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German Pages 543 [526] Year 2020
Elisabeth Gülich Mündliches Erzählen
Narratologia
Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers
Band 71
Elisabeth Gülich
Mündliches Erzählen Verfahren narrativer Rekonstruktion im Gespräch Herausgegeben von Stefan Pfänder, Carl E. Scheidt und Elke Schumann
Diese Zusammenstellung der Originalarbeiten von Elisabeth Gülich (und ihren Ko-Autor*innen) ging hervor aus dem DFG-Projekt Emergentes Erinnern (DFG/PF699/8-1) und aus dem Forschungsprojekt Synchronization in Embodied Interaction am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) und basiert auf der Initiative des Romanischen Seminars der Universität Freiburg und der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg. Der Band wurde gefördert vom Romanischen Seminar der Universität Freiburg, der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg sowie der Dr. Jürgen und Irmgard Ulderup Stiftung.
ISBN 978-3-11-067671-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068566-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068575-6 ISSN 1612-8427 Library of Congress Control Number: 2020937738 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die im hier vorliegenden Band versammelten Aufsätze von Elisabeth Gülich erstrecken sich über eine Zeitspanne von etwa 15 Jahren, ein überschaubarer Zeitraum. Diesem ist bereits eine große wissenschaftliche Produktivität der Autorin vorangegangen, die hier nicht explizit gewürdigt und berücksichtigt werden konnte. Die Entscheidung einer Wiederveröffentlichung bereits früher publizierter Arbeiten in einem eigenen Sammelband ist für eine Autorin und Wissenschaftlerin, die fortgesetzt und andauernd im Prozess der „wissenschaftlichen Formulierungsarbeit“ steht und die genuin ein viel größeres Interesse am innovativen Erschließen von neuen Beobachtungsfeldern als am Dokumentieren eines „Gesamtwerkes“ hat, kein ganz leichter Entschluss gewesen. Zu sehr ist das Denken auf das Vorantreiben und Entdecken neuer Themen und Wissensfelder gerichtet, um sich mit der Wiederveröffentlichung des früher bereits Gedachten und Ausformulierten zufrieden geben zu können. Aus der Sicht der Herausgeber dieses Bandes stellte sich der Sachverhalt anders dar. Die Idee, eine Auswahl von Aufsätzen von Elisabeth Gülich aus den vergangenen 15 Jahren in einem Band zu veröffentlichen, folgte keineswegs allein dem pragmatischen Wunsch, interessierten Lesern einen einfachen und praktikablen Zugang zu verstreuten, zum Teil auch nicht ganz leicht erreichbaren Arbeiten zu ermöglichen. Stattdessen schien es vor allem reizvoll, in der Auswahl der Aufsätze die vielfältigen historischen, thematischen und methodisch-systematischen Zusammenhänge zwischen den Projekten und den Publikationen dieses Zeitraums sichtbar zu machen. Diese ergeben sich zwanglos und weitestgehend von selbst. Drei Linien sind hervorzuheben, die die Arbeiten von Elisabeth Gülich aus dieser Zeit durchziehen: Die erste Linie, die als zentrale Achse das gesamte Opus bestimmt, ist die Beschäftigung mit den Gestaltungsformen der gesprochenen Sprache mit Hilfe der Konversationsanalyse, zu deren Etablierung in Deutschland Elisabeth Gülich maßgeblich beigetragen und die sie insbesondere für mündliche Erzählungen im klinischen Kontext nutzbar gemacht hat. Der Fokus auf Patientenerzählungen folgt dabei immer dem Ziel, sich durch die Untersuchung der Sprache der jeweiligen versprachlichten individuellen Erfahrung zu nähern. Die zweite gedankliche Linie ist die Orientierung der linguistischen Analyse an Fragestellungen, die selbst außerhalb der Linguistik liegen, sei es im Sinne einer Schärfung der medizinischen oder psychologischen Diagnostik, sei es mit dem Ziel, das Verständnis der Prozesse im Zusammenspiel von Sprache und mentaler Organisation zu fördern. Diese Ausrichtung begründete einen neuen und eigenständigen Forschungsansatz, den man als klinische Narratologie bezeichnen könnte. Die linguistischen Untersuchungen stützen sich auf Datenkorpora, https://doi.org/10.1515/9783110685664-202
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Vorwort
die Erzählungen von Grenzerfahrungen enthalten – Erfahrungen, die aufgrund der mit ihnen verbundenen emotionalen Gewalt die Erzählenden vor erhebliche Herausforderungen der Versprachlichung stellen. Hierzu gehörten zunächst die Erzählungen von Anfallspatienten, die Elisabeth Gülich und Martin Schöndienst erstmals untersuchten, sowie später die Erzählungen über Trauma- und Verlusterfahrungen, die ähnlich wie die Narrative der Anfallspatienten Probleme der sprachlichen und narrativen Kohärenz sowie der Annäherung an das Unaussprechliche aufwarfen. Hier wie auch bei der Untersuchung der Erzählungen anderer Patientengruppen wurde die Frage des Zusammenspiels zwischen Erinnerung, mentaler (Re-)Organisation und sprachlicher, interaktiver Rekonstruktion zum Thema. Nach der Zusammenarbeit mit Neurologen folgten Kooperationsprojekte mit Psychologen, Psychiatern und Psychotherapeutinnen. Deswegen ist die dritte Linie, die komplementär zur Vertiefung und Begründung der klinischen Erzählforschung verlief, die interdisziplinäre Ausrichtung des Denkens. Interdisziplinarität ist natürlich etwas anderes als ein Add-on, das zum eigenen Fach noch ein schmückendes Zitat aus dem Nachbarfach hinzufügt. Stattdessen erfordert echte Interdisziplinarität – wenn dieses Emphatikon hier gestattet ist – Entschlossenheit und Pragmatismus. Elisabeth Gülich zitiert in ihrem Aufsatz Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität Harald Welzer mit den Worten: Die Grundregel, die vor dem gemeinsamen Betreten eines Forschungsfeldes strikt beherzigt werden muss, lautet: Nie über Grundsätzliches sprechen – keine erkenntnistheoretischen, begrifflichen, keine im weitesten Sinne philosophischen Probleme aufwerfen. Interdisziplinarität funktioniert nur pragmatisch (. . .). (in: DIE ZEIT 18, 27. April 2006, 7)
Man könnte dieses Zitat dahingehend ergänzen, dass Interdisziplinarität auch nur biographisch funktioniert – nämlich dann, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, das gesicherte Terrain des eigenen Faches zu verlassen und sich auf die Unwägbarkeiten des Austausches über die Fachgrenzen hinweg einzulassen. Die hier vorgelegte Aufsatzsammlung ist in sieben Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel enthält unter der Überschrift Narrative und szenische Rekonstruktion drei Arbeiten, die sich mit Grundlagenthemen der Konversationsanalyse und des Erzählens in Alltagskonversationen beschäftigen. Im zweiten Kapitel steht die Erzählung von Krankheitserfahrungen und deren Aufbereitung im medizinischen Kontext im Mittelpunkt. Im dritten Kapitel sind drei Aufsätze zusammengestellt, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Erzählung von Anfallserfahrungen befassen, wobei der Fokus auf der Gestaltung der narrativen Ko-Konstruktion und der interaktiven Behandlung von Kohärenzbrüchen liegt.
Vorwort
VII
Das vierte Kapitel enthält wiederum drei Arbeiten, die die nonverbalen Ressourcen bei der narrativen Rekonstruktion von Angsterfahrungen zum Thema haben. Ähnlich wie auch bei der Analyse der Anfallsnarrative werden hier auf der Grundlage der individuellen sprachlichen Gestaltung der Erzählungen die Kriterien einer Diagnostik und Subtypisierung unterschiedlicher Angstformen erarbeitet. Das fünfte Kapitel enthält zwei Arbeiten, die sich mit dem Topos des Unbeschreibbaren und den sprachlichen Ressourcen befassen, die in der Annäherung an Grenzerfahrungen verwendet werden. Zwei Arbeiten in Kapitel 6 befassen sich mit dem Thema der Wiedererzählung im autobiographischen Kontext, zwei Arbeiten im Kapitel 7 sind der grundlegenden Frage der auf linguistische Analyse gestützten klinischen Differenzialdiagnostik gewidmet. Den Abschluss bildet in Kapitel 8 die oben zitierte Arbeit über interdisziplinäre Perspektiven. Dass diese Aufsatzsammlung an der Universität Freiburg und mit Unterstützung des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) zusammengestellt werden konnte, ist kein Zufall. Langjährige persönliche und fachliche Kontakte verbinden Elisabeth Gülich mit Freiburg und mit dem FRIAS. In den Jahren 2011–2012 war sie zu einem längeren Aufenthalt als External Senior Fellow im Rahmen des Projektes über Narrative Bewältigung von Trauma- und Verlusterfahrungen in Freiburg. 2017–2018 nahm sie an einem FRIAS-Forschungsfokus über Synchronization in Embodied Interaction teil. Schon zuvor hatte sie gemeinsam mit Stefan Pfänder, Gabriele Lucius-Hoene und Elke Schumann am Thema der Wiedererzählung und mit Carl E. Scheidt, Anja Stukenbrock und Gabriele Lucius-Hoene an der Erzählung von Trauma- und Verlusterfahrungen gearbeitet. Die im vorliegenden Band zusammengestellten Überlegungen und Untersuchungen haben diese Projekte in vielfältiger Weise gefördert und befruchtet. Die Zusammenstellung der Arbeiten in diesem Band ist auch ein Ausdruck des Dankes der Freiburger Arbeitsgruppe für diese jahrelange menschlich und fachlich überragende und inspirierende Zusammenarbeit. Das thematische Leitmotiv, unter dem sich das gemeinsame Interesse bündeln ließ, war dabei die Arbeit am Text der gesprochenen Sprache sowie die Faszination an den vielfältigen individuellen Gestaltungsformen in der Versprachlichung kritischer menschlicher Grenzerfahrungen. Carl E. Scheidt Stefan Pfänder Elke Schumann
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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I Grundlagen: Narrative und szenische Rekonstruktion Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
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Erzählen in der Interaktion 27 zusammen mit Lorenza Mondada Mündliches Erzählen: Narrative und szenische Rekonstruktion
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II Von Krankheitserfahrungen erzählen Krankheitserzählungen
77
Medizin: Zur narrativen Rekonstruktion von Krankheitserfahrungen in Arzt-Patient-Gesprächen 97 Praxis der Fallarbeit im psychosomatischen Kontext aus der Sicht der Gesprächsforschung 113
III Rekonstruktion, Kokonstruktion und Kohärenz am Beispiel von Anfallserzählungen Ko-Konstruktion von Anfallsschilderungen in Arzt-PatientenGesprächen 147 zusammen mit Ulrich Krafft Erinnern – Erzählen – Interpretieren in Gesprächen mit Anfallskranken 181 Brüche in der Kohärenz bei der narrativen Rekonstruktion von Krankheitserfahrungen: Konversationsanalytische und klinische Aspekte 213 zusammen mit Martin Schöndienst
X
Inhaltsverzeichnis
IV Verbale und nonverbale Ressourcen bei der narrativen Rekonstruktion von Angsterfahrungen Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf: Verfahren der szenischen Darstellung zusammen mit Elizabeth Couper-Kuhlen
231
„Volle Palette in Flammen“: Zur Orientierung an vorgeformten Strukturen beim Reden über Angst 271 Communicating emotion in doctor-patient interaction: A multidimensional single case analysis 299 together with Katrin Lindemann
V Formulierungsressourcen für „Unbeschreibbares“ Die Beschreibung von Unbeschreibbarem: Eine konversationsanalytische Annäherung an Gespräche mit Anfallskranken 329 zusammen mit Ingrid Furchner Unbeschreibbarkeit: Rhetorischer Topos – Gattungsmerkmal – Formulierungsressource 357
VI Mehrfaches Erzählen und autobiographische Arbeit Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch: Eine Einzelfallstudie 385 zusammen mit Katrin Lindemann und Martin Schöndienst Veränderungen von Geschichten beim Erzählen: Versuch einer interdisziplinären Annäherung an narrative Rekonstruktionen von Schlüsselerfahrungen 413 zusammen mit Gabriele Lucius-Hoene
Inhaltsverzeichnis
VII Mündliches Erzählen aus differenzialdiagnostischer Perspektive Klinische Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen: Neue Wege in Datenerhebung, Analyse und Auswertung im interdisziplinären Forschungskontext 455 zusammen mit Barbara Frank-Job, Heike Knerich und Martin Schöndienst Using illness narratives in clinical diagnosis: Narrative reconstruction of epileptic and non-epileptic seizures and panic attacks 487
VIII Interdisziplinäre Perspektiven Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität
507
Anhang Transkriptionskonventionen
525
Übersicht zur Erstveröffentlichung aller Beiträge
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XI
Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen 1 Erzählen vom Alltag und Erzählen im Alltag Dass Alltägliches erzählt wird, also der normale Alltag Gegenstand von Erzählungen ist, kommt in Gesprächszusammenhängen verschiedenster Art vor.1 Wir erzählen von allen möglichen mehr oder weniger banalen Ereignissen, Erlebnissen und Eindrücken, die unseren Alltag ausmachen. Gleichwohl wird in Begriffsbestimmungen von Erzählen zumeist gerade das Nicht-Alltägliche, das Unerwartete und Ungewöhnliche als Gegenstand des Erzählens hervorgehoben. Demnach würde Alltägliches eben gerade nicht erzählt; denn wenn alles in gewohnter und erwarteter Weise abläuft, gilt es nicht als erzählbar, wird nicht als erzählenswert erachtet. Das gilt für alltägliches ebenso wie für literarisches Erzählen. Für das Analysieren von Erzählungen scheint es zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft eine klare Arbeitsteilung zu geben: Erzählen in Alltagskontexten, und zwar im Wesentlichen mündliches Erzählen, ist Gegenstand der linguistischen Erzählforschung; literarische Erzählungen sind Gegenstand der Literaturwissenschaft. Dies ist unabhängig davon, ob Alltägliches oder NichtAlltägliches erzählt wird; offenbar kann unter bestimmten Bedingungen auch Alltägliches literarisch erzählbar werden. Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen linguistischer und literaturwissenschaftlicher Erzählforschung verdeckt aber möglicherweise Gemeinsamkeiten zwischen alltäglichem und literarischem Erzählen, auch wenn solche schon in frühen textlinguistischen Arbeiten durchaus gesehen worden sind und – wie die Beiträge von Hausendorf und Lubkoll (2008) zeigen – auch heute noch gesehen werden. Im Folgenden sollen verschiedene Positionen zur linguistischen Analyse literarischer Texte in der älteren Textlinguistik exemplarisch dargestellt werden (Kap. 2). Anschließend wird die linguistische Gesprächsforschung als methodologischer Rahmen für die Analyse alltäglichen mündlichen Erzählens
1 Dieser Aufsatz ist aus interdisziplinärem Interesse entstanden. Entgegen der etablierten Unterscheidung zwischen literarischem (schriftlichem) und alltäglichem (mündlichem) Erzählen wird in diesem Aufsatz deutlich, dass sich hinsichtlich der Aspekte Erzählbarkeit und Gestaltungsorientiertheit durchaus Gemeinsamkeiten zeigen. Als literarische Beispiele werden Erzählungen von Franz Hohler aus den Bänden Ein eigenartiger Tag (1979) und Das Ende einer ganz normalen Tages (2008) gewählt. https://doi.org/10.1515/9783110685664-001
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
skizziert; dabei werden die Aspekte Erzählbarkeit und Gestaltungsorientiertheit im Zentrum stehen (Kap. 3). Auf dieser Grundlage soll dann an einem Beispiel alltäglichen Erzählens gezeigt werden, wie Erzähler und Zuhörer Erzählbarkeit interaktiv herstellen und an welchen kommunikativen Verfahren Gestaltungsorientiertheit deutlich wird (Kap. 4). Am Beispiel einer Erzählung von Franz Hohler, die ebenfalls unter den Aspekten Erzählbarkeit und Gestaltungsorientiertheit analysiert wird, soll dann die Frage diskutiert werden, wie Alltägliches literarisch erzählt werden kann (Kap. 5).
2 Aspekte textlinguistischer Erzählforschung Wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung einer linguistischen Erzählanalyse wurden etwa ab Mitte der 1960er Jahre durch die Textlinguistik geschaffen, die Texte als linguistisches Objekt (Hartmann 1971) überhaupt erst etabliert hat. Die Wahl dieses Untersuchungsgegenstands wurde theoretisch damit begründet, dass der Text das „originäre sprachliche Zeichen“ ist (Hartmann 1971, 10): Man kommuniziert nicht mit Wörtern, sondern durch Texte. Das Interesse an der Beschäftigung mit Texten entwickelte sich aber auch aus der Bearbeitung einzelner grammatischer Phänomene, deren Beschreibung auf Satzebene als ungenügend oder unbefriedigend empfunden wurde. Prominentestes Beispiel dafür ist Harald Weinrichs 1964 veröffentlichtes Buch Tempus, das für die Entwicklung einer Linguistik des Textes wegweisend war.2 Ausgangspunkt war auch hier ein grammatisches Phänomen, das Tempus, dessen adäquate linguistische Beschreibung – so die grundlegende These – nur bei Einbeziehung des Textzusammenhangs möglich ist. Denn „in diesem Stück Grammatik soll nicht vergessen sein, dass die Tempus-Formen demjenigen, der sie untersuchen will, zuerst und zumeist in Texten begegnen“ (2001 [1964], 21). Texte waren für Weinrich literarische Texte, und zwar im Besonderen Erzähltexte, denn es gab zu der Zeit eine lebhafte literaturwissenschaftliche Diskussion über Zeitstrukturen der erzählenden Literatur. Im Vorwort zur 6. Auflage schreibt Weinrich:
2 Einen Rückblick auf die Entstehung und die Rezeptionsgeschichte von Tempus sowie Hinweise auf Übersetzungen in andere Sprachen gibt Weinrich im Vorwort zur 6., neu bearbeiteten Auflage (2001 [1964]).
2 Aspekte textlinguistischer Erzählforschung
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Die Grundideen des vorliegenden Buchs entstanden aus einer, wie man heute sagt, interdisziplinären Fragestellung gegenüber einem zunächst literaturwissenschaftlich formulierten Problem, für das ich nach einer linguistischen Lösung suchte. (2001 [1964], 13)
Das Erzählen spielt dabei auch insofern eine grundlegende Rolle, als Weinrich seine Unterscheidung zwischen zwei Tempusgruppen, den Tempora der besprochenen und denen der erzählten Welt, mit Hilfe des Kriteriums der beiden unterschiedlichen Sprechhaltungen Besprechen und Erzählen trifft. Die Tempora haben somit Signalfunktion; beispielsweise ist das Präteritum ein konstitutives Tempus der erzählten Welt (2001 [1964], 39–40.). Weinrich löst eins der traditionellerweise in der französischen Grammatik als besonders schwierig angesehenen Probleme, den Unterschied zwischen Imparfait und Passé simple, indem er die Beschreibung „ausschließlich auf die Leistung dieser Tempora im Gefüge von Erzählungen“ abstellt (2001 [1964], 115). An Beispielen von Camus, Voltaire, Baudelaire und anderen Autoren entwickelt er das Konzept der Reliefgebung, die in erzählenden Texten durch das Imparfait als Hintergrund- und das Passé simple als Vordergrund-Tempus erfolgt. In einem eigenen Kapitel Tempus und Reliefgebung in der Novellistik (2001[1964], Kap. V) zeigt er an Novellen von Maupassant, Pirandello, Hemingway und anderen Autoren, in welchem Maße Reliefgebung insbesondere für die Gattung Novelle konstitutiv ist. Dabei macht er auch deutlich, dass durch textlinguistische Analysen etliche für die literarische Interpretation wesentliche Aspekte herausgearbeitet werden können (2001 [1964], 129–130.).3 Dieses Interesse speziell an literarischen Aspekten wird nicht von allen Textlinguisten geteilt, die in dieser Zeit literarische Texte als Analysegegenstände wählen. Stellvertretend für eine bestimmte vorwiegend theorie-orientierte Forschungsrichtung sei hier auf den Sammelband Grammars and descriptions (van Dijk und Petöfi 1977b) verwiesen. Hier behandeln 13 Autoren bzw. Autorenteams in ihren Beiträgen dieselbe Fabel von James Thurber (The lover and his lass), aber nicht um etwas zum Verständnis der Fabel beizutragen, sondern um an einem gemeinsamen Text ihre verschiedenen Konzeptionen, Texttheorien und -modelle darzustellen. Diese Zielrichtung ist von den Herausgebern vorgegeben, und die damit verbundene Hoffnung wird im Vorwort ausdrücklich formuliert: „We hope that this collection will give further impulses to text analysis and to text-theoretical research in general“ (van Dijk und Petöfi 1977a, VIII).4
3 Zahlreiche weitere Beispiele für die Arbeit an literarischen Texten findet man in Weinrichs Aufsätzen, wie etwa die Sammlung mit dem programmatischen Titel Sprache in Texten (Weinrich 1976) zeigt. Für eine Übersicht vgl. auch das Schriftenverzeichnis 1956–2001 in Weinrich 2001. 4 Auch die literarischen Texte in Gülich und Raible (1975) – eine Boccaccio-Novelle – und (1977) – in Teil III eine Novelle von Marguerite de Navarre – dienen eher der Illustration, dem
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
Die Arbeit an literarischen Erzählungen war also in der Textlinguistik der 1960er und 1970er Jahre nicht unbedingt durch ein spezifisch literarisches oder literaturwissenschaftliches Interesse motiviert. Allerdings wurde der Anspruch, einen neuen Zugang zu literarischen Aspekten zu eröffnen, im Allgemeinen gar nicht erst erhoben. Die vorhandene Literatur stellte für textlinguistische Analysen sozusagen ein Textkorpus zur Verfügung, das bei Bedarf ganz selbstverständlich herangezogen wurde, ohne dass dies einer besonderen Begründung bedurft hätte. Mündliche oder nicht-literarische schriftliche Erzählungen kommen in der Textlinguistik selten in den Blick. Weinrich behandelt Beispiele mündlicher Erzählungen aus der Kindersprache (2001 [1964], Kap. II, 6), aus dem Corpus des CREDIF (Kap. IX, 5) und aus mundartlichen Texten (Kap. IX, 6); in größerem Umfang werden mündliche Erzählungen (CREDIF und Rundfunkaufnahmen) in Gülich (1970) unter dem Aspekt ihrer Strukturierung analysiert. In Gülich (1976) werden an Beispielen aus literarischen und mündlichen Erzählungen bestimmte Erzähltechniken herausgearbeitet. Dabei wird davon ausgegangen, dass die zentralen Merkmale des Erzählens für alltägliche und für literarische Erzählungen gleichermaßen gelten; diese Annahme wird jedoch nicht weiter reflektiert (wie Lubkoll 2008 zu Recht anmerkt), während sie für Gülich und Hausendorf (2000, vgl. besonders Kap. 3) eine wesentliche Grundlage darstellt. Weinrich formuliert diese Gemeinsamkeit ausdrücklich, wenn er das Präteritum als das Tempus beschreibt, dessen Gebrauch „die Erzählsituation schlechthin“ signalisiert: Dabei kann allerdings a priori weder ein Unterschied zwischen mündlichem und schriftlichem Ausdruck, noch ein Unterschied zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten, noch schließlich ein Unterschied zwischen Literatur und Dichtung als relevant zugelassen werden. In diesem Sinne sähe ich an die Stelle der „Logik der Dichtung“ lieber eine „Linguistik der Literatur“ gesetzt. Damit soll aber weder gesagt werden, dass die linguistische Wissenschaft als ganze in den Dienst des Literaturverständnisses gestellt werden sollte, noch dass sich die Literaturwissenschaft ausschließlich oder vorzugsweise linguistischer Methoden bedienen müsste. Es soll lediglich gesagt werden, dass die Anwendung gewisser linguistischer (nicht logischer!) Methoden auf literarische Texte sinnvoll ist und dass literarischen Texten auf diese Weise einige Aspekte abgewonnen werden können, die sowohl die Aufmerksamkeit der Linguisten als auch der Literaturwissenschaftler verdienen. (Weinrich 2001 [1964], 40)
In Bezug auf das Verhältnis zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft vertritt Weinrich hier eine Position, die weniger auf Arbeitsteilung als auf Zusammenarbeit abzielt. In dieselbe Richtung gehen textlinguistische Arbeiten, die
Vergleich und der Erprobung der dargestellten Erzähltextmodelle als dem besseren Verständnis der betreffenden Novellen (wenngleich man ein solches nicht ausschließen kann).
3 Der Ansatz der Gesprächsforschung
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literarische Erzählungen nicht mehr oder weniger zufällig als Material heranziehen, sondern charakteristische Erzähltechniken eines Werks zum Gegenstand haben und durch eine differenzierte Beschreibung zu dessen Interpretation beitragen wollen. Anne Betten – um nur ein Beispiel zu nennen – hat daraus mit zahlreichen Arbeiten über literarische Sprachstile (z. B. Betten 2007, 2008), über Thomas Bernhard (z. B. Betten 2002) und andere Autoren einen eigenen Forschungsschwerpunkt gemacht. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die literarische Interpretation von der linguistischen Analyse profitieren kann, natürlich auch umgekehrt: „Was kann die Linguistik von der Literatur lernen, und zwar gerade über den Bereich der mündlichen Alltagskommunikation, der dem ersten Anschein nach doch keineswegs unmittelbar mit literarischen Texten in Verbindung zu bringen ist (. . .)“, fragt Reisigl (2000, 237) am Beginn einer Fallstudie über Kriminalromane von Friedrich Glauser, die er im Titel als „heuristische Quellen und kunstfertige Herausforderung für die Analyse gesprochener Sprache“ bewertet. Ähnliche „Lerneffekte“ für die linguistische Erzählforschung ergeben sich zum Beispiel auch aus der Analyse „erzählter Gespräche“ bei Marcel Proust, dessen verschiedene Techniken, Gespräche zu inszenieren, sich als höchst anregend für die linguistische Gesprächsforschung erweisen (Gülich 1990). Dass gerade fingierte Mündlichkeit und inszenierte Interaktion in Erzählungen geeignete gemeinsame Arbeitsgebiete für Linguistik und Literaturwissenschaft sind, zeigt auch der Beitrag von Lubkoll (2008)5
3 Der Ansatz der Gesprächsforschung Die aktuelle linguistische Erzählforschung ist weniger von der Textlinguistik als von der Gesprächsanalyse geprägt. In der Konversationsanalyse, einem von amerikanischen Soziologen entwickelten Forschungsansatz,6 der maßgeblich zur Entwicklung der deutschen Gesprächsforschung beigetragen hat, bestand schon früh Interesse an Erzählsequenzen in Alltagsgesprächen. Dieses Interesse geht insbesondere auf Harvey Sacks, den Begründer dieser
5 Zu den éléments de linguistique, die Maingeneau (1986) als besonders geeignet für die Analyse literarischer Texte darstellt, gehören bezeichnenderweise auch Polyphonie und Discours rapporté. 6 Es gibt zahlreiche ältere und neuere Übersichtsdarstellungen zu diesem Gebiet, zum Beispiel Kallmeyer und Schütze (1976), Bergmann (1981, 2004), Streeck (1983) sowie Gülich und Mondada (2008, mit weiteren Literaturhinweisen).
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
Forschungsrichtung, zurück. Es richtete sich ursprünglich vor allem auf sequenzielle und gesprächsorganisatorische Aspekte, zum Beispiel auf die Frage, wie es dazu kommt, dass im Gespräch mit regelmäßigem Sprecherwechsel ein Teilnehmer einen komplexen Redebeitrag wie eine Erzählung produzieren kann (vgl. dazu Gülich und Mondada 2008, Kap. 9). Neben solchen eher „technischen“ Aspekten – ein für die Thematik zentraler Aufsatz von Sacks (1978) trägt den Titel Some technical considerations of a dirty joke – spielte aber zum einen auch die kunstvolle Gestaltung eine Rolle („I want to argue the artfulness of this joke“, Sacks 1978, 250), zum anderen die Erzählbarkeit einer Geschichte, „its tellable character“, wobei tellable im Sinne von worth telling gebraucht wird (Sacks 1992, Bd. I, 776).7 Quasthoff (1980), die mit ihrer Untersuchung das Erzählen in Gesprächen in der deutschsprachigen Linguistik als Forschungsgegenstand etabliert hat, verwendet den Terminus erzählenswert und beruft sich dabei vor allem auf die Arbeiten von Labov und Waletzky (1967) und Labov (1972),8 in denen die reportability, die der Erzähler durch die Evaluation markiert, eine zentrale Rolle spielt (Quasthoff 1980, 52). Unter Evaluation versteht Labov (1972) eine über die ganze Erzählung verteilte sekundäre Struktur,9 durch die „the point of the narrative“ deutlich wird, das heißt das, was die Ereignisse reportable macht. Dies soll verhindern, dass die Zuhörer auf die Erzählung mit so what? reagieren, also mit Unverständnis darüber, warum die Geschichte erzählt wurde. Erzählbarkeit oder Erzählwürdigkeit wird dabei vor allem als eine Eigenschaft des zugrunde liegenden Ereignisses angesehen.10 Aus einer gesprächsanalytischen Perspektive sollte sich die Bestimmung von Erzählwürdigkeit jedoch nicht auf „objektive“ Eigenschaften der Geschichte stützen, sondern auf die „subjektive Bedeutsamkeit eines Ereignisses für den Erzähler“, „also darauf, was der Erzähler selbst jeweils als unerwartet oder außergewöhnlich versteht“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2002, 127–128).
7 Sacks behandelt das Phänomen der tellability in mehreren seiner Lectures (z. B. 1992, Vol. I, VII, 8; Vol. II, III, 1). 8 Diese Arbeiten haben die gesamte Erzählforschung nachhaltig beeinflusst; auf sie wird bis hin zur 7. Auflage der literaturwissenschaftlichen Einführung von Martínez und Scheffel (2007) immer wieder Bezug genommen. Der Untersuchung von Labov und Waletzky (1967) wurde noch 30 Jahre nach ihrer Publikation eine Würdigung zuteil (Bamberg 1997), allerdings auch eine kritische Auseinandersetzung (vgl. dazu besonders Schegloff 1997). 9 In Labov und Waletzky (1967) hingegen wird die Evaluation als Teil der Globalstruktur einer Erzählung angesehen, die auf Orientierung und Komplikation folgt. 10 Es hat zahlreiche Versuche gegeben, diesen Begriff linguistisch zu präzisieren, den Planbruch (Quasthoff 1980, Hausendorf und Quasthoff 1996), das Unerwartete (Ehlich 1983), die Diskontinuität (Boueke et al. 1995) genauer zu fassen; darauf kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden (vgl. dazu Gülich und Hausendorf 2000, 374–375).
3 Der Ansatz der Gesprächsforschung
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Erzählwürdigkeit kann zwar durch besonders spektakuläre Ereignisse entstehen, aber das ist nicht das Entscheidende; auch ganz alltägliche Dinge können sich – ggf. erst im Verlauf des Gesprächs – als bedeutsam erweisen. Daher lässt sich die Erzählwürdigkeit oft erst durch die Betrachtung der kontextuellen Einbettung oder der Funktionalität des Erzählten für einen größeren narrativen Zusammenhang erhellen (Lucius-Hoene und Deppermann 2002, 127–128). Aus konversationsanalytischer Perspektive richtet sich das Interesse vor allem darauf, wie Erzählbarkeit im Erzählprozess interaktiv konstituiert, das heißt von Erzähler und Zuhörer gemeinsam hergestellt wird.11 Dabei spielen nicht nur Relevanzsetzungen durch den Erzähler12 eine Rolle, sondern auch die Bearbeitung und Würdigung des Erzählten durch die Zuhörer. Um in einer Erzählung Relevanzsetzungen und das Erzählenswerte, die Pointe deutlich zu machen, werden nicht nur sprachliche, sondern auch stimmliche und körperliche, insbesondere mimische und gestische Ressourcen genutzt. Untersucht wurden allerdings bisher vor allem sprachliche Verfahren, zum Beispiel Hervorhebungsverfahren, Bewertungen, Detaillierungen, Reformulierungen und Wiederaufnahmen, die Darstellung emotionaler Beteiligung, die szenische Darstellung. Einige solcher Verfahren beschreibt Günthner (2005) am Beispiel mündlicher Alltagserzählungen im Deutschen als dichte Konstruktionen. Solche Darstellungstechniken werden in der Analyse mündlicher Erzählungen oft wenig beachtet oder eher beiläufig behandelt. Kallmeyer lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wenn er bei der Analyse von Alltagserzählungen Darstellungseigenschaften beschreibt, „die ‚kunsthaft‘ erscheinen und die man als das Ergebnis einer Gestaltungsorientiertheit interpretieren kann“, und er stellt fest, dass sie „starke Strukturähnlichkeiten mit Formen explizit literarischen Erzählens“ haben (Kallmeyer 1981, 409).13 Die Bearbeitung und Würdigung des Erzählten durch die Zuhörer erfolgt durch vokale Reaktionen verschiedenster Art (Lachen, Aufstöhnen usw.) und durch verbale Kommentare und Bewertungen sowohl während des Erzählprozesses als auch
11 Vgl. dazu den Handbuchartikel von Quasthoff (2001), ferner Hausendorf und Quasthoff (1996) und Gülich und Mondada (2008, Kap. 9.3). 12 Relevanzsetzung ist nach Kallmeyer und Schütze (1977) mit Gestaltschließung und Detaillierung einer der drei Zugzwänge, in die der Erzähler gerät: Er muss deutlich machen, was an der Geschichte als erzählenswert gelten soll. Vgl. auch Schütze (1982, 572) zum Kondensierungszwang: „Um die entscheidende Aussage (den Clou) der erlebten Geschichte herauszuarbeiten, und weil für die Rekapitulierung eigenerlebter Erfahrungen nur begrenze Zeit zur Verfügung steht, ist der Erzähler gezwungen, allein das zu erzählen, was unter Ansehung der GesamtEreigniskonstellationen, der vorgegebenen Thematik und der damaligen Orientierungssignifikanz möglicher Handlungsalternativen und eingetretener Ereignisse (. . .) an Ereignisknotenpunkten wirklich relevant ist.“. 13 Vgl. dazu auch Gülich (1980 und 2007); Stempel (1980); Bange (1991); Günthner (2002).
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
im Anschluss an die eigentliche Erzählung; diese Reaktionen sind entsprechend bei alltäglichem Erzählen mitzuanalysieren. Die konkrete Vorgehensweise und die zentralen Konzepte sollen in der folgenden Analyse eines Beispiels deutlich werden.14 Entsprechend dem methodischen Vorgehen der Konversationsanalyse wird als Gegenstand eine Erzählsequenz aus einer authentischen, das heißt nicht zu Forschungszwecken arrangierten Gesprächssituation gewählt; die Analyse berücksichtigt die Einbettung der Erzählaktivität in den Gesprächskontext, den sequenziellen Verlauf und die Interaktion zwischen Erzählerin und Zuhörern. Dabei wird speziell auf die Herstellung von Erzählbarkeit und die Gestaltungsorientiertheit eingegangen.
4 Erzählen im Alltag: Ein Analyse-Beispiel Bei dem hier analysierten Beispiel handelt es sich um eine Erzählsequenz aus einem längeren Gespräch beim Abendessen. Annika, Carla und Joachim sind Geschwister, die sehr selten alle mit ihrer Tante, Frau Kersten, zusammentreffen. Der aufgezeichnete Teil des Gesprächs beginnt damit, dass Frau Kersten, nachdem sie schon ins Erzählen von früher geraten ist, nach Erinnerungen an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gefragt wird und daraufhin sehr lebhaft und ausführlich erzählt. Dabei kommt sie auf verschiedenste Episoden und Anekdoten zu sprechen, die sie zur Zeit des Kriegsbeginns in ihrem Elternhaus in Frankfurt/Oder erlebt hat.15 Transkriptbeispiel: Bettwäsche fürs Lazarett16 Aufnahme: EG 10/95 Transkription: HK 8/2004 Siglen: K: Frau Kersten (88 Jahre); A: Annika (ihre Nichte, Anfang 50); C: Carla (ihre Nichte, Ende 50); J: Joachim (ihr Neffe, Mitte 50; schweigt während der zitierten Ausschnitte); M: Maria (Frau von J, Anfang 50, spricht sehr wenig)
14 Ausführlicher zu Prinzipien und Methoden einer konversationsanalytischen Vorgehensweise siehe beispielsweise Gülich und Mondada (2008). 15 Diese und eine weitere Episode werden in Gülich (2007) in anderem Zusammenhang ausführlicher analysiert; dort wird auch der theoretisch-methodologische Rahmen genauer dargestellt. 16 Transkriptionskonventionen: siehe Anhang in diesem Band.
4 Erzählen im Alltag: Ein Analyse-Beispiel
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Ausschnitt 1 1 K: na ja überhaupt so diese (.) ERSten weltkriegstage ausm ersten 2 weltkrieg; die sind bei mir einge!BRANNT!. 3 A: ich find das er!STAUN!lich; 4 C: [ja. 5 K: [ja. 6 (-) 7 A: du warst äh du warst=wie alt warst du? 8 K: na ja ich war grad n SCHULkind [(gewordn). 9 A: [biste 10 A: neunzehnhundertsieben geboren, oder wann? 11 K: sieben geboren, [ ja. 12 A: [sieben; ne? 13 A: [( ) 14 M: [( ) mensch 15 K: (ja und ich war) (-) grade zur SCHULE gekomm.[ nech, 16 C: [ja. 17 K: (.) ((schluckt)) (.) 18 K: und dann äh (---) ((schluckt)) weiß ich noch die töchter 19 von bekann=und denn wurde natürlich (-) 20 ähm wurden äh reSERVElazaretts eingeritt=äh=gerichtet, 21 denn wenn es nun in rußland .hh äh 22 losging kamen die verWUNDeten ja aus der RUSSischen front 23 gleich nach frankfurt an der Oder, also (.) ähm (.) 24 selbstverständlich; das war die zugverbindung über POsen; 25 hh ne,=und (.) ähm da weiß ich eben ähm mein va=vater hatte 26 einen äh kollegen KARtner hieß der; (-).h der hatte zu seinem 27 ÄRger oder VIER töchter; 28 (.) else kartner, (. . .) Wie oben bereits gesagt, ist bei der Analyse der gesamte Prozess des Erzählens, das heißt auch die Entstehung der narrativen Rekonstruktion aus dem Gespräch heraus zu berücksichtigen. Die Abgrenzung der Erzählaktivität von anderen konversationellen Aktivitäten ist jedoch manchmal schwierig. Der hier zitierte Ausschnitt beginnt an einer Stelle, an der das Erzählen einer Episode beendet ist und die Gesprächspartner das Erinnerungsvermögen der Erzählerin kommentieren. Daraus entwickelt sich dann das Erzählen der neuen Episode: Die Erzählerin knüpft an den Kommentar zu ihrer Fähigkeit, sich an weit zurückliegende Ereignisse zu erinnern, an und leitet zu einer neuen Erinnerung
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
über: und dann äh ( – ) ((schluckt)) weiß ich noch (Z. 18). Mit die töchter von bekann beginnt sie, einen Erzählgegenstand oder ein Thema zu benennen, bricht aber mitten im Wort ab und wechselt die Konstruktion: und denn wurde natürlich. An dieser Stelle folgt eine Selbstkorrektur (von wurde zu wurden), das Subjekt und das Vollverb werden ergänzt, dabei korrigiert die Erzählerin einen Versprecher: ähm wurden äh reSERVElazaretts eingeritt = äh = gerichtet. Die Verzögerungen, Selbstkorrekturen, Abbrüche und Neuansätze markieren einen strukturellen Einschnitt, der weniger eine Grenze als einen Übergang darstellt. Durch den typischen Erzählkonnektor und denn und den Tempuswechsel zum Präteritum (wurde), also zu einem Erzähltempus, wird deutlich, dass nunmehr wieder eine narrative Rekonstruktion beginnt. In Weinrichs Terminologie: Es findet ein Wechsel von der besprochenen in die erzählte Welt statt. Nachdem die strukturelle Aufgabe dieses Übergangs gelöst ist, formuliert die Erzählerin deutlich flüssiger (Z. 21–28). Sie skizziert nun kurz die Situation in Form einer iterativen Rekonstruktion (wenn es nun (…) losging kamen (…)). Dann fokussiert sie eine spezielle Erinnerung: ähm da weiß ich eben (Z. 25). Hier nimmt sie die abgebrochene Äußerung vom Anfang (Z. 18) wieder auf; die bereits genannten Personen (die Töchter) werden nun sozusagen an der „richtigen“ Stelle eingeführt, nämlich nach einer temporalen und lokalen Situierung des Ereignisses, und die Beziehung zu ihnen wird deutlich (der Vater war ein Kollege des Vaters der Erzählerin). Im Folgenden nennt die Erzählerin die vier Töchter namentlich, und nach einer Zwischensequenz, die hier ausgelassen wurde,17 erzählt sie die nachstehende Episode von der ältesten Tochter: Ausschnitt 2 29 K: die ÄLteste, else kartner war ganz 30 entzückend 31 ne große schlanke blondine, (.) .h und wer irgendWIE (.) konnte 32 damals; .h der ging als freiwillige schwester (.) in ein 33 reSERvelazarett. also auch else kartner, (.) .h und da 34 weiß ich dass es also eines tages KLINgelte, und else kartner 35 kam und wollte großmutter sprechen; .hh und da 36 sagte sie=frau kersten, .h ähm ich möchte fragen ob sie 37 mir BETTwäsche geben könn; (.) (.) 38 .h
17 Darin geht es um die Tatsache, dass der Vater dieser vier Töchter es als eine Strafe des Schicksals empfand, „nur“ Töchter zu haben, was von den Zuhörerinnen mit Lachen und Entrüstung zugleich kommentiert wird.
4 Erzählen im Alltag: Ein Analyse-Beispiel
39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
A: K: A: K:
A: K:
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aber fräulein ELSE, werden wir denn jetzt schon KNAPP?
(.) wir sind doch im reSERvelazarett und wir haben jetzt soldaten von der front mit KRÄTze, .hhh und wir sollten ÜBERmorgen frische verwundete von der front kriegen. .h und der rendant will uns keine frische bettwäsche geben; damit wir für die neuen männer die KRÄtzebetten wechseln können; ((schnalzt))
und das GEHT nich (.) [und da [
ham wir uns versprochen unternander dass wir bei unsern beKANNten bettwäsche sammeln; .h dass WIR den verWUNDeten die neu kommen die BETten frisch beziehn können; hm: und waRUM wollte der rendant äh (.) keine neue bettwäsche geben? (.) nächste woche kommt die KAIserin und DAfür soll alles frisch beZOgen sein.
Die Erzählerin leitet mit jedenfalls in die Hauptsequenz zurück, setzt die narrative Rekonstruktion fort und kommt auf die zuvor angesprochene Situation des Reservelazaretts zurück, der nun die Hauptperson (Else Kartner) zugeordnet wird. Mit einer erneuten Markierung von Erinnerung (Z. 33–34 und da weiß ich) und dem Episodenmerkmal eines tages wird dann die Aufmerksamkeit auf das singuläre Ereignis gerichtet, in diesem Fall ein Gesprächsereignis. K rekonstruiert dieses Gespräch zwischen else kartner und ihrer Mutter, die sie hier zunächst in Orientierung an den aktuellen Zuhörern als großmutter (Z. 35), später aus ihrer damaligen Perspektive als Kind als meine mutter bezeichnet (und zwar an einer Stelle, an der sie wiederum ihre Erinnerung thematisiert: ich hör meine mutter noch die sagt, Z. 38). Das Gespräch wird in direkter Rede wiedergegeben, die zunächst eingeleitet wird durch ein verbum dicendi (Z. 35–36: und da sagte sie). Die Antwort hingegen kennzeichnet K nur durch stimmliche Imitation als solche: ≪ausdrucksvoll > naNU! > (Z. 37). Erst rückwirkend und zugleich die nächste Äußerung einleitend nimmt K wieder eine ausdrückliche Kennzeichnung als direkte Rede vor; an dieser Stelle wechselt sie ins Präsens (Z. 38: ich hör meine mutter noch die sagt). Die Antwort von Else Kartner wird wiederum nicht eingeleitet, sondern durch prosodische Mittel gekennzeichnet, hier mit einer Anredeform verbunden: ≪ausdrucksvoll, imitierend > nei:n frau kersten; aber, > (Z. 40). Es folgt eine sehr detaillierte Rekonstruktion des längeren erklärenden Redebeitrags von Else Kartner (Z. 41–53), den eine Zuhörerin (A) überlap-
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
pend kommentiert (Z. 47, 49, 53). Mit einer rhetorischen Frage (und waRUM wollte der rendant äh ≪all > oder was das nun war, > (.) keine neue bettwäsche geben?) bereitet K dann die Pointe der Geschichte vor. Sie beantwortet die Frage gleich im Anschluss selbst und hebt die entscheidenden Informationen durch Betonung besonders hervor: nächste woche kommt die KAIserin und DAfür soll alles frisch beZOgen sein. (Z. 55–56). Das vorherrschende Gestaltungsmittel in Ks Erzählung ist die szenische Darstellung, das schon von Goffman (1974) beschriebene replaying.18 Diese Technik ist für mündliche Erzählungen vielfach beschrieben worden (z. B. in Günthner 2000, 2002; vgl. dazu auch Gülich 2007). Ein zentrales Mittel der szenischen Darstellung ist die Redewiedergabe. Die Erzählerin verwendet vor allem die Form der direkten Rede; man könnte hier von einem szenischen Dialog sprechen, einer Technik, bei der verba dicendi nur zur Abgrenzung der Redebeiträge verwendet werden oder ganz auf sie verzichtet wird. Diese Technik wird auch in literarischen Erzählungen verwendet: Lubkoll (2008, 383) beschreibt „die narrative Inszenierung alltäglichen Erzählens mit seinem fingierten mündlichen Gestus“.19 Zu den Mitteln der szenischen Darstellung gehören auch – Anredeformen (frau kersten, fräulein ELSE); – Interjektionen (≪ausdrucksvoll > naNU! >) und Diskurspartikeln (aber in: aber fräulein ELSE); – das szenische Präsens (z. B. meine mutter die sagt); – das Imitieren von Stimme und Sprechweise, das „den Äußerungen der Beteiligten unterschiedliche prosodische und sprachliche Profile verleiht“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2002, 231); – eine sehr kleinschrittige und detaillierte Rekonstruktion von Handlungsabläufen, vor allem ab Zeile 34 bei der Rekonstruktion des Kommunikationsereignisses (vgl. die Atomisierung bei Quasthoff 1980, den Detaillierungszwang bei Kallmeyer und Schütze 1977); – die rhetorische Frage (und waRUM wollte der rendant (…) keine neue bettwäsche geben?) und ihre Beantwortung (nächste woche kommt die KAIserin und DAfür soll alles frisch beZOgen sein.);
18 Vgl. Goffman (1974, 504): „A replaying, in brief, recounts a personal experience, not merely reports an event“. Wenn Gesprächsteilnehmer anderen mitteilen, was ihnen widerfahren ist, benutzen sie häufig dramatisierende Mittel „to reproduce a scene, to replay it“ (Goffman 1974). 19 Marcel Proust macht insbesondere in Un amour de Swann reichlich Gebrauch von dieser Technik, vgl. Gülich (1990).
4 Erzählen im Alltag: Ein Analyse-Beispiel
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– die „Reaktualisierung der deiktischen Erlebnisperspektive und der früheren Wahrnehmungs- und Wissensbasis“ (vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2002, 231), zum Beispiel der Wechsel von großmutter zu meine mutter, das wiederholte und dann weiß ich wie auch: ich hör meine mutter noch. Durch solche sprachlichen Elemente wird die Doppelrolle der Erzählerin deutlich: als eine Person der Geschichte, das heißt als siebenjähriges Kind, das die Szene zwischen seiner Mutter und Fräulein Else miterlebt, und als aktuelle Erzählerin, als 88-jährige Frau Kersten. Sie erzählt nicht, wie sie die Szene damals erlebt und bewertet hat, sondern sie markiert aus ihrer aktuellen Sicht das Argument, für den Besuch der Kaiserin, nicht aber für neue Verwundete frische Bettwäsche herauszugeben, als Clou der Geschichte. Von den Mitteln der szenischen Darstellung macht die Erzählerin in hohem Maße Gebrauch, so dass zeitweise die narrative in eine szenische Rekonstruktion übergeht (vgl. Bergmann 2000). Auf diese Weise erledigt sie den Job des Dramatisierens, für den das Diskursmuster der szenischen Erzählung ein besonders geeignetes Mittel ist (Hausendorf und Quasthoff 1996). Zugleich sind diese Mittel als deutliche Manifestationen von Gestaltungsorientiertheit zu interpretieren.20 Durch die Art der szenischen Rekonstruktion setzt die Erzählerin das Gespräch zwischen ihrer Mutter und Else Kartner relevant. Die rhetorische Frage und die dazugehörige Antwort stellen die Pointe der Erzählung heraus. Die Gestaltungstechniken dienen also auch der Herstellung von Erzählbarkeit. Dazu leisten auch die Zuhörer ihren Beitrag. Nachdem sie die Erzählerin während der eigentlichen narrativen und szenischen Rekonstruktionsaktivitäten nicht unterbrochen haben (nur an einer Stelle finden sich parallel gesprochene kurze Kommentare einer Zuhörerin), wird die Pointe interaktiv durch mehrere Gesprächspartner evaluiert: Ausschnitt 3 56 A: =oh nei::::n au: (backe) 57 K: 58 A: (ja das sind ja die sachen)=aber dass du sowas 59 WEI:::SST noch;= 60 K: =na ja NU.
20 Beispiele für weitere Mittel, die hier nicht vorkommen, sind Verbspitzenstellung (Günthner 2000) und dichte Konstruktionen (Sätze ohne (finites) Verb und/oder ohne grammatisches Subjekt, vgl. Günthner 2005).
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
M: A: K: A:
das is E:::wig her! (.) ja ja sicher. ich find das erSTAUNlich
Hier macht A, die schon während des Erzählens mit Interjektionen (≪p > (oh) gott ja, >) reagiert hatte, im Anschluss an die Pointe lebhaft deutlich (=oh nei::::n au: (backe)), was sie für relevant und damit für erzählenswert hält. Auch M würdigt die Erzählung mit einem leisen Lachen. A nimmt dann den ursprünglichen Rahmen mit betonten Kommentaren zur Erinnerungsfähigkeit (Z. 58–59, 62) wieder auf und schließt mit einer Bewertung (ich find das erSTAUNlich), die die Erzählwürdigkeit unterstreicht. Diese wird also von den Gesprächspartnern gemeinsam hergestellt. Auch hier lässt sich natürlich darüber diskutieren, ob und inwieweit die Geschichte von der frischen Bettwäsche, die zu Ehren der Kaiserin aufgezogen werden soll, an sich erzählenswert ist. Es ist eine Geschichte aus dem Alltag im doppelten Sinne: Sie wird in einer Alltagssituation erzählt, und sie spielt in einer Zeit, in der es normal war, dass es eine Kaiserin gibt. Das mag heute schon erzählenswert sein. Der Besuch der Kaiserin in einem Reservelazarett war sicher nicht alltäglich, ist also auch aus Sicht der dargestellten Personen ein besonderes Ereignis. Zum Zeitpunkt des Erzählens ist die Begebenheit, auch wenn sie bei Ausbruch des 1. Weltkriegs mehr oder weniger zum Alltag gehörte, schon allein deshalb erzählenswert, weil sie in dem gesellschaftlichen Kontext und in der Zeit, in der sie erzählt wird, keineswegs mehr „alltäglich“ ist. Die Zuhörer qualifizieren sie jedenfalls durch die Rahmung mit der Thematisierung der Erinnerungsarbeit deutlich als erzählenswert. Die Frage, ob diese Geschichte als solche erzählenswert ist, erscheint mir aus der Sicht einer gesprächsanalytisch orientierten Erzählforschung jedoch irrelevant. Erzählwürdigkeit ist aus dieser Sicht ein situiertes und interaktives Phänomen, das sich im Erzählprozess konstituiert. Entscheidend ist also, dass die Erzählerin selbst die Geschichte als erzählenswert präsentiert und mit Hilfe verschiedener Verfahren entsprechend gestaltet und dass die Zuhörer die Erzählung und das Erzählen durch Manifestationen ihrer Bewertungen gleichfalls angemessen würdigen. Die Einbettung in den Kontext, die Rahmung und die Gestaltungsorientiertheit spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Herstellung von Erzählwürdigkeit wird also letztlich durch das Erzählen selbst vollzogen. Wenn die Analyse alltäglichen Erzählens zu diesem Ergebnis führt, müsste sich dieser Herstellungsprozess erst recht an literarischem Erzählen zeigen lassen, besonders dann, wenn (nur) Alltägliches erzählt wird, das an sich nicht erzählenswert ist.
5 Alltägliches als Gegenstand literarischer Erzählungen
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5 Alltägliches als Gegenstand literarischer Erzählungen Das oben analysierte Beispiel zeigt, dass auch alltägliches Erzählen durch verschiedene kommunikative Verfahren in hohem Maße gestaltet werden kann und dass der Erzähler oder die Erzählerin durch das Bemühen um kunstvolle Gestaltung die Erzählwürdigkeit der Geschichte herstellt bzw. immer wieder bestätigt. Die Gestaltungsorientierung rückt alltägliches Erzählen in die Nähe von literarischem Erzählen. Nicht nur in der Literatur, sondern auch im Alltag gibt es „gute Erzähler“ (Ehlich 1980, 20). In alltäglichen Situationen tragen allerdings auch die Zuhörer zur Gestaltung und zur Erzählwürdigkeit bei; darin liegt ein gewichtiger Unterschied zu literarischen Erzählungen. Gestaltungsorientiertheit wird nun bei literarischem Erzählen grundsätzlich unterstellt, und es erscheint selbstverständlich, sich mit Gestaltungsverfahren zu beschäftigen. Gemeinsames Evaluieren und interaktive Herstellung von Erzählbarkeit sind hingegen in literarischen Erzählungen nicht möglich. Zwar „wird der gesellige Kontext mündlichen Erzählens zunächst immer wieder durch Rahmenkonstruktionen nachgestellt – von Boccaccio bis ins 19. Jahrhundert“ (Lubkoll 2008, 388), aber auch dann wird er ja erzählt und hat nichts mit der aktuellen Erzählsituation zu tun. Wird Erzählbarkeit oder Erzählwürdigkeit einfach dadurch als gegeben angesehen, dass eine Erzählung als Literatur präsentiert wird? Wenn also zum Beispiel der Schweizer Autor Franz Hohler beim Verlag Luchterhand unter dem Titel Ein eigenartiger Tag. Ein Lesebuch (so der Untertitel) veröffentlicht oder einen Band mit dem Titel Das Ende eines ganz normalen Tages, dessen Texte im Klappentext als Erzählungen bezeichnet werden, werden dann nicht die darin enthaltenen Geschichten allein schon durch diese Art der Präsentation als erzählenswert dargestellt? Gleichwohl stellt sich natürlich auch bei literarischen Erzählungen die Frage, wie Erzählbarkeit im Text hergestellt und kontinuierlich bestätigt wird und welche Gestaltungsmittel der Autor dabei verwendet. Diese Frage drängt sich vor allem dann auf, wenn Alltag erzählt wird, wenn also die Geschichte nichts Ungewöhnliches oder Unerwartetes enthält, keinen Planbruch, der sie per se erzählenswert machen könnte. Auf dem hinteren Buchdeckel von Ein eigenartiger Tag (1979) heißt es, „die Optik der Prosabände“ von Hohler sei „auf die alltäglichen Wahrnehmungen ausgerichtet“, und auf der Rückseite des Umschlags von Das Ende eines ganz normalen Tages (2008) wird der Alltag als einer der Helden vieler dieser Geschichten bezeichnet. Hohler erzählt also ausdrücklich Alltägliches, aber er tut dies beispielsweise unter dem Titel Erlebnis. So heißt eine von vielen Erzählungen in Hohlers Bänden, die den Alltag zum Gegenstand machen. Ich habe sie ausgewählt, um Überlegungen zur literarischen Herstellung von Erzählbarkeit anzustellen.
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
Franz Hohler: Erlebnis (aus: Franz Hohler: Ein eigenartiger Tag. Darmstadt: Luchterhand 1979, S. 28–29) Heute ist mir gegen halb sechs Uhr abends in den Sinn gekommen, daß ich meine Frau an der Autofähre in Meilen abholen könnte, mit welcher sie um sechs Uhr eintreffen wollte. Ich nahm also einen Regenmantel mit und ging auf die Straße, die vor unserm Haus durchführt, gegen Meilen hinunter. Eine Frau, die mir entgegenfuhr, schaute mich im Entgegenfahren an. Lastwagen eines Meilener Transportunternehmens fuhren mit großer Geschwindigkeit talwärts. Kleinbusse von Bauunternehmen oder Schreinereien waren auch auf dem Weg nach Hause, man sah die Arbeiter im Laderaum sitzen, einige drehten den Kopf, als sie vorbeifuhren. Am Restaurant ging ich vorüber, ohne einzukehren. Ich wohne seit mehr als zwei Jahren hier und bin noch nie im Restaurant eingekehrt. Dann habe ich auf dem Straßenbord Margriten gesehen und gedacht, ich muß eine mitbringen. Ich ging auf die andere Straßenseite hinüber und pflückte eine, die noch nicht zu fest offen war. Im Weitergehen drehte ich sie zuerst etwas zwischen den Fingerspitzen, dann steckte ich sie mir plötzlich hinter das rechte Ohr, wie einen Kugelschreiber oder einen Bleistift. Ein Weinbauer, der direkt am Straßenrand an einer Rebe arbeitete, beachtete meinen Gruß nicht. Einen richtigen Bauern sah ich durch die halbhohe fallenlose Tür in den Stall gehen. Zwischen den Rebbergen waren verschiedentlich Baugespanne zu sehen, neben einem Stück Rebland wurde eine Betontreppe gebaut, die Reben am Rand wuchsen aus dem Bauschutt heraus. Ich passierte die Ortstafel Meilen, sie ist weiß mit einem schwarzen Rand darum. Vor einem Wohnblock war ein Schutthaufen, der schon gänzlich mit Gras und langen, fleischigen Schutthaufenpflanzen überwachsen war. Drei Italiener, die mit Stangen nach Hause gingen, pfiffen drei ganz jungen Mädchen nach, zwei hatten rote Haare und eines schwarze. Das mit den schwarzen Haaren drehte sich um, und die Bewegung wirkte aufreizend. Der letzte Italiener wäre fast in mich hineingelaufen, weil er zu dem Mädchen zurückschaute. Das Mädchen stand neben einem Transformatorenhäuschen, an dem die Straßentafel »Bergstraße« befestigt war. Neben einem Stopsignal standen zwei Frauen und sprachen miteinander, die eine hatte lange Haare, die andere kurze. Die mit den kurzen sagte gerade, das bruuchsch eifach. Dann kreuzte ich viele Leute, die mir vom Bahnhof her entgegenkamen, und gelangte auf die Seestraße, wo ein neues Strandbad in den See aufgeschüttet wird. Gerne wäre ich bei der Ankunft der Fähre schon am Ufer gestanden und hätte gewartet, aber bevor ich den Landeplatz erreichte, kam mir meine Frau entgegengefahren. Als ich ihr winkte, hielt sie an, und ich stieg ein.
Da es sich um eine schriftliche Erzählung handelt, die unter anderen Produktionsbedingungen entsteht als eine mündliche, versuche ich nicht, auch hier mit Konzepten aus der Gesprächsforschung zu arbeiten, sondern orientiere mich an dem von Hausendorf (2008) vorgeschlagenen Konzept der Textualität (vgl. auch Hausendorf und Kesselheim 2008).
5 Alltägliches als Gegenstand literarischer Erzählungen
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Ein für die Analyse mündlicher Erzählungen in Gesprächen charakteristisches Problem stellt sich bei literarischen Erzählungen nicht: das der Abgrenzung. Während man bei der oben besprochenen Erzählung von der Bettwäsche fürs Lazarett darüber diskutieren kann, wo genau die Erzählung anfangt und aufhört, liegen in Hohlers Erzählbänden deutliche Abgrenzungshinweise sowohl materieller als auch sprachlicher Art vor: Die Erzählung Erlebnis beginnt auf einer neuen Seite, hat eine Überschrift, einen zusammenhängenden Textblock, der in mehrere Absätze gegliedert ist, und ihr Ende ist schon allein daran zu erkennen, dass auf der betreffenden Seite nichts mehr folgt, sie bleibt leer. Der zusammenhängende Textblock innerhalb dieser Textgrenzen ist durch narrative Strukturhinweise (Hausendorf und Kesselheim 2008, 91) gekennzeichnet, globale Verknüpfungshinweise, die „auf das Vorhandensein einer größeren textuellen Einheit“, nämlich der Erzählung, verweisen (Hausendorf und Kesselheim 2008). Im ersten Satz finden sich „Hinweise auf den Einstieg in die Zeit der erzählten Welt“ (Hausendorf und Kesselheim 2008, 92), die zwar weniger eindeutig auf die erzählte Welt verweisen als zum Beispiel Zeitangaben wie eines Tages oder damals, aber in Verbindung mit dem Perfekt dennoch auf eine narrative Rekonstruktion hinweisen: Heute ist mir gegen halb sechs Uhr abends in den Sinn gekommen. Der „Übergang zum Präteritum als dem Leittempus der erzählten Welt“ (Hausendorf und Kesselheim 2008) erfolgt im nächsten Satz: Ich nahm also einen Regenmantel mit; von da an wird das Präteritum durchgehend verwendet. Andere der von Hausendorf und Kesselheim am Beispiel von Thomas Manns Erzählung Das Eisenbahnunglück aufgezeigten narrativen Strukturhinweise hingegen fehlen hier. Vor allem fehlen Hinweise auf die „Ereignishaftigkeit eines Geschehens in der Zeit“: Hier – wie auch in anderen Erzählungen von Hohler – werden weniger abgegrenzte Episoden rekonstruiert als Wahrnehmungen, Beobachtungen und Eindrücke aneinandergereiht, die als gleichrangig erscheinen; es werden keine besonderen Relevanzen markiert. Die Frau, die den Ich-Erzähler im Vorbeifahren anschaut, die Lastwagen des Meilener Transportunternehmens, das Restaurant an der Straße, das Ortsschild Meilen usw. – all das registriert der Erzähler, ohne es in irgendeinen Zusammenhang zu stellen, zu gewichten oder zu bewerten. Es fehlen also auch Hinweise auf „die Erlebnisqualität dieses Geschehens im Sinne seiner Erzählbarkeit“, das heißt „implizite und explizite Hinweise auf die Erzählwürdigkeit, zum Beispiel die Verwendung besonders expressiver sprachlicher Formen, die detaillierte Ausgestaltung der relevanten Momente etwa durch die dramatische Inszenierung der Figurenrede“. (Hausendorf und Kesselheim 2008, 93). Dass ein Weinbauer am Straßenrand den Gruß des Erzählers nicht beachtet oder dass ein Italiener fast in ihn hineingelaufen wäre, weil er einem jungen Mädchen nachschaut, sind Geschehnisse mit einem gewissen Ereignis- und Erlebnis-Potenzial, sie könnten erzählenswert sein. Aber sie werden nicht kommentiert, bewertet oder relevant gesetzt; expressive sprachliche Formen kommen nicht vor.
