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German Pages 650 [652] Year 2017
Sebastian Speth Dimensionen narrativer Sinnstiftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext
Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 210
Sebastian Speth Dimensionen narrativer Sinnstiftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman
Textgeschichtliche Interpretation von Fortunatus und Herzog Ernst
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-051594-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-051715-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-051598-5 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Mt 7.7 Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Mai 2016 von der Fakultät für Humanwissenschaften an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg angenommen wurde.1 Mein herzlicher Dank gilt den beiden Betreuern dieser Arbeit Prof. Dr. Michael Schilling (Magdeburg) und Prof. Dr. Friedrich Vollhardt (München). Mit väterlicher Hand wiesen sie mir immer einen sicheren Pfad durch das inspirierende Labyrinth der Frühneuzeit. Konzipiert in München, gewann das Projekt in Magdeburg Gestalt. Ermöglicht wurde das Vorhaben durch eine Promotionsstelle am Institut für Germanistik in Magdeburg (heute Institut III). Die Druckvorbereitung erfolgte am Lehrstuhl von Prof. Dr. Katharina Philipowski an der Universität Mannheim. Prof. Dr. Jan-Dirk Müller und den anderen Herausgebern der „Frühen Neuzeit“ gebührt mein Dank für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe. Inhaltlich und methodisch baut die Arbeit auf den anregenden Erfahrungen aus meiner Zeit im Münchner Sonderforschungsbereich Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit (SFB 573) auf. Gerade als es in einer frühen Phase darum ging, die Weichen zu stellen, hatte ich das Glück, in Wolfgang Harms einen Gesprächspartner zu finden, der fremde Gedankengänge wie seine eigenen auszuschreiten vermag. Den weiteren Fortgang begleiteten mit konstruktiver Kritik und immerwährender Ermutigung das Oberseminar von Friedrich Vollhardt an der LMU München sowie das Masterkandidaten- und Doktorandenkolloquium von Thorsten Unger und Michael Schilling an der OvGU Magdeburg. Für zahlreiche Anregungen bedanke ich mich vor allem bei Almut Schneider, Dagmar Ende, Ann-Kristin Badel, Cornelia Rémi, Anette Syndikus und Frieder von Ammon. Inci Bozkaya hat mir gezeigt, dass man auch aus der Ferne ein treuer Wegbegleiter sein kann. Ihm für die kritische Durchsicht des Manuskripts zu danken, würde verkennen, welchen Anteil Herfried Vögel an jeder Etappe meines Studiums hat. Von ihm kann man lernen, auch das scheinbar Nebensächliche ernst zu nehmen, über die Grenzen innerhalb unseres Faches hinwegzudenken und stets bestrebt zu sein, Nichtwissen nicht hinzunehmen. Ich danke ihm dafür, sein Schüler zu sein.
1 Das Kapitel 3.3.6 zur Mitüberlieferung ist gekürzt. Es wird in überarbeiteter Form gesondert publiziert.
DOI 10.1515/9783110517156-202
VI
Danksagung
Für Ihre Geduld, Nachsicht und Liebe danke ich meiner Familie: meiner Frau Simone, meinem Sohn Maximilian und meinen Eltern Heide und Willi. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Babelsberg, im Januar 2017
Siglenverzeichnis Für die vollständigen Nachweise s. das Literaturverzeichnis. A 1526 E 1450/1500 F 1509 F 1699 F 1787 F 1800 F 1850 H 1500 H 1537 HE A HE B HE C HE Erf HE F Add. 22622 HE F Cgm 224 HE F Cgm 572 HE F Knoblochtzer HE F Sorg 1 bis 3
HE G HE Vb Endter 2 HE Vb Everaerts HE Vb Fleischhauer HE Vb Francke HE Vb Han 1 HE Vb L2 HE Vb M2
Erasmus von Rotterdam: Adagia. Hg. von Anton J. Gail. Elucidarium [2., oberdt. Übers., Cgm 224]. Hg. von Monika Oswald-Brandt. Fortunatus. Augsburg: [Johann Otmar] 1509. Hg. von Jan-Dirk Müller. Fortunatus. Basel: [o.Dr.] 1699 [Berlin, SBB-PK, Yu 1630 R]. Fortunatus. Frankfurt, Leipzig [= Wien]: [Johann David Hoͤ rling] 1787 [London, BL, 1074.d.31]. Fortunatus [o.O.: o.Dr. o.J.] [Berlin, SBB-PK, Yu 1656/10 R]. Fortunatus. Frankfurt, Leipzig: [o.Dr. o.J.] [München, UB, W 8 P.germ. 13653]. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: Hug Schapler. Straßburg: Hans Grüninger 1500. Hg. von Jan-Dirk Müller. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: Hug Schapler. Straßburg: Bartholomäus Grüninger 1537. Hg. von Jan-Dirk Müller. Fragmente des Herzog Ernst A. Hg. von Cornelia Weber. Herzog Ernst B. Hg. von Cornelia Weber. Hystoria ducis Bauarie Ernesti. Hg. von Thomas Ehlen. Gesta Ernesti ducis. Hg. von Peter Christian Jacobsen, Peter Orth. Herzog Ernst F [Hs. Bayern 1470] [London, BL, Add. 22622, fol. 81r.–125r.]. Herzog Ernst F [Hs. Bayern, 2. Hälfte 15. Jh.] [München, BSB, Cgm 224, 146r.–227v.]. Herzog Ernst F [Hs. Schwaben, 3. Viertel 15. Jh.] [München, BSB, Cgm 572, 25r.–71v.]. Herzog Ernst F [Straßburg: Heinrich Knoblochtzer um 1477] [München, BSB, 2° Inc.s.a. 667b]. Herzog Ernst F [Augsburg: Anton Sorg um 1475/76; 1477/80; 1479/86] [Bamberg, SB, Inc. typ. E.IV.20; München, BSB, 2° Inc.s.a. 667, 2r.–67v.; München, BSB, 2° Inc. s.a. 666, 2r.–45v.]. Das Lied von Herzog Ernst. Hg. von K.C. King. Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] [Nürnberg: Martin Endter um 1700] [Nürnberg, GN, 8° L. 1813v]. Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] Köln: Christian Everaerts [1794/ 1817] [Köln, UB, RhL. O/1620]. Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] Reutlingen: Justus Fleischhauer [nicht nach 1813 (?)] [Tübingen, UB, Dk XI.240]. Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] Magdeburg: [Wilhelm Ross (?) für] Johann Francke [um 1600] [München, BSB, 1 an Res./Bavar. 1257]. Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] Frankfurt: Weigand Han [1556/ 61] [Berlin, SBB-PK, Yu 314 R]. Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] [o.O.: o.Dr. o.J.] [Halle, UB, Dd 2037 P/5]. Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] [o.O.: o.Dr. o.J.] [München, BSB, 8° Bavar. 4069(44].
DOI 10.1515/9783110517156-203
VIII
HE Vb P1
Siglenverzeichnis
Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] [o.O.: o.Dr. o.J.] [Ulm, SB, BB 946g]. HE Vb Schröter Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] Basel: Johann Schröter 1610 [Basel, UB, Wack. 159]. HE Vb Singe Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] Erfurt: Jakob Singe 1611 [Wolfenbüttel, HAB, Lo 1287.1]. HE Vb Trowitzsch Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] Frankfurt [a.d.O.], Berlin: Trowitzsch und Sohn [1830/51] [Basel, UB, Phil. Conv. 132 Nr. 13]. HE Vb von der Heyden Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] Straßburg: Marx von der Heyden 1621 [Berlin, SBB-PK, 4 an Yf 7868 R]. HE Vb Zirngibl Herzog Ernst [Frankfurter Prosafassung] Berlin: [Wilhelm] Zirnguͤ bl [1802/ 19] [München, BSB, P.o.germ. 2058 s]. M 1474 Melusine. Augsburg: Johann Bämler 1474. Hg. von Jan-Dirk Müller. M 1549 Melusine. Frankfurt: Herman Gülfferich 1549 [München, UB, 8° P. germ. 328]. Ma 1800 Magelone. Frankfurt, Leipzig: [o.Dr. um 1800] [Wolfenbüttel, HAB, Lm 14 f]. P 1557 Ritter Pontus. Frankfurt: Weigand Han 1557 [Berlin, SBB-PK, Yu 1051R].
Inhalt Danksagung
V
Siglenverzeichnis
VII
Einleitung: Vorhaben und Organisation der Arbeit 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.3.6 2 2.1
1
Ganz neu, und angenehm erzählt: Fortunatus 1509 und 1850 9 Der prominente Erstdruck 11 Das Reisebuch des Fortunatus 16 Strömungen germanistischer Forschung 20 Das Titelblatt von 1509: Der Reiche, der Herrschende, der Lehrende 25 Vor- und Nachwort von 1509: Die Weisheit Salomos 34 Strukturelle Dimensionen: ‚Stundenglas-Symmetrie‘ und Rahmenkonstruktionen 39 Eine neue Redaktion im neunzehnten Jahrhundert 49 Paratextuelle Dimensionen 51 Haupttextuelle Dimensionen 60 Strukturelle Dimensionen 69 Dimensionen der Sinnstiftung im Vergleich 81 Fingierte Quellen und rezipierende Erzähler 82 Bildbeschreibende tituli und kommentierende Motti 86 Vor- und Nachworte und ihre Narrativierung 88 Buchinterne Intermedialität 90 Dimensionalität ermöglicht Perspektivierung 93 Dimensionale Konkurrenz um die Deutungshoheit 98
Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden 100 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur 100 2.1.1 Die ‚Zielform‘ eines ‚Buchtyps‘ 100 2.1.1.1 Die Ambivalenz zeitgenössischer (Selbst-)Deutung als eine einheitliche Gattung 102 2.1.1.2 Forschungsgeschichtliche Einteilungs- und Explikationsversuche 118 2.1.1.3 Der Prosaroman als ‚Buchtyp‘ und als ‚Zielform‘ 127 2.1.2 ‚Wiedererzählen‘ in der Frühneuzeit 138
X
2.1.3 2.1.4 2.1.4.1 2.1.4.2 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.1.3 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.2.4 2.2.2.5 2.3 2.3.1 2.3.1.1 2.3.1.2 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.3 2.3.3.1
Inhalt
Druckerverleger als ‚intelligente Schreiber‘ zwischen Tradition und Innovation 153 ‚Bestimmtheitsstellen‘ und nicht-intendierte Bedeutungsvarianten 170 Modifikation von Wolfgang Isers Konzept der ‚Leerstellen‘ 171 ‚Intentionale‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ 177 Text- und Paratextgeschichte nach der manuscript culture 181 Theorien zur Text- und Überlieferungsgeschichte 181 Joachim Bumkes ‚Parallelfassungen‘ und die ‚überlieferungsgerechte Edition‘ der Würzburger Schule 183 Jerome J. McGanns ‚texual condition‘ und Gérard Genettes ‚Paratext‘-Konzept 190 New philology und die Erkenntnischancen nach der manuscript culture 197 Eine ‚typische‘ Text- und Überlieferungsgeschichte des Prosaromans 202 Elisabeth und die Folgen 203 Handschriften, Wiegen- und Frühdrucke 211 Frankfurt a. M. und der Prosaroman im sechzehnten Jahrhundert 218 Das ‚breite‘ siebzehnte Jahrhundert und späte Textsortenwechsel 226 ‚Typische‘ Überlieferung von Prosaromanen und die Analyse von Dimensionen narrativer Sinnstiftung 236 ‚Dimensionen narrativer Sinnstiftung‘ und das Programm ‚überlieferungsgerechter Interpretation‘ 239 Zur These der ‚Perspektivenlosigkeit‘ des Prosaromans 239 Vermeintliche ‚Perspektivenlosigkeit‘ des Prosaromans 240 Beispiele textgeschichtlicher Perspektivierung auf verschiedenen Dimensionen 244 Zur These der ‚Sinnlosigkeit‘ des Prosaromans 265 „Erzählen ist Sinn stiften.“: Zum vermeintlichen Verzicht auf ‚Sinnstiftung‘ 265 Zwei Stufen narrativer Sinnstiftung 273 ‚Sinn‘ und ‚Substanz‘: Dimensionen textgeschichtlicher Eingriffe 277 ‚Überlieferungsgerechte Interpretation‘ struktureller, haupt- und paratextueller ‚Dimensionen‘ 280 ‚Aufheizung‘ in der Geschichtsschreibung und Peter Strohschneiders Modell einer ‚Abkühlungsgeschichte‘ 282
Inhalt
2.3.3.2 2.3.3.3 2.3.3.4 3 3.1 3.1.1 3.1.1.1 3.1.1.2 3.1.1.3 3.1.1.4 3.1.1.5 3.1.1.6 3.1.1.7 3.1.1.8 3.1.1.9 3.1.1.10 3.1.2 3.1.2.1 3.1.2.2 3.1.2.3 3.1.2.4 3.2 3.2.1 3.2.2
XI
Die ‚vertikale Dimension‘ des ‚Werk‘-Begriffs 286 Die ‚haupttextuellen‘ und ‚strukturellen Dimensionen‘ narrativer Sinnstiftung 291 Die ‚paratextuellen Dimensionen‘ narrativer Sinnstiftung 296 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa 314 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst 342 Textgeschichtliche Auslassungen, Interpolationen und Ersetzungen 342 Die erste Reichshandlung: Vorgeschichten und Ottos erfolgreiche Werbung um Adelheid 342 Die erste Reichshandlung: Heinrichs Verleumdung und seine Ermordung durch Herzog Ernst 352 Die erste Reichshandlung: Ottos Krieg gegen Ernst und dessen Entschluss zur Kreuzfahrt 362 Die Orienthandlung: Agrippia – Stadt der Versuchung und einer abgewiesenen Alternative 370 Die Orienthandlung: Gottvertrauen und Kampf um die Handlungsmächtigkeit in Räumen der Wildnis 379 Die Orienthandlung: Herzog unter Heiden – Ernst in Arimaspi 386 Die Orienthandlung: Kreuzzug oder Pilgerreise – Vom Mohrenkönig zum Heiligen Vater 396 Die zweite Reichshandlung: Versöhnung als Weihnachtswunder 416 Die zweite Reichshandlung: Ernsts Verleumdungsfrage und die Erzählung seiner Fahrt 426 Die zweite Reichshandlung: Die Wunder der heiligen Adelheid als Antitypus und Fortsetzung des Romans 431 Ausgewählte Beispiele von Sinnstiftung auf Erzähler- und Figurendimension 446 Rückblicke der Figuren auf das Geschehen 447 Perspektiven auf Mordplan und Mordanschlag 456 Intertextuelle Verweise auf die Bibel: Judas Makkabäus, Ahithophel und die Briefe des Paulus 459 Mehrfacher Schriftsinn von Ernsts Figurenreden und die Liebesutopie des Bischofs von Bamberg 463 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst 467 Globale Architektur und Äquivalenzrelationen 467 Die Kapiteleinteilung 475
XII
3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.1.1 3.3.1.2 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.3 3.3.4 3.3.4.1 3.3.4.2 3.3.4.3 3.3.4.4 3.3.5 3.3.5.1 3.3.5.2 3.3.5.3 3.3.5.4 3.3.5.5 3.3.6 3.4
Inhalt
Die Absatzgestaltung 489 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst 494 Titelformulierungen und Titelblätter 494 Die Titelformulierungen 494 Die Titelblätter 503 Integrierte Vor- und Nachworte 509 Elemente des Romaneingangs 509 Elemente des Romanausgangs 514 Glossen und Marginalien 516 Illustrationen 523 HE Vb Zirngibl als Sonderfall und das Bildprogramm der 527 Klasse III Das Bildprogramm der Klasse II 532 Das Bildprogramm der Klasse I 541 Kurzzusammenfassung 544 Zwischen- und Kolumnentitel 544 Zwischentitel der ersten Reichshandlung 547 Zwischentitel des Abenteuerteils der Orienthandlung 551 Zwischentitel des Kreuzzugsorients und der zweiten Reichshandlung 555 Kurzzusammenfassung und Fehlen eines Kapitulariums 559 Kolumnentitel 561 Mitüberlieferung 562 Die überlieferungsgerechte Interpretation des Herzog Ernst 564
4 4.1 4.2
Literaturverzeichnis 575 Handschriften, historische Drucke und Editionen Forschungsliteratur 582
5 5.1 5.2
Register 634 Werke, Verfasser, historische Personen Wörter, Begriffe, Sachen 636
634
575
Einleitung: Vorhaben und Organisation der Arbeit Ein Werk existiert nur in seiner Überlieferung,1 in den erhaltenen Redaktionen und Exemplaren. Losgelöst von seinen materialen Trägern und deren je spezifischer Form ist es weder als ein literaturgeschichtliches Faktum greifbar noch kann es Gegenstand einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ sein. Entspricht es nach Georg Stanitzek einer innerhalb der Neugermanistik „gut etablierte[n] Vermeidungspraxis“, ‚Texte‘ unabhängig von ihrer materialen, historischen Gestalt zu deuten,2 so wird in der vorliegenden Arbeit ein ‚Werk‘ als Summe von Redaktionen innerhalb eines größeren Untersuchungszeitraums verstanden. Deren strukturelle, haupt- und gerade auch paratextuelle Erscheinungsform beeinflusst nicht bloß indirekt den Sinn eines Werkes, sondern sie ist ein Teil desselben und trägt damit direkt zu seiner Sinnstiftung bei. Ein Prosaroman wie Herzog Ernst ist handschriftlich und gedruckt, mit und ohne Bilder, gekürzt und mit einem Anhang überliefert. Die frühesten Redaktionen entstehen im Spannungsfeld klösterlicher Reform und unternehmerischen Inkunabeldrucks. Grundlegend überarbeitet wird er im reformierten Frankfurt a. M. Im achtzehnten Jahrhundert wird er als ‚neuhochdeutscher Prosaroman‘ endgültig zu einem Longseller der deutschen Literaturgeschichte (vgl. die Einleitung zum Kap. 3).3 Das Zusammenspiel von werkkonstituierender Konstanz
1 Vgl. Hugo Kuhn: Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur. In: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980, S. 77–101, hier: S. 81; Hugo Kuhn: Mittelalterliche Kunst und ihre ‚Gegebenheit‘. Kritisches zum geisteswissenschaftlichen FrageAnsatz anhand der Überlieferung als Strukturproblem des Minnesangs. In: Kleine Schriften. Bd. 2: Text und Theorie. Stuttgart [1936] 1969, S. 28–46 und S. 354–355, hier: S. 28, S. 33 und S. 36. 2 Georg Stanitzek: Zum Buch, zur Typographie, zum Paratext – um mit ‚Textgestalt und Buchgestalt‘ an einen (eigentlich) klassischen LiLi-Aufsatz zu erinnern. In: Turn, Turn, Turn? Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende? Eine Rundfrage zum Jubiläum der LiLi. Hg. von Hartmut Bleumer u. a. Stuttgart, Weimar 2013 (LiLi 43/172), S. 55–59, hier: S. 58, vgl. dazu auch Uwe Jochum: Textgestalt und Buchgestalt. Überlegungen zu einer Literaturgeschichte des gedruckten Buches. In: Stationen der Mediengeschichte. In Verb. mit Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Klein und Brigitte Schlieben-Lange. Hg. von Helmut Kreuzer. Stuttgart, Weimar 1996 (LiLi 26/103), S. 20–34, hier: vor allem S. 20 f. und S. 31 f.; Jan-Dirk Müller: Neue Altgermanistik. In: Jb. der deutschen Schillergesellschaft 39 (1995), S. 445–453, hier: S. 450 f. 3 Zum Begriff des ‚neuhochdeutschen Prosaromans‘ vgl. Simmler, Franz: Zur Melusine-Tradition um 1700. Die undatierte HWb-Fassung und der Druck von a. 1692, ihre Strukturen und Funktionen, ihre Traditionen und ihr Textsortenstatus. In: Historische Wunder-Beschreibung von der so genannten Schoͤ nen Melusina. Die „Melusine“ (1456) Thürings von Ringoltingen in einer wiederentdeckten Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert. Edition und Beitr. zur Erschließung des Werkes von Catherine Drittenbass u. a. Hg. von André Schnyder. Berlin 2014 (Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben 14), S. 577–607, hier: S. 606. – Nicht mehr berücksichtigt ist
DOI 10.1515/9783110517156-001
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Einleitung: Vorhaben und Organisation der Arbeit
und textgeschichtlicher Varianz gilt es zu berücksichtigen, wenn das ‚Werk‘ nicht länger auf den verschwindend kurzen und oft schwer zu fassenden Moment seiner Verfertigung oder Erstveröffentlichung reduziert und wenn die Literaturgeschichte sowie die in ihr ruhende Literaturwissenschaft nicht nur als ‚Schöpfungsgeschichte‘ gedacht werden soll. Methodisch variiert die Arbeit die klassische Dreiteilung nach Autor, Text und Leser dahingehend, als mit Handschriften und Drucken die text- und überlieferungsgeschichtlichen Zeugnisse der Schreiber und ‚Druckerverleger‘ als produktive Rezipienten zum Ausgangspunkt der Werkinterpretation gemacht werden.4 Ziel ist eine ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘, die literaturgeschichtlich adäquat ist, sobald sie die gleiche Ein- und Vieldeutigkeit eines Werkes erreicht, welche dieses in seiner Überlieferung auszeichnet. Für den Prosaroman muss dabei nicht nur das Wegweisende im Sinne der von Jan-Dirk Müller vorgestellten ‚Zielform‘ herausgearbeitet werden, sondern gerade auch textgeschichtlich ausgeschrittene ‚Sackgassen‘ sind in die Deutung mit einzubeziehen.5 Medias in res stelle ich im Kap. 1 den Fortunatus-Erstdruck von 1509 und eine späte Redaktion aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einander gegenüber. Im Theorieteil der Arbeit (Kap. 2) greife ich auf Handschriften und Drucke weiterer Prosaromane zurück. U. a. betrifft dies Melusine, Magelone sowie Tristrant und Isalde. Für den Hauptteil (Kap. 3) vergleiche ich 19 Redaktionen des Prosaromans Herzog Ernst (HE F und HE Vb). Werkchronologisch stelle ich dafür zunächst die textgeschichtliche Varianz und Konstanz von den Handschriften und Inkunabeln des fünfzehnten Jahrhunderts bis zu den stark bearbei
die Tagung Von Tegernsee nach Augsburg: Sankt Ulrich und Afra und der monastisch-urbane Umkreis im 15. Jahrhundert, die im September 2015 in Wildbad Kreuth stattgefunden hat. 4 ‚Druckerverleger‘ ist dabei als Sammelbezeichnung für das in einer Offizin tätige Kollektiv zu verstehen. Innerhalb dessen ist vor allem auf den gestaltenden Beitrag der Setzer hinzuweisen (vgl. Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000 (StTSozgeschLit 69), hier: S. 4, sowie insgesamt die beiden Aufsätze Arend Mihm: Druckersprachen und gesprochene Varietäten. Der Zeugniswert von Bämlers ‚Melusine‘-Druck (1474) für eine bedeutende Frage der Sprachgeschichte (S. 163–203), und Anja Voeste: Den Leser im Blick. Die Professionalisierung des Setzerhandwerks im 16. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf die Orthographie der Druckausgaben der ‚Melusine‘ (S. 141–162). Beide in: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013. 5 Zur ‚Zielform Prosaroman‘ vgl. das Kap. 2.1.1.3 und zur Vorstellung von ‚Sackgassen‘ Cornel Zwierlein: Pluralisierung und Autorität. Tentative Überlegungen zur Herkunft des Ansatzes und zum Vergleich mit gängigen Großerzählungen. In: Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Hg. von Jan-Dirk Müller, Wulf Oesterreicher, Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2010 (P&A 21), S. 3–30, hier: S. 23, sowie S. 232–234 im Kap. 2.2.2.4.
Einleitung: Vorhaben und Organisation der Arbeit
3
tenden Redaktionen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts dar (vgl. Kap. 3.1.1).6 Getrennt nach weiteren haupttextuellen (Kap. 3.1.2), strukturellen (Kap. 3.2) sowie paratextuellen ‚Dimensionen narrativer Sinnstiftung‘ (Kap. 3.3) analysiere ich, wie die Überlieferungsbeteiligten die Gestalt dieses Romans prägen und auf welche Weise sie an seiner Sinnstiftung mitwirken. Den Begriff von ‚Dimensionen narrativer Sinnstiftung‘ entlehne ich dabei von Christian Kiening, der mithilfe einer solchen Betrachtung „mythische oder mythisierende[ ] Text[e]“ analysiert. Die „Kategorien“ zur Explikation dieser ‚Dimensionen‘ sollen im Einzeltext begründet sein, aber Verbindlichkeit über diesen hinaus gewinnen, wofür Kiening die „Gesamtheit der semantischen Strukturen, der rhetorischen und pragmatischen Mittel“ vorschlägt, „mit denen ein Text operiert“. Anders als mir ist es ihm darum zu tun, dass eine mythische Figur wie Judas, „[j]e nach Perspektive [...] als tragisch (Mythos), schändlich (Ethos) oder notwendig (Heilsplan)“ erscheine, „wobei sich das, was handlungsstrukturell aufeinander folgt, in den Semantiken der Texte wiederum“ überlagere.7 Methodisch ist dieser Ansatz insofern an die literaturgeschichtlichen Besonderheiten volkssprachlicher Unterhaltungsliteratur des Spätmittelalters und der Frühneuzeit anzupassen, als die Werke meines Korpus in erster Linie unterhalten sollen und sich zum Teil gerade durch Derhetorisierung auszeichnen.8 Sie sind zum großen Teil anonym verfasst, greifen im Anschluss an die mittelalterliche Poetik vorgefundene Geschichten auf und sind in der Folge offen für die weitere Bearbeitung durch Überlieferungsbeteiligte.9 Durch den kombinierenden Rück-
6 Aufgrund der überlieferungsgeschichtlichen Nähe der Textzeugen und der großen Prominenz innerhalb der germanistischen Forschung nehme ich immer wieder punktuelle Vergleiche mit der Versfassung HE B nach der Edition Untersuchung und überlieferungskritische Edition des Herzog Ernst B mit einem Abdruck der Fragmente von Fassung A. Hg. von Cornelia Weber. Göppingen 1994 (GAG 611) vor. 7 Christian Kiening: Arbeit am Absolutismus des Mythos. Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 35–57, hier: S. 37–39; das letzte Zitat ebd., S. 50. – Nicht alle der von mir untersuchten Dimensionen sind dabei selbst ‚narrativ‘. Der Begriff meint in meinem Verständnis lediglich, dass es sich um sinnstiftende Dimensionen eines narrativen Textes handelt. Auch wenn der Begriff der ‚Sinnstiftung‘ diese Nebenbedeutung enthält, untersucht die Arbeit an keiner Stelle den Beitrag von Literatur zur Lebenshilfe (vgl. S. 273 im Kap. 2.3.2.2). 8 Vgl. Alois Brandstetter: Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Frankfurt a. M. 1971, hier: S. 97–134. 9 Zur allerdings zu universalisierenden Vorstellung eines ‚Zeitalters der Übersetzungen, Bearbeitungen und Adaptationen‘ vgl. Kuhn: Versuch, und im Anschluss daran Martina Backes: Fremde Historien. Untersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte französischer Erzählstoffe im deutschen Spätmittelalter. Tübingen 2004 (Hermaea 103), hier: S. 8–11.
4
Einleitung: Vorhaben und Organisation der Arbeit
griff auf ältere Erzählschemata und die nur situationsadäquaten Kommentare des Erzählers sind hier bereits auf der Handlungsebene Versuche widerstreitender Lektürelenkung und Selbstdeutung zu erkennen.10 Auf das Werkganze gesehen gerät die Stimmigkeit dabei oftmals aus dem Blick. Diese Beobachtung potenziert sich dann nochmals auf den Dimensionen des verlegerischen Paratextes. Der Schritt von der analytischen Beschreibung zur ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘11 verhilft denjenigen Elementen zu ihrem Recht, die in Lachmann’scher Tradition als ‚Verbesserungssucht‘ der Schreiber, ‚Faulheit‘ oder bloß ‚verlegerische‘ Geschäftstüchtigkeit der Drucker ignoriert oder als quer zur erzählten Geschichte stehend weginterpretiert werden.12 Doch ohne derartige Eingriffe
10 Vgl. Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone. Berlin 2000 (PhStQ 161), hier S. 36–40, und Xenja von Ertzdorff: Die Fee als Ahnfrau. Zur ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen. In: Spiel der Interpretation. Gesammelte Aufsätze zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. unter Mitwirkung von Rudolf Schulz und Arnim-Thomas Bühler. Göppingen [1972] 1996 (GAG 597), S. 421– 446, hier: S. 444. – Zur vermeintlichen Perspektivenlosigkeit des Prosaroman vgl. das Kap. 2.3.1.1, und zu Strategien des ‚Invisibilisierens‘ und der ‚Vergleichgültigung‘ Wulf Oesterreicher: Grußwort. In: Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 573 2008/1, S. 1–4. – Zum Fortunatus vgl. Detlef Roth: Negativexempel oder Sinnverweigerung? Zu neueren Deutungsversuchen des ‚Fortunatus‘-Romans. In: ZfdA 136 (2007), S. 203–230, hier: S. 228 f. Die Montagetechnik, die an diesem Roman mitunter als besonders ‚modern‘ hervorgehoben wird, erweist sich im Vergleich mit der Epik des dreizehnten Jahrhunderts als durchaus traditionell (vgl. Uta Goerlitz: ‚...Ob sye heiden synt ader cristen ...‘. Figurationen von Kreuzzug und Heidenkampf in deutschen und lateinischen Herzog Ernst-Fassungen des Hoch- und Spätmittelalters (HE B, C und F). In: Integration oder Desintegration? Heiden und Christen im Mittelalter. Hg. von Uta Goerlitz, Wolfgang Haubrichs. Stuttgart, Weimar 2009 (LiLi 39/156), S. 65–104, hier: S. 66 f., zum Herzog Ernst B; Stephan Fuchs: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert. Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31), hier: S. 367–403, u. a. zu Wirnts von Grafenberg Wigalois und Wolframs von Eschenbach Willehalm, sowie Lydia Miklautsch: Montierte Texte – hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen. Berlin, New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 36 [270]), zu verschiedenen Wolfdietrich-Dichtungen). 11 In seiner Würdigung der ‚Würzburger Schule‘ konstatiert Werner Williams-Krapp: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick. In: IASL 25/2 (2000), S. 1–21, Fortschritte bei überlieferungsgeschichtlich informierten Editionen, stellt aber einen Mangel an Interpretationen fest, die sich auf die Varianz des Überlieferten einlassen. Diesem Defizit soll die vorliegende Arbeit Rechnung tragen. 12 Vgl. beispielsweise die abfälligen Bemerkungen Karl Lachmanns in der Vorrede zu seiner Parzival-Edition (Karl Lachmann: Vorrede der ersten Ausgabe von 1833. In: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausg. 2. Aufl. Mhd. Text nach der 6. Ausg. v. Karl Lachmann. Übers. v. Peter Knecht. Mit Einf. zum Text der Lachmannschen Ausg. und in Probleme der ‚Parzival‘Interpretation. Hg. von Bernd Schirok. Berlin, New York [1833] 2003, S. XI–XXVI, hier: S. XIX).
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in eine jeweils vorgefundene Textgestalt ist ein Roman der Zeit nicht zu haben. Bei der ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ sind dabei nicht nur semantisch intentionale Eingriffe zu berücksichtigen, wenn ein Roman beispielsweise an ein reformiertes Publikum angepasst wird, sondern auch sowohl zufällige Veränderungen der Textgestalt als auch Eingriffe, die anderen, etwa ökonomischen, Logiken folgen. Denn ob Kürzungen aus ästhetischen Gründen vorgenommen werden, sich einem Versehen des Bearbeiters verdanken oder der Senkung der Produktionskosten dienen, ändert nichts am Faktum einer historisch vorliegenden, gekürzten Textgestalt. Fraglos ist dabei im Einzelfall abzuwägen, ob die Varianten einen neuen Sinn stiften oder ob sie den Sinn einer Textstelle gänzlich entstellen. Anders als bei der new philology werden die Varianten bei meinem Ansatz also nicht unterschiedslos vergleichgültigt (vgl. Kap. 2.2.1).13 Der Blick auf die Literaturproduktion jenseits der Neuerscheinungen zeigt, dass es sich bei dem von Franz Josef Worstbrock für die Literatur vor dem Fortunatus herausgearbeiteten Phänomen des ‚Wiedererzählens‘ um eine Konstante handelt, die auch noch im neunzehnten Jahrhundert einen wesentlichen Teil des literarischen Lebens prägt (vgl. Kap. 2.1.2).14 Erkennt man die Produkte der Druckerverleger als wiedererzählende Literatur an (vgl. Kap. 2.1.3),15 relativieren sich die vermeintlichen Epochengrenzen um 1500 und um 1700.16 Wie
13 Zu einer entsprechenden Kritik vgl. Rüdiger Schnell: Was ist neu an der ‚New Philology‘? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: Alte und neue Philologie. Hg. von Martin-Dietrich Gleßgen, Franz Lebsanft. Tübingen 1997 (Beihefte zu editio 8), S. 61–95, hier: insbesondere S. 77. – Vor ‚postmoderner Beliebigkeit‘ bei der Sinnzuweisung an einen ‚absolut offenen‘ literarischen Text ist die ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ gefeit, da sich die Untersuchung auf historisch-faktisch vorliegende Varianz beschränkt. 14 Vgl. Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142. 15 Auf Ähnlichkeiten der Produktionsbedingungen früher Prosaromane mit den hochmittelalterlichen Verhältnissen weisen Jan-Dirk Müller: Melusine in Bern. Zum Problem der ‚Verbürgerlichung‘ höfischer Epik im 15. Jahrhundert. In: Literatur – Publikum – historischer Kontext. Hg. von Gert Kaiser. Bern u. a. 1977 (Beitr. zur ÄdL 1), S. 29–77, und Jan-Dirk Müller: Volksbuch/ Prosaroman im 15./16. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung. In: IASL, 1. Sonderheft: Forschungsreferate. Tübingen 1985, S. 1–128, hier: S. 42 f., hin. 16 Zu diesen Grenzen vgl. Jan-Dirk Müller: ‚Alt‘ und ‚neu‘ in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten. In: Traditionswandel und Traditionsverhalten. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 5), S. 121–144, hier: S. 121–123; Christian Kiening: Zwischen Mittelalter und Neuzeit? Aspekte der Epochenschwellenkonzeption. In: Mitteilungen des Dt. Germanistenverbandes 49 (2002), S. 264–277; Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004 (Studien zur deutschen
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bereits in der Forschungsgeschichte mehrfach geschehen,17 ist die These einer inhaltlich begründbaren Grenze alt- und neuphilologischen Arbeitens auch hier zurückzuweisen. Jeder Literaturwissenschaftler, der sich mit überlieferungsgeschichtlichen Redaktionen eines Werkes und damit mit einem Rezeptionsphänomen auseinandersetzt, ist mit einer doppelten Schwierigkeit konfrontiert. Einerseits ist er selbst Rezipient und verfasst andererseits selbst einen Text. Wie die Schreiber und Druckervorleger eine Vorlage rezipieren, um produzieren zu können, ist auch er Rezipient und Produzent zugleich.18 Dabei erweist sich jedoch die überlieferungsgeschichtliche Methode als Chance, indem zumindest in Bezug auf die Deskription von Varianz und Konstanz eine relativ sichere Basis vorliegt und lediglich die Erklärung des positiv-endgültig Vorgefundenen notwendigerweise mit Unsicherheiten behaftet ist. Dafür müssen jedoch alle ‚Dimensionen narrativer Sinnstif-
Literatur 173), hier: S. 290 und S. 293 f., sowie Dirk Niefanger: Konzepte, Verfahren und Medien kultureller Orientierung um 1700. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Hg. von Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger, Jörg Wesche. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 93), S. 9–30, hier: S. 9 und S. 17–21. 17 Vgl. Hennig Brinkmann: Grundfragen der Stilgeschichte. Fünf Betrachtungen. In: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Bd. 2: Literatur. Düsseldorf [1932–1933] 1966, S. 9–57, hier: S. 15; Wolfgang Harms, Jean-Marie Valentin: Einleitung. In: Mittelalterliche Denkund Schreibmodelle in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. Hg. von Wolfgang Harms, Jean-Marie Valentin. Amsterdam, Atlanta 1993 (Chloe 16), S. VII–VIII, hier: S. VII; Rüdiger Schnell: Mediävistik und Frühneuzeitforschung: Können sie zusammen nicht kommen? Überlegungen anläßlich einer Neuerscheinung. In: Archiv für Kulturgeschichte 82 (2000), S. 227–237, hier: S. 228 und S. 232, sowie Freimut Löser: Postmoderne Theorie und Mittelalter-Germanistik. Autor, Autortext und edierter Text aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht. In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 2. Hg. von Hans Vilmar Geppert, Hubert Zapf. Tübingen 2005, S. 277–294, hier: S. 286. – Zum Anfang und Ende des ‚Buchzeitalters‘ vgl. das gleichnamige Kap. bei Uwe Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte. Bd. 1: Text. Bd. 2: Anlagen. Wiesbaden 1998 (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München 61), hier: Bd. 1, S. 3–29, sowie zur Kritik an der Vorstellung des Buchdrucks als einschneidender ‚Medienrevolution‘ Frieder Schanze: Der Buchdruck eine Medienrevolution?. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 286–311, hier: vor allem S. 301 f. 18 Vgl. Klaus Weimar: Literarische Bedeutung?. In: Regeln der Bedeutung: Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hg. von Fotis Jannidis u. a. 2003. Berlin, New York (Revisionen 1), S. 228–245, hier: S. 235; Simone Winko: Art. Methodologie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Hg. von Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 585–588, hier: S. 587, die mit Norbert Groeben auf die „unumgängliche Subjekt-Objekt-Konfundierung“ verweist.
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tung‘ gleichermaßen wahrgenommen werden und es muss „das Bewusstsein dafür wach[ge]halten [werden], dass jeder deskriptiv erfasste alteritäre Aspekt im Akt der Deskription (mit)erzeugt worden sein könnte“.19 Sinnstiftende Prozesse sind allerdings grundsätzlich nicht abzuschließen. Jedes Detail kann für sich und insbesondere in der Wechselwirkung mit anderen Details Bedeutung generieren, narrativen Sinn stiften. Die von mir untersuchten ‚Dimensionen‘ können daher nur eine Auswahl sein. Aspekte wie die Darstellung von Farbigkeit oder die typographische Gestaltung bleiben beispielsweise fast völlig außer Betracht.20 Das Hauptaugenmerk meiner Auswahl liegt einerseits auf dem Prosaroman als ‚Buchtyp‘ (vgl. Kap. 2.1.1) und andererseits auf überlieferungsgeschichtlicher Varianz. Insofern kommt dem Phänomen der Paratextualität eine erhöhte Bedeutsamkeit zu. In einem weiteren Schritt wäre es wünschenswert, den gewählten Ansatz zusammen mit der buchgeschichtlichen Forschung auf die konkreten Überlieferungsbeteiligten auszuweiten. Einige Druckerverleger der Frühneuzeit dürften dabei ein regelrechtes ‚Autorenprofil‘ gewinnen. Im vorliegenden Rahmen ist der Einbezug buchgeschichtlicher Spezialforschung zu einzelnen Personen und Verlagen nur in stark begrenztem Umfang zu leisten. Eine Geschichte der Literatur hinter der Literatur, die auch den Anteil von Verlagen, Druckereien, Lektoren und für moderne Werke nicht zuletzt von Marketing- und Rechtsabteilungen als Teil des literarischen Lebens berücksichtigen müsste, ist noch zu schreiben.21 Als zweites großes Desiderat zeichnet sich die Notwendigkeit einer Revision des engen, weil an die Figur gebundenen ‚Stimme‘-Konzepts Genette’scher Provenienz ab, wie sie auch Andreas Blödorn und andere anregen.22 Eine solche
19 Vgl. das Kap. Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren bei Anja Becker, Jan Mohr: Alterität. Geschichte und Perspektiven eines Konzepts. Eine Einleitung. In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hg. von Anja Becker, Jan Mohr. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 1–58, hier: S. 38–46, das Zitat ebd., S. 42 f. 20 Ich berücksichtige lediglich die Gestaltung von Absätzen, durch welche die eindimensionale Linearität des Textflusses zu einer zweidimensionalen Fläche transformiert wird (vgl. Wehde: Typographische Kultur, S. 12–14, S. 21, S. 110 f. sowie S. 168–173). – Zur Farbigkeit im HE B vgl. Mareike Klein: Die Farben der Herrschaft. Imagination, Semantik und Poetologie in heldenepischen Texten des deutschen Mittelalters. Berlin 2014 (Literatur, Theorie, Geschichte 5), hier: S. 233–302. 21 Vgl. als Beispiel für eine fruchtbringende Kooperation von Buch-, Sprach- und Literaturwissenschaft das Erlanger DFG-Projekt Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen in der deutschen Drucküberlieferung von ca. 1473/74 bis ins 19. Jahrhundert. Buch, Text und Bild (2007–2011), vgl. auch die auf S. 143–145 im Kap. 2.1.2 genannte Literatur. 22 Vgl. Andreas Blödorn, Daniela Langer und Michael Scheffel: Einleitung: Stimmen – im Text?. In: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Hg. von Andreas Blödorn,
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‚voice theory‘ gründet auf der ‚Dialogizität‘ Michail Bachtins,23 wobei ich im Hinblick auf eine stärkere Ausrichtung der Germanistik auf das Buch als materiales Objekt größeres Gewicht auf das ebenfalls auf Gérard Genette zurückgehende Konzept der ‚Paratextualität‘ legen würde.24 In letzter Konsequenz versteht sich die Arbeit als ein Baustein zu einer Literaturgeschichte, die nicht als diachrone Abfolge originärer Neuschöpfungen verstanden wird, sondern auf eine synchrone Komponente achtet, wie es Jens Haustein exemplarisch anhand verschiedener Fassungen der Ernst-Geschichte vorführt und was von Thomas Bein unter der Frage einer ‚Literatur- als Überlieferungsgeschichte‘ im Jahrbuch für Internationale Germanistik diskutiert wird.25 Am Beispiel des Prosaromans entsteht anhand von Vertretern, die aufgrund ihrer Popularität als stilbildend gelten dürfen und durch ihre weitere Verbreitung die Erwartungshaltung des Publikums prägen, eine ‚Abkühlungsgeschichte‘ literarischer Überlieferung, die neben ‚Pluralisierungs- und Öffnungs-‘ gerade auch ‚Autorisierungs- und Schließungsprozesse‘ darstellt und untersucht.26 Nicht mehr einfließen konnte der instruktive Beitrag von Uta Goerlitz: Mittelalterliche Literatur im Medienwandel von der Handschrift zum gedruckten Buch. Das Beispiel des ‚Herzog Ernst‘. In: Das Mittelalter 22/1 (2017), S. 13–38.
Daniela Langer, Michael Scheffel. Berlin, New York 2006 (Narratologia 10), S. 1–8, hier: vor allem S. 4. 23 Vgl. Richard Aczel: Hearing Voices in Narrative Texts. In: New Literary History 29/3 (1998), S. 467–500. 24 Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Frankfurt a. M. [1987] 2001. 25 Vgl. Jens Haustein: ‚Herzog Ernst‘ zwischen Synchronie und Diachronie. In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hg. von Helmut Tervooren, Horst Wenzel. Berlin u. a. 1997 (ZfdPh 116, Sonderheft), S. 115–130; Thomas Bein: Einführung in das Rahmenthema ‚Überlieferungsgeschichte – Textgeschichte – Literaturgeschichte‘. In: JbIG 34/2 (2002), S. 89–104, sowie S. 280–282 und das Kap. 2.3.3.2. 26 Zum Begriff der ‚Abkühlungsgeschichte‘ vgl. das Kap. 2.3.3.1 ausgehend von Peter Strohschneider: Fremde in der Vormoderne. Über Negierbarkeitsverluste und Unbekanntheitsgewinne. In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hg. von Anja Becker, Jan Mohr. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 387–416; sowie zum Instrumentarium des Sonderforschungsbereichs 573 Pluralisierung und Autorität außerdem Jan-Dirk Müller: Zu diesem Band. In: Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Hg. von Jan-Dirk Müller, Wulf Oesterreicher, Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2010 (P&A 21), S. V–XII, sowie Zwierlein: Pluralisierung und Autorität.
1 Ganz neu, und angenehm erzählt: Fortunatus 1509 und 1850 Wann der anonyme Fortunatus geschrieben wurde, ist in der Prosaroman-Forschung stark umstritten. Für eine sehr frühe Datierung plädiert Albrecht Classen mit dem Hinweis, dass Konstantinopel im Roman noch nicht von den Türken erobert sei, was eine Entstehung vor 1453 nahelege.1 Doch warum sollte ein literarisches Werk nicht auch überholtes Weltwissen integrieren können? Da der anonyme Autor Quellentexte verwendet, die in Augsburg, also dem Ort des Fortunatus-Erstdrucks, während den 1470er und 1480er Jahren gedruckt werden, hält Jan-Dirk Müller eine Entstehung nach 1470 für wahrscheinlicher.2 Marjatta Wis diskutiert mit dem Hinweis auf die Entdeckung Amerikas ‚um 1490‘ als einen terminus ante quem für die Abfassung.3 Schließlich schreite der Protagonist die ganze bekannte Welt bis zu jenem Land aus, in welchem der Pfeffer wachse, der Roman erwähne dagegen die Neue Welt nicht. Entscheidend dafür, einen terminus ante quem anzusetzen, ist allerdings nicht die Entdeckung des neuen Kontinents, sondern das Datum der Verbreitung dieser Sensationsnachricht. Amerigo Vespuccis Brief Mundus novus wird aber – ohne die Bezeichnung ‚Amerika‘ – erst ab 1501/02 in Europa bekannt und erscheint in deutscher Übersetzung erst 1504 beim Fortunatus-Drucker Johann Otmar.4 Da der Verfasser ein Itinerar aus einem Tucher’schen Reisebericht in seinen Roman montiert, lässt sich die Niederschrift desselben zudem als ein terminus post quem von 1482 ansetzen.5 Enger lässt sich der Entstehungszeitraum nicht eingrenzen.6
1 Vgl. Albrecht Classen: Die Weltwirkung des Fortunatus. Eine komparatistische Studie. In: Fabula 35/3–4 (1994), S. 209–225, hier: S. 209. 2 Vgl. Jan-Dirk Müller: Kommentar. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 987–1458, hier: S. 1164. 3 Vgl. Marjatta Wis: Art. ‚Fortunatus‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 2. Zusammen mit Gundolf Keil u. a. Redaktion Christine Stöllinger. Hg. von Kurt Ruh. Berlin, New York 1980, S. 796–798, hier: S. 797. 4 Vgl. Romy Günthart: Deutschsprachige Literatur im frühen Basler Buchdruck (ca. 1470–1510). Münster u. a. 2007 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 11), hier: S. 111 f. – Jedoch ist auch hier der Einwand möglich, dass der Roman nicht zwingend auf dem Wissensstand seiner Zeit zu sein braucht. 5 Vgl. Hannes Kästner: Fortunatus – Peregrinator mundi. Welterfahrung und Selbsterkenntnis im ersten deutschen Prosaroman der Neuzeit. Freiburg i.Br. 1990, hier: S. 262–272. 6 Selbst wenn der Roman am Ende dieses Zeitfensters entstanden ist, bleibt jedoch eine Lücke von fünf Jahren bis zu Otmars Drucklegung. Die weiter unten vorgestellte Überlegung Detlef
DOI 10.1515/9783110517156-002
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1 Ganz neu, und angenehm erzählt: Fortunatus 1509 und 1850
Die Anzahl der bekannten Drucke, die nach 1509 kontinuierlich auf den Markt kommen, ist bei den bibliographischen Untersuchungen von Karl Goedeke über Paul Heitz und François Ritter, Franz Podleiszek sowie Jurij Striedter und Jozef Valckx bis hin zu Bodo Gotzkowsky und Jörg Jungmayr immer weiter angewachsen.7 Striedter und Valckx unterscheiden für die Text- und Überlieferungsgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts beide eine frühere ‚Augsburger‘ von einer späteren ‚Frankfurter Gruppe‘. Zur Unterscheidung nennt Striedter Quartformat, große Schrifttype und große Illustrationen für die ‚Augsburger Gruppe‘, dagegen neben einigen inhaltlichen Änderungen Oktav, kleine Buchstaben und „meist künstlerisch weit weniger beachtliche Holzschnitte“.8 Damit ist ein Phänomen angesprochen, das sich auch für die Überlieferung der anderen Prosaromane zeigen lässt.9 Insbesondere weisen die Paratexte ab der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts größere Varianz auf.10 Auch wenn schon im sechzehnten Jahrhundert einige Szenen umgestaltet und zwei sogar neu in den Roman integriert werden, finden sich größere strukturelle und radikale haupttextuelle Umgestaltungen erst in den Redaktionen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.11 Um das Spektrum text- und überlieferungsgeschichtlicher Varianz der Dimensionen narrativer Sinnstiftung am Beispiel dieses Prosaromans vorführen zu können, wähle ich daher neben Otmars Erstausgabe eine undatierte und nicht firmierte Redaktion aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts für die nachfolgenden Analysen.
Roths, der Fortunatus könne direkt für eine Verbreitung im Druckmedium vorgesehen gewesen sein (vgl. Roth: Deutungsversuche, S. 228 f.), muss sich an diesem Umstand messen lassen. 7 Vgl. auch zu den älteren Bibliographien Jurij Striedter: Der polnische ‚Fortunatus‘ und seine deutsche Vorlage. In: Zeitschrift für slavische Philologie 29/1 (1961), S. 32–91, hier: S. 45–50; Jozef Valckx: Das Volksbuch von Fortunatus. In: Fabula 16/1–2 (1975), S. 91–112, hier: S. 98–103, S. 105 und S. 111; Bodo Gotzkowsky: „Volksbücher“. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke. Bd. 1: Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts. Bd. 2: Drucke des 17. Jahrhunderts. Mit Ergänzungen zu Band 1. Baden-Baden 1991/ 1994 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 125 und 142), hier: Bd. 1, S. 420–436, und Bd. 2, S. 112–117; sowie Jörg Jungmayr: Bibliographie. In: Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio Princeps von 1509. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1996, S. 323–358, hier: S. 324–336. 8 Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 48 f.; vgl. auch Valckx: Volksbuch, S. 98. 9 Vgl. das Kap. 2.2.2. 10 Vgl. dazu Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 50. 11 Vgl. ebd., S. 50; Valckx: Volksbuch, S. 100 f.
1.1 Der prominente Erstdruck
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1.1 Der prominente Erstdruck Ganz neu, und angenehm erzählt sei eine späte Redaktion des Fortunatus gemäß dem Hinweis auf einem Titelblatt aus der Zeit um 1850. Doch schon im sechzehnten Jahrhundert lässt sich Werbung mit der ‚Neuheit‘ bei zahlreichen Nachund Neudrucken nachweisen.12 Beispielsweise versieht 1590 der Augsburger Druckherr Michael Manger seine Ausgabe des hier untersuchten Romans mit der Angabe Yetzundter von neüwem mit schoͤ nen lustigen Figuren zuͦ gericht. In der germanistischen Forschung gilt allerdings vor allem der ebenfalls in Augsburg erfolgte Erstdruck von 1509 im Vergleich mit der literaturgeschichtlichen Tradition in mehrerlei Hinsicht als etwas Neuartiges.13 Stichpunkte bei dieser Einschätzung sind der Bruch von Erzählkonventionen sowie die Hybridisierung gegenläufiger Erzählschemata,14 die Radikalisierung 12 Zur Vorstellung von ‚Neuheit‘ im Zusammenhang des ‚Wiedererzählens‘ vgl. S. 148–151 im Kap. 2.1.2. 13 Vgl. die bei Debra Prager: Fortunatus: ‚Auß dem künigreich Cipern‘. Mapping the world and the self. In: Daphnis 33 (2004), S. 123–160, hier: S. 130, angegebenen Literaturgeschichten. 14 Vgl. Detlef Kremer, Nikolaus Wegmann: Geld und Ehre. Zum Problem frühneuzeitlicher Verhaltenssemantik im ‚Fortunatus‘. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Dt. Germanistentages 1984. Bd. 2: Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur. Hg. von Georg Stötzel. Berlin, New York 1985, S. 160–178, hier: S. 167; Burkhard Dohm: Emanzipation aus der Didaxe. Studien zur Autonomisierung des Erzählens in Romanen der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. u. a. 1989 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 10), S. 55–62; Kästner: Peregrinator, S. 213–217; Jan-Dirk Müller: Transformation allegorischer Strukturen im frühen Prosa-Roman. In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion. In Verb. mit Herfried Vögel. Hg. von Wolfgang Harms, Klaus Speckenbach. Tübingen 1992, S. 265–284, hier: S. 279–282; Anna Mühlherr: ‚Melusine‘ und ‚Fortunatus‘. Verrätselter und verweigerter Sinn. Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 10), S. 59–121; Walter Haug: Der Zufall: Theodizee und Fiktion. In: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen [1998] 2003, S. 64–87, hier: S. 82 f.; Burkhard Hasebrink: Die Magie der Präsenz. Das Spiel mit kulturellen Deutungsmustern im ‚Fortunatus‘. In: PBB 126/3 (2004), S. 434–445, hier: S. 435–441; Beate Kellner: Das Geheimnis der Macht. Geld versus Genealogie im frühneuzeitlichen Prosaroman ‚Fortunatus‘. In: Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Im Auftrag des SFBs 537. Hg. von Gert Melville. Köln u. a. 2005, S. 309–333, hier: S. 319–329; Roth: Deutungsversuche, S. 216–219; Franziska Ziep: Geschlecht und Herkommen. Zur narrativen Struktur von Männlichkeit in der ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen. In: Das Abenteuer der Genealogie: Vater-Sohn-Beziehungen im Mittelalter. Hg. von Johannes Keller, Michael Mecklenburg, Matthias Meyer. Göttingen 2006 (Aventiuren 2), S. 235–262, hier: S. 219–224; Jan-Dirk Müller: Mittelalterliche Erzähltradition, frühneuhochdeutscher Prosaroman und seine Rezeption durch Grimmelshausen. In: Fortunatus, Melusine, Genovefa. Internationale Erzählstoffe in der deutschen und ungarischen Literatur der Frühen Neuzeit. Unter Mitarb. v. Rumen István Csörsz
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1 Ganz neu, und angenehm erzählt: Fortunatus 1509 und 1850
von Kontingenz15 und die Integration schwankhafter Elemente.16 In seiner Rezension der systemtheoretischen Arbeit von Manuel Braun stellt Rüdiger Schnell klar, dass „nicht die von Braun herausgestellte Weltperspektive“ mit Kontingenz und „Verzicht auf Sinnstiftung“ neu sei, „sondern deren ungenierte Aufnahme in einen nicht-schwankhaften Roman“.17 Seiner Ansicht nach zeichnet also das
und Béla Hegedüs. Hg. von Dieter Breuer, Gábor Tüskés. Bern u. a. 2010 (Beihefte zu Simpliciana 6), S. 105–130, hier: S. 124, sowie Udo Friedrich: Providenz – Kontingenz – Erfahrung. Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit. In: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Unter Mitarb. v. Tobias Bulang und Michael Waltenberger. Hg. von Beate Kellner, Jan-Dirk Müller, Peter Strohschneider. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 136), S. 125–156, hier: S. 149–152. Zu Motivanleihen des Romans im Allgemeinen vgl. Sabine Sachse: Motive und Gestaltung des Volksbuches von Fortunatus. Diss. masch. Würzburg 1955. 15 Vgl. Hannes Kästner: Fortunatus und Faustus. Glücksstreben und Erkenntnisdrang in der Erzählprosa vor und nach der Reformation. In: LiLi 89 (1993), S. 87–120, hier: S. 91–99; Jan-Dirk Müller: Die Fortuna des Fortunatus. Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen. In: Fortuna. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 216– 238, passim; Joachim Theisen: Fortuna als narratives Problem. In: Fortuna. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 143–191, hier: S. 175–180; Ralf-Henning Steinmetz: Welterfahrung und Fiktionalität im ‚Fortunatus‘. In: ZfdA 133 (2004), S. 210–225, hier: S. 216–222; Roth: Deutungsversuche, S. 220–224; Jan-Dirk Müller: Rationalisierung und Mythisierung in Erzähltexten der Frühen Neuzeit. In: Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Koll. 2006. In Verb. mit Wolfgang Haubrichs und Eckart Conrad Lutz. Hg. von Klaus Ridder. Berlin 2008 (Wolfram-Studien 20), S. 435–456, hier: S. 447; Florian Kragl: Fortes fortuna adiuvat? Zum Glückbegriff im ‚Fortunatus‘. In: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer. Hg. von Johannes Keller, Florian Kragl. Göttingen 2009, S. 223–240, hier: S. 225–231 und S. 234–240; Harald Haferland: Kontingenz und Finalität. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Cornelia Herberichs, Susanne Reichlin. Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 337–363, hier: S. 361 f.; Jan-Dirk Müller: Mittelalterliche Erzähltradition, S. 123 f.; Carmen Stange: Aufsteiger und Bankrotteure. Herkunft, Leistung und Glück im Hug Schapler und im Fortunatus. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 217–255, hier: S. 246–252, sowie Friedrich: Providenz, Kontingenz, Erfahrung, S. 126–143. 16 Vgl. Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 91 f.; Xenja von Ertzdorff: Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland. Darmstadt 1989, hier: S. 141; Prager: Mapping the world, S. 130, sowie Ziep: Kohärenzprobleme, S. 220. Vgl. dazu auch S. 118/Anm. 55 im Kap. 2.1.1.2. 17 Rüdiger Schnell: Rez. zu: Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 60). In: ZfdA 133 (2004), S. 409–416, hier: S. 412; vgl. dazu Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 60), hier: vor allem S. 100–103.
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systematische Unterlaufen von Gattungserwartungen durch die Kombination traditioneller Versatzstücke das Neue des Fortunatus aus. Hinzu tritt der Umstand, dass hier nach allgemeinem Konsens die traditionsreiche Weisheitslehre durch ein pragmatisches Verständnis machiavellistischer Handlungsrationalität ersetzt werde, was einen neuen Heldentypus hervorbringe.18 Eingedenk der Literaturtradition des anverwandelnden Wiedererzählens lässt sich dieser Prosaroman daher mit einigem Recht als „frühmoderne[r] Roman“, „erster Originalroman“ oder „als Prototyp frühmodernen Erzählens“ bezeichnen,19 wobei mit der bloßen Etikettierung wenig gewonnen ist.
18 Vgl. Walter Heise: Die deutschen Volksromane vom Fortunatus bis zum Simplicissimus in ihrer poetischen Struktur. Diss. masch. Göttingen 1952, hier: S. 17; Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 45; Dieter Kartschoke: Weisheit oder Reichtum? Zum Volksbuch von Fortunatus und seinen Söhnen. In: Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. Bd. 5: Literatur im Feudalismus. Hg. von Dieter Richter. Stuttgart 1975, S. 213–259, hier: S. 218–227; Hans-Jürgen Bachorski: Geld und soziale Identität im ‚Fortunatus‘. Studien zur literarischen Bewältigung frühbürgerlicher Widersprüche. Göppingen 1983 (GAG 376), hier: S. 125–158 und S. 267–288; Wolfgang Haubrichs: Glück und Ratio im ‚Fortunatus‘. Der Begriff des Glücks zwischen Magie und städtischer Ökonomie an der Schwelle zur Neuzeit. In: LiLi 13/50 (1983), S. 28–47, hier: S. 45; Walter Raitz: „Fortunatus“. München 1984 (Text und Geschichte 14), hier: S. 60–68; Kremer/Wegmann: Geld und Ehre, S. 160–164 und S. 174 f.; Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1171 f. und S. 1177 f.; Kästner: Erkenntnisdrang, S. 95–98; Ki-Hyang Lee: Armut als neue Qualität der Helden im Fortunatus und im Goldfaden. Würzburg 2002 (WBdPh 23), hier: S. 48–74; Prager: Mapping the world, S. 123–133; Steinmetz: Welterfahrung, S. 220; Kellner: Geheimnis der Macht, S. 326 f. und S. 330; Monika Schausten: Suche nach Identität. Das „Eigene“ und das „Andere“ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2006 (Kölner Germanistische Studien N.F. 7), hier: S. 217–227; Annette Gerok-Reiter: Die Rationalität der Angst: Neuansätze im ‚Fortunatus‘. In: Reflexionen und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Koll. 2006. In Verb. mit Wolfgang Haubrichs und Eckart Conrad Lutz. Hg. von Klaus Ridder. Berlin 2008 (Wolfram-Studien 20), S. 273–298, hier: S. 289–296; Kragl: Fortes fortuna adiuvat, S. 236–240, sowie Friedrich: Providenz, Kontingenz, Erfahrung, S. 150–152. 19 Das erste Zitat Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1183; das zweite Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 1; das dritte Ziep: Kohärenzprobleme, S. 215. – Vgl. dazu auch Renate Wiemann: Die Erzählstruktur im Volksbuch Fortunatus. Hildesheim, New York 1970 (Dt. Volksbücher in Faksimiledrucken B 1), hier: S. 285–301; Hans Geulen: Tendenzen der epischen Darbietungsformen von den Volksbüchern bis zu Fischart. In: Erzählkunst der frühen Neuzeit. Zur Geschichte epischer Darbietungsweisen und Formen im Roman der Renaissance und des Barock. Tübingen 1975, S. 21–45, hier: S. 27; Kartschoke: Weisheit oder Reichtum, S. 213; Irmela von der Lühe: Die Anfänge des Prosaromans: Hug Schapler und Fortunatus. In: Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts. Bd. 3: Bürgertum und Fürstenstaat – 15./16. Jahrhundert. Hg. von Winfried Frey u. a. Opladen 1981, S. 69–91, hier: S. 89 f.; Hans-Gert Roloff: Anfänge des deutschen Prosaromans. In: Handbuch des deutschen Romans. Hg. von Helmut Koopmann. Düsseldorf 1983, S. 54–79 und S. 596–600, hier: S. 75 f.; Raitz: Fortunatus, S. 87; Walter Haug: Weisheit, Reichtum und Glück. Über mittelalterliche und neuzeitliche Ästhetik. In: Philologie als Kulturwissenschaft.
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Auch Detlef Roth weist die „Technik der Montage“ als „ein Novum im frühneuhochdeutschen Prosaroman“ aus.20 Er weist jedoch darüber hinaus darauf hin, dass sich alle Quellentexte in (zumeist Augsburger) Druckausgaben und in deutscher Sprache nachweisen lassen (vgl. S. 205 f.). Durch den Rückgriff auf aktuelle Drucke erhalte der Roman selbst „Aktualität“ (S. 207).21 Die Affinität des Autors zu gedruckt vorliegenden Texten führt Roth gemeinsam mit der erkannten Montagetechnik zu der These, dass der Fortunatus „der erste deutsche Roman“ sei, „der von Anfang an für den Druck“ (ebd.) und damit „von Grund auf für ein anonymes Publikum geschrieben wurde“ (S. 228 f.). Er macht sich damit ein Argument der Frühdruck-Forschung zu Eigen und wendet es gegen die interpretatorischen Auseinandersetzungen der germanistischen Fortunatus-Philologie: Wer den Absatz eines literarischen Werkes bei einem unbekannten Publikum wahrscheinlich machen möchte, müsse ein möglichst breites Spektrum möglicher Rezeptionsinteressen abdecken (vgl. S. 228), daher habe der Autor auf „viele aktuelle, aber heterogene Quellen und Erzähltraditionen“ zurückgegriffen (S. 229). Da er sie jedoch nicht aufeinander abstimme, lägen nun „‚Unstimmigkeiten‘“ vor, welche die „Interpretationsschwierigkeiten“ der modernen Auslegung allererst hervorbringen (ebd.). In letzter Konsequenz stellt er damit „die Geburt des modernen Romans“ als „Produkt des Medienwandels“ dar. So attraktiv dieser Gedankengang auch ist, Zweifel an seiner Stichhaltigkeit sind durchaus angebracht. Roth selbst verweist darauf, dass das Publikum der frühen Drucke regional begrenzt und damit für den Druckerverleger nicht wirk
Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Fs. für Karl Stackmann zum 65. Geb. Hg. von Ludger Grenzmann, Hubert Herkommer, Dieter Wuttke. Göttingen 1987, S. 21–37, hier: S. 32; Dohm: Autonomisierung des Erzählens, S. 93–95; Kästner: Peregrinator, S. 207–238; Albrecht Classen: The German Volksbuch. A Critical History of a Late-Medieval Genre. Lewiston u. a. 1995 (Studies in German Language and Literature 15), hier: S. 170 f. und S. 182; Prager: Mapping the world, S. 129; Steinmetz: Welterfahrung, S. 221–225; Cordula Politis: Wisdom vs. Riches: The Discourse on Money in Fortunatus. In: Money and Culture. Hg. von Fiona Cox, Hans-Walter Schmidt-Hannisa. Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 37–47, hier: S. 46, sowie Klaus Haberkamm: ‚einfliessung der [...] planeten‘ und ‚kunst der nigromancia‘. Der Fortunatus als astrologischer ‚Subtext‘ auf dem Hintergrund der Saturn-Vorstellung der Renaissance. In: Fortunatus, Melusine, Genovefa. Internationale Erzählstoffe in der deutschen und ungarischen Literatur der Frühen Neuzeit. Unter Mitarb. v. Rumen István Csörsz und Béla Hegedüs. Hg. von Dieter Breuer, Gábor Tüskés. Bern u. a. 2010 (Beihefte zu Simpliciana 6), S. 235–265, hier: S. 261 f. 20 Roth: Deutungsversuche, S. 228. – Die nachfolgenden Nachweise im Fließtext beziehen sich auf diesen Beitrag. 21 Ganz anders Marjatta Wis: Zum deutschen Fortunatus. Die mittelalterlichen Pilger als Erweiterer des Weltbildes. In: Neuphilologische Mitteilungen 63 (1962), S. 5–55, hier: S. 48 f., nach der Fortunatus anfangs des sechzehnten Jahrhunderts „ein altertümliches Werk“ mit einem „mittelalterliche[n] Weltbild“ gewesen sei.
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lich anonym sei (vgl. S. 229/Anm. 128). Weiterhin zeigt Hans-Joachim Koppitz hinsichtlich der Absatzchancen, dass ein Verkaufsargument eher gegen den Druck einer innovativen Neuschöpfung und für die Neuausgabe traditioneller Geschichten sprechen würde.22 Auch lässt sich die Strategie, möglichst Disparates anzubieten, sodass jeder Rezipient einen Anknüpfungspunkt finden könne, ansonsten nicht belegen. Im Gegenteil neigen frühe Druckausgaben zu einer verallgemeinernden Reduktion etwaiger Spezifika eines Textes.23 Überhaupt erscheint es mir gar nicht plausibel, dass die Montagetechnik aus einem anderen Grund als um ihrer selbst willen für einen zu gewinnenden Leser interessant sei. Wer Reisebeschreibungen lesen möchte, wird nicht allein wegen der Integration einiger einschlägiger Passagen auf den Fortunatus zurückgreifen, und wer Erbauung sucht, wird nicht schon wegen seiner legendarischen Kontrafakturen zum Romanleser. In den Paratexten findet sich denn auch keine Werbung für die vorliegende Textsortenverschmelzung. Dass Texte Spannung erzeugen, also unterhalten, und darüber hinaus durch die Integration verschiedener Wissensbestände belehren können (vgl. S. 228), ist schließlich seit Horaz ein Gemeinplatz und kein Spezifikum von Texten, die eigens für die Drucklegung hergestellt sind. Bei aller Kritik an der Plausibilisierung der Motivation zur Montage bleibt jedoch unstrittig, dass der Fortunatus 1509 gedruckt wurde und nur gedruckt überliefert ist. Damit behält Roths Aufforderung Gültigkeit, „die möglichen Verständnisdimensionen“ des Romans, die eben „auch mit dem Medium des gedruckten Buches zusammenhängen“, mediengeschichtlich zu untersuchen (S. 230). Für mich heißt das, ausgehend vom positiven Überlieferungsbefund, die einzelnen haupttextuellen, strukturellen und die im Druckmedium so prominenten paratextuellen Dimensionen der Sinnstiftung auf eine mögliche Textdeutung hin zu befragen. Für den Erstdruck des vorliegenden Romans führe ich dies in Auszügen, für eine späte Redaktion aus dem neunzehnten Jahrhundert ausführlich durch. Im Hauptteil der Arbeit werden die einzelnen Dimensionen anhand der Textgeschichte des Prosaromans von Herzog Ernst systematisch untersucht.
22 Vgl. Hans-Joachim Koppitz: Zum Erfolg verurteilt. Auswirkungen der Erfindung des Buchdrucks auf die Überlieferung deutscher Texte bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts. In: GutenbergJb. 55 (1980), S. 67–78, hier: S. 75 f. 23 Vgl. dazu am Beispiel des Huge Scheppel/Hug Schapler Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung. Aspekte der Gattungstransformation im frühen deutschen Prosaroman am Beispiel des ‚Hug Schapler‘. In: Daphnis 9 (1980), S. 393–426.
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1.1.1 Das Reisebuch des Fortunatus Ich setze am Beginn des zweiten Handlungsteils ein: Fortunatus ist tot, seine Söhne halten das Trauerjahr (vgl. F 1509, S. 507 f.).24 Der jüngere, lebhaftere, der beiden,25 der in der Erzählerrede später das Epitheton ‚Abenteurer‘ erhält (vgl. F 1509, S. 533 u. ö.), nutzt die Eingezogenheit, um einen Bericht zu lesen, den Fortunatus auf seinen Reisen verfasst hat. Es ist schon lange bekannt, dass der unbekannte Autor selber Reisebeschreibungen als Quellentexte verwendet.26 Solche dienen ihren Verfassern nach Hannes Kästner üblicherweise dazu, sich innerhalb der Gemeinschaft zu profilieren und Prestige zu erwerben; darüber hinaus – und das verbindet die vom realen Anonymus interpolierten Texte mit dem imaginären Werk seines Helden – können mithilfe von Reiseberichten „Welterfahrung und Weltwissen“ an das Zielpublikum vermittelt werden.27 Bei diesem handle es sich nach Kästner nicht selten um „die nachfolgende Generation“. Nach seiner Lektüre ist Andolosia fortan willens zu „wandlen“ (F 1509, S. 508). Da sein Bruder ihn nicht begleiten möchte, begehrt er – gegen den letzten Willen seines Vaters, der verboten hat, die Glücksgüter zu teilen (vgl. F 1509, S. 506) – den Wunschsäckel. Der Umstand, dass der Reiselustige nicht etwa das Wunschhütlein wählt, das ihm unbegrenzte Mobilität ermöglichen
24 Ich zitiere im Folgenden nach der Ausgabe Fortunatus. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 383–585, die ich mit dem Exemplar der BSB München, Sign. Rar 480, verglichen habe; Bezugnahmen auf die in Kap. 1.2 behandelte Redaktion versehe ich mit der Sigle F 1850. 25 Zu den Temperamenten der Söhne vgl. Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1172. – Die Einschätzung Ampedos in der Forschung divergiert stark: von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 142, bezeichnet ihn als den „Vernünftige[n] und Besonnene[n]“, was aber wohl kaum für jene Episode gilt, in der er „in ainem zoren vnd vnmuͦ tt“ das Wunschhütlein „zerhacket“ (F 1509, S. 570 f.). Gerok-Reiter: Rationalität der Angst, S. 289, sieht in ihm dagegen „Bewegungslosigkeit und angst semantisch zusammengespannt“. Dies scheint mir der Figurenzeichnung des Erstdrucks näherzukommen. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass der Roman nicht nur am Beispiel des Fortunatus, sondern auch an Antagonisten wie dem diebischen Wirt zeigt, dass es notwendig ist, durch Vorsicht Gefahren in Risiken umzuwandeln (vgl. F 1509, S. 457, und Kellner: Geheimnis der Macht, S. 319). Im Dialog der Söhne stehen Ampedos Argumente daher durchaus auf sicherem Grund (vgl. F 1509, S. 508 und S. 529–531). Die Charakterisierung durch Bachorski: Geld im Fortunatus, S. 254–257, ist stark psychologisierend. 26 Vgl. Wis: Pilger als Erweiterer, S. 19–46; Marjatta Wis: Nochmals zum Fortunatus-Volksbuch. Quellen- und Datierungsprobleme. In: Neuphilologische Mitteilungen 66 (1965), S. 199–209, hier: S. 204–209. 27 Kästner: Peregrinator, S. 70.
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würde, sondern nur den Säckel als Garanten repräsentativen Erscheinens, gibt die Motivation seines Aufbruchs deutlich zu erkennen. Andolosia möchte „nach eeren stellen“, wie es der Vater auch getan habe (F 1509, S. 508), und begibt sich auf eine passionierte peregrinatio zu den schönsten Frauen Europas, während Fortunatus „nur frembde land“ habe sehen wollen (vgl. F 1509, S. 521). Dies ist die unmittelbare Wirkung, die Fortunatus’ Schrift auf seinen Sohn hat. Kästner nimmt diese „egoistische[ ] Zielsetzung“ wunder, da der Vater auf Handlungsebene gerade auch christliche Wallfahrtsorte mit Interesse besucht habe.28 Ampedo fügt sich letztlich in Andolosias Absichten, bleibt in Famagusta und lässt den Bruder „wandlen vnd nach eeren stellen“ (F 1509, S. 508). Jahre später, als Andolosia zurückkehrt und Ampedo den Säckel überlassen möchte, weigert sich der ruhigere Bruder, der sein ganzes Leben zu Hause verbringt, das Glücksgut anzunehmen, da auch er inzwischen seinen ‚Fortunatus‘ gelesen hat: „Ampedo sprach/ ich will des seckels gantz nicht/ wann wer yn hat der muͤ ß zu aller zeit angst vnd not haben/ das hab ich wol glesen/ was angst vnd not vnser vater loblicher gedaͤ chtnuß geliten hat“ (F 1509, S. 557). Reiselust wandelt ihn im Gegensatz zu seinem Bruder nicht an. Denn während Andolosia auf Grundlage der Aufzeichnungen Reisen als Möglichkeit des Ehrerwerbs wahrnimmt, vereindeutigt Ampedo das Gelesene im Hinblick auf Gefahren und Strapazen. Der Leser des Fortunatus von 1509 kann nun nicht entscheiden, ob die fascinosa oder die tremenda in besagter Schrift überwiegen, da sich der Erzähler, der als dritte Instanz Bezug auf das fingierte Buch nimmt, weiterer Kommentierung enthält.29 Er erwähnt lediglich, dass der Titelheld mit Lüpoldus’ Hilfe30 „ain buͤ chlin gemacht“ habe, das „macht vnd [...] vermügen“ derjenigen geistlichen wie weltlichen Herren verzeichne, deren Besitztümer die beiden durchzogen haben (F 1509, S. 463 f.).31 So bleibt der Rezipient mit zwei
28 Ebd., S. 71. – Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 116, sieht das Reisebuch „als poetologische Chiffre“, wobei sich „die Interpretationen Haugs und Kästners zueinander“ verhalten „wie die Reaktionen der ungleichen Brüder [...] auf das Reisebuch“. 29 An anderen Stellen deutet der Erzähler das Geschehen und erweist sich dort als eigenständige Dimension der Sinnstiftung (vgl. stellvertretend die Einreihung Ruperts in Judas’ Geschlecht, F 1509, S. 401 f.). 30 Die Wendung „mit Lüpoldus hilff vnd radt“ (F 1509, S. 464) greift eine Formulierung der Elternvorgeschichte auf, nach der Theodorus seinem Sohn „weder helffen noch raten“ kann (F 1509, S. 390). Gelingt es dem Vater in achtzehn Jahren nicht, Fortunatus mehr Bildung beizubringen, als dass dieser „nichts dann ploß ainen namen [zu] schreiben vnd lesen“ vermag (F 1509, S. 389), avanciert der Held unter Lüpoldus’ Einfluss zum Buchautor. 31 Zur Klärung der Frage könnte allein ein Blick in die ‚imaginierte Bibliothek‘ des zypriotischen Königs zu Famagusta schaffen (zum Problemfeld ‚imaginierter Bibliotheken‘ vgl. Dirk
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Leseweisen konfrontiert, die so eingerichtet sind, dass sie die beteiligten Figuren charakterisieren und dem Verlauf der Handlung im zweiten Teil des Romans entsprechen. Stellen wie diese fordern den Leser dazu auf, Perspektivierungen zu beachten.32 Ähnlich sieht dies Ralf-Henning Steinmetz, der die Rezeption des imaginären Berichts jedoch nur zur Konstruktion einer Zweiteiligkeit von Fortunatus- und Andolosia-Handlung nutzt, die aufeinander zu beziehen seien.33 Blendet man zugunsten einer globalen Dichotomie die Vielfalt der an der Sinnstiftung beteiligten Stimmen aus, besteht jedoch die Gefahr, die Komplexität frühneuzeitlichen Bucherzählens zu unterlaufen. Dies ist beispielsweise der Fall im Kap. Andolosia als Gegentypus zu Fortunatus, in dem Walter Raitz vor dem Hintergrund seines sozialgeschichtlich-marxistischen und sozialdisziplinären Forschungsdesigns Andolosia aufgrund seiner Auffassung von Glück zum „bürgerlichen Antihelden“ stilisiert.34 Ein derartiger Ansatz klammert nicht nur, wie Hans-Jürgen Bachorski anlässlich einer älteren Arbeit von Raitz kritisiert, Nebenfiguren aus,35 er ignoriert auch, dass an der Konstitution der Vorstellung von einer Figur auch der Erzähler,
Werle: Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580–1630. Tübingen 2007 (Frühe Neuzeit 119), hier: S. 3–23). Denn der im Kap. 1.2 analysierte Spätdruck erwähnt Fortunatus’ Dedikationsexemplar an den König, das der Erzähler ins Deutsche zu übertragen gedenke (vgl. F 1850, S. 25 f.). Auch ein zweites autobiographisches Werk des Protagonisten befinde sich in dieser Bibliothek (vgl. F 1850, S. 37 f.). Fortunatus erzähle darin von seinen heimlichen Reisen mit dem Wunschhütlein, von denen der Erstdruck freilich nichts berichtet. Nicht zuletzt habe dieses Buch Christoph Kolumbus inspiriert, die Neue Welt zu entdecken (vgl. F 1850, S. 38). 32 Vgl. Geulen: Epische Darbietungsformen, S. 23–25. – Ein weiteres Beispiel für einander ergänzende beziehungsweise miteinander konkurrierende Sichtweisen auf Figurenebene ist die Diskussion um die richtige Einschätzung der großen Ausgaben, die Fortunatus nach seiner Rückkehr nach Famagusta tätigt. Graf Nimian ist hier eine Wendung zugeschrieben, die durch mehrmalige Wiederholung leitmotivisch bei der Charakterisierung von Fortunatus und seinen Söhnen ist, nämlich dass sie „weder land noch leüt“ hätten (F 1509, S. 467). Weil ihm aber aufgrund dieser Tatsache die notwendigen Ressourcen fehlen würden, kritisiert Graf Nimian Fortunatus, der sein bares Geld unnütz verbaut habe, wodurch er wie sein Vater dereinst in Armut geraten könnte (vgl. ebd.). Der zypriotische König dagegen sieht die Investitionen in Palast und Kirchenstiftung gut angelegt. Diese sind ihm nicht nur äußeres Zeichen des Reichtums, sondern klares Indiz, dass der Weitgereiste sein Leben nun in geregelte Bahnen leiten werde (vgl. ebd.). 33 Vgl. Steinmetz: Welterfahrung, S. 213. 34 Das Kap.: Raitz: Fortunatus, S. 47–52, das Zitat ebd., S. 61. 35 Vgl. Bachorski: Geld im Fortunatus, S. 391/Anm. 624. In der hier zugrunde gelegten Monographie bezieht Raitz auch Andrean als eine Gegentypus-Figur in seine Überlegungen mit ein (vgl. Raitz: Fortunatus, S. 17).
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Illustrationen und andere Paratexte sowie andere Figuren beteiligt sind. So bemerkt Anna Mühlherr, dass ein Kurzschluss von „Andolosias Übermut und seinem Untergang“ schon deshalb fraglich sei, weil der Autor diese Deutung den kaltblütigen Mörder Theodorus aussprechen lässt und sie damit desavouiere (vgl. F 1509, S. 574).36 Das Nachwort, auf das ich weiter unten genauer eingehe, hebt auf Fortunatus’ falsche Wahl ab, die „jm selbs vnd seinen sünen“ ein schweres Schicksal bereitet habe (F 1509, S. 580). Diese Dimension etabliert also gerade keine Gegenbildlichkeit von Vater und jüngerem Sohn, sondern weist sie als Glieder einer Schicksalsgemeinschaft aus. Es begründet die Wahl des Reichtums mit dem Streben des jugendlichen Fortunatus nach „freüd vnnd wollust“ (ebd.) und nähert die Figur damit der Zeichnung Andolosias an. Bei einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ gilt es, haupt- und paratextuelle sowie strukturelle Dimensionen des Erzähltextes zu analysieren und in ein mannigfaltiges Abbild sinnstiftender Perspektiven zu überführen, das keine Vereindeutigung im Dienste einer theoretischen Großerzählung duldet.37
36 Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 107 (allerdings gegen die Deutung von Kästner: Peregrinator gewendet). – Um der ‚Dimensionalität‘ dieses Drucks gerecht zu werden, müssten auch die Gottbezüge der Figuren als interpretative und diejenigen des Erzählers als narrative Strategien untersucht werden. Ich beschränke mich allerdings auf einige Hinweise zu Andolosia, der aber nicht die einzige Figur ist, die sich immer wieder auf Gott zur Erklärung des Weltgeschehens bezieht: Jan-Dirk Müller zeichnet Andolosia etwas zu einseitig, wenn er darauf abhebt, dass er Agripina wissen lässt, Gott habe ihre Gebete erhört, während er selbst doch derjenige sei, der über den Fortschritt ihrer Heilung entscheide (vgl. F 1509, S. 561) (vgl. Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1174 f.). Das mag bei seinen Referenzen auf Gott während der eigentlichen Heilkur zutreffen (vgl. F 1509, S. 545). Und auch wird die Figurenperspektive der Hofmeisterin – Gott habe ihr den verkleideten Andolosia als einen Arzt geschickt (vgl. F 1509, S. 542) – von dessen Listhandlung disqualifiziert. Gleichfalls wird Andolosias interpretative Aussage, die Gottesmutter habe ihn errettet (vgl. F 1509, S. 552), dadurch obsolet, dass es ein Einsiedler ist, der sein Jammergeschrei erhört (vgl. F 1509, S. 536). Aber dass er kaum nach Zypern zurückgekehrt vom König gebeten wird, eine Werbungsfahrt für seinen Sohn um eben jene Agripina zu unternehmen, entzieht sich Andolosias Einflussnahme und verweist auf das Wirken einer höheren Macht – oder, um mit Clemens Lugowski zu sprechen, auf eine ‚Motivation von hinten‘. Diese ersten Andeutungen mögen genügen, um den Ansatz zu stützen, der Komplexität eines Textes dadurch beizukommen, indem die einzelnen Dimensionen jeweils für sich und dann in ihrem Zusammenspiel analysiert werden. 37 Vgl. für das Programm einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ das Kap. 2.3.3.
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1.1.2 Strömungen germanistischer Forschung In der Philologie liegt der Fokus nahezu ausschließlich auf dem Erstdruck von Johann Otmar aus der Inkunabel- und Frühdruck-Metropole Augsburg.38 Dies mag damit zusammenhängen, dass mangels einer dem Autor nahestehenden Handschrift die editio princeps von 1509 einer mit der Originalgenialität sympathisierenden Philologie als Textgrundlage erster Wahl beziehungsweise als das kleinere Übel erscheint. Indem der Erstdruck leicht zugänglich ist, liegt die Ursache forschungspragmatisch aber auch in der Editionslage. Sowohl die kritische Ausgabe von Jan-Dirk Müller als auch Hans-Gert Roloffs Studienausgabe und trotz des abweichenden Untertitels auch das von Renate Noll-Wiemann kommentierte Faksimile basieren auf Zeugen dieser Überlieferungsstufe.39 Gleiches gilt für die Modernisierungen von Peter Jerusalem, Richard Benz und Peter Suchsland.40 Diese Liste ließe sich erweitern. Die vor allem in der frühen Forschungsgeschichte diskutierte Frage, ob sich hinter dem anonymen Verfasser der im Kolophon des Erstdrucks erwähnte „Johannßen heybler Appotegker“ (F 1509, S. 585), der in Verbindung mit Ulmer Humanisten gesehen wird,41 oder etwa der Nürnberger Pfarrer Stephan Fridolin verberge, wie Hannes Kästner stark zu machen versucht,42 tangiert die hier zugrunde liegende Fragestellung nicht. Wichtig ist dagegen die große Nachwir-
38 Zu Otmar vgl. Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes v. Josef Benzing. Wiesbaden 2007 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51), hier: S. 30, mit weiterer Literatur. 39 Fortunatus. Hg. von Jan-Dirk Müller; Fortunatus. Studienausg. nach der Editio Princeps v. 1509. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1996; Fortunatus. Von Fortunato und seynem Seckel auch Wünschhütlein. Mit einem Vorw. v. Renate Noll-Wiemann. Hildesheim, New York 1974 (Dt. Volksbücher in Faksimiledrucken A,4). – Ja bereits der Hallenser FortunatusAusgabe in den Neudrucken deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, die 1914 von Hans Günther hg. wurde, liegt der benannte Augsburger Druck zugrunde. 40 Deutsche Volksbücher. Die schöne Magelone/ die Schildbürger/ Fortunatus. Doktor Faust/ Melusine. Nach den frühesten Drucken und mit den alten Holzschnitten. Hg. von Peter Jerusalem. Ebenhausen 1912; Drei deutsche Volksbücher. Mit den Holzschnitten der Frühdrucke. Hg. von Richard Benz. Sonderausg. Köln, Olten [1956] 1969 (Die Bücher der Neunzehn 177); Fortunatus. Die schöne Magelonna. Historie von dem gehörnten Siegfried. Ausgew. und eingel. v. Peter Suchsland. Textrevision v. Erika Weber. Berlin, Weimar 1968 (Dt. Volksbücher in drei Bänden 1; Bibliothek deutscher Klassiker). 41 Vgl. Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1165. Zur These, Heybler selbst könne der Verfasser sein, vgl. Sachse: Motive und Gestaltung, S. 5–7; Kästner: Peregrinator, S. 245–252. Ein sprachhistorisches Plädoyer für Augsburg als Entstehungsort hält Dietrich Huschenbett: Fortunatus aus Augsburg. In: ZfdA 130 (2001), S. 431–434. 42 Vgl. Kästner: Peregrinator, S. 272–292.
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kung des Romans. So handelt es sich beim Fortunatus um einen der am besten überlieferten Prosaromane mit zahlreichen Neudrucken im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Bis in die neueste Zeit reißt das Kontinuum seiner Tradierung nicht ab. Selbst im zwanzigsten Jahrhundert finden sich noch Leseausgaben ohne wissenschaftlichen Anspruch.43 Außerdem erfährt er eine Vielzahl an Bearbeitungen44 und Übersetzungen im europäischen Ausland.45 Doch während die jiddische Übertragung 1991 von John A. Howard herausgegeben wird,46 bleiben die späteren Augsburger, aber auch alle weiteren frühneuhochdeutschen, allen voran die Frankfurter Drucke, in der modernen Editionsphilologie unberücksichtigt. Dies überrascht umso mehr, als einerseits mindestens das halbe Dutzend Ausgaben von Heinrich Steiner auf den Augsburger Zweitdruck von 1518 zurückgeht und andererseits nach Jozef Valckx allen Übersetzungen des Romans „eine der Frankfurter Ausgaben“ zugrunde liegt.47 Auch wenn sich der Erstdruck in überdurchschnittlich vielen Exemplaren erhalten hat,48 so sind es also andere Redaktionsstufen, die text- und literaturgeschichtlich wirkmächtig sind. Die vorliegenden Interpretationen des Romans „sind vielfältig und widersprüchlich“, wenn nicht einander „diametral entgegengesetzt“.49 Es lassen sich 43 Vgl. zu der im nationalsozialistischen Deutschland erscheinenden Reihe Münchner Lesebogen, die unter der Nr. 157 eine Fortunatus-Redaktion enthält, Helga Margarete Heinrich: Die ‚Münchner Lesebogen‘ und ihr Herausgeber Walter Schmidkunz. In: Literatur in Bayern 25/97 (2009), S. 2–10. 44 So u. a. die Dramatisierungen Hans Sachs’ oder Thomas Dekkers; dazu zuletzt Yvonne Dellsperger: Die Jungfrau des Glücks in der Frühen Neuzeit. Beobachtungen zur Fortuna-Konzeption im deutschen Fortunatus-Roman und in Thomas Dekkers Pleasant Comedy of Old Fortunatus. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 475–491. 45 Vgl. Valckx: Volksbuch, S. 103–111; Jungmayr: Bibliographie, S. 336–348. Ältere Forschungen repetiert Classen: Weltwirkung. 46 Fortunatus. Die Bearb. und Umschrift eines spätmittelalterlichen dt. Prosaromans für jüdisches Publikum. Hg. von John A. Howard. Würzburg 1991 (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie 11). 47 Valckx: Volksbuch, S. 98. 48 Vgl. Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 47 f.; Valckx: Volksbuch, S. 98–105. – Zur Überlieferungsgeschichte des Fortunatus vgl. auch das Kap. 2.2.2. 49 Das erste Zitat von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 288/Anm. 4; das zweite Hans-Gert Roloff: Materialien zum Verständnis des Textes. In: Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio Princeps von 1509. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart [1981] 1996, S. 207–322, hier: S. 207, der auch eine Zusammenstellung älterer Forschungsbeiträge bietet. – Zu einzelnen Forschungspositionen vgl. auch das Kap. 2.3.2.1.
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grosso modo drei Hauptströmungen unterscheiden: Eine erste, ökonomische Deutungsmaxime favorisiert bereits Walter Heise in den frühen 1950er Jahren. Er geht vom Titelblatt des Erstdrucks aus, das „eine deutliche Sprache“ spreche – „‚Reichtum‘“ sage „es nämlich! [...] Macht und Last des Reichtums!“.50 Daran schließt eine große Zahl sozialhistorischer Forschungsarbeiten zum Frühkapitalismus unter dem Stichwort „Fucker advenit“ an,51 die sich mitunter offensiv in den Dienst marxistischer Geschichtsphilosophie stellt.52 Wie Detlef Kremer und Nikolaus Wegmann modifiziert auch Manuel Braun den sozialgeschichtlichen Ansatz systemtheoretisch, wenn er eine funktionale Ausdifferenzierung der (Geld-)Wirtschaft im Text propagiert, diesen damit aber „anachronistisch überstrapazieren“ muss.53 Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie von „Geld als nervus rerum“ des Textes ausgehen,54 wobei Beate Kellner den Zugang modifiziert und gegenüber der älteren Forschung einiges klarstellt: Der ‚Fortunatus‘-Roman setzt die juristischen und theologischen Probleme, die im Zusammenhang mit der Vermehrung des Geldumlaufs, mit Zins, Wucher, Spekulationsgeschäften und Monopolisierung diskutiert wurden, nicht einfach in Literatur um, sondern es geht ihm eher um die Auswirkungen der neuen ökonomischen Praktiken auf die traditionalen Werte und Normen, besonders die christlichen Moralvorstellungen, und auf die alt überkommenen Formen der Konsoziation und Herrschaft.55
50 Heise: Deutsche Volksromane, S. 15. 51 So das gleichnamige Kap. bei Raitz: Fortunatus, S. 93–114. – Bachorski: Geld im Fortunatus, ist es um die „Herausbildung des bürgerlichen Individuums“ (S. 334) zu tun, für welche er der Geldthematik eine wesentliche Rolle zuerkennt, vgl. ebd., S. 159–266. 52 Vgl. stellvertretend Kartschoke: Weisheit oder Reichtum; Ingeborg Spriewald: Historien und Schwänke: Die deutsche Erzählprosa von ‚Till Eulenspiegel‘ bis ‚Doktor Faustus‘. In: Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa. Hg. von Robert Weimann. Berlin, Weimar 1977, S. 359–436. 53 Vgl. Manuel Braun: Vergesellschaftung, S. 52–103; Kremer/Wegmann: Geld und Ehre; das kritische Zitat: Roth: Deutungsversuche, S. 211. Bei Michael Stolz: Weltinnenräume. Literarische Erkundungen zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit (am Beispiel des ‚Fortunatus‘-Romans und der ‚Geschichtklitterung‘ von Johann Fischart). In: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Coll. Oxford 2005. Hg. von Burkhard Hasebrink u. a. Tübingen 2008, S. 427–445, wird der Roman vor dem Hintergrund des global vernetzten Kapitalismus zu einer frühen Warnung vor den Folgen nicht regulierter Geldzirkulation verklärt (vgl. ebd., vor allem S. 434–436 und S. 442). – In vergleichbar vereindeutigender Weise, sich ihres reduktionistischen Zugriffs aber bewusst, reklamiert Politis: Discourse on Money, S. 38, für den Fortunatus „a crucial place in any cultural history of money“. 54 Manuel Braun: Vergesellschaftung, S. 53. 55 Kellner: Geheimnis der Macht, S. 314; vgl. dazu auch ebd., S. 328–331.
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Eine zweite Strömung lässt sich mit den Begriffspaaren ‚Glück und Fortuna‘ sowie ‚Zufall und Kontingenz‘ überschreiben. Diese Forschungsbeiträge verbindet, dass der Romantext mit seinen Möglichkeiten, Zufälle zu erzählen,56 im Aufmerksamkeitszentrum steht. Binnendifferenzieren lässt sich die Gruppe je nachdem, ob als Analysefolie eher philosophische Referenzen auf Fortuna-Konzeptionen oder narratologische Konzepte der Kontingenz herangezogen werden. Im einen Fall geht es um die Frage nach den vorgestellten Gegenständen des ‚Glückes‘ und erzählten Versuchen, dieses Glück auf Dauer zu stellen, also vor allem um das Wesen der Glücksgöttin und ihres ‚Patronats‘ im Verhältnis zum Titelhelden.57 Die Beschreibung der ‚Fortuna des Fortunatus‘ durch Jan-Dirk Müller hat dabei allgemeine Zustimmung gefunden:58 Demnach entspreche die Generationenfolge im Fortunatus global betrachtet dem geregelten Auf und Ab der Drehung von Fortunas Glücksrad.59 Diese Ordnung werde jedoch von zahllosen Ereignissen durchkreuzt, der Fortgang der Handlung erscheine dadurch zufällig, regellos.60 Im anderen Fall wird der Fortunatus als „ein Text mit ausgemachter Kontingenzthematik“ verstanden, der den Zufall als Gegenspieler von Ordnungsentwürfen „im Spannungsfeld von Providenz, Kontingenz und freiem Willen“ vorführe.61 Die kontrastierende Darstellung verschiedener Lebensläufe führe nach Ralf-Henning Steinmetz vor, dass Glück zu haben letztlich Folge willkürlichen Zufalls sei.62 Wenn er diese Interpretation zum Anlass nimmt, um darüber zu reflektieren, was der Leser aus diesem Roman lernen könne, und zu dem Ergebnis
56 Vgl. Theisen: Narratives Problem, S. 175–180; Friedrich: Providenz, Kontingenz, Erfahrung, S. 134–136. – Vgl. ergänzend zu den nachfolgend zitierten Beiträgen die oben unter Anm. 15 angeführte Literatur. 57 Vgl. Kästner: Erkenntnisdrang, S. 91–99; Haubrichs: Glück und Ratio, S. 44. – Eine völlig neue Sichtweise auf die Glücksjungfrau eröffnet Haberkamm: Saturn-Vorstellung, der bestreitet, dass es sich um Fortuna handle (vgl. S. 243). Sie berufe sich auf „das Chronikator-Prinzip der Astrologie“ (S. 243) und stehe dafür ein, dass Saturn „als Schatzmeister und Hüter des Reichtums“ Fortunatus’ und auch Andolosias Wandelstern sei (S. 250, vgl. dazu auch S. 252 f.). Insgesamt stehe die ganze „massiv pessimistische Romanhandlung“ unter Saturns Einfluss (S. 255). Da aber auch Weisheit „eine saturnische Gabe“ sei (S. 258), hätte nach Haberkamm auch die ‚richtige‘ Wahl Fortunatus nicht vor der Vorherrschaft dieses Planeteneinflusses bewahrt (vgl. S. 261). 58 Vgl. aber die Modifikationen durch Kragl: Fortes fortuna adiuvat, S. 226/Anm. 11, S. 240 und S. 235. 59 Vgl. Jan-Dirk Müller: Fortuna des Fortunatus, S. 218–220, und die Ausführungen auf S. 73–78 im Kap. 1.2.3. 60 Vgl. Jan-Dirk Müller: Fortuna des Fortunatus, S. 221 f. 61 Das erste Zitat Friedrich: Providenz, Kontingenz, Erfahrung, S. 136, das zweite ebd., S. 128. 62 Vgl. Steinmetz: Welterfahrung, S. 219.
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gelangt, hier liege ein „Medium der Welterfahrung“ vor, das „Kontingenz literarisch erfahrbar“ mache,63 so steht sein Aufsatz an der Schwelle zu einer dritten Gruppe von Forschungsbeiträgen, die auf den didaktischen Gehalt des Fortunatus abhebt. So liest Dietrich Huschenbett den Fortunatus von der im Nachwort zitierten Salomo-Geschichte des Alten Testaments her (s. unten). Insbesondere verbinde den biblischen König und den Fortunatus des ersten Teils ihre jugendliche Unerfahrenheit und der Gewinn weiterer Glücksgüter mit Hilfe von ‚Weisheit‘ im weiteren Handlungsverlauf.64 Vermittelt werde damit die allgemeine Lebenslehre: „erkyeß Weißhait für reichtumb“ (F 1509, S. 580). Hauptvertreter dieser dritten Interpretationsrichtung ist Hannes Kästner mit seiner Monographie Fortunatus – Peregrinator mundi. Er sieht diesen Prosaroman als „Bildungsroman mit negativen [sic] Vorzeichen“, der „den zeitgenössischen pädagogischen Bemühungen“ nahestehe.65 Im Zentrum stehe die moralische Unterweisung am Negativbeispiel des Titelhelden, der wie schon sein Vater versäume, seine Söhne angemessen zu erziehen, weswegen der Roman in der Katastrophe ende.66 Eine Lesart, die den Roman bereits in seiner am frühsten überlieferten Redaktion der Bearbeitungstendenz der späten Redaktionsstufe aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts annähert. Nachfolgend analysiere ich zunächst das Titelblatt des Erstdrucks, das auch in der Forschungsgeschichte gemäß den einzeln dargestellten Hauptrichtungen untersucht worden ist. Anschließend kommen mit Vor- und Nachwort dieser Redaktion zwei weitere paratextuelle Dimensionen zur Sprache. Zuletzt stelle ich zusammen mit einem Seitenblick auf das Inhaltsverzeichnis John Walter Van
63 Ebd., S. 221 f., das Zitat ebd. S. 222. 64 Vgl. Dietrich Huschenbett: Fortunatus und Salomo. In: ZfdA 133 (2004), S. 226–233, hier: S. 230 und S. 228. 65 Kästner: Peregrinator, S. 183. 66 Vgl. ebd., S. 182–185; so auch John [Walter] Van Cleve: Andolosia and the Second Rejection of Wisdom in the Chapbook Fortunatus (1509). In: „Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig“. Fs. zum 60. Geb. v. Hans-Gert Roloff. Bd. 1. Hg. von James Hardin, Jörg Jungmayr. Bern u. a. 1992, S. 505–518; Roloff: Anfänge, S. 74; das Kap. Das Schicksal der Söhne als Didaxe bei Bachorski: Geld im Fortunatus, S. 263–265. – Kritische Anmerkungen dagegen zu Kästners Konzept bei Lee: Armut als Qualität, S. 48–56 und S. 59/Anm. 61. – Wenn Van Cleve schließlich zu dem Schluss kommt, dass Andolosia durch sein finales Martyrium zu einem Exempel für „paternal neglect“ werde (Van Cleve: Second Rejection, S. 517), wendet er die Deutung des Romans in dieselbe Richtung, in die auch Georg Spalatins Sendbrief weist, der im 1535er Erstdruck von Veit Warbecks Schöner Magelone dem Haupttext des Romans vorangestellt ist (diese Parallele zieht bereits Steinmetz: Welterfahrung, S. 212).
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Cleves Studien zur Architektur des Romans zusammen mit einigen Hinweisen auf Rahmungs- und Parallelstrukturen vor.67
1.1.3 Das Titelblatt von 1509: Der Reiche, der Herrschende, der Lehrende Ein alter Mann thront (vgl. F 1509, S. 385). Seine Linke umfasst einen Säckel, mit der Rechten greift er hinein. Müde starren seine Augen ins Leere. Zu seinen Füßen spielen zwei kleinere Gestalten, bartlos und daher als Kinder zu erkennen. Es ist ein melancholisches Bild68 – und ein verspieltes (s. Abb. 1). Es hat zwei Hälften, die sich nicht recht zusammenfügen, aber auch nicht antitypisch aufeinander Bezug nehmen. Sie korrespondieren einander nicht und sie kommunizieren nicht miteinander. Dennoch wird hier Sinn weder verrätselt noch verweigert.69 Denn sie sprechen mit dem Betrachter, der Druck macht sie durch Beischriften beredt und stellt sie als Fortunatus, Ampedo und Andolosia vor und damit als drei verschiedene Individuen heraus.70
67 Im weiteren Fortgang der Arbeit gehe ich noch auf andere Redaktionen ein (vgl. die Verweise im Register). Im Kap. 2.2.2 stellt sich die Überlieferungsgeschichte des Romans im Abgleich mit anderen Prosaromanen als typisch heraus. 68 Zur saturnischen Melancholie des Textes vgl. Haberkamm: Saturn-Vorstellung, S. 259. 69 Vgl. den Untertitel der Arbeit Mühlherr: ‚Melusine‘ und ‚Fortunatus‘. Verrätselter und verweigerter Sinn. 70 ‚Ampedo‘ und ‚Andolosia‘, diese „Namen sprechen nicht mehr“ und können daher – wie Müller folgert – für das opak werdende Schicksal in der zweiten Generation stehen, das sich gegen eine allegorische Ausdeutung sperre (Jan-Dirk Müller: Fortuna des Fortunatus, S. 216 f.). Damit nicht im Widerspruch sehe ich eine mögliche Schlussfolgerung, dass ihre Namen auf eine „unhintergehbare Individualität“ hinweisen, wie sie Ulrich Wyss aus den dysfunktionalen Deformationen der Söhnegeneration in Thürings von Ringoltingen Melusine ableitet (Ulrich Wyss: Was bedeuten Körperzeichen? Über Melusines Kinder. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Koll. am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld [18. bis 20. März 1999]. Hg. von Otto Langer, Klaus Ridder. Berlin 2002 [Körper – Zeichen – Kultur 11], S. 385–395, hier: S. 391). – ‚Fortunatus‘ ist dagegen eindeutig ein sprechender Name, daran ändert auch Van Cleves Umdeutung als ‚Infortunatus‘ nichts, zumal er außer Betracht lässt, dass es ein Glückskind auch auszeichnet, den Widrigkeiten der fortuna mala zu trotzen (vgl. John Walter Van Cleve: ‚Infortunatus‘. Nochmals zur architektonischen Struktur des Fortunatus [1509]. In: Neuphilologische Mitteilungen 99/2 [1998], S. 105–112, hier: vor allem S. 107 f.).
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Abb. 1: Titelblatt Fortunatus. Augsburg: [Johann Otmar] 1509, Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. Rar 480.
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Abb. 2: Ausschnitt eines Holzschnitts mit dem Imperator gloriosus aus der lateinischen Weltchronik des Hartmann Schedel. Nürnberg: Anthonius Koberger 1493, Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign. Inc. 118, fol. CLXXXIIIv.
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Abb. 3: Titelbild Francesco Petrarca: Von der Artzney bayder Glück. Augsburg: [Heinrich Steiner] 1532, Stadtbibliothek Braunschweig, Sign. C 527.
Aufgrund seiner prominenten Position am Anfang des Werkes fällt dem Titelblatt eine bedeutende Rolle bei der Lenkung der Lektüre zu.71 Es überrascht daher nicht, dass auch die drei weiter oben dargelegten Hauptströmungen der Fortunatus-Philologie diese Eingangsdarstellung für sich reklamieren. Wie bereits zitiert,
71 Vgl. S. 297–300 im Kap. 2.3.3.4.
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deutet Walter Heise das Titelbild als Illustration von „Macht und Last des Reichtums“.72 Jan-Dirk Müller weist darauf hin, dass dieses Bild „die maiestas des regno“ zitiere (s. Abb. 2), wobei anstatt des Herrschers der Reiche auf dem Thron sitze und der Geldsack das Zepter verdrängt habe.73 Der Blick des Thronenden wäre dann nicht als Melancholie zu deuten, sondern würde die visionäre Weltentrücktheit der Königswürde repräsentieren. Der durch Handel Reiche regiert die Welt: „Fucker advenit“.74 Doch Müller spielt mit seiner Interpretation auf die Bildtradition der fortuna rota an, bei der sich oben auf dem Glücksrad ein thronender König befindet (s. Abb. 3).75 Das Bild stehe damit für „den Höhepunkt des Glücks“,76 der folgende Abstieg des Geschlechtes ist nach dieser (Bild-)Logik
72 Heise: Deutsche Volksromane, S. 15. 73 Jan-Dirk Müller: Fortuna des Fortunatus, S. 219; so auch noch Jan-Dirk Müller: Mittelalterliche Erzähltradition, S. 122 f. – Müllers Beitrag als Ganzes ist allerdings der Forschungsströmung ‚Glück und Fortuna‘/‚Zufall und Kontingenz‘ zuzurechnen. – Für psychoanalytische Deutungen ist der niemals leere Glückssäckel im Zusammenhang mit Fortunatus’ sexueller Potenz und der tugendlose Säckel am Romanende mit der Impotenz der Söhne zu sehen (vgl. Stephen L. Wailes: Potency in Fortunatus. In: The German Quarterly 59/1 [1986], S. 5–18, hier: vor allem S. 7 f. und S. 13 f., sowie Nina Knischewski: Die Erotik des Geldes. Konstruktion männlicher Geschlechtsidentität im ‚Fortunatus‘. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hg. von Ingrid Bennewitz, Ingrid Kasten. Münster 2002 [Bamberger Studien zum Mittelalter 1], S. 179–198, passim). Das Titelbild verbinde damit „f i n a n z i e l l e , h e r r s c h e r l i c h e u n d m ä n n l i c h e Potenz“ in symbolischer Überblendung (Michael Ott: Dynastische Kontinuitätsphantasien und individuelles Begehren. Genealogisches Erzählen in Prosaromanen. In: Familie – Generation – Institution. Generationenkonzepte in der Vormoderne. Hg. von Hartwin Brandt, Maximilian Schuh, Ulrike Siewert. Bamberg 2008 [Bamberger Historische Studien 2], S. 213–248, hier: S. 226). 74 Raitz: Fortunatus, S. 93. 75 Für eine Interpretation, welche die Glücksthematik favorisiert, sind die Titelbilder der späteren Überlieferungsgeschichte einschlägiger (vgl. Steinmetz: Welterfahrung, S. 219), da sie eindeutig fortuna prospera beziehungsweise fortuna dubia erkennen lassen. – Für die verschiedenen Spielarten der Fortuna vgl. noch immer Alfred Doren: Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance. In: Vorträge der Bibliothek Warburg. Bd. 2: Vorträge 1922–1923. I. Teil. Hg. von Fritz Saxl. Nendeln [1922/1923] 1967, S. 71–144 und Tafeln I–VI; Willy Sanders: Glück. Zur Herkunft und Bedeutungsentwicklung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriffs. Köln, Graz 1965 (Niederdeutsche Studien 13), und unter kunsthistorischer Sichtweise Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Göttin des Glücks im Wandel der Zeiten. München, Berlin 1997. – Speziell zur Bildlichkeit der rota fortunae vgl. auch Michael Schilling: Rota Fortunae. Beziehungen zwischen Bild und Text in mittelalterlichen Handschriften. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Coll. 1973. Hg. von Wolfgang Harms, L. Peter Johnson. Berlin 1975, S. 293–313. 76 Dass dieser „Interpretationsschlüssel [...] nur bedingt tauglich“ ist, betont aber bereits Müller selbst (beide Zitate Jan-Dirk Müller: Fortuna des Fortunatus, S. 219). Schließlich folgt der Roman nicht als Ganzes der Kreisbewegung des Rades.
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mechanisch notwendig, Ampedo und Andolosia würden den Auf- und Abstieg verkörpern. Als ein Beispiel gescheiterter Kindeserziehung sieht dagegen Hannes Kästner diesen Holzschnitt an. Fortunatus lasse seine Kinder spielen, anstatt sie zu erziehen.77 Weder arbeiten Ampedo und Andolosia, noch studieren sie. Gemäß der Erzählerrede „dinget [er] yn knecht die sy leerten ritterspiel/ das ist mit stechen turnieren vnnd mitt scharpffrennen“ (F 1509, S. 504). Damit wiederhole Fortunatus den Fehler der eigenen Erziehung durch Theodorus zur Jagd „mit dem federspil“ und zu „anderem waidwerck“ (F 1509, S. 389) – Tätigkeiten, welche die Abbildung freilich nicht illustriert. Kästner sieht im Thron des Helden konsequenterweise weder einen Herrschersitz noch Salomos „Thron der Weisheit“. Da dem Bild Attribute einer Narrendarstellung, die Kästners Lesart stützen könnten, jedoch gänzlich mangeln, zitiert er aus Salomos Sprüchen, um zu belegen, dass der Roman „die Umsetzung“ des ‚Throns der Torheit‘ (Spr 9, 13–18) „in Erzählung“ sei. Kann man den ebenfalls von Kästner angeführten Predigtausschnitten Geilers von Kaysersberg eine verblüffende Nähe zum Erziehungsprogramm des Fortunatus nicht absprechen, hätte zur Ausdeutung des Titelholzschnitts in Richtung auf didaktische Unterweisung ein Hinweis auf zeitgenössische Magister-cum-Discipulis-Titel besser verfangen. Während sowohl die Erklärung der Eingangsillustration als ein Bild des Reichtums als auch die Deutung als ein Motivzitat aus der fortuna rota-Tradition die beiden Söhne zu Füßen des Titelhelden zur bloßen Staffage deklarieren müssen, trägt die Interpretation des Titelholzschnitts als eine Variante dieser Ikonographie weiter. Nur sie vermag es, die eingangs angeführte, mangelnde Korrespondenz und Kommunikation zwischen Vater und Söhnen zu integrieren.78 Betrachtet man den Holzschnitt vor dem Hintergrund einer Lehrszene, so irritieren zunächst die beiden Schüler, die ihrem Lehrmeister keinerlei Aufmerksamkeit widmen und über keine typischen Unterrichtsutensilien wie Wachstäfelchen oder Griffel verfügen. Selbst wenn man den Stock, den der rechte in der Hand hält, als Schreibgerät und die Namensbeischriften als Werk der jugend-
77 Vgl. Kästner: Peregrinator, S. 183–185; die folgenden Forschungszitate sind ebenfalls dieser Passage entnommen. 78 Sowohl bei Müllers als auch bei meiner Deutung ist das Traditionszitat allerdings mit einem gleichzeitigen Traditionsbruch verbunden, indem „die Besetzung des ikonographischen Musters verändert“ ist (Jan-Dirk Müller: Fortuna des Fortunatus, S. 219). So sitzt nicht der Herrscher, sondern der Reiche auf dem Thron. Dass Fortunatus mit seinem Geldpotential an die Stelle des Machthabers treten könnte, reflektiert der Roman aber zu keiner Zeit. Selbst als der englische König über die Rechtmäßigkeit von Andolosias Säckelbesitz räsoniert (vgl. F 1509, S. 550), wird lediglich eine Parallelisierung vorgenommen, jedoch keine Substitution angedacht.
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lichen Figuren auffasste, entspräche der vermittelte Lehrinhalt nur der Fähigkeit, die der Erzähler auch dem jungen Fortunatus zugesteht (vgl. F 1509, S. 389), nämlich seinen Namen schreiben zu können. Die Fähigkeit, diesen auch zu lesen, wäre mutmaßlich der linken Figur, die mit dem etwas wirren Haar eher Andolosia darzustellen vermag, zugestanden, da er auf die Schriftzüge deutet. Allerdings interagieren die beiden Schüler nur untereinander, Vermittlung von Wissen oder Weisheit findet nicht statt. Diese steht gemäß des Fortunatus-Titelblattes nicht auf dem Lehrplan, zumindest nicht in ihrer klassischen Form wie bei der abgebildeten Schrift Vocabula pro iuvenibus (s. Abb. 4). Nach meiner Lesart substituiert der Säckel des Fortunatus nicht die herrscherlichen Insignien, sondern das Lehrbuch als Symbol der Weisheit.
Abb. 4: Titelblatt Vocabula pro iuvenibus. Augsburg: Johannes Schaur 1496, Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. 4 Inc.c.a. 1067 a#Beibd.1.
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Bezieht man den Haupttext des Romans auf das Bild, so verwundert, dass Fortunatus sein Glücksgut offen sehen lässt, zumal andere Personen im Raum sind. Denn nach der schlechten Erfahrung mit dem Waldgrafen (vgl. F 1509, S. 434–436) ist Fortunatus eigentlich stets darauf bedacht, den Säckel „vnder de[m] tisch“ verborgen zu halten (F 1509, S. 495, so auch auf Abb. S. 494). Nur noch ein finales Mal zeigt er ihn, nämlich bei der Vererbung seiner Zaubermittel auf dem Totenbett. Dies ist im Roman auch die einzige Stelle, an der Fortunatus Ampedo und Andolosia aktiv Lehren erteilt: Wenn sie „bey eeren vnnd guͦ tt beleyben“ wollen, dürfen sie „die klaynat nit von ainander taillen/ vnd solten auch niemand sagen von dem seckel“ (F 1509, S. 506). Der weitere Handlungsverlauf zeigt jedoch, dass Andolosia beide Gebote übertritt (vgl. F 1509, S. 508 und S. 522) und am Ende schmählich von einem in den Grafenstand erhobenen Seeräuber erdrosselt wird (vgl. F 1509, S. 575). Auch Ampedo – wie sein Bruder ohne Nachkommen – geht aus Angst und Kummer zugrunde (vgl. F 1509, S. 571), sodass das väterliche Erbe vom König eingezogen wird (vgl. F 1509, S. 579). Damit stirbt das Geschlecht „edler purger/ altz herkommens“ (F 1509, S. 388) mit der Enkelgeneration aus. Aufgrund der Todesumstände lässt sich sagen, dass die Fortunatus-Söhne um Ehre, Gut und Leben kommen. Ausgangspunkt dieser Katastrophe ist, dass selbst eine minimale Belehrung scheitert und Andolosia taub ist für die Worte seines Vaters. Somit ist der ernste Blick des magister, der sich von seinen Schülern abwendet und in sich selbst zurückzieht, die logische Konsequenz. Schon vorher bereut Fortunatus mehrfach, Reichtum statt Weisheit gewählt zu haben (vgl. F 1509, S. 435 f., S. 446, S. 453 und S. 459 f.), da sein Vermögen weder den Diener Lüpoldus (vgl. F 1509, S. 480 f.) noch seine Frau Cassandra (vgl. F 1509, S. 504) noch ihn selbst (vgl. F 1509, S. 505) vor dem Tode retten kann. Und bei den Anschlägen der Antagonisten Arttelhyn von Nundragon (vgl. F 1509, S. 434–436), dem sogenannten Waldgrafen, sowie des diebischen Wirtes in Konstantinopel (vgl. F 1509, S. 450– 463) ist sein Reichtum gerade erst Auslöser der Bedrohung. Vor dieser Gefahr zu warnen, ist Anlass seines gescheiterten Belehrungsversuches. Es ist insofern naheliegend, dass das Titelbild des Fortunatus von 1509 ein Motiv zitiert, das für die ‚Werkgruppe‘ der Lehrbücher steht.79 Sowohl Grammati
79 Vgl. zu dieser ‚Werkgruppe‘ Ursula Rautenberg: Das Titelblatt. Die Entstehung eines typographischen Dispositivs im frühen Buchdruck. Erlangen, Nürnberg 2004 (Alles Buch 10), hier: S. 22–25; Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig – Quantitative und qualitative Studien. In: AGB 62 (2008), S. 1–105, hier: S. 73–82; sowie Margaret M. Smith: The Title-Page. Its Early Development 1460–1510. London, New Castle 2000, hier: S. 75 und S. 87–89. Zu diesem Motiv in Nürnberger Drucken vgl. Randall Herz: Das Titelblatt in Nürnberg: Entwicklungslinien der Titel-
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ken als auch „Vokabularien und Texte der klassischen Literatur“ werden mit Titelblättern versehen,80 die einen Lehrer gemeinsam mit einer variablen Anzahl von Schülern vorstellen.81 Oft sitzt die Lehrperson erhöht und die Schüler hören ihm vom Boden aus zu. Typische Attribute sind ein oder mehrere Bücher oder Hefte sowie immer wieder die Rute des magister. Es kommt zum Blickkontakt, die Schüler schreiben das Gehörte auf oder vollziehen das Gesagte anhand eigener Schriftstücke nach. Nach Ursula Rautenberg finden sich solche Darstellungen auf Lehrwerken zuerst in Drucken aus Antwerpen und wenig später in Kölner Inkunabeln.82 Da sie den Lehrer mit einem aufgeschlagenen Buch in Händen zeigen, kommen Accipies tanti doctoris dogmata sancti-Schnitte dem Fortunatus-Titelblatt ikonographisch schon recht nahe. Paul Heitz und Wilhelm Ludwig Schreiber weisen solche in Köln, aber auch in zahlreichen weiteren deutschen Offizinen nach, darunter in Augsburg 1497 bei Hans Schönsperger und 1501 bei Johann Froschauer.83 Noch größer ist die Ähnlichkeit aber, wenn die Sitzgelegenheit des magister thronartig vergrößert ist und frontal abgebildet wird. Das einzige Beispiel aus Augsburg bei Heitz und Schreiber stammt von Johannes Schaur (s. Abb. 4).84 Es ist einem Holzschnitt von Richard Paffroet aus Deventer nachgeschnitten und geht den Vocabula pro iuvenibus voran. Es handelt sich dabei um „das mit Abstand einflußreichste“ lateinisch-deutsche Schulvokabular der Zeit, das nach Sachgruppen eingeteilt ist.85 Diese decken alle Bereiche des täglichen Lebens ab. Peter O. Müller nennt folgende Themengebiete: Religion, Natur, Zeiten, Mensch (Körperteile, Tugenden und Laster, Verwandtschaft, Herkunftsbezeichnungen, Berufe und soziale Rollen, Krankheiten), ländlicher und städtischer Lebensbereich (Gebäude, Hausrat und Arbeitsgeräte, Waffen, Recht), Schiffahrt, Tiere, Pflanzen (einschließlich Heilmittel), Metalle und Edelsteine.86
formulierung und Titelblattgestaltung. In: AGB 63 (2008), S. 43–90, hier: S. 81–83, und zu Kölner Magister-cum-Discipulis-Titeln vgl. Johanna Christine Gummlich-Wagner: Das Titelblatt in Köln: Uni- und multivalente Titelholzschnitte aus der rheinischen Metropole des Inkunabeldrucks. In: AGB 62 (2008), S. 106–149, hier: S. 128–146. 80 Rautenberg: Buchtitelblatt der Inkunabelzeit, S. 73. 81 Zahlreiche Beispiele versammeln Paul Heitz, W[ilhelm] L[udwig] Schreiber: Die deutschen „Accipies“ und Magister cum Discipulis-Holzschnitte als Hilfsmittel zur Inkunabel-Bestimmung. Straßburg 1908 (StudDtKunstg. 100), hier: Tafeln 1–75. 82 Vgl. Rautenberg: Buchtitelblatt der Inkunabelzeit, S. 73 und S. 82. 83 Vgl. Heitz/Schreiber: Magister cum Discipulis, Tafeln 18, 22 und 23. 84 Vgl. ebd., S. 52 und Tafel 63. 85 Peter O. Müller: Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts. Konzeptionen und Funktionen frühneuzeitlicher Wörterbücher. Tübingen 2001 (Texte und Textgeschichte 49), S. 305. 86 Ebd., S. 306.
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Der Druck von Schaur enthält die abgebildete Lehrszene aber nicht nur ein Mal. Wie der Titelholzschnitt des Fortunatus am Romanende wiederholt wird (s. unten), so zeigt auch er das Titelbild erneut – allerdings bereits auf der Rückseite des ersten Blattes (vgl. fol. Aj.v.).87 Es steht jedoch zu vermuten, dass der Anonymus kein Exemplar dieses Vokabulars benutzt hat, da sich im Kap. De Morbo kein Eintrag zur Schwindsucht findet (vgl. fol. [Aviij]f.), die im Zusammenhang mit Fortunatus’ Tod als Kontextglosse auch lateinisch benannt wird („ain boͤ se kranckhait (die schwindsucht) die man Ethica haißt“, F 1509, S. 505). Für die gehäufte Aufzählung u. a. von Gewürzen (vgl. F 1509, S. 519), Edelsteinen (vgl. F 1509, S. 495), Tischgerät (vgl. F 1509, S. 485) und nicht zuletzt der Glücksgaben Fortunas (vgl. F 1509, S. 430) könnte ein Sachwörterbuch aber durchaus als Quelle gedient haben.88 Vergleicht man die beiden Bildmotive, fallen zwei wesentliche Unterschiede in den Blick. Erstens ist das Lehrbuch durch den Geldsäckel ersetzt. Gegenstand der Wissensvermittlung ist der richtige Gebrauch des Glücksgutes, nicht Buchgelehrsamkeit. Zweitens sind Ampedo und Andolosia von ihrem Vater, dem weitgereisten und lebenserfahrenen magister, abgewandt. Sie begnügen sich mit der Fähigkeit, ihre Namen schreiben zu können und sind unempfänglich für weitere Belehrungen. Diese Ausführungen vermögen von der Dimension des Titelblattes aus, Kästners Interpretation des Romans zu stützen, und ermuntern, die Überlieferung des Fortunatus im Zusammenhang mit didaktischer Spezialliteratur zu untersuchen.89
1.1.4 Vor- und Nachwort von 1509: Die Weisheit Salomos Auf der Rückseite des Titelblatts informiert eine „Vorred“ (in der Edition F 1509, S. 387) über die dort eingeführten Figuren und stiftet eine weitere Deutung ihrer Geschichte. Fortunatus ist hier selbst noch „ain iüngling“, aber bereits in „betruͤ ptnuß“. Eine Exposition führt also den Helden in seiner Not ein. Doch sogleich erhält er von der „iunkfraw des glüks“ den bereits bekannten Geldsäckel, mit dessen Hilfe er die Welt „durchwanderet“. Die erste Reise durch die westliche Welt ist in der Edition auf nur eine Zeile zusammengezogen. Eingeleitet wird diese
87 Ich benutze das Exemplar der BSB München, Sign. 4 Inc. c.a. 1067 a#Beibd.1. 88 Möglicherweise schließt der Autor aber einfach an die antike und mittelalterliche Tradition an, dem Erzählten Kataloge zu integrieren (vgl. das Kap. Aufzählen und Erzählen bei Volker Klotz: Erzählen. Von Homer zu Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner. München 2006, hier: S. 134 f.). 89 Ein Aufsatz zur Darstellung der Neuredaktionen des neunzehnten Jahrhunderts vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Bildungswesens ist in Vorbereitung.
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mit „dem seckel“ als dem Ermöglichungsgrund der Kavalierstour. Obwohl die Vorrede mehr als vier Zeilen auf Fortunatus’ zweite Reise verwendet, ist seine Fahrt durch Arabien und den Fernen Osten ganz auf die Entwendung des „wünschhyetlin“ reduziert. Jan-Dirk Müller macht im Kommentar seiner Ausgabe darauf aufmerksam, dass die Inhaltswiedergabe gegenüber dem Haupttext des Romans abweiche. Denn hier heiratet der Held erst nach der Orientfahrt und nicht zwischen den beiden Reisen. Für Müller ist diese Diskrepanz ein Indiz dafür, dass der Paratext „nicht vom Autor, sondern vom Drucker“ stammen könnte.90 Doch werden Fortunatus’ Rückkehr nach Zypern, seine Heirat und die Geburt der Söhne meiner Ansicht nach nur erwähnt, um die Inhaltsangabe mit dem Umstand abzuschließen, dass „Ampedo vnnd Andolosia [...] den seckel vnd das huͤ tlin von irem vatter erbten“. Die gehäufte Nennung der beiden Glücksgüter soll den noch zu gewinnenden Leser91 unabhängig von der Urheberschaft der Vorrede für die Lektüre des Romans werben: „Was Fortunatus vnnd nach ym die gedachten seine zwen sün/ mit den zwayen klainaten wunders gestifft vnd erfaren/ wollust vnd freüd/ auch not vnd arbait byß in ihren tod erliten habenn. gar kurtzweilig zu lesen.“ Die wundersamen Kleinodien sind nach dieser Dimension des Erstdrucks zwar nicht die Subjekte des Romans, nicht seine Protagonisten, aber die instrumenta, mit deren Hilfe die erzählte Geschichte erst entwickelt werden kann.92 Die Umstellung der Handlungsabfolge fällt dabei nicht ins Gewicht. Wie sich die Werbung der Vorrede aber nicht auf die Unterhaltungskomponente beschränkt, sondern abschließend auch die Belehrung des Rezipienten durch das Erzählte anpreist, so gibt es auch noch einen zweiten Unterschied von Inhaltsparaphrase und haupttextueller Erzählung. Denn die Jungfrau des Glücks gibt dem Helden den Säckel, ohne dass eine Wahlmöglichkeit thematisiert würde. Fortunatus’ falsche Wahl wird also zunächst ausgespart, um dann aber mit dem abschließenden Hinweis, dass „vernufft [sic] vnd weißhait für all schaͤ tz diser welt/ zu begeren vnd zu erwoͤ len“ seien, inhaltlich nachgetragen.
90 Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1184, so auch ebd., S. 1160 und S. 1166. 91 Vgl. Wolfgang Harms: Zwischen Werk und Leser. Naturkundliche illustrierte Titelblätter des 16. Jahrhunderts als Ort der Vermittlung von Autor- und Lesererwartungen. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symp. Wolfenbüttel 1981. Hg. von Ludger Grenzmann, Karl Stackmann. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 5), S. 427–461, hier: S. 427, in Bezug auf die Dimension des Titelblattes, in dessen unmittelbarer räumlichen Nähe sich der besprochene Text findet. 92 Eine ähnliche Formulierung steht an der Scharnierstelle von Fortunatus- und Söhne-Teil: „Nun hoͤ rend wie es Ampedo vnd Andolosia den zwen sünen fortunati fürbaß ganngen ist mit den zwayen klainaten“ (F 1509, S. 507).
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Durch diese Formulierung erweitert sich der Blick: Es geht nicht vornehmlich um die eine falsche Entscheidung, sondern um eine generelle Präferenz für Weisheit und Vernunft gegenüber weltlichen Schätzen im Allgemeinen. Der höhere Abstraktionsgrad lenkt den Blick des Rezipienten auf eine nachfolgende Reihe thematisch korrespondierender Textstellen, unter denen Fortunatus’ Fehlwahl nur eine von mehreren ist. Auch das Wunschhütlein, das eine auffallend prominente Rolle in der Vorrede spielt, wird damit als Schatz der Welt diskreditiert, obwohl es Fortunatus bei der Begegnung mit Fortuna gar nicht zur Wahl steht. Indem sich das Fortunatus-Geschlecht, der Vater wie die Söhne, aber den weltlichen Glücksgütern hingibt, sind „not vnd arbait“ neben zwischenzeitlicher „wollust vnd freüd“ die notwendigen Folgen dieser falschen Präferenz bis hin zum Tod der drei Helden des Titelblattes. Hier schließt das Nachwort inhaltlich an, denn Fortunatus hätte, so er von der Glücksjungfrau „Weißhait/ für den seckel“ begehrte, ein Gut erhalten, dass „ym nyemandt hett mügen enpfieren“ (F 1509, S. 579). Die Folge der jugendlichen Fehlentscheidung sei „bitterkait“ für ihn und die Söhne gewesen (F 1509, S. 580), denn trotz einer gewissen Spanne zeitlicher Lust, steht am Ende ihrer Geschichte die beschriebene Katastrophe. Daher, so ergänzt das Nachwort das avisierte prodesse des Romans, muss man wie der biblische Salomo „Weißhait“ wählen, um zusätzlich Reichtum zu erlangen (ebd.).93 Der Status des „moralischen Imperativ[s] der Vorrede und des Epilogs ‚Weisheit für Reichtum!‘“ ist in der Fortunatus-Philologie umstritten. Walter Heise, von dem die prägnante Wendung stammt, und einige andere Forscher sehen darin „altübliche[ ] Moralisationen“, die „dem gesamten Roman“ als Zugeständnis an den „Zeitgeschmack“ jedoch „untergeschoben“ seien und sich nicht mit „dem Sinn der Ereignisse“ deckten.94 Die Komplexität des Romans werde also demnach
93 Diese Kombinationsmöglichkeit ist dem Roman jedoch nicht äußerlich aufgesetzt, bereits die Jungfrau erklärt Fortunatus in der zentralen Wahlszene (vgl. F 1509, S. 429–431), dass sie aus einer Reihe von Glücksgütern „aine [tugendt] zwuͦ me oder gar“ verleihen kann (F 1509, S. 430). Daher weist Dieter Kartschoke zu Recht darauf hin, dass die „Alternative“ zwischen Weisheit und Reichtum „falsch gestellt“ ist, insofern Weisheit „den Reichtum einschließt“ (Kartschoke: Weisheit oder Reichtum, S. 217). Dietrich Huschenbett erkennt denn auch, „daß Fortunatus alle vier Eigenschaften, die Salomo erhalten hat, gleichfalls erwirbt“ (Huschenbett: Salomo, S. 228), obwohl er sich gegen die Weisheit als Krone der Glücksgaben entscheidet. Vgl. dazu auch von der Lühe: Anfänge des Prosaromans, S. 88 f.; Haubrichs: Glück und Ratio, S. 38 f. sowie S. 43, der allerdings Kartschokes Argumentation missverstanden hat. 94 Das erste Zitat Heise: Deutsche Volksromane, S. 17; das zweite ebd., S. 19; die restlichen ebd., S. 24. Diese Positionen vertreten identisch von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 142; Politis: Discourse on Money, S. 45, sowie mit leichten Abwandlungen Dohm: Autonomisierung des Erzählens, S. 208, und Manuel Braun: Historie und Historien. In: Die Literatur im Übergang vom
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von der paratextuellen Lehre unterboten. Andere lesen das Nachwort analog zur Schreibart des Hauptteils als Bruch mit den konventionellen Erwartungen. Bleiben im Haupttext Schemata unerfüllt, so sieht Anna Mühlherr „den Argumentationsduktus des Epimythions [...] als spielerisch-ironisches Dementi eines handfesten Exempelgebrauchswerts“.95 Ein ernsthafter Lehrinhalt werde nach dieser Sichtweise zwar vorgestellt („erkyeß Weißhait für reichtumb“, F 1509, S. 580), doch die „ironische Schlusswendung“, nach der die Glücksjungfrau „in dieser welt nit mer tzufinden“ und daher keine konkret-gegenständliche Wahl zwischen den Glücksgütern mehr geben sei (ebd.), entlarve die fehlende „Ernsthaftigkeit der Lehre“.96 Manuel Braun sieht zwar richtig, dass hier Fiktionalität als „Status eigenständiger Sinnbildung“ reklamiert wird,97 dies geht aber nicht zulasten eines Plädoyers für den rechten Gebrauch der Vernunft. Doch verabschiedet bereits die Vorrede Fortunatus’ Wahlszene aus dem didaktischen Zusammenhang und etabliert damit die Verallgemeinerung, dass Weisheit und Vernunft allen weltlichen Schätzen vorzuziehen seien (s. oben). Zieht man die Dimensionen von Vor- und Nachwort zusammen, so ist das Epimythion gerade als ein klassischer Versuch traditioneller Sinnstiftung qua moralisatio zu werten, nur dass dem Leser die Abstraktionsleistung zugemutet wird, den Lehrinhalt von einem märchenhaft-fiktionalen Geschehen auf die im Roman ja ebenfalls geschilderte Lebenswirklichkeit der Frühneuzeit zu übertragen. Das Fiktionssignal fordert den Leser lediglich dazu auf, die Lehre des Romans von seiner literarischen Einkleidung zu lösen und in den nicht-fiktionalen Bereich der eigenen Welt zu übertragen.98 Eine ironische Brechung gibt
Mittelalter zur Neuzeit. Hg. von Marina Münkler, Werner Röcke. München 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 317–361 und S. 649–653, hier: S. 358. Vgl. dazu auch Raitz: Fortunatus, S. 91; Stange: Herkunft, Leistung und Glück, S. 241. 95 Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 67/Anm. 23. 96 Diese Zitate und das folgende Zitat Manuel Braun: Vergesellschaftung, S. 99. 97 Vgl. zur Verabschiedung der Glücksjungfrau als Fiktionssignal sowohl Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 73; Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke von Prosaromanen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Im Auftrag der Stadt Augsburg. Hg. von Helmut Gier, Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 337–352, hier: S. 349; Jan-Dirk Müller: Rationalisierung und Mythisierung, S. 447; Manuel Braun: Historien, S. 358–361; Steinmetz: Welterfahrung, S. 224 f., sowie Kellner: Geheimnis der Macht, S. 318. – Damit reicht der Roman im Nachwort dasjenige nach, was man bei fiktionalen Texten der Neuzeit üblicherweise als ‚Fiktionsvertrag‘ im Vorwort antrifft (vgl. Genette: Paratexte, S. 209–211). 98 Dieses Verfahren findet sich auch im Märchen. So endet Hänsel und Gretel nach der Ausgabe letzter Hand der Kinder- und Hausmärchen ähnlich wie der Fortunatus mit einer Kombination aus Fiktionssignal und Leseranrede: „Mein Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darf
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es an dieser Stelle ebenso wenig wie die Andeutung „eine[r] nicht einlösbare[n] Utopie“.99 Insofern muss man einer dritten Forschungsrichtung beipflichten, die in Erwägung zieht, dass „Handlung und Epilog“ sich durchaus „aus der Perspektive der zeitgenössischen Diskussion um Weisheit, Reichtum und Glück“ miteinander im Einklang befinden können.100 Schließlich muss ein Roman – auch ein vormoderner – keine eindimensionale Antwort geben, kein eindeutiges Richtig oder Falsch etablieren. Der Fortunatus kann gleichzeitig zeigen, dass man falsch wählen und trotzdem ganz gut fahren kann,101 dass mitunter selbst ein nach den Maßstäben des Werkes ‚weiser‘ Mann wie Lüpoldus in Armut geraten (vgl. F 1509, S. 439 f.) und dass Fortunatus, obwohl er alle Tugenden des biblischen Salomo erhält, unglücklich sterben kann (vgl. F 1509, S. 504–507). Die Ursache liegt in der ‚Dimensionalität‘ des Textes. Dabei ist es gleichgültig, ob die „Paratexte [...] vermutlich nicht vom Autor [...] verfaßt“ sind.102 Wer Paratexte frühneuzeitlicher Erzähltexte aufgrund unsicherer Urheberschaft bei der Analyse aussparen will, argumentiert von einem reduktionistischen Paratextualitätsverständnis aus, das sich eines genieästhetischen Literaturbegriffs verdankt, von dem auch Genettes
sich eine große, große Pelzkappe daraus machen“ (Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Hänsel und Gretel. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausg. letzter Hand. Mit einem Anh. sämtlicher nicht in allen Aufl. veröffentlichten Märchen. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 1980, S. 100–108, hier: S. 108). Der Hinweis auf das Ende des Märchens ist wie das Verschwundensein der Glücksjungfrau Fiktionssignal. Doch die hyperbolische Aufforderung eine „große, große Pelzkappe“ aus dem Fell einer einzigen Maus herzustellen, ist auch hier nicht als Ironie zu verstehen. Denn die Schlusswendung bildet gemeinsam mit der Exposition des Märchens einen Rahmen, in dem (existentielle) Armut thematisiert wird (vgl. ebd., S. 100). Der arme Holzhacker kann seine Kinder nicht mehr ernähren, der Leser ist unfähig, sein Haupt zu bedecken. Indem nun, die Fiktion verabschiedet und ein Bogen zum Anfang geschlagen wird, erhält das Märchen sozialkritisches Potential. – Zu Märchenmotiven im Fortunatus vgl. Sachse: Motive und Gestaltung, vor allem S. 48–57. 99 Der Schlusssatz sei nach Michael Stolz „bittere Ironie“ (Stolz: Weltinnenräume, S. 434). Als Beleg dient ihm Fortunatus’ Reise, aus der man ersehen könne, dass Fortuna über die Welt herrscht (vgl. ebd.). Das Nachwort spiele hier auf eine Welt ohne Fortuna als „eine nicht einlösbare Utopie“ an (ebd., S. 436). Mit dem Roman von 1509 hat diese Deutung freilich nichts zu tun, sie ist allein aus Stolz’ nicht nur anachronistischem (vgl. ebd., S. 428), sondern teleologistischem Ansatz zu erklären, nach dem Fortunatus „die Gefahren“ unregulierter, globaler Kapitalströme zu erahnen vermöge (vgl. ebd., S. 433). – Eine ähnliche Interpretation, die aber wesentlich näher am Text argumentiert, bietet Haubrichs: Glück und Ratio, S. 45. 100 Roth: Deutungsversuche, S. 214, im Anschluss an Kästner. – Auch schon Kartschoke: Weisheit oder Reichtum, S. 221 f., sieht die „Erzählstruktur“ des Fortunatus in der salomonischen Weisheitswahl „präfiguriert“ und hält die Lehre des Nachworts damit für „notwendig“ und „ursprünglich“. 101 Vgl. Raitz: Fortunatus, S. 62. 102 Steinmetz: Welterfahrung, S. 212.
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Standardwerk nicht frei ist, wenn er sich allzu sehr auf eine „relevante[ ] Lektüre [...] in den Augen des Autors und seiner Verbündeten“ konzentriert.103 Unabhängig vom Verfasser sind Vorrede und Nachwort Bestandteil des Fortunatus-Erstdrucks und liegen sowohl dem historischen Rezipienten als auch dem überlieferungsbewussten Interpreten in historisch verbürgter Form vor. Vormodernes Bucherzählen etabliert mehrere Dimensionen, die jeweils an der Sinnstiftung beteiligt sind, aber nicht aufeinander abgestimmt sein müssen. Dies erkennt Beate Kellner, wenn sie darauf verweist, dass der Fortunatus „Spannungen und Alternativen“ aushalten könne und das Nachwort „auf solche Freiräume“ der Fiktionalität hinweise.104 Warum sie aber gleichzeitig das Epimythion und „die aufgesetzte Moral der Vorrede“ als sekundär ablehnt, kann ich nicht nachvollziehen. Die „Komplexität“ des Romans wird von den „randständigen didaktischen und kommentierenden Partien“ nämlich nicht unterlaufen, sondern sie ist allererst Folge derartig um die Deutungshoheit konkurrierender Akte der Sinnstiftung, die als eigenständiger Textteil das Romanganze jeweils anders perspektivieren.
1.1.5 Strukturelle Dimensionen: ‚Stundenglas-Symmetrie‘ und Rahmenkonstruktionen Abschließend spreche ich mit der Architektur des Gesamttextes von einer strukturellen Dimension des Werkes und ergänze einen Seitenblick auf das „Register“ dieser Redaktion. John Walter Van Cleve beschreibt eine ‚magische Struktur‘ des Romans. ‚Magisch‘ sei sie deshalb, da sich die von ihm entdeckte Struktur erst nach dem zwölften Kapitel und damit nach dem Erwerb des ersten Zaubergutes nachweisen lasse. Der unbekannte Autor habe dann aber die Agripina-AndolosiaHandlung ausgedehnt, um eine Symmetrie zum Fortunatus-Teil herzustellen. Insgesamt ergebe sich damit eine „Handlungssymmetrie, eine einem Stundenglas ähnliche Kapitelanordnung“,105 die Van Cleve in einem späteren Aufsatz um eine ‚Stundenglas-Symmetrie‘ des Romanbeginns ergänzt. Auch wenn die dadurch
103 Genette: Paratexte, S. 10. – Allerdings ist ein solches Vorgehen durch Genettes moderneres Untersuchungskorpus eher gerechtfertigt; vgl. dazu Michael Ralf Ott: Die Erfindung des Paratextes. Überlegungen zur frühneuzeitlichen Textualität“. http://www.publikationen.ub.unifrankfurt.de/files/7858/Erfindung_des_Paratextes.pdf [24. März 2014], hier: S. 9 f. 104 Kellner: Geheimnis der Macht, S. 317 f. 105 Vgl. John [Walter] Van Cleve: Magie und Struktur im Fortunatus (1509). Zur ästhetischen Einschätzung eines Renaissancetextes. In: Neuphilologische Mitteilungen 97/1 (1996), S. 81–90, hier: S. 86–89, das Zitat ebd., S. 86.
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hervorgerufene „ausgesprochene ästhetische Anziehungskraft“106 nicht ohne Grund derart lange verborgen geblieben sein dürfte, sind Van Cleves Beiträge wichtig, da er erstens auf die Kapitelstruktur als bedeutungstragende Werkdimension107 und zweitens auf die Rahmenkonstruktionen des Fortunatus aufmerksam macht. Die Haupthandlung des Romans ist demnach dreifach gerahmt: Ein „Abbildungsrahmen“ (das Titelbild und dessen Wiederholung nach dem Kolophon, vgl. F 1509, S. 385 und S. 585) umschließt einen „Kommentarrahmen[ ]“ (die Vorrede und das Nachwort, vgl. F 1509, S. 387 und S. 579 f.), der einen „Handlungsrahmen“ enthält (die Elternvorgeschichte und Andolosias Ermordung, vgl. F 1509, S. 388–390 sowie S. 568–578).108 Anfang und Ende des Romans verbindet dabei das Auftreten von zwei Figuren, die jeweils ‚Theodorus‘ heißen. Für Van Cleve stehen sie für einen in der erzählten Welt vorherrschenden Menschentypus, dessen Dominanz den Handlungsspielraum von Fortunatus und seinen Söhnen einschränke.109 Stärker akzentuiert Michael Ott den Rahmungsaspekt, wenn er im verdoppelten Theodorus Anfang und Ende des Fortunatus-Geschlechtes sieht. Der „Urvater“ Theodorus räche in der namensgleichen Figur „den Bruch des väterlichen Gesetzes“.110 Zwar hat der Großvater nichts mit den von Andolosia übertretenen Verboten zu schaffen, aber da der englische Graf den Enkel mit seinem „gürttel“ und damit mit jenem Kleidungsstück „erwürget“ (F 1509, S. 575), an dem gemeinhin der Glückssäckel befestigt ist, ist für Ott „Andolosias Tod symbolisch aufgeladen“.111 Eine Verbindung zum Theodorus der Elternvorgeschichte stellt aber auch diese Beobachtung nicht her. Ich mache weiter oben deutlich, dass Vorrede und Nachwort gut aufeinander abgestimmt sind und dem Leser eine didaktische Rezeptionsanweisung geben. Auch die Wiederholung des Eingangsbildes als Schlusspunkt des Erstdruckes stellt ein Rahmungsphänomen dar, das interpretiert werden muss (s. unten). Doch erscheint mir bei der Wiederaufnahme des Figurennamens ‚Theodorus‘ ein anderer Aspekt der Erzählweise des anonymen Autors ausschlaggebend zu sein. Es geht hier nicht um eine weitere Rahmung, sondern allgemeiner um Verdich
106 Vgl. Van Cleve: Infortunatus, S. 109 f., das Zitat ebd., S. 110. 107 Vgl. Van Cleve: Magie und Struktur, S. 84; Van Cleve: Infortunatus, S. 105. Vgl. dazu S. 73– 78 im Kap. 1.2.3. 108 Van Cleve: Magie und Struktur, S. 85. 109 Vgl. ebd., S. 83. 110 Michael Ott: Genealogisches Erzählen, S. 233. 111 Ebd., S. 234. – Ein Gürtel ist es jedoch auch, womit sich Andolosia nach dem Verlust der Glücksgüter selbst töten möchte, damit der Säckel seine Zauberkraft verliere (vgl. F 1509, S. 535), wie es bei Andolosias Tod an der vorliegenden Textstelle auch tatsächlich geschieht.
