche der Philosophen nach dem unhintergehbaren System, nach vollständiger Ordnung, nach der Ausrottung alles Unbekannten und Regellosen – erklärte er – stamme von der Anbetung des sicheren Bodens und einer sicheren Heimat und laufe darauf hinaus, das unendliche menschliche Po5 Lew Shestow, Apofeosis bespochvennosti: Opyt adogmaticheskogo myshleniya [Apotheose der Wurzellosigkeit: ein Versuch in undogmatischem Denken], Paris 1971, S. 27, 32, 41, 49.

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tential zu beschneiden. Eine solche Suche nach dem Universalen degeneriere zwangsläufig zu einem rücksichtslosen Einschreiten gegen menschliche Möglichkeiten. »Der feste Boden entgleitet ihm früher oder später unter den Füßen, gleichwohl fährt der Mensch fort, ohne Grund oder mit einem nur wankenden Boden unter den Füßen zu leben, und dann hört er auf, die Axiome als Wahrheiten anzusehen und nennt sie Lügen.« Die bittere Erfahrung eines Fremden, der von der Tür verjagt wird, an die er geklopft hat, tritt nur wenig verschleiert aus Schestows eigenem philosophischen Programm zutage: »Der behauste Mensch sagt: ›Wie kann man nur leben ohne Sicherheit über den nächsten Tag, wie kann man schlafen ohne ein Dach über dem Kopf!‹ Aber ein Zufall warf ihn für immer aus seinem Haus und er verbringt seine Nächte im Wald. Er kann nicht schlafen, er fürchtet sich vor den wilden Tieren, vor seinem eigenen Bruder, dem Vagabund. Am Ende freilich vertraut er sein Leben der Kontingenz an, beginnt das Leben eines Vagabunden und schläft vielleicht sogar des Nachts in Ruhe.«

In scharfem Gegensatz zu der gesamten philosophischen Tradition besteht die Aufgabe der Philosophie darin, »die Menschen zu lehren, in Ungewißheit zu leben«; »nicht zu beruhigen, sondern zu beunruhigen«. »Überall und mit jedem Schritt, bei jedem und ohne jeden Anlaß, ist es nötig, die am festesten akzeptierten Urteile lächerlich zu machen und Paradoxien aufzustellen. Und dann – wird man ja sehen, was geschieht.« In einer frühen Version der black is beautiful-Haltung bestreitet Schestow nicht den Wert all dieser Dinge, die das herrschende Denken zu Symbolen der Überlegenheit gemacht hat. Die philosophische Orthodoxie wird angeklagt, ihr Versprechen nicht eingelöst, nach ihren eigenen Maßstäben jämmerlich versagt zu haben. Das Versprechen und die Maßstäbe werden nicht in Frage gestellt; ganz im Gegenteil, Schestow insistiert darauf, daß nur seine Weise, Philosophie zu betreiben, beiden gerecht wird. Die Wahrheit, die in einem dichtverschlossenen Heim gefunden wird, ist außerhalb kaum von irgendeinem Nutzen; Urteile, die in einem Raum gefällt werden, der aus Angst vor Zugluft niemals gelüftet 135

wird, werden mit dem ersten Windstoß fortgeweht. Die Universalität der Wahrheit und des Urteils, die in der Abgeschlossenheit geboren werden, ist nur ein Deckmantel für jeden Zwang, der von der Lust an der Beherrschung und der Furcht vor dem offenen Raum lebt. Eine nicht vorgetäuschte Universalität kann nur aus der Heimatlosigkeit geboren werden. »Solange die Wahrheit von den behausten Menschen gesucht wird – wird der Apfel vom Baum des Wissens nicht gegessen werden. Die Aufgabe kann nur von heimatlosen Abenteurern erfüllt werden, von natürlichen Nomaden …« Damit ist der Spieß umgedreht worden. Jetzt ist es der Fremde, der die Wahrheit finden kann, nach der die Einheimischen vergeblich Ausschau halten. Weit davon entfernt, ein Zeichen der Schande zu sein, ist die hoffnungslose Fremdheit des Fremden jetzt das Zeichen der Auszeichnung. Die Macht der Einheimischen ist nur ein Trug. Die Machtlosigkeit der Heimatlosen ist nur eine Illusion. Nach Schestow können Karl Mannheims übertriebener Ehrenbezeugung an die freischwebende Intelligenz nur wenige neue Ideen entnommen werden. Wie bei Schestow verwandelt sich der Mangel an sozialer Anerkennung in eine Bedingung unverzerrter Kommunikation; der Außenseiter wird zu einem Helden, die Ambivalenz der sozialen Stellung wird als Objektivität des Denkens enthüllt. In Maurice Natansons treffendem Kommentar besteht der Vorteil von Mannheims unverzagtem Wahrheits-Sucher in seiner »nomadischen Existenz«: »Durch keinerlei formale Bindungen eingeengt, kann er sich leicht durch traditionelle Formulierungen der sozialen Verursachung, Kontrolle und Voraussage hindurchbewegen.« Dank seiner ewigen und unheilbaren Heimatlosigkeit wird Mannheims Intellektueller einer, der »demaskiert, der Lügen und Ideologien durchdringt, das immanente Denken relativiert und entwertet, der Weltanschauungen desintegriert«.6 Ja, er wird 6 Maurice Natanson, Literature, Philosophy and the Social Sciences, Den Haag 1962, S. 170.

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zu einer furchtbaren zersetzenden Macht, zu einem Schöpfer, der seine Stärke aus seiner Macht zur Zerstörung zieht. Wenn die Realität aus so vielen eingezäunten und streng bewachten Privatgrundstücken besteht, bleiben Wahrheitsansprüche nur Entschuldigungen für Ausgrenzung und Vertreibung. Zuerst muß man die Zäune niederreißen. Punkt für Punkt rückt Mannheim von jedem einzelnen Besitztum der »Verwurzelten« ab, aus dem sie ihren Stolz, ihre Zufriedenheit und ihr Sicherheitsgefühl bezogen haben. So ist jede gut integrierte Gruppe selbstzentriert und infolgedessen selektiv blind: »Nicht jeder mögliche Weltaspekt [gelangt] in den Gesichtskreis der Gruppenmitglieder, sondern nur jene, aus denen für die Gruppe Schwierigkeiten und Probleme entstehen.« Sozialvitale Bindungen bedeuten eben nicht nur Chancen, sondern auch vitale Schranken: »Bestimmte Blickerweiterungen sind für bestimmte Standorte von sich aus nicht möglich.« Das Mißtrauen, mit der die Gruppe »die sozial nicht Verwurzelten« behandelt, bezeugt eher die eigene Unfähigkeit der Gruppe als die Sünden der Fremden. Es ist die Fähigkeit der Außenseiter, sich »an klassenmäßig ihnen fremde Gruppen« anschließen zu können, »weil sie sich in alle Positionen einfühlen konnten und weil für sie und nur für sie die Wahlmöglichkeit bestand«, die die verwurzelten Gruppen nicht ertragen können. »Sollte diese Fähigkeit zur erweiterten Umschau nur als ein Manko ausgedeutet werden können, liegt nicht darin vielmehr eine Mission?«7 Der moderne Intellektuelle ist ein ewiger Wanderer und ein universaler Fremder. Aus genau diesem Grund liebt ihn niemand wirklich; an jedem Platz ist er fehl am Platz. Die fortwährende Zurückweisung, die er überall und von jedermann erfährt, muß frei7 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt/M. 1965, S. 27, 73, 138, 140. Für den Intellektuellen ist die periphere Perspektive keine Sache der Wahl; paradoxerweise ist dies so, weil – wie Ortega y Gasset bemerkte – »die Welt dem Intellektuellen da zu sein scheint, wo er sie in Frage stellt« (zitiert nach Juden in der Soziologie, hrsg. v. Erhard R. Wiehn, Konstanz 1989), S. 29.

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lich nicht ausschließlich im Fanatismus der Verzweiflung enden. Die Ablehnung kann den Abgelehnten ebenso die Augen für die Bedeutung und den Wert genau der Position (oder eher der »UnPosition«) öffnen, die die Quelle ihres Leidens gewesen ist. Ablehnung bedeutet schließlich Freiheit von Verpflichtungen. Vertreibung bedeutet, daß die Gruppenloyalitäten nicht länger die Sicht beschränken müssen und auf diese Weise »die Partikularität und Schranke, die [das Leben] in einem Standort schafft«, »durch die übrigen entgegengesetzten Standorte zu überwinden bestrebt ist«. Das Exil ist ein Segen: Die Ausgestoßenen sind auf das einzige Gebiet verbannt worden, »von wo aus Gesamtorientierung im Geschehen möglich ist«. Sie sind nun reif für die Rolle des Entscheidungsträgers (oder, genauer, des Trägers guter Entscheidungen), da »nur eine Freiheit, die durch Wahlmöglichkeit fundiert ist und die als solche auch nach dem Entschluß konstitutiv gegenwärtig ist«, wahre Entscheidungen möglich macht.8 Mit anderen Worten, Mannheim nimmt zugleich den einzigartigen und überlegenen Status des modernen Intellektuellen und die weitverbreitete Furcht vor der schrecklichen Macht, die in dem Niemandsland außerhalb der sicheren und gewohnten Familien oder Gemeinschaftsparzellen residiert, in Anspruch. Er macht sich die Endgültigkeit des Urteils der Einheimischen zu eigen, die Ewigkeit des Exils. Er akzeptiert auch die Überzeugung der Einheimischen, daß der Fremde niemals wie der Einheimische werden und die Welt niemals mit den Augen des Einheimischen sehen wird. Endlich stimmt er dem schlimmsten Verdacht des Einheimischen zu: daß Entfremdung Feindschaft gegenüber allen lokalen Werten erzeugt. Aber er münzt das Stigma der Schande und der legalen Rechtfertigung des Ausweisungsbefehls in einen militanten, trotzigen Anspruch auf Überlegenheit um. Um Goffman zu paraphrasieren: »statt sich auf seine Krücke zu lehnen, fängt er an, damit Golf zu spielen«.

8 Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 73, 140.

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Nur auf universalen (lies: nicht standortgebundenen) Grundlagen, so verkündet er zugunsten des intellektuellen Fremden, kann Wahrheit errichtet werden; und Universalität, wie jeder Einheimische akzeptieren würde, entsteht aus Entfremdung. Der Standpunkt des Exils ist der einzige Standpunkt, von dem aus universal bindende Wahrheit erkannt werden kann. Die festverwurzelten und selbstzentrierten Gruppen haben ihre begrenzten Ansichten mit Hilfe von Gedankenzwängen und der Verbannung von Andersdenkenden zu scheinbar universalen Proportionen vergrößert. Dadurch haben sie sich selbst daran gehindert herauszufinden, was sie gesucht haben, und dabei genau den Zweck ihrer Suche diskreditiert. Nun müssen die Verbannten den höchsten Wert der universalen Wahrheit vor jedem weiteren Schaden bewahren. Sie werden tun, was die, die sie ins Exil schickten, nicht erreicht haben. Sie werden beweisen, daß sie gegen alle Wahrscheinlichkeit (und besonders gegen die herrschende Meinung der Einheimischen) die unerschütterlichsten, loyalsten und verläßlichsten Verteidiger und Förderer der herrschenden Werte sind. Und dies können sie tun, solange sie sich weigern, ihre Differenzen zu verwischen, und darauf bestehen, Fremde zu bleiben. Durch ihre Entfremdung dienen sie den Werten, die die Gruppe braucht und zu besitzen wünscht. Das Assimilationsprogramm mag ja dabei gescheitert sein, die Vereinigung zu sichern, aber es war von vornherein eine falsche Vereinigung, die es anbot. Die wirkliche Vereinigung wird genau von jenen erreicht werden, bei denen das Versprechen der Anerkennung versagt hat. Der Prozeß der Selbstkonstruktion entfernt den Fremden noch weiter von der Gruppe der Einheimischen, bei der er sich immer noch beliebt machen will, jetzt ebenso wie in der Anfangsperiode des Assimilationstraums. Der Fremde stellt eine einzigartige, hilflos ambivalente Mischung aus universalistischem Programm und relativistischer Praxis dar. Um die wahre Universalität der Lebensform zu sichern – eine Absicht, die er mit der Gruppe der Einheimischen teilt (mit jeder einheimischen Gruppe) –, muß er die Zuverlässigkeit der Werte, die die einheimische Gruppe ( jede einheimische 139

Gruppe) mit der Zeit als absolut betrachtet, als falsch entlarven und auf diese Weise unterminieren. Der Fremde zielt auf die Auslöschung aller Trennungen, die der einförmigen, wesentlichen Humanität im Weg stehen; dies ist die letzte Hoffnung, die er hegt, um seine eigene Außenseiterrolle auszulöschen. Für die Gruppe der Einheimischen bedeutet sein Drang nach Universalität vor allem eine Konfrontation mit der dekomponierenden, zersetzenden Macht des Relativismus.

Exkurs: Franz Kafka oder Die Wurzellosigkeit der Universalität Die Juden waren die prototypischen Fremden in einem Europa, das in Nationalstaaten zersplittert war, welche entschlossen waren, alles »Dazwischenliegende«, alles Unterdeterminierte, weder Freundliche noch Feindliche zu vernichten. Auf dem Kontinent der Nationen und Nationalismen erinnerten nur noch die Juden an die Relativität der Nationalität und der äußeren Grenzen des Nationalismus – das letzte Residuum der Wildnis in einer Welt, die von lokalen Ordnungen angefüllt war. Sie waren sich selbst vermehrende Unkräuter in der Welt, die aus sorgfältig gepflegten Gärten bestand, Nomaden unter den Seßhaften (nur Zigeuner teilten diese Eigenschaft mit den europäischen Juden – und also mußten sie, für Hitler, auch deren letztes Schicksal teilen). Sie stellten genau die Gefahr dar, gegen die die Nationen sich zu konstituieren hatten. Sie waren die letzte Inkongruenz – eine nicht-nationale Nation. Ihre Fremdheit war nicht auf einen bestimmten Ort beschränkt; sie waren universale Fremde. Sie waren nicht Besucher aus einem anderen Land, da ein solches »anderes Land« nicht existierte – ja, es gab überhaupt kein Land, wo sie das Recht beanspruchen konnten, nicht Besucher oder Fremde zu sein. Die Juden waren die »verkörperte Fremdheit«, die ewigen Wanderer, der Inbegriff der Nicht-Territorialität, das Wesen der Heimatlosigkeit und Wurzellosigkeit; ein nicht-exorzierbares Gespenst der Kon140

ventionalität im Haus des Absoluten, eine nomadische Vergangenheit in der Ära der Seßhaftigkeit. Als die universalen und infolgedessen radikalsten Fremden loteten die Juden Europas die volle Tiefe der Erfahrung des Fremden aus. Den empfindlichsten unter ihnen gerann die Universalität ihrer Fremdheit zu jener Universalität der condition humaine, die sie aus der Besonderheit ihrer Erfahrung entnehmen zu können glaubten; ihre Besonderheit erlangte einen universalen Wert. Es ist nicht so, daß die Juden die Universalität leidenschaftlicher und rückhaltloser als andere hinnahmen. Es war eher so, daß ihre Erfahrung durch ihre einzigartigen Eigenschaften genau die Struktur der Universalität artikulierte. Fremde aus allen Lebensbereichen konnten in diese Erfahrung wie in einen Spiegel schauen und die Details ihres eigenen Bildes darin sehen, die andere Spiegel verzerrt und nur ungenau wiedergaben. Es war Franz Kafkas schmerzlich gelebtes, gequältes Judentum, das es Sartre oder Camus erlaubte, in seinem Werk eine Parabel des universalen Problems des modernen Menschen zu sehen. Es erlaubte Camus, Kafka als eine Einsicht in die unheilbare Absurdität des modernen Lebens zu lesen, in die »l’étrangeté d’une vie d’homme«9; es erlaubte Sartre, in Kafka die Definition des Fremden zu finden: »L’étranger, c’est l’homme en face du monde … L’étranger, c’est aussi l’homme parmi les hommes … C’est enfin moi-même par rapport à moi-même.«10 Wie seine namenlosen Helden erlebte Kafka Schuld ohne Verbrechen, samt ihrer Konsequenz: Verdammung ohne Urteil. Er lebte in einer »Welt, in der es ein Verbrechen ist, angeklagt zu sein«, in der die höchste Geschicklichkeit aller, die nicht des Verbrechens überführt werden wollten, darin bestand, »die Anklage zu vermeiden«.11 Dies war freilich genau die Geschicklichkeit, die zu erlangen unmöglich war. Aus der Welt, in der das Verbrechen darin bestand, angeklagt zu werden, gab es kein Entkommen. Man würde 9 Pierre-George Castex, Albert Camus et L’Étranger, Paris 1986, S. 56. 10 Brian T. Fitch, L’Etranger d’Albert Camus, Paris 1972, S. 94. 11 Adrian Jaffe, The Process of Kafka’s Trial, Ann Arbor 1967, S. 29.

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diese Welt mit sich herumtragen, wohin immer man gehen würde. »Meine Unvollkommenheit […] ist nicht angeboren, nicht verdient«, gesteht Kafka in seinem Tagebuch12: Sie ist weder natürlich noch menschengemacht. Weder Schicksal noch Tat. Sie ist ebenso inkongruent wie die Stellung des Fremden unter den Einheimischen und ebenso unmöglich zu bekämpfen wie die andere Inkongruenz. Ja, tatsächlich, wo würde man die Heimat der Unvollkommenheit finden? »Die Vorwürfe liegen in mir herum.« »Ich selbst« bin »vielleicht die beste Hilfskraft meiner Angreifer. Ich unterschätze mich nämlich und das bedeutet schon ein Überschätzen der andern« – das Außen ist innen, die beiden verschlingen, durchdringen sich, verschmelzen miteinander. Eine von Kafkas meistzitierten Selbstdiagnosen ist das Urteil, das er in einem Brief an Max Brod über die Generation der zu Deutschen gemachten (oder machten sie sich selbst zu Deutschen?) Juden fällte, zu denen er gehörte: »Mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie noch keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration.« Die Realität war das genaue Gegenteil der liberalistischen Utopie und bewies die vollkommene Irrelevanz des wichtigsten strategischen Prinzips des Assimilationsdranges. (»Sei ein Jude zu Hause, ein Mensch auf der Straße.«) In Marthe Roberts sarkastischer Zusammenfassung: »Bei sich zu Hause leben, denken, fühlen und schreiben die jungen Leute aus Prag wie Deutsche, äußerlich den andern gleich, doch außerhalb ihrer Viertel täuscht sich niemand, die anderen erkennen sie sofort an ihrem Gesicht, ihrem Benehmen, ihrem Akzent. Gewiß sind sie assimiliert, doch nur in dem geschlossenen Raum ihres geborgten Deutschtums, oder anders gesagt, sie sind an ihre eigene Entwurzelung ›assimiliert‹.«13

Kafka, der sensibelste unter den Angehörigen jener Generation, verstand, was die anderen kaum oder nur widerwillig zur Kenntnis 12 Franz Kafka, Die Tagebücher 1910–1923, hrsg. von Max Brod, Frankfurt/M. 1967, S. 497f. 13 Marthe Robert, Einsam wie Franz Kafka, Frankfurt/M. 1987, S. 39.

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nahmen: daß er, wie sie, »noch in der Art und Weise Jude ist, wie er es nicht ist«.14 Assimilation erzeugte die Realität, an die zu assimilieren man sich bemühte, die einzige, an die sich zu assimilieren man hoffen konnte. Die Assimilation nährte sich von sich selbst und wurde allmählich zum Selbstzweck. Sie führte von der Welt weg, die hinter einem zurückblieb, kam aber der Welt vor einem, auf die sie anscheinend zielte, nicht näher. Zu Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts, als die selbstzerstörerische Tendenz der Assimilation (»Das Wertesystem, das sie übernahmen, war nicht nur niemals in seiner Gänze ihres, sondern enthielt immer Elemente, die ihnen feindlich waren. Die Deutschen sahen in dieser Übernahme lediglich eine Maske, hinter der der unverbesserliche Jude lauerte. Traurigerweise war für den deutschen Juden die Maske die einzige Realität.«)15 immer stärker empfunden wurde, wurden die Ostjuden allmählich aus ihrer gerade erst vergangenen, nicht eben beneidenswerten Rolle als innere Dämonen der westlichen Assimilation (siehe Kap. »Eine Fallstudie zur Soziologie …«) emporgehoben: Sie hatten jetzt wenig Hoffnung, jene Vergangenheit, an die sie ihre zivilisierten westlichen Vettern ständig erinnerten, jemals dem Vergessen zu überantworten. Etwas überraschend wurden die Ostjuden in eine neue Rolle, die der »gesunden Menschen« gedrängt, die alles verkörperten, was die westlichen Juden am stärksten vermißten und zu spät bedauerten, aufgegeben zu haben. »Die Ostjuden sind ganze, lebensfrohe und lebenskräftige Menschen«, schrieb Nathan Birnbaum im Jahre 1912 nachdenklich. Martin Buber, der mehr als jeder andere dazu beitrug, den Mythos des östlichen Juden als Symbol für kulturelle Ganzheit und Gesundheit an die Stelle des alten Mythos vom Ostjuden als dem Relikt eben derjenigen präkulturellen Wildheit zu setzen, die die protestantische formalisierte Ethik in Verbindung mit dem Aufklärungskult der Bildung auszurotten entschlossen war, enthüllt unabsichtlich den Schwindel dessen, was als eine plötzliche Umkehr des Ostjuden14 Ebenda, S. 19. 15 Gilman, Difference and Pathology, S. 174.

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Schicksals und der Westjuden-Politik herausposaunt worden war. Wie George L. Mosse überzeugend begründet, war die Entdekkung einer »neuen und verbesserten« Version des Ostjuden ein weiteres Glied in einer langen Kette der Entlehnungen aus der beherrschenden Kultur, immer durch den Drang eingegeben (offen oder unbewußt), »nicht anders zu sein«, »wie sie zu sein« und folglich »zugelassen zu werden«. Mosse fand eine wahrhaft schlagende Ähnlichkeit zwischen Bubers sentimentalem Bericht über die osteuropäischen Ghettos und der Ideologie von Paul de Lagarde oder anderer Befürworter der im Entstehen begriffenen deutschen Volksgemeinschaft. Bubers Lieblingswörter waren Blut, Boden, Volkstum, Gemeinschaft, Wurzelhaftigkeit; sein Lieblingspräfix war »Ur «.16 Kaum jemals entliehen sich die Juden eine Mehrheitsideologie, die mehr »Elemente, die ihnen feindlich waren« enthielt. Kafkas eigene kurze, gleichwohl intensive und stürmische Begegnung mit den Ostjuden in Gestalt eines Herrn Löwy, einer Frau Tschissik und anderen Schauspielern eines jüdischen Wandertheaters stellte, wie man wohl behaupten kann, das dramatischste Einzelereignis seines Lebens dar. Zum ersten Mal sah Kafka »Leute, die in einer besonders reinen Form Juden sind, weil sie nur in der Religion, aber ohne Mühe, Verständnis und Jammer in ihr leben«.17 Diese Worte, aus denen Liebe, Bewunderung und Neid sprechen, drücken auch die traurige Weisheit der Realität aus, die keinerlei Hoffnung enthielt. Diese reinen Juden waren nur deshalb rein, weil sie ihre Reinheit nicht verstanden. Sie wußten nicht, was Kafka wußte und was er nicht vergessen konnte. Nicht für ihn war ihre Reinheit; nicht für ihn irgendeine dieser Eigenschaften, die sie so verführerisch machte. Es gab keinen Weg zurück in die Vergangenheit. Oder genauer, es gab keine Vergangenheit in Kafka, zu der er zu16 Vgl. Ritchie Robertson, »Antizionismus, Zionismus: Kafka’s Responses to Jewish Nationalism«, in: Paths and Labyrinths: Nine Papers from a Kafka Symposium, hrsg. v. J. P. Stern und J. J. White, Institute of Germanic Studies of the University of London 1985, S. 29–31. 17 Franz Kafka, Die Tagebücher, S. 57.

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rückkehren konnte. Im Verlauf seiner täglichen Unterhaltungen mit seinen neuen Freunden und Mentoren kam es Kafka in den Sinn, daß für die Juden das Wort »Mutter« nicht einfach der Name der Mutter ist, sondern ein deutscher Name für Mutter, der »sie ein wenig komisch macht«; für einen Juden enthält »Mutter« »unbewußt neben dem christlichen Glanz auch christliche Kälte, die mit ›Mutter‹ benannte jüdische Frau wird daher nicht nur komisch, sondern fremd«. Wäre Mama also vielleicht ein besserer Name für eine jüdische Mutter? Gewiß, »wenn man hinter ihm nicht ›Mutter‹ sich vorstellte«.18 Mit einer durch Bosheit vertieften Einsicht schrieb Richard Wagner einst von den heimwehkranken, hoffnungslosen jüdischen Fremden, daß sie es, nach der arroganten Zerstörung ihrer Beziehungen zu früheren Leidensgefährten, stets unmöglich finden, eine neue Verbindung mit jener Gesellschaft zu knüpfen, zu der sie angeblich gehören. Ebenso fühlte Kafka, in Robertsons Worten, daß westliche Juden wie er »unbehaglich zwischen einer schützenden jüdischen Gemeinde, zu der sie niemals zurückkehren konnten, und der westlichen Gesellschaft gefangen waren, die sie niemals vollständig akzeptieren würde«.19 So schauerlich es auch war, dieses Schweben in einem leeren gesellschaftlichen Raum war immer noch das geringere Übel. Viel makabrer und gräßlicher war die Tatsache, daß die Leere nicht »dort draußen« war, sondern in dem Menschen, der vergeblich versuchte, die beiden gleich illusorischen Stützen zu erreichen. In Ermangelung aller sozial anerkannten Befugnis zur Selbstdefinition, in Ermangelung selbst der Sprache, aus der Identitäten gebildet werden, konnte das Opfer nur durch diese Leere existieren, in der unbeschreiblichen, namenlosen Lücke zwischen einer verlorenen und einer nicht-gefundenen Realität. Kafka fand die Erzählung seines Freundes Max Brod, Jüdinnen, seltsam unbefriedigend – auf der Suche nach einer Erklärung schrieb er in sein Tagebuch: 18 Ebenda, S. 82f. 19 Robertson, »Antizionismus, Zionismus«, S. 28.

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»Den ›Jüdinnen‹ fehlen die nichtjüdischen Zuschauer, die angesehenen gegensätzlichen Menschen, die in andern Erzählungen das Jüdische herauslokken, daß es gegen sie vordringt in Verwunderung. Zweifel, Neid, Schrecken und endlich, endlich in Selbstvertrauen versetzt wird, jedenfalls sich aber erst ihnen gegenüber in seiner ganzen Länge aufrichten kann. Das eben verlangen wir, eine andere Auflösung von Judenmassen erkennen wir nicht an.«

Das Jüdische des westlichen Juden konnte sich nicht mehr für sich allein behaupten. Selbst in seiner jüdischen Identität – die er schließlich möglichst in der sicheren Dunkelheit privater Räume verbarg – hing der Jude von der nicht-jüdischen Autorität ab. Sie, die Nicht-Juden, waren die »angesehenen Personen«, die einzig und allein die Autorität besaßen, die Bedeutung des Jüdischseins zu definieren. Sie und sie allein entschieden über das Prinzip, das den Juden befähigte, die Teile und Stücke seiner »Judenmassen« in eine bedeutungsvolle Struktur zu bringen. Für sich allein hatten die Juden einfach keinen Sinn. Eine Geschichte der Juden für sich allein las sich als eine Lüge; und als eine hermetisch undurchdringliche Lüge obendrein. Vielleicht noch beredter ist die unbewußte Leichtigkeit, mit der sich dann der Standpunkt in Kafkas Tagebucheintragung verlagert: »So freut uns auch auf einem Fußweg in Italien das Aufzucken der Eidechsen vor unser Schritten ungemein, immerfort möchten wir uns bücken, sehn wir sie aber bei einem Händler zu Hunderten in den großen Flaschen durcheinander kriechen, in denen man sonst Gurken einzulegen pflegt, so wissen wir uns nicht einzurichten.«20

Auf der Suche nach dem Beweis, daß sein erster Eindruck vom Geburtsfehler der Jüdinnen korrekt war, mußte sich Kafka von dem verwirrten Geist des Insiders lösen und selbst die Welt mit dem unterscheidenden Blick der »angesehenen Personen« ansehen. Die Autorität des Urteils ist letztlich die seine, und in seinem Geist allein können alle Beweise entstehen und zwingend gemacht werden. Und was Kafka mit dem Auge eines reichen Touristen oder

20 Franz Kafka, Die Tagebücher, S. 38.

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des Kunden eines Zoolädchens sah, der sich Eidechsen anschaut, war, daß die Juden, sobald sie zusammengedrängt und ihrer eigenen Gesellschaft überlassen waren, lächerlich bedeutungslos, inkongruent und nicht eben begehrenswert wirkten. Wie Eidechsen in einem Gurkenglas erscheinen Juden, die in ihrer eigenen Gesellschaft eingeschlossen sind, als außerhalb ihres Elements, als in einen unnatürlichen Zustand versetzt. Wie eine Eidechse auf einem steinigen italienischen Paß hat der Jude »Sinn« (für die, deren Sinn zählt, deren Blick die Dinge mit Sinn versieht) nur individuell, wenn er durch die Neugier des Touristen zu einer Touristenattraktion wird. Der natürliche Zustand des Juden ist der, vereinzelt zu werden – um von einem nicht-jüdischen Auge angeschaut, geprüft, abgeschätzt und bewertet zu werden. Dann wird ein Urteil gesprochen, das einzige Urteil, das die Ordnung und die Bedeutung der jüdischen Existenz aufrechterhält. Andere Juden spielen keine Rolle, etwa wie die anderen Eidechsen im Glas. Wie einer von Arthur Schnitzlers Charakteren einmal beobachtete, respektiert kein Jude den anderen wirklich – nicht mehr als Kriegsgefangene, besonders wenn sie keine Hoffnung haben. Sie mögen einander hassen oder anbeten; manchmal sogar lieben. Aber niemals respektieren. Alle ihre emotionalen Beziehungen entwickeln sich in jener Atmosphäre der geistigen Knechtschaft und der sich daraus ergebenden Doppelzüngigkeit, in der Respekt ersticken muß. Kafka, selbst ein universaler Fremder und der vielleicht einsichtigste unter ihnen, entwirrte und buchstabierte die universalen Merkmale der Fremdheit, jenes wahren und einzigen, wenn auch vielgesichtigen Helden seines gesamten literarischen Werkes. Ein Fremder zu sein heißt, zurückgestoßen zu werden und das Recht auf Selbstkonstitution, Selbstdefinition und Selbstidentität aufzugeben. Es heißt, seinen Sinn von der Beziehung zum Eingesessenen und von dessen prüfendem Blick abzuleiten. Es heißt, die Fähigkeit zu vergessen, aus der ererbten »Masse« ein bedeutungsvolles Muster herzustellen. Es bedeutet, seine Autonomie aufzugeben und damit zugleich die Befugnis, sein eigenes Leben bedeutungsvoll zu machen. Ein Fremder zu sein bedeutet, 147

fähig zu sein, ständige Ambivalenz zu leben, ein Ersatzleben der Verstellung. Der Fremde selbst ist ohne alle Attribute, ein wahrer Mann ohne Eigenschaften (wie Gilman beobachtete, wurde verlangt, daß sich die Juden sowohl von Nicht-Juden wie von Juden unterschieden). Die Eigenschaften, die ihm einen Körper geben und ihn auf diese Weise aus der Leere ziehen, werden ihm aus Gnade verliehen und können aus einer Laune heraus wieder entzogen werden. In Ermangelung einer Substanz ist der Fremde ein Archetyp der Universalität; gewichtslos, substanzlos, unsagbar, außer wenn er mit anderer Leute Inhalt angefüllt wird; nirgends an seinem natürlichen Platz; die exakte Antithese des Konkreten, Spezifischen, Eindeutigen. Der Fremde ist universal, weil er keine Heimat und keine Wurzeln hat. Wurzellosigkeit relativiert alles Konkrete und erzeugt auf diese Weise Universalität. In der Wurzellosigkeit finden sowohl Universalität wie Relativismus ihre Wurzeln. Auf diese Weise wird ihre heftig verleugnete Verwandtschaft enthüllt. Sie sind beide, jeder auf seine Weise, Produkte der ambivalenten Existenz.

Die neolithische Revolution der Intellektuellen Das Wesen der neolithischen Revolution war der Übergang von einem nomadischen zu einem seßhaften Leben oder, was auf dasselbe hinausläuft, vom Sammeln der Früchte der Natur zum Anbau solcher Pflanzen, die die Natur selbst nicht erzeugte. Wenn dies tatsächlich das Wesen der neolithischen Revolution war, dann können wir sagen, daß ihr intellektuelles Äquivalent sich in den Jahren ereignete, die Mannheims Beschreibung der Intelligenzija als der Kategorie von Fremden folgten, welche das Gift ihrer Heimatlosigkeit in die Waffe einer universalen Wahrheit verwandelten. Oder vielleicht erfolgte die Revolution schon vorher, nur Mannheim hat es nicht bemerkt. Im Amerika der achtziger Jahre »haben Kollegen ein Publikum ersetzt und der Jargon ist an die Stelle des Englischen getreten«, hat 148

Russell Jacoby jüngst kommentiert. »Amerikanische Marxisten heute haben Büros auf dem Campus und ihre eigenen Parkplätze.« Ja, »ein Intellektueller zu sein verlangt eine Universitätsadresse«. Unter solchen neuen Bedingungen – sowohl den Gelegenheiten wie den Zwängen, die sie verheißen –, hat die »marxistische theoretische ›Explosion‹ die Kraft einer Seminarkaffeepause«, während »eine kritische Vision selbst ein Beweis persönlicher Mängel ist«.21 Aber Régis Debray22 hat jede einzelne Periode in den letzten hundert Jahren der Geschichte der französischen Intellektuellen durch Bezug auf die Art Örtlichkeit, die sie zu ihrer Zeit mit Beschlag belegten, definiert (Universitäten, Verlagshäuser, Massenmedien) – alle unterschiedlich, aber alle gleichermaßen heimatlich, nett ausgestattet, sicher, warm, anheimelnd und oft sogar gastfreundlich. Wenn die Intellektuellen jemals Nomaden gewesen sind, so sind sie es nicht mehr. Sie sind angekommen. Sie sind seßhaft geworden. Sie haben ihre eigenen Felder zu bestellen. Tatsächlich ist seit jenem milieu artificiel der bedrückten, militanten und entschlossenen Konstruktionszeichner des Großen Entwurfs, die – nach Meinung von Augustin Cochin – eine »Gesellschaft« ganz für sich allein schufen, in der »les participants figurent comme libres, libéré de tout attache, de toute obligation, de toute fonction sociale«, ein gewaltiger Weg zurückgelegt worden.23 Der Moloch der wissenschaftlich-technischen Revolution, die vom panoptischen Staat gefördert wurde, zerschmetterte jene Quasigesellschaft, die aus Diskussion und Meinung zusammengeleimt war – und saugte die Trümmer auf. Die freien Intellektuellen von früher verwandelten sich in Universitätslehrer, Regierungsberater, Experten und Funktionäre der Kriegs- und Wohlfahrtsbürokratien. Das Denken ist aus seiner Entfremdung aufgetaucht. Es ist an vielen Orten heimisch geworden, die es jetzt gemütlich und bequem bewohnt. Die Ritter der Universalität verwandelten sich 21 Russell Jacoby, The Last Intellectuals, New York 1987, S. 180, 220, 172, 203. 22 Vgl. Régis Debray, Le Pouvoir intellectuel en France, Paris 1979. 23 Augustin Cochin, La Révolution et la libre pensée, Paris 1924, S. XXXVI.

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in die Verteidiger von Hospitälern, Hochschulen, Opernhäusern und Forschungseinrichtungen – von Stiftungsgeldern und Jobs, von Gehältern und Gesetzbüchern. Schon seit langem haben sie aufgehört, sich in einer solidarischen Opposition gegen die Gesellschaft zusammenzuschließen, die sie zu Fremden gemacht hat. Kaum jemals schließen sie sich überhaupt zusammen – wenn nicht das Recht des Experten, in seinem eigenen Reich des Fachwissens zu herrschen, auf dem Spiel steht. Abgesehen von dieser einzigen Frage, in der sich alle einig sind, gibt es sehr viel, was sie trennt, und sehr wenig, was sie verbindet. Mannheims freischwebender, entfremdeter und nach innen gewandter Intellektueller verschwand nicht vollständig, obgleich er mit größter Sicherheit heute eine Ausnahme darstellt. Er steht nicht so sehr mit der engstirnigen Gesellschaft als vielmehr mit der Engstirnigkeit seiner besser etablierten, satten und selbstzufriedenen Kollegen auf Kriegsfuß. Es war jene Standortgebundenheit, die Theodor W. Adorno (einer der notorischsten unter den »Menschen ohne festen Wohnsitz«, ein prototypischer Freischwebender, ein niemals und nirgends zu seiner eigenen und seiner Gastgeber Befriedigung Angepaßter) als den standhaftesten Feind der »mißlungenen« Veränderung der Welt konstruierte: »Was anders ist als das Existente, gilt diesem als Hexerei, während in der falschen Welt Nähe, Heimat, Sicherheit ihrerseits Figuren des Bannes sind. Mit diesem fürchten die Menschen alles zu verlieren, weil sie kein anderes Glück, auch keines des Gedankens kennen, als daß man sich an etwas halten kann, die perennierende Unfreiheit.«24

Sein Freund Max Horkheimer stimmte zu: »Bei der überwiegenden Mehrheit der Beherrschten steht die unbewußte Furcht im Weg, theoretisches Denken könnte mühsam vollzogene Anpassung an die Realität als verkehrt und überflüssig erscheinen lassen.«25

24 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1973, S. 15, 43. 25 Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt/M. 1970, S. 48.

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Mit Blick auf die rationale Welt, in der Expertenwissen und Macht verschmolzen und das Wissen aufhörte, die Macht der Machtlosen zu sein, gab Max Weber Leuten wie Adorno und Horkheimer nicht viel Chancen: »Die Frage, die uns beschäftigt, ist nun nicht: Wie kann man an dieser Entwicklung etwas ändern? – Denn das kann man nicht […] sondern was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale?«26 Lange bevor Mannheim das Gespenst des universalen Fremden als des letzten Richters entwikkelte, komponierte Weber seinen Grabgesang für die freie Seele; einen Rest des Menschentums frei zu halten war das Äußerste, was zu erhoffen er sich berechtigt fühlte. Adorno und Horkheimer repräsentierten einen solchen Teil; freilich einen sehr kleinen und nicht eben sehr erfolgreichen Teil. Sie waren gleich mehrfach Fremde: ungebundene Gelehrte in der Welt der gut angepaßten Akademiker; Deutsche in einer Gesellschaft, die sie als Juden dachte; Exilanten, die aus einer Gesellschaft kamen, die niemals völlig ihre Heimat wurde, und in eine Gesellschaft eintraten, die sie niemals zu ihrer Heimat machen wollten; europäische Philosophen in einem Land eines philisterhaften Antiintellektualismus. Sie hatten andere Fremde wie sie selbst als ihre einzigen Gefährten und als ihren einzigen Bezug. Ihr Leben war das des Exils. In Robert Michels bemerkenswerter Beschreibung: »Die ganze Führung des Lebens, von dem regen Austausch der Gedanken an unbeschäftigten Abenden, an denen der Samovar brodelte, und der unausgesetzten Ellenbogenfühlung mit Männern der verschiedensten Zungen an, bis zur erzwungenen Isoliertheit von der bürgerlichen Welt des Daheim und der Unmöglichkeit ›praktischer‹

26 Debattenreden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1909 zu den Verhandlungen über »Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden«, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 414.

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Betätigung wies diesen Weg.«27 Sehr bald verwandelte sich das Unmögliche in das Unerwünschte: Was nicht getan werden kann, ist es nicht wert, daß man es tut. Man kann auf seine Impotenz auch stolz sein: Die Taubheit der Welt bestätigt die Kraft der Botschaft. Zu ihrer großen Freude fanden Adorno und Horkheimer in Paul Deussens Übertragung der Upanischaden, wonach sie tasteten: ein Zeugnis der unwiderruflichen Unvereinbarkeit zwischen kritischem, kompromißlosem Denken und jener Anstrengung, die auf die Mobilisierung eines allgemeinen Konsens zielte, die das praktische Handeln verlangt. Um eine solche Anstrengung zu unternehmen, muß sich die Idee in ein sauberes theoretisches System verwandeln. In diesem Prozeß läßt ein Kompromiß nicht lange auf sich warten; und bald hört die Idee auch auf, kritisch zu sein.28 Eine aktive Rolle im Leben ist mit der Rettung der Seele nicht vereinbar; die Suche nach logischer Kohäsion, die eine solche Rolle erfordert, ist nicht mit emanzipatorischer Kritik vereinbar. Die Upanischaden (im Unterschied zur vedischen Religion), die Kyniker (im Unterschied zu ihren stoischen Nachfolgern), Johannes der Täufer (im Unterschied zu Paulus) – sie alle weigerten sich, kohäsive, harmonische, akademisch respektable Systeme zu erzeugen, wie sie auch störrisch jede Verbindung mit der Politik verweigerten, in deren stinkender Atmosphäre der ungebundene Geist nicht atmen kann. Je seltener und exotischer die entfremdeten, marginalisierten Intellektuellen in der Welt der wohlsituierten, praktisch engagierten Wissensklasse werden, desto radikaler und jenseitiger wird ihre Bindung an das Universale und Absolute; desto schriller der Kontrast zwischen der Unzweideutigkeit ihrer Loyalitäten und der Am27 Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1925, S. 216. 28 Vgl. die bemerkenswerte Anmerkung zu der amerikanischen Ausgabe von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialectic of Enlightenment, übers. v. John Cumming, New York 1972.

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bivalenz ihrer sozialen Stellung. Sie sind Fremde nicht nur einfach in bezug auf die »Einheimischen« und ihre herrschenden Werte. Zuerst und vor allem, am offensichtlichsten und am schärfsten, sind sie Fremde in bezug auf die übrigen Angehörigen der Wissensklasse. Sie sind Verräter an ihrer Klassenloyalität, Häretiker der Kirchenorthodoxie. Die Universalität, die sie suchen, ist aus der Opposition zu der Partikularität geschmiedet, für die ihnen ihre eigene Wissensklasse (die Klasse, die sie ablehnen und von der sie abgelehnt werden) als Prototyp dient. Es ist die »akademische Wissenschaft«, die »etablierte Weisheit«, das »bürokratisierte Wissen«, das jetzt für die Sunde der Nachgiebigkeit gegenüber selbstsüchtigen, standortgebundenen Interessen steht. Gegen diese Tropen des Sündenfalls richten sich jetzt der Zorn und die vergiftetsten Pfeile. Nicht, daß die Pfeile ihre beabsichtigten Ziele erreichen. In dem Maße, wie sich das Wissen wirksam in institutionell verschanztes Expertenwissen übersetzt, wirkt Mannheims Vision der heimatlosen Intelligenzija (ein Bild, das selbst zu seiner besten Zeit nach einer theoretischen Erfindung aussah) zunehmend nebulös. Die Experten sind alles andere als heimatlos. Und sie können auch nicht wirklich des Verrats der Intellektuellen angeklagt werden. Sie können nicht Bindungen verraten, die sie niemals eingegangen sind. Ihre Aufgaben sind spezifischer Art, die sich aus spezifischen Problemen ergeben. Eingebunden in einen klar umrissenen institutionalisierten Abschnitt einer übergreifenden Arbeitsteilung haben sie keine Zeit für die alte querelle zwischen den Nativisten und den Universalisten und keine Verwendung für die Schlacht zwischen ewigen Wahrheiten und dem Skeptizismus der modernen Pyrrhoniker. Ihre Praxis als Experten erzeugt weder den Wunsch nach Gewißheit noch relativistische Neigungen. Wenn überhaupt irgend etwas, erklärt sie beides für ungültig, und vor allem den Konflikt, zwischen ihnen und der Notwendigkeit zu wählen. Im Unterschied zu den riesigen, gesellschaftsgroßen Gärten, die die freischwebenden Intellektuellen sehnsüchtig betrachten, kann jeder der kleinen Schrebergärten, die die Experten bebauen, ganz beträchtliche (und absolute) Planungsautorität beherbergen, ohne 153

die eigenen ziemlich engen Grenzen zu einem Problem zu machen. Mit dem schwindenden Drang, sich auszudehnen, verblaßt der Wunsch nach Universalität. Mit welkendem Interesse an dem Nachbarn hinter der Trennwand schwindet die Angst vor der Relativität. Es scheint, daß die kognitive Perspektive der Wissensklasse, zersplittert in eine Menge nur lose verknüpfter Expertensektionen, wie sie derzeit ist, weder Universalismus noch Relativismus begünstigt und die Kontroverse zwischen den beiden beträchtlich abkühlt. Kein Wunder, daß die beliebtesten Philosophien von heute diejenigen sind, die demütig lokalisierte, von einer Gemeinschaft gestützte Grenzen der Wahrheit anerkennen, während sie zur gleichen Zeit versuchen, ihre Prärogative zu schützen, zwischen richtig und falsch innerhalb der akzeptierten Grenzlinien zu unterscheiden. Man kann sagen, daß in solchen Philosophien Gemeinschaften (oder Lebens-, Traditions- oder Sprachformen) synonym mit der Idee der Wahrheit geworden sind: Die Gemeinschaft ist das Gebiet, in dem eine Wahrheit als objektiv und bindend anerkannt werden kann, während Wahrheit objektiv und verpflichtend ist, insoweit es eine Gemeinschaft gibt, die diese Wahrheit akzeptiert und sie auf diese Weise innerhalb ihrer Grenzen zu einer Realität macht. Gemeinschaft und Wahrheit sind zwei rhetorische Figuren, die aufeinander verweisen, wobei sich jede selbst durch die andere in der Welt der Experten und der aufgeteilten Wahrheit legitimiert.

Die Universalität der Wurzellosigkeit Die »neolithische Revolution« der geistigen Elite, die wunderbare Verwandlung wurzelloser Intellektueller in Angehörige der etablierten Wissensklasse, ist nur ein spektakulärerer Fall (der vielleicht nur tiefer empfunden wird, weil man »näher zu Hause« ist) eines umfassenderen Prozesses, der die Privatisierung der Fremdheit genannt werden kann. Eine paradoxe Folge der Privatisierung ist die 154

Universalität der Fremdheit: Der Modus »ein Fremder zu sein« wird von jedem Angehörigen der zeitgenössischen Gesellschaft mit ihrer extremen Arbeitsteilung und der Trennung funktional getrennter Sphären in ganz unterschiedlichem Maße erfahren. Wenn Angehörige der Wissensklasse eine solche Erfahrung durchleben, dann tun sie das eher als Mitglieder der Gesamtgesellschaft denn als Wissenschaftler, Technologen, Denker oder Künstler. In diesen letzteren Eigenschaften sind ihre spezialisierten Tätigkeiten – die mit Hilfe von produktiven und distributiven Gesellschaften, bürokratischer Funktionsteilung und Befehlshierarchie, institutionalisierten Belohnungssystemen, »Netzwerken«, »Kreisen« und »Aufhängern« (wie Cafés, Clubs, Journalen), an denen ihre Gruppenidentiät hängt29 und die sie unterstützen, kontrollieren und mit Dienstleistungen versorgen, fest verankert sind – eher Faktoren der Integration und Zusammengehörigkeit denn der Entfremdung. In ihren privaten Eigenschaften freilich – als Individuen – haben die Angehörigen der Wissensklasse an der universalen Existenzweise teil, die ganz wesentlich durch die Erfahrung der Entfremdung geprägt ist. Fremdheit – allgemeiner: die existentielle und geistige Ambivalenz – hat als condition humaine ihre Besonderheit verloren; mit diesem Verlust hat sie ihre einstmals rebellische, potentiell revolutionäre Schärfe eingebüßt. Seit sie eine universale condition humaine geworden ist – eine Form der »Existenz als solcher« –, erzeugt sie nicht länger Universalität als das Dynamit, das im Begriff steht, die gemütliche Alltäglichkeit des beschränkten Lebens in die Luft zu sprengen. Fremdheit ist nicht mehr ein Einblick in die andere Seite der Existenz, eine Herausforderung für das Hier und Jetzt, ein günstiger Standpunkt für Utopien. Sie selbst hat sich in eine Alltäglichkeit verwandelt. Wie Niklas Luhmann aufgezeigt und überzeugend begründet hat, kann »bei funktionaler Differenzierung die Einzelperson nicht

29 Vgl. Warren O. Hagstroms und Charles Kadushins Beiträge zu The Production of Culture, hrsg. v. Richard A. Peterson, London 1976.

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mehr in einem und nur einem Subsystem der Gesellschaft angesiedelt werden«, sondern muß als »sozial ortlos vorausgesetzt werden«.30 Das heißt, die Einzelperson ist per definitionem »ortlos«: Gerade die Tatsache, daß sie nicht unter irgendeine der zahlreichen funktionalen Subsysteme subsumiert werden kann, die nur in ihrer Kombination die Fülle ihres Lebensprozesses ausmachen (mit anderen Worten, die Tatsache, daß sie zu keinem der Systeme völlig gehört und kein Subsystem ihre einzige Treue beanspruchen kann), macht sie zu einem Individuum. In Relation zu jedem der Subsysteme ist das Individuum eine Einheit von vielen Bedeutungen, eine ambivalente Verbindung – immer ein partieller Fremder. Im Verhältnis zu keinem der Subsysteme ist es vollständig einheimisch. In biographischer Hinsicht gesprochen, durchläuft das zeitgenössische Individuum eine Reihe weit divergenter (im besten Falle unkoordinierter, im schlimmsten Falle kontradiktorischer) sozialer Welten. In jedem einzelnen Moment seines Lebens bewohnt das Individuum gleichzeitig mehrere solcher divergenter Welten. Das Ergebnis ist, daß es aus jeder »entwurzelt« ist und in keiner »zu Hause«. Man kann sagen, daß es der universale Fremde ist. Man ist versucht zu sagen, daß es nur bei sich selbst »ganz zu Hause« ist. (Dieser Umstand, das wollen wir anmerken, treibt den letzten Nagel in den Sarg der completa mappa mundi; gleichwohl bezieht er den revolutionären Impuls aus dem Widerstand gegen die Provinzialität der hausbackenen Mini-Ordnungen). Tatsächlich wird, wie Luhmann es ausdrücken würde, für das zeitgenössische Individuum das Ich der Sitz und der Brennpunkt aller inneren Erfahrung, während die Umwelt, in Fragmente mit geringer lateraler Verbindung zersplittert, die meisten ihrer Umrisse und einen Großteil ihrer bedeutungsdefinierenden Autorität verliert. Und trotzdem ist dieses »bei sich selbst zu Hause sein« in hohem Maße problematisch. Es entsteht, wenn überhaupt, vielleicht

30 Niklas Luhmann, Liebe als Passion: Zur Kodierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982, S. 16.

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nur als Errungenschaft einer langwierigen und komplizierten Anstrengung. Die armselige Koordination zwischen Subsystemen spiegelt sich in der Heterogenität des Selbst. Partielle Entfremdungen werden als das Zurückschnellen des Selbst in die Integration verkörpert und erfahren. Das Selbst ist mit der unmöglichen Aufgabe betraut, die verlorene Integrität der Welt wieder zu erneuern; oder, bescheidener, mit der Aufgabe, die Erzeugung von Selbstidentität am Leben zu erhalten; eigenständig das zu tun, womit einst die einheimische Gemeinschaft betraut war. Tatsächlich muß eine solche »einheimische Gemeinschaft« als der Bezugsrahmen für die Selbstidentität nun im Innern des Selbst konstruiert werden. Und nur innerhalb der Imaginationsarbeit des Selbst hat eine solche Gemeinschaft ihre notwendig prekäre Existenz. Während der Sturm-und-Drang-Periode der Moderne, als sie sich in einem Zustand der Heimatlosigkeit, der Nichtzugehörigkeit befand, erforderte die Ambivalenz eine Apologie. Das Fehlen einer Adresse, an die eine solche Apologie geschickt werden konnte, ist eines der auffälligsten und folgenreichsten Merkmale unseres eigenen Teils der Moderne. Individuen wenden sich meistens ihrem privaten Leben als dem einzigen Ort zu, wo sie hoffen können, eine Heimat inmitten der universalen Heimatlosigkeit erbauen zu können. Ihre Hoffnung zerschlägt sich freilich. »Immer wieder bedrohen die eisigen Winde der ›Heimatlosigkeit‹ diese zerbrechlichen Bauten. Es wäre eine Übertreibung zu sagen, die ›Lösung‹ der Privatsphäre müsse notwendig scheitern; dafür gibt es zu viele individuelle Erfolge. Aber sie ist stets sehr gefährdet.«31

Und soweit es die Erfahrung der Entfremdung betrifft, ist es die Tatsache, daß die Privatsphäre endemisch gefährdet ist, die zählt, selbst wenn sie nicht scheitert. »Eine Welt, in der alles in ständiger Bewegung ist, ist auch eine Welt, in der es schwierig ist, zu Gewißheiten irgendwelcher Art zu gelangen […] Was in einem Sektor des sozialen Lebens des Individuums Wahrheit ist, kann in 31 Peter L. Berger, Brigitte Berger und Hannsfried Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt/M./New York 1975, S. 162.

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einem anderen Sektor Irrtum sein. Was in dem einen Stadium der sozialen Laufbahn des Individuums als richtig angesehen wurde, wird im nächsten Stadium falsch.«32

Die Welt von heute schafft die Fremdheit und die existentielle Ambivalenz, mit der sie getränkt ist, nicht ab. Aber sie bietet keinerlei Hoffnung, daß der Fremde erlöst werden kann. Und in dem Maße, wie sich die Bedingung der Ambivalenz in eine immer universalere Erfahrung verwandelt und auf diese Weise die Aussicht der Erlösung zunehmend trüber wird, schwindet der emanzipatorische Drang. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Fremdsein in einer verwurzelten einheimischen Welt und einem Fremden in einer Welt, die in Bewegung ist. Im ersten Fall kommt das Elend zusammen mit dem Versprechen, der Hoffnung und einem Programm zu seiner Beendigung. Die scheinbar klar umrissene Hierarchie der einheimischen Werte und Normen definiert, was zu tun ist, und definiert es mit unbestrittener Autorität. Die Einheimischen verkörpern das menschliche Universale, das die Form der Menschlichkeit des Fremden provinziell und anstößig macht. Es ist unter diesen Umständen leicht (vielleicht natürlich), die Anstrengung der Assimilation an die herrschenden einheimischen Maßstäbe mit der Förderung universaler Wahrheit zu verwechseln; die Malaise einer partikulären Fremdheit als die Deformation oder Kärglichkeit der Universalität zu definieren; den Drang, eine spezifische Differenz zu verwischen, mit dem Bedürfnis zu identifizieren, den Boden für die einheitliche und absolute Herrschaft der allgemeinen Maßstäbe zu bereiten. Im zweiten Fall freilich leben die Fremden, obschon sie Fremde bleiben, nicht länger unter Einheimischen; ja, es sind solche Einheimischen gar nicht in Sicht. In Ermangelung unbestrittener Maßstäbe, die vernünftigerweise Vorherrschaft beanspruchen oder anstreben – wird Fremdheit nicht als eine zeitweilige Situation empfunden. Viel weniger als vorher wird sie als eine unerträgliche Situation empfunden, als eine, aus der 32 Ebenda, S. 159.

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sich zu erlösen man die Pflicht hat. Die Differenz trägt nun keinerlei Schuld; und die Schande, des Unterschiedes schuldig zu sein, veranlaßt den Angeklagten nicht länger, der Entfremdung zu entfliehen. Die Vision der Universalität entsteht aus der Wurzellosigkeit, aber sie lebt davon, daß die Wurzellosigkeit eine partikulare Situation bleibt, ein Handicap, ein fehlendes Privileg. Sobald sich die Wurzellosigkeit in eine allgemeine Situation verwandelt, ist die Besonderheit ausgelöscht, wenn auch nicht in der Weise, wie es einmal in den Träumen der Wurzellosen gesehen wurde. Die Relativität wird nun der große Gleichmacher; man entkommt dem Stigma der Differenz durch Eigentümlichkeit. Nur indem man sich absondert, kann man an dem Konflikt anderer teilhaben und gleichberechtigt an der condition humaine teilnehmen. Fremdheit ist universal geworden. Oder eher, sie ist aufgelöst worden; was schließlich auf dasselbe hinausläuft. Wenn jeder ein Fremder ist, ist es keiner. Es bleibt zu betrachten, inwieweit die weitverbreitete Abneigung gegenüber großartigen gesellschaftlichen Entwürfen, der Verlust des Interesses an absoluten Wahrheiten, die Privatisierung der Erlösungsbedürfnisse, die Versöhnung mit dem relativen – lediglich heuristischen – Wert aller Lebenstechniken, die Anerkennung der unheilbaren Pluralität der Welt, kurzum, all diese beunruhigenden, gleichwohl nichtsdestoweniger ermunternden Tendenzen, die gewöhnlich unter dem Namen der Postmoderne subsumiert werden, eine dauerhafte Folge jener Abschaffung der Fremdheit sind, die dadurch erreicht worden ist, daß man sie in den Status einer universalen condition humaine erhoben hat.

Die Bedrohung und die Chance Worauf sich die inhärent polyseme und kontroverse Idee der Postmoderne am häufigsten bezieht (sei es auch nur stillschweigend), ist zuerst und vor allem ein Akzeptieren der unauslöschlichen Plu159

ralität der Welt; eine Pluralität, die nicht eine Zwischenstation auf dem Weg zur noch nicht erreichten Vollkommenheit ist (Unvollkommenheiten gibt es viele und verschiedene; Vollkommenheit ist per definitionem immer nur eine), eine Station, die früher oder später zurückzubleiben hat – sondern eine konstitutive Qualität der Existenz. Ebenso bedeutet Postmoderne eine entschlossene Emanzipation von dem charakteristisch modernen Drang, die Ambivalenz zu überwinden und die monoseme Klarheit der Selbigkeit zu fördern. Ja, die Postmoderne dreht die Zeichen der Werte, die für die Moderne zentral sind, um, wie Gleichförmigkeit und Universalismus. Und sobald erst einmal wahrgenommen worden ist, daß die Vielfalt der Lebensformen unreduzierbar ist und es unwahrscheinlich ist, daß sie konvergieren, werden sie nicht nur widerstrebend akzeptiert, sondern in den Rang eines höchsten positiven Wertes erhoben, der weder in eine Lebensform aufzulösen ist, welche auf Universalität zielt, noch durch eine Form degradiert wird, die nach universaler Herrschaft strebt. Die Postmoderne ist die Moderne, die die Unmöglichkeit ihres ursprünglichen Projekts eingestanden hat. Die Postmoderne ist die Moderne, die mit ihrer eigenen Unmöglichkeit versöhnt ist – und um jeden Preis entschlossen ist, damit zu leben. Die moderne Praxis dauert an – jetzt freilich befreit von dem Ziel, das sie einst ausgelöst hat. Wo die Absicht zu herrschen fehlt, beleidigt das Vorhandensein wechselseitig einander ausschließender Maßstäbe weder den Wunsch nach logischer Kongruenz noch löst es eine Heilungsaktion aus. Im Idealfall ist in der pluralen und pluralistischen Welt der Postmoderne jede Lebensform prinzipiell erlaubt oder, besser gesagt, es sind keinerlei allgemeine Prinzipien evident (oder unbestritten evident), die irgendeine Lebensform unzulässig machen würden. Sobald die Differenz aufhört, Druck auszuüben, und nicht als ein Problem konstruiert wird, das nach Handeln und Lösung ruft, wird die friedliche Koexistenz von verschiedenen Lebensformen in einem anderen Sinne als dem eines zeitweiligen Gleichgewichts feindlicher Mächte möglich. Das Prinzip der Koexistenz könnte (einfach nur: könnte) das Prinzip der Universalisierung ersetzen, 160

während das Toleranzgebot an die Stelle der Konversion und der Subordination treten könnte (nur könnte). Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war der Schlachtruf der Moderne. Freiheit, Verschiedenheit, Toleranz ist die Waffenstillstandsformel der Postmoderne. Und wenn Toleranz in Solidarität umgewandelt wird (siehe das letzte Kapitel), kann sich Waffenstillstand sogar in Frieden verwandeln. Man kann mithin auf das Verschwinden einer der wichtigsten Gründe für den destruktiven Drang hoffen, sobald die Selbstbehauptung verschiedener Lebensformen den Charakter eines Nullsummenspiels verliert. Es kann Raum für neue Formen gefunden werden, ohne den Platz freizuräumen, der durch die bestehenden eingenommen wird. Auf diese Weise verliert der wichtigste Grund der Rhetorik und Praxis der Destruktion einen Gutteil seiner früheren Überzeugungskraft. (Ebenso, können wir hinzufügen, der romantische Heroismus der revolutionären Neuheit. Revolutionen behalten ihren Reiz nur so lange, wie die Erfahrung der Differenz unerträglich bleibt. Die Annahme der Relativität und die Versöhnung mit der Ambivalenz entschärft die Anziehungskraft des radikalen und kondensierten Wandels; ja, sie macht die Revolution bedeutungslos. Wenn es keine Maßstäbe gibt, die auf Kosten anderer zu erhalten sind, gibt es keine Maßstäbe, die aus dem Weg geräumt werden müssen, um anderen die Existenz zu ermöglichen. Die Strategie der Innovation hat nur dann eine Strategie der Destruktion zur Folge, wenn die Neuheit Ersatz sein soll.) Das Eingeständnis, daß die Differenzierung (und die Pluralität von prinzipiell koordinierten Handlungen, die sie unterstützen) andauert, ist eng verknüpft mit dem Ableben der großen Entwürfe der Sozialtechnologie. Dieser Abschied läuft auf die Erosion der Einstellung des Gärtners oder Chirurgen hinaus, die die ganze Moderne hindurch die Haltungen und Strategien der institutionalisierten Mächte charakterisiert hat – und vor allem der Mächte des Nationalstaates. Die Moderne verkündete die wesentliche Künstlichkeit der Gesellschaftsordnung und die Unfähigkeit der Gesellschaft, eine ordentliche Existenz auf eigene Faust zu erlangen. Sie verkündete auch, daß die Einrichtung der Gesellschaftsordnung 161

die asymmetrische Kräfteverteilung erfordere – d.h. die Aufteilung der Gesellschaft in Handelnde und in die Objekte ihrer Handlungen. Der ausschließliche Anspruch der gewählten Vertretung, den Zustand der Ordnung im Unterschied vom Chaos zu definieren, wurde in der Ideologie der Überlegenheit der Vernunft über die Leidenschaften, des rationalen Verhaltens über die irrationalen Triebe und des Wissens über die Unwissenheit oder den Aberglauben artikuliert. Die Opposition zwischen solchen abstrakten Werten erzeugte und reflektierte praktische gesellschaftliche Trennungen. Und, was am wichtigsten war, sie diente der ewigen Verdichtung der Autonomie und der Wahl an einem Pol der gesellschaftlichen Teilungen sowie der Delegitimierung des autonomen Willens der anderen Seite. Aus demselben Grund kann diese Opposition den größten Teil ihrer Trennkraft verlieren, sobald erst einmal der Impuls zur Herrschaft in der Atmosphäre der Koexistenz und (gewählten oder erzwungenen) Tolerierung schmilzt. Sie könnte (einfach nur könnte) das Schwinden des technologischen Ehrgeizes, der ihre Bedeutung und ihr Vernunftgrund war, nicht lange überleben. Sie leitete ihren Sinn aus missionarischen Projekten und Kreuzzügen ab; sie kann schwerlich länger bestehen als diese. Die Erinnerung an die Opposition regt freilich dazu an, ihren Niedergang als einen Fall der Rehabilitierung der Irrationalität und des Verzichts der Vernunft aufzufassen. Was auf diese Weise wahrgenommen wird, ist freilich lediglich die plötzliche und noch nicht ganz begriffene Bedeutungslosigkeit der Unterscheidung zu einer Zeit, als das geplante und entworfene, vom Menschen gemachte Schicksal aufhörte, zwischen Lebensformen zu unterscheiden, die dazu ausersehen waren zu herrschen, und denen, die für die Kolonisierung oder die Vernichtung vorgesehen waren. Irrationalität ist der Abfall der Rationalitätsindustrie. Chaos ist der Abfall, der bei der Produktion von Ordnung anfällt. Die erschreckende Inkongruenz des Fremden ist der Abfall, der zurückbleibt, nachdem die Welt sauber in eine Scheibe geschnitten worden ist, die »wir« heißt, und eine andere, die als »sie« etikettiert wird. Ambivalenz ist ein toxisches 162

Nebenprodukt in der Produktion semiotischer Transparenz. Irrationalität, Chaos, Fremdheit, Ambivalenz sind alles Namen für jenes namenlose »jenseits«, für das die herrschenden Mächte, die sich selbst als Vernunft, als Kräfte der Ordnung, als Einheimische, als Sinn definiert haben, keinerlei Verwendung besitzen. Sie sind auf dieselbe Weise Nebenprodukte des Planungsehrgeizes, wie Unkraut das Produkt der gärtnerischen Entwürfe ist. Sie haben keine andere Bedeutung als irgend jemandes Weigerung, sie zu tolerieren. Oder eher: Sobald sich erst einmal die empirischen Lösemittel verflüchtigt haben und nur harte Wertkristalle zurückgeblieben sind, stellen sich all ihre mannigfaltigen Bedeutungen als die Differenz heraus, mit der sich irgend jemand irgendwo geweigert hat zu leben. Es gibt, wie Dick Higgins vor einem Jahrzehnt darlegte, kognitive und postkognitive Fragen. Die ersteren haben viel von ihrer Verführungskraft verloren; die zweiten werden mit wachsender Häufigkeit gestellt. Kognitive Fragen entsprangen dem Axiom der herrschenden oder prospektiven Einheit der Welt. In der einen und einzigen Welt, einer Welt, die keinerlei Alternative zu sich duldet, ist es die Aufgabe herauszufinden, was diese Welt von denen verlangt, die ihren Platz in ihr zu finden wünschen. Die Fragen sind deshalb: »Wie kann ich diese Welt interpretieren, von der ich einen Teil bilde? Und was bin ich in ihr?« Postkognitive Fragen genießen nicht den Luxus, den das alte Axiom bot. Ja, sie haben kaum irgendwelche Axiome, die sie als einen zuverlässigen Anfang zugrunde legen können. Und sie haben auch keine klare Adresse. Bevor sie sich der Erforschung der Welt zuwenden, müssen sie herausfinden, welche Welt(en) es zu erforschen gibt. Also: »Welche Welt ist es? Was ist in ihr zu tun? Welches meiner Selbste soll es tun?« – in dieser Reihenfolge. Brian McHale projiziert einen späteren diskursiven Gebrauch zurück, wenn er Higgins’ Fragen in jeweils modernistische und postmodernistische Fragen umbenennt.33 Er beobachtet ebenso, daß nach

33 Brian McHale, Postmodernist Fiction, London 1987, S. 10.

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orthodoxen philosophischen Einteilungen kognitive Fragen zur Erkenntnistheorie gehören, während postkognitive Fragen primär ontologisch sind; also sind »postkognitive« Fragen nicht kognitiv; zumindest nicht im strikten Sinne. Sie greifen über die Grenzen der Erkenntnistheorie hinaus. Oder besser: Sie kehren zu der fundamentalen Frage nach dem Sein zurück, die zu klären ist, bevor die Erkenntnistheorie ihre Aufgabe ernsthaft in Angriff nehmen kann, und die die meisten epistemologischen Fragen, die während der Moderne gefragt worden sind, als geklärt voraussetzten. Und so sind die typisch modernen Fragen unter anderem: »Was kann man überhaupt wissen? Wer weiß es? Wie wissen sie das und mit welchem Grad an Sicherheit?« Die typisch postmodernen Fragen reichen nicht so weit. Statt die Aufgabe für den Wissenden zu lokalisieren, versuchen sie die Wissenden selbst zu lokalisieren. »Was ist eine Welt? Welche Arten von Welt gibt es, wie sind sie konstituiert und wie unterscheiden sie sich?« Selbst wenn sie das Interesse am Wissen teilen, artikulieren die beiden Typen der Untersuchung ihre Probleme verschieden: »Wie wird Wissen von einem Wissenden zum anderen weitergegeben und mit welchem Grad an Verläßlichkeit?«, im Unterschied zu: »Was geschieht, wenn verschiedene Welten miteinander konfrontiert werden oder wenn die Grenzen zwischen Welten verletzt werden?« Man beachte, daß postmoderne Fragen keinerlei Verwendung für »Gewißheit« haben, nicht einmal für »Verläßlichkeit«. Der Überlegenheitsdünkel der modernistischen Epistemologie erscheint in dieser pluralistischen Realität, mit der sich die postmoderne ontologische Forschung zuerst versöhnt hat, als hoffnungslos fehl am Platze. Jener überwältigende Wunsch nach Macht, der die Suche nach dem Unhintergehbaren belebte (und der allein sie beleben konnte), erregt hier nur geringe Leidenschaft. Allenfalls erregt er noch eine gewisse Verwunderung über das Selbstvertrauen, das einmal die Suche nach dem Absoluten als ein plausibles Projekt erscheinen ließ. Es scheint, daß in der Welt der universalen Ambivalenz der Fremdheit der Fremde nicht länger von der Ambivalenz dessen, was ist, und der Absolutheit dessen, was sein sollte, besessen ist. Dies 164

ist eine neue Erfahrung für den Fremden. Und da die meisten von uns diese Erfahrung des Fremden jetzt teilen, bedeutet das auch eine neue Situation für die Welt. Bei solch neuer Erfahrung bleiben wahrscheinlich weder der Fremde noch seine Welt dieselben. Aber mit welchen Konsequenzen? Richard Rorty hat kürzlich Prousts Leistung auf folgende Weise zusammengefaßt: »Wie Nietzsche befreite er sich selbst von der Furcht, es gebe eine schon vorhandene Wahrheit über ihn, eine reale Essenz, die andere entdeckt haben könnten. Aber Proust konnte das erreichen, ohne behaupten zu müssen, er kenne eine Wahrheit, die den Autoritäten seiner jungen Jahre verborgen geblieben sei. Er verstand es, die Autorität zu entthronen, ohne selbst ihren Thron einzunehmen, den Ambitionen der Mächtigen den Nimbus zu nehmen, ohne sie zu teilen.«34

Die große Chance der Postmoderne besteht darin, Prousts persönliche Errungenschaft in großem Maßstab nachzubilden. Die furchtbare Gefahr der Postmoderne ist, daß – wenn die Chance vertan wird – sie abgestorbene (oder lediglich überwinternde?) Ambitionen der adoleszenten Moderne wieder zum Leben erwecken und in ihren eigenen Zeitgenossen den Wunsch wachrufen könnte, sie wiederzubeleben. Die Geschichte, sagte Marx, vollzieht sich immer zweimal: zuerst als Tragödie, später als Farce. Aber schließlich kann Marx sich ja, wie in so vielen anderen seiner Voraussagen, hinsichtlich der Ordnung, in der die Gattungen einander folgen, geirrt haben.

34 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1991, S. 173.

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Eine Fallstudie zur Soziologie der Assimilation I: In der Falle der Ambivalenz Ich wollt’, ich wär ein Römer, denn als Volsker kann ich nicht sein das, was ich bin. – Bedingung? – Was für Bedingung kann wohl der erwarten, der sich auf Gnad’ ergab? Shakespeare, Coriolanus, I, x, 4–7

Im Titel dieses Kapitels liegt mehr als eine nur zufällige Bezugnahme auf den Ausdruck Gefangene der Ambivalenz, den Geoff Dench als Untertitel für seine scharfsinnige und einfühlsame Studie der Konflikte von Minoritäten in einer offenen Gesellschaft geprägt hat. Bei aller Anerkennung des Wahrheitsgehalts dieses Vorbildes bin ich doch der Meinung, daß die Ergebnisse dieses Kapitels besser durch die Metapher der Falle als des Gefängnisses vermittelt werden. Die Geschichte, die in diesem Kapitel erzählt wird, ist die des modernen Assimilationsangebots, das seine Opfer mit Eintrittskarten in eine Welt, die frei vom Stigma des Andersseins ist, ködert und sie damit in einen Zustand der chronischen Ambivalenz lockt. Wörtlich bedeutet Assimilation »gleich machen«. Die historische Etymologie zeigt, daß sich irgendwann im 17. Jahrhundert der Anwendungsbereich des Ausdrucks ausdehnte, bis er schließlich die Verwendungen, die heute am vertrautesten und gewöhnlichsten sind, umfaßte. Wie andere Ausdrücke, die aus der neuartigen Erfahrung der entstehenden Moderne und der Benennung von bisher unbenannten Praktiken hervorgegangen sind, restrukturierte er die Erinnerung an die Vergangenheit, indem er bislang unvermutete Aspekte herausstellte. Die Prozesse, die der neue Ausdruck einzufangen versuchte, wurden retrospektiv in vergangenen Gesellschaften postuliert, gesucht, unterstellt oder gefunden und dokumentiert, in Gesellschaften, deren Bewußtsein weder den Begriff 166

noch die mit ihm verbundene Vorstellung kannte. Eine bewußte, historisch geformte Handlung wurde sozusagen »enthistorisiert« und als ein ewiger und universaler Prozeß angesehen; als ein allgemeines Merkmal des gesellschaftlichen Lebens als solchem, das in der Natur des menschlichen Zusammenlebens (etwas wie Tardes allzumenschliche Neigung zur Nachahmung) wurzelte statt an irgendeinen historisch spezifischen politischen Körper oder ein historisches politisches Projekt geknüpft zu sein. Plötzlich schien es, als neigten überall und zu allen Zeiten Unterschiede zwischen den Verhaltensweisen der Menschen dazu, zu verblassen oder zumindest zu verschwimmen; als neigten Menschen mit verschiedenen Gewohnheiten, wann und wo immer sie eng zusammenlebten, dazu, im Verlauf der Zeit einander immer ähnlicher zu werden; als würden scharf unterschiedene Gewohnheiten allmählich nachgeben und ersetzt werden, so daß sich eine immer größere Gleichförmigkeit einstellt. Dieses Verständnis der Logik des menschlichen Zusammenlebens stand in krassem Gegensatz zu der ganz vertrauten und früher unbezweifelten, jetzt aber schnell unterdrückten und gewaltsam vergessenen vormodernen Praxis, die eine ständige Differenzierung akzeptierte, es als eine Tugend betrachtete, »bei seiner Sippe zu bleiben«, aber Nachahmung und Grenzüberschreitung ahndete und die Differenzen im großen und ganzen mit Gleichmut ansah: als eine Tatsache des Lebens, die ebensowenig geändert werden konnte wie Frühlingsstürme oder Schnee im Winter. Wenn auch der metaphorische Ursprung des Begriffs »Kultur« inzwischen ausführlich dokumentiert worden ist, so gilt dies nicht für den Begriff der Assimilation. Das ist bedauerlich, da die Anfänge des modernen Gebrauchs von »Assimilation« einen einzigartigen Zugang zu der soziologischen Hermeneutik dieses Terminus bieten, d.h. zur Aufdeckung derjenigen sozialen Handlungsstrategien, die ursprünglich in dem entlehnten Begriff ihren Ausdruck fanden, nur um sich später hinter ihrer neuen »naturalisierten« Benennung zu verstecken, sowie solcher Aspekte dieser Strategien, die den entlehnten Begriff überhaupt erst »passend« gemacht haben. 167

Wir entnehmen dem Oxford English Dictionary, daß die früheste verzeichnete Verwendung des Terminus »Assimilation«, die den späteren metaphorischen Verwendungen um ein Jahrhundert vorausging, biologischer Art war. In den biologischen Berichten des 16. Jahrhunderts (das OED verzeichnet 1578 als Datum des ersten dokumentierten Gebrauchs) bezog sich »Assimilation« auf die Akte der Absorption und der Einverleibung, die von lebenden Organismen vollzogen wurden. Unzweideutig stand »Assimilation« für Umwandlung, nicht für einen selbstgestalteten Wandel; ein Akt, der von einem lebenden Organismus an seiner passiven Umwelt vollzogen wurde. Assimilation bedeutete »in eine Substanz von seiner eigenen Natur umwandeln«; »die Verwandlung eines äußerlichen Materials in Flüssigkeiten und Gewebe, die mit den eigenen identisch sind, durch ein Tier oder eine Pflanze«. Die ersten metaphorischen Verwendungen des Terminus datieren von 1626, aber erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Bedeutung in ein unspezifisches »gleich machen« verallgemeinert. Der heutige Gebrauch, in dem sich das Gewicht von dem absorbierenden Organismus weg auf das »absorbierte Material« hin verlagert hat (»gleich sein oder werden …«), entwickelte sich später und wurde erst um 1837 geläufig – genau zu der Zeit, als zum ersten Mal von den entstehenden Nationalismen eine Einladung (oder, genauer, der Befehl ) sich zu assimilieren ausging. Man darf vermuten, daß das, was einen solchen biologischen Terminus für diejenigen attraktiv machte, die einen Namen für neue soziale Praktiken suchten, vor allem die Asymmetrie war, die er implizierte; die unzweideutige Einsinnigkeit des Prozesses (gerade die Opposition zu der »Nivellierung«, die von dem Bild impliziert wurde, »einander gleich zu werden«). Als Teil einer biologischen Erzählung stand »Assimilation« für die Aktivität des nahrungssuchenden Organismus, der Teile der Umwelt seinen eigenen Bedürfnissen unterordnete, und zwar indem er sie so transformierte, daß sie mit seinen eigenen »Flüssigkeiten und Geweben« (mit dem Organismus, der gleichzeitig die causa finalis, causa formalis und causa efficiens des Prozesses und seines Ergebnisses war) identisch wurden. Der Begriff rief das Bild eines lebendigen, aktiven Körpers wach, 168

der eigenmächtig und eigennützig etwas, das von ihm selbst verschieden war, seinen eigenen Inhalt eingab und ihm seine eigene Form überstülpte (er mußte es tun, um am Leben zu bleiben). Es war die Vorstellung eines Prozesses, in dessen Verlauf Form und Inhalt der anderen Entität einen radikalen Wandel durchmachten, während die Identität des »assimilierenden« Körpers erhalten und tatsächlich auf die einzig mögliche Weise konstant blieb – durch Absorption. Diese Bildlichkeit machte den biologischen Begriff für seine neue soziale semantische Funktion so hervorragend geeignet. Sobald er erst einmal seinem neuen metaphorischen Gebrauch zugeführt war, nahm der Begriff den neuen Trieb zur Gleichförmigkeit in sich auf, der sich am besten in dem umfassenden kulturellen Kreuzzug ausdrückte, auf den sich die neuen modernen Nationalstaaten (oder Nationen auf der Suche nach einem Staat) begeben hatten. Dieser Trieb reflektierte und inaugurierte die kommende Intoleranz gegenüber der Differenz. Der moderne Staat bedeutete die Entmachtung der kommunalen Selbstverwaltung sowie den Abbau der lokalen oder korporativen Mechanismen der Selbst-Erhaltung; im gleichen Maße untergrub der moderne Staat die sozialen Grundlagen der kommunalen und korporativen Traditionen und Lebensformen. Die Selbstreproduktion der kommunal verwurzelten Lebensformen wurde entweder unmöglich oder traf zumindest auf gewaltige Hindernisse. Dies zerbrach seinerseits die unbewußten Automatismen und die »Selbstverständlichkeiten«, die die Reproduktion der Strukturen menschlichen Verhaltens auf ihrer lokalen und kommunalen Stufe charakterisierten. Das menschliche Verhalten verlor den Anschein der Natürlichkeit, den es früher besessen hatte; ebenso ging die Erwartung verloren, daß die Natur ihren Lauf nehmen würde, selbst wenn (oder ganz besonders wenn) sie unbeaufsichtigt und sich selbst überlassen bliebe. Nachdem der kommunalen Selbstreproduktion das Rückgrat gebrochen war oder es doch schnell auseinanderbrach, mußte sich der moderne Staat in einem bisher beispiellosen Ausmaß mit der planmäßigen Verwaltung sozialer Prozesse befassen. Ja, er mußte planmäßig erzeugen, was in 169

der Vergangenheit regelmäßig von selbst zustande kam. Der moderne Nationalstaat »übernahm« dabei weder die Funktion und die Autorität lokaler Gemeinschaften und Korporationen, noch »konzentrierte« er die früher getrennten Kräfte. Er führte den Vorsitz über die Bildung eines gänzlich neuen Typs der Macht, die sich von allen vergangenen Mächten durch ihre beispiellose Reichweite, ihren Einfluß und Ehrgeiz unterschied.1 Dieser Ehrgeiz bestand darin, künstlich das zu schaffen, was man von der Natur nicht erwarten konnte; oder vielmehr, was man ihr nicht zugestehen wollte. Der moderne Staat war eine planende Macht, und planen bedeutete, den Unterschied zwischen Ordnung und Chaos zu definieren, das Richtige vom Falschen zu trennen, eine einzelne Struktur auf Kosten aller anderen zu legitimieren. Der moderne Staat propagierte einige Strukturen und setzte alles daran, die anderen zu eliminieren. Alles in allem forderte er Ähnlichkeit und Gleichförmigkeit. Das Prinzip des gleichen Rechts für alle, die auf einem gegebenen Territorium wohnten, der Identität der Untertanen als Bürger, brachte zum Ausdruck, daß die Mitglieder einer Gesellschaft, als Gegenstand staatlicher Aufmerksamkeit und Wachsamkeit, ununterscheidbar voneinander seien oder zumindest als solche behandelt werden sollten. Ebenso wurden alle gruppenspezifischen Qualitäten, die sie besessen haben mögen, für illegitim erklärt. Derlei Qualitäten erzeugten jetzt, als unautorisierte und folglich subversive Qualitäten, Angst; sie bezeugten die Nichtvollendung der Aufgabe, Ordnung zu schaffen, und die Verletzlichkeit der Ordnung. Ihrem Wesen nach war Assimilation deshalb eine Kriegserklärung an semantische Mehrdeutigkeit, an die Über- oder Unterbestimmung von Qualitäten. Sie war ein Manifest des »entweder/ oder«-Dilemmas: der Pflicht zu wählen und unzweideutig zu wählen. Noch wichtiger, sie war ein Anspruch von seiten eines Teils der Gesellschaft auf ein monopolistisches Recht, autoritative und bindende Bedeutungen für alle bereitzustellen – und auf diese 1 Ich habe diesen Prozeß ausführlich in meinem Buch Legislators and Interpreters, Cambridge 1987, Kap. 3 und 4, analysiert.

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Weise Teile des vom Staat verwalteten Körpers, die »nicht passen«, als fremd oder nicht genügend einheimisch, als unstimmig und fehl am Platze und deshalb als radikal reformbedürftig zu klassifizieren. Diese Prärogative war ein einziger (obgleich keinesfalls geringfügiger) Paragraph in dem Gesamtprojekt, den natürlichen Zustand der Dinge durch eine künstlich entworfene Ordnung zu ersetzen; und es war der Anspruch der Planer auf ein monopolistisches Recht, die »passenden« von den »unpassenden«, die »wertvollen« von den »wertlosen« Gruppen zu sondern und die Bedingungen zu ergründen, unter denen der Übergang von der zweiten zur ersten (wenn überhaupt) stattfinden konnte. Vor allem war die Vision der Assimilation eine umfassende Bestätigung der sozialen Hierarchie der bestehenden Lebensformen. Sie unterstellt die Überlegenheit der einen Lebensform und die Unterlegenheit der anderen; sie machte ihre Ungleichheit zu einem Axiom, nahm sie zum Ausgangspunkt aller Auseinandersetzungen und sicherte sie auf diese Weise gegen jede Überprüfung und Kritik. Sie verstärkte diese Ungleichheit noch dadurch, daß sie Ambivalenz (d.h. die Verletzung politisch und sozial durchgesetzter Kategorien) zu einem Verbrechen machte und ihre Träger bestrafte. Aus dem gleichen Grunde wurde die Diskriminierung des »unpassenden« Sektors des sozialen und politischen Körpers durch Verweis auf seine eigenen Schwächen, Unvollkommenheiten und seine wesentliche »Andersheit« wegerklärt. Die Anerkennung der Assimilation als Vision und Rahmen einer Lebensstrategie wurde gleichbedeutend mit der Anerkennung der bestehenden Hierarchie, ihrer Legitimität und vor allem ihrer Unveränderlichkeit. Vision und Programm der Assimilation waren auch eine wichtige Waffe in dem Bemühen des modernen Nationalstaates, den Zusammenhalt und die Widerstandskraft derjenigen konkurrierenden Institutionen sozialer Kontrolle weiter zu untergraben, die seinen Anspruch auf absolute Souveränität beschränkten oder hätten beschränken können. Es wurde erwartet, daß die Untertanen des Staates, die in ein Objekt der künftigen Assimilation verwandelt wurden, die Unterlegenheit ihrer gegenwärtigen Lebensform 171

eingestanden. Diese Minderwertigkeit wurde als ein Charakteristikum der Gruppe als Ganzes, als einer kollektiv getragenen kommunalen Lebensform, definiert, aufrechterhalten und erzwungen. Das Angebot, der stigmatisierenden Klassifikation durch die Annahme einer nicht-stigmatisierten Lebensform zu entkommen, wurde auf der anderen Seite auf die Individuen qua Individuen ausgedehnt. Assimilation war eine Einladung an individuelle Mitglieder der stigmatisierten Gruppen, die Loyalität zu den Ursprungsgruppen (oder zu den Gruppen, denen sie durch die klassifikatorischen Entscheidungen der staatlichen Behörden zugewiesen worden waren) preiszugeben, das Recht dieser Gruppen, richtige und verpflichtende Maßstäbe des Verhaltens zu setzen, in Frage zu stellen, gegen ihre Macht zu revoltieren und auf die Loyalität zur Gemeinschaft zu verzichten. Assimilation war ein Angebot, das über die Köpfe der kommunalen und korporativen Mächte hinweg und in direktem Widerspruch zu ihnen gemacht wurde. Assimilation war deshalb ein Versuch der Diskreditierung und Entmachtung der potentiell konkurrierenden, kommunalen oder korporativen Quellen gesellschaftlicher Autorität. Sie zielte darauf ab, den Griff zu lokkern, mit dem solche konkurrierenden Gruppen ihre Mitglieder umklammert hielten. Sie zielte, mit anderen Worten, auf die Eliminierung solcher Gruppen als Kräfte einer effektiven und lebensfähigen Konkurrenz. Sobald diese Wirkung erst einmal erzielt worden war – kommunale Behörden, die ihres Prestiges beraubt und deren legislative Macht wirkungslos gemacht worden war –, war die Drohung einer ernsthaften Herausforderung für die bestehende Herrschaftsstruktur praktisch beseitigt. Die potentiellen Konkurrenten waren ihrer Widerstandskraft und der Fähigkeit beraubt, mit auch nur einer entfernten Erfolgschance in einen Dialog einzutreten. Sie waren kollektiv machtlos. Es blieb den einzelnen Mitgliedern überlassen, den Versuch zu machen, sich von dem kollektiven Stigma der Fremdheit dadurch zu befreien, daß sie den Bedingungen genügten, die von den Torwächtern der herrschenden Gruppe gestellt wurden. Die Individuen waren den Torwächtern auf Gedeih und Verderb ausgelie172

fert. Sie waren Gegenstand genauer Untersuchung und Einschätzung durch die herrschende Gruppe, die die vollständige Kontrolle über die Bedeutung ihres Verhaltens ausübte. Was sie auch taten und welche Bedeutung sie ihren Handlungen auch verliehen, alles würde a priori die Kontrollkapazität der herrschenden Gruppe bestätigen. Ihr Ersuchen um Zulassung verstärkte automatisch den Anspruch der letzteren auf die Herrschaft. Die ständige Einladung, sich um den Eintritt zu bewerben, und die positive Antwort darauf bestätigten die herrschende Gruppe in ihrem Status als Besitzer, Wächter und Generalbevollmächtigter der höheren Werte und verlieh aus dem gleichen Grunde dem Begriff der »Wertüberlegenheit« materielle Substanz. Allein die Tatsache, daß die Einladung von ihr ausging, bestätigte die herrschende Gruppe in der Position der Macht des Schiedsrichters, einer Macht, die berechtigt war, Examina abzunehmen und die Leistung zu bewerten. Einzelne Mitglieder der Kategorien, die als unter dem Standard erklärt worden waren, wurden nun nach dem Ausmaß ihrer Konformität mit den Werten der herrschenden nationalen Elite gemessen und bewertet. Sie waren »progressiv«, wenn sie danach strebten, die herrschenden Muster nachzuahmen und alle Spuren der ursprünglichen Muster auszulöschen. Sie wurden als »zurückgeblieben« etikettiert, solange sie den traditionellen Mustern die Treue hielten oder nicht geeignet oder schnell genug waren, sich ihrer restlichen Spuren zu entledigen. Was die ständige Einladung besonders verlockend und moralisch entwaffnend machte, war die Tatsache, daß sie in der Verkleidung des Wohlwollens und der Toleranz daherkam; ja, das Assimilationsprojekt ging als ein Teil des liberalen politischen Programms, der toleranten und aufgeklärten Haltung, die die wertvollsten Züge eines »zivilisierten Staates« exemplifizierte, in die Geschichte ein. Die Verkleidung verbarg wirksam die Tatsache, daß das Assimilationsangebot, um sinnvoll zu sein, stillschweigend die Starrheit der diskriminierenden Normen und die Endgültigkeit des Verdikts der Unterlegenheit vorausgesetzt haben mußte, das über nonkonformistische Werte verhängt worden war. Toleranz, verstanden als Ermutigung »progressiver Haltungen«, die 173

sich in der Suche nach individueller »Selbstvervollkommnung« ausdrückten, war nur so lange bedeutungsvoll, wie die Maßstäbe des Fortschritts nicht zur Verhandlung standen. Unter der Politik der Assimilation war die tolerante Behandlung von Individuen unauflöslich mit der Intoleranz verquickt, die sich gegen Kollektivitäten richtete, gegen ihre Lebensweisen, ihre Werte und vor allem ihre wertlegitimierenden Mächte. Ja, ersteres war ein wichtiges Mittel bei der Förderung des zweiten. Die effektive Entrechtung alternativer werterzeugender und wertlegitimierender Autoritäten wurde als die Universalität der Werte dargestellt, die die Unterstützung der bestehenden Hierarchie besaßen. Tatsächlich freilich hatte die angebliche Universalität der autoritativ gutgeheißenen und geforderten Werte kein anderes materielles Substrat als die zweckmäßig geschützte Souveränität der über die Werte entscheidenden Mächte. Je effektiver die Unterdrückung möglicher Quellen der Herausforderung war, desto geringer war die Chance, daß der Anspruch auf Universalität und die behauptete absolute Gültigkeit der Wertansprüche als Funktion des Gewaltmonopols entlarvt werden würde. Der Grad, bis zu dem die lokal herrschenden Werte glaubhaft eine überörtliche Gültigkeit beanspruchen konnten, war eine Funktion ihrer lokalen Vorherrschaft.

Der Fall der deutschen Juden Ein beträchtlicher Teil der soziologischen Theorie der modernen Assimilation wurde in implizitem oder explizitem Bezug auf die Erfahrung der Juden artikuliert.2 Dies ist kaum zufällig, da sowohl das Assimilationsprogramm des modernen Nationalstaates als auch die Reaktionen der betroffenen Bevölkerung am vollständigsten und explizitesten im Kontext der jüdischen Assimilations2 Vgl. z.B. den Standardtext, Milton Gordon, Assimilation in American Life, London 1964.