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
An einer Stelle wird ein typisches Mittel szenischer Darstellung, die direkte Rede, zwar verwendet, aber nicht wirklich für die Erzählung genutzt, denn es wird lediglich eine im Vorbeigehen aufgeschnappte Bemerkung zitiert (das bruuchsch eifach), deren Kontext und Funktion unklar bleiben. Selbst als der Erzähler am Ende sagt Gerne wäre ich bei der Ankunft der Fähre schon am Ufer gestanden, erscheint kein Ausdruck des Bedauerns. Hohler gibt also nur Minimalhinweise auf eine Erzählung, er verzichtet auf alle erzählspezifischen Strukturhinweise, die das Erzählte erzählenswert erscheinen lassen könnten. Erzählbarkeit wird also gerade nicht hergestellt. Dadurch, dass er diesem Text den Titel Erlebnis gibt, baut Hohler aber eine Erwartungshaltung und damit auch eine Spannung auf, die das, was dann erzählt wird, und die Art und Weise, wie erzählt wird, als ein Spiel mit den typischen narrativen Strukturhinweisen erscheinen lässt. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass es durchaus einen thematischen Rahmen gibt (am Anfang beschließt der Ich-Erzähler, seine Frau abzuholen, am Ende trifft er sie und fährt mit ihr nach Hause). Dieser Rahmen wird mit Ereignissen gefüllt, aber es kommt keine Geschichte zustande; es werden Fragmente dargeboten, die genutzt werden könnten, es aber nicht werden, die sich als Episoden anzubieten scheinen, aber nicht entsprechend gestaltet werden. Hier kommt ein anderes Textualitätsmerkmal zur Geltung: die Musterhaftigkeit (Hausendorf und Kesselheim 2008, Kap. 3.2.5). Hohler spielt mit dem traditionellen Erzählmuster, indem er gegen das gewohnte, aus der Lektüre von Erlebnis-Erzählungen vertraute Muster erzählt. Das Wissen aus der Lese-Erfahrung ist die Voraussetzung für das Wiedererkennen der Musterhaftigkeit und damit auch für das Verstehen des Spiels mit dem Muster. Man könnte also zu dem Schluss kommen, dass das Erzählen von Alltäglichem in einer Form, die alltäglichem Erzählen stilistisch durchaus nahe ist, hier die Funktion von Intertextualitätshinweisen (Hausendorf und Kesselheim 2008, Kap. 9) übernimmt, allerdings eher unauffälligen und allgemeinen, die sich nicht auf bestimmte Texte, sondern auf ein bestimmtes Muster beziehen. Hohlers Titel Erlebnis ist eine Anspielung auf ein typisches Erzählmuster, aber der Text realisiert dann das Gegenteil der typischen Erzählung eines Erlebnisses. Die Spannung zwischen Titel und Text lässt sich in doppelter Weise interpretieren: als Hinweis auf einen unauflösbaren Gegensatz oder als Anregung zu einer Re-Interpretation der Banalität des Alltags als eine Kette von Erlebnissen. Auch wenn die Ereignisse als solche bei Hohler vielleicht nicht erzählenswert sind, werden seine Texte auf diese Weise jedenfalls lesenswert. Das Erzählen von Alltäglichem ist ein Spezifikum der Erzählweise Hohlers; Erlebnis ist kein Einzelfall. In dem Band Ein eigenartiger Tag (1979) wird von vielen alltäglichen Dingen erzählt, die alles andere als eigenartig sind (z. B. Die
5 Alltägliches als Gegenstand literarischer Erzählungen
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Asamkirche, Der Rest des Tages, Morgen im Spital, Abend im Spital, Herbst u. a.). Wie ich lebe ist ein ganz ähnliches Beispiel, in dem alltägliche Handlungen, Beobachtungen und Eindrücke ohne besondere Gewichtung oder Hervorhebung aneinandergereiht werden. Hier finden sich verstärkt auch Rekonstruktionen von Kommunikationsereignissen: Der Inhalt eines Telegramms wird zitiert, ein auf dem Markt mit angehörtes Gespräch zwischen der Marktfrau und einer Kundin wird narrativ rekonstruiert, eine Zeitungsnotiz wird referiert. Dabei wird größtenteils indirekte Rede verwendet, die aber auch typische Elemente aus Alltagsgesprächen aufnimmt, zum Beispiel: Heute Morgen habe ich bei einer Marktfrau […] ein Dorschfilet gekauft. Der Frau, die vor mir zwei Dorschfilets kaufte, war, seit sie die Marktfrau zum letzten Mal gesehen hatte, ihr Mann gestorben, 71 war er und war nur rasch ein Glas Wasser holen gegangen und tot zusammengebrochen, der Arzt sei auch ganz baff gewesen.
Hier gehen indirekte Rede, direkte Rede und narrative Rekonstruktion von Fakten ineinander über; diese Technik der Redewiedergabe ist bei Hohler häufig zu finden. Schließlich zitiert der Erzähler von Wie ich lebe aus seiner Lektüre der Wahlverwandtschaften von Goethe den Schluss des Buchs („So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte […]“ usw.), und er schließt seine Erzählung mit dem Satz: „Diesen Schluß finde ich sehr schön.“ Dies ist ebenfalls ein Charakteristikum von Hohlers Geschichten vom Alltag: Der letzte Satz enthält oft eine Pointe, manchmal eine, die rückwirkend das Alltägliche neu interpretiert und damit in unerwarteter Weise Erzählbarkeit herstellt. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist der Schluss der Erzählung Aufenthalt in Karlsruhe. Der Ich-Erzähler schildert hier in ähnlicher Weise wie in Erlebnis und Wie ich lebe, wie er sich bei einem zweistündigen Aufenthalt in Karlsruhe die Zeit vertreibt: im Zoo, beim Essen an einem Kiosk, beim Gang durch die Stadt. Am Ende heißt es: Zwei Dinge habe ich noch gelesen, eins betrifft Karlsruhe, das andere betrifft mich. Die Radioaktivität in der Umgebung des Kernforschungsinstituts Karlsruhe ist mehr als doppelt so hoch, wie sie eigentlich sein sollte, habe ich kürzlich bei Robert Jungk gelesen. Heute aber habe ich in der Zeitung gelesen, dass sich Jean Améry in einem Hotelzimmer in Salzburg mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen hat. Er befand sich auf einer Lesetournee.
Im Alltäglichen erscheint bei Hohler häufig etwas Bedrohliches, Irritierendes oder Fremdes; man ist auf „die unüberhörbaren Schrecknisse des Alltags gefasst“.21 Auch das ist ein Charakteristikum von Hohlers Erzählungen vom Alltag. Die Erzählung Das Ende eines ganz normalen Tages (in dem gleichna-
21 Die Verkündung, in: Das Ende eines ganz normalen Tages, Hohler 2008, 9. In diesem Fall bezieht sich der Erzähler auf das erzwungene Anhören von Handy-Gesprächen im Zug, das al-
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
migen Band, 2008) hat ähnlich wie Erlebnis einen irreführenden Titel, aber diesmal suggeriert der Titel Alltägliches, während der Text zeigt, dass der Tag alles andere als normal war. Zwar beginnt er „normal“: „Gestern Nachmittag habe ich meine Schwiegermutter ins Kino eingeladen. ‚Dr. Dolittle 2‘, mit Eddy Murphy in der Hauptrolle, ein amerikanischer Film, in dem am Schluss alles gut ausgeht […]“. Auf dem Heimweg hört der Erzähler im Radio etwas von einer Katastrophe in Amerika, aber er hört es nicht laut genug; beim Weinhändler sieht er Fragmente einer Fernsehsendung, aber er interessiert sich nicht weiter dafür. Abends sieht er die Tagesschau: Und dann diese Bilder. Sie sind offensichtlich echt, es ist offensichtlich wahr, es ist offensichtlich kein Hollywood-Film, es wurden keine Miniaturen des World Trade Centers nachgebaut, in die dann ein Flugzeugmodell prallte, und die Menschen, die vor der Staubwolke des einstürzenden Turmes flüchten, rennen nicht in einem Studio vor einer Großprojektion davon, sondern sie rennen wirklich um ihr Leben, und hinter ihnen sacken wirklich die Hochhäuser in sich zusammen, welche lange Zeit die höchsten der Welt waren. (Das Ende eines ganz normalen Tages, Hohler 2008, 42)
Hier verändert sich der erzählte Alltag. Hier kommentiert und gewichtet der Erzähler die Nachrichten, die er hört und sieht; er reflektiert und bewertet sie, er erzählt, wie er den Prozess der Benachrichtigung erlebt, schildert seine Ratlosigkeit. Der normale Alltag ist plötzlich verändert: Unser ganzes Lebenssystem kann jeden Augenblick an tausend Stellen angegriffen werden. Noch in keiner Zeit waren die Einrichtungen des Alltags so kompliziert und so verletzlich wie in der unseren. (Hohler 2008, 44)22
Von diesem so komplizierten und verletzlichen Alltag wird in literarischer ebenso wie in alltäglicher Form erzählt. In beiden Formen und in beiden Kontexten ist das Erzählen als eine Form der Bearbeitung und der Verarbeitung des Erlebten immer wieder notwendig, wie gerade am Erzählen belastender oder gar traumatischer Erlebnisse deutlich wird.23 Diese Leistung des Erzählens lenkt den Blick auf die
lerdings hier eine unerwartet positive Wendung nimmt (dem angerufenen Mitreisenden wird die Geburt eines Kindes mitgeteilt). 22 Bemerkenswert ist, dass Hohler auch hier mit dem Schlusssatz der Erzählung eine unerwartete Wendung gibt: „Da ich nicht gleich einschlafen konnte, las ich noch etwas in Stifters ‚Nachsommer‘, einem Buch, in dem gute Menschen Gutes tun und schöne Menschen Schönes schaffen und niemand irgendjemandem etwas zuleide tut“ (Das Ende eines ganz normalen Tages, Hohler 2008, 45). 23 Dieser Aspekt wird vor allem in psychotherapeutischen Zusammenhängen betont, vgl. zum Beispiel die Themenhefte der Zeitschrift Psychotherapie & Sozialwissenschaft 4.3 (2002) Die
Literatur
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Gemeinsamkeiten alltäglichen und literarischen Erzählens zurück. „Erzählen im Alltag und literarisches Erzählen, beide sind Erzählen“, schreibt Ehlich; er weist darauf hin, „dass auch das literarische Erzählen von der Erzählfähigkeit des einfachen Lesers Gebrauch macht, dass dessen Fehlen die Voraussetzungen des literarischen Erzählens beträfe. Beide partizipieren an gemeinsamen Mustern“ (1980, 19). Das alles spricht eher für eine Zusammenarbeit der Disziplinen als für Arbeitsteilung. Allerdings scheint mir hier bislang ein gewisses Ungleichgewicht zu bestehen: Während sich in der Linguistik zahlreiche Beispiele für die Analyse literarischer Erzählungen anführen lassen, ist umgekehrt in der Literaturwissenschaft eine Beschäftigung mit mündlichen Alltagserzählungen nicht so leicht zu finden.24 Wenn sie verstärkt würde, könnte die Linguistik zweifellos nicht nur von der Literatur, zum Beispiel von Marcel Proust oder Friedrich Glauser, lernen (siehe Kap. 2), sondern auch von der Literaturwissenschaft.
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heilende Kraft des Erzählens und die Ausgabe 7.1 (2005) Die Sprache des Traumas, darin besonders Lucius-Hoene (2002) und Deppermann und Lucius-Hoene (2005). 24 Ein Beispiel sind die erzähltheoretischen Bemerkungen zur Fußballberichterstattung (Martínez 1999); von Interesse an mündlichen Erzählungen zeugt auch die Vorlesung von Martínez im Sommersemester 2008 an der Universität Wuppertal über das Thema Erzählen im Alltag. Gemeinsame Arbeit an alltäglichen und literarischen Erzählungen wird vermutlich an interdisziplinären narratologischen Zentren praktiziert wie dem Zentrum für Erzählforschung an der Universität Wuppertal und dem Interdisziplinären Centrum für Narratologie an der Universität Hamburg. Diese Auswahl von Beispielen ist jedoch zufällig; damit soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass nicht auch andere Forschende und Lehrende interdisziplinäre Erzählanalyse betreiben.
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
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Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen
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Erstveröffentlichung des Beitrags in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik (2008) 36.3, 403–426.
Erzählen in der Interaktion zusammen mit Lorenza Mondada Während andere linguistische Ansätze der Erzählforschung sich in der Regel nur mit den sprachlichen Äußerungen des Erzählers und nur mit der Erzählung als abgegrenzter Einheit befassen, wird Erzählen aus konversationsanalytischer Sicht grundsätzlich als eine koordinierte Aktivität aller Gesprächsteilnehmer aufgefasst, die sich aus dem Gesprächsprozess heraus entwickelt.1 Daher sind die Herauslösung der Erzählaktivität aus dem Gespräch, die eigentliche narrative Sequenz und die anschließende konversationelle Bearbeitung Gegenstand der Analyse und müssen in ihrer interaktiven Konstitution beschrieben werden: Such quotidian storytellings arise in, or are prompted by, the ongoing course of an interactional occasion or the trajectory of a conversation or are made to interrupt it. […] Ordinary storytelling, in sum, is (choose your term) a coconstruction, an interactional achievement, a joint production, a collaboration, and so forth. (Schegloff 1997, 97)2
Diesen konversationsanalytischen Ansatz machten Kallmeyer und Schütze (1977) und Quasthoff (1980) schon sehr früh für die Analyse mündlicher Erzählungen aus deutschsprachigen Gesprächen fruchtbar. Bonu, der umfassende Untersuchungen an einem französischen Corpus professioneller Interaktionen durchgeführt hat (Bonu 1998, 1999, 2001), stellt als Besonderheit des konversationellen Erzählens vor allem die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption heraus: […] l’analyse détaillée des narrations produites en interaction permet de montrer à la fois la structuration et la réception active du récit par les participants qui collaborent ainsi à la production non seulement du récit mais aussi de la situation sociale. (Bonu 1998, 31)
Das Interesse der Konversationsanalytiker am Erzählen geht auf Sacks zurück, der mehrere seiner Vorlesungen Aspekten des Erzählens gewidmet hat;3 ein1 Dieser Beitrag stammt aus einer Einführung in konversationsanalytisches Arbeiten, die für die universitäre Lehre konzipiert wurde. Thematisiert werden am Beispiel mündlicher französischer Erzählungen u. a. die Einbettung in das Gespräch und die Verfahren, mit denen die vielfältigen konversationellen Aufgaben von Erzähler und Zuhörer bearbeitet werden (z. B. Erzählankündigung und Erzählabschluss, thematische Entwicklung, sequenzielle Organisation und interaktive Gestaltung). 2 Es ist kein Zufall, dass Schegloff diese Bemerkungen in der Auseinandersetzung mit Labov und Waletzky (1967) macht, deren Arbeit die linguistische Erzählforschung nachhaltig geprägt hat, die aber interaktive Aspekte völlig vernachlässigen (Schegloff 1997, 100). 3 Vgl. vor allem Sacks (1992, Bd. I, VIl, 24. April und 8. Mai; Bd. II: 1–2, III, 1–2, IV, 2–6, VIl, 9–12). https://doi.org/10.1515/9783110685664-002
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Erzählen in der Interaktion
zelne erschienen als Aufsätze (z. B. Sacks 1978, 1986) schon vor der Veröffentlichung der Lectures (1992), darunter auch einer seiner wenigen Aufsätze in deutscher Übersetzung (Sacks 1971). Motiviert war dieses Interesse durch eine Frage, die in der Erzählforschung üblicherweise gar nicht gestellt wird, die sich aber aus einem der grundlegenden konversationsanalytischen Themen ergibt, nämlich der Sprecherwechsel-Organisation: Wie kommt es angesichts der Regeln für die Verteilung des Rederechts überhaupt dazu, dass Sprecher komplexe längere Redebeiträge produzieren können, ohne dass andere Gesprächsteilnehmer den turn beanspruchen? Die Verfahren oder Methoden, welche die Interaktanten einsetzen, um das zu erreichen, sind ein bevorzugter Gegenstand der konversationsanalytischen Beschäftigung mit dem Erzählen. Im Folgenden wird dieser Zugang zunächst an einem Beispiel verdeutlicht (Kap. 1), bevor die zentralen prozeduralen und interaktiven Charakteristika des Erzählens systematisch dargestellt werden (Kap. 2). Auf dieser Grundlage befassen wir uns mit der Frage, was Erzählsequenzen in der Interaktion leisten (Kap. 3). Damit wenden wir uns den gestaltungsorientierten Aspekten des Erzählens zu, die wir abschließend durch eine Skizze des Konzepts der narrativen (Re-)Konstruktionsarbeit vertiefen (Kap. 4).
1 elle a été . É- . -POUvantable\ – Analyse eines Beispiels Doris, eine deutsche Studentin, besucht die Französin Mireille, bei der sie einige Jahre zuvor als Au-pair-Mädchen beschäftigt war. Die beiden tauschen Erinnerungen an die damalige Zeit aus und kommen dabei auf die Concierge des Hauses zu sprechen, in dem Mireille seinerzeit wohnte. Transkriptbeispiel 1: La concierge (Corpus Bielefeld/Kontaktsituationen)4 1 D: 2 M: elle est MÉchant[e elle est MÉchante c'est une Mèchante\ ouais 3 D: ouais/ 4 M: mAIs euh: il fa- i(l)- on pouvait rIEn dire au départ/ parce 5 que vous savez elle était TELLEment FAU:sse/ cette femme\ au début/
4 Transkriptionskonventionen: siehe Anhang in diesem Band.
1 elle a été . É- . -POUvantable\ – Analyse eines Beispiels
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6 elle faisait toujours . TRÈs gentille\ avec les jeunes filles/ 7 D: oui 8 M: et puis Une fois qu'elles eh- que les jeunes filles ne se 9 méfiaient plus/ . hop/ ça y est/ elle commençait a être: h[orrible et 10 D: [c'est ça\ 11 M: épouvantable/ 12 D: c'est ce que vous m'aviez dit/ [j'avais pas cru/[pa(r)ce que: eh & 13 M: [eh oui [oui 14 D: &. au début elle semblait très[gen- gentille/ 15 M: [((rapide)) muss ich spinksen > (Z. 31–33). Dann bringt sie ihre Einlieferung ins Krankenhaus in einen engen zeitlichen Zusammenhang mit dem nahen Tod
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Praxis der Fallarbeit im psychosomatischen Kontext
des Vaters (Z. 34–35). Daran schließt sich nochmals eine Reihe von Reformulierungen ihrer diesbezüglichen Unsicherheit an: jetzt muss ich überlegen > (–) poh (5) ((hilfloser Ton)) ich vertu mich da immer. (-) würdn sie lieber JÜNger; werdn> V: jau; so (.) nochMAL, un dann: (.) gleich das rAUsfindn, un denn NOCHmal (.) un dann die ausbildung, un dass man dann: wirklich die ma DURCHziehn; kann ne, A: in welchem alter würdn sie denn gerne noch mal: (-) von vorne Anfangn; V: wenn ich KÖNNte, A: mmh, V: irgend(wie) (–) was passiert is > (Z. 45–46). Im Kontext ist aber klar, dass damit ein erster Anfall gemeint ist. Für die Patientin selbst steht bei der Frage nach dem ersten Anfall das Problem im Vordergrund, dass ihr damals überhaupt eine passende Kategorie zur Einordnung ihrer Erfahrungen fehlte. Für die Mutter hingegen erweisen sich die Kategorien, die sie früher benutzte, als falsch; daher wird eine ReKategorisierung notwendig. In beiden Fällen spielt die Anamnesetechnik des Arztes für die Kategorisierungsproblematik eine wichtige Rolle: Zum einen setzt er durch immer wieder neue Fragen und Frageparaphrasen (Bergmann 1981) die Erinnerungswürdigkeit zurückliegender Ereignisse relevant, die seinerzeit nicht relevant erschienen, zum anderen überführt er die allgemeinen Anfallsbeschreibungen in episodische Rekonstruktionen konkreter Ereignisse. Die Fragen, die sich auf einzelne Anfallsereignisse beziehen (erster, letzter, schlimmster Anfall), aktivieren das Erinnerungsvermögen; die Erinnerungen werden im Gespräch interaktiv hervorgebracht und bearbeitet. Charakteristisch für die narrative Rekonstruktion solcher erster Anfälle ist eine Kontrastierung der damaligen Perspektive des erzählten Ich mit der aktuellen des erzählenden Ich, wie sie bei der Mutter von Frau Tell zu beobachten ist. Es wird eine erste Kategorisierung des Ereignisses dargestellt – typische erste Einordnungen oder Interpretationen entsprechender Erscheinungen oder Ereignisse sind Kategorisierungen als Traum oder als Kreislaufproblem – , die später, wenn die Diagnose einer Anfallserkrankung einen neuen Rahmen bereitstellt, korrigiert werden muss. Für solche Re-Kategorisierungen wird dann im Gespräch ein account gegeben.20
19 Jefferson (2004) schließt mit ihren Kollektionen zu first thoughts an Materialien an, die Sacks gesammelt und unter dem Aspekt Joke/Serious gruppiert hatte. 20 Diese Re-Kategorisierungen können als Sonderfall in dem von Jefferson (2004) wesentlich weiter gefassten Phänomenbereich der first thoughts, die später revidiert werden müssen, gesehen werden. Es würde hier zu weit führen zu diskutieren, inwieweit hier auch das Konzept Re-Kontextualisierung herangezogen werden könnte (vgl. z. B. Günthner 2005b und Norrick 2005; für allgemeinere Überlegungen zu solchen re-words Sarangi 1998).
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Erinnern – Erzählen – Interpretieren in Gesprächen mit Anfallskranken
3.3 Bruchstückhafte Erinnerungen Die bisher analysierten Gesprächsausschnitte geben Beispiele für die Darstellung von Erinnerungsproblemen, die mehr oder weniger spezifisch für PatientInnen mit Anfallserkrankungen sind. Sie beziehen sich zum einen auf eine Phase eingeschränkter Selbstverfügbarkeit, die für viele Anfallsereignisse charakteristisch ist, zum anderen auf den Beginn der Erkrankung, den ersten Anfall, der oft erst nachträglich als solcher eingeordnet werden kann. Dass Erinnerungen schwer zugänglich und/oder schwer darstellbar sind, kann aber natürlich auch andere Gründe haben. So werden frühe Kindheitserlebnisse oft nur in Bruchstücken erinnert. Ebenso wird für Erinnerungen an belastende oder traumatische Ereignisse oft als charakteristisch angeführt, dass sie fragmentarisch oder inkohärent dargestellt werden.21 Am Beispiel eines Epilepsie-Patienten, bei dem die Anfälle sehr früh begonnen haben, soll auf Erinnerungsprobleme dieser Art eingegangen werden. 3.3.1 Ereignisse aus der frühen Kindheit Herr Rasmus, ein junger Mann Anfang 20, kommt im Gespräch mit dem behandelnden Arzt von sich aus auf den Beginn seiner Anfallskrankheit zu sprechen und rekonstruiert, dass diese nach dem Tod seiner Mutter begonnen hat, als er knapp vier Jahre alt war. Der Arzt fragt daraufhin nach dem ersten Anfall: Transkriptausschnitt 5: Herr Rasmus (KG Angst) Ausschnitt 5.1 (Herr Rasmus) 1 A:
3 R: [nee; 4 (---) 5 R: auch was= 6 A: =
11 R: [nee; (.) 12 vom ersten anfall GAR nichts; .h ich MEIne 13 mich noch erinnern zu könn=n an diesen 14 KRANkenhausbesuch, (--) ich WEISS nich ob 15 das jetz von erZÄHlung kommt oder wirklich 16 meine erINnerung is, ich meine noch dass 17 meine mutter (wirklich) da hatte mich nur 18 die Oma hingebracht; 19 ((. . .)) Anders als in den bisher analysierten Gesprächsausschnitten behandelt der Arzt hier in seiner Frage das Fehlen der Erinnerung von vornherein als erwartbar, und der Patient bestätigt es überlappend schon vor der Beendigung des Redezugs. Er setzt dann zu einer Fortsetzung an, die er aber abbricht, als der Arzt in einer Nachfrage noch differenzierter auf die Erinnerungsproblematik eingeht. Nachdem Herr Rasmus – wiederum überlappend – die fehlende Erinnerung an den ersten Anfall noch einmal bekräftigt hat, thematisiert er von sich aus ein Ereignis aus dieser Zeit, an das er sich erinnert und das er einführt, als sei es bereits bekannt (Z. 13–14: diesen KRANkenhausbesuch). Hier wird ausdrücklich und aufwendig sowohl das Erinnern als unsicher kommentiert (Z. 12–13: .h ich meine mich noch erinnern zu könn = n) als auch das Ereignis selbst (Z. 16–17: ich meine noch dass meine mutter (wirklich); die Äußerung bleibt allerdings unvollendet). Aufschlussreich ist vor allem die Bemerkung über den Zusammenhang von Erinnern und Erzählen: ich weiß nich ob das jetz von erzählung kommt oder wirklich meine erinnerung is, (Z. 14–16). Herr Rasmus verweist hier explizit darauf, dass seiner Erinnerung an das Ereignis nicht zwangsläufig nur das eigene Erleben zugrunde liegt, sondern unter Umständen auch Erzählungen des Ereignisses und dass diese beiden Quellen der Erinnerung möglicherweise nicht mehr zu trennen sind. Zu einer narrativen Rekonstruktion des Krankenhausbesuchs kommt es an dieser Stelle nicht, sondern es folgt eine längere Sequenz, in der es um den Vater geht und die Herrn Rasmus selbst beendet, indem er auf den Besuch im Krankenhaus bei der todkranken Mutter zurückkommt:
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Erinnern – Erzählen – Interpretieren in Gesprächen mit Anfallskranken
Ausschnitt 5.2 (Herr Rasmus) 19 ((. . .)) 20 R: (1.3) undh: (1.8) auf alle fälle (.) is=es 21 dann halt: (-) ich meine mich noch zu 22 erinnern halt im KRANkenhaus, (.) drei 23 tage vor ihrem (.) TOD halt, (---) an 24 ihrem BETT gestanden zu haben und sie hat 25 mir so=n [SPIELZEUG] gegeben; (1.9) an 26 dieses bild mein ich mich noch 27 erINnern zu könn=n; (-) Auch die Rekonstruktion dieser kurzen Episode ist gerahmt durch die Markierung der Unsicherheit hinsichtlich des Erinnerns. Herr Rasmus nimmt seine vorherige Formulierung wieder auf: ich meine mich noch zu erinnern (Z. 21–22), fokussiert nun aber eine bestimmte Szene, die er zeitlich und räumlich lokalisiert. Das Überreichen des Spielzeugs wird durch eine auffällige Armgestik symbolisiert. Der Rahmen wird geschlossen durch eine Reformulierung des Kommentars zum Status der Erinnerung, in der zusätzlich der Ausdruck Bild zur Bezeichnung der Erinnerung auftaucht: an dieses bild mein ich mich noch erinnern zu könn=n; (Z. 25–27). Der Arzt fragt dann allgemeiner nach Erinnerungen an die Mutter aus dieser frühen Zeit. In seiner Antwort nimmt Herr Rasmus die Charakterisierung der Erinnerungen als Bilder wieder auf und führt sie genauer aus: Ausschnitt 5.3 (Herr Rasmus) 28 ((. . .)) 29 R: ich= [ich hab voll viele BILder gesehen; 30 A: [
(.) mit diesem: [(---) wie sie mir A: [ R: das (.) geGEben hat; (1.1) (äso ich::) [(-) und ich glaub das war einfach so=n:: A: [
R: (.) SCHOCK oder angsterlebnis; =weil das ist doch nicht meine MUTter; (1.6) ich hab sie ja lange nich: (.) geSEHN4 (--) dass es wo 5 sie immer wieder dran DENken, (---) die so 6 (.) trauMAtisch vielleicht waren, 7 [(2.0) ähm:: 8 R: [hmhm\/ 9 (2.6) 10 R: (1.6) 11 ja zum beispiel EIN SCHOCKmoment den ich 12 noch (.) immer vor AUgen habe- ist zu 13 beispie- .h (---) der KLEIne hh JUNge 14 spielt an den (.)also mein VAter is 15 KRANK, hat ( ), 16 [(1.3) liegt im BETT seit (.) ner WOche 17 Ä: [
18 R: ungefähr, (2.0) und SAGT immer- (.) (.) er is ja alLEIN; [(-) 20 Ä: [ 21 R: sozusagen;.hh und der kleine JUNge (.) LANGweilt sich, 22 [(1.0) hat ja kein=n zum SPIElen, 23 Ä: [ 24 R: [(---) u:nd: 25 Ä: [ 26 R: (2.0) .h spielt in der zeit an 27 R: den SCHUBladen; in der KÜche; (1.4) Hier thematisiert Herr Rasmus keine Erinnerungsprobleme; er hebt vielmehr die Fortdauer der Erinnerung hervor (noch (.) immer vor AUgen) und bewertet schon einleitend das Ereignis als SCHOCKmoment. Auffallend ist gleich zu Beginn der Rekonstruktionsaktivität der Wechsel von der 1. Person (ein schockmoment den ich noch (.) immer vor augen habe-), mit der er auf sich als Erzähler verweist, zur 3. Person (der kleine Junge), mit der er auf sich als Person der Geschichte verweist; das erzählende und das erzählte Ich werden also mit verschiedenen Personalpronomina bezeichnet. Das wird besonders deutlich durch die Selbstkorrektur in Zeile 13–15, wo er die begonnene Äußerung 59 Ä: 60 (1.5) 61 R: so das war noch n moment der LANge 62 ANhielt;=hh (2.4)
Hier setzt Herr Rasmus zu einer Äußerung an, die eine Nachwirkung des Erlebnisses fokussiert (und seitDEM . . . ). Er bricht jedoch gleich wieder ab und bemüht sich, das Erlebnis zeitlich und biographisch zu lokalisieren. Dies tut er mit relativ hohem Formulierungsaufwand, erkennbar an den zahlreichen Abbrüchen, Neuansätzen, Selbstkorrekturen, Reformulierungen und Vagheitsindikatoren wie ich weiß nich, ich glaub, oder so (Z. 43–50). Auch als er die abgebrochene Äußerung wieder aufnimmt (und seitDEM wirklich immer), unterbricht er sie noch einmal durch einen Einschub, der nun den Endpunkt der Nachwirkung betrifft (ich glaub das war noch bis ich:: bis ich:: vierzehn FÜNFzehn war,). Erst dann führt er die Äußerung zu Ende: immer wenn n glas runterfiel war ich erstma (-) kreidebleich; (Z. 52–53). Die Erinnerung an die Episode wirkt sich also in der Weise aus, dass sich die emotionale Reaktion auf den Schock in bestimmten Situationen wiederholt (immer wenn und das Imperfekt kennzeichnen die iterative Rekonstruktion), aber das Ereignis, das sie ausgelöst hat, wird nicht mehr erinnert (ich wusste lange gar nich mehr waRUM;). Herr Rasmus macht die über lange Zeit fehlende Erinnerung an das konkrete Ereignis explizit zum
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Erinnern – Erzählen – Interpretieren in Gesprächen mit Anfallskranken
Thema. Zum Zeitpunkt des Erzählens ist die Verbindung zum ursprünglichen Ereignis jedoch wieder hergestellt. Vergleicht man die narrativen Rekonstruktionen von Herrn Rasmus in den beiden Gesprächen, so zeigt sich, dass beide sich auf ein Schockerlebnis beziehen, auch wenn sie unterschiedlich ausgelöst werden – im Arzt-Patient-Gespräch durch die Frage nach dem ersten Anfall, im OPD-Interview durch die Frage nach traumatischen Erlebnissen. In beiden Fällen sind die Erinnerungen bruchstückhaft, aber diese Tatsache wird konversationell unterschiedlich bearbeitet: Im ersten Fall (frühe Kindheitserinnerung) wird das Nicht-Erinnern interaktiv als erwartbar behandelt, und das Erinnern (an den Krankenhausbesuch) wird eigens begründet. Im zweiten Fall wird bei der narrativen Rekonstruktion des eigentlichen Erlebnisses (Prügel vom Vater) das Erinnern nicht problematisiert, wohl aber anschließend das zeitweilige Nicht-Erinnern. Interessanterweise ist die Begründung für das Erinnern einerseits und für das Nicht-Erinnern andererseits die gleiche, nämlich dass das betreffende Erlebnis für den Erzähler einen Schock bedeutete. Ein zentraler Unterschied zwischen den beiden narrativen Rekonstruktionen liegt darin, dass im ersten Fall das Kernelement des Ereignisses erinnert wird, offenbar zusammen mit dem damaligen Gefühl dazu; der Ablauf und die weniger wichtigen situativen Details sind vergessen. Im zweiten Fall wird gerade das Ereignis selbst offenbar in seiner Gesamtheit über mehrere Jahre völlig vergessen, zum Zeitpunkt des Gesprächs ist die Erinnerung aber nicht nur wieder zugänglich, sondern sie wird auch im Detail rekonstruiert und stilistisch ausgestaltet. Das Bruchstückhafte wird im ersten Fall auch durch Formulierungsschwierigkeiten beim Erzählen dargestellt, im zweiten Fall ist die Rekonstruktion des Ereignisses zwar insgesamt flüssig und gestaltungsorientiert, aber als es um die jahrelange Fortdauer der Schockreaktion geht, treten ebenfalls Spuren von Formulierungsschwierigkeiten auf. Die Analyse der beiden Gesprächsausschnitte mit Herrn Rasmus wirft in doppelter Hinsicht ein neues Licht auf das bruchstückhafte Erinnern und das Nicht-Erinnern: In methodologischer Hinsicht bestätigt sie, dass bei einer konversationsanalytischen Beschäftigung mit narrativen Rekonstruktionen selbstverständlich auch Erzählansätze und Erzählfragmente in die Analyse einbezogen werden müssen, die in anderen Ansätzen der Erzählforschung nicht in den Blick geraten würden, weil sie nicht als Erzählung gelten. Hinsichtlich des Stellenwerts von bruchstückhaften Erinnerungen für die Interaktion im professionellen Kontext wird deutlich, dass sie einerseits als „normal“ gelten können, wenn es sich um die frühe Kindheit oder vielleicht auch um andere weit zurückliegende Ereignisse handelt, dass sie aber andererseits auch auf traumatische Erfahrungen
4 Auswertungsperspektiven
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verweisen können. Hier stößt die konversationsanalytische Arbeit allerdings an ihre Grenzen. Eine Auswertung der Analysen unter diesem Aspekt bedarf eines interdisziplinären Rahmens.
4 Auswertungsperspektiven Die hier beispielhaft herangezogenen Gesprächsausschnitte illustrieren drei Typen von Problemen, die bei der narrativen Rekonstruktion von Erinnerungen an Ereignisse und Erfahrungen – hier im Kontext von Anfallserkrankungen – auftreten können: 1. Die PatientInnen stehen vor der Aufgabe, einen erlebten Anfallsverlauf narrativ zu rekonstruieren, der ihnen kaum bzw. nur teilweise zugänglich ist, weil dabei ihre Selbstverfügbarkeit eingeschränkt war. Sie lösen dieses Problem in unterschiedlicher Weise. In den hier analysierten Beispielen 1 und 2 wurde gezeigt, wie eine Gruppe von PatientInnen diese Phase genau vom erinnerten Ablauf abgrenzt und/oder die Lücke zum Beispiel durch Zeugenaussagen füllt; andere dagegen charakterisieren diese Phase nur pauschal und zusammenfassend. 2. Bei der Rekonstruktion des ersten Anfalls besteht das Problem insbesondere darin, dass zwar möglicherweise mehr oder weniger genau ein Ereignis erinnert wird, dieses aber erst im Nachhinein verstanden, interpretiert oder kategorisiert werden kann. Darum ging es in den Beispielen 3 und 4, also in den Gesprächen mit der 17-jährigen Patientin und ihrer Mutter. In der konversationellen Interaktion mit dem Arzt wird eine Re-Kategorisierung vorgenommen: Das vergangene Ereignis wird uminterpretiert oder reinterpretiert und neu eingeordnet, da durch die (mittlerweile bekannte) Diagnose ein neuer Interpretations- und Kategorisierungsrahmen zur Verfügung steht. 3. Erinnerungen können nur in Bruchstücken zugänglich sein und sich der narrativen Rekonstruktion mehr oder weniger entziehen, wenn sie – wie in Beispiel 5 – lange zurückliegende Ereignisse betreffen. Aber auch der traumatische Charakter eines Erlebnisses kann dabei eine Rolle spielen, er kann den Zugang zur Erinnerung erschweren oder gar unmöglich machen. Dafür steht das Beispiel 6, in dem der Patient eine traumatische Erfahrung schildert, die er zum Zeitpunkt des Erzählens deutlich erinnert, die ihm aber lange Zeit nicht zugänglich war. Während dieser Zeit reagierte er auf einen bestimmten Typ von Ereignis (das Herunterfallen von Gläsern) emotional mit Angst oder Schock, ohne jedoch zu wissen, worauf diese Reaktion zurückging. Die Emotion hatte sich in diesem Fall vom ursprünglichen
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Erinnern – Erzählen – Interpretieren in Gesprächen mit Anfallskranken
Ereignis abgelöst. Eine solche Fragmentierung der Erinnerung wird für traumatische Erlebnisse als typisch angesehen; in psychologischen und medizinischen Forschungen finden sich zahlreiche Hinweise darauf (siehe oben Anm. 21). Mir geht es hier allerdings zunächst nicht um eine Zuordnung aus Sicht einer anderen Disziplin, sondern traumatisch ist in diesem Fall eine Teilnehmerkategorie. Der Terminus wird von der Ärztin in Beispiel 6 benutzt, der Patient spricht von einem schock oder angsterlebnis (Ausschnitt 5.3) bzw. einem SCHOCKmoment (Ausschnitt 6.1), und sprachliche bzw. kommunikative Spuren von Fragmentierung habe ich nicht aus Arbeiten zu trauma signals (BenEzer 1999) oder linguistic predictors of trauma pathology (Alvarez-Conrad et al. 2001) übernommen und zugeordnet, sondern aus den Formulierungsanstrengungen der Interaktanten, vor allem des Patienten, beim Sprechen über die betreffenden Ereignisse herausgearbeitet. Was bringt nun die Analyse solcher Prozesse narrativer Rekonstruktion und konversationeller Erinnerungsarbeit für den medizinisch-therapeutischen Kontext, in dem sie stattfinden? Grundsätzlich verdient die Erinnerungsproblematik besondere Beachtung gerade bei Erkrankungen, deren Symptome nicht oder nur eingeschränkt unmittelbar zu beobachten sind; dazu gehören neben Anfallserkrankungen auch andere chronische Krankheiten, zum Beispiel chronische Schmerzen, Angst- und Panikstörungen u. a. Solchen Erkrankungen liegen nicht selten traumatische Erfahrungen zugrunde, so dass die konversationelle Arbeit an der Erinnerung im Allgemeinen und die narrative Rekonstruktion im Besonderen therapeutisch genutzt werden können. Wie solche „konversationsanalytischen Zugänge zu Gesprächen über Anfälle“ (Schöndienst 2000) im Einzelnen zu diagnostisch und therapeutisch relevanten Ergebnissen führen können, kann hier nicht im Detail aufgezeigt werden.22 Ein Beispiel für differenzialdiagnostisch relevante Ergebnisse sind aber die oben erwähnten unterschiedlichen Formen der Darstellung von Bewusstseinslücken bei Anfallskranken (vgl. Furchner 2002): Eine intensive Formulierungsarbeit an der Erinnerung mit dem Bemühen um möglichst vollständige und detaillierte Rekonstruktion ist eher typisch für Epilepsie-PatientInnen; dazu gehören die beiden hier zitierten PatientInnen. Dagegen sind summarische Angaben zum Wegsein (ich merk ja nichts, ich bin gleich weg) und eine holistische Darstellung dieser Phase eher typisch für Patientinnen mit nicht-epileptischen Anfällen.
22 Für einen Überblick vgl. Schwabe et al. (2008); eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse gibt Surmann (2005).
Literatur
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In ähnlicher Weise differenzialdiagnostisch relevant können Darstellungen von Angst sein. Die Darstellungsmittel, die zum Beispiel Herr Rasmus nutzt, um traumatische Erlebnisse zu schildern, unterscheiden sich deutlich von denen, mit denen er alltägliche Ängste beschreibt, und von der Darstellung epileptischer Angstauren zu Beginn seiner Anfälle, die er als eigentlich unbeschreibbar charakterisiert.23 Das Phänomen der Re-Kategorisierung von Ereignissen als erste Anfälle wäre noch auf seine differenzialdiagnostische Relevanz zu untersuchen. Es ist zweifellos auch therapeutisch relevant. Dass der Beginn einer Erkrankung erst im Nachhinein als solcher identifiziert und kategorisiert werden kann, dürfte typisch für chronische Krankheiten sein. In diesem Kontext spielt die Beschäftigung mit der eigenen Krankheitsgeschichte oder besser: das Erzählen von Krankheitsgeschichten eine wichtige Rolle. Die Forschungsarbeiten von LuciusHoene (z. B. 2002, 2009) zeigen in sehr differenzierter Weise anhand von Transkriptanalysen, welche Bewältigungsressourcen gerade im Erzählen liegen, und bieten damit Anschlussmöglichkeiten für konversationsanalytische Forschung im interdisziplinären Kontext.
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23 Vgl. dazu Gülich und Couper-Kuhlen (2007); zur Unbeschreibbarkeit: Gülich (2005); zur Beschreibung von Panikattacken: Gülich (2007).
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Erinnern – Erzählen – Interpretieren in Gesprächen mit Anfallskranken
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Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags. Erstveröffentlichung des Beitrags in: Ayaß, Ruth und Meyer, Christian (Hgg. 2012). Sozialität in Slow Motion: theoretische und empirische Perspektiven. Festschrift für Jörg Bergmann. Wiesbaden, 615–642.
Brüche in der Kohärenz bei der narrativen Rekonstruktion von Krankheitserfahrungen: Konversationsanalytische und klinische Aspekte zusammen mit Martin Schöndienst Wenn von der Narrativierung traumatischer Erfahrungen die Rede ist, werden in der psychotherapeutischen Literatur häufig als wesentliche Charakteristika Kohärenzstörungen, Inkohärenzen, desorganisiertes Sprechen oder Fragmentierung angeführt.1 Entsprechend zielt therapeutische Arbeit darauf, das Erlebte kohärenter erzählbar werden zu lassen. Als Merkmale von Inkohärenz gelten zum Beispiel widersprüchliche Äußerungen zu Raum und Zeit, die Unfähigkeit, Sätze abzuschließen, abrupte Themenwechsel oder plötzliches Auftreten eines unangemessenen Sprachstils. Wie man Kohärenzbrüche im Gespräch selbst erkennen und ggf. systematisch aufzeigen kann, ist unseres Wissens bislang kaum Gegenstand gesprächsanalytischer oder auch klinischer Überlegungen. Auch wird wenig darauf hingewiesen, wie vielgestaltig und zugleich oft unauffällig Kohärenzbrüche sind. In einem interdisziplinären Forschungskontext erscheint diese Sicht auf Traumanarrativierung aus verschiedenen Gründen unbefriedigend: – der Kohärenzbegriff ist unscharf, – das Narrativ wird als monologisch entstandenes und in sich abgeschlossenes Produkt aufgefasst, – es wird nicht hinreichend berücksichtigt, dass Kohärenzbrüche oft schwer zu erkennen sind, – die verwendeten Kriterien sind eher bewertend als beschreibend. Der vorliegende Beitrag folgt nicht einem normativen, sondern einem beschreibenden Ansatz. Er bezieht sich auf die narrative Rekonstruktion von Krankheitserfahrungen in Gesprächen zwischen Ärzten und Patientinnen mit Anfalls- und/oder Angsterkrankungen2; dabei wird die Interaktion zwischen
1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Kooperation mit der Forschungsgruppe der HerausgeberInnen am FRIAS [Carl Eduard Scheidt, Gabriele Lucius-Hoene, Anja Stukenbrock, Elisabeth Waller]; er wurde insbesondere durch mehrere Aufenthalte von Elisabeth Gülich am FRIAS in den Jahren 2010, 2012 und 2013 gefördert. Er geht auf einen Vortrag zurück, den Elisabeth Gülich und Carl E. Scheidt im Linguistischen Kolloquium des FRIAS im Mai 2013 gehalten haben. 2 Die Gesprächsaufnahmen stammen aus zwei interdisziplinären Forschungsprojekten: dem DFG-Projekt Linguistische Differenzialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen (Epiling); Nähere Angaben unter: www.uni-bielefeld.de/lili/forschung/projekte/epiling/ (29.01.2020) https://doi.org/10.1515/9783110685664-009
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Brüche in der Kohärenz
den GesprächspartnerInnen nicht ausgeblendet, sondern im Gegenteil systematisch einbezogen. Nach Vorüberlegungen zu der Frage, wo ein linguistischer Beitrag zum Thema Kohärenzbrüche ansetzen kann, wird eine konversationsanalytische Vorgehensweise skizziert. Auf dieser Grundlage werden exemplarisch Rekonstruktionen von Erlebnissen analysiert, die nicht als traumatisch vordefiniert sind, aber genau solche Phänomene aufweisen, die in der Traumaforschung eine Rolle spielen (Kap. 2.). Die Analysen werden abschließend für den klinischen Kontext ausgewertet (Kap. 3.).
1 Kohärenzbrüche aus konversationsanalytischer Sicht Während in psychotherapeutischer Forschung Inkohärenz eine besondere Rolle spielt, ist für bestimmte Bereiche der Linguistik der Begriff Kohärenz zentral: Er bezeichnet eine konstitutive Eigenschaft von Texten und ist somit als Maßstab für Inkohärenz oder Kohärenzbrüche zugrunde zu legen. Es wäre daher in diesem Kontext naheliegend, sich mit verschiedenen linguistischen Definitionen und Beschreibungsansätzen zum Phänomen der Kohärenz auseinanderzusetzen; das würde jedoch den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Wir folgen hier einem konversationsanalytischen Ansatz, der kurz skizziert werden muss, um die Herangehensweise an die Transkriptbeispiele nachvollziehbar zu machen. Der Begriff Kohärenz selbst spielt in konversationsanalytischen Forschungen keine Rolle. Teilaspekte der Herstellung von Kohärenz werden im Zusammenhang mit topic bzw. Thema behandelt; Sacks geht darauf in seinen lectures in verschiedenen Zusammenhängen ein.3 Allerdings wird topic in der Konversationsanalyse oft als schwieriger Analysegegenstand betrachtet, weil das Interesse typischerweise eher formalen Prozeduren als inhaltlichen Aspekten gilt (Sidnell 2010, 223). Darin muss jedoch kein Widerspruch liegen; für die thematische Organisation im Gesprächsverlauf lassen sich durchaus auch formale Verfahren beschreiben. In dem Zusammenhang sind auch thematische Störungen
und der Kooperationsgruppe Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld 2004 (Angst-KG); Nähere Angaben unter: www.uni-bielefeld.de/ZIF/KG/2004Angst/ (29.01.2020). Die Gespräche wurden in einer Epilepsieklinik nach einem Leitfaden geführt, der aus den Daten heraus entwickelt worden war. Die Namen der hier zitierten Patientinnen sind Pseudonyme. 3 Vgl. z. B. Sacks 1992, Bd. I, Teil II, 8; Teil IV, 9. März; Part VII, 17. April.
1 Kohärenzbrüche aus konversationsanalytischer Sicht
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aufschlussreich, weil sie solche Verfahren besonders deutlich erkennen lassen.4 Thema oder topic bilden also möglicherweise einen geeigneten Ausgangspunkt für eine konversationsanalytische Beschäftigung mit Kohärenz/Inkohärenz. Nun wollen wir hier aber nicht von einer Begriffsbestimmung ausgehen, sondern von den empirisch erhobenen Daten; nicht zuletzt dadurch zeichnet sich eine konversationsanalytische Arbeitsweise5 aus. Anstatt eine linguistische Kategorie wie zum Beispiel Kohärenz oder Inkohärenz an die Daten heranzutragen, stellt sich vielmehr die Frage, ob Kohärenz/Inkohärenz als Teilnehmerkategorie anzusehen ist. Da man in Gesprächen schwerlich Begriffe wie Kohärenz, Inkohärenz oder Kohärenzbruch finden wird, geht es also darum, wie die Interaktanten selbst entsprechende Probleme markieren und behandeln. Das bedeutet konkret: Wir wenden uns Fällen zu, in denen die Interaktanten sich gegenseitig anzeigen, dass sie thematische und/oder narrative Zusammenhänge nicht verstanden haben. Dabei interessieren uns vor allem die Verfahren, die die Interaktanten einsetzen, um sich die Probleme gegenseitig zu verdeutlichen und sie gemeinsam zu bearbeiten. In den folgenden Gesprächsausschnitten steht die narrative Rekonstruktion krankheitsbezogener, eventuell auch traumatischer Erfahrungen im Zentrum. Die Rekonstruktionsaufgabe kann durch verschiedene Bedingungen erschwert sein, zum Beispiel durch Erinnerungslücken, schwer fassbare und damit auch schwer beschreibbare Empfindungen und Eindrücke oder traumatische Erlebnisse. Es ist daher wichtig, den gesamten Prozess des Erzählens von der Entstehung der Erzählung aus dem Gespräch heraus bis zu ihrer anschließenden konversationellen Bearbeitung zu analysieren und dabei auch die Aktivitäten des Zuhörers zu berücksichtigen. Dabei sind nicht nur voll ausgebaute Erzählungen von Interesse, sondern auch Erzählansätze, die aus irgendeinem Grund abgebrochen und nicht weiterverfolgt oder erst später wieder aufgegriffen werden. Gerade diese gewinnen im Zusammenhang mit belastenden Erfahrungen unter Umständen besondere Bedeutung; die narrative Rekonstruktion erweist sich immer wieder auch als Arbeit an der Erinnerung, die im Erzählten sprachliche Spuren hinterlässt (Gülich 2012). Anhand der folgenden Gesprächsausschnitte zeigen wir exemplarisch verschiedene Arten von Kohärenzbrüchen und arbeiten Verfahren heraus, mit denen interaktiv Kohärenz hergestellt wird. Dabei stehen wir allerdings vor der
4 Eine zusammenfassende Darstellung zur thematischen Organisation aus konversationsanalytischer Sicht findet sich in Gülich und Mondada 2008, Kap. 8; die Thematisierung von Angst im Gespräch wird ausführlich beschrieben in Lindemann 2012, Kap. 3. 5 Zur analytic mentality konversationsanalytischen Arbeitens vgl. Schenkein 1978, zusammenfassend: Gülich und Mondada 2008, Kap. 2.
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Brüche in der Kohärenz
Schwierigkeit, dass wir eigentlich ganze Gesprächsverläufe wiedergeben müssten, um Kohärenzbrüche nachvollziehbar zu machen; das ist hier jedoch nicht möglich. Wir hoffen, auch anhand der Ausschnitte einen Eindruck vom Prozess ihrer konversationellen Entstehung und Bearbeitung vermitteln zu können.
2 Beispielanalysen Wenn Patienten im Gespräch mit einem Arzt versuchen, ihre Anfalls- oder Angsterfahrungen narrativ zu rekonstruieren, kommt es vor, dass die Beteiligten selbst Darstellungs- oder Verständnisschwierigkeiten manifestieren. Intensive Arbeit an der Formulierung, die sich zum Beispiel in Verzögerungen, Selbstkorrekturen, Abbrüchen, Neuansätzen und Reformulierungen äußert, sowie metadiskursive Kommentare zur Unbeschreibbarkeit haben sich als geradezu typisch für die kommunikative Darstellung epileptischer Auren erwiesen (vgl. z. B. Schöndienst 2001, Gülich und Furchner 2002). Dabei thematisieren Patienten auch selbst die Schwierigkeit, diese Erfahrungen anderen zu vermitteln. Deutlich werden Kohärenzprobleme aber vor allem, wenn der ärztliche Gesprächspartner Verstehensprobleme manifestiert, die auf einen fehlenden thematischen Zusammenhang oder eine lückenhafte Darstellung von Erinnerungen zurückzuführen sind. Dabei geht es nicht um Verstehen im Sinne mentaler Prozesse, sondern um „beobachtbare Verstehensdokumentationen“, das heißt die Hinweise, „die den Interaktionsteilnehmern selbst als Indiz und Beleg für Verstehen gelten und die sie selbst einsetzen, um Verstehen anzuzeigen“ (Deppermann 2013, 1). Im folgenden Ausschnitt aus einem Konsiliargespräch führt eine Patientin auf die Frage des Arztes aus, warum sie ins Krankenhaus gegangen war: Transkriptbeispiel 1: Frau Zinow (Angst-KG)6 Ausschnitt 1.1 (Frau Zinow; im Original: Z. 347 ff.) 1 Z: [...] = = und wird (.) alles 4 im ORDnung. (0.6)= 5 =
6 Zu den Transkriptkonventionen: siehe Anhang in diesem Band.
2 Beispielanalysen
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7 (5.3) 8 A:
sie ha' sind 9 ins krankenhaus geGANgen?
[...] Hier thematisiert der Arzt in einem metadiskursiven Kommentar zunächst pauschal Nichtverstehen und beginnt dann, die narrative Rekonstruktion schrittweise zu reformulieren, wobei er die Patientin durch Frage-Intonation zur Bestätigung der einzelnen Handlungs- oder Ereignisschritte auffordert. Dieses interaktive Verfahren wird häufig eingesetzt, um ein Verständnisproblem genauer zu lokalisieren (vgl. Krafft und Dausendschön-Gay 1993). Danach nimmt die Patientin die Schilderung ihrer Beschwerden wieder auf, scheint aber zu bemerken, dass der Arzt nicht folgen kann: Ausschnitt 1.2 (Frau Zinow; im Original: Z. 370 ff.) 10 Z: [...] .hh und=die=ärzte glaubten das war von medika 11 MENten. Ich spreche zu SCHNELL; 12 (0.3) 13 A: ä::hm: ja oder [ich denke zu L ]ANGsam. .h ä:hm: 14 Z: [durcheiNANder;] 15 A: (0.4) .h ja ich- mir fehlt so=n bisschen die ZEITli 16 che vorstellung. .h 17 = 18 Z: =
(0.5) 19 dreiundneun´ dreiundA:CHzig? (0.5) [...] Mit dem Kommentar zu ihrer eigenen Sprechweise (Z. 11, 14) gibt Frau Zinow zu erkennen, dass sie eine Störung in der Verständigung wahrnimmt. Der Arzt bestätigt diese (Z. 13) und macht dann stärker als vorher deutlich, wo das Problem für ihn liegt, nämlich in der zeitlichen Situierung (Z. 15–17). Beide Partner zeigen sich also bereit, die Verantwortung für das Verstehensproblem zu übernehmen (vgl. Golato 2013). Die Patientin setzt dann zu einer Reparatur an, indem sie das Ereignis zeitlich einordnet (Z. 18 ff.). In einer späteren Gesprächsphase beschreibt die Patientin detailliert ihre Angst: Ausschnitt 1.3 (Frau Zinow; im Original: Z. 1159 ff.) 20 Z: ä´ ich gucke keine HORrorfilme, ich gucke überhaupt 21 NIX, .h w:o kann=ich mich erSCHRE:Cken; = aber TROTZ 22 dem; (.) hab=ich SO schreckliche 109 (2.1)
110 INT: .h undh (.) dann sind sie auch wenn (…) 111 Zwei Tendenzen sind bei der mehrfachen Wiederaufnahme deutlich zu erkennen: 1. Die Detaillierung der ersten (alltäglichen) Angst nimmt ab, während die der zweiten (anfallsbezogenen) Angst zunimmt. 2. Fast unbemerkt verschiebt sich das deiktische Zentrum bei Herrn R. zugunsten der epileptischen Angst. Beim nächsten Übergang – zur zweiten Wiederaufnahme der Differenzierung (Z. 105) – wird die alltägliche Angst als das andere bezeichnet. Begleitet durch prosodische Hinweise auf einen Neuanfang (Z. 105) kommt Herr R. jetzt ein drittes Mal auf die Angst mit konkretem Bezugsobjekt (= Vase) zu sprechen: Er merke deutlich gleich so geDANken erstmal (Z. 106): (Z. 108–109). Auffallend ist hier die äußerste Knappheit, mit der die die alltägliche Angst auslösende Situation evoziert wird. Sie wird mit nur zwei Worten wieder lebendig gemacht: VAse kaputt, wobei die zurückgenommene Lautstärke sowie die konspirative Stimme an die ursprüngliche Inszenierung erinnern. Die dabei gleich hervortretenden Gedanken bedür-
3 Zur Angsttypologie im ausgewählten Ausschnitt
261
fen keiner Einleitung mehr, sondern werden mit einer einfachen (beschleunigten) adressatenorientierten Frage in direkter Rede was MACH ich jetzt (Z. 109) exemplarisch dargestellt. Noch knapper gerät die sich anschließende (zweite) Wiederaufnahme der Darstellung der andern (epileptischen) Angst: Sie wird mit leichtem Kopfschütteln und leiser Stimme durch erstmal so- (Z. 110) angegangen. Unschwer lässt sich voraussagen, dass Herr R. seine Äußerung mit einer Charakterisierung der epileptischen Angst fortgesetzt hätte, wenn sein turn nicht durch den Interviewer unterbrochen worden wäre. Die achte und letzte Phase des Ausschnitts geht damit vorzeitig zu Ende. 3.2.7 Tabellarische Ergebnisdarstellung der Angsttypologie Die szenischen Verfahren, die Herr R. koordinierend zum Einsatz bringt, um zwei unterschiedliche Typen von Angst zu differenzieren, haben wir im Folgenden in zwei „Ergebnistabellen“ zusammengefasst (Tab. 2 und Tab. 3), die einen Überblick über die – in erster Linie – intrapersonellen Koordinierungsaktivitäten geben. Tab. 2: Angst I (epileptische Angst) ohne konkretes Bezugsobjekt. Formulierungsverfahren
Stimme
Körper
intensive Formulierungsarbeit: komplexe Reformulierungsstrukturen durch Verkettung und Einbettung von Reformulierungen; fragmentierte Syntax, Unsicherheitsmarkierungen, viele Abbrüche und Selbstkorrekturen
repetitive Verwendung einer stilisierten „mechanischen“ Tonhöhenkontur; „weinerliche“ Stimme
Grundhaltung (Hände übereinander geschlagen im Schoß oder nebeneinander auf den Oberschenkeln); recht bewegungslos, manchmal Verharren in starren Positionen
Beschreibungen über die Negativfolie der alltäglichen Angst Verwendung von Schreien Fazit: Darstellung der Angst als unbeschreibbar
punktuell abwesender Blick in die Ferne Glottalverschlüsse am Ende der Schreie
262
Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf
Tab. 3: Angst II (alltägliche Angst) mit konkreten Bezugsobjekten. Formulierungsverfahren Stimme
Körper
Listenbildung: intonatorisch parallel Auflistung von gestaltete Einheiten Beispielen für mögliche Situationen und gedankliche Reaktionen „lebendigere“ Sprechweise, flüssiger, häufig schnelles Sprechtempo, vollere Stimme
lebhafte Handgestik, z. T. vor dem Kopf bzw. am Mund; häufig offene Handhaltung; präsentative Gesten
adressatenorientierte Fragen, direkte Redewiedergabe Rücknahme der Lautstärke, „konspirative“ Stimme bei Gedankenwiedergabe
szenische Darstellung von Gedanken, Blickkontakt mit dem Gesprächspartner
Fazit: Sprachliche Verfasstheit der Angst
4 Auswertung der Analysen 4.1 Kommentar zur Multimodalität Aus der Perspektive der Affekt- und Emotionsforschung ist die vorgestellte Episode vor allem deswegen interessant, weil zwei unterschiedliche Affektzustände unabhängig von ihrer sprachlichen Bezeichnung identifiziert und beschrieben werden. Damit wird ein plastisches Beispiel für das zum Teil. ungleiche Verhältnis zwischen Sprache und Denken (Gumperz und Levinson 1996) vor Augen geführt, denn Herr Rasmus entwickelt zwei klar voneinander differenzierte konzeptuelle Kategorien, die jedoch nicht lexikalisch unterschieden werden; in beiden Fällen spricht er von Angst.25 Die Differenzierung der Affektzustände erfolgt durch eine szenische (Re-)Konstruktion typischer Situationen, in denen Angst unterschiedlich empfunden wird. Jedoch allein die Bündelung von distinktiven verbalen, prosodischen und gestischen Verfahren ermöglicht eine klare Unterscheidung der zwei Angsttypen. Das Inszenieren zeigt sich als eine „funktionale, wohl
25 Vgl. oben Kap. 3.1. Die in theoretischen Arbeiten häufig getroffene Unterscheidung zwischen Angst und Furcht (für eine Überblicksdarstellung vgl. z. B. Fries 2000) wird in der Alltagskommunikation nach unseren Beobachtungen nicht praktiziert.
4 Auswertung der Analysen
263
strukturierte, klar begrenzte und an die Bearbeitung interaktiver Anforderungen gebundene Verdichtung von Ausdrucksmitteln“ (Schmitt 2003, 205). Diese Bündelungen sind nicht von vornherein als „fertige Packungen“ gegeben, sondern sie emergieren in der Situation und verfestigen sich im Laufe der Interaktion. Auch Herrn R.s Angsttypologie steht nicht von vornherein fest, sondern sie entwickelt sich erst in der Interaktion mit dem ärztlichen Gesprächspartner. So ist es auf dessen Initiative zurückzuführen, dass Herr R. sich überhaupt mit dem „Unterscheiden“ von verschiedenen Ängsten beschäftigt. Ebenso geht er nur auf Bitten des Interviewers auf die epileptische Angst ein, wobei er zunächst behauptet, er spüre keine Angst, die Teil des Anfalls wäre. Wenn der Interviewer aber etwas später die Rückfrage stellt und was sie spüren is aber (-) eigentlich keine ANGST, antwortet Herr R. DOCH und fährt mit einer Beschreibung dieser Angst im Anfall fort. Das Unterscheiden-können von Herrn R. kommt also im Gesprächsverlauf erst allmählich zustande und wird mit ich (.) kann deutlich unterSCHEIden (Z. 24–25) im gewählten Ausschnitt explizit gemacht und als eigene Differenzierungs-Initiative etabliert. Gleichwohl ist es wiederum der Interviewer, der Herrn R. nahe legt, diesen Unterschied zu beschreiben; erst dadurch wird die Inszenierung von zwei verschiedenen Angstsituationen ausgelöst. Somit muss die erarbeitete Differenzierung von Angst als Produkt der Interaktion betrachtet werden. Vor allem aus einer multimodalen Perspektive ist der untersuchte Ausschnitt erkenntnisreich. Berücksichtigte man nur Herrn R.s verbale Darstellung, wonach die Angst zum Beispiel kein Vorbote des Anfalls sei (Z. 5–7), so müsste gefolgert werden, dass ihre Auswirkungen für Herrn R.s epileptische Anfälle irrelevant seien. Beachtet man aber sämtliche semiotischen Signalsysteme bei Herrn R.s Rede (Z. 5–21), einschließlich der prosodischen und körperlichen, so lassen sich wichtige Hinweise auf das Vorhandensein einer Angst-Aura erkennen, die für Diagnose und Therapie von Herrn R.s Anfallserkrankung relevant sind. Im vorliegenden Ausschnitt ist das Verhältnis zwischen den Modalitäten keineswegs zugunsten der Wörter gewichtet. So finden sich Stellen, bei denen die Gestik die (fehlende) Sprache ersetzt, zum Beispiel, wenn Herr R. eine von unten kommende Gefahr einführen will und dabei ganz auf die inszenierende Handbewegung von unten zurückgreift (Z. 30). Eine ähnliche Ersatzfunktion hat die Prosodie bei der Darstellung der (sprachlosen) epileptischen Angst (Z. 64). Die Gestik ist ihrerseits aber auch nicht voll explizit, sondern wie die Prosodie im hohen Maße indexikalisch. So kann ein und dieselbe Hand-zum-Mund-Bewegung in dem einen Fall eine Denk- bzw. Verlegenheitshaltung (Z. 39), in dem anderen Fall ein Erschrecken (Z. 63) darstellen. Ebenso kann eine Beschleunigung des Sprechtempos einmal mit der Darstellung der Gedanken einhergehen, die sich in der alltäglichen Angstsituation gleich einstellen (Z. 51), und ein anderes Mal mit der Veränderung
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Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf
der Perspektive von einem, der von Anfallsangst betroffen ist, zu einem, der die Anfallsangst kommentiert (Z. 97). Wie ausführlich von Kehrein (2002) dargestellt wird, bilden „prosodische Informationen […] keine eindeutigen Ausdrucksmuster einzelner Emotionen, sondern tragen Bedeutungsanteile auf den emotionsrelevanten semantischen Dimensionen“ (Kehrein 2002, 134). Dasselbe gilt natürlich auch für die Gestik. Die Modalitäten bilden also zusammen ein sich gegenseitig indizierendes bzw. kontextualisierendes Geflecht, das eine ganzheitliche Sicht der multimodalen kommunikativen Ressourcen erforderlich macht.26 Multimodalität erweist sich hier in doppelter Hinsicht als konstitutiv: für das Konzept des Inszenierens ebenso wie für Herrn R.s Angstdifferenzierung.