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tung des Romans durch Parallelstellen, die im Vergleich miteinander ein neuerliches Schlaglicht auf das perspektivische Erzählen in diesem Prosaroman werfen. Indem der mörderische Graf Andolosia an „[s]einer sel hail“ gemahnt (F 1509, S. 574), verknüpft ihn der Roman nämlich des Weiteren mit dem Waldbruder, der den Fortunatus-Sohn zur Umkehr auffordert (vgl. F 1509, S. 537).112 Darüber hinaus verweist der letzte Textholzschnitt mit Theodorus’ Hinrichtung durch das Marterinstrument des Rades (vgl. F 1509, S. 578) auf die eingangs thematisierte Ikonographie des Fortuna-Rades. Schwerer wiegt aber die strukturelle Parallele zu Fortunatus’ Aufenthalt in London (vgl. vor allem F 1509, S. 421–423).113 Denn wie beim Untergang des Hauses Roberti werden nach der Vollstreckung des königlichen Urteils auch auf der Insel Lymosy sämtliche Mitwisser gehenkt (vgl. F 1509, S. 578 f.).114 Blickt man dort aus der Perspektive des ohne jede Schuld beinahe getöteten Fortunatus auf das Geschehen, so sind hier die namenlosen „weib vnd man“, die alle „vmb das mord wißten“, den Antagonisten zugeordnet (F 1509, S. 579). Da der Erzähler jedoch darauf hinweist, dass der Strafvollzug „on alle barmhertzigkait“ (ebd.) erfolgt, im Fortunatus-Teil sich aber sogar der rechtlose Waldgraf „in barmhertzigkait“ bewegen lässt (F 1509, S. 436), sind Zweifel an der Deutung angebracht, hier werde „[d]as Prinzip der poetischen Gerechtigkeit [...] wieder eingesetzt“.115 Der Rezipient sollte auf der Basis seiner bisherigen Leseerfahrung aus der parallelen Anlage der Episoden erkennen können, welch fatale Folgen eine derartige Exekution des Rechtes zeitigen kann. Dass die finale Episode über die Namensgleichheit auch noch mit der Elternvorgeschichte ver
112 Die Parallele hat auch dann Bestand, wenn man wie Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 107, den „Zusammenhang zwischen Andolosias Übermut und seinem Untergang [...] als Deutungsmöglichkeit [...] disqualifiziert“ ansieht, da diese von Theodorus und damit von einer Negativfigur explizit gemacht wird. 113 Über die Entsorgung von Andolosias Leichnam „in ain[er] wassergruͤ b“ (F 1509, S. 579), ist die Episode auch mit der Geschichte von Andrean, der den toten Edelmann „in die prifet“ wirft (F 1509, S. 415), und der Ermordung des diebischen Wirts verbunden, dessen Leiche Lüpoldus in „ain[em] tuͤ ffe[n] galbrunn“ versteckt (F 1509, S. 461). 114 Allerdings treten dort zusätzlich zwei Dimensionen miteinander in Konkurrenz um die Deutungshoheit, während einer der tituli davon spricht, dass die Mitglieder des Hauses Roberti vnschuldiklich gehenkt werden (F 1509, S. 419), führt der Erzähler das „kaisserlich recht“, nach dem für eine Straftat auch derjenige in vollem Umfang zu bestrafen ist, der dieselbe nicht zur Anzeige bringt (vgl. F 1509, S. 422). Zu Aspekten des im Fortunatus geschilderten Rechtsystems vgl. Stephanie B. Pafenberg: A legal mirror. The role of law in early prose novel Fortunatus. In: Daphnis 22 (1993), S. 581–602, hier: S. 593–603. – Die strukturelle Korrespondenz mit der London-Episode wird durch Theodorus’ englische Herkunft verstärkt. Auch in London bringt mit Andrean ein Landesfremder das Verhängnis über die Ortsansässigen. 115 So aber Manuel Braun: Historien, S. 360. – Entsprechende Zweifel bei Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 110 f.
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knüpft ist, eröffnet noch weiterreichende Interpretationsspielräume und geht daher sicher nicht allein in einer Rahmung der Haupthandlung auf. Vor dem Seitenblick auf das „Register“ gehe ich auf die abschließende Wiederholung des Titelblattes ein.116 Fortunatus blickt erneut ins Leere, seine Hände spielen noch immer mit dem Säckel wie Ampedo und Andolosia zu seinen Füßen. Nach allen Abenteuern, aller Belehrung, nach dem Tod sämtlicher Protagonisten schließt sich der Kreis zum Anfang. Wenn meine an Hannes Kästner anschließende Deutung der Darstellung als Kontrafaktur einer Lehrszene trägt, dann verweist ihre Wiederholung darauf, dass gescheiterte Wissensvermittlung respektive Erziehung bei allen Wechselfällen des Glückes eine Konstante ist. Diese Interpretation kann sich darauf berufen, dass Kinder, die sich nicht an Weisungen ihrer Eltern halten – oder vice versa, dass Eltern, die ihr Wissen nicht an die jüngere Generation weitergeben können – ein Leitmotiv der Haupthandlung sind:117 Theodorus, Fortunatus’ Vater, beachtet nicht, „wie seine elteren [...] das ir erspart vnd gemeert hettend“ (F 1509, S. 388), und kann seinem Sohn „weder helffen noch raten“ (F 1509, S. 390); die zypriotischen Kaufmannssöhne missachten „irs vaters verschreibung“ (F 1509, S. 407) und auch Andrean vertut das ihm anvertraute Gut, „[a]ls noch maniger sun tuͦ t/ denen vaͤ ttern/ die yn zu wol vertrawen/ vnd zuuil glauben auff ire sün“ (F 1509, S. 409). Und wie Andolosia die Verbote seines Vaters missachtet (vgl. F 1509, S. 508, S. 527 und S. 529), hört auch Agripina nicht auf den weisen Rat des ihren (vgl. F 1509, S. 524). Demnach enthielte der Fortunatus in der Redaktion von 1509 nicht nur Wissen, das dem Leser direkt vermittelt wird, sondern weiterhin ein Plädoyer für aktive Wissensvermittlung. Wie deren Gelingen jedoch sichergestellt wird, behandelt der Roman nicht. Trotz der Prominenz des Erstdrucks in der germanistischen Forschung finden sich kaum Äußerungen zu dem Verzeichnis der tituli (F 1509, S. 581–584), um das es im Folgenden geht. John Van Cleve nutzt sein „bloße[s] Vorhandensein“ als Argument, um „die zentrale Bedeutung des Kapitels als gestaltverleihendes Prinzip“ plausibel zu machen.118 Aber weder hier noch in seinen anderen Beiträgen zur Fortunatus-Forschung findet sich eine Auseinandersetzung mit dem Register-Text an sich, die über die pauschale Bemerkung hinausreicht, dass
116 Auch Heinrich Steiner wiederholt am Ende seiner Melusine-Ausgabe Augsburg 1538 seinen Titelholzschnitt am Ende des Textes (vgl. dazu Ursula Rautenberg: Die ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen und der Basler Erstdruck des Bernhard Richel. In: Thüring von Ringoltingen: Melusine [1456]. Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Hg. von André Schnyder in Verb. mit Ursula Rautenberg. Bd. 2: Kommentar und Aufsätze. Wiesbaden 2006, S. 61–99, hier: S. 97). 117 Vgl. Kästner: Peregrinator, S. 183. 118 Van Cleve: Infortunatus, S. 105.
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„die Eintragung im Register vom einschlägigen Kapiteltitel ab[weicht]“.119 Die Varianz begründet Van Cleve damit, dass dem Anonymus „die jeweilige Kapitelhandlung so klar“ sei, dass er „kein[en] große[n] Wert auf den genauen Wortlaut“ legt.120 Das Problem bei dieser Sichtweise besteht jedoch bereits darin, dass Van Cleve das „Register“ (F 1509, S. 581) überhaupt mit der Kapitelstruktur des Romans in Verbindung bringt, obwohl es sich selbst als Verzeichnis der „matieren“ des Buchs und gerade derjenigen „materien“ ausweist, welche „bedeüt vnd fürgehalten werden durch die figuren“ (alle ebd.), also als ein Verzeichnis der (Bild-)Themen. Damit stimmt überein, dass sich die Blattangaben zum Teil auf die Stellung der Holzschnitte und damit nicht auf den Ort des titulus beziehen. Überraschend sind daher weniger die Abweichungen des Wortlauts im Vergleich mit den tituli, sondern vielmehr ihre – abgesehen von zahlreichen syntaktischen Umstellungen – überwiegende Übereinstimmung. Ein Beispiel wird hier genügen: Als titulus (F 1509, S. 410): Wie ain florentiner Andrean genannt ain vast boͤ ser buͦ b/ tzu ainem gefangenn reichen englischen mann/ in die gefaͤ ngknuß gelassen ward/ mit jm zureden.
Als Registereintrag (F 1509, S. 581): Ain florentiner genant Andrean ain boͤ ßer buͦ b ward gelassen/ zuͦ ainem gefangnen reichen Englischen man/ in die gefencknuß mit ym zu reden.
Insgesamt sind auch die (Wort-)Varianten unauffällig. So ist das prifet (F 1509, S. 415), in das der durchtriebene Andrean sein Opfer wirft, durch ein deutsches Synonym ersetzt: Nach dem Inhaltsverzeichnis wirft er den Ermordeten „in ain haimlich gemach“ (F 1509, S. 581). Die Londoner Freudenmädchen sind vielleicht etwas dezenter umschrieben, insofern von „schwachen frawen“ (ebd., meine Hervorhebung) anstelle von leüchten (F 1509, S. 406) die Rede ist. Und die Zeichnung der Frauenfiguren um Andolosia ist minimal verschoben. So betrog die französische Edelfrau Andolosia nicht einfach (F 1509, S. 512), sondern sie „teuschet yn“ im Inhaltsverzeichnis, indem sie ihm „mit betrüglichait“ an ihrer Statt die Nachbarsfrau unterschiebt (F 1509, S. 583). Auch streicht das Register den Diebstahl der englischen Königstochter deutlicher heraus, insofern Andolosia nach der verpassten Liebesnacht mit Agripina nicht einfach sein Säckel mangeltt (F 1509, S. 526), sondern er explizit „seines seckels beraubt was“
119 Van Cleve: Magie und Struktur, S. 84. 120 Ebd., S. 84. – Steinmetz: Welterfahrung, S. 212, argumentiert genau andersherum: Die Abweichungen von „Kapitelüberschriften“ und „Inhaltsregister“ im Vergleich zur „Romanhandlung“ legen für ihn nahe, dass „diese Paratexte [...] nicht vom Autor des Romans verfaßt“ sind.
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(F 1509, S. 583). Auffällig ist, dass die Varianz bei den früheren Kapiteln deutlich größer ist. Mit der zweiten Hälfte der Andolosia-Handlung – nach dem ersten Verlust des Säckels – reduziert sie sich ganz auf syntaktische Umstellungen ohne jeden semantischen Gehalt. Wenn man nun nach der Funktion des „Register[s]“ (F 1509, S. 581) fragt, ist zu beachten, dass einzelne Formulierungen ausführlicher beziehungsweise präziser gewählt sind und so das Verständnis für einen Leser erleichtern, der noch nicht mit dem Inhalt des Romans vertraut ist. Hervorzuheben ist zum einen die Ersetzung des allgemeinen loch (F 1509, S. 445) durch „feg feür“ (F 1509, S. 582) bei der Erwähnung der Höhle des St. Patricius. Zum anderen wird die Eigenschaft des Geldsäckels, dem nymmer gelts gebrast (F 1509, S. 429), repetierend um die Wendung ergänzt, dass „alwegen gelt in jm funden wurd“ (F 1509, S. 582). Zum dritten wird Andolosia anders als im entsprechenden titulus mit dem Epitheton „ain sun fortunati“ (F 1509, S. 583) versehen – eine Eigenschaft, die sich bei linearer Lektüre des Romans von selbst ergibt. Martina Backes hebt hervor, dass Kapitelüberschriften „bei nicht-linearer Lektüre ein schnelleres Wiedereinsteigen in den Text“ ermöglichen.121 Gleiches gilt für tituli, die, wenn sie wie hier in einem Verzeichnis zusammengestellt sind, eine Kurzfassung des Romans ergeben, die den erst zu gewinnenden Leser über die wesentlichen Handlungselemente orientiert, und zwar in einer Form, die wenig Aufwand für den produzierenden Druckerverleger bedeutet. In den meisten Fällen (35) befinden sich Abbildung und titulus auf demselben Blatt, sodass sich die Angabe im Verzeichnis auf beides bezieht. Ansonsten ist zumeist die Stellung des titulus vermerkt (zehn Fälle), während lediglich zwei Einträge auf das Blatt mit dem Holzschnitt verweisen (Fortunatus’ Palast-Bau und die Geburt der Söhne).122 Trotz des Hinweises, dass mit dem „Register“ diejenigen „materien [...] fürgehalten werden durch die figuren darbey gedruckt“ (F 1509, S. 581), soll es daher nicht primär den schnellen Zugriff des Rezipienten auf die Illustrationen ermöglichen. Damit bleiben zwei Gebrauchsmöglichkeiten bestehen: der nichtlineare Zugriff auf einzelne Handlungspassagen oder die Orientierungsfunktion in Bezug auf den plot des Romans. Dabei muss jedoch das Paradox der invisibilisierenden Wirkung von Bildern berücksichtigt werden, d. h. dass aus der Hand
121 Martina Backes: Lesezeichen. Zur Einrichtung höfischer Romane als Lesetexte am Beispiel des französischen und des deutschen Parzivaldrucks. In: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften. Hg. von Martina Backes, Eckart Conrad Lutz, Stefan Matter. Zürich 2010 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 11), S. 387– 402, hier: S. 401. 122 Eine Blattangabe verweist auf fol. F ij und damit auf das Blatt zwischen titulus und Bild (vgl. F 1509, S. 582).
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lungsübersicht herausfällt, was nicht bebildert ist, oder genauer gesagt, was nicht von einer der Bildbeischriften erwähnt wird.123 Wie liest sich aber diese Kurzfassung des Fortunatus (F 1509, S. 581–584)? Sie setzt erst mit Fortunatus’ Ausfahrt mit dem flandrischen Grafen ein. Die Elternvorgeschichte und damit seine Handlungsmotivation entfällt. Ohne das Wissen der Eltern verlässt er Zypern, um sich in Flandern im Turnier hervorzutun. Der Neid der Diener und Ruperts Intrige sind auf Fortunatus’ „forcht [...]/ das man yn kapponen wurd“, reduziert. Er flieht nach London, kommt „zu boͤ ser geselschaft“, die ihn zu „schwachen frawen“ und in Armut bringt. Ebenso unvermittelt wie im Haupttext selbst taucht der Florentiner Andrean auf, der einen englischen Gefangenen aufsucht, aber von Anfang an als „ain boͤ ßer buͦ b“ eingeführt wird. Von seinem Plan, den gefangenen Edelmann zum eigenen Vorteil ledig zu machen, seiner Fahrt nach London und der Rolle des englischen Königs erfährt der Registerleser nichts. Der böse Bube besucht den Gefangenen, um sogleich „ainen edelman“ zu ermorden, den Leichnam zu entsorgen und erfolgreich zu fliehen. Der Eindruck radikaler Kontingenz ist somit gesteigert. Allerdings lässt sich das wahre Ausmaß von Andreans kometenhaftem Aufscheinen nur erkennen, wenn man dessen enormen Aktionsradius aus Kenntnis der Gesamthandlung ergänzt. Da aber sämtliche Ortsangaben an dieser Stelle des Inhaltsverzeichnisses fehlen, bringt der Registerrezipient vielmehr die beiden Edelleute zur Deckung. Genauso unvermittelt, wie Andrean Erwähnung findet, trifft den Leser die Nachricht von der unschuldigen Hinrichtung des Jeronimus Roberti und seines Gesindes, von der „allain Fortunatus erlediget“ wird. Dass der Verlust königlicher Kleinodien, der von ihrer Rückgabe impliziert wird, mit Andreans Mord zusammenhängt, bleibt dunkel. Die Episode rund um ihre Wiederentdeckung findet keine Erwähnung. Der erste Handlungsbogen schließt sich, wenn sich Fortunatus im Wald verirrt und in Lebensgefahr gerät. Sieht man von der Episode in Flandern ab, erzählt das Register also zunächst die Geschichte vom jungen Fortunatus, der nur knapp dem verbrecherischen Milieu Londons entkommt. Durch den Wegfall allegorisch aufgeladener (oder zumindest deutbarer) Details wie der verlassenen Glashütte oder Fortunatus’ Kampf mit dem Bären erfährt der Roman keine allzu große Neuperspektivierung. Jedoch zeichnet die Kurzfassung des Registers vor allen Dingen aus, dass der zweite Lebensabschnitt des Helden damit beginnt, dass ihn „[a]in iunkfraw/ die da gewaltig was des glücks“
123 Einer der Registereinträge (Verweis auf fol. B ij) zitiert allerdings eine bildlose Beischrift (vgl. F 1509, S. 581).
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(F 1509, S. 582) zwar mit dem bekannten Glückssäckel, der hier nachdrücklich, da repetierend, als Geldsäckel charakterisiert ist, versieht, dass allerdings die viel interpretierte Wahl zwischen Weisheit, Reichtum und diversen anderen Glücksgütern (wie im Vorwort) komplett entfallen ist. Der Reichtum fällt Fortunatus einfach zu – alternativlos. Dies ist durchaus konsequent, da er seit dem Aufbruch aus der Heimat wie ein Ball von seinem (Un-)Glück durch Europa getrieben wird. Die einzige Passage, die eine Einflussmöglichkeit auf das persönliche Schicksal suggeriert, ist getilgt. Konsequenterweise verpflichtet sich Fortunatus auch nicht, den Jahrtag seiner Begnadung zu feiern. Verhältnismäßig vollständig ist die Waldgrafen-Episode wiedergegeben, während die folgenden Stationen (Nantis, St. Patricius-Höhle, Venedig und Konstantinopel) ohne Zwischenfälle (Todesgefahr in der Höhle) als bloße Reisestationen mit touristischer Qualität (Kaiserkrönung) summiert werden. Dies wird durch die Aufnahme des weitgereisten Lüpoldus noch unterstrichen. Da die Verpflichtung zur jährlichen Aussteuerung einer armen Jungfrau entfallen ist, überrascht Fortunatus’ Freigebigkeit in Konstantinopel. Der Diebstahlversuch des Wirts am derart aufgewerteten Helden wird dadurch noch verwerflicher. Allerdings korrespondiert die Formulierung „vnd kamen daruon“ mit Andreans erfolgreicher Flucht aus London. Doch gereicht dies nicht zur Kritik am Helden oder an seiner – ja unerwähnten – Fehlwahl. Er kehrt nach Zypern zurück, baut einen „fast kostlichen pallast“ und da mag es nicht überraschen, dass der König ihm „drey edel iunckfrawen“ präsentiert, aus denen sich Fortunatus „die iüngst“ zur Ehefrau erwählt (alle F 1509, S. 582). Die folgenden Hochzeitsfeierlichkeiten kommen relativ ausführlich zur Sprache. Doch kaum sind Ampedo und Andolosia geboren, verlässt Fortunatus wie auch im Haupttext die Heimat zum zweiten Mal, um „mer land vnd künigreich [zu] besehen“. Seine Rundreise durch den Orient ist auf ein Minimum reduziert, bis das Erzähltempo bei der zweiten Einkehr beim Sultan radikal gesenkt wird: Fortunatus’ Ankunft und Begabung der Mamelucken, die Ehrerbietung des „künig Soldan“ und die Präsentation der „kostliche[n] klainat“ werden allesamt erwähnt. Auch darf „das wünschhuͤ ttlin“, das Fortunatus lapidar „hynwegfuͤ ret“, nicht fehlen. Wie die moralisch bedenkliche Stelle vom Erzähler unkommentiert bleibt, fehlt auch hier jede Verurteilung. Durch den Diminutiv „sein huͤ tlin“, das der Sultan erfolglos von Fortunatus zurückfordert, nimmt sich die Tatsache, dass seine „botschaft muͦ ßt [...] vngeschaft“ abreisen durchaus belustigend aus, ihr ist alle Schärfe genommen (alle F 1509, S. 583). Auffälligstes Merkmal des kurzgefassten zweiten Teils der Fortunatus-Handlung bleibt jedoch der Wegfall der Entscheidungsoption zwischen Weisheit und Reichtum. Die Andolosia-Handlung beginnt mit dem grundlosen Tod des Vaters, da Kassandras Ableben ausgespart wird, und der Vererbung von Säckel und Hütlein.
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Von „krafft vnd tugent“ der Zaubermittel erfahren die Söhne zwar,124 jedoch etabliert die Kurzfassung kein väterliches Verbot, sodass ein solches auch nicht übertreten werden kann. Unmittelbar nach Fortunatus’ Tod reist Andolosia nach Frankreich, wo sich die Schwankhandlung mit der vertauschten Buhlschaft ereignet, jedoch ohne die erfolgreiche Ausgleichslist des Helden (alle F 1509, S. 583). Als der Betrogene zieht er direkt weiter nach England, wo ihn Agripina „mitt falscher lieb“ seines Glückssäckels beraubt. Damit ist die Spanien-Episode, in der Andolosia die Hand einer Gräfin ausschlägt, was in zahlreichen Interpretationen gerade im Vergleich mit der Heirat des Vaters als Akt des Hochmuts angesehen wird, übersprungen. Fehlen oben sämtliche Glücksklagen des Fortunatus, so findet Andolosias Erschrecken hier dagegen eigens Erwähnung. Nach Zypern zurückgekehrt, „entlechnet“ (F 1509, S. 530) er das Hütlein von Ampedo: Konsequenterweise erfolgt kein Hinweis auf die vorausgegangene Übertretung des Teilungsverbots, aber auch keiner auf Andolosias arglistige Täuschung des Bruders. Insgesamt verknappt das Register also Andolosias Listenreichtum stark, das zeigt sich bei der Frankreich-Episode und zeigt sich im heimatlichen Zypern sowie in England, wo er die Königstochter entführt, ohne dass es dazu einer Verkleidung bedürfte. Umgekehrt entfällt aber auch die Erwähnung seiner Torheit, wie er „vmb seinen seckel vnd huͤ tlin“ kommt und „ym zway grosse hoͤ rner“ wachsen. Für den Leser bleibt die Wie-Spannung intakt, zusätzlich wird die Handlung mit Verweis auf das „grosse[ ] layd“, in dem sich Andolosia befinde, emotionalisiert. Erst nach dem Beistand des Waldbruders avanciert der Andolosia des Registers doch noch zum Schwankhelden, wenn er als verstellter Arzt seine Glücksgüter zurückgewinnt, wobei er durch den zufälligen Fund des Hütleins Agripina „zu dem anderen mal“ entführen und in Irland in einem Kloster zurücklassen kann (alle F 1509, S. 583 f.). Der Abschluss der Zusammenfassung zeigt Andolosia als königlichen Werbungshelfer, mit dessen Rat Agripina für den zypriotischen Prinzen gewonnen wird. Beim Hochzeitsturnier tut sich Andolosia hervor, was bemerkenswert ist, da seine sonstigen Turnierteilnahmen unerwähnt bleiben. Damit ist die Szene noch deutlicher auf Fortunatus’ Turniererfolg im Dienste des flandrischen Grafen ausgerichtet, was Vater und Sohn den Neid potentieller Konkurrenten einbringt. Droht man jenem scheinbar mit Kastration, so wird Andolosia von zwei Grafen „sein seckel genommen“, ehe er ermordet wird. In der knappen Zusammenschau der Ereignisse ist der jähe Umschlag des Glückes auf die Spitze getrieben. Ampe
124 Dem Register-Leser allerdings bleibt die besondere Eigenschaft des Wunschhütleins verborgen.
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do stirbt „vor laid“, nicht ehe er „das edel wünschhuͤ ttlin zerhew“. Andolosia ist zum Zeitpunkt der unbedachten Überreaktion bereits verstorben, sodass die mangelnde Weisheit von Ampedos Tun nicht in den Blick kommt; dies entspricht der vollständigen Tilgung der Handlungsoption des Fortunatus-Teils und der abschließenden Forderung, Weisheit statt Reichtum zu wählen. Am Ende der Dimension des Inhaltsverzeichnisses steht poetische Gerechtigkeit: Die Grafen zerstreiten sich und werden nach Entdeckung der Tat „bayd geradbrecht“ (alle F 1509, S. 584). Bei diesem Verzeichnis der tituli handelt es sich, was den gewählten Überlieferungsausschnitt anbelangt, um eine rein synchrone Dimension, da nach dem Erstdruck kein weiteres Register zu finden ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass insbesondere (kausale) Verknüpfungen fehlen. Das Geschehen ist damit noch kontingenter, als es die Forschung für den Haupttext herausarbeitet. Selbst unmittelbare Motivierungen wie der Umstand, dass Fortunatus seiner Frau Kassandra nachstirbt, werden an dieser Stelle getilgt. Vor allem aber wird dem noch zu gewinnenden Leser die Schlüsselszene des Romans, Fortunatus’ Fehlwahl als Voraussetzung für die Begabung mit dem Geldsäckel, variierend dargeboten. Der verirrte Protagonist wird beglückt, auf dass er immer genug Reichtum habe. Weisheit kann er hier nicht wählen. Dem Rezipienten tut sich damit eine erzählte Welt der Aktion und Reaktion auf, in der man so lange davonkommt, bis der Tod allem und jedem ein Ende bereitet. Fortunatus muss aus Flandern fliehen wie Andrean aus London. Auch aus Konstantinopel muss Fortunatus zunächst nach dem Mord mit Lüpoldus und dann alleine nach dem Hütlein-Diebstahl entkommen. Es sind Kriminalhandlungen im Wechsel mit Liebeshändeln, die Fortunatus und Andolosia rastlos durch die Welt treiben. Von Weisheit ist nicht, von Reichtum kaum die Rede. Dafür wird der Tod des Titelhelden, seiner Söhne und zwei der wichtigsten Antagonisten verzeichnet. Das Register wirft eine düstere Perspektive auf den Roman – aber auch eine spannende, die ganz auf die Handlung fokussiert ist und den Leser für eine unterhaltsame Lektüre einnimmt, die ihn dann im Hinblick auf die Thematik der richtigen Erziehung überraschen dürfte. Mit dem Titelblatt, dem Vor- und Nachwort, dem „Register“, der Perspektive einzelner Figuren, der Parallelstellen-Technik und der Architektur des Gesamttextes ist eine Auswahl paratextueller, haupttextueller und struktureller sinnstiftender Dimensionen einer prominenten Redaktion eines Prosaromans zur Sprache gekommen. Hieran schließt sich nachfolgend die systematische Analyse eines unbekannten Druckes aus dem neunzehnten Jahrhundert an. Teil 3 dieses Kapitels stellt die Ergebnisse zum Fortunatus von 1509 und 1850 einander gegenüber.
1.2 Eine neue Redaktion im neunzehnten Jahrhundert
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1.2 Eine neue Redaktion im neunzehnten Jahrhundert Ein Blick in die Textgeschichte des Fortunatus zeigt, dass das oben besprochene Nachwort ausschließlich im Augsburger Otmar-Druck enthalten ist und bereits 1518 bei der zweiten Druckausgabe ersatzlos ausfällt. Die Forschung nahm diese – wohl gemerkt: überlieferungsgeschichtliche – Beobachtung als Argument dafür, dass bereits im sechzehnten Jahrhundert aufgefallen sei, dass die Lehre des Nachworts am erzählerisch entfalteten Sinn vorbeigehe, die Komplexität des Romans unterbiete und daher nicht vom Romanautor stamme.125 Das weitere Fortleben des Textes stellt nach dieser Sichtweise also die intentio auctoris wieder her. Es entbehrt nun nicht einer gewissen Kuriosität, dass die Überlieferungsbeteiligten oder das Publikum, auf welches dieselben zielen, spätestens im neunzehnten Jahrhundert das Fehlen eines moralisch eindeutigen Endes nicht mehr aushalten.126 Die „[g]anz neu, und angenehm erzählt[e]“ Lebensbeschreibung von Fortunatus Wuͤ nschhuͤ tlein (Titelblatt) ergänzt in diesem Sinne eine vereindeutigende Moral, aber nicht als explizite moralisatio, sondern in Handlung aufgelöst als eine zusätzliche Episode. Das von mir verwendete Exemplar wird von der Universitätsbibliothek München auf circa 1850 datiert.127 Die Titelvignette zeigt Fortuna balancierend auf einer geflügelten Kugel mit wehendem Haarschopf und geblähtem Segel. Vor- und Nachwort sowie die Zwischentitel fehlen, auch enthält diese späte Redaktion deutlich weniger Abbildungen. Neu sind dagegen die gereimten Motti, die allen 22 Kapiteln überschrieben sind und welche einerseits die Handlung moralisch einordnen, andererseits den Leser moraldidaktisch unterweisen. Die Motti umfassen zumeist sechs, selten vier, in einem Fall fünf Verse mit der programmatischen Waisen: „Suͤ nder!“ (F 1850, S. 51, 18. Motto). Dominante Reimschemata bei den Sechszeilern sind ababcc (zehn Mal) und abbacc (fünf Mal). Weist Horst Joachim Frank einige der Strophenformen bereits im Barock als „ein Gefäß für Reflexionen, nachdenkliche Betrachtungen und wehmütige Empfindungen“ nach, verbreiten sich die Sechszeiler mit gereimten trochäischen
125 Vgl. Heise: Deutsche Volksromane, S. 24; Kartschoke: Weisheit oder Reichtum, S. 241, sowie von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 134 f. und S. 142. In dieser Tradition stehen noch Steinmetz: Welterfahrung, S. 212, und Kellner: Geheimnis der Macht, S. 317 f.; vorsichtiger formuliert Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1160; kritisch dazu: Haubrichs: Glück und Ratio, S. 40. 126 Zugrunde liegt das Exemplar der UB München, Sign. W 8 P.germ. 13653, [Frankfurt/Leipzig] [um 1850], mit dem Titel: Eine uͤ beraus lustige Lebensbeschreibung von Fortunatus Wuͤ nschhuͤ tlein, mit dem Seckel, der nie vom Gelde leer geworden ist. Bezugnahmen auf die in Kap. 1.1 behandelte Redaktion versehe ich mit der Sigle F 1509. 127 Auf Nachfrage neue Datierung von Elke Humml (Universitätsbibliothek München) in Anlehnung an den zeitgleichen Druck aus der Wild’schen Buchdruckerei. Die bisherige Datierung auf „circa 1787“ wurde korrigiert.
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Fünfhebern „erst im Laufe des 18. Jahrhunderts mit der Anakreontik und in der Lyrik der Empfindsamkeit“ mit einem Höhepunkt nach 1770.128 Die Form verbindet „Lieder in Todesgedanken und Glaubenszuversicht“ mit dem Thema der Liebe, was auch das inhaltliche Spektrum der Motti weitgehend abdeckt.129 Eine gewisse Nähe besteht zum lyrischen Schaffen Johann Christian Günthers oder auch Christian Fürchtegott Gellerts, ohne dass sich aber direkte Anleihen nachweisen ließen. Der moralphilosophische Gehalt entspricht dem Standard zeitgenössischen Erziehungsschrifttums bis hin zu vorsichtig aufklärerischen Positionen.130 Möchte man generelle Bearbeitungstendenzen der Redaktion aufzeigen, so fällt die fortwährende Moralisierung stärker ins Gewicht als die Verknappung der Handlung und die Affektisierung der Szenen131 sowie die Galanterie der Sprache. Durch das Ausmaß an Ersetzungen, Kürzungen, aber auch Erweiterungen nimmt diese Redaktion eine ähnliche Stellung wie die von André Schnyder wiederentdeckte Historische Wunderbeschreibung als eine späte Melusine-Bearbeitung ein, die er selbst als „höfische[n] Barockroman“ bezeichnet.132 Hat Thürings Roman auch in seinen späten Ausläufern seit einigen Jahren Konjunktur in der germanistischen Forschung, so ist alles, was die Fortunatus-Überlieferung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts anbetrifft, Desiderat. Dabei hat bereits Jurij Striedter darauf hingewiesen, dass die Textgeschichte hier „einschneidendere Veränderungen“ aufweist und der Roman in einigen Redaktionen „den Charakter eines ‚romantischen Märchens‘“ erhalte, in anderen aber „das galante Moment“ betont werde.133 Die neue Zeichnung der Agrippina-Figur erinnert an
128 Erstes Zitat: Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2., durchges. Aufl. Tübingen, Basel 1993, hier: Nr. 6.45, S. 515; vgl. dazu das siebte, 21. und 22. Motto; zweites Zitat: ebd., Nr. 6.41, S. 507, vgl. dazu das fünfte, zehnte und elfte Motto. – Die frühere Datierung (vgl. Anm. 127) stimmte gut mit diesem Befund überein, durch die Korrektur müssten Stil und Inhalt der Motti nun als anachronistisch gelten. 129 Das Zitat Frank: Strophenformen, Nr. 6.38, S. 497. 130 Vgl. dazu das 19. Motto (F 1850, S. 54). 131 Verweisen möchte ich lediglich auf Leopolds irisches Familienidyll (F 1850, S. 18–20) und die Neuperspektivierung der Begabung der Jungfrau in Konstantinopel (F 1850, S. 21–24). Auf beide Szenen gehe ich weiter unten ein. 132 André Schnyder: Historische Wunder-Beschreibung von der sogenannten schönen Melusina. Zu einer neu entdeckten Version des Melusine-Romans. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 383–407, hier: S. 402. 133 Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 50.
1.2 Eine neue Redaktion im neunzehnten Jahrhundert
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die von Striedter untersuchte polnische Übertragung.134 Nachfolgend analysiere ich die Redaktion nach ihren para- und haupttextuellen sowie strukturellen Dimensionen, ehe sich ein Vergleich mit der editio princeps anschließt.
1.2.1 Paratextuelle Dimensionen Paratexte lenken die Rezeption eines Textes. Sie können dabei untereinander um die Deutungshoheit konkurrieren oder sogar im Widerspruch zum Haupttext stehen. Während das Titelblatt der Fortunatus-Redaktion von um 1850 Fortuna und die Glücksgüter in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, begleiten Motti anstelle von Kapitelüberschriften die Handlung und kommentieren sie moralisch. Die Illustrationen tragen indes entscheidend zur Figurenzeichnung bei und die Elternvorgeschichte am Romanbeginn sowie die narrativierte moralisatio am -schluss teilen Funktionen mit den Paratexten ‚Vorwort‘ und ‚Nachwort‘.135 Als erstes bespreche ich das Titelblatt der Redaktion. Fortunatus ist hier auf dem Titelbild nicht mehr zu sehen. Der Erstdruck zeigt ihn zusammen mit dem Säckel und seinen Söhnen, einige Drucke der Zwischenzeit bei der Begabung durch die Jungfrau des Glücks. Im Druck um 1850 jedoch ist wie bei anderen Drucken des siebzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts Fortuna allein als Personifikation irdischen Glückes in all seiner Unbeständigkeit zu sehen.136 Sie rollt auf einer geflügelten Kugel mit bewegtem Segeltuch durch eine nur angedeutete Landschaft. Damit symbolisiert die Darstellung einerseits die Schnelligkeit des Glücks, was den schnellen Wandel zwischen Glück und Unglück impliziert, und andererseits die fehlende Berechenbarkeit und Regulierbarkeit dieses in Bewegung umgesetzten Wankelmuts. Ihr zur Seite wehendes Haar erinnert zudem an Occasio und damit an die Gefahr, die günstige Gelegenheit zu verpassen. Im Vergleich mit Titelblättern, die Fortuna bei der Begegnung mit Fortunatus im Wald zeigen,137 fällt auf, dass Fortuna hier neben dem Glückssäckel auch das Wunschhütlein in Händen hält. Nach dem Haupttext handelt es sich dabei jedoch um ein Erbstück, das Fortunatus dem ägyptischen Sultan entwendet (vgl. F 1850, S. 36), zu den von Fortuna zur Wahl gestellten Glücksgütern gehört es dagegen
134 Vgl. ebd., S. 72–75. 135 Zu paratextueller Sinnstiftung vgl. auch Kap. 2.3.3.4. 136 Für Darstellungen Fortunas auf der Kugel vgl. Meyer-Landrut: Fortuna, vor allem S. 154–157. Zur Fortuna in Mittelalter und Renaissance immer noch grundlegend: Doren: Fortuna. 137 So beispielsweise beim Druck Augsburg: Francke 1609 (BSB München, Sign. Res P.o.germ. 381) oder Nürnberg: Endter 1677 (SBB-PK Berlin, Sign. Yu 1626/R).
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nicht (vgl. F 1850, S. 12). Das Titelbild tritt damit in Widerspruch zum Haupttext, was interpretatorisch gelöst werden muss. Dafür bietet es sich an, zunächst auf die Titelformulierung der Redaktion einzugehen. Der Haupttitel lautet: Eine uͤ beraus lustige Lebensbeschreibung von Fortunatus Wuͤ nschhuͤ tlein, mit dem Seckel, der nie vom Gelde leer geworden ist. Dieser entsteht durch Kürzung und Umstellung einiger Satzglieder aus einer älteren Formulierung wie etwa: Fortunatus mit seinem Seckel und Wuͤ nsch-Huͤ tlein, Wie er dasselbe bekommen, und ihm damit ergangen/ in einer uͤ beraus lustigen Lebens-Beschreibung vorgestellet.138 Beide werben mit dem Hinweis auf den unterhaltsamen Inhalt. Während jedoch ‚Fortunatus‘ im zweiten Fall eindeutig als Subjekt zu identifizieren ist und sich daher auch die angekündigte Lebensbeschreibung auf sein Leben beziehen muss, führt die Umstellung der Redaktion von 1850 zu Irritationen. Unwahrscheinlich ist, dass die beiden Wörter, die in einer Zeile mit der größten Type gesetzt sind, zusammen als Eigenname zu verstehen sind. Fortunatus erhielte demnach den Nachnamen ‚Wuͤ nschhuͤ tlein‘. Sinnvoller ist es, die problematische Wendung als Genitivobjekt aufzulösen. Dies bringt jedoch interpretatorische Konsequenzen mit sich. Versteht man ‚Fortunatus‘ als Genitiv ohne Apostroph, werden Wunschhut und Säckel zu den Titelhelden des Romans und ‚Lebensbeschreibung‘ bezieht sich auf die Glücksgüter. Nach dieser Lesart behandelt der Roman das Leben des Hütleins mit dem Säckel. Dies aber erklärt nicht nur die prominente Rolle des Hütleins auf dem Titelbild. Diese These wird auch dadurch plausibel, dass es die Glücksgüter sind, die Kontinuität über die Generationenfolge des Figurenpersonals hinweg gewährleisten und die letzte Illustration der Redaktion den ‚Tod‘ des Wunschhutes zeigt, als ihn Ampedo zerstückelt und „zu Asche verbrenn[t]“ (F 1850, S. 62). Auch wenn diese Ausdeutung zu weit gehen mag, so lenken Titelbild und -formulierung den Rezipienten bei der nachfolgenden Lektüre fraglos auf die Beschaffenheit irdischen Glückes und nicht etwa auf die affektiven Aspekte des Romans. Betrachtet man mit dem Illustrationszyklus eine weitere paratextuelle Dimension des Textes, so fällt zunächst auf, dass die Bilder hier sehr ungleichmäßig über den Roman verteilt sind. Das vorletzte, 21. Kapitel, enthält gleich zwei Abbildungen, während mit dem 13. bis 15. und 18. bis 20. jeweils drei aufeinanderfolgende Kapitel unbebildert sind. Eine Entsprechung von Bildprogramm und Kapiteleinteilung gibt es also nicht.139
138 So im Druck [Nürnberg?: o.Dr.] [ca. 1680] (HAB Wolfenbüttel, Sign. Lo 1479.1). 139 Zur gliedernden Funktion von Illustrationen vgl. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Der Brüsseler Tristan: Ein mittelalterliches Haus- und Sachbuch. In: Tristan und Isolt im Spätmittelalter. Vorträge eines interdisziplinären Symp.s v. 3. bis 8. Juni 1996 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Unter redaktioneller Mitarb. v. Rudolf Schulz. Hg. von Xenja von Ertzdorff. Amsterdam, Atlanta
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Inhaltlich überrascht im Vergleich mit dem Erstdruck und der Abbildungsgeschichte anderer Prosaromane das Fehlen von Reisemotiven. Auch wenn in dieser Redaktion Andolosias Abenteuer in Frankreich und Spanien fehlen, bietet der Haupttext eigentlich zahlreiche Gelegenheiten für derartige Illustrationen. So ziehen die Protagonisten u. a. nach Flandern, England, Schottland, Venedig, Paris, Konstantinopel, Indien und Ägypten. Auf der Dimension der Bilder sind die Helden allerdings nie zu Pferde oder auf einem Schiff zu sehen. Doch gleich zwei der Flugreisen mit Hilfe des Wunschhutes werden dem Leser vor Augen geführt. Insgesamt sind die ‚Titelhelden‘ Säckel und Hütlein auf den elf Abbildungen sogar jeweils fünf Mal zu sehen.140 Wie Reisedarstellungen fehlen auch Szenen höfischen Lebens und höfischer Prachtentfaltung. Keine einzige Vignette zeigt ein Turnier, eine Hochzeit oder ein Festmahl. Auch Begrüßungs- oder Beratungsszenen, die einen Großteil der Prosaromanillustration des sechzehnten Jahrhunderts ausmachen, finden sich 1850 nicht. Die äußere Repräsentation spielt auf dieser Dimension ebenso wie die den Haupttext prägende Emotionalität nur eine untergeordnete Rolle. Weder ist Andolosius’ verhinderte Liebesnacht mit Agrippina zu sehen noch das glückliche Eheleben von Fortunatus und Kassandra. Lediglich Elmire und ihr Bräutigam sind etwas intimer gezeigt, wobei das Hauptaugenmerk der Darstellung auf dem Golde liegt, mit dem sie Fortunatus versehen hat. Aber nicht nur die (höfische) Freude fehlt auf den Illustrationen, auch Holzschnitte zu den Glücksklagen und zur Trauer um Verstorbene gibt es nicht. Abbildungen lenken die Lektüre, indem sie aus der Summe möglicher Bildmotive einzelne auswählen, andere Aspekte oder ganze Handlungsabschnitte aber nicht ins Bild setzen. Es findet damit auf der Dimension des Bildes eine
1999 (Chloe 29), S. 247–301, hier: S. 255–261; Backes: Lesezeichen, S. 397, sowie Christel Meier: Typen der Text-Bild-Lektüre. Paratextuelle Introduktion – Textgliederung – diskursive und repräsentierende Illustration – bildliche Kommentierung – diagrammatische Synthesen. In: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften. Hg. von Martina Backes, Eckart Conrad Lutz, Stefan Matter. Zürich 2010 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 11), S. 157–181, hier: S. 167–169. 140 Die Angabe auf dem Titelblatt „Mit zwoͤ lf Vignetten“ ist falsch, selbst wenn man das Titelbild mitzählt, kommt die Ausgabe lediglich auf elf Illustrationen. – Eindeutig sind die Darstellungen der Glücksgüter auf dem Titelblatt (F 1850, S. 1), bei der Begabung durch Fortuna (F 1850, S. 12), der Überlistung des Sultans (F 1850, S. 36), Agrippinas zweiter Entführung (F 1850, S. 47) und der Zerstörung des Hütleins durch Ampedo (F 1850, S. 62). Mutmaßlich handelt es sich bei dem Hut, den Andolosius abnimmt, als er dem Prinzen Agrippina zur Braut gibt, ebenfalls um das Wunschhütlein (F 1850, S. 59). Unklar ist, ob bei Fortunatus’ Gefangennahme durch die Häscher des Waldgrafen der Säckel zu sehen ist (F 1850, S. 15). Außerdem zeigt der Holzschnitt zur Aussteuerung Elmires nur das Gold, nicht aber den Säckel selbst (F 1850, S. 23).
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Akzent- beziehungsweise Schwerpunktsetzung statt – Christel Meier spricht allgemein von der Verdichtung des Erzählten auf „eine Pars-pro-toto-Szene“.141 Je nachdem, was bebildert wird und wie die gewählten Motive ausgestaltet werden, üben die Illustrationen eine Kommentarfunktion aus oder beeinflussen die Sympathieverteilung auf Leserseite.142 Die späte Redaktion zeichnet so von Fortunatus ein ambivalentes Bild, während seine Söhne dem Rezipienten eindeutig negativ vor Augen gestellt werden. Fortunatus kommt als ein Baby nackt und bloß auf die Welt (F 1850, S. 4), erst von Fortuna erhält er mit dem Säckel Reichtum, den er in Dienerpose kniend empfängt (F 1850, S. 12). Dieser führt sogleich dazu, dass seine Existenz angefochten wird, wenn ihn die Häscher des Waldgrafen ergreifen (F 1850, S. 15). Möglicherweise ist eine derjenigen Figuren, die auf der Palast-Baustelle zu sehen sind, als Fortunatus zu identifizieren (F 1850, S. 26). Dann wären auf der Bilddimension nicht nur die Gefahren des Reichtums, sondern auch eine positive Anwendungsmöglichkeit vorhanden.143 Die letzte Vignette zeigt den Helden als listenreichen Dieb, der den Sultan um sein Wunschhütlein bringt (F 1850, S. 36). Da im Folgenden Andolosius’ fehlgeschlagene Listen illustriert werden, sehe ich diese Darstellung als positiven Ausweis für Fortunatus’ Handlungsmächtigkeit.
141 Meier: Text-Bild-Lektüre, S. 174. 142 Zur Relevanz im Hinblick auf ‚Emotion‘ vgl. Dorothee Ader: Prosaversionen höfischer Epen in Text und Bild. Zur Rezeption des ‚Tristrant‘ im 15. und 16. Jahrhundert. Heidelberg 2010 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), hier: S. 47–53. 143 Dies ist zweifellos auch bei der Darstellung der beschenkten Elmire der Fall, hier ist Fortunatus allerdings nicht zu sehen (S. 23).
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Abb. 5: Eine uͤ beraus lustige Lebensbeschreibung. Frankfurt a. M., Leipzig [um 1850], Universitätsbibliothek der LMU München, Sign. W 8 P.germ. 13653, S. 47.
Andolosius wird dagegen als ein betrogener Betrüger gezeigt (F 1850, S. 47). Der Holzschnitt zeigt ihn beim gemeinsamen Flug mit Agrippina, die als einzige der Antagonisten bildlich dargestellt wird (s. Abb. 5).144 Zwar hat er seiner falschen Braut den gestohlenen Säckel bereits wieder abgenommen und hält ihn in der Hand, doch das Wunschhütlein befindet sich entgegen der erzählten Handlung auf ihrem und nicht auf seinem Kopf. Das gibt nicht nur den Blick auf Andolosius’ Halbglatze frei, vielmehr zeigt die Bilddimension Agrippina als Handelnde der Episode, auf deren Tun der Sohn des handlungsmächtigen Fortunatus nur reagieren kann. In kurzem Rock und mit Stiefeln klammert sie sich kess an ihren Entführer, während sie nach dem Haupttext in Ohnmacht gefallen sein müsste (vgl. F 1850, S. 48). Die nachfolgenden Schnitte bestätigen diese Beobachtung. Schließlich ist nur Andolosius (F 1850, S. 49), nicht aber Agrippina mit den entstellenden Zauberhörnern zu sehen. Und während die letzte gemeinsame Darstel-
144 Andreas, der Waldgraf und der diebische Wirt sind dagegen genauso wenig zu sehen wie Rupert, die treulosen Huren oder der wilde Bär.
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lung sie als diejenige zeigt, welche die Wahl zwischen zwei Männern hat (F 1850, S. 59), muss Andolosius die Begehrte untertänig einem anderen überlassen. Als erfolgreichen Turnierkämpfer oder listenreichen falschen Arzt sehen wir ihn in dieser Redaktion dagegen nie. Der andere Sohn, Ampedo, fällt in der erzählten Handlung im Gegensatz zu den anderen Protagonisten vor allem durch seine Reiseunlust – wenn nicht: Bewegungslosigkeit – auf. Selbst im Besitz des Hütleins bleibt er einfach „zu Hause“ (F 1850, S. 40). Doch die einzige Abbildung zeigt Ampedo bei seiner einzigen Tat (F 1850, S. 62): die Zerstörung des Hütleins und damit der einzigen Chance, seinen am Ende des Romans entführten Bruder zu befreien. Während die Bilddimension die morbide Seite des Werkes145 gänzlich invisibilisiert – Szenen von Mord und Totschlag, Folter und Hinrichtung sind ebenso wenig bebildert wie das Sterben sämtlicher Hauptfiguren –, nimmt die Diskursivierung der menschlichen Endlichkeit eine wichtige Position innerhalb der Motti ein. Diese kommentieren den Haupttext des Kapitels und geben Rezeptionsund Interpretationshinweise.146 Wie Zwischentitel verdichten sie das Nachfolgende, wobei hier das Hauptaugenmerk nicht auf einer Summierung der Handlung liegt, sondern auf moralisierender Überhöhung des Erzählten. Mit dem Tod von Fortunatus, seiner Ehefrau, seiner Eltern und Söhne, seines Vertrauten sowie der Verschwörer gegen Andolosius bietet der Roman dabei reichliche Gelegenheit, um über die Endlichkeit des Menschen nachzudenken, und die Motti regen über die gesamte Handlung verteilt genau dazu an. So werde der Mensch „[a]us dem Nichtseyn“ geboren (F 1850, S. 3) und finde im Kreis der Enkel „das erträumte, ew’ge Leben“ (F 1850, S. 18). „Tod und [...] Verwesung“ machen Arme und Reiche gleich (F 1850, S. 37). Um ihn „zum Tode reif“ zu machen, ende das irdische Glück eines jeden Menschen irgendwann (F 1850, S. 32, vgl. auch S. 48). Das widrige Geschick, also die vermeintliche Kehrseite von Fortunas Verteilung der Glücksgüter, wird damit auf der Dimension der Motti zur notwendigen Vorbereitung auf das Lebensende. Sie vermitteln darüber hinaus die christliche Hoffnung auf eine
145 Allerdings in Bezug auf die Erstfassung von 1509 vgl. zum Thema ‚Tod‘: Kästner: Peregrinator, S. 107–116; Haubrichs: Glück und Ratio, S. 33 und S. 45, sieht den Fortunatus als einen äußerst pessimistischen Roman an; und Haberkamm: Saturn-Vorstellung, S. 250–253, erklärt dies mit dem Hinweis auf den Saturn als Fortunatus’ ‚Wandelstern‘. 146 Zu Funktionen von Motti vgl. Genette: Paratexte, S. 152–156, wobei er vor allem kurze Zitate am Werkbeginn im Blick hat, vgl. ebd., S. 141–156. Jedoch können auch längere Eigenformulierungen als ‚Motto‘ bezeichnet werden (vgl. Dietmar Peil: Art. Motto2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Hg. von Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 646–648, hier: S. 646 f.).
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„bess’re Morgenroͤ the“ und „die goldne Jubel-Zeit“ nach dem Tode, sodass der Mensch auch im Angesicht seiner Sterblichkeit ruhig bleiben könne (F 1850, S. 62). Hier ist aber auch der Ort, an dem der anonyme Redaktor sein Dichtungsprogramm entwickelt. Er hält ein Plädoyer für die Vermittlung von Erfahrungswissen durch Lektüre, um die Jugend zu tugendhaftem Verhalten anzuleiten. So fordern die Motti die Eltern auf, „den Kindern Tugend [zu] lehren“ (F 1850, S. 40), wobei diese erkennen sollen, dass man gerade aus „fremde[m] Schaden“ klug werden könne, ohne selbst Beschwernis zu erdulden (F 1850, S. 17). Übereinstimmend mit einigen Änderungen des Haupttextes schließen die Motti von der Fortunatus-Geschichte auf einen Mechanismus von Sünde und Strafe, Tugend und Lohn, nach dem die Tugend auf dieser Welt zwar Anfeindungen erdulden müsse, letztlich aber mit Gottes Hilfe belohnt werde (vgl. F 1850, S. 6, S. 8, S. 21, S. 24 und S. 28 f.). Umgekehrt bleibe Gott keine Sünde verborgen und es finde sich stets „ein Raͤ cher boͤ ser Thaten“ (F 1850, S. 59). Daher folge auf Neid und Geiz, als „de[m] Vater aller Suͤ nden“ (F 1850, S. 34, vgl. auch S. 6), „Hoͤ llen-Pein“ (F 1850, S. 51, vgl. auch S. 24). Die eindringliche Warnung der Motti steht im Kontrast zu den Ankündigungen des Titelblattes, nach denen der Roman eine uͤ beraus lustige Geschichte angenehm erzähle. Auch das Wirken Fortunas, deren Darstellung auf dem Titelbild eine abwechslungsreiche Geschichte mit zufälligen Glückswechseln erwarten lässt, ist auf der Dimension der Motti ganz der Ermahnung zur Umkehr und der Erbauung des Gerechten nachgeordnet. Sie stehen in enger Verbindung mit dem nachwortartigen Schluss des Romans, den ich nach einer kurzen Besprechung der Elternvorgeschichte analysieren werde. Die Vorred des Erstdrucks fehlt in der hier untersuchten Redaktion. Doch teilt die romaneinleitende Elternvorgeschichte einige Funktion des ‚integrierten Vorworts‘, das Gérard Genette an antiken Beispielen erläutert.147 Allgemein geben auch Elternvorgeschichten die „Gliederung des Diskurses“ an,148 indem sie analog zum typologischen Denken den Verlauf der Haupthandlung in komprimierter Form antizipieren. Sie haben expositionellen Charakter und lassen implizit auf die Intention des Werkes schließen. Anhand der Elternvorgeschichte gibt Michael Ott „Themenbereiche des ‚Fortunatus‘“ in der Fassung des Erstdrucks an: „Der Umgang mit Geld, der finanzielle und gesellschaftliche Abstieg, das Aufeinandertreffen von Armut und Adel, die Möglichkeit und Notwendigkeit von Eheschlie
147 Zu Begriff und Praxis des ‚integrierten Vorworts‘ vgl. Genette: Paratexte, S. 159–165. 148 Ebd., S. 160.
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ßungen“.149 Die weitere Romanhandlung modifiziere dann nur noch diese bereits in der Elternvorgeschichte angelegten Problemstellungen. Dies lässt sich für den Druck von um 1850 weitgehend bestätigen (vgl. F 1850, S. 3–5). Wie der Großvater erben Andolosius und Ampedo große Reichtümer, deren sie sich bedienen, und sowohl Fortunatus als auch Andolosius erleben einige kostspielige Abenteuer mit dem schönen Geschlecht. Theodor und Fortunatus führen eine glückliche Ehe, kehren aber nach der Geburt des ersten beziehungsweise zweiten Sohnes zu ihrem vorigen Lebensstil zurück: Theodor vertut sein Geld mit leichtfertigen Ausschweifungen, Fortunatus zieht in die Welt – zunächst mit dem Schiff, nach seiner Rückkehr aus dem Orient heimlich mit dem Hütlein. Aber nicht nur inhaltliche Parallelen lassen sich aufzeigen. Denn die im Vergleich mit dem Erstdruck deutlich selbstbewusster gestaltete Erzählinstanz meldet sich bereits hier zu Wort. Der Erzähler bezweifelt zwar nicht, dass eine Ehefrau ihren zu Ausschweifungen neigenden Mann zähmen könne, aber der Grund dafür seien „[s]eines Erachtens [...] die bestaͤ ndigen Kaͤ mpfe des Ungluͤ cks“, die in einer Ehe ausgefochten werden müssen (F 1850, S. 3). Dem Mann bleibe daher einfach keine Zeit mehr für seine Laster. Doch wird diese These sowohl durch die Ehen von Theodor und Fortunatus als auch vice versa durch Agrippinas Ehe mit dem zypriotischen Prinzen widerlegt. Sicher ist dies nicht als Hinweis aufzufassen, dass der Erzähler dieser Redaktion ‚unzuverlässig‘ sei. Vielmehr steht er auch in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts noch in der Tradition des „punktuell-hinzeigende[n]“ Erzählers,150 dessen Einzelkommentare nicht aufeinander abgestimmt sind und sich nicht in ein geschlossenes Programm der Interpretationslenkung integrieren. Sowohl im Erstdruck als auch in der vorliegenden Redaktion zieht das frischvermählte Prinzenpaar am Ende der Romanhandlung in den von Fortunatus erbauten Palast. Die editio princeps schließt daran ein werkerklärendes Nachwort an.151 Hier dagegen folgt zunächst ohne typographische Absetzung ein dreigliedriger Schluss (vgl. F 1850, S. 64), der als erstes die Handlung weiterführt, zweitens eine neue auktoriale Figur einführt, welcher wiederum – drittens – ein Kommentar zugeschrieben wird. Dieser ist durch Sperrdruck typographisch hervorgehoben und zieht als Schlusssatz die moralische Lehre nicht nur aus diesem letzten Ereignis, sondern aus dem gesamten Roman. Der Übergang zwischen erzählter Handlung, dem Haupttext, und davon abgesetzter Metaebene des Kommentars, dem Paratext, ist dabei fließend. Die zusätzliche Szene, in der Agrippina
149 Michael Ott: Genealogisches Erzählen, S. 227. 150 Von Ertzdorff: Fee als Ahnfrau, S. 444, zum Augustinus-Exempel in Thürings Melusine. 151 Vgl. das Kap. 1.1.4.
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als einzige noch lebende Verschwörerin den Palast von Andolosius’ Vater „jederzeit um Mitternacht“ nach den Familienschätzen durchsucht, charakterisiert die Antagonistin näher. Sie ist ruhelos dem „Geitz“ verfallen, der „sie an die schmutzigsten Orte“ führt.152 Der Erzähler weist das folgende Geschehen zunächst als Zufall aus,153 denn „das Ungluͤ ck“ wollte es, „daß sie in eine halb verfallene Zisterne fiel“. Bedenkt man aber den von den Motti etablierten Mechanismus von Sünde und Strafe wird wahrscheinlich, dass es sich hier kaum um ein Kontingenzphänomen handelt, sondern dass an dieser finalen Position des Romans poetische Gerechtigkeit hergestellt werden soll. Offensichtlich wird diese Absicht im anschließenden Lokalsatz, der nach einer rhetorischen Pause von der Glücksmetaphorik in den Bereich theologischer Bildlichkeit übergeht: Agrippina „fiel, wo sie bey lebendigem Leibe – von den Schlangen aufgefressen wurde.“ Der Übergang zur Metaebene paratextueller Qualität vollzieht sich graduell. Zunächst fällt nach der Zäsur der bestimmte Artikel auf. Da Schlangen bislang keine Rolle im Roman gespielt haben – nur Rupert wird einmal metaphorisch als „neidische Schlange“ bezeichnet (F 1850, S. 6) –, müsste das Subjekt hier ohne Artikel stehen, wenn es noch konkreter Teil der erzählten Geschichte und daher im Wortsinn zu verstehen wäre. Jedoch legt das Folgende nahe, die Schlangen als „Bild des T[eufels]. [...], der Sünde u[nd] des Todes“ zu verstehen und die Textstelle damit allegorisch zu lesen,154 wonach dann Agrippina von ihrer Sündhaftigkeit verzehrt werde. So führt der Erzähler im letzten Absatz eine neue Figur ein. Es handelt sich um einen „heilige[n] Priester“, der insofern einer Metaebene zugeordnet wird, als ihm Agrippinas weiteres „Schicksal“, von dem die frühere Textgeschichte keine Kenntnis hatte, „und ihre Laster durch eine Offenbarung bekannt gemacht worden“ seien. Dieser Priester ist nicht Teil der zuvor erzählten Fortunatus-Geschichte, und er habe „uns“, d. h. dem Leser wie auch dem Erzähler, die „Nachricht“ von Agrippinas Tod „aufbewahret“. Der Erzähler fingiert für das Ende des Romans also eine zweite schriftliche Quelle und zwar von heiliger Autorität.155 Die Funk
152 Die negative Figurenzeichnung wird durch eine Handlungsparallele noch verstärkt, denn auch Fortunatus schleicht zu Lebzeiten „um Mitternacht“ durch seinen Palast, allerdings um an Kassandras Sarg zu weinen (F 1850, S. 38). 153 Zur Gestaltung des Zufalls als narrativer Strategie des Erzählers vgl. Theisen: Narratives Problem, S. 155. 154 Wolfgang Kemp: Art. Schlange, Schlangen. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. In Zusammenarbeit mit Günter Bandmann u. a. Bd. 4. Hg. von Engelbert Kirschbaum S.J. Darmstadt [1968] 2012, S. 75–81, hier: S. 75. 155 Zuvor verweist der Erzähler auf eine „Chronik“ (F 1850, S. 37), nach der er erzähle.
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tion dieser dazwischengeschalteten Instanz dürfte aber die Verzahnung der nachstehend zitierten „Warnung“ mit der erzählten Geschichte sein, die der Priester seiner Nachricht „beygesetzt“ habe. Wie schon erwähnt, ist sie durch Sperrdruck156 vom sonstigen Text abgehoben und damit als Paratext markiert. Sie lautet: „D i e S uͤ n d e z u m e i d e n , w e i l i h r u n a u s b l e i b l i c h z e i t l i c h e u n d e w i g e S t r a f e n f o l g e n “. Diese Warnung tritt gemeinsam mit der in Handlung aufgelösten moralisatio an die Stelle eines Nachwortes. Aufgrund ihres hohen Allgemeinheitsgrades lässt sie sich sowohl auf die Elternvorgeschichte, auf einige Episoden des FortunatusTeils als auch auf die Andolosius-Agrippina-Handlung beziehen. Darüber hinaus setzt sie den werkbegleitenden Kommentar der Motti fort. Durch Kombination dieser Paratexte umgeht die Redaktion die Gefahr, dass das Nachwort „eine heilende [...] Funktion“ ausüben und „eine bereits erfolgte schlechte Lektüre“ korrigiert werden muss.157
1.2.2 Haupttextuelle Dimensionen Die Verteilung des erzählten Textes auf Erzähler- und Figurenrede ist eine basale Möglichkeit des Erzählens, die ich unabhängig davon, ob sich die Stimmen dem Soziolekt nach unterscheiden, als ‚perspektivisch‘ bezeichne. Gemeinsam mit strukturellen und paratextuellen Phänomenen kennzeichnet das ‚perspektivische‘ Erzählen die ‚Dimensionalität‘ frühneuzeitlicher Romane.158 Der Erzähler verleiht dem Haupttext dabei organische Einheit und ist „als Bedeutungsgeber immer präsent“.159 Er hat auch im vorliegenden Fall eine herausgehobene Position inne, da er an der Figurenzeichnung beteiligt ist, das Geschehen motiviert und kommentiert und somit maßgeblich zur Sinnstiftung des Werkes beiträgt. Außerdem erleichtert er die Rezeption, indem er potentiell Missverständliches erläutert und auf wichtige Szenen zurückblickt.160
156 Im Haupttext werden ansonsten nur Figuren- und Ortsnamen gesperrt gedruckt. 157 Genette: Paratexte, S. 229 f. 158 Vgl. dazu die Diskussion eines abweichenden ‚Perspektive‘-Verständnisses im Kap. 2.3.1 und die Entfaltung meines ‚Dimensionalitäts‘-Begriffs in den Kap. 1.3 und 2.3. 159 Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 2., verb. Aufl. Berlin, New York 2008, hier: S. 138. 160 Beispielsweise wird von ihm klargestellt, dass Rupert lediglich vorgibt, Fortunatus habe die Eifersucht des flandrischen Grafen geweckt (vgl. S. 7) und anlässlich des Streites der verschwörerischen Grafen Theodor und Lymosius erinnert er an die Worte Fortunas, dass die Tugend des Säckels mit dem Tod der Söhnegeneration enden werde (vgl. F 1850, S. 63).
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Der Erzähler der 1850er Redaktion stellt sich selbst als ein schreibendes Ich dar, dem „die Feder“ „erstarrt“, wenn die erzählten Affekte die Figuren an den Rand einer Ohnmacht führen (vgl. F 1850, S. 45). Er bringt dies typographisch durch den Einsatz von Gedankenstrichen zum Ausdruck. Dadurch gelingt es ihm, die Handlung mimetisch nachzubilden, z. B. wenn Andolosius, nachdem ihn Agrippina bestohlen hat, vergebens nach seinem Glücksgut sucht: Er „wollte nach dem begluͤ ckenden Seckel langen – als er – – –“ (ebd.). Der Erzählfluss stockt und der Rezipient erhält die Möglichkeit, die vergebliche Suche imaginär nachzuvollziehen. Auch bei anderer Gelegenheit setzt er Gedankenstriche gezielt ein, nicht nur an der bereits oben diskutierten Textstelle, die von Agrippinas Tod erzählt (vgl. F 1850, S. 64), sondern auch als ihre Kammerfrau den verkleideten Andolosius für einen Arzt hält. Sie zögert, die Symptome der ‚Krankheit‘ zu beschreiben, was der schreibende Erzähler nicht mit Worten, sondern typographisch nachzeichnet: „Koͤ nnt ihr wohl – – – – Hoͤ rner vertreiben? –“ (F 1850, S. 52).161 Die Neugestaltung der Erzählerfigur folgt also jener Publikumserwartung, nach der sich ein Text „als geschriebener“ präsentiere und dessen Erzähler durch die Thematisierung des Schreibaktes „Präsenz“ und „Stimme“ gewinne.162 Allerdings wird das Erzählte nicht als eigene Schöpfung ausgewiesen, sondern der Erzähler fingiert eine „Chronik“, der er im Wesentlichen folge (F 1850, S. 37), wobei er die hinterlassene Offenbarung eines Priesters nutze (vgl. F 1850, S. 64), um den Roman zu einem neuen Ende zu führen.163 Obwohl es sich um einen extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler handelt, hat dieser Zugriff auf Dokumente der erzählten Welt und plant eine Übersetzung von Fortunatus’ Reiseaufzeichnungen, die sich in der Bibliothek zu Famagusta befänden (vgl. F 1850, S. 25 f.). Implizit ist damit ein Ausgleich für die zahlreichen gekürzten oder über
161 Für die folgenden beiden Gesprächsbeiträge verwendet der Erzähler die aus dem geschriebenen Dramentext bekannte Kennzeichnungsart des jeweils Sprechenden und gibt danach den Wortlaut des Gespräches an, ohne die direkte Rede mit Anführungszeichen zu kennzeichnen. Gemeinsam mit dem elliptischen Satzbau entsteht ein Dramatisierungseffekt, dem eingedenk der weiteren Handlung etwas Tragikomisches anhaftet. 162 Sonja Glauch: Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarb. v. Carmen Stange und Markus Greulich. Hg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 149–185, hier: S. 182; vgl. dazu auch Remigius Bunia: Die Stimme der Typographie. Überlegungen zu den Begriffen ‚Erzähler‘ und ‚Paratext‘, angestoßen durch die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E.T.A. Hoffmann. In: Poetica 37 (2005), S. 373–392, hier: S. 387. 163 Vgl. dazu S. 58–60, und für die Verbindung inhaltlicher Tradition und formeller Innovation das Kap. 2.1.2.
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gangenen Reise-Episoden erzielt, der Hinweis dient aber vor allem dazu, den Erzähler als einen Kundigen auszuweisen, der mit den Details von Fortunatus’ Leben und der Quellenlage bestens vertraut ist. Die größte Präsenz bei der Sinnstiftung gewinnt der Erzähler aber durch die Kommentierung von Geschehen und Gedankenrede der Figuren. Seine spezifizierenden oder modifizierenden Einschübe (vgl. F 1850, S. 12 und S. 3) stehen inhaltlich den oben erläuterten Motti nahe.164 Am schärfsten wendet er sich gegen Andolosius’ interpretative Strategie, Agrippina als „die Quelle all [s]eines Ungluͤ ckes“ zu brandmarken (F 1850, S. 49) und verallgemeinert seinen Kommentar zu einer moralisierenden Ermahnung des Lesers. Dieser solle anders als Andolosius „die Ursache [s]einer Fehler [nicht] auf andere [...] schieben“ (ebd.). Diese Leseranrede aktualisiert das Motto, mit welchem das erste Kapitel des Andolosius-Teils überschrieben ist und das die Möglichkeit, von den Fehlern der Figuren zu lernen, als eigentlichen Zweck der Romanlektüre ausweist. Andere Kommentare betreffen die von Fortunatus ausgeschlagene ‚Weisheit‘. Denn auch diese hätte seine Frau – wie der gewählte Reichtum – nicht in die Lage versetzt, ein drittes Mal schwanger zu werden, da sich „der Segen des Himmels“ nicht erzwingen lasse (F 1850, S. 32). Anlässlich von Kassandras Tod äußert sich der Erzähler ebenfalls deterministisch: „[D]ie Hand des Ewigen“ führe den Menschen eben zu jenem „Schicksal“, das ihm „bestimmt sey, noch ehe [sein Leben] beginnt“ (F 1850, S. 38). Insofern ist es konsequent, dass auch Andolosius später den gewünschten Tod nicht findet, der nach Angabe des Erzählers „nur unberufen die Gluͤ cklichen“, nicht aber „die Ungluͤ cklichen“ ereile (F 1850, S. 49). Der kontinuierliche Hinweis auf die Sterblichkeit des Menschen macht den Tod der Protagonisten in diesem Roman, der ja als eine Lebensbeschreibung betitelt ist, zum Telos des Erzählens; und der Erzähler expliziert damit in den angesprochenen Kommentaren die finale Motivierung des Werkes. Figuren sind ebenfalls „elementare[ ] Baustein[e]“ fiktionalen Erzählens und haben eine „sinnkonstituierende[ ] [...] Funktion“.165 Die Einschaltung verschiedener Figuren ermöglicht die perspektivierte Darstellung konkurrierender Lebenskonzepte innerhalb derselben erzählten Welt und verschiedene Ausdeutungen eben dieser Welt. Sie sind nicht nur Teil der histoire, sondern auch des
164 Vgl. S. 56f. – Nimmt der Prosa- gegenüber dem Versroman das didaktische Moment der Erzählerrede zurück (vgl. Carola Voelkel: Der Erzähler im spätmittelalterlichen Roman. Frankfurt a. M. u. a. 1978 [EuHS-1 263], hier: S. 300; vgl. dazu auch insgesamt ebd., S. 293–303), so zeigt sich an diesem Beispiel eine Trendumkehr innerhalb der späten Überlieferungsgeschichte. 165 Elke Platz-Waury: Art. Figur3. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Gemeinsam mit Harald Fricke u. a. Hg. von Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, S. 587–589, hier: S. 587.
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discours166 und treten als selbstständige Perspektiventräger neben die anderen sinnstiftenden Dimensionen eines Romans. Innerhalb der Prosaroman-Geschichte vor allem des sechzehnten Jahrhunderts beobachten Renate Wiemann und JanDirk Müller eine Tendenz zur Psychologisierung und Verinnerlichung des Romanerzählens, wobei insbesondere durch den Einsatz von Gesprächen und Briefen eine psychologische Tiefenwirkung erzielt werde.167 Im Druck von 1850 werden immer wieder – aber nicht konsequent – Anführungszeichen zur Kennzeichnung der Redeanteile von Figuren verwendet und einzelne Handlungen wie Ampedos Raserei gegen das Wunschhütlein besser motiviert (vgl. F 1850, S. 62). Auch erhält der finale Agrippina-Andolosius-Teil mit ihren Rachegelüsten und seinem unbestimmten Maß an Restliebe einen emotionalen Zug (vgl. F 1850, S. 60). Doch das Gros der Figurencharakterisierungen in dieser Redaktion ist moralisierender Natur und schließt an den paratextuell entwickelten Zusammenhang von Tugend und Lohn, Schuld und Strafe an. Fortunatus’ Vater Theodor bekennt selbst, sich „versuͤ ndiget“ zu haben, während der Erzähler klarstellt, dass Gratiana als seine „unschuldige Genossin“ „ein Schicksal“ tragen müsse, „welches sie nicht verdient“ habe (jeweils F 1850, S. 5). Ihrem geistlichen Stand entsprechend ist die Charakterisierung der Hörner verleihenden Zauberäpfel durch die namenlose Äbtissin allegorisch zu verstehen und auf Agrippina zu beziehen: Bei beiden sei „[n]ur die Rinde [...] suͤ ß“, dagegen stecke „ein bitterer Kern [...] in dieser falschen Frucht“ (F 1850, S. 58). In der Figur des Fortunatus überlagern sich mindestens zwei Konzepte der Weltdeutung.168 Die Redaktion kürzt seinen Sterbemonolog um einige Aspekte zum angemessenen Gebrauch der Glücksgüter und bricht elliptisch eben an jener Stelle ab, an welcher er im Erstdruck die diesseitigen Konsequenzen unvorsichtigen Handelns aufzeigt (vgl. F 1850, S. 39). Stattdessen lässt er seine Söhne wissen, dass er sich des „gluͤ cklichen Uebertrittes in das bessere Leben“ freue (ebd.). Damit wird an der Scharnierstelle der beiden Hauptteile des Romans das christliche Lebenskonzept aktualisiert.
166 Vgl. Markus Stock: Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarb. v. Carmen Stange und Markus Greulich. Hg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 187–203, hier: S. 191. 167 Vgl. Wiemann: Erzählstruktur im Fortunatus, S. 295; Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 91 f. – Zum sinnstiftenden Einsatz von Dialogen bei Thüring von Ringoltingen vgl. Catherine Drittenbass: Aspekte des Erzählens in der Melusine Thürings von Ringoltingen. Dialoge, Zeitstruktur und Medialität des Romans. Heidelberg 2011 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), hier: S. 135 f. und S. 167–241. 168 Ein drittes Konzept, Ehe und Familie betreffend, stelle ich weiter unten vor.
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Ansonsten untersteht die Lebensgeschichte des Fortunatus aber Fortuna – die Glücksgüter prägen die Figur. Den Selbstvorwürfen seines Vaters begegnet er mit entgrenztem Optimismus, da ihm „eine ganze Welt, mit allen ihren Freuden und Schaͤ tzen“ offen stehe (F 1850, S. 5). Schon hier leitet ihn eine Sehnsucht nach Weltweite und er hofft, „[s]ein Gluͤ ck jenseits des Meeres zu finden“ (ebd.). Diese Hoffnung erhält er sich auch noch in London nach dem Verlust allen Besitzes, wo er sich von seiner Buhlin erfolglos „zwey Kronen“ erbittet, um in Frankreich „[s]ein Gluͤ ck [zu] finden“ (F 1850, S. 8). In der Picardie erhält er mit dem Säckel das erste Glücksgut und in indirekter Gedankenrede erfährt der Leser von Fortunatus’ interpretativer Weltdeutung, nach der es der Wille „hoͤ chte[r] Maͤ chte“ gewesen sei, ihn nicht nur „reich“, sondern zum „Besitzer aller Tugenden“ zu machen (S. 13).169 Der Protagonist wähnt sich damit nicht nur in der Lage, über irdischen Reichtum zu verfügen, sondern in einer der Glücksgöttin äquivalenten Position.170 Mit der Gewinnung des Wunschhütleins gehen weitere Eigenschaften Fortunas auf Fortunatus über, nämlich ihre ‚Ubiquität‘ und ‚Eile‘.171 Der Fortunatus der Redaktion von 1850 bereist mit Hilfe des Hütleins nicht nur die damals bekannte Welt, seine Reiseaufzeichnungen werden nach Angabe des Erzählers später von Christoph Kolumbus bei der Entdeckung Amerikas benutzt (vgl. F 1850, S. 37 f.). Potentiell versetzt ihn das zweite Wundergut also in die Lage, Reichtum in beliebiger Menge an jedem Ort seiner Wahl spenden zu können. Da Fortunatus für diese Reisen vortäuscht, sich für die christliche Andacht zurückzuziehen, dominiert die Fortuna-Komponente trotz der oben zitierten Worte in der Sterbeszene die Figur des Helden. Fällt bei der Analyse paratextueller Dimensionen der Widerspruch von Titelbild und Haupttext auf, so ließe sich die Diskrepanz relativieren, wollte man die Darstellung Fortunas als symbolische Vorausdeutung auf die Figur des Protagonisten fassen. Wie bei der Literaturproduktion des hohen Mittelalters steht auch noch nach Aufklärung und Romantik die Bearbeitung einer traditionsreichen Geschichte
169 Vgl. zu dieser Möglichkeit vom Glück zu erzählen Theisen: Narratives Problem, S. 155. 170 In den weiter unten analysierten Reisestationen Irland und Konstantinopel tritt Fortunatus als unverhoffter Glücksspender auf (vgl. F 1850, S. 19 und S. 23). Zwar teilt er das Gold im Gegensatz zu Fortuna mit Bedacht aus, die Wahl des Reisezieles beziehungsweise der zu beglückenden Person überlässt er aber anderen und setzt sich damit dem Zufall aus (vgl. F 1850, S. 18 und S. 21). 171 Kartschoke: Weisheit oder Reichtum, S. 217, sieht das Hütlein des Erstdrucks als Verkörperung „merkantile[r] Ubiquität“. Da die kaufmännische Komponente in der späten Redaktion jedoch stark reduziert ist (s. unten), überwiegt hier die Übereinstimmung mit der Fortuna-Bildlichkeit; Jan-Dirk Müller: Fortuna des Fortunatus, S. 236, spricht von der Eile als der „dem Glück gemäße[n] Bewegung“. – Zu weiteren Ausdeutungen des Hütleins vgl. die bei Stange: Herkunft, Leistung und Glück, S. 244/Anm. 72, angegebene Literatur.
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unter der Maßgabe des amplificare vel curtare.172 Werden weiter oben Unterschiede der Redaktionen von 1509 und 1850 immer wieder indirekt angesprochen, sollen im Folgenden Hinzufügungen, Auslassungen und Ersetzungen an einigen Beispielen als eigenständige Formen haupttextueller Dimensionen narrativer Sinnstiftung im Überlieferungsprozess eines Romans diskutiert werden. Da der Haupttext komplett überarbeitet ist, sind hier freilich nicht alle Varianten zu besprechen. Darüber hinaus steht außer Frage, dass die Veränderungen Ergebnis einer jahrhundertelangen Textgeschichte sind und nicht alle vom Redaktor der späten Fassung herrühren.173 Ein hervorstechendes Merkmal der späten Redaktion ist die sprachliche Überarbeitung des gesamten Textes. Insbesondere fällt dabei das ‚empfindsam-galante‘ Vokabular auf.174 Mit dessen Hilfe wird den erzählten Emotionen größere Ausdruckskraft verliehen und der Leser zum affektiven Nachvollzug der Handlung eingeladen. So wird Fortunatus, als er bei seiner Rückkehr in die Heimat „[b]alsamische Luͤ fte“ atmet, von „Heilige[n] Gefuͤ hle[n]“ „durchschaudert[ ]“ (F 1850, S. 25). Bei der Wahl seiner Braut kann er „beinahe in ihre Locken athmen, und der suͤ ße Hauch ihres Mundes wehet[ ] ihn an“ (F 1850, S. 29). Und die entstellte Agrippina entzieht sich aller Repräsentationspflichten mit Hilfe eines „politische[n] Fieber[s]“ (F 1850, S. 52). Neben Paratexten wie der Vorrede, den Kapitelüberschriften oder dem Nachwort sind Details wie der Abriss von Fortunatus’ Elternhaus (vgl. F 1850, S. 26) oder der intertextuelle Vergleich von Agripina mit Amaley (vgl. F 1850, S. 41) ausgelassen. Es fehlen aber auch ganze Episoden wie der Abstieg zu St. Patricius’ Fegefeuer (vgl. F 1850, S. 20). Insgesamt lässt sich eine Tendenz, vorhandene 172 Vgl. hierfür Joachim Bumke: Retextualisierungen in der mittelalterlichen Literatur, besonders in der höfischen Epik. Ein Überblick. In: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Joachim Bumke, Ursula Peters. Berlin 2005 (ZfdPh 124, Sonderheft), S. 6–46, hier: S. 11, und darüber hinaus das Kap. 2.1.2 dieser Arbeit. 173 Zu einigen „Auslassungen, Abänderungen, Zusätze[n] und Kürzungen“ des Frankfurter Druckes von 1549 vgl. Valckx: Volksbuch, S. 100 f. (das Zitat ebd., S. 101), sowie Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 49. 174 Die Redaktion verwendet diesen Begriff bei der Beschreibung Agrippinas selbst, die beim Gespräch zwischen Andolosius und Ampedo als die „galanteste[ ] Prinzessin“ gilt (F 1850, S. 57). – Die Tendenz ist allerdings nicht so stark ausgeprägt wie in der späten Neubearbeitung von Thürings Melusine, die als Historische Wunder-Beschreibung bekannt ist (vgl. dazu Florian Gelzer: Die HWb-Fassung der Melusine im Umfeld der Romanproduktion und -reflexion des frühen 18. Jahrhunderts. In: Historische Wunder-Beschreibung von der so genannten Schönen Melusina. Die „Melusine“ [1456] Thürings von Ringoltingen in einer wiederentdeckten Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert. Edition und Beitr. zur Erschließung des Werkes von Catherine Drittenbass u. a. Hg. von André Schnyder. Berlin 2014 [Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben 14], S. 689–702, hier: S. 699–701).
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Nebenhandlungen zu verkürzen, feststellen. Da jedoch auch neue Szenen und – wie oben zu sehen – etliche Erzählerkommentare hinzukommen, ist diese Art des Wiedererzählens nicht mit jener Bearbeitungsweise der Reduzierung auf die summa facti zu verwechseln, die für den Übergang von Vers- zu Prosaroman vielfach herausgearbeitet worden ist.175 Folge dieser Umarbeitung ist eine räumliche Verengung des Hauptgeschehens: Andolosius’ Fahrten nach Schottland und auf die iberische Halbinsel sind entfallen, die Agrippina-Handlung ist von London nach Paris verlagert (vgl. F 1850, S. 41), die eigentlich in Frankreich angesiedelten Abenteuer des zweiten Hauptteils sind dagegen ersatzlos gestrichen.176 Auch in der jiddischen Übertragung fehlt die Episode mit der untergeschobenen Buhlin – nach Vermutung von John A. Howard aufgrund ihrer Anstößigkeit.177 Doch hat ihr Fehlen Konsequenzen für die Zeichnung der Figur und für die Tonlage der Erzählung. In der Fassung von 1509 wird Andolosia in Frankreich zum Schwankhelden: Mit einer untergeschobenen Buhlin niederen Standes betrogen gelingt ihm Revanche, wenn er die Betrügerin in einen Rechtsstreit verwickelt, der sie um ihre Beute bringt (vgl. F 1509, S. 512 f.).178 In der Redaktion von 1850 dagegen verfällt Andolosius sogleich Agrippina und keine seiner Listen vermag es, ihm dauerhafte Genugtuung zu verschaffen. Die Kürzung betrifft die heitere Seite des Romans und zwar in Form jener Nebenschauplätze des Erst
175 Vgl. stellvertretend Brandstetter: Prosaauflösung, S. 162. 176 Ebenso sind die Reisestationen zwischen Konstantinopel und Venedig übergangen (vgl. F 1850, S. 25). Darüber hinaus findet Fortunatus’ Orientreise kein narratives Interesse und wird gedrängt auf nur fünf Zeilen erzählt (vgl. F 1850, S. 34). Ebenfalls führen seine heimlichen Abenteuer mit dem Wunschhut zu keiner Ausdehnung der erzählten Welt (vgl. F 1850, S. 37 f.). – Nur eingeschränkt lässt sich die modifizierte Andreas-Episode unter dem Gesichtspunkt der räumlichen Verengung fassen (vgl. F 1850, S. 9 f.). Zwar flieht der Mörder nach der Tat nicht länger in die Heidenschaft, sondern nach Paris, schwerer wiegt jedoch, dass er anders als in der älteren Tradition erfolgreich die Juwelen erbeutet. Für die Konsequenzen dieser Variation vgl. nun meinen Aufsatz Sebastian Speth: Pikarische Kinder des Glücks. Erzählte Zufälle bei Johann Beer und in einer moralisierenden Fortunatus-Redaktion. In: Pikarische Erzählverfahren. Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Jan Mohr, Carolin Struwe, Michael Waltenberger. Berlin, Boston 2016 (Frühe Neuzeit 206), S. 179–203. 177 Vgl. John A. Howard: Einleitung. In: Fortunatus. Die Bearbeitung und Umschrift eines spätmittelalterlichen deutschen Prosaromans für jüdisches Publikum. Hg. von John A. Howard. Würzburg 1991 (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie 11), S. VIII–XIV, hier: S. XIIf. 178 Nach den Formtypen Herrmann Bausingers handelt es sich um eine Variante des ‚Steigerungstyps Revanche‘, da der Edelfrau zunächst der Betrug am ständisch niedriger stehenden Andolosius gelingt, sie den Gewinn jedoch am Ende einbüßt und öffentlich bloßgestellt wird (vgl. Hermann Bausinger: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9/1 [1967], S. 118–136, hier: S. 127 f.).
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drucks, die für die Haupthandlung folgenlos bleiben, was dort mit erzählerischer Freiheit einhergeht. Gemeinsam mit den moralisierenden Kommentaren verleihen derartige Streichungen der Redaktion von 1850 dagegen eine verbindliche Schwere und eschatologischen Ernst, der dem Erstdruck zwar nicht gänzlich fremd ist, ihn jedoch keineswegs bestimmt. Entgegen der vorherrschenden Kürzungstendenz fügt die Redaktion jedoch auch neue Szenen hinzu. Zwei solcher Teilepisoden konfrontieren Fortunatus, der zuvor die Verarmung seiner Eltern erfährt, mit idealisiertem Familienglück und einer drohenden Familientragödie. Seinen treuen Reisegefährten Leopold begleitet er nach Irland und lernt dort dessen Frau, Kinder und Enkel kennen (vgl. F 1850, S. 19). Der liebevolle Empfang des heimgekehrten Familienoberhaupts rührt den Helden zu Tränen. Der Erzähler mutmaßt, Fortunatus hätte „fuͤ r eine Minute solcher Seligkeit“ „gerne seinen Seckel“ geopfert (ebd.). Diese Erzählerperspektive stimmt mit jenem Motto überein, mit dem das Kapitel von der Begegnung mit Fortuna überschrieben ist und das Zufriedenheit als größtes Gut ausweist (vgl. F 1850, S. 10). Doch findet dies keine Bestätigung auf Handlungsebene. Fortunatus nutzt lediglich seinen Reichtum, um die Hausgemeinschaft mit finanziellen Mitteln zu versehen – jedoch mit Augenmaß, um den häuslichen Frieden nicht zu gefährden. Trotzdem ist festzuhalten, dass die Redaktion von um 1850 mit dem Familienthema eine Erweiterung eines Bewertungsmaßstabes in die Geschichte einführt, der im Erstdruck noch ganz auf die Vermittlung von Wissen innerhalb der Erziehung verengt ist. Dieser neue Zusammenhang muss bei einer Einschätzung der Lebensgeschichten Andolosius’, Ampedos und ihres Vaters bedacht werden. Zunächst stattet Fortunatus gemäß seiner Vereinbarung mit Fortuna in Konstantinopel die arme Elmire zur Ehe aus. Anders als im Erstdruck gibt es hier eine zusätzliche Szene, in der er auf Kairos Sohn trifft, dessen Vater aus Geldnot eine vorteilhafte Vernunftehe mit einer missgestalteten Kaufmannstochter arrangieren möchte (vgl. F 1850, S. 22). Anders als Kairo seinem Sohn und Theodor Fortunatus weiß letzterer dem Unglücklichen zu helfen. Er prüft die Liebenden, findet ihre Neigung bestätigt und ermöglicht vermittels seines Glückssäckels die Liebesheirat der Nachbarskinder (vgl. F 1850, S. 23 f.). Weist der Erzähler bei der IrlandFahrt noch auf eine vermeintliche Überlegenheit des Familienglücks im Vergleich mit Fortunatus’ unerschöpflichem Reichtum hin, berichtet er anlässlich der Aussteuer-Episode davon, dass der Held „zum erstenmale gluͤ cklich“ darüber gewesen sei, „daß er reich war“ (F 1850, S. 22). Da Armut familiäres Glück gefährdet, erweist sich der Reichtum als überlegen. Jedoch zeigt später einerseits die Andolosius-Handlung, dass auch Reichtum weder Ehe noch Nachkommen garantiert, und andererseits ist Fortunatus’ eigenes Dasein als Ehemann und Vater ambivalent angelegt. Er flieht das eingezogene Leben, zieht ein zweites Mal in die Welt
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(vgl. F 1850, S. 33) und bleibt auch nach seiner Rückkehr immer wieder für eine halbe Woche seiner Familie fern (vgl. F 1850, S. 37). Darüber vermag es all sein Reichtum nicht, Kassandra zu einer dritten Schwangerschaft zu verhelfen (vgl. F 1850, S. 32), ihren frühzeitigen Tod zu verhindern und seinen Söhnen den richtigen Umgang mit den Glücksgütern zu lehren (vgl. F 1850, S. 38 f.). Da auch sie ehe- und kinderlos versterben, führt die höhere Gewichtung des Familienthemas dazu, den ohnehin in der Katastrophe endenden Roman noch pessimistischer zu färben.179 Dabei ist es eine Konstante der Andolosius-Geschichte, dass er Agrippina nicht für sich gewinnen kann. Vor dem neuen Hintergrund von Ehe- und Familienleben zeigt sich aber die ganze Problematik, wenn Andolosius nach den Abenteuern um das Wunschhütlein die begehrte Königstochter zunächst im Kloster verwahrt, während er selbst „viel Kurzweil mit schoͤ nen Frauen und Jungfrauen“ treibt (F 1850, S. 56), um sie letztlich nicht nur einem anderen zu überlassen, sondern sogar die Hochzeit der beiden vorzubereiten (vgl. F 1850, S. 59 f.). Während sich in ihm unbewusst Zeichen der Liebe regen, sinnt Agrippina auf Rache und wird sich mit seinen späteren Mördern verschwören (vgl. F 1850, S. 60 f.). Die zentralen Konfliktlinien des Erstdrucks – Reichtum und Weisheit, Handel und Adel, Weisheit und Unvernunft – haben sich 1850 verlagert. In der Fortunatus-Handlung spielt das Kaufmännische kaum noch eine Rolle. So gibt sich der Protagonist zwar in Ägypten noch als Kaufmann aus, treibt aber keinen Handel mehr und auch sein Schiff schickt er nicht mehr auf Handelsreise, sondern direkt nach Hause (vgl. F 1850, S. 34).180 Andolosius schlägt in dieser Redaktion keine Grafentochter zur Ehe aus, sodass ihm am Ende auch der Vorwurf des Hochmuts erspart bleibt (vgl. F 1850, S. 63). Bestand hat aber die Schelte des Erzählers, dass
179 Schon früh im Romantext wird diese neue Ausrichtung bei der Überarbeitung vorbereitet. Denn die 1850er Redaktion modifiziert Fortunatus’ Aufenthalt in Flandern (vgl. F 1850, S. 6 f., und F 1509, S. 395–404), wobei sie nicht nur die Handlung vorantreibt, sondern auch ein entscheidendes Detail ändert. Rupert unterhält sich hier privatim mit Fortunatus über die Gräfin, in deren Dienst dieser bereits eingetreten ist. Daher kann Rupert hier anders als im Erstdruck nicht vorgeben, dass Fortunatus ausgeschnitten werde, ehe er der Herrin dienen dürfe. Deswegen gibt Rupert vor, der Graf rase, da er den Helden für den Geliebten seiner Frau halte. Es fehlt damit die symbolische Verbindung von gefährdeter Sexualität und bedrohtem Reichtum, die Wailes: Potency, S. 6–9, herausarbeitet: also die Entsprechung von „anatomical seckel“ und „the seckel of Fortune“ (ebd., S. 8). Stattdessen aber stärkt die fingierte Gefahr die Opposition von Eheleben und unordentlicher Liebe. 180 Die zweite Hochzeitsfeier für die Bürger ist entfallen (vgl. F 1850, S. 29) und bereits bei Fortunatus’ Erziehung ist der Konflikt zwischen Ritter- und Bürgertum entschärft, wenn der Held anstelle einer rein ritterlichen Ausbildung „[k]oͤ rperliche Uebungen“ und „muͤ tterliche Ermahnungen“ erfährt (F 1850, S. 5).
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er die Schuld für sein Unglück bei anderen suche (vgl. F 1850, S. 49).181 Verhilft der zypriotische König seinem angesehenen Vater, sobald sich dieser auf die Suche nach einer Ehefrau begibt, zu einer Grafentochter, so macht er Andolosius lediglich zum Brautwerber für den eigenen Sohn (vgl. F 1850, S. 27 und S. 57 f.) und Andolosius stirbt wie sein Bruder ohne Frau und kinderlos (vgl. F 1850, S. 62 f.). Indem die moralisierenden Kommentare des schreibenden Erzählers und die paratextuellen Motti ‚Familie‘ als neuen Wertungsmaßstab in den Kaufmanns- und Kontingenzroman einführen, entsteht eine moralisch-galante Redaktion, die neue (didaktische) Perspektiven auf die Lebenskonzepte der Figuren und die Deutung der erzählten Welt eröffnet.
1.2.3 Strukturelle Dimensionen Unter ‚strukturellen Dimensionen‘ werden in dieser Arbeit nicht nur die globale Architektur eines Romans und die vorherrschenden Erzählschemata verstanden, sondern auch der Einsatz von Parallelstellen und die Aufteilung des Textes in verschiedene Kapitel und Absätze. Der Fortunatus ist auch in der Redaktion von 1850 als ‚Generationenroman‘ angelegt, wobei nur knapp zwei Prozent der Handlung auf die Großeltern entfallen.182 Das Gros des Textes teilt sich zwischen Fortunatus (58 Prozent) und seinen beiden Söhne (38 Prozent) auf. Die Verteilung der Handlung auf mehrere Generationen macht deren jeweilige Weltdeutung und Lebenskonzepte vergleichbar und ermöglicht es insbesondere, einerseits von Aufund Abstiegen im Wechsel zu erzählen und andererseits aufzuzeigen, dass es Konstanten gibt, die von der Disposition einzelner Figuren unabhängig sind.
181 Noch bei der zweiten Rückkehr zu seinem Bruder gibt er Ampedo zu verstehen, dass er deshalb nicht verzagt sei, da es „schaͤ ndlich“ wäre, „sein eigenes Ungluͤ ck nicht [zu] ertragen“, wenn man „daran nicht schuld“ sei (F 1850, S. 57). 182 Zum Problemfeld von Vater-Sohn-Erzählungen vgl. Michael Mecklenburg: Väter und Söhne im Mittelalter. Perspektiven eines Problemfeldes. In: Das Abenteuer der Genealogie: Vater-SohnBeziehungen im Mittelalter. Hg. von Johannes Keller, Michael Mecklenburg, Matthias Meyer. Göttingen 2006 (Aventiuren 2), S. 9–38. Zum genealogischen Erzählen am Beispiel der Melusine vgl. Beate Kellner: Aspekte der Genealogie in mittelalterlichen und neuzeitlichen Versionen der Melusinengeschichte. In: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Kilian Heck, Bernhard Jahn. Tübingen 2000 (StTSozgeschLit 80), S. 13–38; Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München. 2004, hier: S. 397–471, sowie Michael Ott: Genealogisches Erzählen, S. 215–226, der das dem Roman zugrundeliegende Erzählschema als „‚Genea-Logik‘“ bezeichnet (ebd., S. 221); zum Fortunatus ebd., S. 230; Kellner: Geheimnis der Macht, S. 309–311 und S. 329, sowie Stange: Herkunft, Leistung und Glück, S. 217–234, mit weiteren Literaturangaben.
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Ausgehend von den weiter oben herausgearbeiteten Themen des Werkes vergleiche ich die Mitglieder der Großfamilie in Bezug auf ihre Stellung gegenüber Fortuna und ihren Glücksgütern, ihr Verhältnis zur Familie und zum anderen Geschlecht und in Bezug auf ihre Tugend- beziehungsweise Sündhaftigkeit. Aufgrund der Nähe der Generationenstruktur zur haupttextuellen Dimension der ‚Figur‘ kommt es im Folgenden zu Überschneidungen mit dem bereits weiter oben Ausgeführten. Theodor erbt sein Vermögen, es wird ihm also passiv zuteil, und er jammert über dessen Verlust (vgl. F 1850, S. 3–5). Fortunatus zieht dagegen in die Welt, um sein Glück woanders zu finden, wenn es ihm im Elternhause verwehrt bleibt (vgl. F 1850, S. 5). Er spielt eine aktive Rolle und verdient sich sein Glück durch maximale Unterwürfigkeit und dienstbare Leistungsfähigkeit (vgl. F 1850, S. 6 f., S. 9 und S. 28).183 Trotz Rückschlägen behält Fortunatus anders als seine Söhne stets die Handlungsmacht und kann sich aus Notlagen befreien.184 Er hegt mögliche Zufälle ein und ergreift seine Chance, sobald sie sich ihm bietet.185 Und das Glück will Fortunatus wohl: Er findet Dienste, rettet sich aus größten Gefahren und begegnet Fortuna selbst.186 Er wählt sein Glück(sgut) und erklärt die erlittene Not zur notwendigen Voraussetzung für sein Glück (vgl. F 1850, S. 13). Später führt er Fortunas Befehle getreu aus (vgl. F 1850, S. 21–24). Jedoch scheitert die geregelte Vererbung der Glücksgüter: Fortunatus verstirbt, ehe er seinen Söhnen die Konsequenzen eines unvorsichtigen Gebrauchs aufzeigen kann (vgl. F 1850, S. 39). Sie werden daher nicht aus Fremder Schaden klug, wie es die Dimension der Motti fordert (vgl. F 1850, S. 17). Andolosius verliert die Glücksgüter leichtfertig (vgl. F 1850, S. 44 und S. 48) und Ampedo zerstört mit dem Wunschhütlein die einzige Hoffnung auf Errettung seines Bruders (vgl. F 1850, S. 62). Doch zwischenzeitlich wehrt Andolosius die List des französischen Königs erfolgreich ab, hat Erfolg als falscher Arzt und bringt die
183 Maximale Unterwürfigkeit und maximale Leistungsfähigkeit konstituieren das Heldentum im Prosaroman. 184 Sinnfällig wird der Unterschied anhand der Kontraststellen, die Fortunatus und Andolosius jeweils auf einem Baum zeigen. Während der Vater sich des Angriffs eines Bären erwehren kann (vgl. F 1850, S. 11), fällt der Sohn – von der falschen Geliebten um die Glücksgüter gebracht – ohnmächtig herab (vgl. F 1850, S. 48). 185 Er versieht die schwangere Kassandra mit einem Witwensitz (vgl. F 1850, S. 30 f.) und legt für sie vor seinem Aufbruch in die Welt einen Schatz an (vgl. F 1850, S. 33). In Ägypten listet er dem Sultan das wohlverwahrte Wunschhütlein ab (vgl. F 1850, S. 36). 186 Ohne Verzögerung kommt er beim flandrischen Grafen und Hyronimus zu Diensten (vgl. F 1850, S. 6 und S. 9). – In London hat er schon die Schlinge „um den Hals“ (F 1850, S. 10), beim Waldgrafen kommt ihm ein Fuchs zur Hilfe (vgl. F 1850, S. 16) und aus Konstantinopel entkommt er als ein flüchtiger Mörder (vgl. F 1850, S. 25).
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Glücksgüter wieder in seine Gewalt (vgl. F 1850, S. 41 und S. 53 f.). Sogar noch nach Verlust des Säckels erhält er sich die Zuversicht, sein Glück wiederzufinden (vgl. F 1850, S. 46). Warum aber kann er anders als Fortunatus dem Kerker nicht mehr entkommen (vgl. F 1850, S. 61–63)? Der Unterschied zwischen Vater und Sohn relativiert sich, wenn man berücksichtigt, dass auch Fortunatus am Lebensende sein Glück verliert. Mit Kassandras Tod wird diejenige Figur, die bislang jedem Unglück trotzt, ‚reif gemacht‘ (vgl. F 1850, S. 32, Motto), um zu sterben. Nicht nur für Reiche und Arme ist der Tod in dieser Redaktion ein Gleichmacher (vgl. F 1850, S. 37, Motto), alle finden hier den Tod: die Verschwörer, der liebesblind-aktive sowie der häuslich-passive Sohn, das Glückskind Fortunatus, seine tugendhafte Ehefrau, der ausschweifende Großvater und die duldsame Großmutter. Die Vergänglichkeit des irdischen Glücks und Lebens verbindet die drei Generationen des Romans und erweist sich als strukturelle Konstante, auf die hin die Lebensbeschreibung von Fortunatus Wuͤ nschhuͤ tlein ausgerichtet ist. Was die Thematik von Ehe- und Familienleben anbetrifft, würde es die Komplexität des Romans reduzieren, wollte man Fortunatus und Kassandra als Positivbeispiel den anderen beiden Generationen gegenüberstellen. Der junge Theodor pflegt einen leichtfertigen Lebenswandel, bis ihn die Ehe mit der gesitteten Gratiana diszipliniert (vgl. F 1850, S. 3 f.). Doch einerseits diskreditiert der Erzähler die Institution der Ehe als Instrument der Charakterbildung (s. oben) und andererseits ist der Erfolg der Kur auf Handlungsebene nur von kurzer Dauer (vgl. F 1850, S. 4 f.). Stattdessen führt Theodor seine unbescholtene Gattin in die Verarmung. Dass es sich bei Ruperts List, Fortunatus unterhalte eine unordentliche Liebesbeziehung mit der flandrischen Gräfin, um reine Erdichtung handelt, ist zwar symptomatisch für die tugendsame Lebensführung seiner Jugendzeit, doch zeigt die nächste Episode Fortunatus bereits als Buhler in London (vgl. F 1850, S. 7 f.). Dies überrascht umso mehr, als gegenüber dem Erstdruck entfallen ist, wie ihn Rupert in die schlechte Gesellschaft einführt, wodurch dort die weiteren Ereignisse vorbereitet sind.187 Dies stimmt jedoch mit der ambivalenten Zeichnung der Figur in der späten Redaktion überein, die vor allem daher rührt, dass hier Fortunatus selbst und nicht Leopold den diebischen Wirt in Konstantinopel ermordet (vgl. F 1850, S. 24 f.). Und der Zwiespalt setzt sich im Liebesleben des Protagonisten fort. Nachdem er Leopolds Familienidyll kennenlernt, begehrt Fortunatus in der Heimat eine Frau zur Ehe. Auf der Brautschau lehnt er aufgeputzte „Zieraͤ ffchen“ (F 1850, S. 27) ab und vertraut der Wahl seines Königs (vgl. F 1850, S. 28). Unter den Töchtern des verarmten Grafen entscheidet er sich
187 Vgl. für eine Analyse der Stelle im Erstdruck Wailes: Potency, S. 6–9.
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für diejenige, die weder nur nach Reichtum noch allein nach Schönheit strebt (vgl. F 1850, S. 29 f.) – ein Votum für die tugendsame Liebe. Trotz der Geburt seiner beiden Söhne hält ihn das Eheglück jedoch nicht im Hause.188 Er zieht ein zweites Mal in die Welt (vgl. F 1850, S. 33) und täuscht seine Frau nach der Rückkehr über seine regelmäßigen Reisen mit dem geheimen Wunschhütlein (vgl. F 1850, S. 37). Erst im Tod erweist sich der Held erneut als Vorbild ehelicher Liebe und stirbt seiner jungen Frau alsbald nach (vgl. F 1850, S. 38 f.). Über Frauen in Ampedos Umfeld berichtet der Roman nichts. Er stirbt daher wie sein jüngerer Bruder ehe- und kinderlos. Andolosius ist dagegen ein Liebender. Doch fällt seine Wahl auf die „galanteste[ ] Prinzessin“ (F 1850, S. 57), deren Stand er nicht entspricht189 und deren fragwürdiger Charakter dem Leser von ihrem ersten Auftreten an, Andolosius aber spätestens mit dem Raub seines Säckels offenbar wird (vgl. F 1850, S. 41–45). Dennoch schreibt der Erzähler, als Andolosius am Ende Agrippina für einen anderen zur Braut geworben hat, von dessen Liebe für die Königstochter (vgl. F 1850, S. 60). Verflucht Andolosius seine Liebe zu ihr bereits zuvor (vgl. F 1850, S. 49) und sucht er in der Zwischenzeit Zerstreuung mit „schoͤ nen Frauen und Jungfrauen“ (S. 58), statt eine ordentliche Verbindung anzustreben, so bringt ihn die wiedererlangte Nähe zu Agrippina letztlich um. Dies stellt den eigentlichen Kontrast zur Lebensgeschichte des Vaters dar. Denn während der Unterschied zwischen Theodors und Fortunatus’ Eheleben nur graduell ist, bleibt die dritte Generation ohne Partner und, wie es bereits in der Beschränkung der Wirkungskraft des Glückssäckels auf zwei Generationen angelegt ist (vgl. F 1850, S. 13),190 ohne Nachkommen. Eine Chance, den rechten Umgang mit der Welt und den Glücksgütern zu erlernen, gewährt ihnen der Roman nicht. Sie sterben früh und der Erzähler macht darauf aufmerksam, dass „bis auf den heutigen Tag“ „die Ursache“ für Ampedos „schnelle[s] Ableben[ ]“ „nicht entdeckt werden“ konnte (F 1850, S. 62). Der frühe Tod der Söhne ist aber ein Mittel, die paratextuell etablierten Lehren durch die globale Struktur der Handlung zu bestätigen.191 Fortunatus kommt „[n]ackt“ und „blos“ (F 1850, S. 3, Motto) auf die (erzählte) Welt und, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen, verstirbt sein Geschlecht in zweiter Generation (vgl. F 1850, S. 63). Was bleibt, ist die moralische Lehre für den Rezipienten.
188 Kellner: Geheimnis der Macht, S. 327, spricht in Bezug auf den Erstdruck von „Langeweile“. 189 In der Redaktion von 1850 fehlt allerdings die Weigerung von Fortunatus’ Sohn, eine spanische Grafentochter zu ehelichen. Im Erstdruck handelt es sich um eine Kontraststelle zur Wahl Cassandras (vgl. F 1509, S. 473 und S. 514), wodurch die Standesanmaßung radikalisiert ist. 190 So auch Haubrichs: Glück und Ratio, S. 44; Michael Ott: Genealogisches Erzählen, S. 229. 191 Textgeschichtlich verhält es sich freilich anders herum. Die Struktur des Romans ermöglicht erst die spätere moralisierende Redaktion.
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Diese gewinnt durch das Generationenschema an Nachdruck, denn alle drei männlichen Vertreter vereinigen eine Vielzahl von Sünden auf sich und finden den Tod. Theodor vertut sein Erbe mit „Schmausereyen“, „Weiber[n]“ und der „Jagd“ (F 1850, S. 3). Er ist also als ein Kind der Welt gezeichnet, das weder diesseitige noch jenseitige Folgen seines Tuns bedenkt. Andolosius ist nicht weniger der Pracht verfallen (vgl. F 1850, S. 40 f.) und darüber hinaus gierig (vgl. ebd.), zornig (vgl. F 1850, S. 54 f.) und zu außerehelichen Rendezvous bereit (vgl. F 1850, S. 44 und S. 56), er übertölpelt den eigenen Bruder (vgl. F 1850, S. 47), täuscht die geliebte Frau (vgl. F 1850, S. 50–54) und gibt sein eigenes Handeln als göttlichen Willen aus (vgl. F 1850, S. 55 f. und S. 58). Er bekehrt sich nicht und hält am eingeschlagenen Lebenswandel fest (vgl. F 1850, S. 50). Schließlich ist durch die Intervention des Erzählers besonders gewichtet, dass er die Schuld für sein Unglück bei anderen sucht und die eigene Schuldhaftigkeit nicht erkennt (vgl. F 1850, S. 49 und S. 57). Entsprechend der parallelisierenden Struktur ist auch Fortunatus nicht ohne Fehl. Zwar ehrt er seine Eltern und den gealterten Freund (vgl. F 1850, S. 25 f., S. 31), hält die Ehe (vgl. S. 30 f. u. ö.), dient vorbildlich der Obrigkeit (vgl. S. 9) und spendet Almosen (vgl. S. 19 und S. 23 f.). Doch auch er täuscht Andacht vor (F 1850, vgl. S. 37), lügt (vgl. S. 15), mordet (vgl. S. 24), buhlt (vgl. S. 8) stiehlt (vgl. S. 36 f.), gibt sich der Kleiderpracht hin, maßt sich einen höheren Stand an (vgl. S. 14) und sucht Zerstreuung in der Welt (vgl. S. 33 und S. 37). Insofern prägt die dreifache Abfolge von weltverhaftetem Leben und erzähltem Tod die Struktur dieser Redaktion und nicht die Nuancen der Lebensläufe im Detail. Alle Helden des Geschlechts setzen sich aktiv (Fortunatus, Andolosius) oder passiv (Theodor, Ampedo) dem Glück der Welt, also Fortuna, aus. Keiner entflieht ihrem Machtbereich und wendet sich wie der Einsiedler Gott zu. Dass dies jedoch negativ markiert und Teil des didaktischen Gehalts des Romans wird, ist ein neuer Zug der späten Redaktion, der paratextuell (Motti), haupttextuell (Erzählerkommentare) und strukturell (Generationenschema) hervorgebracht wird. Nachfolgend gehe ich auf die Kapitelgliederung der Redaktion von um 1850 als Form struktureller Sinnstiftung ein. Im Zentrum steht die Frage, welche Episoden separat stehen und welche mit anderen in ein gemeinsames Kapitel zusammengezogen sind. Auch auf Rahmungserscheinungen von Motti, die hier die Zwischentitel ersetzen, und Kapitelschlüssen ist dabei einzugehen. Die Elternvorgeschichte umfasst kein eigenes Kapitel. Sie bildet gemeinsam mit Fortunatus’ Geburt, Erziehung und seinem Auszug auf die Suche nach dem Glück ein expositionelles Initiationskapitel, das den Übergang des Helden von der Herkunftsfamilie in ein Dienstverhältnis zeigt (vgl. F 1850, S. 3–6). Die folgenden vier Kapitel verbindet der jeweils einheitliche Handlungsort und die Geschlossenheit der Episoden, die an der Kapitelgrenze jeweils mit Fortu
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natus’ erfolgreicher Flucht enden. In Flandern steigt er in der Hierarchie des Hofes auf und entrinnt der durch Neider ersonnenen Bedrohung (vgl. F 1850, S. 6 f.). In London ist die Bewegung von Binnenerhebungen und Unglücksfällen verdoppelt, wobei die Andreas-Geschichte integraler Bestandteil des Kapitels ist und dadurch ganz in der Funktion aufgeht, den Helden in Lebensgefahr zu bringen (vgl. F 1850, S. 8–10). In der Picardie steht Fortunatus nicht länger am Rand der menschlichen Gesellschaft, sondern außerhalb derselben, wird von wilden Tieren bedroht und findet im Schlaf auf dem Rücken eines getöteten Bären sein Glück (vgl. F 1850, S. 10–13). Die Waldgrafen-Episode wiederholt das Schema: Sie stellt einen Aufstieg vor, wenn sich Fortunatus mit Hilfe des neuen Reichtums stärkt, neu einkleidet und mit schönen Pferden versieht. Daran schließt sich mit der Gefangennahme, dem kurzen Prozess und dem Todesurteil ein rapider Abstieg mit Gefahr für Leib und Leben an, dem Fortunatus gerade noch entkommt (vgl. F 1850, S. 13– 16).192 Ist die Eifersucht des Grafen in Flandern nur erdichtet und sind die Mordvorwürfe falsch, aber die Bedrohung durch den englischen Henker real, so bringt sich Fortunatus, indem er sich im französischen Wald verläuft und den Waldgrafen beim Pferdekauf aussticht, selbst in Lebensgefahr. Die vier Kapitel führen den Helden nach kurz anhaltenden Glücksmomenten stets ins Unglück,193 was Fortunatus nachträglich zur Voraussetzung erklärt, das seit dem Ende des Eingangskapitels gesuchte Glück endlich zu finden (vgl. F 1850, S. 13). Die inhaltliche Geschlossenheit fehlt dagegen den folgenden Kapiteln ebenso wie die Einheit des Ortes. Das Auf und Ab des Glückes korrespondiert nicht länger mit den Abschnittsgrenzen. Im sechsten Kapitel steigert Fortunatus die Sichtbarkeit seines Reichtums und gewinnt den erfahrenen Leopold zum Reisegefährten (vgl. F 1850, S. 17 f.). Das drohende Unheil zeichnet sich jedoch am Ende des siebten Kapitels ab, wenn die Reisegesellschaft in Konstantinopel Quartier in einem präparierten Zimmer bezieht (vgl. F 1850, S. 18–20). Doch auch das nachfolgende Kapitel verzögert die Katastrophe. Fortunatus wird zwar bestohlen, kann sich aber seines Reichtums freuen und gemäß seiner Verpflichtung die arme Elmire aussteuern (vgl. F 1850, S. 21–24). Aufgrund der parallel verlaufenden Handlungsabfolge der vorstehenden Kapitel erwartet der Rezipient dieser Redaktion den Umschwung des Glückes innerhalb eines jeden Abschnitts. Die abweichende Gestaltung des sechsten bis achten Kapitels vermittelt jedoch den Eindruck, dass Fortunatus nun durch die Verbindung mit dem welterfahrenen
192 Der Auftritt des rettenden Fuchses, mit dem das Kapitel schließt, ist durch das Motto vorbereitet, das für das Folgende eine „Fabel-Lehre“ ankündigt (F 1850, S. 13). Die Geschlossenheit der Episode ist damit strukturell gestärkt. 193 Zum Gegeneinander finaler Motivierung und kausaler Binnenbewegungen des Glücks anhand des Erstdrucks vgl. Jan-Dirk Müller: Fortuna des Fortunatus.
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Leopold gegen das widrige Geschick gefeit sei. Dies korrespondiert mit dem Motto, das die Kapitelfolge einleitet und den Leser auffordert, aus dem erzählten Schaden der Figuren klug zu werden (vgl. F 1850, S. 17). Entscheidend für die Einschätzung der Kapitelstruktur des Fortunatus-Teils ist die Frage, warum es keinen Einschnitt nach dem Mord am diebischen Wirt und der Flucht aus Konstantinopel gibt (vgl. F 1850, S. 24–28). In diesem Kapitel wird nämlich darüber hinaus von Theodors und Gratianas Tod, Fortunatus’ Bauprojekten und Brautschau sowie davon erzählt, dass der zypriotische König Kandidatinnen für die Partnerwahl des Protagonisten aussucht. Die eigentliche Wahl erfolgt dann allerdings erst im nächsten Kapitel. Das neunte ist jedoch mit einem Motto überschrieben, das eine Scharnierfunktion erfüllt, da sich der erste Teil („Ruhe und Glückseligkeit | Folgt der edlen That“, F 1850, S. 24, Motto) sowohl auf die Aussteuerung Elmires im achten Kapitel als auch auf die Einkehr ins Gasthaus des verbrecherischen Wirts bezieht. Der zweite Teil („Doch der Suͤ nd’ ist Straf bereit, | Eh man sie begangen hat“, ebd.) referiert auf dessen verhinderten Diebstahl. Damit deckt das Motto jenen Teil des Kapitels ab, nach dem gemäß der Struktur des zweiten bis fünften Kapitels ein Einschnitt zu erwarten wäre. Dass deren Struktur und nicht etwa der Aufbau der dazwischenliegenden Kapitel hier relevant ist, lässt sich durch eine haupttextuelle Änderung begründen. Erweist sich Leopold oben als entscheidender Faktor für die Variation des Fortgangs, so ändert die 1850er Redaktion hier ein entscheidendes Detail: Anders als im Erstdruck ist Fortunatus – und nicht Leopold – Mörder des diebischen Wirts. Die Aktion geht daher vom Garanten eingehegten Zufalls auf jene Figur über, die sich offensiv dem Glück ausliefert (vgl. F 1850, S. 24). Leopold, der die Gesetze des Landes kennt, kann nur zur Flucht mahnen (vgl. F 1850, S. 25). Er empfiehlt also gerade jene Option, mit der die Kapitel der ersten Gruppe jeweils abschließen. Jedoch kehrt die Redaktion strukturell nicht in das Schema von Fortunatus’ Jugendabenteuern zurück, da das Kapitel nicht mit der Flucht des Helden endet. Er zieht erstmals zurück in die Heimat, ehrt die verstorbenen Eltern und gewinnt mit dem König eine einflussreiche Helferfigur, die ihm zu einer vorbildlichen Ehefrau verhilft. Fortunatus erhält dabei erneut die Möglichkeit, sein Glück selbst zu bestimmten. Doch erwählt er nicht einfach eine der drei Grafentöchter, sondern er gleicht seine Präferenz mit Leopolds Meinung ab. So lässt sich begründen, dass das inhaltlich verwandte zehnte Kapitel ebenfalls nicht mit der Flucht des Helden endet. Hier wählt und heiratet Fortunatus Kassandra und wird Vater (vgl. F 1850, S. 28–32). Indem allerdings mit Leopolds Tod eine Katastrophe das Kapitel beschließt, ist inhaltlich wie strukturell eine Rückkehr zum oben ausgeführten Schema der frühen Romankapitel angelegt. Die letzten drei Fortunatus-Kapitel zeichnen sich jeweils wieder durch eine Glücksbewegung am Beginn und durch einen Unglücksfall mit anschließender
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Flucht des Helden am Ende aus: Der Geburt des zweiten Sohnes stehen die vergeblichen Bemühungen um eine dritte Schwangerschaft mit Fortunatus’ zeitweiligem Verlassen der Familie gegenüber (F 1850, S. 32 f.); auf die Wertschätzung des Sultans folgt mit der Entwendung des Hütleins dessen Zorn, der zu Fortunatus’ Flucht aus Ägypten und zu Massenhinrichtungen führt (vgl. F 1850, S. 33–37); schließlich fängt das 13. Kapitel mit einer Beschreibung familiären Glücks an und endet mit dem Tod der Eheleute, der Fortunatus der diesseitigen und damit der erzählten Welt entfliehen lässt (vgl. F 1850, S. 37–39). Mit dem 14. Kapitel geht die Handlung auf die beiden Söhne und vor allem auf Andolosius und die von ihm geliebte Agrippina über. Bereits das Ende dieses Kapitels bereitet den Leser darauf vor, dass dieser Teils erneut nach der Struktur radikaler Glückswechsel innerhalb eines Abschnitts organisiert sein könnte, denn „die Lehre seines Vaters“ sei „vergessen“ (vgl. F 1850, S. 40–43, das Zitat S. 43). Am ehesten entsprechen die nächsten beiden Abschnitte dem bekannten Schema, wobei das Motiv der Flucht modifiziert ist. Andolosius hofft auf ein Rendezvous mit Agrippina, dieses führt jedoch zur Katastrophe des Säckelverlustes, sodass Andolosius verarmt und beschämt nach Hause ziehen muss (vgl. F 1850, S. 43–46). Dort wird er brüderlich aufgenommen und kann trotz Ampedos Widerstand das Wunschhütlein an sich bringen. Auch den Plan einer Entführung von Agrippina mitsamt des entwendeten Säckels kann er erfolgreich in die Tat umsetzen, jedoch nur um am Kapitelende ohne Königstochter und ohne Zaubergüter bewusstlos von einem Baum herabzufallen (vgl. F 1850, S. 46–48). Diese Szene und seine Heimwendung am Ende des 15. Abschnitts entsprechen strukturell den verschiedenen Flucht-Bewegungen des Fortunatus-Teils, wirken jedoch weniger dynamisch und stattdessen resignativ. Das Wiedererlangen von Handlungsmacht ist hier keine Selbstverständlichkeit. Die vier folgenden Kapitel stellen Andolosius als Figur vor, die zwischen der intriganten Welt des französischen Königshofes und der Wildnis als Ort möglicher Bekehrung und Umkehr (Einsiedler und Nonnenkloster) hin und her irrt. Strukturell entspricht die Figur des Einsiedlers im 17. Kapitel Leopold aus dem Fortunatus-Teil (vgl. F 1850, S. 48–51), jedoch lehnt Andolosius dessen eigentliche Hilfe ab und begehrt lediglich Zauberäpfel. Der Einsiedler bemerkt daher, dass Fortunatus’ Sohn „nicht Willens“ sei, von „zeitlichen Dingen“ abzulassen und „zur Weisheit zuruͤ ck zu kehren“ (F 1850, S. 50).194 Die weiteren Kapitel sind daher
194 Die Redaktion erzählt auch für Agrippina die ‚abgewiesene Alternative‘ einer möglichen Bekehrung in dieser Wildnis. Zwar betet sie hier erstmals von Herzen (vgl. F 1850, S. 56), doch gibt sie sich eitler Selbstliebe hin, sobald Andolosius sie von ihren Hörnern kuriert (vgl. F 1850, S. 58).
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folgerichtig Andolosius’ Versuchen gewidmet, seine Glücksgüter zurückzugewinnen und Rache an Agrippina zu üben (vgl. F 1850, S. 51–59). Dabei gibt es eine zweite Szene, die eine Kontraststelle im Fortunatus-Teil des Romans aufweist. Der Sohn kehrt wie der Vater nach Famagusta zurück, doch während Fortunatus vom König Zyperns eine Braut erhält, muss Andolosius die eigene Favoritin für den Prinzen werben (vgl. F 1850, S. 57 f.). Die Diskrepanz erwächst aus der jeweils unterschiedlichen Bereitschaft, erfahrenen Beistand einzuholen, um in einer Welt schneller Glückswechsel bestehen zu können. Zum Abschluss dieser Kapitelfolge befindet sich der Held wieder in Paris. Das Vorhaben des französischen Königs, Andolosius zu henken, wird zwar nicht ausgeführt, die Motti dieser Kapitelgruppe lassen jedoch keine Zweifel am schlimmen Schicksal des Protagonisten aufkommen.195 Zumal das erste der Motti, das an die menschliche Sterblichkeit gemahnt, keine direkte Entsprechung im nachfolgenden Kapiteltext aufweist. Es bezieht sich daher mittelbar auf das weitere Geschick des Helden, der hier die Gelegenheit zur Bekehrung verpasst. Die letzten beiden Kapitel enden wie einige andere auch mit dem Tod. Im 21. stirbt Ampedo, im 22. Andolosius, danach die beiden verschwörerischen Grafen und zuletzt Agrippina. Die Analyse der beiden Abschnitte beginne ich bei den Motti, da diese mehrere Lesarten ermöglichen und die parallele Anlage der Andolosius- und der Agrippina-Figur verdeutlichen. Das erste Motto gibt an, dass jede Untat dereinst gerächt würde (vgl. F 1850, S. 59). Doch wer ist der Täter und wer der Rächer? Im vorliegenden Kapitel ist nur von Rache die Rede, wenn der Erzähler von Agrippinas „fuͤ rchterlichen Gedanken der Rache“ spricht (F 1850, S. 60). Doch sind diese bereits durch Erzählerrede diskreditiert, da sie sich zwinge, „zu vergessen, mit welcher Bosheit sie den Sohn des F o r t u n a t u s behandelt hatte“ (ebd.). Ihre Rachsucht entzündet sich an der Erinnerung „an alle Erniedrigungen und Strafen, die sie deswegen von ihm hatte dulden muͤ ssen“ (ebd.). Dies entspricht jenem Motto, das Agrippinas Kampf gegen die Zauberhörner einleitet: „Kraͤ nkt dich nur die Strafe? Suͤ nder! | O, dann leide Hoͤ llen-Pein! | Dein Vergehen soll dich reu’n, | Nicht der Lohn fuͤ r deine That, | Die nicht mehr verdienet hat“ (F 1850, S. 51). Darüber hinaus wird hier ein Erzählerkommentar aktualisiert, der Andolosius kritisiert, die Schuld für das eigene Unglück bei anderen zu suchen (vgl. F 1850, S. 49).196 Ihr Fehlverhalten verbindet die Figuren und nicht nur Andolosius, sondern auch Agrippina muss für ihre Sünden büßen.
195 „Die Erde hat noch Raum genug | Fuͤ r deinen Aschenkrug“, F 1850, S. 48; „Suͤ nder! | [...] leide Hoͤ llen-Pein“, F 1850, S. 51; „Schicksal! höre! | O, ende eines Suͤ nders Pein“, F 1850, S. 54; „eher wird des Himmels Blau gemessen, | Eh’ eine Frau kann ihren Groll vergessen“, F 1850, S. 56. 196 Auch auf Ampedo ließe sich diese Kritik anwenden, wenn er die Glücksgüter für die Entführung des Bruders verantwortlich macht und das Hütlein zerstört (vgl. F 1850, S. 62). Der
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„Und so erscheine, ruhig, mild, | Dir, Sterblicher! des Todes Bild“ (F 1850, S. 63). So endet das Motto, mit dem der letzte Erzählabschnitt überschrieben ist. Dieser beginnt mit der Ermordung des eingekerkerten Andolosius, beschreibt die Ergreifung, Verurteilung und Hinrichtung197 der verschwörerischen Grafen und schließt damit, dass Agrippina von Schlangen gefressen wird.198 Eine wechselnde Auf- und Abwärtsbewegung gibt es in diesem Kapitel nicht mehr. Werden Agrippina und Andolosius zuvor aufeinander bezogen, finden hier beide den Tod innerhalb eines Kapitels. Die Struktur verdeutlicht auf diese Weise die Notwendigkeit von Agrippinas Bestrafung. Dass das Motto trotz der gewaltsamen und grausamen Todesarten von ‚Ruhe‘ und ‚Milde‘ spricht, liegt daran, dass sich die Aufforderung an den Leser richtet. Diesem wird bereits im Verlauf des Romans Einsicht in die Unausweichlichkeit des Todes didaktisch vermittelt, sodass das Schlusskapitel zur Prüfung seines Lernfortschrittes gerät. Ist der Rezipient aus den erzählten Unglücksfällen klug geworden, so wird er auch angesichts des finalen Leides ruhig bleiben und die gerechte Notwendigkeit dieses Endes nachvollziehen. Für den Fortunatus-Teil zeige ich, dass die Kapitelstruktur mit der Inhaltsseite korrespondiert. So zeichnen das zweite bis fünfte sowie das elfte bis 13. Kapitel strukturell das Auf und Ab von Fortunatus’ Lebensgeschichte nach, während übereinstimmend mit dem Auftreten der Figur des Leopold die dazwischenliegenden Abschnitte auch von ihrem Aufbau her von diesem Schema abweichen. Mit dem Übergang zu Ampedo, Andolosius und Agrippina folgt die Struktur zunächst derjenigen der frühen Fortunatus-Kapitel, da Andolosius die Lehre des Vaters vergisst, wobei die Schlüsse des 15. und 16. Kapitels schon weniger Dynamik denn Resignation auszeichnet. Ab dem 17. mündet die Redaktion in ein Wechselspiel zwischen den beiden Gegnern Andolosius und Agrippina. Da beide die Möglichkeit einer Bekehrung ungenutzt lassen, ist ihr gemeinsames Scheitern und damit ihr Tod notwendig, was durch das Zusammenspiel von Motti und sich wandelndem Binnenaufbau der Kapitel strukturell vorbereitet wird. Zuletzt gehe ich anhand einzelner Textausschnitte auf die Absatzgestaltung als Form struktureller Sinnstiftung ein. Gerade bei einem als schreibend entwor-
Erzähler markiert die Ursache von Ampedos baldigem Tod als unbekannt. Eine erzähllogische Erklärung könnte strukturell begründet werden. 197 Die am Ende des Romans eingespielte Geschichte der Grafen bietet den Lebenslauf eines Glücksritters in Kurzfassung. Um irdisches Glück zu erlangen, schrecken sie selbst vor Mord nicht zurück und finden dabei selbst den Tod. Versteht man ihre Hinrichtung auf dem Rad symbolisch, steht das Marterinstrument für ihre Hinwendung an das weltliche Glück, weshalb sie das Rad der Fortuna notwendig hinabführt. 198 S. oben, S. 59.
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fenen Erzähler, der sich auch typographischer Mittel bedient, ist deren Relevanz evident.199 Als Teil der typographischen Seitengestaltung fügt sie dem Ausgangstext „semantische und performative Informationen“ hinzu, indem die „Bedeutsamkeit“ verteilt und „die Lesegeschwindigkeit“ reguliert werde.200 Analysegrundlage sind mit dem fünften und zwölften sowie dem 17. und 18. diejenigen Kapitel, die im Fortunatus- und Andolosius-Teil jeweils die meisten beziehungsweise die wenigsten Absätze in Relation zur Zeilenzahl aufweisen. Abb. 6: Relation von Zeilenzahl und Absätzen je Kapitel in der Fortunatus-Redaktion von um 1850. Kapitel Zeilen Absätze Quotient
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
95
64
95
92
105
59
75
101
134
120
52
103
99
8
5
7
5
11
4
6
8
14
11
3
2
9
17,3 51,5
11,0
11,9 12,8 13,6 18,4
9,5 14,8 12,5 12,6
9,6 10,9
Kapitel
14
15
16
17
18
19
20
21
22
Zeilen
125
101
64
71
113
82
91
102
76
Absätze
15
12
5
5
15
8
9
9
8
Quotient
8,3
7,5 10,3
10,1
11,3
9,5
8,4 12,8 14,2
Durchschnitt 11,3
Quantitativer Ausreißer nach oben ist das zwölfte Kapitel. Hier entfallen mehr als viereinhalb Mal so viele Textzeilen auf einen Absatz als im Gesamtdurchschnitt des Romans. Der erste der beiden Absätze ist dabei mit 91 Zeilen sogar acht Mal so
199 Johann Peter Gumbert: Zur ‚Typographie‘ der geschriebenen Seite. In: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen (Akten des Intern. Koll. 17.– 19. Mai 1989). Hg. von Klaus Grubmüller, Hagen Keller, Nikolaus Staubach. München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 283–292, hier: S. 283, verweist auf verschiedene „Möglichkeiten der Gestaltung, der Ordnung und der Gliederung“, die einem Schreiber im Gegensatz zu einem Sprecher offenstehen. Der Raum der Textseite erlaube dabei „ganz andere Gestaltungen als der eindimensionale Strom der Sprache“ (ebd., S. 284). 200 Franz M. Eybl: Typotopographie. Stelle und Stellvertretung in Buch, Bibliothek und Gelehrtenrepublik. In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hg. von Hartmut Böhme. Stuttgart, Weimar 2005 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 27), S. 224–243, hier: S. 228. – Zur typographischen Gliederung vgl. ferner M[alcolm] B. Parkes: The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio on the Development of the Book. In: Medieval Learning and Literature. Essays presented to Richard William Hunt. Hg. von J[onathan] J[ames] G[raham] Alexander, M[argaret] T. Gibson. Oxford 1976, S. 115–141.
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lang als der Durchschnitt (vgl. F 1850, S. 34–36). Fortunatus lässt sich hier in Alexandria dem Sultan vorstellen und beschenkt diesen reich. Als Gegenleistung wird er bestens für eine Reise durch den Orient ausgerüstet, die ihn nach Persien, China, Indien und in das Land führt, wo der Pfeffer wächst.201 Über Arabien kehrt der Held nach zwei Jahren zurück und erfährt so große Ehre, dass ihn der Sultan in die private Schatzkammer führt und sogar das Wunschhütlein sehen lässt.202 Fortunatus ergreift die Initiative, listet ihm das Hütlein ab und kehrt mit dessen Hilfe noch in demselben Absatz nach Zypern zurück. Beide Begegnungen mit dem Sultan sind durch die Erzählstruktur zusammengezogen. Die Orientreise, also jener Erzählabschnitt mit der größten Weltweite, hat dadurch kein eigenständiges Gewicht und wird der Rahmenhandlung des Abschnitts strukturell untergeordnet. Erst als sich Fortunatus aus dem Land wünscht, endet die typographische Einheit und der Sultan bleibt durch einen Absatz von Zypern getrennt allein zurück (vgl. F 1850, S. 36). Die wenigsten Zeilen je Absatz weisen im ersten Teil das fünfte und im zweiten Teil das 18. Kapitel auf (vgl. F 1850, S. 13–16 und S. 51–54). Der Grund dafür liegt im jeweils hohen Dialoganteil: Andolosius handelt als falscher Doktor mit Agrippinas Kammerfrau (vgl. F 1850, S. 52) und Fortunatus wird vom Waldgrafen verhört (vgl. F 1850, S. 15 f.). Führt das Absetzen einzelner Redebeiträge wie oben ausgeführt bei der Andolosius-Stelle zu dem Effekt tragikomischer Dramatisierung, wird eine solche Wirkung zwischen dem Waldgrafen und Fortunatus verhindert, da die Absätze nicht mit dem Wechsel der Dialogpartner übereinstimmen. Die Absatzgestaltung bleibt trotz der quantitativen Auffälligkeit unspezifisch. Der Andolosius-Passage mit dem kleinsten Quotienten geht diejenige mit dem größten unmittelbar voraus. Allerdings weisen alle Absätze des 17. Kapitels bis auf einen Absatz unterdurchschnittliche und in einem Fall leicht überdurchschnittliche Länge auf. Die Abweichung resultiert daher allein aus den 41 Zeilen des vierten Absatzes. Dieser reicht von Andolosius’ Aufenthalt bei einem Eremiten, der ihn von den Zauberhörnern heilt, über seine Rückkehr nach Paris und die Verkleidung zu einem Krämer bis an jene Stelle, an welcher er Agrippina die aus der Wildnis mitgebrachten Zauberäpfel anbietet (vgl. F 1850, S. 50 f.). Obwohl der Tag, der Schauplatz und ein Teil der Figuren wechseln, setzt die Redaktion
201 Hier findet sich als stilistischer Archaismus eine Kontextglosse, die trotz der gerafften Erzählweise näher erläutert, dass es dort „eine große Hitze“ gebe und „Mann und Weib [...] nackend einher“ gehen (F 1850, S. 34); zu Glossen als Möglichkeit der Sinnstiftung vgl. das Kap. 3.3.3. 202 Entgegen alter Lehre offenbart der Sultan die Zaubertugend des unscheinbaren Wunschhütleins und verhält sich damit analog zu Andolosius, der später Agrippina trotz der Warnung seines Vaters die Quelle seines Reichtums entdeckt.
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keinen Absatz. Die Rede des Einsiedlers und Andolosius’ Anpreisung der Zauberäpfel sind damit strukturell enggeführt. Der fromme Eremit tadelt den Wunsch des Helden, jene Äpfel mitnehmen zu dürfen, die Hörner verleihen und vertreiben können, mit dem Vorwurf, er sei „nicht Willens [...], zur Weisheit zuruͤ ck zu kehren“ (F 1850, S. 50). Andolosius gibt seinerseits gegenüber der Königstochter vor, die Früchte verliehen „Schoͤ nheit, scharfe Vernunft und ewige Jugend“ (F 1850, S. 51). Zusammen mit einigen Auffälligkeiten der Szene in der Wildnis203 erinnert diese Reihe von Tugenden an Fortunatus’ Begegnung mit Fortuna. Fortunatus, Andolosius und Agrippina wählen jeweils ein irdisches Gut und damit falsch. Diese Parallele ist auf zwei Szenen verteilt, die jedoch durch die Absatzstruktur zusammengehalten werden. Es zeigt sich, dass die Setzung, aber gerade auch das Unterdrücken von Absätzen Sinn zumindest verdeutlichen, wenn nicht selbst stiften kann. Die Absatz- und Kapitelstruktur tritt damit bei der Interpretation an die Seite von Erzählschemata und der Architektur des Gesamttextes. Im Zusammenspiel mit Paratexten und haupttextuellen Dimensionen prägen sie einen positiv-endgültigen Überlieferungszustand aus, der als separater Teil der Textgeschichte zu analysieren und vergleichend zu interpretieren ist.
1.3 Dimensionen der Sinnstiftung im Vergleich Es kann nicht Anspruch des folgenden Vergleichs sein, eine ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ des Fortunatus in seiner textgeschichtlichen Erscheinungsgestalt zwischen 1509 und 1850 vorzulegen. Anders als bei der Analyse des Prosa-Herzog Ernst im Hauptteil der Arbeit wäre eine zeitliche Lücke von annähernd dreieinhalb Jahrhunderten interpretatorisch zu überbrücken. Diese eine späte Redaktion soll auch nicht als ‚Zielform‘ des ältesten Überlieferungszeugen verstanden werden.204 Gerade da es auch noch andere Fortunatus-Redaktionen im neunzehnten Jahrhundert gibt, wäre ein solches Vorgehen beliebig. Auch favorisiere ich oben die Deutung des Erstdrucks durch Hannes Kästner als ‚Bildungsroman‘ nicht deshalb, weil ich die didaktische Schreibart für das hervorstechende Moment der späten Redaktion halte.205
203 Andolosius schläft im wilden Wald, erwacht zur Mittagszeit, erhält Hilfe, äußert eine weltliche Bitte, die ihm gewährt wird, und verlässt den gefährlichen Raum nach der Begegnung ohne jegliche Probleme (vgl. F 1850, S. 50). – Weiter oben weise ich mit der Korrespondenz von Leopold und dem Einsiedler auf eine weitere Parallele hin. 204 Vgl. meine Diskussion des ‚Zielform‘-Begriffs im Kap. 2.1.1.3. 205 Vgl. Kästner: Peregrinator, vor allem S. 182–185.
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Es sollen keine großen Entwicklungslinien ausgezogen werden. Denn dafür müsste die Pluralität des frühen Textsinns vereindeutigt werden. Vielmehr stelle ich den anonymen Druck aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der editio princeps zur Seite, für den ich neben zahlreichen Abwandlungen der Struktur, des Haupttextes und der Paratexte doch auch inhaltliche Gemeinsamkeiten erkenne. Erst diese Gemeinsamkeiten ermöglichen es, die eingesetzten Mittel – oder ‚Dimensionen‘ – der Sinnstiftung zu vergleichen und einander gegenüberzustellen. Umgekehrt erfordert ein umfassender Vergleich ein gewisses Maß an Differenz. Für mein Untersuchungsinteresse wäre daher eine Gegenüberstellung des etwa zeitgleich erschienenen Fortunatus mit seinem Seckel und Wünschhütlein von Ottmar F.H. Schönhuth (Reutlingen 1849) weniger ergiebig. Trotz seines Bestrebens, den Roman für das zeitgenössische Publikum zu modernisieren,206 ist dieser Bearbeiter nämlich bemüht, der Vorlage möglichst getreu zu folgen. Es lässt sich hier zwar nicht von einer „Textpflege auf wissenschaftlichem Niveau“ sprechen, aber „[e]in antiquarisch-historischer Zug“ ist derartigen Bearbeitungen der Spätromantik nicht abzusprechen,207 sodass die in dieser Arbeit zugrunde gelegte Vorstellung tradierender Aktualisierung modifiziert werden müsste, um auch den Prozess einer allmählich beginnenden ‚Akademisierung‘ des Prosaromans angemessen erfassen zu können.208 Nachfolgend werden einige der Analyseergebnisse zu den Redaktionen von 1509 und 1850 vergleichend zusammengefasst, ehe ich das Konzept der ‚Dimensionalität‘ näher erläutere.
1.3.1 Fingierte Quellen und rezipierende Erzähler Anders als Schönhuth modernisiert der anonyme Redaktor seine Vorlage nicht nur sprachlich,209 sondern kürzt, ergänzt und variiert auch inhaltlich in größerem Ausmaß. Darüber hinaus inszeniert er seinen Erzähler als ein schreibendes Ich,210
206 Ein Zusatz auf dem Titelblatt kündigt an, die Geschichte sei „[a]uf’s Neu erzählt für Jung und Alt“; Exemplar der BSB München, Sign. P.o. germ. 1333 by. 207 Hans Joachim Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch. Studien zur Wirkungsgeschichte des frühen deutschen Romans seit der Romantik. Stuttgart 1977, hier: S. 79 und S. 81; vgl. dazu auch ebd., S. 87 f. 208 Zum ‚Wiedererzählen‘ vgl. das Kap. 2.1.2; eine Arbeit zu den Redaktionen des neunzehnten Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Pädagogik der Zeit ist in Vorbereitung. 209 Zur Sprache des Fortunatus von 1509, an der sich Schönhuth anlehnt, vgl. Käte Gertrud Bickel: Untersuchungen zum Stil des Volksbuchs Fortunatus. Diss. masch. Heidelberg 1932. 210 Lediglich an einer Stelle, wenn der Erzähler ankündigt, dass Andolosius’ Bruch des väterlichen Verbotes negative Folgen nach sich ziehen werde, spricht er von sich und den Rezipienten als Hörer (vgl. F 1850, S. 43).
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dem „die Feder“ erstarren kann (F 1850, S. 45), und als ein wiedererzählendes Ich. Es fingiert eine „Chronik“, welche die Abenteuer von Fortunatus und seinen Söhnen enthalte (vgl. F 1850, S. 37), weiß aber auch von Fortunatus’ Reisebeschreibung, in welche dieser „Sitten, Gebraͤ uche, Kleidertrachten u. a.“ eingetragen habe, „was er in fremden Laͤ ndern gesehen“ (F 1850, S. 25).211 Um die alte Geschichte zu verlängern und ihr einen neuen Schluss zu geben, nutzt es darüber hinaus die ebenfalls fingierte Offenbarung eines „heilige[n] Priester[s]“ (F 1850, S. 64). Der Erzähler von 1509 bedient sich der Möglichkeit einer Quellenfiktion dagegen nicht. Er liest die Geschichte nicht, er erweckt – zumindest am Anfang – nicht den Anschein, dieselbe aufzuschreiben, sondern er erzählt einfach und hebt dafür wie folgt an:
AJn land genanntt Cipern/ Jst ain inßel vnd künigreich gegen der sonnen auffgang im moͤ r gelegen/ fast wunsam/ lustig vnd fruchtbar aller handen edler natürlicher früchten. manigem wissend/ der tzu dem hailigen land Jerusalem gefarn/ vnd im selben künigreich Cipern zugelendt/ vnd da gewesen ist. Darinn ain treffenliche statt genannt Famagosta. (F 1509, S. 387 f.)
Hier sind der Stil ‚enzyklopädischen Erzählens‘212 und die Berufung auf Erfahrungswissen miteinander verbunden. Eine Kontextglosse beschreibt ‚Cipern‘ geographisch, politisch und im Hinblick auf die Vegetation näher. Über die Form spielt der Erzähler damit auf Buchwissen an, um jedoch bereits im nachfolgenden Satz auf Reisen als Möglichkeit von Wissensgewinn zu rekurrieren.213 Schon im ersten Absatz des Haupttextes setzt der anonyme Autor zudem eine Spitze gegen die noch öfter kritisierten Praktiken des äußeren Glaubens,214 indem es sich zwar
211 Im Erstdruck entfaltet diese eine ganz unterschiedliche Wirkung auf seine Söhne (vgl. F 1509, S. 507 f. und S. 557). Über eine entsprechende Lektüre berichtet die späte Redaktion dagegen nichts (vgl. F 1850, S. 40 und S. 57). 212 Vgl. zum Begriff: Matthias Herweg: ‚Verwilderter Roman‘ und enzyklopädisches Erzählen als Perspektiven vormoderner Gattungstransformation. Ein Votum. In: Neuere Aspekte germanistischer Spätmittelalterforschung. Hg. von Freimut Löser u. a. Wiesbaden 2012 (Imagines Medii Aevi 29), S. 77–90, hier: S. 77/Anm. 2. 213 Auch in der 1850er Redaktion wird die Rezeption von Buchwissen thematisiert: Ein Buch, das Fortunatus von seinen heimlichen Reisen mit dem Wunschhütlein verfasst, bietet kosmologisches Wissen und befähigt hernach Kolumbus zur Entdeckung Amerikas (vgl. F 1850, S. 37 f.). 214 Vgl. Fortunatus’ Verpflichtungen gegenüber der Jungfrau des Glücks (F 1509, S. 430 f.) als „Kontrafaktur eines typischen Gelöbnisses gegenüber einem Heiligen“ (Haubrichs: Glück und Ratio, S. 44), die Hinweise auf die ökonomischen Aspekte des Wallfahrtswesens für das Kloster des St. Patricius (F 1509, S. 443–447), den Vergleich des unscheinbaren, aber durch Schwarzkunst erzeugten Wunschhütleins mit der Kopfbedeckung von Mönchen (vgl. F 1509, S. 496 f.) oder
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um eine Pilgerreise nach Jerusalem handelt, die zu erwerbenden Wissensgegenstände dabei jedoch nicht das Heilige Land betreffen und profaner Natur sind. Im weiteren Fortgang inszeniert sich der Erzähler sowohl als Sprecher, der mit anwesenden Hörern kommuniziert und dabei sogar auf einen fingierten Einwand eingeht,215 als auch als schreibendes Ich, das mit Lesern rechnet. Dies ist insbesondere an jenen Textstellen der Fall, wo der Autor Versatzstücke aus Itineraren in seinen Roman montiert.216 Aber auch anlässlich von Fortunatus’ Orientfahrt erwähnt der Erzähler, dass man von dieser „ain sonder vnd groß buͦ ch“ schreiben könne (F 1509, S. 490). Da er diese Episode in seinem Roman jedoch sehr gerafft wiedergibt, verweist er alle, die gerne mehr über den Fernen Osten erfahren wollen, an Buchwissen: „[W]ellicher aber das geren wissen welle/ der leß das buͦ ch Johannem de monteuilla/ vnnd andere mer buͤ cher/ deren die solch land alle durchtzogen sind vnd von yedem land geschriben/ was sitten vnnd glauben sy haben“ (F 1509, S. 490 f.). Damit verweist der Erzähler aber auch auf die Möglichkeit, Wissen über die Welt aus schriftlichen Quellen zu erfahren. Häufig tritt der Erzähler im Erstdruck allerdings mit Erläuterungen zum leichteren Verständnis oder Plausibilisierungen für den Leser hervor.217 Außer an der oben zitierten Stelle nutzt er dafür noch etliche weitere Male Kontextglossen.218 Erzähltechnisch besonders hervorzuheben ist die Glossierung zum Palace of Westminster und zu Westminster Abbey (vgl. F 1509, S. 421).219 Der Erzähler
die zahllosen Gottbezüge der Figuren, die zumeist nur den „Schein höherer Legitimation“ erwecken sollen (Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1175). 215 F 1509, S. 447: „[M]oͤ cht ainer sprechen/ warumb geet man nit mit liechtern oder laternen darein? Jst zuwissen das die hüle [von St. Patricius, S.A.S.] kain liecht leidet in kainen weg“. Vgl. dazu auch F 1509, S. 426 (als Überleitung von der späten Andrean-Handlung zu Fortunatus’ Überfahrt in die Picardie), S. 507 (am Übergang von Fortunatus- und Andolosia-Teil) und S. 534 (Schauplatzwechsel zwischen Agripina in London und Andolosia in der Wildnis). 216 So F 1509, S. 441 f., S. 448 und S. 490. – Vgl. dagegen zwei Stellen, die unabhängig von der Integration fremder Texte sind: F 1509, S. 477 (Fortunatus’ prächtige Hochzeit) und S. 514 (Andolosias Rittertaten in Aragonien). 217 Beispiele finden sich u. a. auf F 1509, S. 399, S. 404, S. 408 f., S. 412, S. 416, S. 440, S. 442, S. 443, S. 443 f., S. 444, S. 485, S. 487, S. 488, S. 494, S. 495, S. 497, S. 524, S. 548, S. 558, S. 565 oder auch S. 576. 218 Vgl. F 1509, S. 436 (zu Nantes), S. 442 (zu London, den Britischen Inseln, Edinburgh und zur Währung Nobel), S. 443 (zu St. Patricius’ Fegefeuer), S. 490 (zu Indien), S. 492 (zum Pfeffer), S. 505 (zur Schwindsucht), S. 523 (zum Schlaftrunk), S. 540 (zur Themse). – Auch die späte Redaktion enthält noch eine der Kontextglossen (vgl. F 1850, S. 34, zum Pfeffer). 219 Zu Realitätsbezügen in den London-Episoden vgl. John L. Flood: Fortunatus in London. In: Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters. Vorträge des XI. Anglodeutschen Coll.s, 11.–15. September 1989, Universität Liverpool. Hg. von Dietrich Huschenbett. Würzburg 1991 (WBdPh 7), S. 240–263, hier: S. 256.