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Probleme entwickelt worden sind. Da die Juden in praktisch jeder sich modernisierenden Gesellschaft in Europa dem Assimilationsdruck ausgesetzt waren, waren ihre Probleme zu keinem Zeitpunkt auf einen einzelnen Nationalstaat beschränkt und legten von Anfang an den Gedanken an eine vergleichende Perspektive nahe, worin die Notwendigkeit und die Möglichkeit der Verallgemeinerung implizit enthalten war. Der ganze Prozeß konnte so von einem überlokalen und übernationalen Standpunkt aus betrachtet werden; ein Umstand, der die universale Ausweitung der Grenzen und der inneren Widersprüche dieses Prozesses enthüllte, die andernfalls leicht übersehen worden wären. In den akademischen wie den populären Vorstellungen über die jüdische Assimilation, den jüdischen Eintritt in die moderne Welt (oder das jüdische Auftauchen aus dem Ghetto), nimmt die Geschichte der deutschen Juden eine zentrale und in vielerlei Bedeutung prototypische Stellung ein. Eine ganze Reihe von Umständen hat zu dieser prominenten Rolle beigetragen. Der offensichtlichste ist die Tatsache, daß beinahe alle jüdischen oder jüdisch geborenen Gründer und Heroen der modernen Kultur, von Marx bis Freud, Kafka oder Wittgenstein, ihre schöpferischen Beiträge zum modernen Bewußtsein auf deutsch geschrieben haben. Jede Untersuchung des sozialen und kulturellen Kontextes, der ihnen den Mut und die Entschlossenheit gab, zu zerstören und neu zu schaffen, und jede Suche nach einer eigentümlichen biographischen Erfahrung, die später in ihren Ideen neu verarbeitet und sublimiert werden sollte, führt unvermeidlich zur Untersuchung des jüdischen Lebens in Deutschland (oder, genauer, in den östlichen mitteleuropäischen Ländern, die unter dem Einfluß der deutschen Sprache und Kultur standen). Gleichermaßen offensichtlich ist die zentrale Stellung, die das deutsche Judentum (und, allgemeiner gesagt, die deutschsprachigen jüdischen Gemeinden) mehr als ein Jahrhundert lang unter allen anderen Teilen des europäischen Judentums einnahm, welche in den Einflußbereich der Modernisierungsprozesse gerieten. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und eine beträchtliche Zeit175

spanne der Zwischenkriegsjahre über rühmten sich die deutschen Juden, die reichste, bestsituierte, kulturell fortschrittlichste und schöpferischste Gemeinde in der Diaspora zu sein. In ihrer Gesamtheit spielten sie unbestritten die Rolle der Hauptlieferanten der jüdischen Ideologien, Selbstdefinitionen und Moden. In der Gestalt Moses Mendelssohns dienten sie als Vermittler in der Ehe zwischen Judaismus und Aufklärung. Durch Theodor Herzl leisteten sie denselben Dienst für die Ehe zwischen Judentum und dem modernen Nationalismus. Mit gleicher Macht und Autorität entwarfen sie die Muster für die Neueinschätzung und »Modernisierung« des jüdischen Rechts, für das Projekt der Emanzipation durch Akkulturation oder für die Fluchtwege aus der jüdischen Identität. Die Allgemeine Zeitung des Judentums hatte im Jahre 1890 jedes Recht darauf, sich als »geistigen Sammelpunkt für alle kultivierten Juden« zu bezeichnen. Ein etwas weniger offensichtlicher, gleichwohl entscheidender Faktor in der Prominenz des deutschen Judentums war seine Grenzposition zwischen den kleinen, gut verwurzelten und im großen und ganzen wohlhabenden jüdischen Gemeinden des Westens und der riesigen Ausbreitung des verarmten osteuropäischen Judentums. Deutsche Juden führten ein unsicheres, herausforderndes und abenteuerliches Leben an der Grenze in mehr als einem Sinne. Zusätzlich zu der sichtbaren geopolitischen Grenze gab es auch noch eine kulturelle: Während die westlichen Juden ihren Stolz in wachsender kultureller Verfeinerung fanden, sanken ihre östlichen Verwandten immer tiefer in das, was nach westlichen Maßstäben nur als vormoderner, rückschrittlicher, lächerlicher und beschämender Mystizismus, Aberglaube und »Mangel an Kultur« angesehen werden konnte. Näher am östlichen Judentum als jede andere westliche jüdische Gemeinde (tatsächlich unbehaglich nahe – die Einverleibung von Posen und Schlesien in das vereinigte Deutschland machte eine topographische, politische und soziale Trennung von dem »unzivilisierten« Stamm unmöglich), mußten die deutschen Juden die randständige Rolle der Ethnographen, kulturellen Dolmetscher und Vermittler übernehmen. Ihrer Autorität als des kol176

lektiven Erzählers gewiß, artikulierten sie die Identität und die Problematik des osteuropäischen Judentums zum Nutzen aller anderen jüdischen Gemeinden. Man kann die Hypothese wagen, daß ohne die deutsche Vermittlung die osteuropäischen Juden für ihre westlichen Brüder sowohl sprachlos wie unsichtbar geblieben wären – zumindest bis zum Beginn ihres massiven Exodus in den Westen im späten 19. Jahrhundert. Wie die Dinge lagen, waren ihrer Ankunft überall die deutsche Erzählung und das von ihr geschmiedete und verbreitete Stereotyp vorangegangen. Der Empfang, der ihnen im Westen bereitet wurde, und die Strategien, denen sie sich ausgesetzt sahen, wurden zuerst an den jüdischen Grenzposten in Deutschland ausprobiert und überprüft. Folglich blieb das deutsche Judentum für die Dauer der »Hochmoderne« und durch die Höhepunkte der jüdischen Assimilation hindurch die lebensnotwendige Klammer, die die beiden Zweige der jüdischen europäischen Diaspora zusammenhielt. Im Ergebnis, wenn auch nicht notwendig nach ihrem eigenen Plan, dienten sie als das Testgelände für die Lebensfähigkeit der kulturellen Assimilation als Mittel der sozialen Integration in einer modernen (oder eher sich modernisierenden) Gesellschaft. Aus demselben Grund kann ihre Geschichte das vollständigste Verzeichnis der Triebkräfte der Assimilation, der Konflikte, die sie mit sich führt und der Hindernisse, denen sie auf dem Weg zu ihrem Ziel begegnet, bieten. Nicht zuletzt rührt die außergewöhnliche Fülle und das paradigmatische Potential des Bildes, das die Geschichte des deutschen Judentums bietet, auch von der Tatsache her, daß die Modernisierung zuerst in Deutschland und den deutschsprachigen Ländern als ein bewußter, motivierter Prozeß erlebt wurde, der von Beginn an durch das Bewußtsein des letztlichen Zieles geprägt und deshalb von öffentlich diskutierten und bewußt gewählten Strategien geleitet war. In Übereinstimmung mit der deutschen Modernisierungserfahrung im allgemeinen war die jüdisch-deutsche Modernisierungserfahrung daher bis zu einem Grade selbstgesteuert, reflektiert und theoretisch begründet, der in anderen scheinbar ähnlichen Fällen keinerlei Parallele hat. Sie führte eine beeindruckende Fülle an ver177

arbeiteten und vorinterpretierten Zeugnissen mit sich, die einen wahrhaft einzigartigen Einblick in die Lebenswelt von Menschen gestatten, die in den Wirbelwind einer rasenden gesellschaftlichen Veränderung gerieten, während sie davon überzeugt blieben, die individuellen Schiffe, auf denen sie segelten, zu steuern. Was für Deutschland als Ganzes galt, wurde zwangsläufig in der Modernisierungserfahrung seines Judentums lebendig und selbstbewußt reflektiert. Wie Jacob Katz in dem jüngst von ihm herausgegebenen Buch kommentierte, wurde »die jüdische Modernisierung in Deutschland artikuliert«.3 Keine andere jüdische Gemeinde hat ihren Modernisierungsweg so gründlich dokumentiert. Wenn die Modernisierung woanders überhaupt diskutiert wurde, geschah das in der Regel in Form eines Kommentars zu oder einer Kritik an und einer theoretischen und pragmatischen Schlußfolgerung aus den Ideen, denen zuerst von jüdischen Denkern und Politikern in Deutschland eine artikulierte Form gegeben worden war. Aufgrund dieser Erwägungen wurde in unserer Untersuchung der Episode der jüdischen Assimilation, aber auch der allgemeinen soziologischen Mechanismen der modernen Assimilationsprozesse, die Geschichte der Juden, die in dem von Deutschen beherrschten Kulturraum lebten, als zentrales Beispiel und als hauptsächliche faktische Quelle ausgewählt.

Die Modernisierungslogik der jüdischen Assimilation Der Universalisierungsehrgeiz der entstehenden Nationalstaaten, der später zu einem globalen und zum wohl hervorstechendsten Zug aller Modernisierung wurde, war zuerst von der französischen Aufklärung verkündet und durch die Französische Revolution zu einem praktischen Problem für den größten Teil Europas gemacht worden – am lebendigsten und schärfsten durch die napoleoni3 Towards Modernity: The European Jewish Model, hrsg. v. Jacob Katz, New Brunswick 1987, S. 11.

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schen Eroberungen und den ersten modernen Versuch einer paneuropäischen Vereinigung, der auf sie folgte. Das erste Dämmern der universalistischen Ideale und Strategien fand die Juden immer noch unter so gut wie unveränderten Ghettobedingungen. Nach Meinung von Michael A. Meyer »wurde es im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend deutlich, daß die Begriffe einer universalen menschlichen Natur, eines universalen und natürlichen Rechts und einer universalen Rationalität den Ausschluß der Juden zu einer groben Anomalie machten. Aber es war eine Sache, abstrakt diese Schlußfolgerung zu ziehen, und eine andere, sie anzuwenden. Den meisten Autoren des 18. Jahrhunderts, besonders auf dem Kontinent, erschien der Jude aus Fleisch und Blut mit seinem Bart, seinen seltsamen Gewändern und dem gänzlich irrationalen zeremoniellen Gesetz als etwas Geringeres als ein menschliches Wesen.«4

Die Tatsache, daß sich die Juden vom Rest der Bevölkerung unterschieden, oder besser: von jedem der verschiedenen Teile der Bevölkerung, war keineswegs ungewöhnlich. Ganz im Gegenteil, scharf unterschiedene Lebensstile, die von den streng voneinander gesonderten Ständen oder Schichten praktiziert und ihnen zugeschrieben oder angerechnet wurden, waren während der Jahrhunderte, die der Moderne vorangingen, gang und gäbe. In diesem Sinne machte die Verschiedenheit der Juden sie nur zu einem Fall unter vielen in einer umfassenden Gruppe von Phänomenen, die vom sich modernisierenden Nationalstaat insgesamt als seine überragende, vielleicht bedeutendste Herausforderung und Aufgabe definiert wurden – als die Vielfalt, die der Gleichförmigkeit der modernen Sozialordnung weichen mußte. Wie in den übrigen Fällen, die in diese Kategorie gehören, war die kommunale Autonomie der Juden vom Standpunkt der absolutistischen, alles durchdringenden und monopolistischen Tendenzen der anmaßenden und kämpferisch nationalistischen Staatsgewalt aus ein Greuel. Sie mußte zerschmettert oder auf die 4 Michael A. Meyer, The Origins of the Modern Jew: Jewish Identity and European Culture in Germany, 1749–1824, Detroit 1979, S. 15.

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wenigen Merkmale reduziert werden, die dank des Desinteresses oder der Gleichgültigkeit des Staates als irrelevant und harmlos angesehen wurden. Der eigentümliche legale Status der Juden – legale Restriktionen und Privilegien, Einschränkungen in Fragen der Freizügigkeit, der Berufswahl und juristische Autonomie – mußte neuen universalen Rechtsregeln weichen, die keinerlei Gruppenvorrecht kannten und deshalb auch die rechtliche Form der Diskriminierung nicht kennen konnten. Wenn sich die gesetzliche Gleichheit nur sehr zögerlich in den deutschen Ländern ausbreitete, so hatte dies im engeren Sinne mit den Juden nichts zu tun; das Schicksal der deutschen Modernisierung war an die verwickelte Geschichte der deutschen Vereinigung gebunden. Die deutschen Juden, die neidisch die gesetzliche Gleichheit betrachteten, die ihren Verwandten jenseits des Rheins vom Code Napoléon gewährt wurde, und mit immer lauterer Stimme ihre eigene Gleichberechtigung forderten, strebten gleichwohl danach, einen Prozeß zu beschleunigen, der (all den zahlreichen und langwierigen Rückschlägen zum Trotz) ohnehin zur Vollendung kommen mußte; um so mehr wegen der Ungeduld Deutschlands im Modernisierungsprozeß. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutete schließlich die Untergrabung kommunaler Autonomie, Diskreditierung kommunaler Autorität, Schwächung der zentrifugalen Einflüsse der kommunalen und korporativen Eliten. Sie war ein unverzichtbarer Teil des Prozesses, der zur Instituierung der durch das Gesetzgebungs- und das Gewaltmonopol charakterisierten modernen Staatsgewalt führte. Die Abschaffung legaler Privilegien und Diskriminierungen war nur ein Aspekt des modernen Drangs nach Gleichförmigkeit. Die Modernisierung war auch ein kultureller Kreuzzug; ein machtvoller und rücksichtsloser Drang, Unterschiede in Werten und Lebensstilen, in Bräuchen und der Sprache, den Überzeugungen und im öffentlichen Benehmen auszurotten. Sie war zuerst und vor allem ein Drang, alle kulturellen Werte und Stile (und besonders solche Werte und Stile, die dem Gleichschaltungsprozeß Widerstand leisteten) neu zu definieren, mit Ausnahme derer, die von der moderni180

sierenden Elite als minderwertig eingestuft wurden: als Zeichen oder Stigmata der Rückschrittlichkeit, Zurückgebliebenheit, geistigen Minderwertigkeit oder, in extremen Fällen, des Wahnsinns. Der kulturelle Kreuzzug hatte die Etablierung einer strikten kulturellen Hierarchie zum Ziel. Treue zu diskreditierten Werten und Lebensstilen war gleichbedeutend mit Beschränkung auf die unteren Sprossen der kulturellen Leiter. Die Einzelpersonen, die auf solchen Loyalitäten beharrten, riskierten den Ausschluß aus dem Universum, das für eine missionarische Aktivität ausersehen war, und eine lebenslängliche Verurteilung zur Fremdheit. Wenn Individuen andererseits versuchten, die diskreditierten Werte abzuschütteln und statt dessen die anerkannten zu übernehmen, wurde dies als ein weiterer Beweis der universalen Gültigkeit und Wünschbarkeit der herrschenden Werte und der Überlegenheit ihrer sozialen Träger angesehen. In diese Falle gingen die Juden – und besonders die reichsten und gebildetsten unter ihnen – mit Begeisterung und Hingabe. Es leuchtete doch ein, daß, sobald erst einmal die kulturellen Idiosynkrasien ausgelöscht worden wären und sich die Verschiedenheit in einer gleichförmigen nationalen Kultur aufgelöst haben würde, das unterschiedslose menschliche Gesicht erscheinen und als solches erkannt werden würde. Im Rückblick auf die Ära der großen Hoffnungen und der bitteren Frustration, kommentierte Peter Pulzer »die unkritische Anerkennung der Orthodoxie vor 1848, daß die nationale Einheit der Deutschen die jüdische Rettung bringen würde; es gab eine allgemeine Unlust, die dunkle Seite allen – und nicht nur des deutschen – Nationalismus anzuerkennen, das intolerante, autoritäre, xenophobische und aggressive Potential in der nationalistischen Mentalität. Nichts veranschaulichte dies besser als die Bereitwilligkeit wichtiger Teile der jüdischen Meinung, die Illiberalismen der liberalen Ära zu unterstützen, wie etwa den Kulturkampf und die antisozialistischen Gesetze.«5

5 Peter Pulzer, »Jewish Participation in Wilhelmine Politics«, in: Jews and Germans from 1860 to 1933: the Problematic Symbiosis, hrsg. v. David Bronsen, Heidelberg 1979, S. 82.

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Was am Ende zählte, war die Tatsache, daß die einheimische Elite das Recht für sich beanspruchte und eifersüchtig hütete, darüber zu urteilen und zu entscheiden, ob die Bemühungen, die kulturelle Unterlegenheit zu überwinden, wirklich ernsthaft und vor allem erfolgreich gewesen seien (tatsächlich kann nicht oft genug betont werden, daß die ganze Idee der gesellschaftlichen Vervollkommnung als Aufgabe der Assimilation ihren Sinn aus dem Bestehen einer solchen fest etablierten und unbestrittenen Elite zog: assimilieren hieß – sei es auch nur indirekt – ihre unbezweifelbare Überlegenheit anerkennen). Für die einzelnen, die danach strebten, zu der Gesellschaft der Auserlesenen zugelassen zu werden, verwandelte sich die Welt in ein Testgelände und das Leben in eine permanente Gerichtssitzung. Sie hatten sich auf ein Leben unter Beobachtung eingelassen, auf eine lebenslängliche und niemals endgültige Prüfung. Sie lernten bald, wenn sie es nicht schon vorher gewußt hatten, daß sie unter Beobachtung standen, daß die Beobachtung niemals zu einem endgültigen und unwiderruflichen Urteil führen würde, und daß selbst das glänzendste Bestehen der nachfolgenden Prüfung sie nicht vor weiteren Prüfungen bewahren würde. Sie lernten auch, daß ihnen keinerlei Einfluß auf den Inhalt des Examens und die Maßstäbe, nach denen die Ergebnisse beurteilt werden sollten, eingeräumt werden würde. Dies waren festgelegte Prüfungen, und die ständige Prüfungsbehörde hatte volle Freiheit, die Vorschriften und die Regeln der Bewertung ohne Vorankündigung zu verändern. Philip Roth hat die Konsequenzen dieser asymmetrischen Machtstruktur in seiner gewohnt geistreichen und präzisen Art eingefangen: »Juden sind Leute, die nicht das sind, was Antisemiten sagen.« Die »Antisemiten« – oder vielleicht korrekter, die argwöhnischen, wachsamen und aufmerksamen Intendanten – schrieben das Szenario für das Bemühen der Juden um Selbstkonstruktion und Selbstvervollkommnung, indem sie die Eigenschaften auflisteten, für die die Juden verdammt wurden. Sie, die Intendanten, hatten über die gesamte Länge des Assimilationsdramas die Fäden in der Hand: vom Schreiben des Szenarios bis zur Kritik 182

der Produktion und der letzten Sanktion, die Besetzung zu feuern. Was die Juden taten, erhielt seine Bedeutung durch die Bewertung anderer. Die Juden waren dazu aufgerufen zu beweisen, daß die gegen sie erhobenen Anklagen unwahr seien (oder nicht mehr wahr); aber dieselben Leute, die die Vorwürfe erhoben, würden über die Kraft der Beweise befinden. Sowohl der Aufruf zur Assimilation wie die äußerste Unwahrscheinlichkeit, ihr in angemessener Weise gerecht zu werden (d.h. in einer Weise, die die Jury wahrscheinlich befriedigend finden würde), stammen aus derselben Quelle: der Machtstruktur der kulturellen und sozialen Herrschaft, die durch die Abschaffung legaler Differenzierung und die Verkündung politischer Gleichheit nur um so überwältigender und unbezweifelbarer geworden war. S. S. Prawer faßte seine lebenslangen Studien über das Leben und Werk von Heinrich Heine in dem Ergebnis zusammen, daß sein Held alles getan hatte, wozu man ihm geraten und wozu man ihn aufgestachelt hatte, um sein Judentum »loszuwerden«. Heine versuchte, sich von der Aufgabe freizusprechen, »indem er demonstrativ zeigte, daß er für die kaufmännische oder Bankenlaufbahn, in der so viele Juden […] bemerkenswert erfolgreich gewesen waren […] ungeeignet war«; »indem er an den Universitäten Bonn und Göttingen vorwiegend nicht-jüdische Gesellschaft suchte und die Duellierbräuche der studentischen Burschenschaften unterschrieb«; indem er offen und öffentlich die judaistische Überlieferung als ein Fossil vergangener und peinlicher Zeiten desavouierte, ohne Nutzen und Wert für den modernen Menschen; indem er ärgerlich dagegen protestierte, daß er von Feinden oder Freunden als Jude definiert wurde; indem er sogar akzeptierte, daß das Judentum eine »Krankheit« sei, die der Heilung bedürfe, und sich in der Verhöhnung und Lächerlichmachung aller Aspekte des Verhaltens oder Aussehens, die als typisch jüdisch stereotypisiert worden waren, hervortat, wie »physische Ungeschicklichkeit und fehlende Anmut, die ›jüdische‹ Nase, die unhygienische Erscheinung der Juden aus Osteuropa, die jüdische Pfandleiherei und der Handel mit abgelegten Kleidern, das geschäftliche ›Genie‹ der Juden, das Par183

venü-Verhalten der jüdischen nouveaux riches, die Fresser, die ›die höheren Geistesflüge verachteten‹«, oder die Spuren von Jiddisch in der Sprache.6 Ja, Heine bediente sich tatsächlich sehr freizügig aus dem Katalog der jüdischen Sünden und Fehler, die, nach dem Willen der herrschenden kulturellen Elite, als Vorbedingung für das Urteil »Alles ist vergeben« bereut oder wiedergutgemacht werden mußten. Er gebrauchte sie mit einer Leidenschaft, die dank seiner eigenen überlegenen Gabe des Witzes und der Ironie wie seines sengenden Gefühls der Scham die Leidenschaft der Außenseiter häufig als geradezu zwergenhaft erscheinen ließ. Da er einmal die Überlegenheit der Ideale akzeptiert hatte, die ihm nicht durch Geburt zu eigen waren, muß Heine von dem Wunsch überwältigt gewesen sein, sich von diesem Geburtsmakel zu befreien, den die akzeptierten Ideale verdammten. Und trotzdem blieben Heines Anstrengungen unschlüssig und am Ende unbelohnt. Je lauter er seine Emanzipation vom Judentum bekannte, desto deutlicher trat sein Judentum hervor. (Marthe Robert schrieb über Freud, der, anders als Heine, niemals sein Judentum verleugnete, sondern glaubte, daß es zur Humanwissenschaft als solcher beitrage: »Seine Versuche, nicht aufzufallen, zogen erst recht die Aufmerksamkeit auf ihn«; Freud wurde »als Jude kenntlich gerade an dem, womit er sich unkenntlich zu machen glaubte«.7) Das Zurschaustellen der assimilatorischen Leidenschaft wurde als überzeugendster Beweis für seine jüdische Identität wahrgenommen. Für die Franzosen, unter denen Heine sich schließlich als selbsternannter Gesandter und Fürsprecher der deutschen Kultur niederließ, mag er ein Deutscher gewesen sein. Für die Deutschen war er unverkennbar und unabänderlich ein Jude. Nichts, was Heine tat und tun konnte, half ihm. Ebensowenig half Marx der Versuch, sich dadurch als nicht-jüdisch auszuweisen, daß er seine politischen Meinungsverschieden6 S. S. Prawer, Heine’s Jewish Comedy, Oxford 1983, S. 760f. 7 Marthe Robert, Sigmund Freud – zwischen Moses und Ödipus. Die jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse, München 1974, S. 19.

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heiten mit solchen Waffen ausfocht wie der, seinen ideologischen Gegner Lassalle als einen »jüdischen Nigger« abzutun oder seinen Widerwillen gegen Lassalles »ewiges Gerede mit der falsch aufgeregten Stimme, den unästhetischen, demonstrativen Gesten, dem belehrenden Ton« ebenso wie das »unkultivierte Essen und die geile Lust« zu verkünden. Die resignierte Weisheit von Ludwig Börne (Heines und Marx’ Zeitgenosse): »Einige beschuldigen mich, ein Jude zu sein; einige entschuldigen mich dafür. Einige loben mich sogar dafür, daß ich Jude bin. Aber alle denken daran«8, brachte die Erfahrung seiner ganzen Generation zum Ausdruck und nahm die von mehreren künftigen Generationen deutscher Juden vorweg. Viele Jahrzehnte nachdem diese Worte niedergeschrieben worden waren, sollte ein anderer deutscher Jude, Jakob Wassermann, herausfinden, daß seine Berührung, so deutsch sie sein mochte, überall den Stempel des Judentums hinterlassen würde. Wie sein Freund voller Sympathie, gleichwohl ohne Hoffnung auf Rettung erklärte: »Judentum ist wie ein intensives Färbemittel; die geringste Quantität reicht hin, um einer unvergleichlich größeren Masse seinen Charakter zu geben oder wenigstens Spuren davon.« Wassermann fand keinen Beweis, um seinen Freund zu widerlegen. Alles, was er aus den harten Erfahrungen seines Lebens lernte, bestätigte die Wahrheit der Meinung seines Freundes. Niemand unter seinen deutschen Kritikern und Genossen räumte »mir die deutsche Farbe, die deutsche Prägung« ein – selbst wenn die ganze Welt seine Romane als gelungene Beispiele hochrangiger deutscher Literatur ansah. Alles, was seine deutschen Leser – Bewunderer und Kritiker gleichermaßen – in seinem Werk als untadelhaft und unangreifbar »deutsch« ansahen, ohne jede Nuance oder Schattierung, die es von den gültigen Maßstäben des deutschen Romans unterschieden hätte, schrieben sie jüdischem Eifer, Klugheit oder der unheimlichen Gabe der Nachahmung zu – nicht Wassermanns 8 Sander L. Gilman, Jewish Self-Hatred: Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore 1986, S. 206f., 162.

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Deutschtum. »Was unbewußt und pflanzenhaft daran war, schien ihnen ein Produkt der Erklügelung, Ergebnis jüdischer Geschicklichkeit, schlauer jüdischer Ein- und Umstellung, gefährlicher jüdischer Täuschungs- und Bestrickungsmacht.«9

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Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, Berlin 1987, S. 55, 86. Wassermanns Erfahrung als die eines Juden, der die Sprache und Kultur des Gastlandes und seiner Heimat annahm, war keineswegs einzigartig. Sie wiederholte sich überall in Europa. Unter den polnischen Fällen, die dem von Wassermann ähnlich waren, schrieb Artur Sandauer (»O sytuacji pisarza polskiego pochodzenia zydowskiego w XX wieku« [Über die Situation des polnischen Schriftstellers jüdischer Herkunft im 20. Jahrhundert], in: Pisma Zebrane, Bd. 3, Warschau 1985, S. 468): »Sich assimilieren« bedeutet »schutzlos dem Blick der anderen ausgesetzt sein« und ohne Murren die richterlichen Maßstäbe und die ästhetischen Kriterien anderer zu akzeptieren. Daher muß das sich assimilierende Individuum »auch seiner eigenen Häßlichkeit zustimmen«. Jüdisch wurde als häßlich deklariert, und dasselbe geschah mit allen »jüdischen Eigenschaften«. Man konnte etwas tun (zumindest theoretisch), um der Häßlichkeit der jüdischen Religion oder der jüdischen Gewohnheiten und Sprechweisen zu entkommen: durch Konversion oder Selbstzucht. Es gab nichts, was man hinsichtlich des eigenen Aussehens tun konnte – und dieses verruchte Gift der Gene neigte dazu, unversehrt aus gleichgültig wie vielen Eimern voll Taufwasser wiederaufzutauchen. Der polnische Dichter Antoni Słonimski, der, selbst Christ, von einem schon christlichen Vater abstammte, erbte von seinen Vorfahren ein charakteristisch jüdisches Gesicht zusammen mit einer leidenschaftlichen Verehrung der polnischen Kultur; das zweite half ihm nicht gegen ersteres. Wie die anderen – die Nicht-Konvertierten –, die, die offen ihre jüdischen Wurzeln zur Schau stellten, und die, die versuchten, sie zu verstecken oder zu verleugnen – war Słonimski als ein Jude disqualifiziert worden. Die entstehende moderne Kultur Polens war voll von konvertierten und nicht-konvertierten Juden. Da sie aus urbanen Zentren kamen und sich der besten Ausbildung rühmten, die Polen bieten konnte, nahmen sie leicht die Rolle der kulturellen Schiedsrichter ein, nach denen die einheimischen Dichter und Schriftsteller, die häufig von ländlicher, wenn nicht bäuerlicher Herkunft waren, verlangten, um sich von ihnen führen und

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Nach vielen Jahren unaufhörlicher Arbeit und einer Anzahl anerkannter literarischer Leistungen verlor Wassermann den Glauben daran, daß seine Bemühungen zum Erfolg führen würden. Er begann zu begreifen, daß es kein zeitweiliger Rückschlag, kein zufälliges Ergebnis der Mißachtung oder des Mißgeschicks war, daß seine Werke nicht als Beiträge zur deutschen Literatur, deutschen Kunst, deutschen Kultur oder zum deutschen Bewußtsein gewürdigt wurden. Bitter sagte Wassermann den Träumern Lebewohl, deren Illusionen er einst geteilt hatte und deren Naivität er jetzt begriff: »Keine Tat, keine Entselbstung, nicht Schweiß noch Blut, nicht Bild noch Figur, nicht Melodie noch Vision« wird zureichen, »ihm [einem deutschen Juden] das Vertrauen, die Würde, die Unantastbarkeit von vornherein zuzugestehen, die im gegnerischen Lager der Geringste ohne Abzug genießt.« Weil er von dieser unabänderlichen Wahrheit nichts erfährt, nichts weiß oder sie nicht zugeben würde, wird dem deutschen Juden keine Demütigung erspart. Auf dem Weg zur letzten Niederlage wird er zu einer lächerlichen und verhöhnten Figur. »Ich mußte die glühendste Überredung, die äußerste Anstrengung anwenden, wo andere sich mit einem ›seht her‹ begnügen durften«; er ist versucht, sich auf ein Verhalten einzulassen, das diese feindselige und mißtrauische Meinung zuerst verlangt hatte, nur um es später als Beweis für jüdische Arroganz und Frechheit und als einen zwingenden Einwand dagegen anzuführen, dem Zeloten das volle Bürgerrecht auf dem Boden der einheimischen Kultur zu gewähren. Und er wird zur Jagd nach einem Ziel aufgefordert, dessen Ferne mit der Größe der Anstrengung, es zu erreichen, wuchs, so daß die Demütigung für die Läufer kein Ende finden und es keinen Mangel an Entschuldigungen für ihre Verleumder geben würde: »Mit jedem neuen [Folgegleichsam zum Ritter schlagen zu lassen. Wie zu erwarten war, wuchs mit ihrer Bedeutung für die polnische Kultur auch die Intensität und Ausbreitung des polnischen Antisemitismus. Daher stammt »das einzigartige Phänomen: die beliebtesten Dichter wurden zu den am meisten gehaßten Personen«.

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gang] sah ich mich vor derselben Notwendigkeit wie mit dem vorherigen, ein Sisyphusbeginnen, das jedesmal meine Kraft bis zur Neige erschöpfte. Andere hatten laufenden Kredit; sie konnten gelegentlich auf den Kredit hin lässig werden; ich mußte mich stets wieder legitimieren, stets mit meinem ganzen Vermögen, wie einer, dem es nicht erlaubt ist, sässig zu sein und auf erworbenem Grund zu ackern und zu ernten.«10

10 Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, S. 90, 78. Wieder bietet Marthe Robert eine knappe und präzise Zusammenfassung des Problems: »Der Einheimische [bedarf] eben keiner besonderen Anstrengungen, um sich den Sitten und Denkgewohnheiten seines Landes anzupassen, während der Fremdling, der unaufhörlich vor Rätseln steht, schon dadurch deutlich auffällt, daß er nicht nur für komplizierte Vorgänge, sondern für die simpelsten Dinge, für all die kleinen Banalitäten, die im täglichen Leben ständig ganz mechanisch getan oder gesagt werden, eine Erklärung braucht.« (Sigmund Freud – zwischen Moses und Ödipus, S. 19) Ein jüngerer Zeitgenosse von Wassermann, Walter Benjamin (der zu Recht von George Steiner als der wichtigste deutsche Ästhetiker und Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts bezeichnet worden ist), drückte prägnant aus, was Wassermann und andere wie er über die Feinheit der Beziehungen zwischen dem, was sie taten und wie sie gesehen und behandelt wurden, lernten: »Der Mensch also ist es im Grunde nicht, der ein Schicksal hat, sondern das Subjekt des Schicksals ist unbestimmbar. Der Richter kann Schicksal erblicken, wo immer er will; in jeder Strafe muß er blindlings Schicksal mitdiktieren. Der Mensch wird niemals hiervon getroffen, wohl aber das bloße Leben in ihm, das an natürlicher Schuld und dem Unglück Anteil kraft des Scheins hat.« (»Schicksal und Charakter«, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 1977, S. 46) An anderer Stelle schrieb Benjamin emphatisch über den Konflikt des courtiers, dessen sprichwörtliche und verachtete Rückgratlosigkeit nur zum Teil durch den Mangel an Charakter erklärt werden konnte: Er spiegelte auch eine hoffnungslose, verzweifelte Niederlage durch eine undurchdringliche Konjunktion bösartiger Konstellationen wider, die »eine massive, beinahe dingliche Färbung angenommen haben« (zitiert nach One Way Street and Other Writings, »Introduction« von Susan Sontag, London 1985).

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Die Dimensionen der Einsamkeit In dem Maße, wie die Ablehnung die schreckliche Regelmäßigkeit alltäglicher Routine annahm, verwandelte sich die Einsamkeit von einem episodischen Mißgeschick in den Normalzustand. Einsamkeit war jetzt die Welt, in der das Geschäft des Lebens geführt werden mußte und der sich das Selbst anzupassen hatte, um das Leben mit Bedeutung zu versehen. Als der kundige Sezierer der menschlichen Seele, der er war, bot Wassermann einen kompromißlosen Einblick in diese Welt der Einsamkeit, die in dem entvölkerten, ambivalenten und bedeutungslosen Raum schwebte, der sich zwischen unzugänglichen Welten der Zugehörigkeit und der Gemeinsamkeit erstreckte: »Ich wurde als Mensch nicht als zugehörig gefordert, weder von einem einzelnen noch von einer Gemeinschaft, weder von den Menschen meines Ursprungs noch von denen meiner Sehnsucht, weder von denen meiner Art noch von denen meiner Wahl. Denn zu wählen hatte ich mich ja nachgerade entschlossen, und die Wahl hatte stattgehabt. Von jenen habe ich mich mehr durch inneres Geschick als durch freien Entschluß geschieden, diese aber nahmen mich nicht auf und an.«11

Kurt Lewin konnte im Rückblick aus seinem amerikanischen Exil auf das Drama der unerwiderten und unvollendeten Liebesaffäre der Juden mit dem Deutschtum die intensiv personalisierte soziale Tragödie der Ambivalenz verallgemeinern, die Wassermann mit so vielen anderen seiner eigenen und der vorhergehenden Generationen teilte:

11 Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, S. 36. Von Marthe Roberts gibt es einen Bericht über eine ähnliche Erfahrung Freuds: Wenn er Deutscher werden sollte, so hatte er »kurz gesagt, den Juden in sich zu unterdrücken im Namen von etwas, das er nicht oder noch nicht oder nur in seinen eigenen Augen war, aber durchaus nicht für die Gemeinschaft, in der aufzugehen er sich sehnte« (Sigmund Freud – zwischen Moses und Ödipus, S. 19).

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»Es ist charakteristisch für Individuen, die die Grenze zwischen sozialen Gruppen überschreiten, daß sie nicht nur über ihre Zugehörigkeit zu der Gruppe, in die sie eintreten wollen, im Ungewissen sind, sondern auch über ihre Zugehörigkeit zu der Gruppe, die sie verlassen. Nicht die Zugehörigkeit zu vielen Gruppen ist die Ursache der Schwierigkeit, sondern eine Ungewißheit über die Zugehörigkeit.«12

Als sich die Zeichen der Ablehnung mehrten, verlor die gebildete Elite unter den deutschen Juden immer mehr die Hoffnung, daß ihre Forderung nach voller und unbedingter Teilhabe an der deutschen Gesellschaft und Kultur anerkannt worden war, oder daß auch nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestand, daß Anerken12 Kurt Lewin, Resolving Social Conflicts, hrsg. v. Gertrud Weiss Lewin, London 1948, S. 148, 179. Vom Leben der in die polnische Kultur assimilierten Juden zwischen den Kriegen hat Efraim Kaganowski, ein jüdischer Schriftsteller aus Warschau, einige düstere Skizzen hinterlassen: »Café Ziemianska, wo sich die polnisch-jüdische Avantgarde versammelt. Schriftsteller, Dichter, Künstler kommen hierher – eine merkwürdige Familie, die sich bei jeder Gelegenheit über die ›Jüdischen Treffen‹ beklagt. Sie sind sich ihres Polentums noch nicht sicher und bemerken plötzlich, daß sie nur von anderen Juden umgeben sind. Das ist der Grund, weswegen sie sich hier so wohl fühlen, zu Hause.« »Es ist hoffnungslos in den engen jüdischen Straßen. Aber es ist auch trübe in den reichen jüdischen Häusern. Und erst spät in der Nacht kannst du in einem großen jüdischen bürgerlichen Restaurant […] Geschöpfe aus einer anderen Welt treffen, die du bislang noch nie an einem jüdischen Ort gesehen hast. Sie wirken wie Leute, die sich verirrt haben oder wie Touristen auf der Suche nach Exotik. Ein Journalist flüstert: ›Siehst du den Mann da drüben, mit der Frau? Weißt du, wer sie sind?‹ Sie befanden sich zum ersten Mal in einer jüdischen Umgebung […]. Nach einer Weile sah ich jenen berühmten Assimilator mit seinem Gefährten in der jüdischen Menge tanzen. Aber dieses jüdische Nachtleben berauscht nicht. Auf ihrem Weg zurück nach Hause fühlen sich die Nachtgäste nicht betrunken. Die jüdischen Augen sind furchtsam und wachsam. Diese Menschen möchten in der Menge zerdrückt werden, damit sie aufhören können zu fühlen, wie einsam sie sind.« (Warszawskie Opowiadania [Warschauer Geschichten], Warschau 1958, S. 174f.)

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nung jemals gewährt werden würde. Was die Ungewißheit besonders unerträglich machte, war das Fehlen einer hinteren Grabenlinie, in die sie sich im Fall einer Niederlage zurückziehen konnten. Da die Rückzugslinien zu der ursprünglichen jüdischen Gemeinschaft nicht länger passierbar waren, saßen sie in einem Niemandsland fest, wo sie von allen Seiten den feindlichen Granaten ausgesetzt waren, ohne daß ein Ort in Sicht gewesen wäre, wo sie sich hatten verbergen können – außer den Kratern, die von den vergangenen Treffern zurückgeblieben waren. Natürlich, sie hatten die alten Gräben verlassen, um voranzukommen. Aber sie verließen sie auch, weil die alten Gräben kein verläßlicher Schutz mehr zu sein schienen oder nicht mehr so aussahen, als seien sie der Verteidigung wert. Als wie unwirksam sie sich auch immer in anderen Hinsichten herausstellen mochten, die unmittelbare, unleugbare, spürbare Wirkung des Assimilationsdrucks des modernen oder sich modernisierenden, nationalen oder nationalisierenden Staates war die Diskreditierung von privaten Armeen und kollektiv errichteten Festungen. Verlockt von den Angeboten, die sich nur auf Einzelpersonen erstreckten, verließen die Mitglieder, wenn sie konnten, ihre gemeinschaftlichen Verstecke, und sahen sie, wenn sie es nicht konnten, eher als Gefängnisse denn als Schutzbauten an. Gemeinschaften, die in der Vergangenheit gelernt hatten, in einer feindlichen oder gleichgültigen Umgebung zu leben und zu überleben, konnten nicht gut ihre Integrität über lange Zeit bewahren, wenn sie mit den täuschend wohlwollenden individuellen Angeboten an Heimat und Brüderlichkeit konfrontiert wurden, die durch die Alternative einer deutlichen und uneingeschränkten Verdammung im Falle der Verweigerung nur um so attraktiver gemacht wurden. Diese Gemeinschaften waren nicht nur nicht die einzige Heimat, die gerade auf dem Markt waren, sondern ihre Wohnqualität war in Frage gestellt und für obsolet und minderwertig erklärt worden. Die verbleibenden Bewohner stießen sich an ihren Gemeinschaftspflichten und versuchten alles mögliche, sie auf das Notwendigste zu beschränken, auf Routinehandlungen, deren Bedeutung sie weder verstan191

den noch auszuloten wünschten. Angezogen von den günstigen Angeboten in anderen Vierteln, empfanden die Bewohner ihre gegenwärtigen Adressen immer mehr als Belastung – manchmal als degradierend, immer aber als anstrengend. Nach wenigen Jahrzehnten des Assimilationsabenteuers war nur noch wenig von der vormodernen Kohärenz der jüdischen Welt übrig. Immer neue Generationen wurden in diese Welt hineingeboren und ihr durch ihre Geburt zugewiesen. Aber sie verstanden die Bedeutung der Zuweisung nur sehr schlecht. Was sie sahen, konnte kaum Begeisterung auslösen, noch viel weniger zur Hingabe inspirieren. »Man bekannte sich zu den Religionsgenossen, obwohl von Genossenschaft wie von Religion kaum noch Spuren geblieben waren. Genau betrachtet war man Jude nur dem Namen nach«, erinnert sich Wassermann seiner Jugend, die er im Schatten einer modernen Synagoge im »quasi-byzantinischen Stil« verbrachte, deren »parvenühafte Prächtigkeit über die fehlende Gemütsmacht des religiösen Kultus nicht hinwegtäuschen kann«.13 Sobald er sich einmal auf die lange Reise zurück zum Judaismus begeben hatte, dämmerte es Gershom (damals Gerhard) Scholem, daß die jüdische Identität seines Vaters viel zu oberflächlich war, als daß er die Wurzeln, die er schlagen wollte, der Umgebung hätte anpassen können. Diese Identität war auf ein Ritual reduziert und sorgfältig von allen Emotionen befreit. Die jüdische Tradition wurde, obgleich sie akzeptiert und (flüchtig) beachtet wurde, für die neuerwachte jüdische Sensibilität viel zu leichthin behandelt, als daß er dies hätte verkraften können. Er fühlte sich tief gekränkt, als sein Vater, ein repräsentatives Mitglied des »liberalen jüdischen Mittelstands«, »der zahlenmäßig weitaus stärksten Gruppe« unter den deutschen Juden seiner Zeit, seine Zigarre an einer Sabbatkerze anzündete und darüber einen »Mock-Segensspruch« aussprach: »boirei pri tobakko«.14 Scholem gelangte zu der Über13 Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, S. 14ff. 14 Gershom Scholem, »Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900–1933«, in: Judaica 4, Frankfurt/M. 1984, S. 238–241.

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zeugung, daß, wenn er sich als Jude identifizieren müßte (und Scholem meinte damit nicht, weder in jenem Stadium noch zu irgendeiner späteren Periode seines Lebens, die jüdische Orthodoxie in ihrer rabbinischen Version), dann müßte er sich zuerst des vorgespiegelten Judentums in der Form entledigen, die von dem, was von der jüdischen Gemeinde in Deutschland zurückgeblieben war, aufrechterhalten und perpetuiert wurde. In seinem berühmten, obgleich niemals abgeschickten Brief an seinen Vater beklagte sich Franz Kafka, daß ihm kein »jüdisches Material« angeboten worden sei, aus dem er seine Identität hatte bilden können; man konnte kaum die langweiligen und gleichgültigen Synagogendienste und possenhaften, nicht ganz ernst genommenen Passah-Feste als ein Material ansehen, aus dem man anderes hätte formen können als geistige Heimatlosigkeit. Kafka war dazu verdammt, in der Welt zu leben, »in die seine Geburt ihn gestellt hat, ohne ihm das Recht zu geben, sich in ihr zu Hause zu fühlen«15; ein Teil dieser Gesellschaft würde ihn immer als Außenseiter und Eindringling ansehen (»Es ist ein Unglück«, beklagt sich Kafka in einem Brief an seine Schwester Ottla, »daß man sich niemals gleich vollständig vorstellen kann«), der andere Teil bot ihm zuwenig Bausteine und keinen Mörtel, um sich ein Haus zu bauen. Genau diese Leidenschaft, mit der die Juden versuchten, sich von dem zu befreien, was die einheimischen Eliten zum Merkmal eines Fremden erklärten, wurde selbst in das Merkmal des Jüdischseins umgeschmiedet. Mit einer verdrehten Logik, die sich für ihre Opfer eher wie Zauberei ausnahm, wurde die jüdische Entjudung, die Übung in Bescheidenheit und Selbstverleugnung, von der einheimischen Meinung als Verjudung wahrgenommen, d.h. als jüdische Invasion und Eroberung lebenswichtiger Gebiete des sozialen und kulturellen Lebens der Nation, die von einem zersetzenden fremden Einfluß freigehalten werden sollten. (Wagner, überzeugt, einen wertvollen Beitrag zur deutschen Kultur zu leisten, beschul-

15 Marthe Robert, Einsam wie Kafka, Frankfurt/M. 1987, S. 14.

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digte die jüdischen Kunstler, die Künste in einen »Kunstwarenwechsel« zu verwandeln.)16 Als Heine und Börne sich als Journalisten hervortaten – zu stolzen Meistern der direkten Rede, des leichten Stils, des informierten und ironischen Kommentars wurden –, wurde der Journalismus als solcher zu einem Symbol für das Judentum – eine jüdische Erfindung für alle, ein jüdisches Rückzugsgebiet für einige, eine jüdische Verschwörung für die feindseligsten unter den einheimischen Meinungsmachern. Die akute und unaufhebbare Spannung zwischen der geschmeidigen jüdischen Partikularität und der Utopie der Assimilation war, in Jacob Katz’ Worten, dazu bestimmt, »ein zentraler Zug in der Geschichte der jüdischen Gemeinde« im nachaufklärerischen Deutschland zu bleiben.17 Die Partikularität blieb elastisch, teils, weil die legale Emanzipation zu spät für die Juden kam, als daß sie noch die altetablierten Berufe hatten ergreifen können, die ihnen früher verboten waren; teils, weil sie fortfuhren, »die typisch jüdischen« Berufe zu praktizieren, auf die sie in der Vergangenheit beschränkt und in die sie eingeschlossen worden waren; aber auch, weil bemerkenswerterweise in dem Augenblick, wo sie neue Berufe ergriffen und sich in ihrer Ausübung hervortaten, diese neuen Berufe eine verblüffende Tendenz zeigten, als jüdisch reklassifiziert zu werden. Die professionelle pragmatische Einstellung, die diese Berufe formten und förderten, wurde als Emanation jüdischen Geistes bezeichnet, und die Fähigkeiten, die sie verlangten, wurden als angeborene Qualitäten des jüdischen Charakters definiert. Die traditionelle vormoderne jüdische Absonderung nahm deshalb eine neue und subtilere Form an: die der Entfremdung. Die ter-

16 Vgl. Steven E. Ascheim, »›The Jew Within‹: The Myth of ›Judaisation‹ in Germany«, in: The Jewish Response to German Culture: From the Enlightenment to the Second World War, hrsg. v. Jehuda Reinharz und Walter Schatzberg, Boston 1985, S. 212, 228. 17 Jacob Katz, Out of the Ghetto: the Social Background of Jewish Emancipation, 1770–1870, Cambridge 1973, S. 190.

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ritoriale und funktionale Trennung wurde durch soziale Isolierung und geistige Einsamkeit ersetzt (manchmal lediglich überlagert). Die Akkulturation gliederte die Juden nicht in die deutsche Gesellschaft ein, sondern transformierte sie in eine abgesonderte, ambivalente und inkongruente Nicht-Kategorie, die Kategorie der »assimilierten Juden«, die sich von der traditionellen jüdischen Gemeinschaft ebensosehr unterschieden wie von den einheimischen deutschen Eliten. In dem »Nicht-Gewinn«-Spiel der Assimilation fanden sich die deutsch erzogenen Juden aus dem festgefügten territorialen Ghetto in das Ghetto der sozialen Inkongruenz und kulturellen Ambivalenz versetzt. Im Unterschied zu der alten jüdischen Schicht, von der sich die Assimilanten zu emanzipieren wünschten, litt die neue Klasse der assimilierten Juden an einer tiefen Zweideutigkeit ihres Status, der durch den Widerspruch und den ständigen Konflikt zwischen der Selbstdefinition und der sozial verbindlichen Klassifikation charakterisiert war. Die sich assimilierenden Juden handelten unter dem Druck, ihr Deutschtum beweisen zu müssen, gleichwohl wurde ihnen gerade der Versuch, es zu beweisen, als Beweis ihrer Unaufrichtigkeit und ihrer aller Wahrscheinlichkeit nach auch subversiven Intentionen entgegengehalten. Der Zirkel mußte fehlerhaft bleiben, aus dem einfachen Grund, weil die Werte, die die Juden übernehmen sollten, um ihre Anerkennung zu verdienen, genau die Werte waren, die die Anerkennung unmöglich machten. Das Deutschtum war, wie alle anderen nationengebundenen Qualitäten, ganz und gar ungeeignet für den Zweck der Assimilation, die durch Lernen und Selbstvervollkommnung vonstatten gehen sollte. Eine Nation ist nicht das Ergebnis eines Lernvorganges, wie lang auch immer er sich hinziehen mag. Eine Nation ist eine Gemeinsamkeit des Schicksals und des Blutes – oder sie ist überhaupt keine Nation. In dem Augenblick, wo die Selbstvervollkommnung des einzelnen beginnt, ist die Frage der Mitgliedschaft in einer Nation für lange Zeit vom Tisch; keine noch so große Leidenschaft, sich selbst zu bilden, kann die Vergangenheit ändern oder ungeschehen ma195

chen.18 Was immer man bei dem Bemühen, sich selbst zu bilden, erreichen kann, muß im Vergleich zu der Festigkeit der sedimentierten und versteinerten Vergangenheit jammervoll blaß und unwirklich erscheinen. Es war deshalb kein Zufall, daß das Wertesystem, das die assimilierenden Juden übernahmen, »nicht nur niemals in seiner Vollständigkeit ihres war, sondern immer Elemente in sich trug, die ihnen feindlich waren. Die Deutschen sahen seine Übernahme immer nur als eine Maske an, hinter der sich der unverbesserliche Jude verbarg. Traurigerweise war für den deutschen Juden die Maske die einzige Realität.«19 Das paradoxe Ergebnis des Bemühens um Assimilation war, daß genau die Aktivitäten und Lebensstile, die die Trennung verwischen sollten, als Gründe dafür angesehen wurden, ihre Träger ins Abseits zu drängen. Im Gegensatz zu dem populären Sprichwort »Sei ein Jude zu Hause, ein Mensch auf der Straße« fühlten die Juden, die doch so gerne Deutsche sein wollten, sich wahrhaft deutsch nur zu Hause, wo sie ungestört ihr Illusionsspiel spielen konnten, geschützt vor dem mitleidlosen, prüfenden Blick der deutschen Straße. Sie suchten entweder bewußt die Gesellschaft von ihresgleichen – von anderen Juden, die sich auf das gefährliche Abenteuer der Assimilation ein-

18 Der russisch-jüdische Philosoph Lew Schestow verfolgte in seinen Schriften die Idee der Allmacht des Glaubens. An Gott zu glauben, behauptete er wiederholt, heißt zu vertrauen, daß alles möglich sei, und dies schließt auch die Möglichkeit ein, die Vergangenheit auszulöschen (z.B. den schändlichen Akt, Sokrates zu vergiften, »ungeschehen machen«). Schestows kühne Konzeption wie auch seine Flucht in die Religion, die meistens als die Weigerung verstanden wird, die Endgültigkeit irgendeines weltlichen Zeugnisses anzuerkennen, muß aus einer sehr jüdischen Erfahrung der Grenzen der Freiheit entstanden sein, die auf die Gegenwart und auf die Zukunft beschränkt ist, und der Konsequenzen der Tatsache, daß die Aufklärung sozusagen retro non agit. Vgl. z.B. Vernunft und Offenbarung [auf russisch], Paris 1964. 19 Sander L. Gilman, Difference and Pathology, Stereotypes of Sexuality and Madness, Ithaca 1985, S. 174.

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gelassen hatten – oder fanden sich, sehr zu ihrem Erstaunen und Schrecken, durch einen Prozeß der negativen Auslese in einer solchen Gesellschaft wieder. Wohin auch immer er sich begab – nach Düsseldorf, Hamburg, Berlin, Paris –, war Heine »umgeben von jüdisch geborenen Genossen unterschiedlicher Überzeugungen und unterschiedlichen Grades der Kongenialität«.20 Beinahe ein Jahrhundert später fand Scholem, daß dasselbe für seine hochassimilierte »germanisierte« Familie zutraf: Sie hatten praktisch keinerlei gesellschaftlichen Verkehr mit Nicht-Juden. »Eines Tages begann mir aufzufallen, daß in unser Haus ausschließlich Juden zu Besuch und freundschaftlichem Verkehr kamen, und daß meine Eltern ausschließlich zu Juden zu Besuch gingen.« Beinahe total jüdisch waren die »Tanzstunden«, die von den Heranwachsenden »guter deutscher Familien« besucht wurden. Bei seinem Jubiläum empfing Scholems Vater Höflichkeitsbesuche von seinen nicht-jüdischen Kollegen, trotzdem hatte er das Gefühl, es wäre unpassend, die Besuche zu erwidern.21 (Eine ironische Konsequenz dieser gesell-

20 Prawer, Heine’s Jewish Comedy, S. 762. Heines Schicksal wiederholte sich in der Erfahrung eines anderen »ehemaligen« Juden, Karl Marx, was Bakunin mit boshaftem Vergnügen sehr schnell sah: »Selbst ein Jude, zieht er, ob in London oder in Frankreich, aber besonders in Deutschland, einen ganzen Haufen von mehr oder weniger intelligenten Juden an, Intriganten, Eifrige und Spekulanten, wie Juden nun einmal sind, Handels- und Bankagenten, Schriftsteller […] Korrespondenten, […] die mit einem Fuß in der Welt der Finanz und mit dem anderen im Sozialismus stehen.« (Zitiert nach: Julius Carlebach, Karl Marx and the Radical Critique of Judaism, London 1978, S. 312.) 21 Gershom Scholem, »Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900–1933«, in: Judaica 4, S. 242. Wie Jacob Katz herausfand, haben »Juden, die soziale Anerkennung anstrebten, aber Schwierigkeiten hatten, deutsche Kreise zu betreten, vielleicht einen bequemen Weg gefunden, ihre Zugehörigkeit in der Gesellschaft im großen zu demonstrieren, indem sie in einem gemischten Publikum in der Konzerthalle und im Theater sitzen. Zu Hause zu lesen, ermangelte natürlich dieser öffentlichen Di-

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schaftlichen Isolierung war die Unkenntnis der Juden von der Intensität der allgemeinen Judaeophobie; sie trafen weder Antisemiten noch ließen sie sich herab, deren Presse zu lesen, und infolgedessen wuchsen ihre »Hoffnungen und ihre Bereitschaft zur Integration wie in einem Gewächshaus« – sie waren frei, ihre Träume ungestört durch die Gegenbeweise der schroffen Realität zu träumen. Sie hatten einzig die Gelegenheit, zu den Konvertierten zu predigen, und so existierte das Deutschland, in das sie sich integrieren wollten, meist nur in ihrer kollektiven Phantasie und blieb einer empirischen Prüfung gegenüber immun.) Mächtige Kräfte, von denen Kafka sagte, daß sie »in mir um mich herum« residierten – extern und intern, das Äußere internalisiert und das Innere nach außen projiziert –, alles wirkte zusammen, um die deutschen Juden, wie erfolgreich sie auch immer assimiliert waren, auf sich selbst zurückzuwerfen. Es war jene unsichtbare, gleichwohl allzu wirkliche (weil dichtgeschlossene und am Ende von sich selbst zehrende) Gemeinschaft von teils Flüchtlingen, teils Verfemten, deren Erfahrung in das »Jüdische Deutschland« verwandelt wurde: das Ziel ihrer Bemühung um Assimilation und das Unterpfand für ihr Vertrauen auf den endlichen Erfolg.

mension.« (»German Culture and the Jews«, in: The Jewish Response to German Culture, hrsg. v. Reinharz und Schwarzberg, S. 90.) Und trotzdem erwies sich, wie die eifrigen jüdischen Theater- und Konzertbesucher und Kunstgönner entdeckten, der scheinbare Ausweg aus der Einsamkeit als blockiert, weil sie sich meist mit ihresgleichen mischten. Wie Shulamit Volkov erkannte, »wurden sie gegen ihren Willen zu einem zum Teil abgesonderten sozialen Element gemacht, obgleich ihre Gemeinschaft nicht eine Gemeinschaft von gesellschaftlicher Exklusivität war, sondern die soziale Attraktion unter ihresgleichen« (»The Dynamics of Dissimilation: The Ostjuden and German Jews«, in: The Jewish Response to German Culture, S. 200).

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Das wirkliche Deutschland imaginieren Das imaginierte »wirkliche Deutschland« war das einzige Deutschland, zu dem die Juden vernünftigerweise hoffen konnten, Zugang zu finden. Die Gescheitesten unter ihnen verstanden das gut, obgleich sie kaum jemals die Hoffnung aufgaben, daß das empirisch gegebene »Deutschland, wie es jetzt und hier ist«, am Ende dem jüdischen Ideal nahe kommen würde. Die Mutigen unter ihnen entschlossen sich, den Prozeß der Verschmelzung zu beschleunigen, indem sie den Ruhm des »eigentlichen« Deutschland, wie die Juden es sich vorstellten, predigten, gegen alles, was das »empirisch Wirkliche« von dem Ideal trennte – obgleich sie nur allzu häufig Trost aus dem Glauben zogen, daß sie in ihrem Kampf die Geschichte auf ihrer Seite hatten und daß »auf die Dauer« das ideale Deutschland seine Wahrheit gegen die widerspenstige, wenn auch zeitweilige Lüge der Realität unter Beweis stellen würde. Sie waren echte, glühende und leidenschaftliche Patrioten dieses »eigentlichen Deutschland«, das angeblich in dem wenig einnehmenden Äußeren des wirklichen Deutschland verborgen war und sich mühte herauszukommen. Viele Deutsche freilich erkannten in dem Gegenstand der jüdischen Loyalität und Liebe nicht die nationale Heimat, die sie selbst, je nach ihren politischen Bindungen, entweder zu bewahren oder zu errichten wünschten. »In dem Kampf, aus einem zerrissenen politischen Gewebe eine einheitliche deutsche Gesellschaft zusammenzusetzen, wurde der Jude zum Symbol all dessen, was die Anstrengung vereitelte. Er war der Kosmopolit, das Überbleibsel der Aufklärung […] der sich von dem deutschen Organismus ernährte, in den er niemals aufgenommen werden konnte.«22 Und so mußte es kommen, daß »Emanzipation nicht nur eine Flucht aus der Ghetto-Vergangenheit bedeutete, sondern auch aus der deutschen Geschichte«.23 Das erste 22 Meyer, The Origins oft be Modern Jew, S. 139f. 23 George L. Mosse, »Jewish Emancipation: Between Bildung and Respectability«, in: The Jewish Response to German Culture, S. 14.

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machte das zweite notwendig; das erste konnte ohne das zweite nicht vollendet werden. Das Bemühen, sich zu assimilieren, warf die Juden kopfüber in einen Widerstreit mit ebender Gesellschaft, an die sie sich assimilieren wollten. Was sich in der Praxis in dem Tausch der einen – der orthodox jüdischen – Besonderheit gegen eine andere – die deutsche – ausdrückte, konnte nur mit Hilfe der Ideologie der Vernichtung aller Partikularität im Name universaler menschlicher Werte vonstatten gehen: der Wissenschaft, der Rationalität, der Wahrheit, die die gesamte Menschheit umfassen. (Die Juden, schrieb Immanuel Wolf im Jahre 1882, »müssen sich selbst und ihr Prinzip auf die Ebene der Wissenschaft erheben, denn dies ist die Haltung der europäischen Welt […] Und wenn eines Tages ein Band die gesamte Menschheit verbinden soll, dann ist es das Band der Wissenschaft, das Band der reinen Vernunft, das Band der Wahrheit.«24) Für die Deutschen bedeutete freilich ihre eigene Emanzipation (d.h. die Herstellung der politischen, ökonomischen und kulturellen Einheit der Nation, die nach einem ehrenhaften Platz im sich schnell modernisierenden Europa verlangte) zuerst und vor allem eine starke Förderung der kollektiven Identität der Deutschen – samt der gewöhnlichen Ausstaffierung mit einer gemeinsamen und exklusiven geschichtlichen Tradition und kulturellen Überlieferung. Kein Wunder, daß Das Junge Deutschland, eine Bewegung, die von Leuten wie Heine und Börne mit der expliziten Absicht ins Leben gerufen worden war, die politische Rückständigkeit, den kulturellen Provinzialismus und das moralische Philistertum der Deutschen zu bekämpfen, von seinen deutschen Adressaten mit Schrecken und Widerwillen angesehen wurde und bald auf den Namen Das junge Palästina umgetauft wurde. Die jüdischen Anstrengungen, das Deutschland, das sie liebten, für ein zivilisiertes menschliches Zusammenleben etwas besser geeignet zu machen (eine Transformation, die, wie sie glaubten, den Ruhm Deutsch24 Immanuel Wolf, »On the Concept of a Science of Judaism«, in: Leo Baeck Institute Yearbook, Bd. 2, London 1957, S. 204.

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lands unter den aufgeklärten Nationen mehren würde), wurden als eine subversive Tätigkeit angesehen, die drohte, die Integrität und Stärke der im Entstehen begriffenen nationalen Gemeinschaft zu untergraben. Friedrich Rühs (»Der Jude gehört nicht zu dem Land, in dem er lebt«) und Heinrich Leo (»Was zuerst die Eigenthümlichkeit des Jüdischen Volkes anbetrifft, so steht es dadurch vor allen anderen Völkern dieser Welt ausgezeichnet da, daß es einen wahrhaft zerfressenden und auflösenden Verstand besitzt«) hatten das Muster geprägt, das einmal zur Standardreaktion der Deutschen auf die Anstrengung der Juden werden sollte, die Ideale der Aufklärung in die Wirklichkeit umzusetzen.25 Die jüdischen Enthusiasten der Aufklärung und Deutschlands und vor allem des aufgeklärten Deutschland akzeptierten das Urteil nicht; sie weigerten sich, seine Legitimität und die Beglaubigungen derer, die es mit monotoner und unnachgiebiger Entschlossenheit wiederholten, anzuerkennen. Sie sahen sich selbst als authentische und gesetzestreue Fürsprecher für den wahren Geist der deutschen Kultur und konnten keinen Grund erkennen, warum sie nicht die Mühe auf sich nehmen sollten, alles, was es an Edlem in der deutschen Tradition gab, zu erhalten und wieder zum Leben zu erwecken: eine Aufgabe, die allzu viele nicht-jüdische Deutsche unbeachtet ließen oder zu vollbringen sich weigerten. Schon Moses Mendelssohn (der in Berlin noch kaum geduldet und dem das Wohnrecht, das Juden normalerweise verweigert wurde, nur als eine persönliche Gnade gewährt wurde) hielt es für angemessen und geboten, seinen Monarchen Friedrich den Großen zu kritisieren, weil er Dichtung auf französisch schreibe und die Schönheit der deutschen Sprache mißachte. Im Verlauf der Jahre näherte sich diese Aufgabe um nichts der Vollendung, aber der Eifer derer, die sich ihrer angenommen hatten, wurde immer intensiver. Im Jahre 1912 stellte Moritz Goldstein beunruhigt eine Frage, deren Recht und Situationsangemessenheit seine intellektu25 Vgl. Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700– 1933, München 1989, S. 90, 160.

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ellen jüdischen Leser störrisch ignorierten: Was sollte man von der Tatsache halten, daß Deutschlands kulturelles Erbe jener Generation zu einem großen Ausmaß in der Obhut der Juden war, während die überwiegende Mehrheit der Deutschen ihnen dafür jede Autorität absprach?26 Goldsteins Frage rührte eine Menge Unruhe auf, bewirkte aber nur wenig praktische Änderung. Die prominentesten unter den deutsch-jüdischen Journalisten der Zeit, wie Maximilian Harden oder Theodor Wolff, taten sich in der respektlosen Kritik der geliebtesten deutschen Institutionen hervor und unterschieden sich von den meisten ihrer nicht-jüdischen Kollegen durch einen völligen Mangel an Zurückhaltung bei der Entweihung des Heiligen, einschließlich des Heeres und des Kaisers selbst; während der allgemein gefürchtete Theaterkritiker Alfred Kerr eine wahrhaft diktatorische Macht über ein weites Spektrum des deutschen Kunstlebens ausübte. Das erstaunliche Selbstvertrauen der Juden, die sich in gebildete deutsche Klassen verwandelt hatten, konnte über Generationen von Enttäuschungen und Niederlagen nur durch den Glauben an den Unterschied zwischen Wesen und bloßer Erscheinung des Deutschtums aufrechterhalten werden. Nach diesem Glauben mußte die unerfreuliche Realität der gegenwärtigen deutschen Ängste durch die reinen Wasser der unbefleckten Menschlichkeit weggewaschen werden, die aus den Quellen des »wahren Deutschtums« sprudelten; die Wahrheit des deutschen Geistes würde mit

26 »Plötzlich findet man Juden in allen Positionen, aus denen sie nicht bewußt ausgeschlossen werden; sie haben sich die Aufgabe der Deutschen zu eigen gemacht; das deutsche kulturelle Leben scheint zunehmend in jüdische Hände überzugehen […] Wir Juden verwalten das geistige Eigentum einer Nation, die unser Recht und unsere Fähigkeit dazu bestreitet.« Goldstein definiert dann »diejenigen Juden als unsere schlimmeren Feinde, die überhaupt nichts bemerken, die unbekümmert weiter an den deutschen kulturellen Aktivitäten teilnehmen« (vgl. Moritz Goldstein, »German Jewry’s Dilemma«, in: Leo Baeck Institute Yearbook, Bd. 2, S. 237, 239).

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der Zeit hervortreten, welche zeitweiligen Rückschläge auch immer eintreten mochten. Man mußte zwischen der deutschen Kultur und den Gewohnheiten der Deutschen unterscheiden (in einer Weise, die eine verblüffende Ähnlichkeit zu der Unterscheidung aufwies, die später von Lukács zwischen dem rationalen und »autoritativen Klassenbewußtsein« und dem kurzlebigen und trügerischen »Bewußtsein der Klasse« gemacht wurde). Es war dieser Glaube, der es Hermann Cohen gestattete, im Vorwort zu seiner Ethik des reinen Willens zu schreiben: »Während ich eine prinzipiell oppositionelle Haltung zu diesem modernen Stil des Deutschtums einnehmen muß, fühle ich mich bestärkt durch das Wissen, daß ich mich auf die ursprüngliche Kraft des Wesens des deutschen Geistes zurückbeziehe, im Gegensatz zu seinen ephemeren Verzerrungen.«27 Die »ursprüngliche Kraft« und das »Wesen« des deutschen Geistes war gewebt aus den Erinnerungen an die kurze »klassische« Periode der deutschen Aufklärung, an die idealisierten Bilder von Schiller, Lessing, Goethe, Kant und Herder, die mit einer Ehrerbietung behandelt wurden, die früher nur den Patriarchen des Alten Testaments erwiesen worden war. Der herausragende Platz Goethes im Pantheon der deutschen Kultur wurde in den intellektuellen Salons, die von Rahel Varnhagen, Dorothea Mendelssohn oder Henriette Herz unterhalten wurden, mit allen Mitteln verteidigt. Dort, wie in den Schriften zahlloser jüdischer Biographen und

27 Moritz Lazarus’ Versuch, eine universal gültige Moralphilosophie aus den ethischen Quellen der Juden zu entwickeln, wurde von Hermann Cohen als ein »Ghetto-Begriff« verspottet und heftig angegriffen, da es ein Versuch sei, einen Gesamtgeist des Judentums unabhängig von den alten griechischen, römischen und modernen Zivilisationen zu betrachten. Cohen bestand darauf, daß »wir deutschen Juden« »im Geiste von Lessing und Herder, Leibniz und Kant, Schiller und Goethe selbst in den Fragen unseres jüdischen Glaubens« leben und denken sollten (vgl. David Baumgardt, »The Ethics of Lazarus and Steinthal«, in: Leo Baeck Institute Yearbook, Bd. 2, S. 213f.

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Analytiker der deutschen Klassik, wurden die Propheten der deutschen Kultur für die Förderung universaler menschlicher Werte gepriesen und das Deutschtum selbst als eine Haltung der Offenheit für das allgemein Menschliche definiert, als eine Fähigkeit, Ideen zu artikulieren, die für die gesamte Menschheit gültig waren. Deutsche Juden rühmten den deutschen Geist wegen seiner angeblichen (und ganz gewiß eifrig erstrebten) Emanzipation vom nationalistischen Provinzialismus. Sie malten die Ikone, die sie verehrten, mit den Pinseln der extraterritorialen Vernunft und benutzten dabei die Palette der Moralität der gesamten Gattung. Es ist wahr, sie taten auch ihr Bestes, das wirkliche Antlitz zu verschönern, damit es seinem idealisierten Abbild ähneln sollte. Die ehrfurchtgebietendsten deutschen Rechtstheoretiker der rationalistischen Schule waren beinahe alle Juden (Georg Jellinek, Eduard Lasker, Eduard Gans und Hugo Preuss, der prominenteste unter ihnen). Und die Aufforderung an deutsche Philosophen, zu ihren allzu deutschen und trotzdem universalistischen, den kantischen Wurzeln zurückzukehren, kam von dem Marburger Juden Hermann Cohen. Den größten Teil seines Lebens glaubte Cohen tief und inbrünstig an die deutsch-jüdische Symbiose. Daß es eine Wahlverwandtschaft zwischen dem jüdischen und dem deutschen Wesen gebe, war für Cohen nicht »wesentlich eine deskriptive, sondern regulative« Proposition. »In Wirklichkeit besagte sie: es sind sowohl in den deutschen als auch den jüdischen historischen Kulturen eine Reihe sozialer und intellektueller Kräfte am Werk, die dazu benutzt werden können und sollten, alle dynamischen Kräfte, über die sie verfügen, so intensiv und so schnell wie möglich für das Ziel einer kosmopolitischen, humanistischen, ethischen Weltgesellschaft einzusetzen […].«28 Mit anderen Worten, das Wesen sowohl des Juden- wie des Deutschtums lag in ihrer gemeinsamen Ten28 Steven S. Schwarzschild, »›Germanness and Judaism‹ – Hermann Cohen’s Normative Paradigm of the German-Jewish Symbiosis«, in: Jews and Germans from 1860 to 1933, hrsg. v. Bronsen, S. 154.

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denz, ihre jeweiligen Identitäten zu verwischen. Cohens Deutschtum beanspruchte, in dem Moment am deutschesten zu sein, in dem es sich in der Humanität erfüllt, die weder Deutsche noch Juden kennt. Aus diesem Grunde fand Cohen Hegel, der zu jener Zeit den beherrschenden Einfluß auf die deutsche akademische Philosophie ausübte, unannehmbar. Hegel verpflichtete seine Anhänger, das Wirkliche als das Werk der Vernunft anzuerkennen, als Verkörperung der Vernünftigkeit, etwas, was Cohen nicht tun konnte, ohne auf sein Recht zu verzichten, das Deutschland, wie es war, im Namen des Deutschland, wie es auf Geheiß der Vernunft sein sollte und deshalb schließlich werden könnte und würde, zu kritisieren. Dieses letztere Deutschland mußte als eine moralisch zwingende, rational erforderliche Entität gefördert werden – so daß es seiner gegenwärtigen Schwierigkeit Herr werden und intakt bleiben konnte, selbst wenn es eine gewisse Zeit lang ein unendlich weit entferntes Ziel für die empirisch gegebene politische und soziale Realität bleiben würde. Aus diesem Grunde griff Cohen auf der Suche nach einer adäquaten Form und Legitimation für die philosophische Ablehnung des wirklichen Deutschland im Namen des Deutschland, wie es sein sollte, über Hegel hinweg auf Kant zurück. Kant berechtigte Cohen, sich in seiner Begründung der Ethik offen und kompromißlos dazu zu bekennen, daß die letztliche Einheit der Menschheit zugleich das Kriterium und das Ziel der Ethik sei, und daß die Ethik darum kämpfe, den Menschen in Übereinstimmung mit der Idee der Menschheit neu zu schaffen.29 Cohens Bild des wahren Deutschtums blieb bis zum Schluß hochgradig selektiv. Der junge Nicolai Hartmann beklagte sich, daß er jedesmal, wenn Cohens Besuch zu erwarten war, Nietzsches Bücher verstekken mußte. Gleichzeitig trug Cohen beträchtlich zum Kult des Staates als der höchsten Autorität bei, die berechtigt sei, wenn nötig, die Sonderinteressen von Ständen, Klassen und dergleichen beiseite zu fegen 29 Ebenda, S. 143.

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und niederzureißen. Der Staat sollte die Rolle der universalisierenden Macht spielen; zu diesem Zweck hatte er das Recht und die Pflicht, das Gesetz allein gemäß der Idee des Staates zu entwickeln. Dieses Bild des Staates als der universalisierenden und »humanisierenden« Macht entstand aus der zarten Erinnerung an die frühmodernen Versprechen des emanzipierenden, befreienden und rechtsetzenden Staates. Aber es ließ sich auch leicht für eine gänzlich entgegengesetzte Interpretation verwenden, die deutlich wurde, als die andere Fähigkeit des deutschen Staates (nämlich die, nicht die Symbiose, sondern die Unvereinbarkeit der Deutschen und Juden zu fördern) in all ihrem mörderischen Glanz enthüllt wurde. Die Möglichkeit einer solchen Interpretation war ständig und unaufhebbar in der Auffassung enthalten, welche Emanzipation als Homogenität statt als Pluralismus definierte, als Verwischung von Differenzen statt als ihre Gleichheit, als eine Omnipotenz des technologischen Staates statt seiner Einschränkung durch eine sich selbst behauptende und sich selbst verwaltende, multikulturelle Gesellschaft. Im Licht einer solchen Auffassung konnte man es den Deutschen kaum verargen, daß sie – statt Emanzipation als eine notwendige Bedingung für die Vermischung von Kulturen zuzulassen – die Selbstauslöschung der jüdischen Identität als Vorbedingung für die Zulassung zur deutschen Gesellschaft verlangten. Eine oder zwei Generationen später würden sie die Auslöschung der Juden selbst verlangen – und durchsetzen. Und sie würden es mit Hilfe desselben omnipotenten modernen Staates tun, der, wie stets, entschlossen war, die einzige condition humaine zu universalisieren und auf diese Weise obligatorisch zu machen, die er für angemessen hält. Rickert hat angeblich die Ansicht geäußert, daß Cohens Denken nicht so sehr eine Sache der Philosophie als vielmehr der Rasse gewesen sei. Er lag gar nicht so weit daneben. Er wäre der Wahrheit noch näher gekommen, wenn er hinzugefügt hatte, daß sie Sache einer bestimmten Rasse gewesen sei, sofern sie hoffte, sich durch Assimilation an eine andere zu emanzipieren, die im Unterschied zu ihr selbst entschlossen war, ihre Identität zu bewahren und zu kultivieren. 206

Scham und Verlegenheit Der Assimilierungsdruck der einheimischen deutschen Gesellschaft, die kulturelle Konformität zur Vorbedingung für die soziale und politische Emanzipation machte, spiegelte sich im Bewußtsein der betroffenen Minorität als Herausforderung des Provinzialismus und der Eigenart der jüdischen Gemeinde durch die Universalität des menschlichen Wesens. Daher rührte die oben diskutierte typische Minoritäten-Vision der Mehrheitswerte, aber auch eine gründliche und vollständig negative Neueinschätzung der eigenen kulturellen Tradition, die typisch für eine Minorität war, die unter einem strengen Assimilierungsdruck stöhnte. Nur mit Hilfe beider eng verbundener geistiger Vorgänge, die in der Internalisierung der Ambivalenz endeten, konnte die Kapitulation der einen Partikularität vor der anderen mit einer Mischung aus Stolz und Selbstvorwürfen als Fortschritt aus der Minderwertigkeit und Rückständigkeit der eigenen, durch die Gemeinde geprägten Eigenart zu überlegenen, progressiven und universalen menschlichen Maßstäben angesehen werden. Alle »sich-selbst-universalisierenden« Teile der Minorität setzten sich mit der traditionellen Identität in zwei komplementären Formen auseinander, wenngleich in unterschiedlichen Proportionen. Im Falle der Bewegung der Wissenschaft vom Judentum (einer einflußreichen intellektuellen Strömung, die dem Vorwurf entgegentreten wollte, daß zwischen den Werten, die der jüdischen Geschichte inhärent waren, und denen, die von der »menschlichen Zivilisation« – oder eher einem aus der Perspektive der Assimilationsaufgabe entworfenen Bild einer solchen Zivilisation – proklamiert und praktiziert wurden, eine grundsätzliche Unvereinbarkeit bestehe) wurde die jüdische Tradition zuerst verklärt und dann entjudaisiert. Die Verklärung bestand, nach Scholems Urteil, in einer »einseitigen Abstellung des Interesses auf solche Dinge, die in der Apologetik verwertbar waren« – d.h. auf solche Bestandteile der jüdischen Überlieferung, die den rationalistischen Maßstäben der Neuzeit entsprachen. Dementsprechend wurden solche Bestandteile, die 207

einer Prüfung nicht so leicht standhalten konnten, marginalisiert, für fremd, untypisch oder bizarr erklärt, mit ein paar Worten des Spottes beiseite geschoben oder einfach stillschweigend übergangen. Vor allem traf dieses Schicksal natürlich die mystischen, messianischen und gnostischen Stränge der jüdischen Tradition. »Unter Gesichtspunkten eines aufklärerisch gesonnenen, geläutert rationalen Judentums des 19. Jahrhunderts« waren sie »nicht recht verwertbar« und wurden von daher »als unjüdisch, allenfalls als halb-heidnisch, herausgeworfen«. Der Inhalt der jüdischen Überlieferung wurde neu geordnet, so daß man einiges vorzeigen konnte, das von den »universalistisch gesonnenen« Einheimischen geprüft und bewundert werden konnte, während der Rest in den verschlossenen und niemals besuchten obskuren Kellern des Hauses verstaut wurde. »Was in den Keller wanderte, wurde sorgfältig gemieden. Diese Gelehrten erwogen nur die geistigen Beziehungen des Salons: die Lutherbibel, Hermann Cohen und Kant, Steinthal und Wilhelm von Humboldt.« Sobald die jüdische Tradition erst einmal von all den dissonanten, »unzivilisierten« Gegenständen gründlich gereinigt und bis auf die Knochen der »reinen Universalität« reduziert war, erschien sie (oder eher das, was davon übrig war) ununterscheidbar von dem herrschenden Idiom (oder was man sich darunter vorstellte), mit Ausnahme einiger harmloser, gleichgültiger und letztlich amüsanter Rituale und Bräuche. Es schien keinen Grund zu geben, auf ihrer besonderen Identität und ihrem einzigartigen Wert zu bestehen. Der einzig vernünftige Schritt, der getan werden mußte, war, ihr den coup de grace zu geben. In der Tat, wie Moritz Steinschneider, eine der prominentesten Gestalten der Schule der Wissenschaft vom Judentum, Gotthold Weil anvertraute: »Wir haben nur noch die Aufgabe, den Überresten des Judentums ein ehrenvolles Begräbnis zu bereiten.«30 Die Geschichte und Philosophie des Judaismus neu zu schreiben war aus offensichtlichen Gründen eine Leidenschaft und ein 30 Gershom Scholem, »Die Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt«, in: Judaica I, Frankfurt/M. 1963, S. 153–156.

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Zeitvertreib für wenige Auserwählte. Die große Mehrheit der Juden war bereit, den vollen Preis der kulturellen Anpassung für den versprochenen Eintritt in die einheimische Gesellschaft zu zahlen, sobald sie erst einmal die Neigung verspürte, den Assimilationsdruck in ein Mittel des sozialen Fortschritts umzuformen. In den Augen einer solchen Mehrheit stellte sich die Aufgabe viel bescheidener und weltlicher als eine Aufgabe der Sittlichkeit dar – des Erwerbs verfeinerter und respektabler Manieren, neuer Maßstäbe der Reinlichkeit, der sexuellen Etikette, des richtigen Auftretens in der Öffentlichkeit. Nachdem die Ambivalenz internalisiert war, war jetzt die Flucht aus der wenig beneidenswerten Klemme eine persönliche Aufgabe. Alle »charakteristisch jüdischen« Aspekte der Lebenskunst mußten unterdrückt und verhindert werden, wohingegen die Manieren und Mittel der Wirtsnation unzweideutig als die einzigen Maßstäbe der allgemeinen menschlichen Anständigkeit und Richtigkeit des Verhaltens zu akzeptieren waren. Eine Resolution, die im Jahre 1834 von der Konferenz Jüdischer Schulen in Baden verabschiedet worden war, mag als ein Beispiel für das dienen, was kommen sollte: »Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich in früheren Zeiten ein entarteter sogenannter jüdisch-deutscher Dialekt eingebürgert hatte. Er ist unter anderem durch eine unkorrekte, oft abstoßende Aussprache und Intonation gekennzeichnet […] Der überwiegende Teil der jüdischen Gemeinde hat ihn durch Erwerb von Bildung aufgegeben und nur ein Teil der niederen Klassen hat ihn beibehalten. Die Erfahrung lehrt uns nicht nur, daß solche Einzelpersonen der Gegenstand des Spottes von seiten der Anhänger anderer Religionen sind, sondern daß sie auch ein Gefühl des Abscheus in ihren Mitgläubigen hervorrufen.«31

31 Zitiert nach Gilman, Jewish Self-Hatred, S. 161. Es war kaum zufällig, daß die Rolle der Scham als einer wichtigen und höchst wirksamen Waffe, die von dem Gleichförmigkeit befördernden Zwang, genannt Prozeß der Zivilisation, von Freud und Elias entdeckt und in seiner Tiefe analysiert worden ist.

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Tatsächlich war es das Gefühl des Abscheus, das einen echten, weitreichenden, selbstzentrierten kulturellen Kreuzzug auslöste und in Bewegung setzte. Das Gefühl des Abscheus wurde als Preis dafür angesehen, sich der guten Gesellschaft anschließen zu dürfen. Dieser Abscheu wurde als das Zeichen der Verfeinerung erlebt und als ein zuverlässiges Zeichen angesehen: denn schließlich proklamierte die gute Gesellschaft, die die Regeln ihrer Mitgliedschaft selbst festlegte, laut die formale Etikette des öffentlichen Verhaltens als notwendige und hinreichende Bedingung der Humanität. Der Abscheu, der vom Anblick des Unterschieds erregt wurde, entstammte dem Versprechen einer gemeinsamen Humanität, die im Begriff stand, die Kapitulation vor der Gleichförmigkeit zu belohnen. Das Versprechen war von Anfang an trügerisch: Trotzdem konnte es, bevor es entlarvt wurde, weiterhin immer neue Träume zeugen und neue Aktionen anregen. In dem Maße, wie es immer deutlicher wurde, daß die Verwirklichung der Träume auf sich warten ließ und die Handlungen keinerlei Ergebnisse zeitigten, erfüllte die Erinnerung an das Versprechen die Träumer und die Täter mit Scham, die sich aus ihrem Gefühl, mißachtet zu werden, speiste. Diese Scham gab ihrerseits dem moribunden Versprechen eine neue Lebensfrist und schützte es vor dem notwendigen Eingeständnis, daß die aufgehäuften Gegenbeweise endgültig und unwiderlegbar waren. Scham war in der Tat der wirksamste Schutzschild des Zivilisations-Mythos und – gleichzeitig – die jüdischste der Emotionen. (»Welcher Jude ist nicht zusammengezuckt beim Anblick dessen, was er als ostentatives Benehmen betrachtet …?« fragte, rein rhetorisch, Peter Gay.32) Die Scham hielt manches Opfer des Mythos davon ab, das Versprechen als Trug zu entlarven. Statt dessen stachelte sie die Opfer an, einen kritischen Blick auf ihr eigenes Versagen zu werfen – definitionsgemäß alle solchen echten oder

32 Amos Elon, Herzl, New York 1975, S. 252; Peter Gay, Freud, Jews and Other Germans: Masters and Victims in Modernist Culture, New York 1978, S. 110.

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zugeschriebenen Merkmale privater und besonders öffentlicher Personen, die die einheimischen Eliten zum Vorwand nahmen, die Bewerbungen um Mitgliedschaft abzulehnen. Die Mangelhaftigkeit konnte das gefürchtete mauscheln sein, über das Herzl im Jahr 1897 schrieb, es sei »eine Verdrehung des menschlichen Charakters, unsäglich gemein und widerwärtig«. Es konnte noch schlimmer sein: Jiddisch, nach allgemeiner Auffassung eine entwürdigende Karikatur der menschlichen, d.h. deutschen Sprache. ( Jiddisch »wurde zur Zielscheibe herablassenden Spottes für die meisten deutschen Juden […] von Witzen und einer gewissen distanzierenden Verspottung, denn Jiddisch war natürlich die Sprache der Ostjuden […] Ein deutscher Jude tat, als guter Deutscher, eins gewiß nicht – Jiddisch sprechen.«33) Es konnte arrogantes, lärmendes und sonstwie aufdringliches Verhalten in der Öffentlichkeit sein oder die jüdische Gewohnheit, »mit den Händen zu sprechen«. (In einem nicht-jüdischen Restaurant sieht man Leute essen und hört sie reden, in einem jüdischen Restaurant sieht man die Leute reden und hört sie essen – so lautete einer der typischen selbstherabsetzenden Scherze, jener Tribut, den die Scham der zivilisierenden Prüderie zollte.) In Shulamit Volkovs beißenden Worten »wurde Scham empfunden, wenn man, sei es auch nur für einen Augenblick, die strikten Regeln des Zivilisationsspiels vergaß oder mißachtete. Verlegenheit wurde durch das unangemessene Verhalten anderer erregt. Aufgrund der strikten Verhaltensregeln, die die deutschen Juden sich auferlegten, war Scham etwas, was sie immer empfinden würden. Und ebenso hielt sie ihr eigentümliches Verantwortungs- und Solidaritätsgefühl beinahe ständig in einem Zustand der Verlegenheit.«34

Tatsächlich kann die Verantwortung oder Solidarität, auf die Volkov verweist, kaum als Zeichen einer eigentümlichen Familienpie-

33 Zitiert nach Theodore Reik, Jewish Wit, New York 1962. 34 Shulamit Volkov, »The Dynamics of Dissimulation: Ostjuden and German Jews«, in: The Jewish Response to German Culture, S. 210.

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tät deutscher Juden oder einer mangelnden Ernsthaftigkeit ihrer Assimilationshaltung erklärt werden. Wie die übrigen strengen Vorbedingungen der Emanzipation wurde die Verantwortung für die weniger glücklichen Mitglieder der jüdischen Kaste, die in ihren Bemühungen um Selbstzivilisierung hinter den Eliten zurückblieben, der Avantgarde der Assimilation durch die Logik des Assimilationsprozesses selbst auferlegt. Assimilationserfolg sollte individuell eingeschätzt und bewertet werden, aber das Stigma, von dem die erfolgreiche Assimilation emanzipieren sollte, war kollektiv, der Gemeinde als Ganzes zugewiesen worden. Solange die jüdischen Massen auf ihren traditionellen Verhaltensweisen bestanden, würde kein noch so großer Aufwand an Selbst-Pflege auf seiten ihrer zivilisierten Eliten genügen, die einheimische Meinung davon zu überzeugen, daß Jude zu sein nicht länger ein Stigma sei, und auch nicht, die Eliten von ihrer Verlegenheit zu befreien – ihrer »stellvertretenden Scham«. Generation auf Generation mußten die fortgeschrittenen Truppen der Assimilation dem Dilemma ins Auge blicken, das schon David Friedländer, der unmittelbare Nachfolger von Moses Mendelssohn, erfahren hatte. Friedländer »hatte mit den gewöhnlichen Juden so gut wie nichts gemein«, da er sich, wie Meyer hervorhob, den größten Teil seines Lebens über in gesellschaftlich fernstehenden, reichen und gebildeten Berliner Industriellen- und Intellektuellenkreisen bewegte. »Aber trotz seines Abstands konnte Friedländer den orthodoxen und osteuropäischen Juden aus den unteren Klassen nicht völlig den Rücken zuwenden. Sie und er trugen beide den Namen ›Jude‹.«35 Schon bevor er die Verantwortung für die Aufklärung seiner zurückgebliebenen Verwandten übernahm und seine Solidarität zu praktizieren begann, war Friedländer (ebenso wie einige Generationen seiner Nachfolger) durch die Welt um ihn herum mit dieser Verantwortung belastet und angehalten worden, Solidarität zu seiner Pflicht zu machen.

35 Meyer, The Origins of the Modern Jew, S. 60f.

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Aufgrund dieser Schicksals-, nicht Geistesgemeinschaft wurden Verantwortung und Solidarität ebenso unvermeidlich wie unbeliebt und gefürchtet. Und trotzdem unterstrich das Handeln, das durch den Wunsch eingegeben war, von der Verlegenheit befreit zu werden, nur die Einheit des Schicksals und der sozialen Stellung, die die primäre Quelle der Verlegenheit war. So eifrig sie auch versuchten, ihre unzivilisierten Verwandten zu verleugnen, die Assimilanten wurden nach der Gesamtleistung der Gemeinde beurteilt, die die einheimische Gesellschaft stur als ein einziges Ganzes ansah. Je emphatischer die Verantwortung verleugnet wurde, desto beweiskräftiger und zwingender wurde der Verdacht gegen die Doppelzüngigkeit und Falschheit ihrer Prätentionen. Die resignierte Zustimmung zur Verantwortung erlaubte widerwillige Beweise von Solidarität, die die Bindung, die das Programm der individuellen Emanzipation zur Farce machte, als »selbstevident« erscheinen ließ und auf diese Weise verstärkte. Sobald die Ambivalenz erst einmal internalisiert war, erwies sie sich als Käfig ohne Ausgang.