4.2 Kommentar zur Angsttypologie Die Frage, inwieweit sich die Beobachtungen zu Herrn Rasmus auf Angstdarstellungen anderer Patientlnnen übertragen lassen, stellt sich unweigerlich am Ende einer Einzelfallstudie. Sie muss hier weitgehend offen bleiben, denn wirklich fundiert lässt sie sich nur durch weitere empirische Arbeiten beantworten. Eine linguistische oder gesprächsanalytische Angstforschung steht erst in den Anfängen. Als einzige größere Untersuchung aus diesem Forschungskontext ist uns Capps und Ochs (1995) bekannt, die – ebenfalls an einem Einzelfall – eine Fülle sprachlicher Strategien bei der Darstellung von Agoraphobie beschreiben. Ihnen geht es – im Unterschied zu uns – hauptsächlich um die narrative Rekonstruktion von Panik-Episoden, und sie konzentrieren sich auf verbale Verfahren. Prosodische und körperliche Ressourcen werden von Streeck und Streeck (2002) und (aufbauend auf Bergmann 2002) von Egbert und Bergmann (2004) einbezogen, die Fälle von therapeutischer Kommunikation mit Angst-Patientlnnen analysieren. Auch in Deppermann und Lucius-Hoene (2005), Streeck (2006) und Günthner (2006) werden eine Fülle kommunikativer Verfahren der AngstDarstellung beschrieben, so dass der Beitrag, den gesprächsanalytische Arbeiten zur Angstforschung leisten können, deutlich erkennbar wird. Die Besonderheit unseres Falles liegt zum einen darin, dass es sich bei Herrn Rasmus um eine spezielle Form von Angst handelt, nämlich um eine in Verbindung mit epileptischen Anfällen auftretende Angst-Aura, und zum anderen darin, dass der Patient hier in der Interaktion mit dem Arzt eine Angstdifferenzierung vornimmt und eine konsistente Typologie erarbeitet. Damit steht Herr Rasmus im
26 Vgl. dazu auch Deppermann und Schmitt (2007, Kap. 2.3); ferner: Dausendschön-Gay und Krafft (2002); Kehrein (2002).
4 Auswertung der Analysen
265
Gegensatz zu anderen Anfallspatientlnnen (vor allem solchen mit nicht-epileptischen Anfällen), die zwar ausdrücklich sagen, dass sie verschiedene Typen von Anfällen unterscheiden, sie jedoch im Gespräch nicht konsistent charakterisieren. Die Art und Weise, wie Herr R. die Besonderheit seiner epileptischen Angst herausarbeitet und von der alltäglichen Angst abhebt, weist deutliche Parallelen zu anderen Epilepsie-Patientlnnen auf und unterscheidet sich ebenso deutlich von der Art und Weise, wie Panik-PatientInnen (Capps und Ochs 1995; Günthner 2006) oder Patientlnnen mit sozialen Ängsten (Streeck 2006) ihre Angst darstellen. Dass es sich hier um eine grundlegend anders geartete Angst handelt, wird in der intensiven Formulierungsarbeit deutlich, die Epilepsie-Patientlnnen auf die Darstellung ihrer Auren überhaupt und speziell ihrer Angst verwenden. Ein zentrales Kennzeichen dabei ist die schwere Beschreibbarkeit oder Unbeschreibbarkeit (vgl. Gülich und Furchner 2002; Gülich 2005), die auch von Epileptologen beobachtet worden ist (vgl. Janz 1969, 180–181). Zwischen dieser Unbeschreibbarkeit und der Darstellung von Emotionen einerseits und zwischen Aura und Angst andererseits hat Surmann (2005) in seinen Untersuchungen zur Metaphorik in Anfallsdarstellungen enge Beziehungen gefunden (vgl. bes. Kap. 3.1.3 und Kap. 6.2.2). Die Beobachtungen zu Herrn R.s Darstellung der epileptischen Angst fügen sich damit gut in die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen zum Sprechen von Epilepsie-PatientInnen ein.27 Während andere Epilepsie-Patientlnnen bei der Beschreibung ihrer Auren häufig die Unbeschreibbarkeit in Form von metadiskursiven Kommentaren des Typs das ist ganz schwer zu beschreiben zum Ausdruck bringen,28 kommentiert Herr Rasmus seine Formulierungsanstrengungen nicht in dieser Form, sondern er inszeniert die Unbeschreibbarkeit mit Hilfe multimodaler Ressourcen. Er sagt nicht, dass er diese Angst nicht beschreiben kann, sondern er zeigt – beispielsweise durch die Schreie (siehe oben Kap. 3.2.4) – dass er an die Grenzen des Beschreibbaren kommt. Die beiden Typen von Angst, die er unterscheidet, werden multimodal konstituiert. Sollte sich das durch weitere Untersuchungen an ähnlichen Fällen bestätigen, wäre das ein Novum für die Angstforschung. Erste Beobachtungen zu Angst-Darstellungen in Gesprächen zwischen Ärzten und Panik-Patientlnnen lassen vermuten, dass im Unterschied zur intensiven Formulierungsarbeit hier häufig ein Rekurs auf vorgeformte Ausdrücke festzustellen ist. PatientInnen mit Panik-Attacken stellen keinen fundamentalen Unterschied zwischen der Panik und alltäglicher Angst heraus (wie es Herr 27 Eine knappe Zusammenfassung dieser Ergebnisse gibt Surmann (2005, Kap. 4.1.3). 28 Günthner (2006) findet solche Kommentare auch in Alltagsgesprächen mit Menschen, die an Panik-Anfällen leiden, und stellt sie in den Zusammenhang der Beschreibung von Extremerfahrungen.
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Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf
Rasmus für die epileptische Angst tut), vielmehr gehen die Darstellungen oft ineinander über. Auch wenn Verallgemeinerungen verfrüht wären, so lassen sich doch bestimmte Aspekte der Angst-Darstellung und Kriterien zur AngstDifferenzierung für weitere Untersuchungen auf dem Gebiet fruchtbar machen. In der Zusammenarbeit mit ÄrztInnen und TherapeutInnen besteht von deren Seite ein ausgeprägtes Interesse am Erkennen und Beschreiben möglicher krankheitsspezifischer Muster.29 Differenzierungen zwischen verschiedenen Angst-Typen sind für Diagnostik und Therapie unerlässlich. Sie werden zurzeit vorwiegend mit Hilfe psychiatrischer Diagnose-Instrumente vorgenommen, denen zufolge die PatientInnen in vorgegebene Kategorien eingeordnet werden müssen. Die subjektiven Empfindungen und erst recht die Formulierungsmuster werden dabei kaum berücksichtigt. Die Symptome werden in der Regel für abfragbar gehalten; dass sie sich im Gespräch interaktiv konstituieren und somit in hohem Maße an die Interaktion gebunden sind, kommt auf diese Weise nicht in den Blick. Gerade bei Angststörungen ist die Diagnosestellung oft sehr schwierig. Es macht aber für die Behandlung eines Patienten/einer Patientin einen entscheidenden Unterschied, ob er/sie Angstanfälle oder epileptische Anfälle hat, ob ein Epilepsie-Patient Angst-Auren hat oder zusätzlich zur Epilepsie an einer Angststörung leidet. Die Ergebnisse gesprächsanalytischer Untersuchungen könnten hier eine wichtige Erweiterung des Spektrums diagnostischer Verfahren darstellen. Sie könnten darüber hinaus auch Konsequenzen für psychotherapeutische Interventionen haben: Aus der Analyse des Gesprächsausschnitts mit Herrn Rasmus ist zu erkennen, wie wichtig es ist, das Fremde, Nicht-Mitteilbare bei der epileptischen Angst ernst zu nehmen, den Reformulierungsaktivitäten Zeit zuzugestehen und ihnen aufmerksam zu folgen, anstatt sie als weitschweifig oder als unnötige Wiederholungen von schon Gesagtem abzutun. Die Bemühungen, unter Einsatz aller Ressourcen das schwer Beschreibbare zu beschreiben, zeigen, dass das Nicht-Mitteilbare eben doch mitgeteilt werden soll.
29 Zu den nachfolgenden Überlegungen wurden wir von Martin Schöndienst angeregt.
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„Volle Palette in Flammen“: Zur Orientierung an vorgeformten Strukturen beim Reden über Angst und w=WIR patienten ≪all > sag ich jetz mal ich a=verallgemeiner das jetz mal > wir schleppen ja so unser päckchen mit REIN . in DIEse ganze geschichte- das: =ich gehe davon AUS dass äh die psyche so verrückt SPIELT; (.) heißt ja wir TRAGen irgendwie n päckchen (das/was) zu groß geworden is- irgndWAS, KEIne ahnung; es wird IRgendwie ganz viele bausteine .hh geben wo äh wo wir eben halt so unsere probLEMe mit rumtragen. (.) (. . .) = ich möchte ja hier nich .h n ganzes JAHR _sein; (.) um dann meine ganzen pakete ≪leicht lachend > abzuarbeiten; > und äh mit nem leeren beutl sozusagen wieder RAUSgehen. (aus einem Gespräch mit einer Angstpatientin)
1 Vorgeformtheit als Untersuchungsgegenstand Von der Allgegenwärtigkeit des Vorgeformten zu sprechen, ist fast schon ein Gemeinplatz.1 Ich will mich daher hier nicht damit aufhalten darzulegen, dass Vorgeformtes uns überall begegnet, in mündlicher wie in schriftlicher Kommunikation, im Alltag wie in professionellen und institutionellen Kontexten. Eine Untersuchung an englischen Daten (Erman und Warren 2000), in der große Corpora unter diesem Aspekt quantitativ ausgewertet wurden (das LondonLund-Corpus für gesprochene und das Lancaster-Oslo-Bergen-Corpus für geschriebene Sprache), hat ergeben, dass durchschnittlich 55 % der Texte, die wir produzieren, vorgeformt sind, genauer gesagt: Bei den Wahlmöglichkeiten, die beim Produzieren eines Texts bestehen und die die Autorinnen ausgezählt haben, fällt in über der Hälfte der Fälle die Entscheidung nach dem idiom principle und nicht nach dem open choice principle. Dieses Ergebnis wird erzielt auf der Grundlage eines relativ weiten und zugleich präzisen Begriffs von vorgeformten Strukturen (prefabs), durch den diese im Text eindeutig identifizierbar und zählbar sind. Dazu gehören auch viele unauffällige sprachliche
1 Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Rolle von Vorgeformtheit im Formulierungsprozess bei der konversationellen Beschreibung von nicht-epileptischen Anfällen, Angstanfällen und Panikattacken. Zur Diskussion steht die Möglichkeit, konventionalisierte und individuelle Modelle vorgeformter Strukturen differenzialdiagnostisch zu nutzen. Für eine kritische Lektüre, Anregungen und Kommentare danke ich herzlich Susanne Günthner, Heike Knerich, Ulrich Krafft und Martin Schöndienst. https://doi.org/10.1515/9783110685664-011
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Phänomene wie zum Beispiel übliche Kollokationen, die schon immer – und in den letzten Jahren wieder in zunehmendem Maße – das Interesse von Grammatikern und Lexikologen auf sich gezogen haben (vgl. Steyer 2004). Würde man auch komplexere Strukturen und Muster in Texten und Gesprächen einbeziehen, was Erman und Warren nicht getan haben, käme man vermutlich auf einen noch höheren Prozentsatz an Vorgeformtem. Ich werde hier für einen solchen erweiterten Begriff von Vorgeformtheit plädieren; dabei wird mein Interesse sich jedoch nicht auf quantitative, sondern auf qualitative Aspekte richten: auf die Rolle vorgeformter Strukturen im Formulierungsprozess, auf ihre Funktionen im Gespräch und auf Möglichkeiten einer Auswertung solcher Gesprächsanalysen in einem interdisziplinären Forschungskontext. Vorgeformtheit zum Gegenstand der Gesprächsforschung zu machen, ist noch weitgehend ein Novum; zumindest gehört dieses Phänomen nicht zu den häufig bearbeiteten Themen. Auch wenn einige sehr anregende Arbeiten aus dem Bereich der Konversationsanalyse vorliegen (vgl. vor allem Quasthoff 1981, 1993; Drew und Holt 1988, 1998; Kallmeyer und Keim 1986, 1994; Ayaß 1996), steht die gesprächsanalytische Untersuchung des Vorgeformten noch in den Anfängen. Hingegen gibt es eine lange und reichhaltige Tradition der Beschäftigung mit vorgeformten Ausdrücken in der Phraseologie, die allerdings nur eine relativ begrenzte Auswahl an Typen von Phraseologismen betrifft. Zwar ist der Gegenstandsbereich in den letzten Jahren schon erheblich ausgeweitet worden; das zeigt zum Beispiel das neue Handbuch von Burger et al. 2007. Eine wichtige Rolle in dieser Forschungsentwicklung spielen die Arbeiten von Stein 1995 und Feilke 1996 (vgl. dazu auch die neueren Darstellungen in Stein 2004 und Feilke 2004). Ein gesprächsanalytischer Ansatz bedeutet jedoch auch eine methodologische Umorientierung in der Beschäftigung mit Vorgeformtheit. Sowohl die Erweiterung des Gegenstandsbereichs als auch die methodologische Umorientierung sind aus meiner Sicht wichtige Voraussetzungen dafür, einen Beitrag zur Analyse vorgeformter Strukturen in anderen als phraseologischen oder linguistischen Kontexten und auch in anderen Disziplinen zu leisten. Solche Kontexte sind überraschend zahlreich und vielfältig, sodass auch von daher die Arbeit an einem Konzept von Vorgeformtheit lohnend und vielversprechend erscheint.
2 Ein Konzept von Vorgeformtheit Theoretische Grundlage der folgenden Überlegungen und Analysen ist ein Konzept von Vorgeformtheit, das in gemeinsamen Arbeiten mit Ulrich Dausendschön-Gay und Ulrich Krafft entwickelt und in verschiedenen Veröffentlichungen bereits vor-
2 Ein Konzept von Vorgeformtheit
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gestellt wurde (vgl. z. B. Gülich und Krafft 1998; Dausendschön-Gay et al. 2006, 2007, in diesen Arbeiten finden sich auch Hinweise auf Anregungen oder Parallelen aus anderen Forschungen). Ich fasse die wichtigsten Punkte unseres Konzepts für das in der vorliegenden Arbeit behandelte Thema kurz zusammen: – Das Rekurrieren auf vorgeformte Strukturen ist aus unserer Sicht ein Verfahren oder eine Methode (im konversationsanalytischen Sinne) zur Lösung konversationeller Formulierungs- und Verständigungsaufgaben, und zwar ein Verfahren unter anderen, das in den verschiedensten Kontexten gewählt werden kann, aber nicht muss. – Vorgeformte Strukturen können mehr oder weniger komplex sein: von Wortverbindungen bis zu kommunikativen Gattungen (im Sinne von Bergmann und Luckmann 1995). – Vorgeformte Strukturen können in unauffälliger Weise verwendet oder aber durch spezielle Markierungstechniken auffällig gemacht werden, zum Beispiel durch metadiskursive Kommentare (vgl. schon Quasthoff 1981), durch prosodische Mittel und sicher auch durch Mimik und/oder Gestik – diese Mittel sind jedoch bislang noch kaum untersucht worden. Vorgeformtheit wird allgemein als ein graduelles Phänomen angesehen, das heißt, Äußerungen sind nicht entweder vorgeformt oder frei, sondern mehr oder weniger vorgeformt. Wir würden also nicht wie Erman und Warren (2000) das idiom principle, dem open choice principle gegenüberstellen, sondern die Wahlmöglichkeiten als mehr oder weniger offen oder begrenzt ansehen. – Wir verstehen unter dem Begriff Vorgeformtheit sowohl konventionalisierte, sozial geteilte Formen als auch individuelle Routinen, die einzelne Sprecher angesichts von lnteraktionsaufgaben herausbilden, mit denen sie wiederholt konfrontiert werden. Die Grenzen zwischen diesen beiden Typen von Vorgeformtheit sind fließend, sofern man die Formulierungsaktivitäten beschreibt: Für den Rekurs auf Vorgeformtes bei der Lösung von Formulierungsaufgaben macht es keinen Unterschied, ob es sich um konventionelle oder individuelle Vorgeformtheit handelt. Für den Verständigungsprozess hingegen ist es eine wichtige Voraussetzung, dass vorgeformte Strukturen sozial geteilt und somit für beide Partner als solche erkennbar sind. – Wir betrachten vorgeformte Strukturen nicht einfach als „Fertigteile“, die reproduziert und im Formulierungsprozess in „frei formulierten“ Text eingesetzt werden, sondern wir gehen davon aus, dass auch Vorgeformtes im Formulierungsprozess produziert und interaktiv bearbeitet wird. – Um deutlich zu machen, dass es gerade nicht darum geht, ein konventionelles Muster wörtlich oder strukturidentisch zu reproduzieren, sondern
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dass der Rekurs auf vorgeformte Strukturen durchaus eine Formulierungs und Verstehensleistung darstellt, beschreiben wir den Rekurs der lnteraktionsteilnehmer auf solche Strukturen als Orientierung am Modell und unterscheiden dabei konventionalisierte und individuelle Modelle. – Solche Modelle haben im Gespräch eine unterschiedliche Reichweite. Diese hängt weniger von Eigenschaften der vorgeformten Ausdrücke selbst ab (auch wenn diese möglicherweise unterschiedliche Potenziale aufweisen) als von der Art und Weise, wie sie von den Gesprächsteilnehmern genutzt werden.
3 Exemplarische Analyse von Gesprächsausschnitten Wie die Orientierung an Modellen im Formulierungsprozess konkret vor sich geht, soll exemplarisch an Daten aus einem interdisziplinären Forschungsprojekt gezeigt werden, das unter dem Titel Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst. Exemplarische Untersuchungen zur Bedeutung von Affekten bei Patienten mit Anfallskrankheiten und/oder Angsterkrankungen als Kooperationsgruppe am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld gefördert wurde.2 Im Rahmen dieses Projekts führten ÄrztInnen ausführliche Leitfaden-Interviews mit Patientlnnen, die sich entweder in einer psychiatrischen Klinik oder in einer Epilepsie-Klinik in stationärer Behandlung befanden. Die im Folgenden analysierten Gesprächsausschnitte stammen – mit Ausnahme von Beispiel 1 – aus diesem Corpus. In diesen Gesprächen sind die Patienten, die an verschiedenen Arten von Ängsten leiden, mit der Aufgabe konfrontiert, höchst subjektive Empfindungen und Wahrnehmungen zu verbalisieren und dem Gesprächspartner zu vermitteln. Da es sich in der Regel um chronisch Kranke handelt, die ihre Beschwerden im Laufe der Behandlung immer wieder beschreiben müssen, sind Formulierungsroutinen erwartbar. Es stellt sich also die Frage, ob und an welchen Stellen im Gesprächsverlauf auf vorgeformte Strukturen zurückgegriffen wird, wie sie sequenziell eingeführt und interaktiv bearbeitet werden. Dabei richte ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf diejenigen Gesprächssequenzen, die mit der Erkrankung zu tun haben, also mit Angst, mit Panikanfällen und allgemein mit der Darstellung emotionaler Beteiligung.
2 Nähere Informationen unter: www.uni-bielefeld.de/ZIF/KG/2004Angst/ (29.01.2020).
3 Exemplarische Analyse von Gesprächsausschnitten
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Transkriptbeispiel 1 Frau Bäcker Das Gespräch, aus dem dieser Ausschnitt stammt, gehört zum Corpus des Forschungsprojekts Linguistische Differenzialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen – diagnostische und therapeutische Aspekte.3 Anlage, Methode und Ergebnisse dieses Projekts waren maßgebend für die Konzeption der ZiF-Kooperationsgruppe zur Angst-Thematik. Frau Bäcker, die in einer Epilepsie-Klinik behandelt wird, schildert in der Gesprächsphase, die dem zitierten Ausschnitt vorangeht, ihre Anfälle in der Kindheit und Jugend, berichtet auch von niedrigem Blutdruck und Migräne und von Ohnmachtsanfällen mit Blackout. Auf Nachfragen des Arztes zu den Anfällen, der Familie, Beobachtungen anderer zu den Anfällen, führt sie von sich aus das Thema Angst ein. Als der Arzt sie daraufhin fragt, wie die Anfälle beginnen, zählt sie zunächst Symptome wie Sehstörungen, Migräne, ein taubes Gefühl um den Mund auf und kommt dann erneut auf Angst zu sprechen: Ausschnitt 1.1 (Frau Bäcker)4 1 B: und äh: (-) ich kAnn mich auch erinnern dass ich ein: 2 (-)fürchterliches pA:nik oder Angstgefühl habe. (-) ich weiß 3 zwar nich wovOr aber (5 sec) is so: 4 Arzt: mh. mh, (6 sec) 5 B: ich kann das nich anders AUsdrücken. also dass ich 6 Irgendwie Angst hab. wovOr, (-) warUm wiesO, (-) ich weiß 7 es nich (13 sec) Hier macht die Sprecherin zum einen deutlich, dass sie vor einer schwierigen Formulierungsaufgabe steht (Z. 5), zum anderen führt sie ein wichtiges Charakteristikum ihrer Angst an, nämlich dass es sich um eine unbestimmte, nicht objektbezogene Angst handelt. Eine Reihe weiterer Nachfragen, die der Arzt nach einer relativ langen Pause von 13 Sekunden (Z. 7) stellt, beantwortet Frau Bäcker ebenfalls mit ich weiß es nicht. Daraufhin versucht er erneut, sie zur Beschreibung ihres Gefühlserlebens anzuregen:
3 von 1999–2001 von der DFG gefördert; nähere Informationen unter: www.uni-bielefeld.de/ lili/forschung/projekte/epiling/ (29.01.2020). 4 Zu den Transkriptkonventionen: siehe Anhang in diesem Band.
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Ausschnitt 1.2 (Frau Bäcker) 8 Arzt: (...) aber wenn ich sie jetz frAg ob sie sich dann 9 anders fÜHlen oder die umgebung sich anders Anfühlt, (-) 10 dann sagen sie das wEIß ich nicht. (-) 11 B: das wEIß ich auch nicht. (--) ich hAb, (-) mAnchmal so äh: 12 (-) eine erinnerung. aber ich (-) ich kann es nicht, (-) mit 13 gewißheit sagen. (-) als (.) als ob so, (-) die decke 14 runterkommt. dass es plötzlich schwA:rz um mich wird. dass: 15 das irgendwie:, (-) 16 Arzt: mh. mh, (-) 17 B: aber das wei das kann ich nicht äh (-) mit bestimmtheit 18 sa:gen. s=is geNAU wie dieses PA:nikgefühl äh: (-) das 19 wird (-) irgendwie plötzlich als ob ne dEcke runterfällt. 20 irgendwie so=ne (-) äh schwarze decke über mich fällt und 21 dann äh bin ich WEG, (-) das is (-) gAnz plÖtzlich. (...) Im Bemühen, die vom Arzt gestellte Formulierungsaufgabe zu lösen, rekurriert Frau Bäcker nunmehr auf Metaphern. Zwei konventionalisierte vorgeformte Ausdrücke dienen ihr als Modelle an denen sie sich orientiert: mir fällt die Decke auf den Kopf und mir wird schwarz vor Augen. Aber sie verwendet diese Ausdrücke nicht genau in der konventionellen Form, sondern bearbeitet sie und verbindet sie miteinander. Nach einem metadiskursiven Kommentar (ich kann es nicht, (-) mit gewißheit sagen) setzt sie in Zeile 13 mit Verzögerungen (Wiederholung, Pausen) zu einem Vergleich an (als ob so, (-) die decke runterkommt). Sie reformuliert diesen durch dass es plötzlich schwA:rz um mich wird, setzt zu einer weiteren Reformulierung an, die sie jedoch abbricht (Z. 14–15: dass: das irgendwie:) Nach einem Rezeptionssignal des Arztes nimmt sie sowohl den metadiskursiven Kommentar wieder auf (Z. 17) als auch die beiden Metaphern, die ausdrücklich noch einmal auf das Panikgefühl bezogen werden. Sie reformuliert die erste durch das wird (-) irgendwie plötzlich als ob ne dEcke runterfällt (Z. 19). In der erneuten Reformulierung dieses Ausdrucks verbindet sie nun das Bild der runterfallenden Decke mit dem Ausdruck dass es plötzlich schwA: rz um mich wird aus Zeile 14 zu irgend wie so = ne schwarze decke über mich fällt und formuliert die Wirkung mit dem ebenfalls vorgeformten Ausdruck und dann äh bin ich WEG (Z. 21). Dabei verschiebt sich die Bedeutung von Decke von der Zimmerdecke, die runterkommt (mit dem bestimmten Artikel als die Decke bezeichnet) zu einer Decke, von der man bedeckt oder zugedeckt wird (mit dem unbestimmten Artikel als ne dEcke bezeichnet); und das Adjektiv
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schwarz wird nun auf diese Decke bezogen. Gemeinsam ist beiden Bildern, dass die Decke ein von außen kommendes Objekt ist, das den körperlichen Zustand der Sprecherin beeinflusst. Die Parallelität der Eindrücke wird auch durch die Wiederholung von irgendwie unterstrichen (Z. 15, 19). Es handelt sich hier also nicht um die wörtliche Reproduktion vorgeformter Ausdrücke, sondern durch die Orientierung an den vorgeformten Ausdrücken entsteht im konversationellen Formulierungsprozess in mehreren Schritten die Metapher als ob (. . .) irgendwie so = ne schwarze decke über mich fällt. Dabei spielt von Anfang an die Plötzlichkeit der Empfindung eine zentrale Rolle: dass es plötzlich schwA:rz um mich wird (Z. 14), das wird (-) irgendwie plötzlich als ob ne dEcke runterfällt (Z. 19); dieser Aspekt wird abschließend noch einmal unterstrichen: das is (-) gAnz plÖtzlich (Z. 21). Frau Bäcker löst also die Schwierigkeit, dem Arzt ihre Empfindungen beim Beginn ihrer Anfälle zu vermitteln, dadurch, dass sie sich an konventionalisierten Modellen zur Beschreibung körperlicher Empfindungen orientiert, und sie weist durch die metadiskursiven Kommentare die vorgeformten Strukturen als Verfahren zur Lösung einer Formulierungsaufgabe aus. Im nächsten Beispiel funktioniert die Orientierung an Vorgeformtem ähnlich, aber der Fall ist wesentlich komplexer: Transkriptbeispiel 2: Frau Spree (Corpus der ZiF-Kooperationsgruppe Angst) Am Gesprächsanfang stellt die Interviewerin eine offene Frage, auf die Frau Spree mit der Schilderung der nächtlichen Panikattacken antwortet, deretwegen sie in die Klinik gekommen ist. Ausschnitt 2.1 (Frau Spree) 1 S: ähm und in dieser LETZten nacht bevor ich dann hierhin 2 gekomm bin hatt ich einglich die ganze nacht durchgehend 3 ne attacke, (-) die einglich äh' die ja: (--) wo ich dann 4 auch zwischndurch aufgestanden bin, (und s dann bisschn) 5 NACHließ; und wenn ich mich dann wieder hingelegt habe 6 dann gings halt wieder von VORne los. (---) 7 und es war halt irjentwie die ganze paLETte dabei; 8 von: (-) herzrasen:; .hh äh=froren hab=ich ganz 9 SCHRECKlich dann (.) ähm (---) ÜBELkeit; 12 schwindlich war mir,
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Nachdem Frau Spree zunächst die Dauer ihrer Panikattacke und den Wechsel zwischen Nachlassen und Wiederbeginnen der Beschwerden charakterisiert hat (Z. 2–6), leitet sie die Aufzählung der Symptome mit dem vorgeformten Ausdruck die ganze paLETte (Z. 7) ein, der Herzrasen, Frieren, Übelkeit und Schwindel umfasst (Z. 8–11), wobei das Frieren durch die Reformulierung und den Phraseologismus gefroren wie = n SCHNEider besonders hervorgehoben wird. Etwas später kommt sie auf den (in Z. 4–6 beschriebenen) wiederholten Wechsel ihrer Empfindungen zurück: Ausschnitt 2.2 (Frau Spree) 13 S: (--) ähm aber immer wenn ich mich wieder hingelegt habe 14 dann (-) ging die welle sozusagn wieder HOCH.=also, (.) 15 ich weiß gar nich mehr genau was ich gedacht habe16 zwischendurch- aber, (.) s führte dazu dass es dann 17 wirklich sofort wieder .h anSCHRAUBte. (--) mit dieser 18 (mh') attacke. (---) und dass ich da irgendwie, (--) 19 JA. (1.75) das is TOdesangst würd ich ( )/(mich) würd 20 ich (da/das)= =würd ich das nenn. ähm einfach (.) k=KAUM 21 AUSzuhaltn; Hier benutzt sie zunächst die Metapher der Welle, die immer wieder hochgeht (Z. 14), und reformuliert sie dann durch eine andere Metapher: dass es dann wirklich sofort wieder .h anSCHRAUBte (Z. 16–17). Da der Interviewer in dieser Anfangsphase des Gesprächs keine Fragen stellt, sondern lediglich sein Zuhören signalisiert, kommt die Patientin dann von sich aus auf Panikattacken zu sprechen, die der zunächst geschilderten vorausgegangen waren: Ausschnitt 2.3 (Frau Spree) 22 S:
und in den nächtn daVOR, (.) um das zu beschreibn; ähm ((schmatzt)) hab ich 24 (.) n paar stunden geSCHLAFen zwischndurch, und dann hatt 25 ich das so dass das=dass ich ebn aufgeschreckt bin. 26 I: mhm\/ 27 S: also ich hab geSCHLAFen, dann bin ich mit ner volln 28 panikattacke AUFgeschreckt, 29 I: mhm\/ 30 S: also wirklich volle palette, 31 S: wirklich in FLAMM=n sozu↑ [sagen, 32 I: [mhm\/ 33 S:
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Hier wird ebenfalls der schon beschriebene Wechsel thematisiert, und zwar als plötzliches Aufschrecken aus dem Schlaf (Z. 24–25). Nach der Ratifizierung durch den Interviewer folgt eine Reformulierung, die diesen Wechsel in doppelter Weise verstärkt: einmal durch den Ausdruck mit ner volln panikattacke AUFgeschreckt (Z. 27–28) und dann durch die Bekräftigung also wirklich v = volle palette (Z. 30). Der einleitende vorgeformte Ausdruck die ganze paLETte (aus Z. 7) wird also über die Zwischenstufe mit ner volln panikattacke zu einem neuen, ebenfalls vorgeformten Ausdruck: v = volle palette. Dieser wird dann noch einmal reformuliert unter Rekurs auf eine im Gespräch bisher nicht verwendete Metapher: wirklich in FLAMM = n sozu↑sagen (Z. 31), die dann mit einem metadiskursiven Kommentar versehen wird: ≪all > so (nenn) ich das immer, >; dadurch werden (wie zuvor bei Frau Bäcker) die vorstehenden Ausdrücke als Mittel zur Lösung einer Formulierungsaufgabe ausgewiesen. Im Anschluss daran kommt Frau Spree erneut auf den Wechsel zwischen Schlafen und Aufschrecken zu sprechen: Ausschnitt 2.4 (Frau Spree) 34 S: und ähm (.) dann hab ich das auch ( )=zwischndurch 35 auch noch geSCHAFFT dass es dann wieder weg↑ging, 36 also so ABglitt; und ich dann auch wieder EINschlief, 37
40 I: [mhm\/] 41 S: [bin ] dann immer wieder HOCHgeschreckt; 42 S: also das .hh ich KAM gar nicht mehr richtich zum schlafen. 43 (-) immer so weggenickt; und dann z(a)ck 44 war ich dann irgendwie mit voller welle wieder DA. 45 I: mhm\/ Hier taucht wieder eine neue Metapher für die Ruhephase auf: dass es dann wieder weg↑ging wird reformuliert durch also so Abglitt (Z. 36). Damit kontrastiert bin dann immer wieder HOCHgeschreckt (Z. 41); im Folgenden nimmt die Sprecherin nun das Bild der Welle und zugleich auch eine weitere vorher schon verwendete Struktur wieder auf: und dann z(a)ck war ich dann irgendwie mit voller welle wieder DA (siehe oben Z. 27–28: mit ner volln panikattacke AUFgeschreckt). Das Bild der Welle und Wendungen wie volle welle werden auch im weiteren Verlauf des Gesprächs noch in verschiedenen Variationen verwendet.
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Bei der Darstellung ihrer Panikattacken orientiert Frau Spree sich also ganz deutlich an Modellen; speziell zur Charakterisierung des Aufschreckens nach einer Ruhephase bildet sich im Laufe des Formulierungsprozesses eine vorgeformte Struktur mit konstanten und variablen Elementen heraus. Die zu Beginn verwendeten Ausdrücke (die ganze paLETte, mit ner volln panikattacke, wirklich v=volle palette) haben offensichtlich eine größere Reichweite; sie durchziehen weite Teile des Gesprächs, während beispielsweise der Phraseologismus hab=ich gefroren wie=n SCHNEider nur eine geringe Reichweite hat. Die Grenze zwischen konventionalisierten Modellen (die ganze paLETte, v=volle palette) und individuellen (mit: voller welle) ist für die Orientierung am Modell im Formulierungsprozess nicht relevant. Auffällig ist – wie schon bei Frau Bäcker in Beispiel 1 – die Metaphernmischung. Gemeinsam ist beiden Darstellungen auch, dass das plötzliche Auftreten der Panik betont wird (bei Frau Bäcker durch explizite Thematisierung, bei Frau Spree durch Ausdrücke wie aufschrecken oder hochschrecken). In beiden Fällen tragen die vorgeformten Strukturen zur auch durch andere Mittel realisierten Relevanzhochstufung der Panik bei. Schließlich geben beide Patientinnen mit Hilfe metadiskursiver Kommentare einen account dafür, dass sie zur Lösung einer schwierigen Formulierungsaufgabe auf Vorgeformtes rekurrieren. Im Unterschied zu den beiden bisher besprochenen Fällen schildert die Patientin, von der das nächste Beispiel stammt, keine einzelnen Panikepisoden, sondern sie beschreibt ihre Angst vorwiegend in verallgemeinerter Form. Narrative Rekonstruktionen finden sich im Gespräch mit ihr nur in Bezug auf einen Anfall, der sie mit dem Verdacht auf Epilepsie (der sich nicht bestätigt hat) in die Klinik geführt hat; da ist aber nicht von Panik die Rede. Außerdem erzählt die Patientin einige Episoden von angstbesetzten Erlebnissen, die sie aber auch nicht als Panikattacken darstellt. Der Rekurs auf vorgeformte Strukturen durchzieht das ganze Gespräch; in manchen Gesprächssequenzen treten sie gehäuft auf, zum Beispiel in der folgenden: Transkriptbeispiel 3: Frau Kenton (Corpus der ZiF-Kooperationsgruppe Angst) Frau Kenton, die eine Ausbildung als Pilotin absolviert, äußert sich besorgt darüber, ob sie wegen ihrer Anfallserkrankung bei einer bevorstehenden Untersuchung noch die Fliegertauglichkeit zuerkannt bekommt. Ausschnitt 3.1 (Frau Kenton) 1 I: (--) .hh da hängt äso sehr viel für sie von 2 I: [AB;
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K: [JA. (1.3) auf alle FÄLle; .hh ((räuspert sich)) K: TSCHULdigung,=aber [ich kann nix daFÜR, ((lacht kurz auf)) I: [ K: (---) ja; (---) (.) für die AUSbildung, (.) um die überhaupt MAchen zu können, (--) JO; (1.6) Aber- (-) .hh s=leben geht WEIter, u:nd ich denke man kann auch mal ANdre sachen machen,=ich bin- (.) ich hab schon ne ausbildung HINter mir sozusagen, (-) dass ich dann ent- (---) entweder in DIEsen beruf wieder (-) REINhüpfe, (---) oder ebend (--) im fliegerbereich BLEIbe,=weiß ich nich als FLUGlotse (. . .)
(1.4)
Der Interviewer verbalisiert hier die Konsequenzen der Erkrankung für den Beruf (da hängt äso sehr viel für sie von AB). Frau Kenton bestätigt (auf alle FÄLle); dabei treten Stimmprobleme auf, die sie kommentiert (Z. 4). Die Erwähnung des finanziellen Aufwands für die Ausbildung unterstreicht zunächst die Bedeutung der Konsequenzen, die dann aber nicht weiter ausgeführt wird; vielmehr erfolgt mit Hilfe von Pausen und Verzögerungselementen ein Umschalten auf Gemeinplätze: (--) JO; (1.6) Aber- (-) .hh s = leben geht WEiter, u:nd ich denke man kann auch mal ANdre sachen machen (Z. 9–10). Im Anschluss an diese Äußerung wird der relativ lange Redebeitrag über die mögliche berufliche Orientierung fortgesetzt (Z. 10–15) und dann abgeschlossen mit der Bemerkung was später is da mach ich mir eigentlich jetz noch keine geDANken (Z. 16–17). Eine auffällige Häufung von Vorgeformtem findet sich auch im folgenden Gesprächsabschnitt, der durch die Frage des Interviewers nach Frau Kentons eigener Einschätzung ihrer Erkrankung (Epilepsie oder etwas anderes) ausgelöst wird: Ausschnitt 3.2 (Frau Kenton) 19 I: .hh ham sie denn SELber ne idee? hh .h is das ne epilepSIE, (-) is das was 21 ANderes, = 22 K: = (--) ich sag mal SO 23 ich hab viel DURCHgemacht in mein=m leben (mit so);=ne? (-)
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K: I: K:
K: I: K:
(. . .) [(---) u:nd noch einige SAchen (-) JA KLAR die [ mich: (--) teilweise auch beWEgen;=ne? (-) a:ba:ich bin so der typ=ich möchte- (.) ich verGESse das, (--) so;=ne? was SCHLIMM war verGESS ich, und ich lebe einfach JETZ;=ne? (-) so bin ICH der typ;=ne? (-) ich möcht nicht darüber REden so unbedingt; [=ne?=und- (1.0) [ ja;=un=ich leb einfach JETZ=un- (---) un jetz machts mir ↑SPAß,=ja jetz MACHTS mir spaß=und=dann HAB ich das;=ne? (-) weil ich hab mir nie geDANken jetz weiter gemacht;=ne?
Frau Kenton antwortet mit eher unspezifischen Hinweisen auf belastende lebensgeschichtliche Ereignisse: ich sag mal SO ich hab viel DURCHgemacht in mein = m leben, (. . .) u:nd noch einige Sachen (-) JA KLAR die mich: (--) teilweise auch beWEgen (Z. 22–27). Sie schwenkt dann wieder mit einem a:ba: um und nimmt mit einer Serie vorgeformter Strukturen eine Rückstufung vor: a:ba: ich bin so der typ = ich möchte- (.) ich verGESse das, (--) so; = ne? was SCHLIMM war verGESS ich, und ich lebe einfach JETZ; = ne? (-) so bin ICH der typ; = ne? (-) (Z. 28–30). Nach einer kurzen Ratifizierung durch den Interviewer nimmt sie sowohl den Gemeinplatz als auch die Reflexionsabwehr wieder auf: ja; = un = ich leb einfach JETZ und kurz darauf: weil ich hab mir nie geDANken jetz weitergemacht; = ne? (Z. 34–37). Sich keine Gedanken machen passt zur Hochstufung der Ablenkung, die gleich zu Beginn des Gesprächs erfolgt war, als der Interviewer sie auf die Theatergruppe ansprach, von der sie gerade kam: Ja = d = bin ich tierisch Abgelenkt (. . .) MAN is auch (.) eigentlich abgelenkt von sein = n Eigenen (.) proBLEMN oder so was: (.) ein = n jetz zur zeit vielleicht so beWEGT; = ne? In dem zitierten Gesprächsausschnitt kommt ein großer Teil der für Frau Kenton charakteristischen vorgeformten Strukturen vor; in der folgenden Übersicht habe ich sie aus dem gesamten Gespräch zusammengestellt und nach Typen geordnet: (1) Gemeinplätze und Redewendungen – s=leben geht WEIter u:nd ich denke man kann auch mal ANdre sachen machen
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– – – – – –
was SCHLIMM war verGESS ich, und ich lebe einfach JETZ; =ne? ja; =un=ich leb einfach JETZ es is mein LEben es hätte schlimmer ausgehn KÖNN=n an SICH=f (--) war ich FIT; (---) fit wie so=n TURNschuh JA war nich GRAD so prickelnd; =ne? (auf die Frage: Wie fühlt sich das an?) – Un=dann hatt ich ebend (1.9) kein=n (.) BOCK (.) NOCHmal auf das ding DRAUFzusteigen (in der Erzählung von einem Sturz mit dem Motorrad) (2) Rekurrente Formulierungen im Gesprächsverlauf – Selbstkategorisierungen (vgl. dazu Birkner 2006): – ich bin so der typ=ich möchte- (.) ich verGESse das – so bin ICH der typ; =ne? – ich bin so der typ der lieber HINten sitzt – da bin ich so der typ der nich SO: weit raus schwimmen MÖCHte – Un=dann bin ich auch so der typ dass ich jetz (.) abends auch (1.5) (ja=einfach nich mehr) RAUS geh alLEine; =ne? – ich bin der typ der nicht immer gleich eine tablette nehmen will sondern aushalten will bis es nicht mehr geht – Abwehr (negativer) Gefühle oder Reflexionen: – was später is da mach ich mir eigentlich jetz noch keine geDANken; (betr. Konsequenzen der Erkrankung für die Zukunft) – ich hab mir nie geDANken jetz weiter gemacht;=ne? (betr. die Fliegerei) – ich hab mir darüber nie geDANken gemacht (betr. die Attacken) – un=dass ich mir nie geDANken drüber geMACHT habe (betr. die Erkrankung) – aber ich hab mir darüber nie so direkt die gedanken gemacht (betr. ) das Gefühl, gleich umzukippen) – weil sonst hab ich mir nie darüber gedanken geMACHT (betr. die Anfälle) – weil ich (. . .) mir nie darüber irgendwie- (betr. die Krankheit; nach Abbruch: Neuansatz mit ich mein ich WAR kerngeSUND) – aber ich versuch da einfach nicht drüber nachz.(.) DENken; oder ich verGESS es einfach (am Ende der narrativen Rekonstruktion einer traumatischen Episode mit drei Türken)
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Diese Auflistung macht die Rekurrenz vorgeformter Strukturen im Gespräch deutlich. Dabei verwendet Frau Kenton sowohl konventionalisierte, sozial geteilte vorgeformte Ausdrücke wie zum Beispiel Gemeinplätze und Redewendungen als auch individuelle Vor-Formulierungen, wobei sich auch hier beide Arten nicht scharf voneinander trennen lassen. Im Unterschied zu Frau Bäcker und Frau Spree rekurriert Frau Kenton nicht auf auffällige Metaphern. Überhaupt werden die vorgeformten Strukturen nicht markiert, sondern eher unauffällig gebraucht; Frau Kenton macht keine Kommentare zur schweren Beschreibbarkeit. Hier ist es die Rekurrenz der vorgeformten Strukturen im Gesprächsverlauf, die die Orientierung an konventionalisierten und individuellen Modellen erkennbar macht. Ein sehr deutliches Beispiel dafür, wie Frau Kenton vorgeformte Ausdrücke einsetzt, findet sich in einer Gesprächssequenz, in der der Interviewer sie ausführlich und sehr differenziert (unter Nennung mehrerer Beispiele) darauf anspricht, dass sie die wesentlichen Entscheidungen in ihrem Leben gegen die Einwände von wichtigen Bezugspersonen durchsetzen musste; er stellt dann eine Frage, die ausdrücklich die Gefühlsqualität dieser Erfahrung betrifft: wie fühlt sich DAS an, (-) so gegen den (--) WUNSCH von (--) WICHtigen bezugspersonen. Frau Kenton antwortet mit einer Aneinanderreihung vorgeformter Ausdrücke: JA war nich GRAD so prickelnd; =ne? aber (1.3) ich hab mir nur gedacht es is mein Leben ≪dim≫ un=ich MACH das einfach; =ne?. Ähnlich reagiert sie nach der Erzählung einer für sie traumatischen Episode, nämlich einer Situation, in der sie von drei Türken belästigt wurde. Als sie die Erzählung unvermittelt beendet (das WARS eigentlich soweit), thematisiert der Interviewer ausdrücklich die Gefühlsqualität des Ereignisses; er benennt die von der Erzählerin an keiner Stelle thematisierte Emotion und bestätigt deren Normalität: .hh aber das: (1.2) .h is ja etwas was einem zu recht angst MACHT. Nach einer Pause und einer Verzögerung mit einer Selbstkorrektur reagiert Frau Kenton mit der häufig verwendeten vorgeformten Selbstkategorisierung: ≪p > ja (un=deshalb bin) > ja! Un=dann bin ich auch so der typ dass ich jetz (.) abends auch (1.5) (ja=einfach nich mehr) RAUS geh alLElne =ne?. Im weiteren Verlauf, der dadurch gekennzeichnet ist, dass der Interviewer versucht, bei dem Thema zu bleiben, und unter anderem nochmals die Gefühlsqualität evaluiert (wirklich erschreckendes (-) erLEBnis), rekurriert Frau Kenton wieder im Wesentlichen auf vorgeformte Strukturen: aber ich versuch da einfach nicht drüber nachz.(.) DENken; oder ich verGESS es einfach; weil ich meine (1.2) es war ein=für mich WAR=s schlimm geWEsen, (--) a=ich hab: mich damit Abgefunden soweit; =ne? .hh aber es hätte schlimmer ausgehn KÖNN=n. Der Gemeinplatz steht in deutlichem Kontrast zu den Relevanzhochstufungen, die der Interviewer vornimmt, er passt aber zu dem vorangegangenen Abbruch der narrativen Rekonstruktion.
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Als Fazit ist für diese Patientin festzuhalten: Der Rekurs auf Vorgeformtes dient bei ihr durchgängig als Antwort auf Aufforderungen zur Emotionsthematisierung. Frau Kenton vermeidet spezifischere oder konkretere Formulierungen und Thematisierungen. Sich ablenken und sich keine Gedanken machen stellt sie als durchgehende Lösungsmuster für Probleme bzw. das, was sie bewegt dar. Vorgeformte Selbstkategorisierungen (ich bin so der Typ der . . . ) bieten die Möglichkeit zu accountings für Verhaltensweisen, ohne diese näher zu reflektieren oder auch zur Reflexion darüber einzuladen. Auch – oder gerade – dann, wenn der Gesprächspartner die Thematisierung von Gefühlen und die Reflexion über die Erkrankung und ihre Konsequenzen fokussiert, übernimmt die Patientin diesen Fokus in der Regel nicht. Selbst wenn die Probleme, die sie zur Sprache bringt, schwerwiegend sind, tendiert sie zu einer Relevanzrückstufung; sie tut das auch dann, wenn der Interviewer darauf einzugehen versucht. Sie überlässt es ihm, die emotionalen Aspekte ihrer Schilderungen zu thematisieren. Dazu passen Beobachtungen zu anderen Aspekten ihrer Angst, die sich aus der Analyse des gesamten Gesprächs ergeben: – Frau Kenton beschreibt ausschließlich Ängste, die ein konkretes Bezugsobjekt haben; dabei thematisiert sie eher situative als emotionale Komponenten. Darin unterscheidet sie sich von Frau Bäcker und Frau Spree, bei denen sich die vorgeformten Strukturen gerade auf die Panikempfindungen beziehen und die Angst kein konkretes Bezugsobjekt hat (Frau Bäcker sagt das ausdrücklich: also dass ich Irgendwie Angst hab. wovOr, (-) warUm wiesO, (-) ich weiß es nich (13 sec)). – Frau Kenton legt großen Wert auf die Normalisierung und die Erklärbarkeit ihrer Ängste, während andere Patienten die Nicht-Erklärbarkeit hervorheben. – Bei Frau Kenton ist ein Wechsel zwischen Hoch- und Rückstufung zu beobachten, mit dem sie zunächst eingeführte Differenzierungen wieder verwischt. Bei Frau Bäcker und Frau Spree wird hingegen die Panik konsequent hochgestuft, nicht zuletzt durch die vorgeformten Ausdrücke. Als letztes Beispiel möchte ich eine Patientin vorstellen, deren Darstellung der Angst Parallelen sowohl zu Frau Bäcker und Frau Spree als auch zu Frau Kenton aufweist: Transkriptbeispiel 4: Frau Wiesinger (Corpus der ZiF-Kooperationsgruppe Angst) In der Einleitungsphase des Gesprächs blickt die Patientin auf ihren Zustand zu Beginn ihres nun zu Ende gehenden Klinikaufenthalts zurück:
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„Volle Palette in Flammen“
Ausschnitt 4.1 (Frau Wiesinger) 1 W: ja; doch wenn ich so: äh:: .hhh (.) zuRÜCK 2 denke, hh. wie ich angekommen bin- (.) äh 3 (1.4) DAS hab ich also ga=nich für MÖGlich 4 gehalten; (0.6) dass=es mir (heut/mal) wieder so gehen 5 wird. 6 (0.8) 7 I: ((schnalzt)) schön. 8 (0.4) 9 W: mh=ja; (--)(mh ja) und von DAher bin ich ganz 10 zufrieden, u:nd ich HOFfe natürlich auch dass es 11 lange früchte trägt. ne, 12 (0.8) ((Schniefen)) 13 das muss man, (.) wird sich ZEIgen; 14 (0.8) ((Schniefen)) 15
(2.5)
16 jetzt SO massiv, äh wie=ich=s (also wirklich) noch 17 nich geHABT habe; u:nd äh:: (--) .hhh mit 18 todesANGST, und (1.5) .h
.hhh (.) 19 ich konnte nich mehr LAUfen- ich konnte nich mehr 20 ESSen; (1.5) es ging aso (ne) weile 21 nix mehr;
(0.9) und es funktioNIERT alles 22 wieder; 23 (8.2) Noch bevor Frau Wiesinger die Symptome ihrer Angst oder Panik, die sie zunächst nicht benennt, sondern nur mit das (Z. 15) bezeichnet, aufzählt, bewertet sie sie als SO massiv, äh wie = ich = s (also wirklich) noch nich geHABT habe (Z. 16–17); diese Hochstufung wird noch gesteigert durch die Bezeichnung mit todesANGST. Dann folgt eine Liste von Symptomen, die aus drei Elementen besteht. Die beiden ersten beziehen sich auf konkrete Einzelheiten: ich konnte nich mehr LAUfen- ich konnte nich mehr ESSen, während das dritte davon abstrahiert, die Handlungsunfähigkeit verallgemeinert und dadurch die Dramatik des damaligen Zustands verstärkt: es ging aso (ne) weile ≪f > GAR > nix mehr. Auffällig ist nun im weiteren Verlauf des Gesprächs, dass Frau Wiesinger diese Wendung immer wieder gebraucht, wenn es um bestimmte Situationen geht, die mit Angst und Panik zu tun haben und die auch – wie in den Darstellungen von Frau Bäcker und Frau Spree – hochgestuft werden, meist durch Ausdrücke wie massiv oder wahnsinnig. Als sie zum Beispiel an einer späteren Stelle im
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Gespräch noch einmal die Angstzustände schildert, die zu dem Klinikaufenthalt geführt haben, benutzt sie eine ähnliche Listenstruktur wie oben: ich konnte mich nich mehr konzenTRIEr=n, es, .hh .hh es ging GAR nichts mehr; Diese Liste ist länger als die vorherige; das letzte Element lautet wiederum es ging GAR nichts mehr. Ähnlich wie bei Frau Kenton und auch bei Frau Spree konstituiert sich bei Frau Wiesinger im Gesprächsverlauf eine vorgeformte Struktur, auf die sie immer wieder zurückgreift. Diese Struktur wird nicht jedes Mal in einer identischen Formulierung realisiert, sondern mit leichten Abwandlungen; der Akzent liegt in den meisten Fällen auf gar. Die Struktur dient als Modell, an dem sich die Sprecherin orientiert. Wichtig ist nun, bei der Analyse genau hinzusehen bzw. hinzuhören, an welchen Stellen sie auf dieses Modell rekurriert. Einen besonders interessanten Fall bietet der folgende Ausschnitt aus einer späteren Phase des Gesprächs, etwa 25 Minuten nach Gesprächsbeginn, als der Interviewer Frau Wiesinger auf „normale“ Ängste anspricht, die das Leben so mit sich bringt, die nichts mit seelischen Belastungen zu tun haben. Daraufhin antwortet sie wiederum mit einer Aufzählung, die Angst vor bestimmten Menschen, Angst vor schlimmeren Erkrankungen, Angst vor Fahrstuhl- und Rolltreppefahren und Angst, allein zu sein, beinhaltet. Sie erzählt dann eine kurze Episode, als sie auf ihren Mann wartete, der mit dem Auto unterwegs war: Ausschnitt 4.2 (Frau Wiesinger) 1 W: das:: war auch vor:: vor einigen: äh: monaten, 2 (Aufziehen)) mh::: 3 (da wußt=ich) er kam aus der schweiz zurück, und ich 4 saß:: am küchentisch und hatte:: nachrichten an, (--) 5 im radio, und ich wusste dann und dann, (--) musste er 6 ungefähr da sein? (--) und dann (gab=m wa') gabm se=n 7 SCHWEren verkehrsunfall durch; 8 un da hab ich sofort Angerufen im auto 9 (-) hm er GING nicht dran; 10 (2.1) ((schnalzt))
11 NA ja; da=nn hab=ich mich
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12 ERST noch versucht zu beruhigen, k=kann ja auch nen 13 KAffee getrunken (sein),
15 hab auch auf 17 seine MAILbox (.) gesprochen, und dann ruft er 18 normalerweise sofort AN- und es TAT sich nichts. (.) 19 (--)
20 ; (1.3) also dann gerat ich in (.) PAnik 21 ohne ende; [(1.2) (weil ich dann) es 22 I: [mh; ja dfs is schon auch:: 23 W: is:: so, jetz is was pasSIERT und das .h ↓warn TOdesfälle dabei, (…) In dieser Erzählung, die ein Beispiel für eine „normale“ Angst geben soll, rekonstruiert Frau Wiesinger narrativ die Situation des Wartens mit ihren einzelnen Handlungsschritten (Z. 3–9) und Interpretationsversuchen (Z. 10–16). Sie kontrastiert das Verhalten des Ehemanns in der Situation mit dem „Normalfall“ (Z. 17–18). Angst wird in dieser Sequenz nicht benannt, sie wird aber durch die Nennung der kontrastierenden Emotion sich beruhigen und durch die detaillierte Rekonstruktion, die zum Teil auch in Form einer Auflistung erfolgt, kommunikativ dargestellt. Eine genaue Analyse der prosodischen und stimmlichen Mittel könnte die Darstellung der Angst hier noch vertiefen, sie kann aber in diesem Rahmen nicht geleistet werden (ein Beispiel dafür findet sich in Gülich und Couper-Kuhlen 2007). In Zeile 18 wird die Rekonstruktion der konkreten Einzelheiten abgebrochen; es folgt eine Reihe von vorgeformten Ausdrücken, deren erster und es TAT sich nichts sich noch unmittelbar auf die erzählte Situation (das vergebliche Warten auf einen Rückruf des Ehemanns) bezieht, während der zweite in der schon mehrfach verwendeten vorgeformten Struktur besteht: ≪pp > ja und dann > (-–) ≪p > dann ging GAR nichts mehr > ≪ pp > bei mir >; (1.3) (Z. 19–20). An dieser Stelle ist ein Wechsel in der Lautstärke zu beobachten, der für Frau Wiesinger charakteristisch ist: An den entscheidenden, angstbesetzten Stellen spricht sie in der Regel leiser. Eingeleitet wird der vorgeformte Ausdruck durch das typisch narrative Verknüpfungselement und dann, das durch die Einleitung ja und das leisere Sprechen auf einen Höhepunkt hindeutet. Der aber besteht nicht in der Rekonstruktion eines konkreten narrativen Ereignisses, sondern in dem verallgemeinernden dann ging GAR nichts mehr. Darauf folgt eine Pause, und dann wird die Panik explizit benannt: also dann gerat ich in (.) PAnik ohne ende (Z. 20–21). Dabei tritt die Erzählerin mit dem Tempuswechsel ins Präsens aus dem Muster der narrativen Rekonstruktion heraus und gibt der Äußerung über das Panikgefühl, die auch wieder einen vorgeformten
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Ausdruck (ohne ende) enthält, verallgemeinernden Charakter. Bemerkenswert ist nun nicht nur, dass sich an dieser Stelle der Erzählung die vorgeformten Ausdrücke häufen, sondern vor allem, dass hier in einer Beispielerzählung für „normale“ Angst die für Panik typische vorgeformte Struktur verwendet wird und die explizite Benennung als Panik vorbereitet. Danach kehrt die Erzählerin wieder zur narrativen Rekonstruktion zurück: das .h warn Todesfälle dabei (Z. 23). Kurz darauf, nach mehrfachen, insistierenden Nachfragen des Interviewers, erzählt Frau Wiesinger eine weitere Episode als Beispiel für „normale“ Angst, nämlich einen Autounfall, bei dem ihr drei Kinder ins Auto gelaufen sind. Dabei verwendet sie dieselben Verfahren: Nach einer – in diesem Fall eher zusammenfassenden – Rekonstruktion des Unfalls wechselt sie ins Präsens und thematisiert die Konsequenzen der damaligen Erfahrung: und seitdem FAHR ich auch kein auto mehr. Nach einer Ratifizierung durch den Interviewer folgt dann – wiederum mit leiserer Stimme – die Verallgemeinerung: sobald was von RECHTS kommt, äh (-–) ≪p > geht bei mir NICHTS mehr; > . Die Fortdauer der Angst über dieses (lange zurückliegende) Erlebnis selbst hinaus wird in dieser Gesprächssequenz von den Gesprächspartnern ausdrücklich thematisiert; dabei kommt es zu einem Missverständnis: Ausschnitt 4.3 (Frau Wiesinger) 1 W: (2.3) und das verges2 ich KANN das nich vergessen 3 I:
; 4 W: dieses erLEBnis; 5 (3.6) 6 hmhm\/ 7 (9.6) 8
angst über die 10 STRA::ße zu gehen; ne? (1.5) s war ganz SCHLIMM die 11 die ersten (--) ersten WOCHen; ne? (-) i=ich wusste 12 nich wie ich über de STRAsse kommen sollte; 13 I: nach diesem::[(a::) 14 W: [ja, jetzt seitDEM ich HIER bin, ne? 15 (---) 16 I: ach so; ich dachte DAmals seit diesem unfall; mit den 17 drei [kindern; 18 W: [ .hh äh ich konnt- ich wußt NICH wie 20 (man über die) straße gehen sollte;
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Mit dieses erLEBnis (Z. 4) verweist Frau Wiesinger eindeutig auf den vorher erzählten Unfall. Als sie dann nach einer längeren Pause (Z. 5–7) von ihrer Angst spricht und den aktuellen Zeitpunkt (JETZ, Z. 9) einem früheren, nämlich den ersten WOCHen (Z. 11), gegenüberstellt, setzt der Interviewer zu einer Präzisierung an (Z. 13 nach diesem), die sich offenbar auf den zuletzt genannten Zeitraum bezieht. Die Patientin bestätigt mit: ja, aber der Zusatz jetzt seitDEM ich HIER bin, ne? zeigt, dass sie von einer ganz anderen Zeit, nämlich dem Beginn ihres Klinikaufenthalts vor einigen Wochen spricht. Mit seinem nächsten Redebeitrag klärt der Interviewer das Missverständnis auf: ach so; ich dachte DAmals seit diesem unfall (Z. 16), woraufhin Frau Wiesinger die Parallelen zwischen den beiden Situationen (erst und JETZ) feststellt (Z. 18–20); die Zeit nach dem Unfall, die Jahre zurückliegt, und jetz die letzte zeit, das heißt vor einigen Wochen, wurden offenbar so ähnlich erlebt, dass sie in der Darstellung – zumindest für den Rezipienten – miteinander verschmelzen. Fazit: In Frau Wiesingers Darstellung ist in beiden Beispielen ein stufenloser Übergang zwischen Panik und „normaler“ Angst und zu beobachten, der erkennbar ist an dem Tempuswechsel ins Präsens und der Verallgemeinerung mit Hilfe vorgeformter Strukturen. Offenbar orientiert sie sich bei der Darstellung „normaler“ Angst an demselben Modell wie bei der Darstellung ihrer Panikattacken. „Normale“ Angst und Panik scheinen ineinander überzugehen; Angstzustände aus verschiedenen Lebensphasen vermischen sich in der narrativen Rekonstruktion. Eine konkrete, in einer bestimmten Situation lokalisierte Angst wird vom ursprünglichen Erlebnis abgelöst und verselbstständigt sich. Dies führt unter Umständen zu immer größeren Einschränkungen im täglichen Leben (z. B. nicht mehr Auto zu fahren). Dieser Prozess lässt sich durch die Analyse des Gesprächstranskripts auch linguistisch rekonstruieren; die sprachliche bzw. kommunikative Darstellung lässt eine Generalisierung „normaler“ Angst erkennen, die sich als Angststörung manifestiert.