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berichtet zunächst vom Zorn des englischen Königs und dem verschärften Todesurteil: Die Leichname der Gehenkten sollen an den Galgen geschmiedet werden. Ehe er seinen Bericht dann aber mit der besonders grausamen Vollstreckung (zwei Mägde werden „lebendig vnder de[m] galgen“ vergraben) fortsetzt, unterbricht er die Schilderung der für den Helden lebensbedrohlichen Handlung, um die Richtstätte, die eigens für diese Hinrichtung neu angelegt wird, genauer zu verorten. Die Erwähnung des Westminster Palace glossiert er mit Hinweisen auf „des künigs radthauß“ und die „grosse schoͤ ne kirche[ ]“. Diese Institutionen machen denjenigen Ort, an dem Jeronimus Roberti und die Seinen sterben sollen, zum belebtesten in ganz London. Ein realhistorisches Versatzstück wird also glossiert, um daran Ausführungen über die erzählte Welt anzuschließen. Dabei bleibt die Kirche trotz des Galgens schön und der Platz trotz des Sterbens belebt. So verleiht der Erzähler der erzählten Welt mit minimalem Aufwand ein Eigengewicht, das vom Schicksal des Helden unberührt bleibt. Dies geschieht im Übrigen am Ende einer Ereignisfolge, die von einer Nebenfigur ausgelöst wird und sich mit Fortunatus nur durch Koinzidenz verbindet (vgl. F 1509, S. 409–423). Selten sind lehrhafte, didaktische Bemerkungen des Erzählers von 1509, nur gelegentlich nutzt er Sprichwörter oder verweist auf Wahrheiten aus der Alltagswelt des Lesers.220 Fortunatus’ Wahl des Reichtums gegen jede Tradition bleibt aber unkommentiert (vgl. F 1509, S. 430). In der späten Redaktion nutzt der Erzähler dagegen nicht nur Sprichwörter (vgl. F 1850, S. 50) und gibt Erläuterungen zum Geschehen (vgl. ebd., S. 7), er verwendet darüber hinaus Unsagbarkeitstopoi (vgl. S. 30 und S. 60), gibt direkte und indirekte Kommentare zur Gegenwart des Lesers (vgl. S. 3, S. 28 und S. 41) und verweist auf Kenntnislücken (vgl. S. 62). Das hervorstechende Moment sind jedoch moralisch-philosophische Bemerkungen zur Sterblichkeit des Menschen (vgl. F 1850, S. 38, S. 39, S. 48 f.) und seiner Abhängigkeit von Gott (vgl. S. 32) sowie die moralische Unterweisung des Lesers (vgl. S. 6, S. 49 und S. 64).
220 Vgl. F 1509, S. 393 (Kommentar zu schlechten Pferden), S. 436 (Betrugsfälle), S. 457 (Alkoholgenuss und schnelles Einschlafen), S. 481 (ernstliches Gebet und Gottes Beistand). Für Sprichwörter innerhalb der Erzählerrede vgl. F 1509, S. 417, S. 486, S. 493, S. 500 und S. 568. – Problematisch ist der Verweis auf das kaiserliche Recht im Zusammenhang mit der Hinrichtung des Hauses Roberti (vgl. F 1509, S. 422 f.). Eigentlich müsste ein derartig wichtiger Rechtsgrundsatz einem lesefähigen Deutschen der Zeit geläufig sein (vgl. zur Verbreitung Pafenberg: A legal mirror, S. 593 f.), sodass der fingierte Einwand entfallen könnte. Dass der Verfasser mit der Anwendung auf einen englischen Rechtsfall zudem eine Europäisierung der Geltung kaiserlichen Rechts propagiert, lässt sich nur unbefriedigend als ‚homerisches Schläfchen‘ eines deutschen Autors erklären (vgl. ebd., S. 594; Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 39 f.).
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Quantitativ gesehen hält sich der Erzähler von 1509 eher im Hintergrund, Gestalt gewinnt er vor allem an Bruchstellen der Montage, wenn er zwischen der ‚Kommunikation der Nähe‘ und der ‚Distanz‘ changiert.221 Aufgrund des relativ hohen Anteils von Kontextglossen teilt er Eigenschaften mit einem ‚enzyklopädischen Erzähler‘. 1850 ist der Erzähler präsenter, vor allem wenn man berücksichtigt, dass der Roman insgesamt deutlich gekürzt ist. Humorvolles kontrastiert mit einem Übergewicht an Kommentaren in moralisch-erbaulichem Ton. Letztgenannte Textstellen korrespondieren mit den Motti, die in der späten Redaktion an die Position der tituli von 1509 treten, die ich nachfolgend miteinander vergleiche.
1.3.2 Bildbeschreibende tituli und kommentierende Motti Weder die Ausgabe von 1509 noch diejenige von 1850 weisen echte Kapitelüberschriften auf. Sind sie im späten Druck durch Kapitelziffern und beigefügte Motti ersetzt, hat der Erstdruck stattdessen bildbeschreibende tituli, die nur manchmal über den Bildinhalt hinausweisen und sich damit Zwischentiteln annähern. Motti und tituli nehmen jedoch wie Kapitelüberschriften eine Metaposition ein, indem sie Text- oder Bildinhalte zusammenfassen und damit verdichten. Hier ist auch der Ort, an dem der Redaktor des neunzehnten Jahrhunderts sein Dichtungsprogramm entfaltet:222 Lektüre könne und solle Erfahrungswissen ersetzen, um den jugendlichen Rezipienten zu tugendhaftem Wandel zu führen (vgl. F 1850, S. 17 und S. 40). Von Fehlern zu lesen, um daraus zu lernen, sei klüger, als diese Fehler selbst zu machen. Außerdem überhöhen die Motti die bearbeitete Handlung moralisch. Der Gerechte wird durch die Parallelisierung von Sünde und Strafe, Tugend und Lohn erbaut, wenn dies auch nicht in allen Fällen mit der Haupthandlung zur Deckung zu bringen ist.223 Darüber hinaus erinnern sie an die Endlichkeit des menschlichen Lebens, das ganz den Launen Fortunas unterworfen ist, wobei das Unglück notwendig sei, um den Menschen auf seinen Tod vorzubereiten (vgl. F 1850, S. 32). Angesichts seiner eigenen Sterblichkeit und vor dem Hintergrund der
221 Vgl. für diese Begriffe Wulf Oesterreicher: Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Hg. von Ursula Schaefer. Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267–292, hier: S. 269 f. 222 Vgl. zur näheren Analyse der Motti S. 56f. im Kap. 1.2.1. 223 Der Mörder Andreas erbeutet Juwelen (vgl. F 1850, S. 9 f.), Fortunatus’ Mord bleibt ohne direkte Folgen (vgl. F 1850, S. 24 f.).
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Untaten der Figuren wird der Leser zur Umkehr aufgefordert (vgl. F 1850, S. 33 f., S. 37, S. 48 und S. 51). Formal betrachtet korrespondieren die tituli von 1509 dagegen mit den Bildinhalten und bieten somit nur mittelbar eine verknappte Summe der äußeren Handlung,224 jedoch keine direkten Kommentare. Dass es sich bei ihnen dennoch um eine eigenständige Dimension der Sinnstiftung handelt, lässt sich stellvertretend an der Beischrift zum viertletzten Holzschnitt des Hauptteils erkennen. Während die Abbildung nur zwei gerüstete Ritter bei der Tjost zeigt, personalisiert der titulus die Szene (Wie Andolosia mit stechen vnd rennen allzeit das best tet, F 1509, S. 567) und erzählt die perspektivierte Reaktion eines Publikums, welche die Bilddimension nicht enthält (Andolosia [...] dardurch grossen dank von frawen. aber grossen neyd von etlichen herren erlanget.). Die Beischrift zur Exekution des Todesurteils an den Mitgliedern des Hauses Roberti in London tritt sogar in Deutungskonkurrenz zum Haupttext, der in diesem Zusammenhang auf das kaiserliche Recht verweist. Denn nach dem titulus werden Jeronimus und die Seinen nicht rechtmäßig, sondern vnschuldiklich gehenkt (F 1509, S. 419). Anhand zweier Beispiele erläutere ich nun unterschiedliche Funktionsweisen der Beischriften und der Motti bei der Sinnstiftung der jeweiligen Redaktionen. Dafür betrachte ich zunächst das 14. Kapitel der späten Redaktion (mit Fortunatus’ Tod und dem Streit der Söhne um die Kleinodien) und anschließend die Folge des 18. und 19. Kapitels (Andolosius als falscher Arzt und Agrippinas Eintritt ins Kloster) im Vergleich zu den entsprechenden Abschnitten des Erstdrucks. Der Tod des ersten Protagonisten wird nur von der editio princeps bereits in der Überschrift vorweggenommen (vgl. F 1509, S. 506). Außerdem thematisiert der titulus, dass Fortunatus seine Söhne über die krafft vnd tugent des seckels vnd des huͤ tlins aufklärt. Dies fasst den Inhalt des folgenden Kapitels so weit zusammen, wie es der Holzschnitt illustriert. Die umstrittene Teilung der Glücksgüter, also die Übertretung des väterlichen Verbots, bleibt ausgeblendet. Das Motto von 1850 zeigt dagegen ein geringeres Interesse an der äußeren Handlung und erwähnt Fortunatus’ Tod nicht (vgl. F 1850, S. 40). In verallgemeinernder Rede von ‚Vätern‘ und ihren ‚Söhnen‘ fokussiert die späte Redaktion dagegen Zank und Streit der Erben. Dass dieser zum Verlust der Güter führen wird, greift über den Inhalt des nachstehenden Kapitels hinaus. Daran schließt sich eine Mahnung an jene Rezipienten an, die selbst Kinder erziehen: Eltern! wollt ihr weislich wehren, | Laßt den Kindern Tugend lehren. Es lässt sich daher verallgemeinern, dass während die tituli auf eine Beschreibung des unmittelbaren Bild- und Textinhalts zielen, sich die Motti losgelöst von Kapitelgrenzen einer Inhaltsreferenz bedienen, um das
224 Vgl. dazu die Analyse des Kapitulariums auf S. 42–48 im Kap. 1.1.5.
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Geschehen moralisch auszudeuten und in Handlungsappelle an den Leser umzusetzen. Dies lässt sich an der zweiten Auswahlstelle bestätigen. Die Motti des 18. und 19. Kapitels sind entpersonalisiert. Der Ausruf Suͤ nder! und der nachfolgende Tadel kann somit sowohl auf Andolosius oder auf jeden Rezipienten bezogen werden, den Strafe kränkt (vgl. F 1850, S. 51). Das folgende Motto schließt mit Hilfe des pluralischen uns sogar alle Leser mit der Sprechinstanz des Paratextes zusammen. Die Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen und ihre nachfolgende Einschränkung gehen losgelöst von der konkreten Romanhandlung jeden an. Die tituli der frühesten Fortunatus-Redaktion fassen dagegen den Plot verhältnismäßig genau zusammen (vgl. F 1509, S. 541, S. 546, S. 549 und S. 554), ohne eigene Akzente der Sinnstiftung zu setzen, die über das oben skizzierte Maß hinausweisen.
1.3.3 Vor- und Nachworte und ihre Narrativierung Beschränken sich die tituli der Otmar-Ausgabe von 1509 im Wesentlichen auf eine Wiedergabe von Bild- und mittelbar von Kapitelinhalten, so übernehmen in dieser Redaktion das Vor- und vor allem das Nachwort die Funktion kommentierender Ausdeutung des Geschehens (vgl. F 1509, S. 387 und S. 579 f.). Umgekehrt verhält es sich beim Druck aus dem neunzehnten Jahrhundert. Mit den Motti gibt es eine Dimension, mit deren Hilfe das Romangeschehen kontinuierlich kommentiert wird, während die Erzählung ab ovo mit der Elternvorgeschichte beginnt und das paratextuelle Fazit am Buchende nur zwei typografisch hervorgehobene Textzeilen umfasst (vgl. F 1850, S. 3–6 und S. 64).225 Die Vorred von 1509 gibt wie die Elternvorgeschichte, die in beiden Redaktionen enthalten ist, aber um 1850 direkt auf das Titelblatt folgt, Themen vor, die von der Romanhandlung über die weiteren Generationen hinweg variiert werden. Der Paratext legt das Hauptaugenmerk dabei auf den Erwerb der Glücksgüter, die Vorgeschichte stellt den Erhalt und Verlust von Reichtum ins Zentrum und ergänzt dies um den Themenkreis ‚Ehe und Familie‘. Zwar kommentiert der späte Erzähler die Möglichkeiten der Ehe, zur Beherrschung der Affekte beizutragen (vgl. F 1850, S. 3), und weist darauf hin, dass der soziale Abstieg der Elterngeneration nur den Vater Theodor, nicht aber die Mutter Gratiana verdient treffe
225 Vgl. für die Analysen zu Vor- und Nachwort des Erstdrucks und zur Elternvorgeschichte sowie zum Romanschluss der späten Redaktion, auf denen die nachfolgenden Überlegungen beruhen, das Kap. 1.1.4 und S. 49 sowie S. 57–60 im Kap. 1.2.
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(vgl. F 1850, S. 4 f.), aber einen verallgemeinernden Schluss zieht allein das vorangestellte Motto. Nach diesem kann der Reichtum der Welt den Menschen nicht vor Leid schützen (vgl. F 1850, S. 3). Das Verhältnis von Inhalt, der hier freilich nicht als erzählte Episode, sondern als Inhaltsangabe der Gesamthandlung vorliegt, und Explizierung von Lehre ist beim Erstdruck nahezu identisch. Doch wird die moralisatio nicht wie 1850 an eine weitere Dimension der Sinnstiftung (das Motto) delegiert, sondern sie bildet den Schlusssatz des Vorwortes, dem gemäß „vernufft [sic] vnd weißhait für all schaͤ tz diser welt/ zu begeren vnd zu erwoͤ len“ seien (F 1509, S. 387). Wer sich dagegen wie die Romanfiguren der Welt und dem irdischen Glück zuwendet, wird neben der erhofften fortuna bona auch der fortuna mala begegnen. Beide Redaktionen schließen zwar mit einer expliziten Lehre für den Leser: Der Imperativ der Erstausgabe: „erkyeß Weißhait für reichtumb“ (F 1509, S. 580), wird um 1850 durch die Warnung ersetzt, „[d]i e S uͤ n d e z u m e i d e n , w e i l i h r u n a u s b l e i b l i c h z e i t l i c h e u n d e wi g e S t r a f e n f o l g e n “ (F 1850, S. 64). Doch gibt es einen deutlichen Unterschied von direkter Didaxe im Epimythion des Erstdrucks und ihrer Auflösung in Handlung bei der zusätzlichen Szene am Ende der späten Redaktion. Das Nachwort stiftet als klassische moralisatio Sinn. Es muss dafür gar nicht den Anspruch erheben, den Gehalt des Romanganzen abzudecken. So wie es bei der punktuellen Kommentierung durch den Erzähler in vormoderner Literatur nicht unüblich ist,226 aktualisiert es nur eine Auswahl möglicher Deutungen: Während ein immaterielles Gut wie Weisheit unempfindlich sei gegenüber den Anschlägen der Welt, führe die Konzentration auf Reichtum dagegen früher oder später, aber notwendig zur Katastrophe. Das Fiktionssignal der entflohenen Jungfrau verdeutlicht dabei, dass die Wahl zwischen Weisheit und Reichtum in der außerliterarischen Wirklichkeit nicht so offensichtlich gestellt ist, was aber die Gültigkeit der paratextuell explizit gemachten Lehre nicht beschneidet. Die späte Redaktion schließt mit einem Verweis auf den bereits durch die Dimension der Motti etablierten Mechanismus von Schuld und Strafe, zeigt dem Rezipienten aber zusätzlich weitere Lehren mit je unterschiedlichen Mitteln auf. So bildet die Schlussmoral gemeinsam mit dem letzten Motto einen strukturellen Rahmen um die finale Handlung. Andolosius wird in diesem Kapitel erdolcht, Lymosius und Theodor werden gerädert und Agrippina wird von ihrer eigenen Sündhaftigkeit verzehrt (vgl. F 1850, S. 63 f.). Wer im Verlauf der Lektüre gelernt hat, dass für denjenigen, der die Sünde meide, der Tod seinen Schrecken verliere,
226 Vgl. am Beispiel von Thürings Melusine von Ertzdorff: Fee als Ahnfrau, S. 444; von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 64–67.
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dem wird des Todes Bild entsprechend des Mottos ruhig und mild erscheinen (F 1850, S. 62). Denn jeder (in diesem Roman) kommt zu Tode. Doch je nachdem, ob er oder sie sich eines Mordes, unstillbarer Habgier oder der Übertretung eines väterlichen Verbots schuldig gemacht hat, erwartet ihn oder sie ewige Strafe nach der jeweiligen Tat. Diese Erkenntnis geht über die typographisch abgesetzte Lehre hinaus und entfaltet sich erst im Zusammenspiel struktureller, para- und haupttextueller Dimensionen.
1.3.4 Buchinterne Intermedialität Prosaromane zeichnen sich in den meisten Redaktionen durch das Zusammenwirken von Text- und Bildelementen aus. Illustrationen sind „ein Signum des volkssprachigen Buchs“,227 das daher auch als intermediales Phänomen zu untersuchen ist. Schließlich illustrieren die Holzschnitte nicht nur, bilden nicht nur den Text ab, sondern sie sind eine eigenständige Dimension des Buches, die „Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln“ hervorbringt.228 Nach Gottfried Boehm gilt es, die Gefahr zu bannen, die Bilder im Wortsinn zu ‚übersehen‘, indem sie dem begleitenden Text völlig untergeordnet werden.229 Denn sie gliedern den Roman, perspektivieren durch ihre Auswahl aus der Summe möglicher Bildthemen die Sicht auf das Geschehen und verdichten es.230 Und sie machen den Leser zum Augenzeugen.231 Er sieht selbst, wie Fortunatus dem Sultan das Wunschhütlein ablistet (vgl. F 1509, S. 498, und F 1850, S. 36) oder Lüpoldus den diebi-
227 Michael Curschmann: Wort – Schrift – Bild. Zum Verhältnis von volkssprachigem Schrifttum und bildender Kunst vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. In: Wort – Bild – Text. Studien zur Medialität des Literarischen in Hochmittelalter und früher Neuzeit. Bd. 2. Hg. von Michael Curschmann. Baden-Baden [1999] 2007 (Saecula spiritalia 44), S. 661–753, hier: S. 735. 228 Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anm. zur Logik der Bilder. In: Iconic turn. Die neue Macht der Bilder. 2. Aufl. Hg. von Hubert Burda, Christa Maar. Köln 2004, S. 28–43, hier: S. 28; wenn Boehm sie im weiteren Fortgang als „das Paradox einer realen Irrealität“ bezeichnet (S. 30), entspricht dies der Stellung des literarischen Buches zwischen seiner Materialität und der Fiktionalität seines Inhalts. 229 Vgl. ebd., S. 35 f. – Alfred Messerli: Intermedialität. In: Stimmen, Texte und Bilder zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Voix, textes et images du Moyen-Age à l’aube des temps modernes. Hg. von Luisa Rubini Messerli, Alexander Schwarz. Bern u. a. 2009 (TAUSCH 17), S. 75–109, spricht von der „logozentristische[n] Vereinnahmung von Bildern“ (S. 87). 230 Vgl. S. 303–307 im Kap. 2.3.3.4. 231 Wobei es dafür einer Illustration eigentlich gar nicht bedarf. Schon in Bezug auf bildhafte Sprache beschreibt Horst Wenzel: Der Leser als Augenzeuge. Zur mittelalterlichen Vorgeschichte kinematographischer Wahrnehmung. In: Singularitäten – Allianzen. Hg. von Jörg Huber. Zürich u. a. 2002 (Interventionen 11), S. 147–175, rhetorische Mittel der evidentia (S. 154 f.) und skizziert
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schen Wirt tötet (F 1509, S. 458). Diese ‚Evidenz‘ entsteht aber nur dadurch, dass sich die verschiedenen Dimensionen ergänzen. Die Bilder zeigen nämlich nicht, dass der Wirt tot und nicht nur verletzt ist. Sie zeigen auch nicht, dass Fortunatus das Kleinod entwendet und sich nicht, wie der Sultan in der späten Redaktion mutmaßt, lediglich „ein Kurzweil erlaubt“ (F 1850, S. 36), und danach mit dem Hütlein zurückkehrt. Dieses erfährt der Leser vom begleitenden Text. Der Sinn der Redaktion eines Romans ist also „das komplexe Resultat“ des Zusammenspiels der „am Prozess beteiligten Medien“232 beziehungsweise der Dimensionalität des Bucherzählens. Weiter oben zeichne ich forschungsgeschichtliche Versuche nach, das Titelblatt von 1509 zu deuten, und mache die Darstellung von Fortunatus und seinen Söhnen als Variante eines Magister-cum-Discipulis-Titels wahrscheinlich.233 Vor dem Hintergrund der Romanhandlung und in Anbetracht der Tatsache, dass dieser Holzschnitt am Ende des Buchs wiederholt wird, sehe ich das Motiv als Hinweis darauf, dass der Roman in dieser Redaktion vor dem Scheitern von Wissensvermittlung warnt. Der Titel von 1850 rückt dagegen die Glücksthematik mit der Darstellung Fortunas und ihrer Glücksgüter ins Aufmerksamkeitszentrum. Dies setzt sich auf der Dimension der Textholzschnitte fort, da hier Hütlein und Säckel überdurchschnittlich häufig zu sehen sind. Zeigt das erste Bild Fortunatus’ Geburt (vgl. F 1850, S. 4), so ist auf dem letzten Holzschnitt der ‚Tod‘ des Wunschhutes zu sehen (vgl. F 1850, S. 62). Die Bearbeitung des Romans zu einer Lebensbeschreibung, wie es der Titel formuliert, wird damit ins Bild gesetzt. Die Wichtigkeit der beiden Abbildungen ist dabei schon aus dem Umstand zu ersehen, dass es die einzigen Motive sind, die nicht schon in Otmars Druck vorhanden sind. Zwei von jenen Motiven, die in beiden Redaktionen Verwendung finden, vergleiche ich nachfolgend, um Tendenzen der Funktionalisierung von Holzschnitten bei der Sinnstiftung in der Fortunatus-Überlieferung aufzuzeigen. Der erste zu untersuchende Holzschnitt im Erstdruck (vgl. F 1509, S. 435) zeigt sowohl Fortunatus beim Kauf eines jener Pferde, für die sich auch der Waldgraf interessiert (vgl. F 1509, S. 432 f.), als auch die Gefangennahme durch einen der Häscher. Damit sind simultan nicht nur zwei aufeinanderfolgende Ereignisse dargestellt, sondern gleichzeitig – wie es auch die Beischrift formuliert – ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang: Wie fortunatus ainem waldgraffen ettliche hübsche pferd auss den haͤ nden kaufft/ darumb er gefangen ward/ vnd in groß not vnd angst kam (F 1509, S. 434, meine Hervorhebung). 1850 ist dagegen nur der Moment der
Elemente einer ‚Poetik der Sichtbarkeit‘ (S. 157–169), die den Leser zu einem Augenzeugen zweiter Ordnung machen (Zwischentitel zum Kap. S. 153–157). 232 Ebd., S. 75 f. 233 Vgl. das Kap. 1.1.3.
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Gefangennahme ins Bildmedium umgesetzt (vgl. F 1850, S. 15). Dafür sind gleich zwei Männer zu sehen, die Fortunatus bei den Armen packen, was der Szene große Dynamik verleiht, die mit den strengen Linien der Architektur im Bildhintergrund kontrastiert. Das Motto dieses fünften Kapitels mahnt, „[s]eine Gaben vor den Bösen“ zu schützen (F 1850, S. 13), was durch die Abbildung durchaus plausibilisiert wird, da Fortunatus hier auf offener Straße angegriffen wird. Der titulus zur zweiten hier zu vergleichenden Illustration von 1509 gibt vier mögliche Bildkomplexe vor: erstens der Verlust der Glücksgüter, zweitens das Wachsen von Andolosias Hörnern, drittens dessen Leiden und viertens die Hilfe des Einsiedlers, um die Hörner wieder zu vertreiben (vgl. F 1509, S. 536). Doch keiner wird auf dem Holzschnitt exakt umgesetzt. Und dies, obwohl durch Simultandarstellung erneut ein zeitliches Nacheinander oder vielleicht sogar zwei zeitlich parallele, aber räumlich geschiedene Handlungen bebildert sind: Agripina fliegt mit Hilfe des Hütleins zurück nach London, ehe oder während Andolosia mit dem Einsiedler spricht. Damit wird der Verlust von Säckel und Hütlein (erste Möglichkeit) nur indirekt gezeigt und anstatt der konkreten Abhilfe gegen die Hörner (vierte Möglichkeit) sieht man das vorausgehende Gespräch. Indem der Schnitt die abwesende Agripina und damit den Verlust der Glücksgüter präsent hält, gelingt es aber zusätzlich, ins Bildmedium umzusetzen, was auf der Dimension des Haupttextes von der Figur des Einsiedlers über Andolosia behauptet wird, nämlich dass „[s]ein synn vnd gemuͤ t swarlich beladen“ sei „mit zeitlichen vnd tzergengklichen sachen“ (F 1509, S. 537). Die Abbildung von um 1850 zeigt ebenfalls und ausschließlich den Dialog der beiden Figuren (vgl. F 1850, S. 49). Der Gegenstand ihrer Unterhaltung ist durch Andolosius’ Gestik vereindeutigt. Er weist mit dem Finger auf die Hörner und bittet um die Hilfe des ortskundigen Einsiedlers. „[D]as Jammern“, von dem das Motto berichtet (F 1850, S. 48), ist dabei nicht mit der dargebotenen Szene identisch, da sich das Motto als Ganzes auf den unmittelbar folgenden Klagemonolog des Helden bezieht. Die Bilder sind im neunzehnten Jahrhundert also nicht aus dem Roman verschwunden,234 doch es ist zu sehen, dass ihre Verzahnung mit den anderen
234 Den Titelholzschnitt und alle Wiederholungen eingeschlossen, setzt der Erstdruck im Durchschnitt je 4,4 Seiten eine Illustration, während die späte Redaktion mit einem Bild auf durchschnittlich 5,8 Seiten nur unwesentlich schwächer bebildert ist. Vgl. dagegen Manuel Braun: Illustration, Dekoration und das allmähliche Verschwinden der Bilder aus dem Roman (1471– 1700). In: Cognition and the Book. Typologies of Formal Organisation of Knowledge in the Printed Book of the Early Modern Period. Hg. von Karl A.E. Enenkel, Wolfgang Neuber. Leiden, Boston 2005 (Intersections 4), S. 369–408, der bis 1700 die Tendenz eines „Verschwinden der Bilder aus dem Roman“ (S. 407) konstatiert. Es wäre anhand weiterer Belege aus dem neunzehnten Jahr-
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Dimensionen der Sinnstiftung in der untersuchten Redaktion eine andere ist. Wirbt schon das Titelblatt mit dem Abdruck von „Vignetten“, so kann oben wahrscheinlich gemacht werden, dass der Zyklus als Ganzes auf die Bearbeitungsrichtung auf eine Lebensbeschreibung hin abgestimmt ist. Dafür sind die Bezüge zu den neuen Motti weniger eng als zu den tituli des Erstdrucks. Während dieser vor allem die Handlung ins Bild umsetzt und dafür auch die Technik der Simultandarstellung nutzt, zeige ich an anderer Stelle, dass die Illustrationen von 1850 insbesondere zur Figurencharakterisierung beitragen.235 Im Einzelfall sind Abweichungen gegenüber dem Haupttext zu verzeichnen (vgl. z. B. die beiden Titelbilder sowie F 1850, S. 47), was den Charakter der Eigenständigkeit des Bildmediums unterstreicht. Doch kann zugleich gezeigt werden, dass in beiden Fällen die intermediale Bezogenheit auf andere Dimensionen ein komplexes Deutungspotential eröffnet.
1.3.5 Dimensionalität ermöglicht Perspektivierung236 Der Begriff der ‚Dimension‘ wird in die mathematische Fachsprache des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts eingeführt und meint die räumliche Erstreckung eines Körpers.237 Frühester Beleg ist nach dem Deutschen Fremdwörterbuch allerdings der Vocabularius praedicantium eines Johannes Melber.238 Er versteht unter dem Terminus „die grossung vnd messung eins dings“ und zwar „nach der lenge hohe dieffe vnd breite“.239 Unversehens ist damit die sinnlich erfahrbare Dreidimensionalität überschritten, was auf eine abstrakte Begriffsver-
hundert zu überprüfen, ob man eher von einem zyklischen Verschwinden mit anschließender Wiederkehr ausgehen muss. 235 Vgl. S. 53–56 im Kap. 1.2.1. 236 Vgl. dazu auch die Kap. 2.3.1 und 2.3.3. 237 Vgl. Heidrun Kämper: Art. Dimension. In: Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2., völlig neubearb. Aufl. Bd. 4. Bearb. von Gerhard Strauß u. a. Berlin, New York 1999, S. 588–594, hier: S. 588. 238 Vgl. ebd., S. 588 f.; zum Vocabularius vgl. Ulrike Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher. Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte. Berlin, New York 2001, hier: S. 47 f. 239 Johannes Melber: Incipit variloquus. Idem vocabulum diuersimode acceptum varie theutunisando exprimens. Predicatoribus consolabile enauigium. Compilatus per venerabilem magistrum Johannem melber de gerolczhofen ex sermonibus auditis et per eundem conscriptis sub venerando viro magistro Jodoco eychman de kalw eximio doctore ac famosissimo verbi dei predicatore in heidelberga. Reutlingen: Greyff [um 1480], hier: fol. [55]v., Exemplar der BSB München, Sign. Inc. s.a. 1254 d. Vgl. dazu Peter O. Müller: Deutsche Lexikographie, S. 45–49.
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wendung in späterer Zeit vorausweist. Dann ist auch von einer ‚vierten Dimension‘ und neben den räumlichen von zeitlichen Dimensionen die Rede.240 Die abstrakten Begriffe der ‚Dimension‘ und der ‚Dimensionalität‘ ermöglichen es, haupt- und paratextuelle Phänomene eines Buchs in seiner Materialität ebenso zu erfassen wie strukturelle – und auch die zeitliche Komponente der text- und überlieferungsgeschichtlichen Varianz vermögen sie mit abzudecken.241 Ausgangspunkt ist die Vorstellung von der Seite als ‚Textraum‘, der durch das Zusammenwirken typographischer Mittel beim mise en page über den abstrakten Wortlaut des Textes hinaus semantisch aufgeladen wird.242 Auch in der material philology wird eine Handschrift als „multi-dimensional space“ verstanden.243 Entscheidend dafür, von verschiedenen Dimensionen einer Redaktion in meinem Sinne zu sprechen, ist, dass die Linearität des Textflusses durchbrochen wird. Dies gilt häufig als Kriterium der auf Gérard Genette zurückgehenden ‚Peritextualität‘.244 Aber nicht nur Zwischentitel, Anmerkungen oder Bilder unterbre-
240 Vgl. Kämper: Art. Dimension, S. 588. – Der von mir ebenfalls gebrauchte Begriff ‚Dimensionalität‘ kommt erst im zwanzigsten Jahrhundert mit der Bedeutung ‚Ausgedehntheit‘ auf (vgl. ebd., S. 589 und S. 591). 241 Gunter Martens: Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hg. von Gunter Martens, Hans Zeller. München 1971, S. 165–201, fordert „die ‚vertikale‘ Entstehungsdimension“ eines Werkes zu berücksichtigen, um sein „volle[s] Bedeutungsspektrum [...] zu erschließen“, während sich Barbier: Vektorialität, der Text- und Überlieferungsgeschichte von Melusine-Romanen mit Hilfe der geometrischen Metaphorik der ‚Vektorialität‘ widmet (S. 168). 242 Vgl. dazu Henri-Jean Martin: La Naissance du livre moderne (XIVe–XVIIe siècles). Mise en page et mise en texte du livre français. Avec la collaboration de Jean-Marc Chatelain u. a. o.O. [Paris] 2000, hier: S. VI–VIII; Wolfgang Neuber: Ökonomien des Verstehens. Markt, Buch und Erkenntnis im technischen Medienwandel der Frühen Neuzeit. In: Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Wilfried Seipel, Horst Wenzel, Gotthart Wunberg. Wien 2000 (Schriften des Kunsthistorischen Museums 5), S. 180–211, hier: S. 191–202; Bumke: Retextualisierungen, S. 25, sowie Simone Schultz-Balluff: Gliederungsprinzipien und Rezeptionslenkung in spätmittelalterlichen Handschriften. Am Beispiel des ‚Apollonius von Tyrland‘ Heinrichs von Neustadt. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 (Beihefte zu editio 32), S. 333–345, hier: S. 333. 243 Stephen G. Nichols: Why Material Philology? Some Thoughts. In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hg. von Helmut Tervooren, Horst Wenzel. Berlin u. a. 1997 (ZfdPh 116, Sonderheft), S. 10–30, hier: S. 14. Vgl. dazu auch das Kap. 2.2.1. 244 Vgl. Bunia: Stimme der Typographie, S. 379; Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul). Berlin, New York 2007 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 46 [280]), hier: S. 20 f., sowie Genette: Paratexte, S. 12 f.
1.3 Dimensionen der Sinnstiftung im Vergleich
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chen diese Linearität;245 dies gilt vielmehr auch für die Verteilung des Haupttextes auf Erzähler- und Figurenrede, das Vorhandensein narrativer Strukturen oder die Unterteilung eines Werkes in einzelne Kapitel und Absätze. Im Gegensatz dazu gelten in dieser Arbeit inhaltliche Aspekte wie ‚Begierden‘, ‚Triebe‘, ‚Ängste‘, ‚Lüste‘ oder das Mythische, welche andernorts ebenfalls ‚(Tiefen-)Dimensionen‘ genannt werden,246 nicht als ‚Dimensionen narrativer Sinnstiftung‘. Ein weiterer Begriff, der im Untersuchungszeitraum in der deutschen Sprache aufkommt, ist derjenige der ‚Perspektive‘.247 Terminologisch eingeführt, aber nicht unumstritten, ist dieser Begriff in der Narratologie, wo er den point of view einer Figur oder des Erzählers meint.248 Da es mir aber gerade darum zu tun ist, Prozesse der Sinnstiftung möglichst umfassend zu analysieren, also explizite
245 Vgl. für die genannten Beispiele stellvertretend Ader: Prosaversionen, S. 17; Martina Backes: Geordnete Texte. Zur Geschichte und Entwicklung von Rubriken in deutschen und französischen Romanen des Mittelalters. In: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Koll. 2004. In Verb. mit Wolfgang Haubrichs und Klaus Ridder. Hg. von Eckart Conrad Lutz. Berlin 2006 (Wolfram-Studien 19), S. 301–315, hier: S. 304; Johannes Klaus Kipf: ‚Pluto ist als vil als Lucifer‘. Zur ältesten Verwendung gedruckter Marginalnoten in deutschen literarischen Texten (bis 1520). In: Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Hg. von Bernhard Metz, Sabine Zubarik. Berlin 2008 (Kaleidogramme 33), S. 33–58, hier: S. 33, sowie Norbert H. Ott: Text und Bild – Schrift und Zahl. Zum mehrdimensionalen Beziehungssystem zwischen Texten und Bildern in mittelalterlichen Handschriften. In: Wissen und neue Medien. Bilder und Zeichen von 800 bis 2000. Hg. von Ulrich Schmitz, Horst Wenzel. Berlin 2003 (PhStQ 177), S. 57–91, hier: S. 64 f. 246 Vgl. stellvertretend K. Ludwig Pfeiffer: Dimensionen der ‚Literatur‘. Ein spekulativer Versuch. In: Materialität der Kommunikation. Unter Mitarb. v. Monika Elsner u. a. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988, S. 730–762, hier: S. 732. 247 Vgl. Marion Grams-Thieme: Art. Perspektive. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6. Taschenbuch-Ausg. Hg. von Charlotte Bretscher-Gisiger. München 2002, S. 1906–1907, hier. S. 1906 f.; und für Verwendungsbeispiele Gert König: Art. Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11. Hg. von Karlfried Gründer, Joachim Ritter. Darmstadt 1989, S. 363–375. – Zur Einübung von Rezipienten in das ‚perspektivische Sehen‘ ausgehend von den Überlegungen Leonardos da Vinci und Albrecht Dürers vgl. Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausg. Frankfurt a. M. 1998, hier: S. 602–640. Am Ende eines Lernprozesses sei es „[f]ür den neuzeitlichen Betrachter [...] nicht nur typisch, daß er die Dinge von mehreren Seiten ‚anvisiert‘“, er seziere das Betrachtete dabei auch, sodass „mehrdimensionale[ ] Modelle[ ]“ durch seine Wahrnehmung abstrahiert werden (ebd., S. 618). 248 Zu der von Kristin Morrison und Gérard Genette ausgehenden Präzisierung des Begriffes vgl. Manfred Jahn: Narratologie: Methoden und Modelle der Erzähltheorie. In: Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einf. Unter Mitwirkung v. Sabine Buchholz und Manfred Jahn. Hg. von Ansgar Nünning. Trier 1995 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 1), S. 29–50, hier: S. 44; Martinez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 63–67. Einen New
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Kommentare und Lektüreanweisungen ebenso zu erfassen wie das Sinnstiftungspotential der Invisibilisierung von Inhalten auf Text- oder Bildebene, kann ich auf begriffliche Binnendifferenzierungen wie Seymour Chatmans ‚slant‘ und ‚filter‘ verzichten,249 ohne in der Sache den Beitrag einzelner ‚Dimensionen‘ an der Sinnstiftung zu vergleichgültigen. Meine These ist, dass diejenigen ‚Dimensionen‘, aus denen der vormoderne Roman zusammengesetzt ist, jeweils eine eigene ‚Perspektive‘ auf das Erzählte eröffnen und dadurch an seiner Sinnstiftung mitwirken.250 Die Perspektive ist also die ‚subjektive‘ Relation einer Dimension zur Gesamtheit des Romans. Alle derartigen Perspektiven sind Teil des Werkes und geben mögliche Sichtweisen auf dasselbe frei. Da ein Werk aber aus mehreren Dimensionen besteht, durch deren Perspektive aber nur jeweils ein Ausschnitt wahrzunehmen ist, und da die einzelnen Dimensionen notwendigerweise nicht deckungsgleich sind, variiert der Sinngehalt des Romans je nach der eingenommenen Perspektive.251 So zeige ich oben, dass das Nachwort im Fortunatus-Erstdruck in Übereinstimmung mit der Vorred (vgl. F 1509, S. 387 und S. 579 f.) als traditionelle moralisatio vor irdischen Schätzen warnt und stattdessen zum Erwerb von Weisheit auffordert.252 Dieser Paratext wird in der Redaktion von um 1850 narrativiert (vgl.
Point of View on ‚Point of View‘ bietet außerdem Seymour Chatman: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca, London 1990, im gleichnamigen Kap. (S. 139–160). 249 Vgl. Chatman: Coming to Terms, S. 143 f. 250 Dies entspricht der „mittelalterlichen Bildwahrnehmung“, die „mehr als einen Fokus“ aufweist und nach Horst Wenzel daher „als ‚polyfokal‘ oder als ‚multiperspektivisch‘“ anzusehen ist (Wenzel: Leser als Augenzeuge, S. 148 f.). Sie schließt dabei „Dimensionen des Raumes“ ebenso ein wie „die Dimension der Zeit“ (ebd., S. 149). Parallelen zum frühen Buchdruck zieht Wenzel allerdings nicht, er sieht eine Entsprechung im Bereich der Literatur vielmehr im vierfachen Schriftsinn der Allegorese (vgl. ebd., S. 153). 251 Vgl. dazu die ‚Theorie der Perspektiven‘ von James K. Feibleman: Die Unbestimmtheitsrelation in neuer Sicht [Übers. aus dem Engl.]. In: Ratio 11 (1960), S. 119–134, hier: S. 128, die er gegen weiterreichende Schlüsse aus Heisenbergs ‚Unschärfeprinzip‘ in Stellung bringt und gemäß dem ‚Perspektiven‘ nicht dem Betrachter, sondern dem Betrachteten zuzurechnen sind: „Nach dieser Theorie stünde der Beobachter in einer bestimmten Perspektive und bliebe im Zustand eines in dieser Perspektive Stehenden. Die Perspektive existiert also, ob jemand sie einnimmt oder nicht. Die Perspektive ermöglicht es dem in ihr Stehenden, einen Ausschnitt aus der natürlichen Welt zu beobachten, indem sie bestimmt, welchen Ausschnitt er beobachten soll. So haben Perspektiven einen ermöglichenden und limitierenden Charakter, aber keinen hindernden. Die durch eine Perspektive erzielten Kenntnisse wären dann immer Teilerkenntnisse, wenn auch nicht notwendigerweise falsche. Die Perspektive gehört zum Objekt und nicht zum Beobachter. Jedes Objekt trägt mit sich eine riesengroße Anzahl von Perspektiven, von denen eine jede unter geeigneten Umständen eingenommen werden kann“ (Hinweis bei König: Art. Perspektive, S. 370). 252 Vgl. das Kap. 1.1.4.
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F 1850, S. 64) und gemeinsam mit der Dimension der Motti lenkt die neue Schlussszene nun den Blick des Lesers vor dem Hintergrund der menschlichen Sterblichkeit auf einen Mechanismus von Schuld und Strafe.253 Aber auch die Strukturen des Romans, unter denen ich nicht nur die globale Architektur unter Berücksichtigung verwendeter Erzählschemata verstehe, sondern gerade auch die Aufteilung des Textes in Kapitel und Absätze, geben dem Leser Perspektiven für seine Lektüre vor. Denn die jeweils separierte Textmenge wird je getrennt rezipier-, beschreib- und in ihrem Aufbau vergleichbar. Anhand der Redaktion aus dem neunzehnten Jahrhundert verdeutliche ich oben, dass die Struktur der Kapitel mit ihrem Inhalt korrespondiert und sich beispielsweise parallel zum Auftreten der Figur des Leopold verändert (vgl. F 1850, S. 17–32).254 Sowohl Wiederholungen als auch Abweichungen von etablierten Schemata sind dabei bedeutungstragend und verfügen über Deutungspotential. Dieses Phänomen wiederholt sich auf der darunterliegenden Gliederungsebene der Absätze. Die Handlung unterschiedlicher Szenen kann zusammengezogen werden, indem die Redaktion keinen Absatz setzt (so bei der Orientreise F 1850, S. 34–36), wie eine Szene durch den Einsatz von Absätzen umgekehrt auch binnengegliedert werden kann,255 womit auf der Handlungsebene Zusammenhängendes strukturell perspektiviert wird. In Otmars Druck von 1509 werden gleich drei Einschnitte mit einer Initiale (fol. Dr., fol. Dv., und fol. Dv.) zur Binnenuntergliederung des Kapitels Wie jeronimus roberti vnd als sein hauß gesyn gefangen/ vnd vnschuldiklich gehenkt wurden/ allein fortunatus erloͤ digt ward (F 1509, S. 419–423) eingesetzt.256 Das hier verhandelte Verschweigen eines Mor-
253 Vgl. S. 58–60 im Kap. 1.2.1. 254 Vgl. S. 73–78 im Kap. 1.2.3. 255 Eine Binnenstrukturierung von Kapiteln ist im Erstdruck von 1509 selten. Es gibt Absätze mit nachfolgender Initiale (fol. Biiijv., fol. Cijv., fol. Dr., fol. Dv., fol. Dv., fol. Eiijv., fol. Sijv.) und ein Alineazeichen innerhalb eines Kapitels (fol. Mijv. falsch für: fol. [Nij]v.) sowie neun einfache Absätze (fol. Bv., fol. Cr., fol. Jr., fol. Jijv., fol. [Kvj]v., fol. Pijr., fol. Sijr., fol. Siijr. und fol. Tr.). Die Edition von Jan-Dirk Müller (Hg.): Fortunatus, erweist sich in diesem Punkt als unzuverlässig. Es fehlen die Absätze fol. Bv., fol. Jr., fol. [Kvj]v., fol. Sijr., fol. Siijr. und fol. Tr., umgekehrt haben die Absätze F 1509, S. 444 und S. 452, keine Entsprechung im historischen Druck (vgl. fol. Fiiijr. und fol. Gijv.). 256 Dieses setzt mit dem Fund der Leiche des englischen Edelmannes ein. Der erste Einschnitt unterbricht die nachfolgende Aussage des Jeronimus an jener Stelle, an der er von der Vorgeschichte zu den Indizien des Mordes überleitet. Es folgen die weiteren Aussagen und das Urteil des Königs. Der zweite Absatz endet mit Fortunatus’ Gedankenrede, welche die Vollstreckung des Urteils unterbricht. Direkt auf den zweiten Einschnitt folgt die Fürsprache des Kochs für Fortunatus. Das Thema des gesamten dritten Absatzes ist denn die Diskussion über dessen Unschuld und seine Erledigung von dem Strang. Der vierte und letzte Absatz des Kapitels konstatiert die erfolgte Hinrichtung und widmet sich dann der Hinterlassenschaft der Roberti und dem weiteren Schick-
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1 Ganz neu, und angenehm erzählt: Fortunatus 1509 und 1850
des und seine rechtmäßige Bestrafung bilden einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, der zunächst strukturell und dann haupttextuell perspektiviert wird. So ist der erste Absatz der Schuld Andreans gewidmet, der zweite der Mitschuld der Roberti, der dritte Fortunatus’ Unschuld, und der vierte fasst die Vollstreckung des Urteils und dessen Rechtmäßigkeit zusammen. Jedoch deckt die von der Erzählerdimension aus formulierte Schlussbemerkung nicht das ganze Geschehen ab. Schließlich blendet seine Perspektive den materiellen Schaden der Unbeteiligten (Fortunatus und die weiteren Florentiner und Lombarden) aus. Die Sicht wird auf die Bestrafung der Mitschuldigen limitiert.
1.3.6 Dimensionale Konkurrenz um die Deutungshoheit Haupttextuelle Dimensionen (wie die Perspektiven einzelner Figuren oder des Erzählers sowie textgeschichtlich betrachtet alle Hinzufügungen, Auslassungen und Umbesetzungen), paratextuelle Dimensionen (vom Titelblatt über das Bildprogramm bis zur Mitüberlieferung) und strukturelle Dimensionen (die globale Architektur des Textes mit den vorherrschenden Erzählschemata, aber auch die Gliederung nach Kapiteln und Absätzen) konstituieren den spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Roman in seiner geschriebenen oder gedruckten Überlieferungsgestalt. Der Sinngehalt muss daher nicht eindimensional sein, ja es ist nachgerade unwahrscheinlich, dass die Vielzahl der an der Sinnstiftung beteiligten Dimensionen einen eindeutigen Textsinn setzten. Im Gegenteil stört sich der vormoderne Roman nicht an Vieldeutigkeit. Er kann sie aushalten und treibt sie im Einzelfall sogar hervor. Dadurch entsteht in der Forschung von der Gattung ‚Prosaroman‘ der Eindruck der Hybridität, der Verrätselung und sogar der Sinnlosigkeit.257 Doch gehen vereindeutigende Erzählerkommentare oder paratextuell hervorgehobene Lehrsätze nicht am Sinn eines Werkes vorbei, sie simplifizieren es nicht, eher erhöhen sie dessen Komplexität, indem mit ihnen eine weitere Dimension am Prozess der Sinnstiftung beteiligt ist. Und keine der Dimensionen kann einem Roman in toto gerecht werden, jede verkürzt oder verzerrt notwendig den Blick auf denselben. Doch muss man bei einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ jede Dimension gelten lassen, aber nur als das, was sie vorstellt, nämlich
sal der florentinischen und lombardischen Händler in London. Das Kapitel schließt mit fingierten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Urteils und mit einem Hinweis auf die Gültigkeit des kaiserlichen Rechts. 257 Vgl. Armin Schulz: Poetik des Hybriden; Mühlherr: Verrätselter Sinn, sowie Manuel Braun: Vergesellschaftung, S. 100–103. Vgl. dazu das Kap. 2.3.2.
1.3 Dimensionen der Sinnstiftung im Vergleich
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eine eigenständige Perspektive und nicht als die Quintessenz einer Redaktion oder gar des ganzen Werkes. So hält auch der Fortunatus in seinen Ausformungen von 1509 und 1850 zahlreiche Sinngehalte bereit, die einander ergänzen, aber auch widersprechen. Einige von ihnen werden nachfolgend zur Verdeutlichung zugespitzt: Weisheit statt Reichtum! Weisheit und Reichtum! Das Glück dieser Welt ist wankelmütig! Dem Mutigen gehört die Welt! Sei aber stets vorsichtig! Bedenke dich nicht lang! Frage weise Leute um Rat! Auf Schuld folgt Strafe! Unschuld schützt nicht vor Verfolgung! Memento mori! Erfahre die Welt! Hüte dich vor Sünden! Erziehe deine Kinder! Mit rechter Vernunft kannst du deinen Reichtum sehen lassen! – Diese Aufzählung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, illustriert aber, dass alle aufgeworfenen Perspektiven nur einen Teil der Erzählung abdecken können und doch gleichzeitig einen je eigenen Zugang zum Roman ermöglichen. Keine der Dimensionen hat also per se die ‚Deutungshoheit‘. Diese ist eine Zuschreibung von Leserseite, die dem Bedürfnis – auch der Interpreten – nach Vereindeutigung entspringt.258 Die Romane forcieren ihrerseits eine „Offenheit des Textes gegenüber der interpretativen Leistung seines Lesers“ und Jan Hon beobachtet in der Gattungsgeschichte des Prosaromans sogar die Tendenz, „einen wesentlichen Teil der Deutungsverantwortung“ vor allem vermittels der Paratexte explizit „auf den Leser“ zu übertragen.259 Die Romane rechnen demnach „mit dem Rezipienten als einer autonomen Instanz der Sinnstiftung“. Doch ist die dem Leser zugestandene Freiheit nicht absolut. Mit Hilfe der einzelnen Dimensionen geben die Romane nämlich gleichzeitig ein Spektrum möglicher Perspektiven und ‚relevanter Lektüren‘ vor.260 Zwischen diesen ‚Gütern‘ hat der Leser dann – wie Fortunatus – die Wahl.
258 Vgl. die grundlegenden Forschungszugänge zum Fortunatus, S. 21–24 im Kap. 1.1.2. 259 Das erste Zitat Jan Hon: Aemulatio im Kommunikationsraum des frühneuzeitlichen Prosaromans. In: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). In Zusammenarbeit mit Sylvia Brockstieger, Jan Hon und Semjon Aron Dreiling. Hg. von Anna Bleuler u. a. Berlin, Boston 2011 (P&A 27), S. 393–416, hier: S. 411; die folgenden ebd., S. 404. – Diese Beobachtung stützt Andreas Lötscher: Auf ein Neues übersehen/mit reinem Teutsch verbässert. Grundzüge der Textgestaltung in der HWb. In: Historische Wunder-Beschreibung von der so genannten Schönen Melusina. Die „Melusine“ (1456) Thürings von Ringoltingen in einer wiederentdeckten Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert. Edition und Beitr. zur Erschließung des Werkes von Catherine Drittenbass u. a. Hg. von André Schnyder. Berlin 2014 (Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben 14), S. 609–658, hier: S. 658, mit seinem Vergleich der ‚Vulgata‘Fassung der Melusine-Tradition und ihrer Neubearbeitung zur Historischen Wunder-Beschreibung im achtzehnten Jahrhundert. 260 Für den Begriff vgl. Genette: Paratexte, S. 10, wobei hier die Position des Autors durch alle an der Überlieferung Beteiligten Instanzen zu ersetzen ist.
2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden 2.1 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur 2.1.1 Die ‚Zielform‘ eines ‚Buchtyps‘ Mit dem ‚Frühneuhochdeutschen‘ ist ein sprachgeschichtliches und -geographisches Kriterium aufgerufen, das den Untersuchungsgegenstand auf die Zeit von der Mitte des vierzehnten bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts oder sogar bis um 1720 und auf den hochdeutschen Sprachraum eingrenzt.1 Da die Überlieferung der Romane mit dem Erreichen dieser sprachhistorischen Grenze aber nicht abbricht, berücksichtige ich auch spätere Textzeugen bis ins neunzehnte Jahrhundert, die mit Franz Simmler als ‚neuhochdeutsche Prosaromane‘ bezeichnet werden können.2 Der Zusatz Prosaroman konstatiert negativ ein Fehlen von Versbindung, was lediglich zu begrifflicher ‚Unterdetermination‘ im Vergleich zum Versroman führt.3 Was die ‚Romanhaftigkeit‘ dieser Werke anbetrifft, kommt die marxistische Literaturtheorie zu dem Ergebnis, dass es sich (noch) nicht um Romane handele, doch dass gerade der Fortunatus bereits „wesentliche Voraussetzungen
1 Vgl. Oskar Reichmann: Lexikographische Einleitung. In: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Bd. 1. Bearbeitet v. Oskar Reichmann. Hg. von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel, Oskar Reichmann. Berlin, New York 1989, S. 10–164, hier: S. 31–37. – Eine Überblicksdarstellung zum niederdeutschen Prosaroman ist ein Desiderat, es muss einstweilen verwiesen werden auf Hubertus Menke: Kurtzweilige Historien vnd andere Bücher in allerley Künsten/ Teutsch vnd Sächsisch. Zur Überlieferung, Gebrauchsweise und Wirkung der frühen Erzählprosa im niederdeutschen Sprachgebiet. In: Jb. des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung 102 (1979), S. 91–161. Rita Schlusemann: Melusina – niederdeutsch. In: westfeles vnde sassesch. Festgabe für Robert Peters zum 60. Geb. Hg. von Robert Damme, Norbert Nagel. Bielefeld 2004, S. 293–310, hat schon vor dreizehn Jahren eine Edition des niederdeutschen Überlieferungszweiges von Thürings Roman angekündigt (vgl. S. 294). 2 Vgl. Franz Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung. Sprachliche Veränderungen in der Stoffgeschichte und ihre Rückwirkungen auf Textsorten-Differenzierungen. In: Daphnis 21 [falsch für 20] (1991), S. 457–486, hier: S. 475; Simmler: Melusine um 1700, S. 606 f. 3 Vgl. Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 15 f. – Die verschiedenen Erklärungsversuche des Umschlagens von Vers zu Prosa diskutiert Rüdiger Schnell: Prosaauflösung und Geschichtsschreibung im deutschen Spätmittelalter. Zum Entstehen des frühneuhochdeutschen Prosaromans. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symp. Wolfenbüttel 1981. Hg. von Ludger Grenzmann, Karl Stackmann. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 5), S. 214–248.
DOI 10.1515/9783110517156-003
2.1 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur
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für die Gattung des Romans“ erfülle.4 Jedoch rekurrieren die Vertreter dieser Schule auf ein ‚bürgerliches‘ Romankonzept,5 das der Traditionalität des Korpus mit seinen mannigfaltigen höfischen Komponenten von vorneherein unangemessen ist. Hans-Gert Roloff legt dagegen 1983 eine vorläufige Liste von „Strukturen, tektonische[n] Elemente[n], Motive[n] und Funktionen“ vor, „die bereits zu dieser Zeit dem späteren Grundmuster ‚Roman‘ entsprechen“.6 In der jüngeren Vergangenheit weist Johannes Klaus Kipf auf Clemens Lugowskis „proto-narratologische Kategorien“ und den ‚Sujet‘-Begriff Jurij Lotmans als Instrumente hin, mit denen sich „das Romanhafte des Prosaromans“ analysieren lasse.7 Weiter unten gehe ich auf weitere Forschungsarbeiten ein, die das Korpus des Prosaromans vermessen und Explikationen für diese Gattung erarbeiten. Im Mittelpunkt steht dabei der kontrovers aufgenommene Begriff einer ‚Zielform‘, der dazu einlädt, den Prosaroman nicht nur als eine literarische Gattung oder linguistische Textsorte, sondern vor allem als einen ‚Buchtyp‘ zu interpretieren. Denn im Einzelfall ist es durchaus diskutabel, welche Werke als ‚Prosaroman‘ verstanden werden sollen. Exemplarisch verdeutlichen dies die Ausführungen von Katharina Philipowski zu Enea Silvio Piccolominis Historia de duobus amantibus (1444) und Niklas von Wyles deutscher Übersetzung Euryalus und Lucretia (1462).8 Einerseits fehle der dargebotenen Ehebruchsliebe u. a. das prosaromantypische ‚mythische Analogon‘, andererseits seien Erzählergestaltung und Figu
4 Renate Noll-Wiemann: Einführung. In: Fortunatus. Von Fortunato und seynem Seckel auch Wünschhütlein. Mit einem Vorw. v. Renate Noll-Wiemann. Hildesheim, New York 1974 (Dt. Volksbücher in Faksimiledrucken, A 4), S. V*–XXVI*, hier: S. XXII*. 5 Vgl. dazu Wiemann: Erzählstruktur im Fortunatus, S. 285–301; Raitz: Fortunatus, S. 84–92. Hier sind auch Bernhard Burcherts an der Romantheorie Georg Lukács’ ausgerichtete Arbeiten zu Elisabeth von Nassau-Saarbrücken zu verorten (vgl. Bernhard Burchert: Die Anfänge des Prosaromans in Deutschland. Die Prosaerzählungen der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Frankfurt a. M. u. a. 1987 [= EuHS-1 962], hier: S. 159–196; Bernhard Burchert: Auf dem Weg zum Roman. Anm. zu der Gattungskontroverse um den ‚Hug Schapler‘. In: ZfdPh 107/3 [1988], S. 400–410, hier: besonders S. 408–410). 6 Roloff: Anfänge, S. 54 f. 7 Johannes Klaus Kipf: Schwankroman – Prosaroman – Versroman. Über den Beitrag einer nicht nur prosaischen Gattung zur Entstehung des frühneuzeitlichen Prosaromans. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 145–162, hier: S. 155. 8 Vgl. Katharina Philipowski: Prosaisches Begehren. Eurialus und Lucretia im Kontext des frühhumanistischen Frauen-, Ehe- und Affektdiskurses. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
renzeichnung ungewöhnlich für eine Novelle; auch gebe es weder eine deutschsprachige Renaissance-Novellistik noch sei das Werk an die mittelalterliche Tradition anzuschließen. Salomonisch übernimmt Philipowski den von Ursula Hess auf die Griseldis gemünzten Begriff ‚Prosanovelle‘, der offen lässt, ob Wyles Übersetzung der größeren Textgruppe des ‚Prosaromans‘ angehört.
2.1.1.1 Die Ambivalenz zeitgenössischer (Selbst-)Deutung als eine einheitliche Gattung Derartige Unklarheiten folgen aus dem fehlenden zeitgenössischen Gattungsbewusstsein und der damit verbundenen Unabgeschlossenheit gegenüber anderen literarischen Strömungen und Traditionen.9 So gibt es im Spätmittelalter und noch weit in die Frühneuzeit hinein kein historisches Verständnis einer eindeutig zu umreißenden Textgruppe von ‚Prosaromanen‘ als einer ästhetischen oder stilistischen Einheit von Werken. Jeder Beleg, der auf ein solches Verständnis hinzudeuten scheint, lässt sich durch ein Gegenbeispiel entkräften. Auch kennen diese Romane keinen einheitlichen Begriff, mit dem sie sich selbst klassifizieren oder der in ihrer Zeit nur für sie verwendet würde. Auf den Titelblättern werden sie als ‚lieplichs lesen‘ (Hug Schapler, 1500 bei Johannes Grüninger), als ‚Rhuͦ mreich/ Zierlich/ vnnd Fruchtbare Histori‘ (Ritter Pontus, 1548 bei Christian Egenolff d.Ä.) oder als ‚wunderbarliche Geschicht‘ (Melusine, 1577 bei Christian Müller d.J.) angekündigt und beschrieben.10 Ich gehe im Folgenden auf Verlegerplakate, markierte Intertextualität, Mitüberlieferung und Erwähnungen in der Romankritik ein, wobei ich in einem Exkurs das Sinnstiftungspotenial von Holzschnitten ausleuchte, die aus anderen Werken übernommen werden. In Buchhändleranzeigen werden sie beispielsweise einfach als ‚guͦ te teütsche ͤ bucher‘ beworben, wobei sich bei Anton Sorg 1483 zwischen dem ‚schoͤ n lesen‘ von der Zerstörung Trojas, der ‚kurczweilige[n] hÿstori‘ von Wilhelm von Österreich sowie der ‚warhaffte[n] bewaͤ rte[n] hÿstori‘ Herzog Gottfrieds11 einerseits und der
Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 409–435, hier: S. 411– 418, mit weiteren Literaturangaben. 9 Vgl. das Kap. 2.1.2. 10 Vgl. zum Begriff der ‚history‘/‚historia‘ Joachim Knape: ‚Historie‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984 (Saecula spiritalia 10), hier: S. 238–283 und S. 326–331. 11 Es handelt sich um den 1482 bei Johann Bämler erschienenen Druck der vierten Übertragung der Historia Hierosolymitana des Robertus Monachus (vgl. Barbara Haupt: Art. Robertus Monachus. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 8. Zusammen mit Gundolf Keil u. a. Redaktion Christine Stöllinger-Löser. Hg. von Kurt Ruh. Berlin, New York 1992, S. 115–117; Barbara Haupt: Einführung in den Text. In: Robertus Mo
2.1 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur
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Melusine ‚mit figuren‘ sowie dem Alexander andererseits weitere volkssprachliche Texte finden, die sich aus dem Blick der heutigen Forschung eher als fiktionaler Reisebericht, Naturkunde und Visionsliteratur klassifizieren lassen.12 Ursula Rautenberg verweist darauf, dass diese Anzeigen in „Form und Aufmachung“ den Gepflogenheiten entsprechen, mit denen bereits Diebold Lauber die Erzeugnisse seiner Handschriftenwerkstatt bewirbt.13 Noch die Oderfrankfurter Buchdrucker, -verleger und -händler Hans und Friederich Hartmann bündeln in ihrem Verzeichnis erhältlicher Werke von 1606 einschlägige Prosaromane unter dem Rubrum ‚Historien‘.14 Die Einträge finden sich fast am Ende des Programms, lediglich Psalter, Gebetbüchlein und weitere
nachus: Historia Hierosolymitana. In dt. Übers. hg. von Barbara Haupt. Wiesbaden 1972 [Beiträge zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 3], S. 215–348, hier: vor allem S. 218–227), die Heinrich Steinhöwel zugeschrieben wird, was allerdings zweifelhaft ist (vgl. Gerd Dicke: Art. Steinhöwel, Heinrich, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 9. Zusammen mit Gundolf Keil u. a. Redaktion Christine Stöllinger-Löser. Hg. von Burghart Wachinger. Berlin, New York 1995, S. 258–278, hier: S. 274). 12 Vgl. Buchhändleranzeigen des 15. Jahrhunderts. Hg. von Konrad Burger. Leipzig 1907, hier: Nr. 26. – Bei den Texten, die zwischen den beiden Prosaroman-Gruppen angezeigt werden, handelt es sich um Johanns von Mandeville Reisebericht, das Buch der Natur und die Offenbarungen der Brigitta von Schweden. Weitere Anzeigen bei Ernst Vouilliéme: Nachträge zu den Buchhändleranzeigen des XV. Jahrhunderts in getreuen Nachbildungen hrsg. von K. Burger, Bibliothekar. Leipzig: Karl W. Hiersemann 1907. Gr.-2. In: Wiegendrucke und Handschriften. Festgabe Konrad Haebler zum 60. Geb. Hg. von Erich von Rath. Leipzig 1919, S. 18–44. – Zu Sorgs und Bämlers Anzeigen vgl. Gerd Dicke: Heinrich Steinhöwels ‚Esopus‘ und seine Fortsetzer. Untersuchungen zu einem Bucherfolg der Frühdruckzeit. Tübingen 1994 (MTU 103), hier: S. 225– 233; Jürgen Vorderstemann: Augsburger Bücheranzeigen des 15. Jahrhunderts. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Im Auftrag der Stadt Augsburg. Hg. von Helmut Gier, Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 55–71, hier: S. 59–69. 13 Ursula Rautenberg: Buchhändlerische Organisationsformen in der Inkunabel- und Frühdruckzeit. In: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert. 2. Halbbd. Hg. von Barbara Tiemann. Hamburg 1999, S. 339–376, hier: S. 351–353, das Zitat ebd., S. 351. Hier auch Abdruck der Einzelanzeige Gheraerd Leeus für eine mittelniederländische Melusine von 1491. – Zu Diebold Lauber vgl. auch Anneliese Schmitt: Tradition und Innovation von Literaturgattungen und Buchformen in der Frühdruckzeit, in demselben Sammelband, S. 9–120, hier: S. 48–55; Christian von Heusinger: War Diebold Lauber Verleger?. In: De captu lectoris. Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken. Hg. von Wolfgang Milde, Werner Schuder. Berlin, New York 1988, S. 145–154, sowie Gabriel Viehhauser-Mery: Die ‚Parzival‘-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters. Handschriften der Lauberwerkstatt und der Straßburger Druck. Berlin, New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte N.F. 55 [289]). 14 Das Verzeichnis ist abgedruckt bei Ernst Consentius: Von Druckkosten, Taxen und Privilegien im Kurstaat Brandenburg während des 16. und 17. Jahrhunderts. Mit Benutzung von Akten des Geheimen Staatsarchivs. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
erbauliche Werke in Duodez folgen. Neben den unstrittigen Fällen Melusine, Fortunatus und Magelone, Herzog Ernst, Ritter Pontus und Kaiser Octavianus, und den prominenten Sonderfällen Eulenspiegel sowie Hans Clawert (Schwankromane?), Sieben weise Meister (Exempelsammlung?) und Historia D. Johann Fausten (Schwankteil?) findet sich die oben diskutierte ‚Prosanovelle‘ von Euryalus und Lucretia unter den sogenannten ‚Historien‘. Bis hierhin ist die Liste von akademischen Binnendifferenzierungen abgesehen sicher konsensfähig. Eingeleitet wird das Angebot jedoch mit zwei Einträgen, die schon durch Nennung der Verfasser beziehungsweise Übersetzer – Matthias Dresser und Heinrich Rätel – aus dem Rahmen fallen.15 Vom zustande der Kirchen vnd Religion im Königreich Persien16 ist ein kurzer Aufriss der „Histori von den Orientalischen Kirchen“ (S. 296).17 In acht Schritten stellt Dresser die wechselvolle Geschichte des Perserreiches vom Anfang der Welt bis zu seiner Gegenwart vor (vgl. S. 274). Insbesondere hält er sich beim Besuch der Weisen aus dem Morgenland in Bethlehem (vgl. S. 277–281) und bei den zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen Persern und Türken auf (vgl. S. 287, S. 291–294 u. ö.). Sprachlich steht die Schrift den Religionsexkursen in Schiltpergers Reisebuch nahe. Von partiellen inhaltlichen Parallelen – auch einige der Prosaromane handeln teilweise vom Orient – abgesehen, verbindet somit alle ‚Historien‘ Hans und Friederich Hartmanns lediglich, dass es sich um Texte handelt, die nicht für die Glaubenspraxis bestimmt sind, und in volkssprachiger Prosa verfasst sowie im Oktav-Format gedruckt sind. Für die Buchhändler sind also die äußeren Merkmale der verlegten Buchtypen (Format, Sprache, Gebrauchsintention) wichtiger als Gattungsaspekte im modernen Sinn.
34/2 (1922), S. 175–238, hier: S. 215–221, die Historien ebd., S. 220 (Hinweis von Dicke: Esopus und Fortsetzer, S. 239 f.). 15 Um welche Schrift es sich beim Eintrag Hertzog Moritzen Churfürsten zu Sachssen handelt, konnte ich nicht ermitteln. 16 Ich verwende das Exemplar des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Berlin, Sign. Rara G 643h, die folgenden Seitenzahlen im Fließtext beziehen sich auf dieses Exemplar: Mattheus Dresserus, Heinrich Rätel: Warhafftiger Bericht Von dem Zustand der Kirchen vnd Religion in dem Koͤ nigreich Persien. In: Mattheus Dresserus: Historien vnd Bericht/ Von dem Newlicher Zeit erfundenen Koͤ nigreich CHINA/ wie es nach vmbstenden/ so zu einer rechtmessigen Beschreibung gehoͤ ren/ darumb beschaffen. Jtem/ Von dem auch new erfundenen Lande VIRGINIA. Jetz und [sic] auffs newe vbersehen/ vnd mit einem Zusatz vermehret/ Nemlich: Wie es vmb die Religion in Perser vnd Mohren land/ vnter Priester Johan bewand sey. Leipzig: Frantz Schnellboltz 1597, S. 271–297. 17 Der Originaltitel lautet De statu ecclesiae et religionis in regno Persico. Die Übersetzung wird 1589 von Lehmann für Hartmann gedruckt und ist als Flugschrift Nr. 846 verfilmt bei Flugschriften des späteren 16. Jahrhunderts. Bd. 3. Hg. von Hans-Joachim Köhler. Leiden 1992, hier: Fîche 458.
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Die Sprache eines Werkes und seine Zuordnung zu einer der (höheren) Fakultäten ist entscheidend für die Gliederung der Verlegerplakate von Nicolaus Basseus (1577) und der Offizin der Erben Christian Egenolffs d.Ä. (1579).18 Basseus’ Anzeige enthält neben der Druckermarke sieben Listen, die überschrieben sind mit ‚Libri Theologici‘, ‚Theologische Buͤ cher Teutsch‘, ‚Libri in Iure‘, ‚Buͤ cher im Rechten Teutsch‘, ‚Buͤ cher in der Medicin Teutsch‘, ‚Libri varij generis‘ sowie ‚Historien vnd andere Buͤ cher Teutsch‘. Egenolffs Erben führen darüber hinaus lateinische Medizinbücher und die hier interessierende Restkategorie deutschsprachiger Druckerzeugnisse trägt das Rubrum ‚Allerhandt Teutsche Buͤ cher‘. Das Angebot dieser Rubrik umfasst ein breites Spektrum unterschiedlichster Gattungen. Neben den Prosaromanen Melusine, Fortunatus und Ritter Pontus finden sich die Komödien des Terenz, Petrarcas Glücksbuch, eine Ehelehre Juan Luis Vives’ diverse Chroniken, Rechen- und Lehrbücher sowie einiges andere mehr. Dies entspricht dem weiten Literaturbegriff, wie er beispielsweise Görres’ ‚Volksbuch‘-Schrift zugrunde liegt.19 Das Nämliche gilt für Basseus’ Plakat, das auch die ‚Volksbuch‘-Fassung des Herzog Ernst anzeigt. Hier zeigt sich darüber hinaus die Willkür, nach der die einzelnen Titel den Rubriken zugeordnet sind, wenn nur Simon Musäus’ Melancholischer Teufel der deutschsprachigen Restkategorie zugeordnet wird, alle anderen protestantischen ‚Teufelbücher‘ dagegen unter den deutschen Theologica geführt werden.20 Einen besonderen Status hat der Roman bei den zeitgenössischen Buchhändleranzeigen offensichtlich nicht. Die Verwandtschaft unter vormodernen Romanen ist eng, da sich ‚Traditionsliteratur‘ wie sie aus einem gemeinsamen Fundus an Stoffen, Motiven und Schemata speist. Fälle markierter Intertextualität, die auf ein explizit geäußertes Verwandtschaftsverständnis hindeuten könnten, sind dagegen eher selten und verglichen mit modernen Gepflogenheiten ungenau. Als Peter, der Ritter mit den silbernen Schlüsseln, spurlos verschwunden ist, bezeichnet sich die schöne Magelone in Veit Warbecks gleichnamigem Roman (handschriftlich 1527, 1535 posthum gedruckt) als „ander Medea“ und ihren Geliebten als den „ander
18 Sie sind reproduziert als Tafel 9 beziehungsweise Tafel 11 bei Verlegerplakate des XVI. und XVII. Jahrhunderts bis zum Beginn des dreißigjährigen Krieges. Hg. von Günter Richter. Wiesbaden 1965. Vgl. zu diesen Offizinen auch Reske: Die Buchdrucker, S. 224–226 und S. 232 f. 19 Vgl. Joseph Görres: Die teutschen Volksbuͤ cher. Naͤ here Wuͤ rdigung der schönen Historien-, Wetter- und Arzneybuͤ chlein, welche theils Werth, theils Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat. Heidelberg 1807, und dazu Kreutzer: Mythos Volksbuch, S. 16–27. 20 Ein Verzeichnis der Titel dieser Gattung bietet Heinrich Grimm: Die deutschen ‚Teufelbücher‘ des 16. Jahrhunderts. Ihre Rolle im Buchwesen und ihre Bedeutung. In: AGB 2 (1960), S. 513–570, hier: S. 520–528 und S. 532–538.
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Jason“.21 Die Bezugnahme auf den Argonauten-Mythos ruft Bildungswissen über die antike Kultur auf. Offen bleibt, ob der Magelone-Roman dadurch an antike oder mittelalterliche Ausformungen dieses Mythos anknüpft. An anderer Stelle lässt Warbeck eine Figur mit dem wohlbekannten Namen ‚Lancelot‘ an einem Turnier teilnehmen. Es handelt sich um das Zitat einer Figur aus der Tradition, ohne dass sich sagen ließe, ob dabei an den Prosa-Lancelot aus dem dreizehnten Jahrhundert oder vielleicht an eine der beiden Fassungen Ulrich Füetrers (1467 in Prosa, 1484/87 strophisch) zu denken ist. Sicher ist nur, dass Warbeck diesen intertextuellen Verweis – wie auch die Argonauten-Referenz – aus seiner Vorlage übernimmt und diese referiert auf die weitverzweigte französische LancelotTradition.22 Auf eine präzise Referenz kommt es dem Roman gar nicht an, ein Argument für oder gegen die Homogenität der Textgruppe lässt sich daher nicht gewinnen. Vielmehr ist eine „exzessive Amalgamierung literarischen Traditionsguts“ kennzeichnend, die Armin Schulz am Beispiel der Magelone genauer analysiert.23 Thüring von Ringoltingen entwirft im Nachwort zu seiner Melusine-Bearbeitung von 1456 einen Traditionsrahmen, aber allein mit dem Zweck, sich überbietend von dieser Tradition abzusetzen.24 Schließlich sei die von ihm erzählte Geschichte nicht nur „froͤ mder“ und „abenteẅrlicher“, sondern im Gegensatz zu den angeführten Historien auch „für ein warheit geschriben vnd erzelt“. Er wertet demgegenüber nicht nur den Sagenkreis um König Artus mit dem je „besünder hÿstori vnd lesen“ von Iwein, Gawan, Lancelot, Tristan und Parzival ab, sondern auch Willehalm, Ritter Pontus, Wilhalm von Orlens und einen Merlin. Einige – jedoch nicht alle – dieser Romane werden in Prosa aufgelöst. Aber aufgrund des frühen Erscheinungsdatums der Melusine rekurriert Thüring auf die Versfassun-
21 In der Edition Magelone. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 587–677, steht das Zitat auf S. 649, das weiter unten angeführte Figurenzitat findet sich ebd., S. 630. 22 „Certes, vous estes le second Jason et je suis la seconde Medee“ (L’Ystoire du vaillant chevalier Pierre, filz du conte de Provence, et de la belle Maguelonne, fille du roy de Naples. Hg. von JeanFrançois Kosta-Théfaine. Clermont-Ferrand 2010 [Manuscrit Cobourg, Landesbibliothek 4], hier: S. 79, das Figurenzitat ebd., S. 57). 23 Vgl. Armin Schulz: Poetik des Hybriden, S. 153–229. – Ganz ähnlich charakterisiert Jan-Dirk Müller: Wickram – ein Humanist?. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Unter Mitarb. v. Andrea Sieber. Hg. von Maria E. Müller, Michael Mecklenburg. Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 21–39, auch die Prosaromane Jörg Wickrams (vgl. S. 39). 24 Die Zitate folgen der Edition des Bämler-Drucks von 1474: Melusine. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 9–176, hier: S. 176.
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gen und als Übersetzer wahrscheinlich auf diejenigen in französischer Sprache. Aus dieser Stelle lässt sich also wiederum kein Argument für das zeitgenössische Selbstverständnis des Prosaromans als einer homogenen Gattung gewinnen – auch nicht in Form negativer Integration. Ein Beispiel dafür, dass intertextuelle Verweise erst im Verlauf der Überlieferung hinzugefügt werden können und dabei anderes leisten als gattungstheoretische Anknüpfung, bietet der dritte Druck des Hug Schappler (1537 bei Bartholomäus Grüninger).25 Im Erstdruck von 1500 wird das amouröse Abenteuer im Hennegau noch als rudimentäre Handlungssumme dargeboten:26 Hug zieht auf ein Turnier „vnd gewan eins ritters tochter so lieb in dem land zuͦ henegow So das sie ward von im eins kinds schwanger.“ Der Druck des jüngeren Grüningers motiviert den Liebesbeginn mit dem allgemeinen „auffsehen“, das Hug erregt, sodass „eines mechtigen Ritters tochter so in inbrünstiger liebe gegen jhm entzündt“ wird. Sie sendet eine Dienerin mit dem brieflichen Eingeständnis ihrer Liebe zu ihm, um ihn des Nachts durch eine geheime Tür in das zum locus amoenus stilisierte Schlafgemach einzulassen. Auf eine explizite Beschreibung des folgenden Liebesakts verzichtet auch diese Redaktion, abgesehen von dem pikanten Hinweis auf die durch „halsen vnd küssen“ verkürzte Nacht. Die für eine detailliertere Beschreibung nötige Sprachkompetenz verortet der Erzähler in Verbindung mit einem Unsagbarkeitstopos bei „liebhabern vnd buͦ lern“. Seine eigene Kompetenz – und darauf kommt es an – bestehe darin, das Liebesabenteuer intertextuell einzuordnen. So könne er nicht glauben, dass „groͤ sser wollust vnnd früdt sey gewesen bey Euriolo vnd Lucrecia/ dann diese zwey hetten.“ Damit wird auf ein Paar verwiesen, das dafür berüchtigt ist, seine Sexualität ohne gesellschaftliche oder moralische Rücksichten auszuleben. Sie brechen nicht nur die Ehe; in dieser ‚Prosanovelle‘ wird das Private aus dem Schatten der Kriegs- und Staatsaffären herausgehoben, was Jan-Dirk Müller als das Richtungsweisende der Überlieferungsgeschichte von Elisabeths Roman für die Geschichte der deutschen Literatur in der Frühneuzeit erkennt.27
25 Für Grüninger vgl. Reske: Die Buchdrucker, S. 885. 26 Vgl. die Hug Schapler-Edition Hug Schapler [Fassung von 1500 und Fassung von 1537 (Auszug)]. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 177– 381, für den Druck von 1500: S. 196 f., das Zitat S. 197, und für die 1537er Ausgabe: ebd., S. 363– 368, die Zitate S. 364–366. Vgl. zu dieser Redaktion auch meine Ausführungen zu Hugs Tante auf S. 245f. im Kap. 2.3.1.2. 27 Vgl. Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 423–425. – Aber nicht nur der Hug Schappler von 1537, auch der anonyme Ritter Galmy enthält intertextuelle Verweise auf Euryalus und Lucretia und darüber hinaus auf Guiskard und Sigismunda (vgl. Walter Haug: Jörg Wickrams ‚Ritter Galmy‘. Die Zähmung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit. In: Brechungen auf
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Als Sonderfall (allerdings nicht-markierter) Intertextualität kann die Zweitverwendung textfremder Holzschnitte im Buchdruck verstanden werden, die vor allem im sechzehnten Jahrhundert das überlieferungsgeschichtliche Bild der Prosaromane prägt. Manche Romane werden intermedial regelrecht verzahnt, so z. B. wenn Hermann Gülfferich für seinen Melusine-Druck (Frankfurt a. M. 1549) gleich 37 Abbildungen aus seiner Fortunatus-Ausgabe desselben Jahres verwendet.28 Die wiederholte Illustration von Festen, Gesprächen, Boten- und Kampfszenen mit den identischen oder nachgeschnittenen Druckstöcken nicht nur in diesen beiden Romanen und Ausgaben bedingt den Eindruck eines einheitlichen ‚ProsaromanMilieus‘ mit korrespondierenden Sujets. Im vorliegenden Fall beeinflusst es die Sinnstiftung von Thürings Roman dabei nicht, wenn das alte Kloster zu Malliers mit der Darstellung von Fortunatus’ Palast bebildert ist (M 1549, fol. Eiiijv. und fol. Hiiijv.) oder wenn das wiederaufgebaute Kloster sowie die Kapelle am Durstbrunnen den Fortunatus-Holzschnitt mit dem Eingang zu St. Patricius’ Fegefeuer aufweisen (M 1549, fol. Biijr. und fol. [Hvj]r.). Sieht man allerdings das Bild, auf dem Ampedo und Andolosia die Glücksgüter von ihrem sterbenden Vater erben, als Illustration zu Geffroys Tod (M 1549, fol. Jvv.), so stellt sich die Frage, wer die beiden Figuren am Sterbebett seien. Der Haupttext erwähnt nur Geffroys Bruder Dieterich. Außerdem wäre zu überlegen, was es mit Säckel und Hut auf sich habe, die Geffroy den Umstehenden nach der Abbildung anbefiehlt. Denkt man daran, dass ihn die tödliche Krankheit beim Aufbruch zum Palatine-Abenteuer ereilt, so ließe sich darauf schließen, er verpflichte den Bruder, sein Werk zu vollbringen: Es wäre damit an Dieterich und dem Unbekannten, Helmas’ Schatz zu erringen, mit dessen Hilfe die Lusignan in der Lage wären, das Heilige Land zurückzuerobern. Vor größere Herausforderungen bei der Interpretation ist ein Rezipient von Weigand Hans Druck des Ritter Pontus (Frankfurt a. M. 1557) gestellt. Für diesen werden ebenfalls die auf Hans Brosamer zurückgehenden Schnitte für Gülfferichs
dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen [1991] 1995, S. 404–423, hier: S. 408). 28 Vgl. zu Hans Brosamer als Buchillustrator für Hermann Gülfferich den gleichnamigen Abschnitt von Bodo Gotzkowsky: Zur Überlieferungsgeschichte der Holzschnitte Hans Brosamers in den Frankfurter ‚Melusine‘-Drucken des 16. Jahrhunderts. In: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013, S. 377–394, hier: S. 381–384, sowie Bodo Gotzkowsky: Die Buchholzschnitte Hans Brosamers zu den Frankfurter „Volksbuch“-Ausgaben und ihre Wiederverwertungen. Baden-Baden 2002 (StudDtKunstg. 361), hier: S. 143. Zu Gülfferich vgl. auch Reske: Die Buchdrucker, S. 228. – Die folgenden Angaben beziehen sich auf das Exemplar der UB München, Sign. 8° P. germ. 328.
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Fortunatus und Melusine verwandt.29 Eine Analyse des Bildmaterials fördert jedoch überraschende Übereinstimmungen der jeweils dargestellten und erzählten Szenen zu Tage, woraus zu ersehen ist, dass Han trotz der Verwendung textfremder Illustrationen große Sorgfalt bei der Motivwahl walten lässt. Dass die Holzschnitte nicht eigens für den Ritter Pontus angefertigt wurden, fällt zunächst kaum auf, da vor allem Szenen topischer Erzählhandlungen vorgestellt werden, wie nachstehende Tabelle veranschaulicht. Auf eine Gesamtzahl von 56 Illustrationen inklusive aller Wiederholungen entfallen demnach folgende Bildinhalte: Abb. 7: Bildinhalte der Holzschnitte im Ritter Pontus (Frankfurt a. M.: Weigand Han 1557).
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Gespräche und Tischgesellschaften,
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Ritter, unabhängig davon, ob sie kämpfen,
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Begrüßungs- und Abschiedsszenen,
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Reiseszenen zu Wasser oder zu Lande,
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Verlöbnisse oder Vermählungen,
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Botenszenen.
Lediglich vier Bilder zeigen Szenen, die nicht als topisch anzusehen sind. Es handelt sich um die Ansichten einer Baustelle, eines Wettbewerbs im Steinweitwurf, des Abführens eines Gefangenen und diejenige einer repräsentativen Tumba. Dennoch gibt es Bildmotive, die unabhängig von ihrem topischen Gegenstand durch ihr individuelles Gepräge ausgezeichnet sind, sodass dem aufmerksamen Betrachter der intertextuelle Bezug auf andere Werke auffällt und die Interpretation der Textstelle beeinflussen kann. Es handelt sich um die Präsentation von drei Jungfrauen in adliger Runde (P 1557, fol. 30r., fol. 68v., fol. 95v., fol. 97r.), eine Gesprächspartnerin mit einem großen Geldsäckel (P 1557, fol. 38v., fol. 67v.), die Zeichnung eines Narren am Rande einer Tjost (P 1557, fol. 20r., fol. 43v., fol. 75v., fol. 100v.) und die Darstellung einer Edelfrau mit einem auffälligen Hennin am Strand. Diese Edelfrau blickt auf ein Schiff, in dem sich zahlreiche Ritter befinden. Bezieht man das begleitende Summarium auf das Bild, handelt es sich um vierzehn Kinder, die „schiffbruch erlitten“ haben und nun „nach viel fehrlichei-
29 Vgl. Gotzkowsky: „Volksbuch“-Ausgaben, S. 322–328, S. 33–68 und S. 143–191. Zu Han vgl. ferner Reske: Die Buchdrucker, S. 229 f. – Ich lege im Folgenden das Exemplar der SBB-PK Berlin, Sign. Yu 1051R, zugrunde.
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ten zu Landt“ kommen (P 1557, fol. 10v.). Doch das Summarium spart explizit diejenige Information aus, „durch wen jhnen geholffen“ wird. Das nachfolgende Kapitel erzählt dann von Seneschall Herrland, der bei einer Hirschjagd zufällig auf die notleidenden Kinder trifft (vgl. P 1557, fol. 11r.f.). Irritiert beim Bezug des Zwischentitels auf das Bild die Darstellung von Kindern als Ritter, so kommt mit der Diskrepanz von Seneschall und Edelfrau eine weitere Irritation hinzu. Berücksichtigt man den intertextuellen Verweis auf den primären Kontext des Holzschnittes, lösen sich die Verständnisprobleme jedoch überraschenderweise auf, das Bild erscheint dadurch wesentlich passender. Denn es handelt sich um die Zweitverwendung einer Darstellung Melusines bei der Verabschiedung ihrer Söhne Uriens und Gyot.30 Die Ritter auf der ursprünglichen Illustration sind also wirklich Kinder – Melusines Kinder, und der Seneschall des Ritter Pontus wird noch im nachfolgenden Kapitel von König Argill als Ziehvater des Pontus und damit eines der geretteten Kinder eingesetzt (vgl. P 1557, fol. 12r.). Freilich bedarf es der korrespondierenden Figurenbeziehungen zwischen Sohn und Mutter einerseits und Ziehvater andererseits nicht, damit es für einen Druckerverleger des sechzehnten Jahrhunderts ‚sinnvoll‘ erscheint, einen Schiffbruch mit einem in Strandnähe befindlichen Schiff zu illustrieren, dennoch handelt es sich um ein Verweisungspotential für den zeitgenössischen Kenner der Gattung, das über eine intermediale Verklammerung zweier Prosaromane noch hinausweist. Die ansonsten stereotype Darstellung zweier gepanzerter Ritter bei der Tjost ist durch eine Nebenfigur individualisiert. Hinter dem Sieger des Duells ist der Kopf eines Narren zu erkennen. In Hans Ritter Pontus-Ausgabe wird der Holzschnitt gleich vier Mal verwendet, doch eine Kritik am Ritterwesen, wie sie die Narrenfigur nahelegt, läuft nicht nur den haupttextuellen Dimensionen zuwider. Auch die Titelformulierung, die Vorrede, ja selbst der rechtsseitige Kolumnentitel Von Adelichen Tugenden etablieren den Rahmen eines Ritterbildes, zu dem die Bewährung in Kampf und Turnier als eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit dazugehört. In allen vier Kampfhandlungen ist der Protagonist involviert und sowohl gegen Heiden (P 1557, fol. 20r.f.), einen Nebenbuhler (P 1557, fol. 77r.f.) als auch im Ritterspiel (P 1557, fol. 43v.f.) geht Pontus als Sieger hervor. Immer kämpft er dabei für Sidonia, seine Dame. Der letzte Schnitt begleitet den Höhepunkt seiner höfischen Macht- und Prachtentfaltung, wenn Pontus nun selbst Hof hält und zu Vannes ein Turnier veranstaltet (P 1557, fol. 100v.f.). Nicht wegen, sondern trotz Individualisierung funktionieren die Bilder.31 Sie fügen dem Roman 30 Vgl. Gotzkowsky: „Volksbuch“-Ausgaben, S. 158. 31 Allenfalls bei der ersten Verwendung ließe sich darüber nachdenken, ob die Schmähworte der Heiden, die Pontus als zu jung und unerfahren verhöhnen (vgl. P 1557, fol. 20r.), eine weitergehende Korrespondenz von Narren-Schnitt und Kapitelinhalt vorstellen, einen Bezug des Narren-
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höfisches ‚Kolorit‘ und durch ihre Wiederholung eine ‚Grundstimmung‘ von Kampf und Bewährung hinzu,32 die ihn mit anderen Werken, die in demselben Gesellschaftszusammenhang angesiedelt sind, verbindet. Die dritte Illustration, die ich näher betrachten möchte, zeigt einen Mann und eine Frau im Gespräch. Als erstes wird damit Wernhers von Rosches Besuch bei der klagenden Sidonia bebildert (vgl. P 1557, fol. 38v.). Er wurde vom Schwarzen Ritter mit den weißen Tränen überwunden und begibt sich in ihre Gefangenschaft als „schoͤ nste[ ]“ aller „Frawen vnnd Jungfrawen“ (P 1557, fol. 39r.). Sidonia wehrt sich aber gegen die Aussage, sie sei die Schönste, und fragt nach der Identität des Schwarzen Ritters (vgl. P 1557, fol. 39v.). Das Geheimnis kann Wernher nicht lüften, er ist sich jedoch trotz einiger Ähnlichkeiten sicher, dass der siegreiche Ritter nicht Pontus gewesen sein könne, da sich dieser andernorts aufhalte (vgl. ebd.). Abgesehen davon, dass hier mit der mittelalterlichen Erzählmaxime ‚Dem Besten die Schönste!‘ gespielt wird, fällt dem Betrachter Sidonias Geldsäckel auf. Unschwer lässt sich dieser als Fortunatus’ Glückssäckel identifizieren, wodurch das Bild auf die Unterredung von Andolosia mit Agripina verweist. Zwar könnte die Sympathieverteilung in Bezug auf die beiden Königstöchter nicht unterschiedlicher sein, doch verbindet die beiden, dass sie an der jeweils vorliegenden Textstelle eine Schuld auf sich geladen haben.33 Beklagt Sidonia am Anfang des Kapitels, dass sie der Intrige des Gendolet aufgesessen sei und durch ihr abweisendes Verhalten Pontus vom Hof vertrieben habe (vgl. P 1557, fol. 38v.f.), so verschuldet Agripina ihrerseits Andolosias unfreiwilligen Aufenthalt in der irischen Wildnis. Dieser Holzschnitt wird im Roman einmal wiederholt (vgl. P 1557, fol. 67v.), und zwar in jenem Kapitel, in dem der eigensüchtige Gendolet König Argill rät, Sidonia an den reichen aber ihrer unwürdigen Herzog von Bomgotzne zu verheiraten (vgl. P 1557, fol. 68v.). Auch wenn der Säckel gut die Bestechlichkeit des falschen Beraters symbolisieren könnte, gibt es in diesem Abschnitt überraschenderweise gar kein Zwiegespräch zwischen einem Mann und einer Frau. Ein
kleides auf Pontus’ Verkleidung als Bettler (P 1557, fol. 75r.) halte ich dagegen für weniger plausibel. 32 Ähnlich Nicolas Bock: Im Weinberg der Melusine. Zur Editions- und Illustrationsgeschichte Thürings von Ringoltingen. In: 550 Jahre deutsche Melusine – Coudrette und Thüring von Ringoltingen/550 ans de Mélusine allemande – Coudrette et Thüring von Ringoltingen. Beitr. der wissenschaftlichen Tagung der Universitäten Bern und Lausanne vom August 2006/Actes du colloque organisé par les Universités de Berne et de Lausanne en août 2006. Hg. von Jean-Claude Mühlethaler, André Schnyder. Bern u. a. 2008 (TAUSCH 16), S. 31–45, hier: S. 45, bezogen auf Feyerabends Melusine-Ausgabe im Buch der Liebe (1587). 33 Zur Andolosia-Agripina-Handlung vgl. vor allem S. 46–48 im Kap. 1.1.5.
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solches erfolgt mit der Unterredung von König und Prinzessin erst im nächsten Kapitel. Doch auch dieses ist mit einem weiteren Holzschnitt aus der FortunatusSerie versehen (ebd.), auf den ich kurz eingehen möchte. Im primären Verwendungszusammenhang illustriert er Fortunatus’ Wahl zwischen den drei Töchtern des Grafen Nimian und auch an der vorliegenden Stelle des Ritter Pontus geht es um die Wahl des Ehepartners – mit dem Unterschied, dass Argill Sidonia über seine von Gendolet eingefädelte Wahl Bomgotznes in Kenntnis setzt (vgl. P 1557, fol. 69r.) und Fortunatus erst im Begriff ist, seine Wahl zwischen den drei Töchter zu treffen. Obwohl die Anzahl der abgebildeten Figuren nicht mit der im Ritter Pontus erzählten Szene übereinstimmt, gewinnt die Wahl des Motivs eingedenk der intermedialen/intertextuellen Bezogenheit an Plausibilität. Noch an drei weiteren Stellen wird dieser Holzschnitt im Han’schen Druck verwendet. Im weiteren Romanverlauf versucht Gendolet, Sidonia mit Gewalt für sich selbst zu gewinnen. Mit ihrem Vater und „jren Jungfrawen“ (P 1557, fol. 95r.) ist sie in einem Turm eingesperrt und muss hungern, bis sie bereit sei, Gendolet die Ehe zu versprechen (vgl. P 1557, fol. 95r.–96v.). Bei der Wiederholung des Schnittes stehen die Grafentöchter nun für Sidonias Gefolge, das zypriotische Königspaar kann mit der Prinzessin und ihrem Vater assoziiert werden. Erklärungsbedürftig bleibt allein die Anwesenheit zweier weiterer männlicher Figuren, wobei es zu weit gehen dürfte, hier an Gendolet zu denken, der sich letztlich Sidonias Einverständnis erzwingt. Auch das nachstehende Kapitel mit der Hochzeit ist mit demselben Holzschnitt bebildert (P 1557, fol. 96v.), wobei die Illustration nicht die Trauung, sondern den ersten Teil des Kapitels vorstellt. Da Sidonia hier mit den Ihrigen immer noch im Turm verweilt – allerdings aufgrund ihres Eheversprechens nun mit Nahrung versehen – zeigt die Wiederholung des Schnitts die räumliche und personelle Kontinuität der Szenen. Gleichzeitig wird damit die Retardation des Haupttextes bis zur rettenden Rückkehr von Pontus ins Bild gesetzt. Bislang habe ich die erste Verwendung des ‚Grafentöchter‘-Holzschnitts im Ritter Pontus übergangen. Sie findet sich in einem Kapitel, dessen Titel allein die Wahl des Pontus zum verweser vnnd vorsteher des Reiches anstelle des erkrankten Königs ankündigt (P 1557, fol. 29v.). Zwar gäbe es inhaltliche Berührungspunkte von der Wahl zwischen den Töchtern und der Erwählung eines Reichsverwesers, die Anwesenheit einer Vielzahl von Frauen erscheint in letztem Fall aber durchaus ungewöhnlich beziehungsweise unstimmig zu sein. Dennoch hat Han die Illustration äußerst passend eingefügt. Sie zeigt allerdings nicht jenen Teil des Kapitelinhalts, welchen das Summarium ankündigt, sondern verweist voraus auf Pontus’ Wirken nach seiner Ernennung (vgl. P 1557, fol. 30v.): So empfängt dieser Witwen und Waisen, um sich nach ihren Bedürfnissen zu erkundigen – die ursprünglichen Grafentöchter werden zu Teilnehmern an einer Audienz des
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Reichsverwesers. Doch die Korrespondenz von Holzschnitt und Kapitelinhalt führt noch weiter, da die Frauen aufgrund der Aufmerksamkeit des neuen Verwalters auf dessen Liebe hoffen (vgl. P 1557, fol. 31r.). Damit befinden sie sich in einer Situation, die derjenigen von Nimians Töchtern durchaus ähnelt. Die textfremde Zweit- und textinterne Wiederverwendung von Holzschnitten ist primär ökonomisch und nicht semantisch intendiert, doch prägen auch diese Bilder als eigenständige Dimension das positiv-endgültige Erscheinungsbild einer Redaktion und damit die überlieferungsgeschichtliche Sinnstiftung des Werkes.34 Der Fall des Ritter Pontus von Weigand Han zeigt, dass die Auswahl der zweit- und wiederverwendeten Motive durchaus stimmig erfolgen kann. Letztlich bleibt es bei der omnipräsenten Verwendung einiger prominenter Holzschnittserien allerdings fraglich, ob die zeitgenössischen Rezipienten die Szenen überhaupt demjenigen Roman zuordnen, dem sie ursprünglich entlehnt sind.35 Es ist auch keineswegs eindeutig, wie viel Wissen über den Inhalt der bildlich zitierten Werke bei einer intertextuell angeleiteten Interpretation eingebracht werden sollte. Ein einzelnes Bildzitat rechtfertigt es sicher nicht, umfassende Kenntnisse über den anderen Roman in die Deutung einfließen zu lassen. Hinzu kommt, dass Prosaromane auch mit Illustrationen aus anderen Gattungen versehen werden36 und umgekehrt aus Prosaromanen bekannte Abbildungen in anderen Zusammenhängen Verwendung finden.37 Doch stärkt die Homogenisierung des in Prosaroman-Drucken des sechzehnten Jahrhunderts vorzufindenden Bildprogramms die Nähebeziehung der Texte untereinander, wenn sie auch keine Abgrenzung nach außen hin leistet. Noch diffuser wird das zeitgenössische Bild der Verwandtschaftsbeziehungen dieser Werkgruppe, wenn man die Mitüberlieferung als Indikator heranzieht. Exemplarisch sei dies anhand von Thürings von Ringoltingen Roman demonstriert. Die Melusine ist in zahlreichen Drucken und Handschriften überliefert, darunter finden sich 13 Verbundhandschriften. Unabhängig davon, ob es sich um Sammelhandschriften oder Buchbindersynthesen handelt, ist dieser Prosaroman
34 Vgl. S. 179f. im Kap. 2.1.4.2. 35 Bei der Analyse der Illustrationen als einer eigenständigen Dimension narrativer Sinnstiftung (vgl. Kap. 2.3.3.4 und 3.3.4) wird das intertextuelle Deutungspotential daher nicht systematisch und nur am Rande entfaltet. 36 Vgl. zur theologischen und katechetischen Erstverwendung von Schnitten im Buch der Liebe Thomas Veitschegger: Das „Buch der Liebe“ (1587). Ein Beitrag zur Buch- und Verlagsgeschichte des 16. Jahrhunderts. Mit einem bibliogr. Anh. Hamburg 1991, hier: S. 184. 37 Bämler verwendet beispielsweise einen Schnitt aus seiner Melusine von 1474 im Druck der Beschreibung von Roberts de Remigio Kreuzfahrt (1482) wieder (vgl. Helmut H. Schmid: Augsburger Einzelformschnitt und Buchillustration im 15. Jahrhundert. Baden-Baden, Straßburg 1958 [StudDtKunstg. 315], hier: S. 54).
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zwar in mehr als der Hälfte der Fälle (auch) mit anderen (fiktionalen) Erzähltexten verbunden – aber nur die Basler Handschrift war ursprünglich mit einer Apollonius-Inkunabel und damit mit einem weiteren Prosaroman verbunden.38 Nach Jürgen Geiss wurde diese eigenhändige Melusine-Handschrift des Patriziers Nikolaus Meyer zum Pfeil 1480 mit Drucken von Heinrich Steinhöwels ApolloniusÜbersetzung, Hans Erhart Tüschs Burgundischer Historie und den beiden Novellen-Verdeutschungen Griseldis und Euryalus und Lucretia verbunden.39 Hier wie insgesamt überwiegt bei erzählender Mitüberlieferung die Novellistik (allein viermal die Griseldis in Steinhöwels Übersetzung, aber auch Wyles Guiscard und Sigismunda). Romane (allerdings in Versform) begleiten Thürings Prosa ansonsten lediglich im ersten Berliner (Partonopier und Meliur) und im Kopenhagener Codex (des Strickers Daniel vom blühenden Tal sowie die Mörin Hermanns von Sachsenheim).40 Am häufigsten wird die Melusine jedoch mit pragmatischen Schriften verbunden. Martina Backes sieht diese Handschriften als „Sammelbecken, offen für alles, was den Benützern [...] pragmatische Orientierung versprach“.41 So enthält der Klosterneuburger Codex neben dem Prosaroman zwar auch die GriseldisNovelle, darüber hinaus aber medizinische und kalendarisch-astrologische Schriften, chronikalische und Familien-Nachrichten, eine Temperamentenlehre und Traktate über Ehe und christliche Lebensführung. Barbara Weinmayer spricht von einer „Hauspostille der Patrizierfamilie Beck aus Mengen“ und Ursula Hess sieht den Codex mit seiner individuellen Gattungsvielfalt geschrieben von
38 Die Handschrift trägt heute die Signatur UB Basel, O.I. 18, und ist seit 1872 nicht mehr Teil des ursprünglichen Verbundes (vgl. Backes: Fremde Historien, S. 104). 39 Jürgen Geiss: Bibliotheken zwischen zwei Einbanddeckeln? Überlegungen zum rezeptionsgeschichtlichen Wert von Inkunabel-Sammelbänden. In: Scrinium Berolinense. Tilo Brandis zum 65. Geb. Bd. 2. Hg. von Peter Jörg Becker u. a. Wiesbaden 2000 (Beiträge aus der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz 10), S. 718–728, hier: S. 721 f. 40 Vgl. Backes: Fremde Historien, S. 104–107. – Zur Beschreibung aller Handschriften ebd., S. 103–112 und S. 155–164, sowie Karin Schneider: Einführung. In: Thüring von Ringoltingen: Melusine. Nach den Handschriften. Hg. von Karin Schneider. Berlin 1958 (TMA 9), S. 7–35, hier: S. 7–17. Genauere Beschreibungen für diejenigen Manuskripte, die auch die Griseldis enthalten, vgl. Ursula Hess: Heinrich Steinhöwels ‚Griseldis‘. Studien zur Text- und Überlieferungsgeschichte einer frühhumanistischen Prosanovelle. München 1975 (MTU 43), hier: S. 26–33, S. 44–46, S. 63–65 und S. 94–98. 41 Martina Backes: Aspekte französischer und deutscher Manuskriptkultur am Beispiel der Melusinenromane. In: 550 Jahre deutsche Melusine – Coudrette und Thüring von Ringoltingen/ 550 ans de Mélusine allemande – Coudrette et Thüring von Ringoltingen. Beitr. der wissenschaftlichen Tagung der Universitäten Bern und Lausanne vom August 2006/Actes du colloque organisé par les Universités de Berne et de Lausanne en août 2006. Hg. von Jean-Claude Mühlethaler, André Schnyder. Bern u. a. 2008 (TAUSCH 16), S. 15–30, hier: S. 29.
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verschiedenen Mitgliedern der Familie als „Hausbuch“, das einen „‚Vollzugsraum‘“ für die Prosanovellistik biete.42 Auch sonst werden die Melusine-Handschriften von Familien- und Hauschroniken oder Texten der Ehediskussion (das Ehebüchlein Albrechts von Eyb) begleitet.43 Denksprüche, Gesundheitsregeln und theologisch-erbauliche Texte aller Art finden sich ebenfalls häufig. Außerdem wird die Münchner Handschrift mit der Signatur Cgm 252 von mehreren Reisebeschreibungen begleitet.44 Es wiederholt sich damit das Bild, das weiter oben durch die Auswertung von Buchhändleranzeigen des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts entsteht. Gelten diese Sammelhandschriften mit einigem Recht als „ausgesprochene Stiefkinder der deutschen Mittelalterphilologie“,45 so ist die Stellung von Inkunabel- und Frühdrucksammelbänden in der Neuphilologie nicht mehr sinnvoll durch Verwandtschaftsbeziehungen zu metaphorisieren. Tendenziell werden die Zusammenstellungen aber hinsichtlich der beteiligten Gattungen homogener. Die Gründe dafür dürften vor allem in den neuen Distributionsbedingungen zu suchen sein, da häufig Druckausgaben aus demselben Verlag oder von kooperierenden Druckerverlegern miteinander verbunden sind. Unter der Sigle Yu 827 verwahrt die Berliner Staatsbibliothek (Preußischer Kulturbesitz) einen ‚echten‘ Prosaroman-Sammelband. Er enthält neben Thürings Melusine ausschließlich den Fortunatus, Tristrant und Isalde sowie Elisabeths Hug Schapler. Alle Exemplare stammen aus der Kirchenministerial-Bibliothek Celle, wobei der 1586 von Henning Meier handgeschriebene Katalog nur die Melusine verzeichnet.46 Der
42 Barbara Weinmayer: Studien zur Gebrauchssituation früher deutscher Druckprosa. Literarische Öffentlichkeit in Vorreden zu Augsburger Frühdrucken. München, Zürich 1982, hier: S. 80; Hess: Steinhöwels Griseldis, S. 94 f., dazu auch ebd., S. 26–33. 43 Vgl. Ingrid Bennewitz: Komplizinnen und Opfer der Macht. Die Rollen der Töchter im Roman der Frühen Neuzeit (mit besonderer Berücksichtigung der ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen). In: The Graph of Sex and the German Text: Gendered Culture in early modern Germany 1500–1700. Hg. von Lynne Tatlock. Amsterdam, Atlanta 1994 (Chloe 19), S. 225–245, hier: S. 241; Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 81. 44 Nach Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 80/Anm. 36, ist die ursprüngliche Zusammenstellung mit Melusine, Griseldis, Guiscard und Sigismunda sowie dem Ackermann aus Böhmen weit homogener, ehe sich vor allem theologische Texte und Reisebeschreibungen anlagern; Melibeus und Prudentia des Albertanus von Brescia hat dabei eine gewisse Nähe zum Ackermann, da in beiden Werken juristische Konstellationen narrativiert sind, vgl. zu diesem Codex auch HansJoachim Koppitz: Studien zur Tradierung der weltlichen mittelhochdeutschen Epik im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert. München 1980, hier: S. 52; Hess: Steinhöwels Griseldis, S. 44–46. 45 Backes: Fremde Historien, S. 155. 46 Er führt sie als librum historicum u. a. zusammen mit Kosmographien, Boccaccios Novellen und den oben erwähnten Revelationes der Heiligen Brigitta (vgl. Henningus Meierus: Catalogus Bibliothecae Illüstrissimi Principis ac Domini, Domini Guilielmi jünioris Brünsüicensiüm ac
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Verbund dieser Mainfrankfurter Drucke Catharina Rebarts in Verlegung Kilian Hans aus den Jahren 1570 und 1571 erfolgt unter Verwendung von Resten eines Bucheinbands aus der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts erst in der damaligen Königlichen Bibliothek Berlin.47 Dieser historische Beleg für eine Prosaromansammlung ist aus diesem Grund erst ins zwanzigste Jahrhundert zu datieren.48 Auch wenn das Buch der Liebe nicht zu Unrecht von Hans Joachim Kreutzer als Sichtbarmachung der „Schwelle zum Romanbewußtsein der Neuzeit“ und von Anneliese Schmitt als „Ende der Entwicklung von Sammlungen als Buchgattung“ bezeichnet wird, bietet auch dieses 1587 von Sigmund Feyerabend verlegte Kompendium kein homogenes Bild.49 Zwar lässt sich das Gros der enthaltenen Erzähltexte als ‚Prosaroman‘ im gegenwärtigen Verständnis charakterisieren (darunter Thürings Melusine sowie Tristrant und Isalde), jedoch sind auch die kürzere ‚Novelle‘ Camillus und Emilia und mit dem Ritter von Turn eine Sammlung moralisch-didaktischer Exempel enthalten. Ich stimme daher mit John L. Flood überein, der hinter der „bunte[n] Mischung von deutschem, französischem und italienischem Erzählgut aus Mittelalter und Renaissance“ keine „hochtrabenden literarästhetischen Überlegungen“ Feyerabends erkennt.50
Lünaebürgensiüm Dücis inclÿti Domini süi clementissimi conscriptüs. 1586, hier: S. 8). – Die von Joachim Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke des 15. Jahrhunderts. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hg. von Johannes Janota, Werner Williams-Krapp. Tübingen 1995, S. 330–357, aufgeführten Drucksymbiosen aus dem fünfzehnten Jahrhundert stehen dem divergenten Spektrum der Sammelhandschriften deutlich näher (vgl. S. 335 f.). 47 Datierung und Beschreibung des Einbandes verdanke ich einer schriftlichen Mitteilung Andreas Wittenbergs, Referatsleiter in der Abteilung Historische Drucke in der SBB Berlin, vom 9. Oktober 2014. 48 1909 werden fast 2.500 Inkunabeln und Frühdrucke an die Königliche Bibliothek Berlin verkauft (vgl. Uwe Rüggeberg: Kirchen-Ministerial-Bibliothek [Celle]. In: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Hg. von Bernhard Fabian. Digitalisiert v. Günter Kükenshöner. Hildesheim [1996] 2003. https://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian?Kirchen-MinisterialBibliothek [9. Oktober 2014], hier: Abschnitt 1.9, mit Hinweis auf Richard Fick). 49 Hans Joachim Kreutzer: Buchmarkt und Roman in der Frühdruckzeit. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symp. Wolfenbüttel 1981. Hg. von Ludger Grenzmann, Karl Stackmann. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 5), S. 197–211, hier: S. 208; Schmitt: Tradition und Innovation, S. 67. 50 John L. Flood: Sigmund Feyerabends ‚Buch der Liebe‘ (1587). In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Coll. 1985. Hg. von Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett, William Henry Jackson. Tübingen 1987 (Publications of the Institute of Germanic Studies 40), S. 204–220, hier: S. 206. – Dass die Auswahl inhaltlich motiviert ist, liegt auf der Hand, der Versuch von Rosmarie Zeller: Das Buch der Liebe im moralischen Romandiskurs. In: Fortunatus, Melusine, Genovefa. Internationale Erzählstoffe in der deutschen und ungarischen Literatur der Frühen Neuzeit. Unter Mitarb. v. Rumen István Csörsz und Béla Hegedüs. Hg. von Dieter Breuer,
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2.1 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur
Am Ende meiner Bemerkungen zur historischen Gattungsunschärfe steht der Hinweis auf die gelehrte Außensicht. Weder in der zeitgenössischen Enzyklopädistik noch in der aufkommenden Romankritik nehmen die Prosaromane eine eigene Systemstelle ein. Conrad Gesner führt sie in den Pandectae zu seiner Bibliotheca universalis (1548) unter den ‚historia‘, genauer als ‚historiae fabulosae‘ respektive ‚historiae amatoriae‘. Die erste Kategorie umfasst alle Formen unwahrer Geschichten, unabhängig davon, ob es sich um Fiktionen handelt. Die zweite Kategorie ist Liebeshändeln aller Art und Provenienz vorbehalten. Jan-Dirk Müller, dem ich diesen Hinweis verdanke, hat auf die Heterogenität von Gesners bibliographischem Konglomerat hingewiesen: [M]ittelalterlich-höfische Romane [...] in Prosa und Vers [...] stehen neben italienischen Novellen und den Exempla der ‚Sieben weisen Meister‘, fabulöse Geschichtsschreibung neben Mythen [...], hellenistische Romane neben dem Tristan, [...] die Komödien des Terenz neben den Heroiden des Ovid [...]. Das Thema [der Liebe] überspielt Gattungsgrenzen, Vers und Prosa, Kleinform und Großform, Volkssprachliches und Lateinisch-Griechisches, theatralische [...], dialogische [...], lyrische und narrative Formen.51
Gesners Einteilungskriterien der ‚Lügenhaftigkeit‘ und ‚Liebe‘ sind denn auch die Pole, zwischen denen sich das eigene Genre der Romankritik aufspannt, das im Verlauf der Frühneuzeit zur vollen Entfaltung gelangt. Als Beispiel möchte ich kurz auf Gotthard Heideggers Mythoscopia Romantica (1698) eingehen. Heidegger expliziert die kritisierten Schriften als „erdichtete Historien/ von underschidlichen wundersamen Begebenheiten und Zufaͤ hlen der verliebten/ in loser Rede
Gábor Tüskés. Bern u. a. 2010 (Beihefte zu Simpliciana 6), S. 147–166, die Aufnahme der Übersetzung Marquarts von Stein zu plausibilisieren (vgl. vor allem S. 150 und S. 162), überzeugt mich dagegen weniger. In eine ähnliche Richtung zielt indes bereits Katya Skow-Obenaus: Women in the Book of Love. The Contexts of Feyerabendt’s Das Buch der Liebe (1587). In: Colloquia Germanica 31/2 (1998), S. 105–116, hier: S. 108–114. – Thomas Veitschegger geht in seiner Arbeit zum ‚editorischen Verfahren‘ Feyerabends explizit auf mehrere sinnstiftende Dimensionen des Buchs der Liebe ein (vgl. Veitschegger: Buch der Liebe, S. 143–212): Jedoch ist die Beschränkung auf 29 Fälle bei den Untersuchungen auf ‚Satzebene‘ (S. 164–174) unterrepräsentativ und für eine überlieferungsgerechte Interpretation völlig unzulänglich. Gleiches gilt für seine Untersuchungen auf ‚Wortebene‘ (S. 174–183, zu diesen missverständlichen Begriffen vgl. S. 143). Bei der Analyse des Bildprogramms (S. 183–194) beschränkt sich Veitschegger auf fünf Beispiele, die sich allesamt auf den Kaiser Octavianus beziehen. Die Ausführungen müssen daher an der Oberfläche bleiben und können nichts zur perspektivischen Interpretation der Texte beitragen. – Vgl. zum Buch der Liebe auch S. 218–220 im Kap. 2.2.2.3. 51 Jan-Dirk Müller: Prosaroman und Enzyklopädie. Zur Spannung zwischen ethischen und ästhetischen Kriterien bei Conrad Gesner, Juan Luis Vives und Antontio Possevino. In: Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit. Hg. von Frank Büttner, Markus Friedrich, Helmut Zedelmaier. Münster 2003 (P&A 2), S. 15–31, hier: S. 22 f.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
geschriben“.52 Im weiteren Verlauf legt er eine alphabetische Liste der Titelhelden der Romane vor, die von Alcandre bis Zamire reicht und neben den ProsaromanProtagonisten Gottfried,53 Magelone, Melusine und Octavianus auch die Aramena aus Herzog Anton Ulrichs höfisch-historischem Barockroman oder die Sophonisbe des Lohenstein’schen Trauerspiels umfasst (S. 37 f.). An anderer Stelle nennt Heidegger neben Octavianus auch noch Tristanus, Oliverius und Brissonettus, allerdings als „Possenreisser“ neben Guzmán de Alfarache und Don Quichotte; und Melusine, Magelone und Bianceffora führt er hier als Beispiele „uͤ belberuffne[r] Weiber“ an (S. 127 f.). Zwar trifft es zu, wenn Rosmarie Zeller anhand der frühneuzeitlichen Romankritiken „einen eigentlichen Kanon von schädlichen Texten“ erkennt,54 aber die Prosaromane sind nur ein Teil dieses weit umfassenderen Kanons. Weder werden sie alle genannt, noch sind alle genannten Schriften Prosaromane. Durch den Zusammenhang der Liebesthematik werden auch Dramentexte in diesen Kanon aufgenommen, und es steht diese spätmittelalterlichfrühneuzeitliche Sonderform der Fiktionsliteratur zusammen mit ‚unwahren‘ Texten aller Epochen.
2.1.1.2 Forschungsgeschichtliche Einteilungs- und Explikationsversuche Nicht nur, dass sich die Prosaromane aus unterschiedlichsten Traditionen speisen – von der Legendarik über den Antiken-, Liebes- und Abenteuerroman bis hin zu chansons de geste und Schwankliteratur –, es fehlt ihnen wie gezeigt an einer zeitgenössischen Verortung im literarischen System, das sich langsam auszudifferenzieren beginnt.55 So überrascht es nicht, dass die großen forschungs52 Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica oder: Discours von den so benanten Romans. Faksimileausg. nach dem Originaldruck v. 1698. Hg. von Walter Ernst Schäfer. Bad Homburg u. a. 1969 (Ars poetica, Texte 3), hier: S. 15. Vgl. zur Stellung des Prosaromans innerhalb der gelehrten Romankritik nun auch Gelzer: HWb und Romanreflexion, S. 689–695. 53 Der zweite Druck (Lukas Zeissenmair, Augsburg 1502) der Heinrich Steinhöwel zugeschriebenen vierten Übertragung der Historia Hierosolymitana führt im Titel den Namen des Helden „Hertzog Gotfried“ an (vgl. Barbara Haupt: Art. Robertus Monachus, S. 116). 54 Rosmarie Zeller: Buch der Liebe, S. 165. 55 Auf die Unsicherheit der synchronen Abgrenzung des Prosaromans von anderen Gattungen kann ich im Rahmen meiner Untersuchung nur beispielhaft und am Rande eingehen. Ich möchte lediglich auf die Diskussion zwischen Johannes Klaus Kipf und Alexander Schwarz hinweisen, die sich am Verhältnis von ‚Prosa-‘ und ‚Schwankroman‘ entzündet. Während Kipf eine eindeutige Unterscheidung – mit einer gewissen Schnittmenge – für möglich und sinnvoll hält, insofern den ‚Schwankroman‘ eine offene Episodenstruktur kennzeichne, beim ‚Prosaroman‘ dagegen nichtsujethafte Erzählabschnitte vorliegen, zieht Schwarz von einem linguistischen Standpunkt aus eine klare Abgrenzbarkeit der beiden ‚Textsorten‘ in Zweifel (vgl. Kipf: Schwank- und Prosaroman, S. 146 und S. 160, sowie Alexander Schwarz: Die Freude am Guten und Bösen: Zum Ver
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2.1 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur
geschichtlichen Versuche, Ordnung ins Dickicht des frühneuhochdeutschen Prosaromans zu bringen, gar kein Interesse zeigen, den Prosaroman trennscharf von anderen Gattungen zu unterscheiden.56 Zwar spezifiziert François Ritter den ‚Volksbuch‘-Begriff, der in seinem gemeinsam mit Paul Heitz erstellten Katalog zugrunde gelegt ist:57 So sollen ursprünglich nicht „alle für die breite Masse des Volkes geschriebenen Bücher“, sondern nur „die volkstümlichen [...] Bearbeitungen mittelalterlicher Romane- und Novellenstoffe“ berücksichtigt werden. Jedoch habe man nachträglich auch „Schwänke und Schwanksammlungen“ aufgenommen. Auch Bodo Gotzkowsky orientiert sich bei der Zusammenstellung seiner zweibändigen Bibliographie auf der Basis des Werkes von Heitz und Ritter am alten ‚Volksbuch‘-Begriff und schließt neben Prosaromanen explizit Novellen, Schwanksammlungen und in Versen verfasste Literatur mit ein.58 Deren Gat-
hältnis der Textsorten Prosaroman und Schwankroman. In: Sprachgeschichte als Textsortengeschichte. Fs. zum 65. Geb. v. Gotthard Lerchner. Hg. von Irmhild Barz u. a. Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 155–168, hier: S. 167 f.). Zur Integration von Elementen der Schwankliteratur im Fortunatus vgl. schon Heise: Deutsche Volksromane, S. 9, und Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 44. Eine „Nähe zum Schwank“ wurde aber auch für einzelne Episoden anderer Prosaromane festgestellt (vgl. beispielsweise von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 214, zur Rauferei der Söhne im Huge Scheppel), sodass das von Burkhard Hasebrink ausgerufene Projekt der Untersuchung einer frühneuzeitlichen ‚Listpoetik‘ hier auf fruchtbaren Boden fallen dürfte (vgl. Hasebrink: Magie der Präsenz, S. 445). Versteht man den Schwank allerdings mit Max Lüthi als „Möglichkeit jeder Gattung“ (Max Lüthi: Märchen. 8., durchges. u. erg. Aufl. Bearb. v. Heinz Rölleke. Stuttgart [1962] 1990, hier: S. 13), kann diese Beobachtung eigentlich nicht überraschen. 56 Hierbei wurden jedoch häufig auch verschiedene Ansätze miteinander vermischt, weshalb Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 340/Anm. 20, „[d]ie gängigen Kategorisierungen in Bibliographien“ nicht zu Unrecht ablehnt. 57 Der Katalog: Paul Heitz, François Ritter: Versuch einer Zusammenstellung der Deutschen Volksbücher des 15. und 16. Jahrhunderts nebst deren späteren Ausgaben und Literatur. Straßburg 1924. Die folgenden Zitate sind der Einleitung von Ritter entnommen (vgl. S. VII). – Zur Kritik am ‚Volksbuch‘-Begriff vgl. Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 1–15; generell Kreutzer: Mythos Volksbuch. Vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller: Art. Volksbuch. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 789– 791. – Weder ist der Prosaroman das Produkt eines kollektiven Schaffensprozesses noch wird er von der eigentlichen Bevölkerungsmasse rezipiert. Er entsteht also weder aus dem ‚Volk‘ noch für das ‚Volk‘. Das schließt jedoch eine Verwendung des Begriffs in anderen Zusammenhängen nicht aus: So expliziert Hugo Aust: Zum Stil der Volksbücher. Ein Problemaufriß. In: Euphorion 78/1 (1984), S. 60–81, ‚Volksbuch‘ als Arbeitsbegriff in fünf verschiedenen Ausformungen (S. 71) und zeigt am Beispiel des Lucidarius (S. 71–81), wie der überlieferungsgeschichtliche Durchgang durch „mehrere[ ] Denktraditionen“ (S. 74) Inhalt und funktionsgeschichtliche Rolle prägt. 58 Gotzkowsky: Bibliographie der deutschen Drucke. – Ähnlich geht Danielle Buschinger: Der Prosaroman um 1500. In: Studien zu Textsorten und Textallianzen um 1500. Hg. von Jörg Meier, Ilpo Tapani Piirainen. Berlin 2007 (Germanistische Arbeiten zur Sprachgeschichte 5), S. 29–49,
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
tungsgrenzen liegen teilweise quer zur systematischen Einteilung in Bearbeitungen aus dem Italienischen, Französischen, Mittelhochdeutschen und aus der Antike.59 Daneben stehen etliche Versuche, die Texte der Gattung nach inhaltlichen Aspekten binnenzudifferenzieren.60
von fünf Varianten der Textsorte ‚Prosaroman‘ aus: Neben Romanen ohne Vorlage stehen solche mit französischer, lateinischer oder italienischer Vorlage, Auflösungen mittelhochdeutscher Verse bilden die fünfte Gruppe (vgl. S. 29 f.). Thomas Cramer: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter. München 1990, S. 78 f., unterscheidet dagegen lediglich zwei Zweige der Gattung, nämlich Bearbeitungen höfischer Romane und Heldenepen einerseits sowie Übersetzungen französischer chansons de geste andererseits. 59 Gesondert listet Gotzkowsky lehrhaft-unterhaltende Literatur, ‚Volksbücher‘ und Schwanksammlungen. – In seiner Rez. des ersten Bandes hat Jan-Dirk Müller diese Einteilung neben vielen weiteren Kritikpunkten als ‚unstimmig‘ und ‚fragwürdig‘ verworfen (vgl. Jan-Dirk Müller: Rez., in: ZfdA 121 [1992], S. 452–462, hier: S. 454 f.). Hans-Jörg Künast: Die Drucküberlieferung des Melusine-Romans in Frankfurt am Main in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 325–340, merkt an, dass die Bibliographien trotz der Nachträge im zweiten Band zahlreiche Fehler enthielten (vgl. S. 326 f.). 60 So schlägt Manuel Braun eine Einteilung nach der Zeit der erzählten Handlung in „Historien von der Antike“, „vom Mittelalter“ und „von der Neuzeit“ vor (Manuel Braun: Historien, S. 323– 329, S. 329–353 und S. 353–358.). Dies bedeutet jedoch eine Projektion der modernen Dreiteilung der Kulturgeschichte auf den historischen Gegenstand. Daher ist Werner Röckes Vorschlag, nach „Bereiche[n] von Erfahrungswirklichkeit und Erfahrungsweisen“ zu klassifizieren, den mittelalterlichen Gegebenheiten besser angepasst (Werner Röcke: Das Spiel mit der Geschichte. Gebrauchsformen von Chanson de Geste und Roman in der Histori von dem Keyser Octaviano. In: LiLi 89 (1993), S. 70–86, hier: S. 70 f.). Er führt hier erstens das Alltagsleben (Schwankroman), zweitens das höfische Leben (Hofroman), drittens die Begegnung mit dem Fremden (Reiseroman), viertens die Bereiche Liebe und Sexuelles (Liebes- und Abenteuerroman), fünftens das Thema der Adelsgenealogie in Verbindung mit dem Martenehen-Schema (Romane vom Melusine-Typus) und sechstens Nationalgeschichten und Heidenkampf (chansons de geste-Adaptionen) an. Allerdings bemerkt er selbst, dass die von ihm vorgelegten Kategorien noch zu erweitern seien, und es muss wohl hinzugefügt werden, dass sich eine eindeutige Zuordnung des Einzeltextes als problematisch erweisen wird. So reist Fortunatus im gleichnamigen Prosaroman in die Fremde, er und sein Sohn Andolosia agieren bisweilen im höfischen Milieu und letzter verstrickt sich in eine schwankhafte Auseinandersetzung mit der englischen Königstochter. Dass es dabei auch um Liebe und Sexualität geht, macht es für eine Kategorisierung dieses zugegebenermaßen extremen Beispiels nicht einfacher. – Der Hinweis auf die Andolosia-Handlung des Fortunatus genügt auch, um die Beliebigkeit von Xenja von Ertzdorffs Einteilung in Prosaromane der Liebe (vgl. Romane und Novellen, S. 53–133) und solchen von Helden (vgl. ebd., S. 134–232) deutlich zu machen. – Heike Sievert: Geschichten von Helden, Heiden und Herrschern: Überlegungen zur Typologie des Prosaromans am Beispiel der Rezeption der chanson de geste im 16. Jahrhundert. In: JbIG 29/2 (1997), S. 124–146, legt keine eigenständige Typologie der Gattung vor, sondern beschreibt anhand von
2.1 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur
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2010 stellt André Schnyder eine Liste zusammen, die nicht nur „die Unschärfen am Rand der Gattung veranschaulichen“, sondern alle in der Forschung als ‚Prosaromane‘ anerkannten oder diskutierten Werke auf einen Blick präsentieren soll.61 Den Bedarf an einer solchen Zusammenstellung motiviert er mit dem zweimaligen Hinweis darauf, dass bei Müllers Forschungsbericht „de[r] Umweg über das Sachregister“ nötig sei, um die besprochenen Werke zu erkennen.62 Um diesem Missstand abzuhelfen, überführt Schnyder die in insgesamt vier Arbeiten Müllers, von Ertzdorffs und Gotzkowskys enthaltenen Titel in eine Tabelle.63 Die Auflistungen in Anneliese Schmitts Dissertation nimmt er dagegen nicht auf, da sie zwar problemorientiert mit dem ‚Volksbuch‘-Begriff arbeite, ihr „Versuch der Corpusbildung“ aber „von einer gewissen Unverbindlichkeit“ geprägt sei.64 Doch wird die pragmatische Nützlichkeit von Schnyders Übersicht dadurch eingeschränkt, dass erstens „[i]m Sinne einer Dokumentation“ auch zahlreiche Fälle gelistet werden, bei denen es sich – aufgrund der Versform, der mittelniederdeutschen Sprache oder des Charakters einer Schwanksammlung – eindeutig nicht um frühneuhochdeutsche Prosaromane handelt. Und zweitens führt Schnyder auch alle von Müller im Register erfassten Werke auf, unbesehen „ob er das Werk wirklich [...] als Roman betrachtet“ oder aus anderen Gründen besprochen hat.65 Da umgekehrt aufgrund von Schnyders Beschränkung auf die vier genannten Forschungsarbeiten andere Diskussionsfälle ausgespart wer-
vier Werken der 1530er Jahre einen ‚Faszinationstyp‘ kollektiver Heldenkämpfe im Umkreis Karls vor dem Hintergrund der Türkengefahr (vgl. S. 141–146), um einen Beitrag zur problembehafteten Binnenstrukturierung des Prosaroman-Korpus zu leisten (vgl. ebd., S. 126–128.). 61 Das Zitat: André Schnyder: Der deutsche Prosaroman des 15. und 16. Jahrhunderts. Ein Problemfeld, eine Tagung und der Versuch einer Bilanz. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 11–39, hier: S. 13, die Liste: André Schnyder: Das Corpus der frühneuhochdeutschen Prosaromane: Eine tabellarische Übersicht als Problemaufriss, in demselben Sammelband, S. 545–556, hier: S. 548–556. 62 Das Zitat: Schnyder: Das Corpus, S. 545; so aber auch: Schnyder: Problemfeld Prosaroman, S. 13. 63 Es handelt sich um den Forschungsbericht Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, einen Aufsatz von Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, die Studie von von Ertzdorff: Romane und Novellen, und die oben besprochene Bibliographie Gotzkowsky: Bibliographie der deutschen Drucke. 64 Schnyder: Das Corpus, S. 546; die Dissertation: Anneliese Schmitt: Die deutschen Volksbücher. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte und zur Tradierung im Zeitraum von der Erfindung der Druckkunst bis 1550. Bd. 1. Diss. masch. Berlin 1973. 65 Das erste Zitat Schnyder: Das Corpus, S. 547/Anm. 8; das zweite ebd., S. 548/Anm. 10.
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den,66 bleibt sein Corpus der frühneuhochdeutschen Prosaromane wie Heitz/ Ritters Versuch ein – so Schnyders Untertitel – Problemaufriss. Das fehlende historische Gattungsbewusstsein erschwert aber nicht nur die Zusammenstellung infrage kommender Einzeltitel, sondern auch die Beschreibung gattungskonstitutiver Merkmale. Da es an einer zeitgenössischen Romanpoetologie mangelt, ist eine Explikation nur als „nachträgliche literaturgeschichtliche Konstruktion“ beziehungsweise als „Re-Konstruktion[ ] der produktionssteuernden Faktoren“ möglich.67 In der Regel werden hierfür Elemente vollkommen unterschiedlicher Analyseebenen miteinander kombiniert. Jan-Dirk Müller hat in verschiedenen Publikationen an einer Explikation des ‚Prosaromans‘ gearbeitet.68 Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft spricht er zunächst sehr weitgefasst von „längere[n] Erzählungen des 15. und 16. Jhs. ohne Versbindung“,69 was beispielsweise legendarische Texte noch mit einschließen würde. Anschließend hebt er die Unterhaltungsfunktion hervor und verweist im Komparativ auf ihre „breitere Leserschaft“.70 Dies ist ein quantitatives Argument, für das es zumeist entscheidend ist, ob ein Roman gedruckt wird. Demnach wären alle Erzähltexte Elisabeths von Nassau-Saarbrücken außer Sibille ‚Prosaromane‘ – trotz der großen inhaltlichen Verwandtschaft. Müllers ‚Prosaroman‘-Explikation taugt für (produktions-)ästhetische Zusammenhänge nicht, ist
66 Vgl. ebd., S. 547/Anm. 8, wobei auch diese Erwähnung nicht systematisch und unvollständig ist. Ich beschränke mich hier auf einen Hinweis auf die Übersetzung des Ismenius, vgl. dazu Sylvia Brockstieger: Aemulatio und Intermedialität. Kunsttheoretische und poetologische (Selbst-)Reflexion im Prosaroman Ismenius (1573). In: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). In Zusammenarbeit mit Sylvia Brockstieger, Jan Hon und Semjon Aron Dreiling. Hg. von Anna Kathrin Bleuler u. a. Berlin, Boston 2011 (P&A 27), S. 165–190. 67 Das erste Zitat: Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 339; das zweite: Kipf: Schwank- und Prosaroman, S. 156. – Es handelt sich damit um eine nominalistische Zugangsweise der Gattungsgeschichtsschreibung (vgl. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. München 1973 [Information und Synthese 1], hier: S. 37–56; zum Prosaroman Harald Fricke: Definieren von Gattungen. In: Handbuch Gattungstheorie. Hg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart, Weimar 2010, S. 10–12, hier: S. 10). 68 Eine ‚Minimalexplikation‘ findet sich bei Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 340. – Vgl. zu einem solchen Versuch ferner Jan-Dirk Müller: Gattungstransformation und Anfänge des literarischen Marktes. Versuch einer Theorie des frühen deutschen Prosaromans. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg v. 1. bis 4. April 1979. Hg. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983, S. 432–449, hier: S. 432; Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 13. 69 Alle Zitate Jan-Dirk Müller: Art. Prosaroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 174–177, hier: S. 174. 70 Dies verweist auf den epochalen Wandel von mündlicher zu schriftlicher literarischer Äußerung (‚Leser‘, nicht ‚Hörer‘).
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aber eine hilfreiche Grundlage für medien-, wirkungs-, überlieferungs- oder sozialgeschichtliche Analysen von Massenphänomenen. Von der mittelalterlichen Literaturtradition, aus der sich wie oben ausgeführt selbst genuine Neuschöpfungen wie der Fortunatus speisen, setzen sich diese Romane durch ihre Prosaform ab. Weiterhin zeichnen sie sich nach Müller durch eine Thematisierung von Einzelschicksalen aus und erscheinen häufig – aber nicht immer – anonym. Und mehr noch: Müller führt darüber hinaus ein ganzes Bündel von Tendenzen an, welche die Einzeltexte miteinander verbinden, die aber wie alle angeführten Merkmale nicht von allen Vertretern geteilt werden, die üblicherweise dem Korpus zugeschlagen werden. Dieses Bündel reicht vom „Anspruch auf Faktenwahrheit“71 über die „Konzentration [...] auf die Handlung“72 und den weitgehenden Verzicht auf rhetorische Mittel73, bei gleichzeitiger Verwendung von Illustrationen, bis hin zur „Verbreitung im Druck“ – einhergehend mit dem „Abbau besonderer gruppenspezifischer Verstehensbedingungen“ und diversen die Lesbarkeit erleichternden Maßnahmen wie „Kapitelüberschriften, kleine Textabschnitte“ und „Anleitungen zum ‚Gebrauch‘“.74 Das Verbindende liegt damit auf ganz verschiedenen Analyseebenen von den soziohistorischen
71 Vgl. dazu Knape: Historie in Mittelalter und früher Neuzeit, S. 332–365. – Dies würde den Fortunatus, zumindest wenn man an das Nachwort des Erstdrucks denkt, ausgrenzen. 72 Vgl. dazu auch Brandstetter: Prosaauflösung, vor allem S. 162 und S. 187. – Allerdings lässt sich eine auf die summa facti konzentrierte Erzählweise auch bei den Kurzfassungen höfischer Epik nachweisen, sodass Peter Strohschneider hierin im Anschluss an Rüdiger Schnell eine Möglichkeit romanhafter Gattungen schlechthin sehen kann (vgl. Peter Strohschneider: Höfische Romane in Kurzfassungen. Stichworte zu einem unbeachteten Aufgabenfeld. In: ZfdA 120 [1991], S. 419–439, hier: S. 429 und S. 435 f.). Hinzu kommt, dass die geringere Quantität reflexiver Passagen bereits mit der Auswahl der Textgrundlagen korreliert. Schließlich ist mit Hans-Joachim Koppitz: Einige Beobachtungen zum Stil der Prosaversionen mittelhochdeutscher Ritterromane und anderer mittelhochdeutscher Erzählwerke. In: Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. In Verb. mit Ulrich Fellmann. Hg. von Rudolf Schützeichel. Bonn 1979, S. 553–574, zu beachten, dass die zahlreichen Hinweise auf Kürzungen gegenüber den Vorlagen oftmals rein rhetorisch sind und an jenen Stellen im Vergleich zur Vorlage gar nichts ausgelassen wird (vgl. S. 558–560). 73 Dies kann kaum gelten für Texte wie Herzog Ernst F (vgl. Bernhard Sowinski: Textlinguistische Aspekte frühneuhochdeutscher Epenbearbeitungen. Nibelungen, Herzog Ernst. In: Wirkendes Wort 34/4 (1984), S. 328–339, hier: S. 338) oder Georg Messerschmidts Brissonetus (vgl. Herfried Vögel: Erzählerische Bedeutungskonstituierung in Georg Messerschmidts Brissonetus [1559]. In: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. Hg. von Wolfgang Harms, Jean-Marie Valentin. Amsterdam, Atlanta 1993 [Chloe 16], S. 175–195). 74 Insbesondere diese Einrichtung als Lesetexte schafft durch die mit ihr einhergehende Polyperspektivität paranarrative Dimensionalität, wodurch sich der Sinn der Texte pluralisiert (vgl. das Kap. 2.3.3).
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Rahmenbedingungen über inhaltliche Kriterien bis zu buchtypologischen Eigenschaften. Grundlegend ist eine solche Verschränkung ‚externer‘ und ‚interner‘ Eigenschaften auch für die Textsortenexplikation des ‚frühneuhochdeutschen Prosaromans‘ von Franz Simmler. Mit der Verbindung sprachwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Methoden entwickelt er anhand von Magelone, Fortunatus und Wigoleis vom Rade ein textsortenkonstitutives Merkmalbündel und überprüft die Ergebnisse an Melusine sowie an Tristrant und Isalde.75 Die ‚externen Merkmale‘ umfassen dabei Unterhaltung als „primären Textsinn“ sowie die soziohistorische und mediengeschichtliche Verortung einer handschriftlichen Fixierung „durch Bürger in adligem Auftrag in erster Linie für adliges Publikum“ und anschließender Verbreitung im Druck.76 Dabei sollen sowohl Originalschöpfungen als auch Bearbeitungen erfasst werden. Bedenkt man, dass der Hof nicht nur Rezeptions-, sondern auch Entstehungsort vieler früher Werke ist, die gemeinhin als ‚Prosaroman‘ bezeichnet werden, so überrascht Simmlers Restriktion auf bürgerliche Verfasser. So sind die Romane Elisabeths von Nassau-Saarbrücken „Ausdruck fürstlichen Selbstbewusstseins“
75 So der Titel seines Aufsatzes Franz Simmler: Zur Verbindung sprachwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Methoden bei der Konstitution einer Textsorte ‚Frühneuhochdeutscher Prosaroman‘. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 89–144; vgl. weiterhin Franz Simmler: Syntaktische Strukturen im Prosaroman des 16. Jahrhunderts. Die Schoͤ n Magelona. In: Sprachwissenschaft 8/2 (1983), S. 137–187; Franz Simmler: Makrostrukturelle Veränderungen in der Tradition des frühneuhochdeutschen Prosaromans. In: Deutsche Sprachgeschichte. Grundlagen, Methoden, Perspektiven. Fs. für Johannes Erben zum 65. Geb. Hg. von Werner Besch. Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. 187–200; Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung; Franz Simmler: Makro- und Mikrostrukturen im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘, ihr Verhältnis und ihre Funktionen. In: Mikrostrukturen und Makrostrukturen im älteren Deutsch vom 9. bis zum 17. Jahrhundert: Text und Syntax. Akten zum Intern. Kongress an der Université Paris Sorbonne (Paris IV), 6. bis 7. Juni 2008. Hg. von Yvon Desportes, Franz Simmler, Claudia Wich-Reif. Berlin 2010 (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 19), S. 193–218, sowie Franz Simmler: Zum Zusammenhang mikro- und makrostruktureller textueller Merkmale in der Tradition des Frühneuhochdeutschen Prosaromans. In: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013, S. 205–235. – Vgl. nun auch die Diskussion der Textsorten-Explikation bei Martin Behr: Buchdruck und Sprachwandel. Schreibsprachliche und textstrukturelle Varianz in der ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen (1473/74–1692/93). Berlin, Boston 2014 (Lingua Historica Germanica 6), S. 54–58, und den Aufsatz Simmler: Melusine um 1700. 76 Simmler: Mikro- und Makrostrukturelle Merkmale, S. 205 f. Vgl. zu den ‚externen Merkmalen‘ auch: Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 462 f.