Die inneren Dämonen der Assimilation In der Folklore der Assimilation wurde den Ostjuden keine eigene Identität zugestanden. Statt dessen wurde ihr Bild aus den Sorgen und Alpträumen der sich assimilierenden westlichen Juden zusammengestückelt. Sie dienten als ein riesiger Abfalleimer menschlicher Eigenschaften, in den alles hineingeworfen wurde, was das Gewissen des Westjuden quälte und ihn mit Scham erfüllte (und infolgedessen gewahrt ihr Stereotyp einen einzigartigen Einblick in die dunkelsten Ecken der gequälten, von Scham verzehrten Seele des Opfers und Tölpels des Assimilationstraums). Nach Theodor Reik wurden die Juden Osteuropas in den deutsch-jüdischen Witzen um die Jahrhundertwende »nicht in ihrer eigenen Umwelt, sondern im Kontrast zu der westlichen Zivilisation und ihren Anforderungen gemalt«; z.B. den Forderungen nach »körperlicher 213

Sauberkeit«. Sobald er vergaß, sein Bad zu nehmen, enthüllte der sich assimilierende Jude schmählich den noch nicht ganz ausgerotteten, immer noch gut in ihm verschanzten, unangepaßten und unkultivierten (östlichen) Juden, der nicht einmal verstand, was andere meinten, wenn sie von Baden sprachen. (»Ein Zimmer mit Bad?« wird der galizische Jude Teitelbaum in einem Wiener Hotel gefragt. »Wo denken Sie hin? Bin ich eine Forelle?« antwortet Teitelbaum empört. »Hast du heute morgen ein Bad genommen?« wird ein anderer Besucher aus Galizien, Cohn, gefragt. »Wieso? Fehlt eins?«) Die Verlegenheit wurde völlig unerträglich, als die Ostjuden, bislang mehr oder weniger mythologische Figuren, die sicher in ihre fernen Ghettos und in die herabsetzenden Scherze ihrer westlichen Nachbarn eingeschlossen waren, in Scharen ihre Naturreservate verließen und anfingen, sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Festungen der Assimilation niederzulassen. Man konnte nicht seine Wohnung verlassen, ohne genau der Quelle der eigenen Scham ins Gesicht zu schauen: dieselbe jüdische Differenz, die der Mensch, der im Begriff war, sich in einen Kulturmenschen zu verwandeln, zu verbergen oder besser noch auszuradieren hatte. Wieviel Barmherzigkeit am Ende auch widerwillig geübt wurde, zwischen den assimilierten deutschen Juden und den armen oder orthodoxen osteuropäischen Nachbarn herrschte nur sehr wenig Liebe. Nach Wertheimers Zeugnis ließen sich deutsche Juden nur selten herab, »sich mit Flüchtlingen oder Immigranten [aus Polen und Rußland] abzugeben; und bei solchen Gelegenheiten handelten sie eher aus Pflichtgefühl denn aus echter Sorge um die bedürftigen Mitjuden«. Ihre wahren Gefühle gegenüber den traditionellen Juden wurden von Hugo Ganz drastisch, gleichwohl adäquat ausgedrückt: »Ihre Faulheit, ihr Schmutz, ihre ständige Bereitwilligkeit zu betrügen erfüllt die westlichen Europäer zwangsläufig mit sehr schmerzlichen Gefühlen und unerbaulichen Gedanken, trotz aller Lehren der Geschichte und des Wunsches gerecht zu sein. Es entsteht der böse Wunsch, daß die Welt sich dieser unerfreulichen Objekte auf irgendeine schmerzlose Weise entledigen möge

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oder der gleichermaßen inhumane Gedanke, daß es wirklich kein Schade wäre, wenn dieser Teil der polnischen Bevölkerung überhaupt nicht existierte. Entweder wir müssen auf unsere Vorstellungen von Reinlichkeit und Anständigkeit verzichten oder einen großen Teil der Ostjuden ziemlich unerfreulich finden.«36

Die Slawen und andere Nachbarn, die das Land östlich der Grenze bewohnten, waren eine leichte Zielscheibe für den überhandnehmenden gesamtdeutschen Nationalismus der Ära der Bismarckschen Einigung. Wie in Vorwegnahme der Nazi-Rhetorik wurden sie als Krankheits- und Seuchenträger beschrieben, sie mußten sich beim Überqueren der Grenze entlausen lassen und wurden oft in versiegelten Zügen durch das Land transportiert, die nur an ordentlich ausgestatteten Quarantäne-Stationen anhalten durften. Im Jahre 1892 wurden neue jüdische Immigranten aus Polen in Hamburg und im Jahre 1894 in Marburg für den Ausbruch der Cholera verantwortlich gemacht. Wollte man der verdrehten Logik der Grenzziehung folgen, hing die Gesundheitsschädlichkeit der Orientalen mit ihren vormenschlichen kulturellen Maßstäben zusammen, der barbarischen Sprache (die polnische Sprache wurde als »erbärmlich entartet«, »lebensunfähig« und »halbasiatisch« verachtet), der angeborenen Ruhelosigkeit und der Unfähigkeit zu Nationalgefühl und Treue (das Lieblingsthema deutscher Karika36 Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers: East European Jews in Imperial Germany, Oxford 1987, S. 143, 148. Arnold Mostowicz – ein scharfsinniger polnischjüdischer Schriftsteller, Überlebender des Ghettos von Lodz und eine Person mit umfassender Kenntnis Europas, bemerkt, daß die deutschen Juden, die er in Deutschland, Frankreich und (während des Krieges) in Polen getroffen hat, »nicht nur die Treue zum chassidischen Mystizismus und die Spaltung der jüdischen Gemeinde als Zeichen der Rückschrittlichkeit und des Obskurantismus ansahen, sondern einen wahrhaft rassistischen Widerwillen gegen jeden Juden empfanden, der aus Osteuropa kam. Sie verharrten in dieser Haltung selbst dann noch, als sie von den Deutschen abgelehnt wurden, denen sie sich geistig verwandt fühlten, und in den elenden Hütten des Ghettos von Lodz herumstolperten.« (Zolta Gwiazda i Czerwony Krzyz, Warschau 1988, S. 46)

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turisten war die wundersame Verwandlung des polnischen Lumpensammlers Moische Pisch in den Berliner Kurzwarenhändler Moritz Wasserstrahl und schließlich in den Pariser Couturier Maurice LaFontaine).37 Die aufgeklärte jüdische Meinung folgte loyal dieser Spur, samt der widersprüchlichen Logik, mit der die Substanz des Stigmas dargestellt wurde. So wurden die orientalischen Juden einerseits kritisiert, weil sie »den deutschen Juden dank ihrer Gewohnheiten, ihres Aussehens und ihrer Lebensweise vollkommen fremd seien«; andererseits wurde ihnen im Einklang mit den wiederholten deutschen Vorwürfen über die jüdische Doppelzüngigkeit entgegengehalten, daß sie versuchten, mit derselben Hast und Gründlichkeit, auf die die assimilierten deutschen Juden so stolz waren, das »barbarische« Gewand abzustreifen. So schrieb die Allgemeine Zeitung des Judentums am 28. Mai 1872: »Diese Juden mögen sich bei der Polizei als Juden registrieren lassen, aber ihre Lebensweise ist vollkommen unjüdisch. Sobald diese Leute die polnische Grenze überschreiten und ihre langen Mäntel ausziehen, beachten sie das jüdische Gesetz nicht mehr. Genau die Leute, die in den polnischen Städten ein so orthodoxes Leben geführt haben, haben jetzt alle jüdischen Gesetze über Bord geworfen.«38 Politisch, sozial und psychisch hatte die Verachtung der jüngsten jüdischen Immigranten ihren Sinn, insbesondere, da sie eine Gelegenheit bot, die tief empfundenen und öffentlich ventilierten Gefühle der Deutschen zu teilen. Wertheimer faßt dies treffend zusammen: »Schließlich verbindet einen nichts so sehr mit anderen wie der Besitz eines gemeinsamen Feindes. Außerdem hatte der Antisemitismus eine spezielle Funktion in der deutsch-jüdischen psychischen Ökonomie: der Haß auf Außenseiter lenkte den Selbsthaß auf andere Ziele. Schließlich und am wichtigsten: die Konstruktion dieser Zielscheibe für den Judenhaß würde, davon waren viele deutsche Juden fest überzeugt, den deutschen Antisemitismus überhaupt entwaffnen.« 37 Wertheimer, Unwelcome Strangers, S. 25–30. 38 Ebenda, S. 144, 146.

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Außerdem »drohten die Neuankömmlinge ein Bild des Juden wiederzubeleben, auf dessen Verwischung die Einheimischen viel Mühe verwandt hatten«.39 In dem psychologischen Assimilationssyndrom wetteiferten Scham und Verlegenheit miteinander um den ersten Platz. Sobald der Assimilationsdruck des einheimischen Nationalismus erst einmal als autoritativ und legitim akzeptiert worden war, internalisierten diejenigen, die ihn als solchen akzeptierten, ihren ambivalenten Status und verurteilten sich auf diese Weise zu einer Wachsamkeit, die kein Nachlassen und keine Entspannung erlaubte. Sie würden für immer gegen jene verborgenen Aspekte ihres eigenen Selbst auf der Hut bleiben müssen, die sie jetzt als altmodisch, entehrend und deshalb peinlich empfanden. Und sie würden eifrig darauf bedacht sein, die quälende Erfahrung der Ambivalenz zu verdrängen, zu projizieren und nach außen abzuleiten: Sie würden andere Träger des ererbten Stigmas, das sie zu verwischen suchten, für immer wie besessen kontrollieren und zensieren – aber nur, um zu ihrem Entsetzen festzustellen, daß der erträumte Moment der Abrüstung und Ruhe nicht näher war als zuvor.40 39 Ebenda, S. 158, 160. 40 John Murray Cuddihy, The Ordeal of Civility: Freud, Marx, Levi-Strauss and The Jewish Struggle with Modernity, New York 1974. Cuddihy legt wiederholt den Gedanken nahe, daß die Qualen der Assimilation das Ergebnis eines »Kulturschocks« gewesen seien, mit dem die aufeinanderfolgenden Generationen von gebildeten Juden, die mit einem »unheimlichen prämodernen Nexus« belastet gewesen seien, nicht fertig werden konnten; sie waren unfähig, die Kultur der Nicht-Juden wirklich zu akzeptieren, in der sie sich wegen ihrer unpersönlichen Höflichkeit, die an die Stelle der wahrhaft jüdischen warmen und äußerst persönlichen Zusammengehörigkeit getreten sei, »unbehaglich« fühlten: »Die Unterscheidungen, die der schtetl-Subkultur der Jiddischkeit am fremdesten waren, waren die Unterscheidung des öffentlichen vom privaten Verhalten und der Manieren von der Moral.« Der Fehlschlag des Assimilationsprogramms war deshalb das Resultat der jüdischen Unfähigkeit, den modernen Maßstäben, die ihrer inneren Natur fremd waren, zu genügen. (Cuddihy identifiziert die

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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlor (zumindest im kontinentalen Europa und in Deutschland mehr als anderswo) die universalistische Rüstung des »Menschen als solchen« viel von ihrem ursprünglichen Glanz. Sie glitzerte, wenn überhaupt, einzig noch in der kollektiven Erinnerung der widerspenstigeren und eigensinModerne mit der Herrschaft der protestantischen Ethik, die er ihrerseits vor allem als Code der Höflichkeit, und zwar einer uninteressierten, unemotionalen Höflichkeit definiert.) Die jüdische Antwort auf die Unvereinbarkeit war, laut Cuddihy, ein Kampf mit der Moderne statt ein Kampf um die Modernisierung. Tatsächlich war die jüdische Haltung zur Moderne im wesentlichen subversiv, da die jüdischen Denker darum kämpften, die unpersönliche Etikette des Protestantismus durch die Depersonalisierung ihrer Unwilligkeit oder Unfähigkeit zur Modernisierung zu ersetzen. Infolgedessen wird bei Freud, der fand, daß die höfliche Liebe »so unjüdisch« sei, »soziales Unbehagen ein medizinisches Symptom, kwetsches werden hysterische Beschwerden, tsuris wird zu einer Grundangst, gesellschaftliche Scham wird zu moralischer Schuld, Abweichung wird Unfähigkeit, Fremdheit wird Entfremdung; sich schlecht zu benehmen heißt geisteskrank zu sein«. Cuddihy scheint zu akzeptieren, daß die Verfeinerung des öffentlichen Verhaltens tatsächlich zu sozialer Gleichheit führen würde, wie es die Assimilationsprogramme versprachen; und daß der wahre Grund des Unglücks nicht darin bestanden habe, daß die Etikette ein Schwindel gewesen sei, sondern daß die Leute, die wegen ihrer »partikularistischen Innerlichkeit des ethischen Nexus« gar nicht imstande gewesen seien, sie zu befolgen, vorgegeben hätten, es zu tun. Cuddihy hat auf diese Weise nur einen weiteren Versuch unternommen, dem Opfer die Schuld zu geben und dabei unabsichtlich eine getreue (nur terminologisch aufgefrischte) Neuformulierung aller wesentlichen Argumente geliefert, die ständig vom entstehenden Nationalismus wiederholt wurden, um die »Catch 22«-Situation zu rechtfertigen; eine, in die sie ihre unglücklichen ethnischen Minoritäten brachten, indem sie sie gleichzeitig aufforderten, sich mit der Mehrheit durch das Mittel der kulturellen Mimikry zu vereinigen, und sie lächerlich machten oder ihnen Doppelzüngigkeit und subversive Absicht vorwarfen, sobald sich die Nachahmung erst einmal als zu erfolgreich für die Bequemlichkeit der Gastgeber herausstellte.

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nigeren unter den Assimilanten. Die einheimischen Eliten gaben die universalistische Rhetorik schnell auf, während sie Schutz für ihre nationalistischen Ambitionen in dem eilfertig ausgegrabenen oder maßgefertigten »gemeinsamen Erbe« des völkischen Schicksals und der Volkskultur suchten. Sie verschanzten sich jetzt hinter den Schutzwällen des Volksgeistes, die kein Fremder durchdringen durfte. Die schnell entstehenden Völker waren nicht so sehr stolz auf ihren Geist als vielmehr auf den gesunden Körper. Und so hört man plötzlich von Nathan Birnbaum: »Die Ostjuden sind ganze, lebensfrohe und lebenskräftige Menschen« und liest Essays von Martin Buber, die mit Begriffen wie Blut, Boden, Volkstum, Gemeinschaft und Wurzelhaftigkeit überladen sind, die ihr Leben aus dem entstehenden Vokabular des germanischen Volkes ziehen.41 Wieder einmal verwandeln sich die »osteuropäischen Juden« in einen Mythos, der nach den letzten Bedürfnissen ihrer zivilisierteren westlichen Verwandtschaft konstruiert worden ist. Dieses Mal freilich ist die Auswirkung der Scham sozusagen vermittelt. Sie nährt die Phantasie nicht direkt, sondern durch das Auslösen einer fieberhaften Suche nach einer Tradition, die man glorifizieren und auf die man stolz sein kann. Im Zeitalter des narzißtischen, implosiven völkischen Nationalismus konnte man vernünftigerweise nur mit Hinweis auf den eigenen Stammbaum der Mannhaftigkeit, Maskulinität, des Mutes und der Zähigkeit um universale Anerkennung werben; auf eine Tradition, deren Wurzeln auf den Beginn der Zeiten zurückführten, die aber immer noch lebendig, kreativ und vorwärtsdrängend war. Oder zumindest glaubten das naiverweise einige schuldbewußte Juden. Die deutschen Juden »wollten nicht akzeptieren oder glauben, daß sie Außenseiter waren, die von den Deutschen – seien es

41 Vgl. Ritchie Robertson, »Antizionismus, Zionismus: Kafka’s Responses to Jewish Nationalism«, in: Paths and Labyrinths: Nine Papers from a Kafka Symposium, hrsg. v. J. P. Stern und J. J. White, Institute of Germanic Studies of the University of London, 1985.

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auch nationalsozialistische Deutsche – gemieden wurden«.42 Während es immer klarer wurde, daß Deutscher zu sein bedeutete, eher einem Volk anzugehören als, im Stile Goethes oder Schillers, der nebulösen, eigenschaftslosen Menschheit, hofften viele, daß man sich bei den Deutschen beliebt machen könnte, indem man die jüdischen Äquivalente der deutschen Volksgemeinschaft formte, der Volkshelden vom Typ Siegfried, des Führer-Prinzips.43 Für all dies kamen die Ostjuden gerade recht. Sie blieben in sicherer Entfernung, sie kümmerten sich nicht um die Sorgen ihrer assimilierten Brüder und scherten sich deshalb nicht darum, was die letzteren dachten oder sagten oder geschrieben hatten. Die wunderbare Verwandlung des häßlichen Entleins in einen bewunderten Schwan war das Werk desselben alten Zauberers, der einst die Vision des Ostjuden als des schmutzigen, unwissenden und unmoralischen Wilden, der aus vorzivilisierten Zeiten übriggebieben war, beschworen hatte. Selbst während er seinen ärmeren östlichen Verwandten mit Lob überschüttete, behielt der germanisierte jüdische Intellektuelle seine Überlegenheit bei – ja behauptete sie von neuem: Schließlich war er es ja, der die Schätze, die andernfalls für immer verborgen geblieben wären, enthüllte und offenlegte. Er war es, der den Tugenden Gestalt gab, die die Ostjuden, nur ohne es zu wissen, besaßen, unfähig, wie sie waren, ihren eigenen Wert zu würdigen. Die mühevolle Konstruktion des jüdischen Volkes aus den willkürlich ausgewählten Happen und Stücken des Ghetto-Lebens, die durchaus dem früheren Zeichnen von herabsetzenden Karikaturen ähnelte, wurde von den jüdischen Assimilationsinteressen angeregt und von dem Drang nach Erlösung von der Scham gelenkt, die nach wie vor auf dem Bewußtsein beruhte, hinter den herrschenden Maßstäben des Tages

42 Sidney M. Bolkosky, The Distorted Image: German Jewish Perceptions of Germans and Germany, 1918–1935, New York 1975, S. 4. 43 George L. Mosse, Germans and the Jews: The Right, the Left, and the Search for a ›Third Force‹ in Pre-Nazi Germany, New York 1970, S. 89, 94, 101.

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zurückzubleiben. Sie hatte definitiv weder die Anerkennung der Ostjuden als Gleicher zur Folge noch als Subjekte, die berechtigt gewesen wären, von und für sich selbst mit einer Autorität zu sprechen, die der ihrer aufgeklärten Wohltäter gleich war. Es ist bemerkenswert, daß während der ganzen Periode der romantischen Liebelei mit dem Bild des chassidischen Juden als dem nächsten jüdischen Äquivalent des völkischen Helden und des natürlichen Menschen die neu gefundenen Lieblinge nur auf eine gewisse Distanz geliebt wurden ( je größer, desto besser). Die mit allem Ernst beanspruchte geistige und religiöse Affinität wurde nicht als ein Freibrief für physische Nähe angesehen (letzteres war zugegebenermaßen eine Angelegenheit der Politik, nicht der Ideen). Der Einfluß des Ostjuden wurde ebenso wie früher mit Ressentiment betrachtet. Niemand wünschte, die gleißende Schönheit des jungen Schwans in dem häßlichen Entlein des »Nachbarn von nebenan« zu suchen. Der neugeborene osteuropäische jüdische Siegfried hatte eine ansteckende Krankheit, und ihm wurde dringend geraten, zu Hause zu bleiben.

Unbeglichene Rechnungen Im Rückblick scheint die stürmische, oft tragische, gelegentlich komische Romanze mit der Assimilation ebensoviele Beweise von der Niedrigkeit wie von der Erhabenheit des Geistes zu geben. Kurz vor seinem Tod schrieb Scholem verbittert von der »gottverlassenen Würdelosigkeit« der »servilen, flehenden und bittenden« Assimilanten, die, statt sich mit dem zu befassen, »was sie als Juden zu geben hatten«, nur an das dachten, »was sie als Juden aufzugeben hatten«; als selbststilisierte und aus diesem Grund übereifrige Hohepriester der einheimischen Kultur machten sie sich zwangsläufig vor allen außer sich selbst lächerlich.44 Und trotzdem liest sich der 44 Gershom Scholem, »Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen ›Gespräch‹«, in: Judaica 2, Frankfurt/M. 1963, S. 7.

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verbitterte und mürrische Nekrolog von Scholem auf den deutschjüdischen Dialog, der niemals stattfand, stellenweise wie die Klage eines verratenen und gekränkten Liebhabers, des Opfers einer unerwiderten Anbetung. Vielleicht war nichts an sich falsch mit der Idee, die beiden Kulturen zu verschmelzen; es waren eher die ersehnten deutschen Partner, die ihr eigenes leuchtendes Erbe ausgeschlagen hatten und den Anblick von Fremden nicht ertragen konnten, die es aufhoben und vor ihren Augen hin und her schwenkten, die ein Abenteuer beendeten, das keineswegs aus sich selbst heraus zum Tode verurteilt war. Die Gefühle, die Scholem im großen und ganzen mit Erfolg unter Kontrolle hält und nur selten an die Oberfläche kommen läßt, sind von anderen Autoren viel ungehemmter zum Ausdruck gebracht worden. Posthume Rechtfertigungen der Episode der Assimilation gibt es reichlich, obgleich sich viele von ihnen als selbstgerechte Begleichung von Rechnungen mit den unvernünftigen und undankbaren einheimischen Dialogpartnern verkleiden. Manchmal offen, in den meisten Fällen aber heimlich oder unbewußt werden fieberhafte Versuche unternommen, die Träumer der Assimilation von dem Vorwurf der Dummheit oder – noch schlimmer – des depravierten Charakters zu befreien. Aus leichtverständlichen Gründen müssen die Abkömmlinge deutscher Juden sich besonders viel Mühe geben, weil die Nichtigkeit des Assimilationsprojekts in Deutschland mit einer Brutalität aufgedeckt wurde, die weder für die Phantasie noch für Kontroversen Raum ließ. Zwar ist die direkte und offene Rechtfertigung der brutal zurückgewiesenen Liebesavancen selten und keineswegs repräsentativ. (Niemand schreibt heute noch wie Jacob R. Marcus, der Hitlers Entscheidung billigte, die Grenze »gegen eine Invasion durch die Ostjuden« zu schließen, die sowohl »kulturell fremd« wie »intellektuell minderwertig« seien und deshalb eine Bedrohung für Deutschland darstellten; und der den Gedanken nahelegte, daß die Amalgamierung deutscher Staaten eine Idee gewesen sei, die zuerst deutsch-jüdische Patrioten des Jahres 1848 vorgetragen hätten, de222

ren Testamentsvollstrecker Hitler sei.45) Die meisten Autoren neigen, mit wechselndem Erfolg, eher dazu, ihren Skeptizismus deutlich zu machen. Keine Anstrengung wird gescheut, sich von jener freudigen und trotzdem rücksichtslosen Hemmungslosigkeit zu distanzieren, mit der einige ihrer Vorfahren sich kopfüber in den whirlpool eines fremden und feindlichen Elements gestürzt haben, den sie fälschlicherweise für einen gemütlichen und einladenden swimmingpool hielten. Und trotzdem wird eine keineswegs geringere Anstrengung unternommen, den schweren Vorwurf des bösartigen Vorausdenkens zu entkräften und durch einen leichteren der verzeihlichen Ignoranz zu ersetzen: Schließlich wußten die glücklosen »Deutschen mosaischen Glaubens« nicht und konnten nicht wissen, was wir jetzt wissen. Ihre Unwissenheit war sozusagen ihr Privileg. Aus dem Wissen, welches die deutschen Juden besaßen, ergab sich ihre Strategie folgerichtig, auf untadelige logische Weise. Beinahe alles, was sie wußten, schien zu zeigen, daß sie auf der richtigen Fährte waren. Infolgedessen waren ihre Selbstsicherheit und ihre Ausdauer gerechtfertigt. Es war nicht ihr Fehler, daß am Ende Dinge passierten, die sie nicht vorausahnen konnten. Selbst die weniger angenehmen Facetten ihres Verhaltens und Denkens waren Ausdruck ihrer ganz realen (oder anscheinend realen) Leistung auf dem selbstgewählten Weg. Infolgedessen erklärt George L. Mosse, daß der Widerwille, den akkulturierte deutsche Juden gegen Juden von jenseits der Grenze empfanden, nichts besonders Jüdisches gewesen sei. Ganz im Gegenteil, er bezeuge die fast vollkommene Germanisierung der deutschen Juden. Er reflektiere den »Zusammenprall zwischen germanischer Kultur und der Lebensweise der jüdischen Siedlungsgebiete an den Grenzen«. »Diese Menschen«, schließt Mosse – wobei er indirekt den Verdacht einer tieferen, aus der Assimilation entstandenen, spezifisch jüdischen Scham und Furcht beiseite schiebt –, »waren Patrioten, und ihre Haltung zu den slawischen 45 Jacob R. Marcus, The Rise and Destiny of the German Jew, Cincinnati 1934, S. 101, 93.

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und jüdischen Zivilisationen war die gleiche wie gegenüber allen anderen fremden Zivilisationen […] Das Bild des Juden wurde ein Teil dieser allgemeinen Zurückweisung von ›Fremden‹.«46 Ein anderer prominenter Historiker, Peter Gay, pflichtet ihm in jeder Weise bei. Er schiebt die Vorwürfe, mit denen die Ostjuden das Verhalten der deutschen Juden von ehedem überschütten, als ungerecht und rachsüchtig beiseite. Die Wahrheit ist, sagt Gay, daß »sich Berlins deutsche Juden über ihre Brüder von jenseits der Grenze nicht nur deshalb lustig machten, weil sie beweisen wollten, daß sie Deutsche waren, sondern genau deshalb, weil sie Deutsche waren. Wie ihre nicht-jüdischen Mitbürger sahen sie die neuen Immigranten aus der Ukraine und Galizien als ungehobelt, laut, gierig, wirklich fremdartig und entschieden minderwertig an. Infolgedessen fand der deutsche Jude die Ostjuden, die ihn in Verlegenheit brachten, weil er fürchtete, er könnte mit ihnen identifiziert werden, auch deshalb so lästig, weil sie ihn wirklich verlegen machten. Das Vorurteil war nur ein weiteres Emblem seines Deutschseins.«

Wieder einmal werden die Opfer des Vorurteils, diesmal posthum, aufgefordert, die Schuld für die Ablehnung auf sich zu nehmen. Wieder wird die Schuld von denen, die die Ablehnung praktizierten, abgewälzt, zumindest einen oder zwei Zentimeter. Wie klar man jetzt auch immer durch den Nebel der Selbsttäuschung hindurchsieht, es ist psychologisch geradezu unmöglich zu akzeptieren, daß die enthusiastische und stolze jüdische Zelebrierung des übernommenen Deutschtums nur auf Naivität und Täuschung beruhte. »Wenn sie Monographien schrieben, Bilder malten oder Orchester leiteten«, insistiert Gay, »taten das die deutschen Juden auf eine Art und Weise, die, ich muß es wiederholen, ununterscheidbar von der Art der Deutschen war.«47 Mit dieser Meinung steht Gay keineswegs allein. Die repräsentativsten Sprecher des deutschen Judentums vor der Nazizeit sahen in der heiligen Dreifaltigkeit von Goethe, Schiller und Lessing (bei Gelegenheit ergänzt durch die geringeren, wenn auch glei46 Mosse, Germans and Jews, S. 73. 47 Gay, Freud, Jews and Other Germans, S. 187, 99.

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chermaßen verehrten Heiligen wie Kant, Fichte oder Herder) nicht nur die Garanten für das Bündnis zwischen deutscher und jüdischer Kultur, sondern auch einen lebendigen und entscheidenden Beweis, daß die beiden Kulturen tatsächlich und wesentlich von demselben Geist beseelt seien. Lange nachdem die Deutschen den letzten Rest ihrer jüdischen Bewunderer und selbsternannten Seelenbrüder dahin transportiert hatten, wo die zurückgestoßenen osteuropäischen Verwandten einst gelebt hatten (und später ermordet wurden), ist der Streit um die Wahlverwandtschaft von Judentum und Deutschtum noch nicht beigelegt worden. Einer der sensibelsten (und, nach seiner eigenen Definition, kritischsten) unter den deutsch-jüdischen Geistern, Max Horkheimer, schrieb überschwenglich über die unverbrüchliche Verwandtschaft, ja Identität zwischen deutschen und jüdischen Versionen des Idealismus, die unbeirrbare und niemals kompromittierte Hoffnung und die Philosophie der endemischen Undefinierbarkeit der Wahrheit.48 Der alte Streit scheint unvermindert weiterzugehen, lange nachdem er den letzten Rest an pragmatischer Bedeutsamkeit verloren hat. Die alten Schlachten werden noch einmal geschlagen, obgleich diesmal nur in dem gequälten Geist eines der Protagonisten. (Der andere, deutsche, Protagonist – oder war es eher ein Gegner? – hat schon lange den theoretischen Sieg der anderen Seite eingeräumt,

48 Max Horkheimer, Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 311ff. Gershom Scholem hat bei dem Versuch, eine umfassende Bewertung der jüdischen Romanze mit dem Deutschtum vorzunehmen, dem Mythos des deutschjüdischen Dialogs ein Ende bereitet: »Ich bestreite, daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern.« (»Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen ›Gespräch‹«, in: Judaica 2, S. 7.) Scholem würde allenfalls zugeben, daß eine »Distanzliebe« (mit einem Ausdruck von Max Brod) stattgefunden hat; und eine unerwiderte dazu.

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nachdem er zuerst einen praktischen errungen hat.) Noch einmal geschlagene Schlachten beleben die vergangene Scham über die »ungehobelten« und unwillkommenen Fremden von neuem. Diese Scham schmerzt noch immer, jetzt als unterdrückte Erinnerung, in der neuen und noch schmerzlicheren Form der Schuld. Sie schreit danach, ausgetrieben oder wegargumentiert zu werden. Da der Moment der Vergebung versäumt wurde, ist der einzige noch verbliebene Weg der, zu beweisen, daß es überhaupt nie etwas gegeben habe, was wiedergutzumachen gewesen wäre. Es muß zumindest eine rudimentäre Wahrheit im jüdischen Deutschtum gegeben haben, und daher muß etwas Wahres an den Vorwürfen gewesen sein, die die deutschen Juden gegen ihre osteuropäischen Nachbarn vorgebracht haben. Wenn die letzteren beschuldigt wurden, dann hatten sie es sich selbst zuzuschreiben. Folglich bestand ihre Schuld darin, angeklagt zu werden. Die Schuld hat die Anklage überdauert.

Das Assimilationsprojekt und Strategien der Reaktion Die deutsch-jüdische Erfahrung bietet einen brauchbaren Standpunkt, von dem aus einige entscheidende, trotzdem häufig unterschätzte oder übersehene Facetten des Mechanismus der Assimilation besser gesehen werden können. 1 Assimilation ist, im Unterschied zum Austausch zwischen Kulturen oder kultureller Diffusion im allgemeinen, ein typisch modernes Phänomen. Sie leitete ihren Charakter und ihre Bedeutung von der modernen »Nationalisierung« des Staates her, d.h. von dessen Anspruch auf rechtliche, sprachliche, kulturelle und ideologische Vereinheitlichung der Bevölkerung, die das Territorium unter seiner Rechtsprechung bewohnt. Ein solcher Staat tendierte dazu, seine Autorität eher durch Bezug auf eine gemeinsame Geschichte, einen Gemeingeist und eine einzigartige und exklusive Lebensweise zu legitimieren als auf äußere Faktoren (wie z.B. dynastische Rechte oder lediglich militärische 226

Überlegenheit), die im großen und ganzen gegenüber den unterschiedlichen Lebensformen der beherrschten Bevölkerung indifferent sind. 2 Die Kluft zwischen dem Projekt der Homogenität, das der Idee der Nation inhärent ist und vom Nationalstaat übernommen worden war, und der praktischen Heterogenität kultureller Formen innerhalb des Bereichs einer vereinheitlichten Staatsverwaltung stellte daher eine Herausforderung und ein Problem dar, auf das die Nationalstaaten mit kulturellen Kreuzzügen antworteten, die die Zerstörung autonomer, kommunaler Mechanismen der Reproduktion kultureller Einheit zum Ziel hatten. Die Ära, in der sich die Nationalstaaten bildeten, war durch kulturelle Intoleranz charakterisiert; allgemeiner, durch das NichtErtragen und Nicht-Dulden aller Differenz und ihrer unvermeidlichen Ergebnisse – Vielfalt und Ambivalenz. Praktiken, die von dem staatlich gestützten kulturellen Modell abwichen oder ihm nicht völlig entsprachen, wurden als fremd und potentiell subversiv sowohl für die nationale als auch die politische Integrität aufgefaßt. 3 Die Nationalisierung des Staates (oder eher die Etatisierung der Nation) verband politische Loyalität und Zuverlässigkeit (die als Bedingungen für die Gewährung von Bürgerrechten angesehen wurden) mit kultureller Konformität. Einerseits diente das postulierte nationale Modell als ideales Ziel eines kulturellen Kreuzzugs, andererseits wurde es von vornherein als Maßstab benutzt, mittels dessen die Zugehörigkeit zum Staat gemessen wurde; die Ausschließungs- und Diskriminierungspraktiken, die auf diejenigen angewendet wurden, die disqualifiziert wurden, weil sie die Prüfung nicht bestanden hatten, wurden dadurch erklärt und legitimiert. Folglich schienen Bürgerrecht und kulturelle Konformität zu verschmelzen; die Konformität wurde als Bedingung, aber auch als Mittel angesehen, das Bürgerrecht zu erlangen. 4 In diesem Kontext wurde die Verwischung kultureller Unterschiede und der Erwerb einer anderen, staatlich gestützten Kul227

tur als das vorrangige Mittel politischer Emanzipation aufgefaßt und wahrgenommen. Die Folge war der Drang politisch ehrgeiziger, fortschrittlicher Teile der »fremden« Bevölkerung, sich in der Praktizierung der herrschenden kulturellen Muster auszuzeichnen und die kulturellen Praktiken ihrer Herkunftsgemeinden zu desavouieren. Die Aussicht auf volle politische Bürgerrechte war hauptverantwortlich für die verführerische Macht des Programms der Akkulturation. 5 Der Drang zur Akkulturation stellte die angebliche Identität von Politik und Kultur auf die Probe und enthüllte die Ambivalenz, die diese Verschmelzung unvermeidlich belastete und die, auf lange Sicht, für das letztliche Scheitern des Assimilationsprogrammes verantwortlich war. a) Kulturelle Assimilation war eine spezifisch individuelle Aufgabe und Aktivität, während sich sowohl die politische Diskriminierung wie die politische Emanzipation auf die »fremde« (oder sonstwie ausgeschlossene) Gemeinde als Ganzes bezog. Da sich die Akkulturation nicht gleichmäßig entwickelte und unterschiedliche Bereiche der Gemeinschaft in ungleichem Ausmaß und Tempo erfaßte, schienen die fortgeschrittenen Teile von den relativ zurückgebliebenen aufgehalten zu werden. Sie waren im Zustand der Ambivalenz gefangen, der sie in der Praxis nicht entkommen konnten. Die Bindungen an die Gemeinschaft zu zerschneiden bot keinen Ausweg aus der Sackgasse, da die Anerkennung der Gruppe als Ganzes, wie die Tragfähigkeit einer Brücke, von der Qualität ihres schwächsten Teils abhängt. Das Auftreten als kulturelle Makler oder Missionare, die im Dienste der herrschenden Kultur handelten, um die kulturelle Transformation der Herkunftsgemeinde als Ganzes zu beschleunigen, verstärkte andererseits nur die Schicksalsgemeinschaft zwischen den akkulturierten und den »kulturell fremden« Bereichen der Gemeinschaft und festigte die ohnehin ungünstigen Bedingungen der politischen Akzeptanz. b) Der im Prozeß der Akkulturation offensichtlich erworbene Charakter kultureller Eigenschaften paßte schlecht zu der ererbten und 228

zugeschriebenen Natur der nationalen Mitgliedschaft, die durch die Formel der gemeinsamen Kultur nur dünn verdeckt wurde. Die Tatsache, daß ihre kulturelle Ähnlichkeit erworben worden war, machte die akkulturierten Fremden anders als die übrigen: Sie waren »nicht wirklich wie wir«, der Doppelzüngigkeit schuldig und außerdem wahrscheinlich der Verfolgung von bösen Absichten. In diesem Sinne ist die kulturelle Assimilation im Rahmen des Nationalstaates selbstzerstörerisch. Die nationale Gemeinschaft, die doch selbst nur ein Produkt der Kultur war, konnte sozusagen ihre Modalität als Nation nur durch die emphatische Leugnung einer »bloß kulturellen«, d.h. künstlichen Begründung aufrechterhalten. Statt dessen leitete sie ihre Identität vom Mythos des gemeinsamen Ursprungs und der Natürlichkeit ab. Der einzelne war entweder Mitglied oder war es nicht; man konnte es sich nicht aussuchen. c) Obgleich die Assimilation ihre Agenten wirksam ihrer Herkunftsgemeinde entfremdete, führte sie nicht zu deren voller und unbedingter Anerkennung durch die herrschende Nation. Sehr zu ihrer Verzweiflung fanden die Assimilanten, daß sie sich in Wirklichkeit einzig an den Prozeß der Assimilation selbst assimiliert hatten. Andere Assimilanten waren die einzigen, die ihre Probleme, Ängste und Voreingenommenheiten teilten. Nach dem Verlust ihrer Herkunftsgemeinschaft und ihrer früheren sozialen und geistigen Affinitäten landeten die Assimilanten in einer anderen Gemeinschaft, der »Gemeinschaft der Assimilanten« – nicht weniger entfremdet und marginalisiert als die, aus der sie geflüchtet waren, aber obendrein noch unheilbar ambivalent. Unheilbar – da die neue Entfremdung eine merkliche Tendenz zur Selbstverschlimmerung aufwies. Die Weltanschauung der Assimilanten wurde nun der gemeinsamen Erfahrung ihrer einzigen (wenngleich weder gewählten noch gewünschten) »Gemeinde« entnommen und durch einen Diskurs, der weitgehend innerhalb ihres Rahmens geführt wurde, geformt. Schließlich zeigte sie eine merkliche Tendenz, den »universalistischen« Charakter der kulturellen Werte zu unterstreichen und gegen alle 229

und jede Provinzialität zu kämpfen. Dieser Umstand brachte ihre Wahrnehmungen, ihre Philosophie und ihre Ideale auf Kollisionskurs mit den »Einheimischen« und verhinderte wirkungsvoll, daß die Kluft zwischen ihnen jemals überbrückt wurde. Trotz des wachsenden Beweismaterials für die Ergebnis- und Aussichtslosigkeit der Assimilationsbemühungen blieb die soziale Konstellation, die durch die Politik der Assimilation verfestigt worden war, eine Falle, aus der es, wenn überhaupt, nur wenige Auswege gab. Vermutlich war die abgrundtiefe und dauernde Isolierung der Opfer der Assimilationsträume der Grund für die erstaunliche Stetigkeit, mit der die Mehrheit der deutschen Juden ihrer Sache durch dick und dünn treu blieben. Wahrscheinlich aus objektivem oder subjektivem Mangel an anderen realistischen Optionen weigerten sie sich entschieden, die Vergeblichkeit ihres Traumes einzugestehen, selbst als nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches die steigende Flut des bösartigen rassistischen Antisemitismus mit merklichen Ausrottungsuntertönen durch das verwundete Land fegte. Allmählich verwandelte sich das Drama der Assimilation in eine Groteske, bevor es in einer Tragödie endete. Als die Weimarer Republik, die von Geburt an mit einer unheilbaren Krankheit geschlagen war, ihre letzten Jahre des Verfalls und Untergangs erreichte, hielten es die »Deutschen mosaischen Glaubens« (in deren Namen weniger als vierzig Jahre früher Löwenfeld rhetorisch gefragt hatte: »Sind wir den französischen Juden näher als den deutschen Katholiken?«) für nötig, die Drohung der Vergeltung des Weltjudentums als ihre letzte Sanktion gegen den drohenden Untergang anzurufen; damit »machten sie sich selbst in den Augen derer verdächtig, die sie von ihrer Loyalität zu überzeugen wünschten und an die sie sich mit der Bitte um Unterstützung und Schutz wandten«.49 Wenige Jahre später kam endlich der Tag 49 Leni Yahil, »Jewish Assimilation vis-à-vis German Nationalism in the Weimar Republic«, in: Jewish Assimilation in the Modern Times, hrsg. v. Bela Vago, Boulder, Col., 1981, S. 47.

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der Abrechnung, die »Juden deutscher Herkunft« fühlten sich verpflichtet, eine unzweideutige Wahl zu treffen, und sie wählten: Das offizielle Organ des deutschen Judentums erklärte, daß die deutschen Juden wie seit jeher »mit Deutschland zusammen gegen alle ausländischen Angriffe« stünden. »Sie sind, waren und werden Deutschland immer treu sein.«50 Bis zum Schluß war es nur eine relativ kleine, wenngleich nüchterne und sensible Minorität, die die Selbsttäuschung durchschaute und das Projekt der Assimilation für tot und begraben erklärte. Diese wenigen – wie der von Hannah Arendt so gelobte französische Jude Bernard Lazare – wendeten ihre Wut gegen die parvenus – die bestochenen Tölpel der Assimilation, die ihre individuellen Gewinne vorzeigten, um die Aufmerksamkeit von den Verlusten ihrer geringeren Brüder abzulenken: »Wann immer der Feind die Herrschaft sucht, legt er Wert darauf, einige befriedete Elemente der Bevölkerung als seine Lakaien und Diener zu benutzen, die er mit sozialen Privilegien, als einer Art Schmiergeld, belohnt.«51 Eine etwas größere Minorität, gleichwohl immer noch eine Minorität, kam zu dem Schluß, daß die alte Politik der Assimilation zum Tode verurteilt sei und daß die Idee ohne einschneidende Revision nicht am Leben erhalten werden konnte. Diejenigen, die die inneren Widersprüche und also die letztliche Vergeblichkeit der assimilatorischen Hoffnungen im allgemeinen oder zumindest in der ursprünglichen Politik der Assimilation entdeckten, suchten ein Heilmittel oder eine alternative Strategie. Das Heilmittel war eine politische Aktion, die auf die Reformierung oder Revolutionierung der Regeln zielte, die in der Praxis (im Unterschied zu der erklärten Theorie) die Gewährung politischer und sozialer Rechte lenkten. (»Sobald der Paria die Arena der Politik betritt und seinen Status in politische Ausdrücke übersetzt, wird er notgedrungen

50 Zitiert nach Bolkosky, The Distorted Image, S. 171. 51 Hannah Arendt, The Jew as a Pariah: Jewish Identity and Politics in the Modern Age, hrsg. v. Ron H. Feldman, New York 1978, S. 77.

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zum Rebell.«52) Diese Aktion beabsichtigte sozusagen, den Nationalstaat beim Wort zu nehmen; ihn zu zwingen, an seiner eigenen erklärten Absicht festzuhalten, den Zugang zur nationalen Ge52 Ebenda. Die Stellung, die von den parvenus eingenommen wurde, dem Produkt und dem Instrument der Assimilationsfalle, und das letztliche Schicksal, das durch eine solche Stellung bestimmt wurde, inspirierte Arendt, »die Moral von der Geschichte« zu formulieren: »Seit jener Zeit ist es ein Zeichen assimilierter Juden geworden, außerstande zu sein, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, zwischen Kompliment und Beleidigung, und sich geschmeichelt zu fühlen, wenn ein Antisemit versichert, daß er sie nicht meine, daß sie Ausnahmen seien – außergewöhnliche Juden.« Der Zusammenbruch des deutschen Judentums begann damit, daß es sich in unzählige Fraktionen aufsplitterte, von denen jede glaubte, daß besondere Privilegien Menschenrechte schützen könnten – z.B. das Privileg, ein Veteran des Ersten Weltkriegs gewesen zu sein, das Kind eines Veteranen oder, wenn solche Privilegien nicht länger anerkannt wurden, ein verkrüppelter Kriegsveteran oder der Sohn eines Vaters, der an der Front getötet worden war. Nachdem Juden en masse vom Erdboden verschwunden zu sein schienen, war es leicht, sich der Juden en détail zu entledigen.« (S. 107, 109) Daß das parvenu-Phänomen keine »deutsch-jüdische Krankheit« war, sondern eine universelle Begleiterscheinung der jüdischen Assimilation und aller Wahrscheinlichkeit nach ein unvermeidbares Produkt des Assimilationsdrucks als solchem, dieser Gedanke war im Jahre 1901 während der Dreyfus-Affäre von Bernard Lazare angedeutet worden. Tatsächlich präfiguriert sein sarkastisches Porträt des französischen Judentums dieser Zeit das Verhalten der deutschen assimilierten Elite: »Es ist ihnen [den assimilierten französischen Juden] nicht genug, jede Solidarität mit ihren fremdgeborenen Brüdern zurückzuweisen; sie mußten sich auch noch daranmachen, ihnen alle Übel vorzuwerfen, die ihre eigene Feigheit erzeugt. Sie sind nicht zufrieden damit, nationalistischer zu sein als die geborenen Franzosen; wie alle emanzipierten Juden überall haben auch sie willentlich alle Bande der Solidarität gebrochen. Ja, sie gehen so weit, daß für die drei Dutzend Männer in Frankreich, die bereit sind, einen ihrer zu Märtyrern gemachten Brüder zu verteidigen, man einige tausend finden kann, die bereit sind, zusammen mit den rabiatesten Patrioten des Landes die Teufelsinsel zu bewachen.« (S. 29)

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meinschaft ausschließlich von der demonstrierten Konformität mit den nationalen Werten und der nationalen Kultur abhängig zu machen, und sich auf diese Weise der Ambivalenz zu entledigen, die die Assimilation weiterhin mit sich führte, während sie ihr von vornherein jede Berechtigung absprach. Das Wesen dieser Reaktion auf das immer deutlichere Versagen des Nationalstaates, sein Versprechen einzulösen, ist von Milton Himmelfarb in wenigen Worten so charakterisiert worden: »Ehre wie Interesse erforderten, daß sie versuchen sollten, den Zustand der Gesellschaft zu ändern, in der es einen substantiellen politischen und sozialen Unterschied machte, ob man Jude oder Christ war. Temperament und Umstände bestimmten, ob sie für jene Veränderung auf konventionelle oder auf revolutionäre Weise arbeiten würden.«53 In Wirklichkeit herrschte kein Mangel an deutschen Juden, die einen der beiden Wege gewählt hatten. Ausgeschlossen von der aktiven politischen Teilnahme an den offen nationalistischen Parteien und Bewegungen (trotz all des ultrapatriotischen Enthusiasmus und der echt deutsch-nationalistischen Hingabe, die mancher Assimilant überschwenglich demonstrierte), betraten die Juden in unverhältnismäßig großer Zahl das liberale Lager und seine mannigfachen, meist kulturellen und journalistischen Erweiterungen. Sie hofften, die bestehenden Institutionen der politischen Macht zu nutzen, um das Versprechen der Assimilation als einen Vertrag zu erzwingen, der beide Seiten binden würde; durch politische Mittel alle sozialen und kulturellen Hindernisse zu beseitigen, die der Vollendung der Bemühungen um Assimilation im Wege standen. Zur gleichen Zeit strömte eine große Anzahl Juden aus fast denselben Gründen in die entstehende sozialdemokratische Bewegung – wenn auch mit weniger Vertrauen in die Fähigkeit der »real existierenden« liberalen Ordnung, ihre gegenwärtige Leistung zu verbessern. In ihrer Einschätzung der Veränderung, die erforderlich war, um das Stigma des Jüdischseins zu beseitigen,

53 Milton Himmelfarb, The Jews of Modernity, New York 1973, S. 9.

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folgten sie der Wahrnehmung von Karl Marx – dessen Vater, nach Murray Wolfsons Meinung, vor allem eines geschafft hatte (ähnlich wie ihre eigenen Väter): »ein Gefühl der Scham in seinem Sohn wachzurufen – sowohl wegen des Judentums seiner Eltern als auch wegen des servilen Aspekts des Versuchs seines Vaters [Heinrich], ihm zu entfliehen«. Statt der elterlichen Servilität, schloß Karl, war nicht weniger vonnöten als »eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe« – und dadurch genau den »jüdischen Schacher« unmöglich machen würde, für den Heinrich Marx sich entschuldigen zu müssen glaubte. »Andrerseits: wenn der Jude dies sein praktisches Wesen als nichtig erkennt und an seiner Aufhebung arbeitet, arbeitet er aus seiner bisherigen Entwicklung heraus an der menschlichen Emanzipation schlechthin und kehrt sich gegen den höchsten praktischen Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung.«54 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war es evident geworden, daß das Vorrücken der Juden innerhalb des bestehenden deutschen Gemeinwesens seine Grenzen hatte und daß ökonomische und erzieherische Fortschritte von einzelnen nicht schon an sich politi-

54 Murray Wolfson, Marx: Economist, Philosopher, Jew; Steps in the Development of a Doctrine, London 1982, S. 13, 88. [Das Marx-Zitat stammt aus: Zur Judenfrage, in: Marx, Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1970, S. 372.] Die zerstreute und vielleicht niemals voll artikulierte Erfahrung der Assimilationsagonie hätte gut als der Rohstoff dienen können, aus dem Marx sein komplexes Gemälde des proletarischen Freiheitskämpfers formte: »Eine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist«; »ein Stand, welcher die Auflösung aller Stände ist«; »eine Sphäre, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf einen menschlichen Titel provozieren kann«; »welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann« (vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx, Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1970, S. 390).

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sche Gleichheit, soziale Anerkennung und Freiheit von Vorurteil und Diskriminierung garantierten. Dem schwachen und unterwürfigen deutschen Liberalismus gelang es nicht, das politische Monopol der konservativen und nationalistischen landbesitzenden Eliten zu brechen. Nach der Berechnung Wistrichs verschwanden nach 1893 nicht-getaufte Juden so gut wie vollständig von den Bänken des Reichstages der deutschen bürgerlichen und konservativen Parteien. Sie schlossen sich jedoch en masse der parlamentarischen Vertretung der aufsteigenden sozialistischen Bewegung an, wo sie seit 1881 regelmäßig mehr als zehn Prozent der Gruppe stellten (eine Proportion, die zehnmal höher war als in der Bevölkerung insgesamt).55 Innerhalb der SPD stellten die Juden freilich eine ganz besondere Gruppe dar. Anders als das meiste Fußvolk und die nicht-jüdischen Mitglieder der Führung kamen sie meistens aus wohlhabenden Familien des Mittelstandes; vor allem waren sie im großen und ganzen gebildet (im Parlament von 1912 z.B. waren 11 von 12 jüdischen sozialistischen Abgeordneten, im Vergleich zu 12 von 89 nicht-jüdischen, Universitätsabsolventen). Ohne jede bewußte Absicht von ihrer Seite und ohne merklichen Druck von außen gab es eine starke Konzentration jüdischer Aktivisten der sozialistischen Bewegung in bestimmten Gebieten der Parteiaktivität. Sie stellten eine Mehrheit unter den Parteijournalisten, Theoretikern und Lehrern der Parteischulen. Diese Funktionen verschafften ihnen eine zentrale und hochangesehene Rolle im Leben der Partei und durch sie in der deutschen Politik insgesamt. Diese Rolle machte freilich ihre Position in der Partei zunehmend unbehaglich und erregte starke Ressentiments – und zwar in dem Augenblick, als die radikale politische Bewegung der frühen Jahre zu einem stark bürokratisierten Establishment verknöcherte, das hauptsächlich an der Erhaltung sicherer (und folglich zunehmend gemütlicher) Routinevorgänge interessiert war und als Ventil der

55 Vgl. Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austro-Hungary, London 1982, S. 80f.

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sozialen Aufwärtsbewegung für die Gewerkschaften und andere »Graswurzel«-Aktivisten diente. Sobald erst einmal Integration und Erhaltung statt ideologischer Mobilisierung zum Bedürfnis und Schlachtruf des Tages geworden war, wurden die theoretischen Schismen und Haarspaltereien, in denen sich die jüdische gebildete Parteilelite hervortat, von der zunehmend pragmatischen und instinktiv utilitaristischen Führung mit Mißtrauen und wachsendem Ressentiment angesehen. Neue Führer der Partei der Noske-Generation, Administratoren und Bürokraten, die meistens aus dem Gewerkschaftsestablishment befördert worden waren, fühlten sich bedroht und unbehaglich, wenn sie sich von sophistischen Intellektuellen und »Personen mit Prinzipien« gezwungen fühlten, Fragen ohne sichtbaren Nutzen oder unmittelbare Relevanz für ihre vorliegenden praktischen Probleme und Aufgaben zu debattieren. Sie sahen die Parteiintellektuellen als Fremdkörper, als eine Fremdeninvasion in Angelegenheiten an, die rechtmäßig den deutschen Arbeitern gehörten. Nach gutem altem deutschen Brauch nahm die Anstrengung, die lästig gewordene Einmischung ideologischer Prinzipien und theoretischer Vorschriften hinauszudrängen, die Form eines Angriffs auf die Ostjuden an. Die engagierten und radikalen Ideologen wurden am besten beiseite gedrängt, wenn man sie »dreckige polnische Juden« nannte, während ihre Hingabe an die theoretische Reinheit sozialistischer Ideen durch den Hinweis auf ihre unverbesserlich osteuropäische Mentalität und die Unfähigkeit, den Geist und die Sehnsüchte der deutschen Arbeiterklasse zu verstehen, wegerklärt wurden. Eine sozusagen alternative Strategie beruhte auf der Überzeugung, daß die Praxis des Nationalstaates nicht reformiert werden könne, daß das Scheitern der Assimilation weder kontingent noch korrigierbar sei und daß der Staat nur für eine Nation eine Heimat sein könne; daß, mit anderen Worten, eine Nation ohne einen Staat nur dadurch ihre Emanzipation erreichen könne, daß sie sich selbst zu einem Staat konstituiere oder zumindest eine staatsgleiche Souveränität gewinne. Auf der Empfängerseite des assimilato236

rischen Drucks fand der Nationalstaat einen fruchtbaren Boden für die Selbstausbreitung. Er erzeugte einen Gegennationalismus ganz eigener Art, der spiegelgleich alle charakteristischen Merkmale des modernen Nationalstaates aufwies, aus dessen Verwerfung er entstanden war: seine uniformierenden Ambitionen, die Intoleranz gegenüber Differenz und Eigentümlichkeit, die Betonung des zugeschriebenen Charakters der Gemeinschaftsmitgliedschaft und die Vermischung der Frage der politischen Teilnahme mit kultureller und ideeller Konformität. Er bedeutete eine uneingeschränkte Anerkennung des Gesamtmusters, wobei nur die eigene Rolle in seiner Verwirklichung zur Debatte stand. Es gibt wenig Zweifel daran, daß die Geburt des politischen Zionismus, ganz gewiß in seiner folgenreichsten, der Herzlschen Version, eher das Ergebnis der Desintegration der Assimilationsbemühungen als eine Frucht der judaistischen Tradition und der Wiederauferstehung der Liebe zu Zion war. Herzl war, wie Carl E. Schorske darlegte, für die Abneigung bekannt, mit der er den traditionellen Judaismus betrachtete, den er dafür tadelte, daß er eine physisch und geistig verkrüppelnde Wirkung auf die Juden habe. Er »gewann seinen äußerst schöpferischen Zugang zu der jüdischen Frage nicht aus dem Eintauchen in die jüdische Tradition, sondern aus seinen vergeblichen Anstrengungen, sie hinter sich zu lassen […] Selbst Herzls Konzeption von Zion kann am besten verstanden werden, wenn man sie ebensosehr als einen Versuch ansieht, das liberale Problem durch einen neuen jüdischen Staat wie das jüdische Problem durch einen neuen liberalen Staat zu lösen.«56

Schorskes Meinung wird in großem Umfang von fast allen politisch engagierten Gelehrten geteilt. Nach Ansicht von Egon Schwarz beschreibt »die gegenwärtig angemessenste Formulierung für Herzls Leben und Werk seinen Zionismus als zusammengesetzt aus den Fragmenten eines frustrierten österreichischen Libe-

56 Carl E. Schorske, Fin-de-siècle Vienna: Politics and Culture, London 1979, S. 151, 147.

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ralismus und seine Kultur als eine totale Erfüllung des Ideals der Assimilation«.57 (Nach Scholems denkwürdigem Urteil war vom Gesichtspunkt der deutschen Juden aus das zionistische Programm zuerst und vor allem eine Methode, das Ostjuden-Problem zu lösen. Der Vorschlag, daß die Zionisten wirklich selbst nach Palästina gehen sollten, der nachdrücklich zuerst im Jahre 1914 gemacht wurde, wirkte auf viele philanthropische Sympathisanten der Zionisten, die sich selbst als Deutsche sahen, wie ein Schock.) Herzls Zionismus kann als ein Versuch angesehen werden, ein doppeltes Bravourstück zu erreichen: die Juden vor dem Zusammenbruch des europäischen Liberalismus und den Liberalismus vor den Konsequenzen seines Zusammenbruchs in Europa zu retten.

Die letzten Grenzen der Assimilation Selbst die umfassendste Liste denkbarer und praktisch angewandter Strategien der Reaktion auf die inneren und letztlich destruktiven Mehrdeutigkeiten des Assimilationsprojekts würde die sozio-historische Signifikanz der modernen Romanze mit der Uniformität, besonders wie sie jetzt mehr und mehr gesehen wird, nicht erschöpfen. Auf lange Sicht weichen die bewußt entwickelten Strategien samt den heiß disputierten Ideologien, die sie forderten und rechtfertigten, eher in die Vergangenheit zurück, wo sie

57 Egon Schwarz, »Melting Pot or Witch’s Cauldron?«, in: Jews and Germans from 1860 to 1933, hrsg. v. Bronsen, S. 280. Hannah Arendt betonte die assimilatorischen Wurzeln des westlichen Zionismus: »Die hohlen WortGefechte zwischen Zionismus und Assimilationismus sind durch die einfache Tatsache völlig verkehrt worden, daß die Zionisten in gewissem Sinne die einzigen waren, die aufrichtig die Assimilation wünschten, nämlich die ›Normalisierung‹ der Menschen (›ein Volk zu sein wie andere Völker‹), während die Assimilationisten wünschten, daß das jüdische Volk seine einzigartige Stellung behalten möge.« (The Jew as a Pariah, S. 145f.)

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mit einem guten Teil Desinteresse und (gleichsam bitterer) Ironie angesehen werden können und sich in Fragen von vorwiegend archivarischem Interesse verwandeln. Was statt dessen in den Vordergrund tritt als das wahrhaft dauernde, vielleicht unverrückbare Sediment der Assimilationsepisode, ist die historische Rolle des Assimilationskontexts als einer Plattform, von der aus der tiefste Einblick in die moderne condition humaine gewonnen werden könnte: als jene soziale Lage, innerhalb deren das Problem, das später universal, durch das Ganze der modernen Gesellschaft hindurch, erfahren werden sollte, zuerst an einer ausgewählten Minorität durchexerziert wurde und sie dabei zu intensiver Selbstreflexion und Analyse zwang. Assimilation war die Frontlinie der Sozialtechnologie, die Schneide der fortschreitenden Ordnung. Wo die Spontaneität diskreditiert und die Fähigkeit der Natur zur Selbstkorrektur in Frage gestellt war, wurde Ordnung synoym mit dem Gewaltmonopol, mit Kontrolle und Unterdrückung der widerständigen »Andersheit«. Ambivalenz (eine unerwünschte Brücke, die über den postulierten Abgrund zwischen dem ordentlichen Innen und der Wildnis außen errichtet wurde, oder eine durchlässige osmotische Membran, die jeden Versuch zur Trennung zunichte macht) war jene Verneinung von Ordnung, die die Herstellung von Ordnung im allgemeinen und ihre assimilatorische Waffe im besonderen zwangsläufig in immer wachsendem Umfang selbst erzeugte. In der Produktion von Gleichförmigkeit war Ambivalenz das industrielle Abfallprodukt. Wie aller Abfall wurde er gemieden, mit Abscheu betrachtet und magischer, vergiftender Kräfte verdächtigt. Wenn die Assimilation die Frontlinie der modernen Sozialtechnologie war, fanden sich die Juden überall in Europa an der vordersten Front der Assimilationsbemühungen. Als zugegebenermaßen störrische, verstreute Gruppe, die über alle nationalen Grenzen drängte, dienten sie überall als Symbol und Mahnung an die inneren Schwächen der Assimilation und, noch schlimmer, der Undefinierbarkeit der erträumten Ordnung. Robert Casillos gründliche und enthüllende Studie über Antisemitismus, Faschismus und My239

thologie im Denken und Werk von Ezra Pound (eines Dichters, der die modernistische Ambition äußerst ernst nahm und sie in eine persönliche Lebensaufgabe verwandelte) bietet eine höchst eindringliche Analyse eines Phänomens, das sehr gut als archetypischer Fall einer Dämonenlehre dienen kann, die von dem modernen Projekt der menschengemachten Vollkommenheit erzeugt wurde: »Die Juden, die Pound als unerträglich anders behandelt, sind wesentlich für seinen Text […] Ohne die Juden, ohne die willkürliche Zuschreibung von Differenz und wirrer Andersheit an diese Gruppe, ohne die willkürliche Repression des Parasiten durch Gewalt, wäre Pound niemals fähig, sein größeres Projekt, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen, wenn auch nur provisorisch und unter Bedenken, durchzuführen […] Die Möglichkeit des Antisemitismus ist bei Pound immer gegenwärtig, wann immer sein Text entweder bewußt oder unbewußt seine eigenen Kategorien, Gesetze und Annahmen überschreitet, in Momenten der Konfusion, des Widerspruchs und der Unentscheidbarkeit. Kurzum, der Antisemitismus ist untrennbar von jenen Beispielen, in denen Pound nicht über die Bedeutung verfügen kann, wo unzweideutige Bedeutsamkeit durch die Überdetermination oder Polysemie der Metapher unterhöhlt wird, wo seine wesentlichen und scheinbar festen und unzweideutigen Begriffe […] sich als inhärent konfus und letztlich unentscheidbar erweisen.«

»Die widersprüchliche und verworrene Darstellung der Juden in Pounds Schriften« – schließt Casillo – bezeugt »seine dauerhaft Undefinierte Haltung gegenüber Natur, Geschichte, dem Weiblichen, Instinkt, Sexualität, dem Unbewußten, der Produktion und vielen anderen Begriffen, deren genaue Definition innerhalb Pounds Projekt kultureller Rekonstruktion erforderlich ist.«58 Durch das Medium der Juden waren die vielen unlösbaren Widersprüche des Ordnungsprojekts vereinzelt, »vergegenständlicht«, vom Projekt selbst abgesondert, zu einem kohärenten Ganzen zusammengeklebt, beruhigend als ein fremder, feindlichen Motiven entsprungener Beitrag konstruiert, ins Rampenlicht gestellt und verurteilt 58 Robert Casillo, The Genealogy of Demons: Antisemitism, Fascism, and the Myths of Ezra Pound, Evanston 1988, S. 18f.

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worden. Sie wurden dadurch sowohl lokalisiert als auch intellektuell desavouiert und auf diese Weise für die physische oder auch nur symbolische Auslöschung vorbereitet. Pounds Geist bewegte sich zwischen zwei Universen. Das eine war hell, harmonisch, schön, erhaben – weil transparent und ordentlich. Das andere war dunkel und undurchdringlich, bevölkert von Mikroben, Keimen, Bazillen, Pilzen. (Man bemerke, daß Bakterien, Viren und andere Bewohner des mikroskopischen Universums zwei Attribute gemeinsam haben: Wegen ihrer nagenden, auflösenden Aktion sind sie von Natur aus Feinde der Gesundheit und des organischen Gleichgewichts; und sie sind unsichtbar und deshalb schwer zu entdecken und auf sichere Entfernung zu halten. Dieselben beiden Züge definieren alle Mehrdeutigkeit; inbesondere definieren sie die Juden – die assimilierten oder assimilierungswilligen – wie sie vom Kontrolltisch des Ordnungsprojekts aus gesehen werden.) Jedes von Pounds Universen bedurfte des anderen. Offensichtlich bedurfte das zweite des ersten, um seine parasitäre59 Existenz weiterzuführen. Aber das erste bedurfte ebensosehr des zweiten: als einer Entschuldigung für den unbestimmten Aufschub seiner eigenen Verwirklichung wie als Apologie für seine eigene Unmöglichkeit. Da es in der Welt des Lichts keine Ambivalenz geben konnte, mußte alle Ambivalenz, die es gab, in der Welt der Finsternis untergebracht werden. Die tiefste Bedeutung der Ambivalenz ist die Unmöglichkeit von Ord-

59 »Parasit«, wie J. Hillis Miller brillant gezeigt hat (vgl. »The Citic as Host«, in: Deconstruction and Criticism, New York 1972, S. 219), ist ein Mitglied der Familie von Wörtern mit der Vorsilbe »para«, die »auf etwas Bezug nehmen, das zugleich auf dieser Seite einer Grenzlinie, einer Schwelle oder eines Randes wie auch jenseits liegt, gleichwertig und auch sekundär und subsidiär, submissiv, wie ein Gast gegenüber dem Gastgeber, ein Sklave dem Herrn […] Obwohl ein gegebenes Wort mit der Vorsilbe ›para‹ vielleicht eine dieser Möglichkeiten eindeutig zu wählen scheint, sind die anderen Möglichkeiten immer da, als ein Schimmer in dem Wort, der die Ursache dafür ist, daß es sich sträubt, in einem Satz zu bleiben.«

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nung. Die Bedeutung von Pounds Dunkelheit war die Unmöglichkeit von Licht – und die Unmöglichkeit, diese Unmöglichkeit zuzugeben. Pound haßte die Juden (und er haßte sie von ganzem Herzen und mit seinem ganzen Verstand, mit jenem echten, pauschalen Haß, der nicht mehr zwischen physischem Abscheu und intellektuellem Schrecken unterscheiden kann), weil er für das vollkommene Raster von Worten kämpfte, in dem alle Dinge ihren rechtmäßigen Platz haben, jedes Ding nur einen Platz hat und kein Platz von zwei Dingen gleichzeitig eingenommen wird. Ein solches perfektes Raster ist eine außerordentlich mächtige Metapher der Ordnung – jener Ordnung, für die die weltlichen Mächte seit der Dämmerung der Moderne kämpften. Wie diese Mächte erfuhr Pound die Unbestimmtheit seines Ideals: Die Konstruktion von Ordnung schien nur im Anhäufen von Ambiguitäten zu enden. Wie die Mächte, die auf ihrer Jagd nach der sich entziehenden nationalen Monosemie des Landes scheiterten, erwartete Pound – auf seiner eigenen Jagd nach der sich entziehenden Monosemie der Sprache – die Quelle der störrischen Ambivalenz zu finden. Beide fanden sie sie in den Juden. »Judenschleim«, »Judensumpf«, »Kloake von Palästina«, »die vage und stinkende Erbsensuppe«, »kriechender Schleim einer Geheimherrschaft«60 – dies sind einige der Gewänder, in denen die Juden in Pounds Version des Kriegs der Welten erscheinen. Alle verbalen Gewänder suggerieren Formlosigkeit, Schlüpfrigkeit und Gestank; sie suggerieren auch die Tücke eines schlammigen Bodens und eine Klebrigkeit, die kein Entkommen ermöglicht. »Schleim«, »Sumpf«, »Miasma«, »Jauchengrube« sind die Lieblingsbilder in Pounds jüdischem Diskurs. Am Ende bedeuten sie alle dasselbe: Chaos. Für Pound wie für die moderne, drängende, abenteuerliche Welt, die er in ihrer extremsten und obsessivsten Form repräsentierte, standen die Juden für jene Konfusion, die den

60 Vgl. Casillo, The Genealogy of Demons, S. 84.

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Traum von Ordnung über den Haufen warf. Sie waren für diese Rolle auserwählt worden, weil sie kollektiv das offensichtlichste Zeugnis für das Scheitern des Traumes boten. Nicht daß die Juden die Eingliederung in die neue Welt ablehnten, die danach strebte, sauber in die national getrennten Abteilungen aufgeteilt zu werden. Es war eher die topologische Inkongruenz des Entwurfs, die den Plan selbstzerstörerisch machte, die Suche nach einem Sündenbock auslöste und auf diese Weise indirekt die Eingliederung der Juden unplausibel machte. Die Schleimigkeit der Juden war selbst ein Produkt des Triebes nach einer Welt ohne Schleim. Ambivalenz der Juden war ebensosehr das Attribut der Moderne wie die obsessive Jagd nach einer transparenten – geplanten und überwachten – Gesellschaftsordnung. Für die große Mehrheit der westlichen Juden bedeutete Assimilation wenig mehr als eine Veränderung von Gewohnheiten – ein anderes Sprachspiel, ein anderes Spiel des täglichen Verkehrs, ein anderer symbolischer Code des Schneiders oder des Benehmens. Sei wie dein Nachbar; steh nicht abseits; sei in einer Menge von ähnlichen Leuten unauffällig; Judah Leib Gordons Aufforderung »Sei ein Jude zu Hause, ein Mensch auf der Straße« bedeutete »Sei unsichtbar in der Öffentlichkeit«; mach dein Judesein ununterscheidbar. All dies bedeutete seinerseits, das Recht des Gastgebers anzuerkennen, den Code zu definieren, jenen Code ernsthaft und sorgfältig zu studieren und eine fehlerlose Meisterschaft in seiner Anwendung zu erlangen. Es ist wiederholt bemerkt worden, daß assimilierende Juden en masse anerkannte Meister in den Schauspielkünsten wurden. Sie taten sich dann hervor, die Absicht der Bewertung, Tendenz oder Routine anderer Leute zu erfassen und zu absorbieren. Außerdem drängten sie in großer Zahl in Berufe mit gut eingebürgerten klaren und strengen Regeln, die offensichtlich eindeutige Maßstäbe von richtig und falsch setzten. Sofern es ihnen erlaubt war, besetzten sie mit Vorliebe Beamtenstellen und Regierungsämter mit ihrer steifen und bürokratischen Routine. Sie zeigten eine Menge guten Willen, sich in Riesmans »außengeleiteten« oder Whytes »Organisations«-Menschen zu verwandeln. Sie 243

waren eifrige Lernende und pflichteten gern dem Recht der Einheimischen bei, sie zu belehren. Ihr Talent für Mimikry war so unheimlich, daß es abstoßend wurde. Dieses Talent erwies sich auch als ihr Unglück – wo und wann immer sich ihre Gastgeber ihrer selbst unsicher waren oder Regeln aufstellten, die mehr versprachen, als sie bereit waren zu erfüllen, Regeln, die sich als unbestimmt herausstellten, während sie dazu dienen sollten, auszuschließen. In solchen Fällen wurde die Aufmerksamkeit der Regelsetzenden erregt. Nicht die Andersheit, sondern die Geschicklichkeit der Mimikry, die Geschwindigkeit, mit der die äußerlichen Schmuckstücke der Andersheit abgestreift wurden, wurde dann ihre Hauptsorge, Vorwurf und Zielscheibe. Drumont, der im Innern der exquisit französischen Schale einen »orientalischen«, unreformierten und unreformierbaren Juden spürte, gab den Ton für das an, was kommen sollte. Neue Bedingungen für die Anerkennung sollten sich unbekümmert selbst aufheben: Ein Jude konnte ein Franzose nur dann werden, wenn er ein Franzose war; d.h. wenn er kein Jude war. Die Zustände, Jude und Franzose zu sein, wurden als einander gegenseitig ausschließend erklärt – weder als Stufen eines Lebensprozesses noch als zwei Gesichter derselben Identität. Für Drumont und andere Schriftsteller, die auf der Linie Drumonts lagen, war nationale Identität keine Sache des Lernens, sondern Schicksal. Oder eher, es gab klare und unüberschreitbare Grenzen für das, was Lernen für die eigene Identität tun konnte. Zugegebenermaßen war der Rassismus die lauteste und schrillste Stimme in dem neuen Chor: Es gibt Dinge, die nicht assimiliert werden können und sollen. Es gibt Dinge, die fremd sind und niemals aufhören werden, fremd zu sein. Was die Natur getrennt hat, könne der Mensch nicht zusammenfügen. Vor allem hat die Natur die Reinheit der Arten dekretiert. Wenn sich reine Arten mischen, entstehen Ungeheuer. Ungeheuer der Ambivalenz. Ambivalenz kann durch guten Willen und Selbstreformierung nicht beseitigt werden. Sie muß durch eine gewaltsame Trennung ausradiert werden (wenn es sein muß: Ausmerzung) und durch eine gleich 244

gewaltsame Rassentrennung daran gehindert werden, zurückzukehren. Der Rassismus war der schrillste Alarmton angesichts der Ambiguität. Aber der Alarm wurde und wird gelegentlich noch immer, in einer weniger rauhen, obgleich nicht weniger ängstlichen Form zum Ausdruck gebracht. Unveränderlich formuliert er einen fundamentalen Zweifel an der Fähigkeit des Juden, wahrhaftig das zu werden, was er vorgibt zu sein, und was geworden zu sein er mit solch scheinbarem Erfolg demonstriert. Er zielt auf die Enthüllung »des Wesens« hinter den »Erscheinungen«: das Wesen des Juden hinter der Erscheinung des »Menschen als solchem«. Genauer: hinter der äußeren, täuschenden Gleichheit mit einem Amerikaner, Franzosen oder Engländer. Für diese letztere Form (zugegeben eine etwas gedämpfte, verblümte und scheinheilige, gleichwohl immer noch eine des Rassismus) bietet die vielgelesene Burleske von John Murray Cuddihy ein raffiniertes Beispiel. Die zentrale Botschaft von Cuddihys Pamphlet ist direkt genug: Das Jüdischsein der Juden ist unauslöschlich, und Assimilation ist ein Betrug. Der assimilierte Jude ist eine contradictio in adiecto: eine Ambiguität – und zwar hoffnungslos. Cuddihy macht sich ein Vergnügen daraus, den »unheimlichen prämodernen Nexus« zu demaskieren, das »provinzielle ethnische Band«, die »störrische residuale Realität«, die sich direkt unter der Oberfläche von Harvard-Professoren und anderen Leuchten des amerikanischen intellektuellen und kulturellen Lebens verbirgt. Infolgedessen kündigt er das Kommen eines »neuen Marranismus« an. Vieles, vielleicht alles an dem jüdischen Beitrag zur modernen Kultur und Wissenschaft kann als die Suche jüdischer Intellektueller erklärt werden, jenes »soziale Unbehagen«, das ihre Duplizität zwangsläufig erzeugt hat, (vor den anderen wie vor sich selbst) zu vertuschen. Marx, Freud, Lévi-Strauss und ihre geringeren (oder vielleicht besser geschützten) Gefährten verfolgten alle, jeder auf seine Weise, dasselbe undefinierbare Ziel; all die berühmten großen Visionen, mit denen sie die zeitgenössische Kultur bereichert haben, waren nur Metaphern, die ihre (andernfalls beunruhigen245

den) privaten Stammesprobleme veredeln sollten. Dank Cuddihys Einsicht und Wachsamkeit wissen wir jetzt z.B., worum es dem Strukturalismus ging: »Mittels des universalen und ahistorischen ›Idealismus‹ der Ideologie der strukturalen Anthropologie, der frühen Auseinandersetzung von Lévi-Strauss mit der Tatsache seines Jüdischseins, ist das alte ›jüdische Problem‹ verschwunden. Die ›Urantinomie‹, die primäre donnée der Sozialisation der Juden im Westen in der Post-Emanzipations-Ära, nämlich die ›ursprüngliche Klassifikation‹ der Welt in ›Gojim‹ und ›wir selbst‹ – ist aufgesogen worden und verschwunden, sublimiert in die erhabene binäre Opposition von Natur und Kultur, roh und gekocht, Nacht und Tag.«61

Ohne Zweifel legt Cuddihy seinen Finger auf ein wirkliches Problem: die unauslöschliche »jüdische Signatur« der modernen Kultur, den wahrhaft unheimlichen, beispiellosen, massiven Anteil, den die sich assimilierenden und assimilierten Juden an der kulturellen Revolution der Moderne gehabt haben; an der Revolution, die – gleichzeitig – »direkt aus dem Herzen« des Projekts der Moderne kam, das Produkt von Druck und Spannung war, das der moderne Trieb nach künstlich geplanter Ordnung erzeugte und entscheidend die Diskreditierung des Projekts beeinflußte. Freilich versucht Cuddihy im Einklang mit einer langen Tradition, das eigentliche Ziel gegen die disruptiven Tendenzen, die seine Verfolgung hervorbrachte, zu verteidigen, indem er solche Tendenzen als bloßen Ausfluß des provinziellen und rückschrittlichen jüdischen Problems beiseite schiebt. Die Wahrheit dieser Sache aber war, daß der assimilatorische Druck, jenes Markenzeichen der modernen Politik, die Juden in soziale Kontexte warf, in denen die Widersprüche der Moderne am schärfsten erfahren wurden und von wo aus sie leichter zu überschauen, zu verstehen und theoretisch zu erfassen waren. Jüdische Beiträge zur modernen Kultur werden besser nicht als Ausdruck des »jüdischen Kampfes mit der Moderne«, sondern als Nebenprodukte des »Kampfes der Moderne mit sich

61 Vgl. Cuddihy, The Ordeal of Civility, S. 86f., 8, 162.

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selbst« verstanden, als Nebenwirkungen, die von dem Ort, auf den die Moderne die Juden warf, besser sichtbar waren als von den meisten anderen Beobachtungspunkten. Tatsächlich hatte der Assimilationsdruck, der – dank des Nationalstaates und der vom Staat unterstützten Kulturträger – auf die europäischen Juden wirkte, nicht einfach zerrissene Seelen, zerbrochene Leben, Mutlosigkeit und Verzweiflung zur Folge. Noch stellte er seine Opfer einfach vor die Wahl, einen Krieg gegen eine doppelzüngige Gesellschaft zu führen oder jene Doppelzüngigkeit nachzuahmen und aus jener Gesellschaft an einen fernen und hoffentlich sicheren Platz zu entführen, wo sie aus einem Zeichen jüdischer Schwäche in ein Werkzeug jüdischer Stärke umgewandelt werden konnte. Gewiß, die Assimilationsepisode tat all diese Dinge. Aber sie erreichte mehr als das. Ohne jede Absicht, eher mangels als mittels eines Plans, brachte der assimilatorische Druck einen sozialen Kontext hervor, der durch ein einzigartiges und beispiellos kreatives Potential gekennzeichnet war. Mit einem Ergebnis, das dem beabsichtigten Ergebnis geradezu entgegengesetzt war, trug der Druck, der von dem Projekt der Moderne erzeugt wurde, in hohem Maße zum Entstehen und Gedeihen der modernen Kultur bei – vielleicht das spektakulärste und kostbarste, wenngleich weitgehend unantizipierte Nebenprodukt jenes Projekts.

Die Antinomien der Assimilation und die Geburt der modernen Kultur Die sensibelsten unter den Opfern dieses Assimilationsdrucks, welcher Zugehörigkeit versprach, aber Verlassenheit bewirkte, waren sich schmerzlich einer kreativen Stärke, die ihren Leiden entsprang, bewußt. Dies galt für keinen mehr als für Franz Kafka, einen Mann, der alle Illusionen über Bord warf und seine Einordnung als »westlicher Jude« voll akzeptierte – aber eher als Auszeichnung eines Schriftstellers denn als Mangel. 247

»Wir kennen doch beide [schrieb er an Milena] ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden, ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischeste von ihnen, das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, daß mir keine ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit …«62

Es sind die Einheimischen, denen ihre Existenz geschenkt wird, so daß sie sie in Ruhe leben können – eher ein Sein als ein Werden. Scheinbar war den Fremden dieselbe Art von Glück geschenkt worden; aber Kafka wußte, was so viele seiner Schicksalsgenossen zu spät bemerkten oder zu eigensinnig oder ängstlich waren zuzugeben: daß das Angebot eine Lüge war, da man nicht erwerben kann, was nur als Schicksalsgabe kommen kann. Im Unterschied zu so vielen anderen, die die gleichen Probleme hatten wie er, lebte Kafka sein Leben der Unsicherheit, der Unklarheit, des Strebens nach Zielen, die schon zurückweichen, bevor man sie erreicht hat, ganz bewußt. Wenn einem nichts geschenkt wird, schuldet man keinem etwas. Kein Vorurteil legt den Augen Scheuklappen an, keine Loyalität bindet die Lippen. Das bedeutet endloses Leiden. Aber es bedeutet auch grenzenlose Freiheit. Was bleibt, ist, diese Freiheit zu leben: eine quälende Aufgabe, eine atemberaubende Chance. Kafka schrieb – von irgend jemand wie er, von sich: »Er hat zwei Gegner: der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen; und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit

62 Franz Kafka, Briefe an Milena, Frankfurt/M. 1986, S. 294. Walter Benjamin, jemand, dessen Lebenserfahrung weitgehend derjenigen Kafkas ähnlich war, ein Schriftsteller, der als einer der ersten unter den Schöpfern der modernen Kultur das Selbst als ein »Projekt« ansah, als »etwas, das errichtet werden muß«, etwas, das immer »zu langsam errichtet« wird, so daß »man immer hinter sich selbst zurückbleibt«, schrieb auch von jener »Reinheit und Schönheit von Kafkas Scheitern« (vgl. Susan Sontags Einführung One Way Street and Other Writings, S. 14).

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dem ersten: denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten Augenblick – dazu gehört allerdings eine Nacht so finster, wie noch keine war – aus der Kampfeslinie ausspringen und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird.«63

Die Assimilationsperiode, samt ihrem grauenvollen Schlußakt, war vielleicht die »dunkle Nacht«, aus der das glücklose Opfer des nicht zu gewinnenden Krieges als Richter über die Nichtigkeit des Krieges hervorgehen konnte. Den Opfern wurde die Chance geboten, das Assimilationsangebot zu entlarven; noch dazu konnten sie freilich unter den ersten sein, die den modernen Traum von der Gleichförmigkeit durchschauten, die ersten, die sich von der modernen Furcht vor der Differenz freimachten, die ersten, die unverhohlen die moderne Religion der Intoleranz angriffen; sie konnten unter den ersten sein, die die universale condition humaine im Status des Fremden als eines sozial Ausgestoßenen erblickten. Wie Hannah Arendt es ausdrückte, hätten »jüdische Dichter, Schriftsteller und Künstler aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus fähig sein sollen, den Begriff des Paria als eines menschlichen Typs zu entwickeln – ein Begriff von höchster Wichtigkeit für die Bewertung der Menschheit unserer Tage und einer, der auf die nicht-jüdische Welt einen Einfluß ausgeübt hat, der in seltsamem Kontrast zu der geistigen und politischen Wirkungslosigkeit steht, die das Schicksal dieser Männer unter ihren eigenen Brüdern gewesen ist«.64

Das Assimilationsprojekt der Moderne hat seine eigenen Totengräber erzeugt. Unabsichtlich hat es die Bühne bereitet, auf der das Drama der modernen Kultur vor vollem Haus und unter erstaun-

63 Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß. Frankfurt/M. 1954, S. 300 (in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Max Brod). 64 Arendt, The Jew as a Pariah, S. 68.

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lichem und andauerndem Beifall gespielt werden sollte. Es gab, könnte man sagen, eine Wahlverwandtschaft zwischen der Erfahrung der Objekte des Assimilationsprojekts (und, um es allgemeiner auszudrücken, des modernen Kampfes gegen Ambivalenz) und dem Auftauchen der antinomischen modernen Kultur. Wahlverwandtschaft ist keine kausale Beziehung. Sie ist auch keine Sache der »Ähnlichkeit«. Sie ist eher eine Beziehung der Isomorphie, des »Austauschs« zwischen zwei eigengesetzlichen Mengen von Phänomenen: Die inneren Relationen zwischen Phänomenen der einen Menge können als Abbilder der Phänomene der anderen dargestellt werden. Da jede Menge in mehr als einer Weise »strukturiert« werden kann, ist die Struktur, die durch die »Wahlverwandtschafts«-Perspektive hervorgerufen wird, nur eine von vielen Möglichkeiten, die in der Anwesenheit der Mengen zusammengedrängt ist. Wie alle Strukturen, so ist auch diese eine Gewalttat: Sie setzt ihre eigenen Prioritäten und ihre Irrelevanzen durch; sie stellt einige Phänomene in den Vordergrund, während sie andere dem Vergessen anheimgibt. Dies war die Operation, die Edmond Jabès (Le Livre des questions, 1963) sowohl mit dem Judentum wie mit der Schriftstellerei vornehmen mußte, um den Gedanken entwickeln zu können, daß »die Schwierigkeit Jude zu sein« »sich mit der Schwierigkeit zu schreiben« deckt; »denn Judaismus und Schreiben sind nur ein einziges Warten, eine einzige Hoffnung, ein einziger Verschleiß« (oder die Marina Zwetajewa vorzunehmen hatte, als sie betonte, daß »alle Dichter Juden« seien).65 Die antinomischen Motive, die sich in dem Phänomen der Moderne verbinden (der Drang nach Universalität, der sich in der Praxis in die Zelebrierung des Pluralismus auflöst; die Suche nach absoluter Begründung der Wahrheit, die, unkoordiniert, zur Erkenntnis des hoffnungslosen Relativismus des Wissens führt; der Traum von semiotischer Klarheit, der die Welt als hoffnungslos

65 Zitiert nach Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972, S. 102; ders., Shibboleth. Für Paul Celan. Wien 1986, S. 106.

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zweideutig enthüllt; der Kult des Dazugehörens, der die Wurzellosigkeit bloßlegt; ja, genau die »doppelte Lokalisierung« der Ambivalenz – die als die Zielscheibe des Projekts der Moderne ausersehen ist und trotzdem im Herzen der modernen Mentalität liegt), ebenso wie die notorischste, gleichwohl selbstzerstörerische unter den charakteristisch modernen Obsessionen (Natürlichkeit durch Künstlichkeit, Spontaneität durch Management, Freiheit durch Entwurf ) prallten in einem sozialen Kontext aufeinander, in dem, um Finnegans Wake zu zitieren, die Hauptfrage war: »wer ist wer, wenn jeder jemand anders war«. Destabilisierung, das »Leben auf Abruf« oder das Fehlen von klaren Identitäten und von guten Gründen, eine der anderen vorzuziehen, waren die wichtigsten Erfahrungen des Lebens, und trotzdem mußte das Leben unter dem unaufhörlichen und überwältigenden Druck geführt werden, aus Furcht vor Vertreibung oder Mißachtung im Falle des Scheiterns eine Identität zu konstruieren, die sowohl privat wie öffentlich anerkannt wurde, die sowohl angenehm wie annehmbar war. In ihrem Krieg miteinander (weil sie sich miteinander im Krieg befanden) ergaben die moderne Kultur und die modernen Lebensbedingungen »Sinn«. Und es waren die Juden, die dem gewaltigen Assimilationsdruck ausgesetzt waren, die gedrängt und bedrängt wurden, Identitäten abzulegen und aufzulesen, ihr eigenes Selbst aus kurzen Blicken auf anderer Leute Selbst zu erbauen, sich selbst zu behaupten und zu verleugnen, anders zu werden, als sie waren, und so zu werden, wie sie nicht waren, zu heucheln und zu verheimlichen. Sie waren unter den ersten, die die volle Auswirkung dieser modernen condition humaine erfuhren und die entsetzlichen Konsequenzen einer unrichtigen Reaktion am eigenen Leibe spürten. Mit anderen Worten, die Erfahrung, die die Juden mit dem Modernisierungsprozeß machten, bot eine optimale Gelegenheit für die Formung und bewußte Artikulation der geistigen Strukturen, die die charakteristischen Merkmale der modernen Kultur werden sollten. Und umgekehrt – solche Merkmale treten schärfer und deutlicher erkennbar hervor, wenn sie im Zusammenhang mit der sozialen Situation gesehen werden, mit der sie am offensichtlich251

sten in Resonanz standen. Das soll nicht heißen, daß die moderne Kultur in ihrem Charakter »jüdisch« sei. Und es bedeutet auch nicht, daß Juden von Natur aus »modern« seien. Aber es bedeutet, daß die Moderne in ihrem Kampf gegen Ambivalenz die Juden (wie auch weiterhin alle »Fremden«) in die Situation einer so abgründigen und durchdringenden Ambivalenz geworfen hat, daß die condition humaine ihrer partikularistischen Umhüllung entblößt wurde und schließlich jene Ambivalenz freigelegt hat, die die Universalität der modernen condition humaine konstituiert: die Verwirklichung und den Bankrott des Projekts der Moderne. Harold Bloom schrieb über die sich begierig modernisierende, vorgeblich alles absorbierende, aber praktisch alles trennende Welt: »Der psychische Repräsentant des Triebes nicht im individuellen Bewußtsein, sondern in der menschlichen Geschichte ist, allegorisch oder ironisch betrachtet, das Bild eines wandernden Exils, das durch all die Wechselfälle von Ungerechtigkeit und Vertreibung in der Zeit vorangetrieben wird […].«66 Exil, Verschleppung, Ambiguität und Nicht-Determination waren das Los der Juden, gerade bevor es sich in eine allgemeine condition humaine verwandelte. Es war, um genauer zu sein, das Los einiger transitorischer jüdischer Generationen, die im leeren Raum zwischen einer Tradition, die sie schon verlassen hatten, und der Lebensform, die ihnen hartnäckig das Recht auf Eintritt verweigerte, schwebten. In jenem leeren Raum konnte sich die letzte Kontingenz und Ambivalenz der bedrängten menschlichen Existenz und der sich daraus ergebende Fluch und Segen der Selbstkonstitution und Bedeutungsbildung nicht verbergen, und sie erzwangen sich so ihren Weg in die Vision der condition humaine – nackt, ohne Scham und aufdringlich. Auf diese Weise geschah es, daß die heimatlosen jüdischen Intellektuellen die ersten waren, die in diesen Raum ohne Versteck stolperten (oder eher gestoßen wurden).

66 Harold Bloom, Ruin the Sacred Truth: Poetry and Belief from the Bible to the Present, Cambridge, Mass., 1989, S. 161.

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Seit damals haben Heimatlosigkeit, Wurzellosigkeit und die Notwendigkeit der Selbstkonstruktion aufgehört, das Kennzeichen der Juden zu sein. Die Juden sind seßhaft geworden – während ihre nicht-jüdischen Nachbarn weniger sicher wohnen, als sie früher glaubten. Um es anders auszudrücken: Die Juden sind endlich zur Welt zugelassen worden, die in der Zwischenzeit viel von ihrer Fähigkeit verloren hatte (oder viel von ihrem vorgeblichen Anspruch aufgegeben hat), Identität dadurch zu verleihen, daß sie den Zugang gewahrte oder verwehrte. Um es noch einmal anders zu formulieren: Die Juden, die durch den Assimilationsdruck der Moderne in den Zustand der Heimatlosigkeit gezwungen worden waren (und auf diese Weise die Kontingenz und Ambivalenz des Seins entdeckten), waren auch die ersten, die den Geschmack der postmodernen Existenz gekostet haben. Später fanden sie eine Heimat, aber erst, nachdem die Welt selbst postmodern geworden war. Damit verloren sie ihre Unterschiedenheit – dies aber nur, weil der Zustand, unterschieden zu sein, sich in das einzige universale Merkmal der condition humaine verwandelt hat. Damit ist der assimilatorische Eifer der aufstrebenden Moderne beinahe erloschen. In dem Teil der Welt, wo sie ihre größten Triumphe feierte, hat die Moderne gelernt (oder – die Klugheit gebietet Vorsicht – lernt sie), mit ihrer eigenen Unmöglichkeit zu leben. Nicht nur Schwarz, sondern jede Farbe ist jetzt schön, und sie dürfen sich zusammen ihrer Schönheit rühmen, obgleich jede Form der Schönheit anders als die nächste ist. Dies mag noch keine Regenbogenkoalition sein, aber ganz gewiß ist es eine Regenbogenkoexistenz. Und von ebensolcher Art ist eine regenbogengleiche, polyseme und mannigfaltige Kultur, die sich ihrer Vieldeutigkeit nicht schämt, die sich zurückhält, Urteile zu fällen, die notgedrungen tolerant gegenüber anderen ist, weil sie endlich sich selbst gegenüber tolerant ist, gegenüber ihrer letzten Kontingenz und der Unerschöpflichkeit der Deutungen. Pound konnte seine Judaeophobie nicht verlieren, ohne den Traum einer ungestörten Harmonie, einer wahrhaften eineindeutigen Korrespondenz zwischen Namen und Dingen aufzugeben; aber er wäre nicht fähig, seine Ju253

daephobie lange aufrechtzuerhalten (nicht in ihrer bösartigen, paranoiden und auf Ausmerzung bedachten Form), würde er aufhören zu träumen. Durch ein nicht eben erbauliches, finsteres Paradox war der Ausbruch jüdischer intellektueller Kreativität, der sich als moderne Kultur sedimentierte, ein Ergebnis der Intoleranz der Moderne. Solch eine kreative Intensität überlebt wahrscheinlich nicht (auf jeden Fall nicht in ihrer ursprünglichen spektakulären Form) den Eintritt in eine Welt, die gegenüber der Differenz indifferent und gegenüber den Lockungen der Prediger der letzten Perfektion taub ist. Sobald das Drama der Assimilation einmal vorüber ist (oder eher, wo es vorüber ist), ist auch die Geschichte der einzigartigen und ursprünglichen jüdischen kulturellen Rolle zu Ende.

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Eine Fallstudie zur Soziologie der Assimilation II: Die Rache der Ambivalenz Ich weiß nicht, ich werde nie wissen, im Schweigen weißt du nicht, du mußt weitermachen, ich kann nicht weitermachen, ich kann nicht weitermachen, ich mache weiter. Samuel Beckett

Nicht jede assimilatorische Erfahrung war tragisch. Nicht jede ist kulturell schöpferisch. Ja, das Gegenteil scheint der Fall zu sein – um so mehr, da der Kreuzzugsgeist des Nationalismus überall in der westlichen Welt allmählich zu einer Art Unterhaltung wird, die sich des »gemeinsamen Erbes« als eines Konsumartikels bedient, während im Sonderangebot auf den Markt geworfene und persönlich zusammengezimmerte Heimwerker-Identitäten die ätiologischen Mythen des gemeinsamen Schicksals, Blutes, Bodens und der kollektiven Missionen ersetzen. Das alltägliche Leben der Assimilation ist langweilig – weder angeregt noch anregend: schwerlich eine Quelle der Agonie; gewiß kein Anreiz zu Bilderstürmerei, intellektuellem Dissens oder kulturellem Abenteurertum. Für die überwiegende Mehrheit der westlichen Juden, die es sich in den – nationalen, lokalen, doch keineswegs militant provinziellen – Mittel-und Oberschichten bequem gemacht haben, bedeutet Assimilation nicht mehr, als zu sein wie jeder andere. »Du sollst dich nicht von deinen Nachbarn unterscheiden«, ist das einzige Gebot – und dies ist ein leicht zu befolgendes Gebot, das, wie Cynthia Ozick bissig kommentierte, sehr wahrscheinlich keine quälenderen Sorgen verursacht als den Drang, »herauszustürzen, um ein Fähnchen zu kaufen, wie alle in der Straße«.1 Assimilation 1 Cynthia Ozick, Art and Ardour, New York 1984, S. 159.