4 Auswertung Die vier Fallanalysen und der Vergleich zwischen den vorgestellten Patientinnen haben schon einige Hinweise auf Auswertungsmöglichkeiten der Analysen gegeben. Ich möchte aber einen Schritt weiter gehen und noch einige allgemeinere Perspektiven andeuten, und zwar unter einer doppelten Fragestellung. Im
4 Auswertung
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Kontext der Untersuchungen zur Vorgeformtheit lautet meine Frage: Worin liegt der Gewinn der Analyse von Gesprächen aus solchen Corpora, wie ich sie hier genutzt habe, für das Konzept der Vorgeformtheit oder für unser Wissen über den Rekurs auf Vorgeformtes im Gespräch? Im Kontext der Angstforschung und/oder der Behandlung von Angsterkrankungen ist zu fragen, ob die Analyse der Gespräche unter dem Aspekt der Vorgeformtheit geeignet ist, das Wissen über Angst und Angstkrankheiten zu erweitern und einen Beitrag zur Diagnose und Therapie dieser Erkrankungen zu leisten. Zur Frage der Weiterentwicklung des Konzepts der Vorgeformtheit und der Orientierung am Modell ist vorab zu sagen, dass diese Konzepte wie auch die Einbeziehung individueller Modelle in die Untersuchung bereits aus Corpusanalysen entwickelt worden sind. Sie können wohl auch nur aus der Analyse natürlicher Daten gewonnen werden (vgl. z. B. auch Quasthoff, 1993 zu Vielfalt und Konstanz). Deutlich wird in den Analysen der Gespräche auch, dass die Modelle sich in ihrer Reichweite für die Lösung von Formulierungsaufgaben unterscheiden. Das Bild einer schwarzen Decke, die auf die Patientin herunterfällt, bei Frau Bäcker hat eine geringere Reichweite, das Bild der Welle, das im Zusammenhang mit volle palette von Frau Spree entwickelt wird, eine größere. Von der Reichweite zu unterscheiden ist die Rekurrenz bestimmter Strukturen, von denen manche sich erst durch die wiederholte Verwendung im Gesprächsprozess als vorgeformt konstituieren, wie vor allem bei Frau Kenton und Frau Wiesinger gut zu beobachten ist. Der wichtigste Erkenntnisgewinn für das Konzept Vorgeformtheit aus der Arbeit an Corpora aus natürlichen Interaktionen liegt also meines Erachtens weniger darin zu ermitteln, welche vorgeformten Strukturen vorkommen und wie hoch ihr Anteil im Gesamtgespräch ist, als darin, zu beobachten und zu beschreiben, wie auf sie rekurriert wird, an welchen Stellen im Gespräch sie eingesetzt werden, wie sie interaktiv konstituiert, entwickelt und bearbeitet werden. In dieser Hinsicht zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen Frau Bäcker und Frau Spree einerseits und Frau Kenton und Frau Wiesinger andererseits. Um die Funktionen, die vorgeformte Strukturen erfüllen, herauszuarbeiten, stellt die Analyse konversationeller Materialien ebenfalls eine grundlegende Voraussetzung dar, denn Funktionen sind in erster Linie situiert und kontextgebunden; insofern können sie hier nur exemplarisch herausgearbeitet werden. Allerdings haben verschiedene Typen vorgeformter Ausdrücke ebenso wie verschiedene Verwendungsweisen unterschiedliche Funktionspotenziale, das heißt, Gemeinplätze zum Beispiel eignen sich von ihrer Form her für andere Funktionen als etwa bildliche Redewendungen oder Konstruktionen wie ich bin der Typ,
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der . . .. Um solche Funktionspotenziale herauszuarbeiten, sind differenzierte Einzelanalysen erforderlich (wie z. B. die von Birkner 2006 zu ich bin n=mensch der . . .). Möglicherweise lassen sich auf dieser Grundlage dann auch allgemeine, kontextunabhängige Funktionen zuschreiben. Die Frage nach dem Gewinn der Analysen für die Angstforschung und/oder die Behandlung von Angsterkrankungen lässt sich nur im Kontext interdisziplinärer Forschung sinnvoll stellen; hier kann nur angedeutet werden, in welche Richtung die bisherigen Ergebnisse weisen. Dazu ist ein kurzer Rückblick erforderlich: In dem früheren Forschungsprojekt Linguistische Differenzialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen – diagnostische und therapeutische Aspekte wurden bereits vereinzelt Beobachtungen zum Rekurs auf Vorgeformtes bei bestimmten Anfallspatienten gemacht (vgl. Gülich und Schöndienst 1999). Da aber zunächst keine Systematik zu erkennen war, wurde dieser Aspekt nicht konsequent weiterverfolgt als mögliches differenzialdiagnostisches Kriterium; es wurden lediglich Beobachtungen zu einzelnen Patientinnen festgehalten. In der Arbeit der ZiF-Kooperationsgruppe Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst. Exemplarische Untersuchungen zur Bedeutung von Affekten bei Patienten mit Anfallskrankheiten und/oder Angsterkrankungen sind wir dann wieder auf den – in einigen Gesprächen sehr auffälligen – Rekurs auf Vorgeformtes gestoßen. Den im vorliegenden Beitrag referierten Beobachtungen liegen insgesamt 10 Gespräche mit Patientlnnen aus beiden Projektcorpora zugrunde (von denen ich 4 hier vorgestellt habe). Bemerkenswert ist nun, dass alle diese Patientinnen zu ein und derselben Gruppe gehören, nämlich zu den Patient Innen mit nicht-epileptischen und/oder Angstanfällen (auch wenn sie – wie z. B. Frau Kenton – zunächst als epileptisch diagnostiziert waren). Ihnen gegenüber steht eine andere Gruppe, die sich linguistisch gesehen – durch Verfahren auszeichnet, welche in deutlichem Gegensatz zum Rekurs auf Vorgeformtheit stehen, nämlich die Darstellung intensiver Formulierungsarbeit zum Beispiel durch Reformulierungen (vgl. Gülich und Schöndienst 1999), durch Verwendung von Metaphern (vgl. Surmann 2005) und durch metadiskursive Kommentare in Verbindung mit der Inszenierung von Formulierungsschwierigkeiten, mit denen die Unbeschreibbarkeit der Angst- oder Anfallsempfindungen geltend gemacht wird (vgl. dazu Gülich und Furchner 2002; Gülich 2005; Gülich und Couper-Kuhlen 2007). Diese Gruppe leidet an epileptischen Anfällen, die sich in vielen Fällen durch eine bestimmte Art von Vorgefühlen, sog. Angst-Auren, ankündigen. Manchmal stufen allerdings auch Panikpatienten ihre Attacken als schwer beschreibbar ein (vgl. Günthner 2006, die diese Kommentare als charakteristisch für Extremerfahrungen beschreibt), aber die für Epilepsiepatienten typische Arbeit an der Formu-
4 Auswertung
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lierung ist bei ihnen nicht zu finden. Zwar liegen noch keine Auswertungen einer größeren Zahl von Gesprächen vor, aber unsere bisherigen Untersuchungen zeigen, dass die Schilderungen der Angst in den beiden Gruppen deutliche Unterschiede aufweisen. Sollten sich die Ergebnisse bestätigen, könnte auch der Rekurs auf Vorgeformtes – ebenso wie Reformulierungen, Metaphern, die Inszenierung von Unbeschreibbarkeit u. a. – als differenzial diagnostisches Kriterium genutzt werden (vgl. die Übersicht über die bisher gefundenen differenzialdiagnostisch relevanten Merkmale bei Surmann 2005, 169; die Grundgedanken dieses Ansatzes skizziert Schöndienst 2002). Immerhin kann auch jetzt schon die Frage gestellt werden, inwieweit der Rekurs auf Vorgeformtes bzw. die Orientierung an Modellen zu anderen Beobachtungen zu derselben Patientengruppe und darüber hinaus auch zum Krankheitsbild passt. Bei Patienten mit nicht-epileptischen Anfällen – häufig handelt es sich dabei um Angstanfälle – haben wir beobachtet, dass sie nur geringe Formulierungsarbeit leisten. Sie rephrasieren eher, als dass sie reformulieren; wenn sie reformulieren, dann tun sie es eher variationsarm, das heißt, sie arbeiten nicht oder nur wenig an der Formulierung. Sie listen eher Symptome auf, als dass sie sie differenziert zu beschreiben versuchen. Sie haben eine Tendenz zu verallgemeinernden Darstellungen (häufig man). Die Untersuchungen von Surmann (2005) zur Metaphorik haben gezeigt, dass der Metapherngebrauch bei dieser Gruppe inkonsistent ist und dass sie vielfach verhüllende Metaphern gebrauchen. Diese Beobachtungen scheinen zumindest auf den ersten Blick zum Rekurs auf Vorgeformtes zu passen. Nun hat sich in den vorstehenden Beispielanalysen gezeigt, dass von vorgeformten Strukturen in durchaus unterschiedlicher Weise Gebrauch gemacht wird: – Frau Bäcker, Frau Spree und Frau Wiesinger verwenden sie vorwiegend bei der Schilderung der Panikattacken selbst, Frau Kenton vorwiegend in Situationen, in denen Gefühle thematisiert werden könnten oder sollten. Dazu gibt es auch bei Frau Wiesinger einige Beispiele: Als der Interviewer an einer Stelle ihre Darstellungsweise als SO strahlend kommentiert, sagt sie: ≪p > das WAR nicht strah > lend, aber ich will GAR nich mehr weinen; (--) (. . .) überhaupt nich mehr; (. . .) ≪pp > ich hab geNUCH geweint > (1.1) ((Schniefen)) (3.3) DAS war schlimm (-) (wirklich) also ich möchte das NICH noch mal mitmachen, in meinen Leben; (2.8) ((Schnalzlaut)) aber es wird immer höhen und tiefen GEben, und . hhh äh = (man/ich) muss einfach LERnen auch (.) damit umzugehen; ne. – Frau Bäcker, Frau Spree und Frau Wiesinger nutzen vorgeformte Strukturen zur Relevanzhochstufung, für Frau Kenton ist ein Wechsel zwischen Hoch- und Rückstufung charakteristisch;
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– Frau Bäcker und Frau Spree orientieren sich hauptsächlich an konventionalisierten Modellen, Frau Kenton und Frau Wiesinger eher an individuellen. Da die Grenzen zwischen konventionalisierten und individuellen Modellen fließend sind, ist die Relevanz dieser Unterscheidung allerdings zurzeit noch nicht abzusehen. Aus gesprächsanalytischer Sicht lassen sich also möglicherweise noch Untergruppen bei den Angst-Patientinnen (mit nicht-epileptischer Angst) unterscheiden: Patientinnen mit Panikattacken (Bäcker, Spree, Wiesinger) gegenüber solchen mit anderen Angststörungen oder auch mit nicht-epileptischen Anfällen, bei denen auch Angst eine Rolle spielt (Kenton). Um dazu Genaueres sagen zu können, sind jedoch weitere Untersuchungen erforderlich. Man kann aber bereits festhalten, dass die Art und Weise, wie Frau Kenton vorgeformte Strukturen einsetzt, zum Krankheitsbild von Patienten mit dissoziativen Anfällen passt. Schöndienst (2001, 82) beschreibt bei einer anderen Patientin mit dieser Erkrankung „eine komplette Abdankung reflexions- und handlungsfähiger Ich-Anteile“ sowie die „Delegation fast jeglicher Differenzierungsarbeit ans Gegenüber“. Dadurch stellt die betreffende Patientin eine „Verschiebung selbstreflexiver Funktionen in den (Gesprächs-) Partner im Sinne einer für solche Personen habituellen Abwehrform her und bildet sie zugleich ab“. Patientinnen wie Frau Kenton machen durch den Rekurs auf Vorgeformtes ein anderes lnteraktionsangebot als diejenigen, die ihre Panikattacken durch vielfältige kommunikative Mittel hochstufen. Damit lässt sich neben der differenzialdiagnostischen auch die Möglichkeit einer differenzialtherapeutischen Nutzung solcher Analysen ins Auge fassen, das heißt die Möglichkeit, aus der Beschreibung des Kommunikationsverhaltens psychotherapeutische Interventionen zu entwickeln. Die Frage der Einordnung gesprächsanalytischer Beobachtungen in das über die betreffenden Störungen bereits vorhandene Wissen wäre also zu ergänzen um die Frage, welche neuen Erkenntnisse über die einzelnen Patienten ebenso wie über die Erkrankung man ggf. durch solche Analysen gewinnt und in welcher Weise die Analyse der Gespräche das vorhandene Wissen ergänzt, manchmal vielleicht auch korrigiert. Es gibt eine ausgefeilte Angstdiagnostik mit einer großen Zahl von Kategorien, denen die Störungen der PatientInnen auf der Grundlage der verschiedensten diagnostischen Verfahren zugeordnet werden können. Nicht berücksichtigt wird dabei, wie die Patienten über ihre Angst reden, wie sie ihre subjektiven Empfindungen dem Gesprächspartner kommunikativ vermitteln, wie sie Angsterfahrungen und -erlebnisse erzählen. Erste gesprächsanalytische Untersuchungen (wie z. B. Capps und Ochs 1995; Egbert und Bergmann 2004; Deppermann und LuciusHoene 2005; Streeck 2006; Gülich und Couper-Kuhlen 2007) zeigen, dass Patienten
Literatur
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über ein höchst differenziertes Instrumentarium verfügen, dessen Beschreibung auch im klinischen Kontext von Interesse sein dürfte. Angesichts der großen und ständig wachsenden Zahl von Angsterkrankten sollte daher die Möglichkeit, auch die Verfahren der kommunikativen Darstellung in die oft schwierige und langwierige Differenzialdiagnostik einzubeziehen, nicht ungenutzt bleiben.
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Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlags. Erstveröffentlichung des Beitrags in: Psychotherapie & Sozialwissenschaft. 2007, 9.1, 59–87.
Communicating emotion in doctor-patient interaction: A multidimensional single case analysis together with Katrin Lindemann
1 Introduction In this paper1 we show how a patient’s feelings of fear are expressed through diverse communicative resources and how this expression develops in the conversational process. The patient in question is a woman suffering from various types of epileptic seizures. Her case being a complicated one, she has received several different diagnoses over a long period of treatment. In the context of her seizures, fear plays a prominent, although clinically still undefined role.
1.1 Research context The analysis presented here is embedded in the larger framework of the interdisciplinary research project Communicative description and clinical representation of fear, carried out in 2004 by a specialist group comprising linguists, sociologists, psychiatrists, neurologists and psychotherapists at the Centre for Interdisciplinary Research at the University of Bielefeld.2 The main focus of this project was on the accounts patients give of their fear or panic attacks, the assumption being that the frequent lack of diagnostic information and the unsatisfactory treatment of patients suffering from fear or anxiety disorders are to a large extent due to a lack of knowledge about the communicative means patients use in describing their subjective feelings of fear (cf. Gülich and Schöndienst 2005).
1 Using a case study, we show how in the process of repeated narration of an episode a recontextualization of this episode is developed: The physician in charge decisively contributes to opening the possibility of interpreting the patient’s leaving her home as a meaningful reaction to the fear of death she has experienced. The analysis also shows the relevance of linguistic, vocal and physical resources in their interaction unfolding in multimodal gestalts. We would like to thank the editors Dagmar Barth-Weingarten and Elisabeth Reber, as well as our anonymous reviewers, for their comments on earlier drafts of this paper, which contributed to sharpening our analysis. 2 For further information see www.uni-bielefeld.de/ZIF/KG/2004Angst/ (27.01.2020). https://doi.org/10.1515/9783110685664-012
300
Communicating emotion in doctor-patient interaction
Two groups of patients were studied: patients with epileptic fear and patients with panic attacks. For both of these groups, an exact diagnosis tends to be very difficult, and they are often confused with each other (cf. Schmitz and Schöndienst 2006, 146). The main purpose of the project was to find out what resources patients use to communicate fear and to see whether certain types of description can be linked to certain types of fear. Thus the motivation for a detailed study of patients’ descriptions of symptoms was the assumption that it might provide useful information for diagnostic processes.3
1.2 Data Two hospitals were involved in this study: a facility specializing in epilepsy and a psychiatric hospital. In order to obtain spontaneous descriptions of the illness, the interview was to be the first encounter between patient and doctor. Each patient was therefore interviewed by a doctor from the other facility. The interviews were conducted following certain guidelines, the most important among them being that the interviewer should start with an open question, thereby encouraging the patient to report what seemed important or relevant to her/him and to give exhaustive descriptions of these topics.4 Based on the medical history, each patient interviewed was expected to suffer from fear or panic attacks, however, the interviewer did not mention this at the outset; the idea was to see whether or not the patient would spontaneously bring up the topic. If the aspect of fear did not occur in the patient’s description within about 20 or 30 minutes, it was then mentioned by the interviewer. Describing and processing the highly subjective sensation and perception of fear often proved to be a difficult task for both doctors and patients participating in the encounters. The interview presented here is conducted by a doctor from a psychiatric hospital who talks to an in-patient of an epilepsy centre. The patient with the 3 The idea that linguistic analyses might contribute to medical diagnoses arose from a previous project which was concerned with the conversational methods patients suffering from epilepsy or other kinds of seizures use in describing their seizures. It has been shown that there are conversational patterns typical of one or the other type of seizure. For general information on this project see: www.uni-bielefeld.de/lili/forschung/projekte/epiling/ (31.01.2020); for results concerning linguistic contributions to differential diagnosis see e.g. Schöndienst (2002); Schwabe et al. (2008); Surmann (2005). The same type of research but with English patients is conducted by Marcus Reuber (Sheffield); see Plug et al. (2009); Schwabe et al. (2007). 4 The technique of asking an open question at the beginning of a medical interview and the different ways in which patients use this “open space” are explained in more detail in Gülich et al. (2003); Plug et al. (2009); Schöndienst (2002).
1 Introduction
301
pseudonym Ms. Korte is a 58-year-old woman from Poland who has been living in Germany for a long time and is used to speaking German in the context of her illness. She speaks German fluently, but her use of grammar and lexis sometimes differs from that of native speakers; she also has a strong Polish accent. The interviewer at times displays some difficulties in understanding Ms. Korte by using numerous reformulations, repair initiations, etc.
1.3 Previous research on fear In previous research on fear and panic attacks, little attention has been paid to the communicative resources used for the description of these emotions. One exception is the elaborate case analysis by Capps and Ochs (1995a, 1995b) of an agoraphobic woman’s communicative representation of her panic attacks.5 However, the analysis of multimodal aspects, which are crucial for the communication of emotion, is still at its beginnings, even if their importance has been generally recognized (cf. Fiehler 2001). Thus Drescher (2003) emphasizes “[d]ie herausragende Bedeutung der Stimme in ihren paraverbalen und konventionalisierten Facetten für den Ausdruck von Emotionen” (Drescher 2003, 91) (‘the outstanding importance of the speaker’s voice in its paraverbal and conventionalized aspects for the expression of emotion’; our translation). In describing the expression of reproach in everyday communication, Günthner (2000, 88, 91, 97 and 128–153) presents detailed analyses of the reproachful voice (vorwurfsvolle Stimme). For the expression of fear, an analysis of multi-modal resources including prosodic aspects was first attempted by Streeck and Streeck (2002) and by Gülich and Couper-Kuhlen (2007). At the center of our analysis is the interplay of different communicative resources used to express fear. Research on emotion often deals with the emotion present in the actual conversation. In our analysis we do not examine current fear which is described or expressed but the narrative reconstruction of past fear which is interactively made relevant by the participants. We thus take the verbal dimension as a starting point, to then go and look at other resources involved. Prosody, though it is an important element of emotional expression, we will not study in any detail; not only because we do not specialize in this field but particularly, because we do not want to consider each level of expression individually: Our aim is to describe the interplay of
5 Recent research on German data shows the importance of linguistic means and the variety of techniques in the description of fear and panic, e.g. Gülich and Couper-Kuhlen (2007); Günthner (2006); Lindemann (2012); Schwabe (2006, 252–280), Surmann (2005, 325–330).
302
Communicating emotion in doctor-patient interaction
resources. We therefore consider prosodic elements as an integral part of a multi-modal gestalt (Dausendschön-Gay and Krafft 2002).
1.4 Method In this article, we use the method of single case analysis in the framework of conversation analysis (cf. Whalen et al. 1988; Schegloff 1987). In order to analyze the gradual process of expressing fear, we will present a sequential analysis of two extended sequences from the same interview. We have chosen these examples because they are impressive illustrations of the difficulty, length and complexity which the process of conversational treatment of fear can hold.6 The narrative reconstruction of a particular episode (the patient runs out of the house during a seizure) plays an important part in the expression of fear in this conversation. Our analysis therefore focuses on the sequences relating this particular episode, and we ask: How does this particular patient express fear? By what conversational devices is fear expressed even while not being named? And how does the expression of fear develop in the course of the conversation? We analyze the two sequences in the order of their occurrence in the interview. For reasons of clarity, we present them divided into five excerpts (two excerpts for the first sequence, three for the second). In the first sequence, which is taken from the first few minutes of the interview, the episode of the patient running out of the house is mentioned for the first time. After a brief summary of the results of this first analysis, we pass on to the second sequence, much later in the interview, where the episode is retold in a different context. Finally, we compare the two versions of the episode, summarize the main differences and then show the development in the expression of fear during the conversational process. As the data are in German, we have added an interlinear translation to the transcripts.7
6 These excerpts are also presented in Gülich and Lindemann (2010) with emphasis on the process of establishing and refining knowledge in interaction. 7 For reasons of correctness the relevant non-vocal phenomena with their beginning and ending are noted (in English) below the original German verbalizations, not below the English translation.
2 Analysis
303
2 Analysis 2.1 The first sequence: Narrative reconstruction of a seizure episode (running-out-of-the-house) In this section we show how the patient builds a reconstruction of situations that seem to be closely connected with certain emotions, without, however, making explicit mention of the emotions concerned. The doctor begins the thematic part of the interview by an open question (not shown here) to encourage the patient to talk freely, in order to be able to establish the nature of her problem. By doing so, the doctor builds a conditional relevance for Ms. Korte to produce a multi-unit turn (cf. Schegloff 1982, 75). Ms. Korte answers hesitantly. By saying (Z. 51). Gleichzeitig mit der Ratifizierung durch die Interviewerin beginnt sie eine Reformulierung (das
2 Analyse von Gesprächsausschnitten
389
heiß, Z. 53). Auch hier spricht sie langsam und zögernd, beginnt eine syntaktische Struktur, bricht sie ab und wechselt dann die Konstruktion (Z. 54). Es folgt eine selbstinitiierte Konkretisierung und Detaillierung mit iterativer Rekonstruktion (IMmer (.) meistens) von sich wiederholenden Anfallsepisoden (Z. 54–59) (vgl. Gülich 2005; Lucius-Hoene und Deppermann 2004). 2.1.1 Narrative Rekonstruktion einer Anfallsepisode (Aus-dem-Haus-laufen) Ausschnitt 2 (Frau Korte I, Z. 61–73) 61 K: 62 (–––) nachHER, 63 (-) (und) da:: (–––) 64 den: glaub=ich schon=ge schon geSAGT,= 65 =dass ich hatten (2.5) auch so=was dass ich aus dem HAUS laufe; 66 (––) 67 K: i war schon: (.) i=der in der nacht bei BAUerHOF, 68 .hh das war (–––) knapp (.) zwölf UHR, 69 (2.0) weil=ich=s a´ (.) allEIne (war=i´) in in der WOHnung, 70 mein sohn war in ausTRAlien,= 71 =da hat=er stuDIERT, 72 (-) .hh ((leicht seufzendes Ausatmen)) \_/ \ I schaut von ihren Notizen hoch, zu K, zieht „erstaunt“ die #Augenbrauen hoch und nickt 73 K: (1.5) u::nd jetzt is=er DA/\/ Mit der Äußerung da=war MEHR, > ( – ) nachHER, (Z. 61–62) bezieht Frau Korte sich zurück auf die Rahmeneröffnung durch DA:S einfach is so (.) HARMlos Angefangen (Z. 51) und kündigt eine Fortsetzung der Krankheitsgeschichte an; der Übergang von HARMlos zu MEHR deutet auf eine Verschlimmerung hin. Sie schließt mit einem typischen Erzählkonnektor (und) da:: an, bricht aber ab und schiebt eine Äußerungseinheit ein, mit der sie das Folgende als Reformulierung bzw. als bereits erzählte Episode präsentiert (≪all > i hab > den: glaub=ich schon=ge schon geSAGT, Z. 64). Sie setzt mit dass ich hatten (Z. 65) zu einer narrativen Rekonstruktion an, deren iterativer Charakter durch so=was und durch den Wechsel ins Präsens (dass ich aus dem HAUS laufe’) deutlich wird. Darauf folgt dann die Fokussierung einer singulären Episode durch temporale
390
Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch
und lokale Situierung: i war schon: (.) i=der in der nacht bei BAUerHOF, .hh das war ( – ) knapp (.) zwölf UHR,. Daran schließt sie zunächst eine Begründung an (Z. 69), die das Hinlaufen zum Bauernhof als Suche nach Kontakt deutet, und schiebt dann eine kurze Nebensequenz mit einer Erklärung ein (mein sohn war in ausTRAlien, Z. 70), die sie mit veränderter Stimme und Sprechweise expandiert (jetzt is=er DA). Damit wird ein scheinbar nebensächliches Detail relevant gesetzt, die Ab- bzw. Anwesenheit des Sohnes, bevor Frau Korte die Rekonstruktion der Episode nachts auf dem Bauernhof fortsetzt: Ausschnitt 3 (Frau Korte I, Z. 74–99) 74 K: (2.5) u::n:d=äh::m (.) 75 JA; 76 (1.5) 77 K: hab=ich LICHT gesehn,= 78 =hab=ich geSCHELLT, 79 .hh dann: (2.0) ziemlich (–––)ziemlich lange hat 80 das geDAUert,= 81 =bis ich mi erinnert habe wo i WOHne,= 82 K: =und wie=i HEIß. 83 (3.0) 84 I: ((Schnalzlaut)) = 85 = 86 (-) \_/ \ K: nickt 87 I:
88 (––) 89 K: 90 (–––) 91 K:
92 (2.0) 93 K: passiert(e) mi AUCH,= 94 =das:: äh DAS,= 95 = (1.5) 96 un=kann ich mich !I::!berhaupt 97 (.)
2 Analyse von Gesprächsausschnitten
391
98 K:
99 I: m=HM, Der Ansatz zur Fortsetzung der narrativen Rekonstruktion ist zunächst wieder durch deutliche Verzögerungen gekennzeichnet ((2.5) u::n:d=äh::m (.) JA (1.5)’), wird dann aber flüssiger (hab ich LICHT gesehn usw., Z. 77 ff.). Nach der vorherigen summarischen Darstellung beginnt Frau Korte hier, schrittweise den Ereignisablauf zu rekonstruieren (Licht sehen, schellen), spart aber dann weitere Handlungsschritte aus und kommt gleich zum Fazit, das heißt dem Bericht über die Dauer ihres Zustands, den sie von seinem Ende her betrachtet. Dabei wird die Dauer durch Akzentuierung (ziemlich LA:Nge) und Reformulierung (ziemlich lange, Z. 79) hervorgehoben. Nach einer Pause stellt die Interviewerin eine Nachfrage, die Frau Korte non-vokal mit einem Nicken beantwortet (Z. 86). Diese Antwort wird von der Interviewerin ratifiziert (Z. 87), und Frau Korte bestätigt ihrerseits die Ratifizierung (Z. 89). Damit ist ein potenzieller Abschluss der Sequenz erreicht. Nach einer kurzen Stille, die die Interviewerin nicht zur Übernahme des Turns nutzt, reformuliert Frau Korte die Beschreibung ihres Zustands, indem sie diesmal nicht dessen Ende, sondern den Zustand selbst charakterisiert (wusste i GAR nix;, Z. 91). Dabei ist ein Wechsel der Stimmlage zu beobachten: Frau Korte spricht leise, die Äußerung klingt resigniert. Von der Interviewerin erfolgt an dieser Stelle (Z. 92) keine Reaktion. Frau Korte setzt dann wiederum mit Verzögerungen (≪len > u::n:d=äh:m (3.0), Z. 93) zur Rekonstruktion eines weiteren Ereignisses an, erneut in der iterativen Form (ab und zu > passiert(e) mi AUCH,), gekennzeichnet durch einen Wechsel ins Präsens (dass ich mit jemanden: REde,, Z. 95). Hier geht es darum, dass Frau Korte mitten im Gespräch andere Menschen einfach sitzen lässt (Z. 93–117, z. T. nicht zitiert). Es folgt ein weiteres Beispiel für eine Fehlleistung: der Abschluss einer Versicherung unter ihrem Mädchennamen und der Adresse, wo sie mit ihrem (verstorbenen) Mann gewohnt hatte (Z. 118–130, nicht zitiert). Frau Korte kommt dann auf ihre biographische Situation zu sprechen, die Erziehung der Söhne, eine geschäftliche Katastrophe infolge eines Betrugs durch ihre Angestellte im Friseurgeschäft – dies ist eine auffallend lebhafte und geschlossene Erzählung (Z. 132–160, hier nicht zitiert) – und schließt den eröffneten Rahmen (DA:S einfach is so (.) HARMlos ANgefangen, Z. 51) mit u: nd = äh (.) un=seitDEM (.) GEHT das den ganzen theater; ne, (Z. 159–161). Die Episode über das Aus dem Haus Laufen ist lokal gerahmt durch die Äußerung über das Fortschreiten der Anfallserkrankung (da war mehr nachher, Z. 61–62), die einen Gegensatz zum „harmlosen“ Anfang bildet. Sie ist global eingebettet in
392
Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch
eine Gesprächssequenz, die durch die offene Frage der Ärztin initiiert wird, durch die Frau Korte aufgefordert wird zu sagen, was ihr wichtig ist. Die anschließend angeführten Beispiele stellen die Episode rückwirkend in den Kontext von Fehlleistungen im Anfall. Bei der Rekonstruktion der Episode wird besonders die Unmöglichkeit, sich zu erinnern (Z. 79–91), hervorgehoben, und zwar durch Rekurs auf verbale Formulierungsverfahren (Reformulierungen, vgl. Gülich 2002), durch stimmliche (Betonung) und durch mimische und gestische Ressourcen (Mundbewegung vor Beginn, Handgestik). Dabei ist zu beachten, dass Frau Korte im Allgemeinen sehr ruhig auf ihrem Stuhl sitzt. Die Unfähigkeit, sich zu erinnern, wird in der Rekonstruktion der darauf folgenden Episode (andere Personen im Gespräch einfach stehen lassen) ebenfalls auf der paraverbalen Ebene in sehr auffälliger Weise hervorgehoben: un=kann ich mich !I::!berhaupt ≪dim, knarrend > nich erINnern; > (Z. 96). Im Zusammenhang mit Hervorhebungen sind auch das Blickverhalten und speziell die Blickrichtung interessant: In dieser ersten Phase des Gesprächs blickt Frau Korte häufig vor sich hin, in ihren Schoß, so dass sie selbst kaum Blickkontakt mit der Interviewerin aufnimmt, sondern die meiste Zeit links an dieser vorbei blickt. Umso mehr fällt auf, dass sie sie an bestimmten Stellen ansieht und dabei deutlich den Kopf hebt und zu ihr hinwendet. Diese Veränderung im Blickverhalten ist vor allem an zentralen Punkten – im Zusammenhang mit Wortbetonungen – in der Episode der Fall (z. B. bei dass ich aus dem HAUS laufe, Z. 65, und zwölf UHR, Z. 68). Die Episode vom Aus dem Haus Laufen ist die erste episodische Rekonstruktion, die Frau Korte im Anschluss an den von der Interviewerin für sie eröffneten freien Erzählraum präsentiert, nachdem sie summarisch-iterativ das Umkippen rekonstruiert hat (immer, meistens, Z. 56). Durch die Platzierung als erste episodische Rekonstruktion im Rahmen ihrer Darstellung verleiht Frau Korte den geschilderten Ereignissen auf der Ebene der thematischen Organisation des Gesprächs besonderes Gewicht. Dieser Hervorhebung steht zum einen die erkennbar reduzierte Art der Darstellung gegenüber, die nicht nur auf der Ebene der Erzählstruktur selbst zu beobachten ist, sondern auch in Hinblick auf Detailinformationen und Ausdrucksressourcen. Zum anderen fällt auf, dass sowohl Frau Korte selbst als auch die Interviewerin dieser Episode interaktiv eher geringe Bedeutung verleihen: Frau Korte geht nach der kurzen Rekonstruktion relativ schnell zum nächsten Thema (Fehlleistungen) über; die Interviewerin stellt nur eine kurze verständigungssichernde Nachfrage, markiert die Episode aber nicht als „weiter-erzählenswert“ oder als Gegenstand potentieller konversationeller Bearbeitung. Auch dass diese Episode als eine Erscheinungsform von Fehlleistungen im Anfall das Bild von der Erkrankung vervollständigen könnte, wird nicht explizit zum Ausdruck gebracht.
2 Analyse von Gesprächsausschnitten
393
Im weiteren Verlauf des Gesprächs beschreibt Frau Korte ihre Anfälle im Zusammenhang mit ihrer Lebensgeschichte und ihrer aktuellen Situation. Dabei erzählt sie eine Reihe vermutlich extrem belastender Erlebnisse: eine geschäftliche Katastrophe durch den Betrug einer Angestellten, den plötzlichen Tod ihres Ehemannes, den Tod eines ihrer Söhne sowie den langen Sterbeprozess ihres Vaters, den sie gepflegt hat. Emotionen werden in dieser Phase kaum ausdrücklich thematisiert, es ist auch nicht von Angst die Rede; das Wort Angst wird nur an zwei Stellen mit Verweis auf andere Personen erwähnt: Frau Korte erzählt, dass sie gefragt worden sei, ob sie keine Angst habe in Bezug auf die Angestellte in ihrem Friseurgeschäft (die sie dann tatsächlich betrogen hat); weiterhin spricht sie davon, dass ihre Mutter Angst habe, dass die Tochter sie nicht besuchen kommt. Diese Angst der Mutter wird in einer kurzen Gesprächssequenz interaktiv bearbeitet. Nach etwa 30 Minuten ist ein Einschnitt im Gespräch festzustellen: Frau Korte hat zuletzt von ihren Kopfschmerzen gesprochen und beendet dieses Thema, indem sie ausdrücklich feststellt, seit längerer Zeit keine Kopfschmerzen mehr gehabt zu haben. Nach einer Pause von 3.4 Sekunden, in der die Interviewerin in ihren Aufzeichnungen blättert, leitet diese mit der Frage nach der Rolle von Ängsten im Leben von Frau Korte sowohl thematisch als auch gesprächsorganisatorisch eine neue Phase ein: Während vorher Frau Korte größtenteils selbstinitiiert erzählt hat, stellt jetzt die Interviewerin Fragen. 2.1.2 Beginn der Angstthematisierung Mit der Frage der Ärztin beginnt ein langer Prozess der Angstthematisierung, der an dieser Stelle nicht vollständig nachgezeichnet werden kann. Wir werden daher nur den Beginn dieses Prozesses genauer analysieren, um dann unsere Aufmerksamkeit wiederum auf eine episodische Rekonstruktion zu richten (siehe Tab. 1). Im Anschluss an den voranstehenden kommentierten Gesprächsausschnitt werden Ängste mit konkreten Bezugsobjekten interaktiv benannt und bearbeitet, und zwar zum einen – auf Initiative der Ärztin – die Angst, unabsichtlich im Supermarkt etwas zu stehlen (Frau Korte hatte vorher von derartigen Ereignissen gesprochen), und zum anderen – auf Initiative der Patientin – deren Angst bei unvorhergesehener Abwesenheit ihres Sohnes, der noch bei ihr zu Hause lebt. In beiden Fällen benennt Frau Korte auch die Lösung, die sie zur Vermeidung dieser Ängste gefunden habe (sie geht nur in Begleitung in den Supermarkt; ihr Sohn benachrichtigt sie, wenn er bei seiner Freundin übernachtet). Frau Korte schließt dann mit einer positiven Bewertung des Verhaltens des Sohnes dieses Thema ab (aber=is GANZ lieber JUNGe; =echt; ( – ) ≪p > muss i SAgen’).
394
Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch
Tab. 1: Beginn der Angstthematisierung (Frau Korte I, Z. 804–841). Transkriptausschnitt
Kommentar
I: ich möchte sie gern noch fragen ob äh:m (-) ob bei ihnen auch ↑ÄNGste ne Rolle spielen;>
Interviewfrage nach Ängsten, first pair-part
Pause von Frau Korte, Zugzwang ist aktiv
(---) K:
Unspezifische Reparaturinitiierung
I: ob bei ihnen auch ANGST ne rolle spielt;
Reparatur in Form einer . Reformulierung der Frage, Zugzwang wird erneuert Pause von Frau Korte, Zugzwang ist aktiv
(1.4)
fragende Wiederaufnahme, Zugzwang wird verstärkt
K: A:NG:S:T;
Stille
(-) I:
. Reformulierung der Frage, Zugzwang wird verstärkt Pause von Frau Korte, Zugzwang ist aktiv
(2.5) K:
(7.5)
(1.6)
(leise mit Verzögerungen) Wiederaufnahme des erfragten Begriffs, gefolgt von verneinender Antwort; dispräferierter second pair-part
I:
hh (-) es gibt ja so=ne ganz norMAle angst, die JE[der viel] leicht hat,
Reformulierung der Antwort durch I Präsequenz zu einer elaborierten Nachfrage zu normaler Angst
K:
Ratifizierung
[ mh/\
]
I: was weiß ich nich an[gst im ST]RAßen[verke]:hr,
Auflistung von Beispielen: Straßenverkehr
K:
Ratifizierungen
[MHM\/
]
[MHM\/]
I: [JA:, ]=
Verständigungssicherung
K: [MHM\/]=
Bestätigung
7 Vgl. Schegloff 1980.
2 Analyse von Gesprächsausschnitten
395
Tab. 1 (fortgesetzt ) Transkriptausschnitt
Kommentar
I: =oder (---) angst bei geWITter?
Fortsetzung der Aufzählung von Beispielen: Gewitter
K: m=[HM,]
Ratifizierung
I:
Verständigungssicherung
[ J ]A?
I: .hh ähm (.) aber es gibt ja auch manchmal menschen die ham so=ne ganz speZIELle angst; (-) I: ja, =die vielleicht auch mit andern beschwerden zu !TUN! hat; (2.5) I: gibt=es was was ihnen ANGST macht?
(---)
Unterscheidung der normalen von spezieller Angst
Stille neue Kontextualisierung von Angst
Stille . Reformulierung der Ausgangsfrage, first pair part, Zugzwang für Frau Korte, zum pre (s.o.) gehörende Frage Pause von Frau Korte, Zugzwang ist aktiv
K:
verneinende Antwort, dispräferierter second pair-part
I: vielleicht auch zusammen mit diesen a´ im zusammenhang mit den ANfällen, was ihnen DA ANGST macht?
Neuansatz mit Frage nach einer konkreten Angst; first pair-part, Zugzwang für Frau Korte
K: JA/\ =dass=ich ir:endwo mh=Umkippe, =un=dann: SCHLAge ich mir dann;
bejahende Antwort, präferierter second pair-part mit einem Beispiel, dadurch aktives Anzeigen ihres Verstehens
2.1.3 Thematisierung von Todesangst im Anfall Nach einer Pause ergreift Frau Korte selbst die Initiative zum Weitersprechen, indem sie mit un=SONS, (mit steigender Intonation gesprochen) den offenbar noch aktiven Zugzwang durch die übergeordnete offene Frage nach weiteren Ängsten reaktiviert. Sie spricht aber nicht weiter, sondern es folgt wiederum eine Pause. Die Ärztin fokussiert daraufhin nach der zuvor erfolgten Besprechung von Ängsten mit einem konkreten Bezugsobjekt mit einer neuen Frage ein besonderes Angstgefühl, nämlich das Angstgefühl im Anfall (Z. 913–914, s. u.). Mit dieser
396
Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch
thematischen Verschiebung initiiert sie eine weitere Phase des Prozesses der Angstthematisierung: Ausschnitt 4 (Frau Korte 1, Z. 913–951) 913 I: .HH IS das vielleicht schon mal gewesen dass sie auch ähm (.) in 914 nem !AN!fall (.) so=n angstgefühl HATten? 915 (2.2) 916 I: [können sie sich da dran eri]nnern? 917 K: [(in ANfall,) ] 918 (4.8) 919 K: 920 (–––) 921 K: !JA!/\ ((deutliches Kopfnicken)) 922 (1.3) 923 K:
= 924 =das IS- (1.1) 925 krieg=ich ANGST, 926 K: (–-) [ dass ] GLEICH was pasSIERT, 927 I: [
] 928 K: musst du RAU:S/\/ 929 weil du STERben kannst a=gleich;=NE, 930 .hh und dann:=ä:h (1.4) ENTweder muss=ich AUFstehen, 931 (.) und schnell was NEHmen, 932 I: m=HM? 933 K: wenn (da da) (.) so (.) nich VIEl (.) von dem angst is, 934 .hh u::nd935 oder WEGlaufen; 936 (.)
937 I: m=HM? 938 .h also ] 939 K: [ M ]HM\/ 940 I: (–––) könnte STERben; 941 K: JA;= 942 I: =also=s=is wie TOdes[angst;] 943 K: [ GAN ]Z geNAU. 944 I: m=HM?= 945 K: =den TOdesangst das=is .hh vielleicht das !SCHRECK!lichste 946
2 Analyse von Gesprächsausschnitten
947 948 949 950 951
397
I: das=is das SCHRECKlichste [was SE]In kann; K: [ mhm/\] I: m=HM,= =dieses geFüHL zu haben; K: mhm\/
Der Frage der Ärztin folgt eine Pause (Z. 915), in der Frau Korte vor sich hin blickt und schweigt. Die Ärztin expandiert dann ihren Turn und thematisiert in einer Nachfrage die Erinnerbarkeit der benannten Ängste (Z. 916), gleichzeitig reformuliert Frau Korte die Aufgabenstellung durch Wiederaufnahme des von der Interviewerin hervorgehobenen Elements (Anfall, Z. 917). Dadurch verstärkt sie die konditionelle Relevanz und macht das anschließende Schweigen (Z. 918) auffällig, zugleich zeigt sie an, dass sie über die Frage nachdenkt. Es folgt ein leises, leicht fallendes hm von Frau Korte (Z. 919), eine erneute Pause (Z. 920) und schließlich ein Neuansatz mit einem deutlich betonten !JA!/\ (Z. 921), begleitet von lebhaftem Kopfnicken. Mit diesem präferierten second pairpart markiert sie sowohl (para-)verbal als auch nonverbal ihr Erkennen des erfragten Gegenstands (Angst in einem Anfall). Nach einer kurzen Pause (Z. 922) setzt sie zwar leise, aber mit einem betonten DAS neu an und knüpft mit ihrer Antwort an die letzte Frage der Interviewerin nach der Erinnerbarkeit an: ≪p > DAS hab = ich vergessen; > (Z. 923). Damit gibt sie zugleich einen Account für die verspätete Thematisierung des Angstgefühls. Sie fokussiert dann zunächst etwas Bestimmtes, zu dessen näherer Charakterisierung sie ansetzt: das IS (Z. 924), bricht aber sogleich ab und wechselt – nach einer kurzen Pause – zu einer Konstruktion, bei der ich das Subjekt ist: krieg = ich ANGST, (–) dass GLEICH was’ pasSIERT (Z. 925–926). Zum ersten Mal im Gespräch verwendet Frau Korte von sich aus eine solche Konstruktion, in der sie Angst als ihr eigenes Gefühl benennt (bisher hat sie lediglich die Vorschläge der Interviewerin bestätigt). Worauf sich die Angst richtet, wird mit einem dass-Satz angeschlossen, bleibt allerdings vage (dass GLEICH was pasSIERT, Z. 926). Zur Konkretisierung wechselt sie dann in die 2. Person Singular und verbalisiert das Gefühl in Form einer Selbstanrede: musst du RAU:S/\/ (Z. 928), der eine Begründung folgt: weil du STERben kannst (Z. 929). Die Äußerung zeichnet sich auf der paraverbalen Ebene durch signifikante Betonungen aus (GLEICH – RAUS – STERben’). Frau Korte schließt mit leichten Verzögerungen (Z. 930) eine Äußerung an, mit der sie Handlungsalternativen in dieser Situation beschreibt (ENTweder – oder, Z. 930–936). Während sie die erste Möglichkeit in einer komplexen syntaktischen Struktur relativ flüssig darstellt, leitet sie die zweite durch hörbares Einatmen, ein gedehntes und sowie eine Selbstreparatur (oder) (vgl. Schegloff et al. 1977) ein. Die Struktur ist wesentlich kürzer und einfacher, sie besteht nur
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Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch
aus dem Wort WEGlaufen, das mit mittel fallender Intonation gesprochen wird; nach einer Mikropause ergänzt sie mit leiser Stimme: aus = em HAUS. Die Produktion dieser komplexen Äußerung wird von der Interviewerin durch Rezeptionssignale an strukturell relevanten Stellen begleitet. Die Ärztin reformuliert anschließend resümierend Frau Kortes Beschreibung des Angstgefühls (Z. 938, 940), was diese wiederum an entsprechenden Punkten ratifiziert (Z. 939, Z. 941), und die Ärztin schließt mit einer Reformulierung ab, in der sie das Angstgefühl nunmehr als Todesangst (Z. 942) bezeichnet, genauer gesagt: mit Todesangst vergleicht (wie). Noch bevor sie ihren Redebeitrag beendet hat, bestätigt Frau Korte mit terminaler Überlappung in auffallend lebhafter Sprechweise mit einem betonten GANZ geNAU (Z. 943) diese Benennung des von ihr zuvor beschriebenen Gefühls. Die Interviewerin signalisiert durch ein m = HM? mit steigender Intonation, dass sie den Turn nicht übernimmt, sondern ihn Frau Korte überlässt. Diese schließt unmittelbar an mit einer expliziten, stark betonten Bewertung des Gefühls von Todesangst als das SCHRECKlichste was SEIN kann (Z. 945–946); hierbei ist eine deutliche emotionale Beteiligung zu erkennen (vgl. Drescher 2003). Die Interviewerin reformuliert diese Bewertung, indem sie Frau Kortes Äußerung im Wortlaut und auch mit deren Betonung wiederaufnimmt und ergänzt, was Frau Korte ihrerseits bestätigt (Z. 951). 2.1.4 Zwischenfazit Der analysierte Ausschnitt aus dem ersten Gespräch mit Frau Korte ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Schwierigkeit, über eine bestimmte Art von Angst zu sprechen und dadurch das eigene Erleben in ein intersubjektiv geteiltes Wissen zu überführen. Durch ihre Frage nach der Rolle von Ängsten im Leben von Frau Korte (Z. 805), mit der die Interviewerin die Angst als Thema ins Gespräch eingeführt hat, kommt es zu einem langen, fast vier Minuten dauernden komplexen Prozess der Themenentwicklung, der in mehreren Schritten schließlich zu einer interaktiven Kategorisierung und Bewertung des Angstgefühls führt (Z. 942–951). Dieser Prozess wird gesteuert durch die Fragen der Interviewerin, die immer wieder neue Aspekte von Angst fokussieren und damit immer wieder neue konditionelle Relevanzen setzen. Frau Korte, die im ersten Schritt zu erkennen gibt, dass sie die Frage nicht versteht und dann das Vorhandensein von Angst negiert, antwortet im zweiten Schritt auf Anregung und unter Beteiligung der Interviewerin mit Beispielen für Ängste mit konkreten Bezugsobjekten (Verletzungen bei Anfällen, unabsichtliches Stehlen im Supermarkt, Sorge um den Sohn). Erst im dritten Schritt wird das Angstgefühl im Anfall interaktiv als Thema etabliert und gemeinsam als Todesangst kategorisiert. Auch hier nähert
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Frau Korte sich der Charakterisierung dieses zuvor „vergessenen“ Gefühls nur schrittweise an: von einer unbestimmten Angst, dass gleich was passiert, über eine Art Fluchtreflex (musst du raus) bis zum Gefühl zu sterben, wobei das Rausmüssen präzisiert wird zu Weglaufen aus dem Haus als Reaktion auf dieses Gefühl. Den Begriff Todesangst äußert zunächst die Interviewerin in ihrer verständnissichernden Reformulierung. Frau Korte macht ihn sich aber sogleich in doppelter Weise zu eigen: durch ihre lebhafte und betonte Zustimmung und durch die Wiederaufnahme in ihrer nachfolgenden Bewertung. Somit wird deutlich, dass durch die interaktive Arbeit beider Gesprächspartnerinnen das als „vergessen“ behandelte Wissen von Frau Korte um ihre Gefühle von Todesangst sowohl für Frau Korte selbst wieder erinnerlich und dadurch zugleich auch für die Interviewerin zugänglich gemacht wird. 2.1.5 Zweite narrative Rekonstruktion der Anfallsepisode (Aus-dem-Haus-Laufen) An die gemeinsame Bewertung des Gefühls von Todesangst schließt Frau Korte unmittelbar mit einem gedehnten und die Rekonstruktion einer Episode an: Ausschnitt 5 (Frau Korte I, Z. 953–980) 953 K: u:n:d=ä:hm (-) ich hab mein NACHbar gegenüber die türn immer 954 an::(-) geschellt, 955 .h und der war schon auch (-) paar ma in der NACH:TH, 956 (–––) dann seitDEM: habe ich (im:/ihm:) (.) 957 da war (.) poliZEI zu hause, 958 .h da warn die ÄRZte,= 959 =haben die mich MITgenommen, 960 (–––) un=dann war=ich wieder nachher zu HAUse,= 961 =weil=i WOLlte nich in krankenhaus bleiben, 962 (1.0) u::nd=ä:hm (-) seitDEM hab=ich mein: (–––) ein: (––) 963 WOHnungsschlüssel bei dem NACHbarn.= 964 =wenn was pasSIERT dann brauchen de (––) keine RUfen hab=i 965 gesagt, .hh der sollte mir einfach nur AUFmachen,= 966 =un ich lege 967 (1.7) 968 I: . hh das war IN nem ANfall;= 969 =dass sie zu dem nachbarn geGANgen sind; 970 K: NEIN; 971 (––) 972 K: =
400
973 974 975 976 977 978 979 980
Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch
I: K: K: I: K: I:
=bei dem ANfall,=JA;= =wenn (de) ich den TOdesangst hab;> m=[HM?] [.hh] da hab=ich da geSCHELLT bei ihn,= [weil ich] dachte wenn ich: irgendwo nich WEGlaufe,= [ m=HM, ] =dann gleich bin ich WEG;=ne, m=HM,
Frau Korte präsentiert hier selbstinitiiert die iterative Rekonstruktion (immer, paar ma') einer somit als typisch kategorisierten Anfalls-Episode, die das Rausmüssen (Z. 928) und das WEGlaufen; (.) ≪p > aus = em HAUS; > (Z. 935–936.) konkretisiert. Es handelt sich um denselben Typ von Episode, die sie bereits zu Beginn des Gesprächs erzählt hatte. Die inhaltlichen Elemente (in der Nacht aus dem Haus laufen und bei jemand anderem klingeln) sind identisch, werden aber hier detaillierter ausgeführt. Zwar macht Frau Korte zunächst einen Ansatz, unmittelbar zum Ende zu kommen und die Konsequenzen des Ereignisses zu schildern: dann seitDEM: habe ich (im:/ihm) (Z. 956), sie bricht aber ab, geht zurück zur erzählten Situation und rekonstruiert diesmal auch Interaktionen mit anderen (Polizei, Ärzte, Nachbarn), bevor sie den Beendigungsansatz mit u::nd = ä:hm (-) seitDEM hab = ich (Z. 962) wieder aufnimmt und fortsetzt. Dieses Verhalten (aus dem Haus laufen usw.) wird nun in der Antwort auf eine Nachfrage der Ärztin (Z. 968–969) ausdrücklich von Frau Korte mit der zuvor thematisierten Todesangst in Verbindung gebracht: wenn (de) ich den TOdesangst hab; (Z. 974). Als Begründung und Fazit schließt sie eine scheinbar paradoxe Formulierung an: weil ich dachte wenn ich: irgendwo nich WEGlaufe, = dann gleich bin ich WEG; = ne, (Z. 977, 979). Die in den ersten Minuten des Gesprächs erzählte Episode wird hier – mehr als eine halbe Stunde später – neu gerahmt: In der Anfangsphase des Gesprächs stand sie im Kontext von Fehlleistungen, bedingt durch die sich verschlechternde Krankheit; hier erweist sie sich als ein Ausdruck von Todesangst in einem Anfall. Die erste Version war durch eine reduzierte Erzählstruktur gekennzeichnet; in dieser zweiten Version ist die narrative Rekonstruktion detailreicher und lebhafter: Das Klingeln beim Nachbarn wird verbal und durch eine ausgeprägte Armgeste, auch als Zeigegeste zu verstehen, ausgedrückt, ebenso das Deponieren des Wohnungsschlüssels beim Nachbarn. Bei der Antwort auf die Nachfrage der Interviewerin gibt es zunächst ein Missverständnis: Frau Korte verneint die Frage (Z. 970), nach einem change of state marker spricht sie dann aber doch von ihrer Todesangst im Anfall, wobei sie in auffälliger Weise ihre Sitzhaltung verändert; man könnte meinen, sie inszeniere den Fluchtreflex auch körperlich. Auffällig sind
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zudem die Betonungen, als sie die Todesangst darstellt (Z. 925–936, 977, 979) und ihr Empfinden bewertet (Z. 945). In der Fortsetzung des oben zitierten Ausschnitts, in dem es um die Motivation für das Weglaufen geht, findet sich ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für die Betonung der Todesangst: Ausschnitt 6 (Frau Korte I, Z. 981–1001) 981 I: un=da ham sie bei (.) IHM geSCHELLT;= 982 K: =JA; 983 I: m=HM, 984 und was: (1.3) (der hat n) (.) 985 der HAT dann den ARZT gerufen? 986 oder was WOLlten sie dann von ihm; 987 K: ] 988 I: [was soll]te er MAchen; 989 K: IRgendwo (.) 990 WEIß ich nich was; 991 (–––) 992 K: vieLLEICH wenn´ 993 dass jemand´ (.) sieht dass=ich !ST↑ER!be;= 994 K: =das .hh das heiß [äh wen]n=i UMkippe [dann:] (.)die leute 995 I: [AH:/\ ] [m=HM ] 996 K: wissen be!SCHEID!/\ [nich; ] NE, 997 I: [AH=JA;] 998 I: sie wollten einfach dass jemand da=is der AUFpassen 999 I: ka[nn;] 1000 K: [ J]A; 1001 I: m=HM, Hier macht die Interviewerin deutlich, dass sie den subjektiven Sinn des Weglaufens zu verstehen versucht. Bei der Beantwortung ihrer Frage wird Frau Korte im Vergleich zu ihrem bisherigen Verhalten ungewöhnlich lebhaft. Nachdem sie zunächst ihre Motivation, beim Nachbarn zu schellen, als eher unbestimmt oder unbestimmbar darstellt (IRgendwo (.) WEIß ich nich was;, Z. 989–990), äußert sie nach einer Pause eine mögliche Erklärung: vielLEICH wenn’ dass jemand‘ (.) sieht dass=ich !ST↑ER!be; (Z. 992–993). Das Wort sterben wird durch besondere Lautstärke und starke Betonung hervorgehoben. Diese hier eher alltagssprachlich als besonders lebhaft charakterisierte Sprechweise behält Frau Korte auch bei der sich anschließenden ausführlicheren Reformulierung bei und unterstreicht sie
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Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch
noch durch Handgestik (das .hh das heiß äh wenn=i UMkippe dann: (.) die leute wissen be!SCHEID!/\ nich; NE,, Z. 994, 996). Im weiteren Verlauf des Gesprächs nimmt das Thema Todesangst eine zentrale Stellung ein. Die Ärztin formuliert mehrmals Nachfragen zum Angstgefühl und zum Weglaufen, und die Todesangst wird interaktiv von beiden Gesprächspartnerinnen intensiv bearbeitet und dadurch immer weiter präzisiert und differenziert. Dabei zeigt sich, wie jeder neue Formulierungsversuch neue Aspekte und damit auch neue Anschlussmöglichkeiten für Erklärungen der Angst mit sich bringt. Der folgende Ausschnitt ist ein besonders deutliches Beispiel für die interaktive Formulierungsarbeit, die zu einer neuen Interpretation des Aus-demHaus-Laufens führt: Ausschnitt 7 (Frau Korte I, Z. 1012–1045) 1012 I: .hh aber DARF=ich noch=mal fragen-= 1013 =wenn dieses geFÜHL kommt,= 1014 =dann denken sie ich STERbe GLEI:CH\/ 1015 K: MH[M\/ ] 1016 I: [oder] ich KÖNnte gleich sterben?= 1017 I: =[.hhh ] Oder ich muss WEGlauf[en;] 1018 K: =[MHM\/] [ J]A; 1019 I: m=HM,= 1020 K: =JA; 1021 (-) 1022 K: meisten muss=ich WEGlaufen,= 1023 =weil wenn=ich hier noch BLEIbe 1024 (--) 1025 I: ach !SO! ist das ge[fühl;]= 1026 K: [m=HM,]= 1027 I: =wenn ich !H↑IER!bleibe muss=ich [sterben;]= 1028 K: [ mhm\/ ]= 1029 I: =wenn ich !WEG!laufe? (.) 1030 K: J[A\/ ] 1031 I: [kann=ich=s] vielleicht [!SCHAF!fen;]= 1032 K: [ JA\/ ]= 1033 K: =dann SIEHT jemand,= 1034 =u:n:d kann mich !HEL!fen
1035 I: ach=!SO!; 1036 (-) 1037 I: [sie L]AUfen zu jemand !HIN! im [grunde]genommen;= 1038 K: [ JA; ] [ JA; ]
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1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045
I: K: K: I: I: K: I:
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=[sie SU]chen sich !HIL!fe;= =[ JA; ] =JA; also=es geht GAR nicht da=darum aus dem BETT auszusteigen,= =[oder von]=em S[TUHL ] aufzu[stehen, ]= =[ ´m´m´ ] [mhm\/] []= =sondern es geht da=drum zu jemand !HIN!zulaufen;
Die ausführliche Reformulierung der Interviewerin von Frau Kortes Todesangstgefühl löst bei dieser wiederum eine Reformulierung der früheren, scheinbar paradoxen Äußerung (Z. 977–978) aus: meisten muss = ich WEGlaufen, = weil wenn = ich hier noch BLEibe ≪dim dann = is Ende: > (Z. 1022–1023). Mit einem change-of-state token (vgl. Heritage 1984) zeigt die Interviewerin an, dass diese Formulierung bei ihr ein neues Verständnis des Aus-dem-Haus-Laufens zur Folge hat, das sie nun als ein Hinlaufen zu jemandem definiert, was von Frau Korte bestätigt wird (Z. 1037, 1045). Die Todesangst äußert sich also als ein Wunsch nach Kontakt und nach Hilfe, in einer späteren Formulierung der Ärztin: sie LAUfen um die NÄHE von jemand zu SUchen; (Z. 1202). Im weiteren Gesprächsverlauf stellt sich – wiederum durch Nachfragen der Ärztin – heraus, dass dieser Wunsch nach Nähe bereits erfüllt ist, wenn Frau Korte beim Nachbarn geklingelt hat. Sie geht dann meistens, ohne zu warten, bis jemand die Tür öffnet, wieder nach Hause. Auf die Frage, wie sie sich das erklärt, sagt sie: ≪p > keine AHnung; > (.) ich hab so: (.) so:-(-) als LEEre im KOPF (werde/ wäre) dann; = ne, (Z. 1313 ff.). Auf eine Nachfrage der Interviewerin ergänzt sie zögernd und vage: (1.5) ≪p > (SO = was:); > (2.3) JA; = und = e = und das ANGST vor dem TOD; > . Diese interaktive Arbeit an der Definition des Gefühls von Todesangst im Detail nachzuzeichnen, ist in diesem Rahmen nicht möglich und auch nicht notwendig. Vor dem Hintergrund dieses langwierigen interaktiven Prozesses der Angstthematisierung erscheint es jedoch bemerkenswert, dass Frau Korte in der Beendigungsphase des Gesprächs auf die Frage der Interviewerin, was sie sich von der Behandlung in der Klinik wünsche, ohne zu überlegen und ohne zu zögern antwortet: ja dass: . die ÄNGSte ≪p > weggehen: > (Z. 1404). Wenn man an ihre ersten Reaktionen auf die Interviewerinfrage nach Ängsten denkt, wird hier noch einmal deutlich, dass sich im Gesprächsprozess entscheidende Veränderungen sowohl hinsichtlich der Thematisierbarkeit als auch der Konstitution von gemeinsamem Wissen und der subjektiven Bewertung der Angst vollzogen haben. Die Todesangst als ein wesentlicher Aspekt von Frau Kortes Anfällen ist nunmehr Bestandteil geteilten Wissens und bildet die Grundlage für das weitere Gespräch über die Erkrankung.
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Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch
2.2 Zweites Gespräch 2.2.1 Dritte narrative Rekonstruktion der Anfallsepisode (Aus-dem-Haus-Laufen) In dem zweiten Gespräch mit Frau Korte, das auf Wunsch der Interviewerin zur Klärung offen gebliebener Fragen zustande kommt, spricht diese Frau Korte erneut auf das Thema Todesangst an: Ausschnitt 8 (Frau Korte II, Z. 160–175) 160 I: 161 diese Todesangst is, 162 K: ja; (-) ja; das is TOdesangs, und DANN (-) laufe ich weg; 163 K: [(--) und DANN (.) in der NACHT (.) schelle ich so (.) zun=dem 164 I: [hmhm\/ 165 K: (-) (mi) NACHbarn, [(-) .hh und wenn das: (-) zum BEIspiel äh 166 I: [hmhm\/ 167 K: (.) leute SCHLAfen in der nacht; 168 K: [(-) wenn de (.) äh steh AUF, 169 I: [hmhm\/ 170 K: und mach die TÜren auf, 171 (-) da war ich (---) 172 (--) 173 I: hmhm\/ 174 .h da sind SIE schon wieder weg; 175 K: ja;= Frau Korte antwortet spontan und schnell und rekonstruiert – diesmal in verallgemeinernder Form (Präsens als Tempus) – das nächtliche Aus-dem-Haus-Laufen und Klingeln beim Nachbarn. Der im vorherigen Gespräch bereits ausführlich besprochene Umstand, dass Frau Korte in ihrer Todesangst aus dem Haus läuft, bei jemandem klingelt und dann aber nicht wartet, bis ihr die Tür geöffnet wird, wird hier also erneut ausdrücklich und selbstinitiiert von ihr beschrieben. Auffällig an ihrer Darstellung ist die entschiedene und betonte Sprechweise, die sich vor allem durch häufige und starke Betonungen und deutliche Artikulation auszeichnet. Unterstrichen wird dies durch eine lebhafte Handgestik. Dadurch wird die Bedeutung dieser Episode besonders hervorgehoben.
2 Analyse von Gesprächsausschnitten
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2.2.2 Angst und Desorientiertheit Die Interviewerin kommt noch einmal auf die aus ihrer Sicht erklärungsbedürftige Tatsache zurück, dass Frau Korte die Reaktion auf das Klingeln nicht abwartet, sondern vorher wegläuft: Ausschnitt 9 (Frau Korte II, Z. 176–225) 176 I: .hh das war AUCH was ich sie gerne nochma FRAgen 177 wollte, 178 wei:l (-) .h ähm (1.7) .h mir erscheint da nich LOgisch; 179 dass sie dann schon wieder WEG sind, 180 I: ja=wenn er die [TÜR aufmacht;= 181 K: [hmhm\/ 182 I: ich mein (.) ich verSTEH dieses 184 sie gehen zu jemand zu HILfe, 185 I: (.) ja>=sie WAR[ten aber nich bis er die TÜR aumacht, 186 K: [hmhm\/ 187 I: .hh sondern sie gehen VORher wieder WEG 188 I: und sie ham ja mir auch gesagt .hh sie sind dann schon [in DEM 189 K: [ja: 190 I: moment beRUhicht, 191 (.) wo sie geSCHELLT habm; 192 (.) 193 K: ja; 194 I: .hh 195 (--) 196 K: und (.) i dachte der steht nich AUF, 197 (--) u:nd=äh weil ich angs hatte dass ich (.) äh ihn dann (.) in 198 der nacht ANru´ äh ANschelle, 199 der hat sich daran geWÖ:´=WÖHNT, 200 .hh weil die (.) schreckliche ANGS hatte ich, 201 .hh u:nd wenn ich dann VOR die TÜRN (.) war, 202 .h und STAND, 203 bevor ich (.) AUFgestiegen or=er AUFgestiegen (.) war, 204 meine wohnung gegenÜber .h war AUF, 205 und dann (--) hab i erstmal die wohnung (.) geSEhen, 206 und dann BISSchen WEniger de (.) de:n TOdesangs war, 207 .hh und (-) bin ich dann (---) in FLUR, 208 mir auf den Boden am meisten gesetz, 209 h und dann (.) angekuck ersmal wo ich BIN;
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I: I: K: I: I: K:
(---) und dann=s geDAUert, .h (1.2) i WEIß nich; am meistens (.) fast (.) sowie ich (---) verMUte, (-) halbe stunde i=w wa:r (-) in WOHN zimmer, ich war HIER, .h Aber de angs hat mir (-) schon geLASsen; nur ich b=bin (.) total desorienTIERT war ich; (.) [.hh i WUSSte nich- (.) ja[hmhm\/ (.) sie sind dann HINterher auch noch DESorientiert; .hh [das heißt die [angst lässt NACH, [ja; (---) [toTAL; .h aber sie verstehn gar nich was mit ihnen IS; (-) in DEM mo[ment; (-) hmhm\/ .hh [
Die Interviewerin kündigt hier in Form eines pre ausdrücklich eine Frage an, die sie allerdings anschließend nicht explizit als Frage formuliert, sondern als Bewertung eines Sachverhalts, den sie vorab als nich LOgisch qualifiziert und dann in seinen zentralen Elementen rekonstruiert (Z. 178–191). Daraufhin erzählt Frau Korte erneut diese Episode, aber diesmal rekonstruiert sie offensichtlich eine konkrete Einzelepisode (Z. 196–211), die dann jedoch in eine typische Situation übergeht (meistens, Z. 212) und mit einer verallgemeinernden Äußerung im Präsens endet: nur ich b = bin (.) total DESorientiert (Z. 217); allerdings wechselt Frau Korte anschließend in Form einer Selbstreparatur wieder zurück ins Erzähltempus (Imperfekt: war ich, Z. 217). Die Interviewerin formuliert dann ein abschließendes Fazit, das von Frau Korte bestätigt wird (Z. 221–225). Ein Aspekt, den Frau Korte bei der Erzählung der Episode des Aus-demHaus-Laufens bereits zu Beginn des ersten Gesprächs zur Sprache brachte, wird in diesem zweiten Gespräch interaktiv besonders deutlich herausgearbeitet: ihre Desorientiertheit. Dafür findet sich ein Beispiel in dem zuletzt zitierten Ausschnitt: Frau Korte beschreibt das Nachlassen der Todesangst (Z. 206), stellt die Desorientiertheit dann zunächst unter Rekurs auf sprachliche und körperliche Ressourcen dar (Z. 208 f.), erwähnt erneut das Nachlassen der Angst, die sie hier personifiziert (Z. 216), und benennt dann ihren Zustand als total desorienTIERT (Z. 217). Sie setzt anschließend zu einer Konkretisierung oder näheren Beschreibung an: .hh i WUSSte nich- (Z. 219), bricht aber ab, da gleichzeitig die Ärztin den Turn mit einer
3 Auswertung der Transkriptanalyse
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verständnissichernden Reformulierung beansprucht (Z. 220), mit der sie Angst und Desorientiertheit noch einmal voneinander unterscheidet. Im weiteren Gesprächsverlauf wird das Phänomen der Desorientiertheit und des Kontrollverlusts jeweils im Zusammenhang mit dem Weglaufen noch mehrfach wiederaufgenommen und mit großer Eindringlichkeit dargestellt (Betonungen, Gesten, Detaillierungen, Konkretisierungen, Reformulierungen). Die Interviewerin geht durch Nachfragen und Reformulierungen sehr intensiv auf diesen Aspekt ein, und der Zusammenhang zwischen Todesangst, Weglaufen und Desorientiertheit wird in vielfältigen Formen interaktiv als Kern des Anfallsgeschehens etabliert. Damit ist das geteilte krankheitsbezogene Wissen der Gesprächspartnerinnen um einen neuen Aspekt ergänzt worden.