2.1 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur
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und zielen „auf die Erhöhung des Hauses“.77 Auch die Melusine Thürings von Ringoltingen ist in ihrem ursprünglichen Rezeptionskontext auf die Selbstbestätigung des Berner Twingherren ausgerichtet.78 Eleonore von Österreich mit ihrem Ritter Pontus und andere der selten namentlich bekannten Autoren wären hinzuzufügen.79 Makrostrukturell, syntaktisch und lexikalisch entfaltet Simmler die ‚internen Merkmale‘: ‚Prosaromane‘ sind demnach erstens durch sogenannte ‚Initiatoren‘ gekennzeichnet, worunter Simmler einleitende Paratexte wie Titelblätter und Vorworte versteht. Zweitens werden sie von einem sogenannten ‚Terminator‘, dem Kolophon, abgeschlossen. „[Z]ur Kennzeichnung der Kontinuität der Handlungsabfolge“ seien Prosaromane drittens in Kapitel unterteilt.80 Jedoch treten noch weitere strukturierende Maßnahmen hinzu, welche die Lesbarkeit der Texte
77 Das erste Zitat Wolfgang Haubrichs: Einführung. In: Der Huge Scheppel der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Nach der Handschrift der Hamburger Staatsbibliothek mit einer Einl. v. Hermann Urtel. Ndr. der 1905 im Lucas Gräfe Verlag Hamburg erschienenen Ausg. Mit einer Einf. von Wolfgang Haubrichs. o.O. [Saarbrücken] 2007 (Saarbrücker Wiederdrucke 1), S. V–XIII, hier: S. XII; das zweite Wolfgang Haubrichs: Die Kraft von franckrichs wappen. Königsgeschichte und genealogische Motivik in den Prosahistorien der Elisabeth von Lothringen und Nassau-Saarbrücken. In: Der Deutschunterricht 43/4 (1991), S. 4–19, hier: S. 18. 78 Vgl. Jan-Dirk Müller: Melusine in Bern. – Vgl. zu den Berner Twingherren im Allgemeinen François de Capitani: Adel, Bürger und Zünfte im Bern des 15. Jahrhunderts. Bern 1982; Regula Schmid: Reden, rufen, Zeichen setzen: Politisches Handeln während des Berner Twingherrenstreits. 1469–1471. Zürich 1996. 79 Daher kann Irmela von der Lühe von „eine[r] höfische[n] Autorengruppe“ mit einem „höfischtraditionellen Stoff- und Motivkomplex“, die für einen „höfische[n] Abnehmerkreis“ produziert, als einer Untergruppe der Prosaroman-Produktion sprechen (von der Lühe: Anfänge des Prosaromans, S. 71). Weiterhin steht außer Frage, dass sich das Produktionszentrum im sechzehnten Jahrhundert mit dem Fortunatus und später mit den Romanen Jörg Wickrams in die Städte verlagert. Auch wenn erwogen wurde, dass Elisabeth die ihr zugeschriebenen Romane nicht selbst verfasst (vgl. Ute von Bloh: Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ‚Herzog Herpin‘, ‚Loher und Maller‘, ‚Huge Scheppel‘, ‚Königin Sibille‘. Tübingen 2002 [MTU 119], hier: S. 32–35), und man beim Fortunatus seine Zwischenstellung zwischen feudaler und bürgerlicher Ethik im Auge behalten muss (so der Zwischentitel bei Kartschoke: Weisheit oder Reichtum, für das Kap. S. 239–247), beschränken Simmlers externe Merkmale das Korpus unangemessen. Über die genauen Auftrags-, Produktions- und Erstrezeptionszusammenhänge ist außerdem nur selten Sicheres überliefert. – Wie bei der städtischen Oberschicht der Zeit Effekte einer imitatio des Adels von Bedeutung sind (vgl. Steinmetz: Welterfahrung, S. 210 f.), so sind ökonomische Erwägungen im Übrigen auch für einen Berner Twingherren wichtig. 80 Das Zitat: Simmler: Mikro- und Makrostrukturelle Merkmale, S. 206. Zu Makrostrukturen vgl. darüber hinaus: ebd., S. 208–214 und S. 221–227; Simmler: Makrostrukturelle Veränderungen, S. 187 f. und S. 193–197; Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 463 f., sowie Simmler: Textsorte Prosaroman, S. 100–122.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
erleichtern. Simmler nennt „Kapitelüberschriften, Spatienbildungen, ÜberschriftHolzschnitt-Kombinationen, Initialengebrauch, Absatzbildungen und Verwendung des Punktes als Interpunktionszeichen“.81 Die syntaktischen und lexikalischen ‚internen Merkmale‘ beziehen sich auf die temporale Strukturierung des Textes,82 spielen aber bei meiner Untersuchung sinnstiftender Dimensionen keine Rolle. Mit der Kombination verschiedener interner Faktoren erhöht Simmler das Problembewusstsein im Hinblick auf die „komplexe Verbindung“ para- und haupttextueller sowie struktureller Gliederung, die nicht nur die Textsorte, sondern auch den Buchtyp ‚Prosaroman‘ auszeichnet. Ein solches Bewusstsein mangelt dagegen etlichen Editionen, aber noch mehr Interpretationen der modernen Philologie.83 Im Detail ist es allerdings diskussionsbedürftig, ob die primäre Funktion von Zwischentiteln und Holzschnitten beziehungsweise Temporalsätzen und -adverbien darin bestehe, den Beginn eines Kapitels anzuzeigen.84 Weiterhin fällt Simmlers Bestreben auf, seine Textsortenexplikation überlieferungsgeschichtlich zu entwickeln,85 sodass ich nicht nur eine Nähe zum ‚Buchtyp‘-, sondern auch zum ‚Zielform‘-Verständnis Jan-Dirk Müllers sehe. Daran schließt sich jedoch die Frage an, ob verschiedene Textzeugen eines Werkes unterschiedlichen Textsorten zugerechnet werden sollten, oder konkreter: Sind Melusine-Handschriften ohne Illustrationen und Zwischentitel ‚Prosaromane‘ im oben dargelegten Sinn?86 Mit dieser Frage radikalisiert sich das an Müllers Gattungsexplikation aufgezeigte Problem abweichender Kategorisierung ästhetisch verwandter Texte, indem man nun auch überlieferungsgeschichtlich
81 Simmler: Syntaktische Strukturen, S. 154. 82 Vgl. dazu: Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 464 f.; Simmler: Textsorte Prosaroman, S. 122–141, sowie Simmler: Mikro- und Makrostrukturelle Merkmale, S. 215–221 und S. 228– 233. 83 Vgl. dazu die Kap. 2.2.1.1, 2.2.1.2 und das Kap. 2.3.3.2. Das Zitat: Simmler: Textsorte Prosaroman, S. 114. 84 So Simmler: Textsorte Prosaroman, S. 109, S. 114 f., S. 119 und S. 125, wo er aber auch selbst auf Fälle rückverweisender Überschriften verweist, die seiner These eigentlich zuwiderlaufen, und darüber hinaus einige weitere Funktionen dieser Paratexte behandelt. 85 Vgl. Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 468–486; Simmler: Textsorte Prosaroman, S. 141, sowie Simmler: Mikro- und Makrostrukturelle Merkmale, S. 221–233. – Anschließend an Simmler kann Martin Behr: Ein Text wird in Ketten gelegt. Der Wandel transsyntaktisch kohäsionsstiftender Verknüpfungsmittel in der Überlieferung der ‚Melusine‘ vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. In: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013, S. 121–139, zeigen, dass bei den Melusine-Drucken zwischen 1473/74 und 1692/93 „konzeptionelle Mündlichkeit durch konzeptionelle Schriftlichkeit zurückgedrängt wird“ (S. 135). 86 Vgl. Simmler: Textsorte Prosaroman, S. 115 f.
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differenziert von einem ‚partiell als Prosaroman überlieferten‘ Werk sprechen müsste. Dies widerspricht aber einem Verständnis von ‚Werken‘ als Summen ihrer Überlieferung.87
2.1.1.3 Der Prosaroman als ‚Buchtyp‘ und als ‚Zielform‘ Buchwissenschaftlich versteht man unter einer ‚Buchgattung‘ eine schwer zu begrenzende Gruppe von Texten, die sich bezogen auf Inhalt, Form, intendiertes Publikum oder Gebrauchsmöglichkeiten von der Gesamtmenge der Bücher abhebt.88 ‚Buchtyp‘ bezeichnet dagegen eine Mischung gestalterischer, „inhaltliche[r] und gebrauchsspezifische[r]“ Merkmale, die jeweils andere Leseweisen hervorrufen. Für die ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘89 des Prosaromans bedeutet dies, dass auch typographische Entscheidungen zu berücksichtigen sind, die sich auf das „Bedeutungssystems“ der Texte auswirken und den „Verstehensprozess“ bei der Rezeption beeinflussen.90 Doch die Verantwortung über Format, Papiersorte, Schrift- und Seitengestaltung, aber auch über die Verwendung von Illustrationen, das (Er-)Setzen von Zwischentiteln und Modifikationen an Formulierung und Kapitelbestand obliegt in der Frühneuzeit nicht den ursprünglichen Verfassern der tradierten Romane. Schreiber und Druckerverleger bewahren mit ihrer Tätigkeit die alten Texte nicht nur vor dem Vergessen. Sie aktualisieren dieselben, um sie losgelöst vom primären Rezeptionskontext für
87 Vgl. Kuhn: Mittelalterliche Kunst, S. 36; Klaus Grubmüller: Art. Überlieferung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 717–720, hier: S. 717. 88 Vgl. für ‚Buchgattung‘ und ‚Buchtyp‘ Ursula Rautenberg: Art. Buchgattungen. In: Reclams Sachlexikon des Buches. 2., verb. Aufl. Hg. von Ursula Rautenberg. Stuttgart 2003, S. 94–95. – Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 37/Anm. 109a, fordert eine „Verbindung buchgeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Fragestellungen“; schon 1973 äußert sich Schmitt: Deutsche Volksbücher, S. 128, ähnlich. 1999 bezeichnet sie „das Zusammenspiel von Literaturund Buchgattungen bzw. Buchtypen“ als „Schlüssel für eine Breitenwirkung“ (Schmitt: Tradition und Innovation, S. 73). 89 Vgl. für diesen Begriff das Kap. 2.3.3. 90 Ursula Rautenberg: Typographie und Leseweisen. Überlegungen zu den Melusine-Ausgaben der Frankfurter Offizinen Gülfferich und Weigand Han / Han Erben In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 341–363, hier: S. 344 f., mit Anleihen an Susanne Wehde sowie Guglielmo Cavallo und Roger Chartier. Vgl. dazu auch ebd., S. 343–359.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
neue Lesergruppen interessant zu halten, und tragen damit wesentlich zum Erfolg eines Buches bei.91 Frédéric Barbier prägt hierfür den texttheoretischen Begriff der ‚Vektorialität‘,92 der „drei Dimensionen“ (S. 105) habe. Zum einen liegen die Texte materiell in Varianten vor, die nur zum Teil vom Verfasser selbst stammen (vgl. ebd. und S. 114). Zum anderen ist das physische Erscheinungsbild der Texte durch das mise en livre, also durch typographische und paratextuelle Phänomene geprägt (vgl. S. 105 f. und S. 114, mit Henri-Jean Martin). Darüber hinaus bewegt sich ein Text überlieferungs- und rezeptionsgeschichtlich durch Raum und Zeit: Er wird aktualisiert, übersetzt oder für neue Lesergruppen aufbereitet (vgl. S. 106 und S. 114 f.). Barbier trägt damit dem Umstand Rechnung, dass ein Buchtyp sich auch durch Eingriffe herausbildet, die außerliterarischen, beispielsweise buchwirtschaftlichen Logiken folgen (vgl. S. 114). Wenn ich in meiner Arbeit von der ‚Dimensionalität‘ der Literatur spreche, meine ich damit dasselbe Phänomen wie Barbier, unterscheide dabei nur zwischen einer größeren Anzahl an ‚Dimensionen‘.
91 Vgl. meine Kap. 2.1.2 und 2.1.3. – Jan-Dirk Müller hat die „Nivellierung der Verstehensvoraussetzungen“ als Folge der Anonymisierung des Publikums in der Druckkultur anhand verschiedener Prosaromane untersucht und analysiert: vgl. Jan-Dirk Müller: Mittelalterliche Erzähltradition, S. 115; Jan-Dirk Müller: Melusine in Bern, S. 47–50, an der Melusine; Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 420 f., am Hug Schapler; Jan-Dirk Müller: Funktionswandel ritterlicher Epik am Ausgang des Mittelalters. In: Gesellschaftliche Sinnangebote mittelalterlicher Literatur. Mediaevistisches Symp. an der Universität Düsseldorf. Hg. von Gert Kaiser. München 1980 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 1), S. 11–75, hier: S. 11 f., Wigoleis, Theuerdank und Iban; Jan-Dirk Müller: Anfänge des literarischen Marktes, S. 436–448, an einer Vielzahl von Texten; Jan-Dirk Müller: Jch Vngenant und die leüt. Literarische Kommunikation zwischen mündlicher Verständigung und anonymer Öffentlichkeit in Frühdrucken. In: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. Hg. von Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg, Dagmar Tillmann-Bartylla. München 1988 (Materialität der Zeichen, A 1), S. 149–174, hier: S. 152 f. und S. 163–165, ausgehend von Tristrant und Wigoleis; JanDirk Müller: Späte Chanson de geste-Rezeption und Landesgeschichte. Zu den Übersetzungen der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. In: Chansons de geste in Deutschland. Schweinfurter Koll. 1988. Hg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe. Berlin 1989 (WolframStudien 11), S. 206–226, hier: S. 209–214, an den Romanen Elisabeths; Jan-Dirk Müller: Transformation allegorischer Strukturen, S. 271–282, an Fortunatus, Goldtfaden, Knabenspiegel und Faustbuch; Jan-Dirk Müller: Der Prosaroman – eine Verfallsgeschichte? Zu Clemens Lugowskis Analyse des ‚Formalen Mythos‘ (mit einem Vorspruch). In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 143–163, hier: S. 155–159, auf theoretischer Ebene mit Hinweis auf Wickram. 92 Die folgenden Nachweisklammer im Fließtext beziehen sich auf: Frédéric Barbier: Melusine und die Vektorialität des Textes. In: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013, S. 99–117.
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Überlieferungsgeschichtlich betrachtet sind die Protagonisten des literarischen Lebens also weniger die Autoren als Printers, Booksellers und Readers, die John L. Flood in seiner bibliographischen Dissertation ins Aufmerksamkeitszentrum stellt.93 Ihre Maßnahmen für eine marktgängige Tradierung umfassen ein Spektrum „from a thorough re-editing involving rewriting [...] the whole text, down to a trivial change of spelling or punctuation“.94 Anneliese Schmitt bezeichnet die Drucker daher als „Schöpfer des Volksbuches“, die zwar nicht die Literaturgattung der Texte prägen, wohl aber ihren Buchtyp.95 Wenn Schmitt ‚Volksbücher‘ als ein erschwingliches Massenprodukt behandelt, fallen dabei allerdings kostenintensive Ausgaben aus ihrem Untersuchungsrahmen heraus.96 Es wiederholt sich das oben bei Simmlers Beschreibung des Prosaromans als ‚Textsorte‘ und bei Müllers ‚Gattungs‘-Explikation festgestellte Problem: Trennt man für die Korpusbildung zwischen Prosaromanen als Gattung, Textsorte oder Buchtyp, werden Romane oder einzelne ihrer Redaktionen ausgesondert, die sich im Hinblick auf Ästhetik, Struktur oder den hier analysierten Dimensionen der Sinnstiftung nicht von den anderen Werken und Textzeugen unterscheiden. Zweifelsfälle sollten bei überlieferungsgeschichtlichen Analysen aber eher eingeschlossen werden, um möglichst umfassende Äußerungen über die historische Gestalt eines Textes zu erzielen. Aus dieser Gemengelage zieht Müller die Konsequenz und sieht den Prosaroman als „heterogenes Textcorpus“, das „nur als ‚Zielform‘“ mit „gemeinsame[n] Entwicklungstendenzen“ beschrieben werden könne.97 Implizit entspricht dies dem Gattungsverständnis von Hans Robert Jauß, dessen ‚historische Familien‘ weder „normativ (ante rem)“ noch „klassifikatorisch (post rem)“, sondern nur „historisch (in re)“ untersucht werden können.98 Scharf zurückgewiesen wird Müllers Ansatz von André Schnyder. Zum einen widerspreche die Vorstel-
93 John L. Flood: The Survival of German ‚Volksbücher‘: Three Studies in Bibliography. 2 Bde. Diss. masch. London 1980, Bd. 1, Überschrift zum ersten Kap. 94 Ebd., S. 333. 95 Schmitt: Deutsche Volksbücher, S. 132 f. 96 Ebd., S. 134 f. 97 Jan-Dirk Müller: Art. Prosaroman, S. 174. 98 Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976. München [1972] 1977, S. 327–358, hier: S. 330 f. – Insofern trifft es nicht zu, wenn Burchert: Anfänge des Prosaromans, S. 165/Anm. 1, behauptet, Müller habe „seinen Versuch, die Historien als eigene Gattung abzugrenzen, mittlerweile aufgegeben“. Im Übrigen verfolgt auch Roloff: Anfänge, S. 55, einen vergleichbaren Ansatz. Vgl. zur ‚literarischen Evolution‘ im russischen Formalismus Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1967 (Konstanzer Universitätsreden 3), hier: vor allem S. 23–25 und S. 52–54, oder Jurij Tynjanov: Über literarische
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lung einer ‚Zielform‘ dem zeitgenössischen Blick, der sich eher auf die Vergangenheit als in die Zukunft gerichtet habe; zum anderen kritisiert er „die anderswo, zu Recht, verpönte teleologische Betrachtungsweise“.99 Nun wird Schnyder
Evolution. In: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur. Ausgew. u. aus dem Russ. übers. v. Alexander Kaempfe. Frankfurt a. M. [1927] 1967, S. 37–60. 99 Schnyder: Problemfeld Prosaroman, S. 21 f. – Auch Kipf: Schwank- und Prosaroman, S. 158, spricht davon, dass „der Eindruck teleologischen Denkens [...] entstehen“ könne. Vgl. hierzu Sebastian Speth: Rez. zu: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42). In: JbIG 45/1 (2013), S. 189–193, hier: S. 193. – Kritischer als Müllers ‚Zielform‘-Begriff sehe ich die Verwendung des Terminus ‚modern‘ in der Studie Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts von Xenja von Ertzdorff. Sie untergliedert das Korpus frühneuzeitlicher Romane und Novellen stilistisch und – eng damit verknüpft – geistesgeschichtlich von regressiv-traditional bis progressiv-modern. Während die Vertreter einer ‚frühen Ritterrenaissance‘ in der Literatur des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts wurzeln (von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 75), greifen Texte der ‚späteren‘ Phase, die sich zeitlich aber durchaus mit der ersten Phase überschneidet, dagegen thematisch nicht so weit zurück. Ihre Stoffe seien insofern ‚modern‘ wie bei der Melusine (vgl. S. 63) oder wie bei Florio und Bianceffora, da dieser Prosaroman von 1499 eben nicht auf Konrad Flecks Versroman Flore und Blanscheflur beruht, sondern auf Giovanni Boccaccios Il Filocolo (vgl. S. 97, und dazu auch Silke Schünemann: „Florio und Bianceffora“ [1499] – Studien zu einer literarischen Übersetzung. Tübingen 2005 [Frühe Neuzeit 106], hier: S. 22–76). Aber da von Ertzdorffs ‚Moderne‘-Verständnis eigentlich stilistischer Natur ist, wird die Einordnung des Florio prekär. Denn mit der Komplexität seiner Handlungsfülle teilt er dasjenige Merkmal, das von Ertzdorff dem ‚archaischen‘ Erzählen zuordnet (S. 97). Als ‚moderner‘ Text müsste die Komplexität eigentlich reduziert sein, was sie am Beispiel des Vergleichs von Elisabeths von Nassau-Saarbrücken Herpin und Hug Schapler vorführt (S. 214). Fast zeitgleich wie von Ertzdorff sieht Christoph Bode dagegen ‚Ambiguität‘ als „Paradigma der Moderne“ an, und folgert, dass Literatur „desto moderner“ sei, „je komplexer, vieldeutiger“ sie ist (Christoph Bode: Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne. Tübingen 1988, hier: S. 1 f.). Allerdings bezieht er sich auf die ‚modernere‘ Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts. Nach von Ertzdorff hieße im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert ‚modern‘ zu erzählen dagegen, ‚novellistisch‘ zu erzählen (von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 3). Beim ‚novellistischen‘ Erzählen handelt es sich um eine Möglichkeit jeder Gattung und damit auch des Prosaromans. Dies gilt sowohl für Prosaauflösungen als auch für Übertragungen und Neuschöpfungen (vgl. S. 11 und S. 42). Als Beispiele nennt sie u. a. neben Eleonores Ritter Pontus (vgl. S. 73 f.) den Fortunatus und Elisabeths Hug Schapler (vgl. S. 143, S. 214; anders in Bezug auf die Modernität von Ritter Pontus A Reinhard Hahn: Der Prosaroman Ponthus et Sidoine und seine drei deutschen Adaptationen. In: Études Médiévales 7 [2005], S. 23–34, hier: S. 25–28). Aber auch die zeitgenössische Geschichtsschreibung oder Ulrich Füetrers in Versen verfasstes Buch der Abenteuer (vgl. S. 194) bezeichnet von Ertzdorff aufgrund ihres „knappe[n], rasch fortschreitende[n] lineare[n] Erzählen[s]“ als ‚novellistisch‘ (S. 93). Ihr Begriff des ‚Novellistischen‘ lässt sich dabei nur implizit erschließen, was schon von Peter Strohschneider kritisiert wird. So fehle auch eine
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aber nicht widersprechen, dass sich der Blick des Literarhistorikers von einem Zeitpunkt der frühen Vergangenheit aus über verschiedene Etappen hinweg auf
Auseinandersetzung mit dem maere (Peter Strohschneider: Rez. zu: Xenja von Ertzdorff: Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland. Darmstadt 1989. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 226/2 [1989], S. 395–398, hier: S. 397). Um knappes und dabei ein- oder höchstens zweistrangig-lineares Erzählen zu erzielen, werden nach von Ertzdorff „Beschreibungspassagen“ der Vorlagen ausgespart, „wichtige Abschnitte aber ausführlich“ erzählt (S. 42, vgl. zu diesen Charakteristika ‚novellistischen Erzählens‘ auch S. 3, S. 11, S. 55, S. 214). An diesen Stellen zeichne das ‚novellistische Erzählen‘ sogar eine gewisse Tiefe und Breite aus. Kennzeichnend sei nämlich auch das „ausführliche[ ] Verweilen bei psychologisch ‚interessanten‘ Introspektionen und Reflexionen“ (S. 42). Hinzu trete, wie sie am Beispiel von Elisabeths Sibille und dem Wilhelm von Österreich ausführt, Spannung als Merkmal ‚novellistischen Erzählens‘, die sich aufgrund „von Umschlägen und unerwarteten Wendungen“ einstelle (S. 80, vgl. auch S. 206). An ihrer Besprechung des anonymen Galmy wird deutlich, dass von Ertzdorff nicht nur stilistische Merkmale, sondern auch inhaltliche Aspekte der RenaissanceNovelle für ihr Begriffsverständnis voraussetzt. Denn Galmy sei ein Beispiel für den „neue[n] Hofroman“, der ‚novellistisch‘ erzählt ist, aber die „leidenschaftliche Liebe der RenaissanceNovellen [...] ‚sublimiert‘ zu wahrer, ‚züchtiger‘ Liebe“ (S. 112). Von Ertzdorffs ‚novellistisches Erzählen‘ ist aber nicht nur die Möglichkeit jeder Gattung, sondern auch eine Möglichkeit des Erzählens, die zu jeder Zeit realisiert werden kann. Dies gilt allerdings auch für das ‚archaische‘ Erzählen. Jörg Wickram erzähle beispielsweise sowohl ‚novellistisch-modern‘ (vgl. S. 116: Gabriotto und Reinhart und S. 133: Nachbarnroman) als auch ‚archaisch‘ (S. 117: Goldtfaden). Manuel Braun warnt davor, Wickrams späte Prosaromane „als Zielpunkt einer gerichteten Entwicklung aufzufassen, in der sich die Logik der (Literatur-)Geschichte offenbaren würde“ (Manuel Braun: Wickrams Verbrechensgeschichten oder: die andere Aventiure. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Unter Mitarb. v. Andrea Sieber. Hg. von Maria E. Müller, Michael Mecklenburg. Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 313– 331, hier: S. 321 f.). Vielmehr lassen sich produktions- und mehr noch überlieferungsgeschichtlich wechselnde Konjunkturen von ‚archaischem‘ und ‚modernem Erzählen‘ feststellen. Erst in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts sei das deutsche Publikum nach von Ertzdorff aufnahmebereit für „‚offene‘, ‚modernere‘“ Romane (S. 63). Dieses Interesse befriedige dann aber der Amadis, der 1569 bis 1575 in 13 Bänden bei Sigmund Feyerabend in deutscher Übersetzung erscheint. Doch liegt diese Erkenntnis quer zu von Ertzdorffs Zwei-Phasen-Modell, sodass für sie der „ausführliche[ ], besonders auf Beschreibungen Wert legende[ ] Erzählstil [...] entweder als besonders der älteren Tradition verbunden oder als besonders neu gelten kann“ (S. 3). Doch ist es als Stärke ihres Versuchs anzusehen, dass sich das Bild einer zielgerichteten Entwicklung, das von Ertzdorffs Verwendung des ‚Moderne‘-Begriffs suggeriert, während der Lektüre ihrer Studie nicht einstellt. Zugute zu halten ist diesem „Überblick über die Romankunst im 15. und 16. Jahrhundert in Deutschland“ weiterhin, dass von Ertzdorff „auch die Rezeption ‚klassischer‘ und ‚spätklassischer‘ Romane in Handschriften“ zumindest bedenkt (S. 75) und damit in Ansätzen an einer synchronen Literaturgeschichte arbeitet. Ein Vorhaben, dem nachzugehen ist, allerdings schwerlich unter dem Label des ‚novellistischen Erzählens‘. Vielversprechender scheint mir eine Formulierung von Judith Schönhoff zu sein, die auf der Basis des Prozesses aktualisierender Tradierung von „Prosaauflösungen als Novellierungen“ spricht und eine Anwendbarkeit auch auf andere Prosaromane andeutet (so das Kap. bei Judith Schönhoff:
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einen in der jüngeren Vergangenheit zubewegen kann100 – und nur diese Bewegungsrichtung ist bei der nachträglichen Klassifikation einer Gattung relevant. Käme es auf das (fehlende) historische Selbstverständnis an, wäre eine Explikation schlichtweg unmöglich. Aber ist Müllers Begriff der ‚Zielform‘ überhaupt teleologisch zu verstehen? Und wohin zielt der Prosaroman? Müller rekurriert für seinen Begriff mit Anneliese Schmitt auf Max Wehrli, der den Begriff seinerseits von Max Lüthi übernimmt.101 Für Lüthi ist die ‚Zielform‘ des Märchens und der Sage vom Ansatz her ‚echt teleologisch‘, da er von „Strebungen“ spricht, „die nach Verwirklichung zielen“.102 Kipf verweist – allerdings in der
Von ‚werden degen‘ und ‚edelen vrouwen‘ zu ‚tugentlichen helden‘ und ‚eelichen hausfrawen‘. Zum Wandel der Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit in den Prosaauflösungen mittelhochdeutscher Epen. Frankfurt a. M. u. a. 2008 [Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 47], hier: S. 26–30; vgl. auch S. 26/Anm. 97). Es ist indes nur als Folge einer völlig auf die Produktionschronologie ausgerichteten Literaturgeschichtsschreibung zu verstehen, dass beim Vergleich von hochmittelalterlichen Vorlagen und spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Bearbeitungen praktisch niemals ernsthaft in Erwägung gezogen wird, dass bereits den Prosaisten gekürzte Versfassungen vorgelegen haben könnten. Das ist umso befremdlicher, als diese Kürzungstendenzen synchron zum Entstehen der Prosaromane beobachtet werden (vgl. Nikolaus Henkel: Kurzfassungen höfischer Erzähldichtung im 13./14. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis von Textgeschichte und literarischer Interessenbildung. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. Hg. von Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993 [Germanistische Symposien, Berichtsbände 14], S. 39–59, und Strohschneider: Kurzfassungen). Die Arbeit von Schönhoff über den Wandel von Weiblichkeits- und Männlichkeitskonzepten stellt hier eine bemerkenswerte Ausnahme dar (vgl. Schönhoff: Eeliche hausfrawen, S. 10–13). 100 Einschlägig z. B. die Studie Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, vor allem S. 468–486. 101 Vgl. Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 64; Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 339/Anm. 15, sowie Max Wehrli: Deutsche Literaturgeschichte im Mittelalter?. In: Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze. Zürich, Freiburg i.Br. 1969, S. 7–23, hier: S. 22. 102 Alle Zitate von Lüthi beziehen sich auf Max Lüthi: Urform und Zielform in Sage und Märchen. In: Fabula 9 (1967), S. 41–54, hier: S. 47–50. – Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. 1: Erklärung – Begründung – Kausalität. Studienausgabe, Teil E: Teleologische Erklärung, Funktionsanalyse und Selbstregulation. Teleologie: Normativ oder Deskriptiv? STT, Evolutionstheorie und die Frage Wozu? 2., verb. u. erw. Aufl. Berlin u. a. [1969] 1983, hier: S. 639–647, unterscheidet mit Richard Bevan Braithwaite ‚echte materiale Teleologie‘ mit Zielintention/Zwecksetzung und ‚scheinbar materiale Teleologie‘ mit Zielgerichtetheit, aber ohne Zielintention. Vgl. hier auch sein Kap. Teleologie: Normativ oder Deskriptiv? (ebd., S. 745–756, vor allem S. 749 f.) und Waltraud Naumann-Beyer: Art. Teleologie. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. In Zusammenarbeit mit dem Instituto Italiano per gli Studi Filosofici Napoli und mit Arnim Regenbogen u. a. Bd. 4. Hg. von Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1990, S. 563–569, hier: S. 563 f. Vor allem in der Biologie hat sich für die ‚scheinbar materiale Teleologie‘ der Alternativbegriff ‚Teleonomie‘ durchgesetzt, vgl. Bernhard Hassenstein: Biologische Teleonomie. In: Neue Hefte für Philosophie 20 (1981), S. 60– 71, hier: S. 60, mit Colin S. Pittendrigh. – Zweckmäßigkeit ohne Zweck als Zwischentitel bei Robert
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2.1 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur
Auseinandersetzung mit Wehrli – auf Aristoteles’ ‚Entelechie‘ als eine Analogie zu dieser Vorstellung.103 Da sich für Lüthi im Lauf der Überlieferung aber immer wieder „neue Zielmöglichkeiten“ realisieren, d. h. die jeweilige ‚Zielform‘ historisch variabel bleibt, ist schon sein Begriffsverständnis nur ‚scheinbar teleologisch‘ und vielmehr als ‚finalistisch‘ oder ‚evolutionistisch‘ zu charakterisieren.104 Eine evolutionstheoretische Sicht der Überlieferungsgeschichte hat indes mehrere Vorteile, sobald man sich von einem simplifizierend-linearen Verständnis von Wachstum, Blüte und Verfall verabschiedet.105 Zum einen schließt das Modell im Gegensatz zu intentionalen Verständnissen der einzelnen Redaktionsschritte zufällige Varianz mit ein, zum anderen wird eine teleologische Großerzählung vermieden: Der Evolutionsprozess kann pausieren und folgt keiner finalisierten Rationalität.106 Wer hier ‚Teleologie‘ vermutet, verkennt den „nichtteleologischen Charakter“ der Prozesshaftigkeit.107 Wenn René Wellek die Anwendbarkeit des ‚Evolutionismus‘ auf Literatur zurückweist, da er Kernelemente von Darwins Theorie in der Geschichte von ‚Gattungen‘ vermisst,108 betrifft dies nicht seine Anwendbarkeit auf ‚Buchtypen‘. Zwar würde kein Forscher den Zugriff eines Schreibers auf eine bestimmte Vorlage oder die selegierende Zusammenstellung eines Verlagsprogramms als ‚Zuchtwahl‘ bezeichnen, aber der Sache
Spaemann: Art. Teleologie. In: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. Hg. von Gerard Radnitzky, Helmut Seiffert. München 1989, S. 366–368, hier: S. 367, zur Explikation der ‚Teleonomie‘ in Abgrenzung von ‚Teleologie‘. 103 Vgl. Kipf: Schwank- und Prosaroman, S. 158. 104 Zur Geschichte des ‚Evolutions‘-Begriffs in der Literaturgeschichtsschreibung vgl. René Wellek: Grundbegriffe der Literaturkritik. Aus dem Amerik. übertr. v. Edgar Lohner u. a. Stuttgart u. a. [1963] 1965, hier: S. 35–45. 105 Kritik am organisch-teleologischen Evolutionsverständnis übt bereits der Russische Formalismus, dessen dynamisches Prinzip literarischer Evolution eine systemhafte Entwicklung einschließlich Diskontinuitäten vorstellt (vgl. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 23 f., mit Angaben weiterer Literatur). Was hier allerdings mit dem Rückgriff auf die marxistische Geschichtsphilosophie als einer determinierenden Großerzählung einhergeht (vgl. Wellek: Grundbegriffe, S. 42). 106 Vgl. Niklas Luhmann: Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller Evolution. In: Soziologische Aufklärung. Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Köln, Opladen 1981, S. 178–197, hier: S. 183–189. 107 Ebd., S. 194. 108 Vgl. Wellek: Grundbegriffe, S. 44. – Als Gegenargument kann auch die Forschungskooperation Manuscript Evolution gelten, bei der in Cambridge Philologen und Mikrobiologen gemeinsam handschriftliche Überlieferungsvorgänge beschreiben (Literatur bei Michael Stolz: ‚Copying processes‘. Genetische und philologische Perspektiven. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 [Beihefte zu editio 32], S. 275–291, hier: S. 275 f.).
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
nach sind Selektion und aktualisierende Variation die Triebfedern in der Textund Überlieferungsgeschichte von Traditionsliteratur. Neue Ausgaben von Prosaromanen greifen nicht immer auf die unmittelbar vorangehende redaktionelle Ausformung zurück, auch ältere Überlieferungsstufen können als Vorlage ausgewählt und damit ‚restabilisiert‘ werden.109 Durch Rückgriff auf Abbildungen aus anderen Redaktionen oder anderen Romanen werden zudem verschiedene Texte miteinander gekreuzt. Darüber hinaus ist der Ansatz allgemein genug, um Lösungen auf unterschiedlichen Dimensionen zu kombinieren. So sehen sich die Überlieferungsbeteiligten – Schreiber, Druckerverleger, Holzschneider oder Setzer – mit technischen, ökonomischen, aber auch semantischen (Verständnis-)Problemen konfrontiert, deren Lösung sich in das historisch faktisch vorliegende Produkt materialiter einschreibt und in einem zweiten Schritt zu unterschiedlichen Bedeutungen führt. Obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – Müller den Begriff mindestens dreimal erläutert, halten die Formulierungen offen, welche Phase der Literaturgeschichte das Entwicklungsziel sei und ob das Phänomen allein produktionsoder darüber hinaus überlieferungsgeschichtlich zu verstehen ist. Wenn ihm 1985 der Prosaroman „als ‚Zielform‘“ beziehungsweise „als Integrationspunkt von Gattungstransformationen mit höchst unterschiedlichem Ausgangspunkt“ gilt, sind die ersten Ausformungen des Prosaromans im fünfzehnten Jahrhundert ‚Zielpunkt‘ der literarischen Entwicklung mittelalterlicher Gattungen vom Epos über die Historiographie bis hin zur Novellistik und Legendarik.110 1997 schließt Müller an dieselbe Denkfigur an, indem sich mit dem Prosaroman „ein besonderer Typus heraus[differenziert], dessen Struktur und Elemente auf den frühneuzeitlichen Roman des späten sechzehnten und des siebzehnten/achtzehnten Jahrhunderts vorausweisen“.111 Die ‚Zielform Prosaroman‘ weist hier auf einen späteren Zeitpunkt der Literaturgeschichte voraus, wobei die forschungsgeschichtliche Klassifizierung immer noch nachträglich erfolgt. Im Grunde betont Müllers ‚Zielform‘Formulierung nur, dass Gattungen einer historischen Entwicklung unterliegen und dass eine idealtypische Explikation an den positiven Endgültigkeiten der einzelnen Vertreter vorbeigeht.
109 Beispielsweise erscheint 1739 ein Melusine-Druck, der nicht auf ein Exemplar der umfassend neuredigierten HWB, sondern auf eine ältere Vorlage zurückgreift (vgl. dazu Hans-Jörg Künast: ‚Auf ein Neues übersehen, mit reinem Deutsch verbessert und mit schönen Figuren gezieret‘. Beobachtungen zur Drucklegung der ‚Melusine‘ im 18. Jahrhundert. In: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013, S. 53–72, hier: S. 58/Anm. 8). 110 Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 63 f. 111 Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 339 f.
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Das Konzept gewinnt indes dann an Relevanz, sobald es nicht allein produktionsgeschichtlich gedacht ist, sondern die Prozesse der weiteren Überlieferungsgeschichte in die Reflexion einbezogen werden. Dies betrifft die weiter oben ebenfalls mit Müller angeführten Kategorien eines Abbaus von Verstehensvoraussetzungen und der Einrichtung der Werke für eine leichtere Lesbarkeit ebenso wie die von mir beobachtete narrative Sinnstiftung. Eine Verbindung mit dem Konzept einer ‚aktualisierenden Traditionspflege‘112 erscheint mir hier als gangbarer Weg. Unterdessen lädt Müllers Begriff der ‚Zielform‘ aber geradezu zur Fehllektüre ein. Vielleicht sollte man daher besser von ‚positiv-endgültigen Ergebnissen‘ eines ‚Evolutionsprozesses‘ sprechen. Scheinbar quer zum ‚Zielform‘-Konzept steht die These eines Gattungs- beziehungsweise Textsortenwechsels im achtzehnten Jahrhundert, der grosso modo mit dem Wandel „vom älteren Frühneuhochdeutsch zum frühen Neuhochdeutsch“ zusammenfällt.113 Prosaromane wie Fortunatus, Melusine, Magelone, Huge Scheppel oder Herzog Ernst sind einem beständigen Wandel aktualisierender Tradierung ausgesetzt. Die Überarbeitung erfolgt aber nicht kontinuierlich. Die Melusine erscheint im achtzehnten Jahrhundert als Wunderbare Geschichte (WG) und als Historische Wunder-Beschreibung (HWB) in neuem Gewand. Bei der HWB handelt sich dabei um „eine komplette Neubearbeitung“, „eine Zäsur in der Überlieferungsgeschichte“, die den Roman „dramatisiert“, „[ ]kürzt“, „modernisiert“ und mit neuen Paratexten ausstattet.114 André Schnyder sieht sie „als höfische[n] Barockroman“, Franz Simmler als ‚Neuhochdeutschen Prosaroman‘,115 der seit 2014 in einer kommentierten Edition vorliegt.116 Es zeichnet diese
112 Vgl. Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 9–17; Peter Bichsel: Hug Schapler – Überlieferung und Stilwandel. Ein Beitrag zum frühneuhochdeutschen Prosaroman und zur lexikalischen Paarform. Bern u. a. 1999 (Zürcher Germanistische Studien 53), hier: S. 67. 113 André Schnyder: Wieder eine ‚Melusine‘ – und immer noch nicht genug? Vom Warum, vom Wie und vom Wert einer Neuausgabe der ‚Historischen Wunderbeschreibung von der sogenannten Schönen Melusina‘. In: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013, S. 73–98, hier: S. 94. 114 Künast: Melusine im 18. Jahrhundert, S. 55 und S. 57. – Schnyder: Neuausgabe der HWB, streicht heraus, dass sich inhaltlich „nichts Wesentliches geändert“ habe (S. 89), der Roman jedoch formal „von der ersten bis zur letzten Zeile neu redigiert worden“ sei (S. 92). 115 Schnyder: Historische Wunder-Beschreibung, S. 402; vgl. Simmler: Melusine um 1700, S. 606. Simmler datiert den Wolfenbütteler Druck als ältesten erhaltenen Textzeugen auf der Basis eines Vergleichs mit der Magelone-Überlieferung auf um 1725. 116 Vgl. André Schnyder (Hg.): Historische Wunder-Beschreibung von der so genannten Schönen Melusina. Die „Melusine“ (1456) Thürings von Ringoltingen in einer wiederentdeckten Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert. Edition und Beitr. zur Erschließung des Werkes von Catherine Drittenbass u. a. Berlin 2014 (Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben 14). –
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Redaktion aus, dass sie „mit den gängigen Gepflogenheiten der Melusine-Überlieferung“ bricht, indem hier über das herkömmliche Anpassungsmaß aktualisierender Tradierung hinaus „der Handlungsablauf, der Episodenbestand, die Personenkonstellationen und die Figurenprofile [...] in nicht unwesentlichen und für den Textsinn relevanten Einzelteilen modifiziert“ werden.117 Dafür werden zwar „keine grundsätzlich neuen erzähltheoretischen Dimensionen in das Erzählen eingeführt“, doch werden bestehende Tendenzen sowohl der histoire wie des discours „markant verstärkt“.118 Eingriffe in Figurendialog und Erzählerrede führen zu größerer Emotionalität und stimmiger psychologischer Motivierung.119 Erstmals in der Textgeschichte tritt in der HWB ein „auktoriale[r] Erzähler[ ]“ hervor, „der nicht bloß passiver Beobachter und Abbilder einer äußerlich beobachtbaren Handlung ist, sondern Deutungsmacht über die Figuren und das Geschehen beansprucht“.120 Wie Florian Gelzer herausarbeitet, nähert der Bearbeiter der HWB seine Vorlage sprachlich an den Komplimentierstil des galanten Romans an, wobei er die überkommene Handlung im Wesentlichen unangetastet lässt.121 Entgegen der vielfach belegten Konzentration auf die summa facti und das Herausarbeiten äußerer Handlung sind es gerade Szenen des Dialogs und höfischen Zeremo-
Nachdem Rudolf Schenda: Tausend deutsche populäre Drucke aus dem neunzehnten Jahrhundert. In: AGB 11 (1971), S. 1465–1652, die HWB 1971 noch als Nr. 470 neben weiteren späten Melusine-Redaktionen (Nr. 344 und 781) anführt, gerät sie bis zu Schnyders Arbeiten in Vergessenheit. 117 Das erste Zitat Lötscher: Textgestaltung der HWb, S. 611; das zweite Simmler: Melusine um 1700, S. 593; vgl. dazu auch Lötscher: Textgestaltung der HWb, S. 615. 118 Lötscher: Textgestaltung der HWb, S. 656. 119 Vgl. Simmler: Melusine um 1700, S. 597–601 und S. 606 f.; Lötscher: Textgestaltung der HWb, S. 646–649, sowie Catherine Drittenbass: Dialoge in der HWb im Vergleich mit der VulgataTradition. In: Historische Wunder-Beschreibung von der so genannten Schönen Melusina. Die „Melusine“ (1456) Thürings von Ringoltingen in einer wiederentdeckten Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert. Edition und Beitr. zur Erschließung des Werkes von Catherine Drittenbass u. a. Hg. von André Schnyder. Berlin 2014 (Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben 14), S. 659– 688. 120 Lötscher: Textgestaltung der HWb, S. 658. 121 Vgl. Gelzer: HWb und Romanreflexion, S. 695 und S. 699–701. Lötscher: Textgestaltung der HWb, S. 657, fasst dieses Phänomen unter dem Stichwort „(barocke[ ]) Überhöhung der Bedeutung des höfischen Lebens“, vgl. dazu auch ebd., S. 635–641, und Andreas Lötscher: Von spätmittelalterlicher Nüchternheit zu barockem Zeremoniell. Zur literarischen Gestaltung des kommunikativen Verhaltens in der ‚Historischen Wunder-Beschreibung von der sogenannten schönen Melusina‘. In: Kannitverstan. Bausteine zu einer nachbabylonischen Herme(neu)tik. Akten einer germanistischen Tagung v. Oktober 2012. Hg. von André Schnyder. München 2013, S. 261–280, hier: vor allem S. 263–271.
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niells, die das Interesse des Bearbeiters finden und ihn zu Erweiterungen anregen. Damit geht ein gesteigertes Identifikationsangebot für Leserinnen und Leser einher.122 Auch der Herzog Ernst erfährt, wie ich im Hauptteil dieser Arbeit zeige, zwischen 1630 und 1725 nach der kürzenden ‚Volksbuch‘-Redaktion eine zweite einschneidende Überarbeitung.123 Gleiches führen Peter Bichsel am Hugo Kapet als einer freien Bearbeitung von Elisabeths Huge aus dem Jahr 1794 und ich weiter oben an der Spätredaktion des Fortunatus vor.124 Der Textgeschichte von Veit Warbecks Magelone widmet sich Franz Simmler in seinem Aufsatz Vom Prosaroman zur Erzählung.125 Noch bis in die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ändere sich in ihrer Überlieferung lexikalisch und makrostrukturell „erstaunlich wenig“ (S. 474). Die Änderungen zwischen 1587 und 1744 beschränken sich demnach auf Orthographie, Interpunktion, Morphologie und Syntax, während sich textuell „ein ‚Eigengewicht des Stoffes‘ und eine ‚formschaffende Konsequenz‘“ feststellen lasse, „die [...] ein ‚kompositorisches Bewußtsein‘ voraussetzen oder wenigstens eine Achtung vor dem einmal Geschaffenen“ (S. 473 f. mit Weydt und Geulen). Doch für die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts konstatiert Simmler das Ende der Gattung und den Übergang zur ‚Erzählung‘. Diese neue Klassifikation sei notwendig, da aufgrund der Vielzahl makro- und mikrostruktureller Veränderungen „nicht mehr von einem Textexemplar gesprochen werden“ könne, „das auf Veit Warbecks Übersetzung“ zurückgehe.126 Allerdings weist Simmler an anderer Stelle darauf hin, dass bis dahin nicht etwa der posthume Erstdruck von 1535 und schon gar nicht Warbecks Autograph von 1527 wirkmächtig gewesen seien. Es ist vielmehr Feyerabends 1587er Redaktion im Buch der Liebe, welche
122 Vgl. Lötscher: Textgestaltung der HWb, S. 657 f.; Simmler: Melusine um 1700, S. 601 erkennt in den rezeptionssteuernden Interventionen des Erzählers sogar eine „den Textsinn festlegende didaktische Funktion“. 123 Vgl. dazu auch John L. Flood: Einleitung. In: Die Historie von Herzog Ernst. Die Frankfurter Prosafassung des 16. Jahrhunderts. Aus dem Nachlaß von K. C. King. Hg. von John L. Flood. Berlin 1992 (TMA 26), S. 11–68, hier: S. 44–47, sowie die Rez. von Hans-Joachim Behr im Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 147/232 (1995), S. 398–400, hier: S. 399, der das achtzehnte Jahrhundert als Zeitspanne der neuerlichen Revision ansetzt und für einen Vergleich der verschiedenen HE Vb-Redaktionen wirbt. 124 Vgl. Bichsel: Hug Schapler, S. 101–122, und die Kap. 1.2. und 1.3. 125 Die folgenden Nachweise in Klammern beziehen sich auf: Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung. 126 Ebd., S. 481. – Martin Behr: Wandel der Verknüpfungsmittel, S. 135 f., bestätigt Simmlers These, indem sich HWB und WG stark der konzeptionellen Schriftlichkeit annähern und damit als „eine neue Textsorte“ anzusehen seien.
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die Makrostrukturen bis ins frühe achtzehnte Jahrhundert prägt.127 Diese Tatsache warnt davor, eine text- und überlieferungsgeschichtliche Untersuchung allzu früh mit der Begründung abzubrechen, es handle sich nicht länger um vom Autor verbürgte oder autornahe Redaktionen. Im Fall von Warbecks Magelone gilt dies schon für die auf Georg Spalatin zurückgehende Drucklegung. Umgekehrt liegt mit dem Autograph und der ebenfalls vorliegenden handschriftlichen Übersetzungsvorlage ein absoluter Sonderfall vor, der untypisch ist für den Prosaroman als frühneuzeitliche Traditionsliteratur.
2.1.2 ‚Wiedererzählen‘ in der Frühneuzeit Prosaromane erzählen ältere Geschichten wieder. Ihre Stoffe stammen von verschiedenen Kontinenten, überschreiten teils mehrere Sprachgrenzen und sind mitunter Jahrhunderte alt.128 Beispielsweise datieren die geschichtlichen Zusammenhänge und Personen, an die sich die Erzählungen von Herzog Ernst knüpfen, auf das zehnte bis zwölfte Jahrhundert.129 Noch im späten achtzehnten Jahrhun-
127 Simmler: Makrostrukturelle Veränderungen, S. 195. 128 Vgl. Kreutzer: Buchmarkt und Roman, S. 205. 129 Große Forschungsenergie wird auf die Frage verwandt, welche historischen Ereignisse Nachhall im Reichsteil der frühen Ernst-Texte gefunden hätten. Otto Neudeck: Erzählen von Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung von Geschichte in mittelhochdeutscher Literatur. Köln u. a. 2003 (Norm und Struktur 18) sieht die historischen Versatzstücke im HE B als Teil der Propaganda für den Bamberger Bischof Ekbert und das Haus von Andechs-Meranien gegen Otto IV. an (vgl. S. 108–125 und S. 188–190). Eine Kurzfassung des Forschungsstands findet sich bei Hans-Joachim Behr: Herzog Ernst. In: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Bibliogr. erg. Ausg. Hg. von Horst Brunner. Stuttgart 2004, S. 59–74, hier: S. 59 f.; ältere Arbeiten sind verzeichnet bei Hans-Joachim Behr, Hans Szklenar: Art. Herzog Ernst. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 3. Hg. von Kurt Ruh. Berlin, New York 1981, S. 1170–1191, hier: S. 1170–1172, und Bernhard Sowinski: Nachwort. In: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mhd. Fassung B nach der Ausg. v. Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A. Hg., übers., mit Anm. u. einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski. Durchges. und verb. Ausg. Stuttgart 1979, S. 403–427, hier: S. 411 f. Auch Ernsts Orientfahrt wird oft in Zusammenhang mit der Realgeschichte gebracht. Die Kreuzzüge, insbesondere der Palästina-Zug Heinrichs des Löwen, sind hier der Bezugspunkt. Jedoch bleiben die frühen Versepen, denen allein ein Interesse an den wirklichen Begebenheiten zuzusprechen ist, zu unspezifisch, um konkrete Aussagen zu erlauben (vgl. Stephen J. Kaplowitt: Herzog Ernst and the Pilgrimage of Henry the Lion. In: Neophilologus 52/4 [1968], S. 387–393; Wolfgang Stammler: Herzog Ernst und Heinrich der Löwe. In: Wort und Bild. Berlin 1962, S. 77–81). Doch auch bei den Wunderwesen, denen Herzog Ernst im Orient begegnet, handelt es sich um „geglaubte [...] Geo- und Ethnophänomene“ (Markus Stock: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ‚Straßburger Alexander‘, im ‚Herzog Ernst B‘ und im ‚König Rother‘. Tübingen 2002 [MTU 123], hier: S. 295), die im
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dert zeigen Ausgaben der gekürzten ‚Volksbuch‘-Fassung den Helden in antikisierender Darstellung auf dem Titelblatt.130 Obwohl es sich bei der Figurenkonstellation und einzelnen Zügen der Handlung um „geglaubte Geschichte“ handelt, weist Jens Haustein zu Recht darauf hin, dass die geschichtliche Konstellation „soweit enthistorisiert“ wird, „daß diese[ ] gerade noch glaubhaft“ sei, durch die historische Vagheit aber darüber hinausgehend exemplarisches Verweisungspotential gewinne.131 Politische oder auch lokalpatriotische Umbesetzungen in der weiteren Überlieferungsgeschichte werden dadurch ermöglicht. Indem die Sage von Herzog Ernst vom Hochmittelalter bis in die Neuzeit hinein unter fortwährender Aktualisierung kontinuierlich wiedererzählt wird, liefert sie ein Musterbeispiel für ‚Traditionsliteratur‘: Epos, Lied, Roman, Reimprosa, ‚Volksbuch‘ oder Dichtung in Hexametern – kein deutscher Heldenstoff erfährt in Mittelalter und Frühneuzeit vielfältigere Ausgestaltung als der ‚Steadyseller‘ Herzog Ernst.132 Da „[a]lle uns bekannten ‚Ernst‘-Texte [...] Bearbeitungen älterer ‚Ernst‘-Texte“ sind und „immer schon literarisch Geformtes voraus[setzen]“,133 wählt Joachim Bumke diese Werkgruppe als Einstieg für seine Ausführungen über die mittelalterliche Praxis der ‚Retextua-
Übrigen auch auf Handlungsebene in den Raum des Heiligen Römischen Reiches eintreten, was Warnung genug sein sollte, beide Teile isoliert zu betrachten. 130 Vgl. S. 504–506 im Kap. 3.3.1.2. 131 Das erste Zitat Max Wehrli: Herzog Ernst. In: Spielmannsepik. Hg. von Walter Johannes Schröder. Darmstadt [1968] 1977 (Wege der Forschung 385), S. 436–451, hier: S. 442; die weiteren: Haustein: Synchronie, S. 124; ähnlich aber auch schon Rolf Bräuer: Literatursoziologie und epische Struktur der deutschen „Spielmanns“- und Heldendichtung. Zur Frage der Verfasser, des Publikums und der typologischen Struktur des Nibelungenliedes, der Kudrun, des Ortnit-Wolfdietrich, des Buches von Bern, des Herzog Ernst, des König Rother, des Orendel, des Salman und Morolf, des St.-Oswald-Epos, des Dukus Horant und der Tristan-Dichtungen. Berlin 1970 (Dt. Akademie der Wiss.en zu Berlin, Veröffentlichungen des Instituts für dt. Spr. und Lit. C 48), hier: S. 84. – Bereits die späte b-Handschrift des HE B aus dem fünfzehnten Jahrhundert kürzt den Reichsteil, während sie den Orientteil sogar etwas erweitert; Gerhardt begründet dies damit, dass das „aus tagespolitischer Aktualität gespeiste Interesse am HE erloschen“ sei (Christoph Gerhardt: Verwandlungen eines Zeitliedes. Aspekte der deutschen Herzog-Ernst-Überlieferung. In: Verführung zur Geschichte. Fs. zum 500. Jahrestag der Eröffnung einer Universität in Trier; 1473– 1973. Hg. von Georg Droege. Trier 1973, S. 71–89, hier: S. 77). Diese Tendenz setze sich bei den späteren Fassungen fort (vgl. ebd., S. 78). 132 Der Begriff ‚Steadyseller‘ bei Koppitz: Tradierung der Epik, S. 73. Kritisch zur Erstellung historischer Bestseller-Listen: Dicke: Esopus und Fortsetzer, S. 285 f. – Eine Übersicht über die literarischen Retextualisierungen der Ernstgeschichte bietet Hans-Joachim Behr: Einleitung. In: Herzog Ernst. Eine Übersicht über die verschiedenen Textfassungen und deren Überlieferung. Hg. von Hans-Joachim Behr. Göppingen 1979 (Litterae 62), S. 6–43, und in anderer Form: HansJoachim Behr: Herzog Ernst; vgl. dazu auch Flood: The Survival, Bd. 1, S. 138–141. 133 Bumke: Retextualisierungen, S. 6–9, das Zitat S. 9.
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lisierung‘. Die Vieldeutigkeit einzelner Elemente, aber mehr noch die ‚Polyfunktionalität‘ der frühen Ausformungen in ihrer zweiteiligen und belehrend-unterhaltenden Anlage ermöglicht es, die alte Geschichte immer wieder neu und für ein neues Publikum zu erzählen.134 Die „kühne Verknüpfung“ von vertrautem Reichsgeschehen und dem abenteuerlichen Orient kennzeichnet nicht nur die Ernst-Sage selbst, sie wird auch für jede moderne Deutung zur Nagelprobe.135 Denn eine Interpretation, die sich auf die Reichshandlung beschränkt, wird der Komplexität genauso wenig gerecht, wie eine Analyse, die allein den Orientteil zu erklären vermöchte. Vom Stoff her sind die Art der Verknüpfung und die je eigene Akzentsetzung der jeweiligen Fassung offen. Aus der „variablen Verklammerung“ von Reichsund Orienthandlung folgt aber ein „semantische[r] Beziehungsreichtum“,136 der nicht erst von Fassung zu Fassung, sondern bereits von einer Fassungsredaktion zur nächsten unterschiedlich vermittels sinnstiftender Dimensionen moderiert werden kann: Wird Ernsts Kreuzzug als kausallogische Folge aus seinem Mord an dem Pfalzgrafen Heinrich präsentiert? Zeugt das Orientbild vom Reiz der Ferne oder wird eher die Verbindung mit dem Reichgeschehen verdeutlicht?
134 Uwe Meves: Studien zu König Rother, Herzog Ernst und Grauer Rock (Orendel). Bern, Frankfurt a. M. 1976 (EuHS-1 181), hier: S. 145, charakterisiert gerade die mittelhochdeutsche Fassung HE B als ‚polyfunktional‘ und leitet daraus die reiche Rezeptionsgeschichte ab, unter die er neben den Ernst-Fassungen im engeren Sinne (darunter die hier näher interessierenden Fassungen HE C, HE F, und HE Vb) auch Werke Ludwig Uhlands und Peter Hacks’ subsummiert, die den Stoff im neunzehnten beziehungsweise zwanzigsten Jahrhundert aufgreifen. 135 Die Zitate Wehrli: Herzog Ernst, S. 440; vgl. aber darüber hinaus ebd., S. 437 f.; Karl Sonneborn: Die Gestaltung der Sage vom Herzog Ernst in der altdeutschen Literatur. Diss. masch. Göttingen 1914, hier: S. 2. – Es kann seither keine Rede mehr davon sein, dass „[d]as Gedicht [...] in zwei Teile“ zerfalle (Gustav Ehrismann: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. 2. Teil: Die mittelhochdeutsche Literatur. 2. Teil: Blütezeit. 1. Hälfte. München 1927 [Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen 6,2,2,1], hier: S. 40). – Allerdings noch immer anders: Richard Spuler: The Orientreise of Herzog Ernst. In: Neophilologus 67 (1983), S. 410–418, der für die orientalische Abenteuerkette den Unterhaltungswert hervorhebt. Doch beschränken sich Belehrung und Unterhaltung keineswegs auf jeweils einen der beiden dominanten Handlungsräume: Gerade auch die Orientbeschreibung vermittelt Kenntnisse von Ländern und Völkern, also „Elemente der gelehrten Erdbeschreibung“ (Wehrli: Herzog Ernst, S. 444; vgl. ferner Hans Szklenar: Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen. Göttingen 1966 [Palaestra 243], S. 153–177). Umgekehrt entbehren die historisierenden Szenen wie Ernsts Anschlag auf Pfalzgraf Heinrich oder die dramatische Versöhnung in der Weihnachtsmesse nicht unterhaltsamer Spannung. – Nach Ingrid Kasten: Emotionalität und der Prozeß männlicher Sozialisation. Auf den Spuren der Psycho-Logik eines mittelalterlichen Textes. In: Querelles 7 (2002), S. 52–71, ist die Einheit der Erzählung thematisch durch die „Sozialisation bzw. Identitätskonstitution des Helden“ erzielt (vgl. S. 54–56, das Zitat S. 55). 136 Goerlitz: Heidenkampf, S. 66 f.
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Disparate Geltungsansprüche und widerstreitende Sinnstiftungen können dabei vergleichgültigt und ausgehalten werden oder treten unvermittelt zutage, was den modernen Leser, der eine kohärente Präsentation erwartet, dann durchaus befremdet. Hans Joachim Kreutzer hat vorgeschlagen, solche traditionsreichen Titel nicht als ‚Texte‘, sondern als ‚Geschichten‘ zu bezeichnen.137 Nähert man sich von der Stoff- oder Motivgeschichte her, hat ein vermeintlich ‚weicher‘ Begriff den Vorteil, dass er keine Homogenität vortäuscht, wo tatsächlich schärfere Konturen durchaus gezogen werden können.138 Eine textgeschichtlich-bibliographische Analyse muss dagegen die Frage der ‚Werk‘-Identität stellen und im Einzelfall abwägen, welche Bearbeitungen in die Analyse einzubeziehen sind.139 Im Vorgriff auf die weiter unten vorgestellten Unterscheidungen von materia und artificium (Worstbrock) beziehungsweise Intentions- und Adaptionsgrad (Steinmetz) könnte man sagen, dass ‚Geschichte‘ als Terminus auf die reine inventio der Texte abziele, während der Begriff nicht verwendet werden sollte, wenn es um die konkrete sprachliche Ausformung geht. So hat es sich etabliert – und diese Arbeit stellt dabei keine Ausnahme dar –, das Untersuchungskorpus pragmatisch zu begrenzen, sobald die ‚Geschichten‘ in eine andere Sprache übersetzt werden. Doch dies ist vor allem dem gegenwärtigen Zuschnitt der Hochschulgermanistik als einzelsprachlicher Spezialphilologie geschuldet, vom Überlieferungsbefund her lassen sich derartige Abgrenzungen kaum begründen.140 Z. B. hat diejenige Handschrift der frühneuhochdeutschen FFassung des Herzog Ernst, die im Cgm 572 mit einer Handschrift der lateinischen C-Fassung vereint ist, mehr mit dem lateinischen Text gemein als mit den gedruckten Redaktionen der späteren Überlieferungsgeschichte. Dies gilt nicht nur hinsichtlich ihrer Provenienz und medialen Beschaffenheit, sondern auch in Bezug auf das jeweils intendierte Publikum. Obwohl sie sogar peritextuell verzahnt sind,141 ist es Konsens, mit dem Wechsel der Sprache einen neuen Forschungszusammenhang anzusetzen. Doch unabhängig von dieser trennenden
137 Kreutzer: Mythos Volksbuch, S. 4; vgl. dazu auch Kreutzer: Buchmarkt und Roman, S. 205. 138 Vgl. im Bereich des Prosaromans die Stoffgeschichte zur Melusine: Claudia Steinkämper: Melusine – vom Schlangenweib zur „Beauté mit dem Fischschwanz“. Geschichte einer literarischen Aneignung. Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 233). 139 Vgl. das Kap. 2.3.3.2. 140 Anders Worstbrock: Wiedererzählen, S. 130–133, der versucht, Übersetzen als Sonderfall vom allgemeineren ‚Wiedererzählen‘ abzusetzen (dazu unten). Bumke: Retextualisierungen, S. 12 f., weist dies zurück. 141 Vgl. S. 321–329 in der Einleitung zu Teil 3.
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Wahrnehmung leuchtet es ein, dass Übersetzungswerke abhängig sind von fremden Traditionen.142 Beim Prosaroman kommen dabei nicht nur Verdeutschungen lateinischer Ausgangstexte wie beim anonymen Herzog Ernst oder Johannes Hartliebs Alexander in Betracht, sondern auch die Übersetzung fremder volkssprachlicher Prosawerke. So erscheinen beispielsweise der französische Ritter Pontus (mehrfach in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts), der italienische Roman Florio und Bianceffora (1499) oder die niederländischen Heymonskinder des Paul von der Aelst (1618) als frühneuhochdeutsche Prosaromane. Neben dem Sprachwechsel gilt darüber hinaus die Auflösung von Versen in Prosa als werksetzende Transformationsleistung – und zwar selbst dann, wenn die Ausgangssprache nicht verlassen, sondern lediglich aktualisiert wird. Diesen Prozess der sogenannten ‚Prosaauflösung‘ führt Alois Brandstetter anhand der Romane Wilhelm von Österreich, Tristrant und Isalde sowie Wigalois vom Rade vor.143 In beiden Fällen – der Übersetzung und der Prosaauflösung – ist die Vorlagen- und damit eine Traditionsgebundenheit evident. Doch auch jene Prosaromane, die als genuine Neuschöpfungen gelten, speisen sich aus dem reichen Fundus mittelalterlicher Motive, Stoffe und Schemata. Dies trifft auf die Romane Jörg Wickrams ebenso zu wie auf den bereits oben diskutierten Fortunatus.144 Zwar gilt der zuletzt genannte Roman nicht zu Unrecht als ‚modern‘,145 doch liegt das Neue lediglich in der Art der Bezugnahme auf die Tradition. Denn diese erfolgt hier kontrafaktisch: Sinn wird durch die Negation tradierter Schemabedeutungen generiert.146 Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der Fortuna-
142 Vgl. zur Frage, ob ‚Volksbücher‘ bloße Übersetzungen oder ‚authentische Werke‘ seien, den Aufsatz Albrecht Classen: Deutsch-französische Literaturbeziehungen im 15. Jahrhundert. ‚Volksbücher‘ als Übersetzungen oder authentische Werke?. In: New Texts, Methodologies, and Interpretations in Medieval German Literature. Kalamazoo-Papers 1992–1995. Hg. von Sibylle Jefferis. Göppingen 1999 (GAG 670), S. 173–207, hier: S. 182–197; vgl. dazu ferner Hahn: Drei Adaptationen, S. 28 f., der ausgehend von Charakterisierungen der drei deutschen Ritter Pontus-Fassungen den ‚Prosaroman‘-Begriff durch ‚Adaptation‘ ersetzen möchte, da damit die Unterscheidung zwischen Übersetzungsroman und Originalwerk hinfällig werde. 143 Vgl. Brandstetter: Prosaauflösung. 144 Vgl. das Kap. 1.1, vor allem S. 11–15. 145 Vgl. Classen: Weltwirkung, S. 213; Schausten: Suche nach Identität, S. 202–209; Politis: Discourse on Money, S. 46; Ziep: Kohärenzprobleme, S. 215, sowie Friedrich: Providenz, Kontingenz, Erfahrung, S. 138. 146 Vgl. Jan-Dirk Müller: Transformation allegorischer Strukturen, S. 279–282; vgl. zur MontageTechnik des Textes auch Roth: Deutungsversuche, S. 228. – Durch die Übernahme ungleichzeitiger ‚Ganzheiten‘ stoßen dabei nach Jan-Dirk Müller disparate Ordnungen aufeinander (vgl. JanDirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 94–98, und dazu Hasebrink: Magie der Präsenz, S. 435). Überdetermination, Leerstellen und logische Brüche sind das Resultat dieser Traditionalität. –
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tus die Traditionen von Ritter- oder Artusroman voraussetzt.147 Insofern erzählt auch er ältere Geschichten neu. Bei aller Heterogenität des Prosaroman-Korpus ist die Traditionalität der Werke das eigentlich Verbindende.148 Der Traditionsbezug ist freilich kein Alleinstellungsmerkmal, sondern vielmehr Kennzeichen von mittelalterlichem und frühneuzeitlichem Erzählen überhaupt. Ich denke, dass es sich dabei sogar um ein allgemeines Phänomen der Literatur handelt – ausgenommen wenige genieästhetische oder avantgardistische Ansätze der jüngeren Vergangenheit, die unsere Wahrnehmung von Literatur jedoch überdurchschnittlich stark beeinflussen. Doch gerade vormoderne Literatur kennt keine creatio ex nihilo. Will man dem Prosaroman als Phänomen aktualisierender ‚Traditionsliteratur‘ gerecht werden, kann man die einzelnen Romane entweder mit ihren Vorlagentexten vergleichen oder ihre weitere Text- und Überlieferungsgeschichte näher betrachten. Während für die erste Fragestellung ein durchgängig hohes Forschungsinteresse von den Anfängen der philologischen Arbeit an diesem Korpus bis heute festzustellen ist,149 erscheinen Beiträge zum zweiten Ansatz
Kombinatorischer Traditionsbezug zeichnet im Übrigen schon ältere Texte aus, die ihrerseits Vorlage für frühneuhochdeutsche Prosaromane werden (vgl. das Kap. zur Magelone bei Armin Schulz: Poetik des Hybriden, S. 153–229): Aufgrund des „Einfluß[es] unterschiedlicher literarischer Gattungen und Motive“ gelte der Roman „als typisches Beispiel für die frühneuzeitliche Hybridisierung narrativer Stoffe“ (S. 153). Bereits die französische Vorlage verbindet die Struktur des hellenistischen Romans mit einer legendarisch-aitiologischen Gründungssage (vgl. S. 197– 216). Hinzu treten Strukturzitate aus Minneroman und Brautwerbungsepik sowie orientalisches Motivgut (vgl. S. 226). – Zur Gründungssage des Bischofssitzes Maguelone vgl. auch Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1232 f., und zur Hybridität der Melusine vgl. Jan-Dirk Müller: Verfallsgeschichte?, S. 158; zum Fortunatus Jan-Dirk Müller: Mittelalterliche Erzähltradition, S. 124. 147 Vgl. Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 44; Roloff: Anfänge, S. 73 f., sowie Huschenbett: Salomo, S. 226. Zu den Quellen des Romans vgl. Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1164 und S. 1167. 148 Vgl. von der Lühe: Anfänge des Prosaromans, S. 69 f. 149 Eine vollständige Erfassung der vorlagenvergleichenden Prosaromanforschung kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Sie müsste ihren Ausgang beim Forschungsbericht Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman nehmen. Einer aktualisierenden Relektüre wird der Bericht bei Schnyder: Problemfeld Prosaroman, S. 15–28, unterzogen; Literaturangaben für den Zeitraum 1985 bis 2009 liefert André Schnyder: Bibliographie zum Prosaroman des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 557–609, hier: S. 560–609. In jüngster Zeit sind allein zum Vergleich der Melusine mit ihrer französischen Vorlage erschienen: Drittenbass: Aspekte des Erzählens; Catherine Drittenbass: Materye und Hystorie. Überlegungen zum Stoff- und Erzählstrangverständnis im Melusineroman Thürings und Coudrettes. In: Daphnis 40 (2011), S. 183–198; Barbara Lafond: Kulturelle Transfers am Beispiel von Thüring von Ringoltingens Melusine (1456). In: Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750).
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vermehrt vor allem in der jüngeren und besonders intensiv in der jüngsten Vergangenheit der Fachgeschichte.150 Das hat seinen Grund vor allem in interdisziplinären Projekten zur Melusine an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Lausanne. Es entstehen in diesem Zusammenhang mehrere Editionen, Monographien und Sammelbände, die dazu geführt haben, dass Thürings Roman inzwischen der mit Abstand am besten untersuchte Prosaroman ist.151 Als be-
Beitr. zur ersten Arbeitstagung in Eisenstadt (März 2011). Hg. von Alfred Noe, Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 2012 (JbIG, A 109), S. 47–84; Barbier: Vektorialität; Françoise Clier-Colombani: Die Darstellung des Wunderbaren. Zur Ikonographie der Illustration in den französischen und deutschen Handschriften und Wiegendrucken des ‚Melusine‘-Romans. In: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013, S. 321–346. Vgl. in Bezug auf den Vorgang aktualisierender Tradierung auch die Auseinandersetzung mit den Rezeptionsstufen nach Ralf Sudau bei Schönhoff: Eeliche hausfrawen, S. 27–30, mit Bezugnahme auf ‚Prosaauflösungen‘ als einer Untergruppe des Prosaromans. 150 Einen Eindruck vom Spektrum der Beiträge außerhalb des Erlanger Projektes zur Überlieferungsgeschichte einzelner Prosaromane kann nachfolgende Auflistung vermitteln: Striedter: Polnischer Fortunatus; Schmitt: Deutsche Volksbücher; Valckx: Volksbuch; Flood: The Survival; Theresia Friderichs-Berg: Die ‚Historie von dem Kaiser Octaviano‘. Überlieferungsgeschichtliche Studien zu den Druckausgaben eines Prosaromans des 16. Jahrhunderts und seiner jiddischen Bearbeitung aus dem Jahre 1580. Hamburg 1990 (jidische schtudies 3); Ralf Konczak: Studien zur Druckgeschichte zweier Romane Elisabeths von Nassau-Saarbrücken. „Loher und Maller“ und „Herpin“. Frankfurt a. M. u. a. 1991 (EuHS-1 1273); Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung; Veitschegger: Buch der Liebe; Flood: Einleitung; Dicke: Esopus und Fortsetzer; Martina Backes: ‚[...] von dem nabel hinauff ein menschlich vnd hübsch weyblichs bilde/ vnd von dem nabel hin ab ein grosser langer wurm.‘ Zur Illustrierung deutscher Melusinehandschriften des 15. Jahrhunderts. In: Literaturwissenschaftliches Jb. der Görres-Gesellschaft 37 (1996), S. 67–88; Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke; Bichsel: Hug Schapler; John L. Flood: Die schwere Geburt des Herrn Wigoleis vom Rade. Zur Entstehung und Formfindung eines frühneuzeitlichen Prosaromans. In: Scrinium Berolinense. Tilo Brandis zum 65. Geb. Bd. 2. Hg. von Peter Jörg Becker u. a. Wiesbaden 2000 (Beiträge aus der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz 10), S. 768–778; Gerhard Sauder: Die Rezeption der Prosaromane Elisabeths von Nassau-Saarbrücken – vom ‚Volksbuch‘ bis zur Romantik. In: Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken. Unter Mitarb. v. Gerhard Sauder. Hg. von Wolfgang Haubrichs, Hans-Walter Herrmann. St. Ingbert 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung e.V. 34), S. 569–589; Backes: Fremde Historien; Steinkämper: Vom Schlangenweib zur Beauté; Ader: Prosaversionen. 151 Bislang sind erschienen: Ursula Rautenberg, André Schnyder (Hgg.): Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. 2 Bde. Wiesbaden 2006; Jean-Claude Mühlethaler, André Schnyder (Hgg.): 550 Jahre deutsche Melusine – Coudrette und Thüring von Ringoltingen/550 ans de Mélusine allemande – Coudrette et Thüring von Ringoltingen. Beitr. der wissenschaftlichen Tagung der Universitäten Bern und Lausanne vom August 2006/Actes du colloque organisé par les Universités de Berne et de Lausanne en août 2006. Bern u. a. 2008 (TAUSCH 16); Catherine Drittenbass, André Schnyder (Hgg.): Eulenspiegel trifft Melusi
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sonderes Verdienst ist diesen Unternehmungen anzurechnen, dass sie über die Melusine-Forschung hinausweisend aufzeigen, wie wichtig es ist, nicht nur den Romantext, sondern das Buch in seiner räumlich-paratextuellen und zeitlichtext- sowie zeitlich-überlieferungsgeschichtlichen Mehrdimensionalität zu analysieren, um seiner historischen Erscheinungsform zu entsprechen. Ein ähnlich gelagertes Forschungsvorhaben zum Herzog Ernst-Komplex verfolgt Uta Goerlitz.152 Auch mein eigenes Forschungsinteresse liegt explizit nicht auf einem Vergleich der frühneuhochdeutschen Werke mit ihren mittelalterlichen Vorgängern, sondern auf der Untersuchung der textgeschichtlichen Entwicklung einzelner besonders verbreiteter Vertreter, wobei im Mittelpunkt die Redaktionen der Fund ‚Volksbuch‘-Fassung des Herzog Ernst stehen. Ihnen soll hier zu eigenem Recht verholfen werden. Dadurch setze ich mich von einer Forschungstradition ab, die „bis in jüngste Zeit die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Erzählliteratur als Verfallsstadium volkssprachiger Romane des Mittelalters und Vorläufer moderner Unterhaltungsliteratur“ ansieht.153 Ich gehe vielmehr von Werner Röckes Plädoyer aus, den Prosaroman „stärker als bisher üblich vom Spätmittelalter her zu lesen“,154 und erarbeite ausgehend von einer Analyse der einzelnen sinnstiftenden Dimensionen Interpretationen, die dem jeweils historischen Erscheinungsbild des Romans entsprechen. Die Lücke zwischen den stark
ne. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42); Drittenbass: Aspekte des Erzählens; Thüring von Ringoltingen: Die schöne Melusina. Ein Feenroman des 15. Jh.s in der dt. Übertr. Die Bilder im Erstdruck Basel 1473/74 nach dem Exemplar der ULB Darmstadt. Hg. von Heidrun Stein-Kecks. Darmstadt 2012; Mechthild Habermann u. a. (Hgg.): Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Berlin, Boston 2013; Schnyder (Hg.): Historische Wunder-Beschreibung; Martin Behr: Buchdruck und Sprachwandel; angekündigt ist: HansJörg Künast, Ursula Rautenberg: Die Überlieferung der ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen. Quellenbibliographie und interdisziplinärer Kommentar. Berlin/Boston. – Für eine Kurzbeschreibung des Erlanger DFG-Projektes vgl. Rautenberg: Typographie, S. 341–343. 152 Vgl. S. 333/Anm. 91 in der Einleitung zu Teil 3. 153 Jan-Dirk Müller: Mittelalterliche Erzähltradition, S. 105. 154 Werner Röcke: Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation. Wandlungen des späthöfischen Romans am Beispiel der ‚Guten Frau‘ und Veit Warbecks ‚Magelone‘. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Dt. Germanistentages 1984. Bd. 2: Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur. Hg. von Georg Stötzel. Berlin, New York 1985, S. 144– 159, hier: S. 146. Allerdings ist dieser Vorschlag von Skepsis begleitet, ob sich vom ‚Prosaroman‘ als einer Gattung sprechen lasse, vielmehr schlägt Röcke hier vor, ‚Erzähltypen‘ wie Minne-, Schwank- und Legendenroman voneinander abzugrenzen. Vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller: Art. Prosaroman, S. 176.
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rezipierten Prosaroman-Erstdrucken und den populären Ausgaben des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts soll damit näherungsweise geschlossen werden.155 Joachim Bumke und Ursula Peters haben ausgehend von Franz Worstbrocks ‚Wiedererzählen‘ und Douglas Kellys ‚rewriting‘ vorgeschlagen, den Traditionsbezug mittelalterlicher Literatur in Praxis und Poetik als Prozess der ‚Retextualisierung‘ aufzufassen.156 Dies ermögliche eine „Vermessung der mittelalterlichen Literatur als einer kontinuierlichen Umschreibepraxis“ und erleichtere den Umgang mit „der Alterität mittelalterlicher Literaturpraxis“. Nachfolgend stelle ich die theoretischen Konzepte und die Praxis des Prosaromans einander gegenüber. Schon Worstbrock bezeichnet ‚Wiedererzählen‘ als „die fundamentale allgemeinste Kategorie mittelalterlicher Erzählpoetik“, die nur in dieser „spezifische[n] Epoche“ gelte und eine literaturgeschichtliche „Grenze“ erreiche, wenn sich ein Bewusstsein von Fiktionalität durchsetze und das Übersetzungswesen systematisiert werde.157 ‚Methodisches Übersetzen‘ meint nach Worstbrock das
155 Vgl. die ‚Volksbuch‘-Ausgaben von Gotthard Oswald Marbach 1838–1850, Karl Simrock 1845–1876, Gustav Schwab um 1890 und in den 1910er und 1920er Jahren die Ausgaben von Richard Benz und Peter Jerusalem. 156 Vgl. Joachim Bumke, Ursula Peters: Einleitung. In: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Joachim Bumke, Ursula Peters. Berlin 2005 (ZfdPh 124, Sonderheft), S. 1–5, hier: S. 1 f., die folgenden Zitate ebd., S. 2 und S. 5. – Für Thürings Rückgriff auf Coudrette, aber ohne Berücksichtigung der späteren Überlieferungsgeschichte, wird der Ansatz reflektiert bei Drittenbass: Aspekte des Erzählens, S. 33–38. 157 Worstbrock: Wiedererzählen, S. 130. Die folgenden Nachweisklammern im Fließtext beziehen sich auf diesen Beitrag. – Die Geltung von Worstbrocks Ansatz für das Hochmittelalter hinterfragt Walter Haug: Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst. Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink. Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 49–64, hier: S. 55–58, der mit Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach Beispiele anführt, die mit dem poetologisch geforderten Traditionsbezug bereits spielen und Änderungen vornehmen, die weit über bloß artifizielle Variation hinausgehen. Klaus Grubmüller: Verändern und Bewahren. Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Hg. von Ursula Peters. Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 23), S. 8–33, ergänzt Worstbrocks Darstellung literarischen Lebens im Mittelalter, indem er zeigt, dass sich zahlreiche Autoren gegen die aktualisierende Tradierung ihrer eigenen Werke verwehren. In demselben Sammelband von Ursula Peters liefert Bruno Quast: Der feste Text. Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten, S. 34–46, einen besonders eindrücklichen Beleg für den Wunsch, Veränderungen am eigenen Werk zu verhindern: Konrad von Heimesfurt führt an, marginale Ergänzungen durch engen Seitenbeschnitt verhindert zu haben (vgl. S. 37 f.).
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humanistische Bestreben eines Niklas von Wyle oder eines Matthias Ringmann, Äquivalenz mit der Vorlage nicht nur hinsichtlich der erzählten Inhalte, sondern auch in Bezug auf die sprachliche Form zu erzielen (vgl. S. 130–133).158 Die Vorlagen und ihre (gelehrten) Verfasser sind hier unantastbare Autoritäten. Innerhalb der Epoche des ‚Wiedererzählens‘ werde eine tradierte materia dagegen in eine handwerklich neu zu schaffende Form gebracht (vgl. S. 134 f. und S. 138 f.), was bis zur Entscheidung für eine Präsentation im ordo naturalis oder artificialis reiche. Im Gegensatz zum vorlagengetreuen Übersetzen ist diese Variation der Form Aufgabe und Leistung des mittelalterlichen Wiedererzählers (vgl. S. 135–139). Für den Übersetzer wie den Wiedererzähler ist die Originalität der Erfindung dabei kein Qualitätskriterium (vgl. S. 128 f.). Worstbrock lässt die von ihm ausgeschrittene Epoche mit dem seiner eigenen Fiktionalität bewussten Fortunatus enden (vgl. S. 142): Vereine der mittelalterliche Wiedererzähler Vorlagentreue (in Bezug auf die erzählte materia) und Bearbeitungsfreiheit (sein artificium), so verabsolutierten ‚methodische Übersetzung‘ und ‚fiktionales Erzählen‘ jeweils eines der beiden Merkmale (vgl. ebd.). Doch warnt die oben erwähnte Traditionsbezogenheit gerade dieses Prosaromans davor, hier einen allzu deutlichen Einschnitt zu postulieren.159 Bumke systematisiert diesen Ansatz innerhalb des vorgegebenen zeitlichen Rahmens und fasst Formen der Weiterbearbeitung auf ganz unterschiedlichen
158 Fraglos verfügen Renaissance und Barock über Übersetzungstheorien, die sich von der Poetologie des Wiedererzählens unterscheiden. Doch sind die mich vor allem interessierenden Erzeugnisse frühneuzeitlicher Druckerverleger nicht an den Höhen rhetorischer, ästhetischer oder übersetzungstechnischer Theorie ausgerichtet. Außerdem sind die untersuchten Prosaromane in der Frühneuzeit bereits verdeutscht und der Prozess ihrer weiteren Überlieferung ist unabhängig von der ursprünglichen Übersetzungsweise. Das gilt freilich nur so lange, bis man die Übersetzung der verdeutschten Romane in weitere Sprachen analysiert. Dazu ist mittlerweile erschienen: Jan Hon: Übersetzung und Poetik. Der deutsche Prosaroman im Spiegel tschechischer Übersetzungen der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2016 (Studien zur historischen Poetik 21). 159 Anders Hon: Aemulatio, der ausgehend von Worstbrocks Grenzziehung das Neue des frühneuzeitlichen Romanerzählens in einer Aktivierung des Lesers sieht, der größere Freiheit und Verantwortung bei der Suche nach der wahren Textbedeutung erhalte (vgl. S. 402–404). Der Leser werde hier zu „einer autonomen Instanz der Sinnstiftung“, wodurch der „Sinn“ des Romans nicht länger als etwas „Festes“ gelten könne, sondern erst „im Akt der Kommunikation [...] immer aufs Neue vermittelt“ werde (S. 404). Die Folge davon sei aber, dass eine „gegebene[ ] Materie“ vom Erzähler nun nicht mehr „‚besser, wahrhaftiger‘“ erzählt werden könne, als es die jeweilige Vorlage getan habe (ebd.). Das aber haben weder die mittelalterlichen Wiedererzähler noch Adaptoren wie der Bearbeiter der HWB getan: Nach ihrem Verständnis haben sie nicht die Geschichte selbst, wohl aber die (Präsentations-)Form derselben verbessert. Ich stimme mit Hon allerdings überein, wenn er dem Paratext eine Schlüsselrolle bei der Anpassung der Texte an neue Überlieferungszusammenhänge zuerkennt (vgl. S. 404 f.).
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Ebenen als ‚Retextualisierungen‘ zusammen:160 den Traditionsbezug bei der Werkentstehung inklusive derjenigen Varianten, die vom Autor selbst hervorgebracht werden, die Mitarbeit anderer Personen im Umfeld des Autors beim sogenannten mise en page, ferner sämtliche Kürzungen, Überarbeitungen, Erweiterungen und Zusammenstellungen in der weiteren Text- und Überlieferungsgeschichte sowie Phänomene des Gattungs- oder Medienwechsels und das außerliterarische Zitat einzelner Namen oder Handlungselemente. Die Besonderheit der meisten Prosaromane besteht nun aber nicht nur darin, dass sie eine alte Geschichte wiedererzählen, sondern dass sie diese Geschichte immer wieder erzählen – immer wieder aufs Neue und immer wieder neu. Titelblätter und Vorreden bezeugen dabei paratextuell, dass den Literaturschaffenden der zweifache Prozess des Tradierens alter Erzählungen bei deren gleichzeitiger Erneuerung bewusst ist. Der Hinweis auf ‚Neuheit‘ wird bei Nach- und Neudrucken älterer Erzähltexte im sechzehnten Jahrhundert zum Stereotyp. So erweitert beispielsweise Michael Manger den Untertitel bei seiner Fortunatus-Ausgabe von 1590 mit dem Zusatz Yetzundter von neüwem mit schoͤ nen lustigen Figuren zuͦ gericht.161 Wilhelm Salzmann rechtfertigt das Erscheinen seiner Kaiser Octavianus-Übersetzung 1535 mit der antiken Lehrmeinung, dass man aus „alten geschichten/ leer/ weißheit/ vnd Gotzforcht erlangen“ könne, und zwar auch dann, wenn es sich um einen profanen Stoff handelt.162 Da der Kaiser Octavianus „vor langen zeiten von den gelerten“ lateinisch verfasst worden sei, begründen das Alter der Geschichte, das Wissen der anonymen Verfasser und die gelehrte Ursprungssprache die Dignität der Erzählung. Dazu komme jedoch eine eigentlich gegenläufige Neigung des Menschen, der „alweg auff etwas newes“ aus sei. Alt und zugleich neu ist der Kaiser Octavianus aber insofern, als er von Salzmann „newlich auß Frantzoͤ sischer sprach inn deutsche zunnge“ verdolmetscht worden
160 Vgl. Bumke: Retextualisierungen, S. 24–43. – Innerhalb der von Worstbrock und Bumke ausgeschrittenen Epochengrenzen bewegt sich auch der ältere Versuch über das 15. Jahrhundert von Hugo Kuhn. Er beschreibt diesen Zeitraum als „das Zeitalter der Übersetzungen, Bearbeitungen, Adaptationen“ und erklärt den Umstand, dass sich die Texte dieser Zeit nur im Ge- und Verbrauch zeigen, zum „Signum des Jahrhunderts“ (Kuhn: Versuch, S. 79 und S. 83). Dieser Einschätzung hat sich Backes: Fremde Historien, S. 8–11, angeschlossen. 161 Ich verwende das Exemplar der LB Coburg, Sign. Cas A 791. 162 So die Vorred in: Wilhelm Salzmann: Ein Schöne Vnnd Kurtzweilige Hystori von dem Keyser Octauiano/ seinem weib vnd zwyen sünen/ wie die jn das ellend verschickt/ vnnd wunderbarlich jn Franckreych bey dem frummen Künig Dagoberto widerumb zuͦ samen kommen sind. Neülich vß Frantzoͤ sischer sprach jn teütsch verdolmetscht. Straßburg: Bartholomäus Grüninger 1535; ich verwende das Exemplar der BSB München, Sign. Rar. 2289. – Vgl. zur Betonung der Neuheit bei Salzmann auch Manuel Braun: Historien, S. 342; Hon: Aemulatio, S. 406 f.
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ist. Erst durch seine Bearbeitungsleistung macht er den Roman einem deutschsprachigen Publikum zugänglich. Altes erzählt er damit neu wieder. 1573 erscheint bei Bernhard Jobin ebenfalls in Straßburg Die Historÿ von der staͤ ten liebe deß Jünglings Ismenij.163 Auf dem Titelblatt ist eine translatio historiae durch mehrere Sprachen hindurch vorgestellt: Das Werk sei [e]rstlich durch Eustachium Philosophum in Griechischer sprach beschriben/ nachmals durch Lelium Carani in Jtaliano transferiert/ jetzo aber von Joh. Christ. Artopeo/ genant Wolckenstern in Teutsch gefertigt. Der pseudoantike Liebesroman wird also als Traditionsliteratur präsentiert. Sein Alter ist kein Makel, sondern im Gegenteil Qualitätsmerkmal. Poetologisch begründet wird dies in einer fingierten Vorrede deß Italianischen Translatoris.164 Nach dieser sei es eigensinnige Überheblichkeit, die Werke alter Schriftsteller als „alte corruptiales oder verlegene waren“ abzulehnen. Da erst die Alten den Weg für die Späteren gebahnt haben, weist die Vorrede den Wahlspruch: „newe welt/ newe sitten“ zurück. Anstelle einer neuen Erfindung erhält das Publikum mit dem Ismenius die Verdeutschung eines ursprünglich byzantinischen Romans aus dem zwölften Jahrhundert. Aber auch an der Wende vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert, wenn nicht nur die Melusine eine tiefgreifende Neuredaktion erfährt, inszenieren Paratexte die zeitgenössischen Prosaroman-Ausgaben gleichermaßen als Traditionsobjekt und Gegenstand aktueller Bearbeitung. André Schnyder spricht im Zusammenhang mit der Historischen Wunder-Beschreibung von der so genannten Schoͤ nen Melusina von einer impliziten „Dialektik“, da „nichts Neues“, sondern eine altbekannte Geschichte angepriesen werde, gleichzeitig jedoch gesehen werde, dass die Traditionalität „im Laufe der Zeit eine Textverschlechterung“ mit sich bringe, die für diese Ausgabe ausgeglichen werden müsse.165 Dieser Aus-
163 Ich verwende das Exemplar BSB München, Sign. A.gr.b. 1492. 164 Die Verfasserschaft Artopeus’ in Bezug auf die Vorrede ist unsicher, da auch Johann Fischart an der Ausgabe mitwirkt (vgl. Brockstieger: Aemulatio, S. 167 f.). Die Vermittlung aus dem Griechischen, über das Italienische ins Deutsche entspricht den Tatsachen, aber weder ist der Text „bald nach der Troianischen zerstoͤ rung“ (Artopeus 1573: Vorrede, fol. [2]v.) entstanden noch folgt die Vorrede der italienischen Vorlage (vgl. Brockstieger: Aemulatio, S. 166 f.), zur Gattungseinordnung ebd., S. 181–186. – Die im Fließtext nachfolgenden Zitate entstammen der Vorrede, fol. [2]r., zu: Johann Christoph Artopeus: Ismenius Oder/ Ein vorbild Staͤ ter Liebe. Das ist. Die Historÿ von der staͤ ten liebe deß Jünglings Ismenij vnd der Jungfrawen Ismene gegeneinander/ wie sie beyde/ nach langwiriger übung Cupidinis/ widerwertigkeit zuͦ Land vnd Meer/ letzlich widerumb bey Goͤ ttlicher guͤ te/ vnd aller Welt jhrer bestendigkeyt halben gnad gefunden/ vnd sich als ein Exempel aller standhafften Liebhaber vorgestellt haben [...]. Straßburg: Jobin 1573. 165 Schnyder: Historische Wunder-Beschreibung, S. 388, mit zusätzlichem Verweis auf die Vorreden der Ausgaben: Schnyder: Neuausgabe der HWB, S. 88. Inzwischen ist die Edition Schnyder (Hg.): Historische Wunder-Beschreibung erschienen.
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gleich wird auf dem Titelblatt des ältesten erhaltenen Drucks als sprachliches Lektorat und bildlicher Buchschmuck vorgestellt: „Auf ein Neues uͤ bersehen/ mit reinem [Teutsch] verbaͤ s[s]ert/ und mit schoͤ nen Figuren geziere[t]“.166 Die Vorrede greift dies auf und ermuntert den Leser, nach dem „Kern der Denck[wuͤ r]digkeit“ in der „in reines Teutsch verfassten/ und baͤ ss[er] fuͤ rgestellten Materi“ zu suchen (alle fol. Aijv.). Der Anspruch der Erneuerung bezieht sich also nicht auf den Stoff und seine Erfindung: Die alte „Materi“ werde lediglich in einer leichter zu verstehenden Form dargeboten. Und wenn eine späte Redaktion des ‚Volksbuchs‘ von Herzog Ernst (HE Vb M2) aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts auf dem Titelblatt damit wirbt, dass diese Lesenswuͤ rdige Historia „[z]uvor niemals also gedruckt“ worden sei, dann ist damit ‚Wiedererzählen‘ als das Phänomen aktualisierender Tradierung im Buchdruck in nicht zu überbietender Knappheit dargelegt. Die Geschichte wurde schon gedruckt, aber noch nie in der vorliegenden Art. Alter Stoff und neue Form sind vereinigt. „Vorgegebene Materia und Artificium konstituieren den Text des Wiedererzählers“.167 Fraglos zeigt sich eine literarhistorische Diskontinuität, wenn man anstelle der Arbeit von Überlieferungsbeteiligten die Werke neuzeitlicher Autoren mit mittelalterlichen Texten vergleicht. Das soll hier auch gar nicht in Abrede gestellt werden. Doch fördert eine textgeschichtlich erweiterte Literaturgeschichtsschreibung168 das überraschende Ergebnis zutage, dass in einer Zeit, in der mit Edward Youngs Conjectures on original composition poetologisch das Terrain für Originalgenies geebnet ist und Goethes Werther oder Schillers Räuber die philologische Wahrnehmung der Epoche prägen, auch Melusine und Herzog Ernst ihr Publikum 166 So das defekte Titelblatt des ältesten Textzeugen HAB Wolfenbüttel, Sign. M: Lm 3b, die folgenden Zitate sind ebenfalls diesem Exemplar entnommen; Stellennachweise im Fließtext. 167 Worstbrock: Wiedererzählen, S. 138. – Außerdem warnen die angeführten Beispiele davor, die Tatsache überzubewerten, dass ab dem sechzehnten Jahrhundert das Lob der Neuheit als Werbestrategie auf dem literarischen Markt eingesetzt wird (vgl. Neuber: Ökonomien des Verstehens, S. 189 f.). Nicht nur, dass der Hinweis auf Aktualisierung oft den Verkauf eines unveränderten Nachdrucks befördern soll (vgl. John L. Flood: Nachträgliches zur Überlieferung des Herzog Ernst. In: ZfdA 98 [1969], S. 308–318, hier: S. 318), in der späten Überlieferung von Traditionsliteratur tritt der Verweis auf die Neuheit nicht an die Stelle der Nobilitierung durch Traditionalität, sondern beide Merkmale zusammen machen erst die Qualität des beworbenen Druckerzeugnisses aus. 168 Haustein: Synchronie, hat als Ergänzung für die „diachronischen Entwicklungsmodelle[ ] unserer Literaturgeschichtsschreibung“ einen „synchronischen Entwurf“ vorgeschlagen (S. 117). Hierfür müsste nicht nur, wie Haustein selbst fordert, hochmittelalterliche Literatur auch in der Zeit ihrer Niederschrift als Teil des literarischen Lebens berücksichtigt werden (vgl. ebd., S. 129), sondern auch die Prosaromane wären in ihrer sich wandelnden Gestalt relevant für das literarische Leben und System bis weit in die Neuzeit hinein.
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finden. Allerdings sollte man dann auch beispielsweise von Justus Fleischhauers Melusine oder Wilhelm Zirngibls Herzog Ernst sprechen. Denn wenn man wie Ralf-Henning Steinmetz neben dem Intentions- auch den Adaptionsgrad einer Bearbeitung zum Maßstab für die Einschätzung der Eigenständigkeit eines Textes und der Leistung seines Verfassers nimmt, ist nicht länger nur der moderne Text ein ‚Text im Genitiv‘.169 Werther ist Goethes Eigentum aufgrund der Erfindung der materia, während sich Zirngibl den Herzog Ernst aneignet, indem ihm seine Offizin eine neue Form verleiht.170 Ein pauschaler Hinweis auf eine ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘171 verdeckt dabei dieses kontinuierliche Moment der deutschen Literaturgeschichte eher, als es zu einer Klärung beizutragen vermag. Blickt man auf diese Kontinuität von mittelalterlichem und neuzeitlichem Erzählen, relativiert sich einmal mehr die These vom Medienwechsel von der Handschrift zum Buchdruck als entscheidender revolutionärer Einschnitt.172 Das 169 Vgl. Ralf-Henning Steinmetz: Bearbeitungstypen in der Literatur des Mittelalters. Vorschläge für eine Klärung der Begriffe. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Unter Mitarb. v. Silvia Reuvekamp. Hg. von Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann, Anne Simon. Berlin, New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 41–61, hier: S. 52 f.; Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989, S. 25: „le texte moderne est génitif“. 170 Nach Steinmetz’ pragmatischem Vorschlag zur Neukategorisierung von Autorschaft sind Druckerverleger zunächst ‚Redaktoren‘ innerhalb der Text- und Überlieferungsgeschichte eines Werkes (vgl. Steinmetz: Bearbeitungstypen, vor allem S. 51–53). Beschränkt sich ihre Bearbeitungsleistung auf iterierende Varianten, so sind sie analog zum ‚Schreiber‘ des Handschriftenwesens als ‚Drucker(verleger)‘ anzusprechen. Nur graduell davon abgehoben sind ‚Neufassungen‘ und selbstständig überarbeitete ‚Adaptionen‘, deren Urheber als ‚Adaptoren‘ zu bezeichnen sind. Bearbeitung findet hier allein auf artifizieller Ebene statt, die Intentionen der Vorlage bleiben unberührt. Unabhängig vom Grad technisch-sprachlicher Änderungen müssten sie aber als ‚Autoren‘ gelten, sobald sie die Intentionen der Vorlage verändern. – An anderer Stelle zeige ich, dass die Werkintention durchaus auch aufgrund nicht-intentionaler oder nicht-semantisch intendierter Eingriffe variiert werden kann (vgl. Kap. 2.1.4). Es wäre zu diskutieren, ob auch in diesem Fall ‚Autorschaft‘ vorliegt (vgl. dazu auch mein Verständnis des Druckerverlegers als ‚intelligenter Schreiber‘ der Frühneuzeit im Kap. 2.1.3). 171 So Worstbrock: Wiedererzählen, S. 130. 172 Vgl. die von Rüdiger Schnell: Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahrhundert. In: IASL 32/1 (2007), S. 66–111, hier: S. 66 f./Anm. 1 und Anm. 2, zitierte Literatur; Horst Wenzel: Einleitung. Vom Anfang und vom Ende der Gutenberg-Galaxis. Historische Medienumbrüche im Für und Wider der Diskussion. In: Mediengeschichte vor und nach Gutenberg. 2., durchges. Aufl. Darmstadt 2008, S. 10–26, hier: S. 12–18. – In diesem Zusammenhang gewinnt Hans-Joachim Koppitz’ These, die Druckkunst verringere trotz der von ihr bewirkten Breitenwirkung literarischer Werke die Auswahl an verfügbaren Texten, sodass „immer mehr Werke aus dem Traditionsstrom in rasch versickernde kleine Seitenarme abgeleitet“ werden, an Plausibilität (Koppitz: Tradierung der Epik, S. 75; das Nachfolgende ebd., S. 76). Insbesondere wirke sich die Selektion der Druckerverleger als Innovationsbremse aus, indem moderne Litera
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Besondere ist dabei, dass die Relativierung nicht im Hinblick auf den Inkunabeldruck erfolgt, der nach allgemeinem Konsens das Handschriftenwesen imitiert,173 sondern anhand von Textbelegen des sechzehnten bis frühen neunzehnten Jahrhunderts. Im Vergleich zur ‚Epoche‘ des Mittelalters hat sich lediglich der Status der Bearbeiter für die moderne Forschung verändert. Denn wenn der mittelalterliche Autor nach Worstbrock ein artifex ist, der sich „als neuernder Gestalter“ einer tradierten Geschichte annimmt,174 entspricht dies genau dem Selbstverständnis der Druckerverleger, wie es aus den werbenden Paratextformulierungen erhellt. Literaturgeschichtliche Relevanz aber wird weder den Druckherren selbst noch dem namenlosen Kollektiv ihrer jeweiligen Offizin zugemessen. Nichtsdestotrotz handelt es sich um (früh)neuzeitliche ‚Wiedererzähler‘, die den Wiedergebrauch des Traditionellen auch „programmatisch begründen“.175 Machen mittelalterliche Redaktoren „einen Text [zum] Schriftwerk“, so verantworten die Druckerverleger den Prosaroman als ‚Buchtyp‘. Beide nehmen nachträgliche Überarbeitungen vor und leisten mit ihrer Arbeit einen „Dienst am Werk“.176 Ebnet man die kategoriale Hierarchisierung zwischen Autoren und allen anderen Literaturschaffenden ein, so entsteht ein Kontinuum und ‚Wiedererzählen‘ wird zur Universalie nicht einer Epoche, sondern zu einer Möglichkeit des Erzählens überhaupt.
tur, deren Absatz schwieriger zu kalkulieren ist als der Verkauf von ‚Bestsellern‘ der Handschriftenkultur, nicht in die Verlagsprogramme aufgenommen worden sei. Nach Koppitz stelle „nicht die Reformationszeit [...], sondern die Aufklärung“ „die große Zäsur der Geschichte der Tradierung vieler mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Werke“ dar. 173 Vgl. stellvertretend Schnell: Handschrift und Druck, S. 90 f.; Jürgen Wolf: Von geschriebenen Drucken und gedruckten Handschriften. Irritierende Beobachtungen zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Buchdrucks in der 2. Hälfte des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts. In: Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Unter Mitarb. v. Susanne Schul. Hg. von Andreas Gardt, Mireille Schnyder, Jürgen Wolf. Berlin, New York 2011, S. 3–21, hier: S. 4–6. 174 Worstbrock: Wiedererzählen, S. 137. 175 Das Zitat Bumke/Peters: Einleitung, S. 2, in Bezug auf die (hoch)mittelalterliche Literaturpraxis. 176 Zitate: Bumke: Retextualisierungen, S. 25 (Form a)), und ebd., S. 45, vgl. dazu auch S. 36 (Form f)) und S. 46. – Zum Prosaroman als ‚Buchtyp‘ vgl. S. 127–129 im Kap. 2.1.1.3.
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2.1.3 Druckerverleger als ‚intelligente Schreiber‘ zwischen Tradition und Innovation Schreiber seien nachlässig, verführen willkürlich mit ihren Vorlagen und verschlechterten Texte aus dem anmaßenden Wunsch heraus, es besser machen zu können als die ursprünglichen Verfasser.177 Drucker dagegen seien faul oder – was noch schlimmer ist – geschäftstüchtig, was nichts anderes bedeutet, als dass sie profitgierig seien.178 Wenn sich beispielsweise paratextuell angepriesene Neuerungen auf die ersten Seiten eines Buchs beschränken, der Rest aber unverändert nachgedruckt wird, entlarvt dies den Betrug am Käufer.179 Verleger ihrerseits wählten Werke und die für den Druck zugrunde gelegte Redaktionsstufe nach Verfügbarkeit und nicht nach Qualität oder Originalität aus – denn Romane seien ihnen Ware, Bücher bloße Handelsobjekte.180 Auch wenn sich stets gegenteilige Einschätzungen finden lassen,181 so hat die negative Sicht auf die Überlieferungsbeteiligten doch Tradition von den Anfängen der philologischen Forschung bis in die Gegenwart. Noch 2010 spricht André Schnyder in Bezug auf die Melusine-Drucke des neunzehnten Jahrhunderts von „Pfusch“ und Jürgen Wolf kann sich 2011 angesichts der Bücher um 1500 „de[s] Eindruck[s]“ nicht erwehren, als hätten sie „Analphabeten“ gedruckt.182 John L. Flood bemerkt in seiner überlieferungsgeschichtlich-bibliographischen Dissertation The Survival of German „Volksbücher“, dass „[s]ome publishers were simply too lethargic to moder-
177 Vgl. Lachmann: Vorrede der ersten Ausgabe, S. XIX, am Beispiel der Parzival-Überlieferung; Hinweis bei Hanns Fischer: Probleme und Aufgaben der Literaturforschung zum deutschen Spätmittelalter. In: GRM [N.F.] 9 (1959), S. 217–227, hier: S. 224. 178 Vgl. Wolfgang Liepe: Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Entstehung und Anfänge des Prosaromans in Deutschland. Halle a.d.S. 1920, hier: S. 80. 179 Vgl. Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 403. 180 Vgl. Kreutzer: Buchmarkt und Roman, S. 197; Schnell: Handschrift und Druck, S. 77. Zum Geschäftssinn der Buchdrucker vgl. ferner Hans-Jörg Künast: „Gedruckt zu Augspurg“. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555. Tübingen 1997 (Studia Augustana 8), hier: S. 78–85; Hans E. Braun: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. In: Buchkultur im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation. In Verb. mit Yvonne Dellsperger und André Schnyder. Hg. von Adrian Mettauer, Michael Stolz. Berlin, New York 2005, S. 215–242, hier: S. 237–241. 181 Vgl. die bei Freimut Löser: Postmodernes Mittelalter? ‚New Philology‘ und ‚Überlieferungsgeschichte‘. In: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der Amerik.-Dt. Arbeitstagung an der Georg-August-Universität Göttingen v. 17. bis 20. Oktober 2002. Unter Mitarb. v. Jochen Conzelmann. Hg. von Arthur Groos, Hans-Jochen Schiewer. Göttingen 2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), S. 215–236, hier: S. 226–236, genannte Literatur. 182 Schnyder: Historische Wunder-Beschreibung, S. 398; Jürgen Wolf: Gedruckte Handschriften, S. 8.
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nise the texts“.183 Er setzt dabei also gegenteilige Prämissen für die Beurteilung an, sodass nicht die ‚Verbesserungssucht‘, sondern gerade das Unterlassen von Eingriffen in den vorliegenden Text kritisiert wird, bewertet die Arbeit der Überlieferungsbeteiligten aber ebenfalls negativ. Ein prominenter Kritiker des Buchwesens der Zeit ist Erasmus von Rotterdam. In seinen essayistischen Adagia, in denen er nicht nur antike Sprichwörter versammelt, sondern auch Zeit- und Gesellschaftskritik übt,184 beschreibt er das Signet des venezianischen Druckerverlegers Aldus Manutius. Diese Darstellung eines Ankers, um dessen Mitte sich ein Delphin windet (vgl. A 1526, S. 175), wird genutzt, um Ausführungen zum Stichwort Festina lente (‚Eile mit Weile‘) mit Abschweifungen auf das Gebiet des Drucker- und Verlegerhandwerks zu verbinden.185 Der Delphin stehe für die „Schnelligkeit“, derer es zur Durchführung anstehender Projekte bedürfe (A 1526, S. 205). Der Anker symbolisiere dagegen die „Behutsamkeit der Sorgfalt“ (A 1526, S. 173) und die „Bedächtigkeit des Überlegens“ (A 1526, S. 205). In Kombination stehen die Elemente des Druckerzeichens für die von der Vernunft gezügelten Affekte (vgl. A 1526, S. 207). Beide Einzelaspekte seien notwendig, um im Vorfeld eines Projektes mit Bedacht zu planen und mit Schnelligkeit zu handeln, sobald „man einen Entschluß gefaßt“ habe (A 1526, S. 205). Aldus’ Ziel sei es gewesen, die wertvollen Texte der Antike – „auf allen Wissensgebieten“ (S. 187) – zu reinigen und der gelehrten Welt ediert zu erschließen (vgl. A 1526, S. 187 und S. 189). Vorbildlich im Sinne des adagiums eilte Aldus mit Weile (vgl. A 1526, S. 205), um „eine Bibliothek“ aufzubauen, „die keine anderen Begrenzungen haben“ sollte „als die Enden der Welt selbst“ (A 1526, S. 189). Trotz des beträchtlichen Umfangs seines Verlagsprogramms habe es Aldus niemals an Genauigkeit fehlen lassen. Der zum Zeitpunkt der Abfassung der Adagia bereits verstorbene Aldus dient Erasmus darüber hinaus als Kontrastfigur, um diejenigen Druckerverleger zu brandmarken, denen allein die Eigenschaften des ‚Delphins‘ zu Eigen seien.
183 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 332. 184 Vgl. Anton J. Gail: Einleitung. In: Erasmus von Rotterdam: Adagia. Lateinisch/Deutsch. Auswahl, Übersetzung und Anm. von Anton J. Gail. Stuttgart 1983, S. 3–21, hier: S. 8, S. 11 und S. 13 f.; Thomas M. Greene: Erasmus’ ‚Festina lente‘: Vulnerabilities of the Humanist Text. In: The Vulnerable Text. Essays on Renaissance Literature. New York [1982] 1986, S. 1–17 und S. 237–238, hier: S. 1 f. und S. 7–10. – Die Zitate folgen der Ausgabe Erasmus von Rotterdam: Festina lente/ Eile mit Weile. In: Adagia. Lat./Dt. Auswahl, Übersetzung und Anm. v. Anton J. Gail. Stuttgart 1983, S. 164–211, und sind mit Klammern im Fließtext nachgewiesen. Hinweis auf diese Stelle bei Quast: Der feste Text, S. 44. 185 Dieses adagium findet sich erstmals in der Ausgabe von 1508, die hier entscheidende Erweiterung um den Kommentar zum Buchdruck des frühen sechzehnten Jahrhunderts erfolgt 1526 (vgl. Greene: Festina lente, S. 2 und S. 7–9).
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„Geldgierige Drucker“ profitieren seiner Ansicht nach vom guten Ruf der venezianischen Buchproduktion (A 1526, S. 191), verfälschen aber ihre Vorlagen, da „für [s]ie der Gewinn auch nur eines Goldstücks wichtiger [...] als die ganze Welt der Literatur“ (A 1526, S. 189) sei. Ihre Profitgier verbiete es ihnen, Korrektoren zu beschäftigen, doch selbst seien sie unfähig oder „zu faul“, um selbst „Korrekturen zu lesen“ (A 1526, S. 191). Erasmus sieht diese Drucker in der schlechten Tradition „ungebildete[r] Mönche“ (A 1526, S. 193), die beim Abschreiben von Handschriften aber rein quantitativ betrachtet deutlich weniger Schaden anrichten können als ein Drucker mit einer Auflage von mehreren Hundert korrupten Exemplaren (vgl. ebd.).186 Zudem führe die Gier der Drucker dazu, der neuerungssüchtigen Natur der Käufer zu entsprechen und belanglose Neuerscheinungen „von Hinz und Kunz“ anzubieten (ebd. und A 1526, S. 195). Der Verkauf dieser anspruchslosen Werke gehe aber zu Lasten der Beschäftigung mit der antiken Literatur (vgl. A 1526, S. 197). Doch ist es Erasmus’ Hauptkritikpunkt, die Verfälschung von Quellen, die auch bei modernen Philologen zur Ablehnung des Überlieferten und seiner Urheber führt. Da sich die Originale selbst nicht erhalten haben, ist das Ziel der traditionellen Altertumsphilologie und in ihrer Folge der noch jungen Mediävistik die (Wieder-)Herstellung möglichst autornaher Fassungen. Die Richtung des Forschungsinteresses ist damit gegenchronologisch zur Text- und Überlieferungsgeschichte, weshalb diese nur „als Prozeß der Textverschlechterung“ aufzufassen ist, womit die Textkritik zu einer „Lehre von den Fehlern“ wird.187 Die mittelalterlichen Werke präsentieren sich nach dieser Sichtweise in verdorbener, korrupter oder sinnentstellter Gestalt.
186 Erasmus beklagt in diesem Zusammenhang, dass Drucker zunftfrei und damit unkontrolliert arbeiten dürfen (A 1526, S. 193); vgl. dazu Rautenberg: Buchhändlerische Organisationsformen, S. 358. 187 Joachim Bumke: Die vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 8 [242]), hier: S. 49, mit Karl Stackmann. Vgl. zur Geschichte der Textkritik auch Jerome J. McGann: A Critique of Modern Textual Criticism. 2. Aufl. Charlottesville, London 1992, hier: S. 15–22 und S. 117–119; Rüdiger Nutt-Kofoth: Art. Textkritik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 602–607, hier: S. 603 und S. 606, sowie Uta Kleine, Ludolf Kuchenbuch: Textus im Mittelalter – Erträge, Nachträge, Hypothesen. In: ‚Textus‘ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld. Hg. von Uta Kleine, Ludolf Kuchenbuch. Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216), S. 417–453, hier: S. 449.
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Die philologische Beschreibungssprache markiert nach Joachim Bumke Textveränderungen als Abwandlung eines Vorausgehenden und wertet es damit als etwas Sekundäres ab.188 Er selbst ist dagegen um einen neutralen Sprachgebrauch bemüht und hat mit der Edition gleichwertiger Parallelfassungen der Nibelungenklage editionspraktische Konsequenzen aus seiner abweichenden Sicht auf die Überlieferungszeugen gezogen.189 Auch die ‚social theory of editing‘ Jerome J. McGanns interessiert sich weniger für die „author’s (final) intentions“ als für die weiteren Kontexte der Literaturproduktion.190 Die Rekonstruktion des Autorwillens lasse „[t]oo many relevant aspects of the literary work“ außen vor, während ihm das Werk und sein Sitz im literarischen Leben („the related histories of its production, reproduction, and reception“) wichtiger sind als der kurze Zeitpunkt, an dem der Autor die Kontrolle über sein Werk innehat.191 Aufschlüsse bietet hier aber allein die Textgestalt der späteren Überlieferung. Allerdings fällt der Widerhall der stärkeren Betonung der variant vorliegenden Werkgestalt im Interpretationswesen noch gering aus. Dabei sollte das ‚Rauschen‘ der Überlieferung zumindest dann stutzig machen und Aufmerksamkeit erfahren, sobald durch die Eingriffe neuer Sinn entsteht. Eine ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘, wie sie in dieser Arbeit gefordert wird, kann das Werk nicht als situationsabstrakten, immateriellen Autortext verstehen, sondern muss seiner ‚history of transmission‘ als dynamische Abfolge immer neuer positiver Endgültigkeiten gerecht werden.192 Eine besondere Rolle nimmt dabei der im Vergleich zum Haupttext variantenreichere ‚Paratext‘ ein. Während aber der Vordenker der ‚Paratextualität‘, Gérard Genette, den ‚gültigen‘ Paratext auf jene Paratexte beschränkt, die vom Autor und seinen ‚Verbündeten‘ hervorgebracht
188 Bumke: Vier Fassungen, S. 51 f. 189 Vgl. zu Bumkes Konzept der ‚Retextualisierung‘ das Kap. 2.1.2 und seine Edition Bumke: Vier Fassungen; zu seinem Konzept ‚autornaher Parallelfassungen‘ S. 183–186 im Kap. 2.2.1.1. Zu überlieferungsorientierten Editionsmethoden vgl. ferner Thomas Bein: Die mediävistische Edition und ihre Methoden. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hg. von Rüdiger NuttKofoth u. a. Berlin 2000, S. 81–98, hier: S. 84. 190 Das Zitat: McGann: Modern Textual Criticism, S. 121; vgl. dazu auch ebd., S. 18–21 und S. 111–115, sowie das Kap. 2.2.1.2. 191 Das erste Zitat McGann: Modern Textual Criticism, S. 121; das zweite ebd., S. 123. 192 Zur ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ vgl. S. 286–291 im Kap. 2.3.3; den Begriff einer ‚history of transmission‘ verwendet McGann: Modern Textual Criticism, S. 123; vgl. zur stärkeren Situationsbezogenheit mittelalterlicher Texte Christian Kiening: Medialität in mediävistischer Perspektive. In: Poetica 39 (2007), S. 285–352, hier: S. 344 f.; Peter Strohschneider: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ‚New Philology‘. In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hg. von Helmut Tervooren, Horst Wenzel. Berlin u. a. 1997 (ZfdPh 116, Sonderheft), S. 62–86, hier: vor allem S. 71; anders dagegen Quast: Der feste Text, S. 40.
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werden, erstreckt sich in einer ‚history of transmission‘ die Kompetenz der ‚NichtVerbündeten‘ sogar über den Paratext hinaus auf den Haupttext.193 Ihre Eingriffe sind rezeptionsgeschichtlich wirkmächtig und daher literaturgeschichtlich auch dann relevant, wenn sie dem Autorwillen zuwiderlaufen. Dies gilt selbst dann, wenn Zeilensprünge oder Fehllesungen die Bedeutung des Ausgangstextes unbeabsichtigt verändern. Würde die traditionelle Textkritik hier von sinnentstellenden Fehlern sprechen und die entsprechenden Stellen emendieren, ist es für eine ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ wichtig, die historisch wirksame, positivendgültige Gestalt eines Überlieferungsträgers zu respektieren. Keine anderen Zeugnisse geben derart vielfältige Auskünfte über die literarische Wirklichkeit abseits der autorzentrierten Produktionsgeschichte.194 Gerhard Schmitz’ Konzept vom ‚intelligenten Schreiber‘ ist – wie nachfolgend dargelegt wird – geeignet, die historischen Prozesse in Handschriften- wie Druckkultur gleichermaßen zu erfassen. Von der entscheidenden Verbesserung in der Druckkunst – der Einsatz beweglicher Metalllettern durch Johannes Gutenberg – bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts laufen die handschriftliche und die gedruckte Buchherstellung gleichberechtigt parallel.195 So entsprechen das Layout, das Publikum und die Vertriebswege des frühen Buchdrucks denjenigen der Handschriftenproduktion.196 Aufgrund der hohen Investitionskosten und der
193 Vgl. Genette: Paratexte, S. 10, und das Kap. 2.3.3.4. 194 Zu Erkenntnisgewinnen für die Spätmittelalter-Forschung am Beispiel der Handschriftenwerkstatt von Diebold Lauber vgl. Viehhauser-Mery: Lauberwerkstatt, S. 11–14. – Auch die moderne Leseforschung ist auf die erhaltenen Handschriften und Drucke angewiesen. So erkennen Guglielmo Cavallo und Roger Chartier, dass Autoren „keine Bücher“ schreiben: „Sie schreiben Texte“. Erhalten ist aber kein Text „ohne den Träger, der ihn der Lektüre [...] zugänglich macht“ (Guglielmo Cavallo, Roger Chartier: Einleitung [aus dem Ital. v. Martina Kempter]. In: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Hg. von Guglielmo Cavallo, Roger Chartier. Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 9–57, hier: S. 16). Leser rezipieren also niemals „abstrakte[ ], ideale[ ], von jeglicher Materialität losgelöste[ ] Texte[ ]“, sondern materiale Formen, die selbst „Sinn erzeugen“, sodass „ein Text eine neue Bedeutung und einen neuen Status erhält, wenn die Träger wechseln, die ihn der Lektüre darbieten“ (ebd., S. 12). Zur Darstellung älterer lesersoziologischer Forschung vgl. Wolfgang Milde: De captu lectoris – Von der Wirkung des Buches. In: De captu lectoris. Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken. Hg. von Wolfgang Milde, Werner Schuder. Berlin, New York 1988, S. 1–28, hier: S. 2–7. 195 Schnell: Handschrift und Druck, S. 66 f., zeigt, warum „Frühneuzeitspezialisten und Kulturhistoriker“ eher den mit der Einführung des Drucks verbundenen Bruch, „Mediävisten und Textwissenschaftler“ dagegen eher die Kontinuität von Handschriften- und Druckwesen betonen. 196 Vgl. vor allem Margaret M. Smith: The design relationship between the manuscript and the incunable. In: A Millennium of the Book. Production, Design & Illustration in Manuscript & Print 900–1900. Hg. von Michael Harris, Robin Myers. New Castle, Winchester 1994 (Publishing
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unsicheren Absatzberechnung wird zunächst nur gedruckt, was bereits handschriftlich weite Verbreitung gefunden hat, und nur langsam bildet sich ein literarischer Markt heraus, auf dem Autoren, Buchproduzenten und Leser einander fremd werden.197 Erst nach und nach entwickelt sich der Druck zum Standardmedium, von dem sich die Handschrift als autornahe oder exklusive Sonderform absetzt.198 Individueller Einband, Verbund mit anderen Texten, handschriftliche Zusätze oder die Kolorierung von Holzschnitten sind jedoch Möglichkeiten, auch das einzelne Exemplar einer Druckauflage zu individualisieren.199 Ebenfalls führt die Praxis der ‚Presskorrektur‘ zu Ausgaben, deren Exemplare nicht textidentisch sind, weshalb Paul Needham von einem „‚law‘ of typographic variation“ spricht.200
pathways 8), S. 23–43, hier: S. 29–39, die deutlich macht, dass die Ähnlichkeit von Inkunabeln und Handschriften nicht Folge von imitatio ist, sondern sich vor allem der Nutzung bestehender Produktionssysteme durch die frühen Buchdrucker verdankt. Vgl. dazu ferner Jan-Dirk Müller: Jch Vngenant, S. 153–157; Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 337; Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke, S. 332; Wolfgang Harms: Wege der Texte zum Leser im 16. und 17. Jahrhundert. Einige Aufgaben der Bibliothek für die Erschließung eines Zeitalters des Medienwechsels und der Medienkonkurrenz. In: Kolloquialität der Literatur. Kleine Schriften. Hg. von Michael Schilling. Stuttgart [1997] 2006, S. 153–168, hier: S. 154–156; Neuber: Ökonomien des Verstehens, S. 202– 209; Wolfgang Augustyn: Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck in Deutschland – Versuch einer Skizze aus kunsthistorischer Sicht. In: Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck. Hg. von Gerd Dicke, Klaus Grubmüller. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler MittelalterStudien 16), S. 5–47, hier: S. 6; Helmut H. Braun: Von der Handschrift zum Druck, S. 230–237, sowie Schnell: Handschrift und Druck, S. 88–90 (mit weiteren Literaturangaben). 197 Vgl. Rautenberg: Buchhändlerische Organisationsformen, S. 339–344; Schmitt: Tradition und Innovation, S. 56, sowie ferner Manfred Sauer: Die deutschen Inkunabeln, ihre historischen Merkmale und ihr Publikum. Düsseldorf 1956, hier: S. 72 f.; Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 398. – Eine Übersicht über Kosten und Risiken sowie Versuche das „hazardous business“ berechenbarer zu machen, bieten die beiden Kap. The Cost of Production sowie Cost and Management bei Rudolf Hirsch: Printing, Selling and Reading 1450–1550. 2., erg. Aufl. Wiesbaden 1974, hier: S. 27–60. 198 Vgl. Augustyn: Handschrift und Buchdruck, S. 46 f.; Ursula Rautenberg: Medienkonkurrenz und Medienmischung – Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Druck im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in Köln. In: Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck. Hg. von Gerd Dicke, Klaus Grubmüller. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 16), S. 167–202, hier: S. 168. 199 Vgl. Schnell: Handschrift und Druck, S. 89/Anm. 75 mit Gerd Dicke. 200 Vgl. Paul Needham: Copy-Specifics in the Printing Shop. In: Early Printed Books as Material Objects. Proceedings of the Conference organized by the IFLA Rare Books and Manuscripts Section. München, 19.–21. August 2009. Hg. von Marcia Reed, Bettina Wagner. Berlin, New York 2010 (IFLA Publications 149), S. 9–20, hier: S. 9–13, das Zitat ebd., S. 11; vgl. zu dieser Praxis auch Karl Klaus Walther: Die Drucke des 17. Jahrhunderts – Betrachtungen zu ihren Bestandteilen. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 24 (1997), S. 373–387, hier: S. 376.
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Rüdiger Schnell bemerkt, dass sich zahlreiche „Merkmale, die wir dem Buchdruck zuschreiben, erst in der Phase des Neben- und Miteinanders von altem und neuem Medium (ca. 1470–1560)“ herausbilden.201 Er nennt ‚Öffentlichkeit‘, ‚Anonymität‘, ‚Endgültigkeit‘, ‚Autorbewusstsein‘, ‚Prestige‘ sowie ‚Perfektion‘ – alles Eigenschaften, die auch bei mittelalterlichen Handschriften beobachtet werden können. Dies liege an der Multifunktionalität der Handschrift, die mehrere Ansprüche gleichzeitig erfüllen könne, während sich beim Buchdruck eine Tendenz zu stärkerer Ausdifferenzierung nachweisen lasse. Daher plädiert Schnell dafür, die funktionale Kontinuität stärker zu betonen und nicht von einem mehr oder weniger abrupten Medienwechsel auszugehen.202 Wie ich im Folgenden zeige, lassen sich aus diesem Grund Konzepte auf den frühen Buchdruck übertragen, die anhand handschriftlicher Überlieferung entwickelt worden sind. Die Überlieferungsbeteiligten kommen weiter oben als ‚Wiedererzähler‘ und ‚Retextualisierer‘ zur Sprache: Sie greifen auf eine Vorlage zurück, der sie hinsichtlich der materia folgen, die sie aber artifiziell an die Erfordernisse der neuen zeitlichen und/oder räumlichen Verhältnisse anpassen.203 Eine alternative Beschreibungsmöglichkeit ihrer Beteiligung am Prozess aktualisierender Tradierung eröffnet das Konzept des ‚intelligenten Schreibers‘ von Gerhard Schmitz. Er verteidigt die Schreiber gegen forschungsgeschichtliche Vorbehalte, indem er auf Beispiele stillschweigender Konjektur oder sinnvoller Emendation hinweist, durch die etliche von ihnen ihre Vorlagen verbessert haben.204 Doch wenn sich die „mittelalterliche[n] Schreiber“ bemühen, „nicht nur abzuschreiben, sondern Sinnvolles abzuschreiben“, um somit „einen verständlicheren und besseren Text“ herzustellen, dann ähnelt ihr Tun der Arbeit eines umsichtigen modernen Heraus201 Schnell: Handschrift und Druck, S. 107. 202 Vgl. ebd., S. 108 f. und S. 88–107. Vgl. dazu auch Rautenberg: Buchhändlerische Organisationsformen, S. 339–341; Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1), hier: S. 44 f., sowie Jürgen Wolf: Gedruckte Handschriften, passim. 203 Vgl. das Kap. 2.1.2. 204 Vgl. Gerhard Schmitz: Intelligente Schreiber. Beobachtungen aus Ansegis- und Kapitularienhandschriften. In: Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter. Fs. für Horst Fuhrmann zum 65. Geb. Hg. von Hubert Mordek. Tübingen 1991, S. 79–93, hier: S. 83–93. Schmitz’ ‚intelligenter Schreiber‘ ist dabei nicht mit dem ‚scripteur‘ in Roland Barthes’ La mort de l’auteur zu verwechseln. Der ‚scripteur‘ ist ein gestalt- und gegenstandsloses Zwischenprodukt, das bei Barthes’ Dekonstruktion des ‚Autors‘ kurzfristig entsteht, aber letztlich nichts zur Entstehung der ‚Schrift‘ beiträgt, und bei der „Geburt des Lesers“ auch theoretisch aus dem Blick gerät (vgl. Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. von Fotis Jannidis u. a. Stuttgart [1968] 2000, S. 185–193, das Zitat ebd., S. 193). Schmitz’ ‚Schreiber‘ hat dagegen eine realhistorische Entsprechung, wenn Namen auch nur äußerst selten überliefert sind und mitunter mehrere Personen an der ‚intelligenten‘ Herstellung einer Handschrift beteiligt sind.
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gebers.205 Allerdings verfügen die Überlieferungsbeteiligten über größere Freiheiten. Dies hat seinen Grund in einer Auffassung von ‚Traditionspflege‘, die sich vom heutigen Standpunkt unterscheidet. Das gegenwärtige Verständnis ist ‚statisch‘ und zielt auf die „Integrität des Originals“, während Spätmittelalter und Frühneuzeit nach Peter Bichsel „der Idee einer dynamischen Weiterentwicklung des Inhalts“ verpflichtet sind.206 Ich stimme dieser dichotomischen Sichtweise grundsätzlich zu, modifiziere sie aber dahingehend, dass die Freiheit – wie oben dargelegt – vor allem formale Aspekte und die paratextuelle Situierung weniger aber die Inhaltsseite einer überlieferten Geschichte betrifft. Unbestritten kommt es im Einzelfall „zu einschneidenden Kürzungen, umfangreichen Zusätzen, ja völliger Umgestaltung des Wortlauts“.207 Doch komplette Neuredaktionen sind in der Text- und Überlieferungsgeschichte selten. In der Forschung zur handschriftlichen Melusine-Überlieferung ist es noch immer ungeklärt, ob die klassifikatorischen Differenzen zwischen den von Karin Schneider unterschiedenen Überlieferungsgruppen I einerseits sowie II und III andererseits das Ergebnis von Abschreibfehlern sind, oder ob nicht doch ein ‚intelligenter Schreiber‘ einen ursprünglich vorliegenden sachlichen Fehler korrigiert haben könnte.208 Dass ein Exempel traditionell Ambrosius und nicht Augustinus zugeschrieben wird, heißt noch lange nicht, dass der Autor Thüring von Ringoltingen, dessen Autograph sich nicht erhalten hat, mit größerer Wahrscheinlichkeit als ein späterer Schreiber den legendarischen Einschub korrekt zuzuweisen vermag. Im zweiten Fall läge ein prototypisches Beispiel ‚intelligenter Varianz‘ vor.209 Aber nicht nur die Korrektur von sachlichen oder sprachlichen 205 Die Zitate Schmitz: Intelligente Schreiber, S. 92; der Hinweis auf die Analogie zum Herausgeber ebd., S. 93. 206 Bichsel: Hug Schapler, S. 67. – Zur „‚kulturpflegerische[n]‘ Funktion“ des modernen Herausgebers vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 2., erg. u. aktual. Aufl. Stuttgart 2006, hier: S. 19. 207 Hanns Fischer: Aufgaben der Literaturforschung, S. 224. Vgl. dazu auch Ingeborg Glier: Schatzkammer, Steinbruch, historisches Objekt. Aspekte der handschriftlichen Überlieferung als Zugang zum Textverständnis. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert. Hg. von Gerhard Hahn, Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992, S. 1–16, hier: S. 1 f.; Martin Baisch: Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft. TristanLektüren. Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 9), hier: S. 42–45. 208 Karin Schneider: Einführung, S. 19–28; vgl. dazu und für die folgenden Ausführungen die kritischen Überlegungen von Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1012 f. 209 Ein grundsätzliches Problem bei Schneiders Gruppenbildung besteht meiner Ansicht nach darin, dass unbekannt ist, welche Coudrette-Handschrift Thüring für seine Übertragung benutzt hat. Den Umstand, dass Thüring den Auftraggeber des Kaplans kennt, obwohl er von diesem nicht genannt wird, muss nicht, wie Schneider vermutet, auf eine mündliche Vermittlung hindeuten.
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Fehlern, auch die logische Ergänzung fehlenden Textes oder die Umstellung von Bildmaterial, das die Vorlage vertauscht präsentiert, gehören zur Tätigkeit eines ‚intelligenten Schreibers‘.210 Sieht man die Arbeit von Berufsschreibern und Druckerverlegern in der Tradition des Wiedererzählens älterer Geschichten unter Freiheit der individuellen Formgebung und versteht man den Prosaroman nicht als abstrakte Zeichenfolge, sondern als materiell überlieferten, mehrdimensionalen ‚Buchtyp‘,211 verschiebt sich das Augenmerk von den ursprünglichen Verfassern auf die Überlieferungsbeteiligten als eigentliche Akteure der Literaturgeschichte. Unabhängig davon, ob man den Inkunabeldrucker als „schaffende[n] Meister“ und „Künstler“ hervorhebt oder den Produzenten von ‚Jahrmarktsheftchen‘ als einen ‚Pfuscher‘ abzutun sucht,212 sind sie doch diejenigen, welche die jeweils historisch wirksame und heute einzig erhaltene Gestalt der Romane verantworten.213 Angepasst an den sich wandelnden Kreis intendierter Abnehmer prägen sie den
Vielleicht enthielt die von Thüring zugrunde gelegte Handschrift diese Information, hat sich aber nicht erhalten? Doch wie könnte dann noch die Handschrift mit der größten Nähe zur Vorlage bestimmt werden (vgl. dazu Karin Schneider: Einführung, S. 24 f., S. 28 und S. 32)? Hans-Gert Roloff: Stilstudien zur Prosa des 15. Jahrhunderts. Die Melusine des Thüring von Ringoltingen. Köln, Wien 1970 (Literatur und Leben N.F. 12), hier: S. 24, tut die Problematik mit dem Hinweis ab, dass „die Varianten der einzelnen Handschriften keineswegs schwerwiegend“ seien, was allerdings im Widerspruch zu seinen vorangehenden Ausführungen über die Textlücken der Handschrift A steht. – Für die überlieferten Coudrette-Handschriften vgl. Eleanor Roach: Introduction. In: Coudrette: Le Roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan. Édition avec introduction, notes et glossaire. Paris 1982 (Bibliothèque Française et Romane 18), S. 13–104, hier: S. 77–99. 210 Vgl. Karl A. Zaenker: Ein hübsch lieblich lesen von Sant Brandon: A Look at the German Prose Versions and Their Illustrations. In: The Brendan Legend. Texts and Versions. Hg. von Glyn S. Burgess, Clara Strijbosch. Boston, Leiden 2006 (The Northern World 24), S. 315–336, hier: S. 320 und S. 323–325, zu Änderungen späterer Brandan-Inkunabeln gegenüber den Drucken von Anton Sorg: Christoph Gerhardt: Die Skiapoden in den ‚Herzog Ernst‘-Dichtungen. In: Literaturwissenschaftliches Jb. der Görres-Gesellschaft N.F. 18 (1977), S. 13–87, hier: S. 78–80, zeigt – allerdings für die Arbeit von Autoren im engeren Sinne – wie ein ursprünglich unkonventioneller Einfall, in der weiteren Fassungsgeschichte der Herzog Ernst-Romane der traditionellen Norm angeglichen wird. 211 Vgl. insgesamt das Kap. 2.1. 212 Das aufwertende Zitat nach Sauer: Inkunabeln, S. 18 (mit Konrad Haebler), für die Abwertung vgl. Schnyder: Historische Wunder-Beschreibung, S. 398. – Zum Bildungsgefälle von Wiegendruckern zu späteren Druckherren in Augsburg vgl. Künast: Buchhandel in Augsburg, S. 72– 77. 213 Vgl. zu ihrer Rolle für das literarische Leben des fünfzehnten Jahrhunderts das Kap. Tradition und Innovation von Buch- und Literaturgattungen bei Schmitt: Tradition und Innovation, S. 55–76; für die Überlieferungsbeteiligten als vierte Instanz neben Autor, Werk und Leser Flood: The Survival, Bd. 2, S. 263–297, vor allem S. 271.
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Sinn der Texte, wobei paratextuelle Beigaben genauso wichtig sind wie Eingriffe in den überlieferten Wortlaut.214 An anderer Stelle bleibt zu überprüfen, ob sich auf der Basis der Wiedererzähler, Retextualisierer und intelligenten Schreiber mit dem ‚frühneuzeitlichen Druckerverleger‘ ein Autorenprofil zwischen Traditionsbezug und Innovationswille herausarbeiten lässt, mit dem die theoretische Debatte um ‚Autorschaft‘ um eine historisch fundierte Facette erweitert werden kann. Die Verbindung von überlieferungsgeschichtlicher Dynamisierung und der getrennten Analyse einzelner Dimensionen von ‚Buchtypen‘ bedingen dabei eine sowohl synchrone als auch diachrone Pluralisierung der Autorinstanz im „komplexe[n] Wechselverhältnis zwischen Verfassern, Reproduzenten [...] und Rezipienten“.215 „In produktiv verarbeitender Überlieferung“ verschwindet nämlich nicht nur der Autor, wie Burghart Wachinger bemerkt,216 vielmehr tritt eine Vielzahl von Urhebern auf unterschiedlichen Ebenen an seine Stelle. Wachinger weist unbewusst die Richtung, wenn er schreibt, dass „in Feyerabends ‚Buch der Liebe‘ [...] jeder [...] Hinweis auf den Autor“ fehle.217 Denn Urheber der Sammlung und ihr Retextualisierer ist Sigmund Feyerabend, dessen Name als Genitivattribut an die Stelle der Nennung der ursprünglichen Verfasser der Einzeltexte tritt. So führt Joachim Bumke aus, dass „jeder Tradierende“ zum „potentielle[n] Autor“ werde und es letztlich „soviele Originale“ gebe, „wie es Fassungen gibt“.218
214 Vgl. Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 9 f.; Manuel Braun: Historien, S. 137, sowie ferner Martin Boghardt: Analytische Druckforschung. Ein methodischer Beitrag zu Buchkunde und Textkritik. Hamburg 1977, hier: S. 22; Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 10 und S. 30, und Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke, S. 343. 215 Williams-Krapp: Überlieferungsgeschichte, S. 15; vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 34. – Zum Autorenprofil Thürings von Ringoltingen vgl. den Aufsatz André Schnyder: Des Autors Stimme und Schrift: das Beispiel der Mélusine/Melusine. In: Stimmen, Texte und Bilder zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Voix, textes et images du Moyen-Age à l’aube des temps modernes. Hg. von Luisa Rubini Messerli, Alexander Schwarz. Bern u. a. 2009 (TAUSCH 17), S. 53–73, der jedoch im Vagen verbleibt. 216 Burghart Wachinger: Autorschaft und Überlieferung. In: Autorentypen. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 6), S. 1–23, hier: S. 1. 217 Ebd., S. 3. – Zu Feyerabends ‚Cumpanei‘ vgl. Imke Schmidt: Die Bücher aus der Frankfurter Offizin Gülfferich – Han – Weigand Han-Erben. Eine literarhistorische und buchgeschichtliche Untersuchung zum Buchdruck in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 26), hier: S. 22 f. und S. 34 f., sowie zur Ausstattung der Drucke aus dem Verlagshaus Gülfferich-Han ebd., das Kap. S. 51–65. 218 Bumke: Vier Fassungen, S. 50 (mit Joachim Heinzle). – Zur Überlieferung als Gradmesser der Autorschaft vgl. auch Karl Stackmann: Autor – Überlieferung – Editor. In: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Coll. 1997. Hg. von Eckart Conrad Lutz. Freiburg i.d.Schw. 1998 (Scrinium Friburgense 11), S. 11–32,
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Die Buchdrucker an der Schwelle von Spätmittelalter und Frühneuzeit sind freilich nicht die ersten, die vorliegende Texte nach der Maßgabe leichterer Lesbarkeit bearbeiten. Bei der Sichtung einschlägiger Forschungsliteratur stellt sich bald der Eindruck ein, dass es eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, wenn Geschriebenes im Hinblick auf die spätere Lektüre des Schrifttextes eingerichtet wird. Für das zwölfte (Illich, Neddermeyer), das neunte (Parkes, Zedelmaier), ja sogar schon für das späte fünfte Jahrhundert (Cavallo/Chartier) wird nachgewiesen, dass wissenschaftliche und antike Schrifttexte benutzerorientiert gestaltet werden.219 Dazu gehören die Einführung geregelter Groß- und Klein-, Getrenntund Zusammenschreibung sowie die Verwendung von Satzzeichen ebenso wie die Einteilung eines Textes in Kapitel mit Zwischen-, Unter- und Kolumnentiteln. Aber auch an Initialen, Absätze und Absatzzeichen, Spalten sowie Paragraphen und Paragraphenzeichen ist hier zu denken. Darüber hinaus werden dem Ausgangstext Glossen, Kommentare, Vor- und Nachworte, Fußnoten, Abschnittszusammenfassungen und Querverweise, Register, Inhalts- und Sentenzenverzeichnisse, Konkordanzen sowie Apparate hinzugefügt, wie es teilweise an Aldus’ Aristophanes-Ausgabe von 1498 zu sehen ist.220 Des Weiteren gibt es Hervorhebungen in Form von Farb- und Schriftartwechseln sowie Rubrizierungen – und der nicht-lineare Zugriff auf den Schrifttext wird durch Seiten-, Zeilen- und Kolumnenzahlen erheblich vereinfacht. Den auf diese Weise eingerichteten Text nennt Ivan Illich „den buchbezogenen Text“, der für das „buchbezogene[ ] Lesen[ ]“,221 d. h. für die stille Selbst
hier: S. 31, und zur Frage, ob Drucker und Verfasser als gleichwertig zu betrachten sind, Hardo Hilg: Rez. zu: Georg Steer: Hugo Ripelin von Straßburg. Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des ‚Compendium theologicae veritatis‘ im deutschen Spätmittelalter. Tübingen 1981 (Texte und Textgeschichte 2). In: PBB 108 (1986), S. 289–295, hier: S. 290, sowie ferner mit Bezug auf handschriftliche Überlieferung Martin Baisch: Wertlose Zeugen? Formen von Materialität im Spannungsfeld von Textkritik und Kulturwissenschaft. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 (Beihefte zu editio 32), S. 251–266, hier: S. 257. – Allerdings sei mit Blick auf die heutige Verlagsbranche angemerkt, dass die Neuphilologie den Anteil von Herausgebern, Lektoren und Mediengestaltern bei der Produktion von Gegenwartsliteratur zumeist unterschätzt. 219 Vgl. Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos „Didascalion“. Aus dem Engl. v. Ylva Eriksson-Kuchenbuch. Frankfurt a. M. 1991; Neddermeyer: Handschrift/Druck; Parkes: Ordinatio and Compilatio; Helmut Zedelmaier: Lesetechniken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hg. von Martin Mulsow, Helmut Zedelmaier. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), S. 11–30; Cavallo/Chartier: Einleitung. Vgl. dazu auch Kiening: Medialität; Backes: Lesezeichen. 220 Vgl. das Exemplar der BSB München, Sign. 2 Inc. c.a. 3612. 221 Illich: Im Weinberg, S. 121 f.
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lektüre, optimiert ist. Die so erreichte „literale[ ] und paginale[ ] Klarheit“ visualisiert und materialisiert „das ordnungsmetaphorische Potential des textus“.222 Malcolm B. Parkes spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „the structure of reasoning“ reflektiert werde „in the physical appearance of books“.223 Als nonverbale Formen der Sinnstiftung bei der ‚Verschriftlichung‘224 eines Textes sind für die Interpretation der konkreten Textgestalt die Anordnung auf der Seite, die Gliederung des Textes und die verschiedenen Arten der Hervorhebung potentiell relevant. Die Leistung vor allem der Buchdrucker, aber auch einiger Berufsschreiber, besteht nun darin, diese Selbstverständlichkeiten des gelehrten Bereichs auf unterhaltende Texte in Volkssprache zu übertragen. Dabei befördern die Erstanpassung vorliegender Manuskripte an das Druckformat und die Gepflogenheiten einer Offizin, also Maßnahmen, die eigentlich als Akt der Standardisierung verstanden werden könnten, zunächst sogar die Varianz der Texte. Der Buchdruck, der sich doch gerade durch eine Stabilisierung der Textgestalt auszeichnen müsste, führt damit beim überlieferungsgeschichtlichen Wechsel des Mediums zu erhöhter Unfestigkeit.225 Da diese formalen Modifikationen den Sinn eines Romans beeinflussen, sind sie bei einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ zu berücksichtigen. Für Jahrhunderte bleibt der Roman eine Gattung, die nicht von der Poetologie reglementiert wird. Stattdessen bildet sich ein ‚Buchtyp‘ Prosaroman heraus, an dessen praktischer Ausgestaltung die Überlieferungsbeteiligten durch Auswahl und formale Gestaltung großen Anteil haben. Nach Fritz Wahrenburg schreiben alle an der „Produktion, Distribution und Rezeption der Gattung wirkenden Instanzen“ gemeinsam an einer impliziten Gattungstheorie, deren Fixpunkt der
222 Kleine/Kuchenbuch: Textus im Mittelalter, S. 452 (Hinweis bei Kiening: Medialität, S. 348 f.). 223 Parkes: Ordinatio and Compilatio, S. 121. 224 ‚Verschriftlichung‘ meint die Anpassung eines Textes an die Möglichkeiten und Konventionen des Schriftmediums, während man unter ‚Verschriftung‘ nur die schriftliche Aufzeichnung eines gesprochenen Textes mit allen Merkmalen konzeptioneller Mündlichkeit versteht (vgl. Peter Koch, Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jb. 36 [1985], S. 15–43, hier: S. 17–19 und S. 27–29; Oesterreicher: Verschrift(lich)ung, vor allem S. 269–272). 225 Vgl. Manuel Braun: Vergesellschaftung, S. 48; Manuel Braun: Historien, S. 318, sowie Elaine C. Tennant: Der unfeste Druck. Buchdruck als Instrument der mouvance. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Unter Mitarb. v. Hans Derkits. Bd. 5: Mediävistik und Kulturwissenschaften. Betreut v. Alfred Ebenbauer und Horst Wenzel. Mediävistik und Neue Philologie. Betreut v. Ingrid Bennewitz, Werner Röcke und Peter Strohschneider. Hg. von Peter Wiesinger. Bern u. a. 2002 (JbIG A,57), S. 125–132.