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hat sich in eine allgemeine Konformität der öffentlichen Erscheinungsbilder aufgelöst, die mit einer Vielzahl von privatisierten Inhalten friedlich zusammenwohnen. Die offenkundige Gleichförmigkeit ist um so leichter beizubehalten, als die Verschiedenheit (besonders solange sie unaufdringlich bleibt) mehr und mehr als die wichtigste persönliche Tugend, als Pflicht und als Gegenstand des Stolzes, angesehen wird. Angesichts der Vielfalt der Lebensstile, die nach Klassen und Generationen, Berufen und Regionen differenziert oder einfach sozial ungebunden und frei beweglich sind, ist es schwierig, Lebensformen, die ethnisch verwurzelt sind und als solche anderen, beunruhigenderen Regeln als die übrigen mannigfaltigen Dimensionen der Vielfalt unterworfen sind, als besondere Herausforderung zu empfinden. Die Erinnerung an ihre einzigartige Vergangenheit überlebt, wenn überhaupt, in der gelegentlich wieder aufsteigenden Scham und Verlegenheit der älteren und schnell alternden Generation. Die Aufmerksamkeit der reichen jüdischen Bewohner der Vorstädte scheint im großen und ganzen undramatisch darauf gerichtet, »genauso zu sein wie die anderen« reichen Bewohner der Vorstädte; die der jüdischen Jugend, den modernen Lebensstil der Jungen zu übernehmen und nachzuahmen; die der jüdischen Berufstätigen, so zu leben und sich so anzuziehen und die Büros so auszustatten, wie es sich für Berufstätige von gleichem Rang gehört; die der jüdischen Akademiker, im Einklang mit der letzten Campusmode zu handeln. Dem Assimilationsdruck (oder dem wenigen, was davon übrig ist) wurde der Stachel nicht etwa gezogen, weil die Juden irgend etwas getan haben, sondern weil der Welt etwas geschehen ist, an die sich die Juden assimiliert haben. Diese Welt ist jetzt eine spätmoderne oder postmoderne Welt universaler Partikularität; eine Welt, die durch ihre Vielfalt integriert ist, die sich durch Differenz nur wenig beunruhigen läßt und die sich mit der Ambiguität abfindet. Die Schärfe und Tiefe der Unterschiede, die der Assimilationsdruck auslöschen sollte, haben kein anderes objektives Maß als die Intensität des Dranges eines gegebenen Nationalismus nach Überlegenheit und Beherrschung. 256

Lassen Sie mich den letzten Punkt deutlicher machen. Die Juden haben im kommunistischen Osteuropa und besonders in den riesigen Weiten der Sowjetunion tatsächlich eine tiefergehende Assimilation durchlaufen als irgendwo im Westen. Sie sind in ihren Bräuchen, der Sprache und den kulturellen Stilen im großen und ganzen von ihren Nachbarn in einem Ausmaß ununterscheidbar, das nicht einmal von den wohlhabenden amerikanischen Vorstädten übertroffen wird. Selbst religiöse Versammlungen oder die »gemeinsame jüdische Sache« unterscheiden sie nicht einmal mehr nominell von anderen Bürokraten, Medizinern, Anwälten, Handwerkern oder Händlern. Und trotzdem: Die Behauptung, daß das Drama der Assimilation in ihrem Falle beendet sei, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach illusorisch, ganz gewiß aber voreilig. In den langen Jahren der kommunistischen Herrschaft sind die von der nationalen Selbstbehauptung erzeugten Probleme auf Eis gelegt, nicht gelöst worden. Sie haben nur auf ein Steigen der politischen Temperatur gewartet, um sich mit einer Kraft zu reaktivieren, die wegen der langen Dauer des Überwinterns nur um so explosiver geworden ist. So, wie sich dies jetzt vollzieht, finden sich die total akkulturierten Juden nicht weniger – vielleicht sogar stärker – verletzlich und exponiert als jedes andere Ingrediens des Hexengebräus. Unter den plötzlich erwachten Nationalismen, die sich den vereinheitlichenden und uniformisierenden Zwängen des Sowjetstaates gegenübersehen, sind die Juden die einzige Gruppe, die natürlicherweise mit ebendiesem Staat auf Gedeih und Verderb verheiratet ist. Denn im Unterschied zu allen anderen Nationen, die souverän sein wollen, haben sie keinerlei territoriale Ansprüche und nicht die geringste Hoffnung auf ökonomische oder soziale Autarkie. Die Juden sind, im vollen Sinne des Wortes, eine »StaatsNation«, die von dem Schutz des Staates abhängt und dem zentralen sowjetischen Staat die Lebensbedingungen und Garantien der kollektiven Sicherheit verdankt. In dem resultierenden Schwebezustand zwischen dem Staat ohne nationale Basis und den vielen unglücklichen Nationen ohne Staaten scheinen die Juden für die 257

Rolle eines politischen Fußballs wie gemacht zu sein. Hannah Arendt hat die gesamte Periode der modernen jüdischen Geschichte mit den Worten kommentiert: »In den 150 Jahren, in denen Juden wirklich inmitten und nicht nur in der Nachbarschaft europäischer Völker lebten, haben sie stets mit politischem Elend für gesellschaftlichen Glanz und mit gesellschaftlicher Verachtung für politische Erfolge gezahlt.«2 In der explosiven Mischung aus unbefriedigten und unersättlichen Nationalismen, die die gegenwärtige Sowjetunion darstellt, bieten die Juden ein offensichtlich geeignetes unmittelbares Ziel giftiger Entladung gegen den Staat, dem die Schuld für das Ersticken nationaler Ambitionen angelastet wird. Für die Träger großrussischer Ambitionen (man kann solche Ambitionen aus jeder Ausgabe von Zeitungen wie Nasch Sowremennik, Moskwa, Molodaya Gwardia, Literaturnaya Rossiya entnehmen) symbolisieren die Juden die »internationalistische (westlich-liberale) Verschwörung« gegen den einzigartigen Geist und die Tradition von Mütterchen Rußland. Verlieren die großrussischen Kräfte ihre Schlacht gegen und ihre Macht über die unterworfenen Nationen, dürften die Juden sich zur Abwechslung widersprüchlichen 2 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1975, Bd. 1, S. 104. Die wiedererstandene unverblümte russische Judaeophobie zeigt alle Merkmale des frühmodernen Assimilationsprojekts; sie verspricht den sowjetischen Juden Toleranz unter der Bedingung, daß sie ihre eigene Identität verleugnen und sich vollständig der russischen Sache unterordnen. In einer neueren Ausgabe der Prawda wählte Stanislaw Kunjajew, Herausgeber der Zeitung Nasch Sowremennik [Unser Zeitgenosse], der dafür berühmt ist, die wesentliche Unvereinbarkeit jüdischen und russischen Geistes zu predigen, einige »exemplarische Juden« aus – wie Hilferding, der russische Volkslieder gesammelt hat, Levitan, einen Maler russischer Landschaften, die russischen Dichter Antokolkski, Pasternak, Mandelstam und Gerschenson (die als poetische Persönlichkeiten alle ausgesprochen »nicht-jüdisch« waren) – als das Beispiel, dem nach seiner Vorstellung alle Juden folgen sollten, damit ihre Anerkennung in der russischen Nationalheimat zumindest in Erwägung gezogen werden könnte (vgl. »Za slovo – vesomoë!«, Prawda, 20. Okt. 1989, S. 3).

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und unvereinbaren Assimilationszwängen gegenübersehen, die von den neuen nationalistischen Mächten getragen werden, die die historische Erinnerung an die Juden als Feinde aller und jeder nationalen Selbstbehauptung erben. In der Erfahrung der westlichen Juden kann man freilich von jüdischer Assimilation im großen und ganzen in der Vergangenheitsform sprechen. Die Agonie und der Glanz der Assimilation waren dort eine relativ kurze und örtlich beschränkte Episode in der modernen Geschichte. Sie umfaßte einige Generationen, die stürmische, wenngleich kurze Periode, die die modernen Staaten brauchten, um sich in ihrer historisch unvermeidlichen, gleichwohl transitorischen nationalistischen Form zu etablieren. Sie umfaßt nur wenige Generationen, die in den Kessel der kochenden nationalistischen Leidenschaften geworfen wurden: Generationen, die schon von ihrer Wurzel abgeschnitten, aber von der neuen Mischung noch nicht aufgesogen waren; Generationen, die gezwungen waren, sich selbst aufs äußerste anzustrengen, um aus dem Nichts eine neue Heimat zu errichten, etwas, was für die anderen in ihrer Umgebung von Geburt und als Erbe dazugehörte. Von solchen Generationen sprach Kafka als von vierbeinigen Lebewesen (klar, daß sie nach den damals geltenden Maßstäben nicht als Menschen durchgehen würden), deren »Hinterbeinchen« noch am Boden klebten, während die »Vorderbeinchen« keinen neuen Halt fanden. Der leere extraterritoriale Raum, in dem diese »Menschen ohne Eigenschaften« schwebten, fühlte sich wie eine unheimliche Mischung von Paradies und Hölle an: das Paradies der unbegrenzten Möglichkeiten, die Hölle der unendlichen Folgenlosigkeit des Erfolgs. Einige Generationen lang hatten die Reisenden – gezwungen, abzuheben, aber daran gehindert, zu landen – keine andere Bleibe als diesen leeren Raum. Die Agonie und der Glanz der Assimilation war auf jenen kurzen Flug durch die Leere der Nicht-Identität beschränkt. Verführt, überredet oder gezwungen, sich in die Luft zu erheben, waren die Flieger – ob nun begierig zu fliegen oder einfach gegen ihren Willen gezwungen zu flattern – eine leichte Beute für Wildhüter und Wilddiebe. Aber sie genossen auch das kurze Privi259

leg jener weiten und scharfen Sicht, die mit einem Hauch von Schauder und Neid die »Vogelperspektive« genannt wird. Das Ergebnis tendiert natürlich dazu, die Erinnerung an den Prozeß zu färben. Daß das Drama der jüdischen Assimilation eher eine Tragödie als eine heitere und erbauliche moralische Erzählung gewesen ist, ist den Schauspielern (d.h. denjenigen, die das Glück hatten, den letzten Vorhang zu überleben) im wesentlichen durch den gewaltsamen Schluß nachdrücklich klargemacht worden. An die Produktionen, denen ein solches Ende erspart blieb, erinnert man sich mit weniger Schrecken, sogar mit romantischer Nostalgie und Stolz. Wo sie nicht nach Auschwitz geführt hat, bleibt die Assimilation im Stile der konservativen Geschichtsschreibung immer noch als Geschichte der Emanzipation, der Befreiung und des Triumphes der Vernunft in Erinnerung. Dem alten Kern des amerikanischen und britischen Judentums ist es erspart geblieben, die Gesichter ihrer freundlichen, höflichen und zivilisierten »Mitbürger« – Nachbarn und Geschäftspartner – während ihrer Deportationen zu beobachten. Aber wie wir gesehen haben, neigten im Laufe der Zeit selbst die Überlebenden des deutschen Judentums dazu, die verhängnisvollen Seiten der gescheiterten Romanze abzumildern und sich zärtlich ihrer romantischen Vergnügungen zu erinnern. Diese Neigung verstärkt sich in Ländern, die weiter vom Auge des Zyklons entfernt sind und daher nur eine indirekte Verantwortung für das schließliche Unheil tragen. So beobachtete David S. Landes vor kurzem: »Weil die Autoren, die über französische Geschichte schreiben, ihr Thema in der Regel lieben […] ist die Geschichte des französischen Antisemitismus für sie sehr problematisch, sehr schwer zu ertragen und kaum mit den eigenen Gefühlen zu vereinbaren. Juden und Nicht-Juden haben es vorgezogen, nicht darüber zu reden, vielleicht in der Hoffnung, die heiklen Fragen zu vermeiden oder die schlafenden Hunde nicht zu wecken.«3 3 David S. Landes, »Two Cheers for Emancipation«, in: The Jews in Modern France, hrsg. v. Frances Malino und Bernard Wasserstein, Hanover 1985, S. 302. Landes führt die zwölf verbreitetsten Mittel an, um die finsteren

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Um der Gerechtigkeit willen muß man einräumen, daß das Drama der Assimilation in Deutschland und anderswo, ungeachtet all seiner Tiefen und Höhen, niemals ausschließlich eine Katastrophe war. Noch wichtiger, es konnte von seinen Akteuren selbst erst als Unheil wahrgenommen werden, als sich der letzte Vorhang über das Vaterland der »Deutschen mosaischen Glaubens« gesenkt hatte und über Auschwitz und Treblinka wieder hochging. Sie wußten nicht, was ihre Kinder wissen; ihre Unwissenheit erklärt sehr weitgehend ihren verbissenen Optimismus angesichts der vielen Gegenbeweise. (Mit der Weisheit der Zurückschauenden sehen wir diese Zeugnisse jetzt als Vorzeichen des aufkommenden Sturms; sie selbst freilich waren berechtigt, sie als die letzten Nachzügler der Vergangenheit, die unter dem Druck des triumphalen und unaufhaltsamen Marsches der menschlichen Zivilisation zurückwichen, wegzuerklären.) Nach allen zugänglichen und zur damaligen Zeit für relevant gehaltenen Maßstäben war die Emanzipation der Juden in Deutschland und dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich die Geschichte eines ununterbrochenen und erstaunlichen Erfolgs. Im Haus von Sigmund Freuds Vater waren die Wände mit Porträts berühmter kaiserlicher Staatsbeamter und Personen des öffentlichen Lebens, viele von ihnen Juden oder jüdischen Ursprungs, bedeckt. Nach Robert S. Wistrichs brillanter Studie »leisteten die Juden überall, im Bankgewerbe, Handel, der Manufaktur, den liberalen Künsten, der Presse und der Politik, Vorzügliches. Auch in den Universitäten hatte um 1880 eine erfolgreiche Expansion der jüdischen bürgerlichen Elite eingesetzt.« Juden stellten 31 Prozent der Gesamtschülerschaft der humanistischen Gymnasien in Wien, unKomponenten der wechselvollen Geschichte der Assimilation in Frankreich herunterzuspielen – so z.B. die Auffassung, daß die Dreyfus-Affäre nur »ein Sturm in einem urbanen Wasserglas« gewesen sei oder daß der französische Antisemitismus lediglich Teil einer größeren Xenophobie gewesen sei (und somit nichts, worüber man sich besonders aufregen müßte oder was mit der eigenen Logik der Assimilation zu tun gehabt hätte …).

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gefähr 20 Prozent der Realschulen, 48 Prozent der Studenten in der medizinischen, 22 Prozent in der juristischen und 15 Prozent in der philosophischen Fakultät.4 Angesichts des scheinbar unaufhaltsamen, massiven Eintritts in die einladend offene, gastfreundliche Gesellschaft müssen selbst extremste Äußerungen der Hingabe der sich Assimilierenden an die nationalistischen Träume der Gastgeber5 als viel weniger abwegig erschienen sein als aus heutiger Sicht; es ist sehr problematisch und gewiß ungerecht, sie als bloße Produkte politischer Naivität oder Kurzsichtigkeit abzutun.

4 Robert S. Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, Oxford 1989, S. 173. 5 Unter vielen anderen eindringlichen Porträts seiner Untersuchung zeichnet Wistrich auch eines des prominenten österreichischen Historikers und alldeutschen Ideologen Heinrich Friedjung, der glaubte, daß »die höchste Pflicht des politischen Schriftstellers darin bestehe, einen Einfluß auf jene dunkle erste Ursache in der Geschichte aller Völker, den Nationalcharakter, auszuüben«. Friedjung erlebte noch, daß die alldeutsche Bewegung, an deren Gründung er beteiligt war und deren Sache er eifrig förderte, ihn als Juden aus ihren Reihen vertrieb. Unbeeindruckt stellte Friedjung auch weiterhin seinen Eifer und sein Talent in den Dienst der Eindeutschung der zahllosen ethnischen Minoritäten, die das von Wien beherrschte Kaiserreich bevölkerten (vgl. Wistrich, The Jews in the Age of Franz Joseph, S. 160f.). Wie A. J. P. Taylor erklärte, sah »Friedjung sich selbst als Deutschen, aber er war Deutscher nur durch Adoption: er war Deutscher geworden, weil er die deutsche Kultur schätzte, und der Prozeß war nicht weniger absichtlich, weil er unbewußt war. Er tendierte deshalb dazu, eine ähnlich unbewußte Anerkennung der deutschen Überlegenheit von den anderen Rassen zu erwarten, und er konnte das Widerstreben der Tschechen, der Slowaken oder der Kroaten, seinem Beispiel zu folgen, nicht verstehen.« (Siehe die Einleitung zu Heinrich Friedjung, The Struggle for Supremacy in Germany, 1859–1866, New York 1966, S. IV.) Als enthusiastischer Kulturträger zugunsten seiner adoptierten Nation legte Friedjung wie so viele andere gleichermaßen entschiedene Förderer der deutschen kulturellen Überlegenheit alle Finger in die Türen, die die sich erhebenden »kleineren« Nationen heftig zu schließen und verschlossen zu halten versuchten.

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Wir verstehen jetzt besser als die unglücklichen Mitwirkenden an dem Drama, daß die Assimilationsträume innerhalb der Sphäre des kulturellen Einflusses der Deutschen (und ihrer politischen Bestrebungen) von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren – zumindest als reibungsloser und friedlicher Prozeß. Hauptgrund hierfür war die erstaunliche Anhäufung einander widersprechender und potentiell feindlicher nationaler Ansprüche. Die Widersprüche, die in jedem Assimilationsprogramm unvermeidlich enthalten sind, hatten durch die bloße Tatsache, daß kein Nationalismus besänftigt werden konnte, ohne mit anderen in Konflikt zu geraten, eine außergewöhnliche Intensität. Keine Konformität fand daher Vertrauen, und jede Loyalitätserklärung wurde ständig mißtrauisch unter die Lupe genommen. »An welche der Myriaden Nationalitäten des alten Österreich sollten sich die Juden denn assimilieren? Wer waren denn aus der Perspektive der assimilierenden Juden die wirklichen Gastgeber? Wie definierte man, was ›österreichisch‹ und ›unösterreichisch‹ war in einem Reich, das in eine Vielzahl von Regionen, Provinzen, Distrikten, politischen Gesellschaften, miteinander kriegführenden ethnischen Gruppen und Sprachgruppen aufgesplittert war?«

Verständlich, daß die Juden, konfrontiert mit einer Vielzahl von Wahlmöglichkeiten, gleichwohl von Natur aus eine »Staatsnation«, eine Gruppe, die für die Gewährung und den Schutz ihrer immer noch prekären politischen und sozialen Rechte auf den Staat und nur den Staat angewiesen war, geneigt waren, für die Staatskultur und Staatssprache zu optieren, und diese waren deutsch. »Aber der Germanozentrismus der österreichischen Juden war nur eine Seite des Problems. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Juden in Ungarn und Galizien begannen, sich eher nach Ungarn oder Polen als nach Deutschland zu orientieren, verbesserte sich die Situation kaum. Die jüdische Neuanpassung an Magyaren und galizische Polen provozierte beinahe unmittelbar den Antisemitismus der untergetauchten ›geschichtslosen‹ Nationalitäten, die von der ungarischen und polnischen Aristokratie unterdrückt wurden.«6

6 Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, S. 140, 206.

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Es war die hoffnungslose Unvereinbarkeit der Träume von territorialer Überlegenheit und Gewaltmonopol, die in gleichem Maße von allen bestehenden oder potentiellen Nationalstaaten Osteuropas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gehegt wurden, die mit Gewalt auf die Juden zurückschlug. Aus all den ethnischen, kulturellen und sprachlichen Gruppen, die von dem unerträglichen Druck der widersprüchlichen politischen Ansprüche überwältigt wurden, wurden die Juden als das eigentliche Wesen des Scheiterns und Hauptursache der Vereitelung herausgepreßt – als Ambivalenz tout court. Selbst unter »gewöhnlichen« Umständen hat die Erfahrung des Assimilationszwangs eine zumindest potentiell stark aufklärerische Wirkung: Sie befähigt die empfindlichsten unter ihren Opfern, Geheimnisse und Mysterien der gesellschaftlichen Existenz zu durchschauen, die den unbetroffenen und ungestörten »Einheimischen« unsichtbar bleiben. Eine solche Belastung – eine solche Chance – muß dort, wo die Umstände eine sonst unerreichte Komplexität bekommen, ungewöhnlich tief gewesen sein. Vor allem hier, vermute ich, liegt die Ursache für den spektakulären »jüdischen Durchbruch in die moderne Kultur«; für die erstaunlich kreative und originelle Rolle, die einige Generationen gerade assimilierter und sich assimilierender Juden in einer bestimmten Phase der Geschichte eines ausgewählten Gebiets der sich modernisierenden Welt in der Formung dessen gespielt haben, was wir jetzt mit Recht die Kultur der Moderne nennen.

Der Gegenangriff der Ambivalenz Ionesco erklärte einmal: »Ich glaube, daß jede verzweifelte Botschaft eine Situation aufzeigt, aus der ein jeder selbständig einen Ausweg finden muß.«7 Das heißt, es ist der Drang, einen Ausweg

7

Zitiert nach Martin Esslin, Das Theater des Absurden, Frankfurt/M. 1964, S. 158.

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zu finden, der den Zustand der Verzweiflung definiert; und um sich selbst als Verzweiflung zu artikulieren, muß dies ein Drang ohne ein sichtbares Ventil, ohne markierten Ausweg sein. Der Ausweg muß gefunden oder durch die Wände hindurch gebahnt werden. Und die Suche nach dem Ausweg oder seine Konstruktion muß von jedem selbständig vorgenommen werden – d.h. individuell. Vermutlich kennt die Gemeinschaft einen solchen Ausweg nicht, oder würde ihn nicht mitteilen, wenn sie ihn kennte, oder es würde nichts nutzen, wenn sie ihn nennte. Deshalb ist die Verzweiflung das, was sie ist. Sie zeigt immer von sich selbst weg. Einige würden sagen, sie zeigt nach vorn. »Vorwärts« aber nennen wir die Richtung, die uns aus diesem Verzweiflungszustand herausführt. Fortschritt, so könnte man sagen, ist die Erinnerung an vergangene Verzweiflung und die Entschlossenheit, der gegenwärtigen zu entkommen. Das Drama der Assimilation erwies sich als Los der Verzweiflung. Und folglich erweckte es eine akute Sehnsucht nach dem Ausweg. Da die meisten schon gegangenen Wege sich als blockiert oder zirkulär oder sonstwie trügerisch erwiesen, kam es zu einem massiven Bau neuer Straßen. Als die Suche nach den neuen Wegen an Kraft zunahm, verlor sich das Vertrauen in die alten immer weiter. Nicht der Zusammenbruch der Assimilationsträume diskreditierte eine bestimmte Anzahl von Überzeugungen, die man vorher akzeptiert hatte und die jetzt verworfen wurden; eher desavouierte er gerade die Gewohnheit (um eine Wendung von Arnold aufzugreifen), fest, unerschütterlich und dogmatisch zu glauben. Als ob die nach neuen Wegen Suchenden das Urteil antizipiert hätten, das George Orwell später aussprechen sollte: »Nichts wird dadurch gewonnen, daß man einen Papagei ein neues Wort lehrt«; »Der Feind ist das ›Grammophonbewußtsein‹ selbst, ob man mit der Platte, die gerade abgespielt wird, übereinstimmt oder nicht.«8

8 Zitiert nach Alok Rai, Orwell and the Politics of Despair: A Critical Study of the Writings of George Orwell, Cambridge 1988, S. 152f.

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Sonst so verschiedene Menschen wie Freud, Kraus, Schnitzler, Lukács, Adorno, Husserl, Tucholsky, Wittgenstein, Canetti oder die eleganten Philosophen des Wiener Kreises teilten vor allem das Gefühl eines tiefen Mißtrauens gegen, ja eine Furcht vor den Massen, die sich auf dem Marktplatz versammeln, um ihr gedankenloses Zusammensein zu feiern, gegen die Meinungen, die ihrer Einheit Fleisch gaben, gegen die freudige Hingabe, mit der man an diesen Meinungen festhielt. Jede Überzeugung sollte aus dem bloßen Grunde, daß sie von der intoleranten Menge akzeptiert wird, zu Wachsamkeit und einer kritischen Haltung führen. Von Freud ist gesagt worden, daß er die Vergangenheit entweiht, die Gegenwart vergiftet und die Zukunft getötet habe. Zweifellos ist dies von oder für die Masse gesagt worden. Für diese Masse war die Gegenwart nur dann sauber und ordentlich, wenn die Vergangenheit heilig war; und es war die Sauberkeit der Gegenwart, die die Zukunft lebendig machte (d.h. sie zu einer ewigen, unsterblichen Gegenwart machte). Freud und andere wie er wurden beschuldigt, »die Gegenwart zu vergiften«, weil sie sich weigerten, irgend etwas gutgläubig hinzunehmen; weil sie es ablehnten, als Wahrheit zu akzeptieren, was auf einem allgemeinen Konsens beruhte; weil sie sich sträubten, irgendeine Wahrheit als endgültig zu akzeptieren und irgendeinen Glauben von der kritischen Überprüfung auszunehmen. Sie waren Feinde des common sense, und daher erschütterten ihre Enthüllungen die Fundamente der Gegenwart, die sich plötzlich als ungewiß und unzuverlässig erwies. In Wirklichkeit gingen sie noch weiter: Sie setzten voraus, daß Meinungen ausschließlich auf ihren eigenen Füßen stehen können, da die Autoritäten, hinter denen sie sich verstecken, kein Recht haben, Wahrheitszertifikate auszustellen. Sie zerstörten die Sicherheit, vernichteten die Ordnung, zertrümmerten die Seelenruhe. Ein gewisser Dietrich Schäfer, der im Jahre 1908 gegen Simmels Berufung an die Universität Einwände erhob, hielt »Simmels Bindung an die Soziologie: die Ansicht, daß die Gesellschaft statt Staat und Kirche die Hauptformungskraft der menschlichen Gemein266

schaft sei«, für dessen »jüdischsten Zug«.9 Gerechterweise muß man Schäfer zugeben, daß er gar nicht so weit danebenlag. Wenn man Simmels reiches Schrifttum mit dem von Weber, Sombart und der Masse geringerer Gestalten in den entstehenden deutschen Sozialwissenschaften vergleicht, ist man erstaunt darüber, wie wenig Aufmerksamkeit Simmel dem Staat, der Kirche und anderen »Vordergrundmächten« widmet, die die soziale Realität mit dem Siegel der heiligen Ordnung stempeln; und ebenso über die marginale Stelle, die Simmel solchen Mächten in seiner Charta menschlicher Dinge einräumt. Tatsächlich spielt sogar die Kategorie Gesellschaft nur eine Nebenrolle in Simmels Soziologie: Gesell9 Zitiert nach Gay, Freud, Jews and Other Germans, S. 122. Die Rolle der Kirche als Grundlage der menschlichen Existenz herunterzuspielen oder die Religion – nach Art Durkheims – als eine bloße »soziale Tatsache« und ein »zwangsgestütztes integratives Interesse« der Gesellschaft zu »dekonstruieren«, muß Schäfers Zeitgenossen auf eine Weise schockiert haben, die für unsere eigenen Zeitgenossen nur schwer vorstellbar ist. Um Schäfers Entsetzen zu verstehen, muß man Simmels Vergehen mit der Schmähung, Anschwärzung oder Untergrabung anderer, immer noch heiliger Überzeugungen vergleichen, deren die Soziologie von den herrschenden Mächten und anderen Wächtern des Establishments angeklagt wird: mit den Sünden, auf ähnliche Weise die Ideologien des Patriotismus oder des freien Marktes zu dekonstruieren, je nach der legitimierenden Formel, die von diesem oder jenem Regime favorisiert wird. Die permanente Errungenschaft der Soziologie (selbst wenn kein Ziel, das viele ihrer Ausübenden absichtlich wählen) scheint eine Kritik und schließlich eine Unterminierung dessen zu sein, was Theodor W. Adorno als »das Nichtloswerdenkönnen einer Wohlgesinntheit, die partout die ›Ordnung‹ verteidigt – ja eine sogar noch, ›innerhalb derer alle diese Dinge nicht in Ordnung sind‹« beschrieb ( Jargon der Eigentlichkeit, S. 21). Einer solchen unehrerbietigen Haltung gegenüber den heiligsten Werten aller Macht wurde Simmel als Jude angeklagt: Jude in einem intensiv nationalistischen Deutschland zu sein, das von nichts mehr besessen war als von seiner eigenen nationalen Einheit, muß Simmel lediglich geholfen haben, eine kognitive Haltung einzunehmen, die später, in einer schnell postmodern werdenden Welt, von praktisch der gesamten Sozialphilosophie ganz selbstverständlich eingenommen werden würde.

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schaft ist nur eine unbeständige, zerbrechliche und ständig wechselnde Form, die von dem endlosen Prozeß der Vergesellschaftung abgelagert wird. War die Beschäftigung mit der Soziologie der großen Religionen das Lebenswerk Max Webers, so war die Philosophie des Geldes das opus magnum von Simmel. Wo Weber von den Rationalisierungsfolgen der Staatsbürokratie sprach, dachte Simmel über die Spontaneität der Gruppenbildung nach. Wenn Weber nach den Gründen legitimer Herrschaft fragte, erforschte Simmel die sozialen Bedingungen hinter der eigenartig skeptischen und blasierten Geisteshaltung des modernen Menschen. War für Weber der menschliche Intellekt zuerst und vor allem Quelle und Produkt einer zunehmend rationalen (in der unsterblichen Wiedergabe von Parsons: »prinzipiell koordinierten«) Ordnung, war er für Simmel, neben dem Geld, jene Säure, die alle Sicherheiten und etablierten Hierarchien auflöste. Suchte Weber nach dem Geheimnis der Gesellschaftsordnung in der Herrschaft, die die Werte über menschliche Handlungen ausüben, schrieb Simmel über jene graue Masse von Eindrücken, in der alles mit derselben spezifischen Schwere dahintreibt und nichts einzigartig, überragend wichtig oder absolut ist. Für Weber verband sich der bevorstehende Triumph der rationalen sozialen Ordnung mit der Herrschaft der Vernunft im individuellen Leben des Menschen; Simmel sah eine gähnende, sich unaufhaltsam erweiternde, unterdrückende und bedrückende Lücke zwischen der kollektiv sedimentierten Zivilisation und der Aufnahmefähigkeit des menschlichen Geistes. Ein Glaube ist ein Glaube ist ein Glaube; das schien die Botschaft jener Soziologie zu sein, über deren »Jüdischsein« sich Schäfer beklagte. Ein Glaube kann kraftvoll und überwältigend sein; ja, er ist es oft. Wie mächtig er auch sein mag, er bleibt nichtsdestoweniger ein Artefakt der Gesellschaft, der Geselligkeit, der menschlichen Interaktion. Keine Zuflucht zu einem ewigen Wesen, ursprünglichen Geboten, absoluten Gründen der Wahrheit – in der Tat nichts außer der Bevorzugung des einen Glaubensbekenntnisses vor einem anderen – die, wie jede Wahl, in Frage gestellt, kritisiert und letztlich diskreditiert und verworfen werden kann. 268

Man kann nun schwerlich erwarten, daß eine solche Idee von den Dienern des modernen Nationalstaates als gute Botschaft empfangen wird und ihre Boten belohnt werden. Wie so oft zuvor, richtete sich der Ärger gegen die Boten. Schäfer sprach für jene Mehrheit, die Überzeugungen als Wahrheiten brauchte – als die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit; Überzeugungen als das Zepter der Macht, als Legitimation von Herrschaft, als Erlaubnis, abweichende Meinungen auszurotten und die Abweichler zu verbannen. »Die Gesellschaft will von einer Aufdeckung dieser Verhältnisse nichts hören, weil sie nach mehr als einer Richtung ein schlechtes Gewissen hat […] somit unterhält die Gesellschaft einen Zustand von Kulturheuchelei, dem ein Gefühl von Unsicherheit und ein Bedürfnis zur Seite gehen muß, die unleugbare Labilität durch das Verbot der Kritik und Diskussion zu schützen«, kommentierte Freud traurig seine verbrannten Finger. Und er wußte, was ihm die Stärke gab, der Unterdrückung zu widerstehen und weiterhin durch die dicke Rüstung der Heuchelei hindurchzubohren: »Es ist vielleicht auch kein bloßer Zufall, daß der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu bekennen, brauchte es ein ziemliches Maß von Bereitwilligkeit, das Schicksal der Vereinsamung in der Opposition auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden vertrauter ist als einem anderen.«10 Der »Jude«, auf den Freud verweist, eine vor allem durch Einsamkeit, durch Alleinstehen gekennzeichnete Person, ist natürlich der Jude, den Freud durch Autopsie und Introspektion kennt: der Jude der Ära des Nationalismus und der Assimilation, der Jude, der schon von seinem Ursprung abgeschnitten, aber noch nicht in eine andere Heimat zugelassen worden ist. Und trotzdem liegt mehr als ein Hauch von Paradoxie in der Tatsache, daß der letzte Angriff gegen soziale Heuchelei, gegen die falschen Ansprüche gesellschaftlich aufrechterhaltener Wahrheit im Falle Freuds (wie bei den Kreuzzüglern des Wiener Kreises gegen die Metaphysik, bei Husserl und anderen Verächtern der »na10 Sigmund Freud, »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse« (1925), in: Gesammelte Schriften, Bd. 14, S. 107, 110.

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türlichen Einstellung«) unter dem Schutz einer anderen wahrheitsverleihenden Autorität geführt wurde – der Wissenschaft. Der Krieg gegen unbestreitbare Wahrheiten nahm die Form eines Disputes über das Recht, universal gültige und bindende Feststellungen zu treffen, an, einer Anstrengung, eine derartige Autorität dem Staat, der Kirche und anderen Exekutivorganen der »Einheimischen« zu entwinden und sie in die Hände solcher Institutionen zu legen, die vernünftigerweise darauf hoffen können, Autonomie zu gewinnen und zu verteidigen. Da die Wege zu den Sitzen der traditionellen – religiösen – Autorität fest verschlossen blieben und die, die zu den neuen – politischen – führten, sich nur denjenigen öffneten, die bestimmte Geburtsurkunden besaßen, blieb einzig die Wissenschaft als ein Spiel übrig, dessen Ergebnis eher von Fachkenntnis, Sorgfalt und Talent als von handgreiflicher Durchsetzungsfähigkeit abhing. Marthe Robert schrieb über Freud, daß »in dieser Gesellschaft, in der zu leben und zu arbeiten ihm der Zufall auferlegt hat, es für die Seinen nur zwei Mittel [gab], der Erniedrigung zu entgehen: Geld und Wissen, sehr viel Geld und ein so umfangreiches Wissen, daß es auch den Anspruchsvollsten imponiert«. Von der Erniedrigung erfuhr Freud von seinem Vater, und es gab genug davon um ihn herum, um eine rasende Suche nach Entkommen anzuregen. Die Wissenschaft schien eine Ausflucht zu bieten. Da sie versprach, ihre Preise nur nach Talent und Leistung zu verteilen und allein die Macht des Arguments zu respektieren, schien sie die erträumte Macht zu sein, dazu fähig, die Gegenwart von ihrer Verpfändung an die Vergangenheit zu befreien. »Die beiden Dinge«, die sich Freud von der Wissenschaft erhoffte, waren: »eine große Entdeckung, die ihn berühmt macht, und Zutritt zu jenen aufgeklärten Kreisen, die nach den geltenden sozialen Spielregeln auch die große Gesellschaft darstellen«.11 11 Robert, Sigmund Freud – zwischen Moses und Ödipus, S. 51, 77. Wie Hannah Arendt kommentierte, entdeckten die Kinder der Pioniere der Assimilation »bald genug, daß es nur einen Weg gab, in der Gesellschaft akzeptiert zu werden – sie mußten berühmt werden« (in: The Jew as a Pariah, S. 116).

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Deshalb suchte Freud das Appellationsgericht gegen die Erniedrigung, die ihm von einer Gesellschaft zuteil wurde, die weder groß noch aufgeklärt war, in der Wissenschaft. Aber er kam nicht zur Wissenschaft, um einen Prozeß, in dem er die Aufhebung eines ungünstigen Schuldspruchs oder Schadenersatz forderte, zu führen. Verletzter Stolz pflegt nicht einfach durch die Annullierung eines Urteils geheilt zu werden. Es brauchte mehr, um die Ehre wiederherzustellen. Es mußte gezeigt werden, daß das ursprüngliche Urteil auf falschen Prämissen beruhte und daß der niedere Gerichtshof falsch beraten war; es mußte aber auch bewiesen werden, daß das Gericht seine Kompetenzen überschritten hatte und gar nicht erst berechtigt war, das Urteil auszusprechen. Der ursprüngliche Urteilsspruch mußte annulliert, für null und nichtig erklärt werden; eine Entschuldigung würde nicht genügen. Freud kam als Rebell zur Wissenschaft – auch wenn er politisch ein Gemäßigter, Liberaler, mild Konservativer war und ohne jede Sympathie für rote Fahnen und Barrikaden. Er mußte sich der Autorität der Wissenschaft bedienen, um eine andere Autorität zu entlarven, deren Urteilsspruch er ungültig machen wollte. Er brauchte eine Wissenschaft, deren Autorität dafür verwandt werden konnte. Er mußte eine solche Wissenschaft errichten, praktisch ganz von vorn. Wie bei Kafka »mußte alles erworben werden«, da »nichts geschenkt wurde«. Die erstaunliche Entscheidung Freuds (in seinem letzen Buch – über Moses und den Monotheismus), Moses zum Ägypter zu erklären und die Juden des Mordes an ihm zu beschuldigen, interpretierend äußerte Robert den Verdacht, daß Freud nichts sein wollte »als der Sohn von Niemand und Nirgendwo, der Sohn einzig und allein seiner Werke und seines Werkes, dessen Identität wie die des ermordeten Propheten über die Jahrhunderte hinweg ein verwirrendes Rätsel bleibt«.12 Aber Freuds Wünsche spielten, so scheint es, nur eine geringe Rolle, als er, schon in den Achtzigern, sich endlich daranmachte, seinen einzigen historischen Roman über den Ruhm und die Tragödie eines Mannes zu schreiben, mit dem er 12 Robert, Sigmund Freud – zwischen Moses und Ödipus, S. 158.

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sich heimlich den größten Teil seines Lebens über identifiziert hatte. Zu diesem Zeitpunkt konnte die Behandlung, die er seinem Helden zuteil werden ließ, keine Absichtserklärung mehr sein; es war eher der letzte Rückblick eines alten Mannes auf den Weg, den er nun durchschritten und hinter sich gebracht hatte. Nicht, daß Freud nicht der Sohn seines Vaters zu sein wünschte; es war ihm nicht erlaubt, es zu sein – nicht ohne von Schuldgefühlen verfolgt und durch Scham verkrüppelt zu werden. Als ein unvollständig assimilierter Neuankömmling in der Hauptstadt setzte Freuds Vater seinem wunderbaren Sohn enge Grenzen, die er nicht überschreiten durfte, solange er sich noch der Sohnestreue rühmen und das Familienerbe beanspruchen wollte. Als Sigmund Freud, ein leidenschaftlicher Reisender und ebenso leidenschaftlicher Sammler von Antiquitäten, endlich, nach so mancher Verzögerung und mehrmaligem Aufschub, die Akropolis erreichte, war sein erstes und quälendstes und erinnerungswürdigstes Gefühl eines der Schuld. An dieses Gefühl erinnerte er sich noch nach Jahren: »Es muß so sein, daß sich an die Befriedigung, es so weit gebracht zu haben, ein Schuldgefühl knüpft: es ist etwas dabei, was unrecht, was von altersher verboten ist. Das hat mit der kindlichen Kritik am Vater zu tun, mit der Geringschätzung, welche die frühkindliche Überschätzung seiner Person abgelöst hatte. Es sieht aus, als wäre es das Wesentliche am Erfolg, es weiter zu bringen als der Vater, und als wäre es noch immer unerlaubt, den Vater übertreffen zu wollen. Zu dieser allgemein gültigen Motivierung kommt noch für unseren Fall das besondere Moment hinzu, daß in dem Thema Athen und Akropolis an und für sich ein Hinweis auf die Überlegenheit der Söhne enthalten ist. Unser Vater war Kaufmann gewesen, er besaß keine Gymnasialbildung, Athen konnte ihm nicht viel bedeuten.«13

Aber, wie Theodor Reik beobachtete, »sich seines Judentums zu schämen« und »sich seiner Eltern zu schämen« sind psychologisch

13 Sigmund Freud, »Brief an Romain Rolland« (Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis), in: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 256f.

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identische Varianten der Scham14 (d.h., wenn die Eltern nun mal gerade Juden sind). Abgesehen davon, daß Freuds Vater Kaufmann war statt ein Gymnasium besucht zu haben, war er ein Jude, und – ob nun mit oder ohne Gymnasialbildung – es war unwahrscheinlich, daß jüdische Väter in Wien ihren Söhnen den Weg zur Akropolis pflastern würden. Wenn die Söhne sich schließlich so weit vorwagten, konnten sie mit ihren Vätern schwerlich die Freude teilen, das Ziel erreicht zu haben. Daher das Schuldgefühl, das das Glück der Ankunft vergiftete; das Haar des Verrats in der Suppe des Stolzes. Und auch der Sohn des eigenen Landes zu sein war nicht eine Sache bloßen Wunsches. Auf jeden Fall nicht der Wunsch des Sohnes. Der Sohn war illegitim, um damit zu beginnen. Seine einzige Hoffnung war, sich um Adoption zu bewerben. Das beste, was er erwarten durfte, war ein Pflegevaterland, vielleicht eine Stief heimat, gütig oder streng, gleichwohl immer nur entfernt verwandt. Im Unterschied zu einem natürlichen Sohn konnte das Stiefkind keinen rechtmäßigen Anspruch auf Liebe erheben. Er hatte seinen Anspruch nachzuweisen. Er mußte sie sich verdienen. Seiner Familienzugehörigkeit fehlte die Sicherheit, um die es aber bei der Zugehörigkeit gerade geht. Es konnte daher nur eine mangelhafte Zugehörigkeit sein; jeden Augenblick konnte die Ankündigung eines Ausschlusses erfolgen, während die Ablehnung ohne jede vorherige Ankündigung eintreten konnte. Wenn weder Ausschluß noch Ablehnung erfolgten, würde der Stiefsohn immer und immer wieder gesagt bekommen, daß er sein Glück der Großmut seiner Pflegeeltern verdanke. Man würde von ihm verlangen, daß er dankbar sein solle, verschwenderisch in seinem Lob, doppelt eifrig und gefällig. Wenn er täte, was man von ihm verlangte, würde er freilich der Unaufrichtigkeit oder des Schmiedens böser Pläne beschuldigt werden. Sein Enthusiasmus würde lächerlich gemacht, verlacht und zuletzt als Beweis angeführt werden, daß er nicht vollständig dazugehöre. Was immer er tun würde, um die Gunst seines Adoptivlandes zu erwerben, dieses Land würde das letzte Wort haben. 14 Theodor Reik, Listening with the Third Ear, New York 1964, S. 71.

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Die Stiefheimat würde über den Sinn der Absichten ihres Stiefsohns entscheiden. Man mußte sich wahrhaft aufs äußerste anstrengen, um sicherzustellen, daß dieser Sinn, wenn endlich darüber entschieden worden wäre, der Absicht entspräche. Es war nicht leicht, sich der Freiheit des Landes, ewig hin und her zu schwanken und an allem herumzukritisieren, gewachsen zu zeigen. »Er mußte die Welt intellektuell erobern«, schrieb Erich Fromm über Freud, »um vom Zweifel und dem Gefühl des Versagens loszukommen.«15 (Mehr als zwanzig Jahre nachdem diese Worte geschrieben wurden, wurde ein anderer Jude – Arthur Rubinstein –, wie um Fromms ernüchternde Wahrheit zu bestätigen, auf dem Höhepunkt einer von der Regierung unterstützten antisemitischen Hetzjagd in Warschau als »der große Sohn der polnischen Nation« gefeiert.) Und so blieb es Freud überlassen, »der Sohn seines Lebenswerkes zu sein«. Nicht weil er es sein wollte, sondern weil er sich damit zufriedengab und ihm gegen Ende seines Lebens keinerlei Zweifel blieb, daß sein eigenes Werk in der Tat der einzige Ort war, den er mit Recht und ohne Furcht vor Enttäuschung und Zurückweisung sein Land und wirklich seine Familie nennen konnte. Ohne Zweifel war Freuds Lebenswerk ein ungeheures Heimatland, Quelle unerschöpflichen Stolzes, wenn man denn wirklich Stolz im Ruhm seines Landes suchen muß. Gewiß, es war gemacht, um jenes Land zu vermessen, das sich weigerte, Freud eine sichere Heimat zu gewähren und das ihn schließlich ins Exil schickte: Es war aber ganz genauso in sich selbst verschlossen, vollständig, missionarisch, von der Überzeugung seiner Mission erfüllt, intolerant gegenüber allen abweichenden Meinungen und darauf bedacht, seine eigenen Alternativen zu assimilieren, zu absorbieren, bevor sie zu Widerstand und Rebellion heranreiften. »Die Psychoanalyse ist selbst die Kultur, deren Beschreibung sie zu sein behauptet […]« Das Unbewußte kann nur als Freuds Sprache strukturiert werden, und Ich und Über-Ich sind Freuds Texte: »Wir sind Freuds Texte 15 Erich Fromm, Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und seine Wirkung, in: Erich Fromm, Gesamtausgabe Bd. 8, S. 157.

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geworden und die Initiatio Freudi ist die notwendige Struktur für das geistige Leben in unserer Zeit.«16

Freud oder Ambivalenz als Macht »Das Wort Gottes« – so interpretiert Scholem die judaistische Tradition – »muß unendlich sein, oder anders ausgedrückt, das absolute Wort ist zwar an sich noch bedeutungslos, aber es ist bedeutungsschwanger. Es legt sich in den unendlichen Schichten des Sinnes auseinander, in denen es, vom Menschen her gesehen, in endliche und sinnerfüllte Gestalten eintritt […] Der Schlüssel mag selbst verlorengehen – noch immer bleibt der unendliche Antrieb, ihn zu suchen.«17 Susan A. Handelman erinnert ihre Leser mit einem Zitat von Rawidowicz daran, daß die eine (vielleicht die einzige) Sache, die Gott durch Moses den Juden gab, ein Text für eine Deutung war. Nicht eine Sammlung definiter Aussagen, die lediglich auf die Erhellung ihrer Bedeutung warten (eine Bedeutung, die für diejenigen, die lesen können und wollen, ein für allemal bestimmt und transparent ist), sondern ein Text, der interpretiert und neu interpretiert und wieder interpretiert werden muß, da seine Bedeutungen zahlreich, unerschöpflich und unvoraussagbar sind und in und durch den unendlichen Prozeß der Deutung eher ins Sein gebracht als offenbart werden. »Deutung ist der große Imperativ Israels und das Geheimnis seiner Geschichte.« 16 Harold Bloom, The Breaking of the Vessels, Chicago 1982, S. 63, 64. 17 Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M. 1973, S. 22. Harold Bloom ist noch deutlicher: »Die Kabbala scheint mehr eine interpretative und mythische als eine mystische Tradition zu sein […] Die Kabbala unterscheidet sich endgültig vom christlichen und östlichen Mystizismus dadurch, daß sie mehr eine Art intellektueller Spekulation als ein Weg der Vereinigung mit Gott ist. Wie die Gnostiker suchten die Kabbalisten Wissen, aber anders als die Gnostiker suchten sie Wissen in dem Buch.« (Kabbalah and Criticism, New York 1975, S. 47.)

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Das Geschenk Gottes war ein Text, der »sich jedesmal, wenn er studiert wird, mit jeder neuen Deutung, weiterentwickelt«. Jede Deutung, die danach strebt, die ausgedrückte Bedeutung des Textes zu ersetzen, verwandelt sich lediglich in seine Erweiterung; Metonymie entsteht aus der Metapher. Der Text ist lebendig, gleichwohl tot, wenn er nicht durch seine stete Verneinung erweckt wird. Er besteht durch Wachstum und ewige Selbstregeneration. Der Prozeß hört niemals auf, kann niemals aufhören, wird niemals aufhören. Deutungen wirken auf den Text zurück, »bilden einen Teil des Gewebes und verschlingen sich mit dem Text selbst« – genau wie neue Zellen und Gewebe, die ein lebender Organismus erzeugt und sich hinzufügt. Jede Deutung, die den Text bereichert hat, macht ihr eigenes Werk nur um so dringlicher und verlangt nach neuer Untersuchung, neuer Suche nach Bedeutung; mit jedem Schritt zur Durchdringung der Latenz des Textes werden weitere und immer komplexere latente Bedeutungen zu jener Lebensform hinzugefügt, die Text genannt worden ist. »Der Begriff des latenten Inhalts, der durch hermeneutische Verfahren aufgedeckt werden muß, der Freud und die Rabbis in direkten Gegensatz zur Tradition der protestantischen Buchstäblichkeit stellt, verwirft jeden Versuch, Bedeutung durch eine Reduktion des manifesten auf einen einzigen latenten Referenten zu definieren.«18 »Das Geschenk des jüdischen Gottes« war sozusagen die überwältigende Notwendigkeit, nach Bedeutung zu suchen, das Wissen, daß die Suche nach Bedeutung ebenso unersättlich ist wie die Tiefe der göttlichen Weisheit unauslotbar, und die Entschlossenheit, die Suche fortzusetzen – wie partiell und zeitweilig die Belohnung auch immer sein mochte. Das Geschenk Gottes war sozusagen das Wissen von der Ambivalenz und die Fähigkeit, mit diesem Wissen zu leben. Klare Trennungslinien zwischen normal und unnormal, ordentlich und chaotisch, gesund und krank, vernünftig und verrückt sind Leistungen der Macht. Solche Linien zu ziehen heißt zu herr18 Susan A. Handelman, The Slayers of Moses: the Emergence of Rabbinic Interpretation in Modern Literary Theory, Albery 1982, S. 42, 49, 147.

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schen; Herrschaft, die die Masken der Norm oder Gesundheit trägt, erscheint einmal als Vernunft, das andere Mal als gesunder Menschenverstand, dann als Recht und Ordnung. Herrschaft ist eifrig darauf bedacht, die andere Seite der Beziehung, die sie beschwört (die schon als Ungesundheit, Unordnung, Anomalie, Krankheit definiert ist) als selbständig Handelnden, als einen gleich mächtigen und machtgierigen Partner, als Kopie, als Spiegelbild und als Rivale darzustellen; aber der vermeintliche Opponent ist lediglich ein Produkt der definierenden Macht, ein Sediment ihres monopolistischen Traumes, ein Abfallhaufen ihrer unvollendeten Arbeit. Die Macht bringt die eigenen Feinde erst hervor, indem sie ihnen verweigert, was sie für sich selbst zu sichern sucht; und der Feind existiert nur von und durch diese Verweigerung. Durch das Ausspeien des Feindes wünscht sich die Macht selbst von der Ambivalenz zu reinigen, Ambiguität in eine saubere Trennung zu verwandeln, Polysemie in eine Opposition. Wenn (falls) sie Erfolg hat, wenn das Untrennbare getrennt, das Unteilbare geteilt sein wird, wird die Existenz nicht länger als zerbrechlich oder die Welt als geheimnisvoll erscheinen. Ohne Rest klassifiziert, wird die Welt kraftlos ihre Befehle erwarten; sie wird transparent – wie die Taten und Intentionen der Gefangenen in Benthams Panoptikum. Macht ist ein Kampf gegen Ambivalenz. Angst vor Ambivalenz entsteht aus der Macht: Sie ist die Angst (oder die Vorahnung?) der Macht vor der Niederlage Es bedurfte eines Fremden wie Freud – der auf der Empfängerseite des Krieges gegen Ambivalenz stand und trotzdem gegen seine Lage rebellierte –, um die eigene ambivalente Grundlage der Realität zu durchschauen. Die als natürlich verkündeten Spaltungen waren nur durch Zwang geförderte und wiederbelebte Konventionen: Die sogenannte Norm der sozialen Gesundheit war nur ein Artefakt der machtgestützten Unterdrückung. Gäbe es nicht das usurpierte Recht der Macht, die Realität zu definieren, dann gäbe es auch keine offensichtliche Statusdifferenz zwischen »normalen« Akten »normaler« Leute und »neurotischen Symptomen«, zwischen Träumen und der »Sache selbst«, zwischen löblicher Vernunft und 277

morbider Leidenschaft, zwischen tagheller Oberfläche und nachtdunkler Tiefe, zwischen dem behaglichen Innen und dem erschrekkenden Außen. Es gäbe kein Es ohne das Über-Ich. »Es war ein Triumph für die Deutungskunst der Psychoanalyse, als ihr der Nachweis gelang, daß gewisse häufige seelische Akte der normalen Menschen […] so zu verstehen seien wie die Symptome der Neurotiker: d.h. daß sie einen Sinn haben, welcher der Person nicht bekannt ist und durch analytische Bemühung leicht gefunden werden kann.« »Der Traum [ist] ganz allgemein ein deutbares psychisches Gebilde.«19 Alles, ob es nun als bedeutungsvoll oder bedeutungslos angesehen wird, hat Bedeutungen; Bedeutungen, die neu entdeckt werden müssen, wenn sie heimlich unterdrückt worden sind, und geprüft und wieder geprüft, wenn sie vorgeblich transparent sind. »Eine Art, wie der Psychoanalytiker das scheinbar Bedeutungslose zu interpretieren beginnt, ist, sich einen Kontext vorzustellen, in dem es sinnvoll sein würde. Eine Art, wie er anfängt, eine Äußerung zu interpretieren, die anscheinend nur eine offensichtliche Bedeutung hat, ist, sich andere Kontexte vorzustellen, in der dieselbe Sprache eine andere Bedeutung haben würde.«20 19 Sigmund Freud, »Psychoanalyse« und »Libidotheorie«, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 216; ders., »Die Grenzen der Deutbarkeit«, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 564. Jonathan Culler hat gezeigt daß Freud die gewöhnlichen machtinitiierten Oppositionen als Instrumente der Unterdrückung des »Unerwünschten« »dekonstruiert«; daher kann die erste, herrschende Einheit jeder Dichotomie vollständig nur in dem Licht verstanden werden, das von der zweiten, untergeordneten Einheit auf sie geworfen wird, (d.h. Erfahrung im Lichte des Traums, geistige Gesundheit im Lichte des Wahnsinns, das »Normale« im Lichte des »Unnormalen«). »Das Verstehen des marginalen und abweichenden Ausdrucks wird zur Bedingung für das Verstehen des angeblich höhergestellten Ausdrucks.« »[D]ekonstruktive Umkehrungen«, in Cullers Zusammenfassung, rücken das ins Zentrum, »was bis dahin als marginal galt […]« ( Jonathan Culler, Dekonstruktion, Reinbek 1988, S. 177f.). 20 Marshall Edelson, Language and Interpretation in Psychoanalysis, Chicago 1975, S. 24.

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Psychoanalyse sollte eine Kunst der Deutung werden. Sie transformierte die menschliche Welt, und zwar die ganze Welt (nicht einfach das Unnormale, das Kranke, das Unbewachte), in einen zu deutenden Text; sie weigerte sich, die angehefteten Etiketten als Bedeutungen zu akzeptieren, die Schubladen-Codenamen als Identitäten. Gleichzeitig aber dekonstruierte sie die Welt. Durch das Stellen von Fragen untergrub sie die Struktur, deren Substanz das Frageverbot war. Es war das Wesen der psychoanalytischen Herausforderung, daß kein Deutungscode privilegiert ist, kein einzelner bedeutungsverleihender Kontext offensichtlich den anderen überlegen ist, keine Bedeutung unter Ausschluß der anderen gewählt werden soll. Die Dinge sind nicht das, was man uns glauben machen wollte. Nur der Mensch kann an Neurosen leiden, nur menschliches Leben hat die Struktur der Neurose, da »nur der Mensch dazu verurteilt ist, zwischen zwei Bestimmungen hin und her gerissen zu werden, weil in seinem Ich eine Instanz existiert, die unaufhörlich aufpaßt, kritisiert und vergleicht und auf diese Weise gegen den anderen Teil des Ich gerichtet ist«. Diese Aufspaltung in den Beobachter und den Beobachteten ist die condition humaine, verkörpert und umgewandelt in das Drama der Psyche. Um zu verbergen, daß sie selbst nicht sind, was sie zu sein vorgeben, zwingen die Mächte der Welt den Menschen zu glauben, daß er nicht sei, was er sein sollte. Besessen von der Selbsterforschung, vergißt der Mensch, die Beglaubigungen der Welt zu überprüfen. Die Ambivalenz der gesellschaftlichen Mächte wird in die nagende Furcht vor der eigenen Inadäquanz verwandelt. Rebellion geht in der bestehenden Neurose unter. Dieser Konflikt, sagt Ernest Simon, »spiegelt sich auf spezifische Weise in dem modernen Juden der Diaspora wider«.21 Freud, der moderne Diaspora-Jude, erfuhr die volle Wucht dieses Stoßes. Indem sich die modernen Mächte die Juden als primäre Zielscheibe und als Übungsgelände für ihren Assimilationsdrang aussuchten,

21 Ernest Simon, »Sigmund Freud, the Jew«, in: Leo Baeck Institute Yearbook, Bd. 2, S. 297.

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machten sie sie damit zu einer unfreiwilligen Avantgarde der zukünftigen Welt, die durch polyseme Ambiguität, Relativismus und chronische Unterbestimmtheit charakterisiert ist. Es war schwerlich ein zufälliges Zusammentreffen, daß dieser Trieb gerade über die stolperte, die als seine Hauptopfer auserwählt waren. Der moderne nationalistische Trieb vermehrte nur die Qual und Schärfe einer Erfahrung, die in der Geschichte der Diaspora keineswegs einzigartig ist. Juden waren daran gewöhnt, beobachtet, kritisiert und verglichen zu werden: beurteilt zu werden, ohne selbst ihr eigenes Urteil über die Richter aussprechen zu dürfen. Sie hatten schon früh gelernt (und in der kabbalistischen Lehre zum Ausdruck gebracht, die sich an der Schwelle zur Neuzeit entwickelt hatte), daß das Böse, das vom Urteil verdammt wird, eine Folge des Urteilens ist: »Es entwickelte sich allmählich die Lehre, die Quelle des Übels im überreichlichen Wachstum der Macht des Urteils zu sehen, die durch die Verdinglichung und die Trennung der Qualität des Urteils von seiner herkömmlichen Verbindung mit der Qualität liebender Freundlichkeit möglich gemacht worden war. Das reine Urteil, ungemildert durch irgendeinen besänftigenden Zusatz [und derart ist gewöhnlich das Urteil eines anderen, eines feindseligen, böswilligen Kritikers – Z.B.] rief aus sich selbst das sitra abra (die andere Seite) hervor, genau wie ein Gefäß, das bis zum Überlaufen gefüllt wird, seinen Überfluß auf den Boden verschüttet.«22

Das durch die Moderne hervorgebrachte Neue war die einzigartige und bemerkenswerte Leistung des Assimilationsprojekts: »Garnisonen« in den »eroberten Städten« einzuquartieren, die Verteidiger zu selbsternannten Magistraten zu machen, die Angeklagten zu ewiger Selbstverurteilung und Selbstapologie zu verdammen, während man sie vorgeblich von äußerlichen Urteilen befreite und die Gerichtsverfahren durch Selbstkritik ersetzte. Vor allem diese Neuerung machte die organische Einheit des Guten und des Bösen deutlich, die jetzt in Form wechselseitiger Durchdringung und ge-

22 Gershom Scholem, Kabbalah, New York 1974, S. 123.

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genseitiger Bestimmung von Norm und Anomalie, Gesundheit und Krankheit, Vernunft und Wahnsinn erschien. »Wahnsinn nimmt gewöhnlich eine Position der Ausschließung ein; er liegt außerhalb einer Kultur. Aber Wahnsinn, der ein Gemeinplatz ist, nimmt eine Stellung der Einschließung ein und wird zum Innern einer Kultur […] Zu sagen, daß Wahnsinn tatsächlich unser Gemeinplatz geworden ist […] heißt zu sagen, daß Wahnsinn in der zeitgenössischen Welt auf die radikale Ambiguität des Innen und des Außen verweist.« Das ist die Lehre, die Shoshona Felman aus der Entdeckung zog, zu der Freud durch die moderne Erfindung der sozusagen verinnerlichten Überwachung angeregt wurde. Sobald diese »radikale Ambiguität« wahrgenommen und festgehalten worden war, kommt freilich eine weitere Ambivalenz – die aller Deutung und allem Verstehen angeboren ist – an die Oberfläche. Wahnsinn ist ein Tribut, der der Überlegenheit der Vernunft gezollt wird; in seiner Kampfansage an die Urteilssprüche der Vernunft bestätigt der Wahnsinn, daß die Herrschaft der Vernunft unanfechtbar ist. Wenn freilich, um diese Funktion zu erfüllen, der Wahnsinn als selbst unvernünftig verstanden werden muß (d.h. als sich nicht bewußt, Wahnsinn zu sein), während er sich selbst als Vernunft präsentiert (d.h. die alleinige Autorität der Vernunft, das monopolistische Recht der Vernunft, sich durchzusetzen und Stellung zu beziehen, anerkennt), wie können wir dann wissen, wo die Vernunft aufhört und der Wahnsinn beginnt? »Wenn Wahnsinn als solcher als ein Akt des Glaubens an die Vernunft definiert wird, kann tatsächlich keine vernünftige Überzeugung von dem Verdacht des Wahnsinns ausgenommen sein. Vernunft und Wahnsinn sind dadurch unentwirrbar miteinander verknüpft; Wahnsinn ist im wesentlichen ein Phänomen des Denkens, oder des Denkens, das den Anspruch erhebt, im Denken eines anderen das Andere des Denkens zu denunzieren, das, was Denken nicht ist. Wahnsinn kann es nur in einer Welt im Konflikt geben, innerhalb eines Konflikts des Denkens.«23

23 Shoshona Felman, Writing and Madness, Ithaca 1985, S. 13, 36.

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Die moderne Welt ist eine Welt des Konflikts; sie ist auch die Welt eines Konflikts, der verinnerlicht worden ist, der zu einem inneren Konflikt geworden ist, sich in einen Zustand persönlicher Ambivalenz und Kontingenz verwandelt hat. Diese Welt bringt auf dieselbe Weise Wahnsinn hervor wie ein Garten Unkraut. Der Gärtner kann Gartenpflanzen von Unkraut unterscheiden – weil er die Macht hat, sie als solches zu definieren; sein Urteil ist so lange bindend wie seine Definitionsbefugnis gültig ist. Aber was geschieht, wenn die Autorität in Frage gestellt wird? Was früher oder später der Fall sein muß, wenn die »Pflanzen« und das »Unkraut« Menschen sind, und zwar Menschen, die genötigt sind, sich selbst zu Gartenpflanzen zu machen und sich gegen das Wuchern des Unkrauts von unten zu schützen? Wie können sie das Normale vom Nichtnormalen unterscheiden, das Angemessene vom Neurotischen, Vernunft von Wahnsinn? Alle Paradigmen, die Harold Bloom als »zentral« in Freuds Werk ansieht (Schöpfung durch Katastrophe, Familienromanze und Übertragung), sind auch »durch Ambivalenz charakterisiert«.24 Sie alle verquicken Liebe und Haß, diese Geburtszeichen von Freunden und Feinden. Sie alle vermischen Anziehung und Abstoßung, diese Bausteine von Freundschaft und Feindschaft. Freuds Paradigmen scheinen aus der Erfahrung des ambivalenten Dritten, des Fremden, der in die Welt gekommen ist, um das Kreuz der Konflikte der Welt zu tragen, gebildet zu sein. Am Ende von Golgatha verkündet der Fremde von der Höhe des Kreuzes herab den Trug der Weltordnung: jene Ambiguität, die die Oppositionen, die die Ordnung aufrechterhalten, nur verhüllen, aber nicht heilen können. Keine Deutung ist vollständig und darf mit ihrer Wahrheit zufrieden sein, verkündet Freud – obgleich sie immer danach strebt, es zu sein und deshalb, während sie darum kämpft, vielleicht tatsächlich »besser« wird. »Besser werden« heißt aber nicht, einer Wahrheit immer näher zu kommen, die legitimerweise ihre Alternati-

24 Bloom, The Breaking of the Vessels, S. 57f.

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ven ausschließt. Es bedeutet statt dessen größere Toleranz für vermutete, gleichwohl bislang unbekannte Gegendeutungen, mehr Bescheidenheit und eine Perspektive, die weit genug ist, andere, schon vermutete oder noch unvermutete Möglichkeiten einzuschließen. Aus schon genannten Gründen beanspruchte Freud für sein Werk die Autorität und das Prestige der Wissenschaft; aber er wünschte, daß sein Werk als ein ebenso seriöses und effektives Unternehmen wie die Wissenschaft in ihren besten Momenten anerkannt werde – während er sich gleichzeitig dagegen sträubte, die Identität der Psychoanalyse in der gegenwärtig herrschenden anmaßenden Wissenschaftspraxis aufzulösen, die er als ein Unternehmen ansah, das zu Monopolisierung und Ausschließung neigte. Vor allem weigerte sich Freud eigensinnig, auf die Frage, »ob es ein natürliches Ende einer Analyse gibt, ob es überhaupt möglich ist, eine Analyse zu einem solchen Ende zu führen«, eine Antwort zu geben, mit der er sich bei dem wissenschaftlichen Establishment beliebt gemacht hätte.25 Wie zwingend und plausibel die Deutungen der analysierten Träume auch immer sein mögen, ihr Sinn, schrieb Freud, »bleibt möglich, wenn auch unerwiesen; man muß sich mit der Tatsache einer solchen Vieldeutigkeit der Träume befreunden. Diese ist übrigens nicht jedesmal einer Unvollkommenheit der Deutungsarbeit zur Last zu legen, sie kann ebensowohl an den latenten Traumgedanken selbst haften.«26 Die Arbeit des Analytikers mag Befriedigung bringen, mag Leiden lindern, selbst heilen; aber sie kann schwerlich jemals enden, und ihre Wirkungen können niemals sicher und endgültig sein. Es ist die Aufgabe des Analytikers, »das Vergessene aus den Anzeichen, die hinterlassen worden sind, zu erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu konstruieren«.

25 Freud, »Die endliche und die unendliche Analyse«, in: Gesammelte Werke, Bd. 16. S. 62f. 26 Freud, »Die Grenzen der Deutbarkeit«, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 564.

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Wie ein Archäologe zieht der Analytiker »seine Schlüsse aus den Erinnerungsbrocken, Assoziationen und aktiven Äußerungen des Analysierten […] aber es ist eine ›Konstruktion‹, wenn man dem Analysierten ein Stück seiner vergessenen Vorgeschichte vorführt«. Gibt es irgendeine Garantie, daß die Rekonstruktion den wirklichen Ereignissen entspricht? Ist es die Wahrheit, die eine und einzige, die der Analytiker dem Analysanden vorlegt? »Es mag uns scheinen, daß diese Frage eine allgemeine Beantwortung überhaupt nicht zuläßt […] Es ist richtig, daß wir ein ›Nein‹ des Analysierten nicht als vollwertig hinnehmen, aber ebensowenig lassen wir sein ›Ja‹ gelten.« Jede Konstruktion ist sozusagen »unvollständig«, da sie »nur ein Stückchen des vergessenen Geschehens erfaßt«. Und so geben Freuds Wissenschaftler »die einzelne Konstruktion für nichts anderes aus als für eine Vermutung, die auf Prüfung, Bestätigung oder Verwerfung wartet«.27 Die Welt ist ambivalent, obwohl ihre Eroberer und Herrscher nicht gerne sehen, daß es so ist, und auf Biegen und Brechen versuchen, sie als eine Welt auszugeben, die sie nicht ist. Gewißheiten sind nicht mehr als Hypothesen, Geschichten nicht mehr als Konstruktionen, Wahrheiten nicht mehr als zeitweilige Stationen auf einem Weg, der immer nach vorne drängt, aber niemals endet. Nicht mehr? Es mußte erst viel Scharfsinn entwickelt und viel Gift auf die Ambivalenz – jene Geißel aller Intoleranz und aller monopolistischen Ansprüche – verspritzt werden, ehe von Hypothesen, Konstruktionen oder zeitweiligen Stationen so gesprochen werden konnte, als wären sie »nicht mehr als …«. Ambivalenz ist nicht zu beklagen. Sie muß gefeiert werden. Ambivalenz stellt die Grenze der Macht der Mächtigen dar. Aus demselben Grunde ist sie die Freiheit der Machtlosen. Dank der Ambivalenz, dem polysemen Reichtum der menschlichen Realität, der Koexistenz vieler semiotischer Codes und Deutungshintergründe ist das »assoziative

27 Sigmund Freud, »Konstruktionen in der Analyse«, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 45–52.

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Wissen des Interpreten mit bemerkenswert umfassenden Kräften ausgestattet, einschließlich sogar des hermeneutischen Privilegs, Fragen als Teile der Antworten zuzulassen«.28

Kafka oder Die Schwierigkeit des Benennens Über Kafkas nahezu obsessive Verwendung der Konjunktion aber sagt sein verständnisvoller Interpret Herman Uytersprott: »Von allen deutschen Schriftstellern gebraucht Kafka die adversative Konjunktion ›aber‹ bei weitem am häufigsten. Tatsächlich verwendet er sie durchschnittlich zwei- oder dreimal häufiger als alle anderen Autoren […] Die Ursache dafür liegt in der bemerkenswerten Komplexität einer Seele, die nicht einfach geradlinig sehen und fühlen konnte, einer Seele, die nicht aus Feigheit und Vorsicht zweifelte und zögerte, sondern eher aus Klarsicht. Eine Seele, die bei jedem Gedanken, jeder Wahrnehmung, jeder Behauptung sofort einen kleinen Teufel flüstern hörte: aber … Und dann mußte diese Seele dieses teuflische ›aber‹ niederschreiben zu unserer größeren ›Verwirrung in der Klarheit‹.«29

Kafkas aber steht freilich nicht für eine wechselseitige Ausschließung: Es vermittelt nicht die Gewißheit, mit der normalerweise Opposition ausgedrückt und die Notwendigkeit einer Wahl erklärt wird. Ganz ähnlich wie in Freuds Vision des endlosen, ewig unvollständigen Deutungsprozesses signalisiert es nicht die Bestimmung eines entweder-oder, sondern die Resignation eines Nebeneinander – eines Nebeneinander in einer inkongruenten und dennoch unverbrüchlichen Vereinigung. Jill Robbins hat jüngst wieder auf Kafkas ständigen Gebrauch von parataktischen Juxtapositionen verwiesen: Verschiedene Versionen, Erklärungen, Deutungen von Ereignissen und Handlungen werden aufeinandergetürmt, neben28 »Introduction«, Midrash and Literature, hrsg. v. Hartmann und Budick, S. XI. 29 Zitiert nach Jill Robins, »Kafka’s Parables«, in: Midrash and Literature, hrsg. v. Hartmann und Budick, S. 267f.

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einander erzählt; jede einzelne für sich offenbar sinnvoll, aber zusammen ohne Sinn wegen der logischen Widersprüche – eine Unvereinbarkeit, die bewirkt, daß sie sich gegenseitig ausschließen. (Parataxis – ein weiterer Terminus der »Para«-Gruppe – bedeutet, daß »Satzteile oder Wendungen unabhängig voneinander angeordnet sind, eher eine koordinierte denn eine subordinierte Konstruktion« – so daß dem Leser keinerlei Hinweis gegeben wird, welche Version vorzuziehen ist, welche die zentrale Stelle in der Struktur der Deutung einnimmt; nicht einmal, ob eine solche Hierarchie existiert oder ob die aufgeführten Deutungen zueinander gehören oder aus verschiedenen Welten stammen. Parataxis bedeutet zuerst und vor allem die Abwesenheit einer Hierarchie. Wie in Simmels Wahrnehmung der modernen Situation fließen alle Versionen der Beschreibung sozusagen mit derselben spezifischen Schwere, sind einander gleich und enthalten nichts, das eine leichte Wahl suggerieren könnte.) Parataktisch angeordnete Auflistungen von Erklärungen bezeugen die Unmöglichkeit einer Erklärung; eine Parataxe von Deutungen vermittelt eine hoffnungslose Unschlüssigkeit der Deutung, die letzte Leere des Verstehens. Wie sie nebeneinanderstehen und weil sie nebeneinanderstehen und nicht anders können, als in der Gesellschaft der jeweils anderen zu bleiben (da keine das Recht hat, allein zu stehen; allein ist jede eine Lüge), hebt jede Deutung die übrigen auf. Gemeinsam stellen sie bereit, was jede getrennt verweigert und versteckt: die Unmöglichkeit, die volle Tiefe der vielschichtigen Welt der Bedeutungen auszuloten. (Man erinnere sich an die Übungen, die verborgenen Bedeutungen anscheinend einfacher und sich selbst erklärender Konversationssequenzen zu entziffern, die Harold Garfinkel mit seinen Studenten durchzuexerzieren pflegte; diese kleinen praktischen Demonstrationen der Wahrheit, die in Kafkas Parataxen bloßgelegt ist. Wie Garfinkels Studenten bald zu ihrer äußersten Verblüffung herausfanden, kam keine Deutung, wie reich und kompliziert auch immer sie sein mochte, annähernd einer vollständigen Auflistung aller stillschweigenden Annahmen nahe, die von den Sprechern gemacht werden mußten, um die zer286

brechlichen Bedeutungen ihrer Äußerungen mitzuteilen oder aufrechtzuerhalten.) Jede Deutung für sich allein verspricht Verstehen; zusammen enthüllen sie die Agonie des unerfüllten und unerfüllbaren Traums des Verstehens. Aber sie tun mehr als das. Jill Robbins stellt im Anschluß an die Auflistung zweier Folgen von parataktischen Austauschbeziehungen die entscheidende Frage: »Gibt es so etwas wie ein ›ich‹, das das sagen kann?«30 Die Verzweiflung der Hermeneutik, die von der Parataxe enthüllt wird, ist keine Verzweiflung, die der Interpret sich zu eigen machen, sich aneignen, assimilieren, domestizieren, 30 Robbins, »Kafka’s Parables«, S. 269. Gerschon Shaked (»Kafka, Jewish Heritage, and Hebrew Literature«, in: The Shadows within: Essays on Modern Jewish Writers, Philadelphia 1987) wundert sich über den vermeintlichen Widerspruch zwischen dem »intensiv jüdischen« Alltagsleben Kafkas und dem beinahe judenreinen Erscheinungsbild von Kafkas Werk – aber später gibt er zu, daß der Widerspruch nur scheinbar besteht: Es gibt eine klare »Homologie« zwischen Kafkas »Mensch ohne Geschichte, Mensch außerhalb von Raum und Zeit, der überall zu Hause sein muß, aber sich nirgends sicher fühlt« und der »außerhistorischen, heimatlosen Dimension« des »kollektiven Bewußtseins des assimilierten Diaspora-Juden« (S. 6). Shaked schließt: »Die Bedingungen des Raumes ohne Begrenzung und der Zeit ohne Geschichte korrespondieren der Situation der Juden der Diaspora: vertrieben aus der Sicherheit der jüdischen rituellen Zeit und dem Raum des schtetls in eine zeitlose, raumlose Existenz.« (S. 9) In einer neuen Untersuchung (»Franz Kafkas Judentum«, in: Kafka und das Judentum, hrsg. v. Karl Erich Grözinger, Stéphane Mosès und Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt/M. 1987) gibt Ernst Pawel die Deutung, daß es der spezifische jüdische Konflikt war (»Er war kein Tscheche, kein Deutscher. Diese Tatsache machte ihn durch Subtraktion und den gnadenlosen Syllogismus der Prager Politik zum Juden«), der Kafka den Weg zu einem Universalismus frei machte, der weder an eine Nationalität noch an ein Glaubensbekenntnis gebunden war, und Kafka in einen »Pionier eines Typs« verwandelte, ein Paradigma für Entfremdung – was die »erstaunliche Popularität von Kafkas Werk in weit entfernten und unerwarteten Ländern, vom japanischen Inland bis zum amerikanischen Korngürtel, erklärt« (S. 225).

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in das Spielregelbuch schreiben kann. Die Verzweiflung der Hermeneutik schließt die Möglichkeit eines verstehenden Subjekts aus. Sie hat kein Subjekt. Da sie die Verzweiflung von niemand ist, entsagt sie dem Subjekt. Im Zentrum oder auch darunter wird eine Leere aufgedeckt, wo das Subjekt sein wollte. Diese Leere ist das Produkt eines vereitelten Verstehens; aber sie ist ebenso der Anfang, ja die Möglichkeit des Bemühens um ein Verstehen, das schließlich scheitern muß, das aber niemals einen Endpunkt erreichen kann, jenseits dessen es keinen Anfang gäbe. Leere, Ambivalenz und Unklarheit mögen von Beginn der Zeiten dort gewohnt haben. Von Reisenden selten, wenn überhaupt jemals erblickt, blieben sie freilich den Ansässigen gänzlich unbekannt. Um Benjamins Unterscheidung zwischen zwei Typen des Geschichtenerzählens aufzunehmen, gab es einige Seeleute, die Geschichten aus fernen, geheimnisvollen und erschreckenden Ländern nach Hause brachten; während die Geschichten des Bauern keinerlei Hinweis auf den Abgrund enthielten, der sich hinter dem letzten Zaun des Dorfes auftat. Die Juden waren unter den ersten, sich so weit vorzuwagen (oder dorthin gestoßen zu werden), und sie waren zahlreich und blieben lange genug, um einen ausgiebigen Blick auf die Umgebung zu werfen. Diese Juden wurden durch widersprüchliche Assimilationszwänge in die Leere gestoßen; sie reisten, weil ihnen nicht erlaubt wurde, sich niederzulassen, und sie wußten, daß sie gezwungen waren zu reisen, weil sie gehört hatten, wie wichtig es sei, an einem Ort zu bleiben. Sie waren in das Offene und die Ambivalenz gezwungen worden und sie waren sich voll bewußt, wie unbeherrschbar und grenzenlos jene Leere und jene Unklarheit waren, die sie in ihrer unfreiwilligen Bleibe vorfanden. Wie Kafka Max Brod gestand, klebten seine Hinterbeinchen immer noch am Judentum seines Vaters, während die Vorderbeinchen keinen neuen Boden fanden; die Verzweiflung darüber war seine Inspiration. Kein Lied ist so rein – vertraute Kafka in einem Brief Milena an – wie das, was aus der Tiefe des Infernos erklingt. Es ist dieser Gesang, den wir für den der Engel halten. »In Prag«, schreibt Marthe Robert, »konnte Kafka nicht ›assimiliert‹ werden: 288

er wurde vielmehr eingedeutscht; d.h. seine Sprache war sein einziger Ersatz für all das, was ihm das Schicksal geraubt hatte: heimischer Boden, Vaterland, Gegenwart und Vergangenheit.« Jene Sprache (im Falle Kafkas war es die deutsche Sprache) war kein Zugang zu irgendeiner Gemeinschaft, irgendeiner gemeinsamen Gegenwart oder Vergangenheit, die irgendein Einheimischer akzeptieren würde (eine Tatsache, die nur allzu offensichtlich war, weil es die deutsche Sprache war, die Sprache eines militant nationalistischen, selbstzentrierten und intoleranten Staates). Diese Sprache konnte deshalb in ihrer Reinheit akzeptiert werden: ungebunden, in sich selbst eingeschlossen und unbegrenzt; Sprache als eine Leere und Offenheit, als Ambivalenz und eine ständige Einladung an alle, die zu verstehen suchten. Er erkannte rechtzeitig, sagt Marthe Robert, »daß er noch in der Art und Weise Jude ist, wie er es nicht ist«.31 Robert schreibt »noch«. Aber Kafka erkannte mehr als das; er wußte, daß sein existentieller Konflikt als Jude sich genau darin am vollständigsten ausdrückte, daß er Jude weder im Sinne der Gemeinde- oder Stammeszugehörigkeit noch in einem rituellen Sinne war – daß er zu überhaupt keinem Stamm gehörte. Die modernen Assimilationszwänge erschlossen den Juden die unauslotbare Möglichkeit ihrer eigenen Situation – sei es auch nur versehentlich – erst, nachdem sie sie ihrer Stammesrituale beraubt hatten. Den Menschen, die das leere Buch erbten und es jahrhundertelang mit sich herumtrugen, ohne die Chance zu erkennen, die es mit sich führte, wurden nun mit Gewalt die Augen für seine Leere geöffnet. Für die Leere, die ihre Chance war. Für die Leere, die nichts anderes als ein Drang nach Erfüllung war. »In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn [sc. meinen Diener], was das bedeute. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tor hielt er mich auf und fragte: ›Wohin reitest du, Herr?‹ ›Ich weiß es nicht‹, sagte ich, ›nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so

31 Marthe Robert, Einsam wie Franz Kafka, Frankfurt/M. 1985, S. 36, 19.

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kann ich mein Ziel erreichen.‹ ›Du kennst also dein Ziel?‹ fragte er. ›Ja‹, antwortete ich, ›ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹, das ist mein Ziel.‹ (Der Aufbruch) »Niemand, niemand kann nach Indien führen. Schon damals waren Indiens Tore unerreichbar; aber ihre Richtung war durch das Königsschwert bezeichnet. Heute sind die Tore ganz woandershin und weiter und höher vertragen: niemand zeigt die Richtung; viele halten Schwerter, aber nur, um mit ihnen zu fuchteln; und der Blick, der ihnen folgen will, verwirrt sich.« (Der neue Advokat) »Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie. Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte. Ich kann es gar nicht verteidigen, daß ich auf dieser Plattform stehe, mich an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen mich tragen lasse, daß Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn, oder vor den Schaufenstern ruhn. – Niemand verlangt es ja von mir, aber das ist gleichgültig.« (Der Fahrgast)32

Das Ziel ist »nur weg von hier«. Das Schwert des Königs hat einmal die Richtung der Tore gewiesen, aber sie sind nun verschwunden, und die Schwerter heutzutage zeigen in so viele Richtungen, daß die Blicke, die ihnen folgen, sich verwirren. Man kann nicht erklären, warum man da steht, wo man steht; warum man dahin geht, wohin man geht. Aber all dies ist irrelevant – da »weg-vonhier« das Ziel ist. Das einzige Ziel, das man haben kann. »Ja«, sagt Walter A. Strauss, »Kafka ist Ahasver, der ›Ewige Jude‹ und er ist auch die Verkörperung der für das 20. Jahrhundert charakteristischen Variation dieses Typus: assimiliert und doch nicht assimiliert, dem Judaismus verhaftet und doch von ihm losgelöst; fahrender Ritter und Drache; ein Gesandter, dem eine Botschaft anvertraut ist, die er nicht genau gehört oder klar verstanden hat; Befreier-Held, dessen Stärke seine Schwäche ist; ein Parsifal – aber dieser ist ein ›unreiner Tor‹ – der zu viele Fragen stellt und niemals die richtige.«33

32 Franz Kafka, Die Erzählungen, Zürich 1953. 33 Walter A. Strauss, On the Threshold of a New Kabbalah, New York 1988, S. 94.

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Kafka besteht aus Gegensätzen. Oder eher aus der Leugnung von Gegensätzen – aus der Parataxe von Gegensätzen. Kafkas Leben ist, wie das moderne Leben, ein »Mitten-dazwischen-Leben«: zwischen dem Raum, zwischen der Zeit, zwischen allen festen Momenten und festen Plätzen, die, dank ihrer Festigkeit, sich einer Adresse, eines Datums oder eines Eigennamens rühmen. Wenn Marthe Robert recht hat und Kafka in seinen Romanen und Erzählungen nur von sich selbst spricht (welcher Schriftsteller tut das nicht?), dann ist es seine Erfahrung des assimilierten/unassimilierten Juden, des fahrenden Ritters der Moderne und des Drachen, den der Ritter zu töten sich verpflichtet hat, die in diese monströsen, hybriden, illegitimen, über- und unterdefinierten, inkongruenten Kreaturen verwandelt worden ist, die seine Schriften bevölkern. Ein Mensch, der zu einem Insekt wird; ein Affe, der zu einem Menschen wird; ein Hund, der zu einem Philosophen wird; halb Kätzchen, halb Lamm; halb tot, halb lebendig; und jenes inkohärenteste von allen, das fast schon wieder kohärent ist, Odradek – »es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt«, ein Ding, das zwar »sinnlos« erscheint, »aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.« Wenn man Odradek fragt, wie er heißt oder wo er wohnt, dann lacht er: »es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann« (Die Sorge des Hausvaters). Wenn Kafkas Helden Namen haben, sind diese lächerlich, bedeutungslos und – da sie von unklarer und umstrittener Herkunft sind – verwirrend statt erhellend. Es scheint, daß die Funktion dieser Namen zum größten Teil darin besteht, die Hybris des Nennens zu entlarven, die Unmöglichkeit des Bezeichnens zu beweisen. Aber die Helden von Kafkas großen Romanen haben überhaupt gar keine Eigennamen. Sie werden durch Zeichen bezeichnet, die nicht vorgeben zu bezeichnen. Sie tragen die verschwindenden Spuren von Namen, die vielleicht vergessen worden sind (obgleich dies von geringer Bedeutung ist, da sie jetzt bestimmt keine Rolle mehr spielen); oder unvollendete, verstoh291

lene Namensanfänge, die noch darauf warten, genannt zu werden. Die Helden sind vielleicht unnennbar. Oder ihre Namen sind unaussprechlich. »Ich schreibe meinen Namen ins Offene« – Jabès sollte in Worte fassen, was Kafka durch sein Schweigen ausdrückte. In der Offenheit einer Gesellschaft, »in die seine Geburt ihn gestellt hat, ohne ihm das Recht zu geben, sich in ihr zu Hause zu fühlen, ist das Kafka genannte Individuum nur halb oder gar nicht vorzeigbar«. Sein Name muß von dieser Offenheit geschluckt und aufgelöst worden sein, die selbst eine emphatische Leugnung der Möglichkeit des Nennens war, der eifrig gesuchten, trotzdem immer unfaßbaren Identität. Wieder einmal wandelte sich jüdische Partikularität in moderne Universalität. Kafkas Namenlosigkeit geht der modernen Welt voraus, leitet in sie ein; eine Welt, in der Namen nicht empfangen, sondern gemacht werden und sich, während sie gemacht werden, als unfähig erweisen, ein festes Datum und einen festen Ort anzubieten, und die Hoffnung auf ein solches Angebot zerstören. Auf ihrer Schwelle zwang die Moderne die Juden, jene Leere aufzusuchen, das »Land, das dem Schweigen und dem unendlichen Zuhören geneigt ist« ( Jabès), welches sie bis dahin halbwissend bewohnt haben; und es zu vermessen und die Karte bei jeder Rückkehr von ihrer Reise mitzubringen. Diese Karte konnte die moderne Welt jetzt auf ihrer eigenen Reise in die Leere ihrer eigenen Zukunft gebrauchen. Jetzt »kann jeder oder niemand Jude sein« (Derrida).

Simmel oder Das andere Ende der Moderne Simmel war der wohl produktivste, am meisten gedruckte und am meisten gelesene Soziologe seiner Zeit. Und trotzdem führten seine lebenslangen Bemühungen um eine Ernennung zum Professor zu nichts. Erst ein Jahr vor seinem Tode wurde er auf einen Lehrstuhl an eine Provinz-Universität, nach Straßburg, berufen. Seine Bewerbungen wurden trotz autoritativster Empfehlungen und einer höchst eindrucksvollen Publikationsliste regelmäßig ab292

gelehnt. Es mochte sein, daß die Berufungskommissionen und die Gutachter, an die sie sich wandten, um sich eine Meinung über Simmels Arbeit zu verschaffen, Ressentiments gegen seine jüdische Herkunft verspürten – immer noch ein ernsthaftes Handicap, wenn man den nationalistischen Geist und die diskriminierende Praxis der deutschen Universität bedenkt. Es ist freilich wahrscheinlich, daß die Türhüter mehr als gegen Simmels Geburtsurkunde Ressentiments gegen die Substanz seiner Soziologie hegten, die in einem krassen Widerspruch zu den durchschnittlichen soziologischen Schriften der Zeit stand, die als andersartig, fremdartig, jüdisch empfunden wurde. Die Ablehnung der Simmelschen Soziologie überlebte ihren Autor. Die akademischen Soziologen brauchten viele Jahre, um Simmel in den Kanon ihrer Tradition aufzunehmen. Es bedurfte noch einiger Jahrzehnte mehr, um Simmel in die »Gründungsväter« der Soziologie einzureihen. Erst jetzt beginnt man Simmel als einen der (vielleicht als den) einflußreichsten und sensibelsten Analytiker der Moderne anzuerkennen; als einen Schriftsteller, der als eine Häresie artikulierte, was lange nach seinem Tode zum common sense der soziologischen Weisheit werden sollte; als einen Denker, der mehr als jeder andere im Einklang mit der zeitgenössischen Erfahrung stand; als den Erfinder eines soziologischen Stils, der als der adäquateste gewürdigt werden sollte, im Einklang mit ebender Art gesellschaftlicher Realität, über die er berichten sollte. Ebendie Aspekte der Simmelschen Soziologie, die ihn zu seiner eigenen Zeit an die Ränder der Profession verwiesen, werden jetzt allmählich als geradezu unheimlich einsichtsvolle Antizipationen der Gestalt der zukünftigen Dinge angesehen. Simmels frühere Laster haben sich in Tugenden, seine Schwächen in Verdienste verwandelt. Simmel wurde eine gewisse Bruchstückhaftigkeit seiner Analysen vorgeworfen. Er näherte sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit mal aus der einen Perspektive, dann aus einer anderen, wobei er sich jedesmal auf gerade ein soziales Phänomen, einen Typus oder einen Prozeß konzentrierte. Durch diese Praxis entstand die Realität in Simmels Schriften aus Splittern und Informationskrü293

meln; weit entfernt von den vollständigen, allumfassenden, harmonischen und systematischen Modellen der »Gesellschaftsordnung« oder »Gesellschaftsstruktur«, die von anderen Soziologen vorgelegt und von den Sozialwissenschaften seiner Zeit als de rigeur angesehen wurden. Die Realität verzettelte sich sozusagen unter Simmels Händen; sie fiel auseinander und sträubte sich, durch den vereinheitlichenden Einfluß der Kirche, des Staates oder des Volksgeistes wieder zusammengeklebt zu werden. Dies regte so manchen von Simmels Lesern auf, und diejenigen, die bei der Aussicht, seine akademischen Kollegen zu werden, ohnehin heftiges Mißvergnügen empfanden, mehr als jeden anderen. Heute sehen wir, daß gerade die Bruchstückhaftigkeit von Simmels Analysen dazu geeignet war, die condition humaine zu erfassen, die Simmel, im Gegensatz zu seinen Kollegen, hinter der Fassade der totalisierenden Ambitionen der bestehenden Mächte spürte; hinter derselben sozialen Realität, die heute aus den Trümmern der gescheiterten technologischen Träume in all ihrer zersplitterten, fragmentarischen, episodischen Wahrheit zum Vorschein kommt – und als solche erkannt worden ist. Man kann sagen, daß Simmel die imaginierte Totalität zu einer Zeit ihres Trugs überführte, als die meisten seiner Zeitgenossen noch ihr Loblied sangen. Daß er aus der alles verschlingenden Ordnung, die von der »höchsten Realität« des Staates gefördert wurde, herausgedrängt worden war, hat gewiß Simmels Blick geschärft; es half ihm frühzeitig zu sehen, was die anderen erst später herausfinden sollten. Posthum ist Simmel dank der nun universalen Erfahrung, die seine einst idiosynkratische Einsicht eingeholt hat, mit Ruhm bedacht worden. Jetzt wissen wir alle, worum er ganz allein kämpfen mußte. Man kann das Zeugnis jenes Kampfes an der skeptischen, heiteren und würdevollen Weisheit von Simmels bahnbrechenden Einsichten ablesen. Man nehme beispielsweise Simmels kühne Desakralisierung (Entweihung?) der Werte. Von den weltlichen Mächten, die den Wunsch hatten, sich in dem von ihnen zurückgeworfenen Glanz zu sonnen, als absolut und außerzeitlich gefeiert, sind die Werte von Simmel brutal von ihrem ideologischen Podest gestoßen und 294

dorthin versetzt worden, wohin sie gehörten: Sie sind Jagd nach einer Befriedigung, die niemals da zu finden ist, wo man sie zu finden hofft, und die paradoxerweise ihre Anziehungskraft dem Opfer verdankt, das sie verlangt: Aller Wert wächst »dem begehrten Objekt teilweise oder sogar ganz erst durch das Maß des dafür erforderlichen Opfers« zu; es ist der »notwendige Umweg zur Erlangung gewisser Dinge«, welcher »die Ursache dafür ist, sie als Wert zu fühlen«; Dinge »sind so viel wert, wie sie kosten, was dann erst sekundär so erscheint, daß sie so viel kosten, wie sie wert sind«. Es sind die Hindernisse auf dem Weg, »die Besorgnis, das Objekt könne einem entgehen, die Spannung des Ringens darum«, die das Geheimnis des Wertes bilden.34 Simmels Beobachtungsstandpunkt war kein Büro in der Staatsbürokratie oder eins ihrer akademischen Abbilder. Es war schwerlich zu erwarten, daß er aus seiner Perspektive eine »globalisierte«, »demographierte« Vision der »Gesellschaft« (d.h. des Territoriums, das für die Staatshaushaltung beansprucht wurde) entwickeln würde. Simmel durchforschte die Situation des Menschen aus der Perspektive eines einsamen Wanderers, der später einmal von Walter Benjamin flâneur genannt werden sollte (als dieser Baudelaires berühmten Essay über die Art, wie die moderne Kunst die flüchtige moderne Existenz einfangen konnte, kommentierte). Der flâneur ist Zeuge, nicht Teilnehmer; er ist am Ort, aber nicht aus dem Ort, wo er gerade ist; ein Zuschauer des unendlichen Schauspiels des gedrängten städtischen Lebens; eines Schauspiels mit ständig wechselnden Schauspielern, die ihre Sätze nicht im voraus kennen, eines Schauspiels ohne Drehbuch oder Regisseur oder Produzent – und trotzdem immer wieder auf dem Spielplan dank der List und des Erfindungsreichtums seiner Charaktere. Aus der Sicht des flâneurs hat das Schauspiel weder Anfang noch Ende, keine Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung, keine Lösung und keinen Schluß, der a priori geschrieben ist. Statt dessen zersplittert es sich 34 Georg Simmel, »Philosophie des Geldes«, in: G. Simmel, Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 67–72.