3 Auswertung der Transkriptanalyse Die Analyse der drei ausgewählten Ausschnitte zeigt, wie der Interaktionsprozess und die Interaktionsgeschichte im Laufe der Zeit neue und andere Voraussetzungen für die Rekonstruktion ein und derselben Episode schafft und unterschiedliche Rahmungen für deren Interpretation bereitstellt. Geht man zum jetzigen Zeitpunkt der Analyse-Arbeit noch einmal zurück zur ersten Version der Episode am Beginn des ersten Gesprächs, so erkennt man unschwer, dass die zentralen Elemente – das Aus-dem-Haus-Laufen zu jemandem hin und die Desorientiertheit – dort bereits vorhanden sind und auch schon ansatzweise hervorgehoben werden, allerdings mit sehr reduzierten Mitteln. Das Aus-demHaus-Laufen wird eher unmotiviert und ohne auffällige Hervorhebungen mehr oder weniger beiläufig erzählt; es wird konversationell nicht bearbeitet, denn auch die Interviewerin verleiht ihm durch ihr Gesprächsverhalten keine besondere Bedeutung. Erst im Laufe des Gesprächs und dann verstärkt im zweiten Gespräch wird die Episode konkreter und detailreicher bearbeitet. Um das Gefühl von Todesangst, von dem Frau Korte sagt, dies sei das Schrecklichste was sein kann, benennen zu können, bedarf es längerer Zeit und intensiver interaktiver Arbeit. Dagegen wird die Thematisierung von Ängsten, die sich auf ein konkretes Bezugsobjekt richten (Verletzung im Anfall, unabsichtliches Stehlen im Supermarkt usw.), als wesentlich einfacher dargestellt. Das Sprechen über diese konkreten Ängste erscheint hier als Vorstufe oder als Vorbereitung, bevor die Todesangst zur Sprache gebracht wird.8 „Normale“ Ängste lassen sich über-
8 Zur Darstellung unterschiedlicher Thematisierbarkeit von Angstformen siehe ausführlich Lindemann (2012).
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Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch
winden: Frau Korte entwickelt dafür Lösungen, die sie auch erläutert (sie nimmt jemanden zum Einkaufen mit; ihr Sohn muss sich abmelden, wenn er nicht nach Hause kommt; sie besorgt sich ein Bügeleisen, das sich selbst ausschaltet usw.). Für die Todesangst gilt das nicht. Die Todesangst am Beginn eines epileptischen Anfalls ist, wie auch andere Analysen von Gesprächen mit Epilepsiepatientlnnen gezeigt haben, eine ganz andere Angst; sie ist schwer zu beschreiben, wird von den Patientinnen selbst oft als unbeschreibbar dargestellt (vgl. Gülich und Furchner 2002; Gülich 2005; Gülich und Couper-Kuhlen 2007). Im vorliegenden Gespräch wird das nur Angedeutete im Interaktionsprozess durch konversationelle Arbeit beider Beteiligten, durch eine Intensivierung der verbalen, stimmlichen und körperlichen Darstellungsmittel bei Frau Korte einerseits und das konversationelle Engagement der Ärztin andererseits allmählich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Todesangst als ein zentrales Element von Frau Kortes Anfallserleben wird zur Sprache gebracht und durch das mehrfache Erzählen, Kommentieren und Interpretieren eines speziellen Anfallssymptoms, dem Aus-dem-Haus-Laufen, immer weiter ausdifferenziert. Die vorstehende Analyse ist – wie einleitend erwähnt – in einem interdisziplinären Forschungszusammenhang entstanden. Das Interesse, das sich mit der Rekonstruktion eines Prozesses interaktiver Wissensgenerierung verbindet, ist daher auch auf die medizinische, genauer gesagt: epileptologische Relevanz dieses Wissens gerichtet. Betrachtet man Transkripte als Hologramme, so wird deutlich, dass auf diese Weise klinisch relevante Details beobachtet werden können, die sowohl im herkömmlichen Klinikalltag als auch in der klinischen Forschung für gewöhnlich überhört und übersehen werden (vgl. auch Koerfer et al. 2010) Darüber hinaus können konversationelle Muster beim Sprechen über Erkrankungen identifiziert und für Diagnostik und Therapie berücksichtigt werden, die sich als pathognomisch für unterschiedliche klinische Syndrome erweisen könnten. Nicht zuletzt können Aspekte der intra- und interpsychischen Regulation, die in der Online-Situation klinischer Gespräche aufgrund ihrer Flüchtigkeit und Subtilität nicht selten übersehen werden, durch die Transkription und Analyse der Gespräche erkannt werden. Unter der Voraussetzung, dass die subjektiven Krankheitserfahrungen und das subjektive Expertenwissen der Patientlnnen über ihre eigene Erkrankung ernst genommen und relevant gesetzt werden, können sich dann im Gespräch Prozesse der Wissensgenerierung entwickeln, die für die Diagnosestellung fruchtbar gemacht werden können. Anhand der Gespräche mit Frau Korte lassen sich einige Voraussetzungen für die Nutzbarmachung des im Rahmen eines früheren Forschungsprojekts entwi-
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ckelten Leitfadens für klinische Gespräche beobachten.9 Zunächst einmal ist dies die Aufgeschlossenheit des/der Interviewenden und die Bereitschaft, das Gespräch mit einer offenen Eingangsfrage zu beginnen, die dem Patienten einen weiten Raum für eigene Relevanzsetzungen eröffnet. Im Zusammenhang damit steht die Bereitschaft, im Sinne einer negative ability eigene Wünsche nach klinischer Präzision den sich entfaltenden Darstellungen der Patienten nachzuordnen. Darüber hinaus sollte der Interviewende ein Interesse daran haben, die Kohärenz dieser Darstellungen in der Interaktion mit zu entwickeln und zu verstärken. Die Ärztin gibt im Verlauf der beiden Gespräche mit Frau Korte ein starkes Interesse an der neurologischen Differenzierung der hochspezifischen und besonderen Symptomatik der Patientin zu erkennen. Gleichzeitig zeichnet sich ihr Interaktionsverhalten durch ein hohes Maß an Zurückhaltung sowie die Fähigkeit zu empathischen und integrativen (kohärenzschaffenden) Interventionen aus. Dank dieser Qualitäten des Interaktionsverhaltens lässt sich eine deutliche psychische Entwicklung zwischen den beiden Gesprächen beobachten: Die erste Version der Episode des Aus-dem-Haus-Laufens zeichnete sich durch ein hohes Maß an Affektisolierung und projektiver Identifikation von Konfusion und Desorientierung aus. In der Darstellung der zweiten und dritten Version dieser Episode ist zu beobachten, wie durch die empathische Interaktionsweise der Interviewerin sowie die Zusammenarbeit zwischen ihr und der Patientin die zentrale Rolle des Angsterlebens sowie dessen widersprüchliche Komponenten von den Gesprächsteilnehmerinnen in einem schrittweise voranschreitenden Prozess der Integration und der gemeinsamen Wissenskonstruktion erkannt werden. Nimmt man Einsicht in die Krankenakte von Frau Korte, so findet man in Arztbriefen, Anamneseprotokollen und Anfallsbeschreibungen (sowohl von Frau Korte selbst als auch von Außenstehenden – zumeist Pflegepersonal – aufgezeichnet) Hinweise auf ihre epileptischen Auren (Vorgefühle), die mit Todesangst einhergehen. Gelegentlich werden auch ihre Fugues erwähnt: dass sie aus dem Haus läuft und sich an Orten wiederfindet, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen ist. Es wird aber an keiner Stelle eine Verbindung zwischen der Todesangst und den Fugues hergestellt. Dass eine solche besteht, dass Frau Korte in dieser Todesangst aus dem Haus läuft und dann vollkommen desorientiert ist, wird erst durch die Transkriptanalyse deutlich, ganz zu schweigen von den vielen Facetten dieser Fugues, die durch das mehrfache Erzählen der Episoden zur Sprache kommen. Als Konsequenz ergibt sich daraus, dass unsere nosologischen Systeme auf einem Wissen um Symptome basieren sollten, das nicht allein durch ärztliches
9 Siehe oben, Anmerkung 3. Der Leitfaden ist unter der dort angegebenen Internetadresse zugänglich; er ist auch abgedruckt in Surmann (2005, Anhang II).
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Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch
Fragen gewonnen wird, sondern durch die Berücksichtigung von Transkriptanalysen offen geführter klinischer Interviews. Die Untersuchung solcher Transkripte stellt einen wichtigen Ausgangspunkt für die Entwicklung syndromspezifischer therapeutischer Interventionen und diagnostischer Explorationen dar.10 In dieser Hinsicht besteht keine fundamentale Trennung zwischen diagnostischem und therapeutischem Handeln.
Literatur Capps, Linda und Ochs, Elinor (1995). Constructing panic: the discourse of agoraphobia. Cambridge, Mass. Drescher, Martina (2003). Sprachliche Affektivität. Darstellung emotionaler Beteiligung am Beispiel von Gesprächen aus dem Französischen. Tübingen. Egbert, Maria und Bergmann, Jörg R. (2004). „Angst – Von der Phänomenologie zur Interaktion“. In: ZiF-Mitteilungen 4, 1–12. Gülich, Elisabeth (2002). „Reformulierungen“. In: Kolboom, Ingo; Kotschi, Thomas und Reichel, Edward (Hgg.), Handbuch Französisch: Sprache, Literatur, Kultur, Gesellschaft; für Studium, Lehre, Praxis. Berlin, 350–356. Gülich, Elisabeth (2005). „Krankheitserzählungen“. In: Neises, Mechthild; Ditz, Susanne und Spranz-Fogasy, Thomas (Hgg), Psychosomatische Gesprächsführung in der Frauenheilkunde. Ein interdisziplinärer Ansatz zur verbalen Intervention. Stuttgart, 73–89. Gülich, Elisabeth und Schöndienst, Martin (1999). „‚Das ist unheimlich schwer zu beschreiben‘. Formulierungsmuster in Krankheitsbeschreibungen anfallskranker Patienten: differentialdiagnostische und therapeutische Aspekte“. In: Psychotherapie und Sozialwissenschaft. Zeitschrift für qualitative Forschung 1.3, 199–227. Gülich, Elisabeth und Furchner, Ingrid (2002). „Die Beschreibung von Unbeschreibbarem. Eine konversationsanalytische Annäherung an Gespräche mit Anfallskranken“. In: Keim, Inken und Schütte, Wilfried (Hgg.), Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag. Tübingen, 161–186. Gülich, Elisabeth und Couper-Kuhlen, Elizabeth (2007). „Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf: Verfahren der szenischen Darstellung“. In: Schmitt, Reinhold (Hgg.), Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion. Tübingen, 293–338. Gülich, Elisabeth; Knerich, Heike und Lindemann, Katrin (2009). „Rekonstruktion und (Re-) Interpretation in Krankheitserzählungen. Ein Beitrag aus der linguistischen Gesprächsforschung“. In: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 23.2, 110–119.
10 Eine ausführliche Analyse, die Einblick in die Ergebnisse des Forschungsprojekts insgesamt und insbesondere in die diagnostische Nutzung metaphorischer Konzepte gibt, hat Surmann (2005) vorgelegt; dazu weiterhin Gülich und Schöndienst (1999); Schöndienst (2000, 2002). Zu entsprechenden Untersuchungen an Gesprächen mit englischen Patienten vgl. z. B. Schwabe et al. (2007).
Literatur
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Günthner, Susanne (2005). „Narrative reconstruction of past experiences. Adjustments and modifications in the process of recontextualizing a past experience“. In: Quasthoff, Uta M. und Becker, Tabea (Hgg.), Narrative interaction. Amsterdam, 285–301. Heritage, John (1984). „A change-of-state token and aspects of its sequential placement“. In: Atkinson, John M. und Heritage, John (Hgg.), Structures of social action. Cambridge, 299–345. Koerfer, Armin; Köhle, Karl; Obliers, Rainer; Thomas, Walter und Albus, Christian (2010). „Narrative Wissensgenerierung in einer biopsychosozialen Medizin“. In: DausendschönGay, Ulrich; Domke, Christine und Ohlhus, Sören (Hgg.), Wissen in (Inter-)Aktion: Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern. Berlin, 91–131. Kordt, Martin (Hg, 2005). DAK Gesundheitsreport 2005. Hamburg. Lindemann, Katrin (2012). Angst im Gespräch. Eine gesprächsanalytische Studie zur kommunikativen Darstellung von Angst. Göttingen. Lucius-Hoene, Gabriele und Deppermann, Arnulf (2004). Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Opladen. Schegloff, Emanuel A. (1980). „Preliminaries to preliminaries: ‚Can I ask you a question?‘“ In: Sociological Inquiry 50, 104–152. Schegloff, Emanuel A.; Jefferson, Gail und Sacks, Harvey (1977). „The Preference for SelfCorrection in the Organization of Repair in Conversation“. In: Language 53.2, 361–382. Schöndienst, Martin (2000). „Konversationsanalytische Zugänge zu Gesprächen über Anfälle. In: Jacobi, Rainer-M. E.; Claussen, Peter C. und Wolf, Peter (Hgg.), Die Wahrheit der Begegnung. Anthropologische Perspektiven der“ Neurologie. Festschrift für Dieter Janz. Würzburg, 73–84. Schöndienst, Martin (2002). „Von einer sprachtheoretischen Idee zu einer klinischen Methode. Einleitende Überlegungen“. In: Psychotherapie & Sozialwissenschaft. 4.4, 253–269. Schwabe, Meike; Howell, Stephen J. und Reuber, Markus (2007). „Differential diagnosis of seizure disorders: a conversation analytic approach“. In: Social Science and Medicine 65, 712–724. Selting, Margret et al. (1998). „Gesprächanalytisches Transkriptionssystem (GAT)“. In: Linguistische Berichte 173, 91–122. Surmann, Volker (2005). Anfallsbilder. Metaphorische Konzepte im Sprechen anfallskranker Menschen. Würzburg.
Erstveröffentlichung des Beitrags in: Dausendschön-Gay, Ulrich; Domke, Christine und Ohlhus, Sören (Hgg. 2010). Wissen in (Inter-)Aktion: Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern. Berlin, 135–160.
Veränderungen von Geschichten beim Erzählen: Versuch einer interdisziplinären Annäherung an narrative Rekonstruktionen von Schlüsselerfahrungen zusammen mit Gabriele Lucius-Hoene
1 Einleitung Nach dem Besuch [. . .] denke ich viel darüber nach, wie aus Erinnerungen Geschichten werden und wie diese Geschichten sich verändern, wenn man sie immer und immer wieder erzählt. (Bader 2010, 110)
Diese Erfahrung, dass aus Erinnerungen Geschichten werden, die sich beim Wiedererzählen und durch das Wiedererzählen verändern, ist auch Gegenstand des folgenden Beitrags.1 Er basiert auf dem Grundgedanken, dass Erzählen selbst als eine Form der Bearbeitung und Verarbeitung von entscheidenden, auch von belastenden Erlebnissen zu sehen ist und damit unter Umständen auch eine Hilfe zur Bewältigung sein kann (vgl. Lucius-Hoene 2004a). Wir gehen davon aus, dass eine genaue Beschreibung und Analyse von Erzählaktivitäten über die Art der Bewältigung Aufschluss geben kann. Dabei ist allerdings nicht anzunehmen, dass es sprachliche bzw. kommunikative Phänomene gibt, die per se als Verarbeitungs- oder Bewältigungsindikatoren fungieren. In einer vergleichenden Analyse von Erzählversionen richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Veränderungen der sprachlichen Charakteristika, kommunikativen Funktionen und narrativen Darstellungsverfahren, die sich beobachten lassen, wenn ein bedeutsames Erlebnis im Laufe der Zeit mehrfach erzählt wird. Was beim Wiedererzählen gleich bleibt und was sich verändert, ergibt sich nicht zufällig oder beliebig. Die Situation des Wiedererzählens kon-
1 Das Wiedererzählen derselben Episode bietet durch mögliche Rekontextualisierungen und Neuinterpretationen auch das Potenzial, emotional belastende Erfahrungen narrativ zu bearbeiten. Aus einer interdisziplinären Perspektive wird in diesem Beitrag eine dreifach erzählte Episode sowohl gesprächsanalytisch untersucht als auch psychologisch interpretiert. Die Autorinnen zeigen die Grenzen der jeweiligen Disziplin auf und machen deutlich, welcher Erkenntnisgewinn sich aus der Überschreitung der Grenzen und der Verbindung der disziplinären Forschungsergebnisse ergibt. https://doi.org/10.1515/9783110685664-016
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Veränderungen von Geschichten beim Erzählen
stituiert sich auf jeden Fall zeitlich neu, oft auch in einer veränderten sozialen Konstellation der Zuhörer; das vergangene Ereignis wird rekontextualisiert (Günthner 2005). Somit lässt sich postulieren, dass Unterschiede im Erzählen auch Veränderungen in der jeweiligen psychischen Verarbeitung und kommunikativen Bedeutung des Erlebten in der neuen Erzählsituation spiegeln. Damit knüpfen unsere empirischen Analysen an das Konzept der narrativen Bewältigung an (vgl. Lucius-Hone 2002; Scheidt und Lucius-Hoene 2015). Wir nähern uns unserem Erkenntnisinteresse von verschiedenen disziplinären Perspektiven her: einer linguistischen und einer psychologischen. Die linguistische Gesprächsforschung ist geeignet, narrative Rekonstruktionen zu beschreiben und auch unter bestimmten Gesichtspunkten miteinander zu vergleichen. Obgleich sich Erzählungen auch aus linguistischer Perspektive unter dem Aspekt ihrer Bewältigungsfunktion betrachten lassen, kann eine psychologische Präzisierung das analytische Potential bei der Textarbeit vertiefen und an den Wissensstand etwa der psychologischen Bewältigungsforschung anbinden. Unser Anliegen in diesem Beitrag ist es auch, die methodischen Aspekte, die mit diesen unterschiedlichen disziplinären Perspektiven verbunden sind, deutlich herauszuarbeiten, methodologisch das interpretative Ineinandergreifen von zwei Disziplinen mit unterschiedlichem Bereich genau zu reflektieren und den interpretativen Mehrwert aufzuzeigen, der durch interdisziplinäres Arbeiten gerade bei dieser Thematik entsteht. Die Komplexität des Themas kann bis zu einem bestimmten Grad linguistisch beschrieben werden; aber von einem bestimmten Punkt an bringt die Verfeinerung der analytischen Genauigkeit keine zusätzlichen Erkenntnisse mehr, sondern es bedarf eines anderen Zugangs und eines anderen Paradigmas. Die unterschiedlichen Zugangsweisen wollen wir im Folgenden kurz charakterisieren. Der hier praktizierte linguistische Zugang orientiert sich an einer konversationsanalytischen Analyse-Mentalität (Schenkein 1978), die sich durch bestimmte Prinzipien charakterisieren lässt:2 Besonders wichtig im vorliegenden interdisziplinären Kontext ist, bei der Analyse nicht von einem theoretischen Standpunkt auszugehen und vorgegebene Kategorien an die Daten heranzutragen, denen wir dann die Aktivitäten der Interaktionspartner zuordnen. Vielmehr folgen wir grundsätzlich der Perspektive der Kommunikationsteilnehmer und rekonstruieren, wie die Beteiligten selbst sich ihre Handlungen gegenseitig verdeutlichen und wie sie sie interpretieren oder bearbeiten. Das Interesse richtet sich also auf die Verfahren oder Methoden, auf die die Beteiligten rekurrieren, um ihre Interaktionsaufgaben zu lösen (Gülich 2001). Das Primat der Interaktion
2 Vgl. zusammenfassend Gülich und Mondada 2008, Kap. 2.3.
1 Einleitung
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bildet zusammen mit dem Prinzip der Sequenzialität und der Temporalität die Grundlage für jede Analyse: Es werden grundsätzlich keine aus dem Kontext herausgelösten sprachlichen Formen behandelt, sondern jede Äußerung ist im sequenziellen Kontext und im zeitlichen Verlauf des Gesprächs zu sehen, und sie wird immer als Ergebnis gemeinsamer Aktivitäten – als ein interactional achievement (Schegloff 1982) – betrachtet. Das gilt auch für die Analyse von Erzählaktivitäten. Aus konversationsanalytischer Sicht wird Erzählen als eine Methode verstanden, vergangene Ereignisse und Erfahrungen sprachlich bzw. kommunikativ zu rekonstruieren; Erzählungen gehören zu den rekonstruktiven Gattungen (Bergmann und Luckmann 1995).3 Dabei kommt der Erzähl-Interaktion besondere Bedeutung zu, das heißt den Aktivitäten von Erzähler und Zuhörer. Die Relevanzsetzungen beider – oder aller – Gesprächsteilnehmer verdienen besondere Beachtung, zumal sie sich beim wiederholten Erzählen durchaus verändern können. Bei der Analyse ist der gesamte Prozess des Erzählens zu berücksichtigen, von der Entstehung der Erzählung aus dem Gespräch heraus über den Kern der Geschichte bis hin zu ihrer anschließenden konversationellen Bearbeitung. Ebenso sind Erzählansätze auch dann einzubeziehen, wenn sie abgebrochen werden. Narrative Rekonstruktion ist häufig verbunden mit szenischer Rekonstruktion, zum Beispiel Redewiedergabe (Gülich 2008). Prozesse der narrativen Rekonstruktion weisen oft sprachliche Spuren der Erinnerungsarbeit auf. Bei der Analyse von narrativen Rekonstruktionen richtet sich das Interesse nicht zuletzt auch auf Formulierungsarbeit und Ko-Konstruktionen. In spontan gesprochener Sprache geht das Formulieren nicht immer flüssig und problemlos voran: Es gibt Phasen, in denen die Lösung von Formulierungsproblemen den Sprecher offenkundig Anstrengung und Mühe kostet, in denen er also intensive Formulierungsarbeit leisten muss. Diese Formulierungsarbeit hinterlässt Spuren in den Äußerungen, die darauf hindeuten, dass die Versprachlichung bestimmter Inhalte (z. B. von Gefühlen, von belastenden Erinnerungen) dem Sprecher schwerfällt, dass bereits produzierte Äußerungen die Sache noch nicht treffen, so dass sie noch bearbeitet (verändert, umformuliert, evaluiert oder kommentiert) werden. Die Berücksichtigung der genannten Prinzipien und Analyseaspekte erlaubt eine präzise und differenzierte Bearbeitung und Beschreibung konversationeller Daten. Aber wenn man sich für die Nutzung der Analysen und Ergebnisse in institutionellen Kontexten und in Praxiszusammenhängen interessiert, kommt man ohne die Fragen nach Motiven, autoepistemischen Funktionen und zwischenmenschlichen wie persönlichen Zielen des Erzählens nicht aus. Hiermit begibt
3 Vgl. dazu Gülich und Mondada 2008, Kap. 9.
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man sich in Phänomenbereiche der Psychologie, die einer entsprechenden fachlichen Vertiefung bedürfen, um fruchtbar werden zu können. Die heutige Psychologie hat sich als Wissenschaft überwiegend für ein deduktiv-nomologisches Erkenntnismodell mit entsprechenden Methoden entschieden. Sie konzipiert die Erhebung verbal vermittelter Informationen als Messverfahren, wie zum Beispiel im Fall von Fragebögen und anderen standardisierten Erhebungsformen, die sie statistisch auswertet und in numerische Kennwerte umsetzt. Hier wird die alltägliche sprachliche Verhandlung psychologischer Tatbestände wissenschaftstheoretisch weitgehend unter dem Reiz-Reaktions-Paradigma subsumiert. Gleichzeitig haben jedoch seit ihrem Bestehen auch immer verstehende Zugangsweisen mit hermeneutischen Verfahren eine wichtige Rolle gespielt (Fahrenberg 2002), die mit der narrativen Wende neue Bedeutung und Anschlussmöglichkeiten an andere Disziplinen in den Sozialund Kulturwissenschaften errungen haben (Bruner 1990; Polkinghorne 1988; Straub 2010). Vor allem aber in der psychotherapeutischen und Beratungstätigkeit sind solche verstehenden Ansätze, die nach subjektiven Bedeutungen für die betroffenen Personen fragen, als Zugänge zu den Erlebniswelten, Motiven, Bedürfnissen und Zielen unverzichtbar.4 Unter den Möglichkeiten, psychologische Befindlichkeiten zu vermitteln, nimmt die Sprache eine herausragende Stellung ein. In vielen Domänen wie etwa psychologischer Biographieforschung, Psychotherapieforschung oder Entwicklungs- und Sozialpsychologie haben wir es bei der Datenerhebung mit verbalkommunikativen Verfahren zu tun, die als Texte konzipiert und damit auch textinterpretativen Methoden zugänglich sind. Gerade im Bereich der narrativen Psychologie finden sich Zugänge, die ihre Vorgehensweisen sozialkonstruktivistisch und interaktionistisch fundieren und sich hermeneutischer Methoden bedienen, um psychologische Sinnpotentiale zu erschließen und die emische Perspektive (Pike 1954; Echterhoff und Straub 2003, 2004) der interessierenden Personen zu rekonstruieren. Damit sind sie auch mit der konversationsanalytischen Vorgehensweise kompatibel. Psychologische Konzepte können in mehrfacher Weise die Analyse vorantreiben und vertiefen. Zum einen können sie als Heuristiken (Fahrenberg 2002, 2) im Sinne von Arbeitshypothesen oder Suchstrategien dienen, Fragen nach der psychischen und interaktiven Funktion von Äußerungen aufwerfen und innertextliche Verweisungen aufzeigen. Dies gelingt vor allem, wenn in der Analyse von konversationellen Daten die psychologischen Konzepte nicht als Kategorisierung von Sta4 „Die narrative Psychologie betrachtet Narrationen als grundlegend für die menschliche Erfahrungsorganisation: die alltagspraktische Erkenntnis, dass Menschen einen großen Teil ihrer Erfahrungen in Geschichten verwandeln und in Form von (Alltags-) Erzählungen kommunizieren, bildet diesbezüglich den Ausgangspunkt“ (Boothe 2011, 40).
1 Einleitung
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tusmerkmalen oder innerpsychischen Entitäten aufgefasst, sondern als dynamische Prozesse verstanden werden und das Augenmerk darauf gerichtet wird, wie sie bei der Datenerhebung interaktiv und narrativ verhandelt werden. Im Rahmen der Grounded Theory wird ein solches Vorgehen des Nutzens von fachlich instruiertem Vorwissen als Einsatz sensitivierender Konzepte (sensitizing concepts, Blumer 1954; vgl. Bowen 2006) beschrieben, „[which] suggest directions along which to look“ (Blumer 1954, 7). Zum anderen können psychologische Konzepte dort ansetzen, wo konversationsanalytische Deskription zwar sprachliche Strategien aufzeigt, aufgrund ihrer Enthaltung von allen mentalistischen Zuschreibungen jedoch nicht deren Funktion für Identitätsarbeit und Bewältigungsbemühungen der erzählenden Personen aufarbeiten kann. Hier braucht es die psychologische Interpretation, die diese Strategien nach ihrer Leistung für den Erzähler befragen kann. Zu diesem Zweck kann sie sich vor allem solche Konzepte zu Nutze machen, die im weitesten Sinn aus der Bewältigungsforschung stammen (zu Möglichkeiten und Krisen der psychologischen Bewältigungsforschung siehe auch Tesch-Römer et al. 1997). Für die oben aufgeführte Leitfrage, wie weit das Erzählen der Verarbeitung von Erlebtem dienen kann, liefert beispielsweise die klinische und Coping-Forschung empirische und konzeptuelle Hinweise, die sich sowohl auf die interaktive Verhandlung als auch auf die Erarbeitung von Bewältigung im Erzählen auf den verschiedensten Ebenen des Textes beziehen können (LuciusHoene 2004a, 2010). Narrative Sinnstiftung verknüpft sich mit psychologischen Strategien zu Selbstwerterhalt, Agency, Bedürfnisbefriedigung oder Angstbewältigung (Boothe 2011). Sozialpsychologie und Biographieforschung liefern mit ihrem Wissen um soziale Kategorisierungen, Selbstbeschreibungen oder biographische Mustervorlagen quasi eine Lupe und eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit für das Erkennen von entsprechenden Phänomenen im Text. Das Konzept der Positionierung (Bamberg 1997; Bamberg et al. 2011; Lucius-Hoene und Deppermann 2004a, 2004b) mit seinen sozial- und entwicklungspsychologischen Implikationen lässt sich theoretisch von seinem kommunikativen Entstehungs- und Verhandlungskontext gar nicht trennen. All diese Konzepte können die linguistisch fundierte Ebene der Beschreibung und Funktionsanalyse von der face validity einer Alltagspsychologie in eine gezielte Sensibilisierung und Horizonterweiterung überführen, ohne deshalb den Anspruch der alleinigen bottom-up-Fundierung in den Daten zu verraten. Das Datenmaterial, anhand dessen wir sowohl die erzählerischen Bewältigungsbemühungen als auch die Methodenverschränkung zwischen Linguistik und Psychologie aufzeigen wollen, stammt aus dem Projektverbund Zur narrativen Bewältigung von Bedrohung, Verlust und Trauma, dessen Ziel es war,
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„linguistische Grundlagen einer klinischen Erzählforschung“ zu erarbeiten (vgl. Scheidt et al. 2015).5 Im Folgenden sollen drei Versionen einer Erzählung vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, den eine Patientin als früheste Kindheitserinnerung präsentiert, linguistisch beschrieben, das heißt hier: aus einer konversationsanalytischen Perspektive betrachtet und miteinander verglichen werden. Dabei gehen wir folgendermaßen vor: Zunächst wird die als erste erzählte Version einer sequenziellen Analyse unterzogen; dabei werden die wichtigsten Darstellungsverfahren herausgearbeitet (Kap. 2.1). Sie werden dann dem Vergleich mit der zweiten und der dritten Version zugrunde gelegt (Kap. 2.2 und Kap. 2.3). Diese Analysen bilden dann die Grundlage für eine Interpretation aus psychologischer Perspektive (Kap. 3). Analyseleitend ist dabei für unseren Beitrag die Forschungsfragestellung, inwieweit die im Text identifizierten sprachlichen Phänomene eine Funktion für die psychische Bewältigung des Erlebten übernehmen. Dadurch ließe sich das Konzept der narrativen Bewältigung empirisch untermauern und schärfen. Abschließend versuchen wir, unseren interdisziplinären Arbeitsprozess noch einmal zu reflektieren (Kap. 4.1), den Erkenntnisgewinn für beide Disziplinen zusammenzufassen (Kap. 4.2) und institutionelle Nutzungsmöglichkeiten aufzuzeigen (Kap. 5). Die aus konversationsanalytischer Sicht wichtigsten Charakteristika und Unterschiede zwischen den drei Versionen werden anschließend in einer Synopse zusammengefasst (siehe Anhang dieses Beitrags).
2 Kriegsausbruch: Drei Versionen einer frühen Kindheitserinnerung aus linguistischer Sicht Die Patientin, mit der die Interviews geführt wurden, ist zum Zeitpunkt des Erzählens ca. 70 Jahre alt und hält sich mit einer medizinisch ungeklärten Schmerzsymptomatik in einer psychosomatischen Klinik auf. Sie wird von drei verschiedenen Interviewerinnen im Abstand von jeweils 6 bzw. 12 Monaten interviewt. Die klinischen Interviews wurden nach der Methodik des Adult Attachment Interviews (AAI, George et al. 1985–1996) in semistrukturierter erzählgenerierender Form geführt.6 Wir konzentrieren uns im Folgenden auf drei Versionen der narrativen Rekonstruktion einer frühen Kindheitserinnerung: an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Den Kontext bildet in jedem Interview zu Beginn eine 5 Interdisciplinary Research Group, Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) (2011–2012): Carl Eduard Scheidt, Gabriele Lucius-Hoene, Anja Stukenbrock und Elisabeth Waller. 6 Ein anderes Beispiel aus demselben Kontext wird von Schumann und Lucius-Hoene (2015) bearbeitet.
2 Kriegsausbruch: Drei Versionen einer frühen Kindheitserinnerung
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Frage nach frühen Erinnerungen, verbunden mit der Frage nach Beziehungen zu den Eltern. Bereits vor dieser Frage deutet die Patientin in allen Versionen an, dass die Beziehung zur Mutter problematisch gewesen sei. Um den Vergleich der Erzählungen besser nachvollziehen zu können, haben wir die drei Versionen, die im Folgenden jeweils für die Analyse einzeln abgedruckt werden, im Anhang in einer Synopse nebeneinander gestellt. Zur Veranschaulichung wurde für die genannten unterschiedlichen Darstellungsverfahren, die in allen Versionen auftauchen, den entsprechenden Textteilen jeweils eine bestimmte Schrifttype zugeordnet (vgl. die der Synopse vorangestellte Tabelle).
2.1 Kriegsausbruch Version 1: Sequenzielle Analyse Zu Beginn des Ausschnitts antwortet die Erzählerin (E) auf die (hier nicht abgedruckte) Frage der Interviewerin (I) nach den frühesten Kindheitserinnerungen, für die diese den Zeitraum vom fünften bis zum zwölften Lebensjahr vorgibt. Darauf bezieht sich die Patientin am Beginn ihrer Antwort.7 Transkriptbeispiel 1: Kriegsausbruch – Version 1 1 E: °hh ALso ((räuspert sich)) da_ch ja nun schon viel 2 erKLÄRT hatte; 3 ähm möchte ich (.) eigentlich nicht beim FÜNFten 4 sondern beim DRITten anfangen wenn es gestattet ist. 5 I: hm_hm 6 E: ich erinnere mich äh dass: (-) also anfang sepTEMber 7 neunz_nerdneununDREIßig 8 da war ich dann drei(-)einhalb [JAHre] alt9 I: [mhm ] 10 E: der KRIEG ausbrach und ähm meine Mutter 11 a_also in der FENSterbank stand und 12 gewaschene GarDInen aufhängte. 13 I: mhm 14 E: und ähm (-) dass ICH also na ja 15 so musste man dann ABstand halten un:d so16 und dass durch den: VOLKSempfänger 17 den jeder DEUtsche damals hatte:,
7 Zu den Transkriptionskonventionen: siehe Anhang in diesem Band.
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18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
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I: E:
I: E:
I:
I: E:
I: E: I: E:
mhm so ein kleines RAdio dass da eben äh mit MORDSpropaganda äh MITgeteilt wurde dem volk dass der KRIEG ausgebrochen ist und Mhm °h dann erINnere ich mich dass (.) eben (.) m:eine M:UTter SO hing hängte sie die gardinen AUF? und dann fielen ihr die ARme (.) äh (.) runter; un:d sie (.) KIPPte und SPRANG=also das WAR kann ich nicht mehr defiNIERren wie des überhaupt ging ja aus dieser FENsterbank und LAG auf der Erde und JAMmerte und WEINte und (-) also des war für mich ganz SCHRECKlich; und meine MUTter die war eben so entSETZT, °hh also die war wie alt WAR_se denn da; sie ist ZEHN geboren; also neununzwanzig. hm_hm und ähm sie hatte ja AUCH ihren vater im ERSten Weltkrieg schon verloren. und dann JAMmerte sie äh: als=ich hab meinen VAter schon verloren, und nun ist als NÄCHStes ich weiß es ganz geNAU mein MANN dran, und °hh äh und da WEISS ich eben das seh ich ja alles noch VOR mir; dass eben dieser HERR de:r den meine Mutter gePFLEGT hat gesagt hat, sie möge sich jetzt , weil (.) er sachte . nich? mhm also das wollt ich jetzt mal erWÄHnen, dass ich erINner mich also °h [SCHON auch an ]
2 Kriegsausbruch: Drei Versionen einer frühen Kindheitserinnerung
57 I: 58 59
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[und fällt Ihnen dann] äh dann ein ADjektiv dazu EIN? zu wie_se das so (.) als (---) wie die beziehung so auf ein WORT gebracht?
Auf die Frage der Interviewerin nach den frühesten Erinnerungen wählt die Patientin eine Erinnerung aus, die den Akzent der Fragestellung leicht verschiebt, nämlich vom fünften auf das dritte Lebensjahr. Sie rahmt die narrative Rekonstruktion durch eine ausdrückliche Thematisierung des Erinnerns (Norrick 2005; Gülich 2012): ich erinnere mich äh dass:, bricht die begonnene Struktur zunächst aber ab und situiert die erinnerte Episode historisch (anfang sepTEMber neinznerdneunund DREIßig) und autobiographisch (da war ich dann drei (-) einhalb JAHre alt). Dann nimmt sie die begonnene Satzstruktur wieder auf und rekonstruiert in abhängigen Sätzen die einzelnen Ereignis- bzw. Handlungselemente: den Ausbruch des Krieges (Z. 10), die Aktivitäten ihrer Mutter (Z. 11–12), ihr eigenes Verhalten (Z. 14–15), die Nachricht im Radio (Z. 16–21), die sie durch eine kurze Erläuterung zum VOLKSempfänger (Z. 17–19) unterbricht. Diese Rekonstruktion wird durch die mehrfache Wiederaufnahme der Konjunktion dass (Z. 14, 16, 19) untergliedert; die syntaktische Abhängigkeit der einzelnen Elemente von dem Matrixsatz ich erinnere mich (Z. 6) wird dadurch immer wieder reaktiviert. Die Interviewerin ratifiziert die einzelnen Schritte der Rekonstruktion durch mhm (Z. 9, 13, 18, 22). Nach dieser Schilderung der Ausgangssituation thematisiert die Erzählerin erneut die Erinnerungstätigkeit: dann erINnere ich mich (Z. 23) und strukturiert dadurch die narrative Rekonstruktion. Der Ansatz zur Fortsetzung besteht wiederum in einem abhängigen Satz: dass (.) eben (.) m:eine M:UTter, aber diesmal wird diese Struktur abgebrochen, und es folgt ein Neustart mit Konstruktionswechsel. Die Abfolge der Handlungen der Mutter wird mit Hilfe syntaktisch unabhängiger Äußerungen rekonstruiert, die mit und aneinandergereiht werden: SO hing hängte sie die gardinen AUF? Und dann fielen ihr die Arme (.) äh (.) runter usw. (Z. 25–42). Die Ablaufrekonstruktion wird einmal durch einen Kommentar zur Formulierung unterbrochen (Z. 27–28: kann ich nicht mehr defiNIERen wie des überhaupt ging), ein zweites Mal durch eine Emotionsthematisierung, bezogen auf ihre eigenen Empfindungen als Person der Geschichte: also des war für mich ganz SCHRECKLICH (Z. 33) und schließlich durch einen Einschub über das damalige Alter der Mutter (Z. 35–37), als die Emotionen der Mutter erwähnt werden (die war eben so entSETZT). Für das Jammern und Weinen der Mutter (Z. 32) und das Entsetzen stellt die Erzählerin dann den Grund dar, und zwar erst in narrativ rekonstruierender Form in der dritten Person: sie hatte ja AUCH ihren vater im Ersten Weltkrieg schon verloren (Z. 39–40), dann in szenischer Darstellung in Form direkter Rede in der ersten Person: und dann JAMmerte sie
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Veränderungen von Geschichten beim Erzählen
äh: als = ich hab meinen Vater schon verloren, und nun ist als NÄCHStes ich weiß es ganz geNAU mein MANN dran (Z. 41–44). An dieser Stelle folgt als Strukturierungselement wiederum eine Erinnerungsthematisierung, die den Wert und die Besonderheit dieser Erinnerung deutlich hervorhebt: und °hh äh und da WEISS ich eben das seh ich ja alles noch VOR mir (Z. 44–45). Auch hier wird der Inhalt der Erinnerung in einem abhängigen Satz mitgeteilt: dass eben dieser HERR de:r den meine Mutter gePFLEGT hat gesagt hat (Z. 46–48). Damit wird eine neue handelnde Person in die Geschichte eingeführt, von der allerdings im Interview vor der Frage nach den frühesten Erinnerungen schon die Rede war. Dieser Herr tritt vor allem als sprechende Person hervor. Seine Äußerung wird zunächst in indirekter Rede dargestellt, die aber durch die Sprechweise bereits szenische Elemente enthält (Z. 49: sie möge sich jetzt ≪drängend > BIT:te zuSAMmennehmen >) und die dann in Form direkter Rede fortgesetzt wird, in der der szenische Charakter noch deutlicher wird: er sachte ≪betont, drängend > KUCK das KIND an. Das KIND ist ja so entSETZT das ZITtert ja am ganzen KÖRper > .nich? (Z. 50, 52). Hier wird die vorher nur kurz erwähnte emotionale Reaktion des erzählten Ich auf den Verzweiflungsausbruch der Mutter: des war für mich ganz SCHRECKLICH (Z. 33) durch die szenische Darstellung sehr deutlich relevant gesetzt, zum einen durch die Akzentuierungen und die Sprechweise, zum anderen aber auch allein schon durch die Tatsache, dass der Herr als Beobachter der Szene das Entsetzen und die Angst des Kindes, also des erzählten Ich, bezeugt und dem Verhalten der Mutter kritisch entgegentritt. Auch in dieser Phase der Erzählung beschränkt sich die Interviewerin auf Ratifizierungen durch mhm (Z. 51, 54). Die Erzählerin schließt die Rekonstruktion der erinnerten Episode ab, indem sie durch eine erneute Erinnerungsthematisierung den zu Beginn eröffneten Rahmen wieder aufnimmt: also das wollt ich jetzt mal erWÄHnen, dass ich erINner mich also °h SCHON auch an (Z. 55–56). An dieser Stelle unterbricht die Interviewerin sie durch eine neue (im Rahmen der Interviewmethodik vorgesehene) Frage, so dass sie ihren Satz nicht zu Ende führt. Aus der sequenziellen Analyse, die wir hier nur in groben Zügen vorstellen konnten, halten wir folgende charakteristische Darstellungsverfahren bei der narrativen Rekonstruktion der Erinnerung an den Kriegsausbruch fest: – Die Episode ist durch Erinnerungsthematisierungen gerahmt und damit als Erzählung vom übrigen Interview abgegrenzt. Auch innerhalb dieses Rahmens wird die narrative Rekonstruktion durch Erinnerungsthematisierungen strukturiert, die zugleich auch zur Relevanzsetzung dienen und Hinweise auf die Bedeutsamkeit des Erlebten und deshalb Erinnerten geben.
2 Kriegsausbruch: Drei Versionen einer frühen Kindheitserinnerung
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– Die narrative Rekonstruktion folgt dem chronologischen Ablauf der Ereignisse; dieser wird nur gelegentlich durch Kommentare oder Einschübe unterbrochen. – In die narrative Rekonstruktion eingebettet sind auch szenische Darstellungen, die vor allem die mit den Ereignissen verbundenen Emotionen herausstellen. Diese Erzähltechnik lässt eine Gestaltungsorientiertheit (Kallmeyer 1981; Gülich 2008) erkennen und trägt dazu bei, die erzählten Erlebnisse und Erfahrungen der Erzählerin relevant zu setzen. Diese Darstellungsverfahren wollen wir nun als Grundlage für eine vergleichende Analyse der Episode vom Kriegsausbruch nutzen, die in den beiden späteren Interviews wiedererzählt wird.
2.2 Kriegsausbruch Version 2 Diese zweite und später auch die dritte Version werden wir nicht noch einmal sequenziell analysieren, sondern wir gehen direkt zum Vergleich unter den Aspekten der Erinnerungsthematisierungen, der narrativen Ablaufrekonstruktion und der Verwendung szenischer Elemente über. Transkriptbeispiel 2: Kriegsausbruch – Version 2 1 E: ALso d_das ERste woran ich mich erINNere? 2 das: war neunzehnhundertneun_nDREIß:ig 3 als der KRIEG ausbrach. 4 I: mhm 5 E: also das:ähm (.)°h ist das allerERSte 6 wo (.) VORher hab ich so (-) KEIne (.)erINNerung. 7 I: hm_hm. hm_hm. 8 E: A:ber: das war ja am (.) 9 ich nehme mal an am zweiten dritten sepTEMber 10 neunundDREIßig muss das gewesen sein – 11 °hh ähm ja ich so genau 12 weil meine MUTter am fÜnften september geBURTStag hatte. 13 und ((räuspert sich)) und sie ähm stand also in der FENsterbank 14 und hatte garDInen gewaschen; 15 und hing die AUF und wollte halt 16 dass zu ihrem geBURTStag denn alles SCHÖN is, 17 und äh dann (.) sagte durch den h° (-) durchs RAdio kam ähm
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I: E: I: E: I: E: I: E:
I: E:
I: E:
I: E:
also das eben (.) KRIEG ausgebrochen wäre. und dann erINNere ich mich genau dass meiner MUTter so die garD:Inen RUNterSANken und sie also aus der FENsterbankweiß ich nich ob se gefFALlen is oder was; JEdenfalls saß_se dann auf der ERde und hat GANZ ganz BITterlich geweint. und also das ist das ERSte was jetzt so VOR mir steht – wo ich praktisch aus diesem (.) KLEIN:BAbyhaften DAsein ähm (-) irgenwie geRISsen wurde nich hm_hm durch den SCHRECKen. da waren sie dann grAd mal DREI, ja. mhm. also [das is ] ein [(FRÜher zeitpunkt)] das ist das ERste. und_äh: also (.) sie hat halt wahnsinnig geWEINT und der (-)°hh alte HERR der sagte da z: kuck dir mal das KIND an das weiß ich noch ganz geNAU,
die is_die hat ja (.) FURCHtbare ANGST. hm_hm und:_ähm (-)JA dann: sagte meine MUTter eben se hat im ersten Weltkrieg schon ihr_n VAter verloren und jetzt verliert se wieder ihr_n MANN, se weiß=es ganz geNAU. °hh das ist ihr jetzt eben grade so beim RUNterfallen KLAR geworden. hm_hm und:ähm ((räuspert sich))ja. das war so das ERste. und von dem °hh (-)punkt AN hab=ich EIgentlich_ähm also da HAB ich ja geMERKT als KLEINkind dass die MUTter(-) total verZWEIfelt ist; und=en äh (.) son KLEINkind (-) m_MÖCHte sich ja wo AN(.)lehnen [hm_hm] [das ] WEISS doch noch gar nich was LOS is EIgentlich
2 Kriegsausbruch: Drei Versionen einer frühen Kindheitserinnerung
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I: E:
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in_de [WELT ]
und_äh JA und dann ging das halt so WEIter=mein VAter kam hin und WIEder? aber ich mein_s war ja dann KRIEG und_äh das war alles ganz UNregelmäßig
2.2.1 Zu den Erinnerungsthematisierungen In der zweiten Version wird das Erlebnis des Kriegsausbruchs gleich zu Beginn ausdrücklich als ERste Erinnerung gekennzeichnet. Nach der darauf folgenden zeitlichen Situierung (Z. 2–3) wird dieses Merkmal in dreifacher Weise hervorgehoben: zunächst durch die Reformulierung das: ähm (.) °h ist das allerERste, dann durch den Zusatz VORher hab ich so (-) KEINE (.) erINNerung und schließlich – nach der Präzisierung der zeitlichen Situierung durch die Angabe des Datums (Z. 8–10) – noch durch einen account, das heißt, eine praktische Erklärung dafür, warum die Patientin sich gerade an diese frühe Episode so genau erinnert (Z. 11–12). Der Detaillierungsgrad sowohl hinsichtlich der Bedeutung der Erinnerung als allererste als auch hinsichtlich ihrer Genauigkeit ist hier also deutlich höher als in der ersten Version. Auch hier werden im weiteren Verlauf Erinnerungsthematisierungen zur Strukturierung der Erzählung eingesetzt; dabei werden sowohl die Genauigkeit als auch die Tatsache, dass es sich um die erste Erinnerung handelt, mehrfach wieder aufgenommen. In Verbindung mit der Erinnerungsthematisierung stellt die Erzählerin nach den ersten Elementen der narrativen Rekonstruktion, die die Trauer und Verzweiflung der Mutter fokussieren (Z. 23: hat GANZ ganz BITterlich geweint,), die Bedeutung dieser Erinnerung deutlich heraus: Wenn sie dieses Erlebnis mit ihrer Mutter so interpretiert, dass sie dadurch praktisch aus diesem (.) KLEIN: Babyhaften Dasein ähm (-) irgendwie geRISsen wurde (. . .) durch den SCHRECKen, (Z. 25–26, 28) setzt sie es für ihr ganzes weiteres Leben relevant. Sie interpretiert die Erfahrung des erzählten Ich, des dreijährigen Kindes, aus der Perspektive des erzählenden Ich, der siebzigjährigen Patientin, und gibt ihm damit den Charakter einer Schlüsselerfahrung. Damit geht sie in der Bewertung einen Schritt weiter als in der ersten Version. Die Relevanz dieser ersten Kindheitserinnerung als Schlüsselerfahrung wird interaktiv etabliert: An dieser Stelle schaltet sich nämlich die Interviewerin ein (anders als die Interviewerin in der ersten Version); sie setzt das damalige Alter der Patientin als einen frühen Zeitpunkt relevant (Z. 29, 33), was von der Erzählerin bestätigt (Z. 30) und von ihr selbst noch einmal rückbestätigt wird (Z. 31).
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Veränderungen von Geschichten beim Erzählen
Am Ende der narrativen Rekonstruktion nimmt die Erzählerin ihre Interpretation auf (Z. 49–57): Sie betont noch einmal die Bedeutung des Erlebnisses als erste Erinnerung und als Wendepunkt, wobei sie im Anschluss an die eigene Erfahrung (Z. 51–52: da HAB ich ja geMERKT als KLEINkind dass die MUTTer (-) total verZWEIfelt ist) in verallgemeinernder Form die Situation und die Bedürfnisse des Kleinkindes thematisiert (Z. 53–57), die bei ihr offensichtlich nicht hinreichend berücksichtigt werden konnten. Der Charakter einer Schlüsselerfahrung wird damit noch einmal relevant gesetzt. 2.2.2 Zur narrativen Ablaufrekonstruktion Sie folgt auch hier der Chronologie der Ereignisse (Chafe 1998). Dabei ist der Beginn insofern etwas elaborierter als in der ersten Version,8 als hier durch den Hinweis auf den Geburtstag der Mutter am 5. September das Gardinenwaschen motiviert wird (Z. 15–16: wollte halt dass zu ihrem geBURTStag alles SCHÖN is). Dieser Einschub unterbricht die Rekonstruktion des Handlungsablaufs (das Aufhängen der gewaschenen Gardinen), dann folgen die Rundfunknachricht vom Kriegsausbruch und der Verzweiflungsausbruch der Mutter; auch hier kommentiert die Erzählerin die Abwärtsbewegung der Mutter (Z. 21: weiß ich nich ob se gefALlen is oder was). Danach wird das Weinen der Mutter nachdrücklich hervorgehoben (GANZ ganz BITterlich). Nach der interaktiven Relevantsetzung der Interpretation als Ende des Babydaseins wird der Gefühlsausbruch reformuliert (wahnsinnig geWEINT). Dann tritt im Unterschied zur ersten Version gleich der alte Herr auf, der auch in diesem Interview schon vorher eingeführt worden war. Seine Worte werden hier gleich zitiert; erst danach folgt die Redewiedergabe der Mutter, die in der ersten Version dem Auftreten des alten Herrn vorausging. Hier leitet die Erzählerin nach der Redewiedergabe die abschließenden interpretierenden Bemerkungen zum Ende der Kindheit ein. 2.2.3 Zur Verwendung szenischer Elemente Bei den Redewiedergaben unterscheidet sich die zweite Version wenig von der ersten. Für den alten Herrn rekurriert die Erzählerin auch hier auf das Darstellungsverfahren der direkten Rede, die nahezu identisch beginnt mit der Auffor-
8 Vgl. dazu in Ferrara (1994) die Beobachtung, „that a narrative became successively more elaborated over time, that new episodes were added, and that additional direct speech was incorporated in later versions“ (Ferrara 1994, 66).
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derung kuck dir mal das KIND an.9 Hier ist die Rede jedoch zweigeteilt durch einen account für das Erinnern (Z. 38: das weiß ich noch ganz geNAU), dem dann der prosodisch besonders hervorgehobene zweite Teil der Rede folgt: ≪gedehnt, bedeutungsvoll > die ZITtert JA > die is_die hat ja (.) FURCHtbare ANGST. Die Empfindungen des Kindes, vor allem die Angst werden also auch in dieser Version vorwiegend durch eine andere Person der Geschichte, den alten Herrn, zur Sprache gebracht. Erst danach wird die Klage der Mutter rekonstruiert, und zwar in Form indirekter Rede: dann: sagte meine MUTter eben se hat im ersten Weltkrieg schon ihr_n VAter verloren und jetzt verliert se wieder ihr_n MANN (Z. 42–44). In der ersten Version wurde hierfür die direkte Rede verwendet. Die Erzählerin macht in beiden Versionen im Wesentlichen von denselben Darstellungsverfahren Gebrauch; der Hauptunterschied liegt in der sukzessiven Relevantsetzung des Kriegsausbruch-Erlebnisses als erster Erinnerung und in der Interpretation als Schlüsselerfahrung.
2.3 Kriegsausbruch Version 3 Während die zweite Version elaborierter war als die erste, ist die dritte kürzer als die beiden vorherigen.10 Auch hier wird die Erinnerung an den Kriegsausbruch ganz am Anfang des Interviews erzählt, aber sie steht hier in einem etwas anderen Zusammenhang: Deutlicher als in den vorherigen Versionen schildert die Patientin hier am Beginn des Interviews ihren Eindruck als Kind, dass der Mutter immer alles zu viel gewesen sei; als Erwachsene könne sie das bestätigen; die Mutter sei auch angesichts ihres Alters völlig überfordert gewesen. Transkriptbeispiel 3: Kriegsausbruch – Version 3 1 E: und: woran ich mich äh also (.) DEUTlich erINnere, 2 also. die zeit VORM dritten LEbensjahr 3 DA (.) kann ich mich eigentlich NICHT erinnern –
9 Vgl. Quasthoff (1993, 50), die für die Verwendung direkter Rede beim Wiedererzählen eine starke Tendenz zur Konstanz feststellt; vgl. auch Norrick 1998; Gordon 2006. Ein Beispiel wird außerdem in Gülich (2007) in drei Versionen der Erzählung einer anfallskranken Patientin beschrieben. 10 Neben dem Elaborieren ist beim Wiedererzählen auch eine Tendenz zum Kondensieren beobachtet worden: „Narratives [. . .] change over time by becoming more condensed, partially more distanced, and more enclosed“ (Habermas und Berger 2011, 216; vgl. Holmberg et al. 2004); es handelt sich hier allerdings nicht um genuin linguistische, sondern um psychologische Untersuchungen.
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I: E:
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I: E:
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ja und A:ber an den tach als de:r zweite WELTkrieg ausbrach; da weiss ich noch GANZ genau, meine MUTter hat nämlich am FÜNFten september hatte sie geBURTStach? hm_hm und sie hat äh °h ei_einige tage davor eben ganz gründlich SAUber gemacht und garDInen gewaschen und stand also grade in: inner FENsterbank ja und wollte garDInen aufhängen und ähm dann kam durch diesen VOLKSempfänger die MITteilung_ähm hm_hm dass der (.) KRIEG äh äh eben AUS:gebrochen ist,
und:_äh dann: ging bei meiner MUTter gingen die ARme mit den leicht feuchten garDInen RUNter und sie fiel also von der FENSterbank RUNter (-) auf die ERde und weinte und weinte BITterlich. hm und DAS war für mich_n (.) ein erWAchen aus dem BAbydasein. ach ja. hm_hm das war GANZ schoCKIErend und hm_hm ei_da kann ich mich GANZ genau erINnern. und ich weiss auch noch wie (.)
ähm GUCK doch mal das kind is:_äh is toTA=
ja.hm_hm und_äh ja und dann sachte meine mutter ich mu_ich hab schon meinen VAter im ERsten weltkriech verloren und jetzt verlier_ich noch meinen mann im ZWEIten; und dann o::ch und dann hat sie BITterlich geweint. hm_hm und das war für mich das erWAchen aus dem BAbydasein. ja. hm_hm. und können sie:ähm (--) die beZIEhung beschreiben die sie als KLEInes kind_ähm (-) zu ihren ELtern hatten?
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Erinnerungsthematisierungen kommen auch in dieser Version vor. Ähnlich wie in der zweiten Version wird die Erinnerung hervorgehoben durch die betonte Qualifizierung als DEUTlich und GANZ genau sowie durch den Kontrast zu der Zeit vor dem dritten Lebensjahr, an die es keine Erinnerungen gibt. Auch hier wird erklärt, warum gerade dieses Ereignis in Erinnerung geblieben ist. Auch die Deutung als ein erWAchen aus dem BAbydasein (Z. 25) wird hier nach dem ersten Teil der narrativen Rekonstruktion formuliert. Die Rekonstruktion der Szene, in der der ältere Herr auf die Angst des Kindes hinweist, wird auch hier durch eine Erinnerungsthematisierung eingeleitet (Z. 30: und ich weiß auch noch wie . . . ). Im Anschluss daran wird die Deutung (Z. 40: das erWAchen aus dem BAbydasein) reformuliert. Aber während diese Deutung in der zweiten Version aus der Erzählung heraus entwickelt wird, hat sie sich hier bereits verfestigt und erscheint als fertiger, vorgeformter Ausdruck. Die Rekonstruktion des Ereignisablaufs folgt weitgehend dem Muster der zweiten Version: Das Auftreten des alten Herrn wird nach dem Weinen der Mutter und der Interpretation als erWAchen aus dem Babydasein (Z. 25) erzählt, und erst dann folgt die Klage der Mutter (Z. 35–38). In einem Punkt unterscheidet sich die dritte Version von den beiden vorherigen: Nach einer leichten einleitenden Verzögerung (Z. 20: und:_äh dann: ging) folgt – mit einer Selbstkorrektur durch einen Konstruktionswechsel – eine flüssige Darstellung des Herunterfallens der Mutter von der Fensterbank: und:_äh dann: ging bei meiner MUTter gingen die ARme mit den leicht feuchten garDInen RUNter und sie fiel also von der FENSterbank RUNter (Z. 20–22). In den beiden vorherigen Versionen wurde diese Darstellung als unsicher in Bezug auf die Wortwahl kommentiert: sie (.) KIPPte und SPRANG = also das WAR kann ich nicht mehr defiNIERren wie des überhaupt ging (Version 1, Z. 27–29), und weiß ich nich ob se gefALlen is oder was (Version 2, Z. 21). Der ausführliche Kommentar der ersten Version wird schon in der zweiten stark verkürzt; in der dritten wird ganz darauf verzichtet. Das ist auch ein Beispiel dafür, wie sich die Form der narrativen Rekonstruktion im Prozess des Wiedererzählens verfestigt. Allerdings folgt in der dritten Version auf die Mitteilung aus dem Radio, dass der (.) KRIEG äh äh eben AUS:gebrochen ist (Z. 17), ein metadiskursiver Kommentar der Erzählerin: ≪beiläufig > jetzt kann ich nicht geNAU sagen wie die WORT_äh_äh: ähm wortlaute WAren, > (Z. 18–19). Die Markierung einer Formulierungsschwierigkeit bleibt also bestehen, wird aber auf eine andere Äußerung vorgezogen. Szenische Darstellungselemente finden sich auch in der dritten Version bei der Redewiedergabe des alten Herrn, die dadurch wieder deutlich in ihrer Relevanz markiert ist: ähm GUCK doch mal das kind is:_ äh is toTA = ≪besorgt > guck doch mal die ZITtert ja am ganzen körper > (Z. 32–33). Ebenfalls in Form direkter
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Rede wird hier – wie in der ersten, aber anders als in der zweiten Version – die Äußerung der Mutter zitiert: ich hab schon meinen VAter im ERsten weltkriech verloren und jetzt verlier_ich noch meinen mann im ZWEIten (Z. 36–37). Die szenische Gestaltung erweist sich also in allen drei Versionen als konstant und macht den Charakter dieser Elemente des Ereignisablaufs als einer Schlüsselszene deutlich.11 Der neue Aspekt, der die dritte Version auszeichnet, liegt darin, dass die Interpretation der Erinnerung des Kriegsausbruch-Erlebnisses als Ende der Kindheit hier schon verfestigt zu sein scheint.12 Das zeigen unter anderem die wörtliche Wiederaufnahme der Formulierung erWAchen aus dem BAbydasein (Z. 25, 40) oder auch der Rekurs auf vorgeformte Ausdrücke (Z. 23: weinte BITterlich und Z. 38: hat BITterlich geweint). Während die zweite Version in mehrfacher Hinsicht elaborierter ist als die erste, ist die dritte weniger elaboriert als beide vorherigen; sie weist Spuren von Routine auf. An einigen Stellen verwendet die Erzählerin Partikeln wie nämlich (Z. 7) oder eben (Z. 10) oder den Demonstrativartikel durch diesen VOLKSempfänger (Z. 15), dieser ältere HERR (Z. 31), die das Erzählte als bereits bekannte Information zu präsentieren scheinen, obwohl auch das dritte Interview von einer neuen Interviewerin geführt wird. Jede Interviewerin hört die Geschichte zum ersten Mal, aber für die Erzählerin ist es ein Wiedererzählen, bei dem nicht nur die Erfahrung des Kriegsausbruch-Ereignisses erneut rekonstruiert wird, sondern in das auch die Erfahrung eingeht, dieses Ereignis schon erzählt zu haben: „Thus each retold narrative is itself a next-event“ (Schiffrin 2006, 275). Für Schiffrin ist daher jede Folgeerzählung zugleich auch meta-narrativ: „it [the narrative] is not only about an experience, but also ‚about‘ prior narratives. Perhaps the incorporation and reframing of one’s own prior narrative as an experience [. . .] is the most important experiential source of all for a retold narrative“. (Schiffrin 2006, 275). Insofern verdienen die sprachlichen Spuren, an denen zu erkennen ist, dass wiedererzählt wird, besondere Aufmerksamkeit bei der linguistischen Analyse.
11 Vgl. Norrick (1998, 94) zum „consistent use of specific narrative techniques at crucial points“; vgl. auch Schiff et al. 2006. 12 „Perhaps frequent retelling leads some tellers to crystallize and recycle stories as fairly complete units [. . .].“ (Norrick 1998, 94–95).