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einsame Leser sei, der in stiller und identifikatorischer Lektüre den Roman rezipiert.226 In doppelter Hinsicht komme daher der „Erfindung des Buchdrucks [...] für die Entwicklung des neueren Romans [...] strukturbestimmende[ ] Bedeutung“ zu:227 einerseits durch die oben aufgelisteten Maßnahmen der Textgestaltung und andererseits dadurch, dass erst die weite Verbreitung schriftlicher Rezeptionsvorlagen die stille Lektüre einzelner Romanleser ermöglicht. Darüber hinaus geben die Druckerverleger mit ihrer Auswahl einzelner Romane aus der Menge der insgesamt verfügbaren Werke vor, welche Texte überhaupt zum Lesestoff für größere Rezipientengruppen werden können. Die Forschung hat diesen Prozess evolutionstheoretisch als ‚Selektion‘ und ‚kulturelle Auslese‘ aufgefasst, durch die sich ein „relativ feste[r] Kanon deutschsprachiger Werke“ herausbilde.228 Zwar kursieren einzelne Werke auch nach Etablierung des Buchdrucks ausschließlich handschriftlich, wenn man aber die quantitative Relation von Druckauflagen gegenüber singulären Manuskripten berücksichtigt, wird das Lektüreangebot durch das neue Medium paradoxerweise kleiner.229 Denn während die wenigen gedruckten Werke nun verhältnismäßig schnell verfügbar sind, verliert Ungedrucktes zunehmend an Einfluss auf das literarische Leben. Hinzu kommt, dass vor allem diejenigen Texte, die bereits als Handschrift weit verbreitet sind, von den Druckerverlegern bevorzugt werden. Schließlich ist der Absatz eines erfolgreichen Textes leichter zu kalkulieren als bei der Reproduktion von Werken, für die erst ein Publikum gefunden und gewonnen werden muss. Hans-Joachim Koppitz vertritt daher mit einigem Recht die These, dass der Buchdruck zunächst die Verbreitung zeitgenössischer Titel erschwere und stattdessen das Fortleben traditionsreicher Geschichten begünstige.230 226 Das Zitat Fritz Wahrenburg: Funktionswandel des Romans und ästhetische Norm. Die Entwicklung seiner Theorie in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1976 (Studien zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 11), hier: S. 2; vgl. dazu auch das Kap. Der einsame Leser ebd., S. 11–23. 227 Ebd., S. 11. 228 Das Zitat Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 27; vgl. dazu auch ebd., S. 7 und S. 20. Diese Art der ‚Kanonbildung‘ lässt sich mit der modernen Kanonforschung als ein nicht-intentionaler Akt verstehen, bei dem weniger die „wie auch immer geartete[ ] ‚innerliterarische[ ] Qualität‘“ als „außerliterarische[ ] Bedingungen“ entscheidend sind (Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag. Zur Kanonisierungspraxis des Deutschen Taschenbuch Verlags. Berlin 2011 [Deutsche Literatur. Studien und Quellen 5], S. 11). 229 Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. 2., durchges. u. erw. Aufl. München 1999, hier: S. 41 f. 230 Vgl. Koppitz: Zum Erfolg verurteilt, S. 75 f.; so auch Schmitt: Tradition und Innovation, S. 61 und S. 68, die der Druckergeneration der 1470er Jahre einen prägenden Einfluss für Jahrzehnte attestiert, vgl. ebd., S. 74. – Zur Orientierungsfunktion von Bestsellern bei der Herausbildung von Traditionen vgl. Wilfried Barner: Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodolo
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Mit dem Aufkommen eines literarischen Buchmarktes erhöht der härter werdende Wettbewerb den Innovationdruck.231 Gerade Neuausgaben traditionsreicher Geschichten fordern von den Druckerverlegern Aktualisierungen beispielsweise in Form sprachlicher Modernisierung oder eines erneuerten Illustrationszyklus und damit Kaufanreize, die das Sinngefüge des Romans als ‚Buchtyp‘ beeinflussen. Dass hierbei besonderes Augenmerk auf die Setzer in den Offizinen gelegt werden müsste, zeigen die Studien von Arend Mihm und Anja Voeste sowie die Dissertation von Martin Behr. Voeste beleuchtet dabei den Zwiespalt der gegensätzlichen Ansprüche von angestrebter Benutzerfreundlichkeit und Ökonomisierung des Druckvorgangs, Behr sichtet Sprachwandelphänomene innerhalb der Melusine-Überlieferung bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts.232 In der vorliegenden Arbeit kann jedoch nicht zwischen dem Anteil einzelner Akteure innerhalb des ohnehin zumeist namenlosen Kollektivs einer Offizin differenziert werden. Der Terminus ‚Druckerverleger‘ wird daher als Sammelbezeichnung auch für Setzer, Holzschneider, Korrektoren und Rubrikatoren verwendet.233 Während eine Druckerei wie diejenige des Aldus Manutius für die sorgfältige Ausführung ihrer Produkte berühmt ist, entscheiden sich andere beim Spagat zwischen Ökonomie und leserfreundlicher Herstellung vermeintlich für die Maximierung des Profits. Als besonders rücksichtsloses Beispiel gilt ein Augsburger Inkunabeldrucker. Ferdinand Geldner gibt mit seiner Einschätzung Johann Schönspergers d.Ä. als dem „ausgeprägteste[n] Vertreter des Massenproduzenten und rücksichtslosen Nachdruckers“ eine auf Jahrzehnte hin unhinterfragte, abwertende Deutungsrichtung vor.234 Schon zuvor machte Helmut H. Schmid an
gie der Rezeptionsforschung. In: Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Hg. von Gunter Grimm. Stuttgart 1975, S. 85–100, hier: S. 92. 231 Werner Röcke: Fiktionale Literatur und literarischer Markt: Schwankliteratur und Prosaroman. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. von Marina Münkler, Werner Röcke. München 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 463–506 und S. 668–672, hier: S. 463, bezeichnet Innovation als „[w]ichtigste[n] Antrieb des kapitalistischen Buchmarkts“; zu Innovationsleistungen als Gegenstand der Werbung vgl. Neddermeyer: Handschrift/Druck, S. 450. 232 Vgl. Mihm: Druckersprachen; Voeste: Leser im Blick, sowie Martin Behr: Buchdruck und Sprachwandel, vor allem S. 92–211 und S. 352–362. 233 Am Rande ist daran zu erinnern, dass nicht nur das gedruckte Buch, sondern auch zahlreiche Handschriften das Ergebnis der gemeinsamen Produktion unterschiedlicher Spezialisten sind (vgl. Nichols: Material Philology, vor allem S. 12 und S. 16 f.). 234 Ferdinand Geldner: Die deutschen Inkunabeldrucker. Ein Handbuch der deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts nach Druckorten. Bd. 1: Das deutsche Sprachgebiet. Stuttgart 1968, hier: S. 146. Vgl. zu Schönsperger Reske: Die Buchdrucker, S. 27 f., mit weiterer Literatur.
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ihm den Niedergang der Buchillustration fest, da er nur Nachschnitte von handwerklich minderer Qualität biete.235 An Schönspergers ‚Taschenausgabe‘ der Schedel’schen Weltchronik im Vergleich zur ‚Prachtausgabe‘ des Nürnberger Buchdruckers Anton Koberger wird die Diskrepanz von zeithistorischer Bedeutung und forschungsgeschichtlicher Einordnung deutlich. So führt Hans-Jörg Künast vor, dass Koberger zwar höchste ästhetische Ansprüche verfolgt, sich bei der Kalkulation von Publikum und Absatzchancen jedoch verschätzt und letztlich einen Ladenhüter produziert.236 Schönsperger bringt die Weltchronik dagegen in einem kleineren Format und in einfacherer Ausführung auf den Markt, was heute als ästhetischer oder philologischer Rückschritt angesehen wird, jedoch besser auf die Erfordernisse der Zeit zugeschnitten sei. Außerdem zeigten Schönspergers Projekte im Auftrag Kaiser Maximilians, dass er drucktechnisch und künstlerisch mit Koberger durchaus mithalten kann, „wenn ein Auftraggeber [...] dies wünschte“.237 An dieser Stelle geht es um seinen Nachdruck der Prosafassung des Tristrant, den er 1498 auf den Markt bringt. 1484 wird dieser Prosaroman erstmals und zwar von Schönspergers Schwiegervater Anton Sorg gedruckt.238 Der anonyme Prosaist, auf den die verlorene Vorlage für die Drucküberlieferung zurückgeht, greift dabei auf den Versroman Eilharts von Oberge zurück, nimmt jedoch zahlreiche Kürzungen, Erweiterungen und Neuformulierungen vor. Bernward Plate hat darin eine Tendenz zur „Akademisierung“ gesehen, nach der die mittelalterliche Ehe-
235 Vgl. das gleichnamige Kap. bei Helmut H. Schmid: Augsburger Buchillustration, S. 105– 112. – Das Urteil von Rautenberg: Melusines Basler Erstdruck, S. 88 f., zu Schönspergers 1488er Neuausgabe von Bämlers Melusine fällt ambivalent aus: einerseits „vergröbern“ seine Nachschnitte die Vorlagen, andererseits bemühe sich Schönsperger, eine unpassende Illustration durch ein besser geeignetes Bildthema zu ersetzen. 236 Vgl. Hans-Jörg Künast: Johann Schönsperger d.Ä. – der Verleger der Augsburger ‚Taschenausgabe‘ der Schedelschen Weltchronik. In: 500 Jahre Schedelsche Weltchronik. Akten des interdisziplinären Symp.s vom 23./24. April 1993 in Nürnberg. Hg. von Stephan Füssel. Nürnberg 1994 (Pirckheimer-Jb. 9), S. 99–110, hier: S. 100 und S. 108 f. – Ein den Zeitumständen angemesseneres Urteil auch bei Schmitt: Tradition und Innovation, S. 83–88, die erwähnt, dass der älteste erhaltene Buchumschlag (1482) von Schönsperger stamme (vgl. ebd., S. 86). 237 Künast: Schönsperger, S. 106. – Zur Umsetzung seiner ‚Fraktur‘ als „letzte große Schriftschöpfung aus dem Bereich der Bastarda“ vgl. Franz-Albrecht Bornschlegel: Etappen der Schriftentwicklung im Augsburger Buchdruck von Günther Zainer bis Johann Schönsperger d.Ä. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Im Auftrag der Stadt Augsburg. Hg. von Helmut Gier, Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 153–172, hier: S. 166 f., das Zitat ebd., S. 166. 238 Zu Johann Schönsperger d.Ä. und seinem ‚Netzwerk‘, dem auch Anton Sorg und Johann Bämler angehören, vgl. Künast: Schönsperger, S. 100–106, und die bei Reske: Die Buchdrucker, S. 28, aufgeführte Literatur.
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bruchsgeschichte dem Rechtsempfinden des 15. Jahrhunderts angepasst werde.239 Auf narratologische Modernisierungen wie psychologische Motivierungen, die Einführung von Gedankenrede und das ‚umständliche Erzählen‘, das auf die Romanpoetik des achtzehnten Jahrhunderts vorausweise, geht Karina Kellermann ein.240 Am Beispiel des Zweitdrucks zeigt Dorothee Ader jedoch, dass Schönsperger diese Erneuerungsbestrebungen fortsetze und seine Vorlage „mit großer Sorgfalt“ bearbeite, wobei seine Eingriffe in die Textgestalt entgegen der älteren Forschungsmeinung „meist sogar zu Gunsten des Textes“ erfolgen.241 Schon die Anlage des Textes in zwei kleineren Spalten erleichtere die Lektüre, darüber hinaus sei die 1498er Ausgabe im Vergleich zum Erstdruck sauberer und gleichmäßiger gedruckt (vgl. S. 64). Ader bestreitet dabei nicht, dass Schönsperger sein ökonomisches Risiko auf ein unvermeidliches Minimum reduziert und dass einzelne Bearbeitungsschritte rein wirtschaftlichen Erwägungen entsprin239 Vgl. das gleichnamige Kap. bei Bernward Plate: Verstehensprinzipien im Prosa-Tristrant von 1484. In: Literatur – Publikum – historischer Kontext. Hg. von Gert Kaiser. Bern u. a. 1977 (Beitr. zur ÄdL 1), S. 79–89, hier: S. 83–89, das Zitat ebd., S. 80. – Eine Übersicht der Änderungen bietet Hadumod Bußmann: Einleitung. In: Eilhart von Oberg: Tristrant. Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung. Hg. von Hadumod Bußmann. Tübingen 1969 (AdtTb 70), S. VII–LXV, hier: S. IL–LI. 240 Vgl. Karina Kellermann: Das ‚umständliche‘ Erzählen. Überlegungen zu den ästhetischen Prinzipien des Prosaromans Tristrant und Isalde. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 459–473, hier: S. 465 f., S. 468 und S. 473. – Für Aders Analyse des Sorg-Druckes im Vergleich zur Prosafassung vgl. Ader: Prosaversionen, S. 70–134. 241 Ader: Prosaversionen, S. 146; auf diese Arbeit beziehen sich die folgenden Nachweisklammern im Fließtext. – Ziel ihrer Dissertation ist die Rekonstruktion eines exemplarischen Prosaroman-Publikums und die Formulierung einer Rezeptionstheorie, die Text- und Bild-Rezeption gleichermaßen umfasse (vgl. ebd., S. 15). Allerdings wird sie von der Forschung einhellig negativ besprochen und ist nach der Rez. von Tina Terrahe in: ZfdA 141 (2012), S. 494–500, hier: S. 500, „nur unter Vorbehalt benutzbar.“ Im Zusammenhang mit meinem Zugriffsinteresse fällt allerdings weder die spekulative Konstruktion verschiedener Rezipientenkreise (vgl. ebd. S. 496 und S. 498–500; Rez. von Monika Schausten, in: ZfdPh 131 [2012], S. 463–467, hier: S. 466 f., sowie Rez. von André Schnyder, in: PBB 135/4 [2013], S. 613–619, hier: S. 618.) noch die scharf kritisierte Lückenhaftigkeit und Oberflächlichkeit bei der Darstellung von Text- und Überlieferungsgeschichte (vgl. Terrahe: Rez. Ader, S. 494–496) ins Gewicht. – Ader fasst ihre Ergebnisse in Bezug auf den Schönsperger-Druck nochmals – mitunter wortidentisch – zusammen als Dorothee Ader: Die Abkehr von der Tradition. Zur Rezeption des Tristrant in den Drucken des 15. Jahrhunderts. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 437–458.
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gen (vgl. S. 65 und S. 140 f.).242 Doch bleibe der Augsburger Drucker stets darauf bedacht, „Textverständnis[ ]“ und „Benutzerfreundlichkeit“ nicht zu beeinträchtigen (S. 141). Das gilt gleichermaßen für die Textgestaltung wie für das Bildprogramm. In Bezug auf „[d]ie interpretatorische Dimension der Kapitelüberschrift“ (S. 17) verzeichnet Ader drei Zwischentitel, die Schönsperger im Vergleich mit dem Erstdruck neu hinzufügt, um damit bislang unbetitelte Holzschnitte zu beschreiben. Da bei Sorg in diesen Fällen „Ungereimtheiten in der Wahl des jeweiligen Bildes oder zumindest der Bildstelle“ vorliegen (S. 140), ist der Zweitdrucker als ‚intelligenter Schreiber‘ anzusehen, der es dem Leser ermöglichen möchte, „die Bilder ‚mitzulesen‘“ (ebd.). Anders als Sorg achtet Schönsperger darauf, dass möglichst jeder Zwischentitel mit einer eigenen Abbildung versehen und das Bildthema auf dessen Formulierung abgestimmt ist (vgl. S. 168–171). An die Stelle einer Mischung von Bildtituli und Kapitelüberschriften tritt das von Ader so genannte „Prinzip der durchgängigen Zuordnung von Summarium und Holzschnitt“ (S. 169), was sie als Ausdruck eines „ambitionierte[n] ästhetische[n] Programm[s]“ wertet (S. 176). Dadurch stelle Schönsperger sicher, dass die Holzschnitte als „komplementäre Sinnträger“ (S. 48 mit Norbert H. Ott) den Text um eine in sich stimmige Dimension erweitern. Zumeist sind die Bilder den Sorg’schen Vorlagen (spiegelverkehrt) nachgeschnitten, wobei aber sogar einige Details hinzugefügt werden (vgl. S. 173). Und auch wenn Schönsperger an zwei Stellen auf Illustrationen aus seinem Wigoleis von 1493 zurückgreift (vgl. S. 168), achtet er „sorgfältig auf die Passgenauigkeit der Motive“, wodurch sie „die Funktion einer textbegleitenden Instanz“ erfüllen (S. 175). Nicht nur für die Dimensionen der Abbildungen und Zwischentitel, auch für Textkürzungen belegt Ader „die Tendenz, [...] das Textverständnis zu erleichtern“ (S. 148), wobei Schönsperger „[l]ogische Fehler“ vermeide, „die die Tilgung von Textpassagen nach sich ziehen könnten“ (S. 154 f.). Allerdings kommt es vor, dass er zwar grammatische Fehler verbessert, inhaltliche Versehen aber übersieht (vgl. S. 144). Wenn Schönsperger in den Dialog Isaldes mit ihrer Dienerin Brangel eingreift, da er einen Irrtum beim Bezug der Anrede ‚meine Königin‘ vermutet, dann verkenne er, dass die Umkehrung des Standesverhältnisses der Situation geschuldet ist: Schließlich bittet Isalde sie um nichts Geringeres als die Aufopferung ihrer Jungfräulichkeit (vgl. S. 161). Deshalb ist die Stelle rhetorisch als (Standes-)dissimulatio formuliert.
242 Dazu ist Schönsperger schon allein deshalb gezwungen, da er sein kostenintensives Druckgewerbe zum Teil mit Fremdkapital betreibt (vgl. Künast: Schönsperger, S. 104 f.).
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Dorothee Ader kann lediglich mutmaßen,243 dass der Zweitdruck des Tristrant eine private, extensive Lektüre nach sich ziehe, die von der Möglichkeit Gebrauch macht, im vorliegenden Text auch selbst zurückzublättern (vgl. S. 141, S. 150 f. und S. 344). Doch bereitet Schönsperger den Roman eindeutig für eine möglichst widerspruchsfreie Rezeption vor. Durch die Verbindung von traditionaler Erzählung und innovativer Formgebung tritt damit ausgerechnet der als schamloser Nachdrucker Berühmte als Beispiel eines ‚intelligenten Schreibers‘ nach dem Verständnis von Gerhard Schmitz hervor.
2.1.4 ‚Bestimmtheitsstellen‘ und nicht-intendierte Bedeutungsvarianten Wenn Überlieferungsbeteiligte einen vorliegenden Text rezipieren und auf dieser Grundlage einen neuen Text produzieren, sind drei mögliche Arten des Eingriffs zu unterscheiden. Erstens gibt es Eingriffe, die den Sinn eines Textes überhaupt nicht verändern. Zweitens kommt es zu bewussten und intentionalen Variationen. Und drittens kann ein neuer Textsinn auch dann entstehen, wenn dies gar nicht beabsichtigt ist. Zur ersten Gruppe gehören u. a. die Änderung des Formats oder die Umsetzung einer einspaltigen Vorlage in zwei oder mehr Textspalten.244 Zweifellos erlaubt die äußere Aufmachung eines Textes vom individuellen Einband über die Papierqualität bis zum Format Aussagen über den Status oder die Dignität, die einem Werk in der jeweiligen Überlieferungssituation zugeschrieben wird. 1517 druckt Johann Schönsperger d.Ä. beispielsweise eine Teilauflage von 40 Exemplaren des Theuerdank von und für Kaiser Maximilian auf Pergament.245 Im zwanzigsten Jahrhundert erscheint dagegen mit dem Fortunatus ein Prosaroman im Rahmen der Reihe Münchner Lesebogen im Westentaschenformat und damit
243 Vgl. Terrahes Kritik an Aders Anspruch, eine eigene Rezeptionstheorie aufzustellen (Terrahe: Rez. Ader, S. 499 f.) und den Hinweis auf die Diskrepanz von „systematischer Aufarbeitung“ der Texte und Spekulativität der soziohistorischen Schlussfolgerungen bei Schausten: Rez. Ader, S. 464 sowie S. 467. – Zum Publikum der Augsburger Tristrant-Drucke vgl. Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 12–14 und S. 162 f. 244 Ich stelle nicht in Abrede, dass schmale Spalten die Lektüre erleichtern und damit den Rezeptionsprozess beeinflussen. Doch kann es die vorliegende Arbeit nicht leisten, daraus kognitionspsychologische Rückschlüsse zu ziehen und für eine ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ in Anschlag zu bringen. Die Ergebnisse der Arbeit dürften auf diesem Weg jedoch lediglich ergänzt, nicht aber widerlegt werden können. 245 Vgl. Stephan Füssel: Kaiser Maximilian und die Medien seiner Zeit. Eine kulturhistorische Einführung. Köln u. a. 2003, hier: S. 13. Zu Schönsperger vgl. ferner S. 166–170 im Kap. 2.1.3.
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optimiert für die Lektüre an der Front.246 Schließt man von diesen formalen Eigenschaften auf die jeweils intendierten Rezipienten und lotet das mögliche Identifikationspotential für den Idealtyp dieser postulierten Leser aus, ergeben sich sicher alternative Perspektiven auf die traditionsreichen Romane. Allerdings ist ein methodisches Problem abzusehen: Die analysierte Leseweise dürfte sich mit dem eigenen Konstrukt des Ideallesers (kaiserlicher Potentat einerseits, einfacher Wehrmachtssoldat andererseits) decken. Schlüsse auf etwaige Sinnänderungen dürfen daher nicht auf dem Umweg einer Modellierung der Rezipienten gewonnen werden. Doch die bloße Aufwertung eines Textes durch den Schmuck des Exemplars oder die vergrößerte Lektüremobilität durch ein handlicheres Format allein berühren meiner Ansicht nach die ‚Sinnstiftung‘ eines Textes nicht.247
2.1.4.1 Modifikation von Wolfgang Isers Konzept der ‚Leerstellen‘ Bewusste, intentionale Änderungen – und damit diejenigen der zweiten Gruppe – sind das Ergebnis der Überlieferungsarbeit von ‚intelligenten Schreibern‘248. Sie passen ihre Vorlagen an das intendierte Publikum an, indem sie u. a. dialektalen Ausgleich und sprachliche Aktualisierungen vornehmen; aber auch Katholizismen werden für einen protestantischen Markt getilgt.249 Einen Sonderfall dieser Gruppe von Texteingriffen stellt das Hervorbringen von ‚Bestimmtheits-‘ und ‚Gefülltstellen‘ dar.250 Für diese Begriffe lehne ich mich an Wolfgang Iser und mittelbar an Roman Ingarden an, gebe ihren Konzepten aber eine andere Wendung. Phänomenologischer Ausgangspunkt für Iser ist die Feststellung der Nichtidentität von Literatur und Welt oder anders formuliert: Er geht davon aus, dass Literatur nicht die Wirklichkeit abbilde, sondern eine andere Wirklichkeit her
246 Es handelt sich um die Nr. 157, die allerdings nur den ersten Teil der Handlung bis zu Fortunatus’ Tod umfasst. Vgl. zu dieser Reihe Heinrich: Walter Schmidkunz; Edelgard Bühler, Hans-Eugen Bühler: Der ‚Münchner Lesebogen‘, seine Geschichte und seine Autoren. In: Buchhandelsgeschichte 2000/3, B 114–B 127, hier: vor allem B 114–B 116. Ein eigener Aufsatz ist in Vorbereitung. 247 Zum Begriff der ‚Sinnstiftung‘ vgl. mein Kap. 2.3.2. 248 Für den Begriff des ‚intelligenten Schreibers‘ und dessen Anwendbarkeit auf Druckerverleger vgl. Kap. 2.1.3. 249 Vgl. Mihm: Druckersprachen; zur Entkatholisierung in der Fortunatus-Überlieferung vgl. Valckx: Volksbuch, S. 101. 250 Ich verwende die beiden Termini erstmals: Sebastian Speth: Zufall erzählen. Eine kontingenztheoretische Lektüre der Melusine Thürings von Ringoltingen. In: Euphorion 106/3 (2012), S. 339–356, hier: S. 354–356.
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vorbringe und zwar mit Hilfe der Rezeption des Lesers.251 Denn nach Iser sind fiktionale Texte keine abgeschlossenen Zeichenmengen, vielmehr enthalten sie neben dem explizit Gesagten „Unformuliertes“, wodurch sie verdoppelt werden, was er als ‚Negativität‘ bezeichnet.252 Iser modifiziert Ingardens Konzept der ‚Unbestimmtheitsstellen‘, da er hier die Dynamik einer „Interaktion von Text und Leser“ vermisst.253 Bei Ingardens ‚Unbestimmtheitsstellen‘ gehe es nur um „das Weglassen von Nebensächlichem“, weswegen der Leser bei der Lektüre lediglich mechanisch komplettiere, nicht aber innerhalb eines vorgegebenen Rahmens frei kombiniere.254 Für Iser regen dagegen ‚Leerstellen‘ und ‚Negationen‘ die „Vorstellungstätigkeit des Lesers“ an und regulieren sie gleichzeitig.255 Der literarische Text ist zwar auch bei ihm durch seine ‚Unbestimmtheit‘ geprägt, doch weist Iser dem Leser größere Freiheiten bei der Konkretisation zu.256 Indem der Leser auf die fehlende Bestimmtheit reagiere, weise er dem literarischen Werk allererst eine individuelle ‚Bedeutung‘ zu.257 Dabei wird von den ‚Steuerungskomplexen‘ des Texten – den ‚Leerstellen‘ und ‚Negationen‘258 – ein hermeneutischer Prozess
251 Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. 2., unv. Aufl. Konstanz 1971 (Konstanzer Universitätsreden 28), hier: S. 10 f.; Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 3. Aufl. München [1976] 1990, hier: S. 282 f. 252 Vgl. Iser: Akt des Lesens, S. 348–355, das Zitat ebd., S. 348. 253 Vgl. ebd., S. 279. 254 Iser: Die Appellstruktur, S. 36 f./Anm. 6; vgl. dazu Iser: Akt des Lesens, S. 267–280, hier vor allem S. 272 f., S. 277 und darüber hinaus S. 284. 255 Iser: Akt des Lesens, S. 266; vgl. dazu auch ebd., S. 284, sowie zu den ‚Negationen‘ ebd., S. 327–347, und zur ‚Leerstelle‘ und ihren Funktionen insgesamt ebd., S. 284–315. 256 Vgl. ebd., S. 283 und S. 311. 257 Iser: Die Appellstruktur, S. 7, S. 12 f., S. 26 und S. 34; Iser: Akt des Lesens, S. 257, S. 263–266 und S. 303 f. 258 Diese Überlegungen gelten grosso modo auch dann, wenn nicht von ‚Leerstellen‘, sondern eher von ‚Ambiguität‘, ‚Ambivalenz‘ ‚Inkohärenz‘ ‚Pluralität‘, ‚Polyvalenz‘ oder ‚Vagheit‘ gesprochen wird (vgl. die beiden Beiträge Julia Abel, Andreas Blödorn und Michael Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz. Einführung [S. 1–11], und Erzsébet Szabó: Das Phänomen der Ambivalenz aus Sicht der Theorie möglicher Welten und der klassischen Narratologie [S. 15–30], beide in: Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung. Hg. von Julia Abel, Andreas Blödorn, Michael Scheffel. Trier 2009 [Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81]; Bode: Ästhetik der Ambiguität, S. 67 f.; Michael Scheffel: Formen und Funktionen von Ambiguität in der literarischen Erzählung. Ein Beitrag aus narratologischer Sicht. In: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Hg. von Frauke Berndt, Stephan Kammer. Würzburg 2009, S. 89–103, hier: S. 89, sowie Karlheinz Stierle: Text als Handlung und Text als Werk. In: Texte zur Theorie des Textes. Hg. von Stephan Kammer, Roger Lüdeke. Stuttgart [1981] 2005, S. 211–224, hier: S. 220). In der Prosaroman-Forschung finden sich für das Phänomen auch weniger theoretisch aufgeladene Formulierungen wie ‚Fremdkörper‘ (Jan-Dirk
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in Gang gesetzt: Denn die Vorstellungen, die der Leser auf der Basis seiner eigenen Welterfahrung anhand des Textes entwickelt, müsse er immer wieder korrigieren, sobald der Text ihm neue widerstrebende Horizonte und Perspektiven eröffnet.259 Bei längeren Erzähltexten wie dem Roman ist die Mehrdeutigkeit aufgrund der Vielzahl von Figuren mit eigener Stimme und Perspektive sowie der potentiellen Verschränkung von Strukturen und Diskursen radikalisiert.260 Christian Kiening unterscheidet bei seiner Analyse von Thürings Melusine eine Vielzahl ‚gesetzgebender Instanzen‘: Amrichs Sterndeutung, die Etablierung des Sichttabus und die Realisierung von Konsequenzen bei dessen Bruch, das ‚Augustinus-Exempel‘ sowie die von Melusine, also von einer Figur, gewiesene Möglichkeit, den Handlungsverlauf durch Töten des Horribel umzubiegen.261 Da es sich nur um „Deutungs-Angebote“ handelt,262 lassen sich diese Instanzen nicht hierarchisieren. Es liegt also eine leicht zu identifizierende Form von Mehrdeutigkeit vor.263 Da auch der Erzähler nichts zur Vermittlung der widerstreitenden Positionen beiträgt, ist der Leser gefordert, eine „endgültige Bewertung des Erzählten“ vorzunehmen.264 Nora Parkin rechnet dabei mit „religiously-informed readings“, Detlef Roth vermutet in anderem Zusammenhang, dass „[d]ie ‚Leerstellen‘“ der Prosaromane von „zeitgenössischen gelehrten Leser[n] [...] moraldi-
Müller: Rationalisierung und Mythisierung, S. 455), ‚optische Täuschung‘ (André Schnyder: Weltliteratur in Bern: die ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen. In: Berns grosse Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt. Hg. von Ellen J. Beer u. a. Bern 1999, S. 534–542 und S. 642, hier: S. 538) oder ‚punktuell-hinzeigende Tätigkeit‘ (von Ertzdorff: Fee als Ahnfrau, S. 444) in Bezug auf unabgestimmte Erzählerkommentare. 259 Vgl. Iser: Akt des Lesens, S. 264, S. 289 f., S. 310 und S. 313. 260 Vgl. Jost Schneider: Einführung in die Roman-Analyse. 2., unv. Aufl. Darmstadt 2006, hier: S. 19 und S. 41, zur inhaltlichen Offenheit der Gattung ‚Roman‘ vgl. Bruno Hillebrand: Theorie des Romans. Überarb. und erw. Aufl. München 1980, hier: S. 18 und S. 26; zur ‚potenziellen Polydiskursivität‘ des Romans vgl. Manuel Braun: Vergesellschaftung, S. 16; und zur Verschränkung von Diskursen speziell im Roman des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts Röcke: Fiktionale Literatur, S. 465. 261 Vgl. Christian Kiening: Zeitenraum und mise en abyme. Zum ‚Kern‘ der Melusinegeschichte. In: DVjs 79/1 (2005), S. 3–28, hier: S. 13. 262 Kuhn: Versuch, S. 99; vgl. dazu auch Ziep: Geschlecht und Herkommen, S. 255. 263 Brigitte Spreitzer: „Wie bist du vom Himmel gefallen ...“ Einschlagstellen des Diabolischen in der Literatur des späteren Mittelalters. Wien u. a. 1995 (Fazit 1), hier: S. 126, gruppiert diese Angebote zu einem ‚Märchendiskurs‘ einerseits und einem ‚theologischen Diskurs‘ andererseits, ähnlich Speth: Zufall erzählen, wo ich zwischen einer Herrschafts- und einer Heilsebene unterscheide; Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 109 und S. 119, setzt mit ‚Familienfluch‘ und ‚Gegenbildlichkeit‘ zwei andere Makrostrukturen an, die den Roman organisieren. 264 Spreitzer: Einschlagstellen des Diabolischen, S. 125.
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daktisch geschlossen werden“.265 Dies entspricht dann der von Iser als ‚Normalisierung‘ bezeichneten Leserreaktion auf die ‚Appellstruktur‘ literarischer Texte.266 Iser differenziert zwar die Interaktionsstruktur von Text und Leser anhand von Beispielen aus dem achtzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert historisch aus und spricht von einer „historischen Dimension der Unbestimmtheit“,267 er übergeht aber die überlieferungs- und textgeschichtliche Varianz der untersuchten Werke weitestgehend.268 Ein solches Vorgehen verbietet sich für die Analyse mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur, die nur im Ausnahmefall ein autoritativ herausgehobenes Original kennt. Eine Übertragung von Isers Rezeptionsästhetik auf Prozesse der Text- und Überlieferungsgeschichte nimmt im Rahmen der Konstitution seines ‚Text‘-Begriffes auch schon Martin Baisch vor – allerdings ausgehend von Isers Fiktionstheorie.269 Im Rückgriff auf „Selektion und Kombination als fingierende Akte“ beschreibt er die Praxis handschriftlicher Überlieferung im hohen Mittelalter, bei der „die Schreiber [...] als ‚Leser‘ ihrer Vorlagen [...] auf textkonstitutive Merkmale wie Unbestimmtheit und Leerstellen [...] je unterschiedlich reagieren“.270 In Relation zur Intention der jeweiligen Vorlage kann ein Text „übernommen“, „überboten, korrigiert, erweitert oder ironisch gebrochen werden“.271 So sieht er die Überlieferung als einen Rezeptionsvorgang, der „regulierend und stabilisierend auf die Ausweitung der Sinndimensionen von Textelementen“ antworte, indem er
265 Nora Lee Catherine Parkin: Geschlecht und Transgression: The Theology of Sin and Salvation in Thüring von Ringoltingen’s Melusine. Diss. masch. St. Louis, Miss., 1993, hier: S. 49; Roth: Deutungsversuche, S. 215 (mit Bezug auf den Fortunatus). Zum zeitgenössischen ‚Erwartungshorizont‘ der Leser vgl. auch Kartschoke: Weisheit oder Reichtum, S. 225. 266 Vgl. Iser: Die Appellstruktur, S. 12 f. 267 Vgl. Iser: Akt des Lesens, S. 315–327, das Zitat Iser: Die Appellstruktur, S. 33. 268 Vgl. Formulierungen wie Iser: Die Appellstruktur, S. 7: „[S]o fragt es sich, [...] warum sich einmal gefundene Bedeutungen wieder verändern, obgleich doch Buchstaben, Wörter und Sätze des Textes dieselben bleiben.“ Zu einer Unterscheidung von Rezeptionsästhetik und -geschichte vgl. Fotis Jannidis u. a.: Der Bedeutungsbegriff in der Literaturwissenschaft. Eine historische und systematische Skizze. In: Regeln der Bedeutung: Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hg. von Fotis Jannidis u. a. 2003. Berlin, New York (Revisionen 1), S. 3–30, hier: S. 23 f. – Dies überrascht umso mehr, als Genette: Paratexte, und Jerome J. McGann: The Textual Condition. Princeton 1991, die Überlieferung eines moderneren Korpus berücksichtigen. 269 Zwar haben die rezeptionsästhetischen Anleihen nur einen kleinen Anteil an Baischs umfangreichem theoretischen Konzept (vgl. das Kap. Text und Rezeptionsästhetik: Der mittelalterliche Schreiber als ‚Leser‘, Baisch: Textkritik als Problem, S. 75–85), jedoch einen besonders prominenten; vgl. dazu Huber: Rez. Baisch, S. 283. 270 Baisch: Textkritik als Problem, S. 79 f., vgl. dazu auch ebd., S. 84. 271 Ebd., S. 82.
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„die ausgewählten Elemente neu im Textgefüge eingliedert“.272 Damit aber werden historische Varianten des Lektürevorgangs ‚intelligenter Schreiber‘ schriftlich manifest und eine überlieferungstheoretische Wendung der Rezeptionsästhetik wird erkennbar. Für die 1537er Ausgabe des Hug Schappler konstatiert Jan-Dirk Müller, dass der Bearbeiter die Handlung dahingehend an die Erwartung des intendierten Publikums angepasst habe, dass nun die „‚privaten‘ Geschicke[ ] des Helden“ stärker in den Fokus rücken.273 Insbesondere geht Müller auf Hugs Liebesabenteuer im Hennegau ein. Für den Leser dieser Ausgabe ergebe sich gegenüber den früheren Redaktionen ein „Perspektivenwechsel“, da das Mädchen nun nicht länger passives Jagdobjekt sei, sondern stattdessen auch ihre Gefühle auserzählt würden. Der Text reize dadurch die Phantasie des Lesers zum affektiven und „imaginativen Nachvollzug“. Die Zeit zwischen Hugs Festbesuch und der Schwangerschaft des Mädchens ist im Erstdruck von 1500 eine ‚Leerstelle‘, die von der vorliegenden Redaktion im Vergleich mit der typischen Textgeschichte von Prosaromanen erstaunlich breit ausgefüllt wird. Es zeigt sich dabei deutlich, dass im Erstdruck keine ‚Unbestimmtheitsstelle‘ vorliegt, die Bartholomäus Grüninger als prominenter Leser und ‚intelligenter Schreiber‘ einfach komplettieren würde. Das Füllen der vorliegenden ‚Leerstelle‘ zeitigt stattdessen weitere ‚Leerstellen‘, die der Erzähler sogar explizit markiert: Er gibt nur Hinweise auf den Erregungszustand der Figuren und zeichnet den erzählten Raum als einen locus amoenus; die eigentlichen Vorkommnisse der Liebesnacht überlässt er dagegen von wenigen lektüreleitenden Winken abgesehen „allen liebhabern vnd buͦ lern zuͦ disputieren“.274 Ob damit beim konkreten Leser das eigene Erfahrungswissen aktiviert wird oder ob er für Ergänzungen dem unmittelbar danach erfolgenden intertextuellen Verweis275 des Erzählers folgt, bleibt unbestimmt. Je nachdem, ob die Überlieferungsbeteiligten im Prozess der Textgeschichte bislang unbestimmte Stellen komplettieren oder unabhängig von der Änderungsmotivation in die Sinnstruktur des Textes kombinierend eingreifen, spreche ich in Bezug auf ihre materiell greifbaren Konkretisationen von ‚Bestimmtheits-‘ beziehungsweise von ‚Gefülltstellen‘.
272 Ebd., S. 84. 273 Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 422, die nachfolgendenden Zitate ebd., S. 423. Für Bartholomäus Grüninger vgl. Reske: Die Buchdrucker, S. 885. 274 Zitiert nach Jan-Dirk Müllers Ausgabe: Elisabeth von Nassau-Saarbrücken [1500/1537] 1990: Hug Schapler, S. 366. 275 Zur Analyse dieses Verweises vgl. die S. 107 im Kap. 2.1.1.1.
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Als Perspektiventräger geben bei Iser vor allem der Autor, der Erzähler sowie die Figuren Themen für die Ergänzungsaktivität des Lesers vor.276 Was er aufgrund der Geringschätzung der Text- und Überlieferungsgeschichte aber außer Acht lässt, ist die rezeptionslenkende Funktion je voneinander zu unterscheidender paratextueller Dimensionen, die aber in meinem Untersuchungskorpus eine nicht zu überschätzende Rolle spielen. Denn obschon die Perspektivierung durch individuelle Figurenstandpunkte im frühen Prosaroman geringer ausgeprägt ist als bei den von Iser untersuchten Werken, geht dies jedoch mit einem Mehr an paratextuellen Dimensionen einher.277 Daher teile ich Isers Einschätzung, ‚Unbestimmtheit‘ sei ein modernes Phänomen, nicht. Wie ein verfeinertes Darstellungsraster in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts die ‚Unbestimmtheit‘ vergrößere,278 so erhöht auch jede textgeschichtlich etablierte Paratextdimension die Mehrstimmigkeit und damit die Mehrsinnigkeit der jeweils vorliegenden Redaktion. Deren Urheber rezipieren eine Vorlage und produzieren individuelle ‚Konkretisationen‘ der Textstellen. Anders als bei Iser sind für das Ergebnis ihrer Rezeption jedoch eine Vielzahl äußerer Einflüsse – insbesondere ökonomische Erwägungen – leitend. Außerdem wird der von Iser angenommene Wechsel von aktuell angesprochenem Thema und dem Horizont bereits verhandelter Themen279 prekär, sobald man die paratextuelle Lektürelenkung im ‚Buchtyp Prosaroman‘ untersucht. Einerseits müsste das hierarchische Verhältnis beispielsweise von Zwischentitel und Kapiteltext reflektiert werden, andererseits wird die Linearität der Lektüre durch die prominente Verwendung von Holzschnitten durchbrochen. Berücksichtigt man, dass gerade die Bildmotive im frühen Buchdruck nicht vom Autor selbst ausgewählt werden, bedingt ihr Auftreten Effekte, die nicht vom intendierten Spiel des Sagens (expliziter Text), Verschweigens (Leerstellen) und Sich-selbstWidersprechens (Negationen) gedeckt ist. Weiter oben weise ich mit Christian Kiening bereits auf einige sinnstiftende Instanzen der Melusine hin. Systematisch untersucht wird das konkurrierende Nebeneinander von Erzähler- und Figurenperspektiven, Holzschnitten und den dazugehörigen, aber oftmals abweichenden Bildüberschriften in der Dissertation von Catherine Drittenbass. Anhand des Richel-Drucks von 1473/74 erweist sie ein Netz von Pro- und Analepsen, das jedoch einige zentrale Informationen ausspare,
276 Vgl. Iser: Akt des Lesens, S. 304. 277 Zur Perspektivierung des Prosaromans mit der Besprechung eines anderen Kapitels der nachfolgend erwähnten Hug Schappler-Redaktion vgl. S. 244–246 im Kap. 2.3.1.2. 278 Vgl. Iser: Akt des Lesens, S. 269. 279 Vgl. ebd., S. 310.
2.1 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur
177
als „Essenz der Erzähltechnik“ des Romans.280 Rückblenden werden beispielsweise nicht nur zur Wiederholung des bereits Erzählten genutzt, sondern das Erzählte wird dadurch nochmals anders perspektiviert dargeboten (vgl. S. 135 f.). Entscheidend ist aber, dass Drittenbass nicht nur ‚Leerstellen‘ und ‚Negationen‘ bei der Erzähler- und Figurenrede nachweist, sondern explizit das lektüresteuernde Potential von Paratexten in ihrer Analyse mit einbezieht. Wenn einer der Holzschnitte Reymund zeigt, wie er während Amrichs Sterndeutung auf jenes Feuer blickt, das im weiteren Erzählverlauf das fatale Wildschwein anlocken wird, so legt die Bilddimension einen Kurzschluss von Prophezeiung und einer aktiven Beförderung des kommenden Jagdunfalls nahe, den keine der haupttextuellen Dimensionen teilt (vgl. S. 270 f.). Reymunds Wiederentfachen des erloschenen Feuers wird für den Rezipienten so zur Antwort auf die Ankündigung, dass ein Übeltäter zu großem sozialen Aufstieg kommen werde, obwohl Reymund nach der Rede des Erzählers auf Amrichs schockierende Vorausdeutung mit Schweigen reagiert.281 Umgekehrt wird der Leser durch die Bildbeischriften im weiteren Fortgang bei Reymunds unlauterer Landnahme und im Hinblick auf den Hofstaat seiner zukünftigen Gemahlin „von den mysteriösen Umständen“ abgelenkt, indem alle zwiespältigen Einzelheiten auf dieser herausgehobenen Dimension ausgeblendet bleiben (S. 272). Diese tituli bringen also im Zusammenspiel mit dem Kapiteltext ‚Leerstellen‘ hervor, welche Ergänzungsprozesse auf Leserseite auslösen. Die gleiche Wirkung wird durch ‚Negationen‘ erreicht, wie bei Widersprüchen zwischen den Aussagen verschiedener Figuren (z. B. die Einschätzung von Geffroys Untaten, vgl. S. 126 f.) oder bei Widersprüchen zwischen Figuren- und Paratextebene; so bei der bereits erwähnten Einschätzung von Melusines Gefolge durch Reymund und dem bildbegleitenden titulus (vgl. S. 255). Welche ‚Bedeutung‘ der Leser dem Roman zuschreiben kann, hängt entscheidend von der Leerstellenverteilung ab, die durch historische Konkretationen (‚Gefüllt-‘ und ‚Bestimmtheitsstellen‘) von Redaktion zu Redaktion variiert wird.
2.1.4.2 ‚Intentionale‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ Neben den bewussten und beabsichtigten Eingriffen in die Sinnstruktur eines Textes stehen nicht-intendierte Bedeutungsvarianten. Bei der Vorstellung dieser
280 Drittenbass: Aspekte des Erzählens, S. 97; vgl. weiterhin zu den Pro- und Analepsen in der Melusine ebd., S. 73–101 und S. 139–160, sowie zum Status von Illustrationen und Bildbeischriften als Pro- und Analepsen ebd., S. 256–259. – Die folgenden Nachweisklammern im Fließtext beziehen sich auf diese Arbeit. 281 Vgl. zu dieser Szene auch Speth: Zufall erzählen, S. 342–346.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
dritten Gruppe geht es mir darum zu zeigen, dass auch Änderungen, deren Absicht nicht semantischer Natur ist, Konsequenzen für den Textsinn haben können. Für eine ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ sind auch diese Varianten zu berücksichtigen. In Betracht kommen Textverluste etwa durch Zeilensprünge oder mechanisch verderbte Vorlagen, Lesefehler oder Kürzungen aufgrund ökonomischer Erwägungen. Schließlich prägen auch diese Varianten die positive Endgültigkeit eines Überlieferungszeugen und liegen dem historischen Rezipienten bei der Lektüre vor. Da diesem der Vergleich mit älteren Redaktionen in der Regel unmöglich ist beziehungsweise dies einer herkömmlichen Rezeptionssituation widerspricht, kann er nicht wissen, dass ein Roman ursprünglich ein Wort, einen (Ab-)Satz oder ein Kapitel mehr enthalten hat, und es ist für die Bedeutung des gelesenen Textes gleichgültig, warum es weggelassen wurde. Dies steht in Widerstreit mit einer Interpretationstheorie, wie sie beispielsweise von Matias Martinez und Michael Scheffel vorgestellt wird. Sie bezweifeln, dass „Inkonsistenzen“, die „dem intentionalen Gebilde des literarischen Werkes nicht als funktionale Bestandteile zugerechnet werden können“, „textstrukturell interpretierbar“ seien.282 Auch Thomas Bein klammert sogenannte ‚Fehler‘, die auf Verständnisproblemen von Schreibern beruhen, bei seinen Interpretationen aus.283 Sowohl für Martinez und Scheffel als auch für Bein ist die Intention des Autors interpretationsleitend. Doch nur solange es um deren Rekonstruktion geht, ist nach Karl Stackmann die „Qualifizierung“ solcher Textstellen „als ‚Fehler‘ gerechtfertigt“.284 Andernfalls sieht er sie als „Indikatoren für die Beweglichkeit der Texte“ und ich ergänze: für die Beweglichkeit des Textsinns. Mit einem Bonmot Boris Tomasevskijs gesprochen ist es nicht wichtig, „wohin der Autor zielt, sondern wohin er fällt“.285 Textgeschichtliche Varianten sind Teil der ‚Dimensionalität‘ des frühneuhochdeutschen Prosaromans und unabhängig von ihrem Zustandekommen bei einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ zu
282 Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl. München 2005, hier: S. 106. 283 Vgl. Thomas Bein: Textvarianz, Editionspraxis, Interpretation. Überlegungen zur veränderten Mittelalterphilologie. In: Perspectives of Scholarly Editing. Perspektiven der Textedition. Hg. von Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet. Berlin 2002, S. 63–80, hier: S. 72 f. 284 Dieses und das nachfolgende Zitat: Karl Stackmann: Neue Philologie?. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 398–427, hier: S. 420. 285 Zit. nach Gunter Martens: Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie. In: Texte zur Theorie des Textes. Hg. von Stephan Kammer, Roger Lüdeke. Stuttgart [1989] 2005, S. 94–113, hier: S. 98.
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2.1 Der (früh)neuhochdeutsche Prosaroman als innovative Traditionsliteratur
berücksichtigen,286 da hierbei nicht die mutmaßliche Autorintention, sondern die Summe der historisch verbürgten Erscheinungszustände des Werkes relevant ist. In diesem Sinne können auch ‚Fehler‘ bedeutungstragend sein.287 Darüber hinaus läuft eine ‚intentionale Interpretation‘ immer Gefahr, mehr über den Interpreten auszusagen als über das untersuchte Werk. Dies rührt daher, dass „sprachliche Zeichen [...] im allgemeinen nach der Maßgabe“ ausgelegt werden, „daß die Verfasser sich dabei schon das gedacht haben mögen, was wir selbst uns gedacht hätten, wenn wir diese Zeichen in dieser Kombination und in diesem Kontext so verwendet hätten“.288 Dietrich Busse, von dem vorstehende Überlegung stammt, führt weiter aus, dass eine ‚intentionale Interpretation‘ immer dann Gefahr laufe, „nichts anderes als eine Spiegelung unseres eigenen Bedeutungswissens“ zu sein, wenn keine umfassenden Kenntnisse über die Zeichenbenutzer vorliegen. Dies ist bei den Beteiligten an der Überlieferung des Prosaromans die Regel, vor allem wenn man berücksichtigt, dass ein Buch das Produkt der Arbeit einer Vielzahl von Setzern, Rubrikatoren und Illustratoren und nicht etwa die Leistung des namentlich bekannten Druckers, Verlegers oder gar Autors ist. Es ist insofern z. B. leichter zu begründen, dass nicht-textspezifische Abbildungen – wie im Buch der Liebe – dem Leser eine Stimmung vermitteln können,289 als dass Sigmund Feyerabend genau dies bezweckt habe. Schließlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Zweitverwendung und die Wiederholung von bereits vorhandenen Holzschnitten ökonomisch sinnvoll ist und der Frankfurter Geschäftsmann deshalb auf sie zurückgreift. Einer zusätzlichen semantischen Intention seitens des Druckerverlegers bedarf es daher gar nicht.290
286 Vgl. zu den Begriffen ‚Dimensionalität‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ vor allem die Kap. 2.3.1 und 2.3.3 – Zum Eigengewicht des positiven Überlieferungsbefundes vgl. auch das Kap. Geschichtlichkeit, nicht Vermächtnis. Authentizität statt Autorisation bei Herbert Kraft: Editionsphilologie. 2., neubearb. und erw. Aufl. Mit Beitr. v. Diana Schilling und Gert Vonhoff. Frankfurt a. M. u. a. 2001, hier: S. 24–46. 287 So ist es konsequent, wenn Bumke: Vier Fassungen, S. 53, fordert, dass Varianten unabhängig von ihrer Entstehung editorisch erfasst werden sollten. 288 Dietrich Busse: Text – Sprache – Wissen. Perspektiven einer linguistischen Epistemologie als Beitrag zur Historischen Semantik. In: Scientia Poetica 10 (2006), S. 101–137, hier: S. 115; das folgende Zitat ebd., S. 116. 289 Vgl. Bock: Im Weinberg, S. 45. 290 Vgl. zum Problem der Intentionalität auch Steinmetz: Bearbeitungstypen, S. 47 f.; und zur Diskussion um die Theorie des ‚intentionalen Fehlschlusses‘ Lutz Danneberg, Hans-Harald Müller: Der ‚intentionale Fehlschluß‘ – ein Dogma? Systematischer Forschungsbericht zur Kontrover
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Manuel Braun verzeichnet drei Modi ökonomisierter Bildverwertung: die Mehrfachverwendung zur Darstellung wiederkehrender Szenen von großer Allgemeinheit, die textfremde Zweitverwendung und das Zusammensetzen von Illustrationen aus mehreren zersägten Holzstöcken.291 In Bezug auf die Wiederverwendung von Fortunatus-Holzstöcken bei Gülfferichs Melusine-Druck fällt ihm auf, dass gerade diejenigen Szenen des Romans mit dem größten Wiedererkennungswert unbebildert bleiben, da Gülfferichs „Fundus kein auch nur halbwegs geeignetes Material enthält“.292 Während hier damit „allzu schroffe Widersprüche zwischen Text und Bild“ vermieden werden, nehme Weigand Han weniger Rücksicht auf eine widerspruchsfreie Lektüre. Für das sechzehnte Jahrhundert führt Braun eine Liste „immer krassere[r] Beispiele dafür [an], dass Bilder entweder am Text vorbeigehen oder ihn sogar konterkarieren“.293 Allerdings zeige ich oben anhand der Verwendung von Illustrationen in Hans Ritter Pontus von 1557, dass sich der Einbau von Fortunatus- und Melusine-Schnitten – unabhängig von einer sinnstiftenden Intention des Druckerverlegers – auf den zweiten Blick oft als durchaus gelungen erweisen kann.294 Gedruckte Prosaromane – Prosaromane als ‚Buchtypen‘ – sind verglichen mit nur handschriftlich überlieferten Werken Massenprodukte, die von den Überlieferungsbeteiligten als Ware auf den literarischen Markt gebracht werden. Sie sind in ihrer überlieferten Form mitunter Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte jünger als die nur selten erhaltenen Autographen oder autornahen Redaktionen.295 Da es kaum rechtliche Restriktionen gibt, die einen Druckerverleger daran hindern könnten, mit den traditionellen Geschichten nach Gutdünken zu willfahren, bezeichnet John L. Flood die Romane als „‚open texts‘ which anyone might modify, adapt or recast at will“.296 Die Anzahl der benötigten Bögen, die Frage
se um eine intentionalistische Konzeption in den Textwissenschaften. Teil 1 und 2. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 14/1 und 2 (1983), S. 103–137 und S. 376–411. 291 Vgl. Manuel Braun: Verschwinden der Bilder, S. 383; vgl. dazu auch Koppitz: Studien zur Tradierung, S. 182. 292 Vgl. Manuel Braun: Verschwinden der Bilder, S. 391, das folgende Zitat ebd., S. 392. 293 Vgl. ebd., S. 386–389, das Zitat ebd., S. 386. 294 Vgl. S. 108–113 im Kap. 2.1.1.1. 295 Die Ausnahme ist Veit Warbecks Autograph seines Magelone-Romans (1527), das in der FB Gotha unter der Sign. Cod. Chart. B 437 verwahrt wird. – Zum Einfluss des Buchdrucks auf die Gattung als ‚Buchtyp‘ vgl. Schmitt: Deutsche Volksbücher, S. 126–135 und S. 267–271. 296 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 44; vgl. dazu auch ebd., S. 61–66. – Vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller: Formen literarischer Kommunikation im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. von Marina Münkler, Werner Röcke. München 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 21–53 und S. 622, hier: S. 37–44.
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
181
des Einsatzes von Korrektoren oder die Wiederverwendung textfremder Holzschnitte betreffen unmittelbar den Profit der Offizin,297 beeinflussen mittelbar aber auch das Produkt, also den Text, der wiederum zur Rezeptionsgrundlage des Lesers wird, und wirken sich damit auch auf die Interpretation des Werkes aus. Die an der Überlieferung beteiligten Personen greifen in die vorliegenden Texte ein und prägen damit das Erscheinungsbild des Prosaromans als ‚Buchtyp‘. Während einige bewusste Entscheidungen die Bedeutung der Werke nicht beeinflussen, variieren dagegen andere nicht-semantisch intendierte Eingriffe deren Sinnstruktur. Darüber hinaus lassen sich Beispiele aufzeigen, die belegen, dass Druckerverleger analog zu ‚intelligenten Schreibern‘ Änderungen der Sinnstruktur der vorliegenden Redaktionen beabsichtigen. Dabei fällt auf, dass das Füllen von Leerstellen nicht zu deren Verschwinden führt, sondern neue Unbestimmtheit hervorruft, die den Leser zu eigenen Konkretisationen anregt.
2.2 Text- und Paratextgeschichte nach der manuscript culture 2.2.1 Theorien zur Text- und Überlieferungsgeschichte Die Analyse von Dimensionen narrativer Sinnstiftung kann prinzipiell an jedem ‚Werk‘ und an allen seinen überlieferten historischen Ausformungen durchgeführt werden. Dies schließt überlieferungs- und textgeschichtliche Untersuchungen ebenso ein wie textgenetische. All diese Theoriekonzepte teilen die Konsequenz einer ‚Entauratisierung‘ von ‚Originalen‘, die in allen Zeitaltern der Retextualisierung aber ohnehin nur selten vorhanden sind. Wenn ich diese Theoreme für meine Arbeit aufgreife, geht es mir daher nicht um ihre zum Teil provokant zugespitzte, postmoderne Stoßrichtung. Denn auch ohne theoriebasierte Radikalisierung der Offenheit von Sinnproduktion lässt sich am überlieferten Material zeigen, dass es „die eine historisch korrekte Lesart“ eines vormodernen Textes nicht gegeben hat.298 Gelegen ist mir denn auch daran, ein Instrumentarium zu entwickeln, das auf den gegenwärtigen Überlieferungsbestand des (früh)neuhochdeutschen Prosaromans zugeschnitten ist. Daher konzentriere ich mich im Folgenden auf die Darstellung wichtiger Denkanstöße zu (editions)theoretischen Überlegungen zur Literatur im Überlieferungsprozess.
297 Zu Bildverwendungen, die von formalen Aspekten wie der Breite des zu druckenden Buches abhängen, vgl. Manuel Braun: Verschwinden der Bilder, S. 395. 298 Löser: Postmodernes Mittelalter?, S. 234 f.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
In diesem Prozess erfahren literarische Werke textgeschichtliche Wandlungen, Erneuerungen, Umbesetzungen. Sie existieren mit Martin Baisch gesprochen „in einem Kontinuum fortwährend wechselnder Kontexte“, die zu „je neuen Sinnaktualisierungen“ führen.299 Diese Aktualisierungen sind literargeschichtlich bedeutungsvoll und sollten daher nicht zugunsten einer Autorintention, die bei spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Traditionsliteratur immer nur wahrscheinlich zu machen ist, invisibilisiert werden. Dies würde den Reichtum eines literarhistorischen Zeitalters gegenüber dem faktischen Überlieferungsbefund verknappen. So stellt Baisch fest, dass [d]ie Überlieferung eines Textes nicht bedeutungsleer und intentionslos [ist], insofern als sich das Verhältnis der Überlieferung zu ihrem Text als hermeneutisches und pragmatisches bestimmen lässt. Der Text kann in der Überlieferung – verstanden als Rezeption oder Reproduktion – einfach übernommen werden, er kann überboten, korrigiert, erweitert oder ironisch gebrochen werden [...].300
Das Spektrum der Veränderungen umfasst (gesellschaftspolitische, konfessionelle, didaktische) Aktualisierungen, (orthographische, sprachliche, stilistische) Modernisierungen oder auch den (mitunter ins Enzyklopädische reichenden) Einschub von Exkursen. Mithin also intentionale Eingriffe, die Auswirkungen auf die Aussage des Werkes, seine Bedeutung, seinen Sinn haben können.301 Denselben Effekt, die Aussage eines Satzes, eines Kapitels oder gar des Werkganzen zu verändern, zeitigen aber auch nicht-intentionale Verderbnis oder Eingriffe, deren Intention anderen, beispielsweise ökonomischen Logiken entspringt.302 Indem ich einerseits Varianten auch dann in meine Analysen und Interpretationen einbeziehe, wenn sie nicht oder nicht-semantisch intendiert sind, sie aber andererseits nur dann berücksichtige, sobald sie Bedeutungsunterschiede generieren, positioniere ich mich zwischen den Methoden der Würzburger Forschergruppe für Prosa des deutschen Mittelalters (‚Würzburger Schule‘) und dem Ansatz der sogenannten new philology. Außerdem werde ich im Folgenden auf die ‚textual condition‘ Jerome J. McGanns eingehen.
299 Martin Baisch: Was ist ein Werk? Mittelalterliche Perspektiven. In: JbIG 34/2 (2002), S. 105– 125, hier: S. 116. – Vgl. auch das Kap. 2.1.2. 300 Baisch: Textkritik als Problem, S. 82. 301 Zum Begriff des ‚Sinns‘ respektive der ‚Sinnstiftung‘ vgl. das Kap. 2.3.2. 302 Zum Phänomen der ‚nicht-intentionalen positiven Endgültigkeit‘ vgl. das Kap. 2.1.4.
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
183
2.2.1.1 Joachim Bumkes ‚Parallelfassungen‘ und die ‚überlieferungsgerechte Edition‘ der Würzburger Schule Zunächst geht es jedoch um den „profilierteste[n] Ansatz“, „Überlieferungsvarianz in den Griff zu bekommen“, nämlich das Konzept ‚autornaher Parallelfassungen‘ von Joachim Bumke.303 Peter Strohschneider bespricht die Untersuchung und Edition der Vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘ als „wissenschaftliches Ereignis in der Mediävistik“,304 gerade auch wegen des Ansatzes, die Methoden klassischer Textkritik mit dem theoretischen Konzept der new philology zu vermitteln.305 Hierbei gelinge es Bumke nach Baisch, „die a priori wertende Begrifflichkeit traditioneller Textkritik“ zugunsten eines unbefangenen Umgangs mit textueller Varianz zu überwinden.306 Im theoretischen Teil seiner Arbeit geht es Bumke um ‚autornahe Parallelfassungen‘ der höfischen Epik im dreizehnten Jahrhundert.307 Unter ‚Autornähe‘ versteht er die frühe Ausprägung alternativer Werktexte, jedoch ohne dass diese ‚Fassungen‘ an die Vorstellung von einem Autor angebunden werden sollen (vgl. S. 45). Schließlich habe die Forschung weder plausibel machen können, dass diese Mehrfachfassungen (als ‚Autor-‘ oder ‚Entstehungsvarianten‘) auf einen einzigen Autor zurückzuführen seien, noch dass es sich um „nachträgliche Bearbeitungen des ursprünglichen Textes“ handele (ebd.). Im Gegensatz zur Variation einzelner Textstellen setzt Bumkes Begriff ‚paralleler Fassungen‘ voraus, „daß der gesamte Text, vom einzelnen Buchstaben bis zur Großgestaltung dem Prinzip der Variation ausgesetzt“ sei (S. 53), worin das mittelalterliche Phänomen des ‚unfesten Textes‘ zur Ausformung gelange (vgl. das Kap. auf S. 53–60). Die Unfestigkeit resultiere dabei aus ‚struktureller Offenheit‘ (S. 53 f. mit Heinzle und Kühnel), die eine Veränderlichkeit bedinge, die den mittelalterlichen Texten „von Anfang an“ inhärent sei (S. 54). Daher grenzt Bumke seinen ‚Fassungs‘-Begriff explizit von dem der bloßen ‚Bearbeitung‘ ab: Diese gebe sich „als sekundär“ zu erkennen, indem sie „eine andere Version desselben Textes“ voraussetze (S. 45 f.). ‚Fassungen‘ dagegen zeichneten sich auch ohne Autoranbindung durch
303 Bein: Überlieferungs-, Text-, Literaturgeschichte, S. 94. 304 Peter Strohschneider: Rez. zu: Die vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Hg. von Joachim Bumke. Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 8 [242]). In: ZfdA 127 (1998), S. 102–117, hier: S. 117. 305 Vgl. ebd., S. 113 f.; Jens Haustein: Rez. zu: Joachim Bumke: Die vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 8 [242]). In: ZfdPh 118 (1999), S. 442–445, hier: S. 444. 306 Baisch: Textkritik als Problem, S. 78. 307 Alle folgenden Seitenangaben im Fließtext beziehen sich auf Bumke: Vier Fassungen.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
„Merkmale der Originalität“ aus (S. 46). Wie Joachim Heinzle für die Dietrich-Epik konstatiert hat, so gilt nach Bumke auch hier, dass es „grundsätzlich soviele Originale“ gäbe, „wie es Fassungen gibt“, und dass „jeder Tradierende [...] ein potentieller Autor“ sei (S. 50). Damit reklamiert Bumke den ‚Werk‘-Begriff für die ‚Fassungen‘ anstelle eines nicht zu identifizierenden, ja nach dem Konzept des ‚unfesten Textes‘ nie vorhandenen Originals (vgl. S. 48 f.).308 Ambivalent wurde allerdings die von Bumke vorausgesetzte Prämisse aufgenommen, ‚Fassungen‘ könnten „eindeutig erkannt und definiert“ werden (S. 49), ja „[w]o keine eindeutige Definition möglich“ sei, „sollte man nicht von verschiedenen Fassungen sprechen“ (S. 50). Hält Thomas Bein die Plausibilisierung unterscheidbarer Fassungen „über interpretatorische Akte“ für möglich,309 weist Strohschneider Bumkes Prämisse als „‚szientistisches Selbstmißverständnis‘“ zurück.310 Der ‚Gestaltungswille‘, den Bumke einführt, um den Originalitätsanspruch vom Werk auf die Fassungen zu übertragen, sei eine intentionale Größe, die sich nicht vom Text ausgehend erheben lasse.311 Bumke versuche auf diese Weise, die Kontingenzen der Überlieferung auszuschalten, tradiere damit aber nur den „klassizistische[n] Begriff der ‚Originalität‘“.312 Versucht man allerdings gar nicht, die Kontingenzen, die sich mit dem Prozess der Überlieferung ergeben,313 auszuschalten, sondern akzeptiert sie als ein Faktum ‚positiver Endgültigkeit‘, so braucht man keinen Gestaltungswillen zu konstruieren, um ‚Fassungen‘ oder in meinem Fall ‚Redaktionen‘ zu differenzieren. Bumke weist solche ‚Redaktionen‘ als bloße ‚Bearbeitungen‘ allerdings zurück, wobei er
308 Bumke selbst geht das Forschungsdefizit hinsichtlich der Parallelfassungen (vgl. S. 43) auf dem Weg der Edition der Parallelfassungen der Nibelungenklage an. Die Mittel der klassischen Textkritik allein seien dafür jedoch unzureichend, da diese „Überlieferungsgeschichte nur als einen Prozeß der Textverschlechterung“ begreife (S. 49), was zur Verbannung der Varianz in den Apparat führe. Der Paralleldruck von jeweils nach dem Leithandschriftenprinzip gewonnen Hauptfassungen nötige dagegen die Interpreten, die Überlieferungsvielfalt wahrzunehmen (vgl. S. 85–87) und in eine – so meine Formulierung – ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ einzubeziehen. 309 Bein: Überlieferungs-, Text-, Literaturgeschichte, S. 96. 310 Strohschneider: Rez. Bumke, S. 116. – Er mutmaßt, es werde „zum Streit der Interpretationen“ über die korrekte Unterscheidung von Fassungen kommen; ein Streit, von dem ich allerdings nichts Negatives erwarte. Im Gegenteil würde er das Bewusstsein für Überlieferungsvarianz schärfen. 311 Vgl. ebd., S. 115. 312 Ebd., S. 115; vgl. dazu auch Baisch: Was ist ein Werk?, S. 122. 313 Vgl. Martin Stingelin: ‚Dämmerpunkte‘ der Überlieferung. Autor, Text und Kontingenz. In: MLN 117/3 (2002), S. 650–660. Vgl. dazu auch Flood: The Survival, Bd. 2, S. 277–285, der für die sogenannten ‚Volksbücher‘ darauf hinweist, dass oft die Entscheidungen eines einzigen Verlagshauses über die Überlieferung eines Werkes bestimmen können.
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
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jedoch zugibt, dass die von ihm angestrebten ‚Fassungen‘ in der Praxis mitunter nur schwer von ‚Bearbeitungen‘ zu unterscheiden seien (vgl. S. 46). Entsprechend seines eigenen Anliegens einer synchronen Ergänzung der bislang rein diachronen Literaturgeschichtsschreibung favorisiert Jens Haustein in seiner Rezension des Bumke’schen Konzepts nun aber gerade diese ‚Bearbeitungen‘ – und zwar ausgerechnet deshalb, weil sich auch in ihnen ein ‚Gestaltungswille‘ offenbare, der aufgrund der historischen Nachrangigkeit Aussagen über „unterschiedliche Manifestationen eines Textes in Zeit und Raum“ erlaube.314 Bei der Applikation einer auf den historischen Gegenstand ausgerichteten Texttheorie wie Bumkes ‚autornahe Parallelfassungen‘ auf andere ihrerseits historische Gegenstände ist grundsätzliche Vorsicht geboten und sind gegebenenfalls Modifikationen nötig. Ute von Bloh und Bernd Bastert weisen auch für die handschriftliche Überlieferung von Elisabeths von Nassau-Saarbrücken Herzog Herpin sowie ihres Loher und Maller auf ‚Fassungen‘ im Bumke’schen Sinne hin.315 Ob es sich deshalb schon „um eine Konstante des vormodernen Literaturbetriebs“ handelt,316 müsste auf breiter Basis untersucht werden. Beim frühneuhochdeutschen Prosaroman scheinen mir ‚autornahe Parallelfassungen‘ mit je eigenem ‚Gestaltungswillen‘ der Sonderfall zu sein. Typischer sind textgeschichtlich scheidbare ‚Redaktionen‘, wenn sich die Vielzahl mikroskopischer Varianten auch einer klassischen Stemmatologie entzieht317 und sich die klassische Textkritik einer Auseinandersetzung mit der spät überlieferten Varianz verweigert.318 Interessiert man sich angesichts ihres Status als wiedererzählende Traditionsliteratur aber weniger für die Rekonstruktion verlorener Prosaroman-Originale, sondern für ihre Tradierung im Prozess der Überlieferung und sieht man weiterhin das einzelne Werk als existent allein in dieser Überlieferung an,319 dann
314 Haustein: Rez. Bumke, S. 443. 315 Vgl. Ute von Bloh: Einleitung. In: Loher und Maller. Kritische Edition eines spätmittelalterlichen Prosaepos. Unter Mitarb. v. Silke Winst. Hg. von Ute von Bloh. Berlin 2013 (TMA 50), S. IX– XXVI, hier: S. XVII–XIX; Bernd Bastert: Einleitung. In: Herzog Herpin. Kritische Edition eines spätmittelalterlichen Prosaepos. Unter Mitarb. v. Bianca Häberlein, Lina Herz, Rabea Kohnen. Hg. von Bernd Bastert. Berlin 2014 (TMA 51), S. IX–XXVII, hier: S. XVIIIf. 316 Bernd Bastert: Rez. zu: Ute von Bloh: Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ‚Herzog Herpin‘, ‚Loher und Maller‘, ‚Huge Scheppel‘, ‚Königin Sibille‘. Tübingen 2002 (MTU 119). In: ZfdPh 127/3 (2008), S. 474–477, hier: S. 474. 317 Vgl. Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, dazu vor allem S. 34 f., vgl. aber auch seine Hinweise für künftige Prosaroman-Editionen, S. 39–41. 318 Vgl. Flood: Einleitung, S. 65, zur späten Überlieferung der Volksbuchfassung des Herzog Ernst. 319 Kuhn: Mittelalterliche Kunst, S. 33.
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ist den späten Textzeugen ihre auch interpretatorische Relevanz nicht länger abzusprechen. – Nicht in dem Verständnis freilich, dass sie den Sinn eines Originals allererst entfalteten: Jede Redaktion eines Werkes stiftet einen (partiell) eigenen Sinn, ist Produkt ihrer Zeit und Rezeptionsgrundlage innerhalb derselben. Gegen Bumkes Modell verbindet mich mit dem Ansatz der Würzburger Schule zum einen der Bezug auf positiv vorliegende Textzeugen anstelle von nur erschlossenen Textstufen (‚Fassungen‘),320 die Bumke zwar in der Nähe von Handschriftengruppen, aber doch von ihnen unterschieden ansieht (vgl. S. 49 f.). Zum anderen konzentrieren sich auch die Würzburger der Überlieferungslage ihrer Untersuchungsgegenstände angepasst auf ‚Redaktionen‘, die zeitlich und räumlich zum Teil erhebliche Autorferne aufweisen. Am Beispiel der Elsässischen Legenda aurea, des Vocabularius ex quo und der Rechtssumme Bruder Bertholds,321 also ausschließlich an Gebrauchstexten, untersuchen sie die „Eigenbewegung von Texten“, „die geschichtliche Konsistenz“ schaffe.322 Ihr Programm, das ausgehend vom „Wie der Weitergabe eines Textes durch Schreiber, Redaktoren und Drucker“323 Literaturgeschichte neu zu schreiben versucht, steht in direktem Zusammenhang mit Jens Hausteins bereits erwähnter ‚synchroner Literaturgeschichte‘ und meinem Vorhaben einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘. Hauptanliegen der Würzburger Schule ist die Erstellung ‚überlieferungsgerechter Editionen‘, welche „die historische Lebendigkeit der Texte, wie sie Handschriften bewahren“, dokumentieren.324 Seine Entsprechung findet dieses
320 Kurt Ruh: Votum für eine überlieferungskritische Editionspraxis. In: Kleine Schriften. Bd. 2: Scholastik und Mystik im Spätmittelalter. Hg. von Volker Mertens. Berlin, New York [1978] 1984, S. 250–254, schlägt vor, in Editionen die „wirkungsvollste Textgestalt (‚Vulgata-Fassung‘)“ als Leithandschrift „in ihrer möglichst ungeschmälerten individuellen Gestalt“ zugrunde zu legen (vgl. S. 252). 321 Zum Untersuchungskorpus vgl. Klaus Grubmüller u. a.: Spätmittelalterliche Prosaforschung. DFG-Forschergr.-Programm am Seminar für deutsche Philologie der Universität Würzburg. In: JbIG 5/1 (1973), S. 156–176, hier: S. 163–170. 322 Kurt Ruh: Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beitr. der Würzburger Forschergr. zur Methode und Auswertung. Hg. von Kurt Ruh. Tübingen 1985 (Text und Textgeschichte 19), S. 262–272, hier: S. 262 und S. 270. 323 Georg Steer: Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hg. von Kurt Ruh. Tübingen 1985 (Text und Textgeschichte 19), S. 5–36, hier: S. 7 f. – Vgl. für das nachfolgend beschriebene Vorgehen auch ebd., S. 24–33. 324 Steer: Überlieferungsgerechte Edition, S. 65, vgl. auch S. 56 und S. 61. – Hans-Gert Roloff: Zur Relevanz von Varianten und Lesarten. In: Probleme der Edition von Texten der Frühen
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Vorhaben im „neue[n] Typus der Edition“, wie ihn Hans Zeller vorstellt.325 Dafür gruppiert die Würzburger Schule Zeugen der ausgewählten Korpora nach inhaltlichen Redaktionen, beschreibt sie und gibt sie mit Lesarten-Apparaten versehen heraus. Kurt Ruh stellt mit seiner Explikation der Editionsziele klar, dass es dabei „keine ‚guten‘ und ‚schlechten‘ [...] Textzeugen“ gebe und dass „bewußt vorgenommene Textveränderungen wie Kürzung, Ergänzung, Wortersatz“ ernst genommen werden sollten, um einen „’historische[n]‘, d. h. nachweisbar gelesene[n]
Neuzeit. Beitr. zur Arbeitstagung der Kommission für die Edition v. Texten der Frühen Neuzeit. Hg. von Lothar Mundt, Hans-Gert Roloff, Ulrich Seelbach. Tübingen 1992 (Beihefte zu editio 3), S. 2–14, befasst sich eingehend mit der Problematik, frühneuzeitliche Texte zu edieren. Aufgrund der spezifischen Distributionsbedingungen, unter denen Handschriften gedruckt, diese Drucke zum Teil deutlich später neu gesetzt und dabei unter Umständen mehrfach Mundartgrenzen überschritten werden (vgl. S. 3), kommen auf fünf überlieferte Autor- 95 Überlieferungsvarianten (vgl. S. 2 f.). Das vollständige Verzeichnen der letzten führe zu bloßen ‚Variantenhalden‘ (vgl. S. 9 und öfter), während für Textkonstitution und Apparat allein die autorisierten Varianten zu Lebzeiten des Autors von Belang seien (vgl. S. 4). Ergänzend schlägt er „eine systematische oder pauschale Darstellung“ der Überlieferungsgeschichte eines Werkes „mindestens bis an seine erste wissenschaftliche Edition“ vor (S. 13), und zwar unter besonderer Berücksichtigung semantischer Varianten (vgl. S. 14). Dies klingt durchaus nach einer Editionsgrundlage, die für ‚überlieferungsgerechtes Interpretieren‘ geeignet sein könnte, zumal Roloff erkennt, dass bereits die erhaltenen Erstdrucke von den Tradierenden variiert sein dürften (vgl. S. 4), was ihm jedoch ein merkliches Unbehagen bereitet (vgl. S. 11). Jedoch müsste man voraussetzen, dass Roloffs Konzept den paratextuellen Bereich berücksichtigt. Dass hier jedoch Zweifel angebracht sind, wird bereits dadurch deutlich, dass paratextuelle Varianz, die für das Gros der Bedeutungsverschiebungen in meinem Untersuchungskorpus verantwortlich ist, von Roloff bei der Differenzierung der anfallenden Überlieferungsvarianz gänzlich unerwähnt bleibt (vgl. S. 3). Lediglich sein Hinweis, dass „mögliche makrostrukturelle Veränderungen“ in einer Edition für die Interessen der Literarhistoriker dokumentiert werden sollten (S. 10), deutet in diese Richtung. Insofern muss ich hier Stephen G. Nichols beipflichten, der allerdings in Bezug auf die Edition hochmittelalterlicher Handschriften davon spricht, dass der materiale Textträger für Editoren oftmals „an irritating obstacle to the recovery of a satisfactory text“ darstelle (Stephen G. Nichols: Philology and its Discontents. In: The Future of the Middle Ages. Medieval Literature in the 1990s. Hg. von William D. Paden. Gainesville u. a. 1994, S. 113–141, hier: S. 117), während Handschriften – und ich ergänze: auch Drucke aller Zeiten – „the product of a collaborative effort in its own time“ sind (ebd.). Der ‚poetic text‘ (McGann: Textual Condition, spricht von ‚linguistic text‘) sei nur „one of several discourses within the manuscript“, die er als „networks of meaning production“ ansieht (Nichols: Philology and its Discontents, S. 117), an der vor allem ‚iconic elements‘ beteiligt seien, zu denen Nichols neben Federzeichnungen auch Initialen, Rubrizierungen und sogar die Schrift selbst zählt (vgl. S. 131). 325 Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hg. von Gunter Martens, Hans Zeller. München 1971, S. 45–89, hier: S. 88.
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Text“ herzustellen.326 In den Fokus rücken damit weder der Autor noch der Leser, sondern der textus receptus als historische Rezeptionsgrundlage.327 Dabei stehen die „causae der Textredigierung“ der einzelnen Redaktionen in „inhaltlicher, struktureller, lexikalischer, stilistischer und gebrauchsfunktionaler Hinsicht“ im Mittelpunkt.328 Wie bereits Ruhs Formulierung von „bewußt vorgenommene[n] Textveränderungen“ (meine Hervorhebung) nahelegt, machen Georg Steers „causae“ offenbar, dass die Würzburger Schule wie Bumke mit einem intentionalen ‚Gestaltungswillen‘ operiert und dass sie von der Prämisse ausgeht, „die Intentionen des Autors, der Redaktoren, der Schreiber und Drucker“ gestalteten „den Text“.329 Das ‚Autorprinzip‘ wird dadurch aber, wie Volker Mertens kommentiert,
326 Ruh: Überlieferungskritische Edition, S. 251 f. – Löser: Postmoderne Theorie, S. 288–290, nennt 20 Grundsätze „überlieferungskritischen Edierens“. In der Forschung werden sorglose editorische Änderungen an typographischen Hervorhebungen oder der makrostrukturellen Textgliederung kritisiert (vgl. Plachta: Editionswissenschaft, S. 21; Simmler: Syntaktische Strukturen, S. 146 und S. 158, sowie Simmler: Textsorte Prosaroman, S. 96 und S. 103). Aufgrund derartiger Ungenauigkeiten ist es daher je nach Forschungsinteresse trotz des Vorhandenseins einer Edition nötig, auf die historischen Textzeugen selbst zurückzugreifen (vgl. Ingrid Bennewitz: Alte ‚Neue‘ Philologie? Zur Tradition eines Diskurses. In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hg. von Helmut Tervooren, Horst Wenzel. Berlin u. a. 1997 [ZfdPh 116, Sonderheft], S. 46–61, hier: S. 59; Ader: Abkehr von der Tradition, S. 445/Anm. 37). 327 Wobei auch die auf die verschiedenen Stadien des Schreibprozesses eines Autors zielende ‚Textgenetik‘ gewissermaßen „Literatur in statu nascendi“ vorführt (Almuth Grésillon: Was ist Textgenetik?. In: Schreiben. Prozesse, Prozeduren und Produkte. Hg. von Jürgen Baumann, Rüdiger Weingarten. Opladen 1995, S. 288–319, hier: S. 290). Sie hinterfragt ebenfalls die vermeintliche Gültigkeit eines autoritativ gesetzten Textes zugunsten einer pluralen Sicht, die den historischen Gegebenheiten gerechter werde, schränkt dabei aber die hypothetisch ins Unendliche spielende Mannigfaltigkeit des Textes empirisch auf die tatsächlich überlieferten Varianten ein (vgl. ebd., S. 310). So zielen textgenetische Editionen auch nicht auf „den ‚Akt des Schreibens‘“, sondern auf „die Rekonstruktion der Zustände, die das Ergebnis der Handlung, das Schreibprodukt, in verschiedenen historischen Momenten eingenommen hat“ (Rüdiger NuttKofoth: Textgenese. Überlegungen zu Funktion und Perspektive eines editorischen Aufgabengebiets. In: JbIG 37/1 [2005], S. 97–122, hier: S. 117). Da alle Produkte Text desselben Werkes sind und dieses zu je unterschiedlichen Zeitpunkten repräsentieren (vgl. Siegfried Scheibe: Variantendarstellung von Prosawerken bei komplizierter Arbeitsweise und Überlieferung. In: Textgenetische Edition. Hg. von Gunter Martens, Hans Zeller. Tübingen 1998 [Beihefte zu editio 10], S. 287– 293, hier: S. 287 f.), werden sie in der textgenetischen Edition gemeinsam herausgegeben. Dadurch wird erreicht, dass ein Werk ‚statisch‘ im Zustand seiner jeweiligen positiven Endgültigkeit, als auch ‚dynamisch‘ in der Zusammenschau seiner Veränderlichkeit dargestellt wird (vgl. NuttKofoth: Textgenese, S. 117, und den Abschnitt Edition als Abbildung der Textdynamik bei Martens: Variierende Textstufen, S. 171–175). 328 Steer: Gebrauchsfunktionale Analyse, S. 29. 329 Ebd., S. 15.
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nur zeitlich auf die Arbeit der Überlieferungsbeteiligten verschoben.330 Das Festhalten an der Intentionalität führt denn aber auch dazu, dass wie bei Bumke dem Zufall als text- und überlieferungsgeschichtlicher Größe gegen den faktischen Überlieferungsbefund nicht Rechnung getragen werden kann. Es gibt somit eben doch ‚schlechte‘ Zeugen, wenn sich „‚schlecht‘“ auch „nur noch auf mechanische Verderbnisse [...] beziehen [kann]“.331 Im Gegensatz dazu beschränkt Zeller den ‚Fehler‘-Begriff darauf, dass eine Formulierung keinen Sinn ergebe.332 In der Regel dürfte das Ausblenden solcher Defekte keine allzu große Relevanz für das gewonnene Überlieferungsbild zeitigen. Zum einen muss materiale Verderbnis keinen neuen Sinn stiften, sie kann zu regelrechter Bedeutungslosigkeit führen, dann hat ihre Geringschätzung keinen Einfluss auf die ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ eines Werkes. Zum anderen wird man beispielsweise bei Mäusefraß auf Exemplarebene auf eine Interpretation gerade dieses einen Zeugen verzichten können, wenn er mit anderen eine gemeinsame Redaktion bildet. Ein Zeilensprung bei der Drucklegung ist dagegen im Hinblick auf die Wirkmächtigkeit eines Textes von bedeutungstragender Relevanz und sollte trotz offenkundig fehlender Intentionalität nicht einfach ausgeblendet werden. Trotz der markierten Unterschiede betone ich, dass mein Projekt zahlreiche Anleihen an der Würzburger Schule nimmt – von der Würdigung später ‚Redaktionen‘ über die prominente Rolle der Tradierenden333 bis hin zur Verbindung von Handschriften- und Frühdruckforschung. Auch wenn sich die Würzburger nicht mit fiktionalen Narrationen beschäftigen, dürfte es das Projekt kaum überbewerten, wenn man sagt, dass gerade mit ihrem Ansatz die Varianz spätmittelalterlicher Textualität im Editionswesen angekommen sei.334 Während zuvor fast ein Jahrhundert lang die Ansicht vorherrscht, dass Varianz, die vom ursprünglichen Entstehungszusammenhang wegführt, „keinen urkundlichen Werth“ hätte. So verzichtet beispielsweise Karl Bartsch in seiner Edition verschiedener ErnstFassungen darauf, die Varianten der späteren HE F-Drucke von Anton Sorg und Heinrich Knoblochtzer zu verzeichnen.335 Doch auch wenn sich im Editionswesen mit den Würzburgern ein größeres Verständnis für die Bedeutung von Varianz
330 Vgl. Volker Mertens: Strukturen – Texte – Textgeschichte. Zum wissenschaftlichen Werk von Kurt Ruh. In: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Coll. 1997. Hg. von Eckart Conrad Lutz. Freiburg i.d.Schw. 1998 (Scrinium Friburgense 11), S. 49–62, hier: S. 54 f. 331 Ruh: Überlieferungskritische Edition, S. 252. 332 Hans Zeller: Befund und Deutung, S. 61–73, vor allem S. 70. 333 Vgl. meinen Ansatz, Druckerverleger als ‚intelligente Schreiber‘ aufzufassen (Kap. 2.1.3). 334 Vgl. Bein: Mittelalterphilologie, S. 64. 335 Karl Bartsch: Herzog Ernst. Wien 1869, hier: S. LXXV.
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verbreitet hat, so stellt sie Literaturgeschichte und Interpretation immer noch vor große Herausforderungen.336 Wie die Würzburger Schule auf Hugo Kuhns Formel der ‚Texte im Gebrauch‘ rekurriert,337 so versucht Peter Strohschneider dem Phänomen, dass (hoch-)mittelalterliche Texte „zugleich flexibel und stabil“ sind, gerecht zu werden, indem er „die Situativität auch des tendenziell situationsabstrakten Schrifttextes“ ins Auge fasst.338 Als ‚Wiedergebrauchsrede‘ werden die Texte aktualisierend auf die historisch konkrete Gebrauchssituation zugeschnitten. Dazu trete aber die von ihm als ‚Formiertheit‘ bezeichnete Konstanz, in der Strohschneider die Grundvoraussetzung für die „Wiederholbarkeit unter gewandelten Bedingungen“ ansieht.339 Seine „Auffassung von Text als wiederaufgenommener, kommunikativer Handlung“, so in der Formulierung von Martin Baisch, beschneidet die (spätere) Überlieferung eines Werkes nicht als ‚sekundär‘, wo es Karl Lachmann allein um die Rekonstruktion einer Autor- und Bumke um die Rekonstruktion einer Fassungsintention geht, sondern macht die „Möglichkeit neuer Ausgestaltungen seiner Sinndimensionen in gewandelten historischen Situationen“ sichtbar.340
2.2.1.2 Jerome J. McGanns ‚texual condition‘ und Gérard Genettes ‚Paratext‘Konzept Zwischen den Autoren der Würzburger Schule und jenen der new philology verorte ich meinen eigenen Ansatz gemeinsam mit der Texttheorie Jerome J. McGanns. Der Forschungsschwerpunkt des amerikanischen Anglisten liegt auf der Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, wobei er lyrische Werke bevorzugt, deren Autoren auch ein semantisches Verständnis von Typographie ausweist: z. B. Ezra Pound mit The Cantos oder William Blake mit Jerusalem. Seine Texttheorie setzt sich vor allem aus zwei Komponenten zusammen. Besondere Bedeutung misst McGann soziohistorischen Kontexten bei der Werkentstehung
336 Allerdings kann auch schon innerhalb der frühen Germanistik um 1900 ein Bewusstsein für die Geschichtlichkeit der Literatur, ihre ‚Fassungen‘ und ‚Redaktionen‘ nachgewiesen werden (vgl. die Verteidigung des Schreibers bei Löser: Postmodernes Mittelalter?, S. 230–234, das Zitat S. 234). – Als Beispiel der Zeit kann die Melusinen-Deutung von Karl Biltz: Zur deutschen Bearbeitung der Melusinensage. In: Festschrift zum siebzigsten Geburtstage Rudolf Hildebrands in Aufsätzen zur deutschen Sprache und Litteratur sowie zum deutschen Unterrichte. Hg. von Otto Lyon. Leipzig 1894 (Ergänzungsheft der Zeitschrift für den deutschen Unterricht 8/3), S. 1–15, gelten, der er acht verschiedene historische Druckausgaben zugrundelegt (vgl. S. 9 f.). 337 Vgl. Steer: Gebrauchsfunktionale Analyse, S. 35. 338 Strohschneider: Situationen des Textes, das erste Zitat S. 85, das zweite S. 71. 339 Ebd., S. 85. 340 Baisch: Textkritik als Problem, S. 77.
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und -distribution bei, was allerdings über meine eigene Fragestellung hinausweist.341 Sie gelten ihm als „an essential part of the ‚text itself‘“. Daneben zeichnet es McGanns Ansatz aus, dass für ihn neben den „linguistic elements“ eines Textes auch „paratexts, bibliographical codes, and all visual features“ bedeutungsrelevant sind.342 Unter der vorliegenden Perspektive ist darüber hinaus von Belang, dass er dabei buchkundlich-überlieferungsgeschichtliche Forschung und hermeneutisch-literaturwissenschaftliche Interpretation miteinander verbindet.343 McGanns in meinem Zusammenhang wichtigste Schrift, The Textual Condition, erscheint 1991.344 Hier entfaltet er „the law of change“ (S. 9) als die einzige unverbrüchliche Gesetzmäßigkeit der ‚textual condition‘. Nach ihr werde ein Text mit seinem Eintritt in die Welt einem „ceaseless process of textual development and mutation“ (ebd.) ausgesetzt. Material fassbares Ergebnis der ‚textual condition‘ sind die ‚positiven Endgültigkeiten‘ der Textzeugen in ihrer Mannigfaltigkeit und Varianz, nach McGanns Verständnis das ‚Werk‘ (vgl. S. 31). Dieses besteht damit aus allen überlieferten Texten, die sich im Genette’schen Sinne dem Autor und seinen Verbündeten,345 aber darüber hinaus auch den Nicht-Verbündeten der unautorisierten oder späten Überlieferung zuordnen lassen. Durch diese wird
341 Ob man ihn wie Stephan Kammer, Roger Lüdeke: Einleitung. Jerome J. McGann: ‚Texte und Textualitäten‘. In: Texte zur Theorie des Textes. Hg. von Stephan Kammer, Roger Lüdeke. Stuttgart 2005, S. 132–134, hier: S. 132, deshalb einer social theory of editing zuordnen sollte, lasse ich offen, wobei McGann selbst einer solchen Zuschreibung kritisch gegenübersteht (vgl. McGann: Textual Condition, S. 60, vgl. dazu auch ebd., S. 69–87). – Zur Einordnung McGanns in den new historicism, aber vor allem zu seiner Oppositionshaltung gegenüber dem new criticism vgl. Michael Fischer: The New Criticism in the New Historicism: The Recent Work of Jerome J. McGann. In: The New Criticism and Contemporary Literary Theory. Connections and Continuities. Hg. von Michael Fischer, William J. Spurlin. London, New York 1995 (Wellesley Studies in Critical Theory, Literary History, and Culture 9), S. 321–332. 342 Jerome J. McGann: Introduction. Beginning Again: Humanities and Digital Culture, 1993– 2000. In: radiant textuality. literature after the world wide web. Basingstoke, New York 2001, S. 1– 19 und S. 249–250, hier: S. 11 f. – Damit arbeitet McGann mit Kriterien, die Nichols exklusiv für die ‚manuscript culture‘ reklamiert: „[I]n a manuscript culture [...] all forms of production affect the texts we read“ (Nichols: Philology and its Discontents, S. 130; die Abgrenzung von McGann, ebd., S. 127). Dabei lassen sich die von Nichols aufgelisteten Phänomene durchaus mit McGanns ‚bibliographical code‘ zusammendenken: „Internal additions interpolated in the text, formal elements for ordering the text on the manuscript page such as rubrication, historiated or decorated initials, illuminated miniatures, base de page paintings, marginal decoration, and, finally, glosses of various sorts are all supplementation“ (ebd., S. 120). 343 Vgl. dazu die Besprechung seines Ansatzes bei Kammer/Lüdeke: Einleitung McGann, S. 133. 344 Alle folgenden Seitenzahlen im Fließtext beziehen sich auf die Ausgabe McGann: Textual Condition; eine deutsche Übersetzung des ersten Teils geben Stephan Kammer, Roger Lüdeke (Hgg.): Texte zur Theorie des Textes. Stuttgart 2005, S. 135–153, heraus. 345 Vgl. zu dieser Formulierung Genette: Paratexte, S. 10.
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somit nicht etwa ein ursprüngliches ‚Werk‘ verfälscht, sondern die Ausformung eines ‚Werkes‘ bleibt unabhängig von einem Autor historisch variabel. Dieses ‚Werk‘-Verständnis verbindet McGann mit Hugo Kuhn und der Würzburger Schule,346 was angesichts seines deutlich moderneren Untersuchungskorpus überraschen mag, was aber durchaus als weiteres Indiz zu verstehen ist, Phänomene wie ‚Varianz‘, ‚Redaktionalität‘ aber auch ‚Wiedererzählen‘ im erweiterten Sinn347 nicht auf mittelalterliche Textualität zu beschränken. Wenn Paul Needham für die Inkunabelzeit zwischen „production (printing-shop) and postproduction features of books“ unterscheidet,348 meint dies, dass auch nach der Fertigstellung eines Druckerzeugnisses die Wandlungsfähigkeit desselben nicht stillgestellt ist. Bücher werden individuell beschnitten, koloriert, ge- und verbunden. Das ‚law of change‘ ist also auch auf das einzelne Exemplar einer Druckausgabe anwendbar, das dadurch von einem Massenprodukt zu einem individuell ausgeprägten Textzeugen mit eigener Geschichte wird.349 Im Zusammenhang mit seiner Beschreibung der ‚textual condition‘ weist McGann Genettes Text/Paratext-Unterscheidung als „not strong enough“ für eine „deeper investigation into the nature of textuality“ zurück (S. 13). Dafür verkürzt er allerdings Genettes Konzept erheblich, das sich schwerlich auf „things like prefaces, dedications, notebooks, advertisements, footnotes, and so forth“ (ebd.) reduzieren lässt. Mitnichten beschränkt sich der ‚Paratext‘-Begriff auf Texte. Man denke nur an die verschiedenen ‚Epitexte‘ außerhalb eines Buches; aber auch die mittelalterliche Praxis des Abschreibens sowie jede mündliche Realisierung eines Textes wirken sich für Genette ‚paratextuell‘ aus.350 Und mehr noch: ‚bildliche‘, ‚materielle‘ und ‚faktische‘ Erscheinungsformen, ja die jeweiligen Kontexte, sind nicht nur allesamt Schlüsselbegriffe für McGann, sondern haben innerhalb von Genettes Theorie „paratextuellen Wert“.351 So stellen Klaus Kreimeier und Georg Stanitzek ausgehend von Genettes Argumenten fest, dass „keines der Elemente eines Werks oder Buchs von paratextuellen Qualitäten
346 Vgl. die Darstellung von Kurt Ruhs dynamischem Textverständnis mit Hinweis auf dessen Aufnahme bei Joachim Bumke bei Mertens: Textgeschichte, S. 59–62. – Kritisch äußert sich Baisch: Was ist ein Werk? zu einem derartigen Textbegriff (vgl. S. 109 und S. 123). 347 Vgl. dazu das Kap. 2.1.2. 348 Needham: Printing Shop, S. 20; vgl. auch ebd., S. 9. 349 Vgl. Milde: De captu lectoris, S. 8 f. 350 Vgl. Genette: Paratexte, S. 11; zum ‚Epitext‘ ebd., S. 328–384. 351 Ebd., S. 14 f., das Zitat S. 14. – Es ist Genette durchaus bewusst, dass er im Untersuchungsteil den „riesigen Kontinent“ der Illustration ausgelassen hat, was nicht heißt, dass er im theoretischen Modell ausgespart wird (S. 387). Sogar William Blake als einer von McGanns wichtigsten Referenzautoren wird hier von Genette erwähnt.
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unberührt“ bleibe.352 McGanns ‚Genette‘ ist dagegen ein Phantom eines bloß additiven Verständnisses von ‚Paratext‘, den es so gar nicht gibt. Das ändert jedoch nichts am Näheverhältnis der beiden Denkansätze und nichts an der Relevanz von McGanns Überlegungen, die das literarische Werk als „network of linguistic and bibliographical codes“ ansetzen, wobei auch „the body of the text“, also Genettes ‚Text‘, „not exclusively linguistic“ sei (S. 13). Das Begriffspaar ‚linguistic‘ und ‚bibliographical code‘ (vgl. auch S. 77) ist dabei recht genau mit ‚Paratextualität‘ zusammenzusehen.353 Der Autor verantworte federführend „the linguistic text“, die Hauptverantwortung für „the bibliographical text“ trage dagegen „the publishing institution“ (S. 66 f.). Dies impliziert aber, dass die jeweils andere Instanz auch für die restlichen Textteile mitverantwortlich ist. In der Regel – McGanns Untersuchungsgegenstände stellen allerdings häufig Ausnahmen dar – kontrolliert der Autor all jene „textual dimensions of a work“ nicht, die am deutlichsten im (verlegerischen) Paratext zutage treten (vgl. S. 58), sich als ‚bibliographical code‘ aber auch über das ganze Werk und somit auch auf den ‚(Haupt-)Text‘ erstrecken. Denkt man wie McGann insbesondere an Lyrik, so spielen das Absetzen von Strophen, der Ausgleich der Interpunktion, die Verteilung von Weißraum, also das ganze Layout (vgl. z. B. S. 113–115), eine wichtige Rolle. Vor allem – aber nicht nur – bei mittelalterlicher Lyrik ist auch an die Anordnung und Anzahl der Verse und Strophen zu denken.354 Übertragen auf narrative Großformen wie den frühneuhochdeutschen Prosaroman ist dagegen auf die Einteilung des Haupttextes in eine unterschiedlich große Anzahl von Kapiteln, die Verwendung von tituli oder den Einsatz unterschiedlicher Auszeichnungsschriften hinzuweisen. Aber auch „in the area of linguistics“ gibt der Autor nur „a text’s initial signifiers“ vor. Sobald er seinen Textträger aus der Hand gibt, können „[o]ther authorities“ Änderungen auch des ‚linguistic code‘ vornehmen (S. 57). So kommt es, dass die Autorintention „into complicated relations with the productive activities of other persons“ gerät (S. 97).355 Das ist auch Genette bewusst, der für seinen Ansatz aber vom Habitus des Paratextes ausgeht, der
352 Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek: Vorwort. In: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Unter Mitarb. v. Natalie Binczek. Hg. von Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek. Berlin 2004 (LiteraturForschung), S. VII–VIII, hier: S. VII. 353 Vgl. dazu Michael Ralf Ott: Erfindung des Paratextes, der sich sowohl mit McGann (vgl. S. 6/ Anm. 20) als auch mit Genette auseinandersetzt (vgl. S. 24) und in letzter Konsequenz die Untersuchung von ‚Soziotextualität‘ (vgl. ebd.) fordert. 354 Vgl. zum Phänomen der ‚mouvance‘ ausgehend von Paul Zumthor Thomas Cramer: Mouvance. In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hg. von Helmut Tervooren, Horst Wenzel. Berlin u. a. 1997 (ZfdPh 116, Sonderheft), S. 150–181. 355 Daher lehnt McGann auch eine allzu hohe Bewertung von Autorintentionen als Grundlage für Editionsentscheidungen ab (vgl. das Kap. What Is Critical Editing? bei McGann: Textual
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vorgebe „daß der Autor ‚besser weiß‘, was von seinem Werk zu halten“ sei.356 Es ist nicht eigentlich Genette, der die Laudatio der Autorintention anstimmt, sondern es handelt sich um die Stimme der von ihm untersuchten Objekte. Trotzdem macht Genettes ‚funktionelles‘ Verständnis, das eigentlich als Aufwertung des Paratextes zu verstehen ist, der nicht länger museal nach Textsorten gesondert archiviert, sondern für die Interpretation des jeweiligen Textes ernst genommen werden soll, den Paratext zu einem „zutiefst heteronomen Hilfsdiskurs“ „im Dienst [...] des Textes“.357 In Übereinstimmung mit McGann (vgl. S. 13) sehe ich diese kategorische Unterordnung des Paratextes unter den Haupttext kritisch. Die von mir untersuchten Paratexte treten nicht nur mit zum Teil erheblichem Selbstbewusstsein auf: Da korrigiert eine Vorrede historiographische Fehler der Romanhandlung (HE F Cgm 572), ein Nachwort verweist die zuvor erzählten Handlungsalternativen ins Reich der Fabel (Fortunatus, Augsburg 1509), die Titelillustration stellt eine Szene vor, die der Haupttext in dieser Form gar nicht kennt (Melusine, im Buch der Liebe, Frankfurt a. M. 1587) oder die Paratexte preisen einander am Haupttext vorbei an, um werbewirksam gerade auf neue ‚Figuren‘, also Holzschnitte, zu verweisen (überlieferungsgeschichtlich passim). Darüber hinaus reklamieren die Paratexte unabhängig von einer Autorinstanz eine sinnstiftende Bedeutung auch für den Haupttext der Romane. Sie erweisen sich als ‚Schwellentexte‘ nach beiden Richtungen hin: Einerseits beziehen sie sich auf die Welt außerhalb des Buches, indem sie sich an den erst zu gewinnenden Leser oder Käufer richten,358 und andererseits auf den Haupttext. Ob sie damit dem ‚eigentlichen Text‘ gerecht werden oder zur Pluralisierung des Textsinns beitragen, ist zunächst offen. Diese Differenz zwischen Genette einerseits sowie McGann und mir andererseits resultiert aus der unterschiedlichen Autorität, die dem Paratext jeweils zugesprochen wird. Bei Genette setzen in grosso modo Autoren und ihre ‚Verbündeten‘ Paratexte ein, um den eigenen Text zu kommunizieren oder genauer:
Condition, S. 48–68, vor allem aber auch seine Kritik an der Textkritik des zwanzigsten Jahrhunderts: McGann: Modern Textual Criticism). 356 Genette: Paratexte, S. 389. Und an eben dieser Stelle: „Die Richtigkeit des auktorialen Standpunkts (und beiläufig, des verlegerischen) ist das implizite Credo und die spontane Ideologie des Paratextes.“ 357 Ebd., S. 18. – Das trifft auf Genettes eigene Paratexte im Übrigen auch nur im Hinblick auf ihr rhetorisch geschickt rahmendes Understatement vom hemdsärmeligen „Genug getrödelt an der Schwelle zur Schwelle“ der Einleitung (S. 21) bis zum finalen „Schwellen sind zum Überschreiten da“ des Schlusses (S. 391) zu. Bei aller sprachlichen Nonchalance wird gerade in den rahmenden Textteilen das theoretische Substrat der gerahmten Analysen in seiner ganzen explikatorischen Kraft entfaltet. 358 Vgl. Harms: Illustrierte Titelblätter, S. 427 f.
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um ihn zu vermarkten. McGann konzentriert sich zunächst auf die von Genette ausgegrenzten Sonderfälle, in denen der Paratext gerade zum Besonderen und damit zum inhärenten Bestandteil des Werkganzen erhoben wird. Mich interessiert dagegen in erster Linie das textgeschichtliche Ineinander von Konstanz und Varianz verschiedener Dimensionen narrativer Texte. Der Paratext ist dabei ein Bereich, der verhältnismäßig konstant variiert wird. Diese Einsicht aber teilen auch McGann (vgl. S. 57–59) und Genette,359 wobei sie in ihren Untersuchungen darauf verschieden großes Gewicht legen. Für den Prozess der Sinnstiftung ist indes von großer Wichtigkeit, dass nach McGann sowohl ‚linguistic‘ als auch ‚bibliographical text‘ als „symbolic and signifying mechanisms“ anzusehen sind, die beide Sinn stiften (S. 67, vgl. auch S. 78). Somit sind nach seiner Texttheorie neben dem Autor und seinem Verleger auch die Instanzen der weiteren Tradierung an der historischen Sinnstiftung eines Werkes beteiligt. Auch noch der heutige Editor lenke die Lektüre, indem seine Fußnoten ‚radial reading‘ begünstigen (vgl. S. 119–122), was sich ebenfalls auf den Sinn des Textes auswirkt.360 Hier liegt der Theorie nach nur noch ein gradueller Unterschied zum postmodernen Verständnis nicht abzuschließender und universal offener Sinnproduktion vor (vgl. Derridas ‚différance‘ oder Ecos ‚opera aperta‘).361 Dass aber ein Unterschied besteht, ist wichtig, denn solange die theoretische Überlegung an das faktisch Überlieferte zurückgebunden wird, bleibt die Interpretation literaturgeschichtlich relevant und macht ihren Gegenstand nicht zum Objekt subjektiver Spekulation. Indes meint nicht jede Rede von ‚Offenheit‘ dasselbe: Rüdiger Schnell nennt einen „textkritisch-überlieferungsgeschichtlichen, intertextuellen, rezeptionstheoretischen, poststrukturalistischen, zeichentheoretischen oder aber diskurstheoretischen“ Begriff eines ‚offenen Textes‘.362 Obwohl eine solche Differenzierung absolut notwendig ist, um nicht methodische Unterschiede zu vergleichgültigen, besteht in der Forschung aber auch das entgegengesetzte Problem, gleichgerichtete Tendenzen zugunsten
359 Vgl. Genette: Paratexte, S. 20 und S. 389. 360 Man könnte mit Uwe Wirth vom Tod des Autors als Geburt des Editors sprechen. Dessen gleichnamiger Aufsatz ist für die vorliegende Thematik jedoch nur dem Titel nach einschlägig, da er ausschließlich ‚Netzliteratur‘ diskutiert (vgl. Uwe Wirth: Der Tod des Autors als Geburt des Editors. In: Text + Kritik 152: Digitale Literatur [2001], S. 54–64). 361 Vgl. S. 275–277 und S. 279f. im Kap. 2.3.2. 362 Rüdiger Schnell: ‚Autor‘ und ‚Werk‘ im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven. In: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Koll. 1996. Hg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe. Berlin 1998 (Wolfram-Studien 15), S. 12–73, hier: S. 71; vgl. dazu auch Schnell: New Philology, S. 71–88, vor allem S. 77; Bein: Mediävistische Edition, S. 97, sowie Bein: Mittelalterphilologie, S. 77; ferner Löser: Postmoderne Theorie, S. 287.
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vermeintlich dichotomischer Gegensätze auszublenden. Die Gegenüberstellung ‚strukturell offener‘ Texte des Mittelalters, die „von Anfang an“ veränderbar seien, und von „im Druckbild unabänderlich fixierten Texte[n]“ geht an der literaturwirtschaftlichen Praxis nicht nur der Frühdruckzeit vorbei.363 Vielmehr ist John L. Flood beizupflichten, der Prosaromane als „excellent examples of ‚open‘ or ‚dynamic‘ texts“ und zwar im textkritisch-überlieferungsgeschichtlichen Verständnis bezeichnet.364 Das ‚law of change‘ ist eine Konstante, deren Gültigkeit sich an mittelalterlicher, frühneuzeitlicher und sogar an der Literatur der Gegenwart sowohl in Bezug auf die Veränderlichkeit des ‚bibliographical‘ als auch des ‚linguistic code‘ zeigen ließe.365 In der Tradition des British cultural materialism zielt McGann bei seiner Suche nach der „textuality of meaning“ auf „a materialist hermeneutics“. Während die Buchkunde nur selten nach der „semiotic function of bibliographical materials“ frage, versucht er von den verschiedenen „logoi“ der Überlieferungszeugen aus – ich spreche von ‚Dimensionen‘ – Bedeutungseffekte zu beschreiben und historisch einzuordnen (alle S. 15). Alle Produktionsmittel sind dabei potentiell sinnstiftend und sind bei der Interpretation einzukalkulieren. Wie ein Werk nur in seiner Überlieferung existiert, so ist es uns ausschließlich in seiner materialen Erscheinungsform zugänglich (vgl. S. 11 und S. 77). Sei es als ‚Handschrift‘, sei es als ‚Buch‘, ist ein Werk das Ergebnis einer Vielzahl ästhetisch-semantischer, aber auch buchwirtschaftlich-technischer Handlungen und somit losgelöst vom Autor und dessen ursprünglicher Intention. McGanns Interpretationsansatz ist texttheoretisch und überlieferungsgeschichtlich aufgeklärt und erkennt als „solid ground“ jeder Deutung nur „the material ‚fact‘“ an,366 worunter hier das Artefakt, das 363 Das erste Zitat (mit Rückbezug auf Kühnel) Bumke: Vier Fassungen, S. 54; das zweite Jürgen Kühnel: Der ‚offene Text‘. Beitrag zur Überlieferungsgeschichte volkssprachiger Texte des Mittelalters (Kurzfassung). In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Bd. 2. Hg. von Leonard Forster, Hans-Gert Roloff. Bern, Frankfurt a. M. 1976 (JbIG, A 2), S. 311–321, hier: S. 314; vgl. dazu auch ebd., S. 313–316. 364 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 14; vgl. auch ebd., S. 34. 365 An dieser Stelle müssen Hinweise auf die gängige Praxis, Zweit- und Folgeausgaben mit neuem Cover zu versehen, und auf die Reihe Einfach klassisch! des Cornelsen-Verlags genügen. In dieser Reihe werden Klassiker-Ausgaben für Schüler auf den Markt gebracht, in denen „[i]nhaltlich schwer zugängliche oder weitschweifige Textpassagen [...] weggelassen oder durch Moderatorentexte ersetzt“ sind (heute nicht mehr abrufbare Reihenbeschreibung auf der Verlagshomepage, zit. nach Sebastian Kirsch: Alle Zeit ist Geld. Hochschulreform-Ruin. Nachruf auf die Universität als unabhängigem Ort. In: Der Freitag [Onlineausgabe], 13. April 2007. https://www. freitag.de/autoren/der-freitag/alle-zeit-ist-geld [14. Oktober 2014]). 366 Jerome J. McGann: The Course of the Particulars. In: The New Criticism and Contemporary Literary Theory. Connections and Continuities. Hg. von Michael Fischer, William J. Spurlin. London, New York 1995 (Wellesley Studies in Critical Theory, Literary History, and Culture 9),
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factum, zu verstehen ist.367 Die Ursache für divergierende Lektüren lässt sich auf diese Weise ausgehend vom Untersuchungsgegenstand historisch erheben und muss nicht in die subjektive Freiheit eines Lesers verlegt werden (vgl. S. 185).368 Damit entspricht McGann nicht nur meiner Forderung nach einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘. Mit dem ‚bibliographical‘ und ‚linguistic code‘ des Textes und Paratextes, bietet er zudem ein texttheoretisches Raster an, in das sich die ‚Dimensionen narrativer Sinnstiftung‘ verorten lassen, wobei ich anders als McGann den ‚linguistic code‘ nach haupttextuellen und strukturellen Dimensionen untergliedere und den Genette’schen Begriff des ‚Paratextes‘ beibehalte. Der materiale Überlieferungsbefund ist zunächst positiv zu beschreiben, ehe man vorsichtig hermeneutische Schlüsse ziehen kann. Aus dem Vorstehenden erhellt, dass es eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Bedeutung eines Werkes nicht geben kann und dass stattdessen Interpretationen jeweils von einzelnen ‚codes‘ oder ‚Dimensionen‘ eines historisch verbürgten Überlieferungsbefundes auszugehen haben.
2.2.1.3 New philology und die Erkenntnischancen nach der manuscript culture Forscher wie Stephen G. Nichols und Bernard Cerquiglini versuchen seit den 1980er Jahren, die mittelalterliche manuscript culture mit postmodernen Theoremen neu zu durchdenken,369 was eine teils hitzige Debatte vor allem innerhalb der germanistischen Philologien ausgelöst hat.370 Nichols’ Ausgangspunkt ist der
S. 333–337, hier: S. 336. So auch – in Bezug auf Handschriften – Hans Zeller: Befund und Deutung, S. 79; Louis Hay: ‚Den Text gibt es nicht.‘ Überlegungen zur critique génétique. In: Texte zur Theorie des Textes. Hg. von Stephan Kammer, Roger Lüdeke. Stuttgart [1985] 2005, S. 74–93, hier: S. 81 f. 367 Vgl. Jerome J. McGann: History, Herstory, Theirstory, Ourstory. In: Theoretical Issues in Literary History. Hg. von David Perkins. Cambridge, Mass., London 1991 (Harvard English Studies 16), S. 196–205, hier: S. 199. 368 Vgl. auch McGann: The Course, S. 336. 369 Vgl. Stephen G. Nichols: Introduction: Philology in a Manuscript Culture. In: Speculum 65 (1990), S. 1–10, hier: S. 7. – Eine Zusammenstellung von Grundthesen bietet Schnell: New Philology, S. 62–64. Zu seinem Verständnis der ‚manuscript culture‘ vgl. auch Nichols: Philology and its Discontents, S. 117–121. 370 Vgl. die wichtigsten Sammelbände von Martin-Dietrich Gleßgen, Franz Lebsanft (Hgg.): Alte und neue Philologie. Tübingen 1997 (Beihefte zu editio 8); Helmut Tervooren, Horst Wenzel (Hgg.): Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Berlin u. a. 1997 (ZfdPh 116 Sonderheft), sowie Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe (Hgg.): Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Koll. 1996. Berlin 1998 (Wolfram-Studien 15). – Zum Lob der Handschrift außerhalb von Nichols’ material philology vgl. auch Glier: Schatzkammer, Steinbruch, historisches Objekt, S. 1–3.
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Codex als „a multi-dimensional space“371, der das Produkt der Arbeit einer „variety of specialists“ sei, die vermittels Schrift, Illustration oder Rubrizierung eigenständig eine Vielheit von Sinn unabhängig von jeder Autorintention hervorbringen.372 Die Autorinstanz ist hier pluralisiert, der Sinn polyphon, was mit theoretischen Anleihen an Michail Bachtins ‚Dialogizität‘ einhergeht und der Texttheorie McGanns durchaus entspricht.373 In Übereinstimmung mit ihrer „post-modern orientation“ erscheint dieser new philology der mittelalterliche Text als „fundamentally unfixed“ und „always open to new inflection“,374 was aber Widersprüchlichkeiten zwischen den Beiträgen verschiedener Vertreter dieser Forschungsrichtung verursacht.375 Die Mannigfaltigkeit der Überlieferung zeige dabei, dass die mittelalterliche Kultur nicht nur Vielfalt aushalte, sondern sie regelrecht pflege.376 Cerquiglini bringt das auf die vielzitierte Formel: „l’écriture médiévale ne produit pas des variantes, elle est variance.“377 Dieses Urteil resultiert aber aus der absoluten Vergleichgültigung aller Varianz, sodass „bedeutungstragende Veränderungen, redaktionelle Eingriffe, Schreibfehler, Augensprünge, dialektale Besonderheiten und technisch bedingte Vorlagenfehler“ gleichermaßen berücksichtigt werden.378
371 Nichols: Material Philology, S. 14. – Vgl. dazu auch Nichols: Philology and its Discontents, S. 126–136. 372 Nichols: Material Philology, S. 12. – Vgl. zur vermeintlichen Vermeidung von ‚Perspektivität‘ im Prosaroman die Kap. 1.3.5 und 2.3.1.1. 373 Nach Nichols: Philology and its Discontents, S. 119, zeichne sich die ‚manuscript matrix‘ dadurch aus, dass sie „multi-voiced and temporally open-ended“ sei; vgl. dazu auch Löser: Postmodernes Mittelalter?, S. 224 und S. 228. 374 Nichols: Material Philology, S. 17. 375 Vgl. die Kritik von William D. Paden: Is There a Middle in This Road? Reflections on the New Philology. In: Towards a Synthesis? Essays on New Philology. Hg. von Keith Busby. Amsterdam, New York 1993 (Faux titre 68), S. 119–130, der Nichols eigenen Ansatz lobt (vgl. S. 119–124), während insbesondere die Dekonstruktion als Teil des postmodernen Theoriesets den mittelalterlichen Texten nicht gerecht werde (vgl. S. 124–127, vor allem S. 126 f.). Letztlich kommt auch er zu dem Fazit, dass Nichols’ Angriff den Stand des modernen Editionswesens verkenne (vgl. S. 128–130). 376 „If we accept the multiple forms in which our artifacts have been transmitted, we may recognize that medieval culture did not simply live with diversity, it cultivated it“ (Nichols: Manuscript Culture, S. 8 f.). 377 Cerquiglini: Éloge de la variante, S. 111. – Eine Übersetzung des Kap. Modernité textuaire bieten Kammer/Lüdeke (Hgg.): Theorie des Textes, S. 116–131. 378 Jürgen Wolf: New Philology/Textkritik. a) Ältere deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hg. von Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten. Reinbek 2002, S. 175–195, hier: S. 179. – Vgl. auch die Kritik von Schnell: Autor und Werk, S. 41–45.
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Mit Baisch gesprochen reklamiert Cerquiglini damit „den totalen Text poststrukturalistischer Theorie für das Mittelalter“.379 Doch komme es zu einem Missverständnis, wenn die new philology einen „radikal dynamisierte[n] Textbegriff“ propagiert, der „einen auf Dauer gestellten Prozess der Bedeutungsproduktion“ „für mittelalterliche Textualität“ behauptet.380 Roland Barthes und Jacques Derrida beziehen sich nämlich auf das universale Bedeutungspotential sprachlicher Äußerung und nicht auf die sich historisch manifestierende Varianz positiver Endgültigkeiten.381 Baisch unterscheidet hier mit Peter Shillingsburg den ‚semiotic text‘, auf den sich das ‚écriture‘-Konzept beziehe, vom ‚material text‘, den die new philologists im Blick haben, und kommt zu dem Fazit: „Eine permanente Bedeutungstransformation ist auf der Ebene der Überlieferung gerade nicht zu beobachten. Vielmehr ist bei der Tradierung mittelalterlicher Texte mit spezifischen und selektiven Aktualisierungen der Sinnschichten eines Werkes zu rechnen.“382 Die meisten der weiter oben mit Jürgen Wolf angeführten Varianzarten lege auch ich meiner Deutung zugrunde, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie Bedeutungsunterschiede hervorrufen. Bedenkt man, dass nach der Einschätzung von Werner Williams-Krapp „über 90 % und mehr aller Varianten so geartet“ sind, „daß sie allenfalls für die historische Sprachwissenschaft von Interesse sind“,383 dann kommen auch hinsichtlich des ‚material texts‘ Zweifel an der Radikalität des Anspruches der new philologists auf. Denn verzeichnete man alle Varianten aller Handschriften, erreichte man nicht die angestrebte Rehabilitierung der in den Editionsapparat verbannten Varianz. Wie die wissenschaftliche Invisibilisierung der Überlieferungsvarianten verhindert ihre Atomisierung ebenfalls ‚überlieferungsgerechtes Interpretieren‘. Das Extrem eines kritisch hergestellten Autororiginals wird so mit Karl Stackmann gesprochen durch das „Extrem [...] eines absolut instabilen Textes“ ersetzt.384 Eine new philology, die nicht nur alle Varianten berücksichtigen, sondern auch mit ihren postmodernen Wurzeln Ernst macht, potenziert Jorge Luis Borges’ Paradoxie einer Landkarte im Maßstab eins zu eins385 zu einem globalen Kabinett
379 Baisch: Textkritik als Problem, S. 27. 380 Ebd., S. 30, für die folgende Überlegung vgl. ebd., S. 30 f. 381 Vgl. dazu Löser: Postmodernes Mittelalter?, S. 219. 382 Baisch: Textkritik als Problem, S. 31. 383 Williams-Krapp: Überlieferungsgeschichte, S. 20. – Er hat dieses Vorhaben zurecht als „ein unrealistisches, ja utopisches Ziel“ zurückgewiesen, „bei dem die Bedeutung [..] von variance stark überschätzt“ werde (S. 14). Stattdessen solle sich man sich „auf klar definierbare Redaktionen beschränken“ (S. 15). 384 Stackmann: Neue Philologie?, S. 419. 385 Vgl. Jorge Luis Borges: Von der Strenge der Wissenschaft. In: Gesammelte Werke. Der Gedichte erster Teil. Hg. von Gisbert Haefs, Fritz Arnold. München, Wien 2006, S. 285.
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digitaler Hohlspiegel. Meine Arbeit konzentriert sich dagegen einerseits auf textgeschichtlich verortete und nach Dimensionen geordnete Varianten, lässt aber andererseits auch den invarianten Textteilen bei der ‚überlieferungsgerechten Werkinterpretation‘ ihre Geltung. Anders als bei Bumke, Baisch, Strohschneider, den new philologists und eigentlich auch der Würzburger Schule stammt der Großteil meines Korpus aus der Zeit diesseits der manuscript culture aus der ebenfalls retextualisierenden Druckkultur. Das ist insofern wichtig zu betonen, als Klaus Grubmüller der überlieferungsgeschichtlichen Methode, zu der er auch die Betrachtung der Textgeschichte im Überlieferungsprozess rechnet, „in der Zeit des gedruckten Buches erheblich geringere Erkenntnischancen“ zugesteht.386 Die Drucktechnik verfestige den Text, indem sie es ermögliche, „viele identische Exemplare herzustellen“. Dadurch vermindere sich „die Individualität und damit der Aufschlußwert des einzelnen Exemplars“. An die Stelle der Vorgaben einzelner trete kommerzielle Standardisierung. Daher verlagere sich die Erforschung des Druckzeitalters „auf die autorgebundene Textgeschichte, auf die Rezeptionsgeschichte [...] und auf die Verlags-Strategien.“ Dagegen sieht Hans Joachim Kreutzer gerade in der Frühdruckzeit „das reichhaltigste Material“ für überlieferungsgeschichtliche Fragestellungen, „das in der deutschen Literaturgeschichte überhaupt anzutreffen“ sei.387 Grubmüllers Beobachtungen sind im Folgenden daher einzuschränken und die entsprechenden Rückschlüsse auf seine forschungspragmatischen Folgerungen sollen kurz gezogen werden. Was die These von der Verfestigung des Textes durch eine erhöhte Exemplarzahl anbetrifft, so repräsentiert in meinen Augen eine Ausgabe unabhängig von der Auflagenhöhe das Werk zu diesem je konkreten Zeitpunkt – genauso wie eine Handschrift, wobei im Einzelfall zu prüfen ist, ob es bedeutungsrelevante Varianz auf Exemplarebene gibt. Die höhere Frequenz von Neuausgaben, Nachund Raubdrucken im Vergleich mit dem üblichen zeitlichen Abstand zweier Handschriften, die einen erzählenden Text überliefern, bedingt sogar eine schnellere Abfolge nicht identischer Textzeugen. Grubmüllers Argument, dass Textänderungen nur noch von Auflage zu Auflage statt von Exemplar zu Exemplar auftreten, wird dadurch noch nicht widerlegt, verliert aber bereits an Gewicht. Dazu kommt, dass gerade günstige Ausgaben von Erzähltexten wie derjenigen der späten Überlieferung des Prosaromans regelrecht zerlesen werden, sodass viele der überhaupt erhaltenen Redaktionen nur mehr unikal überliefert sind.
386 Wie auch die folgenden Zitate: Grubmüller: Art. Überlieferung, S. 719. 387 Kreutzer: Buchmarkt und Roman, S. 202.
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Weiterhin sind die überlieferten Exemplare aber gar nicht – allenfalls selten – identisch. Grubmüllers Argument ist daher problematisch verkürzend. Bereits bei der Herstellung können aufgrund der Praxis der sogenannten ‚Presskorrektur‘ Varianten bei ein und derselben Ausgabe auftreten;388 schwerer wiegt es indes, wenn wie bei Feyerabends Buch der Liebe nur eine Teilausgabe mit rezeptionsleitender Widmungsvorrede gedruckt wird.389 Dass „der Buchdruck die völlige Identität aller Exemplare einer Auflage verbürgt“,390 so Stackmann, wird nun spätestens dann als fragwürdig offenbar, wenn man die erhaltenen Exemplare in ihrer heutigen Gestalt gelten lässt. Denn diese können individuell sein in Hinblick auf ihren Einband und Verbund, ihre Kolorierung und Rubrizierung, ja sie können auch individuelle Leserspuren enthalten. Mit seiner pauschalen Zurückweisung trifft Grubmüller eine ganze buchwissenschaftliche Forschungsrichtung, die sich mit dem Namen new bibliography verknüpft391 und an die auch McGann anschließt. Eine allgemeine Verfestigung des Textes im Druckzeitalter sehe ich daher nicht.392 Was aber meint Grubmüller mit seinem Argument einer technischen und kommerziellen Standardisierung, die es allein lohnend erscheinen lasse, die Strategien von Verlagen zu erforschen, anderes als die Untersuchung der für jede Offizin individuellen Gepflogenheiten der Textherstellung am überlieferten Material? Trifft dies zu, stellt sich die Frage, worin dann der qualitative Unterschied zur Deskription des usus uns allerdings noch seltener greifbarer Skriptorien oder Schreiber besteht? Die (frühen) Drucker deutschsprachiger Unterhaltungsliteratur produzieren für einen regional je begrenzten Nischenmarkt mit einem mundartlichen, lokalpatriotisch oder konfessionell unterscheidbaren intendierten Pu-
388 Cerquiglini kritisiert auf dieser Basis den Begriff des ‚sicheren Textes‘, insofern der gedruckte Text gerade aufgrund der Fehlbarkeit beteiligter Akteure (Setzer, Korrektoren etc.) variabel werde, vgl. Cerquiglini: Éloge de la variante, S. 18–24. 389 Vgl. Veitschegger: Buch der Liebe, S. 2; Abdruck des Wortlautes ebd., S. 248–258. 390 Stackmann: Neue Philologie?, S. 417. 391 Vgl. dazu Koppitz: Tradierung der Epik, S. 68/Anm. 4; Needham: Printing Shop, S. 19 f. 392 Auch Schnell: Autor und Werk, S. 45, widerspricht der Zweiteilung von varianten Handschriften und konstanten Drucken. – Aus den genannten Gründen muss ich daher auch Jan-Dirk Müller: Neue Altgermanistik, S. 451, widersprechen, der mit dem „Buchdruck im strengen Sinne“ eine Opposition zur Handschrift entwirft, die einen „von Mal zu Mal identischen Text“ hervorbringe, im faktischen Sinne aber Konstrukt bleibt. Die genannten Mittel zur handschriftlichen Textpräsentation („Beschreibstoff, Lay-out, Rubrizierung, Marginalien, Rezeptionsanleitungen und -spuren, Mittel der Texterschließung, Illustrationen“) sind ebenfalls Mittel gedruckter Textpräsentation, so dass davon nicht per se auf eine „spezifischere Auskunft über Gebrauch und Geltungsanspruch“ des Manuskripts im Vergleich zur Inkunabel, zum Frühdruck und auch nicht zum späten Nachdruck geschlossen werden kann.
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blikum. Es gibt noch keine ‚Standards‘ in der Frühdruckzeit; und wenn es sie gäbe, könnten sie nicht von den Standards des Handschriftenzeitalters abweichen. Meine Analysen zeigen weiterhin, dass mit einer ‚Standardisierung‘ vom fünfzehnten bis hin zum siebzehnten Jahrhundert nicht zu rechnen ist. Die Freiheit, die sich die Druckerverleger bei der Tradierung der alten Texte nehmen, wird mit zunehmender Überlieferungsdauer eher größer. Es mag auf den ersten Blick überraschen, aber wenn beispielsweise der in einer Offizin vorhandene Bildfundus aufs Ganze gesehen schmal ist und ein Drucker dadurch gezwungen wird, Holzschnitte zu verwenden, die nicht textspezifisch sind, dann führt dies im Hinblick auf die Überlieferungsgeschichte des einzelnen Werkes zu deutungswürdiger Vielfalt. Diese von einer überlieferungsgerechten Würdigung (spät)mittelalterlicher Narrationen auszuschließen, ist aber allein die Folge davon, wenn „Textgeschichte [...] auf die Verschlechterung des Autor- bzw. Vorlagentextes reduziert“393 und die Text- und Überlieferungsgeschichte vom ‚Werk‘-Verständnis getrennt wird. Im Editionswesen führt dies zu Ausgaben, die den „wissenschaftliche[n] Wert“ einer Variantenverzeichnung gänzlich bezweifeln und auch Holzschnitte konsequent aussparen, sobald sie nicht ‚textspezifisch‘ sind.394 Doch selbst heute noch weist der Buchmarkt ein Spektrum von bibliophilen Prachtausgaben über billig produzierte Massenware im Taschenbuch bis hin zu nahezu entmaterialisierten Elektronikformaten auf, die ihrerseits wieder nicht identisch sein müssen, wenn man an sogenannte enriched e-books oder open source-Formate denkt. Eine ‚Standardisierung‘ ist auch lange nach der manuscript culture noch immer nicht in Sicht, sodass sich der überlieferungsgebundenen Textgeschichte ein weites, je historisch, regional oder funktional zu begrenzendes Untersuchungsfeld eröffnet.
2.2.2 Eine ‚typische‘ Text- und Überlieferungsgeschichte des Prosaromans Was seine Anfänge betrifft, ist es mit dem Prosaroman wie bei jedem Phänomen, dessen bekannteste Vertreter alles, was zuvor gewesen ist, in den Schatten stellen und dadurch selbst wie Schöpfer ex nihilo wirken. So beginnen der moderne Buchdruck bekanntlich nicht erst mit Johannes Gutenberg, die Über-
393 Baisch: Textkritik als Problem, S. 45. 394 Vgl. beispielsweise die HE Vb-Ausgabe von Flood: Einleitung, S. 65 f. – Herfried Vögel: Rez. zu: Die Historie von Herzog Ernst. Die Frankfurter Prosafassung des 16. Jahrhunderts. Aus dem Nachlaß v. K.C. King. Hg. von John L. Flood. Berlin (TMA 26). In: Arbitrium 12/2 (1994), S. 170–175, S. 174 f., vermisst bei dieser zudem ein Verzeichnis späterer Lesarten.
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2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
setzung der Bibel nicht mit Martin Luther und die Geschichte poetologischer Reflexion nicht mit Martin Opitz. In der Geschichte des Prosaromans sind analog zu diesem Phänomen der (mittelhochdeutsche) Prosa-Lancelot, Hans Mairs Buch von Troja (von 1391) und der (niederdeutsche) Girart von Roussillon als Vorläufer zu nennen, die den in der Forschung weitaus prominenteren Werken Elisabeths von Nassau-Saarbrücken und Thürings von Ringoltingen noch vorausgehen.395
2.2.2.1 Elisabeth und die Folgen Während es in Frankreich bereits ab dem dreizehnten Jahrhundert üblich ist, Romane auch in Prosa zu verfassen, steht im deutschsprachigen Bereich nicht etwa die Auflösung mittelhochdeutscher Verse am Anfang der Gattung.396 Stattdessen begründen Übersetzungen französischer chansons de geste – „seiner
395 Vgl. Liepe: Elisabeth, S. 36 f. – Wolfgang Stammler: Von mittelalterlicher deutscher Prosa. Rechenschaft und Aufgabe. In: Kleine Schriften zur Literaturgeschichte des Mittelalters. Berlin [1949] 1953, S. 43–67, hier: S. 60 f., nennt weitere Werke, die in Prosa den Romanen Elisabeths vorausgehen. Diese ist jedoch überholt. – Unter komparatistischer Perspektive diskutieren Karlheinz Stierle und Walter Haug ausgehend von Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Nachahmung und Illusion. Koll. Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen. Hg. von Hans Robert Jauß. München 1964 (Poetik und Hermeneutik 1), S. 9–27, den Ursprung der Möglichkeit des Romans im Allgemeinen. Nach Karlheinz Stierle: Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit. In: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht. Heidelberg 1980 (Begleitreihe zum Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters 1), S. 253–313, sei der Roman des Spätmittelalters „ein verwilderter Roman, der [...] sich zu narrativen Labyrinthen“ erweitere (S. 254), indem sich Höfischer Roman und chansons des geste vermischen (vgl. S. 258). Der so entstehende Prosa-Artusroman verfüge über eine „vieldimensionale[ ] Pluralisierungstendenz“ (S. 261), die sich im verschlungenen Gang des entrelacement manifestiere (vgl. S. 275). Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 118 f., weist auf Parallelen zum Fortunatus hin. Haug: Zähmung des Romans, S. 417, stellt Stierles Ansatz mit der sogenannten „‚Zähmung‘“ am Beispiel des Galmy eine „komplementäre Ursprungsbedingung“ an die Seite. Als gemeinsamen Nenner sieht er die Hybridität der vorliegenden Texte, die durch Mischung traditioneller Motive und Schemata entstehe (vgl. ebd.). Bei den ‚gezähmten Romanen‘ werden „die Zwänge“ der kombinierten Schemata „unterlaufen“, da hier „das Geschehen nach innen“ schlage, „während die Außenwelt [...] als Spiegel neu aufgebaut“ werde (ebd.). Gemeinsam bilden die Metaphern von ‚Verwilderung‘ und ‚Zähmung‘ ein Instrumentarium, mit dem das Spektrum des Prosaromans binnendifferenziert werden könnte. 396 Vgl. Liepe: Elisabeth, S. 33 f. – Zu sogenannten ‚Prosaauflösungen‘ vgl. Brandstetter: Prosaauflösung; Schnell: Entstehen des Prosaromans; Schönhoff: Eeliche hausfrawen, sowie Veronika Straub: Entstehung und Entwicklung des frühneuhochdeutschen Prosaromans. Studien zur Prosaauflösung „Wilhelm von Österreich“. Amsterdam 1974 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 16).
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
selbst noch kaum bewußt“ – die Geschichte des deutschen Prosaromans.397 Nur „unfreiwillig“ bringe Elisabeth von Nassau-Saarbrücken „ahnungslos bedeutsam“ den Roman in Prosa auf die Bahn.398 Aus derartigen Formulierungen spricht der Wunsch, die Ursprünge des Prosaromans zu mystifizieren und sie bei diesem Vorgang mit ‚Bedeutsamkeit‘ aufzuladen.399 Zumal es Elisabeth keineswegs darum geht, eine neue Gattung fiktionaler Unterhaltungsliteratur auf den Buchmarkt zu bringen. Denn erstens gibt es in den 1430er Jahren, als sie die französischen Verstexte übersetzt, noch gar keinen ausdifferenzierten Markt für unterhaltende Bücher. Beim Erstdruck ihres Hug Schapler 1500 ist sie schon über 40 Jahre lang tot – Herzog Herpin sowie Loher und Maller erscheinen erst 1514 im Druck, Königin Sibille sogar erst im zwanzigsten Jahrhundert. Zweitens glaubt man auch zur Zeit des letzten Straßburger Elisabeth-Drucks (1537) noch an den Wahrheitsgehalt ihrer Erzählungen.400 Und drittens möchte die lothringische Gräfin die Rezipienten ihrer Werke nicht in erster Linie unterhalten. Die Geschichten handeln vielmehr von Elisabeths eigener Lebenswelt: Sie entstammt dem Geschlecht der Kapetinger und führt mit dem Ziel, das eigene Herrscherhaus zu erhöhen, Familiengeschichte in ihren Sprachund Kulturkreis ein.401 Wolfgang Haubrichs sieht in ihren Romanen daher einen
397 Hans Hugo Steinhoff: Art. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 2. Zusammen mit Gundolf Keil u. a. Redaktion Christine Stöllinger. Hg. von Kurt Ruh. Berlin, New York 1980, S. 482–488, hier: S. 488. So auch Haubrichs: Einführung, S. V. – Auf der Grundlage eines marxistischen Romanverständnisses diskutiert Burchert: Anfänge des Prosaromans, S. 159–196, Elisabeth als Begründerin des deutschsprachigen Prosaromans. 398 Das erste Zitat Haubrichs: Frankrichs Wappen, S. 19; das zweite Walter Haug: Huge Scheppel – der sexbesessene Metzger auf dem Lilienthron. Mit einem kleinen Organon einer alternativen Ästhetik für das spätere Mittelalter. In: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen [1989] 1995, S. 373–389, hier: S. 387. – Zu Entstehung und Anfänge[n] des frühneuhochdeutschen Prosaromans vgl. ferner das gleichnamige Kap. bei Liepe: Elisabeth, S. 33–83, sowie Roloff: Anfänge, S. 56–59. Zu konkurrierenden Erklärungsmodellen des Wandels vom Vers zur Prosa als dominierender Erzählform vgl. Schnell: Entstehen des Prosaromans. 399 Zu Strategien, ‚Bedeutsamkeit‘ zu erzeugen, vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. 6. Aufl. Frankfurt a. M. [1979] 2006, hier: S. 68–126, vor allem S. 80. 400 Vgl. Jan-Dirk Müller: Späte Chanson de geste-Rezeption, S. 207. 401 Vgl. Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 404; Haubrichs: Frankrichs Wappen, S. 14–18; Wolfgang Haubrichs: Kurze Forschungsgeschichte zum literarischen Werk Elisabeths. In: Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken. Unter Mitarb. v. Gerhard Sauder. Hg. von Wolfgang Haubrichs, Hans-Walter Herrmann. St. Ingbert 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung e.V. 34), S. 17–40, hier: S. 37; Sauder: Vom Volksbuch zur Romantik, S. 570; von Bloh: Einleitung, S. XII–XV, sowie Bastert: Einleitung, S. XVI.
205
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
„Ausdruck fürstlichen Selbstbewusstseins“, und im Kontext ihrer primären Rezeption dürfte vor allem die Selbstvergewisserung der höfischen Gemeinschaft im Zentrum stehen.402 Spricht man von Elisabeth als der „Gründerin des deutschen Prosaromans“,403 so ist dabei auch zu beachten, dass der Zyklus bereits im Französischen vorgeformt ist,404 sie sich sehr eng an ihre Vorlagen hält405 und ihr allem Anschein nach jegliches Bewusstsein für die neue Erzählform fehlt. Letztes zeigt sich an der konsequenten Übersetzung bloßer Füllverse, weshalb Wolfgang Liepe ihren Herzog Herpin als „e i n e [ ] A r t c h a n s o n d e g e s t e i n d e u t s c h e r P r o s a“ bezeichnet.406 Darüber hinaus ist die einheitliche Verfasserschaft von Herzog Herpin, Hug Schapler, Loher und Maller sowie Königin Sibille nur aufgrund von stilistischen Erwägungen erschlossen407 und es muss bis heute offen bleiben, ob Elisabeth die Werke wirklich selbst übersetzt hat. Eventuell ist auch ein unbekanntes Mitglied ihres Hofstaates als Urheber anzusehen, wie Ute von Bloh vermutet.408 Zuletzt
402 Haubrichs: Einführung, S. XII; vgl. dazu Marie-Luise Linn: Nachbemerkung. In: Hug Schapler. Ein lieplichs lesen und ein warhafftige Hystorij. Mit einem Nachw. v. Marie-Luise Linn. Hildesheim, New York 1974 (Dt. Volksbücher in Faksimiledrucken, A 5), S. 111*–143*, hier: S. 130*; Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 400 f. und S. 403 f.; von Bloh: Ausgerenkte Ordnung, S. 440. – Die These, Elisabeth habe die Romane zur Erziehung ihres Sohnes geschrieben (vgl. Burchert: Anfänge des Prosaromans, S. 14, S. 145 f., S. 189 und S. 194), findet dagegen keine Zustimmung. 403 Haubrichs: Einführung, S. V. 404 Daran erinnert Haubrichs: Forschungsgeschichte zu Elisabeth, S. 25. – Vgl. auch von Bloh: Ausgerenkte Ordnung, S. 92–99. – Skeptisch gegenüber Elisabeths eigener literarischer Leistung auch Steinhoff: Art. Elisabeth, S. 487 f. Dagegen gesteht Ralf Schlechtweg-Jahn: Kultur und Natur im ‚Huge Scheppel‘ der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. In: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Coll. Exeter 1997. In Zusammenarbeit mit Frank Fürbeth und Ulrike Zitzlsperger. Hg. von Alan Robertshaw, Gerhard Wolf. Tübingen 1999, S. 231–241, hier: S. 235–241, ihren minimalen Eingriffen in die Vorlage größere Bedeutung gerade im Hinblick auf die Individualität der Figuren zu. 405 Ältere Einzelstudien zur Übersetzungstechnik Elisabeths bietet das gleichnamige Kap. bei Liepe: Elisabeth, S. 225–268. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Haubrichs: Frankrichs Wappen, S. 13; Schlechtweg-Jahn: Kultur und Natur, S. 238–240, sowie die Miszelle Patrizia Mazzadi: Elisabeths von Saarbrücken-Nassau Prosaromane zwischen Übersetzung und Adaptation. In: Texte – Zeugnisse des produktiven Sprachhandelns von Frauen in privaten, halböffentlichen und öffentlichen Diskursen vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Intern. Fachtagung, Paderborn 04.– 07.09.2011. Hg. von Gisela Brandt. Stuttgart 2012 (Bausteine zu einer Geschichte des weiblichen Sprachgebrauchs 10; StArbG 457), S. 5–13. 406 Liepe: Elisabeth, S. 125; vgl. dazu auch ebd., S. 251 und S. 263. 407 Vgl. ebd., vor allem S. 264–268. 408 Vgl. von Bloh: Ausgerenkte Ordnung, S. 32–35. – Ähnliche Zweifel äußert Reinhard Hahn: ‚Von frantzosischer zungen in teütsch‘. Das literarische Leben am Innsbrucker Hof des späteren
206
2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
schließt sie die Möglichkeit von Elisabeths Autorschaft rundherum aus, während die Thematik für Bernd Bastert als „noch immer umstritten“ gilt.409 Da die genannten Werke anfänglich nur handschriftlich verbreitet sind, halte ich es für eine gewagte These, wenn sie Liepe „für die Anfänge des Prosaromans“ als „geschmackbestimmend“ einschätzt.410 Selbst wenn man Elisabeth literaturgeschichtlich an die Spitze der Gattungsentwicklung stellen möchte, müsste man den Einfluss von Melusine (zuerst gedruckt 1473/74 von Bernhard Richel in Basel), Ritter Pontus A (1483 von Johann Schönsperger d.Ä. in Augsburg) sowie Tristrant und Isalde (1484 von Anton Sorg ebenfalls in Augsburg) sicher höher ansetzen.411 Nach Hans-Gert Roloff setzt sich der Prosaroman mit den Werken Eleonores von Österreich und Thürings von Ringoltingen durch und es bilden sich „gattungsspezifische[ ] Prinzipien der literarischen Produktion“ aus.412 Von wirklicher Einheitlichkeit kann hinsichtlich produktionsästhetischer Gesichtspunkte dabei nicht gesprochen werden.413 Doch formt sich im Lauf der Text- und Überlieferungsgeschichte ausgabenreicher Prosaromane – mit einigen Ausnahmeerscheinungen – ein historisch variabler ‚Buchtyp‘, der die Werke verschiedenen Stils, verschiedener Faktur und Provenienz zu einer gemeinsamen Gruppe zusammenschließt. Ausgehend von der Text- und Überlieferungsgeschichte von Elisabeths Romanen Hug Schapler, Herzog Herpin sowie Loher und Maller ließe sich vermuten, dass Prosaromane zunächst handschriftlich kursieren, mit der fortschreitenden Entwicklung der Drucktechnik dem neuen Medium überantwortet werden und in demselben mehrere charakteristische Redaktionen erfahren. Denn anders als Walter Haug und Marie-Luise Linn ausführen,414 ist auch diesem Roman Eigengeschichtlichkeit bei der Anpassung an das wechselnde Publikum der folgenden
15. Jahrhunderts und der Prosaroman ‚Pontus und Sidonia (A)‘. Frankfurt a. M. u. a. 1990 (Mikrokosmos 27), hier: S. 73–85 und vor allem S. 141–158, an der Verfasserschaft Eleonores von Österreich in Bezug auf Ritter Pontus A. 409 Bastert: Einleitung, S. XI; vgl. von Bloh: Einleitung, S. XI. – Ansonsten stimmen die Einleitungen der beiden in Kooperation entstandenen Editionen von Loher und Maller sowie Herzog Herpin immer wieder wörtlich überein. 410 Liepe: Elisabeth, S. 3. 411 Kreutzer: Mythos Volksbuch, S. 133, weist zurecht darauf hin, dass „[d]ie These von der Primogenitur der Übersetzungen Elisabeths [...] nur in der abstrakten Konstruktion einer Literaturgeschichte als Novitätengeschichte“ gelte, was aber „die historische Realität der Literatur [...] nicht angemessen“ beschreibe. 412 Roloff: Anfänge, S. 54. 413 Vgl. meine Ausführungen zur Heterogenität der Gattung im Kap. 2.1.1.1. 414 Vgl. Haug: Organon, S. 383 f. und S. 387 f.; Linn: Nachbemerkung, S. 138*, und S. 266–272 sowie S. 279f. im Kap. 2.3.2.
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
207
Jahrhunderte zuzuerkennen. Die einzelnen Entwicklungsschritte stellt Peter Bichsel in Hug Schapler – Überlieferung und Stilwandel in aller Ausführlichkeit vor, sodass ich mich an dieser Stelle auf Hinweise beschränken kann. Für die anderen beiden erwähnten Werke greife ich auf die Dissertation von Ralf Konczak zurück. Abb. 8: Drucke der Romane Elisabeths von Nassau-Saarbrücken im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert.415
Straßburg
Johannes Grüninger
Herzog Herpin Hug Schapler Loher und Maller
1514 1500 und 1508 1514
Bartholomäus Grüninger
Hug Schapler
1537
Weigand Han
Hug Schapler Loher und Maller
1556 um 1558
Weigand Han Erben
Loher und Maller
1567
Thomas Rebart / Weigand Han Erben
Herzog Herpin
um 1567
Catharina Rebart für Kilian Han
Hug Schapler
1571
Paul Reffeler für Hartmann Han
Herzog Herpin
1579
Johann für Sigmund Feyerabend
Herzog Herpin
1587 (im Buch der Liebe)
Augsburg (?)
Michael Manger (?)
Herzog Herpin
1580
Leipzig
Vinzenz Strach für Nikolaus Nerlich
Herzog Herpin
1590
Nikolaus Nerlich
Hug Schapler
1604 und 1616
Nikolaus und Christoff Nerlich
Loher und Maller
um 1613/14
Michael Endter
Hug Schapler
um 1652/53
Michael und Johann Friedrich Endter
Hug Schapler
1664
ohne Drucker
Herzog Herpin
1659
Frankfurt a. M.