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in Episoden ohne Ursache und Konsequenz. Dieses Schauspiel muß sich selbst konstruieren, während es läuft; muß sich selbst, Stück für Stück, durch seine eigenen Mittel aufbauen. Die interessierende Frage (die einzig vernünftige Frage) ist daher die, wie es möglich ist, daß dies geschieht und immer und immer wieder geschieht, ohne Anleitung und Szenario. Simmels Soziologie hatte keinen Platz für die »Gesellschaft«; Simmel suchte das Geheimnis der Vergesellschaftung aufzudecken. Simmels Soziologie ist eine Soziologie über die Kunst des Bauens – statt über großartige, harmoniebewußte architektonische Entwürfe. Unbeirrbar diagnostizierte Simmel das Ableben oder die UrLüge jener »universalen menschlichen Natur«, die in der frühen Sturm-und-Drang-Periode der Moderne als Verkleidung für den Angriff auf die Differenz und für die erneuerten Versuche, das Andere auszumerzen, diente. (»Der allgemeine Mensch, der Mensch überhaupt«, dessen Auftreten man erwartete, sobald man ihn nur erst einmal »von allen sein tiefstes Wesen überdeckenden Einflüssen und Ablenkungen« befreit hätte, »könnte keine unterschiedene Individualität« mehr zeigen, da er »vollkommen« wäre«; »alles, was man zu tun brauchte«, ist, den Menschen, »der durch empirische Eigenschaften, gesellschaftliche Stellung, zufällige Bildung individualisiert ist«, von »all diesen historischen Einflüssen und Ablenkungen« zu befreien, »die sein tiefstes Wesen entstellen und dann kann ›der Mensch als solcher‹ an ihm hervortreten«.) Simmel bemerkte auch, lange bevor andere ihre Aufmerksamkeit darauf richteten, daß die Realität des modernen Lebens den Träumen der Totalisierung getrotzt hatte; genauer, die Träume zerstörten sich selbst. Unter dem Einfluß universalisierender Macht entwickelte sich die Lage des Menschen in eine Richtung, die ihrer Intention genau entgegengesetzt war: »Er [der Grundtrieb nach Differenzierung] geht durch die ganze Neuzeit: das Individuum sucht nach sich selber, als ob es sich noch nicht hätte, und ist doch sicher, an seinem Ich den einzig festen Punkt zu haben. Begreiflich genug verlangt es bei der unerhörten Erweiterung des theoretischen und des praktischen Gesichtskreises nach einem solchen immer dringlicher, und kann

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ihn nun aber in keiner der Seele äußeren Distanz mehr finden […] Alle Verhältnisse zu anderen sind so schließlich nur Stationen des Weges, auf dem das Ich zu sich selber kommt: mag es sich den andern im letzten Grunde gleichfühlen, weil es, auf sich und seinen Kräften allein stehend, noch dieses stützenden Bewußtseins bedarf, sei es, daß es der Einsamkeit seiner Qualität gewachsen ist und die vielen eigentlich nur da sind, damit jeder einzelne an den andern seine Unvergleichbarkeit und die Individualität seiner Welt ermessen könne.«35

Die, die schon verstanden haben, und die, die immer noch krampfhaft an alten Illusionen festhalten, sind in derselben Klemme. Die »Alteingesessenen«, die Einheimischen, »die Dazugehörigen« unterscheiden sich nicht von den Entfremdeten, Verstoßenen oder Heimatlosen – nur wissen sie es noch nicht. Man braucht Stärke, um Einsamkeit zu ertragen. Die »dazugehören«, haben solche Stärke nicht, und deshalb flüchten sie sich vor dem Schicksal der Selbstkonstruktion in den trügerischen Schutz einer imaginären Zugehörigkeit. Solange sie unter diesem Schutz bleiben, ist es sehr unwahrscheinlich, daß sie die Wahrheit von Simmels Entdeckung eingestehen. Wie kann man seine Erfahrung mitteilen? Was soll im Verlauf einer solchen Mitteilung übermittelt werden? Wie kann Wissen, das den Inhalt eines subjektiven Geistes »objektiviert«, von einem anderen Geist in all seiner ursprünglichen Subjektivität begriffen werden? Diese Fragen klingen uns vertraut; heute geben wir bereitwillig zu, daß sie zusammen die agenda einer Welt ausmachen, in der wir alle leben, der »spätmodernen« oder »postmodernen« Welt. Aber bevor sie die agenda der Welt als solcher wurden, waren sie die agenda von Simmels soziologischem Diskurs. Simmel 35 Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie, Berlin 1970, S. 92. David Frisbys Beschreibung von Simmel als »Philosoph des fragmentierten Geistes« ist ebenso zutreffend wie seine Charakterisierung von Simmels Ziel, »in dem individuellen Phänomen, mit all seinen Details, die Fülle seiner Realität zu erfahren« (vgl. David Frisby, Fragments of Modernity: Theories of Modernity in the Work of Simmel, Kracauer and Benjamin, Cambridge 1985, S. 39, 45).

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tat, was wir heute alle tun, nur eben ein halbes Jahrhundert vor uns: Er stellte das Geheimnis der Kommunikation und des Verstehens zwischen verschiedenen Lebensformen genau in den Brennpunkt seiner Untersuchung und in das Zentrum seiner Rekonstruktion der Sozialität: »In den geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen verleitet die Gleichheit der Erkenntnisfunktion und ihres Objekts – da beide Geist sind – noch immer zu jenem Naturalismus, der ein einfaches Abschreiben des einen durch das andere für möglich und das Maß seiner Treue für das Wertmaß der Erkenntnis hält. Noch immer wird der Historik unbefangen die Aufgabe gestellt, uns das Geschehen sehen zu lassen, ›wie es wirklich gewesen ist‹. Im Gegensatz dazu muß man sich klarmachen, daß jede Erkenntnis eine Übertragung des unmittelbar Gegebenen in eine neue Sprache mit nur ihr eigenen Formen, Kategorien und Forderungen ist […] Eine eigentliche Abspiegelung, ein unmittelbares, aus der Wesensgleichheit folgendes Verständnis wäre Gedankenlesen oder Telepathie oder setzte eine prästabilierte Harmonie voraus.«36

Da weder Telepathie noch prästabilierte Harmonie lebensfähige Möglichkeiten sind, muß alle Kommunikation gewundene Prozesse des Kodierens und Dekodierens und vor allem der Übersetzung enthalten. Die Komplexität des Prozesses vorausgesetzt, wird Kommunikation mit großer Sicherheit ihre erklärte Absicht nicht erreichen: Es wird Überreste nicht wiedergewonnener Bedeutungen geben, und der Durst nach weiterer Deutung wird niemals gelöscht werden. »So entsteht die typische problematische Lage des modernen Menschen: das Gefühl, von einer Unzahl von Kulturelementen umgeben zu sein, die für ihn nicht bedeutungslos sind, aber im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll.«37 Dies ist, wie Simmel entdeckte, die letzte Bestimmung des Menschen der Moderne. Simmel gelangte (oder wurde er gestoßen?) vor den meisten seiner Zeitgenossen dorthin. 36 Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, München 1923, S. 54, 40f. 37 Georg Simmel, »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, in: Philosophische Kultur, Berlin 1986, S. 216.

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Die andere Seite der Assimilation Freuds Enthüllung der Ambivalenz (seine Neigung, Begriffe auf und zwischen den Grenzen zu verorten, so daß sie der Unterscheidung zwischen psychisch und somatisch, innen und außen, Sinn und Unsinn trotzen), Kafkas Einsicht in die letzte Grundlosigkeit der menschlichen Situation, Simmels Herabstufung der Gesellschaft auf das Spiel der Vergesellschaftung, Schestows Rehabilitierung der unterdrückten menschlichen Möglichkeit – vereinen sich in Jacques Derridas Philosophie der Unentscheidbarkeit. In den Worten zweier amerikanischer Herausgeber von Derrida ist »die ganze Idee, daß logische Konsistenz und die wissenschaftliche Methode zu den Wahrheiten oder zur Wahrheit führen könne, die die menschliche Existenz beherrscht, das platonische Vorurteil des westlichen Denkens, das Derrida in Frage stellt. Er liest Freud, wie Freud sich selbst und andere las – mit einem Blick auf das Kontingente, den Zufall, das zufällige Ereignis und den zufälligen Fehler.«38 Das Vorurteil, gegen das Derrida die Waffen richtet, ist die Abneigung gegen den Zufall; der Schrecken vor dem Kontingenten, der den langen Marsch zur vollkommenen und unwandelbaren Ordnung ausgelöst und motiviert hat, zur gewaltsamen Herrschaft der Notwendigkeit und der kognitiven Transparenz der vorhandenen Welt (intellektuelle Klarheit und Eliminierung des Zufalls sind in der Tat tautologisch verwandt – da man ein wahrhaft klares und vollständiges Wissen nur von dem haben kann, was regelmäßig und wiederkehrend ist und folglich keinerlei Information mit sich führt), die alle ihren Kulminationspunkt in dem Planungs/Ordnungs/Gärtner-Ehrgeiz der Moderne haben. Derrida gibt dem Unbestimmten seinen rechtmäßigen Status als Grund allen Seins zurück; oder besser, er enthüllt den Betrug einer langen Reihe von Versuchen, es aus seiner Stellung zu verjagen oder seine Gegenwart zu leugnen. Jede Bemühung um Bestim38 Vgl. Taking Chances: Derrida, Psychoanalysis and Literature, hrsg. v. Joseph H. Smith und William Kenigen, Baltimore 1984, S. VIII ff.

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mung endet in mehr Unbestimmtheit; jeder Versuch zu kodieren, zu überkodieren, zu fixieren, muß gleichzeitig die Gesamtsumme (wenn man hier von Summe sprechen kann) des Zufalls und der Unbestimmtheit vermehren. Jeder Deutungsschritt eröffnet neue Deutungsaufgaben. Deutung führt zu mehr Deutung. Deutung verwandelt sich in einen Teil dessen, was sie deutet, und vermehrt dadurch die Totalität, die gedeutet werden muß; sie ist in die Welt geschrieben, die sie schreibt. Sie muß sich selbst in das Buch eintragen, bei dessen Lektüre ihre Hilfe verlangt wird. Was Derridas Werk auszeichnet, ist die aufrichtige Anerkennung der »methodologischen Notwendigkeit, sich selbst in die Streitfrage und das Problem einzubeziehen, die Verantwortung für seine eigene Reflexivität und den eigenen Irrtum zu übernehmen«; die Bereitwilligkeit, »die Tradition der Selbstgewißheit aufzugeben, sich von den in dieser Tradition definierten Sinnbedingungen zu distanzieren«. Für Derrida gibt es keinen letzten Außenstandpunkt, keine harte, nicht-textuelle Realität »da draußen«, auf die die Deutung des Textes sich in der Hoffnung beziehen könnte, an ihr ein letztes und endgültiges Urteil zu haben. Der Text entwickelt sich im Verlauf seiner interpretativen Durchdringung. Deutung bleibt zwangsläufig in dieser verwirrenden, gleichwohl kreativen Beziehung zu dem Text, der gleichzeitig ebenso metonymisch wie metaphorisch ist; Deutung verwandelt sich in eine Erweiterung des Textes, während sie versucht, ihn zu ergänzen. In ihrer originellen Untersuchung der zeitgenössischen Literaturkritik porträtiert Susan A. Handelman Derridas Deutungsstrategie als das Wiedererscheinen des rabbinischen Deutungsmodus in der modernen Literaturtheorie. Die rabbinischen hermeneutischen Regeln entstanden, in scharfem Gegensatz zum griechischen Denken, »nicht in einem Prozeß der Abstraktion vom Text, die dann abgetrennt und unabhängig vom Text manipuliert werden konnte«. Rabbinische Kommentare »bilden einen Teil des Gewebes und verweben sich mit dem Text selbst«. Sie stoßen hart mit dem zusammen, was Handelman »den protestantischen Buchstabenglauben« nennt, der durch die Antithese von buchstäblich und 300

figurativ sowie die Unfähigkeit charakterisiert ist, »mit der Spannung der Abwesenheit-in-der-Anwesenheit zu existieren, die das linguistische Reich charakterisiert«, aber auch durch seine Furcht vor vielfältiger Bedeutung und den Versuch, daraus in eine »Theologie und Hermeneutik der Immanenz, der Gnade und des eindeutigen Sinnes und eine Absage an das freie Spiel der Interpretation« zu entfliehen. Dieser Glaube sieht die »gesamte vergangene Geschichte der Deutung« als eine Präfigurierung der »endgültigen und vollständigen Interpretation« an39 – ein Wort, das dazu bestimmt ist, sich selbst auszulöschen, wenn es Fleisch wird. Weder das Nebeneinanderstellen noch die Wahl scheinen sozusagen einfach oder direkt zu sein. Derridas Deutungsstrategie ist nicht eine Sache der Verwerfung und Wiederkehr, des Zurückstoßens der hermeneutischen Tradition der christlichen Welt und die Wiederauferweckung der Welt der Rabbis. Noch weniger ist sie eine Sache einer einfachen Ersetzung der ersten durch die zweite. Es ist eher so, daß die westliche Hermeneutik ihrer eigenen immanenten Entwicklungslogik gefolgt ist und einen kritischen Punkt in dieser Entwicklung erreicht hat, an dem ihre inneren Antinomien nicht mehr länger durch Mittel aufgelöst werden konnten, die sie selbst erzeugen konnte. Man kann sagen, daß die rabbinische Ansicht der Interpretation deshalb wieder zu Ehren kommt, weil die Krise der westlichen Hermeneutik sie dahin gebracht hat, wo dies geschehen konnte. Jacques Derrida, besessen wie er ist von der Dialektik der Signaturen und Daten (dieser spektakulärsten aller menschlichen Anstrengungen zu fixieren, festzustellen, zu verdinglichen – und der spektakulärsten Fehlschläge solcher Anstrengungen; sowohl das Datum wie die Signatur löschen sich sozusagen durch die schiere Notwendigkeit wiederzukehren selbst aus; sie erfüllen ihre Aufgabe der Individuierung dank ihres Wiederkehrens, aber eben wegen dieses Wiederkehrens kann ihre Aufgabe nicht erfüllt werden), legt den Gedanken nahe, daß »formal gesehen zumindest […] die 39 Handelman, The Slayers of Moses, S. 49, 91, 131.

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Behauptung des Judentums die gleiche Struktur [hat] wie das Datum«. Das heißt, beide sind Akte der Selbstauslöschung, die untrennbar vom Akt der Selbstbehauptung sind. »Ich bin Jude, indem ich sage: der Jude ist der andere, der kein Wesen hat, dem nichts eigen ist oder dessen eigenes Wesen darin besteht, daß er kein solches besitzt. Daher rührt zugleich besagte Universalität des jüdischen Zeugen […] und das unmittelbare Geheimnis des jüdischen Idioms, die Einzigartigkeit ›seines Namens, des unaussprechlichen‹.«40 Nichts Eigenes zu haben, ein Nichtseiendes, eine zu füllende Leere, eine auf Erfüllung hin sich erstreckende Leere zu sein, kein Wesen zu haben, ein Nicht-Wesen zu haben, das zu Wesen werden soll, ein Nicht-Wesen, das auf die Wesen der Welt wartet, wird auf diese Weise zu jener »jüdischen Signatur«, der »jüdischen Datierung«, die die Einzigartigkeit des Juden ist, die das Jüdische – an irgendeinem Punkt der Geschichte – universal macht. Die Universalität der Abwesenheit und das Leere sind die einzige Universalität, die es gibt; die jüdische Einzigartigkeit ist die einzige Universalität, die es gibt; alle Universalität ist jüdisch. Dies war die Bedeutung von Marina Zwetajewas »alle Dichter sind Juden«. Oder von Celans »Der Jude, weißt du, was er hat, das ihm wirklich gehört, das nicht geliehen, geborgt ist, niemals zurückgegeben wird?« Oder Borges’ »Meine Bücher sind im Grunde judaisch«. Den Juden zu definieren ist (so verführerisch und unmöglich) wie den Schriftsteller zu definieren, den Poeten, die spinnenähnliche Kreatur, die im Textgewebe hängt, das sie weiterhin spinnt; es heißt, das Menschliche zu definieren. Warum suchen, definieren Judentum und das universal Menschliche einander, warum vermischen sie sich? Was ist der Grund dafür, daß Zwetajewa, Borges, Celan, Joyce, die das Leere, das Nicht-Wesen, das die erste Bleibe und der letzte Zufluchtsort der Universalität ist, einzufangen suchen, nur den Juden in ihrem Netz finden können? (»Zuerst dachte ich, ich bin ein Schriftsteller. Dann erkannte ich, ich war ein Jude. Dann unterschied ich den Schriftsteller in mir nicht länger 40 Derrida, Shibboleth, S. 105f.

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vom Juden, weil der eine und der andere nur die Qual einer alten Welt waren«, gestand Edmond Jabès. An anderer Stelle gibt er zu, daß der Jude »die Gestalt des Exils, des Umherirrens, der Fremdheit und Trennung ist, die Lage, die ebenso die des Schriftstellers ist.«41) Warum entdecken sie, daß »diese Schwierigkeit, ganz Jude 41 Edmond Jabès, Le soupçon, le désert, Paris 1978, S. 85. Als ob er keinen Zweifel daran lassen wollte, daß hier mehr als eine zeitliche Koinzidenz im Spiel ist, insistiert Jabès: »Wir werden niemals wieder das Exil verlassen.« (Elya, S. 31) Eine sehr scharfsinnige philosophische Wiedergabe von Jabès’ kognitivem Problem als Inbegriff der dichterischen Seinsweise im allgemeinen kam aus Emmanuel Lévinas’ Feder: »Ist es überhaupt sicher, daß ein wahrer Dichter einen Platz einnimmt? Ist er nicht vielmehr der, welcher, im stärksten Sinne des Wortes, seinen Platz aufgibt und so zur Öffnung des Raumes selber wird, dessen Transparenz, genausowenig wie seine Leere – und nicht mehr als die Nacht und die Volumen der Menschen – seine Abgründigkeit oder Exzellenz ahnen läßt, den Himmel, der in ihm entstehen kann, seine ›caelumnité‹ oder ›célestité‹, falls solche Neologismen erlaubt sind?« Eine Abgründigkeit oder Höhe – »der höchste Abgrund«, laut Jabès –, in der jede Innerlichkeit zugrunde geht, äußerlicher noch als die Äußerlichkeit, bis in den Kern; als sei menschliches Atmen schon nicht mehr als Keuchen und als überwinde das poetische Sagen dieses Außer-Atem-Sein bis zu einem unendlich tiefen Atem, bis hin zur Inspiration (der Einhauchung), die alle Dinge aus ihrem Eingesperrtsein befreit, zur Entkernung – oder Transzendenz – des Seins, dem nur noch der Nächste fehlt. »Ich bin nur noch Sprechen«, sagt Jabès, »ich brauche ein Gesicht.« (E. Levinas, Eigennamen, München/Wien 1988, S. 77.) Über Elias Canetti, der als Schriftsteller im Exil »die Beziehung zum Ort generalisierte: ein Ort ist eine Sprache«, schrieb Susan Sontag: »Daß Deutsch die Sprache seines Geistes wurde, bestätigt Canettis Ortlosigkeit.« Canetti ist für Sontag das Urbild eines reisenden Intellektuellen, der, neben anderen Eigenschaften, die ihn auszeichnen, durch die Tatsache charakterisiert ist, daß »seine wirkliche Aufgabe nicht darin besteht, sein Erklärungstalent auszuüben, sondern dadurch, daß er Zeuge des Zeitalters ist, die weitesten, erbaulichsten Maßstäbe der Verzweiflung zu setzen« (Susan Sontag, »Mind as Passion«, in Essays in Honour of Elias Canetti, New York 1987, S. 90f.).

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zu sein«, dieselbe ist »wie jedermanns Schwierigkeit, ganz menschlich zu sein«?42 Lesen kann nicht ohne Schreiben erfüllt werden. Der Leser ist ein Schriftsteller, während er liest; Leser schreiben ihre Bücher in die Bücher, die sie lesen, so daß diese Bücher gelesen werden können. »Zu entdecken«, sagt Jabès, »bedeutet schließlich zu schaffen.« Über den Schriftsteller (und, wir wollen es wiederholen, jeder Leser ist ein Schriftsteller) schrieb Borges: »Es handelt sich um einen Menschen, der eine endlose Welt vor sich hat, und dann beginnt er Schiffe, Anker, Türme oder Pferde, Vögel usw. zu zeichnen. Am Ende findet er heraus, daß das, was er entworfen hat, ein Bild seines eigenen Gesichts ist. Das ist natürlich eine Metapher des Schriftstellers; was der Schriftsteller hinterläßt, ist nicht das, was er geschrieben hat, sondern sein Bild […]«

Noch einmal steht die Frage nach der Universalität auf dem Spiel, aber diesmal mit einer Rollenumkehr. »Bedeutung«, schreibt Robert Alter, »wurde, vielleicht zum ersten Mal in der erzählenden Literatur, als ein Prozeß aufgefaßt, der der kontinuierlichen Revision bedarf – sowohl im gewöhnlichen wie im etymologischen Sinne des (Wieder-)Sehens, der kontinuierlichen Enthaltung des Urteils, des Abwiegens vielfältiger Möglichkeiten, des Brütens über Lükken in der vorliegenden Information.«43 Und es war genau diese Bedeutung als unendlicher Prozeß, die in den »Folterqualen der Alten Welt« entdeckt wurde, als sie mit modernen Augen neu gesehen wurde. »In einem gottlosen und säkularen Jahrhundert, das durch seinen Blick auf die Leere betäubt ist, entdeckt Jabès die Gespenster der Theologie, die schon seit langem als zur Ruhe gebracht galten. Nietzsche verkündete den Tod Gottes vor über einem Jahrhundert, aber Jabès’ Werk bezeugt, daß es der Tod nur eines bestimmten Gottes war, eines klassischen Gottes – oder vielleicht wäre es besser zu sagen, eines bestimmten Aspekts Gottes, des leuchtenden, versichernden Garanten von Sinn.«44

42 Edmond Jabès, »The Key«, in: Midrash and Literature, S. 358f. 43 Robert Alter, The Art of Biblical Narrative, New York 1981, S. 12. 44 Susan A. Handelman, »Torments of an Ancient World«, in: The Sin of the Book: Edmund Jabès, hrsg. v. Eric Gould, Lincoln 1985, S. 56.

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Wie das Werk von Freud, Kafka, Simmel, Schestow45 oder Jabès steht die Hermeneutik von Derrida auf der anderen Seite der Assimilation. Diese Lokalisierung half ihr zu sein, was sie war. Die spekta-

45 Geboren als Lew Isaakowitsch Schwartzmann 1866 in Kiew; gestorben 1938 in Paris. Schestow war ein brillanter Student der Rechte und Mathematik in Kiew und Moskau, Autor verschiedener vielgelesener, diskutierter und gerühmter Bücher über Literaturkritik und Philosophie; gleichwohl wurde ihm als Jude der Zugang zur russischen akademischen Welt verwehrt, und es gelang ihm nicht, sich einen angemessenen akademischen Posten zu sichern. Er verließ Rußland 1922 und ging nach Frankreich. Er erlangte dort Ruhm als einer der originellsten Philosophen, der in diesem Land schrieb und veröffentlichte, und ihm wurde ein Lehrstuhl an der Sorbonne angeboten. Von vielen (besonders A. Camus, D. H. Lawrence und W. Gombrowicz) bewundert, hochgeachtet selbst von denen, die seine ätzende, korrosive Philosophie ungenießbar fanden (vor allem Edmund Husserl), blieb er ein einsamer Denker, der in keine der etablierten philosophischen Schulen paßte (obgleich er manchmal irrtümlicherweise mit der existentialistischen Bewegung identifiziert wurde und von den Existentialisten selbst aufgrund seiner lebenslangen Beschäftigung mit Kierkegaard in Anspruch genommen wurde). Nikolai Berdjajew bemerkte »die erstaunliche Unabhängigkeit« von Schestows Denken »von den umgebenden Zeitströmungen« (Tipy religioznoj mysli v Rossii [Die Typen religiösen Denkens in Rußland], Paris 1989, S. 407). Er hatte nur einen wirklichen Freund und anerkannten Schüler – einen Franzosen rumänisch-jüdischer Herkunft, Benjamin Fondane, der 1944 in einem deutschen Konzentrationslager ermordet wurde. Die Seßhaften, die Gesicherten, die Geschützten, die Einheimischen – insistierte Schestow – können ihre zerbrechliche Ordnung nur mit Hilfe der Macht aufrechterhalten. Ihre Ordnung ist eine Festung, schwerbewaffnet mit dem Prinzip des Nicht-Widerspruchs, den Gesetzen der Logik, die als allgemein bindend verkündet werden, mit Inquisitoren, Gefangenenwärtern und Henkern (Schestow lebte nicht lange genug, um hinzuzufügen: mit Auschwitzen und Gulags). Wahrheiten, die eines solchen Schutzes bedürfen, können des Schutzes nicht wert sein (umgekehrt, wirkliche Wahrheiten können ohne die Zustimmung der Menschen auskommen); wie Nietzsches apollinische Harmonie können sie auch nicht wirkungs-

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kulärste, wenngleich völlig ungeplante und unantizipierte Leistung des Assimilationsdramas war die Einrichtung von begrenzenden, über- und unterdeterminierten Räumen, wo die moderne Erfah-

voll geschützt werden. Die Mächte, die sie anwerben, um sie zu schützen, bezeugen sowohl die Illegitimität wie die Vergeblichkeit ihrer Anmaßungen. Es sind, im Gegenteil, die Kraftlosen, die Schwachen, die Schutzlosen, die die Träger der rettenden Wahrheit sind. Was die Wahrheiten der Seßhaften vergeblich zu verbergen suchen, ist freilich nicht die vormenschliche Ewigkeit des heidnischen Waldes, sondern die Menschlichkeit Jerusalems. Menschlichkeit bedeutet Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten. Die kreative Offenheit der menschlichen Existenz, ihre unwiderrufliche Nicht-Endgültigkeit, ihre Fähigkeit, alle Mauern zu durchbrechen, wie schwerbewaffnet sie auch immer sein mögen, soll durch die Zwangsgewalten, die Athen, im Verein mit den absolutistischen Staaten und Religionen, angeworben hat – das Prinzip des NichtWiderspruchs, des ausgeschlossenen Dritten –, praktisch eingedämmt und theoretisch vereinnahmt werden. Wenn Spinoza Wissen sub specie aeternitatis vel necessitatis sucht, wenn seine Nachfolger erklären, daß allein solches Wissen zu suchen und zu besitzen lohne, wenn Leibniz erklärt, daß die ewigen Wahrheiten in Gottes Geist eingingen, ohne Ihn um Seine Erlaubnis zu befragen – dann wird die göttliche Potenz des Menschen verstümmelt und eingesperrt. Die Kräfte Athens sind Kräfte der Harmonie und Klarheit; aber auch Kräfte des Zwangs und der brutalen Gewalt. Sie sind darauf gerichtet, alles auszurotten, was sie nicht absorbieren und in ihrer Macht halten können: die Suche nach absolutem Wissen bedeutet die Suche nach absoluter Macht. Aus der Tiefe des Abgrunds, in den die Menschheit vom absolutesten aller weltlichen Staaten geworfen wurde, schrieb Albert Camus (Der Mythos von Sisyphos, 1942) über Schestow: »[Dostojewskijs Untersuchungen über den zum Tode Verurteilten, die übersteigerten geistigen Abenteuer Nietzsches, die Verwünschungen Hamlets oder die bittere Vornehmheit eines Ibsen –] dergleichen dient ihm nur dazu, die menschliche Auflehnung gegen das Unabwendbare zu verfolgen, aufzuhellen und zu verherrlichen. Er versagt der Vernunft seine Gründe und dringt mit einiger Entschlossenheit nur in jene farblose Einöde vor, in der alle Gewißheiten Stein geworden sind.« (S. 27) Es ist Schestows Rebellion gegen die Verfolgung

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rung gelebt und die moderne Kultur geboren werden konnte. Die künftigen Nationen und die entstehenden Nationalstaaten schifften sich ein zum Assimilationsabenteuer und fuchtelten mit der Idee des fundamentalen Widerspruchs zwischen Judaismus und moderner Zivilisation herum. Während sie das Phantom der Homogenität verfolgten, erzeugten sie die Bedingungen, unter denen des Unabwendbaren, die ihn von Athen wegführt nach Jerusalem, zu Gott. »Gott wendet man sich nur zu, um das Unmögliche zu erreichen. Für das Mögliche genügen die Menschen.« (S. 34) Die Größe Gottes ist seine Inkonsistenz. Kein Absolutes ist hier, kein Zwang. Im Gegensatz zu dem Gott der Philosophen ist nichts Göttliches sub specie aeternitatis vel necessitatis. Gott: das bedeutet, daß nichts notwendig ist. Weil die Bedeutung Gottes ist, daß »es nichts gibt, was unmöglich ist« (vgl. Lew Schestow, Athens and Jerusalem, Athens 1966, S. 424f., 69). In der Einleitung zu Schestows Umozrenië i otkrovenië [Kontemplation und Offenbarung], Paris 1964 [posthum], faßte Berdjajew Schestows These in dem Satz zusammen: »Gott ist über aller unbegrenzten Möglichkeit.« Diese Macht Gottes kennt keine Grenzen; soweit sie sich der Zukunft öffnet, ist sie frei, die Vergangenheit zu streichen. Schestow selbst schreibt: »Die Geschichte der Menschheit – oder genauer: all der Schrekken der Geschichte der Menschheit – wird durch ein Wort des ›Allmächtigen‹ annulliert; sie hört auf zu existieren und wird in Phantome und Trugbilder verwandelt […] Die ›Tatsache‹, das ›Gegebene‹, das ›Wirkliche‹ beherrschen uns nicht, sie bestimmen unser Schicksal weder in der Gegenwart noch in der Zukunft oder der Vergangenheit. Was gewesen ist, wird zu dem, was nicht gewesen ist; der Mensch kehrt in den Stand der Unschuld zurück.« (Athens and Jerusalem, S. 68) In seiner Rezension von Schestows Kierkegaard-Studie bemängelte Berdjajew freilich den hypothetischen Status Gottes in Schestows Denken als Zeichen der Schwäche: Gott als die letzte Hoffnung, als die letzte Chance, als der Anker des Glaubens. »Wenn Gott existiert, sind die Möglichkeiten unbegrenzt […] Dann ist der Sieg über die Notwendigkeit, die unser Leben verstümmelt, erringbar.« (Tipy religioznoj mysli v Rossii, S. 400) Die athenische Philosophie, die der Offenbarung Jerusalems den Krieg erklärt, zog diese Hypothese in Zweifel und verstärkte so den Griff der Notwendigkeit, während sie die Freiheit aus dem Bereich der Existenz verbannte.

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das Judentum sich einer gründlichen Transformation unterziehen mußte. Es tat es. Und es tauchte aus dem langen und schwierigen Prozeß des »Identitätswechsels« nicht als ein Fremdkörper auf, der lästig im Gewebe des modernen Lebens steckte; noch verlor es seine Identität in dem gleichgültigen Fließen des modernen Lebens, wo »alles mit derselben spezifischen Schwere fließt«. Es ging statt dessen aus der Feuerprobe der Assimilation als fruchtbarer Beitrag zu der lärmenden, kritischen und rebellischen Kultur der Moderne hervor; das moderne Bewußtsein, das gegen die Bedingungen der Moderne ankämpft und so seine Anmaßungen entlarvt. Es war die innere, perverse Logik der Zwangshomogenisierung, die in der Situation der universalen Fremdheit ihrer Opfer widerhallte; eine Situation, der die Regeln der modernen Kultur entnommen wurden. Daß ebendies geschah, zeigt sich an der Tatsache, daß die kulturelle Aktivität der Juden und besonders die jüdische Aktivität in jener Kultur, die später als modern definiert wurde, ganz ungleichmäßig (sowohl räumlich wie zeitlich) verteilt war. Sie erreichte ihre höchste Intensität an Orten und zu Zeiten, wo die assimilatorischen Obsessionen am fanatischsten und grausamsten waren und die Kontinuität der jüdischen Tradition am frischesten und am wenigsten gebrochen war. Diese Zeit und dieser Ort war das östliche Mitteleuropa um die Jahrhundertwende. Dieser brodelnde Kessel unfertiger, unsicherer, ihrer selbst nicht gewisser Nationen; Nationen, deren Zukunft mit der Aufgabe belastet war, sich eine neue Vergangenheit zu schaffen; Nationen, die ihren eigenen Träumen nur dadurch gerecht werden konnten, daß sie zu anderen ungerecht waren; Nationen, die ihre Identität nur durch Aggression sichern konnten; Nationen, die zuerst die Realität formen mußten, an die sie appellieren wollten, um ihre Gegenwart zu rechtfertigen. Unsicherheit erzeugt Streitsucht. An keinem anderen Ort in Europa und zu keiner anderen Zeit in der europäischen Geschichte war der Bekehrungseifer der im Entstehen begriffenen Nationen so giftig und die Intoleranz der entstehenden Nationalstaaten so rücksichtslos. 308

Den Juden, die mitten unter diese konfligierenden territorialen und kulturellen Ansprüche geworfen waren, wurde die Chance einer erfolgreichen Assimilation verweigert, noch bevor sie – sei es mit Absicht oder durch ein Versehen – sich ihren Bedingungen beugten. Die sensibelsten unter ihnen, wie Gustav Mahler, sollten bald entdecken, daß sie »dreifach heimatlos [waren]: als ein Böhme unter Österreichern; als ein Österreicher unter Deutschen; und als Jude: überall«. Nationale Ansprüche waren unvereinbar, und niemand drückte diese Unvereinbarkeit deutlicher aus als die Juden, diese allgegenwärtigen, übernationalen, universalen Fremden. Die aufstrebenden Nationen waren zwar ganz eifrig, jüdische Dienste zur Forcierung kulturellen Wandels zu nutzen. Die Juden waren Träger des Magyarentums unter den schwächeren ländlichen Slawen, Träger der deutschen Kultur unter den Tschechen von Prag, die Propheten des deutschen Geistes in der vielsprachigen Hauptstadt des Habsburgerreichs. Man kann aber den Verdacht haben, daß auf die jüdischen Dienste meistens nur deshalb zurückgegriffen wurde, weil man die Diener so leicht entlassen konnte, sobald deren Dienste einmal nicht mehr benötigt werden würden. Es geschah alles genau so, wie es ein anderer sensibler Ostmitteleuropäer, Arthur Schnitzler, prophezeite: »Wer schuf die deutsch-nationale Bewegung in Österreich? Die Juden. Wer ließ die Juden im Stich und verachtete sie wie Hunde? Die Deutschnationalen. Und genau dasselbe wird passieren mit den Sozialisten und den Kommunisten. Sobald das Essen serviert werden kann, jagen sie dich vom Tisch.«46 Man kann vielleicht sagen, daß, je fürchterlicher der Bekehrungseifer, je ungeschickter die Agenten der Konversion waren, desto umfassender und kulturell kräftiger wurde zumindest tendenziell »die andere Seite der Assimilation«. (Diese hing letztlich vom Charakter und der Haltung des einheimischen Nationalismus

46 Zitiert nach Michael Ignatieff, »The Rise and Fall of Vienna’s Jews«, in: New York Times Review of Books, 29. Juni 1989, S. 22.

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ab und entschieden nicht von dem Eifer, mit dem die Juden auf die Einladung reagierten, sich zu assimilieren, und nicht von dem Erfolg, den sie dabei erzielten.47) Die Episode der erstaunlichen kulturellen Kreativität der Juden erwuchs aus der Agonie und dem Leiden, ebenso wie die Universalität der modernen Kultur aus dem Drama der modernen Provinzialität entstand. Es war vielleicht notwendig, zuerst auf der Empfängerseite des modernen Drangs nach Ordnung, Gewißheit und Gleichförmigkeit Todesqualen zu erleiden, um zu lernen, mit Polysemie, Ambivalenz und den unendlichen Möglichkeiten einer unentscheidbaren Welt zu leben. Schließlich ging der Schandpfahl als Ausguck, von dem aus das Land der Moderne zum ersten Mal gesichtet wurde, in die Geschichte ein.

47 Der »objektiv meßbare« soziale und politische Erfolg der Juden in vielen Ländern hat mittlerweile alle Erfolgsrekorde in Zentraleuropa hinter sich gelassen, die, nach einer ganzen Reihe von Kommentatoren, die letzte Ursache dafür war, daß sie nicht akzeptiert wurden und auf die Dauer zu ihrem Untergang führte. So stellten nach David Biale (Power and Powerlessness in Jewish History, New York 1986, S. 180) in den USA in den siebziger Jahren die Juden 20,9 Prozent in den Fakultäten der Spitzenuniversitäten, 11,4 Prozent in Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften und sogar 25,6 Prozent in den Medien. Besonders die letzte Zahl ist überraschend. Die Medien, eine relativ neue Erfindung, machten die Juden und ihren erstaunlichen »Erfolg« der Öffentlichkeit sichtbarer und zugänglicher als jemals zuvor (mehr z.B. als im Falle der notorisch jüdischen Presse, die deutschen Antisemiten soviel Munition an die Hand gab).

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Die Privatisierung der Ambivalenz

Ambivalenz ist aus der öffentlichen Sphäre in die private übergegangen, seit keine weltliche Macht mehr die Neigung zeigt, sie auszulöschen. Sie ist jetzt im großen und ganzen eine persönliche Angelegenheit. Wie so viele andere global-gesellschaftliche Probleme muß dieses jetzt individuell angepackt und, wenn überhaupt, mit individuellen Mitteln gelöst werden. Die Erlangung von Klarheit der Absicht und Bedeutung ist zu einer individuellen Aufgabe und persönlichen Verantwortung geworden. Die Anstrengung ist etwas Persönliches. Und ebenso das Scheitern der Anstrengung. Und der Vorwurf für das Scheitern. Und das Schuldgefühl, das der Vorwurf mit sich bringt. Die durch die Privatisierung der Ambivalenz dem einzelnen aufgebürdete Last setzt eine Belastbarkeit voraus, deren sich nur wenige Menschen rühmen können. Ein schwächeres Rückgrat kann unter diesem Druck zusammenbrechen. Um die Gefahr des Zusammenbruchs abzuwehren, bedarf es künstlicher Stützen. Der private Weg zur Klarheit erfordert eine Menge sozial vermittelter Dienste: detaillierte Karten, verläßliche Wegweiser, Kilometersteine. Nehmen Sie folgenden Fall.1 Vor etwa zehn Jahren bot Emily Cho amerikanischen Frauen einen computergestützten Modeberatungs-Service an. Der von den voraussichtlichen Kundinnen auszufüllende Fragebogen erkundigte sich nach dem Bild, welches die Kundin von sich entwerfen wollte, und danach, welche Modifikationen dieses Bildes die Kundin wünschte, um die Individualität – ja, die Einzigartigkeit – ihres Selbst und Charakters zum Ausdruck zu bringen. Den Rest sollte der Computer erledigen, der herausfinden würde, wie die Kundin eine Garderobe aufbauen sollte, die am

1 Berichtet von Kennedy Fraser, in: The New Yorker, 11. Mai 1981, S. 126–135.

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ehesten beiden Zwecken dienen würde. Emily Chos Unternehmen erwies sich als ein gewaltiger Erfolg. Am Anfang glaubte Emily Cho, daß die Aufmerksamkeit ihrer Kundinnen möglichst weit von der Vorstellung abgelenkt werden sollte, daß »ihre privaten Hoffnungen und Träume in einen kaltherzigen Computer eingegeben werden würden«. Zu ihrer großen Überraschung bemerkte sie bald, daß die entgegengesetzte Strategie viel wirkungsvoller war: »Gerade die Vorstellung des Computers war es, die die Frauen ansprach.« Die Kundinnen schienen mit der Einbeziehung von high technology sehr zufrieden, der sie anscheinend eine Präzision und Akkuratesse der Beratung zutrauten, die man nur von einer wissenschaftlich kontrollierten Praxis erwarten kann. Schließlich war das, »was sie verlangten, eher eine präzise Formel für das Sich-gut-Kleiden als eine launische Idee, die dem Gehirn einer anderen Frau entspränge«. Trotzdem glaubte Frau Cho, daß die Kundinnen immer noch das Gefühl brauchten, daß die »ferne, möglicherweise unkontrollierbare Maschine« sich nicht selbst überlassen war. Das Bewußtsein, daß eine andere Frau, Frau Cho selbst, irgendwo anwesend war, um den Computer in Schach zu halten, war beruhigend. Zu dieser Überzeugung kam zumindest Frau Cho. Versucht man, sich die Erfahrung von Frau Cho und ihren Kundinnen verständlich zu machen, gibt es einige durchaus bemerkenswerte und für unser Thema relevante Beobachtungen. Zuerst einmal scheint die Erklärung der Tatsache, daß die Kundinnen Emily Chos Angebot so bereitwillig annahmen, darin zu liegen, daß sie sich einer ambivalenten Situation gegenübersahen, die sie nicht leicht bewältigen konnten, und zwar genau deshalb, weil ihre beiden Seiten einander scheinbar aufhoben. Die Aufgabe bestand darin, Autonomie durch Unterwerfung zu bewirken – nicht mehr und nicht weniger: ein Individuum durch Zugehörigkeit zu werden und eine Feststellung über die eigene Persönlichkeit durch unpersönliche Mittel zu treffen. Die Einzigartigkeit, die sie suchten, sollte gemeinschaftlich (und infolgedessen unzweideutig) bestimmt werden. Individualität, könnte man sagen, würde für sich allein 312

nicht funktionieren, wenn sie nicht mitgeteilt und als solche verstanden – und das bedeutet: mit anderen geteilt werden würde. Zweitens, die Lösung des Konflikts. Emily Chos Kundinnen sahen die Lösung der Ambivalenz als eine Aufgabe an, die sie zu erledigen hatten. Sowohl die Mitgliedschaft wie die individuelle Einzigartigkeit wurden als Attribute gesehen, die nicht natürlicherweise gegeben sind, sondern einer bewußten Anstrengung bedürfen, um herbeigeführt und bewahrt zu werden; sie müssen »aufgebaut« werden. Und sie aufzubauen wurde als die Aufgabe (vielleicht als eine Pflicht) der beteiligten Person angesehen. Drittens hatte die Aufgabe des Aufbauens zur Folge, sowohl die Mitgliedschaft wie die Individualität zu sichtbaren Bildern zu machen, d.h. zu Objekten, die für andere wahrnehmbar sind; sie mußten richtige Bilder sein, d.h. solche, die mit großer Wahrscheinlichkeit von anderen richtig gelesen und den Intentionen der Person entsprechend gedeutet werden würden. Bilder sollten, im Unterschied zu der Ausgangslage, die sie bewältigen sollen, frei von Ambivalenz sein. Daher müssen sie in einem überindividuellen, gemeinsamen und autorisierten Code ausgedrückt werden. Viertens bedeutet Zugang zu einem gemeinsamen Code in der Praxis Ausdruck von Mitgliedschaft und Individualität in symbolischen Objekten, die garantierte, sozial akzeptierte Bedeutungen haben, so daß die Wahrscheinlichkeit, sie falsch zu lesen, reduziert wird. Daß solche Objekte existieren, galt als sicher. Die Aufgabe war, sie zu lokalisieren und eventuell in ihren Besitz zu gelangen, so daß sie verwendet werden konnten. In dem beschriebenen Fall konnten sie durch eine Markttransaktion erlangt werden. Fünftens: Da durch die auf dem Markt Agierenden hinsichtlich des hermeneutischen Werts rivalisierender Objekte einander widersprechende Ansprüche erhoben wurden, wurde eine Autorität gesucht (eine unparteiische, »objektive Meinung«, die solider und verläßlicher war als die Ansicht von lediglich einer »anderen Person«), um die Ungewißheit zu reduzieren und die Chance der richtigen Wahl zu erhöhen. Eine solche Autorität wurde bereitwillig – und mit Erleichterung – der Wissenschaft zugestanden, als einer 313

Institution, die mit eingebauten Garantien der Nicht-Parteilichkeit und Leidenschaftslosigkeit ausgestattet ist. (Der Computer diente als greifbare Inkarnation einer solchen Institution.) Sechstens: Da dem gewöhnlichen Menschen der direkte Zugang zur Wissenschaft versperrt ist, wurde ein Vermittler benötigt, um die persönlichen, subjektiven Bedürfnisse in Fragen zu übersetzen, die in der unparteiischen und verläßlichen, aber hermeneutisch versiegelten, hochtechnischen Sprache der Wissenschaft beantwortet werden konnten, und um das wissenschaftliche Urteil in einen praktischen Ratschlag für den Laien rückzuübersetzen. Eine Privatperson konnte ihre Bedürfnisse vielleicht verstehen, aber nur die Wissenschaft verstand, sie zu befriedigen. Der gesuchte Vermittler, einer, dem die Kundin wahrhaft vertrauen konnte (ein Begriff, der von Anthony Giddens in seinem Buch Consequences of Modernity, Cambridge 1989, sehr wirkungsvoll entwickelt worden ist), war einer, der die Fähigkeit der Person, zu verstehen, mit der Macht der Wissenschaft, richtige Entscheidungen zu treffen, verband. Ein solcher Vermittler wird Experte genannt. Der Experte ist eine Person, die gleichzeitig fähig ist, den Vorrat an vertrauenswürdigem und überpersönlichem Wissen zu befragen und die innersten Gedanken und Sehnsüchte einer einzelnen Person zu verstehen. Als Dolmetscher und Vermittler überspannt der Experte die andernfalls getrennten Welten des Objektiven und Subjektiven. Er überbrückt die Lücke zwischen Garantien, recht zu haben (die nur sozial sein können), und dem Treffen von Entscheidungen, die man wünscht (die nur persönlich sein können). In der Ambivalenz seiner Fertigkeiten stimmt er sozusagen mit der ambivalenten Situation seines Klienten überein. In ihrer eigenen Darstellung dieser Erfahrung betonte Emily Cho die Wichtigkeit der »Menschlichkeit« des Vermittlers. Lassen Sie uns jedoch bemerken, daß Emily Cho für ihre Kundinnen, ziemlich genau wie ihr Computer, meistens nur als »Glaube« existierte. Wir wissen nicht, ob sich die Kundinnen jemals die Mühe gemacht haben, in eine persönliche Verbindung mit dem Kopf der Gesellschaft zu treten; wir wissen nicht einmal, ob sie sie jemals persönlich ge314

troffen haben. Die Klientinnen glaubten, daß sie persönlich existiere, aber soweit sie wußten, war sie das Wesen auf der Empfängerseite des Fragebogens, den sie ausfüllten, und die Quelle der auf die Kundinnen zugeschnittenen Mode-Beratung, die sie empfingen. Was Emily Chos Existenz für die Klientinnen von Bedeutung erscheinen ließ, war nicht ihre »Menschlichkeit«, sondern ihr eigenes Vertrauen in die Funktion der Vermittlung und Deutung, die sie verrichtete. Emily Cho war das verkörperte Vertrauen; die Tatsache, daß sie einen menschlichen Körper aus Fleisch und Blut besaß, war sekundär und kontingent. Im Prinzip hätte eine mechanische Vorrichtung, die imstande gewesen wäre, dieselbe Funktion zu verrichten, sie ersetzen können – ohne merklichen Schaden für die Befriedigung der Bedürfnisse, die ihre Dienste überhaupt erst wünschenswert machten. Joseph Weizenbaum fand heraus (zu seiner großen Überraschung und bald zu seinem Schrecken), daß sein Computerprogramm ELIZA, das eine psychoanalytische Sitzung simulierte, enthusiastisch nicht nur von Psychiatern begrüßt wurde (die darin die Chance sahen, den Leuten in viel größerem Umfang, als die Verfügbarkeit ausgebildeter Psychiater erlauben würde, zu ermöglichen, »über sich selbst zu reden, sich selbst zu entlasten, Einsichten in ihr problematisches Verhalten zu gewinnen«)2, sondern auch von den prospektiven Patienten (tatsächlich »setzte« eben das Vorhandensein der Computersimulation des Psychiaters einen potentiellen Patienten, der »latent« in den exponierten Personen vorhanden war, »frei«). Vor seiner Entdeckung glaubte Weizenbaum (ganz wie Frau Cho), daß der menschliche Umgang die entscheidende Komponente des psychotherapeutischen Prozesses sei; daß der Prozeß hauptsächlich dank der Interaktion eines Menschen, der der Hilfe 2 Vgl. Joseph Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt/M. 1978. Theodore Roszak, The Cult of Information: the Folklore of Computers and the True Art of Thinking, Cambridge 1986, S. 36, führt andere Beispiele computerisierter Substitute für Psychotherapeuten auf, wie Pamela McCorducks »geriatrischen Roboter«, der das »Problem des Alterns löst«, indem er sich die Klagen der alten Leute anhört.

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bedurfte, und eines anderen Menschen, der bereit und willens war zu helfen, auf eine moralisch akzeptable Weise wirksam sei. Wie sich freilich zeigte, hatten die Patienten gar nichts dagegen, zu einem »inhumanen Artefakt« zu sprechen, solange seine Eröffnungszüge dem adäquat schienen, was sie für ihre Probleme hielten, und sein weiteres Vorgehen korrekte – d.h. logische – Reaktionen auf die Äußerungen waren, die ihnen vorausgingen. Tatsächlich fing Weizenbaums Sekretärin (die ihn viele Monate an dem Programm hatte arbeiten sehen und daher unmöglich irgendwelche Illusionen hinsichtlich seiner künstlichen Natur haben konnte) eines Tages an, mit dem Computer »Konversation zu machen«; nachdem sie nur ein paar Sätze mit ihm gewechselt hatte, war sie so sehr in das »Gespräch« vertieft und empfand den Austausch als eine so private und intime Angelegenheit, daß sie sich durch die Anwesenheit ihres Chefs irritiert fühlte und den Professor bat, den Raum zu verlassen. Der Experte ist, mit anderen Worten, nicht so sehr durch die Qualitäten und Fähigkeiten definiert, die ihn charakterisieren, sondern durch die Funktion, die er (oder sie oder es) in den Augen der Empfänger seiner Dienstleistungen erfüllt. Es sind die Probleme, denen sich die Empfänger von Expertendiensten im Verlauf ihres Lebensprozesses gegenübersehen, die den Experten definieren. Der Experte ist sozusagen eine Verdichtung des diffusen Bedürfnisses nach einer vertrauenswürdigen – weil überindividuellen – Bestätigung der Individualität.

Die Suche nach Liebe oder Die existentiellen Grundlagen des Fachwissens Nach Niklas Luhmann3 kann mit dem Übergang von einer vormodernen, stratifikatorischen Gesellschaft zur modernen, funktional differenzierten (d.h. einer Gesellschaft, in der Teilungen quer durch 3 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982.

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die gesellschaftlichen Lokalisierungen einzelner Individuen hindurchschneiden) »die Einzelperson nicht mehr in einem und nur einem Subsystem der Gesellschaft angesiedelt sein, sondern [muß] sozial ortlos vorausgesetzt werden« (S. 16). Alle Individuen sind ortlos, und zwar permanent, existentiell ortlos – wo immer sie sich im Augenblick befinden und was immer sie gerade tun. Sie sind überall und ungeachtet ihrer Anstrengung zum Gegenteil an allen Orten Fremde. Es gibt keinen einzigen Ort in der Gesellschaft, wo sie wirklich zu Hause sind und der ihnen eine natürliche Identität verleihen kann. Individuelle Identität wird deshalb zu etwas, das von dem betreffenden Individuum erst zu erwerben ist (und vermutlich geschaffen werden muß) und niemals sicher und definitiv besessen wird – da sie beständig in Frage gestellt wird und immer wieder neu ausgehandelt werden muß. In der Nachfolge Georg Simmels (das Individuum ist zu einer niemals aufhörenden Suche nach einem festen Punkt in sich selbst verurteilt, da es ihn niemals außer sich finden kann – da alle Beziehungen zu anderen letztlich bloße Stationen auf dem Weg sind, auf dem das Ich sich selbst erreicht) sucht Luhmann die Ursachen der Tendenz der Individuen, ihre Situation »auf die eigene Person zurückzuinterpretieren«, d.h. ihrer vorrangigen Beschäftigung mit Selbstdefinition, Selbstidentität, Selbstbehauptung – kurzum die Ursache ihres Egozentrismus und Individualismus – in der immer anwachsenden Differenzierung, Komplexität und deshalb Undurchsichtigkeit des interaktiven Netzwerks. Allgemeine Kategorien genügen nicht mehr für die Selbstidentifikation, die nur in Form persönlicher Einzigartigkeit erreicht werden kann. In diesem Moment freilich stoßen wir auf das Paradox, auf dem die existentielle Situation der Mitglieder der modernen Gesellschaft beruht. Auf der einen Seite muß das Individuum eine stabile und zuverlässige Differenz zwischen der eigenen Person und der weiteren, unpersönlichen und undurchdringlichen sozialen Welt außen einrichten. Auf der anderen Seite braucht eine solche Differenz freilich, gerade um stabil und verläßlich zu sein, soziale Bestätigung und muß in einer Form erlangt werden, die auch soziale Anerkennung genießt. Individualität hängt von sozialer Konformität 317

ab; der Kampf um Individualität verlangt, daß soziale Bindungen bestärkt und soziale Abhängigkeit vertieft werden. Die subjektive Welt, die die Identität der individuellen Persönlichkeit konstituiert, kann nur mittels intersubjektiven Austausches aufrechterhalten werden. In einem solchen Austausch muß der eine Partner imstande sein, »die Welt des anderen mitzutragen (obgleich er selbst höchst individuell erlebt)«. Luhmann nennt einen solchen Austausch Liebe. Man muß sich aufgrund der Art, wie Luhmann den Begriff der Liebe eingeführt hat, im klaren darüber sein, daß er in dessen Verwendung semantisch von den traditionellen romantischen Assoziationen des Begriffs abgetrennt ist und sich tatsächlich überhaupt nicht auf persönliche Gefühle oder emotionale Zustände im allgemeinen bezieht; Luhmann tastet sozusagen nach der kühl kognitiven »funktionalen Unterschicht« dessen, was an der Oberfläche eine emotional geladene Beziehung ist. In Luhmanns idiosynkratischer Verwendung steht »Liebe« für eine bestimmte Art und Weise der Kommunikation, in die sich Personen im Prinzip mit oder ohne Erfahrung der Gefühle verwickeln können, die der Begriff in seiner traditionellen und populären Verwendung zuschreiben oder verlangen würde. Es gibt deshalb eine inhärente Diskrepanz zwischen dem, was erfordert ist, damit die Funktion des liebesartigen Umgangs erfüllt ist, und den Kriterien, die Personen geneigt sind anzuwenden, um herauszufinden, ob die Liebesbeziehung besteht, und sie als gelungen oder als Schwindel zu bewerten ist. Aus diesem Grund, würde Luhmann sagen, neigen Liebesbeziehungen in der gesellschaftlichen Praxis dazu, verworren, vieldeutig, spannungsgeladen zu sein; und sehr wahrscheinlich dazu, eine tiefgründige Angst zu erzeugen. Da in der normalen Deutung der Liebesbeziehung angenommen wird, daß sie nur wirksam ist, wenn sie von »Aufrichtigkeit«4 bestimmt und von »wahren Gefühlen« 4 Luhmanns leidenschaftslose, kühl funktionale Analyse trägt ein gutes Stück zur Lösung des Rätsels bei, das Lionel Trilling so verwirrt hat: »Wenn Aufrichtigkeit bedeutet, daß man Falschheit gegenüber jedermann

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begleitet ist, müssen alle praktischen Beispiele des Liebesverkehrs von einem nagenden Mißtrauen kontaminiert sein, daß der Partner betrügt, indem er die Gefühle »vorspielt«, die für nötig gehalten werden, aber in diesem Fall fehlen. Die Suche nach Liebe, die von der Modalität der modernen Existenz bestimmt ist und deshalb zwangsläufig immer erneut aufgenommen werden muß, wie bitter die Erfahrung auch bislang gewesen ist, führt deshalb von Beginn an eine ungesunde Beimischung von Furcht vor Täuschung bei sich. Sie tendiert infolgedessen dazu, von Versuchen unterbrochen zu werden, die Ungewißheit zu überwinden und verläßliche Methoden zu finden, den Betrug zu unterbinden und »wahre Liebe« von dem bloßen Vorspielen zu unterscheiden. vermeidet, indem man dem eigenen Selbst treu ist, dann läßt sich leicht einsehen, daß diese Form persönlicher Existenz nicht ohne außerordentliche Anstrengung zu erlangen ist. Dennoch haben an einem bestimmten Punkt der Geschichte bestimmte Menschen und Klassen von Menschen die Idee gehabt, daß eine solche Anstrengung für das moralische Leben die größte Bedeutung hätte. Der Wert, den sie der Aufgabe der Aufrichtigkeit beigemessen haben, ist zu einem hervorstechenden, vielleicht definierenden Merkmal der westlichen Kultur für etwa vierhundert Jahre geworden.« (Das Ende der Aufrichtigkeit, München/Wien 1983, S. 15.) Lassen Sie mich anmerken, daß das anscheinend irrationale Phänomen etwas von seinem Geheimnis verliert, sobald wir uns erinnern, daß das Erscheinen des Ortsverlustes als einer universalen Bedingung des »freien Individuums« historisch mit dem Zusammenbruch der Autorität vergangener institutioneller Adressaten der Beichte zusammenfiel; die Last, die vorher ganz selbstverständlich von der Kirche getragen worden war (eine Last, die durch ihre eigene Konstruktion der »Innerlichkeit der Wahrheit« geschaffen worden war), wurde dann auf Laien und keiner Regelung unterworfenen Agenten verlagert und mußte mit vollem Bewußtsein des involvierten Problems gehandhabt werden. Daher war Matthew Arnolds Reflexion (»Unter der glatten und leichten Oberfläche dessen, was wir zu fühlen vorgeben, unter dem ebenso leichten Dahinströmen dessen, was wir zu fühlen meinen, fließt in geräuschlosem Fluß, stark, dunkel und tief, der innere Strom dessen, was wir wirklich fühlen«) kein Zeichen einer neuen sozialen Lage, sondern eines neuen Bewußtseins.

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Solche Versuche werden um so obsessiver und fieberhafter, je autonomer (d.h. einzigartiger), idiosynkratischer (und infolgedessen vom Gesichtspunkt der Norm aus gesehen bizarrer) die individuelle Persönlichkeit wird. Selbstvertrauen macht das Bedürfnis nach Liebe noch überwältigender, als es im Fall einer sich selbst auslöschenden, heteronomen und unterwürfigen Persönlichkeit ist. Mehr Individualität braucht mehr Liebe zur Unterstützung. Da sich freilich mit dem Wachstum der persönlichen Autonomie und Idiosynkrasie die Wahrscheinlichkeit der sozialen Anerkennung mindert, ist die Befriedigung um so weniger wahrscheinlich, je größer das Bedürfnis danach ist. In Luhmanns funktionalem Sinn kann Liebe als ein Modus der Kommunikation gedacht werden, der dadurch charakterisiert ist, daß die innere Erfahrung einer Person in das Handeln einer anderen transformiert wird. »Der Liebende, der idiosynkratische Selektionen bestätigen soll, muß handeln, weil er sich mit einer Wahl konfrontiert findet« (d.h. er hat zu wählen zwischen der Bestätigung oder Annullierung der Selektionen); »der Geliebte hatte dagegen nur erlebt und Identifikation mit seinem Erleben erwartet. Der eine muß sich engagieren, der andere (der an seinen Weltentwurf immer schon gebunden ist) hatte nur projektiert.« (S. 26) Luhmanns Liebe ist eine in höchstem Maße egoistische, selbstzentrierte Angelegenheit; kein Wunder, daß für die Person auf der Empfängerseite einer solchen Liebe die entstehende Aufgabe eine Zumutung ist; die Wachsamkeit, mit der die Vorstellung beobachtet wird, und die anspruchsvollen Kriterien, nach denen sie beurteilt werden wird, machen sie besonders belastend. In gewöhnlichen Liebesbeziehungen nehmen zukünftige Liebhaber die Aufgabe dennoch auf, meistens in der (vergeblichen) Hoffnung, daß die anfängliche Asymmetrie des Musters sich am Ende durch eine reziproke Antwort ausgeglichen haben wird, so daß beide Partner im Austausch für ihre Anstrengungen Leistungen erhalten werden, die ihren eigenen ähnlich sind. »Gewöhnliche« Liebesbeziehungen verlangen Gegenseitigkeit – d.h. sie verlangen, daß jeder Partner seine Zustimmung dazu gibt, gleichzeitig oder nachein320

ander sowohl die »entwerfende« wie die »bestätigende« Rolle zu übernehmen, zu entwerfen und zu handeln, Geliebter und Liebender zur selben Zeit zu sein. Sie postulieren deshalb, daß die Interaktion nicht lediglich durch die Bedürfnisse des einen der Partner initiiert wird (geschweige denn aufrechterhalten bleibt), sondern durch eine gegenseitige Anziehungskraft beider Seiten, wobei beide Seiten bewogen werden, auf Gedeih und Verderb zusammenzubleiben; mit anderen Worten, durch Leidenschaft, nicht durch Berechnung. Angesichts der ungeheuren Erwartungen, die sich für den »universalen Fremden« (diesen a priori »ortlosen« Bewohner der modernen Welt) mit der Funktion verbinden, die die Liebe erfüllen soll, scheint die Leidenschaft freilich eine viel zu farblose und unbeständige Grundlage für die Hoffnung zu sein, daß diese Funktion tatsächlich bei jeder Gelegenheit, ständig und im erforderten Umfang erfüllt wird. Die Kosten, die Funktionserfüllung auf einem hinreichend hohen Intensitätsniveau über lange Perioden aufrechtzuerhalten, sind enorm – während, wie wir früher gesehen haben, die primären Bedürfnisse, die die Liebe zu einer funktionalen Notwendigkeit gemacht haben, von selbst Gefühle weder erzeugen noch nähren. Damit die primäre Funktion der Liebe erfüllt wird, ist Leidenschaft überflüssig; sie ist weder unvermeidlich noch notwendig. Nur die Methode, die Erfüllung der Funktion dadurch zu sichern, daß man einem wesentlich asymmetrischen Muster Reziprozität auferlegt, macht die Leidenschaft unverzichtbar. Aber sowie dies geschieht, beginnt die Aufrechterhaltung der Reziprozität – und infolgedessen die Erfüllung der Funktion – von dem konstanten und kontinuierlichen Fluß der Emotion abzuhängen, die sie unbeständig und verletzlich macht. Vor einiger Zeit prägte Richard Sennett den Ausdruck destruktive Gemeinschaft für eine Beziehung, in der beide Partner obsessiv das Recht auf Intimität verfolgen – sich dem Partner »zu öffnen«, mit dem Partner die ganze, die privateste Wahrheit über das eigene Innenleben zu teilen, »absolut aufrichtig« zu sein, nichts zu verbergen, wie aufwühlend auch immer die Information für den Partner 321

sein mag (eine Haltung, die auf dem Glauben beruht, daß man »mit anderen um so stärker interagiert, je mehr man ihnen über sich selbst erzählt«; in der »Furcht, daß man kein Selbst habe, bis man einem anderen darüber etwas erzahlt habe«; wie in der Phantasie, daß Identität tatsächlich durch Reden frei konstruiert werden könne, daß es nichts dergleichen gebe wie eine »harte Realität«, keine Gesellschaft, »die sich von intimen Transaktionen unterscheide«5). Nach Sennetts Ansicht bürdet die völlige Entblößung der eigenen Seele vor dem Partner diesem eine enorme Last auf; der Partner wird gebeten, seine Zustimmung zu Dingen zu geben, die nicht notwendig seine oder ihre Begeisterung erregen; obendrein werden er oder sie gebeten, »aufrichtig« und »ehrlich« zu antworten. Sennett versichert, daß auf dem wackligen Grund der gegenseitigen Intimität keine dauernde Beziehung und besonders keine dauernde Liebes-Beziehung errichtet werden könne. Die Wahrscheinlichkeit, die dagegensteht, ist überwältigend; die Partner stellen Forderungen aneinander, denen keiner von ihnen Genüge tun kann (oder nicht genügen möchte, wenn man den Preis bedenkt); beide leiden und fühlen sich im Ergebnis bedrückt und frustriert – und in der Regel entscheiden sie sich dafür, mittendrin abzubrechen und den Versuch zu beenden. Der eine oder der andere Partner entscheidet sich dafür, aufzuhören und die Selbstbestätigung woanders zu suchen.

5 Richard Sennett, »Destructive Gemeinschaft«, in: Beyond the Crisis, hrsg. v. Norman Birnbaum, Oxford 1977. Sennett verfolgt im weiteren die Konsequenzen, die eine solche Tendenz zur »Identitätsbildung durch Beichte« für die moderne Familie hat: »Das, was die Regeln tatsächlich objektiv sind, geht leicht in einem viel subtileren, aber stärkeren Prozeß verloren, der Behauptung des Selbst, dem Schuldgefühl aufgrund dieser Behauptung und dem Triumph über das Kind, in dem das Kind nur ein Mittel für das Legitimationsbedürfnis der Eltern ist […] Dies sind genau die Mittel, durch die ein konfuses Gefühl für Objektbeziehungen in einen werdenden Menschen eingeträufelt werden; das heißt die Mittel, durch die eine narzißtische Charakterunordnung erzeugt wird.« (S. 196)

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Lassen Sie mich wiederholen: Die Destruktivität der Gemeinschaft, die von den Partnern gesucht wird, die sich lieben, wird primär durch die Implikation6 der Gegenseitigkeit verursacht. Um den animus aufrechtzuerhalten, immer weiter nach echter Gegenseitigkeit zu suchen – braucht man den Mut, die Möglichkeit von Rückschlägen und Umkehrungen ins Auge zu fassen. Ebenso muß man lernen, mit den Mängeln des Partners zu leben. Sobald die Intimität in beide Richtungen zielt, macht sie Verhandlung und Kompromiß notwendig. Und trotzdem sind es gerade Verhandlung und Kompromiß, die der eine oder der andere Partner, sei es aus Ungeduld oder aus Eigeninteresse, nur schwer erträgt. Schließlich müssen zwei verschiedene, oft kontradiktorische persönliche Entwürfe gleichzeitig akzeptiert und bestätigt werden – eine Aufgabe, die immer schwierig und oft unmöglich ist. Kein Wunder, daß aus den gescheiterten Versuchen, »die Sache selbst« zu erhalten, Nachfrage nach einem funktionalen Ersatz entsteht (und wenn es eine Nachfrage gibt, dann folgt auch bald ein Angebot): eine Nachfrage nach etwas, das die Funktion der Liebe erfüllen würde (d.h. die Bestätigung der inneren Erfahrung liefern würde, nachdem es zunächst geduldig die volle Beichte entgegengenommen hätte), ohne im Austausch Reziprozität zu verlangen: d.h. etwas, das explizit die inhärente Asymmetrie der Beziehung 6 Der potentiell destruktiven Auswirkung der Forderung nach Gegenseitigkeit, mit der die Partner einander in jeder Darstellung von Aufrichtigkeit heimlich belasten, ist ihre jetzt klassische Formulierung von David Riesman gegeben worden: »Ein begabter Junge von 15 Jahren, dessen Interview ich an anderer Stelle im Detail dargestellt habe, stellte fest, daß seine beste Eigenschaft Aufrichtigkeit sei und bewies den Punkt durch das galante Angebot, mit dem Interviewer gänzlich offen zu sein. Es fiel ihm nicht ein, daß eine solche Aufrichtigkeit andere in einer sozialen Situation dazu drängt, gleichermaßen aufrichtig zu sein; sie ist zwanghaft und tendiert dazu, die Etikette zu zerstören, die wir benutzen, um unser emotionales Leben vor Fremden zu schützen, vor überinquisitorischen Verwandten und Freunden und zuzeiten vor uns selbst.« (Individualism Reconsidered and Other Essays, Glencoe 1954, S. 19.)

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zulassen – und akzeptieren – würde. Hier, so können wir annehmen, liegt das Geheimnis des erstaunlichen Erfolgs und der Popularität von psychoanalytischen Sitzungen, psychologischer Beratung, Gruppentherapie, Eheberatung usw. In diesen und ähnlichen Fällen muß man für das Recht, zu beichten und Absolution zu erlangen, »sich zu öffnen«, dem anderen die innersten Gefühle offenzulegen und am Ende die ersehnte Anerkennung der eigenen Identität zu erhalten, nicht mit gleicher Münze zurückzahlen; man braucht nur Geld zu bezahlen. Aus dem gleichen Grund (da Geld ist, was es ist: das Mittel, den Austausch zu beenden, die Rechnung ein für allemal zu begleichen und auf diese Weise alle zukünftigen Forderungen abzuwehren), erlangt man einen Dienst, ohne die Pflicht zu übernehmen, sich zu revanchieren. Finanzielle Bezahlung verwandelt die Beziehung des Patienten oder Klienten zum Analytiker in ein unpersönliches Verhältnis und wehrt auf diese Weise die Gefahr eines schlechten Gewissens ab: Sie nimmt der Befassung des Patienten mit sich selbst das Stigma der Selbstsucht und der mangelnden Sorge für den Partner. Der Patient »kauft sich« sozusagen von der emotional kostspieligen und lästigen Verpflichtung zur Gegenseitigkeit »frei«. Und so kann man sozusagen geliebt werden, ohne zu lieben. Man kann mit sich selbst befaßt sein und andere an dieser Befassung teilnehmen lassen, ohne auch nur einen weiteren Gedanken an die Person zu verschwenden, die die Verpflichtung, dieses Interesse zu teilen, lediglich als Teil einer geschäftlichen Transaktion auf sich genommen hat. Der Patient erwirbt in einer direkten finanziellen Transaktion die Illusion, geliebt zu werden. (Da die einseitige Liebe so »gegen die Natur« ist wie eine einseitige Münze oder, genauer, klar von dem sozial akzeptierten Modell der Liebe abweicht – wird die psychoanalytische Übung notorisch von der Tendenz des Patienten gestört, das »Alsob«-Verhalten des Analytikers fälschlicherweise für einen Ausdruck »wahrer Liebe« zu nehmen und mit einem Verhalten zu antworten, das die strikt geschäftsmäßigen, unpersönlichen und zugegebenermaßen asymmetrischen Termini der Abmachung überschreitet. Dieses Phänomen der Übertragung beweist indirekt, wenn noch ein 324

Beweis nötig war, die Funktion der Psychoanalyse als eines gekauften Substituts für Liebe.) Psychoanalytische Techniken sind nur ein Beispiel für eine viel umfassendere Kategorie von Gütern und Dienstleistungen, die auf das Bedürfnis nach Liebesersatz reagieren. In der Marktgesellschaft treten solche Güter und Dienstleistungen als Waren auf (obgleich dies nicht ihr wesentliches Attribut zu sein scheint; man kann sich andere Formen vorstellen, wie solche Dienstleistungen verteilt und erlangt werden können, und andere Mittel, die eine ahnliche reziprozitätsvernichtende Wirkung erlangen könnten, die die geldliche Bezahlung so erfolgreich erzielt). Der Markt bringt einen weiten Bereich von »Identitäten« zur Entfaltung, aus denen man seine eigene auswählen kann. Kommerzielle Werbung gibt sich Mühe, die Waren, die sie zu verkaufen sucht, in ihrem sozialen Kontext zu zeigen, d.h. als Teil eines bestimmten Lebensstils, so daß der zukünftige Kunde bewußt Symbole solcher Selbstidentität kaufen kann, die er besitzen möchte. Der Markt bietet auch Werkzeuge »der Identitätsherstellung«, die differentiell benutzt werden können, d.h. Resultate hervorbringen, die sich etwas voneinander unterscheiden und auf diese Weise auf die Kunden zugeschnitten oder personalisiert sind und somit besser dem Bedürfnis nach Individualität dienen. Mit Hilfe des Marktes kann man verschiedene Elemente des vollständigen »Identi-kit« eines do-it-yourself-Selbst zusammenstellen. Man kann lernen, wie man sich als moderne, befreite, sorgenfreie Frau ausdrückt; oder als nachdenkliche, vernünftige, besorgte Hausfrau; oder als aufstrebender, rücksichtsloser und selbstbewußter Tycoon; oder als leichtlebiger, liebenswerter Bursche; oder als aushäusiger, physisch fitter Macho; oder als romantisches, träumerisches und liebeshungriges Geschöpf; oder als eine Mischung aus allen oder einigen davon. Die Attraktivität der vom Markt bereitgestellten Identitäten besteht darin, daß die Qualen der Selbsterschaffung und der nachfolgenden Suche nach der gesellschaftlichen Anerkennung des vollendeten oder halbbackenen Produkts durch den weniger quä325

lenden, oft angenehmen Akt der Wahl zwischen fertigen Mustern ersetzt wird. Die käuflichen Identitäten, die der Markt bietet, kommen komplett mit dem Etikett der sozialen Anerkennung, das ihnen schon vorweg verpaßt worden ist. Die Ungewißheit hinsichtlich der Lebensfähigkeit der selbstkonstruierten Identität und die Qual der Suche nach Bestätigung werden einem dadurch erspart. Identi-kits und Lebensstil-Symbole werden durch Leute mit Autorität und durch Werbe-Information verstärkt, so daß eine eindrucksvoll große Anzahl von Leuten sie anerkennt. Soziale Anerkennung muß deshalb nicht auf dem Verhandlungswege erzielt werden – sie ist sozusagen von Anfang an in das auf dem Markt gehandelte Produkt »eingebaut«. Sobald solche Methoden erst einmal verfügbar sind und an Popularität gewinnen, hat die ursprüngliche Methode, das Problem der Selbsterschaffung durch reziproke Liebe zu lösen, eine immer geringer werdende Chance auf Erfolg. Wie wir schon gesehen haben, ist die Aushandlung einer wechselseitigen Bestätigung für die verliebten Partner eine potentiell traumatische Erfahrung. Erfolg ist nicht möglich ohne eine hingebungsvolle und langwierige Anstrengung und ein gerüttelt Maß an Selbstaufopferung auf beiden Seiten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre das »Stehvermögen« größer und die Anstrengung und das Opfer würden öfter und mit mehr Eifer ertragen werden, wären nicht die »leichten« Substitute verfügbar. In dem Maße, wie solche Substitute weithin gefördert werden und leicht zu erlangen sind (das einzige benötigte Opfer besteht darin, sich von einer gewissen Menge Geld zu trennen), besteht begründbar weniger Motivation für eine mühsamere und zeitraubendere Anstrengung. Oft genügt schon die erste Hürde, um in dem einen oder beiden Partnern den Wunsch zu erzeugen, das Rennen zu verlangsamen oder ganz auszusteigen. Noch häufiger werden zuerst die Substitute mit der Absicht gesucht, die versagende Liebesbeziehung zu »ergänzen« und von daher zu bestärken oder wiederzubeleben; früher oder später freilich entleeren die Substitute diese Beziehung ihrer ursprünglichen Funktion und ziehen die Energie ab, die die Partner dazu veranlaßte, überhaupt erst 326

ihre Wiederbelebung zu suchen. Mit einer Liebe, die noch weniger lebensfähig ist als vorher, erweitert sich die Nachfrage nach Expertendiensten noch mehr – und immer so fort. Paradoxerweise (ist es ein Paradox?) trägt die Privatisierung der Ambivalenz zu einem unaufhaltsamen Wachstum des öffentlichen Fachwissens und eines dichten Netzes öffentlicher Spezialisten für die Bewältigung privater Probleme bei. Eine der Manifestationen der Entwertung der Liebe ist ausführlich von Richard Sennett diskutiert worden: die Tendenz der Erotik, verdrängt und durch Sexualität ersetzt zu werden. Erotik bedeutet die Entfaltung sexueller Begierde und letztlich sexuellen Verkehrs als Baustein einer dauernden Liebesbeziehung: einer multifunktionalen und also stabilen sozialen Partnerschaft – während Sexualität die Reduktion des Geschlechtsverkehrs auf eine einzige Funktion bedeutet – die der Befriedigung sexueller Begierde. Eine solche Reduktion wird oft durch Vorsichtsmaßnahmen ergänzt, die darauf abzielen zu verhindern, daß die sexuelle Beziehung Anlaß zu gegenseitiger Sympathie und Verpflichtung gibt und infolgedessen, daß sie zu einer ausgewachsenen persönlichen Partnerschaft heranwächst. Die »Emanzipation« der Sexualität aus dem Kontext der Erotik (deren entwickeltste Form die romantische Liebe ist) läßt alle Liebesbeziehungen – sexuelle ebenso wie nicht-sexuelle – beträchtlich geschwächt zurück. Ihnen fehlt jetzt ein machtvolles Hilfsmittel (oder sie müssen es mit anderen Nutzern teilen), und sie finden es noch schwieriger, Stabilität zu erlangen. Das Bedürfnis nach auf dem Markt angebotenen Substituten entsteht, weil das »gewöhnliche«, reziproke Modell der leidenschaftlichen Liebe an der Aufgabe scheitert, die von der »vorausgesetzten Ortlosigkeit« des modernen Menschen erzeugten akuten Probleme zu lösen. In dem Maße, wie solche Substitute zunehmend verfügbar werden, werden die Schwächen der traditionellen Muster unübersehbar deutlich, fühlbar, verhaßt und vor allem unerträglich. Die vergleichbaren psychologischen Kosten der traditionellen Lösungen werden dann als zunehmend unrealistisch 327

und durch nichts zu rechtfertigen empfunden, was seinerseits die Nachfrage nach Substituten ankurbelt und – da der Marktmechanismus nun einmal so ist, wie er ist – auf die Dauer zu einer quantitativen und qualitativen Ausdehnung des Angebots führt. Die beiden Faktoren sind in einer Doppelbindung wechselseitiger Verstärkung miteinander verbunden, wobei die traditionellen Lösungen (d.h. romantische oder leidenschaftliche Liebe) fortschreitend entwertet und aller Attraktivität entblößt werden und Sachkenntnis als Ersatz immer mehr nachgefragt und in wachsender Menge und Vielfalt verfügbar wird. Um somit zum Anfang zurückzukehren: Da Sachkenntnis sozusagen eine Liebe ohne Liebe ist (Liebe ohne die Risiken der Reziprozität; Liebe ohne die quälende Abhängigkeit von Leidenschaft), braucht sie nicht von einem menschlichen Partner angeboten zu werden. Auf der Benutzerseite hindert im Prinzip nichts die Ersetzung menschlicher Experten durch Computer-Experten-Systeme oder elektronische Gesprächspartner, wie z.B. Weizenbaums ELIZA (obgleich solche Substitute künstlicher Intelligenz, die die Nische ausfüllen, die vorher für intime zwischenmenschliche Beziehungen reserviert waren, von ihren Nutzern zwangsläufig mit Qualitäten ausgestattet werden, die dem Ort angemessen sind, den sie jetzt einnehmen; daher die kultischen Elemente in der Haltung der Benutzer und die weithin bemerkte Tendenz, die elektronischen Beziehungspartner zu personalisieren). Wenn überhaupt etwas, dann vermehrt das zusätzliche Prestige der high technology die Autorität des angebotenen Fachwissens, vergrößert seine wahrgenommene Effektivität, erhöht die damit verbundenen Erwartungen und stärkt auf diese Weise seinen Reiz und Einfluß. Das Paradox einer Individualität, die nur durch gesellschaftliche Bestätigung konstruiert werden kann, ist die existentielle Grundlage des Fachwissens. Es bietet das allgemeine Muster; die spezifischen Bedürfnisse nach funktional differenzierter Sachkenntnis können als Sonderfälle angesehen werden. Der Fall, den wir oben etwas ausführlicher betrachtet haben, kann als Metapher für virtuell alle mannigfaltigen spezialisierten Zweige der unpersönlichen profes328

sionellen Dienstleistungen angesehen werden, die auf eine persönliche Anwendung zielen; eine öffentliche Industrie, die sich mit den Folgen der Privatisierung der Ambivalenz befaßt.

Die Verschiebung der Fähigkeiten Vom Gesichtspunkt des Nutzers aus bietet Fachwissen sozial anerkannte Lösungen für individuelle Sorgen und Ängste, nachdem es sie zuerst gleichermaßen autoritativ als Probleme, die nach Lösungen verlangen, benannt hat. Angebotene Lösungen sind problemspezifisch. Bevor sie angeboten werden können, müssen die Probleme deshalb selbst schon sozial anerkannt sein; sie bedürfen einer sozial anerkannten Landkarte der Lebenswelt, die sie als »Probleme«, die nach »Lösungen« rufen, konstituiert. Fachwissen betritt die Lebenswelt des Individuums schon auf einer früheren Stufe, wenn diffuses und vages persönliches Unbehagen – Ungewißheit, Ambivalenz der Erfahrung – in der interpersonalen Sprache individidueller Probleme artikuliert wird, die die Anwendung von überindividuellen (d.h. »objektiven« – autoritativ anerkannten) Lösungen verlangen. Trotz dieser scheinbaren Logik geht die Verfügbarkeit von Lösungen in der Regel ihrer Artikulation voraus. Tatsächlich wird Lebenserfahrung nur dann als ambivalent gesehen, wenn ein Leben ohne Mehrdeutigkeit als eine mögliche Option erscheint; persönliches Unbehagen wird als eine Menge ungelöster Probleme gedeutet, insoweit sozial anerkannte Lösungen verfügbar sind und angeboten werden. Am Ende ist es äußerst schwierig, über die Priorität von Fachwissen und existentiellen Problemen zu entscheiden; sie werden zwangsläufig reziprok definiert, jedes in den Termini des anderen. Die soziale Autorität des Fachwissens beruht auf vier eng miteinander verbundenen Annahmen. Erstens: Das Individuum ist im großen und ganzen ein in sich selbst ruhender und auf sich selbst beschränkter Handelnder, der potentiell über seinen oder ihren eigenen Lebensplan verfügt. Das 329

Individuum ist im Besitz rationaler Fähigkeiten, die im Prinzip die Auswahl (oder eher die Entdeckung) des Projekts erlauben sollten, das am besten zu den eigenen spezifischen Fähigkeiten des Individuums paßt. Beharrlich mehrdeutige Identität und andauernde Entscheidungsunsicherheit sind deshalb Symptome persönlicher Ignoranz oder Nachlässigkeit und von daher degradierend und verwirrend. Aus diesem Grunde sind sie unbehaglich, Grund genug, sich selbst zu verurteilen und unglücklich zu sein. Zweitens: Persönliches Unbehagen (sei es nun physisch oder geistig) ist ein im wesentlichen heilbarer Zustand und kann und sollte deshalb nicht toleriert werden. Es ist die Pflicht jedes einzelnen, einen Ausweg aus der unglücklichen Situation zu suchen; das Fortdauern der Qual ist äquivalent mit einer Pflichtverletzung. Drittens: Jeder Fall von Unbehagen hat seine spezifische Ursache, die so klar umrissen ist, daß sie vereinzelt, ausgesondert, angepeilt und direkt beeinflußt werden kann, um neutralisiert oder beseitigt zu werden. Unglücklichsein ist deshalb in Termini explizierbar, die eine Therapie möglich machen: das Unbehagen zu beschreiben heißt die Methode seiner Beseitigung oder mindestens einer Erleichterung aufzuweisen. Es ist die Pflicht des einzelnen, eine derartige Erklärung zu suchen. Fortdauernde Nicht-Spezifizität bezeugt einen Mangel an diagnostischem Wissen. Viertens: Für jede Art von Leiden (oder eher für jede Ursache von Leiden) gibt es ein adäquates Heilmittel, oder sollte es zumindest geben. Unter den jeweils angebotenen Heilmitteln ist eines das angemessenste. Wiederum ist es die Pflicht des einzelnen, dieses Mittel zu suchen, ausfindig zu machen, auszuwählen und anzuwenden. Fortdauer des Leidens ist ein Beweis für den Mangel an praktischem Wissen und den Fähigkeiten, die nötig sind, so zu handeln. Obgleich man von dem Axiom der Privatheit der individuellen Probleme ausgeht, interpretieren diese Annahmen Individuen als inhärent nicht-selbstgenügsame Wesen; die Autonomie des einzelnen, die Verantwortung für die Selbstdefinition übersetzt sich schließlich in die Pflicht, den richtigen Ausweg aus einem solchen 330

Zustand der Unzulänglichkeit zu finden, und vor allem als eine Verpflichtung, einen solchen Ausweg aktiv zu finden. Mit anderen Worten, Individuen werden als Handelnde verstanden, die sich auf Kräfte verlassen müssen, die sie nicht beherrschen, um eine befriedigende Beherrschung ihrer selbst zu gewinnen. Das Leben in der Gesellschaft ist undenkbar ohne eine Reihe von Fähigkeiten, die die einzelnen in die Lage setzen, mit anderen zu interagieren, während sie ihre eigene Integrität wahren (d.h. sich selbst als Subjekte reproduzieren, die der Interaktion fähig sind). Solche Fähigkeiten sind in jeder Gesellschaft verfügbar, und sie werden immer gesellschaftlich vermittelt. Im Gegensatz zu den Vorstellungen ihrer zahlreichen Kritiker stellt die Tatsache, daß die moderne Gesellschaft aus a priori »ortlosen« Personen zusammengesetzt ist, die in eine Situation der »universalen Fremdheit« geworfen sind, keine Ausnahme von der obigen Regel dar; auch schafft sie kein Spiel mit neuen Regeln. Die notorische Tendenz zum Abbau von Fertigkeiten, der »Verlust sozialer Fähigkeiten« usw. kann schwerlich als einzigartiges Merkmal moderner Gesellschaften angesehen werden. Sie kann in diesem Typus von Gesellschaft nicht häufiger vorkommen als in jedem anderen. Die Geschichte der Gesellschaften ist immer eine Geschichte des Lernens wie des Vergessens gewesen. Zu allen Zeiten wurden einige Fertigkeiten entwertet, vergessen und nicht mehr genutzt, um schließlich durch neue ersetzt zu werden. Was eine wahrhaft moderne Entwicklung zu sein scheint, ist freilich ein allmähliches, gleichwohl unbarmherziges Anwachsen von Fertigkeiten, welche durch außerpersönliche, gesellschaftlich bereitgestellte Werkzeuge vermittelt werden müssen, die nur durch einen Tauschakt erlangt werden können. Diese Fertigkeiten haben systematisch ältere Fertigkeiten verdrängt (und schließlich vertrieben), die die einzelnen befähigten zu handeln, ohne Zuflucht bei äußerer Hilfe zu suchen: ein Typ von »Kurzschluß«-Fertigkeiten, die es den einzelnen erlaubten, ihre Absichten mit ihnen »natürlicherweise« zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln zu verwirklichen. Moderne Männer und Frauen scheinen das Schicksal von Tom und 331

Jerry aus dem berühmten Comic zu teilen, die die alte Kunst des Katz-und-Maus-Kampfes ganz vergessen haben, der mit Hilfe von so verläßlichen und stets verfügbaren Waffen wie Pfoten und Fangzähnen sowie Strategien wie Verstecken und Suchen geführt wurde, und die statt dessen immer raffiniertere high-tech-Ausrüstung und immer kompliziertere und erfindungsreichere Technologien des listigen Hinterhalts und der Hochgeschwindigkeitsflucht benutzen müssen. Um es anders auszudrücken: Die moderne Gesellschaft ist ein Ort des vermittelten Handelns. Wenige alltägliche und weltliche Aufgaben können, wenn überhaupt, ohne die Hilfe von überindividuellem – spezialisiertem – Wissen verrichtet werden, das entweder in Form eines Werkzeugs oder eines Mittels von der Art der black box daherkommt oder in einer verbalisierten Form als gesprochene oder gedruckte Anleitung geliefert wird. Die für die wirkungsvolle Ausführung der Aufgabe benötigten Fähigkeiten sind in Artefakte oder in Befehle einer Schritt-für-Schritt-Instruktion eingeschlossen. Die von den einzelnen selbst entfalteten Fähigkeiten werden so darauf reduziert, einem einzigen Bedürfnis zu dienen: dem Bedürfnis, sich den Zugang zu den Artefakten oder Instruktionen zu verschaffen, die der Aufgabe, die sie zu verrichten wünschen, angemessen sind. In der Regel werden nur solche Aufgaben erwogen und überhaupt nur solche Handlungen begonnen, die durch die verfügbaren oder bekannten Mittel möglich geworden sind. Dies ist nicht notwendig ein neues oder einzigartiges Merkmal der modernen Gesellschaft. In allen gesellschaftlichen Kontexten definiert das zugängliche Können den Bereich wahrscheinlicher Handlungen. Eine wirklich moderne Neuheit ist die Tatsache, daß das fragliche Können unwiderruflich in zwei Teile gespalten ist: Der eine Teil ist auf die wirkliche Verrichtung der Aufgabe bezogen, der andere auf das Ausfindigmachen und Benutzen der verdinglichten oder personalen Träger des ersteren. Von den beiden Teilen ist nur der zweite für Individuen erforderlich, die mit Aktivitäten im Bereich ihrer Lebenswelt befaßt sind, und wird deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach auch von ihnen beherrscht. Die Le332

benden können ihr eigenes Leben nicht aufrechterhalten. Der Lebensprozeß selbst ist vermittelt. Um populäre Metaphern zu benutzen, kann man sagen, daß neben anderen Dimensionen des modernen Sozialsystems die Lebenswelt der modernen Individuen Prozessen der Taylorisierung und Fordisierung unterworfen worden ist. Der erste Prozeß besteht sozusagen in der Vereinfachung von Entscheidungen, mit denen die einzelnen, die mit direkten Operationen der Produktion befaßt sind, konfrontiert werden. Reduziert auf die bloßen Wesensmerkmale und möglichst von allen zufälligen und irrelevanten Faktoren bereinigt, verwandelt sich die Situation, in der sich solche Individuen befinden, in ein Instrument, mit der die Entscheidungsträger weiter oben in der Hierarchie die Wahlentscheidungen manipulieren und am Ende bestimmen. Erfolgreiche Taylorisierung erspart den Operatoren die Qualen der Ungewißheit und des Zögerns, da die Entscheidungen, die noch von ihnen persönlich getroffen werden müssen, nach Ein-Faktor-Kriterien gelenkt werden und sich von daher für eine einfache und beruhigend rationale Berechnung eignen. Der Prozeß der Fordisierung besteht auf der anderen Seite darin, dem Operator alle Fertigkeiten zu nehmen und sie in die Maschinerie zu investieren, die er bedient. Als geschickt erweist sich nun das Objekt der Arbeit, nicht die Arbeit selbst; Geschicklichkeiten werden zu Elementen der äußeren Umgebung des Handelnden: Fordisierung verlagert die Verantwortung für die Ergebnisse des Handelns vom Operator auf die Arbeitsgeräte, die er bedient, und erlaubt den einzelnen im Prinzip, sich mit einem nahezu unendlichen Bereich von Geschicklichkeit verlangenden Aktivitäten zu befassen, die weit über die Fähigkeiten hinausgehen, die sie selbst zu beherrschen gelernt haben. Die vereinte Auswirkung der beiden Prozesse auf die alltägliche Lebensführung läßt oberhalb der Ebene, auf der die Aufgaben wirklich erledigt werden, einen Überbau entstehen, wo Fachleute ihre Entscheidungen treffen, während gleichzeitig alle Entscheidungen, die Fertigkeiten erfordern, von denjenigen wegverlagert werden, die die Aufgabe erledigen. Diese doppelte Wirkung wird 333

durch die Reduktion auf solche Aufgaben erzielt, die die Handelnden mit den elementarsten und direktesten Tätigkeiten konfrontieren (wie die richtige, von Fachleuten gefertigte und von Fachleuten verschriebene Pille zu schlucken, um ein komplexes interpersonales Problem zu »lösen« – zu neutralisieren); ihrerseits fördert sie eine solche Reduktion weiter. Diese Reduktion wird als Befreiung von den lästigen Notwendigkeiten des Lebens erfahren und als Freiheit empfunden. Da die angenommene Verfügbarkeit von Lösungen das Leben mit ungelösten Problemen unbequem erscheinen läßt, werden Lösungen aktiv gesucht; wenn man sie findet, wird die Entscheidung für sie als ein Akt der Emanzipation und eines Zuwachses des Bereichs persönlicher Freiheit wahrgenommen. Und trotzdem – da die persönlichen Fähigkeiten, die benötigt werden, um direkt mit dem Problem fertig zu werden, nicht länger verfügbar sind und die Lösungen einzig in Gestalt käuflicher Werkzeuge oder von Fachwissen erscheinen, verstärkt jeder sukzessive Schritt in dem endlosen Problemlösen das Netzwerk der Abhängigkeit, während er als eine weitere Ausdehnung der Freiheit empfunden wird. Die wachsende Inkompetenz und Unzulänglichkeit des einzelnen und die immer komplexere Struktur der Abhängigkeit scheinen die letzten Auswirkungen der Privatisierung der Ambivalenz zu sein. Oder zumindest sind sie es unter den gegenwärtigen Bedingungen. Die Macht überindividuellen Fachwissens über die Lebenswelt des Individuums reproduziert sich selbst. Nachdem es sich effektiv aller lebensfähigen Alternativen entledigt hat, zeigt es eine virtuell ungehemmte Fähigkeit zu wachsen. Da es eher als eine Bedingung der Freiheit denn als Unterdrückung wahrgenommen wird, ist es unwahrscheinlich, daß seine Ausdehnung auf ernsthaften Widerstand trifft. Schließlich hängt die Autorität und gesellschaftliche Anerkennung nicht mehr von dem Erfolg seiner Ergebnisse ab. Falls es einem einzelnen Instrument oder Rezept einmal nicht gelingt, sein Versprechen zu erfüllen, resultiert daraus keineswegs eine Entzauberung; viel häufiger führt ein solcher Fehlschlag statt dessen zu Selbstvorwürfen und löst eine verstärkte Nachfrage und 334

eine noch hektischere Suche nach einer besseren, effizienteren Dienstleistung von Experten aus. Wenn die Individuen einen Moment innehalten, um nachzudenken und sich die Richtlinien ihrer Lebensstrategie klarzumachen, werden sie sehr wahrscheinlich die Aussichten auf ein glückliches, problemfreies Leben mit dem unaufhaltsamen Fortschritt von Fachwissen und der Technologie, die es erzeugt, identifizieren.