2 Kriegsausbruch: Drei Versionen einer frühen Kindheitserinnerung
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2.4 Zusammenfassung Abschließend werden die wichtigsten Unterschiede zwischen den drei Versionen mit Hilfe tabellarischer Darstellungen kurz zusammengefasst. Tab. 1: Versionenvergleich: Erinnerungsthematisierung. Version Kurze Thematisierungen des Erinnerns als Rahmung und als Strukturierungsmittel, regelmäßig nach narrativen Rekonstruktionsaktivitäten Version Anfangs ausgebaut mit account, später auch als Strukturierungsmittel verwendet – aber seltener als in (), Rahmung: diese Erinnerung als die erste Version Anfangs ausgebaut mit account, spätere Thematisierungen noch seltener
Tab. 2: Versionenvergleich: Deutung der Erfahrung. Version Keine Deutung der Erfahrung, emotionale Evaluation: das war für mich ganz schrecklich Version Schrecken als Ende des Babydaseins gedeutet, Expansion zur Entwicklung der individuellen Bedeutung mit Stützung und Interpretationshilfen durch die Interviewerin, Wiederaufnahme mit Ausarbeitung einer verallgemeinernden Expansion Version Verfestigte und kondensierte Form der Deutung (Erwachen aus dem Babydasein), kurze emotionale Evaluation, Wiederaufnahme der verfestigten Form am Ende (Erwachen aus dem Babydasein)
Tab. 3: Versionenvergleich: Adressatenorientierung. Version Hohe Adressatenorientierung Version Ko-konstruktive Emergenz der Deutung der Episode mit hohem Formulierungsaufwand Version Verfestigung des Deutungsmusters
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Veränderungen von Geschichten beim Erzählen
Tab. 4a: Versionenvergleich: Szenische Darstellungen (Mutter). Stimme der Mutter: Begründung und Plausibilisierung der Verzweiflung Version Direkte Rede (ich hab meinen Vater schon verloren . . . ) folgt auf narrative Rekonstruktion (sie hatte ja auch ihren Vater schon verloren . . . ) Version Indirekte Rede (dann sagte meine Mutter eben, se hat schon ihren Vater verloren . . .) Version Direkte Rede (dann sachte meine Mutter, ich mu /ich hab schon meinen Vater verloren . . . )
Tab. 4b: Versionenvergleich: Szenische Darstellungen (alter Herr). Stimme des alten Herrn: Appell an die Mutter, die Wirkung ihres Gefühlsausbruchs auf das Kind zu beachten (kuck das Kind an). Version Aufforderung an die Mutter sich zusammenzunehmen, Benennung der Emotion des Kindes (Entsetzen), Beschreibung des nicht-sprachlichen Emotionsausdrucks des Kindes (Zittern) Version Beschreibung des nicht-sprachlichen Emotionsausdrucks des Kindes (Zittern), Benennung und Hochstufung der Emotion des Kindes (furchtbare Angst) Version Ansatz zu einer Beschreibung abgebrochen (das kind is äh tota . . . ), Beschreibung des nicht-sprachlichen Emotionsausdrucks des Kindes (Zittern)
3 Psychologische Interpretation Wie lässt sich nun die Veränderungsdynamik der drei Versionen aus psychologischer Sicht interpretieren, wenn wir unmittelbar von den linguistisch erarbeiteten Kategorien ausgehen, und welche methodischen Schritte sind damit verbunden? Der Blick auf den Text mit psychologischen Theorie und Erfahrungsbeständen erweitert durch diese neuen Wissensquellen die Interpretationshorizonte (LuciusHoene und Deppermann 2004a, 103–106). Für unsere besondere Fragestellung nach der Bewältigungsleistung des Erzählens bei Krankheit oder belastenden Erfahrungen können wir als theoretische Grundlagen zum Beispiel Aspekte der Coping-Theorie mit ihren Wurzeln in Stresstheorie und Abwehrlehre, die Theorie der Salutogenese mit den Aspekten des Kohärenzgefühls (Antonovsky 1982), humanistische Psychologie, verhaltensmedizinische Aspekte und viele andere mehr heranziehen. Klinische Erfahrung, psychotherapeutische Kompetenz oder das Wissen um medizinische Settings und Verfahrensweisen können zusätzlich zur Ideenproduktion im Sinne einer Erweiterung von interpretativen Möglichkeiten
3 Psychologische Interpretation
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herangezogen werden. Mit diesem Wissen können die in der linguistischen Textanalyse identifizierten sprachlichen Merkmale und kommunikativen Funktionen in psychische Funktionen und Bedeutungen übersetzt werden. Dies geschieht immer hypothesenhaft und nie top-down im Sinne einer kategorialen Zuordnung von theoretischem Postulat und Textmerkmal, sondern als Suchheuristik (siehe auch Kap. 4). Für unser Transkript bieten sich besonders folgende psychologische Anknüpfungspunkte im Text an: 1. Die Thematisierungen des Sich-Erinnerns, die in allen drei Texten auffällig aber unterschiedlich häufig erscheinen (wie sich in der Synopse im Anhang gut beobachten lässt), können dafür sprechen, dass die Erzählerin diesem Ereignis nicht nur einen besonderen Stellenwert als ganz frühe Erinnerung zukommen lassen will, sondern gleichzeitig auch darum bemüht ist, die Authentizität und Zuverlässigkeit des Erzählten gegenüber der Zuhörerin zu betonen. Diese Relevanzmarkierungen können als Aufwertung im Sinne einer besonderen psychologischen Bedeutsamkeit gesehen werden. Gleichzeitig werben sie auch um Aufmerksamkeit und Zuwendung der Zuhörerin, die, so könnte man vermuten, als psychologische Wissenschaftlerin in einem medizinischen Forschungskontext eine besondere Rolle bei der Unterstützung und Anerkennung der Problematik übernehmen kann. 2. Ein auffälliges und wichtiges Phänomen im Textvergleich, das sich wegen seiner Geringfügigkeit erst durch die minutiöse sprachliche Analyse erschließt, zeigt sich in Abschnitt 16 der Synopse (siehe Anhang) in der zweiten Erzählversion. Er beginnt mit einem Beitrag der Erzählerin: und also das ist das ERSte was jetzt so VOR mir steht- wo ich praktisch aus diesem (.) KLEIN: BAbyhaften Dasein ähm (-) irgenwie geRISsen wurde nich (I: hm_hm) durch den SCHRECKen. Hiermit liefert die Erzählerin erstmals eine Deutung der gesamten Episode in ihrer Relevanz für ihre ganze Biographie: Ihre früheste Erinnerung bedeutet schon das Ende ihres Kleinkinddaseins; der Moment, in dem sie sich selbst erstmals als Person wahrnehmen kann, ist bereits tragisch überschattet. Die Interviewerin unterstützt nun diese Deutung nicht nur mit einem Hörersignal, sondern bekräftigt ihrerseits mit ihrem kurzen und leisen Kommentar da waren sie dann grad mal drei und ein früher Zeitpunkt die Auffälligkeit dieses frühen Alters. Entgegen der eher enthaltsamen Technik des Interviewens im AAI streicht sie mit dann grad mal das Ungewöhnliche und nicht Regelhafte heraus und ratifiziert damit nicht nur die Deutung als biographische Belastung, sondern lässt auch unmissverständlich ihre eigene emotionale Betroffenheit erkennen. Die Erzählerin geht nicht unmittelbar darauf ein, sondern fährt in der Geschichte fort. Nach der Schilderung des Weinens der Mutter, das sie mit dem Adjektiv bitterlich belegt, lässt sie den alten Herrn
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eingreifen, der sich der Angst des Kleinkindes annimmt und versucht, die Aufmerksamkeit der verzweifelten Mutter darauf zu lenken – ohne Erfolg, denn die Mutter begründet nun ihre eigene Not mit dem Wissen, dass sie nun ihren Mann verlieren wird, nachdem sie schon ihren Vater im Krieg verloren hat. In Abschnitt 29 (siehe Synopse im Anhang) rekapituliert die Erzählerin nochmal die Bedeutung dieser Episode für ihr ganzes Leben und begründet sie mit einer Art „allgemeiner und dann auf sich selbst bezogener Entwicklungstheorie“: ein Kleinkind möchte sich anlehnen, weil es die Welt noch nicht verstehen kann. Ihre eigene Mutter hingegen war verzweifelt und nicht in der Lage, ihr dies zu bieten. Bereits mit Beginn ihres bewussten Daseins ist sie also durch die Hilflosigkeit und Not der Mutter ungeschützt; statt der Mutter nimmt nur ein eigentlich fremder Mann ihre Angst wahr. Im weiteren Verlauf des Interviews tauchen in allen Versionen mehrfach Geschichten mit ähnlichen psychischen Konstellationen auf, wie etwa beim Tod des Vaters, der tatsächlich genau wie die Mutter es vorhergesagt hat, im Krieg fällt. In ihrer eigenen Angst und Verzweiflung findet sie auch hier keinerlei Trost und Unterstützung bei der überforderten Mutter, lediglich der alte Herr erkennt auch in weiteren Episoden ihre Situation und versucht sie zu schützen, bekundet und bestätigt damit auch gleichzeitig das Versagen der Mutter. Ihre biographische Deutung ihres Lebens begründet sich in diesem Muster: da die Mutter mit ihrem eigenen Leid überfordert ist, bleibt die Erzählerin vom Kleinkindalter an ungeschützt und ungetröstet. Mit diesem Deutungsmuster findet sie eine Kompromissbildung in ihrem Verhältnis zur Mutter, deren Versagen sie auch an anderer Stelle bitter beklagt, die sie aber auch gleichzeitig durch deren eigene zeitgeschichtliche Tragik ein Stück weit exkulpieren kann. 3. In der dritten Version bietet sie dieses Erlebnis bereits sehr früh im Geschehen als das schockierende Erwachen aus dem Babydasein an. Dieses Deutungsmuster hat sich – wie man postulieren kann – durch seine empathische Stützung durch die zweite Interviewerin ausgebaut und verfestigt. 4. Der Gewinn dieser Darstellung für die Erzählerin besteht also darin, dass sie ihr eigenes biographisches Leid durch die schwere Kindheit und die weitere gravierende Erkrankung als Vernachlässigungssituation deuten kann, gleichzeitig aber auch für die Mutter als Verursacherin eine Erklärung findet, die das ganze Leid letztlich in der Tragik des Zeitgeschehens verankert. Die zweite Interviewerin bietet hier durch ihre empathische Perspektivübernahme eine Bestätigung und Stützung. In unserem Beispiel, das sich noch weiter ausbauen ließe, konnte die linguistische Analyse genaue Hinweise auf die Art der interaktiven und narrativen Entfaltung der Deutung als Ko-Konstruktion liefern. Das Wiedererzählen, das in
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psychotherapeutischen Kontexten häufig auftaucht und oft von Seiten der Therapeuten als zähes und unproduktives Verharren in einem Konflikt erlebt wird, kann bei genauem linguistischen Vergleich wie in unserem obigen Beispiel durch die minutiöse Beachtung von Veränderungen und Interaktionen Ansatzpunkte von Verschiebungen in Deutungen, Bewertungen oder Geschichtskonstruktionen aufzeigen, die möglicherweise wieder neue Ansatzpunkte für therapeutische Verstehens- und Interventionsprozesse bieten. Unser psychologisch deutendes Vorgehen setzt also nah an der sprachlichen Ausgestaltung des primären Textes an. Weitere und psychologisch weitreichendere, aber auch zunehmend top-down-geleitete Interpretationsmöglichkeiten eröffnen sich, wenn man zu der linguistischen Analyse Ansätze hinzuzieht, die eine theoretisch fundierte Verbindung zwischen Textmerkmalen und psychologischen Konzeptualisierungen schaffen. Hier bewegt sich zum Beispiel die psychoanalytisch fundierte Erzählanalyse JAKOB (Boothe und Wyl 2004) mit ihrer dynamischen Theorie der Entstehung der Erzählung als Kompromissbildung und Interaktion zwischen Wunsch und Angst eng am erzählten und sprachlich gestalteten Text und kann ebenfalls für ihre Auswertungskategorien von linguistisch eruierten Merkmalen profitieren.
4 Methodisches Vorgehen und Gewinn des interdisziplinären Arbeitsprozesses 4.1 Verschränkung der Perspektiven im Interpretationsprozess In unserem bisherigen Beitrag erweckt die Darstellung der beiden Bearbeitungsprozesse aus linguistischer und aus psychologischer Sicht den Eindruck, als ob sie zwei getrennte und hintereinandergeschaltete Arbeitsschritte seien. Dies ist jedoch lediglich eine Konzession an die Lesbarkeit und systematische Gliederung des Artikels; sie soll der Übersichtlichkeit über die jeweiligen Interpretationsergebnisse dienen. In der konkreten textanalytischen Arbeit findet die Bearbeitung in einem gemeinsamen, methodisch wie inhaltlich verschränkten Prozess statt. Unsere Arbeitsweise, die sich in mehreren Projekten und im Umgang mit verschiedensten Korpora etabliert hat, vollzieht sich in interdisziplinären Gruppen, in denen von den Teilnehmern sowohl linguistische als auch psychologische Aspekte zusammengetragen werden, die sich wechselseitig ergänzen und bereichern. Während am Beginn des Interpretationsprozesses immer eine strukturelle und sequenzielle Analyse des Transkripts steht, verbinden sich in der folgenden Zeile-für-Zeile-Bearbeitung linguistische und psychologische Beobachtungen zu konversationellen Merkmalen und narrativen Darstellungsstrategien.
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Die Übergänge zu Überlegungen, die sich auf lokale und übergreifende Funktionen beziehen und einen Beitrag zu den in Kapitel 3 erwähnten psychologischen Aspekten des Erzählens und seiner kommunikativen Verhandlung leisten, sind fließend; aber wir legen Wert darauf, uns bei jedem Arbeitsschritt klarzumachen, aus welcher disziplinären Perspektive wir jeweils analysieren oder interpretieren. Dabei vollziehen sich interpretative Kreisbewegungen, bei denen linguistische und erzählstrukturelle Beobachtungen Ideen für psychologische Kontextualisierungen und Deutungen provozieren. Diese psychologischen Deutungen können ihrerseits als Suchheuristik für linguistische Phänomene dienen, anhand derer die psychologischen Hypothesen hinterfragt und erweitert, bestärkt oder zurückgewiesen werden können. Mit der Herausarbeitung von psychologischen Deutungsvorschlägen lassen sich dann wieder neue linguistische Aspekte finden. Der ganze Prozess verläuft in hermeneutischen Bewegungen zwischen lokalen Interpretationen und den sukzessive hinzuzuziehenden Abgleichungen mit anderen Textabschnitten
Abb. 1: Verschränkungen psychologischer und linguistischer Perspektiven bei der Textarbeit.
4 Methodisches Vorgehen und Gewinn des interdisziplinären Arbeitsprozesses
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sowie weiteren exmanenten Deutungshorizonten. Analyseleitend sind dabei die gemeinsamen Forschungsfragestellungen, die der interdisziplinären Forschungsthematik zugrunde liegen (siehe Abb. 1).
4.2 Erkenntnisgewinn für Linguistik und Psychologie 4.2.1 Erkenntnisgewinn für die linguistische Erzählforschung Auf der Grundlage empirischer Analysen spezifischer Gesprächskorpora lassen sich kommunikative Ressourcen (Merkmalscluster oder Verfahren) herausarbeiten, die bei der narrativen Rekonstruktion wichtiger Erlebnisse, wie zum Beispiel Schlüsselerfahrungen, mehr oder weniger genutzt werden. Diese Ressourcen können genau beschrieben und soweit möglich für die Nutzung im interdisziplinären Kontext operationalisierbar gemacht werden. Linguistische Analysen können aber aus sich heraus keine komplexeren, zum Beispiel biographischen oder identitätsstrategischen Sinnhorizonte des Erzählens begründen. Diese Möglichkeit bietet im Kontext des vorliegenden Beitrags die Hinzuziehung psychologischer Konzepte. Auch Veränderungen in narrativen Rekonstruktionsprozessen können linguistisch erfasst werden; dafür bietet die Untersuchung von Fabeck (2012) ein eindrucksvolles Beispiel. Die Autorin vergleicht die Dynamik narrativer (Re-) Konstruktionen im Behandlungsverlauf dissoziativer Patienten und etabliert Kategorien der Veränderung, zum Beispiel die Zunahme der narrativen Rekonstruktion biographischer Inhalte und die Zunahme dramatisch-episodischer Rekonstruktionen oder die Zurücknahme des Abwehrmechanismus Projektion u. a. Diese Kategorien werden auf der Grundlage von Beobachtungen an den Gesprächen, aber auch vor dem Hintergrund psychologischer Konzepte formuliert. Als sinnvoll und vor allem als brauchbar erweisen sie sich erst, wenn man sie im Kontext der psychotherapeutischen Arbeit mit Patientinnen sieht. Der Erkenntnisgewinn entsteht also aus der Möglichkeit, die Analyse der Erzählungen der Patientinnen durch eine Interpretation in einem anderen Paradigma weiterzuführen. Bei der narrativen Rekonstruktion des Schlüsselerlebnisses Kriegsausbruch können die gleichbleibenden und die sich verändernden narrativen Darstellungsverfahren für genuin linguistische Fragestellungen durchaus von Interesse sein: „Retelling and retold stories have an special heuristic value for our understanding of narrative processes“ (Norrick 2000, 67). Die Analysen gewinnen aber an Reichweite, wenn man die Frage nach den Gründen der Veränderungen und nach ihrer Bedeutung stellt, die zum Beispiel in konversationsanalytischer Arbeit bewusst ausgeklammert wird.
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4.2.2 Erkenntnisgewinn für die Psychologie Für die Psychologie bedeutet die textanalytische Zusammenarbeit mit der Linguistik und der Fundierung ihrer Interpretationen in mikrosprachlichen Phänomenen einen erheblichen methodischen und erkenntnistheoretischen Zugewinn. Verstehensprozesse in klinischer Psychologie und Psychosomatik operieren zumeist an größeren Aussagekomplexen, gestalthafteren Impressionen des Gesprochenen und theoriehaltigen Deutungshorizonten, die oft top-down angelegt und nur flüchtig mit den konkreten Äußerungen gekoppelt werden. Durch die konversationsanalytischen Methoden und Betrachtungsweisen erweitert sich das Spektrum an Phänomenen, die zur Aufmerksamkeit gelangen und Interpretationen begründen können, ganz erheblich. Der hohe Auflösungsgrad der Analyse von Darstellungsstrategien und interaktiven Prozessen ermöglicht eine präzise Rückbindung psychologischer Deutungen an konkrete sprachliche Aspekte und Textpassagen. Sie können damit empirisch ausgewiesen, nachvollzogen und direkt am Material diskutiert und fundiert werden. In unserem Analysebeispiel lässt sich dies zum Beispiel durch die minutiöse Betrachtung der geringfügigen Veränderungen zwischen den Versionen belegen. So lässt sich aufzeigen, dass die minimalen Bemerkungen der zweiten Interviewerin in Abschnitt 16 unserer Synopse die Etablierung eines biographischen Deutungsmusters und seine Stabilisierung zur Folge haben, das für das gesamtbiographische Verstehen der Patientin eine komplexe Funktion übernimmt. Dies wirft ein Licht darauf, unter welchen Überlegungen und Bedürfnissen ihr Verarbeitungsprozess operiert. Die Zusammenarbeit mit der Linguistik ist für die Psychologie immer dann von hohem Nutzen und auch zwingend, wenn psychische Prozesse nicht unabhängig von ihrer Versprachlichung und interaktiven Verhandlung betrachtet werden sollen. Beispiele, wie genuin psychologische Fragestellungen durch minutiöse Textarbeit in Kooperation mit der Sprachwissenschaft vertieft und paradigmatisch geöffnet werden können, sind etwa die Arbeit von Schäfer-Fauth (Schäfer-Fauth et al. 2014) oder von Haug (Haug 2015; Lucius-Hoene et al. 2012). Schäfer-Fauth untersucht, wie Patienten vor und nach gesichtschirurgischen Eingriffen die Bedeutung ihres Gesichts und seiner Problematik in Narrativen thematisieren. Haug fokussiert die Art und Weise, wie Patienten den Ärzten in Narrativen ihrer Krankheitserfahrungen Stimme verleihen und dadurch auch Aspekte ihres Krankheitserlebens verarbeiten.
5 Institutionelle Nutzungsmöglichkeiten und Ausblick
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5 Institutionelle Nutzungsmöglichkeiten und Ausblick Im Fall unseres Beispiels des Wiedererzählens von Schlüsselerfahrungen haben wir zu zeigen versucht, dass gemeinsame Forschungen die Möglichkeit bieten, sprachliche bzw. kommunikative Verfahren in Beziehung zu setzen zu einem psychologischen Konzept wie Bewältigung, das auch in der Beschäftigung mit traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen eine Rolle spielt. Hierfür noch weitere, evtl. präzisere Kriterien zu finden und diese dann in diagnostische und therapeutische Prozesse einzubeziehen und ggf. in Praxiszusammenhängen zu nutzen, stellt für weitere Forschungen eine Herausforderung dar, die die Möglichkeiten einer Disziplin übersteigt. In diesem Sinne zeigt unser Beitrag beispielhaft die Potenziale interdisziplinärer Zusammenarbeit. Die Gesprächsforschung ist im Vergleich zu Gebieten wie Syntax, Semantik oder Phonetik ein relativ junges Arbeitsgebiet der Sprachwissenschaft. Vergegenwärtigt man sich die Entwicklung dieses Gebiets, so erkennt man, dass die Anfänge nachhaltig von Anregungen aus anderen Disziplinen geprägt sind: Das Interesse an sprachlichem Handeln, ohne das eine Gesprächsforschung kaum vorstellbar wäre, kommt aus der Sprachphilosophie, speziell aus der Sprechakttheorie (Austin 1962), das Interesse am Gespräch, an der Interaktion aus der Soziologie: Die Konversationsanalyse wurde von Harvey Sacks seit Anfang der 1960er Jahre entwickelt (vgl. Sacks 1992) als ein ethnomethodologisches Forschungsprogramm für die Analyse sozialer Interaktionen. Insofern ist die Gesprächsforschung in gewisser Weise prädestiniert für interdisziplinäre Arbeit. Da in den verschiedensten Tätigkeitsfeldern in institutionellen und/oder professionellen Interaktionszusammenhängen Gespräche eine zentrale Rolle spielen, liegt es nahe, Ergebnisse von Gesprächsanalysen in andere disziplinäre Kontexte einzuordnen und ihren Beitrag zur Erreichung kommunikativer bzw. interaktiver Ziele zu reflektieren. Diese Möglichkeit der Einordnung, Reflexion und damit auch Relevanzsetzung stellt an sich schon einen Erkenntnisgewinn dar. Darüber hinaus kann sich daraus auch die Chance ergeben, Einfluss auf bestimmte Praxisbereiche zu nehmen, sie mitzugestalten. Als Beispiele lassen sich – über den vorliegenden Beitrag hinaus – interdisziplinäre Kooperationen anführen: in der Psychotherapie (vgl. Deppermann und Lucius-Hoene 2005; Lucius-Hoene und Deppermann 2004a), in Beratungstätigkeiten wie etwa in der Telefonseelsorge (z. B. Gülich und Krämer 2009), in der medizinischen Diagnostik, zum Beispiel von Anfallskrankheiten (z. B. Jenkins und Reuber 2014) oder Angsterkrankungen (z. B. Schöndienst und Lindemann 2012), um nur einige wenige Beispiele zu nen-
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Veränderungen von Geschichten beim Erzählen
nen. Eine solche Textarbeit kann auch im ganzen klinischen Bereich sowohl für die Ausbildung von Studierenden, Ärzten und Therapeuten als auch für die Supervision hervorragend genutzt werden. Anhand der konkreten Interpretationsarbeit können mikrosoziale Prozesse erkannt und analysiert werden, um in der zeitentlasteten Auseinandersetzung mit dem Transkript in einem Gruppenprozess Verstehen und Empathie zu fördern. Ähnliche Ansätze finden sich auch in anderen psychologischen Disziplinen wie etwa der Unterrichtsforschung und Beratung. Dabei geht es weniger darum, Anwendungsfelder für linguistische Forschung zu finden, wie der häufig gebrauchte Begriff Angewandte Gesprächsforschung suggeriert, als darum, gemeinsam über bestimmte Themen zu forschen und Probleme zu bearbeiten, die in verschiedenen disziplinären Kontexten lokalisiert sind: Sharing data, ideas, and findings – so überschreibt ten Have (1999) den Teil seines Buchs, der der Analyse institutioneller Interaktionen gewidmet ist. Neue Erkenntnisse in diesem Bereich sind das Ergebnis interdisziplinärer Kooperation. Chercheurs en interaction heißt ein Buch von Lorenza Mondada (2005), das zahlreiche Beispiele dafür bietet, wie in interdisziplinären Forschungsteams Wissen in der alltäglichen Zusammenarbeit entsteht („comment s’élabore le savoir dans la discussion collective“). Interdisziplinarität als „Alltagsgeschäft“ zu praktizieren (Gülich 2006) ist nicht immer leicht und schon gar nicht selbstverständlich, stellt aber immer einen Gewinn dar.
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Veränderungen von Geschichten beim Erzählen
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Anhang: Kriegsausbruch − Synopse Um den Vergleich der Erzählungen zu erleichtern, haben wir im Folgenden die drei Versionen in einer Synopse nebeneinandergestellt. Zur Veranschaulichung wurde für die genannten unterschiedlichen Darstellungsverfahren, die in allen Versionen auftauchen, jeweils den entsprechenden Textteilen eine bestimmte Schrifttype zugeordnet:
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Veränderungen von Geschichten beim Erzählen
Tab. 5: Hervorhebungen in der Synopse (Synopse – siehe Tab. 6). Äußerungen der Interviewerin
(DG Meta Serif Science, grau unterlegt)
Parallel auftretende Erzählsätze
(DG Meta Serif Science, fett)
Emotionsbeschreibungen
(DG Meta Serif Science, unterstrichen)
Erinnerungsthematisierungen
(DGMetaScience)
Redebeiträge der Mutter
(DGMetaScience, fett)
Redebeiträge des alten Herrn
(DGMetaScience, kursiv)
also das:ähm (.) °h ist das allerERSte wo (.) VORher hab ich so (-) KEIne (.) erINNerung. hm_hm. hm_hm.
ALso d_das ERste woran ich mich erINNere? das: war neunzehnhundertneun_nDREIß:ig als der KRIEG ausbrach. mhm
Version
ich erinnere mich äh dass: (-) also anfang sepTEMber neunz_nerdneununDREIßig da war ich dann drei(-)einhalb [JAHre] alt[mhm] der KRIEG ausbrach und ähm
°hh ALso ((räuspert sich)) da_ch ja nun schon viel erKLÄRT hatte;ähm möchte ich (.) eigentlich nicht beim FÜNFten sondern beim DRITten anfangen wenn es gestattet ist. hm_hm
Version
Tab. 6: Synopse der Erzählversionen zur Episode „Kriegsausbruch“.
(fortgesetzt )
und A:ber an den tach als de:r zweite WELTkrieg ausbrach; da weiss ich noch GANZ genau
also. die zeit VORM dritten LEbensjahr DA (.) kann ich mich eigentlich NICHT erinnern – ja
und: woran ich mich äh also (.) DEUTlich erINnere,
Version
Literatur
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und ((räuspert sich)) und sie ähm stand also in der FENsterbank und hatte garDInen gewaschen; und hing die AUF und wollte halt das zu ihrem geBURTStag denn alles SCHÖN is,
meine Mutter a_also in der FENSterbank stand und gewaschene GarDInen aufhängte. Mhm
und äh dann (.) sagte durch den h° (-) durchs RAdio kam ähm
also das eben (.) KRIEG ausgebrochen wäre.
und dass durch den: VOLKSempfänger den jeder DEUtsche damals hatte:, mhm so ein kleines RAdio dass da eben äh mit MORDSpropaganda äh MITgeteilt wurde dem volk
dass der KRIEG ausgebrochen ist. = und Mhm
und ähm (-) dass ICH also na ja so musste man dann ABstand halten un:d so-
A:ber: das war ja am (.) ich nehme mal an am zweiten dritten sepTEMber neunundDREIßig muss das gewesen sein – °hh ähm ja ich ≪lachend > weiß es DArum > so genau weil meine MUTter am fÜnften september geBURTStag hatte.
Version
Version
Tab. 6 (fortgesetzt )
dass der (.) KRIEG äh äh eben AUS:gebrochen ist,
und ähm dann kam durch diesen VOLKSempfänger die MITteilung_ähm hm_hm
und sie hat äh °h ei_einige tage davor eben ganz gründlich SAUber gemacht und garDInen gewaschen und stand also grade in: inner FENsterbank ja und wollte garDInen aufhängen
meine MUTter hat nämlich am FÜNFten september hatte sie geBURTStach? hm_hm
Version
446 Veränderungen von Geschichten beim Erzählen
und weinte und weinte BITterlich. hm
und hat GANZ ganz BITterlich geweint.
und JAMmerte und WEINte und (-)
weiß ich nich ob se geFALlen is oder was;
also das WAR – kann ich nicht mehr defiNIERren wie des überhaupt ging ja
(fortgesetzt )
und:_äh dann: ging bei meiner MUTter gingen die ARme mit den leicht feuchten garDInen RUNter
und sie fiel also von der FENSterbank RUNter (-)auf die ERde
dass meiner MUTter so die garD:Inen RUNterSANken und sie also aus der FENsterban-
dass (.) eben (.) m:eine M:UTter SO hing hängte sie die gardinen AUF? und dann fielen ihr die ARme (.) äh (.) runter; un:d sie (.) KIPpte und SPRANG =
≪beiläufig > jetzt kann ich nicht geNAU sagen wie die WORT_äh_äh:ähm wortlaute WAren, >
aus dieser FENsterbank und LAG auf der Erde JEdenfalls saß_se dann auf der ERde
und dann erINNere ich mich genau
°h dann erINnere ich mich
Literatur
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und ähm sie hatte ja AUCH ihren vater im ERSten Weltkrieg schon verloren.
und meine MUTter die war eben so entSETZT, °hh also die war wie alt WAR_se denn da; sie ist ZEHN geboren; also neununzwanzig. hm_hm
also des war für mich ganz SCHRECKlich;
Version
Tab. 6 (fortgesetzt )
und also das ist das ERSte was jetzt so VOR mir steht – wo ich praktisch aus diesem (.) KLEIN:BAbyhaften Dasein ähm (-) irgenwie geRISsen wurde nich hm_hm durch den SCHRECKen. da waren sie dann grAd mal DREI, ja. mhm. also [das is] ein [(FRÜher zeitpunkt)] das ist das ERste. und_äh: also (.) sie hat halt wahnsinnig geWEINT
Version
ei_da kann ich mich GANZ genau erINnern.
und DAS war für mich_n (.) ein erWAchen aus dem BAbydasein. ach ja. hm_hm das war GANZ schoCKIErend und hm_hm
Version
448 Veränderungen von Geschichten beim Erzählen
(fortgesetzt )
ähm GUCK doch mal das kind is:_äh is toTA = ≪besorgt > guck doch mal die ZITtert ja am ganzen körper. > ja.hm_hm
≪gedehnt, bedeutungsvoll > die ZITtert JA > die is_die hat ja (.) FURCHtbare ANGST. hm_hm
sie möge sich jetzt ≪drängend > BIT:te zuSAMmennehmen >, weil (.) er sachte ≪betont, drängend > KUCK das KIND an. mhm das KIND ist ja so entSETZT das ZITtert ja am ganzen KÖRper > . nich? Mhm
und ich weiss auch noch wie (.) ≪langsam, zögernd > dieser ältere HERR dann sachte >
das weiß ich noch ganz geNAU,
dass eben dieser H-HERR de:r den meine Mutter gePFLEGT hat gesagt hat,
und der (-) °hh alte HERR der sagte da z: kuck dir mal das KIND an
und °hh äh und da WEISS ich eben -, das seh ich ja alles noch VOR mir;
und dann JAMmerte sie äh: als = ich hab meinen VAter schon verloren, und nun ist als NÄCHStes ich weiß es ganz geNAU mein MANN dran,
Literatur
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und:ähm ((räuspert sich)) ja. das war so das ERste.
und von dem °hh (-)punkt AN hab = ich EIgentlich_ähm also da HAB ich ja geMERKT als KLEINkind dass die MUTter(-) total verZWEIfelt ist; und = en äh (.) son KLEINkind (-)m_MÖCHte sich ja wo AN(.)lehnen [hm_hm] [das] WEISS doch noch gar nich was LOS is EIgentlich in_de [WELT) ≪leise > [absoLUT] ja ≥
und:_ähm (-)JA dann: sagte meine MUTter eben se hat im ersten Weltkrieg schon ihr_n VAter verloren und jetzt verliert se wieder ihr_n MANN, se weiß = es ganz geNAU. °hh das ist ihr jetzt eben grade so beim RUNterfallen KLAR geworden. hm_hm
Version
also das wollt ich jetzt mal erWÄHnen, dass ich erINner mich also °h [SCHON auch an]
Version
Tab. 6 (fortgesetzt )
und das war für mich das erWAchen aus dem BAbydasein.
und_äh ja und dann sachte meine mutter ich mu_ich hab schon meinen VAter im ERsten weltkriech verloren und jetzt verlier_ich noch meinen mann im ZWEIten; und dann o::ch und dann hat sie BITterlich geweint. hm_hm
Version
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[und fällt Ihnen dann]äh dann ein ADjektiv dazu EIN? zu wie_se das so (.) als (.)( – ) wie die beziehung so auf ein WORT gebracht? und_äh JA und dann ging das halt so WEIter = mein VAter kam Hin und WIEder? aber ich mein_s war ja dann KRIEG und_äh das war alles ganz UNregelmäßig ja. hm_hm. und können sie:ähm (–-) die beZIEhung beschreiben die sie als KLEInes kind_ähm (-) zu ihren ELtern hatten?
Literatur
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Veränderungen von Geschichten beim Erzählen
Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des transcript Verlags. Erstveröffentlichung des Beitrags in: Schumann, Elke; Gülich, Elisabeth; Lucius-Hoene, Gabriele und Pfänder, Stefan (Hgg. 2015). Wiedererzählen: Formen und Funktionen einer kommunikativen Praxis. Bielefeld, 135–175.
Klinische Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen: Neue Wege in Datenerhebung, Analyse und Auswertung im interdisziplinären Forschungskontext zusammen mit Barbara Frank-Job, Heike Knerich und Martin Schöndienst
1 Einführung Wir möchten hier1 einen Ansatz vorstellen, der in neuartiger Weise linguistische und neurologische Perspektiven miteinander verbindet. Ausgangspunkt ist eine klinische Beobachtung, dass nämlich Patienten mit anfallsweise auftretenden Störungen zur Schilderung ihrer Symptomatiken jeweils charakteristische Darstellungsmittel verwenden, abhängig davon, worauf ihre Anfälle zurückgehen, also etwa eine epileptische oder eine dissoziative Erkrankung. Das führt zu der Frage, ob ein Sprechen, das aus bestimmten Krankheitserfahrungen hervorgeht, zu entsprechend spezifischen Mitteilungsstilen führt, die mit konversationsanalytischen Verfahren beschrieben und in Kooperation von Gesprächslinguisten, klinischen Neurologen und Psychotherapeuten in valide differenzialdiagnostische Aussagen über die Erkrankungsarten überführt werden können. Der sprachtheoretische Grundgedanke, dass menschliches Sprechen immer auch dem expliziten Wissen der Sprechenden enthobene innere Vorgänge auszudrücken vermag, wurde besonders prägnant von Argelander (1991) zum Ausdruck gebracht, einem Psychoanalytiker, der in den 1950er Jahren als Neurochirurg begonnen und sich in seinen letzten Lebensjahrzehnten immer mehr der Linguistik zugewandt hatte: „. . . dass Sprache ein kompliziertes und eigenes Medium darstellt, das in der Lage zu sein scheint, eine bisher nicht bekannte Fülle von Vorgängen der verschiedensten Art durch sich seIbst zu repräsentieren“ (Argelander 1991, 16).
1 Der vorliegende Beitrag erschien im Rahmen einer Festschrift für Michael Schecker (Freiburg), dessen Forschung in der Neurolinguistik situiert ist. Die Verbindung zu den Arbeiten von Elisabeth Gülich liegt in der interdisziplinären Ausrichtung des wissenschaftlichen Interesses. Der Beitrag gibt einen Überblick über die Forschungsarbeiten zum Thema klinische Differenzialdiagnostik und zeigt auf, wie qualitativ orientierte, gesprächslinguistische Methoden mit quantitativen, computergestützten Methoden verbunden werden können. https://doi.org/10.1515/9783110685664-017
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Klinische Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen
Diese Überlegung war Ausgangspunkt eines linguistisch-klinischen Forschungszusammenhangs, den wir in den letzten etwa 20 Jahren aufgebaut haben. In den ersten Jahren arbeiteten wir – transkriptgestützt – konversationsanalytisch. Seit 2004 wurden unsere Beobachtungen zu krankheitsspezifischen konversationellen Verfahren (das ist die Grundannahme unseres Projekts) im Rahmen verblindeter Untersuchungsdesigns Gegenstand kritischer Überprüfungen. Dabei zeigte sich, dass KonversationsanalytikerInnen, die mithin keinerlei neurologische oder gar epileptologische Expertise aufwiesen, indem sie die von uns beschriebenen konversationellen Marker erfassten, in 85% der untersuchten Fälle zutreffende diagnostische Zuordnungen zu epileptischen oder dissoziativen Erkrankungen trafen. Da Neurologen diese Unterscheidung in der Regel nur mit 60- bis 70-prozentiger Treffsicherheit vorzunehmen vermögen, war dies eine recht überzeugende Bestätigung, dass es in hohem Maße bedeutsam ist, darauf zu achten, wie PatientInnen über ihre Symptomatiken sprechen, und nicht nur, was sie darüber sagen.
2 Das Forschungsprojekt Linguistische Differenzialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen. Diagnostische und therapeutische Aspekte (Kurzform: Epiling): Die Grundideen, ihre Entwicklung und ihre Konkretisierung So sehr Neurolinguistik ausgerichtet ist einerseits auf die Hervorbringung und das Verstehen von Sprache und andererseits auch auf deren neuronale Substrate, wendet sie sich doch alltagsweltlichem Sprechen selbst eher selten zu. Zu vielgestaltig mögen ihr die Phänomene spontanen Sprechens vorkommen, um einer exakten empirischen Erforschung zugänglich zu erscheinen. Ausgehend von der im klinischen Alltag gemachten Beobachtung, dass Menschen mit paroxysmalen Erkrankungen, also etwa Epilepsien oder dissoziativen Anfällen oder Panik-Attacken, je nach Erkrankungsart unterschiedliche sprachliche Mittel (konversationelle Verfahren) zur Darstellung ihrer Anfallserfahrungen einsetzen, bildete sich eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die insbesondere folgenden Fragen nachging und -geht:2
2 Das Forschungsprojekt erhielt ab 1995 eine Anschubfinanzierung aus Forschungsmitteln der Universität Bielefeld und wurde in den Jahren 1999–2001 von der DFG gefördert; weitere Informationen und Ergebnisse: www.uni-bielefeld.de/lili/forschung/projekte/epiling/ (29.01.2020). Mitglieder der von Elisabeth Gülich und Martin Schöndienst geleiteten Projektgruppe waren (mit unterschiedlicher Dauer): Friederike v. Fabeck, Ingrid Furchner, Meike
2
Das Forschungsprojekt Epiling
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– Lassen sich die sprachlichen Mittel näher beschreiben, die zur Schilderung von Anfallserfahrungen eingesetzt werden? – Lassen sich hierbei wiederkehrende Korrelationen von sprachlichen und nicht-sprachlichen Mitteln erkennen, also Cluster von Äußerungsformaten, die als komplexe konversationelle Verfahren verstanden werden können? – Wenn dies der Fall ist: Verweisen die unterschiedlichen Cluster konversationeller Merkmale auf unterschiedliche neuronale Prozesse sowohl des Erinnerns der Anfallserfahrungen als auch des Geschehens während der Anfälle selbst? – Lassen sich bei diesen konversationellen Verfahren erkrankungstypische Verteilungsmuster erkennen? – Lassen sich die konversationellen Verfahren und die dabei verwendeten sprachlichen Mittel so parametrisieren, dass sie auch einer quantitativen Auswertung zugänglich sind? – Welche der Merkmale dieser konversationellen Verfahren lassen sich automatisch durch computerlinguistische Methoden auffinden? Um Fragen dieser Art systematisch bearbeiten zu können, bedarf es zunächst einer empirischen Datengrundlage, die es ermöglicht, die konversationellen Verfahren, auf die Patienten bei der Schilderung ihrer subjektiven Anfallserfahrungen rekurrieren, im Einzelnen konkret herauszuarbeiten und genau zu beschreiben. Arzt-Patient-Gespräche mussten aufgezeichnet und transkribiert werden. Dabei wurden zunächst ausschließlich solche Gespräche aufgenommen, die im klinischen Alltag mit stationären oder ambulanten PatientInnen im Zusammenhang mit der Behandlung geführt werden mussten, die also nicht zu Forschungszwecken arrangiert wurden. Es wurde sehr schnell deutlich, dass die anstehenden Aufgaben im Rahmen einer informellen Kooperation nicht zu lösen waren. Eine Förderung durch die DFG ermöglichte den Aufbau eines umfangreichen Korpus von vorwiegend Audio-, in einzelnen Fällen auch Video-Aufnahmen und deren Aufbereitung (Transkriptionen, Verwaltung der Daten usw.) sowie die Analyse-Arbeit einer Projektgruppe, die in regelmäßigen Analyse-Sitzungen nach und nach charakteristische Formulierungsverfahren von Anfallsschilderungen herausarbeitete. Dank der Förderung durch die DFG konnte sich an dieser regelmäßigen Analyse-Arbeit auch der Arzt (Martin Schöndienst) beteiligen, was in linguistisch-medizinischen Kooperationen häufig nicht der Fall ist. Das war umso wichtiger, als die sprachlichen Charakteristika der Anfallsschilderungen ja nicht vorgegeben waren, sondern erst entdeckt, also aus den Daten heraus entwickelt werden mussten.
Schwabe, Volker Surmann, Nicolas Sapos, Melanie Werner. Zusammenfassende Darstellungen: Gülich und Schöndienst 1999; Schwabe et al. 2008; Gülich 2012.
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Klinische Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen
Die Arbeit der Projektgruppe an den Gesprächsaufnahmen und Transkripten bestand zunächst im Sammeln von Beobachtungen an Einzelfällen und dem Entdecken wiederkehrender Muster. Sie ging grundsätzlich in Unkenntnis der Diagnose vor sich. Da viele Patienten zur Abklärung der Diagnose stationär behandelt wurden oder sich speziell zur Lösung des bei ihnen vorliegenden differenzialdiagnostischen Problems in der Klinikambulanz vorstellten, war auch für den beteiligten Arzt die Diagnose durchweg unklar. Im Epilepsiezentrum Bielefeld-Bethel, von 1986 bis 2002 geleitet von Prof. Dr. Peter Wolf, wurde 1988 die erste Station mit der speziellen Aufgabe eingerichtet, diagnostische und Behandlungskonzepte für PatientInnen mit dissoziativen Störungen zu entwickeln (Leiter: Dr. med. Martin Schöndienst); seither wurden derartige Stationen auch in mehreren anderen neurologisch-epileptologischen Kliniken etabliert. Die Beobachtungen, die die Projektgruppe an den aufgenommenen und transkribierten Gesprächen machen konnte, wurden zunächst für einzelne Patienten in einem Gesprächsprofil festgehalten und nach ersten Systematisierungsversuchen in drei Gruppen von Merkmalen eingeteilt: – Inhaltliche Aspekte der Anfälle, zum Beispiel Thematisierung und Fokussierung des Anfallsgeschehens, Detaillierungen, Rekonstruktion einzelner Anfallsereignisse (der erste Anfall, der letzte, der schlimmste oder eindrücklichste), Darstellung einer Bewusstseinslücke. Für diese inhaltlichen Aspekte wurde zusätzlich festgehalten, ob sie auf eigene Initiative des Patienten oder auf die Initiative des Arztes zur Sprache kamen. – Aspekte des Gesprächsverhaltens; dazu gehören neben dem Gesprächsverhalten insgesamt zum Beispiel die Nutzung des initialen offenen Gesprächsraums. Die Formulierung eines Anliegens, Pausen und Gesprächsinitiativen. – Sprachliche Verfahren wie Narrationen, Reformulierungen, Metaphern, metadiskursive Kommentare, Verzögerungen, Vagheitsindikatoren. Diese auf der Grundlage der Einzelfall-Studien gefundenen Merkmale konnten dann auch für vergleichende Analysen genutzt werden. Allerdings zeigte sich, dass die Gesprächsabläufe oft sehr unterschiedlich waren, weil manche Patienten zum Beispiel von sich aus detailliert einzelne Anfallsereignisse erzählten, während andere eher typische Abläufe schilderten oder erklärten, sie wüssten nichts über ihre Anfälle, sie seien ja sofort weg. Um eine größere Homogenität und damit eine bessere Vergleichbarkeit der Gespräche zu erreichen, wurde ein Gesprächs-Leitfaden für die am Gespräch beteiligten ÄrztInnen entwickelt, der Richtlinien für das ärztliche Gesprächsverhalten und die zu behandelnden Themen gibt. Er soll vor allem auch gewährleisten, dass den Darstellungen der subjektiven Anfallserlebnisse und -erfahrungen
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viel Raum gegeben wird und der Arzt sich – insbesondere in der Anfangsphase des Gesprächs – mit Fragen und medizinischen Relevanzsetzungen sehr zurückhält. Trotz dieser Vorgaben zur „Standardisierung“ handelt es sich bei den Gesprächen in unserem Korpus um „normale“ Anamnese-Gespräche als Bestandteil des Klinikalltags, das heißt sie wurden nicht eigens für Forschungszwecke geführt. Die Vorgaben zur Gesprächsführung sind zwar so beschaffen, dass sie unseren Erkenntnisinteressen entgegenkommen, ohne die medizinischen Interessen außer Kraft zu setzen, zu behindern oder zu missachten. Das bedeutet insbesondere, dass die Inhalte des Gesprächs die sind, die in den Arzt-Patient-Gesprächen in diesem Kontext ohnehin vorkommen, weil sie für die Anamnese und Diagnose wichtig sind. Der Leitfaden orientiert sich daher an den vorangegangenen Analysen, das heißt, ihm liegen zugrunde die Beobachtungen über Unterschiede zwischen den PatientInnen in Gesprächsverhalten, Darstellungs- und Formulierungsmustern und Hypothesen darüber, was eventuell wichtig (d. h. differentialdiagnostisch relevant) sein könnte. Der Leitfaden bezieht sich daher eher auf Aspekte wie die Reihenfolge der Themen, die Form ihrer Einführung etc. und zielt in erster Linie darauf ab, durch den Gesprächsverlauf vergleichbare Interaktionsbedingungen für die PatientInnen zu schaffen, um Zugang zu erlangen zu deren eigenen Relevanzsetzungen, ihren spontan bevorzugten Darstellungsmitteln und ihren Auffassungen, zum Beispiel über Bearbeitungsbedürftigkeit dargestellter Sachverhalte. Der Gesprächsverlauf soll zum Beispiel sichtbar werden lassen, – welche Anliegen die Patientlnnen selbst im Gespräch haben, angeben, verfolgen; – ob, wann und in welcher Weise sie auf ihre Anfälle zu sprechen kommen, welche Aspekte sie daraus thematisieren und welche Akzente sie setzen; – welche Darstellungs- und Formulierungsmittel sie wählen, um das Anfallsgeschehen zu beschreiben (deskriptiv vs. narrativ); – wieweit sie selbst ihre Darstellungen als bearbeitungsbedürftig behandeln (z. B. durch selbstinitiierte Reformulierungen); – ob und wie sie das Anfallsgeschehen bewerten. Zu Beginn sieht der Leitfaden eine offene Erzählaufforderung vor, die dem Patienten Raum für subjektive Aspekte seiner Beschwerden gibt und es ermöglicht, das in den Vordergrund zu stellen, was für ihn selbst relevant ist. Schon wie PatientInnen diese offene Eingangsphase nutzen, hat sich im Hinblick auf die differenzialdiagnostische Auswertung als relevant erwiesen. Auf die Eingangsphase folgt eine Phase der Anfallsschilderung, unter anderem mit Fragen, die einzelne Anfallsereignisse (den ersten, den letzten und den schlimmsten Anfall) und Anfallsaspekte (z. B. Vorgefühle, Bewusstseinslücken) fokussieren.
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Klinische Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen
Um eine konkrete Vorstellung von den unterschiedlichen Darstellungsweisen der Patienten zu geben, stellen wir exemplarisch zwei Gesprächsausschnitte einander gegenüber, die beide aus der Anfangsphase des jeweiligen Gesprächs stammen. In beiden Fällen spricht derselbe Arzt mit Patientinnen, die sich zur Abklärung der Diagnose über die Ursache ihrer Anfälle in einer Epilepsieklinik aufhalten (zu den Beispielanalysen vgl. Surmann 2005, Kap. 4.1; Gülich 2018). Transkriptbeispiel 1 Vor Beginn des hier zitierten Ausschnitts eröffnet der Arzt das Gespräch mit der Bitte an die Patientin, ihre Erwartungen an das Gespräch zum Ausdruck zu bringen. Daraufhin berichtet diese sehr flüssig und detailliert, wie und warum sie in die Klinik überwiesen wurde. Auf die Frage des Arztes, wie sich die Krankheit manifestiert, beschreibt sie zunächst ausführlich ihre Erschöpfungszustände; dies tut sie in verallgemeinernder Form im Präsens und mit Zeitangaben wie häufig oder manche Tage oder mit wenn-dann-Strukturen, zum Beispiel wenn ich morgens aufwache […] kommt sehr häufich vor dass […] oder sowie ich irgendwas gemacht habe fühl ich mich eigntlich schon erSCHÖpft. Nach dieser Schilderung setzt sie von sich aus zur Fokussierung einer Episode an: […] dieser ZUstand hält jetz schon ziemlich LANge an ich hatte: also am neu.nzehnten. Hier bricht sie ab und schiebt einen metadiskursiven Kommentar dazu ein, dass sie den Ausdruck Attacke verwende, um Anfall zu vermeiden. Anschließend kommt sie auf ihre Erschöpfungszustände zurück, charakterisiert sie als Gefühl, ZUnehmend also nich mehr so belAstbar zu sein, und fokussiert dann – wiederum selbstinitiiert – unmittelbar ein weiteres konkretes Ereignis: 01 P: .h und so äh im herbst achtennEUnzich bin ich mit meinem sohn also 02 spazieren gegangen da hat das eigntlich .h bewusst begonnen, 03 .h für mich (-) zumindest (zu) bewusst begonnen, .h wir sind 04 laTErne gegangen (-) und äh: .h hN auf einmal fing an: 05 äh .h sich all s bei=mir so zu drEhen es wurde (-) mir wurde 06 schwindelich ich hatte das gefühl dass der boden (--) so wie wAtte war 07 so=äh: .h ja äh: schwA[mmich ich also=äh wenn man auftritt dass da 08 A: [hmm, 09 P: kein boden IS 10 P: obwohl da=ja n boden WAR. (-) das lässt sich immer so schlEcht 11 beschreiben .h u:nd=ä ich hatte so das gefühl dass das was ich SEhe so 12 mein umfeld auf mich äh eben einkippt und äh .h dabei hatt=ich ne 13 stArke übelkeit (-) so=n HITZEwellegefühl vom hals bis in
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den bauchraum rein .h und so ungefähr als (also/als=äh) ich hatte das gefühl jetz h ja fließt kein blut mehr durch deinen körper.ne,: ich äh .h jetz kippste UM, oder (--) ne, äh=JA
Das hier erzählte zurückliegende Ereignis qualifiziert die Patientin als den eigentlichen Beginn ihrer Erkrankung; sie rahmt das Geschehen mit wir sind laTErne gegangen (Z. 3–4) und beginnt dann, den Ablauf einer Reihe von Wahrnehmungen und Empfindungen narrativ zu rekonstruieren, die auf einmal auftreten. Dabei leistet sie intensive Formulierungsarbeit: Verzögerungen (ähs, Dehnungen, Pausen), Wortwiederholungen, Reformulierungen, Abbrüche und Neuansätze sind sprachliche Spuren ihres Bemühens um eine differenzierte Darstellung. Als eine weitere Formulierungsressource nutzt sie Metaphern, die hier die Widersprüchlichkeit der Empfindungen besonders hervorheben: ich hatte das gefühl dass der boden (--) so wie wAtte war […] also=äh wenn man auftritt dass da kein boden IS obwohl da=ja n boden WAR. In diesem Kontext bestätigt der Arzt, der sich sonst verbal völlig zurückhält, durch ein Rückmeldesignal (hmm,) seine Zuhörerrolle und ermutigt die Patientin damit zum Weitersprechen. Diese unterbricht die Ablaufrekonstruktion, um mit einem verallgemeinernden metadiskursiven Kommentar (immer, Wechsel zum Präsens) ausdrücklich die Schwierigkeit der Formulierungsaufgabe herauszustellen (vgl Gülich 2005). Dann setzt sie die narrative Rekonstruktion ihrer Eindrücke fort, hauptsächlich mithilfe von Metaphern. Der Anfall bzw. die Aura, die ihm vorausgeht, wird nun als etwas dargestellt, das von außen auf die Patientin zukommt: das gefühl dass das was ich SEhe so mein umfeld auf mich äh eben einkippt (Z. 11–12). Dieses Gefühl konkretisiert sie durch eine Äußerung in direkter Rede, mit der sie sich selbst anspricht (das gefühl jetz äh ja fließt kein blut mehr durch deinen körper. ne,: ich äh .h jetz kippste UM,, Z. 15–16), und reformuliert es dann erst aus ihrer eigenen Sicht (1. Person: jetz=äh würd ich sterben müssen) und dann aus einer unpersönlichen Perspektive (3. Person: als wenn kei:n blut mehr durchn körper fließt, Z. 17–18). In diesem Ausschnitt sind Merkmale zu beobachten, die sich im Rahmen des Forschungsprojekts als typisch für die Rekonstruktion epileptischer Anfälle (im Unterschied zu nicht-epileptischen) erwiesen haben: selbstinitiierte episodische Rekonstruktion eines Anfalls, intensive Formulierungsarbeit bei Darstellung der subjektiven Wahrnehmungen und Gefühle während der Auren, metadiskursiver Kommentar zur Unbeschreibbarkeit (Gülich 2005), Konzeptualisierung des Anfalls als außen verortete Entität (Surmann 2005), Todesangst bzw. das Gefühl, sterben zu müssen (Lindemann 2012).
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Transkriptbeispiel 2 Das zweite Beispiel zeigt eine ganz andere Art der Anfallsschilderung und des Gesprächsverhaltens. Hier erzählt die Patientin kaum etwas von sich aus, auf Fragen antwortet sie meist kurz und relativ allgemein, es entstehen häufig längere Pausen. Der Arzt versucht mehrfach vergeblich, sie zu narrativen Rekonstruktionen, zum Beispiel des ersten oder des letzten Anfalls, anzuregen; schließlich fragt er nach einem Anfall, wo es mal so ganz markAnt war. Als die Patientin auch da wieder mit einer verallgemeinernden Schilderung antwortet, fokussiert er ausdrücklich eine bestimmte Situation: 01
A:
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P: A: P:
05 06 07 08 09 10 11
A: P: A: P:
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A: P: A: A: P:
vielleicht fällt ihnen dann irgendne bestimmte situation ein (---) (leise) nee. wos besonders blÖd war (7sec) ja:, (-) klar wenn man in gesellschaft is dann kriegt das hinterher immer ne andre wertung (?erzählen sie davon,) (--) ja wenn ich mich in in gesellschaft n ne aura bekomme ne isolierte aura und äh: dann bekommt das natürlich ne andre wErtung ich ich (kurz) ja (-) ich hab so den eindruck sie sie dEnken an ne bestimmte situation. Und wär ihnen dankbar, (-) äh wenn sie nochmal kurz ja, da warn: öh:m verschiedene (-) mh (-) bekannte bei uns und wir ham irgendwas gefeiert, (-) und ich merkte dann dieses (-) öh: (-) panikartige gefühl und was ham sie grad gemacht. sAßen sie oder ich sAß (-) [ja, (-) wir ham uns unterhalten und ich hörte zu [auf der couch oder so hm hm, und dann ähm (-) trat diese aura auf, und (…)
Obwohl der Arzt mit seiner Frage eine bestimmte Anfallssituation fokussiert, reagiert die Patientin mit einer verallgemeinernden Antwort (Z. 4–5: wenn-dannStruktur, man und Präsens). Auch auf eine ausdrückliche Erzählaufforderung (Z. 6) reformuliert sie nur die vorherige Verallgemeinerung. Erst als der Arzt sie darauf anspricht, dass sie selbst eine konkrete Situation im Sinn haben könnte, und nochmals eine direkte Bitte formuliert (Z. 9–10), setzt sie mit einem Tempuswechsel (Präteritum und Perfekt) zu einer narrativen Rekonstruktion an
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(Z. 11), die sie dann – unterstützt durch Nachfragen des Arztes – weiterführt. Dabei geht sie allerdings nicht detailliert auf das panikartige Gefühl oder die Aura ein, sondern eher auf situationsbezogene und soziale Aspekte, von denen sie einen besonders hervorhebt: ich weiß noch dass mich das besonders entsetzte, weil ich nich genau wusste was die ANdern mitgekriegt hatten. Sie setzt also eher die Meinung der anderen als die eigenen Empfindungen relevant. Beide Patientinnen stehen vor derselben kommunikativen Aufgabe, nämlich ihre Anfälle narrativ zu rekonstruieren. Sie lösen sie aber auf unterschiedliche Weise. Während die erste Patientin selbstinitiiert ihren ersten Anfall erzählt, an ihren Formulierungen arbeitet, Metaphern verwendet, erzählt die zweite Patientin nicht von sich aus; sie bevorzugt deskriptiv-verallgemeinernde Verfahren und vermeidet dadurch weitgehend die episodische Rekonstruktion des konkreten Anfallserlebnisses in einer für sie gesichtsbedrohenden Situation. Im Unterschied zur ersten Patientin rekurriert die zweite auf die Merkmale, die sich im Laufe der Projektarbeit als typisch für Patienten mit nicht-epileptischen (psychogenen) Anfällen erwiesen haben (vgl. Surmann 2005, Kap. 5.1). Die Charakteristika, die sich im Forschungsprozess aus den linguistischen Analysen ergeben und als relevant für die differenzialdiagnostische Auswertung erwiesen haben, werden im Folgenden zusammengefasst.
2.1 Reformulierungen Reformulierungen, oft auch eine Aneinanderreihung von Reformulierungen zu Reformulierungsketten oder mehrere ineinander eingebettete Reformulierungen, sind charakteristisch für PatientInnen mit epileptischen (vor allem fokalen) Anfällen. In epileptologischen Arbeiten wird dieses Phänomen aus einem normativen Blickwinkel manchmal als Weitschweifigkeit bezeichnet (vgl. Schneider 2009); wir verstehen es als intensive Formulierungsarbeit, die Patientlnnen bei der Beschreibung schwer beschreibbarer Wahrnehmungen, Empfindungen oder Gefühle aufwenden. PatientInnen mit nicht-epileptischen Anfällen hingegen wenden diese Arbeit im Allgemeinen nicht auf; sie reformulieren wenig oder gar nicht. Dabei ist allerdings auch genau auf den Gegenstand der Reformulierungstätigkeit zu achten. Patientinnen mit Epilepsien reformulieren vorwiegend ihre subjektiven Anfallssymptome. während Patientlnnen mit dissoziativen Anfällen dieses Mittel allenfalls beim Sprechen über andere Themen verwenden, zum Beispiel wenn es um situative Details, die bisherige Behandlung, Reaktionen Dritter etc. geht.
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Klinische Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen
2.2 Metadiskursive Kommentare Metadiskursive Kommentare zur Unbeschreibbarkeit oder zur schweren Beschreibbarkeit von Anfallserlebnissen gehören zu den auffälligsten Merkmalen von Anfallsdarstellungen durch Patienten. Sie sind auch in der epileptologischen Literatur thematisiert worden (Janz 1969). Schon die ersten Transkriptanalysen haben gezeigt, dass solche Kommentare häufig auftreten im Kontext anderer Verfahren wie zum Beispiel Reformulierungen oder Veranschaulichungen, die einen hohen Formulierungsaufwand dokumentieren. Detailliertere Untersuchungen der metadiskursiven Kommentare selbst sowie der Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Darstellungs- und Formulierungsverfahren zeigen, dass Patientlnnen ihren Anfallserlebnissen ganz unterschiedliche Grade schwerer Beschreibbarkeit verleihen. Dabei ist die Darstellung schwerer Beschreibbarkeit nicht an solche metadiskursiven Kommentare gebunden; sie kann auch ausschließlich mit anderen Mitteln erfolgen, zum Beispiel durch eine massive Häufung von Verzögerungen, Vagheitsindikatoren, Satzabbrüchen, Selbstkorrekturen u.ä., mit denen die Arbeit an der Formulierung sprachlich inszeniert wird. Die metadiskursiven Kommentare haben vor allem die grundlegende Funktion, die Aufmerksamkeit auf die Formulierungsarbeit zu lenken, die somit als eine schwierige, Aufwand erfordernde Aufgabe dargestellt wird. Sie leiten bei Epilepsie-Patienten immer wieder neue Beschreibungsversuche ein und sind somit auch ein Mittel zur Relevanzsetzung dieser Beschreibungen. Dass sie zum Abbruch der Äußerung, also zur Kapitulation vor der Schwierigkeit der Aufgabe führen, findet man eher bei Patienten mit nicht-epileptischen Anfällen. (Die Thematik der Unbeschreibbarkeit wird ausführlich behandelt in Gülich und Furchner 2002; Gülich 2005.)
2.3 Metaphern Metaphern und metaphorische Konzeptualisierungen haben sich im Laufe der Projektarbeit in zunehmendem Maße als relevant erwiesen. Zwar fällt in den Anfallsbeschreibungen mancher Patientlnnen der intensive Gebrauch von metaphorischen Wendungen und Vergleichen auf Anhieb auf (vgl. etwa das in Wolf et al. 2000 analysierte Beispiel), aber die Verwendung bestimmter Bildbereiche oder die Neigung zu metaphorischen Ausdrücken an sich scheint differenzialdiagnostisch nicht ergiebig. Geht man jedoch dazu über, nicht die einzelnen Metaphern, sondern die Metaphernsysteme und die diesen zugrundeliegenden Konzepte (im Sinne von Lakoff und Johnson 1980) zu betrachten,
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zeigt sich, dass Patientlnnen mit einer fokalen Epilepsie ihre Anfälle durchweg sehr deutlich konzeptualisieren, und zwar meist als eine von außen kommende und eigenständig und dynamisch agierende Entität, der sie sich aktiv (kämpfend) entgegen stellen. Patienten mit dissoziativen Anfällen hingegen konzeptualisieren ihre Anfälle in wesentlich geringerem Maße; die verwendeten Metaphern verdichten sich nicht zu einem vorherrschenden Metaphernsystem, sondern weisen im Gegenteil Brüche auf. Eine Konzeptualisierung des Anfalls als dynamisch und von außen kommende Entität tritt in keinem untersuchten Fall ähnlich prägnant hervor wie bei den analysierten Schilderungen fokal epileptisch erkrankter Patienten (vgl. Surmann 2005, der in seiner Dissertation Metaphern/metaphorische Konzeptualisierungen besonders gründlich untersucht und auch zu den anderen Analyse-Ergebnissen in Beziehung setzt).
2.4 Darstellung einer Phase eingeschränkter Selbstverfügbarkeit Ob die Patientlnnen in der Beschreibung ihrer Anfälle einen sich ereignenden Bewusstseinsverlust schildern, ist an sich nicht distinktiv, da dies PatientInnen beider Gruppen tun. Durch eine Aufschlüsselung dieser Kategorie werden aber deutliche Unterschiede zwischen Patientlnnen mit epileptischen und solchen mit nicht-epileptischen Anfällen erkennbar. So ist eine Gleichsetzung von Anfall und Bewusstseinslücke eher typisch für PatientInnen mit dissoziativen Anfällen, während die epileptischen PatientInnen den Bewusstseinsverlust eher als Teil eines Gesamtgeschehens darstellen. Außerdem tendieren sie dazu, die Bewusstseinslücke und das, was dabei mit ihnen und auch um sie herum geschieht, detailliert zu schildern, indem sie sich zum Beispiel auf Zeugenaussagen beziehen. Dissoziierende Patientlnnen hingegen neigen fast ausnahmslos zu einer holistischen, eher benennenden als detaillierten Darstellung von Bewusstseinslücken, wobei auch die verwendeten Begriffe das eigene Nicht-Mitbekommen und Nicht-Wissen oder insgesamt ein Nichts (Blackout, abgeschaltet) benennen (vgl. Furchner 2002).