Nürnberg
Hamburg
415 Nach den Angaben bei Gotzkowsky: Bibliographie der deutschen Drucke, Bd. 1, S. 79–92, und Bd. 2, S. 30–34.
208
2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Die autographen beziehungsweise die zu Elisabeths Lebzeiten geschriebenen Handschriften haben sich nicht erhalten. Doch verwahren die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg und die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel drei reich illustrierte Codices aus den 1450er bis 1470er Jahren, die neben den genannten Romanen auch Königin Sibille enthalten und deren Entstehung auf Elisabeths Sohn Johann III. von Nassau-Saarbrücken zurückgeführt wird.416 Was den Huge Scheppel – nach der handschriftlichen Namensvariante des Haupthelden – betrifft, ist die handschriftlich erhaltene Redaktion allerdings nicht die Vorlage für den Straßburger Erstdruck von Johann Grüninger im Jahre 1500, da dieser trotz diverser Kürzungen und einiger Ergänzungen im Detail einen ursprünglicheren Text vorhält.417 Das überrascht insofern, als sich die editio princeps als „durchgreifende Bearbeitung“ eines Konrad Heyndörffer zu erkennen gibt.418 Äußerlich lehnt sich der Druck zwar an Format, Illustration und Layout der Handschrift an, doch kommen zahlreiche sinnstiftende Paratexte wie Titelblatt, Vorreden oder
416 Vgl. Bichsel: Hug Schapler, S. 29–48, sowie insbesondere zu den Federzeichnungen Hermann Urtel: [Einleitung; o.T.]. In: Der Huge Scheppel der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Nach der Handschrift der Hamburger Staatsbibliothek mit einer Einl. v. Hermann Urtel. Ndr. der 1905 im Lucas Gräfe Verlag Hamburg erschienenen Ausg. Mit einer Einf. v. Wolfgang Haubrichs. o.O. [Saarbrücken] [1905] 2007 (Saarbrücker Wiederdrucke 1), S. 3–25, hier: S. 20–25 (mit Robert Schmidt); die beiden Aufsätze: Hans-Walter Stork: Die handschriftliche Überlieferung der Werke Elisabeths von Nassau-Saarbrücken und die malerische Ausstattung der Handschriften (S. 591–606), und Eva Wolf: Die Sprache der Bilder: Bild-Erzählung in den Handschriften der Romane der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (S. 607–622), beide in: Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken. Unter Mitarb. v. Gerhard Sauder. Hg. von Wolfgang Haubrichs, Hans-Walter Herrmann. St. Ingbert 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung e.V. 34); Wolfgang Haubrichs: Text, Kontext, Bild in illustrierten Handschriften des späten Mittelalters. Das Beispiel der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (+ 1456). In: Bilder der Sprache. Hg. von Rita Franceschini Stuttgart, Weimar 2009 (LiLi 155), S. 70–84, sowie Wolfgang Haubrichs: Mahl und Krieg. Die Erzählung der Adelskultur in den Texten und Bildern des Hamburger Huge Scheppel der Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 201–216. – Vgl. zur handschriftlichen Überlieferung jetzt auch von Bloh: Einleitung, S. XVII– XX, und Bastert: Einleitung, S. XVII–XXII. 417 Vgl. Bichsel: Hug Schapler, S. 50–52, sowie schon Urtel: Einleitung, S. 14 f. – Zum komplizierten Weg von der Handschrift zum Erstdrucker vgl. von Bloh: Ausgerenkte Ordnung, S. 74–86. 418 Von Bloh: Ausgerenkte Ordnung, S. 81. Vgl. zu dieser Bearbeitung auch Bichsel: Hug Schapler, S. 49–64; Urtel: Einleitung, S. 11 und S. 13 f.; Linn: Nachbemerkung, S. 123*f., sowie Burchert: Anfänge des Prosaromans, S. 183–187.
209
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
Zwischentitel hinzu.419 Der Haupttext erfährt 1500, aber auch bei den Folgeausgaben von 1508 und 1537 Eingriffe, die einerseits für ein breites Publikum ständische Verstehensvoraussetzungen abbauen, andererseits das erzählte Geschehen privatisieren.420 Nach den Straßburger Ausgaben aus der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts verlagert sich die Produktion weiterer Redaktionen nicht nur dieses Romans nach Frankfurt a. M.421 Während die Schapler-Drucke von Weigand Han (1556) und Catharina Rebart (1571) kaum Änderungen an den haupttextuellen Dimensionen vornehmen, verzeichnet Bichsel für die Kapitelgliederung und die entsprechende Formulierung von Zwischentiteln große Varianz.422 Auch das Bildprogramm wird ersetzt, wobei die für das sechzehnte Jahrhundert bezeichnende Zweit- und Wiederverwendung von Holzschnitten das Erscheinungsbild prägt.423 Für Loher und Maller (zwei Mal von Weigand Han beziehungsweise seinen Erben gedruckt) arbeitet Konczak heraus, dass diejenigen Merkmale, die den Erstdruck mit den Gepflogenheiten der Handschriftenkultur verbinden, bei den Frankfurter Ausgaben „konsequent“ getilgt werden.424 Diesen Befund bestätigt er für die Herpin-Ausgabe von Thomas Rebart und Weigand Han Erben, wobei von dieser zwei weitere Drucke aus Frankfurt abhängen. Neben dem Druck von Paul Reffeler betrifft dies auch die Herpin-Redaktion in Sigmund Feyerabends Buch der Liebe von 1587 – und zwar obwohl diese Sammlung zum Folio-Format der Handschriften zurückkehrt.425 Konczaks Analysen zeigen jedoch auch, dass die Frankfurter Drucke zum Vorbild bei der weiteren Verbreitung von Elisabeths Romanen werden.426
419 Auch Johann Grüningers Drucke von Loher und Maller sowie Herzog Herpin erscheinen 1514 in Folio und bleiben nach der Untersuchung von Konczak „einer handschriftlich orientierten Produktionsweise verpflichtet“ (Konczak: Druckgeschichte zweier Romane, S. 117; vgl. dazu auch ebd., S. 66 f. und S. 146–148). 420 Vgl. vor allem Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 400–402, S. 405 f. und S. 418–425; aber auch Jan-Dirk Müller: Späte Chanson de geste-Rezeption, S. 226, sowie Sauder: Vom Volksbuch zur Romantik, S. 578. – Zum Druck von 1537 vgl. Bichsel: Hug Schapler, S. 65–78, sowie zu zwei Szenen desselben S. 107 im Kap. 2.1.1.1 und S. 245f. im Kap. 2.3.1.2. 421 Zu Frankfurts Aufstieg zum Zentrum volkssprachlicher Unterhaltungsliteratur vgl. Tina Terrahe: Frankfurts Aufstieg zur Druckmetropole des 16. Jahrhunderts. Christian Egenolff, Sigmund Feyerabend und die Frankfurter Buchmesse. In: Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse: Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. von Robert Seidel, Regina Toepfer. Frankfurt a. M. 2010 (Zeitsprünge 14), S. 177–194. 422 Vgl. allgemein Bichsel: Hug Schapler, S. 79–86, hier vor allem S. 79 f. und S. 82. 423 Vgl. zur Relevanz zweit- und wiederverwendeter Holzschnitte S. 108–113 im Kap. 2.1.1.1. 424 Konczak: Druckgeschichte zweier Romane, S. 117, vgl. dazu auch ebd., S. 69–115. 425 Vgl. ebd., S. 137–188. 426 Für Nerlich vgl. ebd., S. 55–67 und S. 125–135; der Druck von 1580 ist unfirmiert, wird aber durch Typenvergleich Michael Manger zugeschrieben (vgl. ebd., S. 47 f.).
210
2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
So kommen im siebzehnten Jahrhundert weitere Zentren des Drucks frühneuhochdeutscher Werke hinzu. Alle drei genannten Romane erscheinen in Leipzig; Hug Schapler darüber hinaus in Nürnberg und der Herpin in Hamburg. Ähnlich wie beim oben skizzierten Abhängigkeitsverhältnis von Handschriften und Erstdruck zeigt es sich, dass die Druckerverleger nicht immer auf die zeitlich unmittelbar vorausgehende Redaktion zurückgreifen. Nerlich gestaltet sein Bildprogramm zwar nach den Frankfurter Ausgaben, geht aber für Hug Schapler im Wortlaut auf die Redaktion von 1508 zurück.427 Kürzungen, die er dabei vornimmt, macht er 1616 selbst wieder rückgängig – und da auch Endter 1652 auf die längere NerlichFassung zurückgreift, steht dieser Druck der zweiten Straßburger Redaktion näher als Nerlichs erste Ausgabe.428 Eine einsträngig-lineare Entwicklung liegt daher auch bei diesem vermeintlich klaren Fall nicht vor. Beim späten Nachzügler Hugo Kapet, den Johann Gottfried Stiebner 1794 ebenfalls in Nürnberg druckt, handelt es sich um einen verhältnismäßig viel beachteten Sonderfall.429 Der Volksaufklärer Johann Ferdinand Roth ist nicht nur Verfasser dieser freien Bearbeitung, er schreibt zugleich auch eine historiographische Darstellung zu den geschichtlichen Zusammenhängen, auf denen der Roman fußt. Anlass ist die Guillotinierung des letzten Nachfahren des KapetingerGeschlechts 1793 in Paris, weswegen Roth Elisabeths Werk mit aufklärerischem Gedankengut aktualisiert. Nach Bichsels Einschätzung ist der Roman so sehr „mit revolutionäre[m] Vokabular“ angereichert, „daß er sich praktisch als zeitgenössischer, authentischer Bericht aus Paris lesen“ lasse.430 Nur wenig später erscheint 1805 Dorothea Schlegels kürzende Bearbeitung des Loher und Maller (Carl Ludwig Brede [Offenbach] für Friedrich Wilmans [Frankfurt a. M.]). Auch zu diesem späten Zeitpunkt erweisen sich die Prosaromane als offen für eine aktualisierende Tradierung. Dafür sind allerdings umfangreiche Änderungen notwendig, die mitunter bis hin zum Wechsel der Textsorte reichen. Ein Phänomen, das sich auch in der Textgeschichte von Fortunatus, Melusine, Magelone und Herzog Ernst Vb beobachten lässt.
427 Vgl. zu Nerlichs Schapler-Drucken allgemein Bichsel: Hug Schapler, S. 87–92, hier S. 87 f., und für das Folgende ebd., S. 89. 428 Zu den Endter-Drucken vgl. ebd., S. 93–99. 429 Vgl. hier vor allem ebd., S. 101–122; aber auch Urtel: Einleitung, S. 11; Linn: Nachbemerkung, S. 133*–137*, sowie Sauder: Vom Volksbuch zur Romantik, S. 583–585. 430 Bichsel: Hug Schapler, S. 111.
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
211
2.2.2.2 Handschriften, Wiegen- und Frühdrucke Der Befund einer linearen Abfolge von Handschriften und Drucken ist beim Blick auf die Text- und Überlieferungsgeschichte anderer Prosaromane zu relativieren. Bleibt die Königin Sibille ungedruckt, so sind umgekehrt weder von der Prosaauflösung Tristrant und Isalde noch von Wilhelm Salzmanns Kaiser Octavianus Handschriften bekannt und auch der anonyme Fortunatus hat sich abseits der Drucke nicht erhalten. Detlef Roth mutmaßt sogar, der zuletzt genannte Roman könne eigens für die gedruckte Veröffentlichung konzipiert sein.431 Melde ich dazu an anderer Stelle Zweifel an, so spricht dagegen das Pathos von Salzmanns Vorrede dafür, dass sich zumindest er bewusst für das neue Medium entscheidet, um seine Übersetzung auf den literarischen Markt zu bringen.432 Karina Kellermanns Formulierung, dass „die Manuskriptkultur keinerlei Anteil an [d]er Überlieferungsgeschichte“ des Tristrant habe, muss man allerdings dahingehend einschränken, als Anton Sorgs Inkunabel von 1484, auch ohne dass eine handschriftliche Vorlage überliefert wäre, in Bezug auf die Praxis des Incipits, der Schriftgestaltung und im Hinblick auf ihre Holzschnitte den Maßgaben des älteren Mediums verpflichtet ist.433 Und das ist kein Sonderfall: Die Imitation des Handschriftenlayouts im Druck gilt bis in die 1530er Jahre als üblich.434 Der Hinweis diene daher zur Warnung, Drucküberlieferung isoliert zu durchdenken; schließlich werden die frühen Prosaromane „unter den typisch mittelalterlichen Kommunikations- und Verbreitungsbedingungen“ verfasst.435 So sieht Jan-Dirk Müller Thürings Melusine als „ein typisches Beispiel des Manuskriptzeitalters“, da der Bearbeiter den Kontext seines eigenen Schaffens in sein Übersetzungswerk einschreibe.436 431 Vgl. Roth: Deutungsversuche, S. 207 und S. 228 f., vgl. dazu meine Ausführungen S. 14f. im Kap. 1.1. – Für biographische Zusammenhänge, aber auch das Verlagsprogramm der im Folgenden genannten Offizinen, vgl. Geldner: Deutsche Inkunabeldrucker; Reske: Die Buchdrucker. 432 Vgl. Salzmann 1535: Vorred. Für die Konsequenzen einer Entscheidung für den Druck und gegen die Handschrift vgl. Schnell: Handschrift und Druck, besonders S. 91–93 und S. 109. 433 Kellermann: Umständliches Erzählen, S. 463. – Vgl. auch Ader: Prosaversionen, S. 70–134; Simmler: Mikro- und Makrostrukturelle Merkmale, S. 208–221. – Zur Abhängigkeit der Holzschnitte von Eilhart-Federzeichnungen vgl. Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke, S. 338; Schönhoff: Eeliche hausfrawen, S. 9. 434 Vgl. Neuber: Ökonomien des Verstehens, S. 203, und darüber hinaus Norbert H. Ott: Leitmedium Holzschnitt: Tendenzen und Entwicklungslinien der Druckillustration in Mittelalter und früher Neuzeit. In: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert. 2. Halbbd. Hg. von Barbara Tiemann. Hamburg 1999, S. 163–252, hier: S. 164, S. 176 und S. 217; Augustyn: Handschrift und Buchdruck, S. 6, sowie Jürgen Wolf: Gedruckte Handschriften, S. 4–6. 435 Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 42. 436 Jan-Dirk Müller: Text und Paratexte. ‚Melusine‘-Drucke des 16. Jahrhunderts. In: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringol
212
2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
437
Abb. 9: Parallelität von Melusine-Handschriften und -Drucken des fünfzehnten Jahrhunderts. Klosterneuburg, StB, Nr. 747 Nürnberg, GNM, Nr. 4028
1467 1468
1465–1470
Basel, UB, O.I. 18 Berlin, SBB-PK, mgf. 1064 Erlangen, UB, Ms. B 10
1471 1471 1471
um 1473/74 Basel: Bernhard Richel 1470–1475 1474 Augsburg: Johann Bämler um 1477
München, BSB, Cgm 318 München, BSB, Cgm 252 St. Gallen, VB, Nr. 454
1477 um 1477/80 1478
um 1478 1475–1480
um 1478 um 1479
1480 Nürnberg, GNM, Nr. 59 160
1483
1480–1485
1482
Trento, SB, Cod. 1951
1488
1485–1490
um 1488
Kopenhagen, KB, Nr. 423 Stuttgart, WLB, P. et Ph. Nr. 10 Karlsruhe, BLB, Cod. Don. 143 Ende/spätes Berlin, SBB-PK, mgf. 779 1490–1500 15. Jh. Straßburg, BNU, cod. 2265 Gießen, UB, Cod. 104 Hamburg, StUB, Cod. germ. 5
1491
Straßburg: Heinrich Knoblochtzer Straßburg: Heinrich Knoblochtzer Straßburg: Johann Prüß d.Ä. Lübeck: Lucas Brandis Augsburg: Johann Bämler Straßburg: Heinrich Knoblochtzer Augsburg: Johann Schönsperger d.Ä.
Heidelberg: Heinrich Knoblochtzer
Doch die frühe Überlieferung von Thürings Melusine nötigt vor allem auf andere Weise dazu, die ‚typische‘ Geschichte zu modifizieren. Joachim Knape gibt den Zeitraum, innerhalb dessen sich handgeschriebene Zeugen erhalten
tingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013, S. 17–31, hier: S. 20, vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 58 f. 437 Die Angaben beruhen für die Handschriften auf Karin Schneider: Einführung, S. 7–17, mit Ergänzungen und Aktualisierungen nach Backes: Fremde Historien, S. 103–110, sowie Tina Terrahe: Eine neue Handschrift der ‚Melusine‘ Thürings von Ringoltingen. In: ZfdA 138 (2009), S. 50–52. Für die Drucke vgl. Habermann u. a.: Zeichensprachen, S. 6.
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
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haben, mit „1467 bis 1483“ an, wobei etliche Handschriften nur ungefähr datiert werden können.438 Die ersten Drucke in Basel, Augsburg, Straßburg, Lübeck und Heidelberg entstehen damit parallel zur Manuskript-Überlieferung. Darüber hinaus vermutet Knape, dass der Bämler-Druck von 1474 Vorlage der Melusine-Handschriften in Cgm 318 und Cgm 252 sei,439 und die erst vor wenigen Jahren entdeckte Handschrift aus Trento folgt Bämlers zweitem Druck von 1480.440 In letztgenannten Fällen sind also das oben konstatierte Abhängigkeitsverhältnis und die dort aufgezeigte zeitliche Abfolge gerade umgekehrt. Rüdiger Schnell regt deshalb an, für eine Übergangszeit von etwa 1470 bis 1560 mit einer sich erst allmählich vollziehenden Ausdifferenzierung der beiden Medien zu rechnen, denen nun „neue Qualitäten und Funktionen zugeschrieben“ werden, die eine bewusste Entscheidung für oder gegen eine Veröffentlichung im Druck erst möglich machen.441 Dabei ist zu beachten, dass das Äußerungsmedium der Drucker in der Wahrnehmung der Frühdruckzeit als flüchtig gilt, während die Tätigkeit der Schreiber als die Hervorbringung von etwas Dauerhaftem angesehen wird, deren Gegenstände anders als die Druckerzeugnisse bereits aufgrund der sorgsamen Auswahl eine große Dignität aufweisen.442 Bedenkt man einerseits, dass viele, vor allem spätere Druckausgaben zerlesen werden und heute nur mehr unikal oder überhaupt nicht überliefert
438 Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke, S. 356; vgl. dazu die Beschreibungen von Karin Schneider: Einführung, S. 7–17, und die weiteren Ausführungen von Backes: Fremde Historien, S. 103–175. 439 Vgl. Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke, S. 340 (mit Hinweis auf Schneider). Karin Schneider: Einführung, S. 25, sieht jedoch neben der Abhängigkeit von Cgm 318 von Bämler 1474, eine Verbindung der Handschrift des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg (Nr. 59160) und der Knoblochtzer-Inkunabel von 1482. 440 Vgl. Terrahe: Neue Handschrift, S. 51. – Zum Phänomen händischer Druckabschrift vgl. Jürgen Wolf: Gedruckte Handschriften, S. 11–17. 441 Schnell: Handschrift und Druck, S. 90. – Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck vgl. ebd., S. 70 f. und S. 88–111; Augustyn: Handschrift und Buchdruck, S. 38, sowie Hans E. Braun: Von der Handschrift zum Druck, S. 230–237 und S. 240. Zur Vorstellung der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ im Allgemeinen vgl. Reinhart Koselleck, Christian Meier: Art. Fortschritt. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Ndr. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Stuttgart 1979, S. 351–423, hier: S. 391–402. 442 Dies zeigt Jan-Dirk Müller: Der Körper des Buchs. Zum Medienwechsel zwischen Handschrift und Druck. In: Materialität der Kommunikation. Unter Mitarb. v. Monika Elsner u. a. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988, S. 203–217, hier: vor allem S. 203–208, am Beispiel wissenschaftlicher und heiliger Texte mit Zitaten von Trithemius; vgl. dazu auch Jürgen Wolf: Gedruckte Handschriften, S. 9.
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sind,443 so ist diese zeitgenössische Technikskepsis nicht von der Hand zu weisen. Nichtsdestotrotz lassen sich die zeitliche Priorität von Handschriften und das Abreißen von deren Produktion mit dem Vorhandensein eines Druckes auch bei anderen Prosaromanwerken beobachten. Bei Veit Warbecks Schöner Magelone liegt sogar der Fall vor, dass sich das Autograph von 1527 erhalten hat (FB Gotha, Sign. Cod. chart. B 437). 1535 gibt Georg Spalatin den Roman dann überarbeitet und mit einem Sendbrief versehen beim „erfolgreichste[n] Drucker unterhaltender Erzählprosa in den 1530er Jahren“, dem Augsburger Heinrich Steiner, in den Druck.444 Es folgen zahlreiche weitere Druckausgaben, während hingegen keine weiteren Handschriften nachzuweisen sind.445 Dies gilt auch für die Ritter PontusÜbersetzung der Eleonore von Österreich (Fassung A): Die einzige erhaltene Handschrift von 1465 ist knapp zwanzig Jahre jünger als der erste Druck (Johann Schönsperger d.Ä., Augsburg 1483).446 Das zeitliche Verhältnis bei der Entstehung der Überlieferungszeugen des Prosa-Herzog Ernst (Fassungen F und Vb) ist mit einigen Unsicherheiten verbunden, wobei die Handschriften wohl etwas früher oder aber parallel zu den Wiegendrucken zu sehen sind. Diese gehen auf Anton Sorg zurück und werden üblicherweise für den Zeitraum 1476 bis 1485 angesetzt.447 Die einzige datierte Handschrift liegt unter der Signatur Add. 22622 in der British Library in London. Sie gibt das Datum ihrer Fertigstellung mit 1470 an.448 Wäre die Handschrift im
443 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 26, rechnet in Bezug auf ganze Auflagen mit einer Verlustrate von 50 Prozent. Folio-Ausgaben haben grundsätzlich bessere Überlieferungschancen als kleinformatige Redaktionen. Von den von Flood untersuchten Werkredaktionen sind insgesamt weniger als 20 Prozent in mehr als nur einem Exemplar erhalten (vgl. ebd., Bd. 2, S. 294 f.). 444 Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 343. – Zu Spalatins Sendbrief vgl. Winfried Theiß: Die Schöne Magelona und ihre Leser. – Erzählstrategie und Publikumswechsel im 16. Jh. In: Euphorion 73 (1979), S. 132–148, hier: S. 144–148; Simmler: Makrostrukturelle Veränderungen, S. 192; Armin Schulz: Poetik des Hybriden, S. 159 f., sowie S. 252–254 im Kap. 2.3.1.2. Vgl. zu dieser Redaktion auch Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 463 f. 445 Vgl. Gotzkowsky: Bibliographie der deutschen Drucke, Bd. 1, S. 95–103, und Bd. 2, S. 35–38 und S. 200. 446 Vgl. Reinhard Hahn: Einleitung. In: Eleonore von Österreich: Pontus und Sidonia. Hg. von Reinhard Hahn. Berlin 1997 (TMA 38), S. 9–41, hier: S. 7–10. Zur Überlieferung des Romans insgesamt: Hahn: Innsbrucker Hof, S. 129–140. 447 Vgl. Hans-Joachim Behr: Einleitung, S. 29. 448 Vgl. H[arry] L[eigh] D[ouglas] Ward: Additional 22,622. In: Catalogue of Romances in the Department of Manuscripts in the British Museum. Bd. 2. London 1893, S. 19–20; Robert Priebsch: Nr. 239 [= Add. 22622]. In: Deutsche Handschriften in England. Bd. 2: Das British Museum. Mit einem Anhang über die Guildhall-Bibliothek. Hg. von Robert Priebsch. Erlangen 1901, S. 196–197, sowie Hans-Joachim Behr: Einleitung, S. 28.
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Codex Cgm 572 der Bayerischen Staatsbibliothek München mit Sicherheit die älteste, so folgte aus der exakten Datierung der Londoner Redaktion die Priorität aller handgeschriebenen Zeugen vor den Inkunabeln. Doch Thomas Ehlen zweifelt diese Einschätzung an.449 So muss man sich begnügen, diese Redaktion mit Karin Schneider ins dritte Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts zu datieren, wobei die zweite Münchner Handschrift im Cgm 224 möglicherweise noch von dieser abhängt und damit etwas später entsteht.450 Die zweite These, die sich aus dem Überlieferungsbefund für Elisabeths Romane ableiten lässt, betrifft die Verbreitung in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, die scheinbar ausschließlich von Straßburg aus erfolgt. Der Abgleich mit anderen Romanen erweist jedoch Augsburg schnell als das eigentliche Zentrum frühneuhochdeutschen Romanerzählens in gedruckter Form.451 Herzog Ernst F (Anton Sorg um 1476), Ritter Pontus A (Johann Schönsperger d.Ä. 1483), Tristrant (Anton Sorg 1484) oder auch Fortunatus (Johann Otmar 1509), die Schöne Magelone (Heinrich Steiner452 1535) und einige andere Prosaromane mehr erfahren hier ihren jeweiligen Erstdruck.453 Bis zur Mitte des sechzehnten Jahr-
449 Vgl. Thomas Ehlen: ‚Herzog Ernst‘ C: Verdikt und verhinderte Rezeption. In: Hystoria ducis Bauarie Ernesti. Kritische Edition „Herzog Ernst“ C und Untersuchungen zu Struktur und Darstellung des Stoffes in den volkssprachlichen und lateinischen Fassungen. Hg. von Thomas Ehlen: Tübingen 1996 (ScriptOralia 96; A: Altertumswissenschaftliche Reihe 23), S. 11–216, hier: S. 180. 450 Zu HE F Cgm 572 vgl. Karin Schneider: Cgm 572. Herzog Ernst, lat. und dt. Prosa. In: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München: Cgm 501–690. 2. Aufl. Wiesbaden 1978 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis T. 5, Ps. 4), S. 162–163, hier: S. 162; Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 178–183. Zu HE F Cgm 224 vgl. Karin Schneider: Cgm 224. Lucidarius. Robertus Monachus: Historia hierosolymitana, dt. Herzog Ernst (Prosa). In: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München: Cgm 201–350. 2. Aufl. Wiesbaden 1970 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis T. 5, Ps. 2), S. 85–87, hier: S. 85. 451 Vgl. Inge Leipold: Untersuchungen zum Funktionstyp ‚Frühe deutschsprachige Druckprosa.‘ Das Verlagsprogramm des Augsburger Druckers Anton Sorg. In: DVjs 48/2 (1974), S. 264–290, hier: S. 274 f.; Flood: The Survival, Bd. 1, S. 40 f.; Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke, S. 330– 332, sowie Schmitt: Tradition und Innovation, S. 76 f.; – s. dazu unten die Abb. 10. 452 Steiner druckt zahlreiche Ausgaben verschiedener Prosaromane. Zwischen 1538 und 1547 erscheint so bei ihm ein halbes Dutzend Drucke der Melusine, die er – was sich bereits an der neuen Titelformulierung Von Lieb vnd Leyd ablesen lässt – von einer dynastischen zu einer Liebesgeschichte umbesetzt (vgl. Rautenberg: Melusines Basler Erstdruck, S. 62 und S. 97–99; vgl. zu Steiners Melusine-Drucken auch Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, vor allem S. 349 f., und im Vergleich mit dem Erstdruck sowie mit zwei Handschriften Simmler: Textsorte Prosaroman). Ebenfalls sechs Mal druckt Steiner den Fortunatus (vgl. Valckx: Volksbuch, S. 100; Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1159 f.) und gleich acht Mal die Magelone (vgl. Gotzkowsky: Bibliographie der deutschen Drucke, Bd. 1, S. 95–98). 453 Vgl. die Tabelle bei Künast: Buchhandel in Augsburg, S. 223.
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hunderts werden Tristrant, Fortunatus und Magelone überhaupt nur in der Fuggerstadt gedruckt.454 Eine ausführliche Darstellung der Buchwirtschaft der Stadt bietet die Dissertation „Gedruckt zu Augspurg“ von Hans-Jörg Künast.455 Erst in den 1480er Jahren beginnt die Augsburger Vorherrschaft gegenüber Straßburg abzunehmen, um sich Anfang des sechzehnten Jahrhunderts ins Gegenteil zu verkehren.456 Doch auch bis um 1550 beschränkt sich die Überlieferung des Prosaromans nicht auf die beiden genannten Städte. Der Hinweis auf Kaiser Octavianus-Redaktionen aus Köln (Johann von Aich 1537 und um 1539), Zürich (Augustin Frieß vor 1550) und möglicherweise Ingolstadt (Alexander Weißenhorn [?] 1543) sowie auf Melusine-Drucke aus Basel (Bernhard Richel 1473/74) und Heidelberg (Heinrich Knoblochtzer 1491) wird als Beleg genügen.457 Also nicht erst in dem von mir thesenhaft als ‚breit‘ bezeichneten siebzehnten Jahrhundert streut die Prosaroman-Überlieferung über das Reichsgebiet, bereits in der Inkunabel- und Frühdruckzeit lässt sich beobachten, dass die untersuchten Werke aus ihrem Entstehungskontext gelöst und im Handel verbreitet werden.458 Die Dru-
454 Tristrant-Ausgaben, die möglicherweise 1509 in Bern und 1510 in Straßburg erscheinen, sind verschollen (vgl. Ader: Prosaversionen, S. 23 f., zu den Tristrant-Drucken von Sorg und Schönsperger vgl. ebd., S. 70–178). Zum Fortunatus vgl. Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 39, und die Druckübersicht von Jungmayr: Bibliographie, S. 324–326; zur Magelone vgl. Gotzkowsky: Bibliographie der deutschen Drucke, Bd. 1, S. 93–104. 455 Vgl. Künast: Buchhandel in Augsburg. Vgl. aber auch seine Übersicht über Augsburger Drucker und Verleger von den Anfängen bis in die 90er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts: Hans-Jörg Künast: Dokumentation: Augsburger Buchdrucker und Verleger. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Im Auftrag der Stadt Augsburg. Hg. von Helmut Gier, Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 1205–1340. 456 Vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 41; Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke, S. 332. – Für ausführliche Vergleiche Augsburger und Straßburger Melusine-Drucke anhand mehrerer Dimensionen narrativer Sinnstiftung vgl. die Dissertation von Martin Behr: Buchdruck und Sprachwandel. Das Programm des Straßburger Frühdruckers Matthias Hupfuff, zu dem neben Thürings Melusine auch Hartliebs Alexander und Steinhöwels Appolonius zählen, stellt Oliver Duntze: Ein Verleger sucht sein Publikum. Die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/98–1520). München 2007 (AGB, Studien 4), vor. An dieser Stelle ist vor allem das Kap. Hupfuffs Drucke als Ware auf dem frühneuzeitlichen Buchmarkt von Interesse (ebd., S. 304–317). 457 Vgl. für die Kaiser Octavianus-Drucke Friderichs-Berg: Druckausgaben des Kaiser Octaviano, S. 115–129 und S. 132–134, und für die Melusine-Drucke vgl. Rautenberg: Melusines Basler Erstdruck, S. 63–86 und S. 91–93. 458 Zum Buchhandel bis um 1500 vgl. Rautenberg: Buchhändlerische Organisationsformen, S. 345–374. – Zu der in diesem Zusammenhang gebräuchlichen Vorstellung einer ‚Literaturexplosion‘ vgl. Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 54; Schmitt: Tradition und Innovation, S. 74. Zu einer zweiten Expansionsphase des Buchmarktes im Zusammenhang mit der Automatisierung der Produktion im neunzehnten Jahrhundert vgl. Ilsedore Rarisch: Industrialisierung und Literatur. Buchproduktion, Verlagswesen und Buchhandel in Deutschland im 19. Jahrhun
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ckerverleger bestimmen dabei nicht nur über ihr Programm, sie wählen auch die jeweilige Druckvorlage aus und verfahren mit dieser frei, sodass ihr Einfluss auf das literarische Leben der Zeit schwerlich zu überschätzen ist. So kommt Anneliese Schmitt zu der berechtigten Einschätzung, dass die „Druckergeneration der 70er Jahre des 15. Jahrhunderts [...] den Grundstein für die Entwicklung eines Literatur- und Buchmarktes für die folgenden Jahrzehnte – für viele Werke sogar für Jahrhunderte“ legt.459 Dabei lässt sich analog zu Nerlichs Hug Schapler-Ausgaben zeigen, dass die Druckerverleger mitunter verschiedene Vorlagen bei der Herstellung ihrer Produkte verwenden. So lehnt sich auch Johann Bämlers Melusine zwar für die Holzschnitte an die Basler editio princeps an, greift aber anders als die Straßburger Wiegendrucke nicht „in Text und Bild“ auf die Richel-Redaktion zurück, sondern bedient sich für die haupttextuellen Dimensionen einer handschriftlichen Vorlage.460 Ursula Rautenberg beobachtet bei Bämlers im Vergleich zu Richels Romanproduktion Tendenzen der Ökonomisierung.461 Die Ausbildung eines, wenn auch regional begrenzten, literarischen Marktes macht das gedruckte Buch zum Handelsobjekt, dessen Verfertigung auch ökonomischen und technischen Logiken unterliegt.462 Neben einer Verkleinerung des Formats, Kürzungen des Haupttextes und Rationalisierungsprozessen wie die Mehrfachverwendung von
dert in ihrem statistischen Zusammenhang. Mit einem Vorw. v. Otto Büsch. Berlin 1976 (Historische und Pädagogische Studien 6), hier: S. 37–39 und S. 77–79. 459 Schmitt: Tradition und Innovation, S. 74; vgl. zur Bedeutung der Druckerverleger auch das Kap. 2.1.3. 460 Rautenberg: Melusines Basler Erstdruck, S. 62 (meine Hervorhebung). – Für einen Vergleich der Melusine-Inkunabeln von Richel und Bämler vgl. Martin Behr, Mechthild Habermann: Die textgeschichtliche Tradierung der Melusine aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Die oberdeutschen Offizinen von 1473/74 bis 1516. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 297–324, hier: S. 310–316, zu den Straßburger Nachschnitten vgl. Gotzkowsky: „Volksbuch“-Ausgaben, S. 136 f. – Zum Richel’schen MelusineDruck vgl. auch Drittenbass: Aspekte des Erzählens, S. 31–33 und S. 243–310, und zum Bildprogramm darüber hinaus Kristina Domanski: Die Melusine als illustriertes Buch. Zum Wechselspiel zwischen Text und Bild im frühen Buchdruck. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 257–278, hier: S. 262–266. 461 Vgl. Rautenberg: Melusines Basler Erstdruck, S. 82. 462 Vgl. Leipold: Funktionstyp Druckprosa, S. 269; Jan-Dirk Müller: Anfänge des literarischen Marktes, S. 435; Kreutzer: Buchmarkt und Roman, S. 197; Jan-Dirk Müller: Körper des Buchs, S. 208; Neddermeyer: Handschrift/Druck, S. 363–368, sowie Röcke: Fiktionale Literatur, S. 464 f.
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Holzschnitten bedeutet dies einerseits die konsequente Übernahme von „Zugangserleichterungen“ für die Leser, die auch bei Handschriften zu finden sind,463 und andererseits die Herausbildung neuer Dimensionen narrativer Sinnstiftung wie das Titelblatt.464 Werbende Epitexte, sogenannte Buchhändleranzeigen, sind indes keine Erfindung der Buchdrucker, sondern auch für Handschriften nachweisbar.465 Inge Leipold und Joachim Knape führen vor, wie Anton Sorg von einer seiner drei Herzog Ernst-Ausgaben (Fassung F) zur nächsten diese zunehmend übersichtlich gestaltet und damit die Rezeption erleichtert.466 Paratextuelle Dimensionen wie Titelformulierungen und -bilder, Vorworte und weitreichende Entscheidungen der Seitengestaltung haben dabei rezeptionsleitenden Einfluss auf die ‚Sinnstiftung‘.467 Die Druckerverleger sind bei der Wiederauflage traditionsreicher Geschichten gefordert, die Texte „für ein neues Publikum akzeptabel, ‚sinnvoll‘“ zu gestalten, wofür Barbara Weinmayer die Begleitreden als probates Mittel herausstellt.468 All diese Bearbeitungen müssen bei der Analyse der textund überlieferungsgeschichtlich variablen Sinnstiftung in Erwägung gezogen werden.
2.2.2.3 Frankfurt a. M. und der Prosaroman im sechzehnten Jahrhundert 1587 vollendet Johann für seinen Vetter Sigmund Feyerabend mit dem Buch der Liebe ein Kompendium von 13 frühneuhochdeutschen Erzählwerken – ganz überwiegend Prosaromane. Anders als die ebenfalls von Feyerabend in drei Ausgaben des Theatrum Diabolorum verlegten Teufelbücher bleiben die hier gesammelten
463 Neddermeyer: Handschrift/Druck, S. 451, vgl. dazu auch Schmitt: Deutsche Volksbücher, Bd. 1, S. 131, und zu [o]ptische[n] Gliederungssignale[n] und Orientierungshilfen für Leser in Melusine-Handschriften das gleichnamige Kap. bei Backes: Fremde Historien, S. 124–136. 464 Vgl. Tennant: Der unfeste Druck, S. 125; Hans E. Braun: Von der Handschrift zum Druck, S. 238. Zum neuen Paratext des Titelblattes vgl. hier stellvertretend die Forschung zur Entwicklung in Augsburg: u. a. Jutta Breyl: Beobachtungen zur Geschichte des Augsburger Titelblattes vom 15. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Im Auftrag der Stadt Augsburg. Hg. von Helmut Gier, Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 243–289, und Oliver Duntze: Das Titelblatt in Augsburg: Der Einleitungsholzschnitt als Vorstufe und Alternative zum Titelblatt. In: AGB 63 (2008), S. 1–42. 465 Vgl. Rautenberg: Buchhändlerische Organisationsformen, S. 351–353. 466 Vgl. Leipold: Funktionstyp Druckprosa, S. 281; Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke, S. 341, sowie ferner Elisabeth Geck: Buchkundlicher Exkurs zu Herzog Ernst. Sankt Brandans Seefahrt. Hans Schiltbergers Reisebuch. Wiesbaden 1969. 467 Vgl. Neuber: Ökonomien des Verstehens, S. 189–202; und zum Begriff der ‚Sinnstiftung‘ S. 273–280 im Kap. 2.3.2. 468 Das Zitat Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 9, vgl. dazu auch ebd., S. 16.
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Romane zwar fortan nicht ungedruckt, ihre zuvor reiche Frankfurter Produktion verebbt aber wenig später.469 Bereits diese Verlegersynthese belegt, dass nicht nur der ebenfalls enthaltene Herpin der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, sondern mit Kaiser Octavianus, Schöne Magelone, Galmy, Tristrant und Isalde, Florio und Bianceffora, Gabriotto und Reinhart, Melusine, Ritter Pontus A und Wigoleis vom Rade eine veritable Anzahl von Prosaromanen die überlieferungsgeschichtliche Station der Messestadt am Main in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts gemein haben. Dabei kann Feyerabend sogar schon fast ausschließlich auf Vorlagen zurückgreifen, die ebenfalls vor Ort gedruckt sind.470 Die bereits an der Überlieferung von Elisabeths Romanen gewonnene Vermutung eines Übergangs der Prosaroman-Produktion nach Frankfurt bestätigt sich. Für ihre und einige noch etwas dichter überlieferte Prosaromane lassen sich für einen Zeitraum von um 1550 bis zum Jahrhundertende 74 Ausgaben aus Frankfurt nachweisen, daneben stehen lediglich 33 Drucke aus Augsburg, Straßburg, Leipzig und einigen anderen Orten.471 Lässt man diejenigen ortsfremden Ausgaben weg, die erst 1588 oder später, also nach Feyerabends Sammlung, zu datieren sind, bleiben lediglich 19 Prosaroman-Drucke übrig, die nicht aus Mainfrankfurt stammen.472 Dies ist damit der ‚typische‘ Herkunftsort eines Prosaromans aus der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Allerdings ist das erwähnte Buch der Liebe aufgrund seines Sammlungscharakters und Folio-Formats ein Sonderfall. Sein beträchtlicher Umfang bedingt einen hohen Verkaufspreis.473 Es zeigt sich, dass es zu kurz greift, wenn man für
469 Ein Wendel Homm zugeschriebener Druck des Ritter Pontus A wird auf um 1582/94 datiert, er erscheint somit möglicherweise noch nach 1587. Der einzige sicher nach Feyerabends Sammlung in Frankfurt gedruckte Prosaroman aus dem Buch der Liebe ist der Tristrant von Wendel Homms Erben (1594). – Zum Einfluss des Theatrum Diabolorum auf den Teufelbuch-Druck vgl. Heinrich Grimm: Deutsche Teufelbücher, S. 520. Zu Feyerabends Verlagsstrategien vgl. Flood: Buch der Liebe; und zur Einheit des Kompendiums vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Romankritik Rosmarie Zeller: Buch der Liebe, sowie S. 116 im Kap. 2.1.1.1. 470 Vgl. Flood: Buch der Liebe, S. 206 f.; Veitschegger: Buch der Liebe, S. 12–19 und S. 139–142. 471 S. unten Abb. 10. – Neben Herzog Herpin, Hug Schapler sowie Loher und Maller fließen Schöne Magelone, Melusine, Kaiser Octavianus, Ritter Pontus A, Herzog Ernst Vb, Tristrant, Hartliebs Alexander, Steinhöwels Apollonius, Ritter Galmy, Wickrams Gabriotto und Reinhart, Wigoleis und Fortunatus in die Statistik ein. Vgl. die Daten von Gotzkowsky: Bibliographie der deutschen Drucke, Bd. 1; für Melusine dagegen die aktualisierte Überlieferungsübersicht von Habermann u. a.: Zeichensprachen, S. 6 f. 472 Darunter gleich sechs Ausgaben des Galmy und von Gabriotto und Reinhart bei Jakob Frölich in Straßburg (vgl. Gotzkowsky: Bibliographie der deutschen Drucke, Bd. 1, S. 442–453, mit Nachtrag Bd. 2, S. 208). 473 Zu Kosten und Zielpublikum der Sammlung vgl. Skow-Obenaus: Book of Love, S. 105 f.
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die Überlieferung des Prosaromans von einem kontinuierlichen Prozess des Absinkens, der Popularisierung oder Trivialisierung ausgeht.474 Feyerabend zielt mit seinem Produkt noch im späten sechzehnten Jahrhundert auf Käufer aus den höchsten gesellschaftlichen und ökonomischen Kreisen und widmet eine Teilauflage seines Kompendiums der Landgräfin Hedwig von Hessen. Auch bei anderen Buchprojekten kalkuliert Feyerabend mit einem wohlhabenden Publikum: Markenzeichen seiner Vereinigung mit Georg Rab und den Erben Weigand Hans unter der Selbstbezeichnung ‚Cumpanei‘ sind teure Bände im Folio-Format. Die Holzschnitte für ihre Bücher stammen von den bekannten Illustratoren Virgil Solis und Jost Amman. Nach der Einschätzung von Imke Schmidt trägt die ‚Cumpanei‘ „wesentlich dazu bei, Frankfurt zur bedeutendsten Druckerstadt Deutschlands zu machen.“475 Nach Christoph Gerhardt stammt aus diesem Kreis auch die Anregung, die ältere Prosafassung des Herzog Ernst (HE F) einer gründlichen Überarbeitung zu unterziehen (HE Vb).476
474 Vgl. die Arbeit von Helmut Melzer: Trivialisierungstendenzen im Volksbuch. Ein Vergleich der Volksbücher „Tristrant und Isalde“, „Wigoleis“ und „Wilhelm von Österreich“ mit den mittelhochdeutschen Epen. Hildesheim, New York 1972 (Dt. Volksbücher in Faksimiledrucken B 3), und die Rez. von Hans-Gert Roloff, in: Daphnis 9 (1980), S. 613–616. – Diese Vorstellung von Prozessen des ‚Absinkens von Kulturgut‘, der Entstehung von ‚Volksbüchern‘ oder der ‚Verbürgerlichung‘ mittelalterlicher Werke ist nicht zu halten. Weder kann für die Frühneuzeit das Vorhandensein zweier klar abgegrenzter Kulturen mit einer einzig von oben nach unten gerichteten Transferbewegung plausibel gemacht werden, was Voraussetzung für das von Hans Naumann beobachtete ‚Absinken‘ wäre (zur Kritik an Naumann vgl. Thomas Schirrmacher: „Der göttliche Volkstumsbegriff“ und der „Glaube an Deutschlands Größe und heilige Sendung“. Hans Naumann als Volkskundler und Germanist im Nationalsozialismus. Eine Materialsammlung mit Daten zur Geschichte der Volkskunde an den Universitäten Bonn und Köln. Neuaufl. in einem Band. Bonn und Neuhausen bei Stuttgart 2000 (Disputationes linguarum et cultuum orbis V,2), hier: vor allem S. 153–169 und S. 396–405), noch finden die als ‚Volksbücher‘ titulierten Werke aufgrund von hohen Beschaffungskosten, verbreitetem Analphabetentum und fehlendem Müßiggang eine Verbreitung, die es rechtfertigen würde, von ‚Volks‘-Büchern zu sprechen (vgl. Kreutzer: Mythos Volksbuch, S. 134 f. u. ö.). Die Verbürgerlichungsthese findet sich dagegen noch bei Roloff: Stilstudien zur Melusine, was ihm die Kritik von Jan-Dirk Müller: Melusine in Bern, S. 57, und Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 68, zuzieht. Denn wie Müller anhand der Melusine zeigt, müssen diese Romane in Anbetracht einer jahrhundertelangen Rezeptionsgeschichte über ein breites Identifikationsangebot verfügen, was „die Frage nach dem Funktionswandel der hystori im veränderten soziokulturellen Kontext“ provoziere – „und zwar schon vor jedem Eingriff in den Text“ (Jan-Dirk Müller: Melusine in Bern, S. 47). Dem ist nicht zu widersprechen und dies stimmt auch mit den grundlegenden Annahmen zur Prosaauflösung von Alois Brandstetter überein (vgl. Brandstetter: Prosaauflösung, S. 25). 475 Imke Schmidt: Gülfferich – Han, S. 35. Vgl. zur ‚Cumpanei‘ auch ebd., S. 22 f. – Ähnlich Terrahe: Druckmetropole Frankfurt, S. 190. 476 Vgl. Gerhardt: Verwandlungen, S. 87.
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Diese wird zwischen 1556 und 1561 zwei Mal von Weigand Han, 1568 von Martin Lechler für Weigand Han Erben und 1580 von Johann Spies für Hartmann Han gedruckt. Im Gegensatz zum Programm der ‚Cumpanei‘ ist jedoch beim Gros der Frankfurter Prosaroman-Produktion in der Tat eine Tendenz zu kostengünstiger Buchherstellung zu erkennen. Ein wesentlicher Faktor, die Kosten zu senken, ist in dem Umstand zu sehen, dass es sich bei den hier untersuchten Titeln um Nachdrucke älterer Werke handelt.477 Ungefähr 70 Prozent des Gesamtprogramms im Verlagshaus Gülfferich-Han stellen bearbeitende Nachdrucke dar.478 Diese erfahren in Frankfurt in der Regel mehrere Ausgaben entweder in demselben Verlag oder in wechselnden Konstellationen innerhalb der untereinander verwandten und verschwägerten Druckerfamilien im weiteren Umkreis der ‚Cumpanei‘.479 In Frankfurt ist der Zwang, kostengünstig zu produzieren, im Übrigen deshalb besonders hoch, da weder eine örtliche Universität noch ein eigener Fürstenhof regelmäßige Druckaufträge in Aussicht stellen.480 Darüber hinaus erhöht sich die Anzahl ortsansässiger Drucker aufgrund der überregional bedeutenden Frühjahrs- und Herbstmesse schnell, sodass sich der Konkurrenzkampf um kaufkräftige Abnehmer im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich verstärkt.481 Gülfferich, Han und ihre Erben orientieren sich dabei „am Käufergeschmack ihrer Zeit“ und nehmen überdurchschnittlich viele volkssprachliche Erzählwerke in ihr Verlagsprogramm auf.482
477 Für das ganze Spektrum unternehmerischen Risikos der Druckerverleger von den hohen Investitionskosten über Rechtsunsicherheiten ihres zunftfreien Gewerbes bis hin zu Kalkulationsschwierigkeiten und zunehmende Konkurrenz nicht nur um Kunden, sondern auch um fähige Arbeitskräfte vgl. Hirsch: Printing, Selling and Reading, S. 27–40. 478 Vgl. Imke Schmidt: Gülfferich – Han, S. 49–51 und S. 259. Vgl. zu dieser Problematik auch Terrahe: Druckmetropole Frankfurt, S. 191 f. – Zu einer Rechtfertigung des Nachdruckens vgl. Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750–1880. Tübingen 1982 (StTSozgeschLit 6), hier: S. 69–90, der einerseits zeigt, dass Nachdrucke bis in die 1730er Jahre allgemein gebilligt werden (S. 70 f.) und dass andererseits ökonomische Zwänge und aufklärerischer Impetus auch danach noch die Nachdrucker bis zu einem gewissen Grad zu rechtfertigen vermögen (S. 81–90). 479 Zu verwandtschaftlichen Beziehungen im Druck- und Verlagshaus Gülfferich – Han – Weigand Han-Erben vgl. Imke Schmidt: Gülfferich – Han, S. 32–40 und S. 25 480 Vgl. ebd., S. 26. 481 Die Messe, die schon vor Erfindung des Buchdrucks als Umschlagplatz für die Bedürfnisse der Handschriften-Produktion dient, ist allerdings auch der Grund, weshalb es ab den 1530er Jahren überhaupt erst zu einer Blüte Frankfurter Druckkunst kommt (vgl. dazu Terrahe: Druckmetropole Frankfurt, S. 177–183 und S. 193 f.). 482 Künast: Frankfurter Drucküberlieferung, S. 337; vgl. dazu auch Erhard Heinrich Georg Klöss: Der Frankfurter Drucker-Verleger Weigand Han und seine Erben. In: AGB 2 (1960), S. 309–374,
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Eine für den Prosaroman als ‚Buchtyp‘ entscheidende Veränderung bedeutet die Verkleinerung des Formats auf Oktav.483 Folgen die frühen Drucke aus der Offizin Christian Egenolffs noch der älteren Tradition des Quart-Formats, so stellen die Druckerverleger Hermann Gülfferich und Weigand Han ihr Prosaroman-Programm „auf das handlichere Oktavformat“ um und sind daher zu umfangreichen Änderungen am „Text- und Bildprogramm“ gezwungen.484 Damit die materiellen Vorteile des Formatwechsels nicht durch die Satzkosten eingebüßt werden, bedarf es Rationalisierungsstrategien, die nicht zulasten der Leserfreundlichkeit gehen.485 Gülfferichs „kompresse, dunkle und wenig zum Lesen einladende Buchseite[n]“ stellen dabei lediglich einen Zwischenschritt dar.486 Erst unter seinem Stiefsohn Weigand Han wird das Verlagshaus „zu d e r Offizin für Romane“.487 Ein erheblicher Kostenfaktor bei frühneuhochdeutschen Erzähltexten ist die standardmäßig reiche Bebilderung. Im Vergleich zu den Augsburger und Straßburger Vorläufern reduzieren die Frankfurter Druckerverleger aber mitnichten ihre Bildprogramme. Fast unverändert bleibt die Anzahl beispielsweise beim Fortunatus: Enthalten die schwäbischen und elsässischen Ausgaben 41 bis 48 Illustrationen, sind es bei den hessischen 48 bis 53.488 Ähnlich verhält es sich bei den Redaktionen des Ritter Pontus A, der mit Ausnahme des Drucks von Martin Flach d.J. (Straßburg 1509, 52 Textholzschnitte) zuerst nur 32 bis 48 Illustrationen enthält, in Frankfurt aber mit 43 bis 56 Holzschnitten versehen wird.489 Weigand Hans Herzog Ernst enthält dagegen trotz umfangreicher Textkürzungen gleich rund zwei Drittel Abbildungen mehr als Sorgs Augsburger
hier: S. 341–343; Imke Schmidt: Gülfferich – Han, S. 45–47. Eine ähnliche Verlagsstrategie verfolgt Christian Egenolff (vgl. Terrahe: Druckmetropole Frankfurt, S. 183–189). 483 Zum Prosaroman als ‚Buchtyp‘ vgl. Kap. 2.1.1.3, vor allem S. 127–129. 484 Künast: Frankfurter Drucküberlieferung, S. 337. 485 Zur Arbeit der Setzer im Zwiespalt von Kostensenkung einerseits und Verbesserung der Rezipientenfreundlichkeit andererseits vgl. Voeste: Leser im Blick. – Zu weiterführenden Fragen des Kostenmanagements vgl. Hirsch: Printing, Selling and Reading, S. 41–60. 486 Rautenberg: Typographie, S. 350; vgl. dazu auch ebd., S. 356 f. – Zum Übergang von Kleinfolio über Kleinquart zu Oktav bei den Wigoleis-Drucken im sechzehnten Jahrhundert vgl. Flood: Formfindung eines Prosaromans, S. 774. 487 Imke Schmidt: Gülfferich – Han, S. 46, zum Programm erzählender Prosatexte vgl. ebd., S. 194–212. 488 Vgl. Jungmayr: Bibliographie, S. 324–330. – Ein Gegenbeispiel liefert indessen die Melusine, hier sind die Augsburger Ausgaben von Johann Bämler und Anton Sorg die am stärksten bebilderten (vgl. Bock: Illustrationsgeschichte, S. 32; die Tabelle bei Gotzkowsky: „Volksbuch“-Ausgaben, S. 202–205). 489 Vgl. Hahn: Einleitung, S. 19–29. Feyerabends Buch der Liebe ist auch hier als Sonderfall anzusehen, es bringt zum Ritter Pontus A lediglich 28 Abbildungen.
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
223
Drucke.490 Für die jüngeren Frankfurter Prosaroman-Drucker zahlt sich indes die Investition Hermann Gülfferichs in hochwertige Illustrationszyklen von Hans Brosamer aus. Dieser „Kleinmeister[ ] der deutschen Renaissance“ ist, als er in Frankfurter Dienste tritt, bereits ein erfahrener Künstler, der schon seit 1528 als Buchillustrator nachzuweisen ist.491 Neben Holzschnitten für theologische und erbauliche, aber auch medizinische und naturkundliche Werke liefert er über 150 Bilder für vier Prosaromane und die Erzählsammlung Sieben weise Meister.492 Einmal im Geschäft, werden die von Gülfferich in Auftrag gegebenen Arbeiten von seinem „Schwiegersohn Weigand Han und dessen Erben“ wiederverwendet.493 Die Rückgriffsmöglichkeit auf diese Holzstöcke bedeutet einen hohen illustrativen Kaufanreiz, um auf dem Buchmarkt bestehen zu können, ohne Geld für Nachschnitte oder gar neue Entwürfe ausgeben zu müssen.494 So dienen allein „[d]ie Fortunatus-Illustrationen Brosamers [...] seit 1549 als Hauptquelle für zahlreiche Wiederverwendungen in wenigstens 30 verschiedenen Frankfurter ‚Volksbuch‘-Ausgaben von 1550 bis 1595“.495 Schon Gülfferich greift für die Illustration seiner Melusine von 1549 auf diese Brosamer-Schnitte zurück, verwendet die Bilderserie damit selbst textfremd wieder, da Brosamers eigentlicher MelusineZyklus erst etwas später entsteht.496 Von Gülfferichs Nachfolgern werden die
490 Vgl. für den Herzog Ernst das Kap. 3.3.4. – Manuel Braun: Verschwinden der Bilder, geht der Frage nach, warum Inkunabeln mit volkssprachlichen Erzähltexten grundsätzlich bebildert sind, heutigen Romanen die Bilddimension dagegen fast gänzlich fremd ist. Der Frankfurter Prosaroman-Druck hat dabei für ihn eine entscheidende Scharnierstelle, da die Exemplare zwar reich bebildert sind, die textfremden Schnitte aber letztlich belegen, dass diese Dimension für das Textverständnis entbehrlich geworden sei, sodass die Abbildungen in einem zweiten Schritt ganz ausfallen können (vgl. ebd. S. 389–393 und S. 406 f.). 491 Vgl. Gotzkowsky: „Volksbuch“-Ausgaben, S. 11–21, hier S. 14, das Zitat S. 19. Mit Fokus auf seine Melusine-Serie wieder als Gotzkowsky: Frankfurter Melusine. 492 Gotzkowsky: „Volksbuch“-Ausgaben, S. 17 mit der Tabelle 355; beachte für die Melusineund Kaiser Octavianus-Serien auch die Nachträge bei Bodo Gotzkowsky: Die Buchholzschnitte Hans Brosamers in naturwissenschaftlichen, humanistischen und satirischen Drucken des 16. Jahrhunderts. Ein bibliographisches Verzeichnis ihrer Verwendungen. Baden-Baden 2012 (StudDtKunstg. 364), hier: S. 361–369. 493 Gotzkowsky: „Volksbuch“-Ausgaben, S. 17; vgl. dazu auch Imke Schmidt: Gülfferich – Han, S. 60. – Die konkurrierende Offizin Christian Egenolff Erben greift dagegen auf die Augsburger Holzstöcke Heinrich Steiners zurück (vgl. Künast: Frankfurter Drucküberlieferung, S. 332–337). 494 Zu Wiederverwendungen bei verschiedenen Frankfurter Druckprojekten vgl. Gotzkowsky: „Volksbuch“-Ausgaben, S. 247–351; Rautenberg: Melusines Basler Erstdruck, S. 62; Rautenberg: Typographie, S. 347 f., sowie Bichsel: Hug Schapler, S. 79 f. 495 Gotzkowsky: „Volksbuch“-Ausgaben, S. 36. 496 Vgl. ebd., S. 143 und S. 17, der Melusine-Zyklus ebd., S. 143–221. Fast gänzlich übersprungen wird der Zyklus von Bock: Illustrationsgeschichte, vgl. aber S. 43 f.
224
2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Serien reichlich genutzt, umgestellt und vermischt und prägen so das Erscheinungsbild der Frankfurter Prosaroman-Produktion. Sie verleihen damit dieser in Bezug auf die Provenienz der Geschichten ganz heterogenen Werkgruppe ein einheitliches Aussehen. Dabei machen sich die Druckerverleger die Mehrdeutigkeit der Bildszenen zu Nutze, um mehrere ganz verschiedene Zusammenhänge desselben Werkes oder eben auch anderer Prosaromane mit denselben Holzschnitten zu illustrieren.497 Dies stellt jedoch ein für die mechanische Bildreproduktion im Druck konstitutives Phänomen dar. Es ist schon bei den früheren Augsburger und Straßburger Ausgaben zu finden, erreicht in Frankfurt jedoch ein anderes quantitatives Ausmaß. Die „Variation und Kopie von Bildformeln“ sowie „Wiederholung und Austausch von Druckplatten“ entwickeln sich nach Norbert H. Ott vom Spätmittelalter zur Frühneuzeit zu einem „immer verbindlicher werdende[n] Prinzip der Buchillustration“.498 Gerade weil dabei auf einen Fundus bereits vorliegender Holzstöcke zurückgegriffen werden kann, der zu immer neuen Kombinationen einlädt, erhöhen die textexterne Zweitverwendung und die textinterne Wiederholung des Bildmaterials die Varianz der einzelnen Redaktionen im Vergleich mit dem in verschiedenen Ausgaben oftmals geringer abweichenden Haupttext.499 Die eigentlich am nächsten liegenden Möglichkeiten, Produktionskosten zu minimieren, liegen in der Kürzung des Haupttextes und im Wegfall einleitender sowie nachstehender Paratexte. Wenn die Vorreden der Einzeltexte im Buch der Liebe entfallen, so ist dies von der Sammlungsform her bedingt, aber auch andernorts werden Rahmungstexte unterdrückt.500 Wenn Weigand Han Gülfferichs Melusine 1556 und um 1562 zwei Mal nachdruckt, folgt er nur in der ersten Ausgabe seiner Vorlage getreu und kürzt für die zweite Redaktion den Haupttext. Diese Kürzungen bestimmen dann auch die weitere Frankfurter Überlieferung – Feyerabends Sammlung mit eingeschlossen.501 Dass es für die Druckerverleger aber durchaus kompliziert ist, Textteile wegzulassen, ohne die Textlogik zu stören, belegen die Ausführungen Jan-Dirk Müllers zum Umgang Gülfferichs und der Egenolff-Erben mit Thürings Vorrede zur Melusine.502 Da die Schlussbemer-
497 Vgl. Neuber: Ökonomien des Verstehens, S. 192 f. 498 Vgl. das Kap. Variation, Kopie, Wiederholung: Die Multivalenz der Bildtypen bei Norbert H. Ott: Leitmedium Holzschnitt, S. 191–216, die Zitate ebd., S. 215. 499 Vgl. Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 49 f., anhand der Frankfurter Fortunatus-Drucke. 500 Vgl. stellvertretend Flood: Formfindung eines Prosaromans, S. 776, zum Wigoleis. 501 Vgl. Rautenberg: Typographie, S. 346–348. Zu Kürzungen der Hug Schapler-Drucke von Weigand Han (1556) und Catharina Rebart für Kilian Han (1571) vgl. Bichsel: Hug Schapler, S. 79– 86, vor allem S. 79 f. und S. 82. 502 Vgl. auch für das Folgende Jan-Dirk Müller: Text und Paratexte, S. 25 f.
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2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
kungen Informationen aus der Einleitung vorraussetzen, kann diese nicht völlig entfallen, sodass sich Gülfferich zu einem Nachtrag gezwungen sieht. Die Textersparnis wird dadurch jedoch wieder eingebüßt. Die späteren Redaktionen der Egenolff-Erben finden dagegen einen Weg, die Paratexte zu verkürzen, ohne den Leser zu irritieren. Mit etwa einem Drittel des Vorlagentextes fallen die Kürzungen in der Frankfurter ‚Volksbuch‘-Redaktion des Herzog Ernst besonders umfangreich aus. Dabei stellt John L. Flood aber fest, dass das Werk „durch die Kürzung mehr gewonnen als verloren“ habe. Denn statt nur mechanisch die Textmenge zu reduzieren, achte der ungenannte Bearbeiter auf eine „ausgeglichenere“ Präsentation der Erzählung.503 Überraschend fällt die längere Passage über Adelheids Wundertätigkeit am Ende des Romans nicht weg, obwohl die protestantischen Druckerverleger ansonsten Katholizismen mehr oder weniger sorgfältig tilgen.504 Doch übersieht man bei allgemein vorherrschenden Kürzungstendenzen, dass beispielsweise der Fortunatus-Bearbeiter für den Gülfferich-Druck von 1549 zwar hier und da etwas knapper erzählt, (die teilweise enzyklopädischen) Erläuterungen und die ohnehin spärlichen Erzählerkommentare weiter zusammenstreicht, der Vorlage aber umgekehrt auch zwei neue Szenen hinzufügt.505 Neben der quantitativen Stärkung der Dimension der Illustrationen verzeichnet die Forschung zum Frankfurter Prosaroman Tendenzen zur stärkeren Untergliederung des Haupttextes durch Absätze und eine Verfestigung der Kapitelstruktur.506 Martin Behr weist in seiner sprachgeschichtlichen Dissertation nach, dass innerhalb der Melusine-Überlieferung erstmals beim Druck Christian Egenolffs von 1578 alle Zwischentitel konsequent auf den nachfolgenden Kapiteltext verweisen, womit nicht länger tituli, sondern echte Kapitelüberschriften vorliegen.507 Zudem wird das Titelblatt „zum Erkennungszeichen und Werbeträger“508
503 Flood: Einleitung, S. 58 f.; vgl. dazu auch Gerhardt: Skiapoden, S. 65 f.; Hans-Joachim Behr: Einleitung, S. 30 f., sowie Hans-Joachim Behr/Szklenar: Art. Herzog Ernst, S. 1183 f., und das Kap. 3.1.1. 504 Der ökonomische Impetus zielt hier freilich nicht auf die minimale Reduzierung der Textmenge, sondern darauf, die vorreformatorischen Werke einem protestantischen Publikum gefällig zu machen, vgl. Valckx: Volksbuch, S. 101, zum Fortunatus; Theiß: Schöne Magelona, S. 147, zur Magelone, sowie Flood: Formfindung eines Prosaromans, S. 776, zum Wigoleis. 505 Vgl. dazu Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 49; Valckx: Volksbuch, S. 100 f. 506 Vgl. Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 468–471; Simmler: Mikro- und Makrostrukturelle Merkmale, S. 221–227, sowie Bichsel: Hug Schapler, S. 82. 507 Vgl. Martin Behr: Buchdruck und Sprachwandel, S. 134 f. und S. 339 f., zur Entwicklung der Zwischentitel beim Herzog Ernst vgl. das Kap. 3.3.5. 508 Rautenberg: Typographie, S. 357. – Zum syntaktischen Wandel von Titelformulierungen vgl. Ursula Götz: ‚Welche König Helmas in Albanien Tochter/ und ein Meer-Wunder gewesen.‘ Zur
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
und Anpassungen an den allgemeinen Sprachwandel werden hier besonders konsequent durchgeführt,509 wobei Aktualisierungen „im Hinblick auf Zeichensetzung, Orthographie, Morphologie, Wortschatz und Syntax“ fast bei allen Prosaroman-Redaktionen auch andernorts belegt werden können.510 Einen Überblick über Titelblätter, Signete, Holzschnitte und Schriften des Verlagshauses Gülfferich-Han gibt Imke Schmidt, die „das besondere Verdienst“ des Frankfurter Buchdrucks jedoch darin sieht, dass die meisten Werke hier, wie oben erwähnt, „erstmals in dem leserfreundlichen Oktavformat herausgegeben“ werden.511
2.2.2.4 Das ‚breite‘ siebzehnte Jahrhundert und späte Textsortenwechsel Streuüberlieferung ist kein Phänomen, das spezifisch mit dem siebzehnten Jahrhundert zu assoziieren ist. Für alle hier betrachteten Zeiträume kommt es vor, dass einzelne Drucker einzelne Ausgaben einzelner Werke auf den Markt bringen, ohne dass in der Folge weitere Redaktionen desselben Werkes oder andere Prosaromane an demselben Ort erscheinen. Schon in der Inkunabelzeit stehen die beiden Ulmer Apollonius-Drucke von Konrad Dinckmut (1495) und Johann Zainer d.J. (1499) sowie der prominente Basler Melusine-Erstdruck von Bernhard Richel (1473/74) isoliert. Durch Heinrich Knoblochtzers Übersiedelung von Straßburg nach Heidelberg entsteht auch an diesem Ort 1491 ein einzelner Melusine-Wiegendruck.
Syntax von Titelblättern des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013, S. 237–260. 509 Vgl. Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 38/Anm. 112; Flood: Formfindung eines Prosaromans, S. 776, sowie Martin Behr: Buchdruck und Sprachwandel, vor allem S. 233–334. 510 Flood: Einleitung, S. 53 f. 511 Imke Schmidt: Gülfferich – Han, S. 259; vgl. auch das Kap. Ausstattung der Drucke ebd., S. 51–65.
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
227
Abb. 10: Druckorte verschiedener Prosaroman-Redaktionen im fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhundert.512 1471–1550
Augsburg
49
Straßburg
26
Köln
2
Ulm
2
Zürich
1
Basel
1
Heidelberg
1
Worms
1
Ingolstadt (?)
1
1550–1600/25 Frankfurt a. M.
1650–1700
74
Leipzig
13
Straßburg
13
Augsburg
10
Köln
3
Magdeburg
3
Basel
1
Erfurt
1
Nürnberg
28
Erfurt
1
Annaberg
1
512 Berücksichtigt werden Redaktionen der in Anm. 471 aufgelisteten Romane. Die Angaben sind entnommen aus Gotzkowsky: Bibliographie der deutschen Drucke, wobei ich für Ausgaben der Melusine auch auf die aktualisierte Zusammenstellung bei Habermann u. a.: Zeichensprachen, S. 6 f., zurückgreife. Bestehende Unsicherheiten bei der Datierung oder Ortszuschreibung fallen nicht so sehr ins Gewicht, als dass grundsätzliche Tendenzen – und allein um solche geht es an dieser Stelle – verfälscht würden. An den Rändern der Zeitraumgrenzen bin ich nicht trennscharf vorgegangen. Ausgabenfolgen eines Druckers, welche die zeitlichen Grenzen der Einteilung überschreiten (Hans Zimmermann, Augsburg 1548 bis 1552, und Jakob Frölich, Straßburg 1539 bis 1554), sind summiert dem früheren (Zimmermann) beziehungsweise späteren (Frölich) Zeitraum zugeschlagen. Redaktionen, die heute nicht mehr nachzuweisen sind, lasse ich außen vor.
228
2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
In der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts schließen sich an verschiedenen Orten, die ebenfalls nicht für weitere Prosaroman-Ausgaben bekannt sind, Drucke des Kaiser Octavianus an: Köln (Johann von Aich 1537 und um 1540), Zürich (Augustinus Frieß um 1540/49) und möglicherweise Ingolstadt (Alexander Weißenhorn 1543). Der letztgenannte, unfirmierte Druck könnte jedoch auch von Heinrich Steiner aus Augsburg stammen und wäre damit ein Standardfall. Um 1550 erfolgt in Worms eine alleinstehende Tristrant-Ausgabe von Gregor Hofmann. In diese ‚Tradition‘ streuender Überlieferung reihen sich die Herzog Ernst VbAusgaben des frühen siebzehnten Jahrhunderts aus Basel (Johann Schröter 1610), Erfurt (Jakob Singe 1611) und Straßburg (Marx von der Heyden 1621) nahtlos ein. Hierher gehört eigentlich auch die Magdeburger Redaktion Johann Franckes von um 1600, allerdings tritt Francke zeitgleich mit Drucken von Apollonius und Fortunatus hervor, wodurch er das Magdeburg der Jahrhundertwende – wie Heinrich Nettesheim zu derselben Zeit Köln – zu einem kleinen Zentrum der Prosaroman-Produktion macht. Auch Nettesheim bringt um die Wende zum siebzehnten Jahrhundert ebenfalls jeweils eine Ausgabe von drei verschiedenen Prosaromanen heraus (1588 Fortunatus, 1593 Kaiser Octavianus und um 1603 Magelone [unsicher]). Die Hamburger und Lübecker Drucke sind dem niederdeutschen Prosaroman zuzuordnen und damit ein Sonderfall, den ich hier ausklammern möchte. Die für den Überblick getroffene Werkauswahl bringt es indes mit sich, dass Johann Georg Hertz’ Erfurter Galmy-Druck von 1675 und die Melusine David Nikolais (Annaberg 1692/93) die einzigen Fälle echter Streuüberlieferung in der zweiten Hälfte des vermeintlich ‚breiten‘ siebzehnten Jahrhunderts sind. Wie Augsburg mit 49 und Straßburg mit 26 Redaktionen die Zeit vom Anfang des Drucks volkssprachlicher Romane bis um 1550 dominieren, sind Frankfurt a. M., wo 74 Drucke bis um 1600, und Leipzig, wo immerhin 13 Drucke (ausschließlich von oder für Nikolaus Nerlich) bis in die 1620er Jahre hinein erscheinen, jeweils das Zentrum des ‚Buchtyps‘ Prosaroman für die genannten Zeiträume.513 Ehe in der zweiten Jahrhunderthälfte Nürnberg mit dem Druck- und Verlagshaus
513 Terrahe: Druckmetropole Frankfurt, S. 182 f., zeigt auf der Basis von VD16-Daten Tendenzen der allgemeinen Buchproduktion auf, die sich mit den Ergebnissen für die Prosaroman-Drucke bis auf die Rolle Wittenbergs und Kölns decken. Den Übergang von Frankfurt nach Leipzig sieht Terrahe in stärker werdenden Restriktionen im Zusammenhang mit der Messe (vgl. ebd., S. 193 f.). – In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wird die Vorherrschaft Leipzigs aufgrund einer Neustrukturierung des Buchmarktes erdrückend, wobei es dabei vornehmlich um die Produktion zeitgenössischer Titel geht (vgl. Wittmann: Buchmarkt und Lektüre, S. 72–74; Rarisch: Industrialisierung und Literatur, S. 27).
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
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Endter die dominante Stellung (28 Redaktionen verschiedener Romane) gewinnt. Seine rege Produktion löst den vorausgehenden Druck an anderen Orten nahezu vollständig ab, sodass für die zweite Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts sogar eine Verengung der Prosaroman-Herkunft vorliegt. Für zwei von Elisabeths Romanen wird oben auf Bearbeitungen von Johann Ferdinand Roth und Dorothea Schlegel um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert hingewiesen. Nicht nur, dass die Urheber namentlich bekannt sind, sondern auch das Ausmaß der Eingriffe in den vorliegenden Text sind vor dem Hintergrund der Text- und Überlieferungsgeschichte des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts ungewöhnlich. Es lässt sich von diesem Befund ausgehend die These formulieren, dass Prosaromane nur oder zumindest mit größerer Wahrscheinlichkeit über die Aufklärungsepoche hinaus tradiert werden, wenn sie (spätestens) um 1800 eine grundlegende Erneuerung erfahren. Um diese These zu überprüfen, müsste jedoch ein ganzes Set text- und überlieferungsgeschichtlicher Fragen beantwortet werden, was dann Gegenstand einer eigenen Arbeit sein könnte. Nicht nur wäre für eine repräsentative Werkgruppe festzustellen, ob und wann ihre Vertreter außergewöhnlich stark aktualisiert werden, es müssten dabei auch Grade der jeweils vorliegenden Überarbeitungsintensität ausgewiesen werden. Von Relevanz wäre weiterhin, ob sie nur in der aktualisierten oder auch in einer ursprünglicheren Form tradiert werden. Dabei wäre außerdem zu überlegen, wie mit gelehrten und populären Sammlungsprojekten umzugehen ist.514 Zuletzt müsste eine Gegenprobe das etwaige Fortleben jener Romane in den Blick nehmen, die keine Erneuerung erfahren, welche über ein zu explizierendes Mindestmaß hinausreicht, und stets wäre als Kontrollvariable im Blick zu behalten, ob es konkurrierende Werke mit derselben Stoffgrundlage – wie beispielsweise die Dramatisierungen durch Hans Sachs – gibt, welche das Abreißen der Tradierung alternativ erklären würden. Hier kann ich das Untersuchungsfeld nur anhand einiger Beispiele umreißen. Franz Simmler zeigt an der Textgeschichte der Schönen Magelone einen fließenden Übergang vom ‚Früh-‘ zum ‚Neuhochdeutschen Prosaroman‘ auf. Die ‚Vulgata‘-Tradition werde noch nach 1750 fortgesetzt, wobei sich parallel dazu „eine neue Texttradition“ herausbilde, „die zwar noch auf dem Magelonestoff beruht, ihn aber sprachlich so umgestaltet, daß eine neue Textsorte“ entstehe.515 Sie zeichne sich durch Emotionalisierung sowie „makrostrukturelle, syntaktische 514 Vgl. André Schnyder: Ein Volksbuch machen. Zur Rezeption des Melusine-Romans bei Gustav Schwab und Gotthard Oswald Marbach. In: Euphorion 103/3 (2009), S. 327–368, hier: vor allem S. 355 f. und S. 364; Jan-Dirk Müller: Text und Paratexte, S. 17 f. 515 Vgl. Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 474 f., die Zitate ebd., S. 475; ähnlich (auch zum Folgenden) Simmler: Makrostrukturelle Veränderungen, S. 195 f.
230
2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
und lexikalische Veränderungen“ aus und wird von Simmler als ‚Erzählung‘ bezeichnet.516 Allerdings bezweifelt Simmler an dieser Stelle, dass der Druck Frankfurt/Leipzig ohne Drucker und Jahr noch als Redaktion von Warbecks Werk aufzufassen sei. Dabei ist jedoch auffällig, dass das Titelblatt entgegen der Anonymisierungstendenz später Redaktionen „Vitu[s] Warbeck“ als Übersetzer nennt.517 Wenn außerdem mit Georg Spalatins Sendbrief eine Dimension entfällt, die der Erstdruck Warbecks handschriftlicher Redaktion hinzufügt, findet in dieser Hinsicht sogar eine Annäherung an die ursprüngliche Version des Mageloneromans statt.518 An vielen Stellen lassen sich galante Formulierungen des Komplimentierstils nachweisen (vgl. das erste Gespräch der Protagonisten, Ma 1800, S. 12–14), welche auch die im Anschluss erwähnte Bearbeitung der Melusine kennzeichnen. Während das Gros der Handlung der ‚Vulgata‘-Tradition folgt, fügt diese Redaktion an einigen Zentralstellen jedoch ganze Szenen hinzu. Dadurch wird gerade die Liebeshandlung stärker gewichtet. Zu erwähnen sind vor allem Peters Auftritt als „Minnesaͤ nger“ (vgl. Ma 1800, S. 25–27, das Zitat S. 25), der gemeinsame Aufenthalt in der Waldeinsamkeit eines Köhlerpaares (vgl. Ma 1800, S. 33–39) und das neue Ende, das die Protagonisten vor ihrer Hochzeit mit Magelones Eltern versöhnt (vgl. Ma 1800, S. 82–87), wobei die Wiedervereinigung der neapolitanischen Königsfamilie just an jenem Ort angesiedelt ist, an dem Peters Fürwitz zu einem früheren Zeitpunkt die Unschuld der schlafenden Magelone bedroht (vgl. Ma 1800, S. 85 f.). Darüber hinaus kommt Peter wie in der ursprünglichen Tradition auf seiner Irrfahrt nach der Trennung von Magelone an den Hof des Sultans. Die ritterlichen Ehren, die er sich dort verdient, können ihn auch hier nicht über die Sehnsucht nach seiner verlorenen Liebe hinwegtrösten (vgl. Ma 1800, S. 43– 45). An die Stelle seiner Hinwendung zu Gott tritt aber, ohne dass diese Komponente in der Neuredaktion ganz aufgegeben wäre, ein Lied auf seine Einsamkeit (vgl. Ma 1800, S. 45 f.), das die Redaktion nach Simmler in die Nähe von Ludwig Tiecks Bearbeitung von 1797 rückt.519 Das lyrische Ich beschreibt sich im spiegelnden Einklang mit der es umgebenden Natur, erkennt die Gefahren einer Hingabe an die Einsamkeit und erwartet doch auch vom Tod nichts anderes, als im Grab allein zu sein.
516 Vgl. Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 477–482, das Zitat ebd., S. 481. 517 Ich verwende das Exemplar der HAB Wolfenbüttel, Sign. Lm 14 f. Die Stellennachweisklammern im Fließtext beziehen sich auf dieses Exemplar. 518 Vgl. zu Spalatins Sendbrief S. 252–254 im Kap. 2.3.1.2. 519 Vgl. Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 480, wobei Simmler von ‚Liedern‘ im Plural spricht, das vorliegende ist neben dem Selbstzitat dreier Verse des ‚Minnesängers‘ Peter (vgl. S. 34) jedoch das einzige.
231
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
Die Verschiebung zugunsten der Liebeshandlung bei gleichzeitiger Kürzung des Gesamttextes ist augenfällig. Hinsichtlich des ‚Buchtyps‘ überrascht dabei das fast vollständige Fehlen der Bilddimension. Lediglich die Rückseite des Titelblatts zeigt Peter und Magelone alleine im Wald. Dennoch ersetzt diese Neuredaktion die ‚Vulgata‘-Tradition nicht. Denn im neunzehnten Jahrhundert verlaufen beide Traditionsstränge nebeneinander.520 Auch von der ursprünglichen Tradition der Melusine spalten sich im achtzehnten Jahrhundert die Überlieferungsstränge zweier Bearbeitungen ab, die im Kolportagehandel miteinander konkurrieren.521 Schon am Anfang des Jahrhunderts tritt die Historische Wunder-Beschreibung von der sogenannten schönen Melusina (HWB) mit (para-)textuellen, makrostrukturellen, syntaktischen sowie lexikalischen, aber auch mit motivlichen und motivatorischen – also mehrdimensionalen – Änderungen in barockisierter, galanter, stellenweise dramatisierter und psychologisierender Gestalt hervor.522 Im Nachhinein betrachtet erweist sie sich als die erfolgreichere Erneuerung. Daneben haben sich aber auch fünf verschiedene Redaktionen einer Wunderbaren Geschichte von der edlen und schönen Melusina (WG) aus dem Zeitraum 1785 bis 1810 erhalten, die aufgrund der Provenienz der Drucke in der erst jüngst einsetzenden Erforschung ‚Sächsische Überlieferung‘ genannt werden.523 Obwohl sie die alte Geschichte konsequent auf Neuhochdeutsch bietet, verzichtet die WG auf größere Zugeständnisse an den Geschmack der Zeit. Auch ihr Bilderschmuck ist sehr einfach gehalten, wobei gleich acht der nur 24 Holzschnitte Wiederholungen sind. Besonderes Augenmerk verdient dabei die Sprechinstanz des Nachworts als beredtes Beispiel aktualisierender Tradierung. Zu Anfang meldet sich ein Ich, das angibt, „im Jahre 1456“ die Übersetzung „voͤ llig zu Stande gebracht“ zu haben. Es folgt die aus der Vulgata-Tradition bekannte Aufzählung sichtbarer
520 Vgl. ebd., S. 482–484. 521 Zum Kolportage-Handel des neunzehnten Jahrhunderts vgl. Rarisch: Industrialisierung und Literatur, S. 44–47 und S. 49. 522 Vgl. Schnyder: Historische Wunder-Beschreibung; Künast: Melusine im 18. Jahrhundert, S. 54–58; Lötscher: Zeremoniell in der HWB; Lötscher: Textgestaltung der HWb; Drittenbass: Dialoge in der HWb; Gelzer: HWb und Romanreflexion, S. 695–701, sowie Simmler: Melusine um 1700, S. 590–602 und S. 606 f. – Zu Überlegungen hinsichtlich der Verbindung von ‚Vulgata‘Tradition und HWB vgl. Schnyder: Neuausgabe der HWB, S. 75–83. 523 Vgl. Künast: Melusine im 18. Jahrhundert, S. 59 f.; John L. Flood: „Drei ‚Londoner‘ Spätausläufer der ‚Melusine‘-Überlieferung. In: Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. Hg. von Mechthild Habermann u. a. Berlin, Boston 2013, S. 33–51, hier: S. 34–42; Martin Behr: Wandel der Verknüpfungsmittel, S. 136 f. – Ich benutze das undatierte und unfirmierte Exemplar der SBB-PK Berlin, Sign. Yt 3751, das zitierte Nachwort unter der Überschrift Beschluß auf S. 127 f.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Zeugnisse.524 Schließlich verweist das Ich auf eine „Chronika, welche uͤ ber 100 Jahre im Verborgenen gelegen“ habe, um die Behauptung der Faktizität des Erzählten zu stützen. Zuletzt jedoch tritt das Übersetzer-Ich aus dem Kontext des fünfzehnten Jahrhunderts heraus und kündigt an, „kuͤ nftig“ noch mehr „[d]ergleichen Raritaͤ ten und seltsame Sachen, als von den Gespenstern, Einoͤ den, Wuͤ steneyen, bezauberten Schloͤ ssern und Castellen, wovon noch heut zu Tage viel in Armenien und Ropirgam zu finden sind“, vorzulegen. Es schreibt die Melusine damit ausgehend von der armenischen Sperberburg, an die Melusines Schwester Melior durch den mütterlichen Fluch gebunden ist, paratextuell an die literarische Mode der Phantastik an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert heran, ohne dass dies jedoch Konsequenzen für die Art der Bearbeitung des Haupttextes haben würde. Ab den 1830er Jahren greift die „die anonyme Massenware“ aus Köln und Reutlingen aber nicht mehr auf HWB oder WG, sondern auf die ‚Vulgata‘-Tradition zurück.525 Daneben stehen außerdem die Bearbeitungen für die ‚Volksbuch‘Reihen des neunzehnten Jahrhunderts, für welche die traditionsreichen Geschichten auf ein neues Mal umgeformt werden.526 Ein weiteres Beispiel, das die Kontingenzen des Überlieferungsprozesses demonstriert, sind zwei tiefgreifende Neuredaktionen des Fortunatus. Die beiden verbindet nicht nur das Vorhandensein von Motti, sondern auch die auffällige inhaltliche Parallele, dass Andreas die Juwelen des englischen Königs erbeuten kann. Die erste trägt den Titel Fortunatus mit seinem Seckel und Wunschhuͤ tlein. Eine alte Geschichte fuͤ r neue Zeiten. Sie ist in einem auf 1787 datierten Exemplar der British Library in London (Sign. 1074.d.31) erhalten,527 wird aber bereits im Allgemeinen Verzeichniß derer Buͤ cher, welche in der Frankfurter und Leipziger Ostermesse des 1785 [sic] Jahres entweder ganz neu gedruckt, oder sonst verbessert, wieder aufgeleget worden sind, auch inskuͤ nftige noch herauskommen sollen als eine der [f]ertig gewordene[n] Schriften und zwar als Erzeugnis des Wiener Buchdruckers und -händlers Johann David Hoͤ rling gelistet.528 Eine geplante Fortset-
524 Wobei an die Stelle des Augenzeugen der lusinischen Baudenkmäler ein ganzes Geschlecht „von Erlach“ tritt, das sich ehedem im Besitz jener Schlösser befunden habe. 525 Rautenberg: Melusines Basler Erstdruck, S. 62; vgl. dazu Künast: Melusine im 18. Jahrhundert, S. 60. 526 Diese Redaktionen sind erfasst bei Habermann u. a.: Zeichensprachen, S. 8. Vgl. dazu Schnyder: Ein Volksbuch machen, passim; Künast: Melusine im 18. Jahrhundert, S. 60, sowie Jan-Dirk Müller: Text und Paratexte, S. 17 f. 527 Die UB Bayreuth hält eine Mikroverfilmung vor (Sign. 19/GF 6516 F74.787–1), die ich benutze – die Seitenangaben jeweils in Nachweisklammer. 528 Die Liste: S. 511–629, der fragliche Eintrag: S. 544. – Nachgewiesen von Jungmayr: Bibliographie, S. 333, und für das Jahr 1787 im Verzeichnis der Erstausgaben von Michael Hadley:
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
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zung – das Titelblatt und ein Hinweis an der Stelle des Explicits klassifizieren sie als einen ersten Teil – dürfte dadurch verhindert worden sein, dass diese Redaktion bereits 1787 verboten wird.529 Friedrich Heinrich von der Hagen beurteilt die Redaktion in einer Anmerkung negativ. Die bekannte Geschichte sei hinter „Digressionen, Spaͤ ßen, Kreuz- und Querspruͤ ngen“ kaum noch zu erkennen.530 Sie bricht ab, wie Fortunatus Glückssäckel und Wunschhut von der Glücksjungfrau erhält (vgl. F 1787, S. 154 f.). Es hat viel für sich, in der Schrift, „ein[en] Anhang zum Candide“ zu sehen (F 1787, S. 42 f./Anm. 14), da Fortunatus hier zunächst lernt, den Menschen zu misstrauen (vgl. F 1787, S. 85 f. und S. 101 f.), ihre Bosheit zu erkennen (vgl. F 1787, S. 145–147) und letztlich an Gottes Gerechtigkeit zu zweifeln (vgl. F 1787, S. 150–152). Der Redaktor erhebt dabei gar nicht den Anspruch, einen ‚Roman‘ zu bieten (vgl. F 1787, S. 9–12 und S. 16–18). Vielmehr handele es sich um die Ausgestaltung des moralischen Lehrsatzes: „der Mensch“ läuft, „wenn nicht die ersten Gruͤ nde der Tugend im Kindesalter seiner Seele eingegraben werden, Gefahr [...], der ungluͤ cklichste, der veraͤ chtlichste, und bedauernswertheste Mensch zu werden“ (F 1787, S. 17). Intertextuell verortet der Bearbeiter seinen Fortunatus in der Nähe Christoph Martin Wielands (vgl. F 1787, S. 8, S. 15, S. 41 f.), Friedrich Nicolais (vgl. S. 15), Gotthold Ephraim Lessings (vgl. S. 126 und S. 131), aber auch Christian Fürchtegott Gellerts (vgl. S. 61 f.). Spätestens wenn der Zwischentitel zum siebten Kapitel nicht dem bearbeiteten Inhalt, sondern der ‚Vulgata‘-Tradition des Romans folgt und gegen den Haupttext ankündigt, dass Andreas einen Edelmann ermordet, und in ein Privet werfe (F 1787, S. 106), entsteht der Eindruck, dass die bekannten Versatzstücke lediglich als Tarnung fungieren, um unter dem Deckmantel der alte[n] Geschichte Adels-,531 Kirchen-, und vor allem Religionskritik zu verbreiten. Denn nicht nur widmet sich der Erzähler den Tabuthemen weibliche Selbstbefriedigung im Kloster (vgl. F 1787, S. 31 f./Anm. 5 und S. 36 f.) und Legitimität
Romanverzeichnis: Bibliographie der zwischen 1750–1800 erschienenen Erstausgaben. Bern u. a. 1977 (EuHS-1 166), hier: S. 139. 529 Vgl. das Verzeichnis der in den Jahren 1787 und 1788 von der k. Zensur verbotenen Buͤ cher (enthalten im zehnten, anonym erschienenen Band der Materialien zur alten und neuen Statistik von Boͤ hmen (Leipzig/Prag: Widtmann 1790), S. 33–37. Interessanterweise verweist bereits die Redaktion selbst auf die Praxis der Zensur (vgl. S. 120). 530 F[riedrich] H[einrich] v[on] d[er] Hagen: Beitrag zur Geschichte und Literatur der Deutschen Volksbücher. In: Museum für Altdeutsche Literatur und Kunst. Bd. 1. Hg. von J[ohann] G[ustav] Buͤ sching, F[riedrich] H[einrich] v[on] d[er] Hagen, B[ernhard] J[oseph] Docen. Berlin 1809, S. 238–311, hier: S. 281/Anm. 17. 531 Schon das einleitende Xenophon-Motto fuͤ r metaphysische Leser inszeniert das Werk als Fürstenspiegel (vgl. F 1787, fol. A2r.).
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
des Selbstmordes (vgl. S. 106 f.), er argumentiert darüber hinaus gegen die Sinnlosigkeit eines äußeren Gottesdienstes (vgl. S. 124–126), zieht die Schöpfungsgeschichte in Zweifel (vgl. S. 34), erwägt den Aberglauben als möglichen Ursprung des Gottesglaubens (vgl. S. 41/Anm. 13), deklariert Religion zum bloßen Erziehungsgegenstand, zu deren Wechsel es den Menschen lediglich an Muße fehle (vgl. S. 86 f.), und übt Kritik an der Ohrenbeichte (vgl. S. 111). Aus Fortunatus’ Perspektive markiert er den Widerspruch zwischen göttlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, stellt in Verbindung mit der Dualismus-These die Fragen der Theodizee (vgl. F 1787, S. 116–120) und nach dem Endzweck der Schöpfung (vgl. S. 120–123). Rechnet man diese späte Neuredaktion überhaupt zur Überlieferungsgeschichte des Fortunatus, so ist sie aufgrund der frühen Indizierung und der daraus resultierenden geringen Verbreitung als eine ‚historische Sackgasse‘ anzusehen.532 Die einzige mir bekannte Ausgabe der zweiten Erneuerung wird inzwischen auf um 1850 datiert. Ich bespreche sie in den Kap. 1.2 und 1.3 ausführlicher. Wie die oben besprochene radikalaufklärerische Redaktion bildet auch diese keine eigene Tradition aus. Denn die späteren Drucke – wie bei Justus Fleischhauer in Reutlingen – folgen wieder der ‚Vulgata‘-Fassung. Als letztes Beispiel gehe ich kurz auf die Überlieferung der ‚Volksbuch‘Fassung des Herzog Ernst ein. In der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts und damit deutlich früher als die oben genannten Bearbeitungen wird der Herzog Ernst F möglicherweise im Umkreis des Verlagshauses Gülfferich-Han radikal gekürzt. Die genauen Tendenzen dieses Vorgehens bespreche ich im Hauptteil der Arbeit.533 Ein zweiter Einschnitt innerhalb der Textgeschichte dieses Prosaromans erfolgt jedoch innerhalb des durch die erwähnten Erneuerungen anderer Werke bezeichneten Zeitfensters. Vor der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts – der einzige datierte Druck dieser Überlieferungsgruppe nennt die Jahreszahl 1742 – wird die Kurzfassung des Romans um einen Anhang mit Sprichwörtern verlängert.534 Die datierte Redaktion kann dabei allerdings nicht die ursprüngliche Version dieser durchaus kuriosen Sammlung enthalten, da sie nur 59 Einträge enthält, während andere Redaktionen dagegen 117 Redensarten aufweisen. Eine nachträgliche Vermehrung der Anzahl ist aufgrund der alphabetischen Sortierung auszuschließen. Karl Simrocks Sammlung der Deutschen Volksbücher erhebt nun mit ihrem Untertitel den Anspruch, die enthaltenen Werke in ihrer urspruͤ nglichen Echtheit
532 Vgl. zu diesem Begriff Zwierlein: Pluralisierung und Autorität, S. 23. 533 Vgl. das Kap. 3.1.1. 534 Vgl. zu diesem Anhang S. 255–260 im Kap. 2.3.1.2 sowie Flood: The Survival, Bd. 1, S. 307– 309.
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
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wiederhergestellt vorzuhalten.535 Im dritten Band (Frankfurt a. M.: Heinrich Ludwig Brönner 1846) greift er für seine Herzog Ernst-Ausgabe aber nicht etwa auf die F-Fassung oder die frühesten Drucke der Frankfurter Prosafassung zurück, sondern auf die um den Sprichwörter-Anhang verlängerte Variation des achtzehnten Jahrhunderts. Doch hat Simrocks Anhang weder 59 noch 117 Einträge, sondern 97.536 Einen einzelnen intentionalen Grund, mit dem sich alle Streichungen erklären lassen würden, vermag ich nicht zu erkennen. Einerseits entfallen unverfängliche Redensarten wie „Boͤ se Exempel verderben gute Sitten“ (HE Vb P1, S. 89),537 andererseits lässt Simrock auch das antifeudalistische Skandalon „Aller Adel hat einen Misthaufen zum Vater, und die Verfaͤ ulung zur Mutter“ (HE Vb P1, S. 87) beiseite. Auch im Hinblick auf die im Kap. 2.3.1 herausgearbeiteten Themen des Anhangs lässt sich keine einheitliche Strategie von Simrocks Bearbeitung aufzeigen. Auffällig ist aber, dass neun von 20 Auslassungen den elften bis 22. Eintrag betreffen, während an anderer Stelle über 20 Redensarten in Folge übernommen werden.538 Da die Redensarten jedoch nicht thematisch, sondern alphabetisch angeordnet sind, zeitigt die konzentrierte Auslassung keine inhaltlichen Folgen. Der Eindruck einer „kunterbunte[n] Mischung frommer Sprüche [...], moralischer Lehren [...], bitterer Polemik [...] und skurrilen Humors“ bleibt in der Simrock’schen Redaktion gewahrt.539 Auch wenn Simrock noch Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einen Teil des Anhangs in seiner Redaktion beibehält, so erscheinen doch etliche andere Ausgaben des Jahrhunderts ohne denselben,540 was belegt, dass diese Neuerung für eine weitere Tradierung des Herzog Ernst Vb nicht notwendig ist.
535 Zum komplizierten Nebeneinander der von Simrock veranstalteten ‚Volksbuch‘-Reihen vgl. Hugo Moser: Karl Simrock. Universitätslehrer und Poet. Germanist und Erneuerer von „Volkspoesie“ und älterer „Nationalliteratur“. Ein Stück Literatur-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Bonn 1976 (Academica Bonnensia 5), hier: S. 123–126. 536 Vgl. Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer urspruͤ nglichen Echtheit wiederhergestellt. Bd. 3. Hg. von Karl Simrock. Frankfurt a. M.: Heinrich Ludwig Brönner 1846, hier: S. 350–359. Vgl. dazu Flood: The Survival, Bd. 2, S. 253. – Meves: Studien zu HE, lobt zwar, dass Simrock den ‚Anhang‘ überliefere, geht aber nicht weiter darauf ein (vgl. S. 218 f.). 537 Welche Redaktion mit 117 Einträgen (HE Vb M1, M2, N, P1–P5 und V) Simrock benutzt, lässt sich nicht sagen. 538 Es fehlen Nr. 11 f., 14, 17–19, 21 f., 28, 44, 50, 54, 62–64, 86, 91 f., 111 und 115 (vgl. HE Vb P1, S. 86–96). 539 Flood: Einleitung, S. 47. 540 Vgl. ebd., S. 46.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
2.2.2.5 ‚Typische‘ Überlieferung von Prosaromanen und die Analyse von Dimensionen narrativer Sinnstiftung Wolfgang Liepe bemerkt bereits 1920, dass man anhand der Überlieferung der Prosaromane „die literarischen Modelaunen der Jahrhunderte“, im Falle der Elisabeth zugeschriebenen Werke „von der Verbrämung mit der Liebesnovelle der Renaissance [...] bis zu dem [...] Stil der Aufklärung“ ablesen könne.541 Im Vergleich mit dem pragmatischen Gebrauchsschrifttum, das von Vertretern der Würzburger Schule überlieferungsgeschichtlich aufbereitet wird,542 weisen die am besten überlieferten Prosaromane ein mittleres Maß der Verbreitung auf. Auch der Umstand, dass sich die Varianz der Werke in Grenzen hält, ist von Vorteil, wenn man eine vergleichende Analyse von Dimensionen narrativer Sinnstiftung über einen langen Zeitraum hinweg ohne zusätzliche Personalressourcen durchführen möchte. Ein besonderer Reiz einer Analyse dieser Gattung liegt aber zudem in ihrer Kombination von Tradition und Innovation.543 Die Romane sind von ihrer ersten Niederschrift an auf die Tradition bezogen und oftmals hybrid durch die Amalgamierung heterogenen Traditionsgutes. Fehlende Gattungsvorgaben machen sie potentiell offen für weitere Umbesetzungen und radikale Umformungen. Gerade die Tatsache, dass die frühen Gattungsvertreter „experimentierfreudig“ in dem Sinne sind, dass sie einerseits nicht „auf bestimmte Erzählmodelle festgelegt“ sind und sogar Sachtexte integrieren können, sowie sie sich andererseits als offen erweisen „für weitere Bearbeitungen, Ergänzungen, Kürzungen, stilistische Überformung“,544 macht sie interessant für die Untersuchung verschiedener Dimensionen narrativer Sinnstiftung im Überlieferungsprozess.545 Während manche Prosaromane sich durch große Konstanz in ihrer Überlieferung auszeichnen (Wilhelm von Österreich, Alexander, mit Einschränkungen Ritter Pontus A und Tristrant, für das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert auch Fortunatus),546 erfahren andere dagegen sehr starke Veränderungen (Wigo-
541 Liepe: Elisabeth, S. 272. 542 Vgl. S. 186–190 im Kap. 2.2.1.1. 543 Vgl. die Kap. 2.1.2 und 2.1.3. 544 Alle Zitate Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 991. 545 Jedoch ist auch für andere Gattungen der Zeit ein unabgestimmtes Nebeneinander von kompilierten Motiven oder Mustern zu konstatieren. Meiner Ansicht nach werden außerdem gerade die hybriden Texte in ihrer weiteren Überlieferungsgeschichte (z. B. mit Hilfe bedeutungssichernder Vor- und Nachworte) vereindeutigt, was den Eindruck der ‚Modernität‘ ihrer MontageTechnik relativiert. 546 Vgl. Striedter: Polnischer Fortunatus, S. 50; Anneliese Schmitt: Unbekannte Volksbuchausgaben des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Überlieferung von ‚Fortunatus‘ und ‚Tristan und Isolde‘. In: Das Buch als Quelle historischer Forschung. Dr. Fritz Juntke anläßlich seines 90. Ge
2.2 Text‑ und Paratextgeschichte nach der manuscript culture
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leis vom Rade oder Zerstörung Trojas).547 Der Regelfall ist aber gekennzeichnet von klar unterscheidbaren Redaktionsstufen bei fortwährender lautlicher, orthographischer und grammatischer Varianz und insbesondere in der Spätzeit unfestem Bildprogramm. Gerade die Mainfrankfurter Drucke sind zwar reich bebildert, wobei die Druckerverleger auf Holzschnitte bekannter Künstler zurückgreifen, die Motive sind aber oftmals textfremd und werden über ein Werk hinweg mehrmals wiederholt. Dies geht oft einher mit einer Abnahme der Sorgfältigkeit des Druckbildes von aufwändigen Folio- über sorgfältige Quart- bis hin zu einfachen Oktavausgaben. Stets individuell sind etwaige Einbände gestaltet,548 darüber hinaus wandeln sich aber auch „die Textualität, Gattungszuordnung und Autorschaft“ der Werke.549 Bearbeitung findet sich auf allen Dimensionen. Neben Eingriffen in den Haupttext wie Kürzungen aber auch Hinzufügungen, stehen der Wandel des Paratext-Programms und strukturelle Änderungen beispielsweise der Absatzgestaltung und Kapiteleinteilung. Von Augsburg und Straßburg verschiebt sich das Produktionszentrum zunächst über Frankfurt a. M. nach Leipzig und in der Phase später Überlieferung weiter nach Nürnberg und schließlich Reutlingen. Orientieren sich die frühen Drucke noch an handschriftlichen Vorlagen, die zum Teil bereits den ursprünglichen Entstehungskontext verlassen haben, entwickelt sich nach und nach ein ‚Buchtyp‘ kleiner Oktavhefte mit zahlreichen Illustrationen, der insbesondere auch das Bild des Prosaromans in der germanistischen Forschung lange prägt.550 Neben diesem ‚typischen‘ Überlieferungsgang, welcher der allgemeinen Verlagerung des Zentrums des Druckwesens entspricht, steht eine kontinuierliche Streuung über das ganze Reichsgebiet. Daneben kommt es bei einigen Werken zur Übertragung ins Niederdeutsche, die ihrerseits in Hamburg und Lübeck Eingang ins Druckmedium findet. Die Auswirkungen der Reformation auf die Text- und
burtstages gewidmet. Hg. von Joachim Dietze u. a. Leipzig 1977 (Arbeiten aus der Universitätsund Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle a.d.S. 18), S. 131–138, hier: S. 132 f.; Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke, S. 345, sowie Reinhard Hahn: Erlauben die Rahmentexte der Prosaromane Schlüsse auf deren Publikum?. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 41–66, S. 54–58. 547 Vgl. Knape: Augsburger Prosaroman-Drucke, S. 345 f.; Flood: Formfindung eines Prosaromans. 548 Vgl. Anneliese Schmitt: Volksbücher und ihre Einbände. In Marginalien 48 (1972), S. 11–19, hier: S. 19. 549 Jan-Dirk Müller: Text und Paratexte, S. 29. 550 Oben wird allerdings auch gezeigt, dass es neben der zeitlichen Priorität handschriftlicher Überlieferungen auch Fälle später Handschriften oder der Abschrift von Drucken gibt.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Überlieferungsgeschichte der Prosaromane sind dabei bescheiden.551 Lediglich die ‚lutherische Pause‘552 lässt sich auch hier nachweisen und es gibt in protestantischen Regionen – allerdings inkonsequente – Versuche, katholische Versatzstücke zu eliminieren. Hinzu tritt die besondere Form der aktualisierenden und sich anverwandelnden Tradierung, die auf das jeweils intendierte Publikum zielt und damit historisch variabel bleibt. ‚Gefüllt-‘ und ‚Bestimmtheitsstellen‘ konstituieren je eigene Bedeutungen in Auseinandersetzung mit der Tradition.553 Vor allem im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert kommt es zu freien Bearbeitungen auf allen Dimensionen bis hin zum Wechsel der Textsorte. Gerade diese polyfunktionalen, mehrdeutigen Texte provozieren Eingriffe zur Sicherung des Verständnisses und ermöglichen die historische Beschreibung von Sinnstiftungsprozessen. Diese Änderungen schreiben sich als eigene Sinndimensionen in die Überlieferung der Werke ein und tragen, da die Eingriffe punktuell und unabgestimmt mit widerstrebenden Bedeutungsprozessen sind, ihrerseits zur neuerlichen Pluralisierung von Sinn bei. Vielstimmigkeit erzeugt also Vielsinnigkeit, die wiederum Vielstimmigkeit provoziert und produziert. Hier kommt die neue Form des Wiedererzählens in der Kultur des Buchdrucks zur vollen Entfaltung. Der unbefangene Gang durch die Überlieferungsgeschichte ermöglicht eine antiteleologische Deskription von Entwicklungsprozessen und die Überprüfung der These einer Modernisierung des Erzählens im Übergang zur Frühneuzeit am historischen Material, in das sich auch außerliterarische Logiken wie die Rationalisierungsprozesse der Buchwirtschaft – schon im Wiegendruck – sinnstiftend einschreiben. Die Bedeutung der Druckerverleger als Protagonisten des Überlieferungsprozesses ist dabei kaum zu überschätzen.554
551 Vgl. Kreutzer: Buchmarkt und Roman, S. 200 f.; Classen: The German Volksbuch, S. 58 f.; Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 346, sowie Hahn: Rahmentexte der Prosaromane, S. 42. 552 Wolfgang Stammler: Von der Mystik zum Barock. 1400–1600. 2., durchges. u. erw. Aufl. Stuttgart [1927] 1950 (Epochen der deutschen Literatur II,1), hier: S. 302–411. 553 Vgl. das Kap. 2.1.4. 554 Vgl. dazu auch Flood: The Survival, Bd. 2, S. 263–297, vor allem aber S. 268–275.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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2.3 ‚Dimensionen narrativer Sinnstiftung‘ und das Programm ‚überlieferungsgerechter Interpretation‘ 2.3.1 Zur These der ‚Perspektivenlosigkeit‘ des Prosaromans Da die gesprochene Sprache im Akt des Sprechens kontinuierlich verhallt, bleibt sie ‚eindimensional‘. Komplexe Sinngefüge werden prozessualisiert, wodurch immer nur „eine Sinngestalt in den Vordergrund“ tritt.555 Die geschriebene oder gedruckte Seite dagegen verteilt den Text auf einer zweidimensionalen Fläche und macht das Textganze permanent für die individuelle Rezeption verfügbar.556 Sie hält aufgrund ihrer typographischen Gestaltung eine „ästhetische[ ], semiotische[ ] und strukturelle[ ] Komponente“ für die visuelle Rezeption vor, wobei die verwendeten Schriftzeichen auch verändert oder – gerade bei gelehrten Fachtexten – gänzlich neue Zeichen verwendet werden können.557 Somit kann sie dagegen „eine Mehrdimensionalität des Sinns repräsentieren und evozieren“.558 Franz Eybl weist darauf hin, dass die Typographie dabei Text- und Rezipientenseite miteinander verbinde, indem sie einerseits semantische Qualität durch die Verteilung und Strukturierung des Textes, andererseits aber eine Funktion bei der Leserlenkung habe. Sie ist für ihn Teil eines topographischen Ordnungssystems, welches das einzelne Buch im Kontext von Bibliothek und Gelehrtenrepublik übersteigt.559 Wer nun aber einen Text verschriftet, vertraut diesen einem externen und damit bis zu einem gewissen Grad eigenständigen Wissensspeicher an. Die Krux besteht nun darin, dass dieser Textzeuge nicht nur eine Rückgriffsmöglichkeit für den Verfasser bedeutet, sondern auch dritten ermöglicht, sich des Textes anzunehmen, ihn zu rezipieren, zu variieren oder ihn zu ihrem je eigenen Text zu machen. Es steht zu vermuten, dass die Erkenntnis dieser Gefahr so alt ist wie die Schriftlichkeit. In Platons Phaidros hat sich jedenfalls ein alter Beleg der damit verbundenen Angst vor Kontrollverlust erhalten, jedoch nicht aus der Sicht des Verfassers, sondern aus derjenigen der Schrift selbst:
555 Hans Ulrich Gumbrecht: Beginn von ‚Literatur‘/Abschied vom Körper?. In: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. Hg. von Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg, Dagmar Tillmann-Bartylla. München 1988 (Materialität der Zeichen A, 1), S. 15–50, hier: S. 22. 556 Vgl. Gumbert: Typographie der Seite, S. 283–287. 557 Vgl. ebd., S. 284 f., das Zitat S. 284 558 Gumbrecht: Beginn von ‚Literatur‘?, S. 21. 559 Vgl. Eybl: Typotopographie, S. 224, S. 228 und S. 234. Vgl. dazu auch Wehde: Typographische Kultur, vor allem S. 11–14, S. 59–94 und S. 149–173.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll, und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hülfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen im Stande.560
In Abwesenheit des Autors weiß ein Text also nicht, „wer ihm [...] das Instrument der Stimme zur Verfügung stellen und wer ihm durch die Lektüre einen Sinn abgewinnen wird“561 und auch nicht welcher ‚Sinn‘ dies wäre. Ähnliche Äußerungen finden sich bei Quintilian, Cicero oder auch Marie de France.562 Nach Frauke Berndt und Stephan Kammer werde Schrift in der „ciceronianische[n] Rhetorik“ als „eigenständige Quelle von Amphibolien“ und als „(Doppel-)Sinngenerator[ ]“ verstanden.563
2.3.1.1 Vermeintliche ‚Perspektivenlosigkeit‘ des Prosaromans Aus dem vorausstehenden Kapitel erhellt, dass ich bei der Analyse (früh)neuhochdeutscher Prosaromane verschiedene Dimensionen ansetze, die gemeinsam den ‚Sinn‘ der einzelnen Redaktionen eines Werkes konstituieren. Im Folgenden setze ich mich vor dem Hintergrund der ‚Dimensionalität‘ von Romanerzählen in Spätmittelalter und Frühneuzeit mit der Forschungsthese auseinander, dass der Prosaroman ‚perspektivenlos‘ sei. Dies ist deshalb zentral für meine Untersuchung, da ‚Perspektivität‘ und unterscheidbare Dimensionen narrativer Sinnstiftung einander bedingen. Der von Robert Weimann herausgegebene Band Realismus in der Renaissance, der ganz der marxistischen Literaturtheorie verpflichtet ist,564 fragt nach
560 Platon: Phaidros. In: Werke. Bd. I.1: Phaidros – Lysis – Protagoras – Laches. In der Übers. v. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Hg. von Johannes Irmscher. Durchges. v. Regina Steindl und Christian Krebs. Berlin 1984 (Philosophiehistorische Texte), S. 60–119, hier: S. 115, Hinweis bei Cavallo/Chartier: Einleitung, S. 16 f. 561 Cavallo/Chartier: Einleitung, S. 17. 562 Vgl. Frauke Berndt, Stephan Kammer: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit. In: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Hg. von Frauke Berndt, Stephan Kammer. Würzburg 2009, S. 7–30, hier: S. 13; Schnell: Autor und Werk, S. 21. 563 Berndt/Kammer: Ambiguität, S. 13. Vgl. dazu auch Jacques Derrida: Kraft und Bedeutung. In: Die Schrift und die Differenz. Aus dem Französischen von Rodolphe Gasché. Frankfurt a. M. [1963] 1972, S. 9–52, hier: S. 25. 564 Dies gilt unabhängig von der Einschätzung von Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 102, dass sich das zugrundeliegende Konzept Ansätzen entgegenstelle, „die den literarischen Text als bloße ideologische Verzerrung sozioökonomischer Verhältnisse dechiffrieren wollen.“
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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Prozessen und Funktionen der Weltaneignung durch die Renaissanceliteratur.565 Erzählerische ‚Aneignung‘ von Welt ist dabei ein Sonderfall der literarischen und diese wiederum ein Sonderfall der künstlerischen Weltaneignung‚ die neben anderen, insbesondere ökonomischen aber auch historiographischen Formen besteht, die ihrerseits auf die Wirklichkeit zurückwirken.566 Die Voraussetzung, Welt, Gesellschaft, historische Prozesse und Elemente des Geisteslebens objektiv korrekt künstlerisch abzubilden, sei ein Maß an Subjektivität des Künstlers, das sich erst in der Renaissance-Epoche zu entfalten beginne.567 Die RenaissanceProsen seien – und das verbindet Weimann mit Walter Haug – experimentell, und zwar indem sie durch „perspektivische[ ] Auffächerung“ Traditionen in Frage stellen, wobei der offene Prozess dieser anverwandelnden Atomisierung der eigentliche Gegenstand der erzählerischen Vermittlung sei.568 Die Herauslösung der Literaturproduktion aus dem Mäzenatentum bei der Entstehung eines literarischen Marktes führe dabei zu einer Individualisierung der erzählten Lebensgeschichten und eröffne Autoren und Rezipienten freiere
565 Vgl. Robert Weimann: Einleitung. In: Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa. Hg. von Robert Weimann. Berlin, Weimar 1977, S. 5–46, hier: S. 5; zum Begriff der Aneignung vgl. auch ebd., S. 39–44. 566 Vgl. dazu insgesamt Robert Weimann: Funktion und Prozeß der Weltaneignung: Grundzüge ihrer Geschichte. In: Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa. Hg. von Robert Weimann. Berlin, Weimar 1977, S. 111–182. 567 Vgl. ebd., S. 177 f.; Weimann: Einleitung, S. 6–10. 568 Vgl. Robert Weimann: Strukturen des Renaissancerealismus: Grundzüge seiner Theorie. In: Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa. Hg. von Robert Weimann. Berlin, Weimar 1977, S. 47–110, hier: S. 50, das Zitat ebd., S. 96. Allerdings schränkt Weimann hier ein, dass die deutsche Renaissance stärker der Tradition verhaftet bleibe als andere europäische Kulturen (vgl. S. 51). – Das Konzept ist zusammenzusehen mit Michail Bachtins ‚Dialogizität‘ verschiedener sozialer Stimmen oder Perspektiven, auf das jedoch ebenfalls nur wenige Prosaroman-Studien zurückgreifen. Nach Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 77 f./Anm. 36, ist Kästner der erste, der sich bei seiner Fortunatus-Analyse auf Bachtins ‚Redevielfalt‘ bezogen hat. In seinem Kap. M. Bachtins „Ästhetik des Wortes“ und die Theorie der Redevielfalt im europäischen Roman der Neuzeit schließt Kästner: Peregrinator, S. 221–224, an die ‚Redevielfalt‘ im Sinne einer „Mischung von Sprachschichten von Merkmalen verschiedener Textsorten und de[m] Wechsel von Stilebenen“ an (S. 224). Auch Armin Schulz: Poetik des Hybriden, S. 9, nimmt mit dem Konzept der ‚Hybridität‘ Anleihen an Bachtin. Auf Aufsatzlänge analysiert Dieter Seitz: Zur dialogischen Struktur der Sprache des frühen Prosaromans. In: Der fremdgewordene Text. Fs. für Helmut Brackert zum 65. Geb. Hg. von Silvia Bovenschen u. a. Berlin, New York 1997, S. 85–104, die ‚Dialogizität‘ des Prosaromans am Beispiel von Fortunatus, den Romanen Wickrams und Elisabeths Huge Scheppel im Vergleich mit der Druckfassung Hug Schapler; aber auch er vermerkt das Fehlen „individualisierte[r] soziale[r] Dialekte“ (S. 90) und des perspektivischen Befragens von Normen (vgl. S. 96 und S. 99).
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Deutungsmöglichkeiten.569 Autor, Werk und Leser partizipieren also nach Weimann an der erhöhten Vereinzelung der Individuen in der frühkapitalistischen Gesellschaft, was größere Entfaltungsmöglichkeiten mit sich bringe.570 Die „neue schriftstellerische Unabhängigkeit“ ermögliche größere subjektive Freiheiten bei der Aneignung des objektiv Gegebenen, was sich in „einer stärker perspektivischen Darbietung“ innerhalb der Renaissanceliteratur niederschlage und zur „Auffächerung der dargestellten Welt nach den wahrnehmenden Standpunkten der Figuren, des Erzählers und des Lesers“ führe.571 Grundlage dieser Überlegungen ist der Kurzschluss gesellschaftlicher Phänomene mit Fragen der literarischen Ästhetik aufgrund von geschichtsphilosophischen Prämissen, was sich in der vorliegenden Form jedoch nicht nur im Hinblick auf die Mikroanalysen einzelner Werke und deren Überlieferungsgeschichte nicht halten lässt, sondern für die deutsche Literatur der Frühneuzeit insgesamt in Zweifel zu ziehen ist. So erkennt Ingeborg Spriewald innerhalb der deutschen Erzählprosa der Renaissance nur bei drei Werken eine je individuelle Weltsicht: Fortunatus erzähle vom „Standpunkt des Handelsbürgertums“ aus, Eulenspiegel mit der „Optik der untersten Schicht“ und das Faustbuch repräsentiere den „Typus des Gelehrten“.572 Eine Auffächerung der Perspektive innerhalb eines der Werke spielt für sie aber überhaupt keine Rolle. Im europäischen Vergleich trete das Phänomen ‚perspektivischer Darstellung‘ in der deutschen Literatur verspätet auf. Noch für Wickrams Goldtfaden vermisst Spriewald an anderer Stelle sowohl „die perspektivische Mehrschichtigkeit“ des Erzählten als auch einen individuellen Autorstandpunkt.573 Jan-Dirk Müller kritisiert die Umsetzung von Weimanns theoretischem Ansatz bei Spriewald scharf, pflichtet ihr aber hinsichtlich der vermeintlich fehlenden Perspektivierung bei: Sie vermisse nämlich „zu Recht eine derartige perspektivische Darstellung“, denn „allenfalls im Verzicht darauf, die Perspektive festzulegen, und in Ansätzen zur Figurenperspektive könnte man ein
569 Vgl. Weimann: Einleitung, S. 6–8 und S. 37 f.; Weimann: Strukturen des Renaissancerealismus, S. 59, S. 76 und S. 92–96 sowie S. 107, und im Hinblick auf die marxistische Geschichtsphilosophie ebd., S. 79 f., S. 91 f. u. ö. 570 Vgl. Weimann: Strukturen des Renaissancerealismus, S. 53 und S. 86. 571 Das erste Zitat ebd., S. 53; das zweite ebd. S. 86; das dritte ebd. S. 87, zur größeren Bedeutung von Figuren- und Erzählerperspektive vgl. auch ebd., S. 92 und S. 95. 572 Spriewald: Historien und Schwänke, S. 364 f. 573 Ingeborg Spriewald: Vom „Eulenspiegel“ zum „Simplicissimus“. Zur Genesis des Realismus in den Anfängen der deutschen Prosaerzählung. Berlin 1974 (Literatur und Gesellschaft), hier: S. 37; zum ‚Perspektive‘-Begriff auch ebd., S. 22. – Seitz: Dialogische Struktur, S. 101, sieht hier dagegen „Ansätze einer Vielstimmigkeit“, wobei er dies eher als Versehen denn als bewusste Gestaltung Wickrams ansieht; vgl. dazu auch ebd., S. 104.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
243
Angebot an den Leser sehen, seinen Standort gegenüber der Erzählwelt selbst zu bestimmen“.574 Dies korrespondiert mit Klaus Ridders Einschätzung der Prosaauflösungen, die im Vergleich zu ihren Versvorlagen die Einmischungen des Erzählers minimieren,575 also sogar vorhandene Ansätze der Perspektivierung zurückdrängen. Auch als Folge davon tendieren die Historien im Gegensatz zum Höfischen Roman des Hochmittelalters angeblich zur Vermittlung einer klaren und allgemein verständlichen Lehre.576 Insgesamt konstatiert Manuel Braun für den Prosaroman einen Eindruck der Einsträngigkeit, Linearität und erleichterten Verständlichkeit, was „der ‚via plana‘ der Geschichtsschreibung“ nahekomme.577 Allerdings hebt er hier als „Strategien der Verständnissicherung“ Vorreden, Erzählerkommentare und die Zitation von Sprichwörtern und damit nach meinem Verständnis je eigene Dimensionen der Texte hervor. Was auf Klärung gemünzt ist und mitunter banalisierend wirken mag, führt nämlich mitnichten dazu, wie Carola Voelkel urteilt, dass sich der Prosaroman „in seiner Einfachheit“ selbst erkläre.578 Vielmehr treten verschiedene Dimensionen narrativer Sinnstiftung miteinander in Konkurrenz, es entstehen Spannungen zwischen dem z. B. in der Vorrede explizierten Anspruch oder dem die Erzählung begleitenden Bildprogramm und der narrativen Entfaltung im Haupttext mit seiner je spezifischen Struktur. Nicht nur bei dem spezifisch eingeengten ‚Perspektive‘-Verständnis von Weimann gerät mitunter aus dem Blick, dass Narrationen gar nicht anders als ‚perspektivisch‘ angelegt sein können: Bereits Auswahl und Anordnung des Erzählten sowie seine materiale Niederschrift erfolgen ‚perspektiviert‘.579 Zur basalen
574 Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 99–101. – Zur Begrenztheit des im Hintergrund stehenden Verständnisses von ‚Dialogizität‘ bei Michail Bachtin vgl. Edward Kowalski: Michail Bachtins Begriff der Dialoghaftigkeit. Genese und Tradition einer künstlerischen Denkform. In: Michail M. Bachtin: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Hg. von Edward Kowalski, Michael Wegner. Berlin, Weimar 1986, S. 509–540, hier: S. 523–526; Klaus W. Hempfer: Zur Interdependenz und Differenz von ‚Dialogisierung‘ und ‚Pluralisierung‘ in der Renaissance. In: Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Hg. von Jan-Dirk Müller, Wulf Oesterreicher, Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2010 (P&A 21), S. 71–94, hier: S. 71–75. 575 Vgl. Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ‚Reinfried von Braunschweig‘, ‚Wilhelm von Österreich‘, ‚Friedrich von Schwaben‘. Berlin, New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 12 [246]), hier: S. 369, mit Straub und Brandstetter. 576 Vgl. Jan-Dirk Müller: Funktionswandel ritterlicher Epik, S. 61 f. 577 Manuel Braun: Historien, S. 320 f. 578 Voelkel: Der Erzähler, S. 306. 579 Vgl. Szabó: Phänomen der Ambivalenz, S. 20; Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, S. 256. Zu verschiedenen Konzepten von ‚Perspektive‘ vgl. ebd., S. 130–137.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Unterscheidung von Figuren- und Erzählerperspektive treten weitere Dimensionen hinzu.580 Im Folgenden werde ich beispielhaft auf einige haupttextuelle (Hinzufügung einer Figur und Ausbau der Erzählerrede), strukturelle (Eingriffe in die Kapitelgliederung) und paratextuelle (Hinzufügung eines Sendbriefs sowie eines Anhangs) Dimensionen narrativer Sinnstiftung581 eingehen und an einem späten Rezeptionszeugnis einige Möglichkeiten bildlicher Perspektivierung vorführen.
2.3.1.2 Beispiele textgeschichtlicher Perspektivierung auf verschiedenen Dimensionen Der Hug Schappler in seiner 1537er Ausgabe von Bartholomäus Grüninger bedeutet eine – in Teilen – grundsätzliche Aktualisierung der bei Johann Grüninger erschienenen Heyndörffer-Redaktion von 1500.582 Die Vorrede zu Elisabeths von NassauSaarbrücken Roman entwirft ein Programm aktualisierender Tradierung, wie man es als typisch für das Wirken der frühneuzeitlichen Prosaroman-Redaktoren insgesamt erachten kann.583 „[R]echter sinn/ verstandt vnd meinung“ des Werkes lägen aufgrund des Sprachwandels in einer Form vor, die „nach gelegenheit vnd gestalt“ der Gegenwart „gebessert/ gemindert oder gemeert werden sollen“ (H 1537, S. 345 f.). Der Roman soll zwar „auff das treülichest“ wiedergegeben werden, aber angepasst an den „trefflichen übersprung“ der „neüwen sitten“ (H 1537, S. 346). Allerdings beschränkt sich die Durchführung auf das erste Romanviertel.584 1537 ist Hugos Einkehr bei seinem Onkel in Paris stark erweitert (vgl. H 1500, S. 195 f., und H 1537, S. 356–362). Nicht nur die erzählte Zeit wird um einen zweiten
580 Zum hier zugrunde gelegten Begriffsverständnis von ‚Perspektive‘ und ‚Dimension‘ vgl. das Kap. 1.3. 581 Es sei darauf hingewiesen, dass der Arbeit insofern ein weiter Begriff von ‚Narration‘ zugrunde liegt, als Sinnstiftungsphänomene in narrativen Werken auch dann untersucht werden, wenn diese Dimensionen selbst nicht narrativ vermittelt sind. 582 Sowohl der Erstdruck von 1500 als auch die 1537er Redaktion werden zitiert nach der Ausgabe Jan-Dirk Müller (Hg.): Hug Schapler. Vgl. für die Besprechung einer anderen Szene dieser Redaktion S. 175 im Kap. 2.1.4.1. – Für Bartholomäus und Johann Grüninger vgl. Reske: Die Buchdrucker, S. 871 f. und S. 885. 583 Vgl. Bichsel: Hug Schapler, S. 67. – Zu dieser Vorrede vgl. auch Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 407 f., mit Hinweis auf das dort geäußerte Geschichtsbewusstsein auch Jan-Dirk Müller: Epochenerfahrung um 1500, S. 124 f. 584 Vgl. Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1091; Manuel Braun: Historien, S. 337. – Zu den Erweiterungen insgesamt Urtel: Einleitung, S. 11; vor dem Hintergrund italienischer Liebesnovellistik Liepe: Elisabeth, S. 135; Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 422–425, sowie Bichsel: Hug Schapler, S. 65–78.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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Tag verlängert, nach der Edition wächst die Erzählzeit der Episode im Vergleich zum Erstdruck um 190 Zeilen und damit um 350 Prozent. Dieter Seitz konstatiert, dass der feudale Lebensstil in der Aktualisierung nicht länger positiv bewertet, sondern didaktisch die Perspektive eines „[p]rotestantischen Sparsamkeitsethos“ entworfen werde.585 Diese Position ist aber 1500 bereits angelegt, wenn Symon erschaudert, als es Hug ablehnt, seine Schulden durch bürgerliche Arbeit zu tilgen und stattdessen seine adeligen Bedürfnisse herausstreicht (vgl. H 1500, S. 196). Die Verlängerung seines Aufenthalts über Nacht gibt daneben jedoch Gelegenheit, Hugos feudalen Lebensstil in actu vorzuführen, indem er bis zur Mittagszeit ausschläft. Wie die ganze Episode ist die bereits in der Vorlage nachweisbare Vorstellung einer bürgerlichen Weltsicht lediglich ausgebaut, wenn auch überproportional. Das liegt auch an der Einführung einer neuen Figur, auf die ich mich an dieser Stelle beschränken möchte. Der Held begegnet hier nicht länger nur seinem Onkel, Hugo hat nun auch eine Tante (alle Zitate H 1537, S. 361). Es ist mir ein Rätsel, wie Peter Bichsel darauf kommt, Simons Ehefrau sei „ein Ausbund bösartiger Weiblichkeit“.586 Zwar leitet der Erzähler die Unterredung damit ein, dass die Tante ihrem Mann „seer übel gehandelt“ habe. Dies löst der Erzähler aber dahingehend auf, dass sie Simon aus Sorge, Hugo könne sein Angebot annehmen und länger bei ihnen wohnen bleiben, nicht schlafen lässt. Der Erzähler spricht von ‚Fürwitz‘, sogar von ‚Klugheit‘, aber nicht von ‚Bösartigkeit‘, wenn er die Ehefrau charakterisiert. Die Argumente und Befürchtungen, die sie vorbringt, bestätigt der Onkel denn auch: „[D]ann solt er (wie du geredt hast) seiner alten gewonheit nach fürfaren“, so verginge kein Jahr, ehe Hugo das ihre durchgebracht haben werde. Es gibt keine Spur von Dissens zwischen den Eheleuten. Diese „Genreszene eines nächtlichen Gesprächs“587 löst also nur die Gedankenrede in einen Dialog auf, mit der Symon im Erstdruck mutmaßt, dass Hug, „blibe er in mynem huse ein halb iar, er verthete alle myn barschafft“ (H 1500, S. 196). Hier wie dort stehen sich zwei unvereinbare Logiken gegenüber: eine feudale von Repräsentation und Herrendienst einerseits und eine ökonomische von Sparsamkeit und Arbeit andererseits. Das kombinierende Ideal einer sparsamen Repräsentativität wird Hugs beziehungsweise Hugos Vater zugeschrieben (vgl. H 1500, S. 195, und H 1537, S. 356–358), ist aber für den bereits verschuldeten Helden unerreichbar. Jan-Dirk Müller sieht den Grund, eine Tante einzuführen, nun darin, dass angesichts der zeitgenössischen Misogynie das „[b]ürgerliche[ ]
585 Seitz: Dialogische Struktur, S. 92. 586 Bichsel: Hug Schapler, S. 71. 587 Jan-Dirk Müller: Held und Gemeinschaftserfahrung, S. 422.
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Ressentiment gegen den Adel“ relativiert werde, wenn es von einer Frau geäußert wird.588 Dies blendet allerdings aus, dass Simon zuvor selbst kritisiert, dass Hugo sein Gut mit „schoͤ nen weiber[n] auch boͤ ser gselschafft“ „vnnützlich verbrasßt“ hätte (H 1537, S. 357). Die ökonomische Perspektive Onkel Symons wird also lediglich auf Simon und seine „haußfraw“ (H 1537, S. 361) aufgespalten.589 So wird die neue Figur meiner Meinung nach eingeführt, um das vorgestellte Modell einer bürgerlichen Lebensordnung, das Symon/Simon seinem Neffen entwirft, zu erweitern und es anstelle eines bloßen Referats in Handlung auszuerzählen. Nach Symons Vorschlag im Erstdruck solle Hug das Metzgerhandwerk mit Schlachtung und Handel erlernen, dann würde er dereinst Symon beerben können (vgl. H 1500, S. 196). 1537 soll Hugo dagegen Viehhändler werden und – darauf kommt es mir an – „in mitler zeyt“ werde er dadurch „ein hüpsche/ reyche Junckfrawen [...] zuͦ eim ehelichen weybe erwerben“ können (H 1537, S. 359). Nicht länger werden nur differierende Erwerbs- und Anlageweisen einander gegenübergestellt, der Entwurf schließt eine bürgerliche Ehe mit ein, wie sie Simon und seine „[l]iebe haußfraw“ (H 1537, S. 361) vorleben. Dies ist vor dem Hintergrund von Hugos nachfolgenden Liebesabenteuern zu sehen, aus denen er jeweils nur knapp sein Leben retten kann (vgl. H 1537, S. 366 f., S. 370 f. und S. 375 f.). Es greift daher zu kurz, wenn man die Perspektivierung von Adel und Bürgertum auf die Wirtschaftsweise beschränkt. Auch wird „die Mehrstimmigkeit der Vorlage“ nicht wie Seitz behauptet durch „eine didaktische Perspektive [...] überdeckt“.590 Die Redaktion von 1537 ergänzt die Darstellung oppositiver Lebensstile um die Darstellung des protestantischen Eheideals am Beispiel von Simon und seiner Frau. Schon aus diesem Grund verzichtet der Bearbeiter auf die Einführung von Dissenz zwischen den beiden Partnern. Im Falle des ‚Ambrosius-‘ oder ‚Augustinus-Exempels‘ ist es bereits der Übersetzerautor Thüring von Ringoltingen, der seine Vorlage selbst um eine weitere Dimension vermehrt.591 In seine summarische Beschreibung der Freude der Protagonisten Melusine und Reymund sowie ihres ganzen Landes mischt der Erzähler nicht nur proleptische Hinweise auf das „kleglich ende“ ihres Sohnes Freymund ein (M 1474, S. 94), sondern er macht vielmehr explizit, dass ein, wenn
588 Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1157. 589 Dies ließe sich strukturalistisch mit der Aktanten-Theorie von Algirdas Julien Greimas beschreiben, vgl. Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausg. Hg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel, Jan-Dirk Müller. Berlin, Boston 2012, hier: S. 16 f. und S. 171– 176. 590 Seitz: Dialogische Struktur, S. 92. 591 Die nachstehenden Zitate folgen der Edition Jan-Dirk Müller (Hg.): Melusine, Seitenzahlen sind mit Stellennachweisklammer im Fließtext ausgezeichnet.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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nicht der Wendepunkt des Romans an dieser Stelle erreicht sei.592 Da „gewoͤ nlich die gelückselikeit dises iamertales nymmt mit leiden vnd mit kumer ein ende“, ist es für ihn eine Notwendigkeit nun „an[zu]fahen zuͦ sagen von dem ende so dise freüd nam“ (beide M 1474, S. 95). Indem der Erzähler hier den gewöhnlichen Gang des Irdischen im Allgemeinen anspricht, geht er von der Beschreibung der erzählten Welt zu einer Metaebene über, von der aus er eine Perspektive auf das Geschehen entwirft, die Coudrettes Versroman nicht enthält. Mit einem unechten Augustinus-Zitat und einem Exempel, das Hans-Gert Roloff glücklich als ‚Predigtmärlein‘ bezeichnet,593 nimmt er dem folgenden Umschlag des Glückes seiner Figuren nicht nur die Schärfe, dessen Fortbestand wäre eingedenk der Hinzufügungen ein sicheres „zeichen der ewigen verdamnuß“ (ebd.). Das eigentliche Märlein geht in dieser Ausdeutung problemlos auf: Augustinus kehrt bei einem alten Bekannten ein, hört von dessen immerwährend ansteigendem, irdischen Glück und rettet sich nur deshalb rechtzeitig vor einer alsbald ausbrechenden Feuersbrunst, da er das negative Vorzeichen zu deuten vermag (vgl. M 1474, S. 95).594 Manche Interpreten sehen in der Hinzufügung eine Aktualisierung, die dem ganzen Roman einen „parabolic aspect“, „eine andere innere Bedeutung“ verleihe, durch die Reymund zu einem „Christian hero“ und Melusine zu „Every(wo)man“ werden.595 Xenja von Ertzdorff hebt dagegen bei der Anwendung des Exempels „auf den Gesamtverlauf“ auf „Ungereimtheiten“ ab und erkennt darin „die punktuell-hinzeigende Tätigkeit des Erzählers, der bei
592 Zur Einbindung des Predigtmärleins in ein ganzes Netz aus Pro- und Analepsen vgl. Catherine Drittenbass: Prolepsen und analytischer Gang der Handlung in der Melusine. Überlegungen zur Zeit-Regie im Roman Thürings von Ringoltingen. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 279–295; Drittenbass: Aspekte des Erzählens, S. 79–88 und S. 312, sowie Drittenbass: Materye und Hystorie, S. 192–194. 593 Zum ‚Augustinus-Zitat‘ „Successus humane prosperitatis/ est verum indicium eterne damnacionis“ vgl. von Ertzdorff: Fee als Ahnfrau, S. 444/Anm. 79, zur Klassifikation des Folgenden als Predigtmärlein Roloff: Stilstudien zur Melusine, S. 70. 594 Auch in der Legenda aurea ist die Erzählung enthalten, allerdings wird sie Ambrosius zugeschrieben (vgl. Karin Schneider: Einführung, S. 27). 595 Das erste Zitat James Wright Harrison: Melusine: Matriarch, Elemental Spirit, Archetype. Diss. masch. Chapel Hill 1976, hier: S. 49; das zweite Roloff: Stilstudien zur Melusine, S. 70; das dritte erneut Harrison: Matriarch, Elemental Spirit, Archetype, S. 63, und das vierte Parkin: Sin and Salvation, S. 101 wie auch S. 185; vgl. dazu darüber hinaus Elisabeth Pinto-Mathieu: Pour une héraldique de la moralisation dans la Melusine de Thüring von Ringoltingen. In: Mélusines continentales et insulaires. Actes du colloque tenu les 27 et 28 mars 1997 à l’Université Paris XII et au Collège des Irlandais. Hg. von Jeanne-Marie Boivin, Proinsias MacCana. Paris 1999 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge 49), S. 193–204, hier: S. 203.
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seiner Kommentierung [...] nur den gerade erzählten Ausschnitt“ beachte.596 Anna Mühlherr meint die Widersprüche aufzulösen, indem das Märlein „ein Gegenbeispiel und gerade keinen Parallelfall“ zur Romanhandlung vorstelle, wodurch „das unglückliche Schicksal Melusines und Raymonds ein positives Vorzeichen“ gewinne.597 Doch sperren sich Geffroys Bruder- und Massenmord (vgl. M 1474, S. 108 f.) sowie Melusines Wegflug als verwandelte Halbschlange (vgl. M 1474, S. 123) auch nach Mühlherrs Variation gegen eine globale Anwendung des pseudo-augustinischen Lehrsatzes. Schon Coudrette verstrickt sich in Widersprüche, wenn er im Dienste einer Glorifizierung des Geschlechts Derer von Lusignan Quellen verwendet, welche die Protagonistin dämonisieren.598 Das zusätzliche Exempel verschärft die Konkurrenz der „Deutungs-Angebote“, die zudem „nicht deutlich untereinander hierarchisiert“ sind, was zu „einer Pluralisierung von Gesetzgebern, Perspektiven und Deutungen“ führt.599 Ich plädiere an anderer Stelle dafür, das Exempel mehr auf Reymund hin zu lesen, da dies die Widersprüche mit Melusines Ende, aber auch mit dem ganz unterschiedlichen Schicksal der einzelnen Söhne minimiert.600 Bezieht man es als Teil der Erzählerperspektive oder als völlig eigenständige Dimension mit begrenzter Reichweite in eine ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ mit ein, so erhält man zwar keine harmonisierend-vereindeutigende Gesamtdeutung, ermöglicht aber den Nachvollzug der Vieldeutigkeit des historischen Erscheinungszustandes.601 Im Übrigen fehlt das Märlein aufgrund von Blattver
596 Von Ertzdorff: Fee als Ahnfrau, S. 444, so auch von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 67, und ähnlich Xenja von Ertzdorff: Thüring von Ringoltingen als Erzähler des Romans von Melusine (1456). In: Spiel der Interpretation. Gesammelte Aufsätze zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. unter Mitwirkung von Rudolf Schulz und Arnim-Thomas Bühler. Göppingen [1995] 1996 (GAG 597), S. 447–462, hier: S. 453. 597 Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 51. 598 Vgl. Steinkämper: Vom Schlangenweib zur Beauté, S. 79 f. Zu diesem „Spezifikum der Melusinenromane“ vgl. auch Kellner: Ursprung und Kontinuität, S. 397–471, vor allem aber S. 465 f. 599 Das erste Zitat Kuhn: Versuch, S. 99; das zweite Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1035; das dritte Kiening: Mise en abyme, S. 13. – Eine andere „strukturell herausgehobene[ ] ‚universale[ ]‘ Perspektive[ ]“ (Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 29), von der aus die „Frage der Theodizee“ (André Schnyder: Literarische Aspekte des Werkes. In: Thüring von Ringoltingen: Melusine [1456]. Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Hg. von André Schnyder in Verb. mit Ursula Rautenberg. Bd. 2: Kommentar und Aufsätze. Wiesbaden 2006, S. 115–137, hier: S. 137) gestellt wird, liegt mit Amrichs Sterndeutung im ersten Teil des Romans vor (vgl. S. 19). 600 Vgl. Speth: Zufall erzählen, S. 347. Ähnlich wie ich dort eine ‚Heils-‘ und eine ‚Herrschaftsebene‘ des Textes unterscheide, differenziert Spreitzer: Einschlagstellen des Diabolischen, S. 126, zwischen einem ‚theologischen‘ und einem ‚Märchendiskurs‘. 601 Vgl. zur ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ Kap. 2.3.3, vor allem S. 286–291.
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lust bereits in der frühen Handschrift aus St. Gallen ebenso wie in der späten Neuredaktion der Historischen Wunder-Beschreibung.602 Thürings Exempel ist also auch ein Beispiel dafür, dass eine einmal etablierte Perspektive exemplargeschichtlich oder auch redaktionell wieder ausfallen kann. Einen klassischen Gegenstand der Analyse von Perspektivierungen bieten Bildmedien. Beim sogenannten ‚Bilderbogen‘ – eine Subkategorie des ‚Flugblatts‘603 – ist die Proportion von Text und Bild im Vergleich mit einem Prosaroman umgekehrt. Denn wie Elke Hilscher expliziert, „dominiert der Bildteil in der Gestaltung des Bilderbogens“.604 Bereits aus dem vierzehnten Jahrhundert sind einzelne Blätter als Beispiele „massenhaft angefertigte[r] Werkstattware“ erhalten.605 In der Romantik und den folgenden Jahrzehnten werden sie gezielt als Mittel der Volksbildung eingesetzt, indem traditionelles Erzählgut mit qualitativ hochstehenden und technisch innovativ gefertigten Bildern verbunden wird, wobei auch kommerzielle Gesichtspunkte eine Rolle spielen.606 Die „enge Verquickung von Bild und Text“ ist hierbei nicht nur eine Möglichkeit, „eine leicht übersehbare Veranschaulichung des literarischen Stoffes“ für ein breites und einfaches Publikum zu gewährleisten,607 sondern es kommt dabei auch zu einer Verdichtung des Geschehens, das dem Rezipienten als einem ‚Augenzeugen‘ gegenübertritt. Näher betrachte ich mit dem Bilderbogen Die schöne Melusine nachfolgend ein spätes Rezeptionszeugnis.608 Er erscheint mit (schablonenkolorierten) Holz-
602 Für den Hinweis auf Fehlen der Episode in der Handschrift vgl. Karin Schneider: Einführung, S. 26, für die HWB das Exemplar HAB Wolfenbüttel, Sign. M: Lm 3b, 98. 603 Vgl. Michael Schilling: Art. Flugblatt. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Gemeinsam mit Harald Fricke u. a. Hg. von Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, S. 607–609, hier: S. 607. 604 Elke Hilscher: Die Bilderbogen im 19. Jahrhundert. München 1977 (Studien zur Publizistik, Bremer Reihe – Deutsche Presseforschung 22), hier: S. 25, zu konkurrierenden Explikationsversuchen in der Forschungsgeschichte vgl. ebd., S. 15–19. 605 Hellmut Rosenfeld: Der mittelalterliche Bilderbogen. In: ZfdA 85 (1954), S. 66–75, hier: S. 68; vgl. ebd., auch zu Prachtausgaben der Gattung, und S. 71–74 zur Bedeutung der visuellen Rezeption von Bilderbogen im Bereich der Mystik. 606 Vgl. Ulrike Eichler: Die Illustration volksliterarischer Themen auf Bilderbogen. In: Märchen, Sagen und Abenteuergeschichten auf alten Bilderbogen neu erzählt von Autoren unserer Zeit. Mit einem illustrationsgeschichtlichen Anhang und Katalog der wiedergegebenen Bilderbogen von Ulrike Eichler. Hg. von Jochen Jung. München 1974, S. 97–103 und S. 112, hier: S. 101. 607 Vgl. ebd., S. 100. 608 Die folgenden Angaben beziehen sich auf Ulrike Eichler: Katalog der wiedergegebenen Bilderbogen. In: Märchen, Sagen und Abenteuergeschichten auf alten Bilderbogen neu erzählt von Autoren unserer Zeit. Mit einem illustrationsgeschichtlichen Anhang und Katalog der wiedergegebenen Bilderbogen von Ulrike Eichler. Hg. von Jochen Jung. München 1974, S. 104–110,
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stichen um 1870 als 121. Nummer der Serie Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt im Stuttgarter Verlag von Gustav Weise. Die Abbildungen gehen auf einen Entwurf von Heinrich Mücke zurück, nehmen aber durchaus Anleihen an den Motiven des traditionellen Zyklus.609 Insgesamt enthält der Bogen sieben Bilder unterschiedlicher Größe mit jeweils ein bis zwei begleitenden Sätzen. Abgesehen von der retardierenden Episode um Melusines heimliche und zeitlich begrenzte Rückkehr, um ihre Kinder zu säugen (Nr. 5), erzählen Bilder und Bildunterschriften Thürings Roman auf das Schema einer ‚Gestörten Mahrtenehe‘ verkürzt nach.610 Durch einen Jagdunfall gerät Raimund in gesellschaftliche Not, Melusine rettet ihn unter der Bedingung des Eheversprechens. Nach einer Phase des Glücks folgt der Bruch eines Sichttabus, über dessen Etablierung eine Inschrift an Helmas’ Grabmal unterrichtet. Folge dieses Tabubruchs ist die Trennung von Mahrte und Ehemann, der als Einsiedler stirbt, aber ein blühendes Geschlecht hinterlässt. Der Bogen vereinfacht also das komplexe Erzählgefüge, wobei insbesondere die Abenteuer der Söhne und die Episoden um Melusines Schwestern weggelassen sind. Das Zentrum des Bilderbogens nehmen zwei deutlich größere Darstellungen ein, durch die der erste und zweite Tabubruch des Romans zu einer zusammenhängenden Katastrophe als finales ‚Pars-pro-toto‘ der Mahrtenehe verschmolzen
hier: S. 108. Der Bogen ist farbig abgedruckt bei: Märchen Sagen und Abenteuergeschichten auf alten Bilderbogen. Neu erzählt v. Autoren unserer Zeit. Mit einem illustrationsgeschichtlichen Anh. und Katalog der wiedergegebenen Bilderbogen v. Ulrike Eichler. Hg. von Jochen Jung. München 1974. Die Stuttgarter Serie enthält auch Bögen zur Volkssage von Doktor Faust (Nr. 211) und zu Reineke Fuchs (Nr. 104), vgl. Hans Stula: Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt. Ein Gesamtverzeichnis der zwischen 1867 und 1873 erstmalig im Verlag Gustav Weise in Stuttgart herausgegebenen Bilderbogen. Für Sammler und Liebhaber populärer Druckgraphik erl. und komm. Hannover 1980. 609 Erwähnt wird der Bogen von Steinkämper: Vom Schlangenweib zur Beauté, S. 257 f., jedoch ohne eigene Interpretation. 610 Die Beschreibung dieses Erzählschemas erstmals systematisch bei Friedrich Panzer: o.T. In: Albrecht von Scharfenberg: Merlin und Seifrid de Ardemont. In der Bearb. Ulrich Füetrers. Hg. von Friedrich Panzer. Tübingen 1902 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 227), S. VII– CXXXIII, der Begriff ebd., S. LXXIII. Dies entspricht der Kurzfassung des Romans in Thürings Vorrede (vgl. S. 277–279 im Kap. 2.3.2.3). Zur Mahrtenehe vgl. ferner den Artikel von Lutz Röhrich: Art. Mahrtenehe: Die gestörte M. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Zusammen mit Hermann Bausinger u. a. Bd. 9. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Berlin, New York 1999, S. 44–53, und zur Anwendung des Schemas auf Thürings Melusine Armin Schulz: Spaltungsphantasmen. Erzählen von der ‚gestörten Mahrtenehe‘. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Koll. 2002. Hg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz, Klaus Ridder. Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 233–262, hier: vor allem S. 258–260.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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werden.611 Das Bild übergeht die Zeit des Glücks, von der die Bildunterschrift berichtet, dass Raimund und Melusine „lange Jahre in Glanz und Herrlichkeit“ leben und dabei Eltern von zehn Söhnen werden. Auf der visuellen Ebene geht Melusines Trost für Raimund am Durstbrunnen (Nr. 2) dagegen direkt über in seinen Akt der Untreue (Nr. 3). Hier hält er das Schwert, mit dem er ein Loch in die Wand zu Melusines Badestube gebohrt hat, noch in der Hand und beobachtet verbotenerweise seine Frau. Abgewendet von der perforierten Wand hält sie ein wallendes Tuch in Händen, von dem ihre Brust und der verwandelte Unterleib nur halb bedeckt werden und sie halb dem voyeuristischen Blick des Mannes aussetzen. Anders als bei jenen Visualisierungen, die auch den Bruder ins Bild setzen,612 gibt es hier keine dritte Figur, deren aufreizende Verleumdung Raimund erklären und damit entschuldigen würde. Weder die Bilder noch die Beischriften kennen jenen Graf von Forst, der bei Thüring die ‚Sollbruchstelle‘ von gesellschaftlicher Erwartung und dem Tabu innerhalb des Mahrtenehenschemas verkörpert. Die besondere Leistung des Bildmediums besteht nun darin, den mit Hilfe der Beischriften hergestellten Kurzschluss von Erkenntnis und Kundgabe, aufschiebendem Verzeihen und Wegflug, durch ein Detailzitat zu forcieren: Wenn Melusine auf der folgenden Abbildung (Nr. 4) in verwandelter Gestalt den Menschen entfliegt, ist sie in eben jenes Tuch gehüllt, das sie auf der vorstehenden Darstellung in den Händen hält. Der Text reflektiert die Diskrepanz der voyeuristischen, aber privaten Zweierszene und dem folgenden öffentlichen Tabubruch nicht. Hier wird nur erwähnt, dass Raimund Melusine „in ganz verwandelter Gestalt in einem Wasserbecken sitzen sah“, und unvermittelt schließt sich an, dass er ihr „[i]m Zorn [...] vor allen Leuten ihre Schlangengestalt“ vorwirft. Der abrupte Ortswechsel wird im Bildmedium durch das Bekleidungszitat ebenso überblendet wie die ausgesparte Zwischenhandlung. Auch der letzte Stich verdeutlicht die perspektivischen Möglichkeiten des Bildmediums. Noch bei Melusines Wegflug streckt Raimund die Arme nach seiner verlorenen Liebe aus, während sich ein Geistlicher, der ein Kreuz in Händen hält, schützend von der verwandelten Gestalt abwendet. Doch das letzte Bild (Nr. 7) zeigt Raimund als frommen Einsiedler, der in einem Gemäuer entschlafen ist, was Geoffroy in seinem Schoß betrauert. Für den Prozess der Sinnstiftung ist dabei der suggestive Bildhintergrund wichtig. Dieser zeigt nicht nur an einer Wand, son-
611 Vgl. den ‚repräsentierenden Illustrationstyp‘ bei Meier: Text-Bild-Lektüre, S. 172–176, der das Geschehen in einer „Pars-pro-toto-Szene“ verdichtet (ebd., S. 174). 612 So beispielsweise in der Basler Handschrift vgl. dazu Backes: Illustrierung Melusinehandschriften, S. 78 f.; Backes: Fremde Historien, S. 152, sowie ferner Drittenbass: Aspekte des Erzählens, S. 288–291.