Die Selbst-Reproduktion des Fachwissens Fachwissen schafft und verstärkt das Bedürfnis nach ihm selbst. Die Ersetzung persönlicher Fähigkeiten durch die des Experten bedeutet nicht nur die Bereitstellung von effektiveren, in höherem Maße narrensicheren wie auch weniger lästigen Mitteln, um sich mit bestehenden Problemen auseinanderzusetzen. Es bedeutet auch die Schaffung und eine prinzipiell unbegrenzte Vervielfältigung neuer Probleme, die das Fachwissen unverzichtbar machen. Durch die Trennung des Wissens vom Tun und der Wissenden von den Handelnden machen das vermittelnde Fachwissen und die begleitende Technologie die Lebenswelt aller Mitglieder der Gesellschaft (keiner ist ein Experte in der Totalität der LebensweltFunktionen) zu einem Territorium permanenter und akuter Ambivalenz und Ungewißheit. Tatsächlich ist ein herausragendes Charakteristikum der modernen Gesellschaft »eine fundamentale Unsicherheit über Aktivitäten, mit denen sich die Menschen seit Zehntausenden von Jahren erfolgreich befaßt haben. Man soll sich nicht auf seine eigene Erfahrung verlassen, sondern auf Experten […]«7 In einer prägnanten Zusammenfassung von Harold Perkin: »Das 20. Jahrhundert sollte nicht zum Jahrhundert des einfachen Mannes werden, der weiß, wann es weh tut, sondern des 7 Willem H. Vanderburg in: Democratic Theory and Technological Society, hrsg. v. Richard B. Day, Ronald Beiner und Joseph Masciulli, New York 1988, S. 10.

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professionellen Experten, der ›am besten weiß‹, was für ihn gut ist.«8 Ich will hinzufügen, daß der Zustand des »Wehtuns« selbst von Experten definiert wird und als solcher erst im Gefolge der Definition wahrgenommen wird. Gerade die Tatsache, daß es einen besseren Zustand gibt, über den die Experten schon verfügen und als für den einzelnen erreichbar erklären, macht die Erfahrung der gegenwärtigen Situation schmerzhaft und schafft auf diese Weise ebendie Unsicherheit, für die sie eine Heilung anbietet. Es sind die Experten, die die Maßstäbe der Normalität setzten. Wie auch immer diese Maßstäbe gesetzt sind, sie lassen ein kräftiges Stück Realität außen vor, das sich, durch die Tatsache, daß es außen vor gelassen wird, in eine Anomalie verwandelt, die nach Behandlung verlangt. Eine solche Anomalie ist nicht flüchtig oder kontingent; sie ist ein integraler Bestandteil des normenfördernden Prozesses und folglich wesentlich uneliminierbar. Die Beseitigung einer bestimmten Anomalie schafft nur Platz für eine andere, die durch die weitere Verschärfung der Maßstäbe erzeugt wird. Das allgemeine Muster ist sehr lebendig durch den Prozeß der »Medizinalisierung« des gesellschaftlichen Lebens illustriert worden, der jüngst von Ruth Harris erforscht worden ist: »Überall«, fand Harris, »sahen die Ärzte Gefahren«, und ihre Definitionen der »Fälle für medizinische Behandlung« weiteten sich konsequent 8 Harold Perkin, The Rise of Professional Society: England since 1880, London 1989, S. 169–170. Vanderburg erkennt die Universalität der Technik als einer Methode, Dinge zu tun und der Technikexperten als derjenigen, die Dinge tun, als das entscheidende Attribut der modernen Gesellschaft an: »Die modernen Gesellschaften sind nicht so sehr durch die industriellen und maschinenbezogenen Technologien wie durch die Tatsache charakterisiert, daß beinahe jeder Aspekt dieser Gesellschaften auf der Grundlage einer Vielfalt von Techniken organisiert und reorganisiert wird, die in ihrer Gesamtheit dazu beigetragen haben, eine Wissensbasis zu konstituieren, die sicherstellen soll, daß alles so effektiv wie möglich getan wird.« (Democratic Theory and Technological Society, S. 7) Viele entscheidende Argumente über die Rolle der Technologie und des Experten in der Gestaltung und Versorgung des täglichen Lebens sind in den Schriften von Ivan Illich vorgebracht worden.

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aus, so daß sie Bedingungen umfaßten, die früher als nicht von medizinischem Interesse angesehen wurden. Ärzte um die Jahrhundertwende bemühten sich verstärkt um eine Neudefinition des Zustands der Gesellschaft als einer Ansammlung medizinischer Probleme. Infolgedessen »fand« man heraus, daß die städtischen misfits – die Nichtseßhaften und Bettler – an Neurasthenie litten, streikende Arbeiter an Hysterie, Männer der Mittelschicht an psychischem Streß, Frauen der Mittelschicht an Neurosen. »[…] psychiatrische Begriffe wurden um bestimmte Schlüsseldichotomien herum konstruiert – normal und pathologisch, Geist und Körper, höher und niedriger, rechts und links, Gleichgewicht und Destabilisierung, Wirtschaftlichkeit und Verschwendung, Kontrolle und Hemmunglosigkeit« – jeder dieser Begriffe erzeugte eine Dichotomie und jeder ein problematisches Territorium und eine eigene Grauzone der Ambivalenz. »Besondere Betonung wurde auf Erfolg und Mißerfolg der Frauen oder Männer gelegt, sich bestimmten vorgeschriebenen sozialen Rollen anzupassen«; die fachmännische medizinische Intervention wurde im voraus durch die ursprüngliche Entscheidung, Rollen vorzuschreiben, legitimiert (d.h. alle Idiosynkrasie als Abnormität zu bezeichnen).9 9 Ruth Harris, Murders and Madness: Medicine, Law and Society in the Fin de siècle, Oxford 1989, S. 13, 19, 21. Sobald der Prozeß, das Alltagsleben als eine Reihe von expertenunterstützten Problemen zu rekonstruieren, erst einmal in Gang gekommen ist, erwirbt er sein eigenes Schwergewicht. Experten werden benötigt, um die Unordnung aufzuklären, die von dem Übermaß an Fachwissen und dem schieren Umfang an Problemen erzeugt worden ist, mit der kein Laie der Gesellschaft mehr ohne die Hilfe von Spezialisten fertig werden kann. Die Begründung für neues Spezialistenwissen verläuft dann nach folgendem Muster: »Viele Leute verstehen oft nicht ganz, was ihnen durch das Fernsehen passiert. Es folgt, daß es Aufgabe des Spezialisten ist, solche schädlichen Prozesse aufzudecken und zu verurteilen. Mehr noch, es folgt, daß der Rat von Experten gesellschaftlich durch entsprechende Institutionen beaufsichtigt werden sollte, um ein derart mächtiges Medium zu kontrollieren und zu verbessern.« (Malloy Weber und Barrie Gunter, Television and Social Control, Aldershot 1988, S. 231.) Die Autoren las-

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Bei näherem Zusehen verwandeln sich die selbsternannten Diener in Manager. Sobald die Beziehung des Individuums zur Natur und Gesellschaft effektiv durch Fachwissen und dessen begleitende Technologie vermittelt worden ist, beherrschen die, welche über die Fähigkeiten verfügen und die Technologie verwalten, die Aktivitäten des Lebens. Die Lebenswelt selbst wird mit Fachwissen durchtränkt – strukturiert, artikuliert, überwacht und reproduziert. Es ist jetzt die von Fachleuten erzeugte und verwaltete Technik, die die wirkliche Umwelt des individuellen Lebens konstituiert. In dieser Umwelt entsteht der größte Teil an Ambivalenz und Unsicherheit und infolgedessen der größte Teil der wahrgenommenen Gefahren. Solche Gefahren werden im wesentlichen auf zweierlei Art und Weise produziert. Erstens: Genau die Präzision, Entschiedenheit und Radikalität, mit der das konzentrierte, scharf eingestellte, wissenschaftlich untermauerte (und vor allem aufgabenautonome) Fachwissen, im Unterschied zu den traditionellen und gesellschaftlich diffusen Fähigkeiten, imstande ist, mit den vorliegenden Aufgaben fertig zu werden, tendiert dazu, auf anderen Gebieten des Lebensweltsystems akutes Ungleichgewicht zu erzeugen. Unerwartete Nebenwirkungen rufen nach neuem Fachwissen und schaffen Nachfrage nach seiner weiteren Aufteilung. Andernfalls gegeneinander isolierte Segmente des Expertenwissen-Netzwerks stellen deshalb ständig neue Aufgaben füreinander bereit und verstärken so in ihrer Gesamtwirkung die Stellung des Netzwerks als Ganzes – selbst in Momenten, da sie individuell eine Niederlage erleiden und in Ungnade fallen (oder eher, besonders in solchen Momenten). Zweitens: Je spezifischer, spezialisierter und autonomer ein gegebenes Feld des Fachwissens wird, desto größer wird die Chance, sen dann keinen Zweifel, daß, wie auch immer die Meinung über den letzteren Vorschlag sein mag, der Bedarf an mehr Fachwissen und mehr Fachleuten am Ruder außer Frage steht: die Kritiker der Kontrolle »befürworten nicht weniger zentrale Kontrolle […] eher wünschen sie sich mehr Kontrolle, aber in einer Weise, die mehr ihrer persönlichen Wahl entspricht«.

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daß neue Fähigkeiten (was bedeutet: neue technische Fähigkeiten) erfunden werden, die zunächst keine klare Anwendung haben werden. Ihr Vorhandensein hebt freilich Gebiete der Lebenswelt, die früher nicht beachtet wurden, deutlicher hervor; definiert früher neutrale oder leicht bewältigte Elemente der Lebensroutine als quälend (unerträglich gemacht gerade durch die Tatsache, daß sie nicht länger toleriert werden müssen), als Faktoren, die nicht adäquat definiert, undurchsichtig, mehrdeutig, ungenügend kontrolliert und infolgedessen angsterzeugend sind, als Probleme, die »bewältigt«, entschärft oder aus dem Weg geräumt werden müssen. In dem Maße, wie sich Informationen über neue Fähigkeiten verbreiten, wird der Drang erzeugt, sie zu kaufen, zu mieten und anzuwenden. Statt die versprochene Reduktion der Anzahl der Probleme zu erlangen, die die Bewältigung der Lebenswelt erschweren, wiederholt sich die progressive Verfeinerung der Expertenfertigkeiten in der Vervielfältigung der Probleme. Fertigkeiten, die nach einer Anwendung suchen, maskieren sich als Probleme, die nach einer Lösung verlangen. Die erste Art und Weise, wie nach Experten verlangende Probleme im Verlauf ihrer Lösung vervielfältigt werden, ist sehr einfühlsam und geistreich von Gregory Bateson analysiert worden.10 Problemorientierte Wissenschaften und Technologien werden durch die Wahrnehmung von Zwecken geleitet: »Was passiert, ist, daß die Ärzte glauben, es wäre schön, Kinderlähmung, Typhus oder Krebs loszuwerden.« Sobald die Absicht einmal erreicht ist, entdecken die Ärzte weitere Probleme und formulieren weitere Zwecke: »Die Medizin endet also als eine totale Wissenschaft, deren Struktur im wesentlichen die einer Trickkiste ist.« Einige Tricks sind äußerst wertvoll und ihre Entdeckung bringt die Freiheit von ganz realen Problemen. Und trotzdem schrieb Cannon ein Buch »über Die Weisheit des Körpers, es gibt aber noch kein Buch über die Weisheit der medizinischen Wissenschaft, weil Weisheit genau das 10 Vgl. Gregory Bateson, »Bewußte Zwecksetzung versus Natur«, in: Ökologie des Geistes, S. 549–565.

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ist, was ihr fehlt. Unter Weisheit verstehe ich das Wissen um das größere Interaktionssystem – jenes System, das bei Störungen dazu neigt, Exponentialkurven der Veränderung hervorzubringen.« Um dabei zu helfen, die Gesamtergebnisse des zweckorientierten Denkens nach Art des Experten zu veranschaulichen, bietet Bateson ein Gleichnis von Eden an: »An einem der Bäume hing ganz weit oben eine Frucht, an die die beiden Affen nicht herankamen. Also fingen sie an nachzudenken. Das war der Fehler. Sie fingen an, zweckgerichtet zu denken. Bald suchte sich der männliche Affe, dessen Name Adam war, eine leere Kiste, stellte sie unter den Baum und stieg auf sie, aber er merkte, daß er noch immer nicht an die Frucht heranreichte. Also holte er sich eine weitere Kiste und stellte sie auf die erste. Dann kletterte er auf die beiden Kisten und bekam schließlich diesen Apfel. Adam und Eva wurden fast trunken vor Aufregung. Das war der richtige Weg. Mache einen Plan, ABC, und du erhältst D. Danach fingen sie an, sich darauf zu spezialisieren, Dinge planmäßig anzugehen. Im Endeffekt vertrieben sie damit aus dem Garten das Konzept ihrer eigenen insgesamt systemischen Natur und der insgesamt systemischen Natur des Gartens. Nachdem sie Gott aus dem Garten vertrieben hatten, fingen sie wirklich an, sich auf dieses zweckgerichtete Geschäft einzulassen, und sehr bald verschwand die Ackerkrume. Danach wurden mehrere Spezies von Pflanzen zu ›Unkraut‹ und einige der Tiere zu ›Schädlingen‹; und Adam merkte, daß die Gärtnerei sehr viel schwerere Arbeit war … Eva fing an, das Geschäft der Sexualität und der Reproduktion zu verfluchen. Immer wenn diese ziemlich grundlegenden Phänomene in ihre nunmehr zweckgerichtete Lebensweise eindrangen, wurde sie an das größere Leben erinnert, das aus dem Garten gedrängt worden war. So begann Eva, Sexualität und Reproduktion zu hassen, und als es zum Gebären kam, empfand sie diesen Prozeß als sehr schmerzhaft.«

Die Moral des Gleichnisses ist einfach. Jede Problemlösung erzeugt neue Probleme. (Man ist beinahe versucht zu sagen: was sich als die Lösung des Problems A ausgibt, ist die Artikulation des Problems B, C, … n, die gelöst werden müssen; das Wissen vermehrt sich im Verlauf der Problemlösung, aber dasselbe gilt für die Menge der Probleme.) Tatsächlich trägt das problemorientierte Handeln 340

selbst die Hauptverantwortung dafür, Aspekte der menschlichen Situation zu erzeugen, die als unbequem, beunruhigend und korrekturbedürftig empfunden werden. Die von Experten empfohlene Aktion bringt notwendig, wenn sie einem spezifischen Heilmittel für eine spezifische Unbequemlichkeit nachjagt, sowohl die systemähnliche Umwelt der Handlung wie die Beziehungen zwischen den Handelnden selbst aus dem Gleichgewicht. Dieses künstlich geschaffene Ungleichgewicht wird später als »Problem« erfahren und auf diese Weise als Rechtfertigung für die Artikulierung neuer Zwecke gesehen. Das Gleichnis enthält freilich noch eine weitere, weniger evidente Botschaft. Sie ist in Evas Neudefinition der »größeren Lebens«notwendigkeiten (die sie wahrscheinlich vorher mit Gleichmut ertragen hat) als lästig, ärgerlich, unerträglich – und vor allem als ungerechtfertigt versteckt. Sobald das zweckgerichtete Denken sicher im Sattel sitzt, scheint kein Schmerz, kein Leiden, keine Realität, die auch nur um ein weniges hinter der versprochenen und daher vorstellbaren Perfektion zurückbleibt, einen Sinn zu haben und deshalb beanspruchen zu können, daß man mit ihnen lebt. Statt dessen werden sie nun als Kontingenz, als Qual wahrgenommen, die (mit gebührender Entschlossenheit und den richtigen Fähigkeiten und Hilfsmitteln) überhaupt ganz aus dem Leben verschwinden sollten. In diesem Prozeß enthüllt sich wiederum die Fähigkeit des zweckgerichteten Denkens zur Selbstvermehrung und Ausdehnung. Die zweite Art, wie die Selbstvervielfältigung der Fachwissen verlangenden Probleme gesichert wird, ist sarkastisch von Jacques Ellul analysiert worden. Technologie, sagt Ellul, entwickelt sich, weil sie sich entwickelt11; Technologie schreitet auf kausale, niemals in zielorientierter Weise voran.12 Es scheint einen Wider11 Jacques Ellul, Technological System, New York 1980, S. 267. 12 Jacques Ellul, »The Power of Technique and the Ethics of Non-Power«, in: The Myths of Information; Technology and Postindustrial Culture, hrsg. v. Kathleen Woodward, London 1980, S. 243.

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spruch zwischen Batesons Analyse der Dynamik des Fachwissens in Termini von Zwecken und Elluls grobem Urteil zu bestehen. Der Konflikt ist freilich nur scheinbar. Das zweckgerichtete Denken stellt die allgemeine Legitimierung für die strategische Rolle bereit, die von Fachwissen und Technologie bei der Bewältigung des Alltagslebens beansprucht wird. Sobald einmal die Autorität erlangt und befestigt ist, sobald erst einmal die Situation erreicht ist, daß der »Mensch in unserer Gesellschaft keinen intellektuellen, moralischen oder geistigen Bezugspunkt für die Beurteilung und die Kritik der Technologie hat«, meistens, weil ein geschlossener Kreis geschaffen worden ist, so daß »nichts an sich einen Sinn haben kann; ihm wird eine Bedeutung nur durch technologische Anwendung gegeben«13 – bedarf die Technologie keinerlei Legitimierung mehr, um Kurs zu halten. Expertenwissen und Technologie werden zu ihrer eigenen Legitimation. Tatsächlich wird die Technologie ein System von »Lösungen auf der Suche nach Problemen«.14 Das schiere Vorhandensein von technologischem Können 13 Ellul, Technological System, S. 318, 12. 14 Margaret Blunden, Owen Greene und John Naughton, »The Alchemists of Our Time«, in: Science and Mythology in the Making of Defence Policy, hrsg. v. Margaret Blunden und Owen Greene, London 1989, S. 84. Die Autoren zitieren Lord Zuckermann mit der Ansicht, daß die Waffenwissenschaftler Ideen hervorbringen, die »erst in der Folge eine post hoc strategische Rationalisierung erfahren«. Ralph Lapp (Arms beyond Doubt: The Tyranny of Weapon Development, London 1971) hat zusammen mit vielen anderen Autoren beträchtliche Beweise dafür gesammelt, daß die Dynamik der Waffenentwicklung im großen und ganzen von dem Prinzip bestimmt wird: »Wenn es gemacht werden kann, wird es gemacht.« Erfindungen neuer Verteidigungsmethoden intensivieren nur die Suche nach Offensivwaffen. Neue Entdeckungen sind hauptsächlich Reaktionen auf die Neudefinition von Problemen, die von anderen Entdeckungen verursacht worden ist. Die Planer von Offensivwaffen und die Planer von Defensivwaffen führen ein Wettrennen gegeneinander, wobei sie einander mit »Problemen« versorgen, die »gelöst werden müssen«. Oft ist der bloße Bezug auf Probleme überflüssig: eine neue Technologie bedarf längst kei-

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und überschüssigen Mitteln wird zum Hauptfaktor der zukünftigen Entwicklung, die ihrerseits deren Notwendigkeit und Anspruch auf einen wachsenden Anteil an gesellschaftlichen Ressourcen und auf wachsende gesellschaftliche Achtung rechtfertigt. »Technologie schreitet niemals in Richtung auf irgend etwas voran, außer sie wird von hinten gestoßen. Der Techniker weiß nicht, warum er arbeitet, und im allgemeinen ist es ihm auch gleichgültig. Er arbeitet, weil er Instrumente hat, die es ihm erlauben, eine bestimmte Aufgabe zu verrichten, bei einer neuen Operation Erfolg zu haben … Es gibt kein Ziel, das lockt; es gibt einen Druck, den eine Maschine von hinten ausübt, und der keinerlei Unterbrechung für die Maschine gestattet … Die Interdependenz technologischer Elemente macht eine sehr große Anzahl von ›Lösungen‹ möglich, für die es keine Probleme gibt … Vorausgesetzt, wir können zum Mond fliegen, was können wir auf ihm und mit ihm tun? … Als die Techniker einen bestimmten Grad technischer Beherrschung auf den Gebieten Radio, Treibstoff, Metall, Elektronik, Kybernetik etc. erreicht hatten, verbanden sich alle diese Dinge und zeigten, daß wir in den Kosmos fliegen konnten, etc. Es wurde getan, weil es getan werden konnte. Das ist alles.«15

Mit anderen Worten, Fachwissen wird zu seiner eigenen Ursache (statt zu seinem eigenen Zweck). Es handelt sich genaugenommen nicht um ein »Expertenwissen um seiner selbst willen« (oder sozusagen um etwas anderen willen): Es handelt sich eher um Fachwissen, das erscheint, weil die Bedingungen da sind, unter denen es hervorgebracht werden kann, weil das, was schon hervorgebracht ner utilitaristischen Rechtfertigung mehr. Dietrich Schroer (Science, Technology and the Nuclear Arms Race, New York 1984) schrieb von Technologien, denen man schwer widerstehen kann, einfach weil sie »süß und schön sind«. Je sicherer ihre Finanzierung, je exotischer das Spezialistenwissen, dessen sie sich rühmen, je vollständiger ihre institutionelle und intellektuelle Autonomie, desto mehr werden Technologie und Expertenwissen von quasiästhetischen Kriterien gelenkt und verwandeln sich in »eine Kunst um der Kunst willen«. 15 Ellul, Technological System, S. 272, 273, 280.

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worden ist, »nicht verschwendet sein darf« und weil es falsch – unklug und blamabel – ist, das nicht zu tun, was man im Prinzip tun kann. Größere Fortschritte in der Entwicklung von Fachwissen und seiner technologischen Hilfsmittel werden jetzt durch die Entdeckung und Anpeilung der »Probleme« gemessen, denen man »Lösungen« verschaffen kann, statt dadurch, daß man Lösungen zu schon wahrgenommenen und artikulierten Problemen findet. Das schon akkumulierte Wissen und Können sucht fieberhaft nach seiner Anwendung. Sie vermessen jetzt die condition humaine als Gegenstand ihrer »neuen und verbesserten« Praxis. Wegen der eher kausalen als teleologischen Bestimmung der Fortschritte des Fachwissens und seiner Verwendungen ist es in der Praxis unvorstellbar, daß die Entwicklung jemals zu einem Stillstand kommen wird. Insbesondere ist es undenkbar, daß eine Einrichtung, die schon verfügbar ist oder für erreichbar gehalten wird, aufgrund irgendwelcher anderer nicht-technischer Erwägungen, z.B. ihrer moralischen Fragwürdigkeit oder aufgrund philosophischer Auffassungen von dem intrinsischen Wert menschlicher Autonomie, beiseite gelegt und absichtlich nicht benutzt werden konnte. Wann immer Überlegungen solcher Art mit der Anwendung des technologischen Potentials in Konflikt geraten, werden sie automatisch als rückschrittlich klassifiziert und aus dem gleichen Grund beiseite geschoben und verurteilt. Oder anders gesagt: Da die Entwicklung technologischen Fachwissens keinem spezifischen Zweck unterworfen ist außer der Pflicht, das Anwendbare anzuwenden, werden alle Gründe, aus denen eine bestimmte Entwicklungslinie aufgegeben werden könnte, a priori delegitimiert und als technologisch bedeutungslos und deshalb irrelevant beiseite geschoben. Alles in allem wird den extrinsischen, nicht-technologischen Gründen das Recht und die Autorität abgesprochen, sich in die Richtung einzumischen, die die Entwicklung von Fachwissen und technischer Fähigkeit nehmen kann. Das Wesen der Selbstlegitimierung des Fachwissens (und gleichzeitig die Erklärung seiner Unabhängigkeit, Selbstgenügsamkeit und moralischen 344

Immunität) ist in dem immer mehr in Mode kommenden Slogan enthalten: »Alles, was du machen kannst, kannst du auch besser machen.« Und sein Gegenstück: »Es ist ein Verbrechen oder eine Sünde, es nicht besser zu machen, wenn du es kannst.« »[Bei der Mehrheit der Produkte] kommt das Angebot früher als die Nachfrage, und die technische Diskussion der Charakteristika der Produkte tritt an die Stelle jeder Analyse der gesellschaftlichen Nachfrage. Die technischen Argumente sind zwiefältig. Auf der einen Seite ist es notwendig, da diese neuen technischen Fähigkeiten nun einmal da sind, sie zu benutzen, damit man nicht hinter der Zeit zurückbleibt; auf der anderen Seite erlaubt ihre Verwendung einem, mehr und das besser und mit weniger Anstrengung zu tun als vorher, und dies kann nur zu größerem Glück führen.«16

Lassen Sie uns einen weiteren Blick auf die beiden Faktoren werfen, die mehr als jeder andere Umstand verhindern, daß das Expertenwissen seine Expansion verlangsamt und sich sein Zugriff auf die Lebenswelt lockert. Zunächst: Da jeder Akt des Problemlösens durch Experten auf die vorliegende Aufgabe fokussiert ist und die Perfektion des Expertenwissens durch seine Fähigkeit gemessen wird, die vorliegenden Aufgaben »genauer« zu definieren (d.h. sie enger zu umschreiben), ist es um so unwahrscheinlicher, daß die Experten die Wirkungen ihrer Handlungen auf den Gebieten, die außerhalb des Brennpunkts liegen, ermessen, je effektiver die Anwendungen der Experten werden. Die Wirkungen der individuellen, gebietsspezifischen Expertenpraktiken greifen über den angeblichen (fälschlicherweise für autonom ausgegebenen) Sektor der Anwendung hinaus und kommen mit anderen Expertenpraktiken in Berührung, die in der Regel gleichermaßen eingeengt sind. Wenn sich Expertenpraktiken in einem System vereinen, entsteht ein solches System ex post facto als eine unvorhergesehene Konsequenz vieler 16 Viktor Scardigli, Francois Plessard und Pierre-Alain Mercier, »Information Technology and Daily Life«, in: Information Technology Impact on the Daily Life, EEC Conference on the Information Society held in Dublin 18.–20. Nov. 1980, hrsg. v. Liam Bannon u.a., Dublin 1982, S. 41.

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Handlungen, die nur effektiv sein können, wenn sie sich dagegen sperren, das Systemhafte ihrer Konsequenzen zu antizipieren, ja anzuerkennen. Keiner überblickt den Prozeß der Systememergenz, und keiner kann die Operation des emergenten Systems überschauen, geschweige denn kontrollieren. Trotzdem ist dieses »außer Kontrolle geraten« nicht das Resultat eines Mangels an Selbstkritik oder ein Versehen. Es kann auch nicht korrigiert oder verhindert werden. Würden die systemischen Konsequenzen der Expertenpraxis in Rechnung gestellt, würde die Effektivität des Expertenwissens untergraben. Freiwillige Blindheit gegen systemische Konsequenzen ist die notwendige Bedingung für Expertenerfolg. Die spektakulären Ergebnisse der Expertenintervention sind nicht trotz, sondern wegen dieser Blindheit erzielt worden. Die Wahl besteht zwischen Blindheit und Ohnmacht. Das Expertenwissen blüht dank seiner Fähigkeit zur Atomisierung, zur Aufspaltung des natürlichen Systems in eine ständig wachsende Menge immer kleinerer und infolgedessen besser handhabbarer Aufgaben. Will es nicht das innerste Wesen seiner Macht aufgeben, muß es zwangsläufig ein naturähnliches, ungeplantes und unkontrolliertes, trotzdem menschengemachtes System aus den Nebenprodukten seines eigenen Erfolgs machen. Wenn dies freilich der Fall ist, dann vermehrt eben der Fortschritt des Expertenwissens und der Expertenpraxis die Unvoraussagbarkeit und Unkontrollierbarkeit des Systems. Wie wir schon oft angemerkt haben, erzeugt die schiere Anstrengung, »die Dinge in Ordnung zu bringen«, immer neue Gebiete der Ambivalenz, die außer Kontrolle geraten. Ständig werden neue Probleme erzeugt und mit ihnen das neue Bedürfnis nach Expertenhandeln; wenn die Krankheit das Ergebnis einer äußerlichen Interferenz mit einem natürlichen, sich selbst ins Gleichgewicht setzenden Mechanismus ist, dann ist keine Selbstheilung denkbar. Die meisten neuen Entwicklungen des Expertenwissens und der von Experten produzierten »gezielten« Technologie richten sich auf die Reparatur von Schäden, die von älterer Technologie und früherem Expertenwissen verursacht worden sind. Der Schaden, der vom Fach346

wissen verursacht worden ist, kann nur durch mehr Fachwissen geheilt werden. Mehr Fachwissen bedeutet seinerseits noch mehr Schaden und noch mehr Nachfrage nach Heilung durch Experten. Zweitens: Der Zugang des Fachwissens zu den Lebenswelten seiner Klienten (und umgekehrt) wird durch den Markt vermittelt. Expertendienste, die entweder direkt oder als Konsumgüter verpackt angeboten werden, treten in der modernen Welt primär als Waren auf: Während sie die Bedürfnisse des Konsumenten erfüllen, bringen sie gleichzeitig den Verkäufern Gewinn. Neue Expertenangebote, die versprechen, eine noch nicht befriedigte Nachfrage zu erschließen (oder genauer, nutzbar zu machen), sind vom Gesichtspunkt des Kaufmanns aus wegen der Extragewinne, die man aufgrund der zeitweiligen Knappheit des Angebots abzuschöpfen hofft, besonders attraktiv. Neuheiten, die die abgestandenen Vorräte veralten lassen und neue Märkte eröffnen oder beschwören, lassen den Markt aufblühen. Marktkräfte ermutigen Neuheit. Da die neuen Angebote auf bisher fehlende Bedürfnisse abzielen, kann der Umfang der Nachfrage nicht im voraus abgeschätzt werden, und so birgt ihre Förderung ein finanzielles Risiko. Neue Bedürfnisse müssen durch die schiere Macht der Überredung aufrechterhalten bleiben. Der Werbefeldzug kann danebengehen, oder seine potentiellen Effekte können durch eine rivalisierende Aktion im voraus mit Beschlag belegt werden. Im großen und ganzen erfaßt nur ein kleiner Teil der neuen Produkte die Phantasie des Konsumenten in einem Grad, der nötig ist, um substantiellen Gewinn zu bringen. Die wenigen erfolgreichen Innovationen müssen die Verluste wettmachen, die durch die Masse der fehlgeschlagenen entstanden sind. Da es virtuell unmöglich ist vorauszusagen, welches der Produkte bei den Anstrengungen, seine eigenen Konsumenten zu erzeugen, erfolgreich sein wird, ahmen die Marktkräfte die verschwenderische Extravaganz der Fischzucht nach: Tausende von Expertenangeboten müssen gehegt werden, damit einige wenige lange genug am Leben bleiben, um profitabel zu werden. Während der Erfindungsreichtum praktisch unbe347

grenzt ist, scheint der Umfang der Marktgelegenheiten endlich zu sein. Unter diesen Umständen kann es sich kein Agent auf dem Markt erlauben, die Suche nach Neuheiten aufzugeben, damit sie ihm nicht von der Konkurrenz weggeschnappt werden.

Marktkenntnis Der zeitgenössische Verbrauchermarkt paßt das Angebotsniveau nicht der bestehenden Nachfrage an, sondern bezweckt die Schaffung neuer Nachfrage, um sich dem Angebotspotential anzupassen. Der Umfang der schließlich geschaffenen Nachfrage hängt von der effektiven Zuordnung des Gebrauchswerts an die angebotenen Produkte ab. Künftige Kunden werden bereit sein, für das Produkt zu zahlen, wenn (und nur wenn) sie zustimmen, daß sie ein Bedürfnis haben, das das Angebot zu befriedigen verspricht. Aber die Zustimmung ist keine Sache der Entdeckung einer bislang unbekannten oder ignorierten Wahrheit. Marshall Sahlins legt überzeugend dar, daß »die gesellschaftliche Bedeutung eines Gegenstands, die ihn für eine bestimmte Kategorie von Menschen zu einem nützlichen macht, genausowenig aus seinen physischen Eigenschaften ersichtlich ist wie der Wert, der ihm im Tausch beigemessen werden kann. Der Gebrauchswert ist nicht weniger symbolisch oder beliebig als der Warenwert, denn die ›Nützlichkeit‹ ist keine Qualität des Gegenstands, sondern eine Beziehung der objektiven Qualitäten.«17

Es ist unwahrscheinlich, daß sich ein Produkt verkauft, wenn ihm nicht irgendeine anerkannte »Nützlichkeit« zugeschrieben wird. Der Tauschwert, auf den es legitimerweise hoffen kann, hängt von dem Umfang und der Attraktion eines solchen Nutzens ab. (Bemerkenswerterweise hat das Aufkommen der Informationstechnologie diese Regel in noch höherem Maße bestätigt, als dies schon vorher der Fall war. Information ist, mit Gordon B. Thomp-

17 Marshall Sahlins, Kultur und praktische Vernunft, Frankfurt/M. 1981, S. 240.

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sons treffendem Ausdruck, ein »ätherisches Gut«, ein Gut, das sehr billig zu produzieren und noch leichter zu reproduzieren ist und, vor allem, im Prozeß des Konsumiertwerdens nicht verschwindet. Wegen solch ungewöhnlicher Eigenschaften müssen ätherische Güter »ihren Konsenswert gewinnen«. »Der Wert eines ätherischen Gutes ist eine Funktion der Anziehungskraft, die dem Gut von der Gesellschaft gegeben wird.« »Nützlichkeit«, mit anderen Worten: die gesellschaftliche Anziehungskraft ätherischer Güter, wächst mit ihrem Gebrauch, und infolgedessen muß letzterer kontrolliert werden, damit der Tauschwert etabliert und möglicherweise angekurbelt wird, wie im Falle der »Top Twenty« im Bereich der Popmusik oder der Bestseller-Listen bei Büchern.18) Um Nützlichkeit zu erlangen, muß dem Produkt zunächst »Signifikanz« gegeben werden – und das bedeutet, daß eine erfolgreiche Verbindung zwischen dem Produkt und einem Bedürfnis hergestellt werden muß, dessen der Konsument sich bewußt sein mag oder auch nicht. Durch die Schaffung neuer Bedürfnisse werden neue potentielle Nützlichkeiten und infolgedessen auch neue Tauschwerte verwirklicht. Insofern das Wissen von Experten eine Ware bleibt, fällt es unter die allgemeine Regel des Marktes. Das erste Problem, dem sich alle Experten gegenübersehen, ist deshalb die Schaffung eines Bedürfnisses nach ihnen selbst und nach ihren Dienstleistungen, das stark genug ist, eine angebotsbereinigende Nachfrage zu erzeugen. Wie Harold Perkin es ausgedrückt hat, leben die Professionen »von Überredung und Propaganda, von dem Anspruch, daß ihre besondere Dienstleistung für den Klienten oder Anwender und für die Gesellschaft und den Staat unverzichtbar ist. Durch dieses Mittel hoffen sie, ihren Status und dadurch ihr Einkommen, ihre Autorität und ihre psychischen Belohnungen (Ehrerbietung und Selbstachtung) zu erhöhen […] Daß gelegentlich die

18 Vgl. Gordon B. Thompson, »Ethereal Goods: The Economic Atom of the Information Society«, in: Information Technology Impact, hrsg. v. Bannon u.a., S. 88f.

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Dienstleistung weder wesentlich noch effizient ist, ist für das Prinzip kein Hindernis. Sie muß nur von denen, die sie bereitstellen, und von denen, die sie empfangen, dafür gehalten werden.«19

Wir haben oben die Gründe diskutiert, warum eine verallgemeinerte Nachfrage nach Expertenwissen als sicher und unwiderruflich etabliert angesehen werden kann. Solche Gründe, lassen Sie uns das in Erinnerung behalten, sind auf die Tatsache bezogen, daß die Lebenswelt nicht länger ohne die Hilfe der Experten und ihrer Produkte am Leben erhalten und reproduziert werden kann, und auf gewisse immanente Züge der Expertenpraxis, die für die kontinuierliche Reproduktion der Nachfrage nach neuem Expertenwissen in einem stetig wachsenden Umfang verantwortlich sind. (In Vanderburgs Zusammenfassung: »Angesichts beträchtlicher Probleme, von denen viele direkt oder indirekt auf das Anwachsen der Technik bezogen sind, ist praktisch die einzige Reaktion, die als lebensfähig gilt, die, diese Probleme dadurch zu lösen, daß man die technische Entwicklung beschleunigt.«20) Wenn es aus den angeführten Gründen auch sichergestellt ist, daß alle Bedürfnisse, vergangene oder zukünftige, mit irgendeiner von Fachleuten kontrollierten Lösung und irgendeiner von Fachleuten geplanten Technik befriedigt werden müssen, und daß neue Lösungen immer vergangenen und zukünftigen Bedürfnissen angeboten werden, garantieren sie den Erfolg irgendeiner bestimmten Art von Expertenware nicht von selbst. Die »Nützlichkeit« eines schon gesellschaftlich akzeptierten Expertenprodukts muß gegen neue konkurrierende Herausforderungen gestützt, und neue »Nützlichkeiten« müssen geschaffen werden, um Platz für neue und vorher nicht angebotene Expertenprodukte zu schaffen. Der Tauschwert des Expertenwissens muß sich selbst in termini seines Gebrauchswertes legitimieren. Der Gebrauchswert muß sich seinerseits auf die Bedürfnisse des individuellen Konsumenten beziehen. Die beschworenen Bedürfnisse sind

19 Perkin, The Rise of Professional Society, S. 6, 360. 20 Vanderburg, in: Democratic Theory, S. 20.

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in der Regel von allgemeiner Art und infolgedessen geeignet, »objektive« Gründe für die Anerkennung zu verlangen. Das Verkaufen von Expertenwissen besteht dann in der Fokussierung solcher allgemeiner Bedürfnisse auf ein spezifisches Expertenprodukt. Es gibt verschiedene allgemeine Bedürfnisse, an die am häufigsten und am erfolgreichsten appelliert wird. Im Falle einiger dieser Bedürfnisse versprechen neue Expertenprodukte, fehlende oder vergessene Fähigkeiten, die einstmals ihrer Befriedigung dienten, zu ersetzen. In anderen Fällen versprechen neue Expertenprodukte, das, was ihre Vorgänger nicht erreicht haben, besser zu leisten, womit sie eine doppelte Leistung vollbringen: Sie unterstützen das allgemeine Vertrauen in die Fähigkeit des Expertenwissens »als solchem«, sein Versprechen zu erfüllen, selbst wenn seine individuellen Angebote der Aufgabe nicht gewachsen sind, und obendrein diskreditieren und entwerten sie die vergangenen individuellen Expertenprodukte, die den Gipfel ihres Verkaufspotentials erreicht haben – so daß für den fortgesetzten Output von Expertenwissen Platz geschaffen werden kann. In beiden Fällen ist der Experte, der das verkaufte Produkt unterstützt, das entscheidende Verkaufsargument. Expertenunterstützung bietet dem Konsumenten die ersehnte Sicherheit und seelische Balance – eine willkommene Abwechslung von Zweifel und Angst, die das Los der einzelnen geblieben wären (oder werden würden), die ihren eigenen (jetzt entwerteten und obsolet gemachten) Fähigkeiten oder ungenügenden Mitteln überlassen worden wären. Expertenwissen verspricht den einzelnen Mittel und Fähigkeiten, der Ungewißheit und Ambivalenz zu entkommen und infolgedessen ihre eigene Lebenswelt zu kontrollieren. Sie stellt die Abhängigkeit von den Experten als die Befreiung des einzelnen dar; Heteronomie als Autonomie. Wir haben schon in einiger Ausführlichkeit den Mechanismus diskutiert, der es solcher Abhängigkeit gestattet, als Freiheit getarnt, mittels Aktivitäten, die auf die Etablierung einer Selbstidentität gerichtet sind, in die Lebenswelt des Individuums einzudringen (oder, je nach Gesichtspunkt, eingelassen zu werden). Im Falle anderer genereller Bedürfnisse sind ähnliche Mechanismen wirksam. 351

Eng verbunden mit dem Bedürfnis nach Selbsterschaffung ist das Bedürfnis nach Auszeichnung – oder, was auf dasselbe hinausläuft, nach Erwerb einer unzweideutigen Position in der gesellschaftlichen Ordnung. Marshall Sahlins hat dargelegt, daß mit der Erosion der alten Ordnung, die sich weitgehend auf Vererbung und Zuschreibung stützte (die beide der individuellen Manipulation Widerstand entgegensetzen), käufliche und konsumierbare Produkte als die wesentlichen Bausteine des neuen totemistischen Systems an deren Stelle traten.21 Wir können hinzufügen, daß derartige Produkte, die mit totemistischer Bedeutung durchtränkt sind, Individuen mehrere Dinge zur gleichen Zeit anbieten. Sie teilen spezifischen Sprossen der gesellschaftlichen Leiter spezifische Muster des Lebensstils zu. Sie bieten Werkzeugkästen an, die all die notwendigen Symbole enthalten, mit denen sich jeder Lebensstil montieren läßt. Und sie bieten eine gesellschaftliche (wenngleich nicht notwendig eine »Geld zurück«) Garantie, daß eine solche Montage tatsächlich in einem echten Produkt endet. Mit anderen Worten, totemistische Produkte bieten den Gesamtrahmen, innerhalb dessen alle zukünftige Selektion von Lebensprojekten verortet werden muß, definieren den Erwerb von expertenproduzierten Fertigkeiten und expertenproduzierten Objekten als das primäre Vehikel solcher Selektion und geben dem Selektionsprozeß die Sicherheit, gesellschaftlich anerkannt zu werden. Derart wird die individuelle Energie der Selbstbehauptung durch die Selbsttätigkeit in den Dienst der Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung eingespannt.

Sich vor der Ambivalenz verbergen Von Experten erteilter Rat und von Experten geplante Objekte, die es ihren Besitzern erlauben, auf eine vom Fachwissen autorisierte Weise zu handeln, befriedigen auch ein weiteres wesentliches Be-

21 Vgl. Sahlins, Kultur und praktische Vernunft, S. 248ff.

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dürfnis des einzelnen: das Bedürfnis nach Rationalität. Die moderne Gesellschaft, die von Anfang an durch eine radikale Intoleranz jeder von ihr abweichenden Lebensform charakterisiert war, kann eine solche Differenz nur als Ignoranz, Aberglaube oder Retardation begreifen. Eine Lebensform kann nur dann in den Bereich des Erträglichen zugelassen und im Land der Moderne mit dem Bürgerrecht versehen werden, wenn sie zuerst naturalisiert, aller Seltsamkeit entkleidet und am Ende unterjocht worden ist, d.h. nur in einer Form, in der sie in die Sprache der rationalen Wahl übersetzt werden kann, die die Sprache der Moderne selbst ist. Die Annahme eines monopolistischen Rechts, Sinn zu verleihen und alle Lebensformen von dem höheren Gesichtspunkt dieses Monopols aus zu beurteilen, ist das Wesen der modernen Gesellschaftsordnung. Diese Annahme macht den »Irrtum über die eigene Wesensart« zu einer konstanten Möglichkeit und einer permanenten Quelle der Angst für den modernen Menschen. Die Bestätigung der Rationalität der eigenen Handlungen und Überzeugungen wird zu einer Art Aufenthaltserlaubnis, die ständig erneuert werden muß und nur bei guter Führung erneuert wird. Wie Hans Peter Duerr zeigt, gehören »zu den Einordnungskräften, zur intellektuellen Polizei, vornehmlich Wissenschaftler. Sie bilden keine einheitlichen Kontingente, sondern zerfallen eher in Truppen mit verschiedenen Aufgabenbereichen. Da gibt es etwa Einheiten, die man mit etwas bösem Willen als Schutztruppen verstehen kann. Sie widmen sich der Aufgabe einer recht unverblümten und leicht durchschaubaren Abwehr des Fremden.«22 Wie im Falle jeder Polizeigewalt, kann man der Macht der Wissenschaftler, zu erlauben und zu verbieten, schwer ausweichen. Trotzdem sind die Wege, auf denen die Wissenschaftler zu ihren Entscheidungen gelangen, für das Laienmitglied der Gesellschaft noch schwieriger zu erkunden als im Falle der Polizei, die sich auf gesetzliche Regeln

22 Hans Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt/M. 1983, S. 144.

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und Grundlagen beruft: Fachwissen ist durch seine esoterische und flüchtige Natur sicher vor der Durchdringung von Laien geschützt. Beide Umstände zusammen machen die Wissenschaft zum unbestrittenen Verwalter der wichtigsten Quellen der Unsicherheit und reproduzieren auf diese Weise das klassische Muster der Macht und der Abhängigkeit. Laienmitglieder der Gesellschaft müssen rational sein, aber sie können nicht rational sein, ohne daß sie durch die Urteile der Wissenschaft angeleitet werden und ohne daß man ihnen algorithmische oder zumindest heuristische Vorschriften für das Handeln anbietet, das die Billigung von Experten findet. Der Wunsch der Laien, rational zu sein, ölt das Schwungrad des Expertenwissens. Das Bedürfnis, rational zu sein, gründet sozusagen in der fortdauernden (und, unter diesen Umständen, irreparablen) Ambiguität und »dem Durcheinander« der Lebenswelt. Der Intervention unkoordinierter, in ihrem Verhältnis zueinander autonomer Autoritäten unterworfen, bringt die Lebenswelt kontradiktorische Botschaften, Zwänge, die in entgegengesetzte Richtungen weisen, und Bedürfnisse mit sich, die nicht befriedigt werden können, ohne andere Bedürfnisse zu opfern oder in Gefahr zu bringen. All dies verschärft die wirkliche Gefahr und die Furcht vor Irrtum. Eine falsche Wendung kann den einzelnen in eine Sackgasse führen und ihn oder sie an den Punkt bringen, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Die verworrene Lebenswelt mag ihre Belohnungen gehabt haben (dank dem Durcheinander scheint keine Option unwiderruflich vorbei; in einer verworrenen Lebenszeit scheint es keinen Punkt ohne Umkehr zu geben), aber ohne Zweifel ist sie voll von angsterregenden Konflikten, und infolgedessen sind ihre Segnungen durchaus gemischt. Ein »vielfältiger und unprogrammierter Austausch« mit der menschlichen und natürlichen Umwelt steckt »voller Schwierigkeiten, Versuchungen, schwierigen Entscheidungen, Herausforderungen und Überraschungen«.23

23 Ellul, Technological System, S. 314.

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Die Glorifizierung der Rationalität von Wahl und Verhalten ist selber eine Wahl. Eine Entscheidung, der Ordnung den Vorzug vor dem Kuddelmuddel zu geben, der Sicherheit vor der Überraschung, der Konstanz der Resultate vor der zufälligen Abfolge von Gewinnen und Verlusten. Sie verunglimpft die Kontingenz und glorifiziert die Unzweideutigkeit. Obendrein führt sie die völlige Klarheit der Lebenswelt und eine risikofreie Gewinnchance als eine realistische Möglichkeit und eine vernünftige, erstrebenswerte Absicht vor Augen. Sie verspricht eine Welt, die frei von Unsicherheit, geistigen Qualen und intellektuellem Zögern ist. Nicht daß eine derart gesunde Welt bei ihrem Mangel an Alternativen und Wahlen gleichförmig und öde sein müßte. Aber in einer solchen Welt, wie blendend und voller Versuchung auch immer sie sein mag, wird die Vielfalt gezähmt und ihr Stachel gezogen sein. Vielfalt wird nur noch als Wahl zwischen Handlungen bestehen, die alle rational und sicher sind, so daß das Drama des Lebens sich in reine und sichere Unterhaltung verwandeln wird. In einer solchen Welt ist eben die Chance der falschen Wahl (d.h. Irrationalität) eliminiert, und infolgedessen wird auch die Unterscheidung zwischen Rationalität und Irrationalität zu existieren aufhören. Die letzte Grenze der Rationalität ist die Selbsttranszendenz, wenn die Schlachten, aus denen sie in der Vergangenheit ihren kriegerischen Ruhm abgeleitet hat, ersterben und nur noch Windmühlen gemietet werden können, um die Rolle des Feindes zu spielen. In der von Shannon inspirierten »Informations«-Vision der Welt und menschlichen Praxis, die unausgesprochen den intellektuellen Hintergrund für den größten Teil der zeitgenössischen Strategie des technologischen Fortschritts bildete, wurde die Rolle des »Reichs des Bösen« vom Rauschen oder der Zufälligkeit gespielt. Zufällig gleich chaotisch gleich unkontrolliert. Das proklamierte Ziel der Informationstechnologie, wie das jedes anderen modernen Projekts oder Plans, ist die Eliminierung von Rauschen gewesen. In praktischen Ausdrücken bedeutet dies die vollständige Kontrolle der Nachricht durch den Sender (was die Macht einschließt, einen unzweideutigen Empfang der Nachricht durch den Empfänger zu 355

bestimmen). Sobald alle zufällige Interferenz mit der Nachricht und alle Wahl ihrer Deutung unterdrückt oder eliminiert ist, »ist es genau das autonome Handeln, das durch die technologische Gesellschaft unterdrückt (oder repressiv toleriert) wird«.24 Die letzte Grenze des Kampfes gegen das Rauschen ist eine vollständig kontrollierte Lebenswelt und eine vollständige Heteronomie des Individuums – eines Individuums, das unzweideutig auf der Empfangsseite des Informationsflusses verortet ist und seine Entscheidungen sicher in einem Rahmen eingeordnet hat, der strikt durch eine Expertenautorität definiert ist. Die große amerikanische Institution der shopping mall, des Einkaufszentrums, bietet einen Einblick in eine solche Welt, die dem Idealtyp der triumphierenden Rationalität vielleicht näher kommt als jeder andere Aspekt des zeitgenössischen Lebens. Solche Zonen sind ein Ausweg aus der Unordnung der »wirklichen Welt«. Sie bieten eine kontrollierte, physisch und psychisch sichere Umwelt für eine alternative Lebenswelt, in der die Freude der Wahl nicht durch die Furcht vor Irrtum verunreinigt ist, weil es überhaupt nur noch »rationale Wahlen« gibt – jede Wahl ist ihrer Angemessenheit im voraus versichert. Im Unterschied zur »wirklichen« Welt ist die Welt der Einkaufszonen frei von einander überschneidenden Kategorien, vermischten Botschaften und semiotischer Unklarheit, die sich in Verhaltenszweideutigkeit widerspiegeln. In der Einkaufszone ist die Umwelt sorgfältig überwacht (buchstäblich und metaphorisch), sauber nach thematischen Sektionen aufgeteilt, jede reduziert auf klar gegliederte, stereotype und leicht zu lesende Symbole, wo praktisch jede Gefahr einer mehrdeutigen Interpretation ausgeschlossen ist. (Was es an Ambivalenz immer noch gibt, ist sorgfältig geplant, und das Bewußtsein dieser Tatsache macht sie ungefährlich und geradezu zu einem Genuß.) Innerhalb der Einkaufszone bieten Experten nicht nur eine

24 Kathleen Woodward, in: The Myths of Information, hrsg. v. Woodward, S. XIX.

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Führung durch die Mysterien der Welt und ein sicheres Umgehen aller Fallen. Experten haben diese Welt geschaffen, und zwar nach ihrem eigenen gründlich rationalisierten Entwurf, der eben, weil er rational entworfen worden ist, keinerlei Mysterien oder Fallen enthält und infolgedessen beansprucht, besser – einfacher, sicherer, transparenter – zu sein als die Welt, die hinter den dicken Mauern und den elektronisch betriebenen Toren zurückgeblieben ist. In der von Experten gemachten Welt ist die Irrationalität kolonisiert worden, alles, einschließlich der Irrationalität, ist dem rationalen Entwurf unterworfen, und auf diese Weise verliert die Rationalität ihre militante Schärfe. Selbst Überraschungen sind sorgfältig geplant. Die aufheiternde Erfahrung, »einen draufzumachen«, sich gehenzulassen, unvernünftig zu sein – kann in aller Sicherheit genossen werden. Selbst die Katastrophe ist ein Begriff in einem Spiel, das sehr einfallsreich von den Experten geplant ist und nach Regeln durchgeführt wird, die verhindern, daß es aus dem Ruder läuft. Die malls verkaufen nicht nur Waren. Sie verkaufen eine alternative Lebenswelt, eine, in der Kontrolle und Verantwortung an die Experten abgetreten werden – und dies freiwillig und freudig, da die Kapitulation mit dem Trost belohnt wird, immer recht zu haben. Dort wird das Projekt der von Experten geplanten Lebenswelt verkauft und auf dem Markt geprüft. Die malls sind auch eine Botschaft – allerdings ohne es zu wissen. Die Botschaft ist eine des totalen Zusammenbruchs des gloriosen Traums der perfekten und globalen, vernunftkontrollierten Ordnung. Marx hat bemerkt, daß die Geschichte zweimal aufgeführt wird: einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Die malls bezeichnen die groteske Neuinszenierung des Aufklärungsdramas. Sie bieten eine perfekte, vernunftkontrollierte Welt, in der alle bestehende (oder absichtlich geplante) Ambivalenz sorgfältig kontrolliert ist: Aber die vernunftbeherrschte Welt, die sie anbieten, ist eine globale Ordnung nur dank der dicken, undurchdringlichen, schwer bewachten Mauern, in die sie eingeschlossen ist. Die Utopie der Weisen hat sich aus der wirklichen Welt in eine sicherere 357

Zuflucht zurückgezogen, wo sie nicht länger das Chaos zu fürchten braucht, das ihr Ordnungseifer erzeugt. Elektronische Spione, Einbruchssicherungen und selbstschließende enge Eingänge trennen dieses miniaturisierte Utopia vom Rest der Lebenswelt ab, die ihrer anscheinend unausrottbaren Unordnung überlassen wird. Wunder der Harmonie und Perfektion werden nun als Unterhaltung geboten – für die Familiensonntagsausflüge und -vergnügungen. Niemand glaubt, daß sie real sind. Aber die meisten bestätigen, daß sie besser als real sind. Und jeder weiß, daß die Realität niemals so sein wird wie sie.

Die Tendenzen und Grenzen der von Experten entworfenen Welt Nach Michael Benamons geistreicher Klassifikation können die Autoren, die sich mit den Aussichten der von Experten gelenkten technologischen Welt befaßt haben, in Anlehnung an die klassischen »vier Temperamente« in vier Gruppen eingeteilt werden: Sie reichen von den glücklichen Technophilen (unter der Führung von Agape: Marshall MacLuhan und Buckminster Fuller gehören zu den prominentesten unter ihnen) über die ängstlichen Technophilen (Logos: der Lewis Mumford der dreißiger Jahre), den hoffnungsvollen Technophoben (Eros: Goodman, Illich, Roszak, der späte Marcuse), bis zu den desperaten Technophoben (Thanatos: Ellul, der späte Mumford, der frühe Marcuse)25; von den Aposteln der guten Botschaft bis zu den Propheten des drohenden Weltuntergangs. Alle Kategorien stimmen freilich darin überein, daß der in der Lebenswelt des modernen Menschen durch die Vermehrung des Expertenwissens bewirkte Wandel und die unaufhaltsame Technologisierung der menschlichen Umwelt radikal und aller 25 Michael Benamon, »Notes on the Technological Imagination«, in: The Technological Imagination: Theories and Fictions, hrsg. v. Teresa de Lauretis, Andreas Huyssen und Kathleen Woodward, Madison 1980, S. 67.

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Wahrscheinlichkeit nach unumkehrbar war. Die menschliche Welt wird niemals wieder so sein, wie sie vor dem Aufstieg der Technologie war. Ob die Veränderung nun auf größeres Glück oder tieferes Elend hinausläuft, ist umstritten und muß strittig bleiben. Je nach dem eigenen Grad an Optimismus, Angst oder Verzweiflung konzentrieren die Beobachter und Analytiker jetzt wie in der Vergangenheit ihre Beschreibungen und Diagnosen auf das, was sie als die attraktiveren oder weniger einnehmenden Eigenschaften der von Experten entworfenen Zukunft ansehen. Sie würden deshalb die Signifikanz aller Attribute herabsetzen, die sie von der Einheit ihrer Vision ablenken. Und trotzdem würden sie schwerlich ihre Gegenwart leugnen. Obgleich ihnen eine sehr unterschiedliche Bedeutsamkeit für das menschliche Wohlergehen zugeschrieben wird (und manchmal sogar ein unterschiedlicher Wert), sind gewisse Merkmale der neuen Welt, die am Ende der modernen Ära auftreten, nichtsdestoweniger beinahe universal anerkannt. Im folgenden werde ich einige dieser Merkmale, die für die Einschätzung der Zukunftsaussichten der von Experten gelenkten Gesellschaft entscheidend zu sein scheinen, kurz diskutieren. Es gibt einen Aspekt in der von Shannon initiierten Informations-Revolution, der besonders weitreichende Konsequenzen für die neue Form der von Experten gelenkten Welt zu haben scheint: nämlich das explizite Ausklammern und die implizite Verunglimpfung des »Inhalts« der Nachricht, die jetzt vollkommen durch die Erwägung der Quantitätsmessungen ersetzt wird. Information als meßbarer Wert ist vom semantischen »Inhalt« der Aussagen abgetrennt – und emanzipiert – worden.26 Der historische Akt dieser Scheidung hatte zwei engverwandte Folgen. Erstens ist die Qualität sowohl des Senders wie des Empfängers einer Nachricht für die Bewertung der Information irrelevant gemacht worden, die sich jetzt ausschließlich auf das konzentriert, was sich »im Draht« zwischen Sprecher und Hörer abspielt – auf die Aufgabe, die Nach-

26 Vgl. Roszak, The Cult of Information, S. 10–12.

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richt (was auch immer ihr Inhalt sein mag und wer auch immer sie gesendet hat) unverzerrt zu übermitteln. Das bedeutet nicht so sehr die Neutralität oder die gerühmte Unparteilichkeit der Informationstechnologie, wie ihre unzweideutige Neigung zugunsten von Kontrolle (genauer der bestimmenden Kraft des Senders über den Empfänger, die durch die gemieteten Dienstleistungen des informationsverarbeitenden Experten gesichert werden; eine Neigung zugunsten von Information als Objekt und Mittel des Managements). Zweitens kann Information einzig nach ihrem Umfang ohne Rücksicht auf ihren Inhalt bewertet werden. Die Informationstheorie erlaubt es, Information zu diagnostizieren und Präferenzen für ihre Verbesserung zu setzen, ohne auf die Materien von Signifikanz oder Wichtigkeit einzugehen. (Oder eher: Sie beläßt das Recht, sich über den Wert der Übertragung zu äußern, gänzlich in der Hand des Kommunikators.) Tatsächlich haben die Theorie und die Technologie, die sie erzeugt und legitimiert, keinerlei Mittel, zwischen unterschiedenen Mengen von Information in irgendwelchen anderen Termen zu unterscheiden als durch ihren jeweiligen Umfang. Zwei Mengen von Information, die einander quantitativ gleich sind (wobei die Quantität durch eine anerkannte Methode des Messens definiert wird), sind einander in allen anderen Hinsichten äquivalent (oder eher: über »andere Hinsichten« kann vernünftigerweise gar nicht gesprochen werden). Diese neue Position kommt gut in dem beliebten Spiel »Trivial Pursuit« zum Ausdruck – einer lebendigen, emotional beruhigenden Einstudierung der Irrelevanz des semantischen Aspekts der Information und eine unterhaltsame Methode des Selbst-Trainings im Gebrauch von Quantität als dem einzigen Maß der Qualität sowohl des Wissens wie seiner Besitzer. In seinem resoluten Drang nach mehr technologischer Effizienz muß das Expertenwissen alle »Totalitäten« auflösen – es konzentriert sich statt dessen auf ihre zugänglichen und handhabbaren Segmente. Diese unaufhörliche Tendenz des Expertenwissens hat längst durch die Informationstechnologie und besonders die neuen Totalitäten der großen miteinander verbundenen Compu360

ter-Netzwerke eine ungeheure Ausweitung erfahren (und eine potentiell finstere Wendung genommen). Zur Entwicklung solcher Totalitäten kann das ehrfurchtgebietende Expertenwissen, das sich inzwischen bei der Software-Produktion entwickelt hat, wie alles technisch intelligente Expertenwissen, nur stückweise beitragen. Es kann bei deren Konstruktion nur insofern mitwirken, als es deren emergente Qualitäten vergißt oder bewußt deren Gegenwart ignoriert. Kontinuierlich werden dem System neue Fragmente hinzugefügt, obwohl nur sehr wenig, wenn überhaupt etwas, über ihre Auswirkung auf die Menge der Programme bekannt ist, die schon vorher eingegeben worden waren. Trotz (oder wegen?) der Tatsache, daß es ein äußerst künstliches, von Menschen gemachtes Produkt ist, entwickelt sich das Computersystem gleichwohl auf eine naturwüchsige, spontane und unkontrollierte Weise, so daß niemand imstande ist, die Gesamtwirkung zu überschauen. Geoff Simons hat den Gedanken geäußert, daß »die umfassendsten Software-Systeme auf eine unkontrollierte, zunehmend unverständliche Weise wachsen. Wenn ein Problem entsteht, wird ein neues Programmstück zur Behebung einer unmittelbaren technologischen ›Klemme‹ geschrieben: vielleicht löst es kurzfristig das Problem, aber seine langfristigen Auswirkungen auf die etablierten Programme sind unbekannt und völlig unvoraussagbar. Infolgedessen entwickeln sich die größten ComputerSoftware-Systeme ganz unorganisiert, wobei partikuläre Programme kleine Stücke (bits) hier und kleine Stücke da verstehen, niemand aber das System als Ganzes.«27

Eine der bemerkenswertesten Konsequenzen der sich lockernden Verbindung und der wachsenden Inkommensurabilität zwischen den Operationen eines einzelnen Programmes und der Kapazität des Softwaresystems als Ganzes ist das Schweben der Verantwortung für das letztliche Ergebnis des computervermittelten Handelns. Solches Schweben ist natürlich nicht neu, nicht erst vom Computer-Zeitalter eingeführt worden. Das Aufkommen der Computer27 Geoff Simons, Silicon Shock: The Menace of Computer Invasion, Oxford 1985, S. 161.

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systeme hat einer alten und permanenten Tendenz technisch orientierten Expertenwissens nur ein neues Moment hinzugefügt – und es in den Stand gesetzt, sich in einem beispiellosen, bislang undenkbaren Umfang zu entwickeln. Wie wir oben gesehen haben, kann Expertenwissen adäquat nur dann fungieren, wenn die systemischen Konsequenzen des problemorientierten Handelns aus den Augen verloren oder bewußt ignoriert werden. Und trotzdem waren es vor der Heraufkunft des Computer-Zeitalters andere Experten, die sich mit den Nebenwirkungen der Expertenpraxis befaßten; es gab immer eine identifizierbare Person, die hinter jeder Handlung stand. Man konnte sich in unendliche Streitigkeiten über den wirklichen Grad der Verantwortung jeder Person verwikkeln und hinsichtlich der Frage, welche der untereinander verbundenen Handlungen in der entscheidenden kausalen Beziehung zu der gegebenen Wirkung stand. Der Streit konnte freilich (wie kontrafaktisch und unschlüssig auch immer) in personalen Termini geführt werden. Es ist diese Möglichkeit, die das Aufkommen der Computersysteme fast ausgeschlossen hat. Unsere Analyse hat gezeigt, daß sich die Institutionen, die gesellschaftlich eingerichtet werden, um die individuelle ( privatisierte) Ambivalenz zu bekämpfen, in den Hauptmechanismus verwandelt haben, um genau das Phänomen am Leben zu halten, wiederzubeleben und zu verstärken, dessen endgültige Eliminierung zur raison d’être solcher Institutionen erklärt worden war. Sie erzeugen mehr Ambivalenz, als sie besiegen, und aus dieser neuen ambivalenten Nebenwirkung ihres Kampfes gegen Ambivalenz ziehen sie die Energie, die sie brauchen, um noch mehr Ambivalenz zu erzeugen und die Legitimation für die Fortführung ihres Handelns … Die Gesamtsumme der Ambivalenz scheint sowohl auf personaler wie auf gesellschaftlicher Ebene unaufhaltsam zu wachsen. Allem Anschein nach gedeiht Ambivalenz besonders prächtig auf dem Boden der Anstrengungen, sie zu zerstören, und läßt die ursprüngliche Aussicht auf eine ordentliche, rational strukturierte Lebenswelt, die in ein ordentliches, rational strukturiertes Sozialsystem eingeschrieben ist, zunehmend fern und nebulös 362

werden. Der guttrainierte Drang, aus der Unordentlichkeit der Lebenswelt zu entkommen, hat genau die Situation verschärft, aus der ein Ausweg gesucht wurde. Trotz aller Anstrengungen der modernen Autorität – der politischen und wissenschaftlichen gleichermaßen –, Ordnung zu schaffen, ist es nicht gelungen, eine von Ambiguität freie Welt, die transparente Welt rationaler Wahl zu schaffen. Es wird auch beinahe universal zugestanden, daß es nicht sehr wahrscheinlich ist, daß sie in Zukunft aus solchen Anstrengungen hervorgehen wird, wie eindrucksvoll die Fortschritte der Wissenschaft und ihrer technischen Anwendungen auch sein mögen. In dem Maße, wie die moderne Gesellschaft weiser wird und sich bewußt macht, daß allzu viele Hoffnungen sich in Alpträume verwandelt haben, scheint sie sich nun allmählich mit der unvermeidlichen Partialität der Ordnungen zu versöhnen, die zu konstruieren sie fähig ist – und also mit der Nicht-Endgültigkeit jedes Ordnungsprojekts und der Permanenz und Allgegenwart der Ambivalenz. Sie könnte ebensogut – ich betone: könnte – das Beste aus der Lage machen, mit der sie sich nicht länger im Krieg befindet; aber um das zu tun, müßte sie ihren Kreuzzug gegen »irrationale« Ethik und Werte im allgemeinen widerrufen. Solange man hoffte, daß der Drang zur Herrschaft der Vernunft mit einem Sieg enden würde, konnte er als zeitweiliger Ersatz für eine moralisch angeleitete Orientierung dienen.28 In einer Welt, in welcher der Pluralität von Ordnungen und der Ambivalenz – enthusiastisch oder widerstrebend – ein permanentes Aufenthaltsrecht gewahrt worden ist, ist ein solcher Ersatz nicht mehr verfügbar, und der Pluralismus hallt als Orientierungsverlust und Hilflosigkeit wider – eine bittere Ironie für eine Ära, die die Allmacht des Menschen proklamiert hat. 28 Ich habe dieses Thema ausführlich erörtert in: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, Kap. 8. Siehe auch meine Untersuchung »Effacing the Face«, in: Theory, Culture and Society, Bd. 7/1 (Frühjahr 1990).

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Die Postmoderne oder: Mit Ambivalenz leben Wir könnten versuchen, unsere Kontingenz in unser Geschick zu verwandeln. Agnes Heller

In einer Hinsicht, schreibt Agnes Heller, haben die im Zeitalter der Aufklärung geborenen Sozialwissenschaften nicht versagt: »Sie haben wirklich zur Selbsterkenntnis beigetragen und niemals aufgehört, zur Selbsterkenntnis der modernen Gesellschaft beizutragen, einer kontingenten Gesellschaft, einer Gesellschaft unter vielen, unserer Gesellschaft.«1 Und trotzdem, das sollte man festhalten, war selbst dieser partielle Erfolg ein Fehlschlag, wenn man ihn nach den Maßstäben der Ambition der Sozialwissenschaften beurteilt. Was auch immer die modernen Sozialwissenschaften getan haben, sie haben ihr Versprechen nicht eingelöst. Sie haben im Gegenteil, ohne es zu wissen und mehr noch, ohne es zu beabsichtigen, etwas bereitgestellt, was sie nicht versprochen haben. Sie haben, um es grob zu sagen, die ganze Zeit über unter der Vorspiegelung, etwas völlig anderes zu tun, ein ganz vernünftiges Produkt geliefert … Bewußtsein der Kontingenz – der Kontingenz des modernen Selbst, der Kontingenz der modernen Gesellschaft – war nicht das, womit sie, ihre Propheten, ihre Apostel, ihre angehenden Konvertiten und hoffnungsvollen Nutznießer, gerechnet hatten. Wenn man Heller zustimmt, daß die Sozialwissenschaften, ungeachtet all ihrer Selbsttäuschung, kostbares Wissen, das erst später als Einsicht in die Kontingenz gewürdigt werden sollte, bereitstellten, muß man 1 Agnes Heller, »From Hermeneutics in Social Science toward a Hermeneutics of Social Science«, in: Theory and Society, Bd. 18 (1989), S. 291–322. Die folgenden Zitate von Heller stammen aus derselben Quelle.

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doch darauf beharren, daß sie es in Verkennung der wahren Natur ihres Geschäfts taten, oder daß sie es taten, während sie versucht haben, ihre Produkte für etwas ganz anderes auszugeben, als sie waren (womit sie folglich – wissentlich oder unwissentlich – gegen das offizielle Handelsrecht verstoßen haben …): daß sie über Kontingenz informierten, während sie glaubten, von Notwendigkeit zu erzählen, über eine bestimmte Lokalität, während sie selbst glaubten, von Universalität zu erzählen, über traditionsgebundene Deutung, während sie selbst glaubten, von extraterritorialer und außerzeitlicher Wahrheit zu erzählen, über Unentscheidbarkeit, während sie selbst glaubten, von Transparenz zu sprechen, über die Vorläufigkeit der Situation des Menschen, während sie selbst glaubten, von der Gewißheit der Welt zu erzählen, über die Ambivalenz des menschlichen Entwurfs, während sie selbst glaubten, von der Ordnung der Natur zu erzählen. Es waren diese (falschen) Überzeugungen und nicht ihre (nützlichen) Produkte, die die Sozialwissenschaften und die Mentalität, aus denen sie hervorgingen, sowie die Machtstruktur, die sich selbst mit dieser Mentalität betrachtete, modern machten. Den größten Teil ihrer Geschichte überlebte die Moderne in und durch Selbsttäuschung. Das Nicht-wahrhaben-Wollen ihrer eigenen Provinzialität, die Überzeugung, daß alles, was in seiner Partikularität nicht universal ist, nur »noch-nicht universal« ist, daß das Projekt der Universalität unvollständig sein mag, aber höchst definit bestehenbleibt, war der Kern jener Selbsttäuschung. Vielleicht konnte die Moderne dank jener Selbsttäuschung sowohl die wunderbaren wie die grauenvollen Dinge hervorbringen, die sie hervorgebracht hat; wie in so vielen anderen Fällen stellte sich Ignoranz als ein Vorzug heraus. Die Frage ist: Ist das Verblassen der Selbsttäuschung eine endgültige Erfüllung, Emanzipation oder das Ende der Moderne? Das unverkennbare Merkmal des Glaubens an die Wahrheit des eigenen Wissens ist nicht die Überzeugung, daß das fragliche Wissen befriedigend, erfreulich, nützlich oder auf andere Weise bewahrenswert ist. Eine solche Überzeugung bedarf nicht des Glau365

bens an die Wahrheit zu ihrer Unterstützung. In der Regel kommt diese Überzeugung ganz gut ohne die autoritative Bestätigung aus, daß der Glaube an die Wahrheit vernünftig ist. Erst dann, wenn es darum geht, den anderen zu sagen, daß sie sich alle im Irrtum befinden und deshalb erstens ihre Auffassungen ändern sollen oder müssen, wodurch sie zweitens die Überlegenheit (lies: das Befehlsrecht) dessen, der im Besitz der Wahrheit ist (lies: des Befehlshabers) bestätigen, kann man nicht ohne »den gutbegründeten Begriff der Wahrheit« auskommen. Der Anspruch auf Wahrheit als eine in Anspruch genommene Qualität des Wissens entsteht deshalb allein im Kontext der Hegemonie und des Bekehrungseifers; im Kontext der Koexistenz von autonom unterhaltenen Wissenssystemen, von denen sich zumindest eines sträubt, friedlich zu koexistieren und die bestehenden Grenzen zu respektieren; im Kontext einer Pluralität, die zumindest von einem Mitglied als ein quälender Zustand betrachtet wird, der zu korrigieren ist; im Kontext eines Gleichgewichts von Kräften, das im Begriff steht, sich in eine Asymmetrie der Macht zu verwandeln. Wahrheit ist, mit anderen Worten, eine gesellschaftliche Beziehung (wie Macht, Eigentum oder Freiheit ): ein Aspekt einer Hierarchie, die sich aus Überlegenheits-Unterlegenheits-Einheiten aufbaut; genauer, ein Aspekt der hegemonialen Form der Herrschaft oder eines Anspruchs auf Herrschaft durch Hegemonie. Die Moderne war von Anfang an eine solche Form und ein solcher Anspruch. Der Teil der Welt, der die moderne Zivilisation als strukturelles Prinzip und konstitutiven Wert übernahm, war gewillt, den Rest der Welt dadurch zu beherrschen, daß er dessen Andersheit auflöste und das Produkt der Auflösung assimilierte. Die fortbestehende Andersheit wurde zwangsläufig als ein zeitweiliges Ärgernis betrachtet; als ein Irrtum, der früher oder später durch die Wahrheit ersetzt werden würde. Der Kampf der Ordnung gegen das Chaos in weltlichen Angelegenheiten spiegelte sich auf der Ebene des Bewußtseins im Kampf der Wahrheit gegen den Irrtum wider. Die Ordnung, die errichtet und universalisiert werden mußte, war eine rationale Ordnung; die Wahrheit, der zum Sieg verholfen wer366

den mußte, war die universale (infolgedessen apodiktische und obligatorische) Wahrheit. Die politische Ordnung und das wahre Wissen verbanden sich zum Entwurf der Gewißheit. Die rationaluniversale Welt der Ordnung und Wahrheit würde keine Kontingenz und keine Ambivalenz kennen. Das Ziel der Gewißheit und der absoluten Wahrheit war ununterscheidbar vom Geist des Kreuzzugs und dem Projekt der Herrschaft. Während die Moderne sich selbst absonderte, sich selbst eine klare Form gab, um sich dadurch die Möglichkeit zu schaffen, gegenüber dem Rest der oikumene eine Kommandoposition einzunehmen, empfand sie sich selbst als die Saat der zukünftigen Universalität, als ein Wesen, das dazu bestimmt sei, alle anderen Wesen zu ersetzen und auf diese Weise eben den Unterschied zwischen ihnen abzuschaffen. Sie hielt die Differenzierung, die sie durchsetzte, für Universalisierung. Dies war der Selbstbetrug der Moderne. Es war freilich ein Selbstbetrug, der sich zwangsläufig selbst ohne äußeren Anstoß enthüllen mußte (es gab sowieso kein »Außen« mehr, dem die Legitimation zugestanden worden wäre, etwas zu enthüllen); ein Selbstbetrug, der nur so lange dauern konnte, wie er in Richtung auf jene Enthüllung hin wirkte. Der Selbstbetrug lieferte die Energie und das Vertrauen, dieser einsamen Arbeit der Universalisierung nachzugehen, die immer mehr Differenz erzeugte; bei einer Jagd nach Gleichförmigkeit zu verharren, die in immer mehr Ambivalenz enden mußte. Der Selbstbetrug der Moderne ging schon mit seiner Selbstenthüllung schwanger. Es ist vielleicht die Frucht jener Schwangerschaft, die Agnes Heller mit dem »Todeswunsch« meinte, der am anderen Ende des langen Marsches hin zur »Wunscherfüllung« gefunden werden sollte; der, wie wir hier zu argumentieren versucht haben, der zwangsläufige Erbe und Nachfolger dieser Wunscherfüllung sein sollte. Das Bewußtsein der Kontingenz, obgleich ein verlorenes Kind, war der legitime Abkömmling des blinden Selbstvertrauens; es mußte zwangsläufig daraus entstehen und konnte nicht das Kind anderer Eltern sein. Die Bewohner des Hauses der Moderne waren fortwährend dazu erzogen worden, sich unter Bedingungen 367

der Notwendigkeit zu Hause und sich angesichts der Kontingenz unglücklich zu fühlen; Kontingenz, so hatte man ihnen gesagt, war der Zustand des Unbehagens und der Ängstlichkeit, aus dem man entfliehen mußte, indem man sich selbst zur bindenden Norm machte und so die Differenz abschaffte. Das gegenwärtige Unglücklichsein ist die Erkenntnis, daß dies nicht sein soll, daß die Hoffnung nicht wahr wird und man deshalb lernen muß, ohne Hoffnung zu leben, die dem Leben seine Bedeutung – seine einzige Bedeutung – gegeben hatte. Wie Richard Rorty beobachtet hat, sind »die Vokabulare typischerweise Parasiten der Hoffnungen – in dem Sinne, daß die Hauptfunktion der Vokabulare darin besteht, Geschichten über zukünftige Ergebnisse zu erzählen, die gegenwärtige Opfer kompensieren werden«2, und, um das hinzuzufügen, den gegenwärtigen Leiden einen Namen zu geben. Sie berichten von der Gegenwart als spezifischem Leiden, das ein konkretes Opfer braucht, um aufzuhören, ein Leiden als solches zu sein. Wir sind heute unglücklich, weil wir mit dem alten Vokabular dastehen, aber ohne die Hoffnung, die es mit Leben erfüllte. Das Rauschen der ausgedörrten, saftlosen Worte erinnert uns unaufhörlich, aufdringlich an die Leere, die da herrscht, wo einst Hoffnung war. Dazu erzogen, unter Bedingungen der Notwendigkeit zu leben, entdecken wir, daß wir unter Bedingungen der Kontingenz leben. Und trotzdem, gezwungen, in Kontingenz zu leben, können wir, wie Heller vorschlägt, »einen Versuch machen, sie in unser Geschick zu transformieren«. Man macht etwas zu seinem Geschick, indem man das Schicksal akzeptiert: durch einen Akt der Wahl und den Willen, der getroffenen Wahl treu zu bleiben. Wenn man das Vokabular aufgibt, das Parasit der Hoffnung auf (oder der Bestimmung für) Universalität ist, ist Gewißheit und Transparenz die erste Wahl, die getroffen werden muß; der erste Schritt auf dem Weg zur Emanzipation. Wir können Kontingenz nicht mehr vergessen; könnte sie sprechen, würde die Kontingenz wiederholen, was Nietzsche an seinen Entdecker, Freund und Propheten Georg 2 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1989, S. 148.

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Brandes am 4. Januar 1889 (dem Tag, an dem er sich endgültig aus den Sorgen des weltlichen Lebens zurückzog) schrieb: »Nachdem du mich entdeckt hattest, war es kein Kunststück, mich zu finden; die Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren …«3 Aber wir können die Kontingenz aus dem Vokabular der zerschlagenen Hoffnungen in das der Gelegenheit übertragen, aus der Sprache der Herrschaft in die der Emanzipation. Agnes Heller schreibt: »Ein Individuum hat seine oder ihre Kontingenz in sein oder ihr Geschick verwandelt, wenn diese Person zu der Überzeugung gekommen ist, das Beste aus seinen oder ihren praktisch unendlichen Möglichkeiten gemacht zu haben. Eine Gesellschaft hat ihre Kontingenz in ihr Geschick verwandelt, wenn die Angehörigen dieser Gesellschaft zu der Überzeugung kommen, daß sie an keinem anderen Ort und zu keiner Zeit lieber leben würden als hier und jetzt.«

Von der Toleranz zur Solidarität Dieses Bewußtwerden, das zur Emanzipation führt, ist freilich nicht das einzige, was auf dem Weg zur Kontingenz als Geschick geschieht. Die Emanzipation, die Kontingenz als Geschick möglich macht (eine von jenen »praktisch unendlichen Möglichkeiten«), schließt die Anerkennung ein, daß es andere Orte und andere Zeiten gibt, die mit gleicher Rechtfertigung (oder gleichem Mangel an guten Gründen) von Mitgliedern anderer Gesellschaften bevorzugt werden können, und daß die Entscheidungen, wie verschieden sie auch immer sein mögen, durch keinerlei Bezug auf irgend etwas in Frage gestellt werden können, was solider und bindender wäre als eben die Bevorzugung selbst und die Entschlossenheit, zu dem Bevorzugten zu stehen. Die Bevorzugung der eigenen, gemeinschaftlichen Lebensform muß deshalb immun gegen die Versuchung eines kulturellen Kreuzzugs sein. Emanzipation bedeutet ein Akzeptieren der eigenen Kontingenz, das auf der Anerken3 Zitiert nach Martin Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1954, S. 22. Vgl. auch Shoshona Felman, Writing and Madness, Ithaca 1985, S. 62.

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nung der Kontingenz als des hinreichenden Grundes beruht, zu leben und leben zu lassen. Sie signalisiert das Ende des Schreckens vor der Andersheit und der Abneigung gegen Ambivalenz. Wie Wahrheit ist Emanzipation nicht eine Qualität von Objekten, sondern eine Qualität der Relation zwischen ihnen. Die Beziehung, die der Akt der Emanzipation erschließt, ist markiert vom Ende der Furcht und dem Anfang der Toleranz. Das Vokabular der Kontingenz als Geschick ist zwangsläufig ein Parasit der Toleranz, um der Emanzipation zu erlauben, sich zu artikulieren. Wie Rorty überzeugend erklärt, artikuliert die Sprache der Notwendigkeit, Gewißheit und absoluten Wahrheit zwangsläufig Demütigung – Demütigung des Anderen, des Verschiedenen, dessen, der nicht der Norm entspricht. Die Sprache der Kontingenz schafft im Gegensatz dazu eine Chance, »freundlich zu sein und die Demütigung anderer zu vermeiden«.4 Aber auch »freundlich sein« ist noch nicht das Ende der Geschichte – nicht die Endstation auf dem Weg zu Emanzipation. »Freundlich sein« und die Toleranz, die dieser Ausdruck wie das Verhalten symbolisieren, kann sehr wohl Gleichgültigkeit und Desinteresse bedeuten, die auf Resignation beruhen (d.h. auf Schicksal, nicht auf Geschick): Der andere will nicht weggehen und wird nicht werden wie ich, aber andererseits habe ich ja kein Mittel (zumindest nicht im Augenblick oder in absehbarer Zukunft), ihn zu zwingen, zu gehen oder sich zu verändern. Da wir dazu verurteilt sind, Raum und Zeit zu teilen, sollten wir unser Zusammenleben erträglich und etwas weniger gefährlich machen. Dadurch, daß ich freundlich bin, lade ich zur Freundlichkeit ein. Ich hoffe, daß mein Angebot zur Reziprozität angenommen wird; eine solche Hoffnung ist meine einzige Waffe. Freundlich zu sein ist nur eine Weise, die Gefahr auf Distanz zu halten; wie der einstige Bekehrungseifer entsteht es aus Furcht. Um das emanzipatorische Potential der Kontingenz als Geschick zu entwirren, würde es nicht genügen, die Demütigung der anderen zu vermeiden. Man muß sie auch respektieren – und sie ge4 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 156.

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nau in ihrer Andersheit respektieren, in den Wahlen, die sie getroffen haben, in ihrem Recht, sich für etwas zu entscheiden. Man muß die Andersheit im anderen ehren, die Fremdheit im Fremden, indem man sich erinnert – mit Edmond Jabès –, daß »das Einzigartige universal ist«, daß das Verschiedensein bewirkt, daß wir uns ähneln, und daß ich meine eigene Differenz nur dadurch respektieren kann, daß ich die Differenz des anderen respektiere. »Der Fall des Fremden betrifft mich nicht einfach deshalb, weil ich selbst ein Fremder bin, sondern weil er ganz für sich die Probleme aufwirft, mit denen wir im Prinzip und bei unserm täglichen Umgang mit Freiheit, Pflicht und Brüderlichkeit konfrontiert sind: an erster Stelle das Problem der Gleichheit der Menschen; zweitens unsere Verantwortung für sie und für uns.«5 Meine Verbindung zu dem Fremden enthüllt sich als Verantwortung, nicht einfach als indifferente Neutralität oder selbst kognitive Anerkennung der Ähnlichkeit der Lage (und gewiß nicht durch die verächtliche Version der Toleranz: »Es geschieht ihm recht, so zu sein, soll er doch, obgleich ich mir nicht vorstellen kann, selbst so zu sein«). Sie enthüllt sich, mit anderen Worten, als Gemeinsamkeit des Geschicks, nicht als bloße Ähnlichkeit des Schicksals. Ein gemeinsames Schicksal würde auch mit wechselseitiger Toleranz auskommen; ein geteiltes Geschick erfordert Solidarität. Das Recht des anderen auf seine Fremdheit ist die einzige Art, wie sich mein eigenes Recht ausdrücken, etablieren und verteidigen kann. Mein Recht setzt sich aus dem Recht des anderen zusammen. Das »Ich bin verantwortlich für den anderen« und »Ich bin verantwortlich für mich selbst« erhalten dieselbe Bedeutung. Kontingenz aus einem Schicksal in ein Geschick zu verwandeln, bedeutet ebendies: sie beide gewählt zu haben, und sie als eine einzige Sache gewählt zu haben, eine einzige unteilbare Haltung, nicht als zwei korrelierte, aber trennbare Haltungen. Man nenne dies, wie man will: Mit-Gefühl, imaginative Identifikation, Empathie; eine Sache freilich, die man über eine solche Wahl nicht sagen 5 Vgl. Jabès, Un Étranger avec, sous le bras, un livre de petit format, S. 112–115.

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kann, ist, daß sie einer Regel oder einem Befehl folgt – sei es einem Befehl der Vernunft, einer Regel, die durch wahrheitssuchendes Wissen empirisch bestätigt wird, einem Gebot Gottes oder einer Rechtsvorschrift. Tatsächlich kann man über die Ursache dieser Wahl überhaupt nicht viel sagen. Die neue Solidarität des Kontingenten ist im Schweigen gegründet. Ihre Hoffnungen liegen darin, bestimmte Fragen nicht zu stellen und bestimmte Antworten nicht zu suchen; sie begnügt sich mit ihrer eigenen Kontingenz und will nicht auf den Status der Wahrheit, Notwendigkeit oder Gewißheit emporgehoben werden, da sie nur allzugut weiß (oder eher, intuitiv fühlt), daß sie diese Beförderung nicht überleben würde. Solidarität findet zu sich selbst, wenn die Sprache der Notwendigkeit – die Sprache der Entfremdung, Diskriminierung und Demütigung – außer Gebrauch gerät. Bei dem Versuch, das entscheidende Merkmal der idealen Gesellschaft – nach seiner Fassung, der idealen liberalen Gesellschaft – zu fixieren, begnügte sich Richard Rorty mit Leuten, die kein Bedürfnis verspüren würden, »die Frage ›Warum bist du ein Liberaler‹ zu beantworten«. In einer solchen Gesellschaft brauchte keine Person »eine Rechtfertigung ihres Sinnes für menschliche Solidarität, denn sie wurde nicht in dem Sprachspiel erzogen, in dem man nach Überzeugungen dieser Art fragt und Rechtfertigungen bekommt«.6 Kontingente Existenz bedeutet Existenz, die frei von Gewißheit ist – und eine Gewißheit, die an diesem unseren trostlosen Ort fehlt oder unter den Trümmern moderner Wahrheiten schwer auszugraben ist, ist die Gewißheit der Solidarität. Der Weg von der Toleranz zur Solidarität ist wie jeder andere Weg unbestimmt; er ist selbst kontingent. Und dasselbe gilt für den anderen Weg; den, der von der Toleranz zur Gleichgültigkeit und Entfremdung führt; er ist gleichermaßen kontingent, und auf diese Weise gleichermaßen plausibel. Der Zustand der Toleranz ist wesentlich und unheilbar ambivalent. Er läßt sich gleich leicht (oder gleich schwer) lo6 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 149.