2.5 Verneinungen Nachdem bereits in ersten Transkripten dissoziierender Patienten ein zum Teil geradezu spektakulär ausgiebiger Gebrauch von Negationen aufgefallen war, haben wir diese Beobachtung in der Weise einer quantitativen Überprüfung unterzogen, dass wir sämtliche von den Patienten vorgenommenen Negationen innerhalb der zwischen der initialen Erwartungsfrage und der ersten
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Klinische Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen
thematischen Initiative des Interviewers sich erstreckenden Gesprächsphase (zwischen 35 und 60 Transkriptzeilen) extrahiert haben und so eine Verneinungsdichte pro Transkriptzeile bestimmen konnten; diese war mit einem Durchschnittswert von 0.260 bei den dissoziierenden Patienten gegenüber einem Durchschnittswert von 0.037 bei den Epilepsiepatienten geradezu drastisch erhöht (Schöndienst 2002).
2.6 Pausen Eine die Redeunterbrechungen messende und in Sekundeneinheiten notierende Fein-Transkription bietet besondere Voraussetzungen zu Untersuchungen der interaktiven und auch der eventuell semantischen Funktionen von Pausen. Bereits bei den ersten Einzelfallanalysen war bei dissoziierenden Patienten eine Tendenz zu häufigeren und längeren Pausen aufgefallen. Beim quantitativen Vergleich der (zwischen 35 und 70 Transkriptzeilen umfassenden) Initialphasen von bislang sieben mit Epilepsie- und sechs mit Dissoziations-Patienten geführten Gesprächen zeigte sich ein statistisch signifikant (p < .05) häufigeres Auftreten von mehr als sieben Sekunden langen Pausen bei den dissoziierenden Patienten. Wir sehen einen Zusammenhang zwischen diesem Befund einerseits und Hinweisen auf Tendenzen zur Abtretung von Gesprächsinitiativen andererseits in der Dissoziations-Gruppe; insbesondere fällt ihre geringe Neigung zur Selbstinitiierung bzw. zu Gesprächsinitiativen zu anfallsbezogenen Mitteilungen auf; und vielleicht gehört hierher auch ihre Fokussierungsresistenz (Schöndienst 2002). Prosodische und multimodale Aspekte konnten bislang nur in Einzelfällen aufgegriffen werden (z. B. Gülich und Couper-Kuhlen 2007; Lindemann 2012); sie systematisch einzubeziehen ist noch ein Desiderat. Die kurze Skizze der konversationellen Merkmale und Verfahren, die die Projektgruppe bei der Analyse der Gespräche zwischen ÄrztInnen und anfallskranken PatientInnen gefunden hat, kann die Forschungsergebnisse natürlich nur andeuten. Ausführlichere Darstellungen finden sich in zahlreichen Veröffentlichungen, insbesondere in den umfassenden Dissertationen, die aus der Projektarbeit hervorgegangen sind (Surmann 2005; Schwabe 2006; Schneider 2009; Lindemann 2012; von Fabeck 2012; Knerich 2013). Die Ergebnisse stehen am Ende eines interdisziplinären Arbeitsprozesses: Auf dem Weg von einer sprachtheoretischen Idee zu einer klinischen Methode (Schöndienst 2000) sind mehrere Schritte zu durchlaufen: – Der erste Schritt besteht in intensiver Analysearbeit an den Daten, das heißt in eingehendem Anhören/Ansehen der einzelnen Gesprächsaufnahmen und dem genauen Lesen der Transkripte und deren Bearbeitung in
3 „Listening to people with seizures“ (Markus Reuber, Sheffield)
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der Projektgruppe, um auffällige konversationelle Verfahren zu entdecken und herauszuarbeiten. – Auf dieser Grundlage wird an Gruppen von Patienten mit identischen Diagnosen untersucht, ob bestimmte konversationelle Verfahren syndrombezogen gehäuft nachweisbar sind. – Bei Patienten, deren Diagnose noch unklar ist, wird anhand linguistischer Merkmalscluster eine klinische Diagnose gestellt. – Diese Diagnose wird mittels klinischer Verfahren (insbesondere durch Intensivmonitoring) überprüft. Nur im ersten Schritt steht die linguistische Arbeit im Vordergrund; schon der zweite führt darüber hinaus und kann nur in interdisziplinärer Kooperation geleistet werden. Es geht nicht darum, dass linguistische Analysen Ergebnisse erzielen, die dann im klinischen Bereich zur Anwendung kommen. Die Daten müssen gemeinsam bearbeitet, die Ergebnisse gemeinsam formuliert werden: Sharing data, ideas, and findings, auf diese Formel bringt ten Have 1999 die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Eine medizinisch-linguistische Forschung verlangt von beiden Disziplinen eine Umorientierung in der Beschäftigung mit Gesprächen, denn die Wahrnehmungseinstellungen sind traditionellerweise unterschiedlich: Die klinische Wahrnehmungseinstellung ist darauf gerichtet, was der Patient sagt, und was der Arzt relevant findet; die gesprächsanalytische ist statt auf Sachverhaltsmitteilungen auf die Formen des Mitteilens gerichtet, die Hinweise auf die Relevanzsetzungen des Patienten geben. Unterschiedlich sind auch die Auswertungsperspektiven: Die gesprächsanalytische Arbeit zielt auf eine genaue Beschreibung und Systematisierung, auf Entdeckung der Ordnung der Methoden der Darstellung; die klinische Auswertung zielt auf Diagnose und Therapie. Die Auswertung und Nutzung der gesprächsanalytischen Arbeit in einem klinischen Paradigma eröffnet eine interdisziplinäre Perspektive, die einige Zwischenschritte notwendig macht. Sie erfordert in einem in der Gesprächsanalyse ungewohnten Ausmaß Abstraktionen vom Einzelfall und Generalisierungen, die auch quantitative Auswertungen ermöglichen.
3 „Listening to people with seizures“ (Markus Reuber, Sheffield) Nachdem durch die Bielefelder Forschungen eine Reihe erkrankungsspezifischer konversationeller Formulierungs- und Darstellungsmuster und Metaphorisierungsverfahren entdeckt und detailliert beschrieben worden waren (vgl. zusammenfassend Schwabe et al. 2008), konnten diese Verfahren im Zuge der
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Weiterführung und Weiterentwicklung des Bielefelder Ansatzes durch Markus Reuber in Sheffield so operationalisiert werden, dass ihre Beachtung einerseits in der Praxis insbesondere von Neurologen und Psychotherapeuten Berücksichtigung gefunden hat und andererseits der Ansatz auch in der Forschung weitere klinisch-linguistische Projekte angeregt hat. Markus Reuber, Professor für Neurologie, mit Schwerpunkt Epileptologie, an der Universität Sheffield, machte nicht nur die von der Bielefelder Arbeitsgruppe beschriebenen Beobachtungen zum Gegenstand einer Überprüfung an englischen Patienten, sondern er verfeinerte die interdisziplinäre Forschung im Rahmen eines verblindeten Untersuchungsdesigns auch in methodischer Hinsicht.3 Die Anlage und die Zielsetzung, der Gesprächsleitfaden und die Ergebnisse des Bielefelder Projekts dienten als Ausgangsbasis, aber die Auswahlkriterien für die Patienten, die in die Untersuchung einbezogen werden sollten, wurden genauer bestimmt. Es handelte sich um Patienten, die zur Abklärung der Diagnose durch Intensivmonitoring an die Klinik überwiesen wurden, weil in der bisherigen Behandlung nicht geklärt werden konnte, ob sie an epileptischen oder nichtepileptischen Anfällen litten. Mit diesen Patienten werden Interviews geführt, und zwar immer von demselben Arzt, der das jeweilige Gespräch auch als Interview rahmt, indem er sich beim Patienten zu Beginn und am Ende für die Hilfe bei der Projektforschung bedankt. Das scheint allerdings im Gesprächsverlauf keinen Unterschied zu anderen Arzt-Patient-Gesprächen zu machen. Von den 20–35 Minuten dauernden Gesprächen wurden Audio- und Videoaufnahmen gemacht. Die Gespräche orientieren sich an dem im Epiling-Projekt entwickelten Leitfaden. Sie beginnen immer mit der offenen Eingangsfrage nach den Erwartungen des Patienten an den Klinikaufenthalt und enthalten immer die Fragen nach dem Anfallsablauf und nach dem ersten, dem letzten und dem schlimmsten Anfall. Um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Patienten reden, wenn sie nicht über ihre Erkrankung sprechen, fragt der Interviewer am Ende nach Freizeitbeschäftigungen oder anderen Interessen. Die Gesprächsdaten wurden in Sheffield durch LinguistInnen aufbereitet. Der Arzt enthielt sich in den Gesprächen jeglicher eigener diagnostischer Einschätzung; die Linguisten nahmen ohne irgendeinen entsprechenden Hinweis auf der Grundlage ihrer Analyse eine diagnostische Zuordnung vor. Bereits beim ersten Durchgang wurde in 17 von 20 Fällen die linguistische Diagnose durch Intensivmonitoring bestätigt (Reuber et al. 2009).
3 nähere Informationen: http://listeningseizures.wikidot.com (03.02.2020). Zusammenfassende Darstellungen: z. B. Schwabe et al. 2007; Plug et al. 2009; Reuber et al. 2009.
3 „Listening to people with seizures“ (Markus Reuber, Sheffield)
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Die Ergebnisse des Bielefelder Projekts wurden im Wesentlichen bestätigt. In einzelnen Fällen wurden Kriterien noch stärker differenziert oder auch durch neue Aspekte ergänzt. Beispielsweise haben sich die Bezeichnungen, die die Patienten für ihre Anfälle wählen (seizure, fit, attack), auch als differenzialdiagnostisch relevant erwiesen (vgl. Plug et al. 2009). Ein wichtiges Ergebnis der bereits erfolgten ersten Validierung der Projektergebnisse mit englischen Patientendaten (Schwabe et al. 2007) ist die Erstellung eines ersten formalisierten Entwurfs zur linguistischen Analyse. Dabei wurden Kriterien zur Identifizierung von diagnoserelevanten Merkmalen im Gesprächsverhalten der Patienten formuliert, die in einem neuen Projekt (siehe unten Kap. 4) als Grundlage für eine computergenerierte Analyse dienen sollen. In einer scoring table werden die Merkmale aufgelistet, bei der Analyse erfasst und mit Punkten bewertet – je nachdem, ob sie vorhanden, nicht vorhanden oder nicht relevant sind. Die Tabelle ist in drei Bereiche aufgeteilt und beinhaltet insgesamt 17 Einzelmerkmale.4 – Interaktionsverhalten (metadiskursive Äußerungen, Sprechpausen, Verzögerungssignale, backchannel-Verhalten, Diskursmarker, Zeitmanagement . . . ) – Themenbezogene Indikatoren (Anfallsbeschreibungen: bestimmte Anfälle, erster, schlimmster, letzter Anfall; Beschreibung von Kontrollverlust/unterschiedlichen Bewusstseinszuständen; Angst . . . ) – Sprachliche Formate/Verfahren (z. B. Verzögerungssignale, Reformulierungen, Wiederholungen, Abbrüche, Häufung vorgeformter Äußerungen etc.) Es werden für jedes Einzelmerkmal Werte von 1 bis –1 vergeben (1: auf Epilepsie hinweisend; 0: unbestimmt oder unbestimmbar; –1: auf nicht epileptische Anfälle hinweisend). Insgesamt ergeben sich also Werte zwischen +17 (eindeutig epileptische Anfälle) bis –17 (eindeutig dissoziative Anfälle). Angeregt durch die Forschungen in Sheffield überprüfte eine Arbeitsgruppe um Cesare Cornaggia an der medizinischen Fakultät der Università Milano-Bicoccain in einem ebenfalls geblindeten Design, inwieweit sich auch bei italienischen Patienten entweder mit epileptischen oder mit dissoziativen Anfällen konversationelle Auffälligkeiten nachweisen lassen. Auch diese Arbeit konnte die Gültigkeit der in Bielefeld und Sheffield gefundenen Merkmale und entsprechend ihre differenzialdiagnostische Validität belegen (Cornaggia et al. 2012).
4 http://listeningseizures.wdfiles.com/local–files/start/Scoring_table.doc (03.02.2020); vgl. auch Plug und Reuber 2009; Reuber et al. 2009 und Schwabe et al. 2007.
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4 Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst. Exemplarische Untersuchungen zur Bedeutung von Affekten bei Patienten mit Anfallskrankheiten und/oder Angsterkrankungen Die Grundideen und Vorgehensweisen des Bielefelder Epiling-Projekts (siehe oben Kap. 2) wurden einige Jahre später in einem weiteren interdisziplinären Projekt wieder aufgenommen, dessen Thematik unmittelbar aus dem ersten Projekt hervorgegangen ist, nämlich aus der Beobachtung, dass in den Gesprächen mit AnfallspatientInnen, die aufgezeichnet und bearbeitet worden waren, überraschend häufig Angst thematisiert wird.5 Ebenso überraschend war für uns, dass wir die Hinweise auf Angst über Jahre hinweg gewissermaßen überlesen hatten; zumindest war bei den Analysen zunächst nicht darauf geachtet worden. Die Ergebnisse des Projekts legten eine intensivierte Beschäftigung mit Angst nahe und führten zu der Vermutung, dass auch für die Einschätzung der Bedeutung von Angst im Krankheitszusammenhang die kommunikative Darstellung im Gespräch berücksichtigt werden muss, da sie Aufschlüsse über die verschiedenen Formen von affektiver Beteiligung oder Bearbeitung zu geben vermag. Es ging also nicht nur darum, die Vorkommen von Angst im vorhandenen Anfallskorpus genauer zu untersuchen, sondern auch um die Beschäftigung mit anderen Angststörungen. Um diese Arbeit in Angriff zu nehmen, wurde am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld die Kooperationsgruppe Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst eingerichtet, die aus VertreterInnen verschiedener Disziplinen zusammengesetzt war: Linguistische und soziologische Gesprächsforschung, Neurologie/Epileptologie, Psychiatrie/Psychologie/ Psychotherapie.6 Die Gruppe richtete ihre Aufmerksamkeit auf die kommunikativen Formen und Verfahren, mit deren Hilfe Patienten und Patientinnen im Gespräch mit Ärzten oder Psychotherapeuten ihre Ängste darstellen. Sie machte es sich zur Aufgabe, diese Formen einer systematischen Analyse zu unterziehen und Vergleiche zwischen verschiedenen Gruppen von PatientInnen anzustellen.
5 Kooperationsgruppe am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld vom 1. April bis zum 30. September 2004. Leitung: Jörg Bergmann, Elisabeth Gülich (beide Universität Bielefeld), Martin Schöndienst, Friedrich Wörmann (beide Ev. Krankenhaus Bielefeld: Epilepsie-Zentrum Bethel): www.uni-bielefeld.de/ZIF/KG/2004Angst/ (29.01.2020); Abschlussbericht in: ZiF-Mitteilungen 3, 2005, 4–9. 6 Mitglieder waren: Brigitte Boothe, Arnulf Deppermann, Martin Driessen, Maria Egbert, Stephanie Gerhards, Matthias Lindner, Harald Rau, Marlene Sator, Meike Schwabe, Jürgen Streeck, Ulrich Streeck.
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Nachdem sich im Epiling-Projekt das komparatistische Vorgehen als Erkenntnis-fördernd erwiesen hatte (erkrankungstypische Cluster konversationeller Merkmale werden insbesondere durch den durchgängigen Vergleich von Transkripten aus der einen und der anderen Patientengruppe gewonnen), legten wir diesen komparatistischen Ansatz auch den Untersuchungen konversationeller Merkmale von Angststörungen zugrunde. Es wurden daher PatientInnen mit sogenannten epileptischen Angstauren solchen PatientInnen mit nicht epileptischen Panikerkrankungen gegenübergestellt. Die zentrale Hypothese lautet – zusammengefasst: Um die Bedeutung von Angst im Krankheitszusammenhang erkennen und einschätzen zu können, muss die kommunikative Darstellung im Gespräch genau analysiert werden, das heißt, es müssen die Verfahren der sprachlichen (und auch der nicht-sprachlichen) Darstellung in einem gegebenen kommunikativen Kontext herausgearbeitet werden. Auch diesem Projekt lag also die Annahme zugrunde, dass die Formulierungs- und Darstellungsmuster, die Patientlnnen wählen, wenn sie Ärztinnen ihre Beschwerden schildern, differenzialdiagnostische Zuordnungen zu den verschiedenen Formen von affektiver Beteiligung oder Bearbeitung erlauben, in diesem Fall von Angst- und Anfallserkrankungen. Vorrangiges Ziel war die Erarbeitung einer Differenzialtypologie der Kommunikationsformen von Affekten bei Angst- und Anfallserkrankungen. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Angststörungen zu den häufigsten psychischen Krankheiten gehören; die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an einer Angststörung zu erkranken, beträgt zwischen 15% und 25%. Dabei ist es schwierig, genauere Zahlen anzugeben, da allgemein eine hohe Dunkelziffer angenommen wird. Oft wird die Erkrankung mit somatischen Krankheiten verwechselt und auch deshalb erst spät diagnostiziert. Vorgehensweise und Zielsetzung der ZiF-Kooperationsgruppe waren auch durch die Annahme motiviert, dass die Gründe für die oft beklagte mangelhafte diagnostische Aufklärung und die unbefriedigende therapeutische Versorgung von Angsterkrankten nicht zuletzt in der Unkenntnis der Darstellungsformen zu suchen sind. Diese Annahme ist in der bisherigen Angstforschung ebenso wie in der Diagnostik und Therapie von Angsterkrankungen weitgehend ein Novum. Zusätzlich zu dem bereits aus dem vorherigen Projekt vorhandenen Korpus von Gesprächen mit Anfallskranken ist für das Kooperationsprojekt ein neues Korpus erhoben worden.7 Die ausführlichen offenen Interviews, die die Grund7 Außerdem wurde auch an bereits vorhandenen Daten aus einer psychosomatischen Klinik gearbeitet, nämlich an Gesprächen zwischen PsychotherapeutInnen und stationär behandelten PatientInnen mit sozialen Ängsten, dokumentiert durch Video-Aufnahmen aus einem früheren Forschungsprojekt.
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lage für die linguistische Analyse bilden sollen, orientierten sich in wesentlichen Punkten an dem im Epiling-Projekt entwickelten Leitfaden, der den Patientinnen und Patienten im ersten Teil des Gesprächs sehr viel Raum für die Darstellung ihrer subjektiven Empfindungen und Erfahrungen gibt und eigene Relevanzsetzungen ermöglicht, während der zweite Teil gezielte Fragen nach Ängsten vorsieht. Es handelt sich um Gespräche (von in der Regel 45–60 Minuten Dauer) zwischen Epilepsie-PatientInnen mit Angst-Auren einerseits und PatientInnen mit Angststörungen wie Panikattacken andererseits. Ihre GesprächspartnerInnen sind ÄrztInnen, die an der Behandlung beteiligt sind oder zusätzlich als ExpertInnen aus einer anderen Klinik konsultiert werden. Die Gespräche sind nach Möglichkeit durch Videoaufzeichnungen dokumentiert bzw. – wenn die Patienten dem nicht zustimmten – durch Audioaufnahmen, die anschließend transkribiert wurden. Dabei wird gerade im Hinblick auf die Angstthematik oft auch auf kleinste und zunächst nebensächlich scheinende Details der Sprechweise und des kommunikativen Verhaltens geachtet. Die Transkription lässt sich von der methodischen Vermutung leiten, dass in dieser Feinstruktur der Gespräche bedeutsame kommunikative Ereignisse ablaufen. Ein Beispiel für eine solche Transkriptanalyse im Rahmen konversationsanalytischer Forschung geben Egbert und Bergmann (2004). Auch die Einbeziehung multimodaler Aspekte erweist sich gerade bei Beobachtungen zu Angst als besonders aufschlussreich (vgl. z. B. Gülich und Couper-Kuhlen 2007; Gülich und Lindemann 2010). Für jeden untersuchten Patienten waren neben den ausführlichen offenen Interviews eine umfassende testpsychologisch-psychiatrische Diagnostik und ein (sog. cue-driven) funktionelles MRT vorgesehen. Auf diese Weise soll es ermöglicht werden, die unterschiedlichen fachspezifischen Blickwinkel aufeinander zu beziehen und die Reichweite linguistischer und klinischer Verfahren bei jedem einzelnen Patienten und auch zwischen den untersuchten Patientengruppen miteinander zu vergleichen. Diese Vergleiche konnten im gegebenen zeitlichen Rahmen allerdings bisher nur ansatzweise durchgeführt werden. Wie sahen die Ergebnisse aus? Im funktionellen MRT erwiesen sich die kortikalen Aktivierungsmuster nicht nur für die anfallsartigen Ängste bei Panikpatienten einerseits und bei Epilepsie-Patienten andererseits als different, sondern es fand sich bereits beim Vergleich der Aktivierungen anlässlich der (cue-driven) Imagination von Alltagsängsten, dass diese offenbar bei Epilepsie-Patienten andere Regionen einbeziehen als bei Panik-Patienten. Bei Gegenüberstellung der psychopathologischen Befunde und der psychiatrischen Diagnostik ergab sich, dass die Epilepsie-Patienten, obwohl unter keine psychiatrische Angst-oder Depressions-Kategorie subsumierbar, dennoch
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sowohl durch Ängste als auch durch depressive und paranoide Symptome deutlich belasteter sind als die Panik-Patienten. Beim Vergleich der Ergebnisse der psychiatrischen Begleitdiagnostik mit denen der gesprächsanalytischen Untersuchung war unter anderem bemerkenswert, dass manche von Patienten spontan sehr eindrücklich geschilderten Angststörungen mittels standardisierter Untersuchungsinstrumente nicht zu erfassen waren. Hinsichtlich diskursiver Merkmale ergaben sich Cluster, die die Annahme einer Charakterisierbarkeit der untersuchten Syndromgruppen auf der Ebene des konversationellen Verhaltens stützen. Epilepsie-Patienten verwenden etliche Formulierungsverfahren, welche ihre iktalen Ängste als fundamental verschieden von Alltagsängsten hervortreten lassen, während Panik-Patienten demgegenüber einen fließenden Übergang ihrer anfallsartigen aus Alltags-Ängsten erkennen lassen (vgl. Knerich 2013; Gülich 2007). Während Panik-Patienten zur RelevanzHochstufung neigen, bedürfen Epilepsie-Patienten in der Regel unterstützender kommunikativer Arbeit ihres Gesprächspartners, damit der Umfang ihrer Angstbelastung in Erscheinung treten kann (Gülich und Lindemann 2010; Lindemann 2012, Kap. 3.3). Interessanterweise wies die dritte in dem Kooperationsprojekt untersuchte Patientengruppe (mit sozialen Ängsten) ein abermals anderes konversationelles Verhalten auf. Hier imponierten häufige Schweigephasen sowie eine Tendenz zur Relevanz-Rückstufung der subjektiven Belastung, so dass diese Gruppe bemerkenswerter-, aber nicht ganz überraschenderweise Ähnlichkeiten mit der im Epiling-Projekt untersuchten Gruppe von PatientInnen mit dissoziativen Störungen aufwies (vgl. dazu Streeck 2011). Bei der Auswertung der Ergebnisse aus der gesprächsanalytischen Arbeit wurde versucht, stärker als im vorherigen Projekt von den konkreten Beobachtungen an einzelnen Gesprächen zu abstrahieren und die gefundenen Differenzierungskriterien so zu formulieren, dass sie eine Grundlage für vergleichende und quantitative Auswertungen bieten können. Als Beispiele können die folgenden tabellarischen Zusammenfassungen zur Angstdifferenzierung dienen. In Tabelle 1 fasst Lindemann die Ergebnisse detaillierter vergleichender Analysen zusammen und kommt auf dieser Grundlage zur Unterscheidung von drei Arten von Angst, die in den Gesprächen eine Rolle spielen: Die Merkmale, die den Unterscheidungen zugrunde liegen, decken sich in keiner Weise mit den Listen von Symptomen, die man in diagnostischen Manualen wie DSM V oder ICD 10 findet. Sie ergeben sich nicht aus klinischen Beobachtungen, sondern aus den Darstellungsformen und Formulierungsverfahren der PatientInnen in der Interaktion mit den ÄrztInnen. Gleichwohl erlauben sie diagnostische Zuordnungen. Darauf im Einzelnen einzugehen oder gar einen Vergleich mit üblichen Klassifikationen von Angststörungen anzustellen, würde den
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Tab. 1: Kommunikative Merkmale der Angstdifferenzierung (aus: Lindemann 2012, 173). Alltagsangst
Epileptische Angst
Panik
Objekt/Auslöser
wird genannt
nicht genannt, nicht relevant gesetzt
nicht genannt, relevant gesetzt
Plötzlichkeit
nicht relevant gesetzt
kaum relevant gesetzt
sehr stark relevant gesetzt
Beschreibung Gefühlsqualität
nicht vorgenommen
verstärkte Formulierungsarbeit
nicht vorgenommen
Unbeschreibbarkeit
nein
ja
nein
Relevanzhochstufung (Einschränkung durch Angst; Stärke; Häufigkeit)
kaum
zum Teil
sehr stark
Übergang zwischen Angstarten
zum Teil
nein
ja
Zuordnung Erlebensdomäne
Alltag
Fremdheit
ambivalent
Rationalisierung
ja
nein
nein
Normalisierung
ja
nein
nein
Thematisierbarkeit
kontextabhängig
als schwierig gekennzeichnet
als einfach gekennzeichnet
Rahmen sprengen. Hier geht es nur darum zu zeigen, dass für eine klinische Auswertung gesprächsanalytischer Arbeit Abstraktions- und Kategorisierungsprozesse notwendig und auch möglich sind, die in der Gesprächsforschung bislang nicht selbstverständlich sind. Die Zuordnung zu den Kriterien ist hier in verschiedener Weise formuliert; zum Beispiel bei Plötzlichkeit wird unterschieden zwischen nicht relevant gesetzt vs. kaum relevant gesetzt vs. sehr stark relevant gesetzt, während bei zum Beispiel Beschreibung der Gefühlsqualität die Unterscheidung lautet nicht vorgenommen vs. verstärkte Formulierungsarbeit; in anderen Fällen wird nur ja vs. nein unterschieden. Der Versuch, noch kürzere und abstraktere Formulierungen zu verwenden, wird in der tabellarischen Wiederaufnahme der Differenzierungskriterien in einem Handbuchartikel deutlich. Hier werden vorzugsweise ja vs. nein-Unterscheidungen verwendet (siehe Tab. 2):
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Tab. 2: Conversational characteristics relevant for differential diagnosis by history-taking (aus Schöndienst und Lindemann 2012). Panic attacks
Ictal anxiety
Object/trigger
not stated, but marked as relevant
not stated, not marked as relevant
Unexpectedness
yes
no
Itemization of symptoms without qualifying description
yes
no
Emphasis on severity and limiting effects of fear
yes
some
Contrast between limitation during attacks and personal strength in everyday life
yes
no
Indescribability
no
yes
Possibility to pick out fear as subject
easy
variable
Insgesamt kann die Kooperationsgruppe also im Sinne einer mehrdimensionalen Pilotstudie Ergebnisse auf verschiedenen Ebenen vorlegen; das betrifft sowohl die Grundlagenforschung als auch den klinischen Anwendungsbezug. Darüber hinaus wurden mehrere Folgeprojekte angeregt, die in der Zwischenzeit zum Teil auch bereits gestartet werden konnten. Für die Gesprächsforschung ist eine solche interdisziplinäre Kooperation aber nicht nur wegen des klinischen Anwendungsbezugs interessant, sondern auch weil sich in dieser Disziplin erst in den letzten Jahrzehnten ein verstärktes Interesse an Affekten und Emotionen entwickelt hat (vgl. Fiehler 1990, 2001; Goodwin und Goodwin 2000). Die vorherige relativ geringe Forschungstätigkeit auf dem Gebiet mag auch damit zusammenhängen, dass es für die Beschreibung der Darstellung emotionaler Beteiligung unerlässlich ist, alle kommunikativen Ressourcen einzubeziehen, also zum Beispiel auch den Einsatz der Stimme und des Körpers. Dazu sind detaillierte Analysen prosodischer und multimodaler Phänomene erforderlich, die in der klassischen Konversationsanalyse noch nicht in der heute möglichen Art und Weise berücksichtigt werden konnten. Speziell die kommunikative Darstellung von Angst ist in der Gesprächsforschung wenig bearbeitet worden (Ausnahmen sind Capps und Ochs 1995; Bergmann 2002; Günthner 2006). Die Angst-Gruppe im ZiF hat somit auch zu einer neuen Richtung in der Gesprächsforschung einen Beitrag geleistet. Beispiele
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für eine Auswertung der Gesprächsanalyse, die zu einer neuen Bewertung der Angst und einer Korrektur vorheriger Diagnosen führt, finden sich in mehreren Arbeiten, die seither auf der Grundlage der Ergebnisse der Kooperationsgruppe entstanden sind (Gülich et al. 2010; Lindemann 2012, Kap. 5; Gülich und Krafft 2015; Gülich 2018). Erwähnenswert erscheinen uns die Ergebnisse des Angst-Projektes in mehrfacher Hinsicht: – Erstens bestätigte sich die aus dem Vergleich von PatientInnen mit epileptischen und solchen mit dissoziativen Anfallen hervorgegangene Beobachtung, dass es erkrankungstypische konversationelle Muster gibt, die auch bei der Gegenüberstellung von PanikpatientInnen mit solchen mit epileptischen Angst-Auren hervorgetreten sind. Dies lässt vermuten, dass auch weitere chronische Erkrankungen charakterisierbar sind durch die mit ihnen einhergehenden spezifischen Mitteilungsweisen, durch ihre Dialekte. – Darüber hinaus regen die unterschiedlichen konversationellen Stile differenzialtherapeutische Überlegungen an. So legt der eher zögernde, zugleich reformulierend immer wieder aufs Neue um Differenzierung von angstvoll Erlebtem bemühte Mitteilungsstil der PatientInnen mit epileptischen Angst-Auren nahe, dass sie in dieser Beschreibungsanstrengung vom Gesprächspartner gleichermaßen entängstigend gestützt wie zugleich in ihrem tastenden Vorgehen begleitet werden können. Demgegenüber lädt der Mitteilungsstil der PanikpatientInnen ein zur Thematisierung der subjektiven Bedeutung ihrer Relevanzhochstufungen und zu der dabei meist nur flüchtigen, listenbildenden Nennung einer Vielzahl jeweils andeutungshaft bleibender Einzelsymptome. Insofern können die Ergebnisse betrachtet werden als ein Beitrag sowohl zur Entwicklung einer eigenständigen Diagnostik des Gesprächs, auf deren Grundlage auch über den Einsatz apparativer diagnostischer Maßnahmen und wirkungsvoller Medikationen gezielter und effizienter entschieden werden kann, als auch zu einer störungsspezifischen Gestaltung des therapeutischen Vorgehens.
5 Neue Wege in Datenerhebung, Analyse und Auswertung Aus den beschriebenen Projekten etabliert sich aktuell eine klinische Gesprächsforschung, die diese insbesondere in zweierlei Hinsicht weiterentwickelt. Zum einen geht es um die medizinischen Anwendungsbereiche für die
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gesprächslinguistisch basierte Differenzialdiagnose, zum anderen um den Einsatz innovativer computerbasierter Methoden, welche es erlauben, in Ergänzung zu den bereits bewährten qualitativ-interpretierenden Verfahren quantitativ-stochastische Verfahren der Ergebnisauswertung und Hypothesenvalidierung einzusetzen. Bereits seit Anbeginn der hier skizzierten gesprächslinguistischen Studien zu Arzt-Patient-Gesprächen war den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern klar, dass sich mit der gemeinsam entwickelten Methode nicht nur in begrenzten Krankheitsfeldern arbeiten lässt wie im Bereich paroxysmaler Erkrankungen und hinsichtlich der Abgrenzung fokaler Epilepsien von dissoziativen Störungen. Vielmehr deutete Vieles darauf hin, dass die gesprächslinguistische Auswertung vielversprechend sein könnte zur Differentialdiagnose im weiten Feld psychosomatischer und psychogener Krankheitsbilder, die sich bis heute differenzial diagnostisch nur schwer von somatisch bedingten Krankheiten abgrenzen lassen. Zu diesen Krankheitsbildern gehören zum Beispiel Angsterkrankungen (siehe oben Kap. 3), verschiedene Formen von Demenz (Blackburn et al. 2014; Elsey et al. 2015; Jones et al. 2015) oder chronische Schmerzen (Gülich et al. 2003). Eine weitere Ausweitung klinischer Studien zur gesprächslinguistischen Differentialdiagnose findet im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin statt. Derzeit untersucht eine neue klinisch-linguistische Studie der Universität Bielefeld zusammen mit dem Sozialpädiatrischen Zentrum des Evangelischen Krankenhauses Oberhausen, ob sich die gesprächslinguistische Analysemethode auch bei Kindern und jugendlichen Anfallspatienten zur Differentialdiagnose eignet (Opp et al. 2015). Bereits im Epiling-Projekt (siehe oben Kap. 1) wurde Kindern und Jugendlichen als Patienten eine eigene Untersuchung gewidmet (Schwabe 2006), bei der das Gesprächsverhalten in der Interaktion zwischen Arzt, Patient und Eltern im Mittelpunkt stand. Es wurde gezeigt, dass auch junge Anfallspatienten durchaus in der Lage sind, ihr subjektives Krankheitserleben differenziert darzustellen. Allerdings verfügen sie in deutlich geringerem Maße als Erwachsene über sprachliche und konversationelle Routinen (wie z. B. über verschiedene narrative Formate). Ihnen fehlt die jahrelange Erfahrung mit dem Schildern ihrer Erkrankung, wie dies bei vielen erwachsenen Patienten der Fall ist. Eine differenzialdiagnostische Auswertung der Analysen stand in dieser frühen Untersuchung jedoch nicht im Vordergrund. Im aktuellen Projekt zeigen erste Ergebnisse der Analysen von Anfallsschilderungen durch Kinder (im Alter zwischen 10 und 12) bzw. Jugendlichen (im Alter zwischen 13 und 17) zwar in Grundzügen große Übereinstimmungen zu den
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differenzialdiagnostisch relevanten Merkmalen der vorangegangenen Forschungen an Erwachsenen. Es lassen sich aber auch einige wesentliche Unterschiede ausmachen. So wurde festgestellt, dass die Anfallsschilderungen von Kindern insgesamt für beide Krankheitstypen weniger umfangreich sind, so dass die differenzierenden Merkmale gewissermaßen reiner und deutlicher zutage treten. Auf der anderen Seite konnte festgestellt werden, dass bei einigen – vorwiegend männlichen – Jugendlichen in der Pubertät eine derart starke Tendenz zu sprachlicher Knappheit (um nicht zu sagen Sprechfaulheit) vorherrscht, dass schon allein deshalb in ihren Gesprächen nicht genügend Merkmale für eine klare diagnostische Tendenz identifiziert werden können. Ein weiteres derzeit laufendes Projekt (Laufzeit 2015–2017), das von der Wagener-Stiftung gefördert wird, untersucht ein Pilotkorpus von 20 Gesprächen, in denen Kinder Kopf- und Bauchschmerzen schildern. Dieses Projekt soll klären, ob die Methode der gesprächslinguistischen Analyse von Symptomschilderungen auch bei der Unterscheidung von organischen und nicht organischen Schmerzen hilfreich ist (LASS-Studie: Linguistische Analyse von Schmerzschilderungen bei Kindern: Frank-Job et al. im Druck). Eine ganz anders geartete, aber sehr wesentliche Weiterentwicklung des gesprächslinguistischen Ansatzes für die klinisch-differenzialdiagnostische Anwendung betrifft die Methoden zur Bearbeitung, Analyse und Präsentation der Daten. Aus den zunächst rein qualitativ-beschreibenden Verfahren wurden bereits im Rahmen des ersten Forschungsprojekts erste Ansätze zu einer Merkmals-Parametrisierung und damit der Möglichkeit zu einer quantitativen Ergebnisauswertung entwickelt (Surmann 2005). Auch in Arbeiten, die aus der ZiF-Kooperationsgruppe Angst hervorgegangen sind, wurden solche Ansätze vorgeschlagen (Lindemann 2012; Schöndienst und Lindemann 2012). Entscheidende Schritte in diese Richtung wurden vor allem in der Weiterentwicklung der Bielefelder Projekte durch Markus Reuber in Sheffield vollzogen (Reuber et al. 2009). Eine Öffnung gesprächslinguistischer Arbeiten zu quantitativen Auswertungen und Überprüfungen qualitativ erarbeiteter Hypothesen ist in den letzten Jahren immer wieder diskutiert worden. Sie orientiert sich aktuell an den sog. mixed-methods-Ansätzen der Sozialwissenschaften, die für eine dezidiert forschungspraktisch ausgerichtete Kombination zur Verfügung stehender, insbesondere computerbasierter, Bearbeitungs- und Analysemethoden plädieren. In der hier geplanten Weiterführung der skizzierten Forschungsprojekte werden nun erstmals systematisch auch die inzwischen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der elektronischen Datenbearbeitung und semiautomatischen
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Analyse sprachlicher Daten genutzt und für die speziellen Bedürfnisse der gesprächsanalytischen Differenzialdiagnose weiterentwickelt. Dabei stellt sich für die Gesprächslinguistik als Voraussetzung einer Quantifizierbarkeit vor allem die Aufgabe der Systematisierung und Parametrisierung der von ihr traditionell verwendeten Untersuchungs- und Beschreibungskategorien. Das bedeutet, dass sie in weit stärkerem Maße, als dies bisher der Fall war, zu abstrakten Kategorien der konkreten sprachlichen Phänomene und der gefundenen konversationellen Verfahren gelangen muss, deren detaillierte und präzise Beschreibung dennoch nicht vernachlässigt werden darf. Damit verbunden ist eine Reflexion der methodischen Prinzipien und Aussagemöglichkeiten qualitativer im Vergleich zu quantitativen Analysen, die in der Gesprächsforschung immer noch umstritten sind. Die frühe Konversationsanalyse stand der Erhebung einfacher Statistiken zum Vorkommen sprachlicher Formen kritisch gegenüber (v. a. aus methodologischen Gründen, da dabei die sequenziellen Kontexte der Formen nicht berücksichtigt wurden), wenngleich sie eine quantitative Überprüfung qualitativ gewonnener Hypothesen nicht grundsätzlich ablehnte (ten Have 1986; Schegloff 1993; Heritage 1995, 402–406): „[I]n examining large amounts of data, we are studying multiples or aggregates of single instances. Quantitative analysis is, in this sense, not an alternative to single case analysis, but rather is built on its back.“ (Schegloff 1993, 102) Nachdem die Diskussionen in jüngster Zeit in Zusammenhang mit den mixed-methods-Ansätzen der Sozialwissenschaften in verschiedenen Disziplinen wieder aufgegriffen wurden (HolIstein 2010; Westerman und Yanchar 2011), erscheint heute die reflektierte Kombination qualitativer mit quantitativen Methoden möglich. Computerbasierte Verfahren der Bearbeitung umfangreicher Gesprächskorpora, die unter anderem ein händisches Annotieren als Ergebnis sequentieller Dateninterpretation und in der Folge auch die statistische Auswertung der annotierten Daten erlauben, werden heute zum Beispiel in der Korpuslinguistik bereits vielfach praktiziert. Dies macht sich auch die aktuelle Forschung zur klinischen Gesprächsanalyse zunutze. So steht ihr aus den Entwicklungen der Texttechnologie ein umfangreiches Analyseinstrumentarium zur Verfügung, das zum Beispiel das automatische Annotieren syntaktischer Funktionen (part-of-speech-tagging) oder auch automatische semantische Analysen erlaubt (etwa mit Hilfe von topic models). Genutzt werden diese Verfahren inzwischen nicht mehr nur für die synchrone und diachrone Analyse umfangreicher Textkorpora, sondern auch für die Bearbeitung von dialogischen Daten aus authentischen Interaktionssituationen mit allen typisch spontansprachlichen Merkmalen. Wichtige Vorarbeiten dazu liefern Mehler et al. (2011, 2012).
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Im Bereich der Sprachtechnologie werden seit einiger Zeit die Verfahren der quantitativen Analyse gesprochener Sprache auch im Zusammenhang mit pragmatischen und konversationsanalytischen Fragestellungen genutzt, so zum Beispiel bei der automatischen Erkennung und Analyse von Sprecheranteilen in Gesprächen, der Verteilung von Sprechpausen oder der Erkennung wiederkehrender intonatorischer Konturen, (Schlangen und Skantze 2011; Kousidis et al. 2013; Kennington und Schlangen 2014). Alle genannten computerlinguistischen Forschungsrichtungen sind bislang hauptsächlich auf die automatische quantitative Analyse von Sprachdaten ausgerichtet. Aktuell wird in Bielefeld und Frankfurt in einer Kooperation von Gesprächslinguistik, Computerlinguistik und Informatik daran gearbeitet, die computerlinguistischen Verfahren auf Basis qualitativer konversationsanalytischer und gesprächslinguistischer Beschreibungen und Interpretationen zu optimieren, indem qualitative und quantitative Methoden in Kombination auf natürliche Gesprächsdaten angewendet werden. Hierfür wurde ein Pilotkorpus von 24 Gesprächen sicher diagnostizierter Anfallspatienten für die text- und sprachtechnologische Analyse aufbereitet. Die Gesprächsaufnahmen wurden mit Hilfe der Software EXMaRALDA zeitaligniert transkribiert und die in der qualitativen Analyse als differenzialdiagnostisch relevant identifizierten Merkmale in verschiedenen Annotationszeilen parallel zur Transkription markiert, so dass sie für die automatische quantitative Auswertung zur Verfügung stehen. Erste automatische quantitative Analysen über alle Gespräche des Korpus sind erfolgt und liefern Hinweise darauf, welche der qualitativ identifizierten Parameter sich am besten für die weitere computerlinguistische Verarbeitung eignen (Mehler et al. 2016). Die Kombination qualitativ identifizierter Merkmalskategorien mit der automatischen Analyse ihres Vorkommens und ihrer Verteilung in Arzt-Patient-Gesprächen lässt sich schließlich kombinieren mit einer bildlich-symbolischen Visualisierung der Analyseergebnisse (Mehler et al. 2016), so dass auch linguistischen Laien eine schnelle und zuverlässige Ergebnisauswertung möglich ist.
6 Zusammenfassung und Fazit Die zentrale Frage des Ausgangsprojekts, ob sich nämlich bei Anfallserkrankungen erkrankungstypische konversationelle Verfahrensweisen beschreiben lassen, ist durch die vorliegenden Untersuchungen bestätigt worden. Das gilt nicht nur für den deutschen, sondern auch für den englischen und den italieni-
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schen Sprachraum und nicht nur für erwachsene Patienten, sondern ebenso für Kinder und Jugendliche. Unser Verständnis der den verschiedenen konversationellen Mustern zugrunde liegenden mentalen Prozesse steckt noch in den Anfängen. So etwa bei den spezifisch bei Epilepsie-Patienten gefundenen Indikatoren der Schwerbeschreibbarkeit ihrer Anfallserfahrungen, die auf sich förmlich ihnen immer wieder entziehende, zwischen Vergegenwärtigung und Nicht-Fassbarkeit oszillierende Sensationen verweisen. Dagegen steht die eher karge Formulierungsarbeit, die dissoziative Patienten auf das ihnen im Anfall subjektiv Zustoßende verwenden; hier scheinen sich eher ausblendende Verarbeitungsmodi zu zeigen. Die bis heute erfolgten Erweiterungen des konversationsanalytischen Ansatzes auf weitere Erkrankungsformen im Differenzierungsbereich organischer vs. psychogener Erkrankungen erlauben zumindest als Hypothese auch hier die Annahme eines krankheitsspezifischen Einsatzes sprachlicher Mittel und konversationeller Verfahren. Ihre Analyse kann nicht nur wichtige differentialdiagnostische Hinweise liefern für Erkrankungsgebiete, die gleichzeitig weit verbreitet und mit den traditionell in der Medizin verwendeten diagnostischen Methoden nur schwer oder sogar unzureichend differenziert werden können. Sie kann auch – wie am Beispiel der Angstdifferenzierung gezeigt wurde – wichtige Hinweise für eine differenzialtherapeutische Nutzung der Ausdrucksund Interaktionsverfahren liefern. Für die Sprachwissenschaft ergibt sich aus diesen Forschungen ebenfalls eine wesentliche Erkenntnis: Während in Sprachtheorie und -philosophie die Rede von der sprachlichen Relativität gut etabliert ist, die ein Einwirken des jeweiligen Sprachsystems auf die Konzeptualisierung unserer Wahrnehmungen postuliert (Levinson 1996; Levinson und Haviland 1994), beleuchten die Ergebnisse unserer Forschungen sozusagen die andere Seite dieser Medaille, nämlich die Fähigkeit von Sprache, individuelle innere Zustände, körperliche Wahrnehmungen, Erfahrungen und das Erleben von Krankheitszuständen in jeweils sprachspezifischen Techniken und Verfahren wiederzugeben und damit nicht nur anderen Sprechern mitteilbar sondern auch gemeinsam bearbeitbar zu machen. Acknowledgment: Die obigen Forschungsarbeiten wurden zunächst unterstützt aus Forschungsmitteln der Universität Bielefeld und 1999–2001 von der DFG gefördert. Wir möchten ebenfalls dem ZiF (Zentrum für interdisziplinäre Forschung) der Universität Bielefeld für die vielfaltige Unterstützung danken.
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Klinische Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen
Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften. Erstveröffentlichung des Beitrags in: Kochler, Carsten; Rinker, Tanja und Schulz, Eberhard (Hgg. 2017), Neurolinguistik – Klinische Linguistik – Sprachpathologie. Cognitio 19. Frankfurt/Main, 185–217.
Using illness narratives in clinical diagnosis: Narrative reconstruction of epileptic and nonepileptic seizures and panic attacks 1 Research background, data, methodology The research presented in this chapter1 is a linguist’s and narratologist’s attempt to make a contribution to medical diagnostics. Its aim is to show how the linguistic analysis of illness narratives which occur in doctor-patient interaction may not only provide important information about the illness itself as well as fruitful insights into how patients live and cope with the illness, but also further contribute to differential diagnostics. Obviously, listening to the patient’s history has, and always has had, a central role in doctor-patient talk, but the attention has normally been directed to what the patient says about his disorders and what symptoms he presents rather than to how he does this. The manner in which he describes the development of the illness is usually neglected. The claim is that if the forms of patients’ narratives and the narrative techniques they use were analysed in interdisciplinary cooperation by a team of linguists, medical researchers, doctors and psychotherapists, new approaches, a new diagnostic tool, and ultimately new therapies might be discovered. The basic idea for the first interdisciplinary project2 came from practical experience: from treating patients in hospital. Martin Schöndienst, neurologist at the Bethel Epilepsy Centre (Bielefeld), observed noticeable differences between the ways patients suffering from seizure disorders talk about their illnesses. His general assumption was that it should be possible to describe these differentiating features systematically in linguistic or interactive terms and relate them to the different syndromes. Thus, the principal aim for the interdisciplinary research team combining epileptological, psychiatric, linguistic and narratological competencies was to work out the inter-relationships
1 This paper is based on a lecture at the international congress Illness Narratives in Practice, which took place at the University of Freiburg in June 2015. In the resulting anthology, the interdisciplinary orientation is demonstrated in various research and practice contexts in which illness narratives occur. The present contribution is dedicated to the topic of narratives in diagnostics and focuses on examples of diagnostic evaluation of linguistic analysis of illness narratives. I am indebted to the research of Gabriele Lucius-Hoene, who also contributed to the writing of this article by providing helpful advice and intensive discussions. 2 Linguistic differential diagnostics of epileptic and other seizure disorders: www.uni-bielefeld. de/lili/forschung/projekte/epiling/ (31.01.2020); cf. Gülich 2012; Schwabe et al. 2008. https://doi.org/10.1515/9783110685664-018
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Using illness narratives in clinical diagnosis
between the linguistic and the medical dimensions of the illnesses concerned. Since in current classifications of diseases patientsʼ subjective experience of their illness is neglected, from the beginning the team were sure that the findings of the research would have practical implications for diagnosis and therapy. In order to appreciate the significance of this approach, it is important to realize that there are different types of seizures. The main difference is between epileptic and non-epileptic seizures. A seizure may include falling down, convulsions, trembling, losing consciousness, etc., and yet not be an epileptic one. Epileptic seizures are caused by abnormal electrical activity in the brain, whereas non-epileptic (dissociative/psychogenic) seizures are considered an expression of psychosocial distress. Despite advances in diagnostic techniques differential diagnosis is often very difficult. It takes on average more than seven years for a patient with dissociative seizures to receive the correct diagnosis (Reuber et al. 2002). The two types of seizure require completely different forms of treatment: patients with epilepsy may need anti-epileptic drugs or an operation, whereas patients with non-epileptic seizures may need psychotherapy. An incorrect diagnosis is obviously followed by inappropriate treatment, sometimes with damaging or dangerous consequences. Developing a new diagnostic instrument is therefore potentially of great value. So the central question for interdisciplinary research was if it is possible, by analysing the illness narratives and predominantly the seizure narratives of these two types of patients, to discover any clear differentiating features. Can different types of narration be defined which may be related to different types of seizure? The research was guided by general principles of conversation analysis. One of the best-known quotations from its founder Harvey Sacks is that is ”possible that detailed study of small phenomena may give an enormous understanding of the way humans do things and the kinds of objects they use to construct and order their affairs.” (Sacks 1984, 24) Thus observation is a basic principle: “We will be using observation as a basis for theorizing.” (Sacks 1984, 24) Its empirical basis is ”the use of materials collected from naturally occurring occasions of everyday interaction” (Heritage and Atkinson 1984, 2). In this case that means doctor-patient interactions in ordinary settings. The study collected in-depth interviews conducted with patients as a routine part of the normal clinical treatment in a psychotherapeutically oriented ward. For research purposes, the interviews were audio- or video-recorded and transcribed. A transcription is more than a written version of talk; it takes into account the particular features of spoken language such as hesitations, pauses, repetitions, and self-corrections as
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well as characteristics of speech delivery and the simultaneity or overlapping of utterances. Having worked on numerous of these doctor-patient interactions, interview guidelines for doctors were developed in order to improve the comparability of the data (cf. Surmann 2005, 411–415; Schwabe et al. 2008). These guidelines required the doctor to allow the patient a generous amount of space and aim at highlighting the patient’s, rather than the doctor’s, relevancies. The doctor opens the interview with a question or a comment encouraging the patient to talk about his/her current situation and expectations. So in this opening sequence, and to a minor extent during the whole encounter, the doctor refrains from any directive questioning in the hope that the patient will build up the conversation from his own perspective and will stress the aspects he himself regards as relevant. Later on in the interview the doctor may ask questions about the seizures, their general development, the pre-sensations or auras which may precede them, and so on. The interviewer may also focus on individual seizure episodes: the first seizure, the last one, the most severe, or the most memorable one. These are questions which positively demand narrative reconstruction. This way of conducting the interview gives the patients more responsibility than they are used to. The doctor must therefore be prepared for difficulties in formulation, hesitations, frequent pauses and even long periods of silence. This requires patience but can lead to interesting and revealing narratives. This practice is in line with the results of research into narrative techniques in a variety of contexts. In order to obtain natural speech for the purposes of sociolinguistic research, Labov tried to record oral “narratives of personal experience, in which the speaker becomes deeply involved in rehearsing or even reliving events of his past. The ‚Danger of Death‘ question is the prototype (. . .)” (Labov 1972, 354). When the interviewer asks Were you ever in a situation where you were in serious danger of being killed (. . .), the interviewee’s attention is directed to the narrative reconstruction of the event rather than to the phonetic or grammatical phenomena which were investigated (cf. Labov 2013, 1–10). Sociologists also use the technique of the narrative interview as developed by Schütze (e.g. 2016), because that enables them to obtain information which a normal, more or less standardized questionnaire or interview would never produce. The reasons for this are analysed by Kallmeyer and Schütze (1977): a speaker in a narrative is more or less forced to go into detail, to condense or expand according to what he regards as relevant, and he has to respect the gestalt he has let himself in for. Conversational narratives almost automatically lead to the speaker saying more than he intended and often giving away things of which he is not aware.
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This is particularly true of illness narratives since these are based on extremely personal experiences. These are frequently ignored in the normal doctor-patient situation, which tends to follow the question-and-answer pattern guided by the doctor, leaving little room for the patient to explain how he himself feels about his illness. One of the main difficulties in conducting our research was the difference in approach of the various disciplines concerned. When conversation analysts start their work, they do not know exactly what they are looking for – in fact, this is the ideal attitude for doing conversation analysis. But it is completely contrary to the procedures medical researchers are familiar with, as they normally formulate theoretical hypotheses and then test them empirically. In conversation analysis, the opposite procedure is preferred: the topics to be investigated should emerge from the data. So the analysis of the interaction does not start with medical categories, but considers the patients’ presentation of their own categories and aspects of the disease as relevant. The linguistic analysis aims at finding out the individual participants’ recurrent communicative patterns in talking about their seizures. Systematizing these observations allows analysts to discover the conversational methods patients use in describing aspects of a seizure or the event itself. By comparing the methods of different individuals, they can be grouped according to them. This can be achieved by linguists without any medical knowledge. But the last step, which relates the patients’ methods to different syndromes, requires medical, and in this case epileptological, expertise. This kind of research can only be done if the approach is an interdisciplinary one. The following examples of conversational procedures turned out to correspond to different types of seizures (for a more detailed presentation, cf. Schwabe et al. 2008; Surmann 2005): – One group of patients typically volunteer information about their seizure symptoms and discuss them in detail. The topic is self-initiated, and the patients have no difficulty in focusing on specific seizure episodes. Another group tends to avoid talking about seizures; the topic is initiated by the interviewer and is discussed sparingly; the patients resist focusing on specific seizure episodes. In comparing these observations to existing diagnoses, it was found that the first group suffered from epileptic, the second group from nonepileptic, seizures. – Some patients do intensive formulation work, keep stressing the difficulty or even impossibility of describing their sensations and feelings at the beginning of a seizure, but nevertheless try again and again to do so: such patients turned out to be epileptic (Gülich 2005). Minimal descriptions, pre-patterned speech, negative statements, and silences are characteristic of non-epileptic patients.
1 Research background, data, methodology
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– Other differences appeared in the use of metaphorical concepts: epileptic patients typically describe seizures as external and hostile, independent agents; the description of seizures as a space the patient passes through characterizes non-epileptic patients (Surmann 2005). This interdisciplinary research was continued by Markus Reuber at Sheffield University,3 who in 2005 took up our research design and examined whether the interview techniques developed in Bielefeld with German patients would produce the same results with English-speaking patients. He not only confirmed the Bielefeld findings but was also able to continue the research in a more systematic way and developed a differential diagnosis scoring table (cf. Reuber et al. 2009). The next project,4 in which epilepsy data yielded a number of new aspects, was motivated by the discovery of the important role of fear and anxiety. With the main focus on the accounts patients gave of their fear or panic attacks, again it was assumed that the frequent lack of diagnostic information and the unsatisfactory treatment of patients suffering from fear or anxiety disorders are, to a large extent, due to a lack of knowledge about the communicative methods patients use in describing their subjective feelings of fear. Following the guidelines from the first project, new data were collected from patients from an epilepsy hospital and patients from a psychiatric hospital. Both patients with epileptic fear and patients with panic attacks were studied. In these cases an exact diagnosis tends to be very difficult, as they are often mistaken for each other. By tracing the resources patients use to communicate fear, the aim was to see whether certain types of description or narration can be linked to certain types of fear. Thus, the motivation was again the diagnostic use of linguistic analysis. The following case studies5 illustrate how the highly subjective sensation and perception of fear is treated in doctor-patient interactions and how these data were analysed. The focus is on the narrative reconstruction of episodes of fear or panic which can be experienced by patients with epileptic (usually temporal lobe) seizures, but can also occur as expressions of psychogenic seizures (cf. Schmitz and Schöndienst 2006, 146).
3 Listening to people with seizures: http://listeningseizures.wikidot.com/ (31.01.2020). 4 Communicative description and clinical representation of fear and anxiety, a research group at the Centre for Interdisciplinary Research of Bielefeld University in 2004: www.uni-bielefeld. de/ZIF/KG/2004Angst/ (27.01.2020); cf. Gülich 2007; Streeck 2011. 5 For the transcript notations, see appendix in this volume. The names of the patients are pseudonyms.
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Using illness narratives in clinical diagnosis
2 Case studies 2.1 Ms. Korte The first case is a patient we called Ms. Korte (cf. Gülich and Lindemann 2010; Lindemann 2012, 69–94): a 58-year-old woman from Poland. Having lived in Germany for a long time, she is used to speaking German in the context of her illness. The interviewer is a female doctor from a psychiatric hospital, who has not met the patient before. She begins the interview with an open question to encourage the patient to talk freely and to set her own priorities. The patient speaks of a harmless beginning and a subsequent aggravation of her illness. She then switches to a narrative reconstruction of a seizure episode, during which she suddenly runs out of the house and rings a neighbour’s doorbell. In the course of the episode, she is confused and it takes her quite a while to remember where she lives and what her name is. She then reports other episodes of a similar nature, when during a seizure she clearly did not know what she was doing. She places her seizures in the context of her life story and recounts a series of extremely stressful experiences: a business disaster due to fraud committed by an employee, the sudden death of her husband, the death of one of her sons, the protracted dying of her father, for whom she cared. Nevertheless, while all of this can be expected to cause emotional arousal, emotions are hardly ever mentioned during this part of the interview. Yet to her there is a clear link between these unfortunate events and her illness. Then, after about 30 minutes into the interview, there is a sequence that is essential with respect to communicating the relevance of fear as a factor in her illness. The doctor introduces the topic of fear by asking whether fear plays any part in her life. In a long and complex conversational process the relevance of fear is interactively established and finally becomes the central topic of this part of the interview. This is an impressive example of the difficulties patients experience with regard to speaking about a certain type of fear, namely fear during an epileptic seizure. Initially Ms. Korte seems not to understand the doctor’s question. Then she starts to speak about fear of particular things, such as getting hurt in a seizure, worries about her son not coming home, etc. Finally she starts to talk about the fear or panic she experiences at the onset of her seizures, when she suddenly runs out of the house:
2 Case studies
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Transcript example 1 (Ms. Korte) Extract 1.1 (Ms. Korte) K: =das IS- (1.1) krieg=ich ANGST, that is I get frightened (--) [
I:
dass] GLEICH was pasSIERT, that something is going to happen soon
[
]
K: musst du RAU:S/\/ you’ve got to get out weil du STERben kannst a=gleich;=NE, cos you can die er now. .hh und dann:=ä:h (1.4) ENTweder muss=ich AUFstehen, and then uh either I have to get up (.) und schnell was NEHmen, and quickly take something I: m=HM? K: wenn (da da) (.) so (.) nich VIEl (.) von dem angst is, if there’s not too much fear .hh u::nd- oder WEGlaufen; and or run away (.)
out of the house
This particular episode of running out of the house, which the patient reported at the very beginning of the encounter, is retold here in an entirely new conversational frame: it is explicitly associated with fear of death. This recontextualization (Günthner 2005) gives the episode a new significance: while in her first narrative reconstruction it appeared in the context of the aggravation of the seizures and inappropriate behaviour resulting from loss of control, it here turns out to be an expression of fear of dying. The doctor reformulates Ms. Korte’s expression of fear and defines it explicitly as fear of dying:
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Using illness narratives in clinical diagnosis
Extract 1.2 (Ms. Korte) I: =also=s=is wie TOdes[angst;] so it’s it’s like fear of dying K:
[
GAN]Z geNAU. that’s exactly it
I: m=HM?= K: =den TOdesangst das=is .hh vielleicht das to be afraid of dying maybe that’s the SCHRECK!lichste most awful thing that can happen The patient emphatically agrees, with terminal overlap: GANZ geNAU. (that’s exactly it) and then immediately continues and evaluates the feeling of fear of death as the most awful thing that can happen (das SCHRECK!lichste ) with strong emotional involvement. This is an important new aspect of this patient’s illness: the symptoms she describes might be interpreted, and have been interpreted, by doctors who have seen her previously, as signs of panic attacks. However, the difficulty she has in expressing this kind of fear, the manner in which she speaks about her fear of death, the way she narrates the episode of running out of the house – these, according to our systematic analyses – are typical of patients with epileptic seizures. The connection between her fear of death and her running out of the house as an expression of this fear had not been mentioned in the patient’s record before. Ms. Korte’s case suggests that the frequently unrecognized psychic triggers of so-called running fits are conditions of intense fear.
2.2 Ms. Wiesinger Ms. Wiesinger (cf. Gülich 2007; Knerich 2013) is an in-patient at a psychiatric clinic. Like Ms. Korte, she is speaking to a doctor she has not met before. He also starts with an open question to encourage her to report what seems particularly important to her. But in contrast to Ms. Korte’s reaction, it becomes immediately apparent that for Ms. Wiesinger fear and panic are predominant. While she confirms that she is satisfied with the results of her treatment, she reemphasises the severity of the panic attacks she used to experience:
2 Case studies
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Transcript example 2 (Ms. Wiesinger) Extract 2.1 (Ms. Wiesinger) W: das war jetzt SO massiv, äh wie=ich=s (also wirklich) noch nich it was so strong – like, really, I never geHABT habe; u:nd äh:: (--) .hhh mit todesANGST, und (1.5) had before. . . and. . .. I was scared to death, h
.hhh (.) ich konnte nich mehr LAUfen- ich konnte nich I couldn´t walk, I couldn´t mehr ESSen; (1.5) es ging aso (ne) weile nix mehr;(. . .) eat, nothing worked for a while (. . .) also das war schon das HEFtigste was ich hatte that was the worst I’ve had The use of intensifiers is a typical element of the grammar of panic described by Capps and Ochs (1995, 72–75). During the following conversation, Ms. Wiesinger relates her difficult biographical background and gives detailed narrative reconstructions of her attacks of fear. The doctor tries to differentiate between panic attacks and “normal” fear, such as anybody else might experience. The patient’s reaction is very interesting: although she is narrating episodes of “normal” fear, she still uses the same techniques as in the narrative reconstruction of panic attacks. An example is provided by a phrase she stereotypically uses when talking about her panic attacks: es ging aso (ne) weile nix mehr (nothing worked for a while) (see the above excerpt, cf. Knerich 2013, 51–60). This is a good example of the role of negation in the grammar of panic; negation is classified by Capps and Ochs as “the most obvious grammatical resource for diminishing the role of agent or actor” (1995, 71). In the same context Ms. Wiesinger relates an example of terrible fear when, long ago, she had a car accident with three children. She sums up the consequence of this experience by saying that since then she has not driven a car, and concludes with a general statement: sobald was von RECHTS kommt, äh (–)
(if anything comes from the right, nothing works for me). Coming back to the narrative of the accident, she confirms that she cannot forget it, being so scared that for a while she was unable to cross the street:
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Extract 2.2. (Ms. Wiesinger) W:
angst über die STRA::ße zu gehen; ne? (1.5) but fear to cross the street s war ganz SCHLIMM die die ersten (--) ersten WOCHen; ne? it was horrible during the first weeks (-) i=ich wusste nich wie ich über de STRAße kommen sollte; I didn’t know how to cross the street I: nach diesem::[( after this W:
a::)
[ja, jetzt seitDEM ich HIER bin, ne? yes now since I am here (---)
I: ach so; ich dachte DAmals seit diesem unfall; mit den oh I see; I thought then after the accident with the drei [kindern; three children W:
[ .hh äh ich konnt- ich wusst NICH wie (man of late uh I could - I didn’t know how über die) straße gehen sollte; to cross the street
There is an interesting misunderstanding on the part of the doctor which can only be discovered by looking closely at the linguistic details of the narration. When the doctor tries to confirm the temporal localization of the fear in the past (i.e., the accident with the three children), the patient initially agrees with him (ja), but then immediately shifts to the recent past: jetzt seitDEM ich HIER bin, (now since I am here). Thus, it turns out that in fact she is speaking about recent incidents, which led to her being admitted to the hospital. The doctor’s change-of-state token (Heritage 1984) ach so; ich dachte (oh I see – I thought) shows that he now realizes the misunderstanding. Ms. Wiesinger then explains that she experienced this fear in both cases: DAmals
2 Case studies
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(then, after the accident) and auch jetzt die letzte ZEIT (also now, of late). This example shows that the fear relating to the accident has become a generalized anxiety, or more precisely, an anxiety disorder. When we compare the two patients’ cases (Tab. 1), we find considerable differences in the narrative reconstruction of fear: Tab. 1: Two patients: different narrative reconstruction of fear. Ms. Korte
Ms. Wiesinger
. . . comes to speak about fear and to relate . . . has no difficulty in talking about fear or episodes of fear only late in the interview and panic; her narrations of panic episodes are needs intensive support from her interlocutor often self-initiated; she tends to emphasize fervently the relevance of her panic attacks . . . does not only relate fear/panic to particular objects, but also speaks of a general fear which is difficult to explain
. . . relates fear to particular objects; panic is triggered by particular objects
. . . shows the fundamental difference between epileptic and everyday fear by means of various conversational procedures
. . . hardly distinguishes panic attacks from everyday fears; describes episodes in which there is a gradual transition between the two
. . . accomplishes intensive formulation work . . . tends to construct lists of fears or and presents her subjective feelings of fear frightening situations and uses pre-patterned as difficult to describe expressions when speaking about panic attacks . . . gives detailed information with emphasis . . . gives detailed information with emphasis on the nature of the feeling of fear on the situation causing the fear Diagnosis: epileptic fear
Diagnosis: panic attacks
Faced with the same task, the two patients use different conversational procedures – the grammar of panic (Capps and Ochs 1995) is not the same as the grammar of epileptic seizures (cf. Schöndienst and Lindemann 2012).