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dern auch am Ende eines Durchblicks ins Freie jeweils ein christliches Kreuz. Dieses Detail verweist ganz subtil darauf, dass Raimund die irdische Trauer zurückgelassen und seinen Seelenfrieden gefunden hat. Oben werden Erzähler-, Figuren- und Bildperspektiven produktiv gemacht für eine je eigene Deutung der Texte. Aber nicht nur ihre Perspektiven tragen zur Sinnhaftigkeit eines Erzähltextes bei und erfahren während des Prozesses der Überlieferung Variationen. Sie sind nur ein Teil des Phänomens, das ich unter den Begriff der ‚Dimensionalität‘ der Literatur fasse. Erzähler- und Figurenperspektiven gehören dabei zu den ‚haupttextuellen Dimensionen‘, zu denen ‚paratextuelle‘ und ‚strukturelle Dimensionen‘ hinzutreten.613 Bereits der Untertitel von Steiners Magelone-Ausgabe von 1535 kündigt einen Sendbrieff Georgij Spalatini an (S. 589).614 Dieser Sendbrief (S. 590–592) ist der eigentlichen Vorred (S. 593) und damit auch dem Haupttext vorangestellt,615 daran schließt sich ein Holzschnitt aus Steiners Druck der deutschen Übersetzung von Petrarcas De remediis utriusque fortunae an. Diese Illustration (S. 594) ist mit dem Sendbrief in Verbindung zu sehen, da Spalatin derjenige ist, der auch die Übersetzung Von der Artzney bayder Glück abgeschlossen hat.616 Sie findet sich bei Petrarca im Kapitel Uon fürtrefflicher gestalt des leibs und zeigt eine vornehme Frau, die sich in einem Wölbspiegel betrachtet; an ihrer Seite schlägt ein Pfau sein Rad.617 Während Petrarcas Kapiteltext ganz auf die vanitas-Komponente der Eitelkeit abhebt, setzt der Holzschnitt den splendor ins Bild.618
613 Vgl. die Gliederung des Hauptteils. 614 Alle Seitenangaben folgen der Edition Jan-Dirk Müller, (Hg.): Magelone. – Die überlieferungsgeschichtliche Relevanz des Sendbriefes ist – auch wenn die auf den Autor zurückgehende Handschrift diese Dimension des posthumen Herausgebers nicht kennen kann – kaum zu überschätzen. Noch der späte Druck von Endter in Nürnberg (um 1650) setzt diese Zeilen und erwähnt sie bereits auf dem Titelblatt (vgl. beispielsweise das Exemplar der BSB München, P.o. gall. 1057F). 615 Diese Lage fehlt im Augsburger Exemplar, im Berliner schließt sie als Beibund die Redaktion des Werkes ab (vgl. Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1226). 616 Vgl. ebd., S. 1227. 617 Das Kap. steht auf den Seiten fol. IIr. bis fol. IIIv., die Abbildung fol. IIv., vgl. auch das Faksimile Franciscus Petrarcha: Von der Artzney bayder Gluͤ ck/ des guten vnd widerwertigen. Hg. und komm. von Manfred Lemmer. Hamburg 1984. 618 Vgl. zu diesen Komponenten den Art. Eitelkeit im Grimm’schen Wörterbuch. Zur christlichen Symbolik des Pfaus in der Kunstgeschichte, die sich zwischen Laster- und Ewigkeitsdarstellung bewegt, vgl. Joachim Kramer: Art. Pfau. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. In Zusammenarbeit mit Günter Bandmann u. a. Bd. 3. Hg. von Engelbert Kirschbaum S.J. Darmstadt [1968] 2012, S. 409–411, hier: S. 410 f.
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Abb. 11: Francesco Petrarca: Von der Artzney bayder Glück. Augsburg: [Heinrich Steiner] 1532, Stadtbibliothek Braunschweig, Sign. C 527, fol. IIv.
Die eigentliche Vorrede (S. 593) schließt mit einem überschwänglichen Lob auf den Prinzen Peter. Dieser übertreffe alles und jeden, sodass „er sich mer goͤ tlich dann menschlich erzeigt“ und sowohl von seinen Standesgenossen als auch von den Untertanen und darüber hinaus von seinen Eltern verehrt und geliebt werde. Graf und Gräfin haben „sunst kein andere freud dann allein in jrem son/ das er so dapffer so freüntlich so schoͤ n vnd so weyse was“. Unmittelbar darauf folgt der Holzschnitt mit dem eitlen Pfau. Das Verhältnis der Eltern zu ihrem Sohn ist auch Thema der ersten beiden Romankapitel. Als Peter von der schönen Magelone erfährt (vgl. S. 595 f.), erwächst in ihm der Wunsch, in die Welt zu ziehen. Dafür versucht er, die Erlaubnis seiner Eltern zu erlangen, doch die Mutter bittet den einzigen Erben „als vil ein muͦ tter jr kindt bitten kann“, seines „hinwegziehens fürdert [zu] geschweygen“ (S. 597). Doch Peter akzeptiert das Verbot nicht und bittet aufs Neue, sodass Graf und Gräfin in Verlegenheit geraten, da sie nicht wissen, „was jnen darinne zuͦ thuͦ n gezymen wolt“ (S. 598). Letztlich hat sein Bitten Erfolg, wobei er keine der Bedingungen, die ihm sein Vater auferlegt, erfüllen wird: Mit dem Raub der Magelone (vgl. S. 638 f.) und dem nur durch die Vorsehung verhinderten sexuellen Übergriff auf sie (vgl. S. 642 f.) verstößt er gegen Gottes Gebot, kommt daraufhin in „boͤ se[ ] gesellschafft“ und kann somit auch nicht „als zeytlich“ zurückkehren (S. 599).
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Da Spalatin individueller Kontrolle von Affekten misstraut, stattet er den Roman im Hinblick auf das breite Zielpublikum des Druckes mit einem Sendbrief als Variante eines Vorworts aus.619 Dabei versucht er, eine Perspektive auf Warbecks Roman zu eröffnen, die diesen als ein „Exempel christlicher Lebenslehre“ nach Vorbild der Wittenberger Reformationspädagogik erscheinen lässt.620 Zentrales Thema ist der Konflikt zwischen Eltern und Kindern. Hält der Haupttext die Spannung zwischen Normbewusstsein und Affekt aus, vereindeutigt Spalatin das schlechte Beispiel, das Magelone und Peter trotz aller Sympathielenkung des Haupttextes eben auch geben.621 Der Roman zeige einerseits den „vngehorsam“ der Kinder „wider das vierdte gepott Gottes“, andererseits die „vnachtsamkeit“ der Eltern, die doch „ein fleyssigs aug vnnd achtung auff die kinder“ haben sollten. Daher würden „beide Eltern vnd kinder durch diese schrifft verwarnet“ (alle S. 591). Spalatin setzt angesichts der Verlockungen der Welt am Beispiel der Eltern auf ein System der Sozialdisziplinierung, das angesichts der Helferfiguren, die Peters und Magelones Flucht ermöglichen, aber durchaus auch auf das weitere soziale Umfeld ausgedehnt werden könnte.622 Unabhängig davon, ob Spalatins explizite Auslegung vom Romanverlauf konterkariert wird – Armin Schulz weist darauf hin, dass sich die Kinder- gegen die Elterngeneration gerade unter Mithilfe der göttlichen Fügung durchsetzt –,623 muss sein Sendbrief als eigene Dimension narrativer Sinnstiftung für eine überlieferungsgerechte Interpretation der 1535er Magelone-Redaktion ernst genommen werden. Sieht man diesen Brief mit der Vorrede und dem Petrarca-Holzschnitt in Zusammenhang, ist aber nicht länger nur die gemeinsame Flucht Magelones mit Peter das eigentliche Skandalon, auch der Romanbeginn mit Peters Ausfahrt wird problematisch. Die Generation der Kinder kann sich eben nur mit Gottes Intervention in Ehren und am Leben erhalten und sich letztlich gegen die Eltern, die aus Spalatins Perspektive ebenfalls zu tadeln sind, durchsetzen. Spalatin ist aber Protestant und Pädagoge genug, um den Rezipienten mehr auf die Gefahren, die der Roman thematisiert, und nicht auf das göttliche Wirken hinzuweisen.
619 Vgl. Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1245 f. 620 Ebd., S. 1239; so auch Theiß: Schöne Magelona, S. 146; von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 61 f.; Armin Schulz: Poetik des Hybriden, S. 159, sowie Hahn: Rahmentexte der Prosaromane, S. 63 f. Steinmetz: Welterfahrung, S. 212, weist auf das Nachwort des Fortunatus als vergleichbares Phänomen hin. 621 Vgl. Theiß: Schöne Magelona, S. 147 f.; Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1245 f., sowie Armin Schulz: Poetik des Hybriden, S. 159 f. 622 Vgl. zum Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft in der Magelone auch Röcke: Wandlungen des späthöfischen Romans. 623 Vgl. Armin Schulz: Poetik des Hybriden, S. 160 und S. 163.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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Weiter oben werden mit Figuren- (Hugos Tante) und Erzählerperspektive (Ambrosius-Exempel) haupttextuelle Dimensionen narrativer Sinnstiftung in ihrer überlieferungsgeschichtlichen Varianz angesprochen. Spalatins Sendbrief ist nebst dem aus der Petrarca-Übersetzung übernommenen Holzschnitt genauso ein Beispiel für sich wandelnde paratextuelle Dimensionen wie der im Folgenden besprochene Sprichwörter-Anhang der ‚Volksbuch‘-Fassung des Herzog Ernst. Der Titelheld ist nach seinen Abenteuern im fernen Orient zurückgekehrt und hat sich mit seinem Stiefvater Kaiser Otto ausgesöhnt. In den Fassungen HE C, F und Vb schließen sich an die Geschichte des Herzogs zusätzliche Episoden um die Wundertätigkeit seiner Mutter Adelheid an.624 Darauf folgt in einigen Redaktionen der eigentlich kürzenden Frankfurter Fassung ein Beygefuͤ gter Anhang nuͤ tzlicher Red-Arten und Spruͤ ch-Woͤ rter. Dem geneigten Leser zur ferneren Belustigung anbefohlen.625 Nach derzeitigem Forschungsstand ist nichts über seine Herkunft bekannt, John L. Flood vermutet in ihm die gesammelten Lesefrüchte eines unbekannten Buchdruckers, da zahlreiche Einträge von „books and reading“ handeln.626 Wahrscheinlich entsteht er in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Terminus ante quem ist 1742 als Datierung der Redaktion HE Vb L1. Sprichwörter als Bestandteil von Prosaromanen sind nichts Ungewöhnliches. Käte Gertrud Bickel weist im Fortunatus zahlreiche Beispiele nach.627 Die „kunterbunte Mischung frommer Sprüche [...], moralischer Lehren [...], bekannter Sprichwörter [...], bitterer Polemik [...] und skurrilen Humors“628 ist dabei keinesfalls „recht demokratisch[ ]“, wie Karl Sonneborn meint,629 und auch nicht einfach als ‚Unterschichtenhumor‘ abzutun.630 Vielmehr ist das Nebeneinander von christlichen Tugend- und moralischen Lebenslehren sowie machiavellistischen Handlungsmaximen durchaus prosaromantypisch, sodass Vorhandensein und Zusammenstellung des zusätzlichen Anhangs gleichermaßen irritierend und bezeichnend sind. Dabei lassen sich drei Klassen des Anhangs unterscheiden. Die vollständige Sammlung von 117 Nummern enthalten HE Vb M1, M2, N sowie P1 bis P5 und Everaerts, lediglich die ersten 59 Redensarten finden sich in L1 und L2, alle
624 Vgl. S. 321 in der Einleitung zu Teil 3. 625 Hier zitiert nach HE Vb P1. 626 Das Zitat Flood: The Survival, Bd. 1, S. 309; vgl. dazu ebd., S. 307–309: Flood: Einleitung, S. 46 f. 627 Vgl. Bickel: Stil des Fortunatus, S. 75 f., und dazu auch Leipold: Funktionstyp Druckprosa, S. 286. 628 Flood: Einleitung, S. 47, ähnlich Flood: The Survival, Bd. 1, S. 308 f. 629 Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 44. 630 Vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 352.
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anderen der von Flood berücksichtigten und in meinem Hauptteil untersuchten Redaktionen werden ohne den Anhang gedruckt. Den Sonderfall der Simrock’schen Volksbuchsammlung mit 97 Sprichwörtern bespreche ich oben.631 Nachfolgend beschränke ich mich auf die Redaktionen HE Vb P1 und M2,632 wobei aufgrund der oftmals fehlerhaften Nummerierung P1 M2 vorzuziehen ist. Dennoch sind etliche alternative Formulierungen von M2 als echte Sinnvarianten der P1-Version an die Seite zu stellen. So verschiebt es die Nuancierung von repräsentativer Mobilität auf standesgemäße Wehrhaftigkeit, wenn dem Edlen nicht mehr „schoͤ ne Roß und glaͤ nzende Waͤ gen“ (53. bei P1), sondern „schoͤ ne Roß und glaͤ nzende Waffen“ gemäß seien (52. [falsch für 53.] in M2). Auch kann es sowohl weise sein, von seinen Freuden nur „wenig [zu] vertreiben“ (71. bei M2) als auch ihnen nur „wenig [zu] vertrauen“ (P1). Doch das mit diesen Redensarten entworfene Freundschaftsverhältnis ist jeweils ein ganz anderes. Ein drittes Beispiel möge genügen, um die Binnenvarianz der ersten Textklasse vorzustellen: Wenn P1 davon spricht, dass die schändlichste Form der Dienstbarkeit, „sein eigner Sclave“ zu sein sei (38.), dann wird hier Kritik an Selbstzwang, an Selbsterniedrigung – sei es in Bezug auf die menschliche Gottesebenbildlichkeit, sei es renaissanceoptimistisch bis aufklärerisch in Bezug auf seine Freiheit – geäußert. Entfällt in M2 aber das Possessivpronomen („Es ist keine schaͤ ndlichere Dienstbarkeit, als wenn man eigener Sclave ist“), verschiebt sich die Kritik auf ein Ständesystem von Dienstherr und Leibeigenem.633 In den seltensten Fällen liegt bei den Varianten von M2 dabei wirkliche Textverderbnis vor.634
631 Vgl. S. 234f. im Kap. 2.2.2.4. Vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 307; Flood: Einleitung, S. 46. 632 Die Einträge bei HE Vb Everaerts sind nicht nummeriert, das Kölner Exemplar bricht aufgrund von Blattverlust mitten im 105. Sprichwort ab. Meine Zählung bezieht sich stets auf P1, auch dann, wenn Everaerts am Seitenwechsel Einträge nach der jeweils für einen glatten Umbruch benötigten Zeilenzahl vertauscht. In den allermeisten Fällen steht Everaerts gemeinsam mit P1 gegen M2 (vgl. die Nummern 11., 30., 35., 38., 51., 53., 55., 67., 71., 77., 85., 92., 94., 98., 102. und 103.). Nur zwei Mal teilt Everaerts mit M2 eine Variante gegenüber P1 (vgl. 73. und 84.). Als eigene, sinnstiftende Varianten sind lediglich die Ersetzung von ‚Liebesbüchern‘ durch „Leibesbuͤ cher“ (vgl. 35. bei P1, Everaerts, S. 88) und von ‚Widersachern‘ durch „Widersager“ (vgl. 97. bei P1, Everaerts, S. 94) anzusprechen. 633 Darüber hinaus bietet M2 „fliegt“ statt „steigt“ bei 11.; „das Wort Gottes“ statt „die Bibel“ bei 30.; „ein jeder seinen Feinden“ statt „einem jeden seiner Feinde“ bei 44.; „braucht viel Saiten“ statt „bricht die Saiten“ bei 54. (falsch für 55.); „beginnen“ statt „begiengen“ bei 91.; „rechten“ statt „richten“ bei 92.; „verwirft“ statt „verwirrt“ bei 98. sowie kleinere Varianten mehr wie bei 84. und 85. 634 „Fratz Gedichte“ statt „Fargedichte“ bei 35.; „schoͤ net“ statt „schaͤ ndet“ bei 51.; „Freundes“ statt „Fremden“ bei 66. (falsch für 67.); fehlende Verneinung bei 80.; „Geschmack“ statt „Geschenke“ bei 94. oder die völlige Verderbnis des zweiten Teils bei 102. sowie „Hagre“ statt „Hagar“ bei 103. Daneben finden sich einige grammatikalische Verschlimmbesserungen mehr.
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Dieser Anhang lässt sich meiner Ansicht nach enger mit der Herzog ErnstErzählung zusammensehen, als dies bislang getan wird. Als ‚Nachwort‘ kommt er aufgrund zu großer Differenzen zwar nicht in Betracht. Auch warnt der letzte Eintrag unter Nummer 117 davor, diese Dimension des Romans allzu ernst zu nehmen.635 Aber eine didaktische Funktion lässt sich durchaus plausibel machen. Leicht kann man einzelne Handlungsmaximen auf die erzählte Geschichte beziehen. Beispielsweise soll man gemäß dem 102. Sprichwort nicht mit Gewalt missionieren. Mit diesem Argument wendet sich Ernst gegen den indischen König, der den König von Babylon zu einem christlichen Bekenntnis zwingen möchte (vgl. S. 65). Die Romanepisode wird im Zusammenspiel mit der Sentenz zum Exempel einer Maxime. Andere Redensarten wie die 25., die dazu auffordert, „[e]inem Blinden [...] die haͤ ßlichen und garstigen Toͤ chter [zu] verheyrathen“, sperren sich jedoch gegen einen direkten Handlungsbezug: ‚Blinde‘ gibt es nur im übertragenen Sinn, hässliche Töchter überhaupt nicht. Flood spricht dem Anhang aufgrund solcher Aphorismen jeglichen „paedagogic value“ ab.636 Doch sollte man einkalkulieren, dass wer den vorstehenden Roman gelesen hat, über das nötige Rüstzeug verfügt, um gegenläufigen Aussagen zu widersprechen. So fällt das misogyne Frauenbild des Anhangs auf. Es wird Frauen lediglich zugestanden, menschlich zu sein (Nr. 112), darüber hinaus aber seien sie dumm (Nr. 114), anmaßend (Nr. 116), ein Übel (Nr. 113) und werden auf sexuelles Begehren reduziert (Nr. 115, dazu auch Nr. 44). Nichts davon trifft auf die im Roman vorgestellten Frauen zu. Die indische Prinzessin ist vielmehr hilflos der Begierde der Agrippiner ausgesetzt (vgl. S. 33 f.), Ottos erste Frau Ottegeba ist fromm und züchtig (vgl. S. 6), Ernsts Mutter Adelheid wird als keusche Witwe eingeführt (vgl. S. 4 und S. 7), deren unmittelbar vor dem Anhang erzählte Wundertaten in scharfem Kontrast zur Gewalttätigkeit ihres Ehemannes stehen (vgl. S. 83 f.). Der Kontrast von Handlung und Sprichwort fordert daher zum Widerspruch auf, was durchaus als pädagogisch wertvoller Effekt zu verbuchen ist. Insgesamt lassen sich die Sprichwörter drei großen Themenkreisen zuordnen. Angesprochen ist bereits der Komplex ‚Frauenbild und häusliche Ordnung‘,
635 „Er ist witzig, wie ein Mann von sieben Sinnen, er hat einen zweyschneidigen Verstand hinter sich und fuͤ r sich, wie eine Saͤ gmuͤ hle, er hoͤ ret die Floͤ h husten, und kann den Muͤ cken zur Ader lassen.“ 636 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 352. – Die Didaktikthese geht von einer kontinuierlichen Lektüre von Roman und Anhang aus. Sie kann allerdings nicht erklären, warum die Einträge des Anhangs alphabetisch geordnet sind. Flood hat die alphabetische Reihung erkannt, die nicht aufgrund des ersten, sondern aufgrund eines bedeutsamen Stichworts erfolgt und dem Rezipienten daher nur schwer auffällt (vgl. Flood: Einleitung, S. 46).
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worunter ich auch Sentenzen zu Freund- und Feindschaft fasse.637 Die von den Redensarten geforderte Unterordnung der Frau unter den Mann (Nr. 116) und der Kinder unter die Eltern (Nr. 54), wobei die Kinder das Ihre erhalten sollen (Nr. 83), wird aufgrund des Konflikts zwischen Ernst und Otto nur partiell durch die Romanhandlung eingelöst (vgl. aber S. 15, S. 27, S. 76 f. und S. 83 f.). Das zweite große Thema der Sprichwörter sind ‚Regierung und staatliche Ordnung‘ inklusive der Charakterisierung des Fürsten und der Beschreibung gerechter Kriegführung.638 Den Sprichwörtern zufolge soll ein Fürst vorbildlich sein als Einzelperson, als Vorstand seiner Familie und in der Regierung des Staatswesens (Nr. 88), das mithilfe der Metaphorik vom Staat als Körper wiederum auf den Herrscher bezogen ist (Nr. 59). Im Einzelnen soll ein Fürst Arme speisen, gütig, gerecht, wahrhaftig, beständig, verschwiegen, freigebig, repräsentativ und zugleich gefürchtet und geliebt sein (Nr. 75, 76, 79, 80, 99 und 100). Die von Karl Sonneborn und John L. Flood hervorgehobene derbe Adelskritik (Nr. 22) fällt zwar sprachlich wie inhaltlich auf, aber nur deshalb, weil sie vollkommen isoliert steht. Auf Handlungsebene entsprechen dem Katalog fürstlicher Tugenden Ernsts gleichnamiger Vater als friedsamer, gerechter und frommer Herrscher (vgl. S. 3) und Ernst der Jüngere, solange er weise regiert (vgl. S. 4)639 sowie Kaiser Otto als gerechter „Landes Vater“ (S. 6) vor Ausbruch des Krieges mit dem Protagonisten. Die dargestellte höfische Repräsentation korrespondiert ebenfalls mit dem entworfenen Fürstenbild (vgl. S. 8 f.): Ottos persönliches (sein Zorn, S. 11 und S. 18 f., und die fehlende Barmherzigkeit, S. 15), eheliches (Adelheid findet kein Gehör,
637 Nach dem Anhang solle man Freunde unter Seinesgleichen suchen (Nr. 70), doch ihnen nicht vertrauen (Nr. 71), wobei man die wahren Freunde erst in der Not erkenne (Nr. 37 und 60). Die Exposition stellt Ernst und Wetzelo als gute Freunde heraus (vgl. S. 4 und S. 7), der vorhandene Rangunterschied wird zwar immer wieder thematisiert, aber im Vergleich zum sonstigen Personal besteht ein ständisches Näheverhältnis (vgl. S. 40 f.). Die Beziehung von Otto und Heinrich warnt dagegen davor, dem Freunde – hier in der älteren Bedeutung des Verwandten – zu sehr zu vertrauen (vgl. S. 11 f. und S. 80). 638 Trotz seiner Niederlage gelangt Ernst in den Ruf eines tapferen Kämpfers (vgl. S. 23–28), was er in seinen Kämpfen in Agrippia und Arimaspi bestätigt (vgl. S. 35 f. und S. 52–54). Damit offenbart sich Ernsts Tapferkeit sprichwörtlich im Kampf (vgl. Nr. 37 und dazu Nr. 42). Aufgrund der Einigkeit seines Volkes kann er lange dem übermächtigen Kaiser trotzen (vgl. S. 14 und dazu Nr. 49). Dagegen diskreditieren Mord, Raub und Brand die Kriegszüge Heinrichs und Ottos (vgl. S. 12 f. und S. 26). Auch wenn Otto die Regensburger Bürger schont (vgl. S. 25), verstößt er massiv gegen die unter Nr. 85 aufgestellten Forderungen an gute Heerführer. 639 Auch Ernsts Verhältnis zu Wetzelo (vgl. S. 34 und S. 73 f.) stimmt mit dem Herrschaftsverständnis des Sprichwörter-Anhangs überein: Diener sollen schweigen, aber wenn gefragt klug antworten (Nr. 43). Auch die geforderte Treue der Untertanen (Nr. 39) findet sich sowohl bei Ernsts direkten Dienern (vgl. S. 4, S. 44 und S. 50) als auch bei der Bevölkerung Regensburgs (vgl. S. 19 und S. 22).
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S. 15, sowie sein Gewaltexzess, S. 84) und staatliches Fehlverhalten (Angriff ohne Anklage und Verteidigung, S. 12–17)640 sticht dagegen vor dem durch die Redensarten entworfenen Hintergrund noch deutlicher hervor. Neben häuslicher und staatlicher Ordnung werden im Anhang ‚Glaubenslehren und göttliche Ordnung‘ verhandelt, wozu auch Sentenzen zu Tod,641 Sünde und Tugend – unter besonderer Berücksichtigung von Armut und Reichtum –642 gehören. Christliche Gottesfurcht ist dabei nicht von Alltagstugenden zu trennen (Nr. 39, 48, 72, 73, 74, 84). Demgegenüber sei die Welt sündhaft (Nr. 10, 111) und eine Sünde ziehe die nächste nach sich (Nr. 105). Sünder aber werden zweifach gestraft, indem ihnen die Welt sauer ist und jenseits die Hölle auf sie wartet (Nr. 110). Daher solle man mit Bedacht und eingedenk der Folgen des eigenen Tuns handeln (Nr. 2, 9, 16, 51, 62, 69, 77, 82, 93).643 Allein wer gottesfürchtig ist, dem werde Gott helfen (Nr. 1, 29, 30, 34, 36, 39), und die Tugend setze sich am Ende durch (Nr. 108). Der Tenor dieser Lehren entspricht abendländischchristlicher Konvention644 in einem Maße, dass die weitreichende Übereinstimmung mit der Romanhandlung kaum überraschen wird.645 Beim verkürzten Anhang der zweiten Klasse (HE Vb L2) fehlen die Redensarten 60 bis 117, mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem einzigen Grund, die Druckkosten zu reduzieren.646 Doch ist bemerkenswert, dass der Anhang dann
640 Vgl. dazu auch die Redensarten zum vorbildlichen Richter Nr. 90 und 97. 641 Der Tod als Teil des Lebens, die Bezogenheit des Lebens auf den Tod und der Umgang mit Trauer ist wichtig für den Anhang (Nr. 31, 32, 52, 101, 106, 109) wie für den Romantext (S. 3 f., S. 6, S. 35, S. 37 und S. 39). 642 Die Lebenswelt der Armen (Nr. 5, 7–9, 12, 23, 26 f., 40) bleibt auf Handlungsebene außen vor. Armut spielt auch dann keine Rolle, wenn es Ernst und den Seinen am Nötigsten gebricht (vgl. S. 43), das Kleid des Armen dient nur der Verkleidung (vgl. S. 75). 643 Sowohl Adelheids Bedenken hinsichtlich des künftigen Verhältnisses von Stiefvater und -sohn (vgl. S. 8) als auch Ernsts Reaktion auf die Aggression des Pfalzgrafen (vgl. S. 14 f. und S. 18) sowie sein Verweilen mit Wetzelo in Agrippia (vgl. S. 32) lassen sich neben einigen Episoden mehr auf diese Redensarten beziehen. 644 Es gibt unter den Redensarten jedoch wenige unkonventionelle Ausnahmen vgl. das Plädoyer für Opportunismus (Nr. 20) oder die Aufforderung, die Schwäche des Nächsten auszunutzen (Nr. 25). 645 Am Ende setzen sich Ernst und Adelheid, die von Anfang an auf Gott vertraut (vgl. S. 4), durch. Wie Gott ihre Bitten erhört (vgl. S. 16 und S. 84), hilft er Ernst davon (vgl. S. 18 und auch die Gottesanrufe S. 29, S. 35 f., S. 39 f., S. 62 und S. 70, sowie das Gottvertrauen S. 60, S. 63 und S. 78 f.). Der neidische Antagonist Heinrich wird bestraft (vgl. S. 10 f.), der Held mit dem fehlgeleiteten Kaiser versöhnt (vgl. S. 79). – Alle drei Gruppen zusammengenommen lassen sich über 70 der 117 Redensarten direkt, d. h. ohne den Faktor der negativen Didaxe, auf den Roman beziehen. 646 Interessanterweise teilt L2 sowohl markante Varianten mit P1 (z. B. „die Bibel“ statt „das Wort Gottes“ bei 30. oder das vorhandene Possessivpronomen bei 38. [„sein eigener Sclave“]) als
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
nicht komplett entfallen ist. Der Schwerpunkt liegt nun aber auf Sprichwörtern zu Gottesfurcht, Sündhaftigkeit und Arbeitswelt, da die Bereiche Freundschaft und Frauenbild fast vollständig fehlen. Stark reduziert ist auch der Themenkreis von ‚Fürstenbild und staatlicher Ordnung‘, wobei nun ausgerechnet die Metaphorik vom Staat als Körper mit dem Fürsten als Haupt, seinen Bedienten als Armen und dem Volk als Füßen am Ende des Buches steht. Werden „die Fuͤ ße eher geschwaͤ chet“, kommen „Haͤ nde und Arme nicht fort[ ]“ und „das Haupt“ muss letztlich „fallen“ (Nr. 59). Ein Bild, das zusammen mit der gestärkten moralisch-christlichen Komponente gut mit der prekären Harmonie des feudalen Kaiserreichs übereinstimmt, wie es der Herzog Ernst als Prosaroman entwirft. Sowohl mit 59 als auch mit 117 Einträgen überwiegen insgesamt die Gemeinsamkeiten von Anhang und Haupthandlung die Differenzen, von denen ein Teil als negative Didaxe verstanden werden kann. Sollte sich diese These bestätigen, so würde der Herzog Ernst näher an pädagogische Prosaromane wie Veit Warbecks Magelone (mit Spalatins Sendbrief), den Fortunatus647 oder die späten Romane Jörg Wickrams heranrücken. Dass sich ein Rest der Redensarten nicht ins Bild fügt, soll nicht verschwiegen werden, stellt aber die grundsätzliche Beziehbarkeit der Sprichwörter als eine eigene Dimension auf den Gesamtzusammenhang des Romans nicht in Frage. Von struktureller Art ist der Wandel der Kapiteleinteilung. Eingehend untersucht wird diese Form der Binnengliederung anhand verschiedener Prosaromane in den textlinguistischen Arbeiten von Franz Simmler und Martin Behr.648 Ich gehe auf diese Dimension sinnstiftender Perspektivierung anhand verschiedener Redaktionen des Fortunatus ein. Für dessen Erstdruck stellt John Van Cleve eine doppelte ‚Stundenglas-Symmetrie‘ bei der Kapitelstruktur fest, welche These ich oben breiter ausführe.649 Hier aber geht es um Effekte des abweichenden Zuschnitts einzelner Kapitel innerhalb einer im Vergleich sowohl mit anderen Werken als auch mit anderen Dimensionen sehr konstanten Überlieferung. Schon im sechzehnten Jahrhundert wird das zweite Kapitel zu Fortunatus’ London-Aufent-
auch mit M2 (z. B. „flieget“ statt „steigt“ bei 11.; das sinnentstellende „schoͤ net“ statt „schaͤ ndet“ bei 51. oder auch „Waffen“ statt „Waͤ gen“ bei 53.), hat darüber hinaus aber auch eigenes zu bieten (so „Tod“ statt „Tag“ bei 34; „FranzGedichte“ statt „Fargedichte“ [P1] oder „Fratz Gedichte“ [M2] bei 35. sowie die neue Schlusswendung „dienen, und dann selig sterben“ bei 39.). Insgesamt ist die Nähe zu M2 jedoch größer. 647 Vgl. meine Interpretation des Titelholzschnitts von 1509 im Kap. 1.1.3. 648 Vgl. Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 463 f. und S. 469–471; Simmler: Textsorte Prosaroman, S. 100–122 und S. 141 f., sowie Simmler: Melusine um 1700, S. 579–594, und Martin Behr: Buchdruck und Sprachwandel, S. 335–351. 649 Vgl. S. 39f. im Kap. 1.1.5.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
261
halt neu aufgespalten.650 Nicht aber wird die Andrean-Episode separiert – der Einschnitt erfolgt etwas weiter oben, als der Protagonist gänzlich mittellos ist (s. Abb. 12). Die Redaktion verweist mit Hilfe der zusätzlichen Überschrift ein zweites Mal auf Fortunatus’ losen Lebenswandel mit seinem Bulen und zeigt auf dem ergänzten Holzschnitt, wie er es sich gefallen lassen muss, nun sogar von einer Hure des Raumes verwiesen zu werden. Das Thema des Großkapitels ‚Verführung in schlechter Gesellschaft‘ ist damit zusätzlich akzentuiert. Die unfirmierte Redaktion Basel 1699 enthält im Vergleich mit dem Erstdruck gleich zwei zusätzliche Kapitel, ohne den Haupttext zu erweitern.651 Zweigeteilt ist jenes Großkapitel, das ursprünglich als Abschluss der Andrean-Episode erzählt, wie die Witwe des Londoner Edelmanns auf Anraten einer Nachbarin das Bett ihres Mannes verschiebt, darunter zufällig die königlichen Kleinodien wiederfindet, sie auf Geheiß eines Vertrauten dem Herrscher überantwortet und als Lohn dafür – in gleichsam magischer Erfüllung der zukunftsungewissen Vorausdeutung der Nachbarin – mit einem neuen Mann versehen wird. Das neu entstandene Kapitel mit dem Zwischentitel Wie der Koͤ nig der Frawen/ welche jhm die Kleinodien wieder uͤ berantwortet/ ein Jungen Edelmann zu einem Mann gab/ darneben auch so koͤ stlich außstewret (F 1699, fol. [Cvij]r.) ist dabei sehr kurz. In wenigen Zeilen wird ein Priester berufen, stante pede die Witwe wiedervermählt und auch materiell belohnt. Ihr Dank für den Rat der Nachbarin schließt das neue Klein- wie das frühere Großkapitel ab. Von der Rückgabe der Schmuckstücke verschiebt sich damit der Fokus des strukturell ermöglichten Zusatzzwischentitels auf die Belohnung. Die königlich initiierte Vermählung mit einem Adligen kontrastiert dabei auffällig mit Fortunatus’ vorausgehenden Liebesabenteuern, dem es anders als der Witwe bis zu diesem Zeitpunkt nicht möglich ist, „weiser Leuth Raht“ (F 1699, fol. [Cvij]r.) zu folgen. Geteilt wird im Basler Druck ebenfalls das Kapitel zur Heimkehr des von der Glücksjungfrau bereicherten Helden. Das erste Kleinkapitel beschränkt sich nun im engeren Sinne darauf, wie sich Fortunatus niederlässt und damit das Interesse der zypriotischen Frauenwelt erregt (vgl. F 1699, fol. [Fvj]v.–[Fviij]r.). Agiert der Landesherrscher schon zuvor im Verborgenen, um eine ihm gefällige Verbindung zu bewirken, beginnt das neu entstandene Kleinkapitel nun damit, wie er offen die Initiative ergreift und nach Fortunatus sendet (vgl. fol. F 1699, [Fviij]v.–Gv.). Die sinnstiftenden Konsequenzen sind minimal, allenfalls lässt sich von einer
650 Vgl. stellvertretend den zusätzlichen Zwischentitel in der Redaktion Frankfurt a. M.: Thomas Rebart und Kilian Han 1570, Exemplar SBB-PK Berlin, Sign. 1 an: Yu 827, [Bv]v. 651 Ich verwende das Exemplar der SBB-PK Berlin, Sign. Yu 1630 R, Stellennachweise im Fließtext.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Annäherung der Struktur an den Gang der Handlung sprechen, wobei Gegenbeispiele ausbleibender Anpassung die überwiegende Mehrzahl ausmachen. Eine undatierte wie auch unfirmierte Fortunatus-Ausgabe an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert fasst dagegen zwei Kapitel der oben besprochenen London-Handlung zusammen und streicht darüber hinaus ein anderes ganz.652 Bei der Frankfurter Redaktion werden die amourösen Abenteuer strukturell und in zweiter Konsequenz paratextuell hervorgehoben. Hier dagegen verliert, wie Fortunatus sein Geld vertut, im neuen Großkapitel Wie Fortunatus gen Londen zu losgeschiffet (F 1800, S. 18–20) sein eigenständiges Gewicht. Dadurch erscheint der Umstand, in der englischen Hauptstadt in schlechte Gesellschaft zu geraten, als eine Zwangsläufigkeit, die keiner expliziten Ankündigung bedarf. Da der vormals noch neue Einschnitt Wie Fortunatus zu seinem Buhlen gieng, Geld von ihr zu entlehnen erhalten bleibt (F 1800, S. 20–25), sind die Leitthemen ‚Geldnot‘ und ‚Buhlschaft‘ zudem auf der Dimension der Zwischentitel weiterhin präsent. Kapitel der Vorlage zusammenzuziehen oder feiner zu untergliedern, ermöglicht die Variation zusammengehöriger Sinnabschnitte. Dies kann alternative Effekte bei der Gegenüberstellung von Kontrast- oder Parallelstellen bewirken. Außerdem bedingen derartige Änderungen Varianten auf der paratextuellen Dimension des Zwischentitels.
652 Ich verwende das Exemplar SBB-PK Berlin, Sign. Yu 1656/10 R, Stellennachweise im Fließtext. – Das Fehlen der schwankhaften Episode um jene Frau, die dem verliebten Andolosius untergeschoben wird (vgl. F 1800, S. 108), ist dabei haupttextueller Natur und betrifft die Figurenzeichnung, sodass ich hier, wo strukturelle Effekte zu thematisieren sind, nicht weiter darauf eingehe.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
263
Abb. 12: Unterschiedliche Binnengliederungen von Fortunatus’ Aufenthalt in London.
Ankunft, Kontakt zu Kaufmannssöhnen Schlechte Gesellund Buhlschaft
Augsburg: Otmar 1509
Frankfurt a. M.: Rebart/Han 1570/ o.O.: o.Dr. um 1800 Basel: o.Dr. 1699653
Wie Fortunatus gen lunden kam
Wie Fortunatus gen Lunden kam
Bankrott, Spott und Rückfahrt der Wie fortunatus zu Kaufmannssöhne boͤ ser geselschafft kam/ mit denen/ vnd mitt leüchten Versuch, von Buhlin frawen/ als sein Geld zu leihen gelt verthet/ vnd sich darnach vil Dienste für das armuͦ t leiden Haus Roberti muͦ ßt Vorgeschichte: Andrean in Tours
Wie Fortunatus gen Londen zu Wie Fortunatus zu boͤ ser Gesellschaft kam/ mit denen vnd losgeschiffet mit leichten Frawen/ all sein Geldt verthet/ vnd sich darnach viel armuts leiden must
Gefangener schickt Andrean zu den Roberti
Wie Fortunatus zu Wie ain Wie Fortunatus zu seinem Bulen seinem Buhlen florentiner Andre- gieng/ Geldt vmb sie zu entlehnen gieng, Geld von ihr an genannt ain zu entlehnen Andrean erfährt von vast boͤ ser buͦ b/ Kleinodien und trifft tzu ainem den Edelmann gefangen reichen englischen mann/ Gemeinsames Essen und Andreans in die gefaͤ ngknuß gelassen ward/ Mord mit jm zureden Andrean ohne Beute, Roberti finden Leiche Jeronimus schickt Andrean zum Hof
653 Zwischentitel folgen der orthographischen Form von Rebart/Han 1570, nur die zusätzliche Überschrift ist nach dem Basler Exemplar zitiert.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Abb. 12: (fortgesetzt). Andrean entsorgt Leiche und flieht Sorge der Roberti und der Witwe König lässt Schmuck suchen Verhaftung und Durchsuchung
Wie der boͤ ßwicht Andrean ainen edelman ermort vnd yn in ain prifet wurff/ vnd daruon kam
Wie der Boͤ ßwicht Andreas einen Edelman ermordet/ vnd jn in ein Profey warff/ vnd daruon kam/ Aber Hieronymus vnd alles sein Gesind gefangen wurden
Fund der Leiche, Wie jeronimus peinliche Befragung, Geständnisse roberti vnd als sein hauß gesyn Todesurteil, Vollgefangen/ vnd streckung, Rettung vnschulidklich geWie man Hieronymum Robertum Fortunatus’ henkt wurden/ mit allem seinem Gesinde hencket allain fortunatus Plünderung und ͤ erlo digt ward Urteilsbegründung Ausloben eines Finderlohns Rat der Nachbarin, Kleinodien-Fund Rat des Verwandten
Schmuck-Rückgabe Heirat und Geld als Belohnung; Dank
Wie des Koͤ nigs koͤ stliche Kleinot gefunden worden/ von des Edelmanns Frauwen vnder einem Bethstollen
Wie dem künig seine kostliche klainat gefunden/ vnd wider geantwurt wurden Wie des Edelmans Fraw/ dem Koͤ nig die Kleinot vberlieffert
Wie der Boͤ swicht Andreas einen Edelmann ermortet, und ihn in ein Privet warf und davon kam, aber Hieronymus und all sein Gesind gefangen wurde
Wie man Hieronymum Robertum mit allem seinem Gesind henkte Wie des Koͤ nigs koͤ stliche Kleinodien gefunden worden, von der Edelmanns Frau unter einer Bettstatt
[wie 1570] Wie der Koͤ nig der Frawen/ welche jhm die Kleinodien wieder uͤ berantwortet/ ein Jungen Edelmann zu einem Mann gab/ darneben auch so koͤ stlich außstewret
Wie des Edelmanus [sic] Frau dem Koͤ nig die Kleinodien uͤ berlieffert
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
265
Alles Geschriebene ist anfällig für Veränderungen: Hinzufügungen, Streichungen, Umbesetzungen. Doch schon die Anordnung eines Textes auf der Fläche einer Seite oder im Raum eines Codex oder Buches bedingt Perspektivierungen. Ersichtlich ist dies an jenen Stellen, an denen die Linearität des Textflusses unterbrochen ist durch Absätze, Kapitelgrenzen oder den Wechsel des sogenannten ‚Perspektiventrägers‘ (üblicherweise Figuren und der Erzähler) sowie alle Phänomene der Paratextualität. Wird das oben mit Weimann dargestellte, eingeschränkte ‚Perspektive‘-Verständnis in der Prosaroman-Forschung abgelehnt, zeigt sich anhand der ausgeführten Beispiele, dass die Möglichkeit, Standpunkte einzunehmen, unabhängig ist von der Artikulation soziolektischer Weltsichten. Vielmehr eröffnen miteinander konkurrierende Dimensionen perspektivierte Sichtweisen auf das Gesamt eines Werkes. Obwohl immer wieder Spezialstudien zu einzelnen Dimensionen entstehen, fehlt es bislang an einer verbindenden Würdigung des frühneuzeitlichen Erzählens in seiner ‚Dimensionalität‘. Dieses Desiderat löse ich am Beispiel der F- und ‚Volksbuch‘-Fassung des Herzog Ernst im Hauptteil der Arbeit ein und mache die Ergebnisse für eine ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ des Werkes stark.
2.3.2 Zur These der ‚Sinnlosigkeit‘ des Prosaromans Nach der vorstehenden Diskussion der These, Prosaromane seien perspektivenlos, gehe ich im Folgenden auf die Deutungshypothese ein, Prosaromane verzichteten auf ‚Sinnstiftung‘. Dabei diskutiere ich anhand von Walter Haugs ‚Organon einer alternativen Ästhetik‘ die Ursachen dieser Sicht auf das spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Romanerzählen. Um meine Arbeit innerhalb der bestehenden Konzepte der Analyse von ‚Sinnstiftungsprozessen‘ zu positionieren, verorte ich die Begriffe ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ im Kräftefeld von Autor, Werk, Leser, Semiotik und Überlieferung, wobei insbesondere die Vorstellung zweier Stufen der Sinnstiftung von Wichtigkeit ist. Ausgehend von Thürings von Ringoltingen Unterscheidung einer ‚Substanz‘ und eines ‚Sinnes‘ traditionaler Erzählstoffe erfolgt – nochmals in Abgrenzung von Haug – ein abschließender Hinweis auf die Dynamik von Bearbeitungs- und Überlieferungsprozessen bei der Sinnstiftung innerhalb narrativer Texte.
2.3.2.1 „Erzählen ist Sinn stiften.“: Zum vermeintlichen Verzicht auf ‚Sinnstiftung‘ Nach einer Deutungstradition der Prosaroman-Forschung vermeiden diese Werke jede Form einer Sinndeutung und haben gerade in moralischer Hinsicht weder
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Bedenken noch ‚Sinn‘.654 Ihr pädagogischer Wert wird bezweifelt, ein lehrhafter Anspruch wird ihnen abgesprochen.655 In ihrer (Selbst-)Beschränkung auf Faktisches verzichteten sie demnach „auf Totalität und auf übergreifende Sinngebung“.656 Darüber hinaus komme aufgrund ihrer Kürzungstendenzen „manches tatsächlich zu kurz“ und bleibe aufgrund „unbeabsichtigte[r] Dunkelheiten und Pannen“ unverständlich.657 In seinem Kapitel Verzicht auf Sinnstiftung zeigt Manuel Braun am Beispiel des Fortunatus, wie diese Werke „alle Ansprüche an Sinnstiftung [...] unterlaufen“ würden.658 Indem ihnen ein herausgehobener Standpunkt fehle, werde das Geschehen nicht anhand allgemein gültiger Normen poetisch gerecht geordnet. Auch Erzählschemata, die jeweils für sich genommen Sinn verbürgen, können diese Funktion nicht mehr leisten, wenn sie mit gegenläufigen Mustern verbunden werden. Prominentester Verfechter dieser ‚Sinnlosigkeitsthese‘ ist Walter Haug. Er führt am Beispiel von Elisabeths von Nassau-Saarbrücken Huge Scheppel den Versuch durch, ein ‚Organon einer alternativen Ästhetik‘ aufzustellen, das den „erzählerisch zugkräftigen Stoffen, die eigentlich niemandem in den Kram passen“, angemessen sei.659 In Anlehnung an Bert Brechts Kleines Organon für das Theater entwickelt er seine „Ästhetik, die diese Literatur als alternative versteht“ (S. 385). Dafür arbeitet er insgesamt sechs ‚Erstaunlichkeiten‘ heraus: Erstens zitierten diese Texte nur einzelne Motive aus der Tradition, anstatt nach nur einem Schema zu erzählen; sie präsentierten damit aber lediglich Widersprüche und arbeiteten nicht an einer Problemlösung (vgl. S. 380 und S. 384 f.). Es entstünden durch das bruchstückhafte Zitieren zweitens „entfremdende Kollage[n]“, was zur Inkonsistenz nicht nur der Helden führe (S. 385, vgl. auch S. 381 f. und S. 384). In der unreflektierten Kombination von historisch-faktischen Ansprüchen und fiktionalen Elementen offenbare sich drittens ein fehlendes Gattungsbewusstsein (vgl. S. 382–384 und S. 386). Dominante Funktion sei viertens die
654 Vgl. hier stellvertretend Jan-Dirk Müller: Mittelalterliche Erzähltradition, S. 119, der in anderen Publikationen aber durchaus eine moderatere Meinung vertritt. – Das Zitat im Zwischentitel stammt von Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied. 2., überarb. und erg. Ausg. Berlin 2005, hier: S. 11. 655 Vgl. Schausten: Suche nach Identität, S. 224, und dazu ferner Albrecht Classen: Geschlechtsund Ehebeziehungen im 15. Jahrhunderts: Der Fall Melusine von Thüring von Ringoltingen. Eine sozial- und literarhistorische Studie aus mentalitätsgeschichtlicher Sicht. In: German Studies Review 17/2 (1994), S. 233–268, hier: S. 233 f., sowie Schnyder: Literarische Aspekte, S. 137. 656 Jan-Dirk Müller: Verfallsgeschichte?, S. 157. 657 Brandstetter: Prosaauflösung, S. 172. 658 Das Kap. Manuel Braun: Vergesellschaftung, S. 100–103, die Zitate ebd., S. 100. 659 Haug: Organon, S. 376. Alle folgenden Stellennachweisklammern im Fließtext beziehen sich auf diesen Aufsatz.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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reine Unterhaltung, was Haug nicht nur an der Prosaform, sondern vor allem an einer vermeintlichen Reduktion des ‚Doppelten Kursus‘660 festmacht (vgl. S. 383 f. und S. 387). Auf Haugs fünften und sechsten Punkt, die Überlieferungsgeschichte und Moral der Prosaromane betreffend, gehe ich weiter unten etwas ausführlicher ein. Vor dem Hintergrund dieser Deutungsrichtung mutet es kurios an, Prozesse narrativer Sinnstiftung gerade an dieser Gattung niederen Erzählens aufzeigen zu wollen. Aber indem Haug ausgehend von seiner Beschäftigung mit Brechts Ästhetik661 die Prosaromane rezipiert, stellt er Beobachtungen in den Fokus, die eine ‚Horizontverschmelzung‘ begünstigen und diese Werke der Frühneuzeit „überraschend modern“ erscheinen lassen (S. 388). Anderes wird dafür entsprechend des modernen Horizonts zurechtgebogen („Bekenntnis zur Literatur als Unterhaltung, Geschichtslosigkeit, unernste Unmoral“, S. 388). Dagegen werden Dimensionen, die sich nicht zu einem gemeinsamen Horizont vereinen lassen, ignoriert und invisibilisiert. Mit dem Konzept der ‚Horizontverschmelzung‘ ist indes die Rezeptionstheorie Hans Robert Jauß’ aufgerufen, die in der Tradition Hans-Georg Gadamers alteritäre Literatur nach „ihr[em] mögliche[n] Sinn für uns“ befragt.662 Hierbei ist aber die Gefahr verbunden, dass bei der Rezeption
660 Zum fehlenden zweiten Kursus in der Melusine vgl. Walter Haug: Die Entdeckung der Fiktionalität. In: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 2003, S. 128–144, hier: S. 143 f. Ähnlich Wyss: Melusines Kinder, S. 393, in Bezug auf die Abenteuer Gyß’ und Goffroys. – An anderem Ort formuliert Haug, dass der Prosaroman „das sinnvermittelnde Handlungsmuster“ zugunsten der Darstellung von Zufällen aufgebe (Walter Haug: Francesco Petrarca – Nicolaus Cusanus – Thüring von Ringoltingen. Drei Probestücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert. In: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen [1988] 1995, S. 332–361, hier: S. 360 f.); zur prominenten Rolle des Zufalls in Haugs Ansatz vgl. auch Haug: Theodizee und Fiktion, S. 70 und S. 82). Eine Reihe von Aufsätzen befasst sich explizit mit der Gestaltung von Zufall/Kontingenz in diesen beiden Prosaromanen, darunter: Jan-Dirk Müller: Fortuna des Fortunatus; Bruno Quast: Diß kommt von gelückes zuoualle. Entzauberung und Remythisierung in der Melusine des Thüring von Ringoltingen. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 83–96; Kragl: Fortes fortuna adiuvat; Haferland: Kontingenz und Finalität; Friedrich: Providenz, Kontingenz, Erfahrung, sowie Speth: Zufall erzählen. 661 Vgl. seine Antrittsvorlesung Über die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur nach einer Lektüre der ästhetischen Schriften Berthold Brechts; den Hinweis verdanke ich dem Aufsatz Hans Robert Jauß: Einleitung. Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. In: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976. München 1977, S. 9– 47, hier: S. 23. 662 Jauß: Alterität und Modernität, S. 10.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
das Vertraute inmitten des Fremden überrascht und daher bei der Deskription über die Maßen betont wird.663 Dies gilt, obwohl Jauß selbst vor einer unreflektierten Modernisierung des Textsinns warnt und obwohl seine Rede von der ‚Modernität‘ des Mittelalters lediglich auf die grundsätzliche Möglichkeit einer Vermittlung zwischen dem historischen Werk und seinen Interpreten zielt, ohne dass die Horizonte von Werk und Rezipient kurzgeschlossen werden müssten.664 Die überraschende Wahrnehmung des Vertrauten im Fremden, die Haugs Prosaroman-Wahrnehmung leitet, birgt also die Gefahr, die eigene Ansicht in den historischen Werken zu spiegeln. Ein vergleichbares Phänomen erkennt Freimut Löser im übermäßigen Stellenwert von Varianz bei Bernard Cerquiglini und den postmodernen new philologists, die sich nach Lösers Meinung eigentlich nur des Mittelalters annehmen, um sich gegen die klassische Moderne zu wenden.665 Haug als Interpret wie Cerquiglini als Theoretiker wählen sich damit „ein ‚postmodernes Mittelalter‘“ zum Untersuchungsgegenstand, „das [sie] eben erst selbst geschaffen haben“.666 Dietrich Busse erklärt derartige Ansätze als Interpretation nach der Perspektive des ‚generalisierten Anderen‘ (George Herbert Mead): „Wir interpretieren die sprachlichen Zeichen [...] im allgemeinen nach der Maßgabe, daß die Verfasser sich dabei wohl schon das gedacht haben mögen, was wir selbst uns gedacht hätten, wenn wir diese Zeichen in dieser Kombination und diesem Kontext so verwendet hätten“.667 Dem ist nur dadurch zu begegnen, dass man sich den historischen Abstand stets präsent hält und widerstrebende Aspekte nicht einer harmonisierenden Deutung unterordnet.
663 Vgl. die Kritik an Jauß von Andreas Kablitz: Einführung. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Hg. von Ursula Peters. Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 23), S. 373–376, hier: vor allem S. 374. 664 Vgl. Jauß: Alterität und Modernität, S. 44; Becker/Mohr: Alterität als Konzept, S. 16, sowie zur beschriebenen Gefahr auch ebd., S. 21 f. 665 Vgl. Löser: Postmodernes Mittelalter?, S. 217 f., und zur new philology auch das Kap. 2.2.1.3. 666 Ebd., 226, mit Geoffrey Hartmann. 667 Busse: Text, Sprache, Wissen, S. 115. – Auch eine Akademisierung des Prosaromans in der wissenschaftlichen Analyse ist als Folge dieser Spiegelungsgefahr anzusehen (vgl. Jan-Dirk Müller: Transformation allegorischer Strukturen, S. 265, der auf Erwin Panofskys Warnung vor der kunsthistorischen Überinterpretation von Alltagsmalerei hinweist). Als ein Beispiel möge die Melusine-Interpretation Stephanie B. Pafenbergs genügen, die aufgrund des ‚Augustinus‘-Exempels voraussetzt, Thüring von Ringoltingen habe neben Coudrettes Versroman auch die Schriften von Augustinus, Boethius und womöglich des Proklos gekannt und für seinen Roman benutzt (vgl. Stephanie B. Pafenberg: Vorsehung, Zufall und das Böse in der Melusine des Thüring von Ringoltingen. In: Colloquia Germanica 28 [1995], S. 265–284, hier: vor allem S. 269 und S. 282).
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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Mühlherr spricht bei ihrer Interpretation von Melusine und Fortunatus davon,668 dass hier die „Sinnstiftungsfunktion von Literatur“ negiert werde (S. 118), indem mit der Klitterung von der Tradition entnommener Versatzstücken (Erzählschemata, Motive, Teile erzählter oder historischer Welten) „gegen jegliches Prinzip literarischer Sinnstiftung“ anerzählt werde (S. 118). Auch mit der Bestrafung von Andolosias Mördern komme der Fortunatus nur scheinbar zu einem poetisch gerechten und damit ‚sinnvollen‘ Ende, da ihre Hinrichtung mit der als ungerecht markierten Hinrichtung der Roberti in London korrespondiere (vgl. S. 110). Dadurch sei das Ende „pointiert sinnlos“ (ebd.) und „‚sinnwidrig‘-zufällig hergestellt[ ]“ (S. 124), sodass am Schluss „[d]ie dumpfe Fatalität von Kontingenz“ stehe (ebd.). Wenn aber mehrere Dimensionen in Konkurrenz miteinander treten und verschiedene, vielleicht einander ausschließende Angebote für die ‚richtige‘ Deutung eines Werkes machen, so ist die Folge nicht ‚Sinnlosigkeit‘, sondern ‚Mehrsinnigkeit‘.669 Doch dass Romane andere Formen von ‚Sinn‘ vermitteln könnten, die nicht unmittelbar aus der Einhaltung von Erzählschemata folgen, kommt weder bei ihr noch bei Haug in Betracht.670
668 Die Nachweisklammern im Fließtext beziehen sich auf Mühlherr: Verrätselter Sinn. – Auch Detlef Roth kritisiert die zugrundeliegende Sinnstiftungstheorie, nach der der Sinn einer Erzählung nur aus der Einhaltung tradierter Erzählschemata hervorgehe (vgl. Roth: Deutungsversuche, S. 217). Er schränkt daher ein, dass Mühlherr nur „von einem Verzicht auf traditionelle Formen der Sinnstiftung sprechen“ könne und dass die Folgerung von bewusster Sinnlosigkeit des Erzählten eine Rezeptionshaltung voraussetze, wie sie für das sechzehnte Jahrhundert bislang nicht belegt worden sei (ebd., S. 218 f.). – Vgl. dazu auch Stock: Kombinationssinn, S. 3–6; Steinmetz: Welterfahrung, S. 212–214. 669 Vgl. dazu nochmals Rüdiger Schnell: Erzählstrategie, Intertextualität und ‚Erfahrungswissen‘. Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Koll. 2002. Hg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz, Klaus Ridder. Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 367–404, S. 399. 670 Das Fehlen expliziter Erzählerkommentare wird lediglich als methodisches Problem konstatiert (vgl. Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 5). – Zur relativen Stimmlosigkeit des Erzählers in Fortunatus und Melusine gerade angesichts der amoralischen Handlung vgl. weiterhin Jan-Dirk Müller: Melusine in Bern, S. 67; Stange: Herkunft, Leistung und Glück, S. 240. Dies wird als ‚Offenheit‘ im Sinne einer ‚Verrätselung‘ (Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 26 oder auch S. 124) oder bewussten ‚Doppeldeutigkeit‘ (Spreitzer: Einschlagstellen des Diabolischen, S. 145 f.) gedeutet. Dem widerspricht Detlef Roth, da dieses Verständnis von ‚Offenheit‘ einer modernen Erwartungshaltung geschuldet sei und der frühneuzeitlichen Rezeptionssituation nicht gerecht werde; vielmehr folgert er mit Hannes Kästner, dass ein Rezipient des sechzehnten Jahrhunderts diese ‚Leerstellen‘ mit moraldidaktischem Wissen schließe (vgl. Roth: Deutungsversuche, S. 215). Dies könnte durchaus dem Kalkül der Prosaroman-Autoren oder einer unbewussten Haltung entsprechen, wenn man an Thürings von Ringoltingen Ergänzungen (Seneca- und Bibelzitate sowie das Augustinus-/Ambrosius-Exempel) gegenüber seiner französischen Vorlage denkt. Mit Hinweis
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Rüdiger Schnell kritisiert in anderem Zusammenhang Walter Haugs Auseinandersetzung mit spätmittelalterlichen Mären aufgrund ihrer „eindimensionalen Kontrastierung von Ordnung bzw. Sinn und Sinnlosigkeit“ scharf.671 Dies korrespondiert unmittelbar mit meiner Einschätzung von Haugs ProsaromanAnalyse. Wie er dort die Dimension des Epimythions außer Acht lässt, so reduzieren er und in seiner Nachfolge Mühlherr im Kontext des Prosaromans die Sinnangebote auf die vermeintliche Sinnlosigkeit kombinierend gebrochener Erzählschemata. ‚Sinnstiftung‘ ist in der Literatur aber ein Phänomen, das nicht eindimensional zu fassen ist, da es sich bei den überlieferten Werken um das Ergebnis von Problemlösungsstrategien auf ganz unterschiedlichen Ebenen handelt. Neben ästhetischen, poetologischen oder semantischen Überlegungen eines Autors wirken im Überlieferungsprozess auch literaturferne wie die ökonomischen Interessen der Druckerverleger auf die Gestalt der Texte ein. Darüber hinaus zeitigen intentionslose Zufälle bedeutungsgenerative und damit untersuchungsrelevante Folgen, die sich materialiter in die vorliegenden Überlieferungszeugen einschreiben und im Rahmen des Projektes einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ nicht ignoriert bleiben können. Die Verfechter der ‚Sinnlosigkeitsthese‘ bestreiten nicht, dass die Prosaromane auch historisches, genealogisches oder geographisches Wissen enthalten.672
auf die Unmotivierbarkeit des Mythischen erklären Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 76/ Anm. 22, und Werner Röcke: Öffentlichkeit und Heimlichkeit. Zur Logik des Wunderbaren in Thürings von Ringoltingen ‚Melusinen‘-Roman. In: Melusine. Actes du Colloque du Centre d’Etudes Médiévales de l’Université de Picardie Jules Verne, 13 et 14 Janvier 1996. Hg. von Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1996 (Wodan 65; Actes de colloques et ouvrages collectifs 36), S. 149–158, hier: S. 157 f., die Mehrdeutigkeit der Melusine; vgl. zur ‚Offenheit‘ der Melusine auch Parkin: Sin and Salvation, S. 89 und S. 182. 671 Schnell: Sinn und Sinnlosigkeit, S. 377, meine Hervorhebung. – Vgl. zur Kritik an Haugs Elisabeth-Interpretation auch Ulrike Gaebel: Chansons de geste in Deutschland. Tradition und Destruktion in Elisabeths von Nassau-Saarbrücken Prosaadaptationen. Diss. elektron. Berlin 2002. http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDISS_derivate_000000 000602/0_gaebel_diss_000_titelei.pdf?hosts=local [29. Oktober 2010], hier: ausgehend von S. 75/Anm. 187, und von Bloh: Ausgerenkte Ordnung; in seiner Rez. der Arbeit bezeichnet Bastert: Rez. Bloh, S. 476, die „Auseinandersetzung mit den Thesen Haugs“ sogar als „eine Art Tiefenstruktur der Studie“. 672 Vgl. dazu Leipold: Funktionstyp Druckprosa, S. 290; Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 65–70, und zum genealogischen Wissen Kellner: Ursprung und Kontinuität, S. 414–447; Ursula Peters: Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilien in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1999 (Hermaea N.F. 85), hier: S. 219 f., sowie Hildegard Elisabeth Keller: Berner Samstagsgeheimnisse. Die Vertikale als Erzählformel in der ‚Melusine‘. In: PBB 127 (2005), S. 208–239, S. 212; anders René Wetzel: Aus der Geschichte lernen? Bedingungen von Glück und glückes unfall im französischen und deutschen Melusineroman des
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
271
Doch gerade wenn sich die frühen Werke als ‚Historien‘ mit dem Anspruch auf Faktenwahrheit inszenieren, gelten derartige paratextuelle Rezeptionshinweise als topische Reaktion der Druckerverleger auf den Rechtfertigungsdruck, der in der Tat auf den Produzenten volkssprachlicher, unterhaltender Literatur lastet.673 Die Gegenthese innerhalb der Prosaromanforschung, die den didaktischen Wert der Werke herausstreicht, gerät so in Verdacht, ihrerseits einzelne Dimensionen der Sinnstiftung zu verabsolutieren und die vorgebliche Wissensvermittlung und Lehrhaftigkeit überzubewerten. In Opposition zu Haugs These steht u. a. Hannes Kästners Fortunatus-Interpretation als „Bildungsroman mit negativen [sic] Vorzeichen“, den er auf der Höhe der Pädagogik der Zeit sieht, wobei bereits das Titelblatt die unzureichende Erziehung als Thema des Romans vorstelle.674 Dem Rezipienten werde hier nach Hans-Gert Roloff ein Spiegel vorgehalten, der vor den Gefahren des Reichtums warne und so moralische Belehrung literarisch erfahrbar mache.675 Aber auch für andere Prosaromane wird auf ein didaktisches Moment abgehoben: So sei die Melusine „ein Lehrbuch bürgerlicher Moral“ und im Hinblick auf die Ehelehre didaktisch nutzbar.676 Jörg Wickrams Warhafftige History von einem vngerahtnen Son (Straßburg: Jakob Frölich um 1554) erscheint separat „als Rechtfertigungsschrift“ für seinen Roman Der Jungen Knaben Spiegel
14. und 15. Jahrhunderts. In: 550 Jahre deutsche Melusine – Coudrette und Thüring von Ringoltingen/550 ans de Mélusine allemande – Coudrette et Thüring von Ringoltingen. Beitr. der wissenschaftlichen Tagung der Universitäten Bern und Lausanne vom August 2006/Actes du colloque organisé par les Universités de Berne et de Lausanne en août 2006. Hg. von Jean-Claude Mühlethaler, André Schnyder. Bern u. a. 2008 (TAUSCH 16), S. 363–380, hier: S. 370. – Zum „Beitrag nichtfiktionaler Elemente zur Sinnkonstitution fiktionaler Texte“ vgl. Peter Blume: Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur. Berlin 2004 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 8), hier: das Zitat S. 7. 673 Vgl. von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 84; Thomas Veitschegger: ‚DAs abenteürlich buch beweyset uns von einer frawen genandt Melusina‘. Beobachtungen zur deutschen Drucküberlieferung der ‚Melusine‘ im 15./16. Jahrhundert. In: Gutenberg-Jb. 69 (1994), S. 108–121, hier: S. 114. 674 Vgl. Kästner: Peregrinator, S. 182–185, das Zitat ebd., S. 183, vgl. zur belehrenden Intention des Textes auch Kästner: Erkenntnisdrang, S. 90 f., – sowie meine Ausführungen auf S. 30–39 im Kap. 1.1. 675 Roloff: Anfänge, S. 74. 676 Vgl. Domanski: Melusine als illustriertes Buch, S. 278; das Zitat Wolfgang Spiewok: Melusine. Ursprünge, Konstituenten und Varianten eines Motivs. In: Die Welt der Feen im Mittelalter/Le monde des fees dans la culture medievale. II. Tagung auf dem Mont Saint-Michel/IIème Congrès au Mont Saint-Michel (Mont Sant-Michel, 31. Octobre – 1er Novembre 1994). Hg. von Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1994 (Wodan 47; Actes de colloques et ouvrages collectifs 27), S. 163–183, hier: S. 172. – Vgl. allgemein dazu auch Burchert: Anfänge des Prosaromans, S. 190.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
und fordert den Rezipienten explizit zu einer exemplarischen Lektüre auf.677 Oftmals problematisch sind dagegen allegorische Auslegungen,678 schon allein da sich die Prosaromane „weitab von gelehrter Kunsttheorie“ herausbilden.679 Allerdings gibt es mit Georg Messerschmidts Brissonetus einen Vertreter, bei dem sich eine derartige Deutung aufdrängt, zumal er selbst „auf das Auslegungsmodell des mehrfach gestuften Schriftsinns“ anspielt.680 Eine größere Diskrepanz zu Haugs ‚Sinnlosigkeitsthese‘ lässt sich kaum erdenken. Aufs Ganze gesehen, ist sich die Forschung also uneins und Jan-Dirk Müller sieht den Prosaroman gleichzeitig als Sinndeutung vermeidende Gattung und „als zögernden Versuch neuer Sinnbildung“; obwohl „sinnstiftende[ ] Erzählrahmen“ fortfallen und nur allgemeinste Spruchweisheiten widergegeben würden, seien diese Werke trotzdem „grundsätzlich lehrhaft“, doch könne im Laufe der Erzählung „die Lehrhaftigkeit weithin aus dem Blick geraten“.681 Der Hauptteil der vorliegenden Arbeit macht diesen Dissens textgeschichtlich einsichtig.
677 Das Zitat Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1262. Der Knabenspiegel und der sogenannte ‚Dialog‘ sind in dieser Edition ebenfalls enthalten (S. 679–827), vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller: Transformation allegorischer Strukturen, S. 278 f. – Auch andere Romane lassen sich exemplarisch lesen, ob zur Rechtfertigung einer solchen Leseweise jedoch allein schon die klösterliche Provenienz erhaltener Exemplare ausreicht, halte ich für gewagt (vgl. Günthart: Basler Buchdruck, S. 249 f.). Fraglos vermittelt aber der Nachvollzug der erzählten Lebensgeschichten Erfahrungen in vielfältigen Lebenssituationen. Für eine Textdeutung auf dieses pragmatische Erfahrungswissen zu rekurrieren ist daher weniger voraussetzungsreich als die Romane exemplarisch zu lesen (vgl. Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 218; Jan-Dirk Müller: Curiositas und erfarung der Welt im frühen deutschen Prosaroman. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symp. Wolfenbüttel 1981. Hg. von Ludger Grenzmann, Karl Stackmann. Stuttgart 1984 [Germanistische Symposien, Berichtsbände 5], S. 252–271, hier: S. 254, sowie JanDirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 75 f.). Udo Friedrich weist denn auch darauf hin, dass es beim Fortunatus um den Kasus und nicht um ein Exempel gehe, dass der Tod zentraler Figuren „als eine konkrete Erfahrung inszeniert“ werde (vgl. Friedrich: Providenz, Kontingenz, Erfahrung, S. 145, das Zitat ebd. S. 149). – Zu einer philosophischen Begründung des „Erkenntniswert[s] von Literatur“, die zwar keine Wahrheiten direkt äußern, aber zeigen könne, vgl. Gottfried Gabriel: Über Bedeutung in der Literatur. Zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8/2 (1983), S. 7–21, das Zitat ebd., S. 8. 678 Am Beispiel Horribels und der anderen Melusinensöhne oder des Wildschweins in Thürings Roman: Mühlherr: Verrätselter Sinn, S. 25; Spreitzer: Einschlagstellen des Diabolischen, S. 120; Uta Störmer-Caysa: Melusines Kinder bei Thüring von Ringoltingen. In: PBB 121 (1999), S. 239– 261, hier: S. 257 f. 679 Jan-Dirk Müller: Transformation allegorischer Strukturen, S. 266. 680 Vögel: Erzählerische Bedeutungskonstituierung, S. 187. 681 Erstes Zitat Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 98; zweites Jan-Dirk Müller: Verfallsgeschichte?, S. 156; vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller: Funktionswandel ritterlicher Epik, S. 61 f.; die letzten beiden Zitate wiederum Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 997 f.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
273
2.3.2.2 Zwei Stufen narrativer Sinnstiftung Meine Ausgangsfrage ist nun aber nicht, welche ‚Bedeutung‘ einzelne Prosaromane haben, welchen ‚Sinn‘ sie bei der historischen Rezeption entfalten, oder gar welcher Stellenwert Literatur bei der Suche nach dem „Sinn des Lebens einer Person“, der Herausbildung nationaler Identitäten oder Rechtfertigung eines Faches oder einer seiner Ausrichtungen zugemessen wird.682 Vielmehr geht es mir darum, auf welche Weise einzelne Instanzen der Texte in ihrer Materialität am Bedeutungsaufbau beziehungsweise an der Hervorbringung von Sinn beteiligt sind. Mit Julia Abel, Andreas Blödorn und Michael Scheffel verstehe ich unter ‚narrativer Sinnstiftung‘ noch vor jener Problematik, wie Texte in Bezug auf „außerliterarische Kontexte und Wissensbestände“ „eine sinnstiftende Funktion“ erfüllen können, in einem ersten Schritt als eine „‚Anweisung‘ zur Sinnkonstruktion“;683 also analog zu einer Differenzierung Klaus Weimars das ‚Bedeuten‘ (‚Bedeutung‘ als verbum actionis) und nicht das ‚Bedeutete‘ (‚Bedeutung‘ als verbum acti).684 Derartige Anweisungen lassen sich jedoch auf allen Dimensionen eines Romans und nicht nur im Hinblick auf Erzählschemata nachweisen, wie es Walter Haugs und Anna Mühlherrs enges Begriffsverständnis nahelegt. Erst in einem zweiten Schritt lässt sich dann mitunter aufzeigen, wie auf verschiedenen Dimensionen an einem (didaktischen) Erkenntnisgewinn für den Leser gearbeitet wird.685 Die Wahl des Begriffs ‚Sinnstiftung‘ erfolgt insofern vor allem, um an bestehende Forschungsbeiträge anzuschließen, dabei jedoch durch ein weiteres Begriffsverständnis andere relevante Aspekte in den Blick zu nehmen. Die Prominenz des Paratextkonzeptes in der vorliegenden Arbeit würde es indessen auch erlauben, von ‚Bedeutungssicherung‘ im Sinne von ‚Lektürelenkung‘ zu spre-
682 Das Zitat Tilmann Köppe: Literatur als Sinnstiftung?. In: KulturPoetik 5/1 (2005), S. 1–16, hier: S. 2. Zur Frage der nationalen Identität vgl. Gerd Althoff: Sinnstiftung und Instrumentalisierung: Zugriffe auf das Mittelalter. Eine Einleitung. In: Die Deutschen und ihr Mittelalter: Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter. Hg. von Gerd Althoff. Darmstadt 1992 (Ausblicke), S. 1–6 und S. 165–168, hier: S. 1–3; zur Rechtfertigung der Germanistik Raimund Kemper: Vom ‚Reichslehrstand‘ zur ‚Akzeptanzwissenschaft‘. Die Germanistik zwischen ‚Ahnenerbe‘ und ‚Sinnstiftung‘. In: Politische Aufgaben und soziale Funktionen von Germanistik und Deutschunterricht. Hg. von Norbert Oellers. Tübingen 1988 (Vorträge des Germanistentages Berlin 1987: Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Selbstbestimmung und Anpassung 2), S. 129–165, hier: S. 136–139; und zur sogenannten ‚Kompensationsthese‘ Odo Marquard: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. In: Apologie des Zufälligen. Stuttgart [1985] 1986, S. 98–116, hier: S. 102–106. 683 Abel u. a.: Narrative Sinnbildung, S. 3 und S. 5. 684 Weimar: Literarische Bedeutung?, S. 228–231. 685 Vgl. zum Fortunatus die Kap. 1.1 und 1.3.
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chen. Eingedenk der überlieferungsgeschichtlichen Ausrichtung ließe sich zudem an ‚Sinnpflege‘ in Anlehnung an Barbara Weinmayers Untersuchung von ‚Traditionspflege‘ denken.686 Auf eine Unterscheidung zwischen (zweiwertiger) ‚Bedeutung‘ eines Textes und (dreiwertigem) ‚Sinn‘ eines Textes für einen Leser verzichte ich dabei allerdings,687 nicht nur aufgrund des Zweifels an einem festzustellenden leserunabhängigen Textsinn,688 sondern auch da eine angemessene Anwendung der derart differenzierten Begriffe lesersoziologische und kognitionspsychologische Untersuchungen erfordern würde, die in der vorliegenden Form nicht geleistet werden können. Wenn die Begriffe ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ in der Literaturwissenschaft auch noch immer umstritten sind, so verbindet die konkurrierenden Ansätze aber immerhin, dass ‚Sinn‘ beziehungsweise ‚Bedeutung‘ das Ergebnis von Prozessen sind, an denen zwei oder mehr Instanzen beteiligt sind.689 Dazu gehören sowohl Personen: der Autor, der Leser und die an der Überlieferung Beteiligten, als auch die nicht-personalen Instanzen Text und Sprache. Wie stark der Anteil dieser Instanzen jeweils zu gewichten ist, hängt von theoretischen Vorannahmen ab, die auf den Untersuchungsgegenstand und das entsprechende Erkenntnisinteresse angepasst werden müssen. Grundsätzlich macht allerdings erst der Text eine Person zum Autor, zum Leser oder zum Überlieferungsbeteiligten. Darüber hinaus müssen sowohl der Text als auch die genannten Produzenten und Rezipienten über irgendeine Art von Sprache verfügen, damit es zu einer Interaktion kommen kann, die auf das Spezifische der Schriftlichkeit eingeht.690 Da Sprache
686 Vgl. Weinmayer: Gebrauchssituation. 687 Vgl. dazu Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Weilerswist 2003, S. 620; Jannidis u. a.: Der Bedeutungsbegriff, S. 8 f. und S. 27. 688 Zu einigen Aporien der Rezeptionsästhetik vgl. Friedrich Vollhardt: Von der Rezeptionsästhetik zur Historischen Semantik. Hans-Harald Müller zum 60. Geb. In: Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung? Hg. von Wolfgang Adam, Holger Dainat, Gunter Schandera. Heidelberg 2003 (Beihefte zum Euphorion 44), S. 189–209, hier: S. 193. 689 Vgl. Jannidis u. a.: Der Bedeutungsbegriff, S. 3–6; Simone Winko: Einleitung [Literaturwissenschaftliche Aspekte der Bedeutung]. In: Regeln der Bedeutung: Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hg. von Fotis Jannidis u. a. Berlin, New York 2003 (Revisionen 1), S. 225–227, hier: S. 226, sowie Matthias Bauer: Art. Bedeutung, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 3., akt. und erw. Aufl. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 2004, S. 53. 690 Damit ist nicht ausgeschlossen, dass es (verfremdende) Möglichkeiten gibt, Bücher bedeutungshaft zu inszenieren, ohne dabei auf Sprache angewiesen zu sein. Man denke z. B. an Irnerios Kunstwerke in Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht: „Ich fixiere die Bücher mit Harz, und dann bleiben sie so. Zugeklappt oder aufgeschlagen, wie sie grad sind. Aber ich forme
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
275
aber nur (von Personen) gesprochen oder (als Text) geschrieben und der Text wiederum nicht unabhängig von den sprachlichen Normen, unter deren Geltung er entstanden ist, zugänglich ist, kann keine der Instanzen vollkommen isoliert betrachtet werden. Personenzentrierte Bedeutungsanalysen befragen u. a. die Intention eines Autors, untersuchen (empirisch) die Leseweise konkreter Probanden691 oder beleuchten die sozial- und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge der Überlieferung von Literatur. Es geht also um den Versuch herauszufinden, welchen Sinn der Verfasser seinem Text einschreibt, Leser demselben zuweisen oder was Wissen über die Arbeit von Schreibern, Druckern, Verlegern, Lektoren oder auch Agenten zur Erhellung des Textsinns beizutragen vermag. Die Erkenntnis zielt damit auf individuelle Intentionen, Rezeptionen und Motivationen, die den verschiedenen Akten der Produktion jeweils vorausgehen und nicht – wie in meinen Fall – auf die Ergebnisse dieser Akte. Sprachbezogene Ansätze der Sprachgeschichte oder Historischen Semantik funktionalisieren den Einzeltext, um weiterreichende Aussagen über die Entwicklung des Sprachsystems treffen zu können. Sofern sich mit Hilfe dieser Beiträge näher bestimmen lässt, was ein in Frage stehender Ausdruck bedeuten kann,692 sind ihre Ergebnisse als Kontrollvariable für die vorliegende Arbeit relevant. Diese erhebt jedoch nicht den Anspruch, einen eigenen Beitrag auf dem Feld sprachbezogener Bedeutungsanalyse zu leisten.693 Fotis Jannidis und andere unterscheiden vier verschiedene Ansätze, die „den Text als die entscheidende Größe [d]er Bedeutungskonzeption“ auffassen.694 Diese stellen entweder (i) die äußere Form des Textes, „(ii) sein[en] Inhalt, (iii) seine Materialität oder (iv) de[n] semiotische[n] Prozess“ ins Untersuchungszentrum. Mit jenen Ansätzen, die den semiotischen Prozess ins Zentrum rücken (Julia Kristeva, Roland Barthes), teilt mein Konzept sinnstiftender Dimensionen im Überlieferungsprozess die Annahme, dass es den einen, womöglich durch die
sie auch, bearbeite sie, mache Löcher rein und so. Ist ein prima Werkstoff, das Buch, läßt sich ’ne Menge draus machen“ (S. 177). Nur spielen derartige Phänomene für das hier zugrundegelegte Verständnis von ‚Sinnstiftung‘ keine Rolle. 691 Die Forschungsrichtung einer ‚Geschichte des Lesens‘ kalkuliert zwar Autor, Leser, Drucker und Text in ihre Argumentation ein, bleibt aber am Ende doch auf die Überlieferung angewiesen (vgl. Roger Chartier: Ist eine Geschichte des Lesens möglich? Vom Buch zum Lesen: einige Hypothesen [aus dem Franz. v. Isabel Zollna]. In: LiLi 15 [57/58] [1985], S. 250–273, hier: S. 273). 692 Vgl. dazu die Überlegungen von Bernhard Waldenfels: Der Spielraum des Verhaltens. Frankfurt a. M. 1980, hier: S. 172–174. 693 Als Beispiele aus dem Bereich Prosaromanforschung vgl. stellvertretend die Arbeiten von Martin Behr: Buchdruck und Sprachwandel; und Schönhoff: Eeliche hausfrawen. 694 Vgl. Jannidis u. a.: Der Bedeutungsbegriff, S. 18–21, dieses und das folgende Zitat ebd., S. 18.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Intention des Autors gedeckten Sinn eines Textes nicht gibt. Dem Text wohnt aufgrund eines ‚Bedeutungsüberschusses‘695 eine Eigendynamik inne, die sich der Kontrolle seines Urhebers entzieht. Wie Umberto Eco prägnant formuliert: „[D]er Text ist da und produziert seine eigenen Sinnverbindungen.“696 Dieses vom ‚Spiel der Zeichen‘ herrührende Phänomen einer ‚nicht abzuschließenden Sinnproduktion‘ stelle ich nicht in Abrede.697 Jedoch stellt sich für mich die Frage, wie man angesichts des in Form der überlieferten Textmassen bezeugten Aufwandes von der Dynamik der Text- und damit der Bedeutungsproduktion als einer „productivité sans produit“ sprechen kann.698 Wobei die Rede von einer Unerschöpflichkeit des literarischen Textes sich letztlich als nichts anderes als die Reproduktion eines Topos erweist.699 Was aber der philologischen und d. h. der literaturgeschichtlichen Forschung als Gegenstand einzig zugänglich ist, sind die positiv-endgültig stillgestellten Momente der Textgeschichte, die material greifbaren Redaktionen als Konkretisationen innerhalb des produktiven Rezeptionsprozesses der Überlieferungsbeteiligten.700 Barthes’ Geringschätzung des ‚Werkes‘ im Vergleich mit der abstrakten Größe des ‚Textes‘ leidet unter einem beschränkten ‚Werk‘-Verständnis. Schließlich „ruht“ nur der räumlich zu verortende Teil der sinnstiftenden Dimensionen eines Werks „in der Hand“,701 nicht aber seine zeitliche Entfaltung in Gestalt text- und überlieferungsgeschichtlicher Varianz.702 In der Theorie sind
695 Vgl. die Warnung vor der Tendenz strukturaler Textanalyse, „die Kraft“ eines literarischen Werkes „unter der Form zum Schweigen zu bringen“ (Derrida: Kraft und Bedeutung, S. 47). 696 Umberto Eco: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘. Deutsch von Burkhart Kroeber. 8. Aufl. München 1987, hier: S. 12. 697 Vgl. in Auseinandersetzung mit Claude Lévi-Strauss Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Die Schrift und die Differenz. Aus dem Französischen von Rodolphe Gasché. Frankfurt a. M. [1966] 1972, S. 422–442, hier: S. 436–441. 698 Julia Kristeva in ihrem Aufsatz Sémanalyse et production du sens, S. 216, zit. nach Stephan Kammer, Roger Lüdeke: Einleitung. Louis Hay: ‚Den Text gibt es nicht.‘. Überlegungen zur critique génétique. In: Texte zur Theorie des Textes. Hg. von Stephan Kammer, Roger Lüdeke. Stuttgart 2005, S. 71–73, hier: S. 72. In meinem Sinne argumentiert auch Derrida: Kraft und Bedeutung, S. 25. 699 Vgl. Bode: Ästhetik der Ambiguität, S. 95. 700 So man unter der ‚Rezeption‘ die Text- und Überlieferungsgeschichte eines Werkes versteht, berührt sich diese Einschätzung mit der ‚Entfaltung des Sinnpotentials‘ bei Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 46 und S. 51. 701 Roland Barthes: Vom Werk zum Text. In: Texte zur Theorie des Textes. Hg. von Stephan Kammer, Roger Lüdeke. Stuttgart [1971] 2005, S. 40–51, hier: S. 42. 702 Vgl. dazu Roger Lüdeke: Materialität und Varianz. Zwei Herausforderungen eines textkritischen Bedeutungsbegriffs. In: Regeln der Bedeutung: Zur Theorie der Bedeutung literarischer
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
277
auch Text-, Überlieferungs- und Exemplargeschichte nicht abzuschließende Prozesse produktiver Rezeption. Im Gegensatz zu theoriebasierten Gedankenexperimenten versprechen die konkreten historischen Manifestationen sinnstiftender Arbeit jedoch ein Mindestmaß an Objektivität als forschungspraktische Analysebasis.
2.3.2.3 ‚Sinn‘ und ‚Substanz‘: Dimensionen textgeschichtlicher Eingriffe Abseits der gelehrten Diskussion um Vorzüge von Sinn-aus-Sinn- im Vergleich zu Wort-aus-Wort-Übersetzungen bietet die Vorrede zu Thürings von Ringoltingen Melusine ein einschlägiges Beispiel für eine Thematisierung des ‚Sinn‘-Begriffs innerhalb des Prosaromankorpus. Er fasst „sin“ als eigenständige Komponente der „materÿ“ auf, die sich von der „substancz“ derselben trennen lasse (M 1474, S. 11 f.).703 Mit Catherine Drittenbass lässt sich Thürings „materÿ“ als Bezeichnung für die Stoffgrundlage identifizieren, aus der er, aber auch der Verfasser seiner Vorlage, Coudrette, jeweils eine eigene Erzählung (historia) geformt haben.704 Somit enthält der Stoff der Melusinengeschichte ‚Sinn‘ und ‚Substanz‘. Wenn Jan-Dirk Müller in seinem Kommentar den ‚Sinn‘ aber als „deutende Durchformung und rhetorische Ausgestaltung“ identifiziert‚705 so nimmt er in den zweiten Teil seiner Erläuterung Thürings Bemerkung mit hinein, die er zur ‚Form‘ seiner Übersetzung im Nachwort äußert: „schlecht vnd on reÿmen“ habe er den Roman „nach der substancz“ verfasst (M 1474, S. 175).706 Diese letzten Angaben schließen jedoch nicht den eingangs etablierten Gegensatz von ‚Sinn‘ und ‚Substanz‘ ein. Stattdessen zeigt sich, dass die ‚Substanz der Materie‘ für Thüring nicht nur unabhängig vom ‚Sinn‘, sondern auch von der ‚Form‘ zu sehen ist. Diese Gegenüberstellung entspricht dem Begriffspaar materia und artificium, das ich mit Franz Josef Worstbrock im Zusammenhang der Diskussion der Druckerverleger als ‚Wiedererzähler‘ traditionaler Geschichten oben näher vorstelle.707
Texte. Hg. von Fotis Jannidis u. a. 2003. Berlin, New York (Revisionen 1), S. 454–485, hier: S. 468 f.; Schnell: New Philology, S. 67, sowie grundsätzlich das Kap. 2.2.1. 703 Die Zitate folgen der Edition Jan-Dirk Müller (Hg.): Melusine. Stellennachweise im Fließtext. 704 Vgl. Drittenbass: Materye und Hystorie, S. 188, S. 191 und S. 195 f. – Wenn Roloff: Stilstudien zur Melusine, S. 36, dagegen von ‚substancz‘ als ‚Stoff‘ spricht, so handelt es sich aufgrund von Thürings Genitivkonstruktion nur scheinbar um einen Widerspruch. 705 Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1043. 706 Roloff erkennt hier einen konventionellen Bescheidenheitstopos (vgl. Roloff: Stilstudien zur Melusine, S. 36). Dass Thüring mit dem „sin der materÿ“ auf die „Faktizität der Geschichte“ verweise, an der er festhalte, während die ‚substancz‘ die variable „Interpretation des Stoffes“ meine, ist dagegen nicht zu halten (Drittenbass: Materye und Hystorie, S. 191/Anm. 21). 707 Vgl. S. 146–152 im Kap. 2.1.2.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Was aber versteht Thüring unter ‚substancz‘ und welche Schlüsse lassen sich davon ausgehend auf sein ‚sin‘-Verständnis ziehen? Die ‚Substanz‘ des Melusinenstoffes gibt er wie folgt an: [D]as ist von einer frawen genannt Melusina/ die ein merfeýin gewesen [...] das sÿ nit nach ganczer menschlicher natur ein weýb gewesen ist/ sunder sÿ hat von gottes wunder ein andere gar fremde vnd selczame außzeÿchnung gehebt [...]/ so hat sÿ doch natürliche vnd eeliche kinder gelassen/ wol sýben süne [...]. (M 1474, S. 12)
Die Reduktion von zehn auf sieben Söhne erklärt sich dadurch, dass im Anschluss die Verbreitung des auf Melusine zurückzuführenden Geschlechtes vorgestellt wird – Freymund, Horribel und Goffroy sterben im Roman jedoch kinderlos und tragen somit nichts zu dieser genealogischen Erfolgsgeschichte bei. Das gilt im Übrigen auch für Melusines Schwestern, deren Abenteuer der Berner Übersetzer ebenfalls nicht zur ‚Substanz‘ seines Stoffes rechnet. Was Thüring hier also als solche beschreibt, ist nichts anderes als der Erzählkern einer ‚Gestörten Mahrtenehe‘708 mit Fokus auf der Mahrte und unter Weglassung des unglücklichen Endes. Reymund als der menschliche Partner ist dabei indirekt angesprochen, wenn Melusines Nachkommen „eeliche kinder“ sind (meine Hervorhebung). Anhand der „fremden figur vnd hÿstorÿen“, die er der ‚Substanz der Materie‘ entnimmt, bestätige sich nach Thüring das Psalmwort „Got ist wunderlich in seinen wercken“ (M 1474, S. 12). Dieses vermeintliche Zitat kontaminiert die Bibelverse Ps 67,36 und Ps 138,14 und ist Thürings eigene Zutat,709 wie auch das Zitat aus Seneca und vor allem das oben näher besprochene ‚Augustinus‘- beziehungsweise ‚Ambrosius‘-Exempel im weiteren Romanverlauf aus Thürings Bearbeitung hervorgehen.710 Vor allem darin sehe ich Thürings in der Vorrede explizit gemachte Variation des überkommenen ‚Sinns der Materie‘, also allein in dem, was Müller als „deutende Durchformung“ bezeichnet, und nicht in Veränderungen der formalen Textgestalt. Xenja von Ertzdorff benennt in diesem Zusammenhang mit Thürings abweichender Figurenzeichnung noch eine weitere
708 Zu diesem Schema vgl. Panzer: o.T., S. LXXIII. – Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 75 f., sieht in diesem Erzählkern die „gestaltsymbolische[ ] Zuspitzung des Konflikts zwischen Melusines ‚kreatürlicher‘ Herkunft und ihrer idealen öffentlichen Rolle“. Vgl. ferner den Artikel von Röhrich: Art. Mahrtenehe, und zur Anwendung des Schemas auf Thürings Melusine vgl. Armin Schulz: Spaltungsphantasmen, vor allem S. 258–260. 709 Vgl. Kurt Ruh: Die ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen. Vorgetragen am 14. Dezember 1984. München (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 1985/5), hier: S. 20. 710 Vgl. für das Exempel S. 246–249 im Kap. 2.3.1.2. Für diese und weitere intertextuelle Verweise vgl. Roloff: Stilstudien zur Melusine, S. 70 f.; von Ertzdorff: Thüring als Erzähler, S. 457.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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haupttextuelle Dimension, auf der der Sinn der deutschen von der französischen Melusine abweicht.711 Derartige Eingriffe verändern die textinternen Perspektiven auf das Gesamt einer Romanredaktion und treten nicht nur bearbeitungs-, sondern auch textgeschichtlich auf. Wie Thüring seiner Vorlage neue perspektivierende Dimensionen einschreibt, so können diese wie die zitierte Vorrede im Buch der Liebe oder das Exempel in der späten Neuredaktion unter dem Titel Historische Wunder-Beschreibung im Überlieferungsprozess wieder entfallen. Damit kehre ich nochmals auf meine Kritik an Walter Haugs ‚Organon einer alternativen Ästhetik‘ zurück. Seine fünfte These ist eine pure Provokation textund überlieferungsgeschichtlicher Forschung, wenn er von „Geschichtslosigkeit statt aktualisierende[r] Transformation“ spricht (S. 387).712 Er folgt damit einem Vorurteil, das Anneliese Schmitt schon 1977 materialreich zurückweist.713 Haug erkennt lediglich „stufenweise Retuschen, Milderungen, Kürzungen, Erweiterungen“ und pointiert, dass zumindest Elisabeths Huge Scheppel „über ein halbes Jahrtausend hin Literaturgeschichte“ schreibe, „ohne selbst eine Geschichte zu haben“ (S. 384). Zwar ist es richtig, dass (auch) die relative Festigkeit der Erzählwerke überraschen kann und erklärungsbedürftig ist (vgl. ebd.), aber Haug kennt seinen Gegenstand nicht gut genug, wenn er weder „durchgreifende Adaptionen“ noch „Neukonzeptionen“ im Laufe der textinternen Überlieferungsgeschichte wahrnimmt (S. 388). Nicht ohne Grund wird in der Elisabeth-Forschung die handschriftliche Fassung (Huge Scheppel, aus den 1470er Jahren) schon durch eine abweichende Titelformulierung von der Fassung des Erstdrucks (Hug Schapler, Straßburg: Johannes Grüninger 1500) abgehoben und Peter Bichsel behandelt in seiner Arbeit zur ‚lexikalischen Paarform‘ neben dem Hugo Schapler (Leipzig: Nikolaus Nerlich 1604) und Hugo Kapet (Nürnberg: Johann Gottfried Stiebner 1794) noch einige Redaktionen mehr.714 Der Grund für die Geringschätzung der Varianz liegt dabei in Haugs Konzentration auf Erzählschemata, die in der Tat als textgeschichtlich sehr konstant eingeschätzt werden müssen.715 Die anderen Formen narrativer Sinnstiftung, insbesondere die paratextuellen, spielen in seiner Rezeption des Prosaromans aber keine Rolle. Es erweist sich hier auf andere Weise, was schon Jacques Derrida
711 Vgl. von Ertzdorff: Fee als Ahnfrau, S. 442. 712 Die Stellennachweisklammern beziehen sich erneut auf Haug: Organon, S. 376. 713 Vgl. Schmitt: Unbekannte Volksbuchausgaben, S. 131 f. 714 Vgl. Bichsel: Hug Schapler. – Auch Haubrichs: Forschungsgeschichte zu Elisabeth, S. 34, bezweifelt, dass Variationslosigkeit hinsichtlich der Struktur schon mit Geschichtslosigkeit gleichzusetzen sei, und kritisiert, dass sich die Texte nicht in reiner Unterhaltung erschöpfen ließen. 715 Vgl. dazu S. 295f. im Kap. 2.3.3.3 und das Kap. 3.2.1 dieser Arbeit.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
ausgehend von Jean Roussets Analyse Forme et signification herausarbeitet, nämlich, dass „dem Strukturalismus [...] all dasjenige der Bedeutung, das sich nicht in der Gleichzeitigkeit einer Form ausbreiten läßt“, „unerträglich“ sei.716 Die eigentliche „Kraft“ des Werkes werde so aber stillgestellt.717 Zwar sucht Haug nach einer alternativen Ästhetik und zeigt sich damit offen für das, was in Derridas Sinn „der geometrischen Metapher widerspricht“,718 indem er aber (text-)geschichtsvergessen bei der schematischen Analyse stehenbleibt, verfehlt er gerade eine zentrale Besonderheit der Werke, die er ins Bewusstsein des Faches zu rücken gedenkt. Haugs reduktionistische Konzentration auf Erzählschemata fällt auch bei dem sechsten und letzten Punkt der ‚alternativen Ästhetik‘ auf. Diese betrifft die Moral der Werke, die sich angeblich unmoralisch geben, aber um so zu erscheinen implizit eine Moralvorstellung voraussetzen müssen (vgl. S. 388 f.). Doch geschieht die Moralisierung der mitunter un- oder amoralischen Handlungen in der Regel alles andere als „insgeheim“ (S. 388), sondern vielmehr explizit und sogar an prominenten Stellen wie Titelblatt oder Vorwort. Diese und weitere an der ‚Sinnstiftung‘ eines Romans beteiligten Dimensionen stelle ich im folgenden Kapitel vor.
2.3.3 ‚Überlieferungsgerechte Interpretation‘ struktureller, haupt- und paratextueller ‚Dimensionen‘ Auf Grundlage obiger Annahmen, dass Prosaromane ‚dimensionale‘ Erzählwerke sind, deren ‚Sinn‘ textgeschichtlich variabel ist, strebt die ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ nach der „gleiche[n] Eindeutigkeit und [der] gleiche[n] Vieldeutigkeit“, wie sie sich in der Überlieferungsgeschichte eines Romans zeigt.719 Dies korrespondiert mit den Grundsätzen der ‚textgenetischen‘ und mehr noch der
716 Derrida: Kraft und Bedeutung, S. 44. – Allerdings steht Derridas Dienst an einer „innere[n] Geschichtlichkeit des Werkes“, einer Geschichte „des Sinns des Werkes selbst und seines Schriftwerks“ (ebd., S. 27) eher der critique génétique und weniger der überlieferungsgeschichtlichen Theorie nahe. Die kritisierte ‚Gleichzeitigkeit‘ ist denn auch redaktionsintern gedacht, insofern eine strukturale Vergleichbarmachung der einzelnen Textteile das Werk um die sukzessive Entfaltung derselben dieser Teile bringe. 717 Derrida: Kraft und Bedeutung, S. 47. 718 Ebd., S. 37. 719 Hans Zeller: Die Typen des germanistischen Varianten-Apparats und ein Vorschlag zu einem Apparat für Prosa. In: Editionsprobleme der Literaturwissenschaft. Hg. von Norbert Oellers, Hartmut Steinecke. Berlin 1986 (ZfdPh, Sonderheft 105), S. 42–69, hier: S. 66, zum Ziel der ‚überlieferungsgerechten Edition‘.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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‚überlieferungsgerechten Editionstheorie‘ der Würzburger Schule.720 Jedoch weist schon Bodo Plachtas Einführung in die Editionswissenschaft auf die pragmatischen Grenzen bei der Variantenverzeichnung in Editionen hin, woraus folgt, dass „die Materialfülle“ bei breiteren Forschungsvorhaben „eine eigenständige literaturwissenschaftliche Untersuchung“ erfordert.721 Gegenstand einer solchen ist damit aber nicht länger ein „bestimmte[r] Zustand“ eines Werkes, sondern eine ganze Reihe historischer Zustände, sodass die „Prozesshaftigkeit“ von Literatur in den Blick gefasst werden kann.722 An die Stelle eines im Einzelfall erst zu rekonstruierenden ‚Originals‘ rückt die Pluralität einer schriftlich verbürgten Vielfalt der Sinne. Es geht also um Prozesse, mit welchen den Offenheiten eines literarischen Textes historisch begegnet wird.723 So können das literarische Leben im Schatten der poetologischen Reflexion und die Literaturgeschichte abseits der Neuerscheinungen beleuchtet werden. Es handelt sich bei dieser Arbeit insofern zum einen um einen Beitrag zu einer dynamisch evolutionierenden Gattungsgeschichte und zum anderen zu dem Projekt einer ‚synchronen Literaturgeschichte‘.724 Die Sinnvielfalt ist dabei weder zu verwechseln mit dem hypothetischen Konstrukt nicht abzuschließender Sinnproduktion der Intertextualitätstheorie und Dekonstruktion, wie sie im Umkreis der Gruppe Tel Quel gedacht wird, noch mit der rezeptionsästhetischen ‚Entfaltung‘ des Sinnpotentials.725 Der Unterschied zum zweiten Ansatz liegt in einem abweichenden ‚Werk‘-Verständnis. Versteht Hans Robert Jauß die Überlieferung als sekundäre Wirkung und Rezeption, die zwar zur Entzifferung eines Ausgangswerkes beitragen kann, aber nicht mit diesem identisch ist, so konstituiert sich bei meinem Ansatz das ‚Werk‘ allererst aus der Summe historischer Redaktionen.726 En passant werden mithilfe der 720 Vgl. Georg Steer: Überlieferungsgerechte Edition. In: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004. Hg. von Martin J. Schubert. Tübingen 2005 (Beiheft zu editio 23), S. 51–65, und S. 186–190 im Kap. 2.2.1.1. 721 Plachta: Editionswissenschaft, S. 118. 722 Beide Zitate Thomas Bein: Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft. Lehrbuch mit Übungsteil. Frankfurt a. M. u. a. 2008, hier: S. 13 f. Vgl. dazu auch Bein: Mittelalterphilologie, S. 63 f. 723 Vgl. meine Ausführungen zu ‚Gefüllt-‘ und ‚Bestimmtheitsstellen‘ im Kap. 2.1.4. 724 Vgl. Kreutzer: Buchmarkt und Roman, S. 200–202; Strohschneider: Kurzfassungen, S. 433 f.; Haustein: Synchronie, vor allem S. 117 und S. 129; Jochum: Textgestalt und Buchgestalt, S. 20 f., sowie Bumke: Retextualisierungen, S. 46. 725 Vgl. dazu S. 275–280 im Kap. 2.3.2. – Zur Abgrenzung des unten vorgestellten ‚Pluralisierungs‘-Konzepts gegen Julia Kristevas ‚Intertextualitäts‘-Theorie vgl. Zwierlein: Pluralisierung und Autorität, S. 3/Anm. 1; Hempfer: Dialogisierung und Pluralisierung, S. 82. 726 Vgl. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 46 und S. 49–51. Zu meinem ‚Werk‘-Verständnis vgl. unten, das Kap. 2.3.3.2; kritisch zu Jauß’ Entfaltungsthese: Eckhard Lobsien: Die rezeptionsgeschichtliche These von der Entfaltung des Sinnpotentials (Am Beispiel der Interpre
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ diametrale Gegensätze forschungsgeschichtlicher Deutung sowohl aufgrund textgeschichtlicher Varianten als auch aufgrund dimensional scheidbarer Perspektivierungen nachvollziehbar, indem einzelne Beiträge je andere Dimensionen eines Werks verabsolutieren oder ausblenden.727 So weist Ingrid Bennewitz am Beispiel von Thürings Melusine auf eine Analogie konkurrierender Forschungszugänge der modernen Philologie mit den differierenden Mitüberlieferungen in historischen Überlieferungssymbiosen hin.728
2.3.3.1 ‚Aufheizung‘ in der Geschichtsschreibung und Peter Strohschneiders Modell einer ‚Abkühlungsgeschichte‘ Interpretationsgrundlage ist mit einem Begriff Peter Strohschneiders die ‚abgekühlte‘ Text- und Überlieferungsgeschichte eines Werkes innerhalb eines jeweils zu bestimmenden Zeitraums. Strohschneider entwickelt sein Konzept der ‚Abkühlungsgeschichte‘ gegen ‚Aufheizungsgeschichten‘ in der Praxis Reinhart Kosellecks.729 Er wirbt für die Verwendung ‚kühler‘, d. h. formaler, anstelle semantisch ‚aufgeheizter‘ Unterscheidungsformeln (vgl. S. 387) und für „axiologisch bis zur Neutralität heruntertemperierte, heterarchische Sinnbildungsmuster“ (S. 415). Es geht Strohschneider dabei also gerade nicht um „Möglichkeiten der fortschreitenden [...] Radikalisierung“, sondern um „fortschreitende[ ] Abkühlung axiologischer Asymmetrien“ (S. 413). Dieses Konzept ist in die „Optik“ des Münchner Sonderforschungsbereichs Pluralisierung und Autorität (SFB 573) eingepasst und richtet sich wie dieser selbst gegen sogenannte ‚Großerzählungen‘ wie Modernisierung, Konfessionalisierung oder Säkularisierung,730 die auf dramatisierenden, axiologischen Asymmetrien beruhen (vgl. S. 392–395). Nicht die spektakulären Umbrüche und klaren Oppositionsstellungen stehen bei Strohschneider, den Münchnern oder meiner eigenen Arbeit im Zentrum, es geht stattdessen um den
tationsgeschichte von James Joyces ‚Ulysses‘). In: Rezeptionsgeschichte oder Wirkungsästhetik. Konstanzer Diskussionsbeitr. zur Praxis der Literaturgeschichtsschreibung. Hg. von Heinz-Dieter Weber. Stuttgart 1978 (Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft, 34), S. 11–28. 727 Erinnert sei an meine Kritik an Walter Haugs ‚Organon einer alternativen Ästhetik‘ auf S. 266–272 und 279f. im Kap. 2.3.2. 728 Bennewitz: Töchter im Roman, S. 226 und S. 228, zu konkurrierenden Ansätzen der Fortunatus-Forschung, vgl. S. 21–24 im Kap. 1.1.2. 729 Vgl. Strohschneider: Fremde in der Vormoderne. Die folgenden Stellennachweise in Klammern beziehen sich auf diesen Aufsatz. 730 Vgl. Zwierlein: Pluralisierung und Autorität, S. 16–24 (das Zitat ebd., S. 16). – Zur Kritik an „historiographische[n] Großdarstellungen“ vgl. auch Becker/Mohr: Alterität als Konzept, das Zitat S. 39; Schnell: Frühneuzeitforschung, S. 229.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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„mikroskopischen Blick [...] in Zeiten langsamer Entwicklung“.731 Der Prosaroman ist so im Spannungsfeld von Mittelalter und Moderne zu sehen und weder als Bestandteil einer „Vorgeschichte der Moderne“732 noch umgekehrt als ‚Verfallsprodukt‘ mittelalterlicher Verserzählungen.733 Anhand eines Forschungsbeispiels zur ‚Medienrevolution‘ des Buchdrucks demonstriere ich nachfolgend die Wirkungsweise von ‚Aufheizungsgeschichten‘, um mein eigenes Projekt davon abzusetzen. So neigt die Rede von der Medienrevolution zu monokausalen Erklärungen und zu einem „Revolutions-Enthusiasmus“, aus dessen Perspektive die Drucktechnik zu einer „radikale[n] Neuerung“ verklärt wird.734 Als Beispiel gehe ich auf die Taschenbuchausgabe der Habilitationsschrift von Michael Giesecke Der Buchdruck in der frühen Neuzeit ein.735 Die wissenschaftliche Resonanz darf als enorm gelten, wobei von (alt)germanistischer Seite die kritischeren Töne überwiegen. So handle es sich zwar um „eine eindrucksvolle [...] Studie“, mithin, um „eine der wichtigsten Publikationen, die in den letzten Jahrzehnten zur frühen Neuzeit erschienen sind“, doch tauge sie nicht als „Modell für eine Mediengeschichte“, welche „die Prinzipien der Evolution aus ihrer Grundlegung gewinnt“.736 Da eine Kurzfassung einer Schrift von über 900 Seiten Gefahr läuft, selbst pointierend zu kürzen und damit aufzuheizen, konzentriere ich mich vor allem auf Gieseckes eigene Äußerungen, mit denen er sein Vorhaben beschreibt – und verteidigt – und auf diese Weise selbst verdichtet. Im Nachwort zur Taschenbuchausgabe bezeichnet Giesecke es selbst als einen „Grundmangel dieses Buches“, dass es die „Abhängigkeit“ von der Vor-
731 Zwierlein: Pluralisierung und Autorität, S. 8. 732 Jan-Dirk Müller: Zu diesem Band, S. V; vgl. zur gegen-teleologischen Ausrichtung des Konzepts von Pluralisierung und Autorität darüber hinaus Zwierlein: Pluralisierung und Autorität, S. 23, und S. 129–134 im Kap. 2.1.1.3. 733 Dazu ebenfalls kritisch Jan-Dirk Müller: Mittelalterliche Erzähltradition, S. 105. 734 Schanze: Medienrevolution?, S. 300 und S. 302, für eine Kritik am anschließend diskutierten Beitrag von Michael Giesecke vgl. ebd., S. 288–299. 735 Die folgenden Stellennachweisklammern beziehen sich auf Giesecke: Der Buchdruck. – Ähnliches ließe sich auch für die Aufsätze Gumbrecht: Beginn von ‚Literatur‘?, und Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Aus dem Amerik. übers. v. Wolfgang Schömel J. Opladen [1982] 1987, zeigen. 736 Das erste Zitat Gerd Dickes Rez., in: PBB 117/1 (1995), S. 188–195, hier: S. 194 f.; das zweite Jan-Dirk Müller: Überlegungen zu Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M. 1991. In: IASL 18/1 (1993), S. 168–178, hier: S. 178; die letzten beiden Zitate: Georg Jäger: Die theoretische Grundlegung in Gieseckes ‚Der Buchdruck in der frühen Neuzeit‘. Kritische Überlegungen zum Verhältnis von Systemtheorie, Medientheorie und Technologie. In: IASL 18/1 (1993), S. 179–196, hier: S. 196. Vgl. außerdem die differenzierte Besprechung von Wehde: Typographische Kultur, S. 23–28.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
geschichte der Manuskriptkultur außenvorlasse (S. 948). Jedoch sei dieser Mangel systematisch gewollt, denn auch zu diesem späten Zeitpunkt sieht er „kaum Sinn in der Suche nach einer Kontinuität zwischen Handschrift und Buchdruck“ (S. 955). Der „heutige[ ] Betrachter“ habe gegenüber dem Scharnier der Frühneuzeit die freie Wahl zwischen „eine[m] mittelalterlichen Standpunkt“ und „de[m] Standpunkt der Moderne“ (S. 701 und S. 703), Giesecke habe sich für die zweite Möglichkeit entschieden, um sich auf das Neue zu konzentrieren: „Es geht hier um die Hefe, nicht um das Mehl“ (S. 25), und somit um ‚Aufheizung‘ der historischen Entwicklung, die von gegenstrebigen Tendenzen separiert wird.737 Und mehr noch: Schon sein Korpus ist auf dieses Vorhaben hin auswählt. Nur anhand der deutschsprachigen Fachprosa vermag er „den revolutionierenden Charakter der neuen Technologie“ zu entwickeln,738 auf andere Gattungen lässt sich der Ansatz nicht widerspruchsfrei übertragen. Doch ein ‚Hefeteig‘ würde mit Gieseckes Worten gesprochen ohne ‚Mehl‘ nicht aufgehen. Um dieser modernen Sicht auf die Frühdruckzeit auch stilistisch zu entsprechen, greift er auf Metaphern aus dem Feld der elektronischen Datenverarbeitung zurück. Insbesondere in den Zwischentiteln bemüht sich Giesecke um eine Verschmelzung der Medienumbrüche des Spätmittelalters und seiner eigenen Gegenwart. So wird der Buchdruck zur High-Tech des 15. Jahrhunderts (S. 67), Bibeln zum [z]entrale[n] Informationsspeicher des Glaubens (S. 244) und die Humanisten zu Software-Ingenieure[n] (S. 321), die sich der Antike als Software bedienen (S. 313, vgl. weiterhin S. 560–565).739 Zwar sieht Giesecke ein, dass dem Gros seiner (wissenschaftlichen) Leser der extensive Gebrauch der Metaphorik missfalle, betont jedoch, dass „[d]ie Übertreibung [...] das Prinzip nicht hinfällig“ mache (S. 952). Schließlich wähle er seine Beschreibungssprache aus einem Streben nach Verfremdung, um von vornherein Psychologisierung zu vermeiden (vgl. S. 950 f.). Doch dieser Anspruch kollidiert mit jenem in der Einleitung vorgestellten „Wechselspiel[ ] zwischen einfühlender Identifikation und distanzierender Analyse“ (S. 18), das aus jener Nähe resultiere, die Giesecke bei der Ausarbeitung zu „den Menschen“ empfinde, „mit denen [er sich] beschreibend befassen wollte“, sodass „[s]eine Zeit mit der ihrigen zu verschmelzen schien“ (S. 17). Eine psychologisch-rezeptionsästhetisch ‚einfühlende Horizontverschmel
737 Zur Kritik vgl. Jan-Dirk Müller: Rez. Giesecke, S. 169 f. und S. 172 f.; Georg Jäger: Rez. Giesecke, S. 181 f., sowie Dicke: Rez. Giesecke, S. 190. 738 Jan-Dirk Müller: Rez. Giesecke, S. 174. Vgl. dazu auch ebd., S. 175 und S. 178; Dicke: Rez. Giesecke, S. 190 und S. 194, sowie Wehde: Typographische Kultur, S. 26. 739 Vgl. für weitere Kritik der Beschreibungssprache Georg Jäger: Rez. Giesecke, S. 185–192, JanDirk Müller: Rez. Giesecke, S. 168 und S. 176; Dicke: Rez. Giesecke, vor allem S. 189 f., sowie Wehde: Typographische Kultur, S. 25.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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zung‘ und ein gewollter Einsatz von Verfremdungseffekten schließen einander aber aus. Was sich hier in den Vordergrund drängt, ist vielmehr der Wunsch, „sich [...] in die aktuelle Diskussion um Computereinsatz und Verkabelung einzumischen“ (S. 26). Schon in der Einführung eröffnet Giesecke ausgehend von einem ‚Wir‘, das vor dem Computer sitzt und nach den Folgen „der Installierung der ‚Neuen Medien‘“ fragt (vgl. S. 21), den „medienpolitischen“ Subdiskurs (S. 26). Diesen versucht er zu rechtfertigen, indem er auf den Fortschrittsoptimismus der untersuchten Zeit (vgl. S. 433–436), auf einen „imperialistischen Grundzug“ im Diskurs der frühen Drucktechnik (S. 504) und auf die Praxis, [m]it Büchern zu ‚reytzen‘ (S. 436), verweist.740 Doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier außerwissenschaftliche Ziele verfolgt und erreicht werden, wie Giesecke im Nachwort zur Taschenausgabe zu erkennen gibt. So sei seine Habilitationsschrift in der Rückschau zu einer „aktuelle[n] Orientierungshilfe“ für Politiker, Gewerkschafter, Designer und für die Kirche geworden (S. 946). Dafür übernimmt er die „Verzerrungen und Ambivalenzen in der Beschreibung des Medienwechsels“ (S. 697), die er anhand zeitgenössischer Dokumente für die Frühdruckzeit nachweist, und kombiniert sie mit einer vergegenwärtigenden Wahl sprachlicher Bilder. Indem er aber in einem ersten Schritt moderne Begriffe und die mit ihnen verknüpften Vorstellungen auf den historischen Gegenstand überträgt, um dann in einem zweiten daraus Evidenz abzuleiten, konstruiert Giesecke „sich selbst bestätigende Prophezeiungen“.741 So plausibilisiere „ein[ ] Blick auf die Ausbreitung der Computertechnologie der Gegenwart [...] die These von der Bedeutung der Software“ in der Frühdruckzeit (S. 565). Aufs Ganze gesehen ist eingedenk der beträchtlichen Rezeption zwar Gerd Dicke zuzustimmen, dass die „rigiden Zuspitzungen“ tatsächlich „zahlreiche Denkanstöße und neue Frageperspektiven“ eröffnen,742 aber dies ist vor allem deshalb der Fall, da sich an ihnen Widerspruch entzündet und sie dadurch die sich anschließenden Debatten befeuern. Sobald sich die Repliken ihrerseits vom historischen Gegenstand lösen, geht die aufgeheizte Forschungsdiskussion zulasten der Wissenschaftlichkeit. Wie der SFB 573 die Frühneuzeit durch die „wechselseitige[ ] Verklammerung“ von „Pluralisierungs- und Öffnungsprozesse[n]“ einerseits und „Autorisierungs- und Schließungsprozesse[n]“ andererseits beschreibt,743 so fließt in eine
740 Vgl. dazu Georg Jäger: Rez. Giesecke, S. 191. 741 Dicke: Rez. Giesecke, S. 189. 742 Ebd., S. 193. 743 Alle Zitate Jan-Dirk Müller: Zu diesem Band, S. V, speziell zum Prosaroman Jan-Dirk Müller: Verfallsgeschichte?, S. 146.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ nicht nur die Varianz der Textgeschichte ein. Interpretationsgrundlage ist gerade auch die werkkonstituierende Konstanz. Umgekehrt greifen ‚Aufheizungsgeschichten‘ zu kurz, wenn sie einer variierenden Handschriftenkultur den Buchdruck als zukunftsweisendes Medium der Festigkeit gegenüberstellen. Eine Analyse der Textgeschichte muss auch „Entwicklungen“ einbeziehen, „die ex post als gescheitert oder nicht auf die Moderne hinführend betrachtet werden können“,744 wie die Zweit- und Wiederverwendung von zum Teil textfremden Holzschnittserien im Frankfurter Prosaroman-Druck des sechzehnten Jahrhunderts.745 Gemäß der Denkungsart des SFB 573 ist nicht nur Innovatives im Konventionellen zu suchen, sondern das Traditionelle ist auch entsprechend seiner historischen Relation zu berücksichtigen. Einerseits treiben die autoritativen Setzungen der Schreiber oder Druckerverleger die Pluralisierung der Textgeschichte voran, z. B. immer dann, wenn ein traditionelles Werk den Gepflogenheiten eines Skriptoriums oder einer Offizin angepasst wird. Andererseits prägen diese Titel dann über Jahrhunderte hinweg die Programme so manchen Verlages und hemmen die Verbreitung zeitgenössisch neu geschaffener Literatur.746
2.3.3.2 Die ‚vertikale Dimension‘ des ‚Werk‘-Begriffs Im Vorfeld einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ müssen die einzelnen Dimensionen eines ‚Werkes‘ auf ihren jeweiligen Beitrag zur Sinnstiftung hin überprüft werden. Auf diese wirkt sich der Prozess der Überlieferung unterschiedlich stark aus.747 Während beispielsweise die globale Architektur textgeschichtlich als äußerst stabil angesehen werden muss, ist insbesondere der Paratext offen für Änderungen. Sprachhistorisch zu untersuchende Varianz der Orthographie, der Interpunktion oder auch der sich wandelnden Groß- und Zusammenschreibung berücksichtige ich dabei nicht, da derartigen Veränderungen keine Auswirkung auf den Textsinn zuzumessen ist.748 Die ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ fasst dann in einem zweiten Schritt die einzelnen Teilanalysen zusammen und zielt zunächst auf das Bedeutungssystem einer ‚Redaktion‘, dann auf das ‚Werkganze‘ innerhalb eines bestimmten Überlieferungszeitraumes.
744 Zwierlein: Pluralisierung und Autorität, S. 23. 745 Vgl. S. 223f. im Kap. 2.2.2.3. 746 Vgl. Koppitz: Zum Erfolg verurteilt, S. 76, sowie grundsätzlich Jan-Dirk Müller: Zu diesem Band, S. VIf. 747 Vgl. Schnell: Autor und Werk, S. 65. 748 Für eine sprachgeschichtliche Analyse der Überlieferung von Thürings Melusine vgl. Martin Behr: Buchdruck und Sprachwandel.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
287
Die Festlegung dieses Zeitraumes entscheidet über den Stellenwert, welcher der späten Überlieferung beigemessen wird. Auch zensierte oder ‚verpfuschte‘ ‚Redaktionen‘ innerhalb dieses Zeitfensters sind ein relevanter Gegenstand der Literaturgeschichte und damit der ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘.749 Dieses Projekt hat keine natürlichen Grenzen, die sich mit ‚dem Mittelalter‘ oder ‚der Frühneuzeit‘ angeben ließen. Schließlich handelt es sich beim Prosaroman um ein Beispiel langlebiger Traditionsliteratur.750 Der Begriff des ‚Werkes‘ wird oben zwar schon vielfach verwendet, jedoch ohne dass ich ihn bislang expliziert hätte. Ihn zu klären, ist umso wichtiger, als zu begründen ist, warum ich aus dem reichen Spektrum lateinischer und deutscher Ausformungen der Geschichte von Herzog Ernst in Vers und Prosa gerade HE F und HE Vb auswähle und diese als ein gemeinsames ‚Werk‘ analysiere.751 Allerdings sind obige Ausführungen nötig, um deutlich zu machen, was einen ‚Prosaroman‘ meines Erachtens überhaupt auszeichnet, denn davon hängt der zugrundeliegende ‚Werk‘-Begriff untrennbar ab. Ich schließe hier vor allem an meine Diskussion von Joachim Bumkes Konzepten der ‚Retextualisierung‘ und der ‚autornahen Parallelfassungen‘, an das Würzburger Projekt ‚überlieferungsgerechter Editorik‘ und an Jerome J. McGanns Beschreibung der ‚textual condition‘ in den Kap. 2.2.1 und 2.1.2 an. So erzählen Prosaromane als Traditionsliteratur alte Geschichten immer wieder neu. Es handelt sich um ‚offene‘ oder ‚dynamische‘ Texte,752 die einer Kultur des ‚Wiedererzählens‘ entspringen und in dieser tradiert werden. Dies bedingt, dass nicht nur auf die der Tradition entlehnte materia, sondern gerade auch auf das artificium zu achten ist. Beim Prosaroman als einem ‚Buchtyp‘ betrifft dies seine vieldimensionale Ausgestaltung. Zu dieser zählt neben dem federführend vom Autor verantworteten ‚linguistic code‘ aber ebenfalls der hauptsächlich von den Überlieferungsbeteiligten herrührende ‚bibliographical code‘.753 Schreiber und Druckerverleger, aber auch Federzeichner und Holzschneider werden zumindest zu ‚Teil-Autoren‘ einzelner Dimensionen einzelner ‚Redaktionen‘ eines gemeinsamen ‚Werkes‘,754 das nicht nur historischem Wandel, sondern auch mit-
749 Von „Pfusch“ in Bezug auf Melusine-Drucke des neunzehnten Jahrhunderts schreibt Schnyder: Historische Wunder-Beschreibung, S. 398. 750 Vgl. das Kap. 2.1.2. 751 Vgl. die Übersicht in der Einleitung zu Teil 3. 752 Vgl. Kühnel: Offener Text, S. 314 f.; Flood: The Survival, Bd. 1, S. 14 und S. 34. 753 Vgl. zu diesen Begriffen McGann: Textual Condition, S. 66 f. u. ö. 754 Zu einem Konzept alternativer ‚Autorschaft‘ vgl. Steinmetz: Bearbeitungstypen, vor allem S. 51–53.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
einander konkurrierenden Logiken (z. B. ökonomischem Kalkül) unterliegt.755 Aufgrund einer derart pluralisierten Autorinstanz ist eine autorzentrierte Philologie bei diesem Korpus kaum möglich und wenig sinnvoll. Originaltexte in einer autorisierten Gestalt gibt es beim (früh)neuhochdeutschen Prosaroman praktisch nicht. Der Wille eines Autors zur Veröffentlichung kann hier damit wie bei den allermeisten mittelalterlichen ‚Werken‘ kein Argument sein, wenn der ‚Werkcharakter‘ von Texten geklärt werden soll.756 Dieses Faktum führt zu einer Abweichung von der vor allem in der neugermanistischen Literaturwissenschaft geläufigen Vorstellung von einem ‚Werk‘ als dem „fertige[n] und abgeschlossene[n] Ergebnis der literarischen Produktion, das einem Autor zugehört und in fixierter, die Zeit überdauernder Form vorliegt, so daß es dem Zugriff des Produzenten ebenso enthoben ist wie dem Verbrauch durch den Rezipienten“.757 Erhalten sind schließlich allein die Handschriften und Drucke als Zeugnisse produktiver Rezeption.758 Nur in ihrer Überlieferung sind die Prosaromane Teil des literarischen Lebens und nur als solche können sie Gegenstand der literaturgeschichtlichen Analyse sein.759 Daher behandle ich auch keine erschlossenen Text-, Werk- oder Überlieferungsstufen, sondern die konkreten Überlieferungszeugen.760 Auf diese Weise wird der literaturgeschicht
755 Vgl. S. 127–129 im Kap. 2.1.1.3. – Es ist zu beachten, dass ein veränderter Rezeptionskontext, Artikulations- oder Gebrauchszusammenhang den Sinn eines Werkes auch dann verändert, wenn der Wortlaut unangetastet bleibt (vgl. Konrad Ehlich: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Texte zur Theorie des Textes. Hg. von Stephan Kammer, Roger Lüdeke. Stuttgart [1983] 2005, S. 228–245, hier: S. 241 f.; Strohschneider: Situationen des Textes, S. 71 und S. 85, sowie Johnny Kondrup: Text und Werk – zwei Begriffe auf dem Prüfstand [aus dem Dän. v. Frederik Moche]. In: editio 27 (2013), S. 1–14, hier: S. 12 f.). Paratextuelle Hinweise z. B. auf einen Wandel in Bezug auf das Verständnis der Faktualität oder Fiktionalität der Werke finden sich bei Prosaromanen ebenso wie eine abweichende Betonung von prodesse oder delectare. Es würde jedoch die Ressourcen dieser Arbeit übersteigen, forderte man für jede Redaktion die (Re-)Konstruktion der konkreten Distributions- und Rezeptionszusammenhänge. 756 Zu diesem Kriterium am Beispiel moderner Literatur vgl. Gunter Martens: Das Werk als Grenze. Ein Versuch zur terminologischen Bestimmung eines editorischen Begriffs. In: editio 18 (2004), S. 175–186, hier: S. 178 f. – Zur notwendigen Historisierung dieser Vorstellung vgl. Hans Zeller: Befund und Deutung, S. 56. 757 Horst Thomé: Art. Werk. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 832–834, hier: S. 832. 758 Vgl. die Begriffe ‚Dokument‘ und ‚Materialtext‘ bei Kondrup: Text und Werk, S. 2 und S. 11 f. 759 Vgl. Kuhn: Mittelalterliche Kunst, S. 28 und S. 33; Hans Zeller: Befund und Deutung, S. 79. 760 Allerdings ist es forschungspragmatisch geboten, ähnliche Redaktionen in Gruppen zusammengefasst zu analysieren, was jedoch nicht als die Konstruktion von Redaktionsstufen misszuverstehen ist. Es wird lediglich ein Vertreter ausgewählt dessen Untersuchung auch für die
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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lich verschwindend kurze Moment der Drucklegung innerhalb des eigentlich „quasi ins Unendliche verlaufenden Bewegungsablauf[s]“ entauratisiert.761 Das ‚Werk‘ erhält eine ‚vertikale Dimension‘762 und wird mit einer Formulierung Bumkes „fließend“, wobei ich anders als er späte ‚Redaktionen‘ nicht als ‚Bearbeitung‘ und somit nur als „Dienst am Werk“, sondern als Teil des ‚Werkes‘ selbst ansehe.763 Die Arbeit lässt sich damit in das Projekt einer ‚synchronen Literaturgeschichtsschreibung‘ einfügen, die mit der ‚Eigenbeweglichkeit‘ der Literatur das ‚law of change‘ der ‚textual condition‘ abzubilden vermag.764 Anders als Bumke bei der Behandlung ‚autornaher Parallelfassungen‘ und bei den ‚überlieferungsgerechten Editionen‘ der Würzburger Schule beschränke ich mich dabei jedoch nicht auf eine vom singulären Autor auf eine Pluralität der Überlieferungsbeteiligten verschobene Vorstellung von Intentionalität,765 sondern schließe die Kontingenzen der Überlieferung und nicht-intentionale Varianz als historische Fakten in den ‚Werk‘-Begriff mit ein.766 Auch wenn es – aufgrund mechanischer Verderbnis – schlechte Exemplare geben kann, so schließt es der Verzicht auf die Notwendigkeit von Intentionalität bei der Feststellung relevanter Varianz aus, eine ganze ‚Redaktion‘ als ‚fehlerhaft‘, ‚schlecht‘ oder ‚unwert‘ zu verwerfen.767 Ein unbeabsichtigter Zeilensprung bei der Drucklegung oder die öko-
anderen Vertreter repräsentativ ist. Dadurch entstehende Ungenauigkeiten lassen sich minimieren, wenn man die Gruppenbildung für jede Dimension separat vornimmt. 761 Martens: Was ist ein Text?, S. 99; vgl. dazu auch McGann: Modern Textual Criticism, S. 121– 123; Kondrup: Text und Werk, S. 6 (mit Joseph Grigely). 762 Martens: Variierende Textstufen, S. 168, versteht darunter zunächst eine Dynamisierung des ‚Text‘-Begriffs durch Analyse aller Vorstufen, reflektiert jedoch auch, dass sich dieser Prozess in der weiteren Überlieferung fortsetzt (vgl. ebd., S. 170). Wohlgemerkt spricht Martens hier von ‚Texten‘, nicht von ‚Werken‘. In Abgrenzung vom ‚Werk‘-Begriff vgl. Martens: Werk als Grenze, S. 178. – Diese ‚vertikale Dimension‘ entspricht der ‚Vektorialität‘ bei Barbier: Vektorialität. 763 Bumke: Retextualisierungen, S. 44 f. 764 Vgl. zur ‚synchronen Literaturgeschichtsschreibung‘ Haustein: Synchronie, vor allem S. 117 und S. 129; zur ‚Eigenbeweglichkeit‘ von Texten Ruh: Erweiterte Literaturgeschichte, S. 262 f., und zum ‚law of change‘ McGann: Textual Condition, S. 9 sowie S. 31. – Zu einer gegensätzlichen Einschätzung kommt Roloff: Relevanz von Varianten, der aufgrund seiner Ausrichtung auf den Autortext insbesondere der paratextuellen Varianz nur wenig Aufmerksamkeit widmet, für die Edition eines vormodernen Werkes, dann aber doch „eine systematische oder pauschale Darstellung“ der Überlieferungsgeschichte eines Werkes „mindestens bis an seine erste wissenschaftliche Edition“ fordert (S. 13). 765 Vgl. Bumke: Vier Fassungen, S. 46–50; zur Kritik vgl. Strohschneider: Rez. Bumke, S. 115; Baisch: Was ist ein Werk?, S. 122; Steer: Gebrauchsfunktionale Analyse, S. 15, sowie die Kritik von Mertens: Textgeschichte, S. 54 f. 766 Vgl. Stingelin: Dämmerpunkte. 767 Anders: stellvertretend Martens: Was ist ein Text?, S. 103; Bein: Mittelalterphilologie, S. 72 f. Zur Explikation des ‚Textfehlers‘ in Bezug auf moderne Literatur vgl. Hans Zeller: Befund und
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nomisch motivierte Kürzung eines Kapitels beeinflussen den Sinn eines ‚Werkes‘ schließlich in gleichem Maße wie semantisch intentionale Eingriffe jeglicher Form. Daher sind auch jene bei einer ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘ des ‚Werkes‘ zu berücksichtigen. Obwohl es aus pragmatischen Gründen geboten ist, zwischen aktualisierenden ‚Redaktionen‘ und ‚Bearbeitungen‘ des Werkes zu unterscheiden, lässt sich dies aufgrund der Vielfalt der Möglichkeiten ‚dynamischer Weiterwirkung‘ eines Textes nicht immer trennscharf durchführen.768 Damit steht die Frage im Raum, bei welchem Maß an Varianz noch von einem ‚Werk‘ zu sprechen sei.769 Da ich nach Prozessen der Sinnstiftung frage, bleiben iterierende Varianten ebenso unberücksichtigt wie einige der von Burghard Dedner als ‚Varietäten‘ bezeichneten Unterschiede.770 Ansonsten ist aber das ganze, in einem für die Untersuchung anzugebenden Zeitraum auftretende Variantenspektrum – Hinzufügungen, Wegnahmen, Umstellungen und Auswechslungen – von grundsätzlicher Relevanz. Eine extreme Position nehmen Werner Williams-Krapps Studien zur Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte der deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters ein.771 Wie sein Rezensent Hans-Joachim Ziegeler kritisiert, schließt der zugrunde gelegte ‚Werk‘-Begriff auch all jene Handschriften mit ein, die nur eine einzelne Legende als Auszug aus einer Sammlung enthalten. Damit büßt die textgeschichtliche Methode jedoch an Abgrenzungspotential gegenüber der allgemeinen Intertextualitätstheorie von Julia Kristeva ein. Das Gegenextrem
Deutung, S. 61–73. Burghard Dedner: Die Ordnung der Varianten. Erörtert aufgrund von BüchnerTexten. In: editio 19 (2005), S. 43–66, hier: S. 50, regt dazu an, „die weitgehende Mißachtung der Überlieferungsvarianten und speziell der Bearbeitungsvarianten in der neugermanistischen Editorik in Einzelfällen zu überdenken“. – Streng genommen gehört auch der hypothetische Fall eines vollständig geschwärzten Exemplars zum ‚Werk‘. Die Schwierigkeiten, einen solchen Sonderfall in eine Interpretation einzubeziehen, dürften jedoch das zu erwartende Maß an Erkenntnis übertreffen, sodass es forschungspragmatisch geboten ist, auf ein anderes Exemplar derselben Redaktion auszuweichen. Wie bei der Anlage eines Variantenapparates ist stets das Ganze im Blick zu behalten. Dieses darf nicht durch randständige Ausnahmephänomene verstellt werden. 768 Vgl. Martens: Werk als Grenze, S. 186; zum Spektrum der Möglichkeiten Bumke: Retextualisierungen, S. 24–43. 769 Zur grundsätzlichen Problematik vgl. Kondrup: Text und Werk, S. 3 f. 770 Von Interesse ist allein die Materialvarietät (z. B. bei der Auszeichnungsfarbe auf Titelblättern), keine Rolle spielt in meinem Korpus die Zeichensatzvarietät (Auszeichnung durch Antiqua), unberücksichtigt bleiben Orthographie-, Lautungs- und Auszeichnungsvarietät (dies meint differierende Benennungen für eine Figur) (vgl. Dedner: Ordnung der Varianten, S. 44 und S. 63). 771 Werner Williams-Krapp: Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte. Tübingen 1986 (Texte und Textgeschichte 20); vgl. für das Folgende die Besprechung von Hans-Joachim Ziegeler, in: PBB 113 (1991), S. 465–482, hier: S. 471.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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fingiert Gunter Martens, wenn er schreibt, dass die Änderung eines einzelnen Satzzeichens „ein neues Werk konstituieren“ könne, wobei er nicht an Fremdbeziehungsweise Überlieferungsvarianten, sondern allein an den Veröffentlichungswunsch eines Autors denkt.772 Eine klassifikatorische Antwort auf die Frage nach dem Höchstmaß an Varianz innerhalb einer gewährleisteten ‚Werk‘Identität kann es nicht geben, immer ist im Einzelfall zu argumentieren. Eine Hilfestellung bietet dabei aber die nach Dimensionen unterschiedene Analyse, insofern Redaktionen eines Werkes mit dem Gros der Dimensionen übereinstimmen, auch wenn es auf einzelnen Dimensionen zu starken Abweichungen kommt. So kann es ‚Redaktionen‘ eines ‚Werkes‘ mit und ohne Bebilderung geben. Die Entsprechung einer einzelnen Dimension, z. B. die Verwendung des identischen Illustrationszyklus, konstituiert bei gleichzeitig völliger Abweichung des Haupttextes jedoch im Umkehrschluss kein gemeinsames ‚Werk‘.
2.3.3.3 Die ‚haupttextuellen‘ und ‚strukturellen Dimensionen‘ narrativer Sinnstiftung Für die ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ eines Prosaromans sind grundsätzlich alle Redaktionen innerhalb eines festzulegenden Zeitraums von Relevanz. Die Vorstellung, ‚fehlerhafte‘ Redaktionen auszugrenzen und den ‚besten‘ und/oder autornächsten Text der Interpretation zugrunde zu legen, ist diesem Ansatz fremd.773 Auf einen möglichen Beitrag zur Sinnstiftung werden daher Interpolationen, Auslassungen und Ersetzungen auch dann befragt, wenn die Eingriffe in den überlieferten Text aus nicht-semantischen Erwägungen erfolgen.774 Besonders prominente Beispiele textgeschichtlicher Varianz des Haupttextes, die ich in dieser Arbeit näher bespreche, sind der narrativierte Ersatz der ausgefallenen moralisatio der Fortunatus-Überlieferung, die Auslassung des Ambrosius-Exempels in der Melusine, Hugs Tante als neue Figur in der Hug SchaplerRedaktion von 1537 sowie zahlreiche Varianten im Herzog Ernst F/Vb-Komplex, insbesondere die Reduktion typologischen Denkens im HE Vb, der anstelle des geprüften Gottvertrauens der Helden auf Verlust und Wiedergewinnung ihrer Handlungsmächtigkeit zielt.775 Zu verweisen wäre aber auch auf folgenreiche
772 Martens: Werk als Grenze, S. 181. 773 Vgl. dazu insbesondere die Kap. zum Prosaroman als ‚Wiedererzählung‘ älterer Geschichten (2.1.2) und zur typischen Überlieferungsgeschichte dieser Werke (2.2.2). 774 Vgl. dazu auch Kap. 2.1.4.2. 775 Vgl. S. 58–60 im Kap. 1.2.1 (zum Fortunatus), S. 246–249 im Kap. 2.3.1.2 (zur Melusine), S. 245f. im Kap. 2.3.1.2 (zum Hug Schapler), und S. 413–416 und 440f. im Kap. 3.1.1 (zum Herzog Ernst).
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lexikalische Ersetzungen wie der ‚Jungfrau des Glücks‘ durch ‚Fortuna‘ im Fortunatus oder des ‚poß veints‘ durch ‚niemand‘ in der Melusine.776 Was den Haupttext im engeren Sinne betrifft, ist die erzählte Welt nur Welt, solange sie erzählt wird. Und die Geschichte eines Helden wird erst dadurch zum Gegenstand einer Erzählung, dass ein Erzähler sie erzählt. Partiell kann ein Erzähler sogar den Rahmen seiner Erzählung sprengen, beispielsweise wenn im HE F der Exkurs zu Kaiser Otto mit einer externen Prolepse auf sein Begräbnis in Magdeburg versehen ist (vgl. Cgm 572, fol. 26r.). Der Erzähler gliedert, kommentiert und beglaubigt das Geschehen und leitet aus demselben didaktische Lehren ab.777 Allerdings werde die Dimension der Erzählerrede im Prosaroman nach allgemeiner Forschungsmeinung nur zurückhaltend genutzt, um die Handlung zu moralisieren,778 blieben seine Interventionen punktuell und seien nicht auf das Erzählganze abgestimmt.779 Erst allmählich sei „die Herausbildung eines auktorialen Erzählers [...], der [...] Deutungsmacht über die Figuren und das Geschehen beansprucht“, zu beobachten.780 Für die F-Redaktionen des Herzog Ernst lässt sich dies jedoch nicht bestätigen. Dabei kommt es im Übrigen gar nicht auf die Quantität der Interventionen des Erzählers an. Durch eine einzelne Bemerkung, mit der er die Ernst-Geschichte zu einem neben anderen Wundern der heiligen Adelheid erklärt (vgl. HE F Cgm 572, fol. 70r.), verschiebt sich der Sinn des ganzen Romans. Wenn er die erzählten Figuren allererst hervorbringt, indem er sie einführt und charakterisiert und damit deutet, reicht der Vergleich Pfalzgraf Heinrichs mit Ahithophel oder Herzog Ernsts mit Judas Makkabäus, um das Geschehen der ersten Reichshandlung einer biblisch fundierten Interpretation aufzuschließen.781 Überhaupt sind Figuren ein erzählerisches Mittel, das es dem Prosaroman-Erzähler erlaubt, beschränkten
776 Zum Fortunatus vgl. Valckx: Volksbuch, S. 101; sowie den kritischen Hinweis von Haberkamm: Saturn-Vorstellung, dass es sich im Falle des Erstdrucks gar nicht um eine Fortuna-Figur handelt (vgl. S. 243 f.); zur Melusine vgl. Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1074; Spreitzer: Einschlagstellen des Diabolischen, S. 130 f., sowie allgemein zur Varianz innerhalb der Überlieferung dieses Romans zuletzt Lötscher: Textgestaltung der HWb, S. 643–656, sowie Drittenbass: Dialoge in der HWb. 777 Vgl. zu Formen der Intervention von Erzählern mittelalterlicher Literatur Voelkel: Der Erzähler, S. 67–212. 778 Vgl. von der Lühe: Anfänge des Prosaromans, S. 79, zum Hug Schapler; Stange: Herkunft, Leistung und Glück, S. 240, zum Fortunatus. 779 Vgl. von Ertzdorff: Fee als Ahnfrau, S. 444; von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 67, und ähnlich von Ertzdorff: Thüring als Erzähler, S. 453, zur Melusine. 780 Lötscher: Textgestaltung der HWb, S. 657 f., das Zitat S. 658; vgl. dazu auch Voelkel: Der Erzähler, S. 277 und S. 299 f. 781 Vgl. das Kap. 3.1.2.3.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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Perspektiven in seiner Erzählung eine Stimme einzuräumen.782 So wird mit Reymunds Figurenrede „das Deutungsschema der mittelalterlichen Theologen für den Sündenfall“ in die Melusine-Geschichte eingeführt, ohne dass dieser konkrete „Nexus von Schuld und Strafe“ allgemeine Gültigkeit beanspruchen würde.783 Es handelt sich insofern um ein Deutungsangebot neben anderen,784 die in Spannung miteinander stehen und den Sinn des Romans komplexer machen. Eine Besonderheit des HE F, die er allerdings mit seiner Vorlage, dem lateinischen HE C, teilt,785 sind Verspassagen, welche den Prosatext unterbrechen. Obwohl es sich nur um knapp 20 Textstellen handelt, ließe sich diskutieren, ob dieses Werk strenggenommen nicht als ‚Reimprosa‘ statt als ‚Prosaroman‘ bezeichnet werden müsste. Ich möchte ihr Vorkommen jedoch zum Anlass nehmen, um auf eine Problemstellung einzugehen, die Remigius Bunia aufruft und die das klassische Dual der Fragen, wer im Roman sehe und wer höre, gerade im Hinblick auf den Prosaroman als Buchtyp entscheidend erweitert.786 Acht dieser Passagen entfallen auf Erzähler-, neun auf Figurenrede.787 An einer gereimten Stelle leitet der Erzähler von Adelheids Bittgebet auf die Antwort der himmlischen Stimme über, die ihr den Namen des Verleumders offenbart (vgl. HE F Cgm 572, fol. 31r.f.), weswegen in diesem Fall eine Mischform vorliegt. Gereimte Figurenreden enthalten vornehmlich Gebete, markierte Verse innerhalb der Erzählerrede summieren dagegen Handlung, schließen Kapitel ab oder kommentieren das Geschehen in Form markierter Zitate antiker Literatur. Die formale Auffälligkeit tritt also auf verschiedenen Dimensionen und in unterschiedlichen funktionalen Zusammenhängen auf. Neben der erwähnten Mischung ist auffällig, dass Adelheid und Ernst unabhängig voneinander dieselben Verse gebrauchen, um das vorzeitige Ergrauen der Haare des Herzogs zu erklären (vgl. ebd., fol. 63r. und fol. 66r.). Die Frage ist daher: wer schreibt diese Verse, zumal sie in der Münchener Handschrift bis auf einen Fall stets auch unterstrichen sind.