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ben oder verurteilen; er kann Anlaß zu Freude und genauso zu Schmerz sein. In Kontingenz zu leben bedeutet ohne Garantie leben, mit einer provisorischen, pragmatischen, pyrrhonischen Gewißheit »bis auf weiteres« – und dies schließt die emanzipatorische Wirkung der Solidarität ein. Die Moderne könnte ihre eigene Ungewißheit als einen zeitweiligen Kummer beiseite schieben. Noch jede Ungewißheit kam mit einem Rezept für ihre Heilung daher: noch ein Problem mehr, und Probleme wurden definiert durch ihre Lösungen. (Marx betonte, daß sich Gesellschaften niemals Aufgaben stellten, bis die Mittel für ihre Lösung verfügbar waren.) Der Übergang von der Ungewißheit zur Gewißheit, von der Ambivalenz zur Transparenz schien eine Frage der Zeit, des Entschlusses, der Ressourcen, des Wissens zu sein. Es ist eine vollständig andere Sache, mit dem postmodernen Bewußtsein zu leben, daß es keinen sicheren Ausgang aus der Ungewißheit gibt, dem Bewußtsein, daß das Entkommen aus der Kontingenz ebenso kontingent ist wie die Lage, aus der das Entkommen gesucht wird. Das Unbehagen, das eine solche Gewißheit mit sich führt, ist die Quelle der spezifisch modernen Unzufriedenheiten: Unzufriedenheit mit der Lage, die mit Ambivalenz belastet ist, mit der Kontingenz, die sich weigert zu verschwinden, und mit den Überbringern der Botschaft – denjenigen, die versuchen, das, was neu ist und was aller Wahrscheinlichkeit nach niemals wieder in den alten Zustand zurückkehren wird, zu entziffern und zu artikulieren; denjenigen, die, um noch einmal Agnes Hellers Termini zu verwenden, dazu aufrufen, das Schicksal in das Geschick umzuwandeln. Was die Empfänger der Nachrichten so schwer zu akzeptieren finden, ist, daß alles, wozu sie sich entschließen, des Trostes entbehren würde, die Wahrheit oder die Gesetze der Geschichte oder das unzweideutige Urteil der Vernunft auf ihrer Seite zu haben. Tatsächlich würde jeder, der nach praktischem Erfolg sucht, wenig aus einer Einsicht in die postmoderne Lage gewinnen. Es kann nicht bestritten werden, daß das Wissen um diese Lage nach den Maßstäben, die das moderne Wissen (oder das Versprechen, das 373

das Wissen gegeben und zur Grundlage seiner erhabenen sozialen Stellung gemacht hat) setzt, schmählich versagt. Ein Bewußtsein der Kontingenz macht nicht stark: Wer es erlangt, gewinnt dadurch keinerlei Vorteil gegenüber den Protagonisten im Kampf der Willen und Absichten oder im Spiel der List und des Glücks. Es führt nicht zur Herrschaft und bewahrt sie auch nicht. Im Gegenzug hilft es auch nicht beim Kampf gegen Herrschaft. Es ist, grob gesagt, den gegenwärtigen oder den zukünftigen Strukturen der Herrschaft gegenüber indifferent. Wer immer auf Herrschaft aus ist – auf gegenwärtige oder zukünftige (oder wer immer sich gerade dazu veranlaßt sieht, die Qualität des Wissens nach der Macht zu bewerten, Dinge zu tun, die es zu liefern oder respektabel zu machen verspricht), muß durch die sanfte Weigerung jenes Wissens, jedwedem Anspruch auf Überlegenheit Geltung zu verleihen, in Wut versetzt werden. Gleichermaßen wütend muß der sein, der wünscht, die bestehende Herrschaft abzuschaffen. Und doch ist es nur eine Frage der Perspektive, ob ein Charakterzug als Gebrechen oder als Zeichen der Gesundheit, als Laster oder als Tugend angesehen wird. Die Zerschlagung der Hoffnung auf Macht durch Wissen läuft auf die emphatische Verwerfung und Widerlegung des Machtkampfes hinaus, der auf die letzte Beherrschung abzielt. Sie läuft auch auf die Förderung von Koexistenz hinaus; die einzige Lage, deren Stabilität, ja, Permanenz sie zuläßt. Das Bewußtsein der postmodernen Lage enthüllt Toleranz als Schicksal. Es macht auch den langen Weg vom Schicksal zum Geschick, von der Toleranz zur Solidarität möglich – ich betone: nur möglich.

»Der Exorzist« und »Das Omen« oder Moderne und postmoderne Grenzen des Wissens Wissensansprüche können auf zweierlei Arten in Frage gestellt werden. Man kann nachweisen, daß es Ereignisse gibt, für die die Art des bislang bestehenden Wissens (Wissen, das seine Unter374

stützung aus den Gebieten erhalten hat, die Fachleute für vernünftig und glaubwürdig halten) keine überzeugende, akzeptierte Erzählung kennt; Ereignisse, die sich nicht in eine Geschichte zusammenfügen lassen, die Männer der Wissenschaft als ihre eigene Geschichte anerkennen würden. Oder man kann sagen, daß die Erzählung, die das Wissen anbietet, nicht die einzige Geschichte ist, die von den Ereignissen erzählt werden kann; nicht einmal die beste Geschichte oder zumindest nicht die einzige, die das Recht in Anspruch nehmen kann, als »besser überprüft« angesehen zu werden. Die erste Art Zweifel ist modern; die zweite ist postmodern. Damit ist keine chronologische Abfolge gemeint. Beide Arten des Zweifels gab es solange wie die Wissenschaft selbst. Ihr gleichzeitiges Vorhandensein war einer der konstitutiven Züge jener modernen Kultur, die die Moderne auf ihrem Weg zur Postmoderne angetrieben hat. Den beiden Zweifeln ist in zwei Romanen auf sehr populäre ( populistische?) Art und Weise literarisch Gestalt verliehen worden – beides riesige Kassenerfolge sowohl als Buch wie als Film.7 Sie können uns gut als Gleichnisse für die beiden Zweifel dienen, die unausgesprochen, aber unermüdlich das moderne Selbstvertrauen unterminiert und am Ende zum Einsturz gebracht haben. Pater Damien Karras aus William Peter Blattys Roman Der Exorzist wurde erst zum Exorzisten, nachdem alle psychiatrischen Routinetätigkeiten, seine eigenen wie die seiner professionellen Kollegen, die auf den eindrucksvollsten, untadeligsten, gelehrtesten und modernsten therapeutischen Fertigkeiten und Fachkenntnissen beruhten, gescheitert waren. Karras war, könnte man sagen, der Inbegriff eines Psychiaters. Träger der angesehensten wissenschaftlichen Beglaubigungen, Zögling der berühmtesten professionellen Schulen, universal anerkannter Praktiker mit einem langen Verzeichnis spektakulärer therapeutischer Erfolge, Theoretiker, ausgestattet mit einem wahrhaft enzyklopädischen 7 Vgl. William Peter Blatty, Der Exorzist, Berlin 1989; David Seltzer, The Omen, London 1976.

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Wissen vom Besten, was die wissenschaftliche Psychiatrie bieten konnte, Empfänger der berühmtesten Auszeichnungen, die seine Zunft verleihen konnte – war er die verkörperte wissenschaftliche Autorität. Daß man ihn in Regans Fall hinzuzog, war die letzte Zuflucht und letzte Hoffnung der psychiatrischen Wissenschaft und Praxis: Alle seine berühmten Kollegen, einer nach dem anderen und alle zusammen, versuchten sich an dem Fall, taten ihr Bestes und scheiterten; die modernste therapeutische Technologie erwies sich als ungenügend. Karras’ eigene Tätigkeiten – ebenso wie seine Rechenschaftsberichte über seine Tätigkeiten – hielten sich strikt im Rahmen des kollektiv gehüteten wissenschaftlichen Idioms; sie waren sorgfältig darauf bedacht, alles erneut zu formulieren, wieder zu bestätigen und zu verstärken, was die Zunft glaubte und das Publikum glauben sollte. Karras war kein Hexendoktor oder Naturheiler, jene Agenten der dunklen und barbarischen Kräfte, die sich der modernen Wissenschaft mit der Absicht entgegenstellen, sie zu zerstören; wie seine gelehrten Kollegen, die sich an ihn um Hilfe wandten, war Karras ein Träger des modernen Intellekts, der sich geschworen hatte, die letzte Spur von Aberglauben auszulöschen. Bis zum letzten Augenblick – als ihm das letzte Mysterium schon ins Gesicht starrt – behauptet Karras verbissen das unbestrittene Recht der wissenschaftlichen Vernunft, das Beweismaterial zu erzählen, die einzig akzeptable Version der Geschichte zu liefern – und stößt die Versuchung des Laien zurück, Interpretationen nachzugeben, die die Wissenschaft ablehnt. Als die Mutter der unglücklichen Regan sich in äußerster Verzweiflung an Karras wendet (ihre »sommersprossigen Hände, die ineinander verkrampft in ihrem Schoß lagen, zuckten nervös«) – »ich bin mir gar nicht mehr sicher … Was meinen Sie, Pater Karras?« –, ist Karras’ Antwort der Professionalismus selbst: »Zwangsverhalten, möglicherweise durch Schuldgefühle hervorgerufen, gekoppelt mit Persönlichkeitsspaltung.« »›Pater, den Unsinn kenne ich nun schon zur Genüge! Wie können Sie mir nach allem, was Sie gesehen haben, noch damit kommen?‹

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›Das kann man sehr einfach, wenn man in den Abteilungen für Geisteskranke so viele Patienten gesehen hat wie ich‹, entgegnete er … ›Dann geben Sie mir eine Erklärung für all diese Klopfgeräusche und so!‹ … ›Psychokinese.‹ ›Was?‹ … ›Ein derartiges Phänomen ist keineswegs ungewöhnlich. Es tritt zumeist in der Umgebung von emotionell gestörten Pubertierenden auf. Anscheinend setzt eine extreme innere Spannung bisweilen unbekannte Kräfte frei, durch die aus der Ferne Gegenstände bewegt werden können. Daran ist durchaus nichts Übernatürliches. Denken Sie zum Beispiel an Regans außergewöhnliche Kraft – in der Pathologie etwas ebenso Alltägliches. Wenn Sie so wollen, nennen Sie es die Herrschaft des Geistes über die Materie.‹ ›Ich nenne es unheimlich.‹ … ›Die beste Erklärung für ein Phänomen‹, unterbrach Karras sie, ›ist stets diejenige, die am einfachsten ist und gleichzeitig alle Fakten erklärt.‹« (S. 165f.)

Und so weiter. Karras will keinen Zentimeter nachgeben: Phänomene sind erklärbar, Erklärungen sind verfügbar, aus diesem Grunde ist es nicht unerklärlich, daß eine Energie unbekannt ist (zumindest bislang). Jemand, der viel Zeit in Kliniken verbracht hat, wo Dinge gesehen werden, die ein Laie niemals erblicken würde, weiß das. (Du sollst dem Experten vertrauen; er hat Dinge gesehen, die du niemals sehen würdest.) Und – als das letzte Argument, die letzte Gewißheit – dies ist gewöhnlich (statistisch häufig; es passiert auch anderen). Und es hat einen Namen: einen respektablen wissenschaftlichen Namen, wie »emotionell gestörter Pubertierender« oder »Psychokinese«. Der Laie, besonders jemand, der, wie Regans Mutter, wiederholt von gelehrtem Rat enttäuscht und durch dessen praktische Ohnmacht zur Verzweiflung getrieben worden ist, sträubt sich vielleicht, Trost aus dem zu ziehen, was jetzt leere Versprechungen der Vernunft zu sein scheinen. Tatsächlich starrte Regans Mutter ihn fassungslos an. »›Pater, das ist so unvorstellbar, daß es mir beinahe leichter fällt, an den Teufel zu glauben‹ … Endlose Sekunden lang blieb der Priester stumm. Dann antwortete er sehr leise: ›Wissen 377

Sie, es gibt auf dieser Welt nur wenig, was ich mit Sicherheit weiß.‹« Regans Mutter schlägt eine andere Lehre vor, eine andere Orthodoxie, einen anderen Erklärungsschlüssel; Karras antwortet mit Demut. Vorsichtige Bescheidenheit, weise Selbstbeschränkung für den Wissenschaftler, Skepsis im Anblick des noch nicht Bekannten ist seine letzte Verteidigungslinie gegen die einzig wirkliche Gefahr: eine Alternative zur Wissenschaft, ein legitimes Mittel, das seine Legitimation nicht von der wissenschaftlichen Autorität herleitet. Als er sich endlich entschließt, das Unbekannte zu betreten (ein Schritt, der vielleicht durch die Tatsache einfacher gemacht wird, daß er, anders als seine Kollegen, aber wie seine Patientin Regan, selbst eine gespaltene Persönlichkeit hat – er ist schließlich ebensosehr ein ergebener Priester wie ein gelehrter Psychiater), vergewissert sich Karras, daß die Prärogativen der Wissenschaft nicht verletzt werden: »Wenn ich zur Kanzlei gehen muß, oder wo immer ich sonst vorsprechen muß, um mir die Erlaubnis für einen Exorzismus zu holen, muß ich zuallererst ein paar recht eindeutige Anhaltspunkte für die Vermutung vorlegen, daß der Zustand Ihrer Tochter nicht nur auf rein psychiatrischen Problemen beruht.« David Seltzers Das Omen vermittelt eine gänzlich andere Botschaft. Es spricht das Unaussprechliche aus: Vielleicht sind die Prärogativen der Wissenschaft selbst ein Betrug – nichts als ein bequemes Versteck für den Teufel? Ist das »Gewöhnliche«, durch ebendie Tatsache, gewöhnlich zu sein, hinreichend erklärbar? Sind die Erklärungen, die die Wissenschaft zusammen mit dem wissenschaftlich zensierten und gebilligten common sense anzubieten haben, wirklich »die einfachsten«, die man zur Verfügung hat? Steht nicht die vielgerühmte »Einfachheit« bloß für die Befriedigung der wissenschaftlichen Autorität? Eignen sich nicht die Dinge, gewöhnliche und ungewöhnliche gleichermaßen, für andere, alternative, heteronome Beschreibungen? Und wenn, wie soll man zwischen den Geschichten entscheiden? Und wie werden die Entscheidungen in der Praxis von denjenigen getroffen, die sie für uns treffen? Das Omen enthält eine einzelne Reihe von Ereignissen, aber zwei Erzählungen. Eine ist die allgemeine und gewöhnliche, die deshalb 378

keinerlei Erstaunen erregt: die Art von Geschichte, die von den Experten und ihren journalistischen Popularisatoren immer wieder erzählt worden ist und auf diese Weise von der Welt, über die sie erzählt, ununterscheidbar wird. Die andere ist die Art von Geschichte, von der der glücklose Held des Buches, der brillante und gelehrte Intellektuelle Thorn, nur vermuten – fürchten – konnte, daß sie »seine Einbildung« sei; und (wie jeder andere gutinformierte und zivilisierte Mensch es bestimmt tun würde) sie als einen guten Grund ansehen würde, »zum Psychiater zu gehen«. Eine ist die gutbekannte Geschichte, die vom Chor der Politiker, Journalisten und Sozialwissenschaftler ad nauseam wiederholt worden ist, die Geschichte von menschlichen und staatlichen Interessen, politischen Programmen, nicht ganz ausgemerzten irrationalen Gefühlen. Die andere? »Die Hexerversammlung bestand zum größten Teil aus Leuten, die aus der Arbeiterklasse stammten, aber einige waren professionelle, hochstehende Männer. Nach außen hin führten sie alle ein respektables Leben – dies war ihre wertvollste Waffe gegen die Anbeter Gottes. Es war ihre Mission, Furcht und Aufruhr zu erzeugen, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen, bis die Zeit des Unheiligen gekommen wäre; eine kleine Gruppe, die Eingreiftruppe genannt wurde, pflegte Streifzüge zu unternehmen, um wo immer möglich Chaos zu stiften. Die Gruppe in Rom stand in dem Ruf, für einen großen Teil des Aufruhrs in Irland verantwortlich zu sein, indem sie willkürliche Sabotageakte verübte, um die Katholiken von den Protestanten zu polarisieren und die Feuer des religiösen Kriegs anzufachen … [Im Jahre 1968] wurde Tassone von Spiletto nach Südostasien geschickt, wo er eine kleine Bande von Söldnern im kommunistischen Kambodscha organisierte, die über die Grenze nach Süd-Vietnam gehen und den Waffenstillstand brechen sollten. Der Norden beschuldigte den Süden, der Süden den Norden, und innerhalb weniger Tage nach Tassones Ankunft war der schwer gewonnene Friede des Landes erschüttert … Spiletto, der von der Kenntnis, die Tassone von dem Land besaß, wußte, sandte Tassone, um bei der Revolution zu helfen, die schließlich Idi Amin, den verrückten afrikanischen Despoten, an die Macht brachte …«

Und so weiter. Von der zweiten Geschichte »wußten nur sie«. »Niemand anders hatte jemals einen Hinweis erhalten.« Einmal erzählt, 379

würde ihre Geschichte ebensoviele Erklärungen – nicht mehr und nicht weniger – für Terrorismus, sinnloses Töten, grundlose Feindseligkeiten, Bürgerkriege, Massenmorde und verrückte Despoten bieten, wie alle die Geschichten, die offiziell ihre Vernünftigkeit verbürgten. Das Problem war freilich, daß diese andere, apokryphe Geschichte niemals erzählt worden war; d.h. nicht öffentlich. Alle, die die Dinge, wie sie von dieser Geschichte erzählt wurden, gesehen hatten, waren tot; der einzige überlebende Zeuge, Thorn selbst, war – natürlich – in einem Heim für Geisteskranke. Die Welt fand es leichter (und beruhigender) anzunehmen, daß Thorns von keinem geteilte Überzeugungen Symptome einer seelischen Störung seien, als die Möglichkeit zu akzeptieren, daß die eigene Wahrheit der Welt vielleicht nur eine von vielen gewesen sein könnte, daß es zu jeder Deutung, wie einhellig sie auch immer vertreten wurde, eine Alternative geben könnte. Mord, Gefängnis, das Urteil des Wahnsinns waren die letzten Verteidigungslinien der Weltwahrheit. Vielleicht die einzigen wirksamen Verteidigungslinien. Die meisten von uns würden leicht zugeben, daß die Erklärungen, die Seltzer Thorn denken und aussprechen läßt, lächerlich oder einfach nur verrückt sind. Um so schlagender ist das, was er deutlich machen will – daß sich die herrschende Wahrheit, ohne Zuflucht zu Gewalt und Unterdrückung, allein mit den Waffen der Logik, den Kanons der Induktion, den Regeln des Tatsachensammelns und all den anderen Hilfsmitteln, die doch angeblich genügen sollen, ihre überlegene Qualität und infolgedessen ihre privilegierte Stellung zu garantieren, nicht selbst schützen kann. (Man beachte, daß es nur Thorns Geschichte ist, die fraglos verrückt klingt; die Vermutung, daß wir von ihrem Wahnsinn nicht so überzeugt wären, wenn nicht das stützende Beweismaterial unterdrückt würde, klingt keineswegs so.) Für jede Ereignissequenz gibt es mehr als eine nachprüfbare Deutung. Die Wahl ist letztlich eine politische Angelegenheit … Und also gibt es zwei Zweifel. Die erste Art Zweifel untergräbt nicht die Autorität der Wissenschaft. Ganz im Gegenteil: Da380

durch, daß dieser Zweifel das Ideal der Wahrheit in das »imaginäre Ziel« der wissensproduzierenden Tätigkeiten transformiert, in den Horizont des Territoriums, das jetzt durchquert wird (ein Horizont, der ständig zurückweicht und sich auf ewig entzieht und daher immer außerhalb der Reichweite der praktischen Überprüfung ist) – schützt er die Autorität der Wissenschaft wirksam vor Diskreditierung. Tatsächlich macht er Wissen als solches (auf Kosten praktisch sämtlicher Beispiele) immun gegen den Zweifel. Er sorgt dafür, daß dem Schicksal niemals irgendwelche Geiseln gegeben werden und daß im Spiel des Wissens der Wert des Spieles niemals auf dem Spiel steht. Er garantiert die Unsterblichkeit des Wissens als eines wahrheitgewinnenden Unternehmens, indem er es unabhängig von den Wechselfällen jeder spezifischen Wahrheit macht, die er erzeugt. Er erlaubt dem Unternehmen, unvermindert weiterzumachen, während es nachweislich scheitert: Er transformiert genau sein Scheitern in die Triebfeder – das Motiv und die Legitimierung – seiner fortdauernden Kraft. Offensichtlich stellt dieser Zweifel die Finalität jeder sukzessiven Verkörperung des Wahrheitsideals in Frage. Etwas verstohlener, gleichwohl wichtiger, schmälert er die Signifikanz jedes spezifischen Falles von Unwissenheit. Er temporalisiert die Unwissenheit – und so entwaffnet er die Ungewißheit und Ambiguität, die die Unwissenheit in ihrem Kielwasser mit sich führt. Statt das Handeln zu lähmen, veranlaßt die Unwissenheit zu mehr Anstrengung und kurbelt den Eifer und die Entschlossenheit der Akteure an. Unwissenheit ist ein noch nicht erobertes Gebiet; gerade ihr Dasein stellt eine Herausforderung dar und das entscheidende Argument jeder Aufmunterung, die zur Unterstützung für den nächsten Angriff in der unendlichen, dennoch immer vom letztlichen Sieg überzeugten Offensive der Vernunft aufruft. Sie erlaubt der Wissenschaft, glaubwürdig ihre Entschlossenheit zu erklären, sich selbst um ihren Beruf zu bringen, während sie ständig den Moment abwehrt, wo sie danach gefragt werden könnte, ihr Versprechen einzulösen: Es gibt immer eine Aufgabe, die zu erledigen ist, und die Unwissenheit zu bekämpfen ist so eine Aufgabe. Die erste 381

Art von Zweifel spannt deshalb die Unwissenheit vor den Wagen der Wissenschaft. Von vornherein wird die Unwissenheit als ein weiteres Ruhmesblatt, mit dem sich die Wissenschaft schmücken kann, bestimmt. Ihr Widerstand ist einzig wegen der Tatsache von Bedeutung, daß er gebrochen werden wird. Die von ihr ausgehende Gefahr ist etwas weniger erschreckend, da sie notwendig gebannt werden wird – bald. Die Ungewißheit und Ambivalenz, die von der Unwissenheit genährt werden, sind nur eine Gelegenheit für einen weiteren Beweis der Macht der Vernunft, und auf diese Weise erzeugen sie letztlich Beruhigung. Die zweite Art des Zweifels ist alles andere als harmlos. Er trifft, wo es am meisten schmerzt: Er untergrabt das Vertrauen, daß das, was zu einer gegebenen Zeit von der Wissenschaft gesagt wird, das Beste sei, was man zu dieser Zeit sagen könne. Er stellt das Allerheiligste in Frage – den Glauben an die Überlegenheit des wissenschaftlichen über jedes andere Wissen. Aus dem gleichen Grunde stellt er das Recht der Wissenschaft in Frage, für gültig und für ungültig zu erklären, zu legitimieren und zu delegitimieren – die Linie zwischen Wissen und Unwissenheit, Transparenz und Undurchsichtigkeit, Logik und Widersinnigkeit zu ziehen. Indirekt macht er die häretischste aller Häresien denkbar: daß die Wissenschaft, statt ein tapferer Ritter zu sein, der sich aufmacht, die vielen Köpfe des Drachen Aberglaube einen nach dem anderen abzuschlagen, selbst nur eine Geschichte unter anderen ist, selbst nur ein Vorurteil unter vielen zu Hilfe ruft. Die zweite Art des Zweifels hörte keinen Augenblick lang auf, die moderne Mentalität zu beunruhigen. Von Anfang an war sie tief ins Innerste der Moderne eingegraben: Die Furcht vor der »Unbegründetheit« der Gewißheit war wohl der fürchterlichste unter den vielen inneren Dämonen der Moderne. Viele Male trieb dieser Zweifel das Projekt der Moderne in die Defensive. Selbst wenn er eine Zeitlang in die Vorhölle des Unbewußten gedrängt wurde, vergiftete er weiterhin die Freude der siegreichen Angreifer. Anders als die erste Art des Zweifels, die als angemessen und nützlich empfunden und deshalb von der Öffentlichkeit hingerissen 382

akzeptiert wurde, wurde die zweite Art mit uneingeschränkter und unnachgiebiger Feindseligkeit behandelt: Sie war zur totalen und unwiderruflichen Zerstörung freigegeben. Sie stand für all das, von dem die transparente und harmonische Welt, die die Wissenschaft errichten sollte, gereinigt werden mußte: Unvernunft, Verrücktheit, Undurchschaubarkeit, Unentscheidbarkeit. Wie alle Zweifel war auch dieser schöpferisch: Er beanspruchte die menschliche Einbildungskraft aufs äußerste und erzeugte Apparate, die so verschieden waren, wie z.B. Descartes’ cogito, Husserls transzendentale Reduktion, Poppers Prinzip der Widerlegung, Webers rationale Konstruktionen, oder die immer erfinderischeren Forschungsmethoden, die – wie das Swiftsche Rad in der Akademie von Lagado – jedem gesunden Menschen erlauben sollten, das gesunde Korn der Wahrheit aus der Spreu des Irrtums herauszudreschen. Von Descartes’ malin génie bis zu Husserls heroischem Akt der epocbé ging der Krieg gegen die Ungewißheit und Ambiguität des Beweismaterials unvermindert weiter – das lebendigste Zeugnis, wenn eines nötig war, für die universale und dauernde Gegenwart des Zweifels. Das Vorhandensein der zweiten Art des Zweifels – und sein Vorhandensein als Zweifel, als ein Glaube, der geeignet war, die Entschlußkraft, die für den Erfolg des Projekts benötigt wurde, zu schwächen – war das Unterscheidungsmerkmal der modernen Mentalität. Das Verschwinden jenes Zweifels als Zweifel (d.h. die Beibehaltung des Glaubens, aber die Entschärfung seines früheren korrosiven Einflusses) bezeichnet am lebendigsten den Übergang der Moderne in ihr postmodernes Stadium. Die Moderne erreicht diese neue Stufe (die so scharf unterschieden ist, daß man jedesmal wieder versucht ist, sie einer ganz anderen Epoche zuzuweisen, sie in einem typisch modernen Stil als eine reine und einfache Negation der Moderne zu beschreiben), sobald sie fähig ist, der Tatsache ins Auge zu sehen, daß die Wissenschaft, nach allem, was man weiß und wissen kann, eine unter vielen Geschichten ist. »Ins Auge sehen« bedeutet zu akzeptieren, daß es keine Gewißheit geben kann, und trotzdem auf der Verfolgung des Wissens zu beharren, 383

die aus der Entschlossenheit stammt, die Kontingenz zu ersticken und auszujäten. Die Behandlung der ersten Art des Zweifels als eines zeitweiligen Ärgernisses, als eines Reizmittels mit einer begrenzten Lebenserwartung, das früher oder später tot und begraben sein würde, war ein weiteres Unterscheidungsmerkmal der modernen Mentalität. Es war ein Axiom jener Mentalität, der zufolge, gäbe es tausend potentielle Gegenstände des Wissens, die bislang noch nicht entdeckt wären, die Entdeckung von einem von ihnen neunhundertneunundneunzig unentdeckt zurücklassen würde. Das Aufgeben dieses Axioms kennzeichnet den Übergang der Moderne in das postmoderne Stadium. Die Moderne erreicht dieses neue Stadium, wenn sie fähig wird, der Tatsache ins Auge zu sehen, daß das Wachstum des Wissens das Feld der Unwissenheit vergrößert, daß mit jedem Schritt zum Horizont neue, unbekannte Landschaften erscheinen und daß, um es ganz allgemein auszudrücken, der Erwerb von Wissen sich in keiner anderen Form ausdrücken kann als im Bewußtsein von mehr Unwissenheit. Dieser Tatsache »ins Auge zu sehen« bedeutet zu wissen, daß die Reise kein klares Ziel hat – und trotzdem die Reise fortzusetzen. Es gibt ein weiteres Merkmal des Übergangs der Moderne in ihr postmodernes Stadium: daß die beiden früher getrennten Zweifel ihre Verschiedenheit verlieren, semantisch ununterscheidbar werden, miteinander verschmelzen. Die beiden Grenzen des Wissens erscheinen als Artefakte der modernen zerlegenden Perspektive: ihre angebliche Getrenntheit als eine Projektion des jetzt aufgegebenen Entwurfs. An Stelle der beiden Grenzen und der beiden Zweifel gibt es ein unbesorgtes Bewußtsein, daß es viele Geschichten gibt, die immer wieder erzählt werden müssen, wobei sie jedesmal etwas verlieren und den vergangenen Versionen etwas hinzufügen. Es gibt ebenfalls eine neue Entschlossenheit: die Bedingungen zu bewahren, unter denen alle Geschichten erzählt und wiedererzählt und wieder anders erzählt werden können. Die Hoffnung ruht jetzt auf ihrer Pluralität und nicht auf dem »Überleben des am besten Angepaßten« (d.h. dem Aussterben der we384

niger Angepaßten). Richard Rorty spitzte dieses neue – postmoderne – Projekt auf die Formel zu: »Wichtig ist die Überzeugung, daß die Wahrheit und das Gute für sich selbst Sorge tragen werden, wenn wir nur für politische Freiheit sorgen.«8 Allzuoft endete das Bemühen um die Wahrheit und das Gute mit dem Verlust politischer Freiheit. Und viel Wahrheit und viel Gutes ist dadurch auch nicht entstanden. Im Unterschied zu Wissenschaft und politischer Ideologie verspricht Freiheit keine Gewißheit und keine Garantie für irgend etwas. Sie verursacht deshalb ein großes Maß an seelischem Schmerz. In der Praxis bedeutet sie stetes Ausgeliefertsein an die Ambivalenz: d.h. eine Situation ohne entscheidbare Lösung, ohne narrensichere Wahl, ohne unreflektiertes Wissen, »wie man weitermachen soll«. Wie Hans Magnus Enzensberger kürzlich bemerkte, »kann man keine nette Demokratie haben. Demokratie ist etwas, was einem schon recht auf die Nerven fallen kann – man wird die ganze Zeit von den schädlichsten Dingen zerschmettert. Es ist wie eine Freudsche Analyse. In der Demokratie kommt aller Schmutz raus.«9 Das wirkliche Problem des postmodernen Stadiums ist, den Dingen nicht zu gestatten, »einem auf die Nerven zu gehen«, während man hofft, daß sie einem nicht auf den Rücken springen. In Ermangelung der eisernen Faust der Moderne braucht die Postmoderne Nerven aus Stahl.

Neotribalismus oder Die Suche nach Schutz Nerven aus Stahl sind die Eigenschaft, deren ein kontingentes Wesen, das sich seiner eigenen Kontingenz bewußt ist, am meisten bedarf. Eine Idee zu hegen, die von keinem anderen geteilt wird, ist eine Kühnheit, die schmeichelhaft und erfreulich ist, aber allzu8 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 144. 9 Hans Magnus Enzensberger, »Back in the URSS«, in: New Statesman and Society, 10. Nov. 1989, S. 29.

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nah an Verrücktheit heranreicht, als daß man sich dabei sehr wohl fühlen könnte. Eine gemeinsame Idee dagegen verspricht Schutz: eine Gemeinschaft, eine ideologische Bruderschaft, Brüderlichkeit des Geschicks oder der Mission. Die Versuchung zu teilen ist überwältigend. Auf die Dauer kann man ihr schwer widerstehen. Sie kann sich in einer Kapitulation ausdrücken; oder sie kann sich in Aggression ausdrücken. Man kann, Hobbes’ oder Freuds Rat folgend, einen Teil seiner Freiheit fröhlich oder mit Bedauern im Tausch gegen eine partielle Sicherheit aufgeben (obgleich dies nicht notwendig die Art Sicherheit ist, die Hobbes oder Freud vor Augen hatten). Oder man kann sich daranmachen, eine Gemeinschaft ab nihilo zu schaffen oder eher, sie aus den dünnen Fäden der eigenen Wahl zu weben – indem man sich auf den Versuch einer Bekehrung einläßt. Die beiden Ausdrucksformen sind einander nicht so entgegengesetzt, wie es scheint: Dies ist genau das, was Adorno und Horkheimer nachgewiesen haben. Ob sie die Wege untersuchten, die von den Upanischaden zu den Veden führten, von den Kynikern zu den Sophisten, von Johannes dem Täufer zu Paulus – in jedem Falle fanden sie heraus, daß der Drang zur Herrschaft immer die Kapitulation der Reinheit der Absichten und den Verlust genau der Idee verlangte, um derentwillen die Herrschaft gesucht wurde. »Eine Person, die sich allein unter der Kategorie der Differenz gesucht hat«, schreibt Agnes Heller10, »bemerkt vielleicht nicht einmal, daß ihre Wahl gar nicht stattfand. Während sie in den Augen der anderen eine komische Figur abgibt, ist sie nicht einmal unglücklich, sondern lebt und stirbt statt dessen in der Überzeugung, daß sie in der Sache, die sie gewählt hat (der Sache, der Berufung oder einer bestimmten Person), gut war, während die anderen einfach Dummköpfe waren.« Wie wir wissen, gilt die Überzeugung, daß »die anderen« (alle anderen) Dummköpfe sind, allgemein als das am wenigsten mißverständliche Symptom des Wahnsinns. Für 10 Agnes Heller, »The Contingent Person and the Existential Choice«, in: The Philosophical Forum, Herbst/Winter 1989, S. 53–69.

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die Kollektivität, die sich ihrer Kollektivität bewußt ist, ist eine einsame Ablehnung der sozialen Regel (im Unterschied zu einer gemeinsamen, die Dissens oder Revolution genannt wird) ein Akt, der einzig auf einer Abweichung beruht, ein Akt, der die Unfähigkeit zum Handeln bezeugt (d.h. aus dem Rahmen der sozial akzeptierten Definition des Handelns fällt). Nun schließt das Bewußtsein, daß dies der Fall sein kann, ein für allemal die Möglichkeit aus, daß die Person glücklich ist, die den Wunsch hat, einen guten Gebrauch von ihrer Kontingenz zu machen (ihr Schicksal in ihr Geschick zu verwandeln). Das ist der Grund, weshalb man so wenige glückliche Menschen unter denkenden Männern und Frauen findet – gefangen wie sie sind zwischen dem Wunsch nach Authentizität und der Angst vor Wahnsinn, der immer auf dem Grund der einsamen Selbstbestätigung lauert. Das Glück der Gedankenlosen verwandelt die Kontingenz leicht in den Alptraum der Gedankenvollen. Dieser Gefahr bewußt (es ist dieses Bewußtsein, das sich in der Anerkennung der Autorität überindividueller Maßstäbe zeigt), weiß die kontingente Person, »daß sie auf einem Seil über einem Abgrund balanciert und deshalb einen guten Gleichgewichtssinn braucht, gute Reflexe, ungeheures Glück und das wichtigste von allem: ein Netz von Freunden, die sie bei der Hand halten können«. Kontingenz bedarf der Freundschaft als einer Alternative zur Irrenanstalt. Sie bedarf ihrer, wie der Besessene eines ordnungsgemäß durchgeführten Exorzismus und ein Neurotiker einer wissenschaftlich gebilligten Psychotherapie bedarf. (Sie bedürfen ihrer jeweiligen Heilmittel als eines Schutzes vor ihren inneren Dämonen; nicht als einer Flucht, sondern als eines modus vivendi; nicht um ihrer ledig zu werden, sondern um sie zu akzeptieren und sie auf diese Weise zu zähmen und zu domestizieren, so daß man mit ihnen in Frieden zusammenleben kann.) Dies ähnelt dem gegenwärtigen Trend, seelisch kranke Patienten aus den institutionell verschlossenen Pseudowelten »zurück in die Gemeinschaft« zu entlassen. Wird nicht die Gemeinschaft jetzt als eine Gruppentherapie für uns alle aufgefaßt – und hofft man nicht, daß sie auch so wirkt? Für 387

uns, belastet wie wir sind mit Kontingenz, die nur entgiftet, nicht ausgerottet werden kann, und die uns niemals erlauben würde, von jenem straff gespannten Seil herabzusteigen, das sich über den Abgrund der einsamen Verzweiflung spannt? Kein Wunder, daß die Postmoderne, das Zeitalter der Kontingenz für sich, der selbstbewußten Kontingenz, auch das Zeitalter der Gemeinschaft ist: der Lust auf Gemeinschaft, der Suche nach Gemeinschaft, der Erfindung der Gemeinschaft, der Imaginierung der Gemeinschaft. »Der Alptraum unseres Zeitgenossen«, schreibt Manning Nash, »ist, entwurzelt zu sein, ohne Papiere, staatenlos, allein, entfremdet und dem Geschick preisgegeben in einer Welt organisierter Anderer«11; mit anderen Worten, daß einem die Identität von denen verweigert wird, die, als die anderen (d.h. verschieden von uns selbst), aus der Entfernung immer »organisiert« und ihrer eigenen Identität gewiß zu sein scheinen. Nash befaßt sich zwar nur mit einer einzigen Art Reaktion auf diese Furcht, nämlich der auf der ethnischen Gruppenzugehörigkeit basierenden, aber diese Reaktion kann als ein Muster für alle anderen stehen: »Die Identitätsdimension der Ethnizität (welches auch immer ihre tiefenpsychologischen Wurzeln sein mögen) beruht auf der Tatsache, daß Mitglieder der ethnischen Gruppen auf eine Weise für ›menschlich‹ und vertrauenswürdig gehalten werden, wie das für Außenseiter nicht gilt. Die ethnische Gruppe stellt ein Refugium gegen eine feindselige, lieblose Welt dar.« Die Gemeinschaft – ethnisch, religiös, politisch oder sonstwie – wird als die unheimliche Mischung aus Differenz und Kumpanei gedacht, als eine Einmaligkeit, für die man nicht mit Einsamkeit zahlen muß, als eine Kontingenz mit Wurzeln, als Freiheit mit Sicherheit; ihr Bild, ihre Verlockung sind ebenso widersinnig wie jene Welt der universalen Ambivalenz, aus der sie – hofft man – eine Zuflucht bietet. Der wirkliche Grund für die universale (obgleich im großen und ganzen unerwiderte) Liebe zur Gemeinschaft wird selten analysiert. 11 Manning Nash, The Cauldron of Ethnicity in the Modern World, Chicago 1989, S. 128f.

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Er verrät sich manchmal unbeabsichtigt, wie in einer neueren Äußerung von Chantal Mouffe: »Es ist immer möglich, zwischen gerecht und ungerecht zu unterscheiden, dem Legitimen und dem Illegitimen, aber dies kann nur von innerhalb einer gegebenen Tradition aus getan werden […] Tatsächlich gibt es keinen Gesichtspunkt, der aller Tradition äußerlich ist, von dem aus man ein universales Urteil abgeben kann.«12 An der Oberfläche ist dies eine Polemik gegen die falschen Prätentionen des unpersönlichen, übermenschlichen Objektivismus hinter den modernen Strategien, die auf die Unterdrückung der Kontingenz abzielten; eine weitere Salve in den undankbaren, aber alles in allem angenehmen Feindseligkeiten gegen die »positivistische Wissenschaft«13, gegen die fromme Hoffnung, daß man für alle Zeiten, Orte und für jedermann »im Recht sein« kann. In Wirklichkeit ist Mouffes Botschaft, daß selbst dann, wenn die absolute Wahrheit gestorben und die Universalität tot und begraben ist, man immer noch haben kann, was die verstorbenen, trügerischen Wohltäter zu geben versprachen: die Freude, »im Recht« zu sein – obgleich vielleicht nicht für alle Zeiten, nicht an allen Orten zur gleichen Zeit und nur für einige Leute. 12 Chantal Mouffe, »Radical Democracy: Modern or Postmodern?«, in: Universal Abandon? The Politics of Postmodernism, Edinburgh 1988, S. 37. 13 Wie Peters und Rothenbuhler witzig kommentierten: »Genau wie der Kriminelle auf der Straße ein allzu produktiver Arbeiter in unserer Gesellschaft ist, als daß man ganz auf ihn verzichten könne (er hält das Rechtswesen, die Gefängnisse, die Polizei, die Installateure von Alarmanlagen, Reporter über Verbrechensbekämpfung und TV-Autoren der besten Sendezeit am Leben), so hat der Positivist, mit seiner hingebungsvollen Bindung an eine Realität, die von allem Menschlichen abgetrennt ist, einen größeren Teil der akademischen Kritik das letzte Jahrzehnt über am Leben erhalten (indem er die marxistische, hermeneutische und dekonstruktivistische Kritik z.B. unterstützt hat, da er das Politische als das Neutrale, das Gemachte als das Gegebene und die Ausübung des Willens als eine offensichtliche Wahrheit nimmt).« (John Durham Peters und Eric W. Rothenbuhler, »The Reality of Construction«, in Rhethoric in the Human Sciences, hrsg. v. Herbert W. Simons, London 1989, S. 16f.)

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»Tradition« (es könnte in anderen Texten »Gemeinschaft« oder »Lebensform« lauten) ist die Antwort auf Richard Bernsteins Angst, die in seiner Erwiderung auf Rortys Reaktion auf die Kontingenz zum Ausdruck kommt – die vielleicht zu radikal ist, als daß sie allgemeine Begeisterung auslösen könnte, und ganz gewiß nach allzuviel Heroismus verlangt, als daß man auf eine massive Gefolgschaft hoffen könnte. Nachdem er Rorty das Fehlen einer universalen Begründung für einen Glauben oder Wert, der lokal hochgehalten wird, zugestanden hat, mußte sich Bernstein selbst die Frage vorlegen: »Wie sollen wir entscheiden, wer die rationalen Diskussionsteilnehmer sind und in welchem Sinne sie ›rational‹ sind? […] Es gibt eine Menge Fragen, die die Rechtfertigung, Objektivität, den Bereich der Disziplinen, die richtige Art, rationale von irrationalen Gesprächsteilnehmern zu unterscheiden und die Praxis betreffen, die man beantworten kann und die unsere Aufmerksamkeit verlangen.«14 Gut, schien Bernstein zu sagen, man kann keine autoritativen Regeln festlegen, die sich über die Grenzen einer gegebenen Gemeinschaft der Bedeutung oder Tradition hinaus erstrecken; aber das bedeutet doch sicher nicht, daß das Spiel der Regeln vorbei ist? Gewiß bedeutet es nur, daß die Anzahl der Spieler etwas kleiner ist als erhofft? Gewiß sind doch die Schiedsrichter und ihre Entscheidungen, gegen die die Spieler keine Appellationsmöglichkeit haben, immer noch am Platze und nötig? Das »Unterscheiden zwischen gerecht und ungerecht«, das »immer möglich ist«, ist der Zweck, für den Mouffe die »Tradition« fordert.15 Die Notwendigkeit, daß immer wieder »unsere Aufmerk14 Vgl. Richard Bernstein, Philosophical Profiles: Essays in a Pragmatic Mode, Cambridge 1985. 15 Fünfunddreißig Jahre sind vergangen, seit Dwight Macdonald den Mythos der »Gemeinschaft« als ein Heilmittel der gegenwärtigen Atomisierung und Einsamkeit artikulierte, gleichwohl ist seine lyrische Dichtung (die in England sehr wirksam von F. R. Leavis wiederholt wurde) immer noch deutlich in den vertrauensvollen, keine Zweifel erlaubenden Überzeugungen vernehmbar, daß die »Gemeinschaft« tun wird, was die dis-

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samkeit verlangt« wird, ist Bernsteins Motiv, dasselbe zu tun. Die Angst der kontingenten Person, die die Bestätigung ihrer persönlichen Wahrheit sucht, wird von der Angst eines Intellektuellen unterstützt und ermutigt, der die erneute Bestätigung seiner legislativen Rechte und seiner Führerrolle sucht. Michel Maffesoli16 hat jüngst den glücklich gewählten Begriff des Neotribalismus vorgeschlagen, um eine Welt wie die unsere zu beschreiben – eine Welt, deren hervorstechendstes Merkmal die obsessive Suche nach Gemeinschaft ist. (Der Terminus, scheint es, versucht ein Phänomen zu erfassen, das dem von Eric Hobsbawm unter dem Titel Erfindung der Tradition und dem von Benedict Anderson unter dem Titel der imaginären Gemeinschaft diskutierten ähnlich ist.) Unsere Welt, so versteht es Maffesoli, ist eine Stammeswelt, eine, die nur Stammeswahrheiten und Stammesentscheidungen über richtig und falsch oder Schönheit und Häßlichkeit zuläßt. Trotzdem ist es auch eine neotribalistische Welt, eine Welt, die sich in den meisten lebenswichtigen Aspekten von der ursprünglichen tribalen Antike unterscheidet. Stämme, wie wir sie aus ethnographischen Berichten und antiken Darstellungen kennen, waren straff strukturierte Körperschafkreditierte »Gesellschaft« auf spektakuläre Weise nicht erreicht hat. Gemeinschaft, in Macdonalds unsterblichen Worten, »ist eine Gruppe von Individuen, die miteinander durch gemeinsames Interesse, Arbeit, Traditionen, Werte und Gefühle verbunden sind; etwas wie eine Familie, deren Mitglieder jeweils einen bestimmten Ort und eine bestimmte Funktion als Individuum haben, während sie zur gleichen Zeit die Gruppeninteressen teilen (das Familienbudget), Gefühle (Familienstreitigkeiten) und Kultur (Familienscherze). Die Skala ist klein genug, so daß es einen Unterschied macht, was das Individuum tut, eine erste Bedingung für eine menschliche – im Gegensatz zu einer Massen- [Macdonald hätte heute sicher geschrieben »kontingenten« – Z.B.] Existenz.« (Dwight Macdonald, »A Theory of Mass Culture«, in: Diogenes, 3/1953, S. 1–17.) 16 Vgl. Michel Maffesoli, »Jeux de masques«, in: Design Issues, Bd. 4 (1988), Nr. 1 & 2, S. 141ff. Maffesoli bezieht sich auf frühere Ideen von Gilbert Durand und Edgar Morin.

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ten mit einer kontrollierten Mitgliedschaft. Gerontokratische, erbliche, militärische oder demokratische Verwaltungsorganisationen, die in der Regel mit der Macht der Ein- und Ausschließung versehen waren, überwachten den Verkehr, so beschränkt er auch war, über die Grenze der Gruppe hinaus. Ob man innerhalb oder außerhalb des Stammes blieb, war selten eine Sache der individuellen Wahl; in Wirklichkeit war diese Art Schicksal einzigartig ungeeignet, in ein Geschick umgewandelt zu werden. Im Gegensatz dazu werden die Stämme der zeitgenössischen Welt durch die Menge der individuellen Akte der Selbstidentifikation gebildet – eher als Konzepte denn als integrierte soziale Körperschaften. Verwaltungsorganisationen, die von Zeit zu Zeit entstehen mögen, um die Gläubigen zusammenzuhalten, haben eine beschränkte exekutive Gewalt und nur wenig Kontrolle über Zuwahl oder Verbannung. In der Regel kümmern sich »Stämme« nicht um ihre Gefolgschaft, und die Gefolgschaft selbst ist sehr unbeständig. Sie zerstreut sich ebenso schnell, wie sie entsteht. »Mitgliedschaft« ist relativ leicht widerrufbar und nicht an langfristige Verpflichtungen geknüpft; es ist eine Art Mitgliedschaft, die keinerlei Zulassungsverfahren oder autoritative Regelung erfordert und die ohne Erlaubnis oder Vorwarnung aufgelöst werden kann. Stämme »existieren« einzig aufgrund individueller Entscheidungen, die symbolisch Züge der Stammeszugehörigkeit zur Schau zu stellen. Sie verschwinden, sobald die Entscheidungen widerrufen werden oder ihre Entschlossenheit nachläßt. Sie dauern nur, solange ihre Fähigkeit zur Verführung vorhält. Sie können ihre Anziehungskraft nicht überleben. Neo-Stämme sind, mit anderen Worten, die Vehikel (und imaginären Ablagerungen) individueller Selbstdefinition. Die Bemühungen um Selbst-Erschaffung rufen sie ins Leben; die unvermeidliche Nichtigkeit und Vergeblichkeit solcher Bemühungen führt zu ihrer Zerstörung und Ersetzung. Ihre Existenz ist flüchtig und ständig im Fluß. Sie regen die Phantasie am stärksten an und ziehen die glühendste Loyalität auf sich, solange sie noch im Reich der Hoffnung wohnen. Sie sind Formationen, die viel zu locker sind, als 392

daß sie den Übergang von der Hoffnung zur Praxis überleben könnten. Sie scheinen Jean-François Lyotards Beschreibung des Seins zu illustrieren, das sich »stets einer Bestimmung entzieht und sowohl zu früh als auch zu spät ankommt«.17 Auf sie scheint auch sehr gut der Kantische Begriff der ästhetischen Gemeinschaft zu passen. Für Kant ist die Idee einer ästhetischen Gemeinschaft eine Idee und muß es bleiben: Ein Versprechen, eine Erwartung, eine Hoffnung auf Einstimmigkeit bringt die ästhetische Gemeinschaft ins Sein; die Nicht-Erfüllung dieser Hoffnung hält sie am Leben. Die ästhetische Gemeinschaft verdankt ihre Existenz sozusagen einem falschen Versprechen. Aber die individuelle Wahl kann nicht ohne ein solches Versprechen getroffen werden. »Kant benutzt das Wort ›Versprechen‹, um auf den nicht-existenten Status einer solchen Republik des Geschmacks (oder der Vereinigten Geschmäcker?) hinzuweisen. Es besteht keine Chance, in der Frage nach dem Schönen Einigkeit zu erzielen. Aber jedes konkrete Geschmacksurteil tragt in sich als konstitutives Zeichen seiner Einmaligkeit das Versprechen auf Verallgemeinerung«: »Die Gemeinschaft, die als Stützung für die Gültigkeit eines solchen Urteils benötigt wird, [muß] sich stets in einem Prozeß befinden, in dem sie sich bildet und auflöst. Bei dem Konsens, den ein solcher Prozeß mit sich bringt, handelt es sich, wenn es überhaupt irgendeinen gibt, keinesfalls um irgendeinen argumentativen Konsens, sondern vielmehr um einen verkappten und entziehenden, dem eine besondere Art von Lebendigkeit gegeben ist: er verbindet Leben und Tod, bleibt stets in statu nascendi oder moriendi, läßt stets die Frage offen, ob er wirklich existiert oder nicht. Diese Art von Konsensus ist definitiv nichts anderes als eine Wolke von Gemeinschaft.«18

Diejenigen unter uns, die sich – angeregt durch die Erinnerungen an die legislative Ära – eine Situation wünschen, in der »es immer möglich ist«, gültig »zwischen dem Legitimen und dem Illegitimen zu unterscheiden«, müssen enttäuscht sein. Das Beste, was sie erreichen können, um eine solche Möglichkeit unter den gegen17 Jean-François Lyotard, Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien 1989, S. 67. 18 Ebenda, S. 78.

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wärtigen postmodernen Bedingungen zu unterstützen, sind allein solche ästhetischen Gemeinschaften – Wolken von Gemeinschaften. Solche Gemeinschaften werden niemals so etwas sein wie Tönnies’ gemütliche und natürliche (gemütlich, weil natürlich) Heimstätten der Einmütigkeit. Gemeinschaften nach Art von Tönnies verdunsten in dem Augenblick, wo sie sich selbst als Gemeinschaften wissen. Sie verschwinden (wenn sie nicht schon vorher verdunstet sind), sobald wir sagen: »Wie nett ist es, in einer Gemeinschaft zu sein.« Von diesem Augenblick an ist eine Gemeinschaft nicht mehr der Ort, wo man sicher wohnt; sie ist nur noch harte Arbeit und ein Kampf bergauf, ein stetig zurückweichender Horizont des niemals endenden Weges; alles andere als natürlich und gemütlich. Wir richten uns selbst und unsere welkende Entschlossenheit auf, indem wir die magische Formel »Tradition« anrufen – und angestrengt versuchen zu vergessen, daß Tradition einzig dadurch lebt, daß sie rekapituliert wird, daß sie als Erbe interpretiert wird; daß sie, wenn überhaupt, erst am Ende, niemals am Anfang der Übereinstimmung erscheint; daß ihre retrospektive Einheit nur eine Funktion der Dichte der heutigen gemeinschaftlichen Wolke ist … Unser Wissen von der Kontingenz – das jetzt von der Idee des Schönen auf die des Seins selber, auf seine Wahrheit und seine Vernunft übergreift – einmal vorausgesetzt, können wir unsere Suche nach Übereinstimmung nicht aufgeben: Wir wissen schließlich, daß Übereinstimmung nicht vorherbestimmt ist und nicht im vorhinein garantiert ist, daß sie auf nichts außer auf unserem Argument beruhen kann. Unser Mut ist der Mut der Verzweiflung. Wir können nicht anders, als unsere Anstrengung zu verdoppeln, während wir von Niederlage zu Niederlage gehen. Die Kantische Antinomie des Geschmacksurteils hat gezeigt, daß ein Streit ebenso unvermeidlich wie am Ende unentschieden und irrelevant war. Dies ist ein Beweis, den sowohl Habermas wie seine Gegner aus dem Auge verlieren: Habermas, insofern er das Modell der unverzerrten Kommunikation als eine realistische Aussicht auf einen Wahrheitskonsens präsentiert, und seine Kritiker, wenn sie versuchen, die Effektivität eines solchen Modells zu desavouieren, weil 394

es keinen genügend sicheren Boden für die Übereinstimmung anbiete, und so schweigend implizieren, daß andere, vermeintlich sicherere Gründe, gesucht werden sollten und gefunden werden könnten. Unter diesen Umständen liegt das offensichtlichste Paradox der rasenden Suche nach gemeinschaftlichen Gründen des Konsensus darin, daß sie in noch mehr Zerstreuung und Fragmentierung endet, in noch mehr Heterogenität. Der Drang nach Synthesis ist der bedeutendste Faktor der endlosen Zweiteilung. Jeder Versuch, auf Übereinstimmung und Synthese zu drängen, führt zu neuen Zersplitterungen und Trennungen. Was sich als Formel für Übereinstimmung ausgab, um alle Nicht-Übereinstimmung zu beenden, erweist sich in dem Augenblick, wo sie formuliert wird, als Anlaß zu neuer Nicht-Übereinstimmung und als neuer Zwang zu weiteren Verhandlungen. Alle Anstrengungen, lockere Lebenswelt-Strukturen zu festigen, erzeugen mehr Fragilität und Zellteilung. Die Suche nach Gemeinschaft verwandelt sich in ein umfassendes Hindernis für ihre Entstehung. Der einzige Konsensus, der wahrscheinlich eine Chance auf Erfolg hat, ist die Anerkennung der Heterogenität der Nicht-Übereinstimmungen. Mit einer solchen Aussicht läßt sich schwer leben. Dem Unrecht der bekannten Kontingenz fügt sie die Beleidigung der menschlichen Unfähigkeit hinzu, das zu beschwören, was die Natur nicht bereitgestellt hat. Man ist sich nicht nur des eigenen Mangels an Begründung bewußt, sondern darf obendrein nicht einmal hoffen, daß die Grundlagen jemals gelegt werden. Missionierende Wahrheiten haben ihre Macht zu demütigen verloren, aber ebensoviel von ihrer alten Fähigkeit, den Beistand zu bieten – das »Wiedergeboren«-, das »Mir sind die Augen geöffnet worden«-Gefühl –, den Wahrheiten über die Konvertierten auszuschütten pflegten. Kein Wunder, daß die postmoderne Lage mit Antinomien befrachtet ist, hin und her gerissen zwischen den Chancen, die sie eröffnet, und den Drohungen, die sich hinter jeder Chance verbergen. 395

Die Antinomien der Postmoderne Der Zusammenbruch der »großen Erzählungen« (wie Lyotard es ausgedrückt hat) – das Schwinden des Vertrauens auf überindividuelle und übergemeinschaftliche Appellationsgerichte – ist von vielen Beobachtern mit Furcht, als Einladung zur »everything goes«Situation angesehen worden, zur universalen Permissivität und also am Ende zum Ableben aller moralischen und folglich aller gesellschaftlichen Ordnung. In Erinnerung an Dostojewskijs Diktum, »Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt«, und an Durkheims Identifikation des asozialen Verhaltens mit der Schwächung des kollektiven Konsensus sind wir zu der Überzeugung gekommen, daß, wenn nicht eine ehrfurchtgebietende und unbestreitbare Autorität – sei sie heilig oder säkular, politisch oder philosophisch – über allen und jedem menschlichen Individuum schwebt, sehr wahrscheinlich Anarchie und ein universales Gemetzel die Folge sein werden. Diese Überzeugung stärkte die moderne Entschlossenheit, eine künstliche Ordnung einzurichten: ein Projekt, das alle Spontaneität verdächtig machte, bis ihre Unschuld bewiesen war, das alles ächtete, was nicht ausdrücklich vorgeschrieben war, und Ambivalenz mit Chaos identifizierte, mit dem »Ende der Zivilisation«, wie wir sie kennen und wie sie vorgestellt werden konnte. Vielleicht entsprang diese Furcht dem unterdrückten Wissen, daß das Projekt von Anfang an zum Untergang verurteilt war; vielleicht wurde sie absichtlich kultiviert, da sie als ein emotionales Bollwerk gegen Uneinigkeit einer nützlichen Funktion diente; vielleicht war sie nur eine Nebenwirkung, ein intellektueller Nachgedanke, der aus der sozio-politischen Praxis des kulturellen Kreuzzugs und der erzwungenen Assimilation stammte. Auf die eine oder andere Weise mußte die Moderne, die entschlossen war, alle unautorisierte Differenz und alle widerspenstigen Lebensmuster einzuebnen, die Angst vor der Abweichung hervorbringen und Abweichung synonym mit Diversität machen. Wie Adorno und Horkheimer kommentierten, war die bleibende intellektuelle und emotionale Narbe, die das philosophische Projekt und die politi396

sche Praxis der Moderne hinterließ, die Furcht vor der Leere; und die Leere war die Abwesenheit eines universal bindenden, unzweideutigen und erzwingbaren Maßstabs. Über die verbreitete Furcht vor der Leere, über die Angst, die aus dem Fehlen einer klaren Anweisung entstand, die nichts der quälenden Notwendigkeit der Wahl überläßt, wissen wir aus den beunruhigten Darstellungen, die die Intellektuellen geben, jene ernannten oder selbsternannten Interpreten der gesellschaftlichen Erfahrung. Die Erzähler selbst fehlten freilich niemals in ihren Erzählungen, und es ist eine hoffnungslose Aufgabe zu versuchen, ihre Anwesenheit aus ihren Geschichten herauszufiltern. Es mag gut sein, daß es zu allen Zeiten ein Leben außerhalb der Philosophie gegeben hat und daß ein solches Leben nicht die Probleme der Erzähler teilte; daß es ganz gut zurechtkam, ohne durch die rational geprüften und philosophisch gebilligten Maßstäbe der Wahrheit, Güte und Schönheit geordnet zu werden. Es mag sogar gut sein, daß ein großer Teil eines solchen Lebens lebbar, ordentlich und moralisch war, weil es nicht durch die selbsternannten Agenten des »allgemeinen Sollens« verpfuscht, manipuliert und korrumpiert wurde.19 Es gibt freilich kaum einen Zweifel, daß eine

19 Es ist ein herausragendes Merkmal postmoderner Mentalität, daß diese und ähnliche Zweifel in immer größerem Maße von intellektuellen Beobachtern geteilt werden. Plötzlich entdeckt eine wachsende Anzahl von Sozialwissenschaftlern, daß eine normative Regulierung des alltäglichen Lebens oft durch »Graswurzel«-Initiativen, häufig von einer heterodoxen (in der offiziellen Sprechweise »abweichenden«) Natur, aufrechterhalten wird und gegen Übergriffe von oben geschützt werden muß. Man vergleiche z.B. Michel de Certeaus Analyse von la peruque (The Practice of Everyday Life, Berkeley 1984, S. 25ff.) als dem Verteidigungswerkzeug der selbstregulierten Sphäre der Autonomie; oder Hebdidges brillante Charakterisierung der Subkultur (normalerweise das Objekt offiziell inspirierter »moralischer Panik« und als Aufstoßen der Barbarei, als Produkt der Desintegration der Ordnung beschrieben) als ein Phänomen, das »sich in dem Raum zwischen Überwachen und dem Ausweichen vor der Über-

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Lebensform nur schlecht bestehen kann ohne die Stütze der universal bindenden und apodiktisch gültigen Maßstäbe: die Lebensform der Erzähler selbst (genauer: eine solche Lebensform, die die Geschichten enthält, die diese Erzähler den größten Teil der modernen Geschichte über erzählt haben). Vor allem diese Lebensform verlor ihre Grundlage, als die sozialen Mächte ihre ökumenischen Ambitionen aufgaben, und fühlten sich deshalb mehr als alle anderen durch das Schwinden der universalistischen Erwartungen bedroht. Solange sich die modernen Mächte entschlossen an ihre Absicht klammerten, eine bessere, vernunftgelenkte und so letztlich universale Ordnung zu konstruieren, hatten die Intellektuellen wenig Schwierigkeiten, ihren eigenen Anspruch auf die entscheidende Rolle im Prozeß zu artikulieren: Universalität war ihre Domäne und ihr Feld des Expertenwissens. Solange die modernen Mächte auf der Eliminierung

wachung bildet« und »die Tatsache, unter Kontrolle zu sein, in das Vergnügen übersetzt, beobachtet zu werden. Es ist ein Verstecken im Licht.« Die Subkultur ist, nach Hebdidges Interpretation, »eine Erklärung der Unabhängigkeit, der Andersheit, der fremden Absicht, ein Sträuben gegen die Anonymität, den untergeordneten Status. Sie ist eine Insubordination. Und gleichzeitig ist sie auch eine Bestätigung der Tatsache der Machtlosigkeit, eine Feier der Impotenz. Subkulturen sind sowohl ein Spielen um Aufmerksamkeit wie eine Weigerung, sobald die Aufmerksamkeit einmal gewährt worden ist, nach dem Buch gelesen zu werden.« (Hiding in the Light, London 1988, S. 35.) Subkultur ist absichtliche oder halb absichtliche Politik; sie hat ihr bewußtes oder unterbewußtes Motiv, Programm und ihre Strategie. Sie erreicht oft ihre Absicht: Sie gewinnt Aufmerksamkeit und wird dann gründlich angeschaut, so daß ihre innere Natur als eine Verteidigung der Autonomie verstanden werden kann. Es gibt freilich viel massivere, wenn auch weniger lautstarke und infolgedessen weniger sichtbare Territorien des alltäglichen Lebens, die nicht die aufdringliche Aufmerksamkeit der rechterzwingenden Autoritäten auf sich lenken und infolgedessen auch nicht die Neugier der intellektuellen Kommentatoren.

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der Ambivalenz als Maßstab der gesellschaftlichen Verbesserung bestanden, konnten die Intellektuellen ihre eigene Arbeit – die Förderung der universal gültigen Rationalität – als Hauptmedium und Triebkraft des Fortschritts ansehen. Solange die modernen Mächte fortfuhren, das Andere, das Verschiedene, das Ambivalente herabzusetzen, zu ächten und zu vertreiben – konnten sich die Intellektuellen auf mächtige Unterstützung für ihre Autorität verlassen, Urteile zu fällen und Wahrheit von Falschheit, Wissen von bloßer Meinung zu trennen. Wie der heranwachsende Held in Cocteaus Orphée, der überzeugt war, daß die Sonne ohne seine Gitarre und seine Serenade nicht aufgehen würde, gewannen die Intellektuellen die Überzeugung, daß das Geschick der Moralität, des zivilisierten Lebens und der gesellschaftlichen Ordnung von ihrer Lösung des Problems der Universalität abhinge: von ihrem schlagenden und endgültigen Beweis, daß das menschliche »Sollen« unzweideutig ist und daß seine Unzweideutigkeit unerschütterliche und absolut verläßliche Grundlagen habe. Diese Überzeugung übersetzte sich in zwei komplementäre Glaubensannahmen: daß es in der Welt nichts Gutes geben würde, wenn nicht dessen Notwendigkeit bewiesen wäre, und daß der Beweis einer solchen Notwendigkeit, falls und sobald er vollendet wäre, eine ähnliche Wirkung auf die Welt haben würde wie die, die man den legislativen Akten eines Herrschers zugestand: Er würde Chaos durch Ordnung ersetzen und das Undurchsichtige durchsichtig machen. Husserl war vielleicht der letzte große Philosoph der Neuzeit, der durch diese doppelte Annahme zum Handeln angespornt wurde. Entsetzt von dem Gedanken, daß alles, was wir als Wahrheit ansehen, nur auf Glaubensannahmen beruhen könnte, daß unser Wissen lediglich eine psychologische Grundlage haben könnte, daß wir die Logik als eine sichere Führerin zum korrekten Denken einfach deshalb akzeptiert haben könnten, weil sie die Art ist, in der die Menschen im großen und ganzen zu denken pflegen, unternahm Husserl (wie Descartes, Kant und andere anerkannte Größen des modernen Denkens vor ihm) eine gigantische Anstrengung, die Vernunft von ihrem weltlichen Wohnort 399

loszulösen (oder war es ein Gefängnis?) und sie wieder dahin zurückzuführen, wohin sie gehörte – in eine transzendente, außerweltliche Region, die sich weit über dem alltäglichen menschlichen Gewühle zu einer Höhe emportürmte, wo sie von der niedrigen Welt der gewöhnlichen Alltagserfahrung nicht erreicht – weder gesehen noch befleckt – werden konnte. Die letztere konnte nicht der Wohnort der Vernunft sein, da es ja gerade die Welt des Gewöhnlichen, Ordinären und des Spontanen war, die durch die Urteile der Vernunft erneuert, reformiert und transformiert werden sollte. Nur wenige, die der furchtbaren Anstrengung der transzendentalen Reduktion fähig sind (einer der Trance des Schamanen oder der vierzigtägigen Wüstenmeditation nicht unähnlichen Erfahrung), können zu jenen esoterischen Orten gelangen, wo die Wahrheit in Sicht kommt. Während der Zeit ihrer Reise müssen sie das »bloß Existierende« vergessen – suspendieren und einklammern –, so daß sie mit dem transzendentalen Subjekt eins werden können – jenem denkenden Subjekt, das die Wahrheit denkt, weil es nichts anderes denkt, weil es sich von den weltlichen Interessen und den gewöhnlichen Irrtümern des Weltlaufs befreit hat. Die Welt, die Husserl hinter sich ließ, als er sich auf seine einsame Expedition zu den Quellen der Gewißheit und Wahrheit machte, nahm davon nur wenig Notiz. Dies war eine Welt des entfesselten Bösen, der Konzentrationslager und der wachsenden Vorräte an Bomben und Giftgas. Die spektakulärste und dauerndste Wirkung des letzten Eintretens für die absolute Wahrheit war nicht so sehr seine mangelnde Schlüssigkeit, die, wie einige sagen würden, aus den Irrtümern des Entwurfs stammte, sondern seine vollkommene Irrelevanz für das weltliche Schicksal der Wahrheit und Güte. Letzteres wurde weit entfernt von den Schreibtischen der Philosophen entschieden, unten in der Welt des alltaglichen Lebens, wo die Kämpfe um politische Freiheit tobten und die Grenzen des staatlichen Ehrgeizes, die soziale Ordnung gesetzlich zu bestimmen, zu definieren, zu trennen, zu organisieren, einzuschränken und zu unterdrücken, vor- und wieder zurückverlegt wurden. 400

Je weiter fortgeschritten die Sache der Freiheit zu Hause ist, so scheint es, desto weniger besteht eine Nachfrage nach den Diensten von Eroberern fremder Länder, in denen die absolute Wahrheit angeblich beheimatet ist. Wenn die eigene Wahrheit sicher und die Wahrheit der anderen keine Herausforderung oder Bedrohung zu sein scheint, kann die Wahrheit sehr wohl ohne Sykophanten leben, die versichern, sie sei »die wahrste von allen«, und ohne die Kriegsherren, die entschlossen sind, dafür Sorge zu tragen, daß keiner anderer Meinung ist. Sobald die Differenz einmal aufgehört hat, ein Verbrechen zu sein, kann sie sehr wohl in Frieden und um deswillen genossen werden, was sie ist, statt um deswillen, was sie darstellt oder zu was sie bestimmt ist. Sobald die Politiker einmal ihre Suche nach Imperien aufgegeben haben, besteht nur wenig Nachfrage nach der Suche der Philosophen nach Universalität.20 Imperien von unbegrenzter und unbestrittener Souveränität und die Wahrheit von unbeschränkter und unbestrittener Universalität waren die beiden Waffen, mit denen die Moderne die Welt nach dem Entwurf der vollkommenen Ordnung

20 Kaiser Shih Huang Ti, der Held von Borges’ Geschichte, wurde der Befehl zugeschrieben, die Chinesische Mauer zu bauen und alle Bücher zu verbrennen, die vor seiner Zeit geschrieben worden waren. Er rühmte sich in seinen Inschriften auch, daß unter seiner Herrschaft alle Dinge die Namen hatten, die zu ihnen paßten. Und er legte fest, daß seine Erben Zweiter Kaiser, Dritter Kaiser, Vierter Kaiser und so ad inf. genannt werden sollten (Jorge Louis Borges, »The Walls and the Books«, in: Other Inquisitions, 1937–1952, New York 1966, S. 1–2). Die vier Dekrete von Shih Huang Ti repräsentieren aufs vollste und logisch kohärenteste den modernen Ehrgeiz. Die Mauer bewachte das vollkommene Kaiserreich gegen Eingriffe durch andere Zwänge; die Zerstörung der Bücher unterband die Infiltration anderer Ideen. Nachdem das Kaiserreich an beiden Fronten sicher war, war es kein Wunder, daß alle Dinge endlich ihren richtigen und eigentlichen Namen erhielten und, angefangen von Shih Huang Tis Regierung, sollte die zukünftige Geschichte nur eine Wiederkehr des immer gleichen sein.

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neu bilden wollte. Sobald diese Intention nicht länger besteht, gibt es für die beiden Waffen keinerlei Verwendung mehr. Aller Wahrscheinlichkeit nach wächst die Diversität von Wahrheiten, Maßstäben des Guten und der Schönheit nicht, wenn erst einmal die Intention verschwunden ist; sie wird auch nicht widerspenstiger und störrischer als vorher; sie sieht nur weniger beunruhigend aus. Es war schließlich die moderne Intention, die die Differenz zur Beleidigung machte: zu der Beleidigung, der tödlichsten und unverzeihlichsten Sünde, um genau zu sein. Das vormoderne Auge sah die Differenz mit Gleichmut; als ob es in der vorherbestimmten Ordnung der Dinge liege, daß sie verschieden sind und sein sollen. Da sie völlig ohne Emotionen gesehen wurde, stand Differenz auch nicht im Brennpunkt der Erkenntnis. Nach einigen Jahrhunderten, während deren die menschliche Diversität im Verborgenen lebte (eine Verborgenheit, die durch die Androhung des Exils erzwungen worden war) und lernte, sich wegen ihres Stigmas der Ungleichheit zu schämen, sieht das postmoderne Auge (d.h. das moderne Auge, das von den modernen Ängsten und Hemmungen befreit ist) die Differenz mit Behagen und Freude: Differenz ist schön und darum doch um nichts weniger gut. Der Anschein einer Abfolge ist gewiß eine Wirkung der modernen Vorliebe für saubere Trennungen, klare Brüche und reine Substanzen. Die postmoderne Verherrlichung der Differenz und Kontingenz hat nicht die moderne Lust an Uniformität und Gewißheit ersetzt. Außerdem ist es unwahrscheinlich, daß sie es jemals tun wird; sie hat nicht die Fähigkeit, das zu tun. Die postmoderne Mentalität und Praxis kann, da sie ist, was sie ist, nichts ersetzen oder eliminieren oder auch nur an den Rand drängen. Wie es immer der Fall ist mit der notorisch ambivalenten (multifinalen: mehr als eine Option eröffnenden, auf mehr als eine Linie zukünftiger Veränderung weisenden) condition humaine, sind die Gewinne der Postmoderne gleichzeitig ihre Verluste; was ihr ihre Stärke und Anziehungskraft verleiht, ist auch die Quelle ihrer Schwäche und Verletzlichkeit. 402

Es gibt keinen sauberen Bruch oder eine unzweideutige Abfolge. Die Postmoderne ist zur Ausschließung unfähig. Nachdem sie Grenzen ausgegrenzt hat, muß sie zwangsläufig die Moderne in genau die Diversität einschließen und einverleiben, die ihr unterscheidendes Merkmal ist. Sie kann die Zulassung nicht verweigern, damit sie ihre Identität nicht verliert. (Paradoxerweise wäre die Weigerung gleichbedeutend damit, das gesamte Feld dem zurückgestoßenen Bewerber zu überlassen.) Sie muß die Rechte eines legitimen Anwohners selbst einem solchen Untermieter einräumen, der ihr Recht, Anwohner zuzulassen und das Recht anderer Anwohner, ihren Wohnort zu teilen, bestreitet. Die moderne Mentalität neigt von Geburt an zu Rechtshändeln und besitzt auf diesem Gebiet umfassende Erfahrung. Die Postmoderne kann ihren Fall nicht vor Gericht verteidigen, da es keinen Gerichtshof gibt, dessen Autorität sie anerkennen würde. Sie könnte statt dessen gezwungen sein, dem christlichen Gebot zu folgen, den Schlägen des Angreifers die andere Wange hinzuhalten. Sie ist ganz gewiß zu einem langen harten Leben des Zusammenwohnens mit ihrem unversöhnlichen Feind als Zimmergenossen verurteilt. Auf die moderne Entschlossenheit, den Konsens zu suchen oder zu erzwingen, kann die postmoderne Mentalität nur mit ihrer gewohnheitsmäßigen Toleranz der abweichenden Meinung reagieren. Dies macht die Chancen der Widersacher ungleich, wobei die größeren Chancen entschieden auf seiten der Entschlossenen und Willensstarken sind. Toleranz ist eine zu blasse Verteidigung gegen Willensstärke und Skrupellosigkeit. Für sich allein bleibt Toleranz ein unbewegliches Ziel – eine leichte Beute für die Skrupellosen. Sie kann Angriffe nur abwehren, wenn sie in Solidarität verwandelt wird; in die universale Anerkennung, daß die Differenz die einzige Universalitat ist, die kein Verhandlungsgegenstand ist, und daß ein Angriff gegen das universale Recht, anders zu sein, die einzige Abweichung von der Universalität ist, die keiner der solidarischen Handelnden, wie verschieden sie sonst auch sein mögen, anders als auf eigene Gefahr und die aller anderen Agenten tolerieren kann. 403

Und so ist die Transformation des Schicksals in das Geschick, der Toleranz in Solidarität nicht einfach eine Sache der moralischen Perfektion, sondern eine Bedingung des Überlebens. Toleranz als »bloße Toleranz« ist zum Tode verurteilt; sie kann nur in der Form der Solidarität überleben. Es würde einfach nicht ausreichen, zufrieden zu sein, daß die Differenz des anderen meine eigene nicht einschränkt oder schadet – da einige Differenzen anderer allzu offensichtlich entschlossen sind, einzuschränken und zu schaden. Überleben in der Welt der Kontingenz und Diversität ist nur möglich, wenn jede Differenz die andere Differenz als notwendige Bedingung der Bewahrung ihrer eigenen anerkennt. Solidarität bedeutet, im Unterschied zur Toleranz, ihrer schwächeren Version, die Bereitschaft zu kämpfen; und an der Schlacht teilzunehmen um der Differenz des anderen willen, nicht der eigenen. Toleranz ist ichzentriert und kontemplativ; Solidarität ist sozial orientiert und militant. Wie alle anderen menschlichen Situationen hat die postmoderne Toleranz und Diversität ihre Gefahren und Ängste. Ihr Überleben ist nicht garantiert – weder durch einen Plan Gottes, die universale Vernunft, die Gesetze der Geschichte oder irgendeine übermenschliche Kraft. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die postmoderne Lage natürlich überhaupt nicht von allen anderen Lagen; sie unterscheidet sich lediglich dadurch, daß sie sich dessen aufgrund ihres Wissens bewußt ist, daß sie ohne Garantie lebt, daß sie auf sich selbst gestellt ist. Dies macht sie äußerst ängstlich. Und dies gibt ihr auch eine Chance.

Die Zukunft der Solidarität Die Postmoderne ist eine Chance der Moderne. Toleranz ist eine Chance der Postmoderne. Solidarität ist die Chance der Toleranz. Solidarität ist eine Chance dritten Grades. Das klingt nicht sehr beruhigend für jemanden, der seine Hoffnungen auf die Solidarität setzt. Man kann das Vertrauen zur Solidarität nicht aus irgend etwas auch nur entfernt so Solidem und dementsprechend Tröst404

lichem ableiten wie gesellschaftlichen Strukturen, Gesetzen der Geschichte oder der Bestimmung der Nationen und Rassen, auf die moderne Projekte ihren Optimismus, ihr Selbstvertrauen und ihre Entschlossenheit gründeten. Die Brücke, die von der postmodernen Situation zur Solidarität führt, ist nicht aus Notwendigkeiten erbaut. Es ist nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine solche Brücke gibt. Von der Hybris der Moderne befreit, empfindet der postmoderne Geist weniger Bedürfnis nach Grausamkeit und Demütigung des anderen; er kann sich Richard Rortys »Freundlichkeit« leisten. Aber Freundlichkeit kann oft überlegen, überheblich und gleichgültig sein und ist es auch – häufig fühlt sie sich eher wie eine Zurechtweisung denn wie Sympathie an. Für sich allein würde Freundlichkeit keineswegs Solidarität erzeugen – ebenso wie Solidarität nicht das einzig mögliche Ergebnis (nicht einmal das wahrscheinlichste Ergebnis) des Zusammenbruchs der modernen Romanze mit der »Planer-Gesellschaft« ist. Moderne Entwürfe der globalen Perfektion haben ihren Impuls vorwiegend aus dem Schrecken vor der Differenz und der Ungeduld mit der Andersheit gezogen. Und trotzdem haben auch sie eine Chance für ein echtes Interesse an dem Problem der Armseligen und Elenden geboten (es war diese Chance, die die Fürsprecher der Zukurzgekommenen für die Versprechungen der Moderne empfänglich gemacht hat). Die moderne Überzeugung, daß die Gesellschaft nicht sein müsse, wie sie ist, daß sie besser gemacht werden könne, als sie ist, verwandelte jeden Fall von individuellem und Gruppenunglück in eine Herausforderung und eine Aufgabe. Solange ein anständiges Leben für jedermann nach allgemeiner Übereinstimmung eine realistische Möglichkeit darstellte, fühlten die Verwalter der gesellschaftlichen Ordnung das Bedürfnis, sich für ihre Trägheit oder Unfähigkeit, dieses anständige Leben für jedermann herbeizuführen, zu entschuldigen. Es ist nicht so, daß es unter uns niemanden mehr wie Mayhew oder Booth oder Riis gäbe; aller Wahrscheinlichkeit nach gibt es 405

heute mehr von ihnen als zu jeder anderen Zeit. Der wirkliche Unterschied ist der zwischen der explosiven Wirkung, die die Enthüllung des menschlichen Elends einst gehabt hat – und dem Gleichmut, mit dem es heute aufgenommen wird. Heute erscheinen Nachrichten von menschlicher Armut und Bedrängnis nur als noch mehr farbige Berichte unter den vielen Bildern von den vielen Lebensformen, die Menschen wählen oder zu denen sie verurteilt sind (durch ihre Geschichte, durch ihre Religion, durch ihre Kultur). Für eine Mentalität, die darin geübt war, die Gesellschaft als ein unvollendetes Projekt zu sehen, das zu vollenden Aufgabe der Manager war, war Armut eine Abscheulichkeit: Ihre Lebenserwartung hing einzig von dem Entschluß der Manager ab. Für eine Mentalität, die sich von globalen Visionen abgestoßen fühlt und alle Aussichten der Sozialtechnologie mit Vorsicht betrachtet, ist jene Armut nur ein Element in der unendlichen Vielfalt der Existenz. Wieder einmal kann man, wie in der vormodernen Zeit, überzeugt von der unergründlichen und zeitlosen Weisheit der göttlichen Ordnung, mit dem täglichen Anblick von Hunger, Heimatlosigkeit, Leben ohne Zukunft und Würde leben; glücklich leben, den Tag genießen und in der Nacht ruhig schlafen. Auf dem Höhepunkt des modernen Traumes von der perfekten Gesellschaft gleich um die Ecke, auf dem Gipfel der Entschlossenheit, um diese Ecke zu biegen, sobald es die Mittel erlaubten, gab es ein stillschweigendes Einverständnis zwischen Verwalter und Verwalteten hinsichtlich der zu beachtenden Prioritäten auf dem Weg zum globalen Glück. Das letzte Mal, sagt J. K. Galbraith, wurde eine solche Übereinstimmung – eine Art ungeschriebener »Gesellschaftsvertrag« (wir würden eher von einem Versprechen reden, das angenommen und dem geglaubt wurde) – in England unter Lloyd George und in den USA unter Roosevelt erzielt. Aber, sagt Galbraith, »in den achtziger Jahren war dieses Einverständnis, um das wenigste zu sagen, in der Schwebe«. Daß diejenigen, die sich die glitzernden Belohnungen des ausgelassenen Konsumismus nicht leisten können, unserer Fürsorge bedürfen und das Recht auf Ausgleich haben, ist nicht länger eine Sache schweigender Zustimmung. 406

»Unsere Armen in den USA sind arm geblieben, und die Anzahl der als arm Klassifizierten hat sich substantiell vergrößert, wie sich auch, noch ausgeprägter, der Einkommensanteil vermehrt hat, der an die ganz Reichen geht. Die Lebensbedingungen in den Zentren unserer großen Städte sind – das Wort ist mit Sorgfalt gewählt – entsetzlich. Die Wohnbedingungen sind schlecht und werden immer schlechter. Viele unserer Bürger sind ohne auch nur die nacktesten Elemente des Schutzes, ihre Einkommen auf einer Ebene nahe dem Verhungern. Die Schulen sind ebenfalls schlecht, und Junge und Alte, oft durch Verbrechen am Leben erhalten, schaffen sich eine zeitweilige Ausflucht aus der Verzweiflung durch Drogen.«21

Daß die Dinge schlecht stehen, ist nichts Neues; für eine große Anzahl von Menschen pflegten die Dinge auch zu den besten Zeiten schlecht zu stehen. Was wahrhaft neu ist, ist, daß die Dinge, die für einige Menschen schlecht stehen, den Menschen, für die die Dinge gut stehen, nur selten Anlaß zur Beunruhigung sind. Letztere haben akzeptiert und erklärt, daß sie nur wenig tun können, um das Los der anderen zu erleichtern. Und sie haben es sogar fertiggebracht, sich selbst zu überzeugen, daß, wofür auch immer sie sich entscheiden, es die Dinge nur noch schlimmer machen würde, da sich die Sozialtechnologie als im Kern faul erwiesen habe. Das Versprechen ist nicht einfach gebrochen worden. Es ist zurückgenommen worden. Freundlichkeit mag einen Gegensatz zur Grausamkeit darstellen. Beides sind freilich Gefühle der Interessierten und Engagierten; Haltungen von betroffenen Personen – von Personen, die nicht gucken, sondern sehen, und die sich über das, was sie gesehen haben, Sorgen machen. Alternativen zu Freundlichkeit und Grausamkeit dienen immer noch dem Interesse am Anderen; sie bleiben auf dieser Seite der wechselseitigen Verbindung. Außerhalb eines solchen Interesses, als des Anderen des Interesses, des Anderen der Freundlichkeit und Grausamkeit, steht die Haltung der von

21 J. K. Galbraith, »Assault on Ideology in the Last Decade Hit not only East but also West«, in: The Guardian, 16./17. Dez. 1989, S. 17.

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Gleichgültigkeit genährten Gefühllosigkeit: eine Art Toleranz, die für ihre Objekte eher wie eine lebenslängliche Gefängnisstrafe als wie eine Hoffnung auf Freiheit aussieht. Es ist für die postmoderne Toleranz nur allzuleicht, zur Selbstsucht der Reichen und Wohlhabenden zu degenerieren. Eine solche Selbstsucht ist in der Tat ihre unmittelbarste und tägliche Manifestation. Es scheint eine direkte Beziehung zwischen der üppigen und sich ausweitenden Freiheit des »kompetenten Konsumenten« und dem unbarmherzigen Schrumpfen der Welt, die von den Disqualifizierten bewohnt wird, zu geben.22 Die postmoderne Situation hat die Gesellschaft in die glückliche verführte und die unglückliche unterdrückte Hälfte geteilt – wobei die postmoderne Mentalität von der ersten Hälfte der Teilung verherrlicht wird, während sie zum Elend der zweiten beiträgt. Die erste Hälfte überläßt sich der sorglosen Verherrlichung vielleicht nur deshalb, weil sie sich überzeugt hat, daß das Elend der zweiten Hälfte ihre rechtmäßige Wahl ist, oder zumindest ein legitimer Teil der erfrischenden Verschiedenheit der Welt. Für die erste Hälfte ist das Elend die »Lebensform«, die die zweite Hälfte gewählt hat – wenn auch nur dadurch, daß sie einen unbekümmerten Stil der Existenz verfolgt und die Pflicht der Selektion vernachlässigt hat. Es gibt keinen Mangel an postmodernen Formeln, die das Gewissen der Verführten fleckenlos machen sollen. Es gibt in wachsender Zahl Schüler der von Hayeks und Friedmans, die bereit sind zu beweisen, daß den Reichen sogar noch größere Belohnungen dafür gegeben werden müssen, damit sie reich sein wollen, während für die Armen reiche Belohnungen nur eine Ermutigung sind, sich in ihrer Armut zu wälzen; und daß sich zu bereichern (»materiellen Reichtum schaffen«) der einzige Dienst ist, den die Reichen den Armen leisten können (d.h., wenn überhaupt ein Dienst zu leisten ist). Es gibt Ökonomen, Politikwissenschaftler,

22 Ich habe diese Wirkung ausführlicher in Freedom, Milton Keynes 1988, Kap. 4, und in Legislators and Interpreters, Kap. 11, diskutiert.

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Soziologen und natürlich Politiker, die den Reichen versichern, daß die Armut der Armen ihr – der Armen – Problem sei, während der Widerstand der Armen gegen die Armut das Problem für die Organe von Recht und Ordnung sei. Es gibt »Fototermine«, die dankenswerterweise von der Polizei bereitgestellt werden, um die Öffentlichkeit über die bodenlose Verworfenheit und Schlechtigkeit der drogenverseuchten Armen zu informieren. (Man kann nicht umhin, sich an Goebbels’ Kameraleute zu erinnern, die eifrig die schmutzige Häßlichkeit der verlausten Ghetto-Juden aufgenommen haben.) Mit angehaltenem Atem kleben die Bewohner der diebstahlsicheren, zu Festungen ausgebauten Wohnungen an den TV-Schirmen, um das Spektakel der Brutalität zu sehen, die das Zeichen der Brutalisierten ist. Und dann gibt es die Wissenschaftler und Moralprediger, die die geschockten Voyeure daran erinnern, daß es ein »Problem« gibt, wie man alleinstehende Mütter daran hindern könne, Fußballrowdies großzuziehen, und daß wissenschaftliche Untersuchungen, die einstmals von den Rassehygieneexperten durchgeführt worden sind, uns vielleicht – wer weiß? – etwas über seine rationale Lösung sagen können.23 Ein langer, gewundener Weg führte historisch von der Grausamkeit zur Freundlichkeit, aber es braucht nur einen kleinen Schritt für den Weg zurück. Die postmoderne Welt des fröhlichen Durcheinander wird an den Grenzen sorgfältig von Söldnertruppen bewacht, die nicht weniger grausam sind als die, die von den Verwaltern der jetzt aufgegebenen Globalordnung angeheuert worden waren. Lächelnde Banken strahlen nur ihre jetzigen und ihre zukünftigen Kunden an. Die Spielplätze der glücklichen Käufer sind von dicken Mauern, elektronischen Spionen und bissigen Wach23 »Das Wort Problem«, schrieb Jorge Luis Borges, »kann eine tückische petitio principii sein. Von dem jüdischen Problem zu sprechen heißt zu postulieren, daß die Juden ein Problem sind; es heißt Verfolgen, Plündern, Erschießen, Köpfen, Vergewaltigen und die Lektüre von Dr. Rosenbergs Prosa vorauszusagen (und zu empfehlen).« (»Dr. Américo Castro is Alarmed«, in: Other Inquisitions, 1937–1952, S. 26.)