2.3 Ms. Girard The last case is an interview with a French patient in her late twenties, treated in an epilepsy centre in Germany (cf. Gülich 2018). Ms. Girard spoke German fluently and was used to talking about her illness in German, but her doctor hoped, that if she had the opportunity to speak about her illness in her native language, this might yield new information relevant to diagnosis. She might speak differently about her condition, mention other aspects, or use different
498
Using illness narratives in clinical diagnosis
patterns of narration. At the time of the interview, the differential diagnosis had not been clarified. The person conducting the interview (a linguist) was not aware of any pre-diagnosis. After the opening sequence the patient talks about the beginning of her illness, the first severe seizure, and the further development (a seizure every two months for no apparent reason). When the interviewer asks about presensations (auras), the patient replies that they are very difficult to describe, and she repeats or reformulates this frequently. This difficulty also manifests itself in hesitations and all kinds of formulation work (self-corrections, repetitions, reformulations, etc.; cf. Gülich 2005). Later on in the interview the patient starts to speak about her very complicated and problematic family situation, especially her fear of her father when she was a child. Whenever he returned from travelling she felt panic, even on hearing the key turning in the lock, and she can still feel this panic as an adult. She describes in details her feelings of fear at the beginning of a seizure, which seems to be mixed with panic and is characterized as indescribable (cf. Gülich 2005): Transcript example 3 (Ms. Girard) Extract 3.1 (Ms. Girard) G: c’est ce angstfühlung je sais même pas si c’est de la peur it’s this feeling of anxiety I even don’t know if it is fear c’est de toute façon un sentiment de panique comme ça anyway it is a feeling of panic mais il m’arrive de l’avoir sans sans pour autant faire une crise (. . .) but I happen to have it without going into a seizure I: qu’est-ce que vous avez senti what have you been feeling G: je sais pas je n’arrive pas à expliquer I don’t know I can’t explain In the course of the interview the patient keeps returning to the difficulty of describing this feeling of fear: Extract 3.2 (Ms. Girard) G: oui c’est un c’est un . un pressen c‘est euh . une sensation, yes it’s a presen it’s a sensation
2 Case studies
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hein c’est pas simple ( ) c’est pas palpable, ça se touche pas, that’s not simple, that’s not palpable, you can’t touch it donc euh c’est pas du tout non . et comme je vous dis euh (4.0) so it’s not at all – no – and as I told you quand elle est là, euh quand ce fu euh cette sensation est là, oui when it is present, when this fee this sensation is present yes je peux l’expliquer; je peux l’expliquer pendant pendant deux then I’m able to explain it for two jours, après . parce qu’elle est fraîche, days, afterwards . because it is fresh The transcript shows that the indescribability of the patient’s feelings is not just stated by means of metadiscursive comments such as je n’arrive pas à expliquer (I just can’t explain this) but also demonstrated with many hesitations, self-corrections, incomplete sentences, and false starts. However, this fear is definitely different from another fear she describes, namely, her fear of spiders: Extract 3.3 (Ms. Girard) G: mhm . mais c’est vraiment plus la même peur? que: euh:; euh but it is really not the same fear as also j’ai j’ai une peur bleue des araignées? I’m terribly afraid of spiders I: hm G: mais: ce n’est pas la même peur but that’s not the same kind of fear I: ouais . yes. . . .
oui oui yes yes
G: c’est pas la même chose that’s not the same I: ouais yeah G: euhm . non . . non non rien à voir no no no nothing to do with it
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Using illness narratives in clinical diagnosis
The patient emphasizes the completely different nature of this type of fear using numerous nearly identical reformulations. In the research carried out so far, the conversational procedures used by Ms. Girard have proved typical of patients with epileptic seizures, especially the degree of detail in the description of subjective feelings, the intensive formulation work, and the clarity with which the types of fear are distinguished. The patient also repeatedly stresses the great difficulty she has in describing the sensation of anxiety, to the extent that she frequently doubts whether peur or panique are the appropriate words. Therefore, as a differential diagnostic hypothesis on the basis of conversation-analytic work, it is suggested that Ms. Girard suffers from epileptic seizures. However, as she increasingly mentions a disturbing family situation and also speaks about experiences with panic-type fears, a further hypothesis might be that she also suffers from an anxiety or panic disorder. In this case the patient’s medical records were available for study. After a previous stay in a psychiatric hospital the diagnoses were unclear anxiety attacks, considerable family problems, anxiety and panic disorder, socio-phobia, and dissociative seizures. After her stay in the epilepsy clinic the doctors come to the following conclusion: we suspect symptomatic focal epilepsy [. . .]. The paroxysmal anxiety symptoms can certainly be classified as a psychic aura, particularly as the patient described, in her native language, this fear as being different from her fear of anyone or anything, usually manifesting itself without any triggering. In addition there were feelings of anxiety arising from situations where non-epileptic origin is possible. Furthermore, we assume additional dissociative seizures which occur particularly during situations of psychological pressure.
These diagnoses are in line with the diagnostic hypotheses resulting from the linguistic analysis. This is one of the numerous cases in our research which show the complementarity of the linguistic and the clinical approach (cf. the analyses in Surmann 2005).
3 Conclusion This chapter has presented three cases to show how conversation-analytic research on patients’ narratives of their suffering can contribute to differential diagnosis in patients with seizures and/or anxiety disorders. Both of these illnesses are often difficult to diagnose. The example of fear and anxiety was used in order to have a concrete focus for comparing different ways
3 Conclusion
501
of narrative reconstruction of what from the outside seems to be one and the same phenomenon. Doctors who concentrate exclusively on the content of what patients like Ms. Korte and Ms. Wiesinger say may come to the conclusion that they are both suffering from panic attacks. By ignoring the manner in which patients describe their sensations/feelings or narrate fear or panic episodes, they miss an important source of information. The history of Ms. Korte’s illness and its treatment is long and complicated; it took several years to discover that what seemed to be a sort of panic attack was in fact a specific epileptic aura. Panic and anxiety are among the most frequent psychic disorders, but if they co-occur with another illness, they are often overlooked. For Ms. Girard’s treatment it is important to recognize that she is suffering from epilepsy as well as from panic. Doctors should become aware of the importance of the subjective accounts patients give of their illness in narrative reconstructions, and they should know and be able to recognize the characteristic differences in patients’ narratives (Jenkins and Reuber 2014). There are four main reasons why the narrative reconstruction of an illness such a useful diagnostic tool: 1. To be diagnosed with an illness such as epilepsy, dissociation, or an anxiety disorder is an extremely important and sometimes life-changing event for a patient and those around him/her (cf. Lucius-Hoene 2008). Such a reportable event naturally lends itself to narrative reconstruction (Labov 2013, 21–23). It is only through narrative reconstruction that it is possible to discover in what way the patient’s illness relates to the larger context of his normal life. 2. Narrative reconstruction of seizure or panic episodes requires a number of actions, events, or sensations to be put into some kind of organized sequence; “any narrative text imposes an order on events and its representation that is never identical with the event it recounts in the case of retellings of an experience” (Gygax and Locher 2015, 2). The importance of discourse structuring is also underlined by Capps and Ochs (1995, 182–185). This aspect of imposing order on chaos can be helpful to the patient. 3. Narrative reconstruction encourages the patient to present his own view of the illness; it allows interpretation and categorization of the event by the patient rather than the result being predetermined by the doctor’s questions. 4. Narrative reconstruction and the construction of identity are closely interrelated “narrative is one of the key constituents of human identity, selfrepresentation and cultural transmission” (Gygax and Locher 2015, 2). Illness is a threat to identity; in narrating the illness the patient may feel he is
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Using illness narratives in clinical diagnosis
gaining or regaining control. The activity of telling the story of his illness helps the patient to cope with it (cf. Lucius-Hoene and Scheidt 2017). These characteristics of narrative reconstruction become evident in various linguistic details which may seem insignificant at first glance but provide an “enormous understanding” (Sacks 1984, 24) of the way patients experience their illness and come to terms with it. The aspect of coping with the illness opens up a new perspective. Studying linguistic details in transcript analyses might not only be useful for differential diagnosis, but can also provide important therapeutic insights. The patient’s way of telling typical illness episodes may lead to specific therapeutic interactions. Or the patient’s formulation difficulties in describing feelings of fear or panic could lead a psychotherapist to come to his/her aid. In the data are found various examples of co-constructions of indescribable emotions of this kind (Gülich and Krafft 2015). As mentioned, understanding the linguistic details in a medical and/or psychotherapeutic context can, of course, only be successful if the approach is an interdisciplinary one. In their 1995 book Constructing panic, Capps, a psychologist, and Ochs, a linguist, provide an impressive example of “what can be done when psychologists and discourse analysts work together to mine the architecture of sufferers’ stories for their understanding of their experiences” (Capps and Ochs 1995, 174). Working on transcripts may be a strange thing to do for medical researchers, doctors and psychotherapists, just as interpreting the results of transcript analysis in terms of medical or psychological categories is unusual for conversation analysts. But they can learn from each other and the result is worth the effort. Thus this author fully agrees with Capps and Ochs when they continue: We encourage psychotherapists to explore linguistic perspectives through crossdisciplinary collaboration and training. At the same time we encourage linguists to work with clinicians to develop more acute understandings of the interface of language and emotion. (Capps and Ochs 1995, 174)
Acknowledgments: This article could not have been written without the long and fruitful co-operation I have had with neurologist Martin Schöndienst, or without my numerous, intensive conversations with Gabriele Lucius-Hoene. I am most grateful to both of them.
References
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Using illness narratives in clinical diagnosis
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Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung von Oxford Publishing Limited. Erstveröffentlichung des Beitrags in: Lucius-Hoene, Gabriele; Meyer, Thorsten und Holmberg, Christine (eds. 2018). Illness narratives in practice: Potentials and challenges of using narratives in health-related contexts. Oxford, 203–219 (Chapter 17).
Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität Interdisziplinarität steht hoch im Kurs:1 Wenn es darum geht, Forschungsprojekte zu konzipieren, Forschungsmittel einzuwerben oder Forschung zu evaluieren, gewinnt oft der Dialog zwischen den Disziplinen einen besonderen Stellenwert, und die interdisziplinäre Kooperation scheint unbedingt erstrebenswert. Dieser Beitrag fügt der Reflexion über das Für und Wider solcher Kooperationen keine neuen Aspekte hinzu, sondern geht auf konkrete Erfahrungen in der alltäglichen Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Disziplinen ein. An Beispielen aus eigenen linguistisch-medizinischen Projekten wird gezeigt, dass in der Forschungspraxis oft in (aus der Sicht der Gesprächsforschung) scheinbar unproblematischen Zusammenhängen – beispielsweise bei der Analyse von Transkripten – ganz unerwartet Probleme auftreten. Sie machen deutlich, dass auch dann, wenn alle Beteiligten über Prämissen und Vorgehensweisen einig zu sein glauben, sich bei der konkreten Arbeit beträchtliche Differenzen herausstellen können: unterschiedliche Bedeutung scheinbar gemeinsamer Begriffe, unterschiedliche theoretische Bezugsrahmen, unterschiedliche Relevanzsetzungen. Trotzdem ist dieser Beitrag ein Plädoyer für interdisziplinäres Arbeiten: Zum einen ist gerade im Bereich der Gesprächsforschung, zumindest bei der Analyse professioneller Interaktionen, Interdisziplinarität nahezu unerlässlich; zum anderen bietet sie eine einzigartige Möglichkeit, die Begrenztheit der eigenen Perspektive wenigstens ansatzweise zu überwinden.
1 Interdisziplinäre Kooperation liegt den meisten der hier versammelten Beiträge zugrunde und wurde bereits in den vorangegangenen Beiträgen thematisiert. In diesem Beitrag geht es nun um die pragmatische Seite – um potenzielle Probleme, die durch unterschiedliche Auffassungen von Daten, Methoden und Vorgehensweisen entstehen, aber vor allem auch um die Chancen, die gemeinsame interdisziplinäre Arbeit für die beteiligten Disziplinen beinhalten kann. Insofern bildet der Beitrag einen geeigneten Schlusspunkt für die in diesem Buch entwickelten Ansätze und Perspektiven für Forschungen zum mündlichen Erzählen. https://doi.org/10.1515/9783110685664-019
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Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität
1 Gesprächsforschung und Interdisziplinarität Über Interdisziplinarität zu reden oder zu schreiben,2 ist für mich immer eine Freude. Und natürlich ist es mir anlässlich von Werner Kallmeyers Abschiedskolloquium eine ganz besondere Freude – nicht nur, weil sich für ihn mit dem Eintritt in den so genannten Ruhestand zweifellos unendliche neue Möglichkeiten interdisziplinärer Kooperation auftun, sondern auch weil ich weiß, dass die hier Versammelten aufgrund eigener Erfahrungen sehr genau wissen, wovon ich rede. Aber der Hauptgrund, weshalb ich so gern über Interdisziplinarität rede (oder schreibe), ist, dass es viel leichter ist, mündlich oder schriftlich darüber zu reflektieren, als sie zu praktizieren. Nun kann ich Interdisziplinarität natürlich hier und jetzt nicht praktizieren: Ich will aber darüber reden, wie es ist, wenn man sich befleißigt, interdisziplinär zu arbeiten, anstatt nur darüber zu reden. Ich möchte also über den Alltag in der Interdisziplinarität reden bzw. darüber, wie es ist, wenn die Interdisziplinarität zum Alltag, zum alltäglichen Geschäft wird, wenn der oft mit großen Worten oder gar mit Pathos beschworene Dialog zwischen den Disziplinen im alltäglichen Arbeitszusammenhang praktiziert wird bzw. werden muss. Anhand eigener Erfahrungen mit der interdisziplinären Forschungspraxis will ich einige grundsätzliche Schwierigkeiten aufzeigen und damit zugleich auch Möglichkeiten und Chancen andeuten. Dabei lasse ich mich von der Überzeugung leiten, dass gerade für die Gesprächsforschung die Kooperation mit anderen Disziplinen unverzichtbar ist. Zum einen verdankt die Gesprächsforschung selbst ihre Entstehung maßgeblich anderen Disziplinen: Ohne die Anregungen aus der Sprachphilosophie (Sprechakttheorie) und aus der Soziologie (ethnomethodologische Konversationsanalyse) hätte sie sich vielleicht gar nicht oder zumindest ganz anders entwickelt. Zum anderen spielt in den meisten Praxisfeldern das Kommunizieren eine zentrale Rolle; und wenn solche Kommunikationsvorgänge in der Gesprächsforschung analysiert werden, dürfte diese für interdisziplinäre Kooperation geradezu prädestiniert sein. So sind beispielsweise die Forschungszusammenhänge, in denen ich die wichtigsten Erfahrungen mit dem interdisziplinären Alltag gemacht habe, ohne die Kooperation mit VertreterInnen medizinischer und psychologischer Disziplinen nicht denkbar: Die Vorstellung, die Beschreibung von epileptischen Anfällen
2 Dieser Beitrag ist ursprünglich für den mündlichen Vortrag geschrieben worden und soll diesen Charakter auch weitgehend behalten. Daraus eine schriftliche wissenschaftliche Abhandlung zu machen, würde seinen Grundgedanken geradezu widersprechen.
2 „How strange we are“ – das Problem der Fremdheit
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oder von Panikattacken durch Patienten3 konversationsanalytisch zu bearbeiten, ohne das Gespräch mit Epileptologen, Psychiatern oder Psychotherapeuten zu suchen, erschiene mir geradezu abwegig. Wie aber sieht nun eine solche Kooperation konkret aus? Harald Welzer formuliert mit dem Titel seines Artikels in DIE ZEIT (18, 27. April 2006, 7) einen wichtigen Ratschlag: „Nur nicht über Sinn reden!“ Er vertritt die Auffassung, dass Interdisziplinarität einfacher zu verwirklichen ist, „wenn es um die Forschungsarbeit selbst geht“: Die Grundregel, die vor dem gemeinsamen Betreten eines Forschungsfeldes strikt beherzigt werden muss, lautet: Nie über Grundsätzliches sprechen – keine erkenntnistheoretischen, begrifflichen, keine im weitesten Sinne philosophischen Probleme aufwerfen. Interdisziplinarität funktioniert nur pragmatisch (. . .).
Diese Regel ist sicher klug, aber einfach ist die konkrete Arbeit in einer interdisziplinären Gruppe nicht.
2 „How strange we are“ – das Problem der Fremdheit Im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld – einer Institution, deren Alltag von interdisziplinären Zusammenkünften bestimmt ist – wird an einer der Wände auf dem Weg in die Arbeits- und Tagungsräume Norbert Elias, sicher einer der prominentesten Forscher, die je das ZiF frequentiert haben, mit dem Ausspruch zitiert: „How strange these people are – how strange I am – how strange we are.“4 Wie seltsam und wie fremdartig es sein kann, wenn man in ein interdisziplinäres Alltagsgespräch eintritt, möchte ich an einem ersten Beispiel erläutern: 3 Ich beziehe mich hier auf zwei interdisziplinäre Forschungsprojekte: (1) Linguistische Differenzialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen. Diagnostische und therapeutische Aspekte (Elisabeth Gülich, Martin Schöndienst; gefördert von der DFG vom 01. März 1999 bis 28. Februar 2011 und aus Forschungsmitteln der Universität Bielefeld): www.uni-biele feld.de/lili/forschung/projekte/epiling/ (29.01.2020); eine umfassende Darstellung der Ergebnisse gibt Surmann (2005). (2) Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst. Exemplarische Untersuchungen zur Bedeutung von Affekten bei Patienten mit Anfallskrankheiten und/oder Angsterkrankungen; Kooperationsgruppe am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 01. April bis 30. September. 2004 (wissenschaftliche Leitung: Jörg Bergmann, Elisabeth Gülich, Martin Schöndienst, Friedrich Wörmann). Weitere Informationen: www.uni-bielefeld.de/ZIF/KG/2004Angst/ (29.01.2020). Abschlussbericht: ZiFMitteilungen 3. 2005. 4 Elias, Norbert (1987). Von der Tangerreise IV. In: Elias, Norbert: Los der Menschen. Frankfurt/Main, 59.
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Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität
Zwei medizinische Einrichtungen praktizieren Kooperation in Form von regelmäßigen gemeinsamen Arbeitssitzungen. Die Gruppe ist in bestimmter Hinsicht interdisziplinär zusammengesetzt, das heißt, sie besteht aus Epileptologen, Physiologen, Hirnchirurgen, Spezialisten für PET, SPECT und MRT. Nun hat man kürzlich erfahren, dass ein Epileptologe neuerdings mit einer Linguistin zusammenarbeitet. Man hält das für ein interessantes interdisziplinäres Phänomen und lässt die Außenseiterin zu Wort kommen. Die Linguistin stellt ein Transkript vor. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Gespräch, in dem eine Ärztin mit einer Patientin spricht, die gerade einen epileptischen Anfall hinter sich hat. Auf die Frage, wie dieser denn angefangen habe, sagt die Patientin: Transkriptbeispiel 15 Pat: das hat wieder so mit (-) Angst, (-) weil man immer denkt irgendwas, (-) naja nich dENkt, sondern es (-) Ärztin: hm, ((. . .)) Ärztin: wo fängt die angst im körper an. Pat: hm (-) hier (-) hier und dann, (-) das steigt dann richtig hoch, alles wie EINgeschlafen, dolles kribbeln (.) links mehr als rechts, (-) das is in letzter zeit doll, (.) und hier hinten alles, (-) taub. (.) und vor allen dingen, (-) die zUNge. Die Linguistin zeigt, wie die Patientin zögert, sich korrigiert, mehrfach neu ansetzt – kurz: an der Formulierung ihrer Aura-Empfindungen vor dem eigentlichen Anfall arbeitet. Verständnisloses Erstaunen auf Seiten der Epileptologen, Physiologen und Hirnchirurgen: Aus ihrer Sicht ist die Patientin ganz einfach aphasisch. Der linguistische Kommentar, es handle sich um gesprochene Sprache, die nur deshalb so fremdartig wirke, weil man sie normalerweise nicht in geschriebener Form vor sich habe, überzeugt nicht. Und auf die Bemerkung, dass das spontane Sprechen der hier Versammelten, würde man es transkribieren, wahrscheinlich ganz ähnlich aussähe, reagieren die Zuhörer geradezu konsterniert.
5 Zu den Transkriptkonventionen: siehe Anhang in diesem Band.
2 „How strange we are“ – das Problem der Fremdheit
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Die versammelte Gruppe, die im Begriff war, ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu beantragen, hatte sich natürlich vorher auf interdisziplinäres Arbeiten verständigt. Sie hatte im Antragsentwurf der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass ihr Gegenstand sich überhaupt nur interdisziplinär erforschen lasse. Insofern war das linguistische Projekt willkommen. Aber so hatte man sich den linguistischen Beitrag nicht vorgestellt. Bei der Abfassung eines Projektantrags fließt es einem leicht in die Feder, dass man dieselben Forschungsgegenstände aus verschiedenen disziplinären Hinsichten und mit Methoden aus verschiedenen Disziplinen untersuchen wolle. Aber ein Transkript, das die gesprochene Alltagssprache einer Patientin dokumentiert, zu analysieren, das erscheint doch allzu befremdlich. „How strange these people are . . .“ Die Irritation, die die Transkripte hervorriefen, war vermutlich eine doppelte: Für die Mediziner war es vielleicht schon ungewohnt, dass wir untersuchen wollten, wie PatientInnen mündlich und spontan über ihre Anfälle reden, anstatt uns auf EEGs oder bildgebende Verfahren – den „Goldstandard“ der Epilepsiediagnostik – zu verlassen. Zusätzlich und besonders irritierend dürfte es aber gewesen sein, dass das Interesse darauf gerichtet sein sollte, wie die Patienten reden. Hätten wir nur festhalten wollen, welche Symptome sie anführen – Angst, Kribbeln, Taubheitsgefühl – wäre man uns unter Umständen mit mehr Verständnis begegnet. Aber wir wollten uns mit den ähs und hms, mit den Abbrüchen, den Reformulierungen und unvollständigen Sätzen (hier hinten alles taub) beschäftigen; das war nicht ohne weiteres einzusehen. Dabei hätte vielleicht keiner der Mediziner gesagt, dass die betreffenden Phänomene keine Beachtung verdienten, aber sie wurden anders eingeordnet, eben als Hinweise auf eine (anfallsbedingte) Aphasie, während unser Interpretationsrahmen die Lösung einer Formulierungsaufgabe war. Müsste man daraus den Schluss ziehen, dass die Forschungsgegenstände in den verschiedenen Disziplinen nur scheinbar dieselben sind? Sind sie nur unter der Voraussetzung dieselben, dass man sie sehr oberflächlich, sehr pauschal betrachtet? Wenn man einerseits bei Patienten mit einer fokalen Epilepsie Hirngewebe operativ entfernt und es dann analysiert, um die hirnorganische Störung genau zu untersuchen, und andererseits PatientInnen mit dieser Erkrankung beschreiben lässt, wie ihre Auren oder Anfälle ablaufen, sind dann nicht die Forschungsgegenstände völlig verschieden? Kann man sie also nur jeweils innerdisziplinär erforschen und sich interdisziplinär allenfalls darüber austauschen? Liegt die Interdisziplinarität nur in einem solchen Austausch? Man machte es sich in so einem Fall natürlich zu leicht, würde man lediglich das Unverständnis auf Seiten der jeweils anderen Disziplinen für die Schwierigkeiten im interdisziplinären Alltagsgeschäft verantwortlich machen.
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Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität
So wie sich der Sinn und Nutzen einer Transkriptanalyse dem Epileptologen nicht gleich erschließt, so bringt der Gesprächsforscher auf Anhieb wenig Verständnis beispielsweise für ein physiologisches Projekt auf, in dem es um die Anfallsbereitschaft der Weinbergschnecke gehen soll. Die Notwendigkeit dieser Untersuchung leuchtete auch mir erst ein, als ich erfuhr, dass die Weinbergschnecke die idealen Voraussetzungen mitbringt, um elektrische Phänomene der Neuronen optimal zu untersuchen. Sich gegenseitig plausibel zu machen, warum und wie man an welchen Untersuchungsgegenständen arbeitet, ist ein wesentlicher Bestandteil der interdisziplinären Alltagsgespräche. Für Verständigungsschwierigkeiten ist oft weniger die fremde Fachsprache der anderen Disziplin verantwortlich – nach unbekannten Termini kann man leicht fragen – als die Divergenz der Perspektiven und der Relevanzsetzungen, die die Beschäftigung mit den jeweiligen Gegenständen leiten. Wir bemerken Divergenzen auch in Alltagssituationen, in denen wir uns – wie Alfred Schütz gezeigt hat – wechselseitig Austauschbarkeit der Standpunkte und Kongruenz der Relevanzsysteme unterstellen müssen, wenn Verständigung funktionieren soll. In interdisziplinären Kontexten tritt diese Problematik jedoch in verschärfter Form auf, weil jede Disziplin ihre Traditionen und Konventionen in der Gegenstandskonstitution und in der Festlegung auf Theorien und Methoden mit sich bringt und sie zunächst auch ganz selbstverständlich den jeweils anderen Disziplinen unterstellt. Das Beschwören der Interdisziplinarität „auf beinahe jeder akademischen Festveranstaltung“, wie Harald Welzer schreibt (DIE ZEIT 18, 27. April 2006, 37), kann über die Divergenzen hinwegtäuschen: „kaum eines der Probleme, denen man im wirklichen Forschungsleben begegnet, taucht jemals auf, wenn feierlich von ,Interdisziplinarität‘ die Rede ist“. Aber „wenn man mit ihr im Forschungsalltag Ernst macht“, dann sind sie unübersehbar; deshalb hält er die konkrete alltägliche Zusammenarbeit für „höchst lehrreich“.
3 Der Umgang mit „Daten“ In meinem nächsten Beispiel für die „höchst lehrreiche“ Kooperation im interdisziplinären Alltag stelle ich noch einmal die Beschäftigung mit einem Transkriptausschnitt in den Mittelpunkt. Es stammt aus der Kooperationsgruppe Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst (siehe Anm. 3), in deren Arbeit die Beschäftigung mit Gesprächen (Videoaufnahmen, Audioaufnahmen und Transkripten) eine wichtige Rolle spielte. In der Gruppe, in der etliche Disziplinen vertreten waren (ich nenne sie in alphabetischer Reihenfolge: Epileptologie, Linguistik, Psychiatrie, Psychotherapie, Psychologie und Soziologie), waren sich alle da-
3 Der Umgang mit „Daten“
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rüber einig, dass das Reden über Angst bzw. das Kommunizieren von Angst im Zentrum der interdisziplinären Forschung stehen sollte. Wer allerdings mit wem wie über Angst reden sollte, war Gegenstand eines komplexen Aushandlungsprozesses: Es sollten nicht einfach die Gespräche der Ärzte oder Therapeuten mit den in den beteiligten Kliniken gerade behandelten Patienten aufgezeichnet werden, sondern erst einmal mussten die Einschlusskriterien für die Patienten, die an der Studie teilnehmen sollten, festgelegt werden. Die Patienten sollten natürlich mit Angst zu tun haben, aber möglichst ohne Agoraphobie, denn sie sollten auch einer funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie unterzogen werden. Sie sollten keine Depression oder andere zusätzliche Störungen haben, weil bei Komorbidität die Rolle der Angst nicht klar zu definieren wäre. Sie sollten das Gespräch nicht mit den behandelnden Ärzten, sondern mit Ärzten aus der jeweils anderen Klinik führen. Das Gespräch sollte nach einem Leitfaden geführt werden, um die Vergleichbarkeit zwischen Patienten zu gewährleisten. Man brauchte möglichst die gleiche Anzahl von Patientlnnen mit Angst-Auren und PatientInnen mit Panikattacken, um ein statistisch relevantes Ergebnis zu erzielen. Ein häufiges Argument in der Debatte war die Möglichkeit zur Veröffentlichung der Ergebnisse in renommierten Zeitschriften. Als die Daten erhoben worden waren, das heißt in diesem Fall: als die Gesprächsaufzeichnungen und Transkripte vorlagen, wunderten sich die beteiligten Gesprächsanalytiker, dass von medizinischer Seite immer wieder betont wurde, die Gespräche seien unnatürlich: Man würde in der Klinik normalerweise solche Gespräche nicht führen, das habe man nur den Linguisten zuliebe getan. Erst jetzt stellte sich heraus, dass es für die Gesprächsanalytiker selbstverständlich gewesen wäre, an Daten aus natürlichen oder authentischen ArztPatient-Interaktionen zu arbeiten, während einige der ärztlichen Interviewer gemeint hatten, sie müssten dafür sorgen, dass die Patienten bestimmte Typen von Äußerungen – zum Beispiel narrative Sequenzen – produzieren, um linguistische Analyse-Interessen zu befriedigen. Man kann sich also interdisziplinär völlig einig sein, dass man empirisch erhobene Daten analysieren will, ohne zunächst zu bemerken, dass man weder unter Daten noch unter empirisch dasselbe versteht. Dass Gesprächstranskripte als Daten anzusehen sind, an denen man gemeinsam arbeiten kann, wurde in der Gruppe jedoch allgemein akzeptiert, und es fanden auch gemeinsame Datensitzungen statt. In einer der ersten gemeinsamen Sitzungen wurde ein vorher verteiltes Transkript von der Audio-Aufnahme eines Gesprächs bearbeitet, das einige Monate zuvor in der Epilepsieklinik aufgezeichnet worden war. Aus diesem Gespräch wurde unter anderem eine Sequenz analy-
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Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität
siert, in der die Patientin erzählt, wie sie nach jahrelanger Anfallsfreiheit nach der Geburt ihres ersten Kindes ganz unerwartet wieder einen Anfall bekam. Transkriptbeispiel 2 und am MOrgen wurd ich wach und (-) dachte mensch hoppala . stimmt was=nich dir is ÜBEL. greif man schnell zum: (-) zum dingens ne drÜcker na=ja und denn (-) als ich dann WACH geworden bin: (.) JA da stand der Arzt (-) vor mir u:nd daneben ne krankenschwester, und äh (-) ich sach was MACH ich denn hier, (--) JA=SIE sind im krankenhaus=ich sach wieSO=hatt=ich ein=n Autounfall, (--) NEIN sie ham ein kind bekommen. ich sach kann doch gar nich sein ICH WA dOch gar nich schwAnger (-) U::nd ja (-) und dann: (-) DOCH (-) sie waren schwanger und (-) sie hatten leider einen krAmpfanfall. (-) wir müssen sie jetzt auf die intensivstation tragen ((. . .)) Aus der Sicht der Gesprächsanalyse sollte an diesem Ausschnitt gezeigt werden, wie die Patientin bei der episodischen Rekonstruktion des Anfalls auf Mittel der szenischen Darstellung rekurriert, während sie vorher ihre Anfälle eher iterativ oder verallgemeinernd geschildert hatte: Sie benutzt hier direkte Rede, um ihre Gedanken zu verbalisieren; sie rekonstruiert eine Szene mit Arzt und Krankenschwester, deren wesentlicher Bestandteil ein Dialog ist. Plötzlich unterbrach einer der Mediziner die Ausführungen mit der Bemerkung: Das stimmt doch gar nicht! Daraufhin wurde auf Einzelheiten der konversationellen Verfahren hingewiesen: Verba dicendi, szenisches Präsens, Wechsel des Personalpronomens, Imitation der Sprechweise. Nach einem längeren Aushandlungsprozess stellte sich heraus, dass der Mediziner meinte, es stimme inhaltlich nicht. Als Begründung führte er an, die Patientin befände sich in einem post-iktalen Zustand, deshalb könne sie sich gar nicht an den Arzt und die Krankenschwester und das Gespräch mit ihnen erinnern. Was sie sage, könne also einfach nicht stimmen. Solange man sich abstrakt und theoretisch darauf verständigte, dass in diesem Projekt die subjektiven Krankheitserlebnisse der Patienten im Vordergrund stehen und mit konversationsanalytischen Methoden erhoben und beschrieben werden sollten, waren alle Mitglieder der Gruppe damit einverstanden. In der konkreten alltäglichen Arbeit am Manuskript hingegen machten sich Irritationen bemerkbar. Kann man linguistisch Aussagen analysieren, die epileptologisch betrachtet falsch sind? Macht das Sinn?
4 Was ist ein Forschungsergebnis?
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Keiner der Beteiligten ist hier im Unrecht. Die Perspektiven auf die Äußerungen in dem transkribierten Gesprächsausschnitt sind verschieden, aber beide sind legitim. Es ist schwer, die eigene disziplinäre Perspektive zu verlassen und eine andere einzunehmen. Wenn man gewohnt ist, auf die Inhalte zu achten, ist die Konzentration auf die Form der Darstellung zunächst fremd oder der zumindest gewöhnungsbedürftig. Die Perspektive ist durch die Methode bedingt. Aber verändert die Methode nicht auch den Untersuchungsgegenstand? Mit einer gesprächsanalytischen Perspektive erfasst man durch die Transkriptanalyse andere Aspekte des Phänomens Angst als mit psychiatrischen Testverfahren oder einem funktionellen Kernspin. Trotzdem meint man zunächst, der Untersuchungsgegenstand sei derselbe, nämlich Angst. Aber als Gesprächsanalytiker arbeitet man eben nicht über Angst, sondern über das Kommunizieren von Angst, und das ist letztlich doch nicht dasselbe. Wenn aber die gesprächsanalytische Arbeit auch einen Nutzen für die Angstforschung und/oder die Behandlung von Angststörungen haben soll, muss man dann nicht bei einer Transkriptanalyse auch anders vorgehen als in der Gesprächsanalyse sonst üblich oder sie zumindest anders auswerten?
4 Was ist ein Forschungsergebnis? Gerade die Auswertung ist im interdisziplinären Alltagsgeschäft eine besondere Herausforderung, denn jede Disziplin hat ihre eigenen Standards sowohl für Veröffentlichungen als auch für das, was überhaupt als Ergebnis gilt. Welzer spricht in seinem ZEIT-Artikel von „kulturellen Differenzen, die zwischen den Fächern bestehen und die es schwermachen, miteinander in Austausch zu kommen“: Eine Ethnologie des jeweils anderen Fachs zeigt […] nicht nur grundlegend verschiedene Auffassungen darüber, was als wissenschaftliche Präsentation oder Veröffentlichung gelten kann, sondern auch darüber, was Forschungsergebnisse überhaupt sind. In den Kulturwissenschaften gilt oft schon Diskursives und Konversationelles als Ergebnis, während Neurowissenschaftler Paper auf Paper häufen und jede noch so marginale Aktivierung in den Hirnen gleichmütiger Versuchspersonen flugs in Publikationen und Anträge auf neue Forschungsgelder transformieren.
Das Problem, das sich hier mit Macht stellt, ist das der Anschließbarkeit der Ergebnisse an die jeweiligen disziplinären Forschungsinteressen; die Bereitschaft, sich über die Ergebnisse auszutauschen, reicht nicht aus, um sie in die disziplinäre Forschung oder Praxis zu integrieren. Ein in dieser Hinsicht gelungenes Beispiel habe ich auf der Tagung Conversation Analysis and Epileptology in Sheffield (Februar 2006) erlebt: Einer der Re-
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Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität
ferenten Paul Drew, konnte einem vorwiegend aus Medizinern bestehenden größeren Publikum den Unterschied zwischen some und any so eindringlich nahebringen, dass noch auf der abendlichen Party darüber reflektiert und diskutiert wurde. Er zeigte, dass der Gebrauch dieses sprachlichen Details in der Frage Is there anything else I can do for you?, die der Arzt in der Schlussphase einer Konsultation an den Patienten richtet, zu deutlich anderen Reaktionen führt als in der Version Is there something else I can do for you?. Das war für jeden unmittelbar nachvollziehbar. Die Anschließbarkeit an – in diesem Fall: praktische – eigene Probleme war gegeben. Harvey Sacks hätte seine Freude daran gehabt, denn er war ja davon überzeugt, dass die genaue Untersuchung solcher Details ungeheure Einsichten zu vermitteln vermag: „It is possible that detailed study of small phenomena may give an enormous understanding of the way humans do things [. . .]“ (Sacks 1984, 24). Dass es Paul Drew gelang, Interesse für some und any zu wecken, führe ich aber auf zwei weitere Punkte zurück. Erstens konnte er diesen Unterschied durch Zahlen untermauern: Er zeigte, wie viele Patienten auf die Frage mit any hin schwiegen und aufbrachen und wie viele dagegen auf die Frage mit some ein neues Thema anschnitten. Mit den Angaben zur Häufigkeit knüpfte er an Darstellungs- und Argumentationsweisen medizinischer Forschung an. Zweitens distanzierte er sich selbst ein wenig vom Beispiel; er zitierte es mehrfach mit einer gewissen Selbstironie als eins dieser scheinbar unbedeutenden Details, mit denen Konversationsanalytiker sich beschäftigen. Damit zeigte er, dass er seine Perspektive nicht für die einzig mögliche und richtige hält, sondern auch andere kennt und anerkennt. Wahrscheinlich ist das eine der wesentlichen Voraussetzungen für das interdisziplinäre Alltagsgeschäft. Das hört sich eigentlich ganz leicht an . . . Aber viele Probleme sind komplizierter als der Unterschied zwischen some und any. Ergebnisse konversationsanalytischer Beobachtungen und Beschreibungen zu kodieren und zu quantifizieren, würde einem vielleicht zu Ruhm und Ansehen bei medizinischen Kooperationspartnern verhelfen, doch man würde riskieren, aus der Gemeinschaft der Gesprächsanalytiker ausgestoßen zu werden. Drew6 äußert sich im Zusammenhang mit den Grenzen konversationsanalytischer Arbeit in der Medizin eher skeptisch in Bezug auf die Vereinbarkeit der disziplinären Ansätze: „Medics expect quantified results based on big data sampies. The coding schemes used to generate such results are not (usually) compatible with CA’s
6 Ich zitiere hier aus dem umfangreichen Handout zu Drews Vortrag, das den Tagungsteilnehmern in Sheffield vorlag.
5 Die „gleichmäßige Unzufriedenheit“ der Einzeldisziplinen
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approach“7 (Drew 2006, 12). Die Stärke der Gesprächsanalyse liegt im Herausarbeiten grundlegender konversationeller Verfahren oder Muster, deren Bedeutung für medizinische Interaktionen nicht ohne weiteres auszumachen ist: „CA’s enquiries are directed at investigating and identifying general practices underlying our communicative competences. It’s not clear that these practices etc. have any distinctive place, or functions, in medical interactions“. (Drew 2006, 12). Sich zu Konsequenzen für die Praxis zu äußern ist auch deshalb schwierig, weil die Konversationsanalyse8 im Allgemeinen nicht zu Bewertungen und Empfehlungen bereit ist: „Our findings are non-evaluative; so it’s often difficult for us to recommend anything like ‚best practice‘.“ (Drew 2006, 1).9 Kooperation im interdisziplinären Alltag bedeutet also, sich zwischen zwei Stühle zu setzen; vielleicht muss man einfach lernen, den Platz zwischen den Stühlen zu lieben.
5 Die „gleichmäßige Unzufriedenheit“ der Einzeldisziplinen Als das ZiF 25 Jahre alt wurde (das war 1993), hielt Wolfgang Frühwald den Festvortrag über das Thema: Bielefelder Akademie. Zum Verhältnis von Spezialisierung und Interdisziplinarität in der Grundlagenforschung. Er zitierte die geistigen Väter dieser Einrichtung, neben Helmut Schelsky vor allem Harald Weinrich, der „die Interdisziplinarität von Fragestellungen“, wie Frühwald sagte, „im bleibend pragmatischen Bielefelder Stil, damals ex negativo aus der Unzufriedenheit der Disziplinen mit dem sie verstörenden selbstkritischen Element“ definierte. „Das einzige Kriterium (so zitiert Frühwald Weinrich) für die Richtigkeit bei der For7 Das Problem quantitativer Untersuchungen in der Konversationsanalyse wird immer wieder zur Diskussion gestellt; vgl. z. B. Schegloff 1993; Heritage 1995, 402–406; ein bemerkenswertes Beispiel für den Einsatz quantitativer Methoden bot der Vortrag von Clayman auf der ICCA 06 (Clayman 2006). 8 Die Termini Konversationsanalyse und Gesprächsanalyse verwende ich hier nicht systematisch im Sinne einer strikten Unterscheidung, weil die hier behandelten Probleme im Allgemeinen nicht spezifisch für die ethnomethodologische Konversationsanalyse oder für die linguistische Gesprächsanalyse sind. Gerade hinsichtlich Bewertung und Anwendung besteht aber insofern ein Unterschied als viele Vertreter der Gesprächsforschung sich durchaus in der Lage sehen, kommunikatives Verhalten zu bewerten und auf der Grundlage ihrer Analysen auch Ratschläge für die Kommunikationspraxis zu geben; vgl. z. B. die Beiträge aus der Gesprächsforschung in Neises et al. 2005. Auch Maynard und Heritage (2005, 433–434) behandeln Aspekte der medical education. 9 Vgl. dazu auch die Überlegungen von ten Have zu CA – ‚pure‘ and ‚applied‘ (1999, 162); ten Have stellt Teil IV seines Buches unter den Titel Sharing data, ideas, and findings und legt damit den Akzent auf interdisziplinäre Kooperation statt auf Anwendung von konversationsanalytischen Forschungsergebnissen.
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Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität
mulierung einer Problemfrage ist, dass alle beteiligten Disziplinen gleichmäßig unzufrieden sind.“ (Frühwald 1994, 6). Dieser Unzufriedenheit sind wir in der Kooperationsgruppe zur Angst zumindest bei der Datenfrage schon recht nahe gekommen; aber sie war letztlich auch der Grund, ein solches Kooperationsprojekt überhaupt zu beantragen. Frühwald sieht Interdisziplinarität durchaus differenziert, aber ihren Wert zweifelt er in keiner Weise an. Dabei beruft er sich auf ehemalige ZiF-Direktoren wie Franz-Xaver Kaufmann oder Peter Weingart, zitiert prominente ZiF-Gäste, allen voran Norbert Elias, als Gewährsleute und nennt die Gründung des ZiF „eine der wegweisenden und unvergleichlichen Reformtaten der jüngeren Universitätsgeschichte“ (Frühwald 1994, 9). Dagegen hat der Wissenschaftsrat, der kürzlich in einem Gutachten seine Einschätzung zur Lage der Geisteswissenschaften abgegeben hat, sich zur Frage der Interdisziplinarität eher zurückhaltend geäußert. In einem Artikel darüber in der FAZ vom 27. Januar 2006 (Jürgen Kaube: Befreiungsschlag für die Universitäten) heißt es unter anderem: Das Gutachten deutet an, dass Interdisziplinarität oft nur eine oberflächliche Kontaktaufnahme unter einer großzügig gewählten Überschrift ist und gemeinsame Probleme, die nach Lösungen rufen, durch gemeinsame Themen, zu denen alle etwas sagen können, ersetze. Deshalb wird die Stärkung des interdisziplinären Austauschs darüber empfohlen, was im Fach der Stand der Forschung sei.
Kaube zufolge sieht der Wissenschaftsrat die Gefahr, dass „die Erarbeitung disziplinär verankerten Könnens in den Hintergrund rückt. Die Phrase, es mangele an Interdisziplinarität bekräftigt der Rat darum nicht.“ Zusammenfassend schreibt Kaube: Das gesamte Gutachten durchzieht in diesem Sinne die Mahnung an beide Seiten, die Geisteswissenschaftler wie ihre Mittelgeber, endlich damit aufzuhören, nach Kriterien zu handeln und Zwecken zu folgen, die nur für Natur- und Technikwissenschaften sinnvoll sind.
Also, was tun? Wem sollen oder wollen wir uns anschließen? Frühwald, der gestützt auf Schelsky, Weinrich und Elias das Hohe Lied der interdisziplinären Forschung singt, auch wenn die „interdisziplinären Lieder (. . .) zwischen den Lehrstühlen zu singen sind“?10 Oder dem Wissenschaftsrat, der uns ermuntert, geisteswissenschaftliche Probleme mit geisteswissenschaftlichen Methoden anzugehen, und uns Hoffnung macht, dass sie auch nach geisteswissenschaftlichen Kriterien beurteilt werden?
10 Frühwald spielt hier (1994, 5–6) auf Erich Kästners Lied, zwischen den Stühlen zu singen an.
5 Die „gleichmäßige Unzufriedenheit“ der Einzeldisziplinen
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Für mich besteht kein Zweifel daran, dass Interdisziplinarität in der Gesprächsforschung unumgänglich ist. Wenn das Forschungsinteresse über turn taking- oder Reparaturmechanismen hinausgeht, ist man zwangsläufig im Weinrichschen Sinne unzufrieden: Man stößt ständig an die Grenzen der eigenen fachlichen Kompetenz; man möchte einfach wissen, was die anderen mit demselben Material machen, was sie daran erforschen, zu welchen Ergebnissen sie dabei kommen. Man ist nicht nur unzufrieden, sondern auch neugierig. Unverzichtbar ist Interdisziplinarität in der Gesprächsforschung vor allem dann, wenn man sich der Analyse professioneller und institutioneller Interaktionen zuwendet (talk at work, workplace studies)11 und sie auch mit Interesse an der jeweiligen Praxis betreibt. Es erscheint nahezu selbstverständlich, die Aufmerksamkeit auch auf die Kontexte zu richten, in denen die Interaktionen stattfinden. Damit ist meist schon ein Schritt aus der eigenen Disziplin heraus getan. Allerdings: Interdisziplinarität muss interaktiv hergestellt werden, und das ist eine Aufgabe für den Arbeitsalltag, die permanent und immer wieder neu zu lösen ist. Lorenza Mondada, die selbst über reichhaltige Erfahrungen in interdisziplinären Projekten verfügt, vermittelt in ihrem Buch Chercheurs en interaction (2005) anhand von Beispielen aus verschiedenen Disziplinen einen guten Einblick in diese interaktive Herstellung; sie richtet ihre Aufmerksamkeit gerade auf die alltägliche Kooperation, auf „la science telle qu’elle se fait dans le travail ordinaire des chercheurs“ und „la manière dont le savoir est élaboré dans des équipes, au fil des activités quotidiennes“ (Mondada 2005, 9). Man muss sich allerdings darüber klar sein, dass die interaktive Aufgabenbearbeitung im interdisziplinären Alltag Zeit kostet, sogar sehr viel Zeit! Das scheint ein absolut banaler Aspekt zu sein, doch er ist zentral, obwohl er nirgends erwähnt oder gar berücksichtigt wird. Zeit, die von den Vertretern der beteiligten Disziplinen eigentlich gar nicht eingeplant und folglich auch bei der Projektplanung nicht veranschlagt wird; Zeit, die eventuell Geldgeber einer interdisziplinären Projektgruppe gar nicht zugestehen. Wenn man sie sich nimmt, sie sich nehmen kann, dann treten alle Schwierigkeiten auf, die ich skizziert habe. Aber dann verändert sich auch etwas. Ich bin nach eigener langjähriger Erfahrung zu der Überzeugung gelangt, dass sich durch interdisziplinäre Kooperation im alltäglichen Arbeitszusammenhang die Forschungsgegenstände und die Methoden verändern. Man tauscht sich nicht
11 Vgl. z. B. Drew und Heritage 1992; Button 1993; Linell und Sarangi 1998; ten Have 1999 (part IV); Mondada 2005.
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Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität
nur über die Phänomene aus, sondern man arbeitet anders an ihnen weiter – und zwar in jeder der beteiligten Disziplinen. Die eigenen disziplinären Begrenzungen zu erkennen und produktiv mit ihnen umzugehen, ist eine wichtige Voraussetzung für solche Veränderungen. Für Interdisziplinarität braucht man in doppeltem Sinne Disziplin; das macht Weinrich in seinem Aufsatz Wissenschaftssprache, Sprachkultur und die Einheit der Wissenschaft eindrucksvoll deutlich: Ich liebe in diesem Zusammenhang das Wort Disziplin; es erinnert daran, dass die Wissenschaft, wenn sie sich in eine große Zahl von verschiedenen Fächern aufteilt, sich selber in Zucht nimmt. Daher kann niemand als Wissenschaftler gelten, der sich selber eine universale Kompetenz für alle möglichen Wissenschaften zuspricht oder zusprechen lässt, sondern nur derjenige, der sich in einer dieser vielen Disziplinen als Fachmann „diszipliniert“ hat, was dann allerdings nicht ausschließt oder ausschließen sollte, dass er (oder sie) sich auch in anderen Disziplinen umsieht, und sei es nur, um bei den wissenschaftlichen Geschäften nicht zu vergessen, dass jede Wissenschaft nur eine von vielen ist, die sich gegenseitig begrenzen und relativieren. (Weinrich 2001, 253)
Literatur Button, Graham (Hg. 1993). Technology in working order. Studies of work, interaction and technology. London. Clayman, Steven (2006). Conversation design, the White House press corps, and presidentpress relations. Vortrag auf der International Conference on Conversation Analysis (ICCA) 2006. Drew, Paul (2006). „Conversation analysis and medicine: Opportunities and limitations“. Vortrags-Handout zur Tagung Conversation Analysis and Epileptology in Sheffield, Februar 2006. Drew, Paul und Heritage, John (1992). Talk at work. Interaction in institutional settings. Cambridge. Elias, Norbert (1987). Los der Menschen. Frankfurt/Main. Frühwald, Wolfgang (1994). „Bielefelder Akademie. Zum Verhältnis von Spezialisierung und Interdisziplinarität in der Grundlagenforschung“. Festvortrag zum 25jährigen Bestehen des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung. Bielefeld. Heritage, John (1995). „Conversation analysis: Methodological aspects“. In: Quasthoff, Uta M. (Hg.), Aspects of oral communication. Berlin, 391–418. Kaube, Jürgen (2006). „Befreiungsschlag für die Universitäten“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 24, 28.01.2006, 33. Linell, Per und Sarangi, Srikant (Hg. 1998). „Discourse across professional boundaries“. In: Text 18.2, special issue. Maynard, Douglas W. und Heritage, John (2005). „Conversation analysis, doctor-patient interaction and medical communication“. In: Medical Education 39, 428–435.
Literatur
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Mondada, Lorenza (2005). Chercheurs en interaction. Comment émergent les savoirs. Lausanne. Neises, Mechthild; Ditz, Susanne und Spranz-Fogasy, Thomas (Hg. 2005). Psychosomatische Gesprächsforschung in der Frauenheilkunde. Ein interdisziplinärer Ansatz zur verbalen Intervention. Stuttgart. Sacks, Harvey (1984). „Notes on methodology“. In: Atkinson, J. Maxwell und Heritage, John (Hg.), Structures of social action. Studies in conversation analysis. Cambridge, 21–27.
Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache Mannheim. Erstveröffentlichung des Beitrags in: Deutsche Sprache 2006, 34, 6–17.
Transkriptionskonventionen 1 Gesprächsanalytisches Trankriptionssystem GAT 1 [binichjetzt* [ja: * / . .. … .h .hh .hhh h hh hhh
gleichzeitiges Sprechen: Beginn mit eckigen Klammern, Ende ggf. durch * gekennzeichnet hörbarer Abbruch ohne Pause kurzes Absetzen innerhalb einer Äußerung oder zwischen zwei Äußerungen kurze Pause mittlere Pause deutliches Einatmen, je nach Dauer deutliches Ausatmen, je nach Dauer
:; ::; :::; ‚ !
Dehnung, Längung, je nach Dauer Abbruch durch Glottalverschluss Ausruf, Emphase
/\ \/ ↑ ↓
gleichbleibende Intonation steigend-fallende Intonation fallend-steigende Intonation auffälliger Tonhöhensprung nach oben auffälliger Tonhöhensprung nach unten
((schnauft)) interpretierende Kommentare mit Reichweite \________/ Beschreibung von nonverbalen / sichtbaren Kommunikationsanteilen
forte, laut / fortissimo, sehr laut piano, leise / pianissimo, sehr leise allegro, schnell / accelerando, schneller lento, langsam / rallentando, langsamer crescendo, lauter werdend diminuendo, leiser werdend
2 Gesprächsanalytisches Trankriptionssystem: GAT 2 [ [ =
] ]
Überlappungen und Simultansprechen schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Sprechbeiträge oder Segmente (latching)
https://doi.org/10.1515/9783110685664-020
526
akZENT akzEnt ak!ZENT!
Transkriptionskonventionen
Fokusakzent Nebenakzent extra starker Akzent
°h / h° Ein- bzw. Ausatmen von ca. .–. Sek. Dauer °hh / hh° Ein- bzw. Ausatmen von ca. .–. Sek. Dauer °hhh / hhh° Ein- bzw. Ausatmen von ca. .–. Sek. Dauer (.) (-) (--) (---) (0.5)
Mikropause, geschätzt, bis ca. . Sek. Dauer kurze geschätzte Pause von ca. .–. Sek. Dauer mittlere geschätzte Pause von ca. .–. Sek. Dauer längere geschätzte Pause von ca. .–. Sek. Dauer gemessene Pausen von ca. . Sek. Dauer
? , _ ; .
finale Tonhöhenbewegung: hoch steigend finale Tonhöhenbewegung: mittel steigend finale Tonhöhenbewegung: gleichbleibend finale Tonhöhenbewegung: mittel fallend finale Tonhöhenbewegung: tief fallend
und_äh äh öh äm : :: :::
Verschleifungen innerhalb von Einheiten Verzögerungssignale, „gefüllte Pausen“ Dehnung, Längung, um ca. .–. Sek. Dehnung, Längung, um ca. .–. Sek. Dehnung, Längung, um ca. .–. Sek.
haha hehe hihi ((lacht))
silbisches Lachen Beschreibung des Lachens Lachpartikeln in der Rede, mit Reichweite smile voice
hm ja nein nee hm_hm ja_a ((hustet))
einsilbige Signale zweisilbige Signale para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse mit Reichweite interpretierende Kommentare mit Reichweite
( ) (xxx) (xxx xxx) (also/alo) ((unverständlich, ca. 3 Sek.))
unverständliche Passage ohne weitere Angaben ein bzw. zwei unverständliche Silben vermuteter Wortlaut, mögliche Alternativen unverständliche Passage mit Angabe der Dauer
5 HIAT (in: Praxis der Fallarbeit)
3 Französische Gesprächstranskripte (in: Erzählen in der Interaktion) [] = (.) (2.3) ... .h h /\ : exTRA par((lacht))
(il va)
Überlappungen (Anfang und Ende) schneller Anschluss (latching) Mikropause gemessene Pausen geschätzte Pausen Einatmen Ausatmen Intonation: steigend (/) bzw. fallend (\) Dehnung betontes Segment Abbruch Beschreibung eines Phänomens Abgrenzung der Phänomene zwischen (( )) unsichere Transkription
4 Partiturschreibweise (in: Krankheitserzählungen) Partiturschreibweise zu lesen wie eine musikalische Partitur Siglen A, Ä, P und K für: Arzt, Ärztin, Patient und Kommentar
metakommunikative Kommentare in spitzen Klammern notiert Kleinschreibung gesprochener Text *, ** Minipausen (unter s) *2* Pausenlänge ( s) / Wortabbruch : Dehnung
5 HIAT (in: Praxis der Fallarbeit) wir ham heute äh ähm Meyer () (( )) ((lacht)) . .. ... ((2,3))
literarische Umschrift für starke Abweichungen Interjektionen Buchstabieren Vermutung für schwer verständliche Wörter unverständliche Passagen paralinguistische Phänomene – „Bullets“ für eine geschätze Pause bis zu Sek numerische Angaben für gemessene Pausen
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(.) (---) . ? ! ... / NOCHmal
Transkriptionskonventionen
Mikropausen kleine Pausen Punkt für Äußerungen im deklarativen Modus Fragen Ausrufe, Anredeformen etc abgebrochene Äußerungen äußerungsinterne Reparaturen Betonung leise laut
Übersicht zur Erstveröffentlichung aller Beiträge I Grundlagen: Narrative und szenische Rekonstruktion Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen (2008) In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik (ZGL) 36.3, 403–426. Erzählen in der Interaktion (2008) (zusammen mit Lorenza Mondada) In: Gülich, Elisabeth und Mondada, Lorenza, Konversationsanalyse: Eine Einführung am Beispiel des Französischen. Tübingen, (Kap. 9) 101–114. Mündliches Erzählen: Narrative und szenische Rekonstruktion (2007) In: Lubs, Sylke; Jonker, Louis; Ruwe, Andreas und Weise, Uwe (Hgg.), Behutsames Lesen. Alttestamentliche Exegese im interdisziplinären Mediendiskurs: Christof Hardmeier zum 65. Geburtstag, Leipzig, 35–62.
II Von Krankheitserfahrungen erzählen Krankheitserzählungen (2005) In: Ditz, Susanne; Neises; Mechthild und Spranz-Fogasy, Thomas (Hgg.), Psychosomatische Gesprächsführung in der Frauenheilkunde: Ein interdisziplinärer Ansatz zur verbalen Intervention, Stuttgart, 73–89. Medizin. Zur narrativen Rekonstruktion von Krankheitserfahrungen in Arzt-Patient-Gesprächen (2017) In: Martínez, Matías (Hg.), Erzählen: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, 140–148. Praxis der Fallarbeit im psychosomatischen Kontext aus der Sicht der Gesprächsforschung (2014) In: Bergmann, Jörg; Dausendschön-Gay, Ulrich und Oberzaucher, Frank (Hgg.), Der Fall: Studien zur epistemischen Praxis professionellen Handelns, Bielefeld, 125–156.
https://doi.org/10.1515/9783110685664-021
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Übersicht zur Erstveröffentlichung aller Beiträge
III Rekonstruktion, Kokonstruktion und Kohärenz am Beispiel von Anfallserzählungen Zur Ko-Konstruktion von Anfallsschilderungen in Arzt-Patienten-Gesprächen (2015) (zus. mit Ulrich Krafft) In: Dausendschön-Gay, Ulrich; Gülich, Elisabeth und Krafft, Ulrich (Hgg.), KoKonstruktionen in der Interaktion: Die gemeinsame Arbeit an Äußerungen und anderen sozialen Ereignissen, Bielefeld, 373–400. Erinnern – Erzählen – Interpretieren in Gesprächen mit Anfallskranken (2012) In: Ayaß, Ruth und Meyer, Christian (Hgg.), Sozialität in Slow Motion: theoretische und empirische Perspektiven. Festschrift für Jörg Bergmann, Wiesbaden, 615–642. Brüche in der narrativen Kohärenz bei der Rekonstruktion von Krankheitserfahrungen. Konversationsanalytische und klinische Aspekte (2015) (zus. mit Martin Schöndienst) In: Lucius-Hoene, Gabriele; Scheidt, Carl E.; Stukenbrock, Anja und Waller, Elisabeth (Hgg.), Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust, Stuttgart, 121–134.
IV Verbale und nonverbale Ressourcen bei der narrativen Rekonstruktion von Angsterfahrungen Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf: Verfahren der szenischen Darstellung (2007) (zus. mit Elizabeth Couper-Kuhlen) In: Schmitt, Reinhold (Hg.), Koordination: Analysen zur multimodalen Interaktion, Tübingen, 293–337. „Volle Palette in Flammen“: Zur Orientierung an vorgeformten Strukturen beim Reden über Angst (2007) In: Psychotherapie & Sozialwissenschaft. Zeitschrift für qualitative Forschung und klinische Praxis 9.1, 59–87.
VI Mehrfaches Erzählen und autobiographische Arbeit
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Communicating emotion in doctor-patient interaction: A multidimensional single-case analysis (2010) (zus. mit Katrin Lindemann) In: Barth-Weingarten, Dagmar; Reber, Elisabeth und Selting, Margret (Hgg.), Prosody in interaction, Amsterdam, Philadelphia, 269–294.
V Formulierungsressourcen für „Unbeschreibbares“ Die Beschreibung von Unbeschreibbarem: Eine konversationsanalytische Annäherung an Gespräche mit Anfallskranken (2002) (zus. mit Ingrid Furchner) In: Keim, Inken und Schütte, Wilfried (Hgg.): Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag, Tübingen, 161–186. Unbeschreibbarkeit: Rhetorischer Topos – Gattungsmerkmal – Formulierungsressource (2005) In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 6, 222–244.
VI Mehrfaches Erzählen und autobiographische Arbeit Veränderungspotential für belastende Erfahrungen: Interaktive Formulierung von Angsterlebnissen im Arzt-Patient-Gespräch. Eine Einzelfallstudie (2010) (zus. mit Katrin Lindemann und Martin Schöndienst) In: Dausendschön-Gay, Ulrich; Domke Christine und Ohlhus, Sören (Hgg.), Wissen in (Inter-)Aktion: Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern, Berlin, 135–160. Veränderungen von Geschichten beim Erzählen: Versuch einer interdisziplinären Annäherung an die narrative Rekonstruktion traumatischer Erfahrungen (2015) (zus. mit Gabriele Lucius-Hoene) In: Schumann, Elke; Gülich, Elisabeth; Lucius-Hoene, Gabriele und Pfänder, Stefan (Hgg.), Wiedererzählen: Formen und Funktionen einer kommunikativen Praxis, Bielefeld, 135–175.
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Übersicht zur Erstveröffentlichung aller Beiträge
VII Mündliches Erzählen aus differenzialdiagnostischer Perspektive Klinische Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen: Neue Wege in Datenerhebung, Analyse und Auswertung im interdisziplinären Forschungskontext (2017) (zus. mit Barbara Frank-Job, Heike Knerich und Martin Schöndienst) In: Kochler, Carsten; Rinker, Tanja und Schulz, Eberhard (Hgg.), Neurolinguistik – Klinische Linguistik – Sprachpathologie. Cognitio 19, Frankfurt/Main, 185–217. Using illness narratives in clinical diagnosis. Narrative reconstruction of epileptic and non-epileptic seizures and panic attacks (2018) In: Lucius-Hoene, Gabriele; Meyer, Thorsten und Holmberg, Christine (Hgg.), Illness narratives in practice: Potentials and challenges of using narratives in health-related contexts. Oxford, 203–219.
VIII Interdisziplinäre Perspektiven Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität (2006) In: Deutsche Sprache 34, 6–17.