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hunden umgeben. Höfliche Toleranz gilt nur für diejenigen, die hereingelassen werden. Und also scheint die Grenzziehung zwischen dem Drinnen und dem Draußen nichts von ihrer Gewalttätigkeit und genozidalen Kraft verloren zu haben. Wenn überhaupt, ist die Gewalt gewachsen, weil keine missionarischen, bekehrenden Aussichten die Außenstehenden vor der totalen und endgültigen Verdammung retten. Tatsächlich ist es nicht länger klar, warum die nutzlosen und lästigen Außenseiter, deren Körper keiner braucht und deren Seelen keiner gewinnen oder konvertieren will (da sie nicht länger die »Reservearmee der Arbeit« sind noch die zukünftigen Objekte der Ausbeutung und Kanonenfutter), nicht mit Gewalt entfernt werden sollten (»repatriiert«), wenn es einen Ort gibt, wohin sie entfernt werden können, oder nicht daran gehindert werden sollten, sich zu vermehren, wenn der Friedhof der einzige Ort ist, wohin man sie bringen kann. In Dialektik der Ordnung habe ich den Gedanken geäußert, daß die beispiellose Verdichtung an Grausamkeit, die die Völkermorde des 20. Jahrhunderts kennzeichneten, das Ergebnis der Anwendung moderner Verwaltungsmethoden und moderner Technologie auf die ungelösten vormodernen Spannungen und Konflikte sein könnte. Ein ähnliches dialektisches Zusammentreffen ist unter den entstehenden postmodernen Umständen schwerlich auszuschließen. Das unvollendete Geschäft der modernen Sozialtechnologie kann sich sehr wohl in einem erneuten Ausbruch einer wilden Misanthropie Luft schaffen, eher unterstützt als gehindert von der neuerlich legalisierten postmodernen Selbstzentriertheit und Gleichgültigkeit. Die schützende Mauer spielerischen Desinteresses, die der postmoderne Stil bietet, war genau das, was den Tätern der modernen Massengrausamkeiten fehlte und was sie unter äußerster Aufbietung von Scharfsinn und Klugheit durch maßgefertigte Hilfsmittel zu ersetzen hatten. Seit damals hat die Gleichgültigkeit erschreckende Fortschritte gemacht – das Elend anderer Menschen hat sich in den unaufhörlichen Strom leicht beunruhigender und leicht amüsanter Spektakel aufgelöst (amüsant, weil leicht beunruhigend) und ist von anderen Baudrillardschen simula410

cra ununterscheidbar geworden; während die geistige Technik, durch die das Leben in eine Reihe von gesondert zu behandelnden Fällen aufgeteilt worden ist, das »Bedürfnis nach dem anderen« (ganz zu schweigen von solchen abstrakten und mittlerweile weitgehend diskreditierten Begriffen wie »die Verantwortung für den anderen«) aus den relevanten »Faktoren des Falles« radikal entfernt hat. Für die meisten Menschen, die nach einer besseren Welt streben, hat sich die Vision eines universalen Paradieses auf die Versuche reduziert, die quälenden Aspekte des Lebens (ein Silo für toxische Abfälle, eine luftverschmutzende Fabrik, eine ungesunde Umgehungsstraße oder ein lärmender Flughafen) in anderer Leute Hinterhöfe zu verfrachten. Die gründliche, harte und kompromißlose Privatisierung aller Interessen war der Hauptfaktor, der die postmoderne Gesellschaft so spektakulär immun gegen systemische Kritik und radikalen gesellschaftlichen Dissens mit revolutionärem Potential gemacht hat. Es ist nicht notwendig der Fall, daß die Bewohner der postmodernen – privatisierten und zur Ware gemachten – Gesellschaft in der Gesamtsumme mehr Glück genießen (man würde immer noch gerne wissen, wie man Glück objektiv messen und vergleichen kann) und daß sie ihre Sorgen als weniger ernsthaft und schmerzlich empfinden; was wirklich zählt, ist, daß es ihnen nicht einfallen würde, dem Staat wegen der Probleme, die sie haben mögen, Vorwürfe zu machen und noch weniger zu erwarten, daß alsbald die Heilmittel gereicht werden. Die postmoderne Gesellschaft hat sich als eine nahezu perfekte Übersetzungsmaschine erwiesen – eine, die jede bestehende und zukünftige soziale Streitfrage als private Sorge interpretiert (in direktem Widerspruch zu C. Wright Mills sehr prä-postmoderner Beschreibung der Gleichzeitigkeit von guter Demokratie und guter Sozialwissenschaft). Es ist nicht das »Eigentum an den Produktionsmitteln«, das privatisiert worden ist (deren privater Charakter im Zeitalter der Fusionen und multinationalen Konzerne ständig mehr in Zweifel gerät). Die fruchtbarste aller Privatisierungen war die Privatisierung der menschlichen Probleme und der Verantwortung für ihre Lösung. Die Politik, die ihre 411

anerkannten Verantwortlichkeiten auf die Fragen der öffentlichen Sicherheit reduziert hat und im übrigen ihren Rückzug von den Aufgaben des Sozialmanagements erklärt, hat in Wirklichkeit die Übel der Gesellschaft desozialisiert und soziale Ungerechtigkeit in individuelle Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit übersetzt. Solche Politik ist nicht genügend attraktiv, um im Konsumenten den Bürger zu wecken; ihre Gewinne sind nicht eindrucksvoll genug, um sie zu einem Gegenstand für jenen Ärger zu machen, der für den Gedanken an Kollektivierung empfänglich ist. In der postmodernen Gesellschaft der Konsumenten spiegelt sich Versagen in Schuld und Scham, nicht in politischem Protest. Frustration erzeugt Verlegenheit, nicht Dissens. Vielleicht löst sie all die vertrauten Verhaltenssymptome des Nietzsche-Schelerschen Ressentiments aus, aber politisch entwaffnet sie und erzeugt Apathie. Die systemische Konsequenz der Privatisierung der Ambivalenz ist eine Abhängigkeit, die weder zwangsgestützter Diktatur noch ideologischer Indoktrination bedarf; eine Abhängigkeit, die zum größten Teil durch do-it-yourself-Methoden aufrechterhalten, reproduziert und verstärkt wird, die freiwillig angenommen und keineswegs als Abhängigkeit empfunden wird – man kann sogar sagen: die als Freiheit und als ein Triumph der individuellen Autonomie erfahren wird. Die erstrebte Freiheit des Konsumenten ist schließlich das Recht, »nach seinem eigenen Willen« Lebensplan und Lebensmethodologie zu wählen, die der überindividuelle Marktmechanismus schon für den Konsumenten definiert und bestimmt hat. Konsumentenfreiheit bedeutet Orientierung des Lebens an vom Markt anerkannten Waren und schließt dadurch eine entscheidende Freiheit aus: die Freiheit vom Markt, eine Freiheit, die alles andere bedeutet als die Wahl zwischen standardisierten kommerziellen Produkten. Vor allem lenkt die Konsumentenfreiheit die Hoffnungen der menschlichen Freiheit erfolgreich von Gemeinschaftsangelegenheiten und der Verwaltung des kollektiven Lebens ab. Jeder mögliche Dissens ist deshalb von vornherein entpolitisiert; er ist in noch mehr persönliche Ängste und Sorgen aufgelöst 412

und auf diese Weise von den Zentren der gesellschaftlichen Gewalt auf die privaten Anbieter von Konsumgütern abgelenkt. Die Lücke zwischen wünschenswerten und erreichten Zuständen des Glücks resultiert in der gesteigerten Faszination durch die Verlockungen des Marktes und die Aneignung von Waren; die Räder des sich selbst perpetuierenden Mechanismus der konsumorientierten Ökonomie werden dadurch geschmiert, während politische und soziale Strukturen unbeschädigt und intakt daraus hervorgehen. Wenn die Definitionen und insbesondere die Wege und Mechanismen der sozialen Mobilität privatisiert sind, führen alle potentiell explosiven Probleme wie gescheiterte persönliche Ambitionen, demütigende Verweigerungen öffentlicher Bestätigung der Selbstdefinitionen, verstopfte Kanäle der Beförderung, selbst die Vertreibung aus der Sphäre, in der berufsspezifische, öffentlich anerkannte Bedeutungen und Identitäten verteilt werden, im besten Fall zu einer noch fieberhafteren Suche nach vom Markt angebotenen Vorschriften, Fertigkeiten und Werkzeugen der Selbst- oder Imageverbesserung oder enden in der trostlosen Resignation des Wohlfahrtsempfängers – jenes sozial bestätigten Musterfalles persönlicher Inkompetenz und Impotenz. In keinem Fall sind die Ergebnisse mit politischen Bedeutungen umhüllt. Privatisierte Ambitionen definieren Frustration vorweg als eine gleichermaßen private Angelegenheit, einzigartig ungeeignet, um in einen kollektiven Übelstand verwandelt zu werden. Es gibt keine Solidarität ohne die Toleranz für die Andersheit des anderen. Aber Toleranz ist nicht die hinreichende Bedingung für Solidarität. Noch ist die Solidarität die vorherbestimmte Konsequenz der Toleranz. Zwar kann man sich nicht vorstellen, daß eine Grausamkeit im Namen der Toleranz begangen wird; aber es gibt viele Grausamkeiten, die sich leichter begehen lassen, weil Toleranz ein erhabenes Desinteresse nährt. Die Postmoderne ist ein Ort der Gelegenheit und ein Ort der Gefahr; und sie ist beides aus denselben Gründen.

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Sozialismus: Die letzte Festung der Moderne Von Anfang an war und blieb der moderne Sozialismus die Gegenkultur der Moderne. Wie alle Gegenkulturen erfüllte der moderne Sozialismus im Verhältnis zur Gesellschaft, der er opponierte und diente, eine dreifache Funktion: er entlarvte den Trug, den erreichten Gesellschaftszustand als Erfüllung ihres Versprechens auszugeben; er widerstand der Verdrängung oder Verheimlichung der Möglichkeit, das Versprechen besser zu erfüllen; und er drängte die Gesellschaft in Richtung auf eine solche bessere Erfüllung ihres Potentials. In der Loyalität, mit der er diese dreifache Funktion erfüllte, liegt das Geheimnis seines Glanzes wie seines Elends. Wie alle Gegenkulturen gehörte der moderne Sozialismus zu derselben historischen Formation wie die Gesellschaft, die er bekämpfte. Diese Zusammengehörigkeit zeigte sich in dem unverzichtbaren Dienst, den der Sozialismus der Dynamik und Haltbarkeit der modernen Gesellschaft leistete. Durch die Wahrnehmung seiner gegenkulturellen Rolle hielt der Sozialismus diese Gesellschaft konstant in Bewegung, indem er die Probleme artikulierte, die sie zu lösen hatte, um am Leben zu bleiben, indem er die Attraktivität ihres Versprechens bekräftigte und aufrechterhielt und auf diese Weise eine ständige Unterstützung für ihre Arbeiten sicherte und schließlich zu ihrem Krisenmanagement-Potential und ihrer Gesamtlebensfähigkeit beitrug. Diese Zusammengehörigkeit zeigte sich auch darin, daß sich der Sozialismus so gut wie vollständig auf das Programm verließ, das die Moderne entworfen hatte. Das eigene Programm des Sozialismus war eine Version des Projekts der Moderne; es schärfte und radikalisierte das Versprechen, das das Ganze der modernen Gesellschaft zu halten geschworen hatte. Der Sozialismus war nicht verpflichtet, den Wert und die Wünschbarkeit des modernen Projekts als solchem zu beweisen. Beide waren von der Praxis der Moderne schon genügend demonstriert worden – und dank der Lobpreisungen seiner offiziellen Fürsprecher fest im öffentlichen Bewußtsein verankert. Infolgedes414

sen konnten Marx und Engels in klarem Bewußtsein die bewunderungswürdige Leistung der kapitalistischen Verwalter der Moderne rühmen, die alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige entweiht und die schöpferische Kraft der Menschheit zu unerhörten Grenzen getrieben haben. Lassalle konnte den Herren Kapitalisten danken, daß sie die sozialistische Aufgabe erfüllten, indem sie den Boden für die Art Gesellschaft bereitet hätten, die sie nur zu errichten versprächen, die die Sozialisten aber mit Sicherheit errichten würden. Diese Gesellschaft, für die der moderne Sozialismus die gleiche uneingeschränkte Begeisterung zeigte wie die Moderne, sollte errichtet werden. Sie sollte artifiziell geplant und konstruiert werden, indem die Menschheit von den Zwängen der Knappheit befreit, die menschliche Abhängigkeit von den beschränkten Gaben der Natur beendet, die karge Natur menschlichen Bedürfnissen unterworfen würde – und indem man sie zwingen würde, mit der Unterstützung des politischen Willens, der Wissenschaft und Technologie, die unisono daran arbeiten würden, die Produktivkräfte der Menschheit zu vergrößern, noch mehr zu liefern. Der Sozialismus hatte keine anderen Ziele als die, denen die gesamte moderne Gesellschaft ihren Tribut zahlte, zumindest öffentlich. Und er schlug auch keine Mittel zur Erreichung dieser Ziele vor, die sich von den Entwürfen und dem Management rational konzipierter sozialer Institutionen unterschieden, die schon anerkannt waren und in der Praxis der Moderne einer alltäglichen Überprüfung ausgesetzt waren. Der Sozialismus bestätigte nur von neuem, daß die Ziele erstrebenswert und die Mittel brauchbar waren – indem er die Schuld für das »schlechte bisherige Abschneiden« bei dem gegenwärtigen kapitalistischen Verwalter des Hauses der Moderne suchte. Die Originalität, Einzigartigkeit und Unentbehrlichkeit des Sozialismus bestand nicht in der Erfindung von Zielen und Mitteln, die sich von denen der Moderne als Ganzes unterschieden, sondern in der Förderung der Idee, daß, wie die Tragkraft einer Brücke (die weder durch den stärksten ihrer Pfeiler noch durch die durch415

schnittliche Stärke ihrer Stützen, sondern durch die Haltbarkeit ihrer schwächsten Säulen gemessen wird), die Qualität der Gesellschaft durch die Wohlfahrt ihrer schwächsten Mitglieder gemessen werden soll. Nach sozialistischen Maßstäben des Messens blieb die Leistung der Moderne ständig hinter den erklärten Zielen zurück und ließ die Effizienz der Mittel zu wünschen übrig; die Moderne unter kapitalistischem Management wurde der mangelhaften Leistung und der Ineffizienz angeklagt. Die Art, wie der Sozialismus diese Mißwirtschaft erklärte, blieb strikt innerhalb des Idioms, welches die moderne Mentalität begriff und verstand: All diesen Fehlschlägen und trügerischen Versprechen lag eine einzigartige Unfähigkeit zugrunde, die Natur menschlichen Zwecken dienstbar zu machen. Im Vorbringen dieser Anklagen war der Sozialismus verletzend und kompromißlos. Was immer die Kapitalisten getan hatten, um die Natur zu besiegen, die sozialistischen Manager hätten es besser gemacht oder würden es besser machen. Mehr Wachstum, mehr Maschinen, mehr Maschinenoperateure. Der Kapitalismus war die Fessel der Moderne. Unter kapitalistischem Management verwirkte die Moderne ihre Chance, die Welt von Kopf bis Fuß neu zu gestalten, die Natur biegsam, formbar, dem menschlichen Willen gefügig zu machen. Privateigentum und beschränkte Ressourcen sowie die beengte Sicht, die damit einherging, hinderten das unbegrenzte Potential der Werkzeuge und Techniken, die die Moderne verfügbar machte, an der Entfaltung. Der Wettbewerb knebelte die Vernunft, die nur durch globales Planen mit vernehmlicher Stimme sprechen konnte – allerdings nur, wenn ihr erlaubt war, frei zu herrschen und ohne Einschränkung zu befehlen. Weil unter dem Kapitalismus den nicht ganz ausgerotteten privaten, lokalen Interessen gestattet war, sich einzumischen, wurde am Ende des Tages mehr Abfall produziert als nützliche Produkte. Unter dem Kapitalismus war die Moderne ineffizient, ruchlos und destruktiv. Der moderne Stil der Verwaltung könnte effektiver, vernünftiger, schöpferischer sein – produktiver. Mehr Sozialtechnologie in größerem Maßstab war nötig, um das zu bewirken. 416

Der Sozialismus hatte an dem Projekt der Moderne nichts auszusetzen. Was falsch war, war die Folge kapitalistischer Verzerrung. Man mußte die Kühnheit der Vision und die wunderbaren wirklichkeitsgestaltenden Werkzeuge aus den kapitalistischen Fesseln befreien, damit sie ihr wahres Potential zeigen konnten und jedermann ihre Früchte genießen könnte. Zwischen Sozialismus und Moderne gab es keinen prinzipiellen Streit. Seine ganze Geschichte über war der Sozialismus der kräftigste und tapferste Fürsprecher der Moderne. Er beanspruchte auch, ihr wahrer Fürsprecher zu sein. Je mehr diesem Anspruch geglaubt wurde, desto weniger zwingend erschien der praktische Test der Moderne, der unter kapitalistischen Auspizien durchgeführt wurde. Praktische Niederlagen hatten keinerlei Auswirkung auf die Anständigkeit und Richtigkeit des Projekts. Wie häßlich auch immer ihre kapitalistische Ausgabe sein mochte, die Moderne brauchte nicht verunglimpft zu werden. Man konnte immer noch auf eine sorgfältiger und erfreulicher editierte Version hoffen. Der sozialistische Kritiker des Kapitalismus war der treueste und effektivste Freund der Moderne. Am Ende erwies sich der Freund aber als Totengräber. Die alternative Ausgabe trug nur wenig dazu bei, die Irrtümer zu korrigieren, und nichts mehr konnte die Schönheit des Projekts gegen die Häßlichkeit seiner Ausführung retten. Sie tat alles, um offensichtlich zu machen, was andernfalls vielleicht nur eine böse, gleichwohl umstrittene Vermutung geblieben wäre. Und so wurde das Projekt unter sozialistischen, nicht unter kapitalistischen Vorzeichen an seine radikalen Grenzen geführt: große Entwürfe, unbegrenzte Sozialtechnologie, riesige und klobige Technologie, totale Transformation der Natur. Wüsten wurden bewässert (aber sie verwandelten sich in versalzene Sümpfe); Marschland wurde entwässert (aber es verwandelte sich in Wüsten); riesige Gasleitungen zogen kreuz und quer übers Land, um die Unlogik zu korrigieren, mit der die Natur ihre Ressourcen verteilt hatte (aber sie explodierten ständig mit einer Gewalt, die mit der Gewalt natürlicher Katastrophen von einst nicht mehr vergleichbar war); Millionen wurden aus der »Idiotie des Landlebens« fortbewegt (aber sie 417

wurden vergiftet durch die Ausdünstungen rational entworfener Industrien, wenn sie nicht schon unterwegs zugrunde gingen). Vergewaltigt und verkrüppelt, lieferte die Natur keineswegs die Reichtümer, auf die man gehofft hatte; der totale Maßstab des Plans machte nur die Verwüstung total. Noch schlimmer, all das Vergewaltigen und Verkrüppeln erwies sich als vergeblich. Wenig Gleichheit war die Folge, noch weniger Freiheit. Und was gar die Brüderlichkeit anbelangt – sie erwies sich als von der Art, die mit der ersten Brise der Freiheit dahinwelkt.24 Der Sozialismus stellte die Moderne auf ihre letzte Probe. Der Fehlschlag war so endgültig wie die Probe selbst. Die Triftigkeit der sozialistischen Botschaft war eine intellektuelle Widerspiegelung der Verwurzelung der modernen Ordnung. Die Überzeugungskraft des sozialistischen Versprechens entsprang der Popularität der Werte, die die Moderne befürwortete, und der Glaubwürdigkeit der Mittel, die sie bereitstellte. Auf Gedeih und Verderb, bis daß der Tod sie schiede, verband der moderne Sozialismus sein Schicksal mit dem des Projekts der Moderne. Sie wuch24 In der gegenwärtigen sowjetischen Neubewertung des Aufbau-Projekts des Kommunismus wird das Thema, die Nichtigkeit des modernen Dranges, die Welt neu zu schaffen, zu ihrem groteskesten und entsetzlichsten Extrem zu treiben, unaufhörlich wiederholt. Nikolai Skatow, einer der führenden Teilnehmer an der Debatte, schrieb kürzlich, daß »drei Hauptkatastrophen und Gefahren, die die Menschheit bedrohen, sich in unserem Lande mit außergewöhnlicher Gewalt konzentriert und gezeigt haben. Zunächst ereignete sich schließlich Tschernobyl hier. Zweitens, wir waren es, die die fruchtbarste Schwarzerde der Welt beinahe zerstört, die Wolga (Wolga!) vergewaltigt und in unsere Hauptbrunnen gespuckt haben (Baikal, Aral, Ladoga), weil wir vergessen haben, daß dies vielleicht die letzten Brunnen sind, aus denen wir unser Wasser trinken werden. Drittens (oder ist es erstens?) – die Kultur […] Niemals zuvor war die Kultur so hilflos und verletzlich, und ihr gegenwärtiges tragisches Schicksal steht im Rang von globalen Krisen und Katastrophen, die die Menschheit als Ganzes in Mitleidenschaft ziehen.« (»Dukh vzyskuyushchij« [»Der suchende Geis«], in: Prawda, 13. Nov. 1989, S. 4.)

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sen zusammen auf. Sie feierten zusammen ihre Triumphe. Zusammen gelangten sie an den Rand der Katastrophe. Die gegenwärtige Krise des Sozialismus ist ebenso abgeleitet wie seine vergangenen Triumphe. Die gegenwärtige Krise hat ihren Ursprung nicht im Sozialismus allein. Es ist die Krise des Sozialismus als einer verzerrten und am Ende ineffektiven Form der Moderne; aber es ist auch eine Widerspiegelung der Krise des Projekts der Moderne als solchem. Die sozialistische Gegenkultur hat die Kultur überlebt, der sie opponiert hatte. Durch ein Paradox der Geschichte blieb sie eine Weile allein im Feld und verteidigte die Bollwerke, die von den anderen Truppen verlassen waren. Durch die Logik der historischen Erinnerung fuhr der Sozialismus ganz unreflektiert fort, seine traditionellen Dienste als Gegenkultur der Moderne zu einem Zeitpunkt anzubieten, als die Welt um ihn herum immer lauter die Werte und Strategien in Frage stellte, die als Markenzeichen der Moderne dienten. Wie die zeitgenössische Neuauflage des Don Quichote fuhr er fort, die alten Schlachten zu schlagen, zu einem Zeitpunkt, als sie für viele schon verloren waren, während sie für die denkende Minderheit gar nicht erst wert waren, geschlagen zu werden. Der jüngere, hitzköpfige und ungeduldige Bruder des Sozialismus, der Kommunismus, nahm aufrichtig Anteil an dem Vertrauen der Familie auf die wundervollen Versprechungen und Aussichten der Moderne und wurde durch die atemberaubenden Ausblicke auf eine Gesellschaft, die sich historischer und natürlicher Notwendigkeit entledigte, sowie durch die Idee der letzten Unterordnung der Natur unter menschliche Bedürfnisse und Wünsche von Ehrfurcht erfüllt. Aber im Unterschied zum älteren Bruder traute er der Geschichte nicht zu, den Weg zum Tausendjährigen Reich zu finden. Und er war auch nicht bereit zu warten, bis die Geschichte dieses Mißtrauen als falsch erweisen würde. Sein Kriegsruf war: »Das Königreich der Vernunft – jetzt!« Wie der Sozialismus (und alle anderen standhaften Anhänger der modernen Werte des technologischen Fortschritts, der Transformation der Natur und einer Gesellschaft des Überflusses) war 419

der Kommunismus gründlich modern in seiner leidenschaftlichen Überzeugung, daß die gute Gesellschaft nur eine Gesellschaft sein könne, die sorgfältig geplant, rational verwaltet und gründlich industrialisiert wäre. Im Namen dieser gemeinsamen modernen Werte warf der Sozialismus den kapitalistischen Verwaltern des modernen Fortschritts Mißwirtschaft, Ineffizienz und Verschwendung vor. Der Kommunismus warf dem Sozialismus vor, daß es ihm nicht gelungen sei, Schlußfolgerungen aus den Vorwürfen zu ziehen: daß er bei Kritik, Denunziationen, Anstachelung haltmache – wo eine sofortige Entlassung der unfähigen und korrupten Verwaltung notwendig wäre. Lenins Neudefinition der sozialistischen Revolution als Ersatz statt Fortsetzung der bürgerlichen Revolution war der Gründungsakt des Kommunismus. Nach dem neuen Glaubensbekenntnis war der Kapitalismus ein Krebsgeschwür an dem gesunden Körper des modernen Fortschritts; nicht mehr ein notwendiges Stadium auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die moderne Träume verkörperte. Kapitalisten konnten nicht einmal mit den einleitenden Aufgaben betraut werden (wie einst von den Gründern des modernen Sozialismus, Marx und Engels), den Boden zu bereiten, »alles Ständische und Stehende zu verdampfen, alles Heilige zu entweihen«. Tatsächlich war die Bereitung dieses Bodens selbst weder eine Notwendigkeit noch eine Aufgabe, die nützlich genug war, die Verschwendung an Zeit zu rechtfertigen, die für ihre Erledigung benötigt wurde. Da die Prinzipien einer rational organisierten guten Gesellschaft (mehr Fabriken, mehr Maschinen, mehr Kontrolle über die Natur) gut bekannt waren und darüber Übereinstimmung herrschte, konnte man sich direkt daranmachen, jede Gesellschaft (und besonders eine Gesellschaft ohne Fabriken, ohne Maschinen, ohne die Kapitalisten, die wild darauf waren, sie zu bauen, ohne die im Prozeß des Bauens unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiter) in einen Staat einzuführen, der nach diesen Prinzipien entworfen war. Es war sinnlos zu warten, bis die gute Gesellschaft durch die Aktion der Arbeiter zustande käme, welche die Leiden satt hatten, die von der kapitalistischen Mißwirtschaft des Fortschritts verursacht wurden. 420

Da man wußte, wie die gute Gesellschaft beschaffen sein würde, war es ein unverzeihliches Verbrechen, ihre Errichtung zu verzögern oder auch nur zu verlangsamen. Die gute Gesellschaft konnte, mußte sofort errichtet werden, bevor die Kapitalisten eine Chance zur Mißwirtschaft hätten und die Arbeiter die Ergebnisse ihrer Mißwirtschaft kosten mußten; oder vielmehr sollten ihre Planer sofort die Kontrolle über die Gesellschaft übernehmen, ohne auf die Konsequenzen der Mißwirtschaft zu warten. Der Kapitalismus war eine unnötige Ablenkung vom Pfad der Vernunft. Der Kommunismus war eine gerade Straße zum Königreich der Vernunft. Der Kommunismus, pflegte Lenin zu sagen, ist Sowjetmacht plus »Elektrifizierung des ganzen Landes«: d.h. moderne Technologie und moderne Industrie unter einer Macht, die sich ihres Ziels von vornherein bewußt war und nichts dem Zufall überließ. Der Kommunismus war die Moderne in ihrer entschlossensten Stimmung und entschiedensten Haltung; die stromlinienförmige Moderne, die vom letzten Rest an Chaotischem, Irrationalem, Spontanem, Unvoraussagbarem gereinigt war. In diesen jetzt unheimlich fernen Zeiten schien das kühne kommunistische Projekt sehr sinnvoll und wurde von Freunden und Feinden gleichermaßen ernst genommen. Der Kommunismus versprach (oder drohte, je nach der Perspektive des Betrachters) zu tun, was jeder sonst tat, nur schneller (erinnert man sich noch des verführerischen Charmes der Konvergenztheorie?). Die wirklichen Zweifel kamen auf, als die anderen aufhörten, es zu tun, während der Kommunismus weiterhin den jetzt aufgegebenen Zielen nachjagte; teils durch die Trägheit der Masse, aber zum größten Teil aufgrund der Tatsache, daß er – als Kommunismus in Aktion – nichts anderes tun konnte. In seiner praktischen Erfüllung war der Kommunismus ein System, das einseitig der Aufgabe angepaßt war, natürliche und soziale Ressourcen im Namen der Modernisierung zu mobilisieren: das Dampf-und-Eisen-Ideal des modernen Überflusses aus dem 19. Jahrhundert. Er konnte – zumindest nach seiner Überzeugung – mit den Kapitalisten konkurrieren, aber einzig mit den Kapitali421

sten, die dasselbe Ziel verfolgten. Was er nicht tun konnte und wozu er sich nicht aufraffte, war, der Leistung der kapitalistischen, marktzentrierten Gesellschaft etwas gleiches gegenüberzustellen, sobald diese Gesellschaft ihre Stahlwerke und Kohleminen aufgab und sich ins postmoderne Zeitalter fortbewegte (sobald sie, in Jean Baudrillards passendem Aphorismus, sich von der Metallurgie zur Semiurgie fortbewegte; festgeklebt auf der metallurgischen Stufe, verschwendete der Sowjetkommunismus, als wenn er Teufel austriebe, seine Energie darauf, weite Hosen, lange Haare, Rockmusik und alle anderen Manifestationen semiurgischer Initiative zu bekämpfen). Das ist es, was Gorbatschow vor Augen zu haben schien, als er obsessiv von den »verlorenen Breschnew-Jahren« sprach: In der entscheidenden Periode, als der Westen den Stahl-und-BetonTräumen der Vergangenheit den Rücken kehrte und sich einer sanfteren und leichtherzigeren Version des menschlichen Glücks zuwandte, fuhr die kommunistische Elite – die so schnell alterte wie das Projekt, das sie einst an der Macht gehalten hatte – fort, Flüsse trockenzulegen und Felder unter Wasser zu setzen. All dies war schon vorher von den kapitalistischen, westlichen Modernisierern getan worden – und zwar ebenso gnadenlos und manchmal noch gründlicher. Worum es ging, war freilich, daß die Gerontokratie der »Zeit der Stagnation« es einfach zu lange betrieb. »Postmoderne Werte« hatten solche Taten schon im wohlhabenden Westen diskreditiert, der nun reich und weise genug war, Dreck Dreck zu nennen und infolgedessen eifrig damit beschäftigt war, seinen eigenen Abfall an ferne Orte und in die Heimat weniger glücklicher Menschen zu verschleppen. Das kommunistische Modernisierungsabenteuer hatte an allen inneren Widersinnigkeiten der Moderne im allgemeinen teil; zu seinen generellen Schwächen fügte es Absurditäten und Schwierigkeiten eigener Machart hinzu. Aber nicht auf die entfernteste Weise war es darauf vorbereitet, den neuen, postmodernen Erwartungen zu dienen. Die Heraufkunft der postmodernen Situation und postmodernen Mentalität rieb Salz in die offenen Wunden: Die menschlichen Objekte 422

der Modernisierungspläne entdeckten nicht nur ihr Schicksal als Elend, sondern sie hörten auf, die Gründe zu verstehen, in deren Namen sie überhaupt erst die Straße des Elends beschritten hatten. Die kommunistische Diktatur über Bedürfnisse und das Monopol über die Mittel und Verfahren der Bedürfnisbefriedigung machen den kommunistischen Staat zu einem offensichtlichen Gegenstand der individuellen Unzufriedenheit; er muß zwangsläufig individuelle Frustrationen auf dieselbe Weise kollektivieren, wie er die Mittel der Befriedigung kollektiviert hat. Dieselben personalen Frustrationen und Übelstände, die in einer Marktgesellschaft (einer Gesellschaft, die die Verantwortung für das eigene Leben und das Gewissen erfolgreich privatisiert hat) ebenso verstreut und verteilt wie auch entpolitisiert sind, sind in einem »Wächter«-Staat kommunistischen Stils zu einem systemzerstörenden politischen Protest verdichtet. Hier ist der Staat die Agentur, an die sich die Klagen ebenso natürlich und selbstverständlich richten, wie es die Erwartungen eines besseren Lebens getan haben. Im Unterschied zur postmodernen Welt der privatisierten Wahlen sind die Quellen des diffusen Unglücks nicht selbst diffus und können aus dem Telefonbuch nicht herausgehalten werden; sie werden öffentlich verkündet, sind offensichtlich und leicht zu lokalisieren. Zugegebenermaßen waren die kommunistischen Regime hervorragend gerüstet, den Informationsfluß zu ersticken, und haben die Kunst der Staatsgeheimniskrämerei auf anderswo ungeahnte Höhen emporgehoben. Und trotzdem erwiesen sie sich als viel weniger erfolgreich als die marktorientierten Gesellschaften in dem Bemühen, die Verantwortung für gesellschaftlich erzeugte Krankheiten, für irrationale Konsequenzen rationaler Entscheidungen und für das Gesamt-Mißmanagement sozialer Prozesse zu verteilen und zu verstecken. Es gelang ihnen nicht einmal, die Tatsache der Informationsunterdrückung zu unterdrücken, und ihnen wurde deshalb die Art »Vertuschung«, die die Marktagenturen der Konsumgesellschaften täglich, mühelos und ohne Aufmerksamkeit (noch weniger einen öffentlichen Aufschrei) auf sich zu lenken, praktizieren, als politisches Verbrechen zum Vorwurf gemacht. 423

Hat Sozialtechnologie eine Zukunft? Sozialtechnologie ist in Ungnade gefallen. Nur wenige Menschen würden es wagen, nach dem schmählichen Ende des kommunistischen Experiments ihre Vernünftigkeit und moralische Integrität zu verteidigen. Prediger der Maximen »Jeder für sich selbst« und »Der Staat hilft denen, die sich selbst helfen« triumphieren: Haben wir es dir nicht gesagt? Alle Zeichen auf der Erde weisen darauf hin, daß du, sobald du erst einmal anfängst, die Gesellschaft zu heilen, leicht dabei endest, Leute zu ermorden und die, die am Leben bleiben, niemals aus der intensiven Fürsorge zu entlassen. Selbst wenn du davor zurückschreckst, derart scheußliche Dinge zu tun, erzeugst du immer noch mehr Abhängigkeit als Freiheit, und wenn du erst einmal dein Ziel erreicht hast – den Leuten Mittel an die Hand zu geben, um ihren eigenen Weg zu gehen –, finden sie heraus, daß seinen eigenen Weg zu gehen gerade der eine Spielzug ist, den das Spiel nicht zuläßt. Es spricht also alles dafür, daß sie keinen Grund dafür sehen (nicht jetzt, wo sie wieder die Mittel haben), für deine Geschenke dankbar zu sein. Solche und ähnliche Schlußfolgerungen können sich zur Unterstützung auf ein solides Maß an historischer Erfahrung berufen, und das Frohlocken der Ideologen des »Jedem seine Freiheit« ist nicht leicht zu kontern: Ihre Stimmen scheinen die einzigen zu sein, die zu hören sind. Die Tage der großen sozialtechnologischen Projekte scheinen vorüber. Und ebenso die Zeiten, als die Träume von einer besseren Gesellschaft nicht entweder als Flüge der Phantasie oder als Erklärungen mit subversiver Absicht von der Hand gewiesen werden konnten, sondern ganz ernsthaft als eine Herausforderung an die gesellschaftliche Praxis und vor allem als bedeutungsvolle Kritik der Gegenwart behandelt werden mußten, die die herrschenden Mächte nicht besiegen konnten und mit denen sie deshalb gemeinsame Sache machen mußten. Sozialtechnologie als ein gültiges Mittel der politischen Praxis aufzugeben bedeutet, alle Visionen einer anderen Gesellschaft aufzugeben (und aus dem gleichen Grund zu diskreditieren); ja eine 424

Art intellektueller Prohibition auch nur der Erwägung eines gesellschaftlichen Modells, das sich vom bestehenden unterschiede. Die Kritik der Nichtigkeiten und Ungerechtigkeiten der gegenwärtigen Gesellschaft, wie offensichtlich sie auch sein mag, wird durch den einfachen Einwand entwertet, daß die Neugestaltung der Gesellschaft nach einem Plan sie wahrscheinlich nur schlechter machen würde, als sie ist. Alternative Ziele werden zufolge der erwiesenen Unwirksamkeit der Mittel entwertet. Die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt, scheint es, hat den Höhepunkt der Stabilität erreicht: Sie hat alle Alternativen zu sich selbst zerstört. Und so hören wir vom Ende der Geschichte, vom endgültigen Triumph der einen Gesellschaftsordnung, die schlüssig ihre Überlegenheit über frühere Rivalen bewiesen habe (eine Überlegenheit, die selbst die Rivalen zugeben mußten). Wir hören, daß es von jetzt an keine qualitative Veränderung mehr geben werde, sondern nur noch mehr vom selben. Dies sind offenbar gute Nachrichten für die Verführten, die die bestehende Ordnung ihren Wünschen ganz und gar angemessen finden; die hoffen können, daß ihre Wünsche durch die Mittel befriedigt werden, die sie besitzen oder die sie vernünftigerweise zu erwerben hoffen können; die deshalb ihre Lage mit Recht als eine Situation der Freiheit ansehen und natürlicherweise jede Veränderung der Spielregeln als unbilligen Eingriff und schädlichen Zwang ansehen würden. Dies sind gleichzeitig schlechte Nachrichten für die Unterdrückten, die die bestehenden Spielregeln als ihrem Wohlergehen abträglich empfinden, ja vielleicht als existenzbedrohend, und infolgedessen ihre Lage als beengend und dringend änderungsbedürftig. Diese würden es schwer finden zu glauben, daß die gegenwärtigen Regeln unparteiisch sind und jedem eine gleiche Chance geben. Noch weniger glaubhaft ist für sie die Behauptung, daß der gegenwärtige Weltzustand nicht verbessert werden kann, da dies die Art Welt sei, der man zutrauen kann, daß sie ihre eigenen Mängel korrigiert. Selbst wenn man Rorty zustimmt, daß, vorausgesetzt, wir tragen Sorge für die Freiheit, Wahrheit und Schönheit dann für sich selbst 425

Sorge tragen werden, ist der Idee, daß soziale Gerechtigkeit gleichermaßen für sich selbst Sorge tragen werde, weniger leicht zuzustimmen. Den Fall der Gerechtigkeit auf sich beruhen zu lassen bedeutet, denen die Hilfe zu verweigern, die ihrer bedürfen oder auf jeden Fall ohne sie nicht auskommen. Es bedeutet, die Spaltung in die frei Verführten und die Unterdrückten zu verzeihen, den Schmutz eines Lebens ohne Hoffnung, die Qual der Empfindung, daß »ich und andere wie ich« überholt und zurückgelassen worden sind. Es bedeutet auch, sich des kollektiven Privilegs der reichen, postmodernen Welt zu erfreuen und sich das eigene Vergnügen nicht von der Armseligkeit der restlichen Menschheit schmälern zu lassen, die außen vor der schwerbewachten Tür gehalten worden ist, damit das Fest innen weitergehen kann. Sozialtechnologie hat sich als ein kostspieliger Ehrgeiz erwiesen; je großartiger, desto kostspieliger. Das bedeutet freilich nicht, daß der Verzicht auf Sozialtechnologie keine Kosten verursacht. Die Illusion des Gewinns rührt von einer veränderten Verteilung der Kosten. Und diejenigen, die die Kosten tragen, sind nicht die, die sie errechnen. Man kann sogar sagen, daß die Verhinderung der Sozialtechnologie selbst eine gewisse Art Sozialtechnologie ist, sobald man einmal weiß (und wir haben jetzt ein solches Wissen), welche Konsequenzen die »natürlichen« Entwicklungen sehr wahrscheinlich mit sich führen werden, wenn man sie nicht beobachtet und korrigiert. Daher ist die Wahl nicht so eindeutig, wie die Diskreditierung des modernen Planungsehrgeizes nahelegen konnte. Eine Sache ist gewiß – daß die Wahl kaum jemals politisch und sozial neutral ist. Die Gewinn- und Verlustrechnung von Handeln wie von Nicht-Handeln ist nicht einfach ein Beispiel für nicht-parteiisches Expertenwissen und trockene, leidenschaftslose Buchhaltung, sondern eine politische Entscheidung zwischen Alternativen, die mit aussichtslosen Leben und zerschlagenen Hoffnungen belastet sind.

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Die politische Tagesordnung der Postmoderne Nichts in der Geschichte hört bloß auf, kein Projekt ist jemals beendet und erledigt. Saubere Grenzen zwischen Epochen sind nur Projektionen unseres unnachgiebigen Dranges, das Untrennbare zu trennen und das Fließen zu ordnen. Die Moderne ist noch bei uns. Sie lebt als der Druck unerfüllter Hoffnungen und Interessen, die sich zu selbstreproduzierenden Institutionen verhärtet haben; als der Eifer der notgedrungen verspäteten Imitatoren, die an dem Fest teilnehmen wollen, das diejenigen, die es jetzt mit Abscheu verlassen, einst stolz genossen haben; als die Gestalt der Welt, die die moderne Arbeiterschaft zurückgelassen hat – damit wir sie bewohnen; als die »Probleme«, die diese Arbeiterschaft erzeugt und für uns definiert hat, wie auch unsere historisch ausgebildete, aber inzwischen instinktive Art, über Probleme nachzudenken und auf sie zu reagieren. Das ist es vielleicht, worauf sich Leute wie Habermas beziehen, wenn sie von dem »unvollendeten Projekt der Moderne« sprechen. Und dennoch – ob das Projekt nun die Gestalt behält oder nicht, die wir in Erinnerung haben –, irgend etwas ist uns sicherlich zugestoßen, die wir die Projekte unternehmen und vollenden. Ebendie Tatsache, daß wir jetzt von der Moderne als einem Projekt sprechen (einem Entwurf mit Intentionen, Zielen und Mitteln), bezeugt aufs überzeugendste die Veränderung, die in uns vorgegangen ist. Unsere Vorfahren sprachen nicht von dem »Projekt«, als sie eifrig mit dem beschäftigt waren, was sich für uns wie ein unvollendetes Geschäft ausnimmt. Michael Phillipson gab seinem jüngst veröffentlichten Buch den Titel In Modernity’s Wake [Im Kielwasser der Moderne]. Ein glücklich gewählter Ausdruck, der ein eindrückliches Bild evoziert: Das Schiff ist vorbeigefahren; seine Fahrt hat die Wasser aufgewühlt, eine Turbulenz hinterlassen, so daß alle Segler drum herum ihren Booten eine neue Richtung geben müssen – während die, die ins Wasser gefallen sind, kräftig schwimmen müssen, um sie zu erreichen. Sobald sich aber das Wasser erst einmal wieder beruhigt hat, 427

können wir, die Segler und früheren Passagiere gleichermaßen, einen näheren Blick auf das Schiff werfen, das dies alles verursacht hat. Dieses Schiff ist immer noch ganz nah, riesig und klar sichtbar in seiner massigen Gestalt, aber wir sind jetzt hinter ihm, und wir stehen nicht mehr länger auf seinem Deck. Auf diese Weise können wir es in seiner ganzen eindrucksvollen Größe sehen, von vorn bis hinten überblicken, es würdigen, die Richtung abschätzen, die es nehmen wird. Wir können uns jetzt entscheiden, ob wir seinem Kurs folgen wollen. Wir können auch besser die Weisheit seiner Führung beurteilen und selbst gegen die Kommandos des Kapitäns protestieren. »Im Kielwasser« leben bedeutet Turbulenz, aber auch eine weitere Aussicht und die neue Weisheit, die sie bietet. Im Kielwasser der Moderne werden die Passagiere ernsthafter Fehler im Plan des Schiffes gewahr, das sie dorthin brachte, wo sie jetzt sind. Sie sind auch mit der Tatsache versöhnt, daß es sie zu keinem angenehmeren Ziel bringen konnte, und bereit, von neuem, mit einem frischen und kritischen Blick, auf die alten Navigationsprinzipien zu schauen. Mit anderen Worten, wirklich neu in unserer Situation heute ist unser vorteilhafter Aussichtspunkt. Während wir uns immer noch in enger Nachbarschaft zur Moderne befinden und die Wirkungen der Turbulenzen spüren, die sie auf ihrem Weg verursacht hat, sind wir jetzt imstande (besser: sind wir jetzt bereit und gewillt), einen kühlen und kritischen Blick auf die Moderne in ihrer Totalität zu werfen, ihre Leistung zu bewerten, ein Urteil über die Solidität und Angemessenheit ihrer Konstruktion zu fällen. Das ist es letztlich, wofür die Idee der Postmoderne steht: eine Existenz, die völlig durch die Tatsache bestimmt und definiert ist, daß sie post ist (hinterher kommt) und überwältigt ist vom Bewußtsein, sich in einer solchen Lage zu befinden. Postmoderne bedeutet nicht notwendig das Ende, die Diskreditierung oder Verwerfung der Moderne. Postmoderne ist nicht mehr (aber auch nicht weniger) als der moderne Geist, der einen langen, aufmerksamen und nüchternen Blick auf sich selbst wirft, auf seine Lage und seine vergangenen Werke, 428

nicht ganz überzeugt von dem, was er sieht, und den Drang zur Veränderung verspürt. Postmoderne ist die Moderne, die volljährig wird: die Moderne, die sich selbst aus der Distanz betrachtet statt von innen, die ein vollständiges Inventar von Verlust und Gewinn erstellt, sich selbst psychoanalysiert, die Absichten entdeckt, die sie niemals zuvor gründlich analysiert hat, und findet, daß sie sich gegenseitig ausschließen und widersinnig sind. Postmodern ist die Moderne, die sich mit ihrer eigenen Unmöglichkeit abfindet; eine sich selbst kontrollierende Moderne, eine, die bewußt aufgibt, was sie einstmals unbewußt getan hat. In diesem Prozeß entging die dreifache Allianz der Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die das moderne politische Schlachtfeld beherrschte, nicht der Überprüfung und der sich daraus ergebenden Zensur. Kein Wunder; wie sehr sich die politischen Planer auch bemühten, sie befanden sich immer in einer Abwägungssituation, in der sie sich vergeblich bemühten, alle drei zur gleichen Zeit zu erreichen. Sie sahen die Freiheit gegen die Gleichheit kämpfen, die Gleichheit mit dem Traum der Freiheit kurzen Prozeß machen und die Brüderlichkeit als von zweifelhafter Tugend, solange die beiden anderen Werte es nicht schafften, einen modus coexistendi zu finden. Außerdem gelangten sie zu der Überzeugung, daß – die riesige und bislang unangezapfte Energie der menschlichen Freiheit vorausgesetzt – die Ziele der Gleichheit und Brüderlichkeit menschliches Potential zu billig verkauften. Es war nicht leicht, die Gleichheit von der Vorstellung der Gleichförmigkeit entfernt zu halten. Brüderlichkeit schmeckte allzuoft nach erzwungener Einheit und einem Verlangen, daß die angeblichen Geschwister ihre Individualität im Namen einer angeblich gemeinsamen Sache opfern sollten. Nicht daß es den Mitteln besser gegangen wäre als den Werten. Die Eroberung der Natur brachte mehr Abfall als menschliches Glück. Eine Sache, in der die industrielle Expansion ihren spektakulärsten Erfolg erzielte, war die Vervielfältigung von Risiken: mehr Risiken, größere Risiken, nie dagewesene Risiken. Seit einiger Zeit wird der größte Teil des »ökonomischen Wachstums« durch das Bedürfnis angetrieben, die 429

Risiken zu entschärfen, die es erzeugt hat: Risiken der Überbevölkerung und Unterernährung, des Verlustes der klimatisch unentbehrlichen Regenwälder und der Entstehung sozial vernichtender urbaner Dschungel, der Erwärmung der Erdatmosphäre, Verschmutzung der Wasservorräte, Vergiftung von Nahrung und Luft, der Ausbreitung »neuer und verbesserter« Krankheiten. Mehr und mehr sah die Eroberung der Natur wie ebendie Krankheit aus, die sie angeblich heilen sollte. Und so begannen die Werte sich zu verlagern. Zuerst an den bizarren, idiosynkratischen Rändern, die sich leicht als unwichtig abtun und als »untypisch« oder regelrecht verrückt ignorieren ließen. Aber dann verwandelte sich die langsame Bewegung in eine regelrechte Flucht. Es kann nicht länger ignoriert werden, daß die neue Dreierallianz von Werten auf Kosten der alten an Popularität gewinnt. Die neuen Horizonte, die heute die menschliche Imagination zu entflammen und menschliches Handeln zu inspirieren scheinen, sind die der Freiheit, der Verschiedenheit und der Toleranz. Dies sind neue Werte, die die postmoderne Mentalität formieren. Was freilich die postmoderne Praxis anbelangt, so sieht sie kein bißchen weniger verunstaltet aus als ihre Vorgängerin. Die Freiheit ist so verstümmelt wie zuvor – obgleich die Teile ihres Körpers, die jetzt amputiert worden sind, andere sind als die, die in der Vergangenheit entfernt wurden. In der postmodernen Praxis kocht die Freiheit auf die Entscheidungsfreiheit der Konsumenten herunter. Um sie zu genießen, muß man erst einmal ein Konsument sein. Diese Ausgangsbedingung läßt Millionen im Abseits. Wie die ganze moderne Ära hindurch, disqualifiziert Armut auch in der postmodernen Welt. Freiheit in ihrer neuen Lesart, der Markt-Interpretation, ist ebensosehr ein Privileg, wie sie es in ihren älteren Versionen war. Aber es gibt auch neue Probleme: Wenn die Bedürfnisse der Gemeinschaft in individuelle Akte des Erwerbs übersetzt werden, muß die Verstümmelung der Freiheit jedermann betreffen, Reiche und Arme, exemplarische oder mangelhafte Konsumenten gleichermaßen: Es gibt Bedürfnisse, die durch egal wie viele persönliche Käufe nicht befriedigt werden können, und also 430

ist die Wahlfreiheit von jedermann stark eingeschränkt. Man kann sich nicht privat einen Ausweg aus verschmutzter Luft, einer kaputten Ozonschicht oder einem steigenden Strahlungsniveau kaufen; man kann sich nicht privat seinen Weg in den Wald kaufen, der immun gegen sauren Regen ist, oder an die Küste, die gegen toxische Algen geschützt ist, welche dank der reichlichen Nahrung chemisch behandelter Abwässer üppig gedeihen. In den wenigen Fällen, in denen es plausibel erscheint, sich selbst herauszukaufen – etwa, wenn man den verwahrlosten öffentlichen Verkehrsmitteln durch das eigene Auto zu entkommen sucht oder aus dem Schmutz des öffentlichen Gesundheitswesens in eine Privatklinik flüchtet –, verstärkt die Entscheidung nur das Problem, das sie überhaupt erst nötig machte, indem sie das Elend vergrößert, das die Flucht auslöste. Die Wahl wird deshalb in demselben Moment wirkungslos, wo sie getroffen wird, im besten Fall wenige Monate später. Es gibt viele mangelhafte, schwache Konsumenten oder disqualifizierte Konsumenten, die diese Freiheit, die die Konsumgesellschaft offiziell anerkennt, erst noch gewinnen müssen; aber es gibt auch schwache, unbeachtete, verkümmerte Aspekte im Leben jedes einzelnen (einschließlich des Lebens der angeblich freien Konsumenten), die noch durch gemeinschaftliche Anstrengung geschützt werden müssen. Die Verschiedenheit gedeiht; und der Markt gedeiht mit. Genauer, nur solche Verschiedenheit darf gedeihen, die dem Markt nützt. Wie schon vorher der humorlose, machtgierige und eifersüchtige Nationalstaat, lehnt der Markt Selbstverwaltung und Autonomie ab – die Wildnis, die er nicht kontrollieren kann. Wie vorher muß für Autonomie gekämpft werden, wenn Verschiedenheit etwas anderes bedeuten soll als Vielfalt marktgängiger Lebensstile – eine dünne Lackschicht veränderlicher Moden, die die gleichförmig marktabhängige Lage verbergen soll. Wofür gekämpft werden muß, ist vor allem das Recht, die kommunale Verschiedenheit im Unterschied zu individueller zu sichern; eine Verschiedenheit, die von einer gemeinschaftlich gewählten und von der Gemeinschaft ermöglichten Lebensform stammt. Solche Verschiedenheit kann 431

um Anerkennung und ihren Anteil an Dienstleistungen kämpfen, aber sie kann nicht hoffen (wenn sie sich nicht als profitabel herausgestellt hat), aus dem Füllhorn der gekauften Identitäten unterstützt, geschweige denn garantiert zu werden. Wenn den Maßstäben der Marktgängigkeit nicht Genüge getan wird, kann man im besten Fall auf die Gleichgültigkeit des Marktes hoffen. Im schlimmsten Fall ist mit der Feindseligkeit des Marktes zu rechnen. Kommunal verwaltete kollektive Identitäten können mit der Idee des individuell gewählten Lebensstils in Konflikt geraten – eine Idee, an der der Markt, mit der aufrichtigsten und uneingeschränktesten Überzeugung, festhalten muß. Wenn das Schlagwort Brüderlichkeit als die Praxis pastoraler Macht übersetzt wird, als aufdringliche Einmischung in alternative Lebensformen, als Beharren auf Gleichförmigkeit, als Definition aller Differenz als Zeichen von Zurückgebliebenheit, Abweichung und ein »Problem«, das nach einer »Lösung« verlangt – dann übersetzt Toleranz sich als »leben und leben lassen«. Wo Toleranz herrscht, ist Differenz nicht länger bizarr oder herausfordernd. Differenz ist sozusagen privatisiert worden. Der Bekehrungsdrang ist verwelkt, der Kreuzrittergeist zerstoben. Das Zeitalter der kulturellen Hegemonie scheint vergangen zu sein; Kulturen sollen genossen, aber nicht mit Gewalt durchgesetzt werden. In unserer Art Gesellschaft kann ökonomische und politische Herrschaft gut ohne Hegemonie auskommen; sie hat einen Weg gefunden, sich selbst unter Bedingungen kultureller Verschiedenheit zu reproduzieren. Die neue Toleranz bedeutet Irrelevanz der kulturellen Wahl für die Stabilität der Herrschaft. Und Irrelevanz hat ihr Echo in Indifferenz. Alternative Lebensformen erregen allenfalls ein Zuschauerinteresse von der Art, wie es eine sprühende und pikante Varieté-Show bietet; vielleicht lösen sie sogar weniger Ressentiment aus (besonders wenn sie auf sichere Entfernung oder durch den Sicherheitsschild des Fernsehschirms gesehen werden), aber auch kein Mitgefühl; sie gehören zu der äußeren Welt des Theaters und der Unterhaltung, nicht zur inneren Welt der Politik des Lebens. Sie stehen nebeneinander, gehören aber nicht zusammen. 432

Wie die vom Markt geforderten Lebensstile haben sie keinen anderen Wert als den, der ihnen durch die freie Entscheidung verliehen wird. Ganz gewiß legt ihr Vorhandensein keinerlei Verpflichtung auf, erzeugt keine Verantwortung. Toleranz, die von der vom Markt gelenkten Postmoderne praktiziert wird, degeneriert zu Entfremdung; das Anwachsen der Zuschauerneugier bedeutet das Schwächerwerden des menschlichen Interesses. Wenn fremde Lebensformen aus der sicheren Abgeschlossenheit der Fernsehbildschirme herabsteigen oder zum Leben und den sich selbstbehauptenden Gemeinschaften von nebenan gerinnen, statt ihre Existenz auf multikulturelle Kochbücher, ethnische Restaurants und Modeschmuck zu beschränken, überschreiten sie die Grenzen ihrer Bedeutungsprovinz: die Provinz des Theaters, der Unterhaltung, der Varieté-Show – die einzige, die die Vorschrift der Toleranz enthält, des Aufhebens der Entfremdung. Ein plötzlicher Sprung von der einen Bedeutungsprovinz zur anderen ist zu allen Zeiten schockierend – und so werden heute Lebensformen, die früher als pittoresk und amüsant angesehen wurden, jetzt als eine Bedrohung empfunden. Sie erregen Ärger und Feindseligkeit. Mit anderen Worten, die vom Markt geförderte Toleranz führt nicht zur Solidarität: sie fragmentiert, statt zu vereinen. Sie dient der Aufsplitterung der Gemeinschaft und der Reduzierung des gesellschaftlichen Bandes auf einen Schimmer an der Oberfläche. Sie überlebt, solange sie in der luftigen Welt des symbolischen Spiels der Repräsentation gelebt wird und dank dem Mittel territorialer und funktionaler Trennung nicht auf das Reich der täglichen Koexistenz übergreift. Was am wichtigsten ist: solche Toleranz ist voll vereinbar mit der Praxis gesellschaftlicher Herrschaft. Sie kann ohne Furcht gepredigt und geübt werden, weil sie die Überlegenheit und das Privileg des Toleranten eher von neuem bestätigt als in Frage stellt: Der andere verliert, eben dadurch, daß er anders ist, das Anrecht auf gleiche Behandlung – ja, die Unterlegenheit des anderen ist durch die Differenz völlig gerechtfertigt. Der Verzicht auf den Bekehrungseifer fällt mit dem Zurückziehen jedes Versprechens der Gleichheit zusammen. Wenn die wechselseitigen Ver433

bindungen auf Toleranz reduziert sind, bedeutet Differenz ewige Distanz, Nicht-Kooperation und Hierarchie. Die »Verschmelzung der Horizonte« geht kaum über den sich erweiternden Bereich ethnischer take-aways hinaus. Soviel zu den Werten, die die Postmoderne fördert. Was die Mittel anbelangt – die Vergewaltigung der Natur ist durch das Interesse an der Erhaltung des natürlichen Gleichgewichts ersetzt worden; die von der Vernunft bewirkte Künstlichkeit, der Kriegsruf der Moderne, verliert schnell ihr Publikum und wird als Objekt populären Kults gleichermaßen schnell durch die Weisheit der Natur ersetzt. Heute glauben weniger Menschen an die magische Fähigkeit ökonomischen Wachstums und technologischer Expansion. Das einzige, was die Technologie nach allgemeiner Auffassung unfehlbar und mit wachsender Geschwindigkeit herbeiführt, ist immer mehr Unbequemlichkeit und immer mehr Gefahr – neue, weniger berechenbare, weniger heilbare Risiken. Unter der Verwaltung der Machtpolitik und dem Einfluß der Marktkräfte werden neue Interessen und neue Sensibilitäten freilich dazu benutzt, ebendie Prozesse zu verstärken, die sie verabscheuen und verurteilen. Der Zusammenprall zwischen der gesellschaftlichen Natur der Risiken und den privaten Mitteln ihrer Bewältigung ist die postmoderne Version des alten Widerspruchs des Kapitalismus (des Widerspruchs zwischen den gesellschaftlichen Mitteln der Produktion und der privaten Aneignung), der von Marx als die Hauptursache des drohenden Zusammenbruchs des Systems herausgestellt worden ist. Infolge dieses Zusammenpralls werden Risiken nicht reduziert, geschweige denn ausgelöscht. Sie werden den Blicken der Öffentlichkeit entzogen und so zumindest eine gewisse Zeit lang vor Kritik bewahrt. (Risiken neigen dazu, in einer Richtung über den Globus zu reisen, die der Richtung der Reichtümer entgegengesetzt ist; die reichen Länder haben eine ehrfurchtgebietende Fähigkeit, ihr eigenes Gift als das Fleisch der armen Leute zu verkaufen; das einzige Fleisch, auf das die Armen hoffen dürfen.) Von der Technologie erzeugte Risiken, die nicht verlagert werden können, werden mit noch mehr Tech434

nologie unterdrückt – unter (zumindest zeitweiligem) öffentlichem Beifall. »Naturbewußtes«, »ozonfreundliches« und »grünes« Benzin, Aerosol, Detergentien oder Bleichmittel werden zu einem großen Geschäft und bringen »neue und verbesserte« Gewinne. Ökologiebewußte Designer reduzieren das Kohlendioxid, das von den bestehenden Automotoren ausgestoßen wird, so weit, daß noch mehr Autos auf noch mehr Straßen geschickt werden können. (Im Jahre 2015 erwartet Europa viermal mehr Autos als jetzt; es ist schwer, sich ein blühendes Europa ohne sie vorzustellen, da jede siebte Person seinen oder ihren Lebensunterhalt mit der Autoproduktion verdient. Es ist ebenso schwierig, sich Europa mit Autos vorzustellen, deren Zahl mit der gegenwärtigen Geschwindigkeit zunimmt, während zugleich die Akropolis in den letzten zwanzig Jahren stärker verfallen ist als in den 24 Jahrhunderten zuvor und die Alpenwälder, die die Experten schützen, schnell das Schicksal der Regenwälder des oberen Amazonas teilen, den Experten zerstören.) Wie zuvor werden Probleme als Nachfragen nach neuen (natürlich marktgängigen) technischen Geräten und Stoffen formuliert; wie zuvor werden die, die von der Qual und den Risiken frei sein wollen, daran erinnert, daß solche Freiheit »für sich selbst zahlen muß«, und die großen Rechnungen der sozialen Katastrophe werden angeblich mit dem Kleingeld der privaten Einkaufsinteressen verrechnet. In diesem Prozeß wird der globale Ursprung von Problemen wirkungsvoll der Sicht entzogen, und der Kreuzzug gegen bekannte Risiken kann immer weiter bösartige – noch unbekannte – Risiken erzeugen und so seine eigene zukünftige Erfolgschance untergraben. Dies ist aber nur ein geringerer Teil des Truges. Ein umfassenderer, viel größerer und fruchtbarerer Teil ist die Beschränkung der neuen Sensibilität auf den Rahmen des technologischen Diskurses: sowohl die Rettung wie die widerwillig zugegebenen Sünden sind hermetisch in den entpolitisierten (»politisch neutralen«) Diskurs der Technologie und des Expertenwissens eingeschlossen, wodurch der gesellschaftliche Rahmen verstärkt wird, der Sünden unvermeidlich und Rettung unerreichbar macht. Was außerhalb 435

der Grenzen des rationalen Diskurses bleibt, ist genau die Frage, die eine gewisse Chance hat, den Diskurs rational und vielleicht sogar praktisch wirksam zu machen: die politische Frage nach der demokratischen Kontrolle über Technologie und Expertenwissen, ihre Zwecke und ihre wünschenswerten Grenzen – die Frage nach der Politik als Selbstverwaltung und kollektiv getroffenen Entscheidungen. Welche von der Postmoderne befürworteten Werte oder Mittel wir auch immer betrachten, sie alle verweisen (wenn auch nur stillschweigend oder durch Elimination) auf die Politik, die Demokratie, die mündigen Staatsbürger als die einzigen Mittel ihrer Verwirklichung. Mit Politik sehen diese Werte und Mittel wie eine Chance zu einer besseren Gesellschaft aus; ohne Politik, völlig den Kräften des Marktes überlassen, sehen sie im besten Fall eher wie trügerische Schlagworte aus, im schlimmsten Fall wie Quellen neuer und noch unausgeloteter Gefahren. Die Postmoderne ist nicht das Ende der Politik, wie sie auch nicht ein Ende der Geschichte ist. Ganz im Gegenteil, alles, was an dem postmodernen Versprechen attraktiv ist, ruft nach mehr Politik, nach mehr politischem Engagement, nach mehr politischer Effektivität individuellen und kommunalen Handelns (wie sehr der Ruf auch immer durch das Stimmengewirr des Konsumentenbetriebs erstickt werden mag und wie unhörbar auch immer er in einer Welt wird, die aus Einkaufsstraßen und Disneylands besteht, wo alles, was zählt, ein erfreuliches Theaterstück ist und also nichts wirklich sehr viel zählt). Bislang hat die postmoderne Situation einen massiven Rückzug der möglichen Bürger aus der traditionellen (oder zumindest traditionell gerühmten, wenn auch nicht immer praktizierten) Form der Politik mit sich gebracht. Die Verführten – die Nutznießer oder die es zu sein glauben – rufen nach mehr Wechselgeld in ihren Taschen und wollen nicht auf diejenigen hören, die sie an die unbezahlten gesellschaftlichen Rechnungen erinnern. Die Unterdrückten akzeptieren den Schuldspruch der Mehrheit, der sie als mangelhafte Konsumenten verurteilt, und glauben so sehr wie je436

der andere, daß soziale Rechnungen am besten mit dem Kleingeld aus den privaten Taschen bezahlt werden. Ihre Leiden addieren sich nicht, kumulieren nicht; das Heilmittel scheint, wie das Leiden, gründlich privatisiert. Die Krankheit ist die Verteuerung des Einkaufens; die Heilung ist das unbegrenzte Einkaufen. Das vereinte Resultat ist massive politische Gleichgültigkeit. Ihr Druck bringt den politischen Prozeß auf den bildschirmtiefen Kampf von Showgeschäftspersönlichkeiten herunter, wo Wahlergebnisse die Popularitätsumfragen kopieren. Kündet all dies das Ende der Politik an? Es gibt Anzeichen, daß die postmoderne Ära eigene politische Formen erzeugen könnte. Die Art, wie so manches absolutistische Regime alten Stils in den vergangenen Jahren zusammengebrochen ist, in Teilen der Welt, die so weit voneinander entfernt und so wenig miteinander verbunden sind wie Chile und die Tschechoslowakei, gibt einen Hinweis auf eine solche Möglichkeit. Ohne jede vorhergehende theoretische Artikulation schienen Rebellionen, die in der Praxis zum Zusammenbruch führten, eine neue Vision von Politik und politischer Macht zu manifestieren: eine Vision, in der die traditionelle moderne Bildlichkeit solider und harter »Materialität« politischer Herrschaft verwirrenderweise, aber deutlich fehlte. Lassen Sie uns einfach einige gemeinsame Züge solcher Rebellionen nennen. Zunächst einmal waren sie keine »geplanten Revolutionen«, die von einem organisierten Kern von Verschwörern mit einem heimlichen Netzwerk einer alternativen Führung und einem Entwurf für eine zukünftige Politik entworfen und vorbereitet worden sind. Die Führung, falls im Laufe der Ereignisse eine an die Oberfläche kam, folgte eher der allgemeinen Bewegung, als sie zu antizipieren. Zweitens entfalteten sich die Ereignisse ohne Plan, folgten lediglich der Logik der episodischen Abfolge und überraschten sowohl die Protestierenden wie die Zielscheiben des allgemeinen Zorns. Ebensosehr wie die Schlacht ihre eigenen Truppen gebar, erzeugten die sich allmählich eröffnenden Möglichkeiten ihre eigenen Strategien. Drittens wurden, wenn über437

haupt, nur wenige Gebäude als Ziele ausgewählt, gestürmt oder eingenommen, bevor ihre Bewohner sie verließen oder ihre Besetzung jede politische Bedeutung verlor; es war, als ob die Akteure die Macht nicht als »dinglich« sähen, die in einer spezifischen Örtlichkeit wohnte, wo sie aufbewahrt und von woher sie entnommen werden könne; als wenn sie statt dessen Regierung, Herrschaft, Beherrschung als einen weiterlaufenden Prozeß kommunikativen Austauschs ansähen, eher als eine Serie von Handlungen als eine Anzahl von Besitztümern; etwas, das unterbrochen, demontiert werden kann und wohin man später zurückkehren und es wieder zusammensetzen kann, statt daß es enteignet und neu verteilt würde. Viertens war der entscheidende Schlag und die letzte Ursache des Zusammenbruchs nicht eine überwältigende Macht der Rebellen und eine militärische Niederlage der Herrscher, sondern eine kompromißlose Ironie der Protestierenden, denen es widerstrebte, aus ihrer karnevalsähnlichen Stimmung der sorglosen, lärmenden Respektlosigkeit vor den Hohen und Mächtigen herausmanövriert zu werden. Einzelne Schüsse, wenn sie abgefeuert wurden, trafen auf einen allgemeinen Aufschrei nicht wegen des Leidens, das sie den individuellen Opfern verursachten, sondern wegen ihrer Absonderlichkeit, ihrem vollkommenen Mangel an Übereinstimmung mit dem Charakter des Ereignisses; sie waren Echos einer anderen Ära, paßten nicht zu der Stimmung eines Volksfestes, das die wiederentdeckte Freiheit der Straßen feierte. Die beschriebenen Ereignisse könnten demonstriert haben, daß die Staatsmacht, selbst wenn sie nicht der allgemeinen Zustimmung für ihre alltäglichen Operationen bedarf, doch eine explizite Verweigerung einer solchen Zustimmung nicht überleben kann: Zwangsmittel sind kein Ersatz für Zustimmung; es ist die Verfügbarkeit der Zustimmung, die solche Mittel überhaupt erst wirkungsvoll macht. Das könnte eine Enthüllung sein, die die Ära der neuen postmodernen Politik erhellt: Bewaffnet mit solch neuem Wissen kann sich Politik in eine gänzlich neue Art Spiel verwandeln, mit Konsequenzen, die bislang äußerst schwer vorauszusagen 438

sind. Das ist freilich nur eine der vielen möglichen Interpretationen. Die gefällige Geschwindigkeit, mit der die scheinbar gußeisernen Gebäude der oppressiven Macht unter dem ersten Hauch der allgemeinen Verweigerung von Unterwürfigkeit zusammenbrachen, hätte ein lokales Phänomen sein können: ein Zeugnis für die Obsoletheit des modernen Staates, die zu lange von gleichermaßen alternden wie erschöpften kommunistischen Regimen künstlich am Leben erhalten und jetzt plötzlich durch die Praktiken der postmodernen Gesellschaften deutlich hervorgetreten ist. Es ist möglich, daß wir Zeugen des Zusammenbruchs eines Patronatsstaates gewesen sind – eine soziale/politische/ökonomische Formation, die einzigartig ungeeignet ist für eine Epoche, die von den postmodernen Werten der Neuheit, der schnellen (vorzugsweise folgenlosen und episodischen) Veränderung, des individuellen Genusses und der Konsumentenwahl beherrscht wird. Im Austausch für das Versprechen persönlicher Versorgung und Sicherheit verlangt der Patronatsstaat die Kapitulation des Rechts, zu wählen und sich selbst zu bestimmen. Der Patronatsstaat strebt danach, eine monopolistische Quelle der Bedürfnisbefriedigung, des sozialen Status und der Selbstachtung zu sein; er transformiert seine Untertanen in Klienten und verlangt von ihnen, dankbar für das zu sein, was sie heute erhalten haben und morgen bekommen werden. Aber aus demselben Grunde, aus dem er sich berechtigt fühlt, Dankbarkeit zu verlangen, kann der Schirmherr nicht seine Verantwortung für das Unglück seiner Klienten abschütteln. Frustration wird unmittelbar in eine Qual umgewandelt, die »natürlicherweise« auf den Patron und seine Politik als die offensichtliche Ursache des Leidens zurückschlägt. Unter postmodernen Bedingungen, wenn eher die erfrischende Erfahrung der immer neuen Bedürfnisse als die Befriedigung der bestehenden zum Hauptmaß eines glücklichen Lebens wird (und sich infolgedessen die Produktion neuer Verlockungen als das entscheidende Medium sozialer Integration und friedlicher Koexistenz herausstellt), kann der Patronatsstaat, der an die Aufgabe angepaßt ist, die Bedürfnisse seiner Untertanen zu definieren und zu umschreiben, nicht mit Syste439

men in Wettbewerb treten, die vom Konsumentenmarkt betrieben werden. Und da er angesichts der Unzufriedenheit, die sich daraus ergibt, die einzige Zielscheibe bleibt, stehen die Wetten gut, daß der angesammelte Dissens bald seine Fähigkeit, Zustimmung zu erkaufen und Konflikte zu lösen, überwiegen wird. Kein Wunder, daß die Verwalter des Patronatsstaates anscheinend ihre Entschlossenheit verloren haben, ein System zu verewigen, das auf eine Diktatur über Bedürfnisse und Verantwortlichkeit des Staates für ihre Befriedigung abgestellt ist – zusammen mit ihrer Fähigkeit zu regieren. Der ungarische Autor Miklós Haraszti, der aus der Tiefe der Erfahrung eines oppositionellen Künstlers schrieb, beobachtete, daß in einer Gesellschaft, wo der größere (der einzige?) Zwang, der die künstlerische Freiheit einschränkt, vom Markt kam, »der Künstler Haß ausdrücken konnte, selbst gegen diesen Zwang, solange sein Werk auf dem Markt verkäuflich ist […] aber Planung, im Unterschied zum Markt, ist keine ruhige heilige Kuh. Sie kann Verachtung nicht ertragen.«25 Der allverzehrende Ehrgeiz des planenden,

25 Miklós Haraszti, The Velvet Prison: Artists under State Socialism, London 1989, S. 80f. Haraszti beobachtet, daß die Existenz der Zensur im Staatssozialismus auf der Identität der Interessen bei Zensor und Zensierten beruht (S. 8). Haraszti, der in den frühen achtziger Jahren schrieb, fügte das Adjektiv »dauernd« dem Substantiv »Identität« hinzu: ein System, das erfolgreich »die Sprache seiner Opfer absorbiert habe«, schien Haraszti damals, wie praktisch jedem anderen auch, dazu bestimmt, auf immer zu dauern. Als Nutznießer einer restrospektiven Weisheit können wir sagen, daß sich das, was die stärkste Grundlage der Sicherheit des Systems zu sein schien, als seine Auflösung erwiesen hat. Nachdem sie die volle Verantwortung für die »gemeinsamen Interessen« übernommen hatte, legte die kommunistische Macht ihr Schicksal in die Hände ihrer Untertanen; sie konnte das Zurückziehen der Zustimmung letzterer nicht überleben. Wenn in dem ungeschriebenen und dennoch bindenden Vertrag zwischen den kommunistischen Herrschern und den Beherrschten »keinerlei Unterscheidung zwischen der Autorisierung für die Beherrschung der

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entwerfenden, gärtnernden Staates der Moderne (eines Staates, dessen treuer Schüler der kommunistische Staat war, selbst wenn er durch seine Treue unabsichtlich die Nichtigkeit der Lehre exponierte) erwies sich am Ende als sein größtes Hindernis und als tödliches Unheil. Er verstrickte ihn unaufhörlich in potentiell lähmende Krisen. Der Nachfolger des modernen Staates bedient sich des Hilfsmittels, den Dissens zu privatisieren und zu zerstreuen, statt ihn zu kollektivieren und dadurch zur Akkumulation anzuregen. Nachdem er seinen Planungsehrgeiz aufgegeben hat, kann er mit weniger Zwang und geringerer ideologischer Mobilisierung auskommen – wenn er ihrer überhaupt noch bedarf. Er scheint darauf zu zählen, daß die allgemeine Unzufriedenheit sich zerstreut und vorübergeht; vorübergeht, weil sie sich zerstreut hat. Vielleicht rechnet er sogar damit, daß eine solche Unzufriedenheit, solange sie zerstreut bleibt, für die Reproduktion des Systems Sorge trägt. Einst zur tödlichen Gefahr für alle soziale und politische Ordnung erklärt, ist die Ambivalenz nicht länger »ein Feind am Tor«. Ganz im Gegenteil: Wie alles andere ist sie zu einer der Stützen in dem Postmoderne genannten Spiel geworden.

Werte und der Beherrschung der Wertvollen« zu erkennen war (S. 26), dann mußte sich jeder Protest gegen den Typ von Wert, der von den Herrschern erzwungen wurde, unmittelbar in einen Protest gegen das Prinzip der Werterzwingung als solches verwandelt haben. Aller Dissens verdrehte sich in eine systemische Krise (wohingegen in einer Gesellschaft, in der Bedürfnisse, Werte und Dissens selbst privatisiert sind, ein ähnlicher Dissens den marktbasierten Mechanismus der systemischen Reproduktion verstärken würde).

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Namenregister

Adorno, Theodor W. 36 f., 150–152, 266, 386, 396 Alter, Robert 304 Anderson, Benedict 108, 391 Arendt, Hannah 39, 131, 231, 249, 258 Arnold, Matthew 265 Bacon, Francis 38, 51, 70 Barth, Frederic 113 Bateson, Gregory 339 f., 342 Baudelaire, Charles 295 Baudrillard, Jean 410, 422 Baur, Erwin 53 Beckett, Samuel 255 Benamon, Michael 358 Benjamin, Walter 27, 288, 295 Benoist, Jean-Marie 68 Bentham, Jeremy 277 Bernstein, Richard 390 f. Birnbaum, Nathan 143, 219 Blatty, Peter William 375, 377 f. Bloom, Harold 252, 282 Borges, Jorge Luis 302, 304 Börne, Ludwig 185, 194, 200 Brandes, Georg 369 Breschnew, Leonid Iljitsch 422 Breuilly, John 107 Brod, Max 142, 145, 288 Buber, Martin 107, 143 f., 219

Camus, Albert 141 Canetti, Elias 266 Cannon 339 Casillo, Robert 239 f. Celan, Paul 302 Cho, Emily 311–315 Chorover, Stephan L. 73 Cochin, Augustin 149 Cocteau, Jean 399 Cohen, Hermann 203–206, 208 Cohn, Norman 123 Collins, Stephen L. 17 f. Cuddihy, John Murray 245 f. Darré, R. W. 52 Davenport, C. B. 60 Debray, Régis 149 Dench, Geoff 120, 166 Derrida, Jacques 28, 35, 92, 94–97, 292, 299– 301, 305 Descartes, René 44, 49, 51, 383, 399 Deussen, Paul 152 Dilthey, Wilhelm 28 Dostojewskij, Fjodor 396 Douglas, Mary 104 Drumont, Édouard Adolphe 244 Duerr, Hans Peter 353 Durkheim, Émile 396 Ellul, Jacques 341 f., 358 Engels, Friedrich 415, 420

443

Enzensberger, Hans Magnus 385 Erasmus, Charles J. 103 Etzioni, Amitai 77 f. Eugenik 56, 60 f., 65, 80 Fein, Helen 69 Felman, Shoshona 281 Fichte, Johann Gottlieb 110, 225 Fischer, Eugen 60, 76, 80, 85 Freud, Sigmund 35, 175, 184, 245, 261, 266, 269–277, 279, 281–285, 299, 305, 385 f. Friedländer, David 212 Friedrich der Große 51, 52 Fromm, Erich 274 Fuller, Buckminster 358 Fussell, Paul 82 Galbraith, J. K. 406 Galton, Francis 61 Gans, Eduard 204 Ganz, Hugo 214 Garfinkel, Harold 286 Gasman, David 57 Gay, Peter 210, 224 Gellner, Ernest 41 Giddens, Anthony 314 Gilman, Sander L. 120, 132, 148 Goebbels, Joseph 409 Goethe, Johann Wolfgang 203, 220, 224 Goffman, Erving 113 Goldstein, Moritz 201 f. Goodman 358 Gorbatschow, Michail 422 Gordon, Judah Leib 243

Haase, Irmgard 85 Habermas, Jürgen 394, 427 Haeckel, Ernst 58 Handelman, Susan A. 275, 300 Haraszti, Miklós 440 Harden, Maximilian 202 Harris, Ruth 336 Hartmann, Nicolai 205 Hayek, Friedrich August von 408 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 205 Heidegger, Martin 125, 128 Heine, Heinrich 183–185, 194, 197, 200 Heller, Agnes 36, 364, 367–369, 373, 386 Helvétius, Claude-Adrien 114 Herder, Johann Gottfried 203, 225 Herz, Henriette 203 Herzl, Theodor 176, 211, 237 f. Higgins, Dick 163 Himmelfarb, Milton 233 Hitler, Adolf 55, 57, 60, 75, 79, 84, 131, 140, 222, 223 Hobbes, Thomas 17–19, 386 Hobsbawm, Eric 391 Horkheimer, Max 37, 150–152, 225, 266, 269, 383, 386, 396, 399 Husserl, Edmund 399 f. Illich 358 Ionesco, Eugène 264 Jabès, Edmond 26, 35, 250, 292, 303–305, 371 Jacoby, Russell 149 Jellinek, Georg 204

444

Jonas, Hans 38, 91 Joyce, James 302 Kafka, Franz 35, 140–147, 175, 193, 198, 247 f., 259, 271, 285 f., 288–292, 299, 305 Kallmann, F. 54 Kant, Immanuel 42 f., 45 f., 48 f., 51, 114, 178, 203, 205, 208, 225, 393, 399 Katz, Jacob 194 Kerr, Alfred 202 Kraus, Karl 266 Lachs, John 87 Lagarde, Paul de 144 Landes, David S. 260 Lasker, Eduard 204 Lassalle, Ferdinand 185, 415 Lazare, Bernard 231 Lenin, Wladimir 420 f. Lenz 76, 80, 85 Leo, Heinrich 201 Lessing, Gotthold Ephraim 203, 224 Levi, Primo 90 Lévinas, Emmanuel 103 Lévi-Strauss, Claude 245 f. Lewin, Kurt 189 Lloyd, George 406 Locke, John 51 Lorenz, Konrad 54 Luhmann, Niklas 155, 316–318, 320 Lukács, Georg 203, 266 Lyotard, Jean-François 393, 396 MacLuhan, Marshall 358 Maffesoli, Michel 391

Mahler, Gustav 309 Mannheim, Karl 136–138, 148, 150 f., 153 Marcus, Jacob 222 Marcuse, Herbert 358 Marx, Heinrich 234 Marx, Karl 165, 175, 184 f., 234, 245, 357, 373, 415, 420, 434 McHale, Brian 163 Mendelssohn, Dorothea 203 Mendelssohn, Moses 176, 201, 212 Meyer, Michael A. 179, 212 Michels, Robert 151 Milgram, Stanley 87–89 Mill, John Stuart 118 Mills, C. Wright 411 Mondrian, Piet 33 Mosse, George L. 144, 223 Mouffe, Chantal 389 f. Müller-Hill, Benno 79, 86 f. Mumford, Lewis 358 Nash, Manning 388 Natanson, Maurice 136 Nietzsche, Friedrich 165, 205, 304, 368, 412 Olson, Theodore 70 Orwell, George 63, 265 Ozick, Cynthia 112, 255 Parsons, Talcott 268 Pearson, Karl 62 Perkin, Harold 335, 349 Peukert, Detlev J. K. 56 Phillipson, Michael 427

445

Platon 43 Popper, Karl Raimund 383 Pound, Ezra 240–242, 253 Prawer, S. S. 183 Preuss, Hugo 204 Proctor, Robert 74 f., 77 Proust, Marcel 165 Pulzer, Peter 181 Rawidowicz 275 Reik, Theodor 211, 213, 272 Rickert, Heinrich 206 Ricks, Christopher 65 Robbins, Jill 285, 287 Robert, Marthe 142, 184, 270 f., 288 f., 291 Robertson, Ritchie 145 Rockefeller, John R. 65 Roosevelt, Franklin Delano 406 Rorty, Richard 49, 165, 368, 370, 372, 385, 390, 405, 425 Roszak, Theodore 358 Roth, J. K. 83 Roth, Philip 182 Rousseau, Jean-Jacques 110 Rubinstein, Arthur 274 Rüdin, Ernst 85 Rüdin, E. Z. 85 Rühs, Friedrich 201 Ryan, W. 72 f. Sahlins, Marshall 348, 352 Sartre, Jean-Paul 104, 128, 141 Sauerbruch, Ferdinand 76 Schäfer, Dietrich 266–268 Schallmayer, Wilhelm 58, 62 Scheler, Max 125, 412

Schestow, Lew 35, 134–136, 299, 305 Schiller, Friedrich 203, 220, 224 Schnitzler, Arthur 147, 266, 309 Scholem, Gershom 192 f., 197, 207, 221 f., 238, 275 Schorske, Carl E. 237 Schütz, Alfred 126 Schwarz, Egon 237 Seltzer, David 378, 380 Sennett, Richard 321 f. Shafer, Boyd C. 109 Shakespeare, William 166 Shannon, Claude 355, 359 Simmel, Georg 35, 94, 101, 122, 266–268, 286, 292–299, 305, 317 Simon, Ernest 279 Simons, Geoff 361 Simpson, Christopher 75 Skinner, B. F. 70 Sombart, Werner 267 Spinoza, Baruch de 48 f. Stalin, Joseph 55, 73 Stämmler, Martin 53 Steinschneider, Moritz 208 Strauss, Walter A. 290 Streicher, Julius 84 Swift, Jonathan 383 Tarde, Gabriel 167 Thompson, Gordon 349 Tönnies, Ferdinand 105, 394 Tucholsky, Kurt 266 Uytersprott, Hermann 285

446

Vanderburg, Willem H. 350 Varnhagen, Rahel 203 Verschuer, Otmar 76, 80, 85 Volkov, Shulamit 211 Wagner, Richard 145, 193 Wassermann, Jakob 185, 187, 189, 192 Webb, Beatrice 62 Weber, Max 151, 267, 268, 383

Weizenbaum, Joseph 315 f., 328 Wells, H. G. 62–64 Wertheimer, Jack 216 Wistrich, Robert S. 235, 261 Wittgenstein, Ludwig 97, 175, 266 Wolf, Immanuel 200 Wolff, Theodor 202 Wolfson, Murray 234 Zwetajewa, Marina 250, 302

447

Sachregister

Assimilation 35, 111, 117 f., 120 f., 124, 132–134, 139, 142 f., 158, 166–168, 170–175, 177 f., 182 f., 191 f., 194–196, 198, 206 f., 209, 212–214, 217, 220–223, 226, 228–231, 233, 236–239, 243, 245, 247, 249–251, 253–257, 259–261, 263–265, 269, 279 f., 288 f., 299, 305–309, 396 Aufklärung 36 f., 66 f., 176, 178, 199, 201, 203, 212 Autonomie 29–31, 147, 162, 179 f., 312, 412, 431 Benenn-/Klassifizierungsfunktion 11–14, 34, 92–95, 99 Bürgerrecht 187, 353 Definitionsmacht 23, 279, 282 Delegitimierung des Anderen 23 Deutungen, Pluralität der 275, 278, 300 f., 377 f. Dichte Soziabilität 105 Diversität/Verschiedenheit 256, 396, 402–404, 430, 431 f. Einheimische vs. Fremde 33, 103, 108–115, 119–133, 136–140, 142, 147–154, 156, 158f., 171, 188, 208f., 217, 219, 230, 248, 264, 289, 297 Einsamkeit 131, 189, 195, 297

Einschließung /Ausschließung 13, 113, 227, 281, 283, 285, 392, 403 Emanzipation 119 f., 123, 158, 160, 176, 184, 194, 199, 206 f., 212 f., 228, 234, 236, 334 Erotik vs. Sexualität 327 Etikette 133, 209, 279 Eugenik 60 f., 80 Expertenwissen siehe Fachwissen Fachwissen 36, 150, 316, 327–329, 334 f., 338, 341–344, 347, 352, 354 Fertigkeiten, Erwerb und Verlust von 125, 331–339, 350–352 flâneur 295 foci imaginarii 17, 25f., 34 Fordisierung 333 Fortschritt 25–28, 32, 55, 62, 65, 86–88, 174, 207, 209, 265, 335, 344, 346, 399 Fragmentierung 29–31, 395 Freiheit 90, 116, 130 f., 138, 161, 248, 284, 334, 351, 385 f., 388, 400 f., 408, 412, 418, 424 f., 429–431, 435, 440 Fremdheit 33, 92–129, 133 f., 136, 140 f., 147f., 154–159, 163 f., 181, 308, 331, 371 Freunde – Feinde 33 f., 46, 48, 92–95, 100–111, 116, 120, 130, 145, 183, 241, 259, 266, 277, 282, 387, 421

448

Fundamentalwissenschaft, Philosophie als 49 Gärtner, der Staat als 33–35, 41 f., 51 f., 54, 65, 109, 161, 282, 299, 340 Gegenseitigkeit 320–324 Gemeinschaft 105–108, 131, 138, 154, 157, 191, 229, 265, 321, 323, 386–395, 430 f., 433 Genozid 38, 56 f., 65, 68 f., 71, 73–77, 83, 86–90, 112, 410 Gentechnologie 80 gesetzgebende Vernunft 41–51, 398 Gleichförmigkeit 109, 160, 167, 169 f., 179 f., 210, 239, 249, 256, 310, 367, 429, 432 Grenzziehung 48, 98 f., 116, 215, 410 Heimatlosigkeit (kulturelle) 131, 136, 140, 148, 157, 193, 253, 406 Hermeneutik, Probleme der 167, 287 f., 301, 305 Herrschaft 162, 172–174, 183, 257, 277, 366 f., 369, 374, 386, 432 f., 437 f. Identität 81 f., 96, 107, 113–117, 127, 131 f., 145 f., 169 f., 176 f., 184, 192 f., 200, 205–208, 213, 225, 228 f., 244, 251, 253, 255, 259, 271, 279, 283, 292, 308, 317, 318, 322, 324–326, 330, 388, 403, 413, 432 imaginäre Gemeinschaft 108, 297, 391

Individualität 296 f., 311, 313, 318, 320, 325, 328, 429 Informatik 355 f., 359 f., 423 Inkongruenz (kulturelle) 102–104, 106, 111, 113, 115 f., 124, 128, 132, 140, 142, 162, 195, 243 innere Dämonen (der Assimilation) 123, 143, 213, 382, 387 Intellektuelle 62, 65, 136–139, 148–154, 212, 220, 236, 245, 252, 396–399 Intoleranz 22, 169, 174, 227, 237, 249, 254, 284, 308, 353 Isolierung, gesellschaftliche 32 f., 112, 195, 198, 230 Kommunismus 56, 66, 257, 379, 419–424, 439, 441 Kontingenz 12, 23, 30, 34–36, 135, 252 f., 341, 355, 364 f., 367–374, 384 f., 387–390, 394 f., 402, 404 Kultureller Kreuzzug 162, 169, 180 f., 210, 227, 363, 367, 369, 396, 435 Liberalismus 118 f., 123, 142, 173, 181, 233, 235, 237 f. Liebe 316–328 Markt 325–328, 347–349, 412 f., 423, 430–436, 440 Metonymie vs. Metapher 276, 300 moderne Kultur 24 f., 245–247, 249–254, 264, 307 f., 310 Moderne, Spezifität der 14–19, 25–29, 34, 40 f., 55–57, 87–90, 104, 116–118, 157, 160–162, 242 f.,

449

246 f., 291–296, 299, 331 f., 353, 365–374, 382–385, 414–419 moralische Verantwortung 70, 88–90, 93, 371 Nationalismus 62, 108 f., 140, 176, 181, 215, 217, 219, 255 f., 263, 269, 309 Nationalstaat 33, 77, 107–110, 116–118, 140, 161, 169–171, 174 f., 178 f., 227, 229, 232 f., 236 f., 247, 264, 269, 307, 308, 431 Natur, Konstruktion der 19, 21 f., 36, 38 f., 45, 66 f., 70–74, 77, 102, 108 f., 115, 117, 148, 167–170, 179, 229, 239–241, 244, 246, 252, 263, 296, 316, 324, 338, 340, 354, 365, 395, 415–420, 429 f., 434 Neotribalismus 385, 391 f. Nützlichkeit 126, 348–350 Ordnung vs. Chaos 16 f., 20 f., 24, 28, 32, 47, 162 f., 170, 366, 399 Ordnung, Konstruktion der 16–23, 31–34, 41 f., 46 f., 51, 101–104, 147, 162 f., 170 f., 240–243, 246, 299, 357, 363, 396–399, 425 Ostjuden 143 f., 211, 213–215, 219–224, 236, 238 panoptischer Staat 149 Parataxe 286 f., 291 Paria 231, 249 Parvenu 184, 192, 231 Pluralismus 89–91, 206, 250, 363 Postmoderne 35 f., 159–161, 164 f., 253, 256, 297, 373–375, 384 f.,

388, 394–396, 402–405, 408–413, 422 f., 426–430, 433–441 Problembewältigung, Haltung der 29–32, 55 f., 329 f., 334 f., 432 protestantische Buchstabengläubigkeit 300 Provinzialismus/Standortgebundenheit 46, 134, 138 f., 148–159, 200, 204, 207, 230, 310, 365 Rasse und Rassismus 53, 61 f., 64 f., 74, 76 f., 80, 83–85, 124, 206, 245, 405, 409 Relativismus 140, 148, 154, 250, 280 relativ-natürliche Weltanschauung 125, 128 Risiken, Produktion von 429 f., 434 f. Scham 184, 207, 210–214, 217–220, 223, 226, 234, 252, 256, 272 f., 412 Schweben der Verantwortung 361 Selbstkonstitution 116, 125, 139, 145–148, 157, 252 f., 297, 317, 325 f., 351, 392 Solidarität 36, 108, 161, 211–213, 369, 371–374, 403–405, 413, 433 Sozialismus 56, 73, 414–420 Sozialtechnologie 54 f., 69, 109, 161, 239, 406 f., 410, 416 f., 424, 426 soziologische Hermeneutik 167 Stamm 32, 108, 124, 176, 289, 391 f. Stigma 113–119, 122, 134, 138, 159, 166, 172, 181, 212, 216 f., 233, 324, 402

450

Strukturierung 12 f., 93 Supplement 92, 96 systemische Konsequenzen 346, 362, 412

Universum der Verpflichtung 69 Unsicherheit 248, 269, 308, 330, 335 f., 338, 354 f. unvertraut 99, 101, 108

Taylorisierung 333 Toleranz 22, 25, 64, 161, 173, 283, 369–372, 374, 403 f., 408, 410, 413, 430, 432–434 totemistische Systeme 352 Tradition, Konstruktion der 109, 208, 219, 390 f. Trennung, Konstruktion der 11, 13, 32–34, 97–101, 113, 140, 155, 162, 194–196, 239, 244f., 276f.

Vergegnung 107 Vergesellschaftung 94 f., 105, 268, 296, 299 Verlegenheit 207, 211–214, 217, 224, 256, 412 vermitteltes Handeln 332, 361 Verschiedenheit 161, 179, 181, 256, 371, 384, 399, 402f., 430–432 Vertrauen 126, 314 f. Völkermord 74, 410 Volksgeist 219, 294

Unbestimmtheit 97, 105, 111, 242, 299 f. Unentscheidbarkeit 12, 20, 95–101, 140 f., 240, 299, 310, 365, 383 Ungewißheit 20, 97, 131, 135, 190 f., 313, 319, 326, 329, 333, 335, 351, 373, 381 f., 383 Universalität/Universalismus 51, 136–141, 147–160, 174f., 178–181, 200, 204, 206–208, 218f., 229, 249f., 252f., 256, 287, 292, 296, 302, 304, 310, 365–368, 398f., 401, 403

Wahl 93, 285, 313, 320, 355 f., 368, 371 f., 386, 408, 426, 431 f. Wahnsinn 33, 131, 281f., 380, 386f. Wahrheit (als gesellschaftliche Bezeichnung) 44 f., 124, 135–139, 154, 157–159, 266–270, 365–367, 370, 380–385 Wissensklasse 152, 153–155 zweckgerichtetes Handeln 71, 87, 339–342

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Zum Autor

Zygmunt Bauman ist Professor emeritus für Soziologie an der Universität Leeds. 1925 in Posen geboren, floh er 1939 vor den Nazis in die Sowjetunion. 1954 wurde er Professor für Soziologie an der Universität Warschau, ging 1968 nach Israel und erhielt 1971 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an der University of Leeds, den er bis 1990 innehatte. Bauman erhielt 1989 den Amalfi-Preis für Soziologie, 1998 den Theodor-W.-Adorno-Preis und wurde 2010 mit dem Prinz-vonAsturien-Preis in der Kategorie Kommunikation und Humanwissenschaften (gemeinsam mit Alain Touraine) geehrt. 2014 verlieh ihm die Deutsche Gesellschaft für Soziologie den Preis für sein wissenschaftliches Lebenswerk.

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