782 Zur Figur als narrative Einheit, die sowohl Anteil am discours als auch an der histoire hat, vgl. Stock: Figur. 783 Erstes Zitat Steinkämper: Vom Schlangenweib zur Beauté, S. 116; zweites Jan-Dirk Müller: Kommentar, S. 1036. 784 Vgl. dazu Ziep: Geschlecht und Herkommen, S. 255. 785 Bartsch: Herzog Ernst, S. LXXVII, verweist darauf, dass der bearbeitende Übersetzer nicht alle antiken Hexameter und Pentameter erkannt, dafür aber auch gereimte Stellen außerhalb der im HE C enthaltenen Antikenzitate in Verse übertragen habe. 786 Vgl. Bunia: Stimme der Typographie, S. 387. Vgl. dazu auch Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. Mit einem Nachwort hg. von Jochen Vogt. 2. Aufl. München [1972] 1998, hier: S. 132–134; Chatman: Coming to Terms, S. 139–160, vor allem S. 144. 787 Vgl. HE F Cgm 572, fol. 28r., fol. 29r., fol. 29v., fol. 30r., fol. 30v., fol. 31r.f., fol. 31v., fol. 32v., fol. 33r., fol. 35r., fol. 36v., fol. 46r., fol. 49v., fol. 56v., fol. 63r., fol. 63v., fol. 66r. und fol. 66v.
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Bunia nutzt diese Frage, um am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns LebensAnsichten des Katers Murr Genettes narratologische und paratextuelle Analysezugänge zu verbinden. Seine zusätzliche Frage, wer den Roman schreibe, zielt auf „die Funktion der Typographie und der Peritextualität für das Erzählen“.788 Er unterläuft damit nicht nur eine klare Grenzziehung zwischen Haupt- und Paratext, er nimmt vielmehr die Materialität des Buches für die philologische Analyse ernst. Das ist umso bemerkenswerter als Bunia einen Gegenstand aus einem Untersuchungszeitraum wählt, für den Narratologen ansonsten ausschließlich von „zwei bedeutungserzeugende[n] Zentren: de[m] Erzähler und d[er] Figur“, ausgehen – „Tertium non datur“.789 Beim Prosaroman, der als Buchtyp an Handschriften- und Druckkultur Anteil hat, und bei der ‚überlieferungsgerechten Interpretation‘, welche die Arbeit der Überlieferungsbeteiligten als literaturgeschichtlichen Faktor berücksichtigt,790 ist die Relevanz dieser Sichtweise allerdings evident: Zwar sind haupt- und paratextuelle sowie strukturelle Dimensionen bei der Analyse unterscheidbar, bei der Interpretation lässt sich aber nicht verlustfrei auf eine von ihnen verzichten. Selbst wenn man mit David Hayman den Erzähler als arranger des Romans ansieht und ihm damit die Anordnung des Erzählten zuschreibt,791 bleiben damit die buchspezifischen Formen der Untergliederung des Textes unberücksichtigt. Diese Mittel der „äußeren Segmentierung“ innerhalb der typographischen Seitengestaltung zähle ich in dieser Arbeit zu den strukturellen Dimensionen der Sinnstiftung, durch die eine „optisch erkennbare Untergliederung des Textes“ entsteht.792 Solche Absatz- oder auch Kapiteleinschnitte erfolgen nach Jost Schneider in der Regel an der „Grenze[ ] von Sinnabschnitten“. Beim ‚Layout‘ 788 Bunia: Stimme der Typographie, S. 387. Zu Äußerungen mittelalterlicher Erzähler außerhalb der eigentlichen Erzählung (paratextuell oder als Exkurs) vgl. Voelkel: Der Erzähler, S. 213–257. 789 Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, S. 137. Zur Kritik an der Vernachlässigung des ‚Buchs‘ in der (Neu-) Germanistik vgl. Stanitzek: Buch, Typographie, Paratext, S. 58. Zu narrativen Folgen von Medienwechseln (hier von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit) vgl. Volker Mertens: Theoretische und narrativierte Narratologie von Chrétien bis Kafka. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarb. v. Carmen Stange und Markus Greulich. Hg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 17–34, hier: S. 33. Daraus resultiert im Laufe der Literaturgeschichte die Publikumserwartung eines Verfassers, der sich „als Schreibender“ inszeniert (vgl. Glauch: Ich-Erzähler, S. 182). 790 Vgl. dazu auch Bunia: Stimme der Typographie, S. 389. 791 Vgl. zu diesem Begriff David Hayman: Ulysses. The Mechanics of Meaning. A new edition, revised and expanded. Madison 1982, hier: S. 84. – Zum Absatz als semantisch aufgeladene, nicht-lineare Fläche vgl. Wehde: Typographische Kultur, S. 111 und S. 168–173. 792 Wie auch das folgende Zitat: Jost Schneider: Roman-Analyse, S. 37. – Zum „Inventar der Gliederungsmittel [...], das einem mittelalterlichen Schreiber zur Verfügung“ steht, vgl. Nigel F. Palmer: Kapitel und Buch. Zu den Gliederungsprinzipien mittelalterlicher Bücher. In: Frühmittel-
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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oder ‚mise en page‘ werden die gestalterischen typographischen Mittel dabei „dem jeweiligen Buchtyp und Lesezweck“ angepasst.793 Die Sinnabschnitte ermöglichen aber nicht nur leserseitig „eine parzellierte Lektüre“.794 Ich zeige anhand des HE F im Vergleich zum HE Vb, wie einerseits größere Sinnzusammenhänge durch sparsamen Gebrauch von Absätzen und Kapiteleinschnitten strukturell herausgestrichen werden und andererseits durch die Bildung kleinerer Einheiten das einzelne Abenteuer stärker gewichtet wird. Dadurch gerät im einen Fall die göttliche Führung und das Gottvertrauen der Helden, im anderen ihre situationsadäquate Handlungsmächtigkeit stärker in den Blick.795 Auch am Beispiel einer späten Fortunatus-Redaktion wird deutlich, wie die Kapitelstruktur auf inhaltliche Aspekte ausgerichtet werden kann, was sogar die Erwartungshaltung des Rezipienten zu beeinflussen vermag.796 Neben der Kapitel- und Absatzstruktur berücksichtige ich aber auch die globale Architektur der Romane als eigene Dimension der Sinnstiftung.797 Hierbei handelt es sich um die Verbindung größerer Handlungsblöcke, die jeweils für sich oder gerade in ihrer Verbindung nach Erzählschemata wie ‚Doppelter Kursus‘ oder ‚Brautwerbungsschema‘ ablaufen.798 Die Handlung kann sich dabei auf verschiedene Figuren, beispielsweise auf Vater und Söhne im Fortunatus, oder auf Teilräume der erzählten Welt – Kaiserreich und Orient im Herzog Ernst – aufteilen. In der neueren Narratologie beobachtet Florian Kragl allerdings ein „Desinteresse an makrostrukturellen Einheiten“, deren „‚Sinnstrukturen‘ [...] hinter einer Handlung
alterliche Studien 23 (1989), S. 43–88 und Tafeln I–IV, das Zitat S. 44. Vgl. dazu auch Gumbert: Typographie der Seite, vor allem S. 285–287. 793 Ursula Rautenberg: Art. Typographie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 704–707, hier: S. 704 f.; vgl. dazu Illich: Im Weinberg, das Kap. Vom Buch zum Text (S. 121–133); Neuber: Ökonomien des Verstehens, S. 191–202. 794 Eybl: Typotopographie, S. 225. 795 Vgl. die Kap. 3.2.2 und 3.2.3. – Zur Kapiteleinteilung in verschiedenen Prosaroman-, insbesondere Melusine-Redaktionen vgl. die Beiträge von Franz Simmler, zuletzt: Simmler: Melusine um 1700. 796 Vgl. S. 73–78 im Kap. 1.2.3. 797 Vgl. S. 40–42 im Kap. 1.1.5 und das Kap. 3.2.1. 798 Zu diesen und weiteren Schemata mittelalterlichen Erzählens vgl. Armin Schulz: Erzähltheorie, S. 191–291. – Zu Motiven und Strukturen in Prosaromanen und deren Kombinationsfähigkeit vgl. Norbert Thomas: Handlungsstruktur und dominante Motivik im deutschen Prosaroman des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Nürnberg 1971 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 37); dazu aber die berechtigte Kritik in der Rez. von Hans-Gert Roloff, in: Daphnis 9 (1980), S. 616–619, hier: S. 617–619. Speziell zu Veit Warbecks Magelone vgl. Armin Schulz: Poetik des Hybriden, S. 153–229.
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stehen“.799 In der Altgermanistik sei aber gerade ein ‚makrostrukturalistischer‘ Zugriff auf die Erzählwerke dominant. Innerhalb dieser Strukturen erkennt Markus Stock wiederum „Zweiteiligkeit und Handlungsdoppelung“ als „leistungsfähige[n] Sinngenerator“.800 Denn aufgrund der schematischen Basis der erzählten Geschichten treten Kontrast- und Parallelstellen deutlicher aus dem Handlungskontinuum hervor.801 Hierin nun liegt der verbindende Faktor, der von mir gewählten strukturellen Dimensionen. Denn auch die Untergliederung durch Absätze und Kapitelgrenzen eröffnet dem Rezipienten zusätzliche Vergleichsmöglichkeiten – im letzten Fall von den jeweiligen Abschnittsanfängen und -enden ausgehend.
2.3.3.4 Die ‚paratextuellen Dimensionen‘ narrativer Sinnstiftung Gemeinsam ist allen Paratexten, dass sie einen Text organisieren, die Lektüre leiten und dadurch an der Sinnstiftung eines Romans beteiligt sind. Mit Klaus Kreimeier und Georg Stanitzek gesprochen zielt ihre „Beobachtung [...] aufs Ganze: Paratexte organisieren die Kommunikation von Texten überhaupt“.802 Betrachtet man den Prosaroman als Buchtyp, kommt ihnen besondere Wichtigkeit zu, weil sie den Sinn auch dann beeinflussen, wenn sie nicht vom Autor, sondern von Überlieferungsbeteiligten stammen und anderen, beispielsweise wirtschaftlichen Logiken folgen.803 Im Anschluss stelle ich Titelblätter und -formulierungen,
799 Florian Kragl: Sind narrative Schemata ‚sinnlose‘ Strukturen? Oder: Warum bei höfischen Romanen Langeweile das letzte Wort hat und wieso Seifrit das bei seinem Alexander nicht wusste. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarb. v. Carmen Stange und Markus Greulich. Hg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 307–337, hier: S. 310 und S. 312, vgl. insgesamt S. 308–313. 800 Stock: Kombinationssinn, S. 11 (mit Walter Haug) und S. 283; vgl. dazu auch S. 23 f., S. 70 f. und S. 282. 801 Vgl. Cornelia Herberichs, Christian Kiening: Einleitung. In: Literarische Performativität. Lektüre vormoderner Texte. Hg. von Cornelia Herberichs, Christian Kiening. Zürich 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 3), S. 9–21, hier: S. 13 f. und S. 17 f.; am Beispiel des Reynke de vos Michael Schilling: Potenziertes Erzählen. Zur narrativen Poetik und zu den Textfunktionen von Glossator und Erzähler im ‚Reynke de vos‘. In: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Hg. von Ludger Lieb, Stephan Müller. Berlin, New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 20 [254]), S. 191–216, hier: S. 204–210, sowie zu Herzog Ernst das Kap. 3.2.1. 802 Kreimeier/Stanitzek: Vorwort, S. VII. 803 Dies gerät bei der Autorzentrierung von Genette schnell aus dem Blick (vgl. Michael Ralf Ott: Erfindung des Paratextes, S. 9; Georg Stanitzek: Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung. In: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Unter Mitarb. v. Natalie Binczek. Hg. von Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek. Berlin 2004 (LiteraturForschung), S. 3–19, hier: S. 11). – Michael Ralf Ott hebt vor allem auf die Materialität der Drucke ab, um an einem Konzept von ‚Soziotextualität‘ der Frühneu
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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Vor- und Nachworte, Illustrationen, Zwischentitel, Kapitularien und Register, Glossen und Marginalien sowie die Mitüberlieferung als paratextuelle Dimensionen der narrativen Sinnstiftung vor. Das Titelblatt gilt als „Symbol der vollendeten Ablösung des Druckwerkes von den mittelalterlichen Vorbildern“ und der Titelholzschnitt als „Markenzeichen der volkssprachlichen Literatur“.804 In aller Kürze summiert Bettina Wagner die Genese und einige Funktionen der Titelblätter im gedruckten Buch: Schon in ihrer rudimentärsten Form, als leere Seite, schützen sie das Buch im Distributionsprozeß. Als ‚label-title‘ informieren sie den Drucker und Buchhändler über den Inhalt des Buchs und fungieren damit vor allem als Hilfsmittel bei der Verwaltung gedruckter Bücher. Angereichert um Zusatzinformationen, dienen sie als Einladung zur Lektüre und damit als Anreiz zum Kauf, also als ‚Marketing‘-Instrument.805
Durch ihre prominente Position am Anfang einer Redaktion hat die Titelei zusammen mit dem Vorwort zentrale Bedeutung bei der Konstitution des „Sinn- und Verwendungszusammenhang[s]“ für den Leser.806 Doch beschränken sich ihre
zeit als Alternative zur ‚Paratextualität‘ zu arbeiten (vgl. Michael Ralf Ott: Erfindung des Paratextes, S. 2–4 und S. 24). Dabei nähert er sich allerdings stark der Position Jerome J. McGanns an (vgl. ebd., S. 6, sowie das Kap. 2.2.1.2) und verkennt, dass der von ihm kritisierte Sammelband des SFB 573 seinen Ausgang ebenfalls von einer materialen Unterscheidung nimmt, nämlich derjenigen von Handschrift und Buchdruck (vgl. Frieder von Ammon, Herfried Vögel: Einleitung. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. von Frieder von Ammon, Herfried Vögel. Berlin 2008 [P&A 15], S. VII–XIX, hier: S. XIII). 804 Herbert Volkmann: Der deutsche Romantitel (1470–1770). Eine buch- und literaturgeschichtliche Untersuchung. In: AGB 8 (1968), S. 1145–1324, hier: S. 1156; Anneliese Schmitt: Zum Verhältnis von Bild und Text in der Erzählliteratur während der ersten Jahrzehnte nach der Erfindung des Buchdrucks. In: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symp. 1988. Hg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 11), S. 168–182, hier: S. 170. – Zur Rolle der Buchwirtschaft für die Entwicklung des Titelblatts vgl. Smith: The Title-Page, S. 15–23, sowie ex negativo aus der Sicht der Handschriftenkultur ebd., S. 25–27. 805 Bettina Wagner: An der Wiege des Paratextes. Formen der Kommunikation zwischen Druckern, Herausgebern und Lesern im 15. Jahrhundert. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. von Frieder von Ammon, Herfried Vögel. Berlin 2008 (P&A 15), S. 133–155, hier: S. 146. – Kritisch sowohl zum Begriff des ‚lable title‘ als auch zur ‚Schmutztitelblatt-These‘ Rautenberg: Buchtitelblatt der Inkunabelzeit, S. 34, sowie Anneliese Schmitt: Zur Entwicklung von Titelblatt und Titel in der Inkunabelzeit. In: Beiträge zur Inkunabelkunde 3/8 (1983), S. 11–29, hier: S. 24. Affirmativ zum ‚lable title‘ dagegen Smith: The Title-Page, S. 59–67, mit einer Minimalexplikation: „its content, which is abbreviated, and its layout, which is simple“ (S. 59). Vgl. dazu ferner: Rautenberg: Das Titelblatt, S. 15–18. Speziell zur Werbefunktion vgl. Smith: The Title-Page, S. 102–108, sowie Volkmann: Romantitel, S. 1307 f., und dabei zum Einsatz (manipulativer) Strategien Harms: Illustrierte Titelblätter, S. 427–432. 806 Neuber: Ökonomien des Verstehens, S. 189.
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Funktionen nicht auf die äußere Seite des Paratextes hin zur Welt des Autors, der Verleger und Leser. Die Titelei verbindet die reale Welt vielmehr mit der erzählten Welt des Romans. Sie ist als eigene Dimension Teil des Werkes und trägt zu seiner Sinnstiftung bei. Denn mit Till Dembeck ist bei „Textbestandteilen, die scheinbar durch eine äußere Funktion motiviert sind“, immer einzukalkulieren, dass sie „zugleich im Innern des Textes eine Funktion ausüben.“807 Eine Illustration auf dem Titelblatt steht beispielsweise für „das Buch als Ganzes“, sei es dass die dargestellte Szene zum Kulminationspunkt der Handlung gerinnt, sei es dass ein Protagonistenschnitt den Helden allererst charakterisiert.808 Ab Mitte der 1480er Jahre809 bildet sich das Titelblatt als ‚typographisches Dispositiv‘ heraus, das „als formale Strukturvorgabe Teil der Bedeutungskonstruktion“ ist.810 Zentral für die Sinnstiftung durch Titelblätter sind dabei sprachliche Zeichenmittel vor allem bei der Titelformulierung. In seiner Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ bedauert Umberto Eco im Kapitel Titel und Sinn, dass „[e]in Titel [...] leider bereits ein Schlüssel zu einem Sinn“ sei, und Gérard Genette pflichtet ihm in seiner Analyse des Titels als Paratext bei.811 Gerade der Titel hat eine kommunikative Aufgabe in der realen Welt, wenn er ein Werk benenn- und identifizierbar macht oder wenn ein Verleger einen Titel im Hinblick auf die
807 Dembeck: Texte rahmen, S. 2; vgl. dazu auch Herberichs/Kiening: Einleitung, S. 14 f. und S. 18 f. 808 Jutta Breyl: Pictura Loquens – Poesis Tacens. Studien zu Titelbildern und Rahmenkompositionen der erzählenden Literatur des 17. Jahrhunderts von Sidneys „Arcadia“ bis Ziglers „Banise“. Hg. von Hans Geulen, Wolfgang Harms, Nikola von Merveldt. Wiesbaden 2006 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 44), hier: S. 11; vgl. dazu auch ebd., S. 41, sowie zu Funktionen des Einleitungsholzschnitts und Formen des Text-Bild-Bezugs Duntze: Titelblatt in Augsburg, S. 31 f. – Zur Geschichte und Funktion des Titelholzschnitts vgl. Smith: The Title-Page, S. 75–89; Rautenberg: Das Titelblatt, S. 18–28 und S. 33, sowie Rautenberg: Buchtitelblatt der Inkunabelzeit, S. 84–88. 809 Vgl. Rautenberg: Das Titelblatt, mit statistischen Daten; Rautenberg: Buchtitelblatt der Inkunabelzeit, sowie die Fallbeispiele von Duntze: Titelblatt in Augsburg; Gummlich-Wagner: Titelblatt in Köln, und Herz: Titelblatt in Nürnberg; zur Geschichte des Titelblatts vgl. auch Arnold Rothe: Der literarische Titel. Funktionen, Formen, Geschichte. Frankfurt a. M. 1986 (Das Abendland N.F. 16), hier: S. 286–298. 810 Rautenberg: Buchtitelblatt der Inkunabelzeit, S. 22–24, mit Wehde, das Zitat S. 22; Rautenberg: Das Titelblatt, S. 7, spricht noch von „Teil des Sinnbildungsprozesses“. Zur Sinnstiftung durch Typographie vgl. auch Theo van Leeuwen: Towards a semiotics of typography. In: Information Design Journal + Document Design 14/2 (2006), S. 139–155; Wehde: Typographische Kultur. – Zum Erlanger Projekt, die Geschichte des Titelblatts von den Anfängen bis in die Frühdruckzeit zu verfolgen vgl. Gummlich-Wagner: Entstehung und Entwicklung des Titelblatts; Duntze: Titelblatt in Augsburg, S. 25–32, sowie Rautenberg: Buchtitelblatt der Inkunabelzeit, S. 4–22 und S. 34–53. 811 Eco: Nachschrift, das Kap., auf den S. 9–15, das Zitat ebd., S. 10; vgl. Genette: Paratexte, S. 93.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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Absatzchancen verändert.812 Denn anders als der Haupttext eines Werkes wendet sich sein Titel an Interessenten, die erst noch für Lektüre oder Kauf gewonnen werden müssen.813 Er bezieht sich daher gleichzeitig auf die reale Kommunikationssituation mit dem potentiellen Leser und auf den Inhalt des vom ihm bezeichneten Werkes. Indem der Leser auf die Kongruenz von Titel und Romantext vertrauend beide zueinander in Beziehung setzt, beeinflusst die Titelformulierung die Lektüre des Textes und stiftet damit als eine eigene Dimension Sinn im nächsten Umfeld der Narration.814 Einfluss auf die Sinngebung besteht also auch dann, wenn im späten fünfzehnten und im gesamten sechzehnten Jahrhundert fast alle Titel von Druckerverlegern festgelegt werden815 und die Formulierungen damit den Gesetzen des literarischen Marktes unterliegen und im „Dienst der Werbung“ stehen.816 Nicht zu Unrecht bezeichnet Dietrich Rolle Titel der Zeit als „marktschreierische[ ], auf
812 Vgl. Rothe: Literarischer Titel, S. 27; Wolfgang Brandt: Wer verantwortet den Romantitel? Überlegungen zu einem erzähltheoretischen Problem. In: Erzähler. Erzählen. Erzähltes. Fs. der Marburger Arbeitsgruppe Narrativik für Rudolf Freudenberg zum 65. Geb. Hg. von Wolfgang Brandt. Stuttgart 1996, S. 87–103, hier: S. 101; Dirk Baecker: Hilfe, ich bin ein Text!. In: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Unter Mitarb. v. Natalie Binczek. Hg. von Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek. Berlin 2004 (LiteraturForschung), S. 43–52, hier: S. 47–51. Zum ‚Verlegertitel‘ vgl. Volkmann: Romantitel, S. 1153–1196; Schmitt: Titel(blatt) der Inkunabelzeit, S. 28; zum Phänomen der daraus folgenden ‚geteilten Autorschaft‘ vgl. Georg Stanitzek: Art. Paratextanalyse. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2: Methoden und Theorien. Hg. von Thomas Anz. Stuttgart, Weimar 2007, S. 198–203, hier: S. 202. 813 Vgl. Harms: Illustrierte Titelblätter, S. 427; Genette: Paratexte, S. 77. 814 Vgl. Volkmann: Romantitel, S. 1181; Rothe: Literarischer Titel, S. 2 und S. 171–175, sowie Genette: Paratexte, S. 390. – Die drei Basisfunktionen des Titels umfassen nach Charles Grivel in der Zusammenfassung von Genette die Identifikation des Werkes, die Angabe seines Inhalts und Werbung (vgl. Genette: Paratexte, S. 77). Bei Genettes eigenem Modell kommen noch ‚konnotative Effekte‘ hinzu (vgl. ebd., S. 89–91). Rothe: Literarischer Titel, S. 31–266, unterscheidet auf der Grundlage von Jakobsons Kommunikationsmodell sogar sechs Funktionen des Titels. Allen Funktionen wird bei Harald Weinrich: Titel für Texte. In: Titel – Text – Kontext. Randbezirke des Textes. Fs. für Arnold Rothe zum 65. Geb. Hg. von Susanne Heiler, Jochen Mecke. Glienicke, Cambridge, Mass., 2000, S. 3–19, hier: S. 14, die ‚memorielle Funktion‘ übergeordnet, nach der unter einem Titel das Ergebnis der individuellen Rezeption erinnert wird. – Von textlinguistischer Seite vgl. dazu Peter Hellwig: Titulus oder Über den Zusammenhang von Titeln und Texten. Titel sind ein Schlüssel zur Textkonstitution. In: Germanistische Linguistik 12 (1984), S. 1–20, hier: S. 5 f. und S. 10–17. 815 Heute noch ist „die Verantwortung für den Titel immer zwischen Autor und Verleger geteilt“ (Genette: Paratexte, S. 75). 816 Rothe: Literarischer Titel, S. 131; vgl. auch ebd., S. 265, sowie Volkmann: Romantitel, S. 1146 und S. 1157. – Zu Normierungstendenzen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert vgl. Breyl: Augsburger Titelblätter, S. 272–288.
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Werbewirkung gestimmte[ ] Fanfare“.817 Stereotype Wendungen weisen auf das ‚edle‘ Personal sowie den ‚lustigen‘ und ‚lieblichen‘ Stoff hin, der ‚schön‘ erzählt werde und darüber hinaus ‚wahr‘ und ‚nützlich‘, also unterhaltend und lehrreich zugleich sei.818 Hier sind es dann gerade die Untertitel, die in einem (Halb-)Satz das Geschehen zusammenfassen und dadurch Spielraum zur Interpretation öffnen. Auch wenn der Hinweis auf den moralischen und didaktischen Gehalt des Erzählten auf die zunehmende Romankritik reagiert und damit von außen motiviert ist,819 ändert sich damit doch der Tenor der Romane. Vor- und Nachwort sind als invocatio und Prooemium, Pro- und Epilog bereits in der antiken Literatur Ort der Inhaltsangabe, Verständnissicherung sowie Rezeptionslenkung und damit der Sinnstiftung.820 Unter bestimmten Voraussetzungen kann auch ein Einleitungskapitel die Funktion eines ‚integrierten Vorworts‘ erfüllen.821 Für eine strikte Trennung von räumlich abgesetzten Vorworten und anderen Textteilen, die funktional äquivalent sind, sehe ich insofern keinen Anlass.822 Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts verliert das Phänomen nach allgemeiner Ansicht an Bedeutung, wobei bereits der Erstdruck des Tristrant von 1484 deutlichen Überdruss an einleitenden Präliminarien zum Ausdruck bringt.823 Aller Topik zum Trotz bestätigt diese Redaktion jedoch indirekt die
817 Dietrich Rolle: Titel und Überschrift. Zur Funktion eines literarischen Elements. In: Gutenberg-Jb. 61 (1986), S. 281–294, hier: S. 282. 818 Vgl. Volkmann: Romantitel, S. 1175–1184 und S. 1192. – Es finden sich werbende Begriffe aus dem Bereich ‚Traditionalität‘, ‚Autorität‘ und im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts zunehmend der ‚Neuheit‘ (vgl. Neuber: Ökonomien des Verstehens, S. 189 f.). 819 Vgl. Veitschegger: Drucküberlieferung der Melusine, S. 114, sowie die in Anm. 830 angegebene Literatur. 820 Vgl. Hans Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede von Grimmelshausen bis Jean Paul. Bern 1955 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 16), hier: S. 19–35. 821 Zu Begriff und Praxis des ‚integrierten Vorworts‘ vgl. Genette: Paratexte, S. 159–165. 822 Anders Burkhard Moennighoff: Art. Vorwort. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 809–812, hier: S. 809 f. – Im sechzehnten Jahrhundert sondert sich die (Widmungs-)Vorrede mit dem Buchdruck deutlicher erkennbar als eigener Peritext vom Haupttext ab (vgl. ebd., S. 810 f.). – Einen „Beitrag zur Gattungstheorie und Poetik“ des Vorworts anhand von Sammelwerken des sechzehnten Jahrhunderts liefert Bärbel Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachiger Sammlungen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwänken des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 28), das Zitat S. 5. Vgl. zur Widmungsvorrede auch Genette: Paratexte, S. 115–140; Karl Schottenloher: Die Widmungsvorrede im Buch des 16. Jahrhunderts. Münster 1953 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 76/77). 823 „Hienach volget die histori [...]/ weliche [...] einer vorrede wol würdige waͤ re/ vnd doch vnnutz/ dann die lesenden vnnd zhrenden/ in langen vorreden verdriessen nemend“, zit. nach der Edition Tristrant und Isalde. Prosaroman. Nach dem ältesten Druck aus Augsburg v. Jahre
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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Funktionalität des Vorworts, indem ein Nachwort mit Angaben zu Stoffgeschichte und Bearbeitungsweise diejenigen Elemente nachträgt, die einleitend beiseitegelassen werden.824 Während die Vorrede größere werbende Funktion hat, steht beim Nachwort die reflexive Funktion im Vordergrund.825 Hennig Brinkmann zeigt bereits für mittelalterliche Prologe eine Zweiteiligkeit auf: Der prologus praeter rem richte sich ans Publikum, der prologus ante rem beziehe sich dagegen auf das Werk.826 Explizit der zweite, implizit aber auch der erste Teil trägt zur Sinnstiftung eines Prosaromans bei. Für die Romanvorrede legt Hans Ehrenzeller eine differenzierte Darstellung von Autor-, Leser- und Werkfunktionen vor.827 Fließend ist dabei der Übergang von
1484, vers. mit den Lesarten des zweiten Augsburger Druckes aus dem Jahre 1498 und eines Wormser Druckes unbekannten Datums. Hg. von Alois Brandstetter. Tübingen 1966 (ATB, Ergänzungsreihe 3), hier: S. 1. Zu negativen Konnotationen der ‚Vorrede‘ vgl. Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede, S. 11 f. Zur Situation im späten achtzehnten Jahrhundert vgl. Hans-Jürgen Ansorge: Art und Funktion der Vorrede im Roman. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Diss. masch. Würzburg 1969; zum Verschwinden der Vorrede ebd., S. 220, sowie Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede, S. 7 f. und S. 14–18. 824 Vgl. nach der Edition von Brandstetter (Hg.): Tristrant und Isalde, S. 197 f., vgl. dazu auch Ader: Abkehr von der Tradition, S. 445–447. – Ein weiteres, überlieferungsgeschichtlich interessantes Beispiel untersucht Peter Bichsel mit den Vorworten zum Hug Schapler; hier äußern sich zwischen 1500 und 1794 gleich mehrere Bearbeiter zu ihrer jeweiligen Motivation (vgl. Bichsel: Hug Schapler, zusammenfassend S. 168 f.). 825 Gérard Genette behandelt das Nachwort als „Variante des Vorworts“ (Genette: Paratexte, S. 157; vgl. dazu auch Moennighoff: Art. Vorwort, S. 810). Das Nachwort kann den Leser zu einem Gespräch über den Text einladen – mit dem Vorteil, dass es sich nach der Lektüre um ein Gespräch auf Augenhöhe handelt (vgl. Genette: Paratexte, S. 229 f.; zur ‚Gesprächs‘-Metaphorik Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 16). – Der Kolophon steht trotz seiner räumlichen Nähe zum Nachwort funktional dem Titel näher (vgl. Volkmann: Romantitel, S. 1155 und S. 1159; Rothe: Literarischer Titel, S. 284 f., sowie Genette: Paratexte, S. 67). Aufgrund der unterschiedlichen Genese ist Rautenberg: Buchtitelblatt der Inkunabelzeit, S. 39 und S. 48 f., dazu kritisch eingestellt. 826 Vgl. Hennig Brinkmann: Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung. Bau und Aussage. In: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Bd. 2: Literatur. Düsseldorf [1964] 1966, S. 79–105, hier: S. 88 und S. 99; vgl. dazu auch Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 10, mit Verweis auf Quintilian. – Zur Zweiteiligkeit des HE B-Prologs vgl. Jürgen Kühnel: Zur Struktur des Herzog Ernst. In: Euphorion 73 (1979), S. 248–271, hier: S. 253; Otto Neudeck: Ehre und Demut. Konkurrierende Verhaltenskonzepte im ‚Herzog Ernst B‘. In: ZfdA 121 (1992), S. 177–209, hier: S. 183. 827 Vgl. Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede, S. 35–39. Zu den Vorwort-Funktionen im Allgemeinen vgl. Genette: Paratexte, S. 190–280; Annette Retsch: Paratext und Textanfang. Würzburg 2000 (WBdPh 18), hier: S. 57–63, sowie anhand von Sammelausgaben verschiedener literarischer Felder des sechzehnten Jahrhunderts Schwitzgebel: Vorrede volkssprachiger Sammlungen, S. 191–194. Ansorge: Art und Funktion der Vorrede, S. 221, versucht die Vorwort-Funktionen nach Ich-, Er- und auktorialem Roman zu differenzieren, fällt dabei jedoch hinter die Arbeit
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Autor-828 und Werkfunktionen, zum einen bei der ‚Verteidigung‘ gegen Rezensenten und Nachdrucker und zum anderen bei der ‚Rechtfertigung‘, sei es in ästhetischer, moralischer oder sogenannter ‚hygienischer‘ Hinsicht.829 Beim Prosaroman äußert sich dies vor allem in Hinweisen auf den (moral-)didaktischen Nutzen, der aus der Exemplarizität der erzählten Geschichten folge. Aber selbst dann, wenn es sich um Verkaufsargumente und Schutzbehauptungen handelt,830 tragen diese Hinweise nichtsdestotrotz zur Sinnstiftung des Romans bei. Die Werkfunktionen im eigentlichen Sinn reichen von der ‚Darlegung der Entstehung‘ bis zur ‚Erklärung des Titels‘ und zur ‚Wahrheitsbeteuerung‘,831 die aber schon im Nachwort zum Fortunatus und in Wickrams Dialog von einem ungeratenen Sohn durch den ‚Fiktionsvertrag‘ ersetzt wird.832 Als Sonderfall ist hier die unten ausgeführte, historiographische Kritik im Vorwort von HE F Cgm 572 zu nennen.833 Am deutlichsten zu erkennen ist der Beitrag der Werkfunktionen zur paratextuellen Sinnstiftung an der Exposition und Angabe des weiteren Werkinhalts,834 insofern jede Zusammenfassung immer auch interpre-
von Ehrenzeller zurück. – Über Ehrenzellers Dreiteiligkeit weisen die Selbstthematisierung des Vorworts (vgl. Retsch: Paratext und Textanfang, S. 61) und gattungstheoretische Ausführungen hinaus (vgl. Wahrenburg: Funktionswandel, S. 48; Schwitzgebel: Vorrede volkssprachiger Sammlungen, S. 4, sowie zu beiden Aspekten Genette: Paratexte, S. 217–227). 828 Vgl. Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede, S. 185–202. 829 Vgl. ebd., S. 130–158. 830 Von Ertzdorff: Romane und Novellen, S. 84, spricht von einer „didaktische[n] Maxime“ für den Roman des fünfzehnten/sechzehnten Jahrhunderts; vgl. dazu Veitschegger: Drucküberlieferung der Melusine, S. 114; Manuel Braun: Historien, S. 321, sowie Jan-Dirk Müller: Literarische Kommunikation, S. 36. Auch Schwitzgebel: Vorrede volkssprachiger Sammlungen, S. 193 f., bestätigt die Diskrepanz von paratextuell geäußertem, didaktischen Anspruch und textueller Umsetzung. Leipold: Funktionstyp Druckprosa, S. 278/Anm. 104, verweist daher auf den rein ‚ideellen Gebrauchswert‘, der von den Vorreden vermittelt werde. Allerdings sehen Kästner: Peregrinator und mit Einschränkung Schönhoff: Eeliche hausfrawen, S. 331, diese Rechtfertigung nicht nur als oberflächlich an. 831 Vgl. Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede, S. 107 f., S. 116–130, und Genette: Paratexte, S. 203–205. 832 Vgl. Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede, S. 111–116 (zur ‚Erklärung des Titels‘) und S. 123–130 (zur ‚Wahrheitsbeteuerung‘), sowie Genette: Paratexte, S. 207–209 (zur ‚Erklärung des Titels‘) und S. 209–211 (zum ‚Fiktionsvertrag‘). Etwas anderes, nämlich die Aufrichtigkeit des Sprechaktes als solchen meint die ‚Funktion der Wahrhaftigkeit‘ (vgl. ebd., S. 200 f.; Harald Haferland: Erzählen als Beglaubigung: Eine paratextuelle Strategie, aufgezeigt u. a. am Beispiel des ‚Livre des figures hiéroglyphiques‘ von Nicolas Flamel. In: Erzählungen in Erzählungen. Hg. von Harald Haferland, Michael Mecklenburg. München 1996 [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19], S. 425–444, hier: S. 431). – Vgl. zum Fortunatus-Nachwort das Kap. 1.1.4. 833 Vgl. S. 513 im Kap. 3.3.2.1. 834 Vgl. Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede, S. 109–111; Genette: Paratexte, S. 160.
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tierend ist. Dies gilt gerade dann, wenn dabei die Relevanz des Themas herausgestrichen oder der Nutzen der Lektüre betont wird.835 Bei einem Sammelwerk wie dem Buch der Liebe übernimmt die Vorrede zusätzlich die Funktion, die Einheit des Werkes formal – oder hier: thematisch – darzulegen.836 Im Hinblick auf die Leser nimmt die Vorrede nicht nur ein Gespräch auf,837 es kann auch aus dem Kreis potentieller Leser ein Teil, im Prosaroman oftmals die Frauen, ausgewählt und instruiert werden, den Roman ‚richtig‘ zu lesen.838 Das meint die Gewährleistung einer „gute[n] Lektüre“ im Sinne der Intention des Verfassers der Vorrede, was – wie die Analyse von Georg Spalatins Sendbrief zur Magelone Veit Warbecks veranschaulicht – aber nicht der Autorintention entsprechen muss.839 Barbara Weinmayer spricht in ihrer Analyse von Begleittexten Augsburger Drucke von der Herstellung der „‚öffentliche[n] Bedeutung‘ des Textes“.840 Die Kultur des Mittelalters und damit auch die spätmittelalterliche gilt als eine ‚Kultur der Sichtbarkeit‘.841 Im Zeitalter der Mündlichkeit vollzieht sich literarisches Leben als Kommunikation unter Anwesenden, der Sprecher ist sichtbar mit seinem Körper sowie seiner Mimik und Gestik: Horst Wenzel spricht von der „Mehrdimensionalität der sensorischen Wahrnehmung“.842 An diese Tradition wird in Handschrift und Buchdruck, also in Medien schriftlicher Distanz-Kommunikati-
835 Vgl. Genette: Paratexte, S. 193 f. und S. 214–217. 836 Vgl. ebd., S. 195–199. 837 Zur ‚phatischen Funktion‘ vgl. Rothe: Literarischer Titel, S. 86–104 mit Jakobson. Vgl. dazu auch Voelkel: Der Erzähler, S. 213; Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 9; summarisch zu den Leserfunktionen Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede, S. 36 f. 838 Zur Funktion der Publikumswahl vgl. Genette: Paratexte, S. 206; zur Affinität des Prosaromans für Frauen vgl. Ingrid Bennewitz-Behr: Melusines Schwestern. Beobachtungen zu den Frauenfiguren im Prosaroman des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Das Selbstverständnis der Germanistik. Aktuelle Diskussionen. Vorträge des Germanistentages Berlin 1987. Hg. von Norbert Oellers. Tübingen 1988 (Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Selbstbestimmung und Anpassung 1), S. 291–300, hier: S. 293. Einen Überblick über die Topik von Prosaroman-Vorreden bietet Hahn: Rahmentexte der Prosaromane. 839 Das Zitat Genette: Paratexte, S. 191; vgl. dazu weiterhin ebd., S. 202 f., und Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede, S. 170–175. Zu Spalatins Sendbrief auch S. 252–254 im Kap. 2.3.1.2. Vorreden des sechzehnten Jahrhunderts aus Sicht der Überlieferungsbeteiligten behandelt Herbert Wolf: Das Druckwesen im Lichte deutscher Vorreden des 16. Jahrhunderts. In: Arbeiten zum Frühneuhochdeutschen. Gerhard Kettmann zum 65. Geb. Hg. von Rudolf Bentzinger, Norbert Richard Wolf. Würzburg 1993 (WBdPh 11), S. 136–156. 840 Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 16. 841 Vgl. dazu grundsätzlich Horst Wenzel: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; Horst Wenzel: Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter. Berlin 2009 (PhStQ 216). 842 Wenzel: Hören und Sehen, S. 10; vgl. dazu seine Vorüberlegungen zu einer Poetik der Visualität (ebd., S. 338–413) und deren Ausarbeitung Wenzel: Kultur der Visualität.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
on,843 beispielsweise in Form von Autorenbildern am Texteingang angeknüpft.844 Das Bildhafte des Schriftbildes sowie das Narrative der Miniaturen und frühen Holzschnitte spielen in Handschrift und Wiegendruck ineinander und auch etymologisch werde nach Wenzel lange Zeit nicht zwischen Malen und Schreiben unterschieden.845 Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass der „eigene[ ] Sinn“ der Bilder ob der „Dominanz der Sprache“ ‚übersehen‘ wird,846 und eine solche „logozentristische Vereinnahmung“847 ihre Bedeutung ganz auf die bloße Illustration eines Textsinns reduziert. Die hier untersuchten Prosaromane vereinen ebenfalls textuelle mit visuellen Dimensionen von Federzeichnung und Holzschnitt. Insgesamt ist die „signifikante Rolle des Bildes [...] ein Signum des volkssprachigen Buchs“.848 Im überlieferungsgeschichtlichen Vergleich verschiedener Bilderzyklen zu einem Werk lässt sich zeigen, dass „die Illustration [...] zur Basis einer ‚anderen‘, vom Buchstaben des Textes losgelösten Lektüre“ und sie selbst „zur Schöpferin eines eigenen Sinnraumes“ werden kann.849 Dieser bildliche Sinnraum erweist sich in einzelnen Punkten als eine Konstante, die durchaus über Jahrhunderte die „visuelle Existenz eines Stoffes“ prägen kann.850 Auch wenn ein Illustrationszyklus textspezifisch angefertigt und auf eine möglichst genaue Entsprechung von Bild- und Textinhalt geachtet wird, so ist aufgrund der Besonderheiten des jeweiligen Mediums keine absolute Deckung zu erzielen.851 In der von den Bildern erzählten Geschichte liegt damit eine histori-
843 Zur Kommunikation der ‚Nähe‘ und der ‚Distanz‘ vgl. Oesterreicher: Verschrift(lich)ung, S. 269 f. 844 Vgl. Meier: Text-Bild-Lektüre, S. 159. 845 Vgl. Horst Wenzel: Schrift und Gemeld. Zur Bildhaftigkeit der Literatur und zur Narrativik der Bilder. In: Bild und Text im Dialog. Hg. von Klaus Dirscherl. Passau 1993 (PINK 3), S. 29–52, hier: S. 30 f. und S. 38; Wenzel: Hören und Sehen, S. 292–301. 846 Boehm: Logik der Bilder, S. 29 und S. 35. 847 Messerli: Intermedialität, S. 87. Dieser Aufsatz bietet generell einen guten Überblick zum Forschungsfeld der ‚Intermedialität‘. – Zur Bildhaftigkeit der Literatur und zur Narrativität der Bilder vgl. Wenzel: Schrift und Gemeld, S. 33–37 und S. 47, sowie Norbert H. Ott: Texte und Bilder. Beziehungen zwischen den Medien Kunst und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Wilfried Seipel, Horst Wenzel, Gotthart Wunberg. Wien 2000 (Schriften des Kunsthistorischen Museums 5), S. 104–143, hier: S. 105 und S. 126. 848 Curschmann: Wort – Schrift – Bild, S. 735. 849 Cavallo/Chartier: Einleitung, S. 56. 850 Curschmann: Wort – Schrift – Bild, S. 736. 851 Beispielsweise sind Bildzeichen weniger eindeutig als sprachliche Zeichen (vgl. Michael Titzmann: Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relationen. In: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symp. 1988. Hg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1990 [Germa
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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sche Rezeptionsmöglichkeit des Textes vor, die sich aber zugleich als eigene Dimension dem Werk in seiner Überlieferung einschreibt.852 Jedoch kommt es im Überlieferungszeitraum produktionsbedingt zu einem Funktionswandel.853 Die frühen Serien zeichnen sich durch große Textnähe aus, diejenigen des sechzehnten Jahrhunderts durch Stereotypie eines Kanons allgemeiner Handlungsszenen wie Reise, Kampf und Dialog.854 Den frühen Illustrationszyklen in Handschrift und Buchdruck und überraschenderweise den
nistische Symposien, Berichtsbände 11], S. 368–384, hier: S. 375 f. und S. 382; Wenzel: Hören und Sehen, S. 299, sowie Neuber: Ökonomien des Verstehens, S. 191 f.); es bedarf eines klärenden Textes, um sie „in einen größeren Zusammenhang“ einzuordnen (Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Textaneignung in der Bildersprache: Zum Verhältnis von Bild und Text am Beispiel spätmittelalterlicher Buchillustration. In: Wiener Jb. für Kunstgeschichte 41 [1988], S. 41–59 und S. 173–184, hier: S. 59; vgl. dazu Titzmann: Text-Bild-Relationen, S. 376 f.), wie es bei einer fortlaufenden Romanhandlung der Fall ist. 852 Vgl. Saurma-Jeltsch: Bildersprache, S. 59; Jan-Dirk Müller: Späte Chanson de geste-Rezeption, S. 224. 853 ‚Manufaktenhafte Produktion‘ tritt erstmals bei den Handschriften der Lauber-Werkstatt auf; in der Wiegendruckzeit werden die Wiederholung von Holzschnitten und ihre textfremde Zweitverwendung konstitutiv und in der Frühneuzeit werden „Variation und Kopie von Bildformeln, Wiederholung und Austausch von Druckplatten“ zu einem „immer verbindlicher werdende[n] Prinzip der Buchillustration“ (Norbert H. Ott: Leitmedium Holzschnitt, S. 215; vgl. weiterhin: ebd. S. 192; Norbert H. Ott: Überlieferung, Ikonographie – Anspruchsniveau, Gebrauchssituation. Methodisches zum Problem der Beziehungen zwischen Stoffen, Texten und Illustrationen in Handschriften des Spätmittelalters. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symp. Wolfenbüttel 1981. Hg. von Ludger Grenzmann, Karl Stackmann. Stuttgart 1984 [Germanistische Symposien, Berichtsbände 5], S. 356–386, hier: S. 357–361). Hier gewinnt die Dimension der Bildbeischrift größeres Gewicht. Werden Holzschnittwiederholungen reflektiert verwendet, kann man darin ein Mittel zur Ausweisung von Parallelstellen sehen. Doch auch der sorglose Umgang mit verfügbarem Bildmaterial ist bedeutungskonstitutiv im Sinne meiner Arbeit; vgl. zur möglichen Nicht-Intentionalität sinntragender Varianz das Kap. 2.1.4.2 und zu Variation, Kopie, Wiederholung: Die Multivalenz der Bildtypen allgemein das Kap. bei Norbert H. Ott: Leitmedium Holzschnitt, S. 191–216. – Zur Geschichte der Buchillustration in Deutschland vgl. ferner die gleichnamigen Abhandlungen von Horst Kunze zum fünfzehnten sowie zum sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. – Manuel Braun: Verschwinden der Bilder, S. 375, entwirft eine „Geschichte der Romanillustration“ von Bämlers Prosaroman-Wiegendrucken bis um 1700, die sich vereinfachend gesprochen durch das prekär werdende Verhältnis der Abbildungen zum Text auszeichnet und bis zur Autonomie des Bildes (vgl. ebd., S. 398–400) oder zu dessen Verschwinden (vgl. ebd., S. 403 und S. 407) führt. Vgl. dazu die Kritik von Barbier: Vektorialität, dass Braun lediglich „die alte These des illustrierten Buchs als ‚Buch der Armen‘“ wiederhole (S. 105); vgl. dazu auch Norbert H. Ott: Texte und Bilder, S. 118–124. 854 Allerdings weist Doris Fouquet: Spätmittelalterliche Tristan-Illustrationen in Handschrift und Druck. Die Bilder der Heidelberger Eilharthandschrift pal. germ. 346 und der Augsburger Wiegendrucke. In: Gutenberg-Jb. 47 (1972), S. 292–309, hier: S. 302, darauf hin, dass die Inkunabeln trotz genauerer Entsprechung von Bild und Text ebenfalls zu stereotypen Bildmotiven
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
Zyklen des neunzehnten Jahrhunderts ist daran gelegen, einen konkreten Teil des Textsinns ins Bildmedium zu transportieren und zur Memorierung des Erzählten beizutragen.855 Die späteren Formen der Rationalisierung sieht Horst Kunze dagegen einseitig als missglückten Versuch der Aufwertung und somit als „Mängel“ an:856 ein Missverständnis, wie Norbert H. Ott vielfach zeigt. Er spricht bei der „multivalente[n] Verfügbarkeit tradierter ikonographischer Muster“ von ‚Egalisierung‘ und sieht darin eher die Möglichkeit der Illustration, „funkionabel für alle möglichen Textzusammenhänge“ zu sein, als einen Verlust an Qualität.857 Die Funktionen anderer Paratexte kehren auf der Dimension der Illustrationen wieder. Im Hinblick auf die äußere Schwelle des Buchs hin zum Rezipienten und zum Buchmarkt tragen sie zur Kommunikation des Textes gerade gegenüber eiligen Kaufinteressenten bei und bieten einen werbewirksamen Anreiz, ein Buch zu erwerben und zu lesen.858 Ohne Frage haben Holzschnitte auch eine gliedernde Funktion, vor allem dann, wenn sie konsequent am Anfang eines Kapitels stehen.859 Sie fassen einen Text- oder Handlungsabschnitt zusammen und ver-
neigen. Die Folge davon ist aber, dass die Illustrationen ohne den begleitenden Text kaum zu ‚lesen‘ sind (vgl. Schmitt: Bild und Text, S. 179 f.). 855 Vgl. Kunze: Buchillustration im 15. Jh., S. 438; Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 350 f., sowie Norbert H. Ott: Leitmedium Holzschnitt, S. 243 f. 856 Kunze: Buchillustration im 16. und 17. Jh., S. 569. 857 Norbert H. Ott: Überlieferung, Ikonographie, S. 363 und S. 359. – Besonders ‚modern‘ in dieser Hinsicht ist Johann Schönsperger d.Ä., der als Nachdrucker zwar Originalität bei der Textauswahl vermissen lässt, sich aber bei der Optimierung und Rationalisierung von Druckprozessen und gerade auch der Holzschnittgestaltung hervortut (vgl. Norbert H. Ott: Leitmedium Holzschnitt, S. 228, S. 230 und S. 243). – Zu Rationalisierungstendenzen am Beispiel des Setzerhandwerks vgl. Voeste: Leser im Blick, S. 142–144. 858 Vgl. Curschmann: Wort – Schrift – Bild, S. 735; Augustyn: Handschrift und Buchdruck, S. 32. – Zur ‚Schmuckfunktion‘ vgl. weiterhin Kunze: Buchillustration im 15. Jh., S. 3 f.; Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 352, sowie Saurma-Jeltsch: Brüsseler Tristan, S. 251–255. – Gérard Genette spart den „riesigen Kontinent“ der Illustration dagegen bewusst von seiner Untersuchung des Paratextes aus (Genette: Paratexte, S. 387). – Zu Funktionen der Illustration im sechzehnten Jahrhundert auch allgemein Martin: Mise en page, S. 236–269. 859 Vgl. Saurma-Jeltsch: Brüsseler Tristan, S. 255–261; Backes: Lesezeichen, S. 397, sowie Meier: Text-Bild-Lektüre, S. 167–169. – Dies ist aber sicher nicht ihre primäre Funktion, wie Simmler: Mikro- und Makrostrukturelle Merkmale behauptet; vgl. dazu meine Rez., in: Arbitrium 32/2 (2014), S. 165–168, sowie Norbert H. Ott: Zwischen Schrift und Bild. Initiale und Miniatur als interpretationsleitendes Gliederungsprinzip in Handschriften des Mittelalters. In: Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Konferenz des Konstanzer Graduiertenkollegs „Theorie der Literatur“, veranstaltet im Oktober 1992. Hg. von Susi Kotzinger, Gabriele Rippl. Amsterdam, Atlanta 1994 (Intern. Forschungen zur Allg. und Vergl. Literaturwissenschaft 7), S. 107–124.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
307
dichten ihn auf „eine Pars-pro-toto-Szene“.860 Diese kann den Kontext veranschaulichen, bewerten oder kommentieren – und dies insbesondere mit Mitteln der Affektlenkung.861 Sie lenken die Lektüre des Nachfolgenden in Form einer Akzent- oder Schwerpunktsetzung aber auch dann, wenn sie nicht textspezifisch sind.862 Eine Funktion des Bildes, die heute in nachrichtenvermittelnden Print- und Onlinemedien sowie im Fernsehen, aber auch im Kinderbuch noch eine Rolle spielt, möchte ich als ‚Evidenz‘-Funktion bezeichnen. Es geht um die gesteigerte ‚Erfahrbarkeit‘ des mit Worten Vermittelten durch die mit der Bildlektüre verbundene Augenzeugenschaft des Geschehens. Der Leser der Melusine-Geschichte kann sich so mit eigenem Blick über Reymunds Schulter davon überzeugen, dass sich die schöne Frau unterhalb des Bauchnabels verwandelt hat.863 So betrachtet, kann die Bedeutung des Bildes für eine ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ der illustrationsreichen Prosaromane nicht überschätzt werden. Möglicherweise eng mit den Illustrationen verbunden sind die Zwischentitel der Prosaromane. Was ihren Ursprung angeht, gibt es zwei verschiedene Forschungsthesen. So lehne sich das Layout entweder an die wissenschaftliche Sehegewohnheit summierender lemmata an oder die Überschriften entstehen aus Anweisungen, die ursprünglich dem Buchmaler gelten, dann aber zusätzlich zur Miniatur stehenbleiben und sich in einem zweiten Schritt ganz vom Bildmedium lösen.864 Ihre „Blütezeit“ ist nach Ernst-Peter Wieckenberg das Inkunabelzeit-
860 Meier: Text-Bild-Lektüre, S. 174. Zur Leistung von Bildern, mehrdimensionalen Sinn abzubilden, vgl. Norbert H. Ott: Mehrdimensionales Beziehungssystem, S. 64 f. 861 Vgl. Kunze: Buchillustration im 15. Jh., S. 35 f.; Schilling: Rota Fortunae, S. 299; SaurmaJeltsch: Bildersprache, S. 49, sowie Meier: Text-Bild-Lektüre, S. 169–172 sowie S. 176 f. – Zur Relevanz im Hinblick auf ‚Emotion‘ vgl. Ader: Prosaversionen, S. 47–53. 862 Vgl. Saurma-Jeltsch: Bildersprache, S. 46; Meier: Text-Bild-Lektüre, S. 157–167. 863 Titzmann: Text-Bild-Relationen, S. 382, bringt dies in der Sprache der Semiotik auf den Punkt: „Propositionen des Bildteils können von solchen des Textteils nicht widerlegt werden [...]. Propositionen des Textteils können von solchen des Bildteils widerlegt werden“. Harald Haferland: Gibt es einen Erzähler bei Wickram? Zu den Anfängen modernen Fiktionsbewusstseins. Mit einem Exkurs: Epistemische Zäsur, Paratexte und die Autor/Erzähler-Unterscheidung. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Unter Mitarb. v. Andrea Sieber. Hg. von Maria E. Müller, Michael Mecklenburg. Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 361– 394, hier: S. 366, adaptiert hierfür den Begriff des ‚Realitätseffekts‘. 864 Zur Geschichte der Kapitelüberschrift bis zum 15. Jahrhundert vgl. das gleichnamige Kap. bei Ernst-Peter Wieckenberg: Zur Geschichte der Kapitelüberschrift im deutschen Roman vom 15. Jahrhundert bis zum Ausgang des Barock. Göttingen 1969 (Palaestra 253), hier: S. 27–41, dessen Monographie trotz einiger buchgeschichtlicher Arbeiten der 2000er Jahre (vgl. stellvertretend Rautenberg: Melusines Basler Erstdruck, S. 81) noch immer unersetzt ist. – Backes: Geord
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
alter, in dem sie sich nicht mehr an Hörer, sondern primär an Leser wenden, wobei sie aber noch im sechzehnten Jahrhundert unvermittelt neben sogenannten ‚Überleitungsformeln‘ als einer aus mündlicher Tradition überkommenen Form der Textgliederung stehen.865 Gerade die Dimension des Zwischentitels verdeutlicht den ‚Buchtyp Prosaroman‘ als ‚Zielform‘, die sich als ein aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel von Haupt- und Paratext erst allmählich und mit vielen Diskontinuitäten herausbildet.866 Wobei nach Martina Backes die treibende Kraft bei der Organisation der Redaktionen durch Zwischentitel die Schreiber und Drucker sind.867 Dabei ließe sich zwischen ‚Kapitelüberschriften‘, die sich unmittelbar auf den nachfolgenden Kapiteltext, und ‚tituli‘, die sich primär auf eine Abbildung beziehen, differenzieren. Jedoch öffnet der positive Untersuchungsbefund einen Grenzbereich, der sich einer strikten Zweiteilung entzieht. In meinem Korpus finden sich nur wenige Redaktionen, bei denen sich Bildinhalte und ‚echte‘ tituli grundsätzlich entsprechen (z. B. HE F Sorg 2). ‚Reine‘ Kapitelüberschriften, die nur auf den nachfolgenden Kapiteltext Bezug nehmen, liegen nur bei bilderlosen Redaktionen vor (vgl. HE F Cgm 572). Im Zentrum meiner Fragestellung stehen daher die gemeinsamen Funktionen868 der Zwischentitel als Gelenkstelle zwischen Gesamttext und Einzelkapitel beziehungsweise Abbildung.869
nete Texte, S. 302, gelten daher noch immer zu Recht Kapitelüberschriften als „ausgesprochene Stiefkinder der Forschung“. Den Grund für die Vernachlässigung dieser Textdimension sieht sie darin, dass Zwischentitel nicht dem Autor und seiner Intention zugeschrieben werden und daher in kritischen Editionen oftmals wegfallen (vgl. ebd., S. 303 f., sowie ferner Rolle: Titel und Überschrift, S. 292). 865 Vgl. Wieckenberg: Geschichte der Kapitelüberschrift, S. 44 f. und S. 55–57, das Zitat ebd., S. 42. 866 Vgl. zur ‚Zielform‘ des ‚Buchtyps‘ mein Kap. 2.1.1. – Zu tituli und Zwischentiteln in Elisabeths Romanen vgl. Haubrichs: Text, Kontext, Bild, S. 71–73, und Haubrichs: Hamburger Huge Scheppel, S. 205–210; zu denselben in der Melusine-Überlieferung Backes: Illustrierung Melusinehandschriften, S. 74 f.; Backes: Fremde Historien, S. 128–136 und S. 144 f.; Martin Behr: Wandel der Verknüpfungsmittel, S. 134 f.; Martin Behr: Buchdruck und Sprachwandel, S. 339 f.; Bock: Im Weinberg, S. 26 f. und S. 33–42, sowie Drittenbass: Aspekte des Erzählens, u. a. S. 31–33, S. 203 f., S. 244–248, S. 254–309 und S. 318 f. 867 Vgl. Backes: Lesezeichen, S. 398. 868 Dass dies der Rezeptionsweise der Frühneuzeit entspricht, plausibilisiert Wieckenberg mit dem Hinweis auf einen Zusatz zur Rubrikentafel des Fortunatus-Erstdrucks, die sowohl die Kapiteltexte als auch die Bildthemen repräsentiere (vgl. Wieckenberg: Geschichte der Kapitelüberschrift, S. 40 f.). 869 Bezogen auf das Romanganze untergliedern sie außerdem den Text und stehen in Handschrift und Buchdruck neben anderen Auszeichnungs- und Strukturierungsformen wie Alineazei
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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Ganz gleich, ob es sich um Bild- oder Textinhalte handelt, Überschriften kündigen das Nachfolgende an.870 Durch den Medienwechsel von Bild zu Text oder durch die kürzende Verdichtung innerhalb des Textmediums entsteht ein metatextuelles Verhältnis zum jeweils Bezeichneten,871 wodurch den Zwischentiteln sinnstiftendes Potential zuwächst: Ihre Urheber, bei denen es sich in den seltensten Fällen um die Autoren der Texte handelt,872 wählen aus der vorliegenden Text- und Themenmenge Einzelaspekte aus, lassen anderes unberücksichtigt und geben – gewollt oder ungewollt – durch die konkrete Formulierung Rezeptions- und Interpretationshinweise.873 Eigene paratextuelle Dimensionen entstehen, sobald Zwischentitel oder Themen in separaten Abschnitten summiert werden.874 Diese ‚Inhaltsverzeichnisse‘ beziehungsweise ‚Kapitularien‘ (auch ‚Rubrikentafeln‘) oder ‚Register‘ sind Hilfs-
chen, Absatzgestaltung oder Rotstrichelung (vgl. Saurma-Jeltsch: Bildersprache, S. 54, und zu allgemeinen Gliederungsmöglichkeiten ferner Palmer: Kapitel und Buch, S. 74 f.; meine Kap. 3.2.2, 3.2.3 und 3.3.5, sowie zum titulus als Innovation Christoph Fasbender: Vom Titulus zum Textregister. Notiz zur Erschließung zweier später Handschriften des ‚Wilhelm von Orlens‘. In: Aus der Werkstatt Diebold Laubers. Unter Mitarb. v. Claudia Kanz und Christoph Winterer. Hg. von Christoph Fasbender. Berlin, Boston 2012 [Kulturtopographie des alemannischen Raums 3], S. 59–70, hier: S. 62). 870 Vgl. Hellwig: Titel und Texte, S. 6; Rolle: Titel und Überschrift, S. 292 f. – Einen anderen Zusammenhang stellt Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. 6., unv. Aufl. Stuttgart [1955] 1975, hier: S. 139–194, her, der aufgrund der gemeinsamen Bezugnahme auf Nachfolgendes Überschriften und Vorausdeutungen erzähltheoretisch zusammenschließt, womit er haupt- und paratextuelle Dimensionen narrativer Sinnstiftung kombiniert. 871 So betont Genette: Paratexte, S. 281, dass Kapitelüberschriften als ‚Zwischentitel‘ eben auch Titel sind. 872 Maximiert ist der Anteil der Überlieferungsbeteiligten beim sogenannten ‚lebenden Kolumnentitel‘. Schnyder: Neuausgabe der HWB, S. 82, weist innerhalb der Melusine-Überlieferung auf ein Beispiel hin. Von seiner Wirkung her ist er dem Zwischentitel zu vergleichen, weswegen ihn Genette: Paratexte, S. 301 f., als Variante der Kapitelüberschrift behandelt. Aber es ist „von den äußerlichen Zufällen des Umbruchs abhängig“, auf „welchen Abschnitt des Kapitels er sich bezieht“ (Rolle: Titel und Überschrift, S. 292). Dadurch wird aber auch die Wiedergabe der Handlung zufällig. ‚Tote Kolumnentitel‘ tragen dagegen zur Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Gesamttextes bei. Auch Nebenepisoden werden paratextuell auf den Protagonisten bezogen, wenn dessen Name am Kopfende der Seite fortwährend wiederholt wird. 873 Vgl. dazu mit Belegen aus zeitgenössischen Briefwechseln Wieckenberg: Geschichte der Kapitelüberschrift, S. 43; Backes: Geordnete Texte, S. 314, sowie Michael Stolz, Gabriel Viehhauser: Text und Paratext. Überschriften in der ‚Parzival‘-Überlieferung als Spuren mittelalterlicher Textkultur. In: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Koll. 2004. In Verb. mit Wolfgang Haubrichs und Klaus Ridder. Hg. von Eckart Conrad Lutz. Berlin 2006 (Wolfram-Studien 19), S. 317–351, hier: S. 318 f. und S. 343. 874 Dabei können sich tituli innerhalb von Registern unter Wegfall der Bilder auch verselbstständigen (vgl. Fasbender: Vom Titulus zum Textregister, S. 60 und S. 67).
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
mittel zur Verbesserung von „Lesbarkeit und Benutzerfreundlichkeit“,875 die bereits in Handschriften des zwölften Jahrhunderts nachzuweisen sind und bei verschiedenen Buchdruckern größere Bedeutung haben.876 Indem sie Kurzfassungen der Romane darstellen, die eigene Schwerpunkte setzen, anderes ausblenden und so eine eigene Perspektive auf die Geschichte eröffnen, tragen sie über ihre rezeptionsorientierte Funktion hinaus zur Sinnstiftung der Romane bei. Ich zeige dies am Fortunatus-Erstdruck wie auch in rudimentärer Form an einigen Redaktionen der Ernst-Geschichte.877 Einen anderen Weg wählt die Pariser Handschrift Ms fr. 12575 von Coudrettes Roman de Mélusine, der von Thüring von Ringoltingen bearbeitet wird. Hier löst sich das Verzeichnis von der Kapitelgliederung und führt den Inhalt gesondert nach den wichtigsten Figuren auf.878 Eine weitere Form paratextueller Sinnstiftung findet sich in Zusätzen, die textbegleitend die Linearität des Erzählten durchbrechen. ‚Glossen‘ sind dabei von ‚Marginalien‘ zu unterscheiden. Denn als ‚Marginalien‘ im Sinne von Bemerkungen ‚am Rand‘ einer Seite879 lässt sich schon formal allenfalls eine Untergruppe der ‚Glossen‘ verstehen. So finden sich neben den ‚Randglossen‘ im engeren Sinne ‚Interlinearglossen‘ zwischen den Zeilen des Haupttextes und innerhalb einer Zeile sogenannte ‚Kontextglossen‘.880 Insofern ist es sinnvoll, den Begriff der ‚Glosse‘ auf das Spezialphänomen einer Übersetzung oder kurzen Erklärung eines Einzelwortes beziehungsweise einer kurzen Wendung zu verengen.881 Unter ‚Marginalie‘ sind dann alle Zugaben an den Seitenrändern zu verstehen, die über
875 Neddermeyer: Handschrift/Druck, Bd. 1, S. 23 f. 876 Vgl. Zedelmaier: Lesetechniken, S. 13, und zum Augsburger Frühdrucker Anton Sorg Leipold: Funktionstyp Druckprosa, S. 281. – Zu Registern in der Literatur des Barock vgl. Werner Welzig: Einige Aspekte barocker Romanregister. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symp.s der DFG 1974 in Wolfenbüttel. Hg. von Albrecht Schöne. München 1976, S. 562–570. 877 Vgl. S. 42–48 im Kap. 1.1.5 sowie S. 559f. im Kap. 3.3.5.4. Für entsprechende Phänomene in der Überlieferung von Hug Schapler und Loher und Maller vgl. Bichsel: Hug Schapler, S. 166, beziehungsweise Gaebel: Chansons de geste, S. 23. 878 Vgl. Backes: Manuskriptkultur, S. 24. 879 Vgl. die Explikation von Irmgard Schweikle: Art. Marginalien. In: Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2., überarb. Aufl. Hg. von Günther Schweikle, Irmgard Schweikle. Stuttgart 1990, S. 294. 880 Vgl. Nikolaus Henkel: Art. Glosse1. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Gemeinsam mit Harald Fricke u. a. Hg. von Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, S. 727–728, hier: S. 727. 881 Vgl. Stefanie Stricker: Definitorische Vorklärungen. In: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch. Bd. 1. Hg. von Rolf Bergmann, Stefanie Stricker. Berlin 2009, S. 20–32, hier: S. 28. Zum breiteren Verwendungsspektrum in der Forschungsgeschichte vgl. ebd., S. 21 f.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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diese Funktion hinausgehen. Gemeinsam decken diese Dimensionen ein Spektrum von nur punktuellen „Verständnishilfen“ bis hin zu einem elaborierten „Instrument der Wissensvermittlung“ ab.882 Mit einem Graubereich zwischen diesen streng explizierten Begriffen ist immer zu rechnen, da der Übergang von wörtlicher Übersetzung, Paraphrase, weiter ausgreifender Erklärung und Kommentierung fließend ist. Diese Differenzierung erfolgt unabhängig davon, ob ‚Glossen‘ und ‚Marginalien‘ handschriftlich oder gedruckt vorliegen und ob es sich um Leserspuren in einem einzelnen Exemplar oder um ursprüngliche Bestandteile einer Redaktion handelt.883 In den untersuchten Prosaromanen sind Marginalien wie in unterhaltender und zumal volkssprachlicher Literatur im Allgemeinen selten. Erst das Faustbuch setzt 1587 zahlreiche marginale Anmerkungen ein.884 Bei den Textpartien am Ende der Kapitel des niederdeutschen Reynke de vos, die vor allem von Michael Schilling als eigenständige Textinstanz untersucht werden,885 handelt es sich nicht um ‚Glossen‘ in obigem Verständnis. Ich würde in Analogie zur Fabeltradition eher von ‚Epimythien‘ sprechen.886 In den untersuchten Prosaromanen finden sich allerdings vielfach Kontextglossen, die aber in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle – aber nicht ausschließlich – der Erzählerrede zuzurechnen sind. Ein allzu weites Feld, das eng mit paratextueller Sinnstiftung verwandt ist, eröffnen zuletzt jene Verbünde, die ein Werk im Laufe seiner Überlieferung mit
882 Bernhard Pabst: Text und Paratext als Sinneinheit? Lehrhafte Dichtungen des Mittelalters und ihre Glossierung. In: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Koll. 2004. In Verb. mit Wolfgang Haubrichs und Klaus Ridder. Hg. von Eckart Conrad Lutz. Berlin 2006 (Wolfram-Studien 19), S. 117–145, hier: S. 120. – Kipf: Gedruckte Marginalnoten, S. 34, S. 49 und S. 57, unterscheidet die Funktionen Gliederung, Verweis, Erklärung, Kommentar, Didaxe, Appellation, Analyse, Interpretation und Erzählung. Letztere führen mit Wolfgang Neuber: Topik als Lektüremodell. Zur frühneuzeitlichen Praxis der Texterschließung durch Marginalien – am Beispiel einiger Drucke von Hans Stadens Warhaftiger Historia. In: Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symp. Hg. von Thomas Schirren, Gert Ueding. Tübingen 2000 (Rhetorik-Forschungen 13), S. 177–197, hier: S. 187, zu einer „Überhöhung der Sinnstruktur des Fließtextes“. 883 Anders Stricker: Definitorische Vorklärungen, S. 32. Zu Leserspuren vgl. Harms: Wege zum Leser, vor allem S. 155 und S. 161, sowie Wolfgang Harms: Das Buch im Sammlungszusammenhang. In: Kolloquialität der Literatur. Kleine Schriften. Hg. von Michael Schilling. Stuttgart [2000] 2006, S. 169–175, hier: S. 170 f. 884 Vgl. allgemein Kipf: Gedruckte Marginalnoten, S. 48–53 und speziell dazu ebd., S. 58. – Zu Fußnoten als Bestandteil moderner Erzähltexte vgl. Sabine Mainberger: Die zweite Stimme. Zu Fußnoten in literarischen Texten. In: Poetica 33/3–4 (2001), S. 337–353. 885 Vgl. Schilling: Potenziertes Erzählen, S. 192–196 und S. 212–215. 886 In ihrer Dissertation zum Fabelwerk Burkard Waldis’ ersetzt Inci Bozkaya demnächst den Begriff ‚Epimythion‘ durch den forschungsgeschichtlich unvorbelasteten der ‚Affabulatio‘.
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2 Forschungsgeschichte, Theorien und Methoden
anderen Werken eingeht. Nach allgemeiner Ansicht können Überlieferungssymbiosen Aufschluss über Gattungszuschreibung und Gebrauchszusammenhang des Einzelwerkes geben.887 Darüber hinaus tritt der Roman „in Ergänzungs-, aber auch Spannungsbeziehungen“ zur Mitüberlieferung.888 Detlef Roth hat am Beispiel der Sieben weisen Meister gezeigt, wie die anderen Texte der Sammlungen die Wahrnehmung auf verbindende Einzelaspekte lenken, die dadurch größeres Gewicht für die Sinnstiftung gewinnen.889 Da ein Text mit jedem anderen verbunden werden kann – aber historisch-faktisch nicht mit jedem anderen verbunden wird – ermöglicht seine Mitüberlieferung „die Erforschung der Potentialität“ der Sinnbezüge des Werkes in der Zeit seiner Überlieferung.890 Rezeptionspsychologisch ist der Effekt mit dem Einsatz expliziter intertextueller Verweise vergleichbar, wirkt dabei aber radikaler, da eine direkte Vergleichslektüre ermöglicht ist und peritextuell empfohlen werden kann. 1836/1837 gibt Gustav Schwab eine Sammlung von 14 Werken heraus, die u. a. Wiedererzählungen von Magelone, Kaiser Octavianus, Melusine, Fortunatus und Herzog Ernst enthält.891 Sie erfährt unter dem neuen Titel Die deutschen Volksbücher bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein fast 20 Auflagen. Nach Schwabs Vorwort zum ersten Band des Erstdrucks zielt er mit diesem „Lesebuche der Jugend“ auf eine Belehrung junger Leser „gegen Unglauben und Unsitte“, zu der die ausgewählten Werke aufgrund ihres „Grundton[s] von Frömmigkeit und reiner Sitte“ besonders geeignet seien.892 Er und andere ‚Volksbuch‘-Sammler sehen in den Prosaromanen „Vermittler mittelalterlicher Texte“893 und werden, gerade wenn sie auf späte Drucke des siebzehnten Jahrhunderts zurückgreifen, selbst zu Wiedererzählern zweiter Ordnung. Die Rezeption im neuen Kontext der
887 Vgl. Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 35; Glier: Schatzkammer, Steinbruch, historisches Objekt, S. 3, sowie Backes: Fremde Historien, S. 156. 888 Herberichs/Kiening: Einleitung, S. 18. 889 Vgl. Detlef Roth: Überlieferungskontexte als Zugang zu mittelalterlichen Texten am Beispiel der ‚Sieben weisen Meister‘. In: ZfdPh 122/3 (2003), S. 359–382. 890 Harms: Sammlungszusammenhang, S. 171, der auch den Aufstellungskontext in einer Bibliothek einbezieht. 891 Vgl. Buch der schönsten Geschichten und Sagen für Alt und Jung wieder erzählt. 2 Bde. Hg. von Gustav Schwab. Stuttgart: Liesching 1836/1837. – Zu den sogenannten ‚Volksbuchsammlungen‘ vgl. Kreutzer: Mythos Volksbuch, S. 86–100. 892 Schwab: Geschichten und Sagen, Bd. 1, S. VI. – Vgl. dazu auch Alfred Clemens Baumgärtner: Art. Schwab, Gustav. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. Hg. von Klaus Doderer. Bd. 3. Erarbeitet im Institut für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. Redaktion von Hannelore Daubert u. a. Basel/Weinheim 1984, S. 328–330, hier: S. 329. 893 Sauder: Vom Volksbuch zur Romantik, S. 587.
2.3 ‚Sinnstiftung‘ und ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘
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Jugendliteratur stellt dabei eine ‚aktualisierende Tradierung‘, die Zusammenstellung von Einzeltexten einen Sonderfall der ‚Retextualisierung‘ dar.894 Die gemeinsame Überlieferung auch von längeren Erzähltexten ist aber kein Phänomen des Sammlungswunsches einer Spätzeit. Von mittelalterlichen Sammelhandschriften und Inkunabelsammelbänden über die Überlieferungssymbiosen der Prosaromanbändchen in Oktav bis hin zu den Ausgaben der Romantiker zeichnet sich eine gewisse Kontinuität ab. Doch wenn Martina Backes von Sammelhandschriften als den „Stiefkinder[n] der deutschen Mittelalterphilologie“ spricht,895 so warten die vielfältigen Formen gemeinsamer Drucküberlieferung zumeist noch vergeblich auf Adoption durch die Frühneuzeitforschung. Ein Inseldasein führt im Bereich des Prosaromans die Erforschung von Sigmund Feyerabends Buch der Liebe, auch Schwabs Geschichten und Sagen haben zuletzt einige Aufmerksamkeit gefunden, bezeichnenderweise aber auf der Ebene von Einzeltexten, nicht als Sammelausgabe.896
894 Vgl. das Kap. 2.1.2 sowie zur ‚Retextualisierung‘ Bumke: Retextualisierungen, S. 39–41. Zu Schwabs Sammlung auch mit Bezügen auf das Konzept des ‚Wiedererzählens‘ mit einem Schwerpunkt auf seiner Melusine vgl. Schnyder: Ein Volksbuch machen, S. 333–354. Ganz ähnlich aber auch schon: Flood: The Survival, Bd. 2, S. 238–262, vor allem S. 246–250. 895 Backes: Fremde Historien, S. 155. 896 Vgl. Schnyder: Ein Volksbuch machen, S. 333–354, zu Schwabs Melusine; Leonard Keidel: Griseldis in den Volksbüchern Karl Simrocks und Gustav Schwabs. In: Die deutsche Griselda. Transformationen einer literarischen Figuration von Boccaccio bis zur Moderne. Hg. von Achim Aurnhammer. Berlin, New York 2010 (Frühe Neuzeit 146), S. 229–241, zur Griseldis.
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa Oben führe ich die Ernst-Geschichte mit Joachim Bumke als Musterbeispiel für wiedererzählende Traditionsliteratur ein.1 Ihre Wurzeln reichen bis tief ins Hochmittelalter und, was die historischen Versatzstücke betrifft, sogar bis ins zehnte Jahrhundert. Unter dem Schlagwort der ‚Polyfunktionalität‘2 erweist sie sich offen für Aktualisierungen, Umbesetzungen und Kürzungen. Es handelt sich um den Heldenstoff deutscher Herkunft, der am vielfältigsten ausgestaltet wird.3 Der reichsinterne Konflikt zwischen Ernst und Otto bildet dabei auf der Dimension der globalen Architektur eine spannungsvolle Einheit mit der Weltweite der abenteuerlichen Orientreise. Fragen wie derjenigen nach Ernsts Schuld an der Eskalation, die zum Krieg und zum Tod des Pfalzgrafen führt, oder nach der göttlichen Einflussnahme auf das Geschehen stellen sich aus unterschiedlichen Perspektiven und auf unterschiedlichen Dimensionen der einzelnen Fassungen und Redaktionen jeweils anders dar.4
1 Vgl. S. 139–141 im Kap. 2.1.2. 2 Der Begriff bei Meves: Studien zu HE, S. 145; vgl. dazu auch Neudeck: Kaiser Otto, S. 100, S. 133 und S. 142. 3 Vgl. Hans-Joachim Behr: Einleitung, und in anderer Form Hans-Joachim Behr: Herzog Ernst; Flood: The Survival, Bd. 1, S. 138–141, sowie Bumke: Retextualisierungen, S. 6–9. 4 Eine der zentralen Fragen in Bezug auf die Hauptfigur des HE B ist diejenige, ob und zu welchem Grade Herzog Ernst als Schuldiger gezeichnet ist und ob er diese etwaige Schuld gegenüber Gott oder gegenüber dem rîche auf sich lädt. Zur Schuldfrage und zur Figur des ‚unschuldig Schuldigen‘ vgl. Clemens Heselhaus: Die Herzog-Ernst-Dichtung. Zur Begriffsbestimmung von Märe und History. In: Spielmannsepik. Hg. von Walter Johannes Schröder. Darmstadt [1942] 1977 (Wege der Forschung 385), S. 213–244, hier: S. 224; Wolfgang Harms: Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300. München 1963 (Medium Aevum 1), hier: S. 93; Siegfried Jäger: Studien zur Komposition der Crescentia, der Kaiserchronik, des Vorauer und des Straßburger Alexander und des Herzog Ernst B. Diss. masch. Bonn 1968, hier: S. 215; Wehrli: Herzog Ernst, S. 438 f.; Manfred W. Hellmann: Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft. Untersuchungen zu ihrer Bedeutung als politischer Elemente in mittelhochdeutschen Epen. Annolied – Kaiserchronik – Rolandslied – Herzog Ernst – Wolframs ‚Willehalm‘. Diss. masch. Bonn 1969, hier: S. 119–123; Francis G. Gentry: Herzog Ernst: An Interpretation. In: Fide et amore. A Fs. for Hugo Bekker on his sixty-fifth birthday. Hg. von William C. McDonald, Winder McConnell. Göppingen 1990 (GAG 526), S. 103–119, hier: S. 110 f. und S. 117 f.; Neudeck: Ehre und Demut, S. 188 f.; Haustein: Synchronie, S. 123; Monika Schulz: âne rede und âne reht. Zur Bedeutung der triuwe im ‚Herzog Ernst‘ (B). In: PBB 120/3 (1998), S. 395–434, hier: S. 396 f. und S. 408; Stock: Kombinationssinn, S. 170–174 und S. 181 f. mit Anm. 127, sowie Gabriela Antunes: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur. Trier 2013 (Literatur – Imagination – Realität 48), hier: S. 124–126. Hans-Joachim Behr: Herzog Ernst, S. 66, sieht „die Frage nach Schuld und Unschuld im Herzog Ernst“ allerdings als „bereits im Ansatz verfehlt“ an, da „keiner der beiden Kontrahenten eine echte Handlungsalternative“
DOI 10.1515/9783110517156-004
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Eine Besonderheit der Ernst-Geschichte liegt darin, dass hier die Außensicht von Fremden auf das uns Vertraute reflektiert wird. Das ist z. B. dann der Fall, wenn Ernst und seine Ritter in Arimaspi auf Zyklopen treffen und diese sich über die Existenz zweiäugiger Menschen verwundern: Die einfachen Bürger „beschaweten sie als ob sÿ merwunder weren“, während der Graf dagegen versucht, das Phänomen naturkundlich einzuhegen, insofern er die Ritter für „waldlüte oder Satiri“ hält. Dieser Erklärungsstrategie entspricht die Erzählerrede stilistisch durch den Anschluss einer Kontextglosse, wie sie sich häufig im wissenschaftlichen Zusammenhang findet: „Satiri das sind halb menschen vnd halb pöcke“ (alle HE F Cgm 572, fol. 50r.).5 In der ‚Volksbuch‘-Fassung bleibt die Grundkonstellation gewahrt. Auch die Einschätzung durch den Grafen bleibt ebenso wie die Glossierung konstant. Lediglich der Vergleich mit Meerwundern, der im HE F allerdings weniger die Ritter aus der Fremdsicht charakterisiert als das Maß der Verwunderung der Zyklopen zum Ausdruck bringt, wird durch die Mutmaßung der Bürger ersetzt, Ernst und die Seinen seien „wilde Leut“ (HE Vb Han 1, fol. [Gvij]r.). Diese Fehleinschätzung ist jedoch situationsadäquat und wird erst vom späteren Auftreten der gesättigten und neu eingekleideten Helden widerlegt. Meines Erachtens ist diese Stelle symptomatisch für das wiederkehrende Thema der Wissensdifferenz bei der Begegnung unterschiedlicher Figuren und damit bei der Gegenüberstellung haupttextueller Dimensionen der Sinnstiftung: von der Verleumdung durch Heinrich über Ernsts und Wetzels Aufenthalt in Agrippia, die ungewollte Rettung durch die Greifen und Ernsts Kriegslisten in Arimaspi bis hin zur Versöhnungsszene während der Weihnachtsmesse.6
habe. Dies schließt jedoch eine textgeschichtliche Perspektivierung vermittels der Dimensionen narrativer Sinnstiftung nicht aus. – Für ältere Forschungsliteratur vgl. die Angaben bei Bartsch: Herzog Ernst, S. I–CLXXII; Ehrismann: Literaturgeschichte, S. 39–58; Michael Curschmann: „Spielmannsepik“. Wege und Ergebnisse der Forschung von 1907–1965. Mit Ergänzungen und Nachträgen bis 1967 (Überlieferung und mündliche Kompositionsform). Stuttgart 1968, hier: S. 34–41, sowie Hans-Joachim Behr/Szklenar: Art. Herzog Ernst. 5 Vgl. S. 386 im Kap. 3.1.1.5; vgl. zur Parallelstelle im HE B Barbara Haupt: Ein Herzog in Fernost. Zu Herzog Ernst A/B. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. Bd. 7: Bild, Rede, Schrift – Kleriker, Adel, Stadt und ausserchristliche Kulturen in der Vormoderne – Wissenschaften und Literatur seit der Renaissance. Hg. von Jean-Marie Valentin. Bern 2008 (JbIG, A 83), S. 157–168, hier: S. 165 f.; Antunes: Schwelle des Menschlichen, S. 155 f., sowie zur verhältnismäßig positiven Darstellung der grippianischen ‚Einsterne‘ ebd., S. 152–156. 6 Dies korrespondiert mit der von Carsten Morsch: Lektüre als teilnehmende Beobachtung. Die Restitution der Ordnung durch Fremderfahrung im Herzog Ernst (B). In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. In Verb. mit Kathrin Stegbauer. Hg. von Wolfgang Harms u. a. Stuttgart 2003, S. 109–128, für die B-Fassung der Ernst-Geschichte entwickelten ‚Poetik der Sichtbarkeit‘ (vgl. S. 109 f.), nach welcher der Rezipient in Reichs- und Orientteil mit disparaten
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Betrachtet man den ‚Buchtyp‘ Prosaroman mit Zwischenüberschriften, Bilderzyklen und weiteren paratextuellen Dimensionalisierungen der alten Geschichte, steigert sich das Phänomen der Perspektivierung noch. Zunächst umreiße ich unten aber in aller Kürze die mittelalterlichen Ausformungen der ErnstGeschichte der lateinischen und deutschen Literatur. Daran schließt sich eine überlieferungsgeschichtliche Grundlegung der in den Kapiteln 3.1 bis 3.3 untersuchten Redaktionen der deutschen Herzog Ernst-Prosa (HE F und HE Vb) an. Trotz teilweise erheblicher Unsicherheiten hat die Forschung ein Stemma deutscher sowie lateinischer Lieder und Erzählungen erarbeitet, welche die Geschichte von Herzog Ernst zum Thema haben (s. Abb. 13).7 Ein Kurzepos, das sich auf die Handlung im Reich beschränke,8 wird unmittelbar nach dem zweiten Kreuzzug, also in der Mitte des zwölften Jahrhunderts, von einem Geistlichen mit orientalischen Reiseabenteuern zur Fassung eines heute verlorenen ‚Urernstes‘ verbunden.9
Fokalisierungen konfrontiert und zu einer eigenen Entscheidung gezwungen werde (vgl. S. 124 f. und S. 128). 7 Bei historischer Überlieferung ist immer mit einer gewissen Kontingenz des heute Überlieferten zu rechnen (vgl. Stingelin: Dämmerpunkte). So muss man auch für Herzog Ernst mit verlorenen Fassungen und Zwischenstufen rechnen (vgl. Sowinski: Nachwort, S. 421; für mögliche Verluste allein innerhalb der Überlieferung von HE G vgl. K.C. King: Einleitung. In: Das Lied von Herzog Ernst. Hg. nach den Drucken des 15. und 16. Jh.s von K.C. King. Berlin 1959 (TMA 11), S. 7–31, hier: S. 7 f. und S. 13–26). Darüber hinaus ist jedoch das stemmatologische Verhältnis des Erhaltenen, wie Peter Christian Jacobsen: Einleitung. In: Gesta Ernesti ducis. Die Erfurter Prosa-Fassung der Sage von den Kämpfen und Abenteuern des Herzogs Ernst. Hg. von Peter Christian Jacobsen, Peter Orth. Erlangen 1997 (Erlanger Forschungen, A 82), S. 1–83, gezeigt hat, prekär (vgl. S. 2–6 zur Geschichte der HE-Stemmatologie und S. 6–46 zu seinen Erwägungen ausgehend von HE Erf). Einen erneuerten Abriss der Forschungsdiskussion bietet Jasmin Schahram Rühl: Welfisch? Staufisch? Babenbergisch? Zur Datierung, Lokalisierung und Interpretation der mittelalterlichen Herzog-Ernst-Fassungen seit König Konrad III. auf der Grundlage der Wortgeschichte von „Burg“ und „Stadt“. Wien 2002, hier. S. 156–191, mit dem Entwurf eines Stemmas, das die eigentlich unvereinbaren Positionen miteinander zu verbinden sucht (S. 190 f.). 8 Hans Neumann: Die deutsche Kernfabel des ‚Herzog-Ernst-Epos‘. In: Spielmannsepik. Hg. von Walter Johannes Schröder. Darmstadt [1950] 1977 (Wege der Forschung 385), S. 259–288, hier: S. 275, lehnt die Existenz eines solchen ‚Ernstliedes‘ allerdings entschieden ab. 9 Vgl. Heselhaus: Märe und History, S. 235–238; Hans Neumann: Kernfabel; Wehrli: Herzog Ernst, S. 446–450; Sowinski: Nachwort, S. 417–419 (vgl. dazu die Korrektur von Claude Lecouteux: Les monstres dans la litterature allemande du moyen age. Contribution à l'étude du merveilleux médiéval. 3 Bde. Bd. 1: Etude, Bd. 2: Dictionnaire, Bd. 3: Documents. Göppingen 1982 (GAG 330, 1–3), hier: Bd. 1, S. 267 f.); Flood: The Survival, Bd. 1, S. 138–141, sowie Bumke: Retextualisierungen, S. 38. – Die genaue Datierung eines terminus ante quem einer ersten Fassung in deutscher Sprache von Friedrich Neumann: Das Herzog-Ernst-Lied und das Haus Andechs. In: Spielmannsepik. Hg. von Walter Johannes Schröder. Darmstadt [1964] 1977 (Wege der
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Aus dem ‚Urernst‘ entstehe vermutlich über Zwischenstufen wohl nach 1176 die nur fragmentarisch überlieferte Fassung HE A zwischen „the outgoing era of religious-didactic literature and the approaching courtly age“.10 Auf sie werden alle erhaltenen Dichtungen von Herzog Ernst zurückgeführt, wobei die fragmentarische Überlieferungslage Unsicherheiten birgt. In der weiteren Fassungsgeschichte werden drei Stemmazweige unterschieden, die teils unmittelbar, teils über erschlossene Zwischenstufen zu den Fassungen des dreizehnten Jahrhunderts führen. Zeitlich nahe zusammen stehen HE A, die lateinische Prosa HE Erf, die noch in die erste Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts datiert wird,11 sowie der in lateinischen Hexametern verfasste HE E des Odo von Magdeburg.12
Forschung 385), S. 413–416, wird direkt von Hans-Friedrich Rosenfeld: Das Herzog-Ernst-Lied und das Haus Andechs. In: Spielmannsepik. Hg. von Walter Johannes Schröder. Darmstadt [1965] 1977 (Wege der Forschung 385), S. 417–435, verworfen. – Zuletzt hat sich Nine Miedema: Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst. In: Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven. Hg. von Franz Hundsnurscher, Nine Miedema, Monika Unzeitig. Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1), S. 165–191, hier: S. 165 mit Anm. 2, gegen Spekulationen über eine (lateinische) Fassung vor HE A ausgesprochen. 10 Gentry: Herzog Ernst, S. 104. – Rühl: Welfisch? Staufisch?, S. 242–247, schlägt eine Vordatierung auf 1135 bis 1138 und Arnold von Selenhofen als Autor (S. 248–256) vor. 11 Vgl. die Edition Gesta Ernesti ducis. Die Erfurter Prosa-Fassung der Sage v. den Kämpfen und Abenteuern des Herzogs Ernst. Hg. von Peter Christian Jacobsen und Peter Orth. Erlangen 1997 (Erlanger Forschungen A,82). – Miedema: Redeszenen, S. 174, plädiert für eine Entstehung um 1200 oder sogar etwas früher. 12 Der HE E wurde am Anfang des dreizehnten Jahrhunderts für Erzbischof Albrecht II. von Kefernburg verfasst; Herfried Vögel: Der Ernestus des Odo von Magdeburg. Annäherungen an einen fremden Text. In: Prolegomena zur Kultur- und Literaturgeschichte des Magdeburger Raumes. Hg. von Gunter Schandera, Michael Schilling. Magdeburg 1999 (Forschungen zur Kulturund Literaturgeschichte Sachsen-Anhalts 1), S. 33–60, hier: S. 44, schlägt mit guten Gründen eine Abfassung zum Osterfest 1207 vor. – Thomas A.-P. Klein: Einleitung. In: Odo von Magdeburg: Ernestus. Hg. u. komm. von Thomas A.-P. Klein. Hildesheim 2000 (Spolia Berolinensia 18), S. IX– LIX, hier: S. XLIII–XLVI, geht in der Einleitung seiner Edition mit Paul Lehmann und Thomas Ehlen von einer gemeinsamen Textvorlage für alle drei überlieferten lateinischen Fassungen (HE C, Erf und E) aus. Vgl. zu Odos Werk auch Hans-Joachim Behr: Politische Realität und literarische Selbstdarstellung. Studien zur Rezeption volkssprachlicher Texte in der lateinischen Epik des Hochmittelalters. Frankfurt a. M. u. a. 1978 (EuHS-1 234). Einen Vergleich der GrippiaEpisode in HE B, HE C und HE E nimmt Sarah Bowden: A false down: The Grippia Episode in three Versions of Herzog Ernst. In: Oxford German Studies 41/1 (2012), S. 15–31, vor.
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Abb. 13: Stemma der Fassungen der Ernst-Geschichte.13
Demselben Zweig wie HE E ist mit dem HE B aus dem zweiten Jahrzehnt des dreizehnten Jahrhunderts diejenige Fassung zugeordnet, die in der Forschung zumeist als Synonym für den Herzog Ernst schlechthin gilt und auf die sich das Gros der Untersuchungen mehr oder weniger explizit beschränkt. Ob man im Vergleich mit der ältesten erhaltenen Fassung HE A von einer höfisierenden Bearbeitung auszugehen hat, ist dabei noch immer umstritten.14 In der Einleitung zu ihrer Edition des ‚A-/B-Komplexes‘15 kritisiert Cornelia Weber, dass unsere Vorstellung des HE B von Karl Bartschs kritisch – und d. h. in diesem Fall höfisiert – hergestellter Textgrundlage geprägt sei.16 Die eine der beiden einzigen
13 Ein Stemma inklusive erschlossener Redaktionsstufen bietet Flood: Einleitung, S. 12. 14 Hans-Joachim Behr: Einleitung, S. 13, hält diese Einschätzung für übertrieben; Miedema: Redeszenen, S. 172 f. mit der in Anm. 30 angeführten Literatur, bringt zuletzt wieder Argumente für eine Tendenz der Verhöfischung vor. 15 Joachim Bumke: Zur Überlieferungsgeschichte des ‚Herzog Ernst‘ und zu einer neuen Ausgabe des ‚Herzog Ernst‘ A“. In: ZfdPh 119 (2000), S. 410–415, hier: S. 413, schlägt vor, statt von HE A und HE B nur noch „von einem Textkomplex AB“ zu sprechen, da sich „unter der Sigle B verschiedene, im Textbestand und in den Formulierungen weit von einander abweichende Bearbeitungen des alten A-Textes“ verbergen (vgl. dazu auch Neudeck: Kaiser Otto, S. 105 f.). Für einen Vergleich der HE A-Fragmente mit dem HE B vgl. Esther Ringhandt: Das Herzog Ernst‘ [sic] Epos. Vergleich der deutschen Fassungen A, B, D, F. Diss. masch. Berlin 1955, hier: S. 21–64. 16 Vgl. Cornelia Weber: Einleitung. In: Untersuchung und überlieferungskritische Edition des Herzog Ernst B mit einem Abdruck der Fragmente von Fassung A. Hg. von Cornelia Weber. Göppingen 1994 (GAG 611), S. 1–23, hier: S. 8. – Antje Mißfeldt: Die Abschnittsgliederung und ihre Funktion in mittelhochdeutscher Epik. Erzähltechnische Untersuchungen zum „König Rother“, Vorauer und Straßburger „Alexander“, „Herzog Ernst“ (B) und zu Wolframs „Willehalm“ unter Einbeziehung altfranzösischer Laissentechnik. Göppingen 1978 (GAG 236), die ausgehend von der
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vollständig erhaltenen Handschriften des HE B ist aber auf das Jahr 1441 datiert, die andere wird mit der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts sogar noch etwas später – und damit innerhalb der Zeit der HE F-Überlieferung – angesetzt.17 Die ursprüngliche Textgestalt und ihre Stillage sind für uns dagegen nicht mehr zu fassen. Jens Haustein hat diese Überlieferungslage nicht nur zum Anlass genommen, die auf stilistischen Erwägungen fußende Datierung der einzelnen HE-Fassungen überhaupt in Frage zu stellen,18 sondern er hat grundsätzlicher vorgeschlagen, die herkömmliche diachrone Literaturgeschichte um synchrone Längsschnitte zu ergänzen. So liege es nahe, den HE B nicht nur vor dem Hintergrund der Literatur um 1200, sondern auch im Vergleich mit den im fünfzehnten Jahrhundert entstehenden, produzierten und gelesenen Werken zu besprechen.19 Die wenigsten Interpretationen des HE B lassen indes ein Bewusstsein für den prekären Status der zugrunde gelegten Textgestalt oder die angesprochene Überlieferungssituation erkennen. Entstehungsgeschichtlich gehen der ‚Bänkelsängerlied‘ oder ‚Liedfassung‘ genannte HE G und das Klagenfurter Fragment (HE Kl) direkt auf den HE B zurück. HE Kl ist dabei vor und HE G aus der Zeit der beiden Haupthandschriften des HE B überliefert.20 Dem hier interessierenden Zweig sind der mittelhochdeut-
Initialiengestaltung Abschnittsanfänge, -längen und -schlüsse für HE A und B untersucht (S. 166–213), merkt an, dass auch die typographische Gliederung des Bartsch-Textes nicht mit dem handschriftlichen Befund übereinstimme (vgl. S. 166 f.). 17 Deshalb und aufgrund seiner Prominenz in der germanistischen Forschung nenne ich im Folgenden punktuell immer wieder Abweichungen an Parallelstellen von HE B und HE F/Vb. 18 Datierungen, die entweder auf stilistischen Erwägungen beruhen oder darauf, dass Texte als Stellungnahmen zu konkreten politisch-historischen Ereignissen angesehen werden, müssen angesichts eines Überlieferungsbefundes unsicher werden, der einerseits einen Jahrhunderte währenden Geschmackspluralismus und andererseits die Anschlussfähigkeit im Angesicht wechselnder politischer Konstellationen dokumentiert (vgl. Haustein: Synchronie, vor allem S. 127 f.; dazu auch: Neudeck: Kaiser Otto, S. 104). 19 Vgl. Haustein: Synchronie, S. 129. Sein Ansatz lässt sich gut mit meinem Programm ‚überlieferungsgerechter Interpretation‘ verbinden. – Vgl. dazu auch Jochum: Textgestalt und Buchgestalt, S. 20 f. 20 Der älteste Zeuge des HE G ist das Heldenbuch von 1472; vgl. die Edition Das Dresdener Heldenbuch und die Bruchstücke des Berlin-Wolfenbütteler Heldenbuchs. Edition und Digitalfaksimile. Hg. von Walter Kofler. Stuttgart 2006. Für die jüngere Drucktradition vgl. die Ausgabe Das Lied von Herzog Ernst. Nach den Drucken des 15. und 16. Jh.s. Hg. von K.C. King. Berlin (TMA 11). – Hermann Menhardt: Ein neuer mitteldeutscher Herzog Ernst aus Klagenfurt (Kl). In: ZfdA 65 (1928), S. 201–212, hier: S. 201, datiert das Klagenfurter Fragment auf das Ende des vierzehnten Jahrhunderts; zu HE Kl vgl. außerdem den Eintrag im Verfasserlexikon von Hans-Joachim Behr/ Szklenar: Art. Herzog Ernst, S. 1181 f.
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sche HE D21 und die lateinische (Reim-)Prosa HE C aus der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts zugeordnet.22 Nach Thomas Ehlen geht der HE C – wie alle lateinischen Fassungen – auf eine verlorene Prosa zurück, welche die ErnstGeschichte „an den monastischen Sprachgebrauch“ angleiche. Jener gehe dann aber „auf dem einmal eingeschlagenen Weg weiter“: „[D]urch den Rückgriff auf Zitate aus Bibel, Liturgie und theologischer Literatur“ „‚klerikalisiert‘“ der HE C nach Ehlen seine Vorlage.23 Paul Gerhard Schmidt sieht den HE C daher als „hybride Mischung aus Roman und Hagiographie“.24 Nine Miedema widerspricht dieser Einschätzung zuletzt jedoch und sieht die prominente Verwendung von Zitaten im HE C weniger der klösterlichen Praxis geschuldet als auf den Lateinunterricht ausgerichtet an.25 Der Verfasser lege ein „intellektuelles Spiel“ vor, bei dem es darauf ankomme, so zu zitieren, dass die intertextuell aufgerufenen Kontexte zur Sinnstiftung der Reimprosa beitragen: Allein wer diese Verweise dechiffriere und nach dem Genotext korrekt kontextualisiere, deute nach Miedema die neue Fassung der alten Geschichte richtig.
21 Die Zuschreibung an Ulrich von Etzenbach (so Hans-Friedrich Rosenfeld: Einleitung. In: Herzog Ernst D [wahrscheinlich von Ulrich von Etzenbach]. Hg. von Hans-Friedrich Rosenfeld. Tübingen 1991 [AdtTb 104], S. IX–XXVIII, hier: S. XXIV–XXVI, in seiner Edition) wird stark bezweifelt (vgl. die Rez. von Hans-Joachim Behr, in: PBB 115/1 [1993], S. 172–175, hier: S. 173 f., und John L. Flood, in: Medium Aevum 63/1 [1994], S. 352–353; vgl. auch die bei Rühl: Welfisch? Staufisch?, S. 352 f., genannte Literatur). Eine ausführliche Besprechung der Themenfelder ‚Welt-‘ und ‚Menschensicht‘ sowie ‚Lebensformen‘ im HE D bietet Ringhandt: HE-Fassungen, S. 173–282. 22 Paul Gerhard Schmidt: Germanismen im ‚Herzog Ernst C‘?. In: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100–1500. Regensburger Coll. 1988. Hg. von Nikolaus Henkel, Nigel F. Palmer. Tübingen 1992, S. 158–163, hier: S. 162, schlägt eine Spätdatierung ins vierzehnte Jahrhundert vor. 23 Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 130; vgl. auch Bartsch: Herzog Ernst, S. LIV; Heselhaus: Märe und History, S. 240, sowie Meves: Studien zu HE, S. 186. – Die lateinische Vorlage HE C wird im neunzehnten Jahrhundert von Moriz Haupt: Herzog Ernst. In: ZfdA 7 (1849), S. 193–303, hier: S. 290, als „ein rhetorisches prachtstück gelehrter geschmacklosigkeit“ beschrieben und auf Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 29, wirken die Änderungen des HE C „wie ein Predigertalar über eine[r] Ritterrüstung“. Im Hinblick auf die schmückenden und erklärenden Zusätze bei der Übersetzung zur Fassung HE F spricht Sowinski: Textlinguistische Aspekte, S. 338, davon, dass „der rhetorische Schwulst des mlat. Textes [...] auf diese Weise noch gespreizter und umständlicher“ erscheine (ähnlich auch Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 40). Doch sollten stilistische Vorbehalte nicht dazu führen, dass ein nachweislich wirkungsmächtiger Roman aus dem Gesichtsfeld der germanistischen Interpretation verschwindet. 24 Paul Gerhard Schmidt: Germanismen?, S. 163. 25 Vgl. Miedema: Redeszenen, S. 181–183, die wörtlichen Zitate S. 182. – Während der HE C auf diese Weise überbietend an die Ilias herangeschrieben ist. – Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 160, spricht von einer „christliche[n] Ilias“ –, tilgt der HE F gerade diese Verweise wieder (vgl. Goerlitz: Heidenkampf, S. 93 f. und S. 99).
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So oder so muss sich eine Deutung der Neukonzeption des HE C mit der prominenten Rolle von Ernsts Mutter Adelheid befassen. Nicht nur die angehängten Kapitel über ihre Wundertätigkeit (S. 390–393 in der Ehlen-Edition), sondern auch Verschiebungen der Motivierung in Reichsteil (S. 240) und Orientfahrt (z. B. in Grippia, S. 276–301, sowie beim Heidenkampf gegen den König von Babylon, S. 343–346) sind dabei zu berücksichtigen.26 Adelheid verfügt im HE C darüber hinaus über eine transzendentale Begabung, die ihr vermittels göttlicher Audition den Namen von Ernsts Verräter offenbart, was sie zum instrumentum Dei und Gott damit gleichzeitig „zum Auslöser“ (S. 149) von Heinrichs Ermordung, Ottos Krieg gegen Ernst und dessen Kreuznahme macht (vgl. S. 149 f.). Die über die AdelheidFigur erzielte „tropologisch-hagiographische[ ]“ Sinnstiftung (S. 100) sei der Ernst-Geschichte aber nicht gewaltsam oktroyiert, es handelt sich mit Otto Neudeck gesprochen lediglich um eine Umbesetzung, die letztlich von der „(geistlich-) didaktische[n] Komponente“ im HE B ausgeht.27 Obwohl die Umbesetzung bereits von Karl Bartsch erkannt wird,28 bemerkt Ehlen zurecht, dass „die junge Germanistik“ nicht die notwendigen Schlüsse gezogen habe, insofern die neue Intention auch eine Anpassung der Form erfordere, und die Fassung aufgrund von stilistischen Vorbehalten kaum beachtet wurde (vgl. S. 118). Ehlen selbst bespricht sie als Produkt der geistlichen Bildungstradition und der spezifischen monastischen Kommunikationsbedingungen (S. 100–112) mit einer allegorisch-tropologischen Dimension (vgl. S. 139).29 Durch ein Epimythion werde die Erzählung von Herzog Ernst selbst zu einer ‚Wundererzählung‘, wenn Adelheids angehängte Taten dort als „alia miracula“, als die anderen Wunder, bezeichnet werden (S. 145, vgl. auch S. 159 f. und S. 389 des edierten Textes). Stehen Deutungen der älteren Fassungen vor der Herausforderung, Reichshandlung und Orientabenteuer gleichermaßen zu berücksichtigen, so kommt es bei einer Neuinterpretation von HE C, aber auch von HE F und HE Vb, auf die „Verbindung von HE-Geschichte und Adelheid-Legendarium“ an.30
26 Vgl. dazu Goerlitz: Heidenkampf, S. 85–95; Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 151; auf das zuletzt genannte Werk beziehen sich die folgenden Nachweisklammern im Fließtext. 27 Neudeck: Ehre und Demut, S. 202/Anm. 70. 28 Vgl. Bartsch: Herzog Ernst, S. L. – Miedema: Redeszenen, S. 178, weist zuletzt die aufgewertete Rolle Adelheids im HE C auch anhand der ‚Redeszenen‘ nach. 29 Der HE C möchte mit Adelheid eine verehrte, aber allgemein wenig bekannte Heilige „für die eigenen Zwecke in ihrer Heiligkeit dar[ ]stellen und diese Darstellung paränetisch aus[ ]gestalten“ (Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 167), worin auch immer diese Zwecke im Einzelnen bestehen. Dafür greife der HE C auf Odilos von Cluny Epitaphium zurück. Vgl. zur Einordnung des ‚Herzog Ernst‘ C in die Adelheidhagiographie Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 161–168. 30 Hans-Joachim Behr/Szklenar: Art. Herzog Ernst, S. 1186.
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Zur frühneuhochdeutschen Übertragung (HE F): Unter Übernahme der Erzählungen von Adelheids Wundertätigkeit geht der frühneuhochdeutsche Prosaroman von Herzog Ernst auf den HE C zurück. Direkt folgt ihm der sowohl handschriftlich als auch gedruckt überlieferte HE F, mittelbar schließen sich die gekürzten Redaktionen des ‚Volksbuchs‘ aus dem sechzehnten Jahrhundert an (HE Vb). Die Langfassung (HE F) wird vermutlich am Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts von einem gelehrten Geistlichen,31 der aus dem Elsass nach Schwaben übergesiedelt sein könnte, in Augsburg verfasst.32 Sie gilt noch immer als „eine extrem genaue Wort-für-Wort-Übersetzung“ des HE C,33 obwohl bereits Flood, zuletzt aber vor allem Goerlitz auf zahlreiche Abweichungen aufmerksam machen.34 Im Detail führt Goerlitz stilistische und erläuternde Änderungen sowie abweichende Motivierungen an; aber auch Bibelzitate werden nun markiert, komplexe theologische Aussagen vereinfacht und die allegorisch-tropologische Dimension von HE C wird durch den Wegfall mehrerer intertextueller Verweise abgeschwächt.35
31 Bereits Bartsch: Herzog Ernst, S. LXXVf.; Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 35, sowie Ehrismann: Literaturgeschichte, S. 55, folgern dies aus seiner Kenntnis von Bibel und kirchlicher Literatur. – Die These einer ‚Verbürgerlichung‘ der Vorlage (vgl. Ringhandt: HE-Fassungen, S. 283–285, S. 308–313 und S. 339–342) ist damit auch hier zurückzuweisen. 32 Vgl. Meves: Studien zu HE, S. 202, mit Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 35. 33 Hans-Joachim Behr: Politische Realität, S. 20 f. So schon Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 34, aber auch noch Bumke: Retextualisierungen, S. 7, und Bowden: A false down, S. 15/Anm. 1. Der HE F ist ediert bei Bartsch: Herzog Ernst, S. 227–305, dort finden sich Vergleiche mit der lateinischen Vorlage (vgl. S. 306–308). 34 John L. Flood: Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Textgestalt. Das Beispiel ‚Herzog Ernst‘. In: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Coll. 1983. Hg. von Christoph Gerhardt, Nigel F. Palmer, Burghart Wachinger. Tübingen 1985 (Publications of the Institute of Germanic Studies 34), S. 136–146, hier: S. 143 f., untersucht die historischen Verweise des Romans und stellt fest, dass der HE F mit dem heiligen Ulrich oder auch mit der Schlacht auf dem Lechfeld über Augsburger Lokalkolorit verfüge. – Walter Schwenn: Stilistische Untersuchungen zum Volksbuch vom Herzog Ernst. Diss. masch. Greifswald 1924, hier: S. 46–91, erkennt zwar eine deutlich ausgeprägte Übereinstimmung mit der lateinischen Vorlage, sein eigentlicher Vergleich erfasst allerdings weder Streichungen noch Zusätze des HE F, sondern allein stilistische Varianz. Für den Beginn des Romans geht er jedoch von der Benutzung von Nebenquellen aus (vgl. ebd., S. 1). – Zu Unterschieden von HE C und HE F in Bezug auf das Wundervolk der Skiapoden vgl. Gerhardt: Skiapoden, S. 63–65. 35 Vgl. Goerlitz: Heidenkampf, S. 96–99. – So werden die wörtlichen Anklänge an den Hieronymus-Brief zum rechten Lebenswandel, auf die Ehlens Interpretation des HE C vor allem abhebt (vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 131–139), getilgt. Schwenn: Stilistische Untersuchungen, S. 1–46, vergleicht den Stil des HE F mit der lateinischen Vorlage und kommt zu dem Fazit, dass „[d]er lateinische Stil [...] oft viel gewandterund [sic] beweglicher, freier und lebendiger“ sei als der „in einer Formelhaftigkeit untergegangene[ ] deutsche[ ] Stil“ (ebd., S. 92).
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Der HE F ist in drei Handschriften und vier Wiegendrucken mit dem Kulminationspunkt Augsburg überliefert (s. Abb. 14).36 Älteste Redaktion ist der Münchener Codex Cgm 572.37 Karin Schneider datiert die Papierhandschrift ins dritte Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts; sie ist in schwäbischer Mundart verfasst und enthält im Vorderdeckel das Exlibris des Benediktinerklosters St. Ulrich und Afra.38 Die Verbindung des Klosters und der Ernst-Geschichte läuft über das historische Vorbild von Ernsts Mutter, Kaiserin Adelheid, und den Patron des Augsburger Bistums, Bischof Ulrich. Adelheid ist nicht nur mit dem heiligen Ulrich verwandt, sondern stiftet dem Kloster anlässlich seiner Kanonisation 993 eine wertvolle Tafel.39 Darüber hinaus erkenne sie, wie die C- und F-Fassungen berichten, in einer Audition den Einsturz des Augsburger Domes 994.40 Dass sie sich auch für dessen Wiederaufbau verwendet, führt zu einer „lokale[n] hagiographische[n] Tradition“, wobei sie zunächst nur geringe Verehrung in Augsburg erfährt.41 Allerdings hält es Thomas Ehlen für möglich, dass bereits die lateinische HE C-Tradition des dreizehnten Jahrhunderts aus dem Skriptorium in St. Ulrich und Afra stamme, wobei ein Ursprung im elsässischen Selz wahrscheinlicher sei.42
36 Vgl. Bartsch: Herzog Ernst, S. LXXII–LXXVIII; Ward: Add. 22622, S. 19; Priebsch: Add. 22622; Karin Schneider: Cgm 224; Karin Schneider: Cgm 572; Hans-Joachim Behr: Einleitung, S. 27–29; Flood: The Survival, Bd. 1, S. 143–147; Hans-Joachim Behr/Szklenar: Art. Herzog Ernst, S. 1182– 1184, sowie Hans-Joachim Behr: Herzog Ernst, S. 63. 37 Auch beim Cgm 572 handelt es sich nach Bartsch nicht um die Originalhandschrift des HE F. Aufgrund ihrer Glossierung hält er die Handschrift für eine Abschrift, auf welche dann die Drucktradition zurückzuführen sei (vgl. Bartsch: Herzog Ernst, S. LXXVI). – Allerdings ist zu beachten, dass Bartsch die anderen beiden HE F-Handschriften nicht bekannt sind. Nach Meves: Studien zu HE, S. 202, gehen die Ernst-Handschriften in Cgm 224 und Add. 22622 unabhängig voneinander auf Cgm 572 (oder eine verlorene Zwischenstufe) zurück. Vgl. zum Cgm 572 auch Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 178–183. 38 Vgl. Karin Schneider: Cgm 572, S. 162; die Handschriftenbeschreibung wird aktualisiert von Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 178. 39 Vgl. Friedrich Zoepfl: Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Mittelalter. Augsburg, München 1955, hier: S. 74; Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 164; vgl. zu diesem darüber hinaus Manfred Weitlauff: Bischof Ulrich von Augsburg (923–973). Leben und Wirken eines Reichsbischofs der ottonischen Zeit. In: Bischof Ulrich von Augsburg 890–973. Seine Zeit – sein Leben – seine Verehrung. Fs. aus Anlaß des tausendjährigen Jubiläums seiner Kanonisation im Jahre 993. Hg. von Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1993 (Jb. des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 26/ 27), S. 69–142. 40 Vgl. zum Einsturz Zoepfl: Bistum Augsburg, S. 80, und zur Audition S. 435f. und S. 438f. im Kap. 3.1.1.10. 41 Vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 168 f., das Zitat S. 169. 42 Vgl. ebd., S. 165–168.
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Abb. 14: Überlieferungszeugen des HE F. Sigle
Incipit Flood 1980
HE F Cgm 572
[Bayern,] 1470
London, BL, Add. 22622, fol. 81r.–125r.
[Augsburg: A. Sorg 1475/76]
Bamberg, SB, Inc. typ. E.IV.20
[Straßburg: Heinrich Knoblochtzer um 1477]
München, BSB, 2° Inc.s.a. 667b
Hienach volget ein hübsche liebliche Historie eines edlen fürsten Herczog Ernst von Bairen vnd von oͤ sterreych c
HE F Sorg 3
München, BSB, Cgm 224, fol. 146r.–227v.
Hie nach volget ein hüpsche liebliche hystorie eins edlen fürsten hertzog Ernst von beyern vnd von österich b
HE F Sorg 2
[Bayern, 2. Hälfte 15. Jh.]
Hienach volgt ain hüpsche liepliche historie ains edeln fürsten herczog Ernst von bairen vnd von oͤ sterich a
HE F Knoblochtzer44
München, BSB, Cgm 572, fol. 25r.–71v.
Hie nach volget ain hübsche liepliche historÿ ains edlen fürsten Hertzog Ernsts von baÿrn vnd von Österreich (zit. nach Ward 1893, Add. 22622, 20) —
HE F Sorg 1
[Schwaben, 3. Viertel 15. Jh.]
Hie hebt sich an Herczog Ernnst von ÿsterreich —
HE F Add. 22622
Referenzexemplar
Hie nach uolget Aine hüpsche liepliche historÿ · eins Edeln Fürsten Herczog Ernsts von Bairn vnd uon Österrich43 —
HE F Cgm 224
Herkunft
[Augsburg: Anton Sorg 1477/ 80]
München, BSB, 2° Inc.s.a. 667, fol. 2r.–67v.
Hienach volget ein húbsche liebliche historie eines edlen fúrsten herczog Ernst von Bairen vnd von oͤ sterreich d
[Augsburg: Anton Sorg 1479/ 86]
München, BSB, 2° Inc. s.a. 666, fol. 2r.–45v.
43 Der Titel Hystoria ducis bauarie Ernesti duplici ydiomate (fol. 1r.) bezieht sich auf beide in diesem Codex nacheinander geschriebenen Fassungen HE C und HE F. Auf ihn folgen (pseudo-) historiographische Angaben, welche die Ernst-Historie korrigieren möchten, vom heutigen Stand betrachtet jedoch weiter klitternd verunklaren. 44 Das hier benutzte Münchener Exemplar ist weder gedruckt noch von späterer Hand foliiert, lediglich auf der ersten Textseite befindet sich rechts unten der handschriftliche Eintrag „a2“. Ich führe daher eine eigene Blattzählung ein beginnend mit dieser Seite als HE F Knoblochtzer, fol. [1]r.
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Zur Entstehungszeit des Codex Cgm 572 steht St. Ulrich und Afra unter dem konkurrierenden Einfluss der Melker Reformbewegung einerseits und des städtischen Humanismus andererseits. 1458 muss Abt Johannes von Hohenstein auf Betreiben Bischofs Peter von Schaumberg resignieren und mit Melchior von Stamheim wird „eine[r] der bedeutendsten Repräsentanten der Melker Reform in Süddeutschland“ als neuer Abt (1458–1474) eingesetzt.45 Die monastische Erneuerung wirkt sich auf das Zusammenleben der Mönche und die klösterliche Liturgie, aber auch auf das Verhältnis zu den Bürgern der Stadt aus.46 Die intensive Benutzung der klösterlichen Bibliothek durch Laien und der rege Umgang, den einige Mönche – darunter vor allem Sigismund Meisterlin – mit dem humanistischen Zirkel um Sigismund Gossembrot pflegen,47 ist vor diesem Hintergrund kritisch zu sehen. Jedoch verbindet die beiden Einflüsse der Stellenwert, den Melker Reform und Humanismus der Besinnung auf Traditionen und auf die historische Überlieferung entgegenbringen. Innerhalb wie außerhalb des Klosters wird die lokale Geschichte untersucht.48 Und auch der HE F thematisiert mit Adelheids Wundertaten und dem Wirken des heiligen Ulrich nicht nur monastisch Relevantes, sondern damit gleichzeitig Elemente, die „zum festen Bestand
45 Wolfgang Augustyn, Peter Geffcken: Die Äbte von St. Ulrich und Afra im Mittelalter. In: Benediktinerabtei St. Ulrich und Afra in Augsburg (1012–2012). Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer ehemaligen Reichsabtei. Fs. zum tausendjährigen Jubiläum. Bd. 1: Textband. In Zusammenarbeit mit Walter Ansbacher und Thomas Groll. Hg. von Manfred Weitlauff. Augsburg 2011, S. 344–403, hier: S. 401; vgl. dazu in demselben Sammelband auch Klaus Unterburger: Zwischen freier Reichsstadt und monastischer Reform. Leben und Gelehrsamkeit in St. Ulrich und Afra im 15. Jahrhundert, S. 147–165, hier: S. 152 und S. 156, sowie Wolfgang Augustyn: Historisches Interesse und Chronistik in St. Ulrich und Afra in Augsburg im Umfeld von monastischer Reform und städtischem Humanismus. Wilhelm Wittwer und sein ‚Catalogus abbatum‘. In: Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. Hg. von Gernot Michael Müller. Berlin, New York 2010 (Frühe Neuzeit 144), S. 329–387, hier: S. 364 f. – Allerdings sei auch er dem Humanismus gegenüber aufgeschlossen gewesen (vgl. Rolf Schmidt: Die Klosterdruckerei von St. Ulrich und Afra in Augsburg [1472 bis kurz nach 1474]. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Im Auftrag der Stadt Augsburg. Hg. von Helmut Gier, Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 141–152, hier: S. 143). 46 Vgl. dazu Augustyn: Historisches Interesse und Chronistik, S. 357–371; Unterburger: Leben und Gelehrsamkeit, S. 153–161. 47 Vgl. Augustyn: Historisches Interesse und Chronistik, S. 332–334, S. 344 f. und S. 365 f. 48 Ein Ereignis, das die Beschäftigung mit Adelheid und damit mittelbar der Ernst-Geschichte zwar nicht auslöst, aber aktualisiert und intensiviert, ist der Einsturz der Klosterkirche 1474 (vgl. Augustyn: Historisches Interesse und Chronistik, S. 352, sowie Unterburger: Leben und Gelehrsamkeit, S. 159 f.).
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der Augsburger Stadtgeschichte“ zählen. John L. Flood sieht ihn daher in der Funktion eines „Geschichtsbuchs“.49 Die Besonderheit dieses Codexes besteht nun darin, dass unter dem gemeinsamen Titel Hystoria ducis bauarie Ernesti duplici ydiomate sowohl eine Redaktion des lateinischen HE C als auch eine der frühneuhochdeutschen Prosa HE F nebst einer historiographischen Einleitung enthalten sind. Thomas Ehlen spricht daher von einer „Sammelhandschrift zum ‚Herzog Ernst‘“, wobei „[w]ahrscheinlich [...] eigentlich Adelheid im Zentrum des Interesses“ stehe.50 Indem die Vorrede versucht, die historischen Angaben zu Adelheid, Ernst und Otto zu korrigieren, könnte der Codex aber nicht nur als Ausdruck von Adelheid-Verehrung, sondern darüber hinaus als Zeugnis einer „Erneuerung durch Erinnerung“ betrachtet werden.51 In diesem Rückgriff auf Geschichte kann man dann je nach Referenzpunkt eher eine Folge des ‚Klosterhumanismus‘ oder des ‚monastischen Historismus‘ – als Ausdruck eines Bedürfnisses zur Selbstvergewisserung im Zusammenhang mit der Melker Reform – sehen.52 Allerdings ist dabei darauf hinzuweisen, dass sich mit Meisterlin gerade der humanistischste der Mönche abfällig zur Beliebtheit der Ernst-Geschichte gegenüber Gossembrot äußert.53 So gesehen ist die Beschäftigung mit einem abenteuerlichen Roman sowohl im Hinblick auf die Reformbestrebungen als auch auf humanistische Interessen verdächtig. Es bleibt insofern zu prüfen, inwieweit die lateinische Reimprosa, aber vor allem der frühneuhochdeutsche Prosaroman in Verbindung mit der historiographischen Warnung und Korrektur dennoch eine hagiographische Lektüre ermöglichen, und ob sich wenigstens in Ansätzen eine Entsprechung zur erneuerten Frömmigkeit der Augsburger Benediktiner nachweisen lässt.54 Ausgangspunkt dafür könnte die Dissertation von Esther Ringhandt sein, die HE A/B, HE D und HE F inhaltlich miteinander vergleicht.55 Nach ihr betone der
49 Das erste Zitat Flood: Geschichtsbewußtsein, S. 144; das zweite ebd., S. 146. 50 Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 179. – Der Wortlaut der lateinischen Vorrede ebd., S. 217 f. Vgl. zu diesem Paratext auch S. 513 im Kap. 3.3.2.1. 51 Augustyn: Historisches Interesse und Chronistik, S. 343 f. (mit Klaus Schreiner). 52 Vgl. ebd., S. 330 (mit Klaus Graf) und S. 387. Zum ‚Klosterhumanismus‘ in St. Ulrich und Afra vgl. ebd., S. 329–339, sowie Unterburger: Leben und Gelehrsamkeit, S. 160–165. Zum historischen Interesse Augsburger Mönche insbesondere Wilhelm Wittwers, das auch hagiographische Quellenstudien einschließt, vgl. Augustyn: Historisches Interesse und Chronistik, S. 335–345, sowie speziell zu Wittwers Catalogus abbatum ebd., S. 346–350. 53 Vgl. den von Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 201, mitgeteilten Brief. 54 Vgl. S. 566 im Kap. 3.4. 55 Ringhandt: HE-Fassungen. Die folgenden Stellennachweise im Fließtext beziehen sich auf diese Dissertation. Vgl. zum HE F dort insgesamt, S. 283–354. Bereits Moriz Haupt: Herzog Ernst, S. 270–290, nimmt einen Vergleich zwischen HE B (Handschrift b, ‚Wiener Bearbeitung‘), HE D
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HE F die „traurige[n] Momente“ (319) der Ernst-Geschichte und demonstriere „die ganze Kraßheit und Erbarmungslosigkeit des Lebens“ (S. 310). Es überzeugt dabei jedoch nicht, die Ursache dafür in einem allgemeinen Pessimismus des Spätmittelalters zu vermuten, der sich aus einem Gefühl verlorener gesellschaftlicher Einheit ableite (vgl. S. 307). Zu offensichtlich sind gleichzeitige, gegenläufige Tendenzen der Weltbejahung im Humanismus oder dem wachsenden Selbstbewusstsein der Städte. Ich stelle dabei nicht in Abrede, dass der HE F von einer Welt des Leidens (vgl. S. 314–319) erzähle, während im HE B die Handlungsmacht des Menschen und im HE D die Freude im Zentrum stehen (vgl. S. 314). Ich stimme zu, dass hier eine negative Weltsicht der Angst und Missgunst etabliert wird (vgl. S. 311 f. und S. 315 f.). Der Widerspruch löste sich schlagartig auf, sobald man im HE F nicht länger wie Ringhandt den „Blick des Bürgers auf die Welt des Adels“ sehen möchte (S. 321),56 sondern denjenigen des Mönchs auf die irdischen Gefahren der Welt. Von selbst erklärte sich damit, warum Frömmigkeit „der beherrschende Grundzug in unserer Erzählung“ ist (S. 330).57 Doch – und dies sei deutlich hervorgehoben – kennen wir diesen Mönch nicht. Er wäre ganz und gar ein Produkt seines Textes, nicht umgekehrt. Ja er wäre nicht einmal Produkt seines, sondern des überlieferten Textes. Wir haben den überlieferten Text, aber keinen überlieferten Mönch. Anders als im HE B oder HE D bietet die Orientfahrt „weniger Gelegenheiten, um Heldentum und Rittertum zu bewähren“, sondern es geht vielmehr darum, „Ernsts beispielhafte ‚fromkaite‘ und die wunderbare göttliche Führung zu beweisen“ (beide S. 337). Gott sei nach Ringhandt im HE F allmächtiger und allgegenwärtiger Bezugspunkt (vgl. S. 331–335), dem Ernst draußen in der Welt im Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit schutzlos ausgeliefert sei (vgl. S. 330–333 und S. 337– 339). Indem dies gerade auch für die gläubig und bibelfest gezeichnete Ernst-Figur gilt, korrespondiert die Geschichte in der F-Fassung mit einem Topos der Melker Reform, nach dem selbst „[d]as monastische Leben vor der Reform [...] als eine Lebensform“ gilt, „in der nur der Verfall der Sitten herrschte“.58
(‚Gothaische Bearbeitung‘), HE E (Odos Ernestus) und HE C (‚Münchener Prosa‘) vor, wobei er jeweils inhaltliche Gemeinsamkeiten und das Sondergut einzelner Fassungen markiert. 56 Noch Natalia Nushdina: Die Darstellung des ‚Fremden‘ und des ‚Eigenen‘ in der Reiseliteratur des Mittelalters. Diss. masch. Würzburg 2004, hier: S. 17, rechnet mit einem „in erster Linie stadtbürgerlichen Publikum“. 57 Nushdina erklärt eine Verschiebung des Erzählinteresses ohne nähere Erläuterungen mit der politischen Lage im Reich des fünfzehnten Jahrhunderts, wonach der Konflikt zwischen kaiserlicher Zentralgewalt und den Territorialfürsten an Aktualität verliere und die christlichen und abenteuerlichen Anteile der polyfunktionalen Ernst-Geschichte in den Vordergrund treten (vgl. ebd., S. 13 f. und S. 64). 58 Augustyn: Historisches Interesse und Chronistik, S. 360 f.
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Überhaupt ist die anwachsende Literaturproduktion in St. Ulrich und Afra im Zusammenhang mit der Reform des Ordens zu sehen, insofern mit dieser eine Förderung der Schriftlichkeit einhergeht. Ob auch die beiden anderen handschriftlichen Redaktionen des HE F aus Augsburg stammen, muss offen bleiben. Die Herkunft des Cgm 224, der ebenfalls in die zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts datiert, ist unbekannt. Volker Honemann mutmaßt, es handele sich bei dieser Münchener sowie bei der dritten, Londoner Handschrift (HE F Add. 22622), um Vorlage und unmittelbare Abschrift oder zumindest um zwei Handschriften aus demselben Skriptorium.59 Er bringt dabei St. Ulrich und Afra ins Gespräch, allerdings fehlen nähere Hinweise. Die Mundart jedenfalls ist mittelbairisch, wobei Karin Schneider von einer schwäbischen Vorlage ausgeht.60 Obwohl die beiden größeren Handschriften im Londoner Codex datiert sind (1470 beziehungsweise 1471) und sich ihr gemeinsamer Schreiber nennt (Lorentz Setz),61 tragen diese Angaben dennoch nichts zur Bestätigung der Augsburger Provenienz bei. Ein Schreiber dieses Namens ist bislang nicht nachzuweisen.62 Fest steht, dass der Reformabt Melchior von Stamheim „die Bibliothek neu katalogisieren, neue Bücher schreiben und illuminieren“ lässt und 1472 „die Einrichtung einer Druckerei“ gegen Vorbehalte im Konvent, aber auch bei Gön-
59 Vgl. Volker Honemann: Rez. zu: Hans-Joachim Behr: Herzog Ernst. Eine Übersicht über die verschiedenen Textfassungen und deren Überlieferung. Göppingen 1979 (Litterae 62). In: PBB 105/1 (1983), S. 132–138, hier: S. 137. Nach Meves: Studien zu HE, S. 202, gehen HE F Cgm 224 und Add. 22622 „unabhängig voneinander“ auf Cgm 572 oder eine verlorene Handschrift desselben Überlieferungszweiges zurück. – Ebenfalls aus Augsburg dürfte aber die Münchner HE C-Handschrift im Clm 850 aus dem Besitz Hartmann Schedels stammen. Sie wird 1471 in Nördlingen vollendet und rührt wahrscheinlich von Schedels Kontakten zu Melchior von Stamheim her (vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 197 f., und Hans-Joachim Behr: Einleitung, S. 23). 60 Karin Schneider: Cgm 224, S. 85. 61 Vgl. Ward: Add. 22622; Priebsch: Add. 22622, und den ergänzenden Hinweis von Dietrich Huschenbett: Art. Pilgerreiseberichte über Palästina. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 7. Hg. von Kurt Ruh. Berlin, New York 1989, S. 687–696, hier: S. 689, auf die ebenfalls enthaltene Schrift Von der kinneklichen heiligen stat zu Jerusalem. 62 So fehlt der Name im Register zur umfangreichen Festschrift anlässlich des 1000jährigen Bestehens der Abtei ebenso (vgl. Walter Ansbacher, Christine Kratzer: Register der Personen- und Ortsnamen. In: Benediktinerabtei St. Ulrich und Afra in Augsburg [1012–2012]. Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer ehemaligen Reichsabtei. Fs. zum tausendjährigen Jubiläum. Bd. 1: Textband. In Zusammenarbeit mit Walter Ansbacher und Thomas Groll. Hg. von Manfred Weitlauff. Augsburg 2011, S. 1445–1485) wie im Verzeichnis der dortigen Schriftsteller und Schreiber (vgl. Nonnosus Bühler O.S.B.: Die Schriftsteller und Schreiber des Benediktinerstiftes St. Ulrich und Afra in Augsburg während des Mittelalters. Borna/Leipzig 1916).
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nern und Beratern außerhalb des Klosters, durchsetzt.63 Ziel ist es einerseits, die eigene Bibliothek durch den Tausch selbst gedruckter Bücher zu erweitern, und andererseits, die Mönche mit Korrektur-, Rubrizierungs- oder Bindeaufgaben im Nachgang zum eigentlichen Druckprozess in Übereinstimmung mit der reformerischen Aufwertung der ars scribendi zu beschäftigen.64 Wenn Klaus Schreiner die benediktinische Kloster- als Bildungsreform beschreibt,65 lässt sich angefangen bei der asketischen Aufgabe der Abschrift über die Vermittlung des Lateinischen an Novizen und Mönche bis hin zur privaten lectio an mehrere Funktionen des Cgm 572 innerhalb des reformierten Klosterlebens zu St. Ulrich und Afra denken. Die Modernisierung der Schreibkunst in Form einer klostereigenen Presse währt jedoch nur kurz, da der Druckbetrieb schon 1474 unmittelbar nach Melchiors Tod eingestellt wird.66 In dieser kurzen Zeitspanne intensivieren sich jedoch die Kontakte des Klosters zu den Offizinen der Stadt.67 Im Mittelpunkt meines Interesses steht dabei Anton Sorg d.Ä., welcher der Klosterdruckerei angehört und hier sein Handwerk erlernt, ehe er 1475 eine eigene Druckerei in Augsburg gründet.68 Sie entwickelt sich mit rund 240 Druckwerken zu einer der produktivsten Offizinen der Inkunabelzeit überhaupt. Der Programmschwerpunkt liegt auf deutschsprachiger und illustrierter Gebrauchs- und Unterhaltungsliteratur. Sorg prägt „das Profil der
63 Die Zitate Augustyn: Historisches Interesse und Chronistik, S. 366; vgl. auch ebd., S. 385, und des Weiteren Rolf Schmidt: Klosterdruckerei, S. 142 f., mit den Quellentexten zur Einrichtung der Druckerei ebd., S. 150–152. 64 Vgl. Rolf Schmidt: Klosterdruckerei, S. 143 f. 65 Vgl. Klaus Schreiner: Benediktinische Klosterreform als zeitgebundene Auslegung der Regel. Geistige, religiöse und soziale Erneuerung in spätmittelalterlichen Klöstern Südwestdeutschlands im Zeichen der Kastler, Melker und Bursfelder Reform. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 86 (1986), S. 105–195, hier: S. 108–112 und S. 128–139. 66 Zum Buchwesen in St. Ulrich und Afra vgl. auch das gleichnamige Kap. bei Augustyn: Historisches Interesse und Chronistik, S. 377–387; Unterburger: Leben und Gelehrsamkeit, S. 147 und S. 158–160. Eine Übersicht über das Programm bietet Rolf Schmidt: Klosterdruckerei, S. 144–150. 67 Vgl. Künast: Dokumentation, S. 1207 f.; Rolf Schmidt: Klosterdruckerei, S. 141, sowie Richard F. Byrn: Nahtstelle Handschrift – Druckvorlage: Johannes Bämler im Augsburger Kloster St. Ulrich und Afra. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Unter Mitarb. v. Silvia Reuvekamp. Hg. von Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann, Anne Simon. Berlin, New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 437–450, hier: S. 441 und S. 445–450. 68 Vgl. auch für das Folgende Norbert H. Ott: Art. Sorg, Anton der Jüngere. In: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 598–599. Vgl. darüber hinaus Leipold: Funktionstyp Druckprosa, S. 274– 277 und S. 290, sowie Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke, S. 346. – Künast: Buchhandel in Augsburg, S. 88/Anm. 228, sieht Sorg dagegen in der Lehre bei Günther Zainer, dessen Netzwerk allerdings auch mit dem Kloster verbunden ist (vgl. das Schema ebd., S. 89).
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volkssprachlichen Literatur in der 2. Hälfte des 15. Jh. entscheidend“,69 wobei seine Buchprojekte Maßstäbe im Hinblick auf Holzschnittkunst70 und Lesbarkeit setzen.71 Hier interessiert er aber vor allem schon deshalb, weil er den Erstdruck des HE F sowie zwei weitere Redaktionen besorgt und damit drei von vier HE FInkunabeln hervorbringt. Nach der Einschätzung von Uta Goerlitz löse er den Roman dafür aus seinem „dominanten hagiographischen Rahmen“ und forme ihn vor allem mit Hilfe der Zwischentitel – bei weitgehender Konstanz der haupttextuellen Dimensionen – zu einem abenteuerlichen Reiseroman um.72 Dies stimmt aber nur scheinbar mit der Mitüberlieferung der Sorg-Drucke (das Reisebuch des Johann Schiltperger und Brandans Meerfahrt) überein.73 Eine zu verallgemeinernde Tendenz der weiteren Textgeschichte ist damit ebenfalls noch nicht erkannt. Ein vierter Wiegendruck erscheint um 1477 bei Heinrich Knoblochtzer in Straßburg.74 Er zählt noch in die Frühzeit seiner Tätigkeit und gilt als ein vergröbernder Nachdruck von Sorgs editio princeps.75 Auch wenn man nicht an die
69 Norbert H. Ott: Art. Sorg. 70 Vgl. Albert Schramm: Der Bilderschmuck der Frühdrucke. Bd. 4: Die Drucke von Anton Sorg in Augsburg. Bd. 19: Die Straßburger Drucker. I. Teil: Johann Mentelin. Heinrich Eggestein. Georg Husner. Heinrich Knoblochtzer (in Straßburg und Heidelberg). Martin Schott. Jakob Eber. Leipzig 1921/1936, hier: Bd. 4; Helmut H. Schmid: Augsburger Buchillustration, S. 73–105. 71 Vgl. Leipold: Funktionstyp Druckprosa, S. 281, und zur Leserfreundlichkeit seiner TristrantRedaktion von 1484 Kellermann: Umständliches Erzählen, S. 462 f., sowie für eine genaue Analyse dieses Drucks Ader: Prosaversionen, S. 70–134. 72 Goerlitz: Heidenkampf, S. 101; vgl. dazu auch ebd., S. 102, und S. 566f. im Kap. 3.4. 73 Andere thematische Gemeinsamkeiten werden auf diese Weise verdeckt. Im Hinblick auf Herzog Ernst und Reisebuch betrifft dies etwa die Kampfhandlungen und die Problematik gewaltsamer Bekehrung. Bezogen auf HE F und Brandans Meerfahrt ist an die theologischen Implikationen bei der Gestaltung korrespondierender Handlungsräume wie Agrippia/bona terra und magnetisches Meer/Clebermeer zu denken. Vgl. zur oben genannten These: Volkmann: Romantitel, S. 1187/Anm. 100 (mit Verweisen auf ältere Forschungsbeiträge); Geck: Buchkundlicher Exkurs; Meves: Studien zu HE, S. 204 f., Flood: The Survival, Bd. 1, S. 143–148; Koppitz: Tradierung der Epik, S. 100, sowie Michael Herkenhoff: Die Darstellung außereuropäischer Welten in Drucken deutscher Offizinen des 15. Jahrhunderts. Berlin 1996, hier: S. 23 und S. 53–58. 74 Zu Knoblochtzer vgl. allgemein Karl Schorbach, Max Spirgatis: Heinrich Knoblochtzer in Strassburg (1477–1484). Bibliogr. Untersuchung. Strassburg 1888 (Bibliographische Studien zur Buchdruckergeschichte Deutschlands 1); François Ritter: Histoire de l’imprimerie alsacienne aus XVe et XVIe siècle. Préface de Georges Collon. Straßburg, Paris 1955 (Publications de l’Institut des hautes études alsaciennes 14), hier: S. 55–63; Geldner: Deutsche Inkunabeldrucker, S. 66 f., sowie Ferdinand Geldner: Art. Knoblochtzer, Heinrich. In: Neue Deutsche Biographie 12 (1979), S. 195– 196. 75 Vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 145 und S. 150 f., sowie Koppitz: Studien zur Tradierung, S. 186.
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lokale Adelheid-Verehrung im Elsass denkt, überrascht die Übernahme von Augsburger Titeln in die Straßburger Druckproduktion nicht, denn sie entspricht dem typischen Überlieferungsprozess.76 Sowohl innerhalb oftmals verwandtschaftlich gefestigter Netzwerke wie dem Zainer- und Schönsperger-Netz im Augsburg des fünfzehnten Jahrhunderts oder der Mainfrankfurter Cumpanei im sechzehnten Jahrhundert als auch überregional gerade zwischen Augsburg und Ulm einerseits sowie Straßburg andererseits kommt es zu einem regen Austausch von Titeln, aber auch von Holzstöcken und Drucktypen. Knoblochtzer hat ein ähnliches Profil wie Sorgs Offizin mit einem Schwerpunkt auf dem von Inge Leipold beschriebenen Funktionstyp ‚Frühe deutschsprachige Druckprosa‘: erbaulich-belehrende Titel für ein Laienpublikum, was aber die Unterhaltung der Rezipienten nicht ausschließt.77 Als erster Drucker der Stadt fügt er seinen Büchern dabei eine Vielzahl an Holzschnitten bei. Teils werden die Motive nach Vorlagen neu entworfen, teils handelt es sich einfach um Nachschnitte, deren Qualität in der Forschung zumeist geringgeschätzt wird.78 Diese Einschätzung hat jedoch keinen Einfluss auf die sinnstiftende Funktion seiner Abbildungen, die im Vergleich mit anderen Zyklen innerhalb des Prosaromans nicht negativ auffallen. Im Zentrum meiner Analyse der HE F-Redaktionen steht die Münchner Handschrift Cgm 572, die wie oben ausgeführt aus dem Augsburger Kloster St. Ulrich und Afra stammt. Ich vergleiche mit ihr alle erhaltenen Inkunabeldrucke (HE F Sorg 1, 2 und 3 sowie Knoblochtzer), wobei ich auf die Exemplare der Bayerischen Staatsbibliothek München zurückgreife.79 Was die Sorg-Drucke anbetrifft, zeigt sich die zeitübliche Füllungsfreiheit im Hinblick auf die Varianz des Wortlauts und iterierende Varianz der Orthographie. Daneben bestehen große Ähnlichkeiten im makrostrukturellen Bereich. Insbesondere Sorg 2 und 3 stimmen in der Kapitelgliederung und deren Aufbau weitgehend überein. Das textspezifische Bildprogramm der drei Wiegendrucke ist inklusive der tituli identisch, lediglich die abweichende Kolorierung der Exemplare Sorg 1 und 3 – Sorg 2 ist nicht koloriert – bringt Unterschiede mit sich, die jedoch bildnarrativ nicht ausgebeutet werden können. Ebenfalls verwende ich für die dimensionale Analyse die Straßburger Redaktion HE F Knoblochtzer, die „frequently has
76 Vgl. das Kap. 2.2.2. 77 Vgl. Leipold: Funktionstyp Druckprosa, vor allem S. 290. 78 Vgl. Schramm: Bilderschmuck, Bd. 19, S. 4–10 und S. 13–15 sowie Tafel 4–106 (davon S. 7 und Tafel 37–41 zu seinem HE F); Koppitz: Studien zur Tradierung, S. 186, und Rautenberg: Melusines Basler Erstdruck, S. 91 (mit Bezug auf seine Heidelberger Melusine). 79 BSB München, Sign. 2° Inc.s.a. 665, 2° Inc.s.a. 667 und 2° Inc. s.a. 666. In den Exemplaren der Redaktion Sorg 1 und Sorg 3 fehlen einige Blätter.
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unique readings“.80 Neben lexikalischer Varianz gegenüber den Sorg-Inkunabeln, ist dieser Druck vor allem wegen des Gebrauchs von Rotstrichelung relevant, während die Holzschnitte als Nachschnitte von den Augsburgern nur in wenigen Details abweichen.81 Nur punktuell ziehe ich ferner die Handschrift Cgm 224 heran. Sie ist vor allem aufgrund einer Blindritzung auf fol. 146r. und aufgrund von Marginalien von Interesse, deren Funktion zum Teil an Zwischentitel erinnert.82 Leider stand mir die Londoner Handschrift Add. 22622 nicht zur Verfügung. Meine Nachfrage bezüglich der Art der wenigen im Onlinekatalog erwähnten Marginalien des Orientalisten Gottlieb Siegfried Bayer (1694–1738) blieb unbeantwortet. Jedoch dürfte sich entsprechend der Einschätzung von Volker Honemann die textgeschichtliche Varianz dieser Handschrift in Grenzen halten.83 Zur sogenannten ‚Volksbuch‘-Fassung (HE Vb): Etwa 80 Jahre nach den handschriftlichen und gedruckten Redaktionen des HE F erscheint in Frankfurt a. M. eine kürzende Bearbeitung als „selbständige Textrezension“,84 die sogenannte ‚Volksbuch-‘ oder ‚Frankfurter Prosafassung‘ (HE Vb). Obwohl es sich mit mehreren Dutzend Redaktionen von der Mitte des sechzehnten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts um „the most popular version“ der Ernst-Geschichte handelt, bleibt der oben diskutierte Begriff des ‚Volksbuchs‘ auch hier problematisch und sollte ersetzt werden.85 Ihre Redaktionen fasse ich als gemeinsamen Komplex mit denjenigen des HE F zum Herzog Ernst als (früh)neuhochdeutscher Prosaroman zusammen.86 Der mutmaßlich älteste Zeuge des HE Vb von 1556/61 geht nach John L. Flood auf einen der Augsburger HE F-Wiegendrucke – wahrscheinlich auf den spätesten – zurück.87 Im Zentrum der Neuredaktion stehen nach bislang einhelliger Forschungsmeinung die Kuriosa, dabei herrsche „de[r] Eindruck einer losen Abenteuerfol
80 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 150. Ich verwende das Exemplar BSB München, Sign. 2° Inc.s.a. 667b. 81 Vgl. S. 491 und 493f. im Kap. 3.2.3 und S. 541f. im Kap. 3.3.4.3. 82 Vgl. S. 503 und 512 und S. 520f. im Kap. 3.3.3. 83 Vgl. den Online-Katalog der British Library unter: http://searcharchives.bl.uk/IAMS_VU2: IAMS032-002096592, letzter Zugriff am 11. September 2015, und Honemann: Rez. Behr, S. 137. 84 Bumke: Retextualisierungen, S. 6. Die Edition: Die Historie von Herzog Ernst. Die Frankfurter Prosafassung des 16. Jh.s. Aus dem Nachlass v. K.C. King. Hg. von John L. Flood. Berlin 1992 (TMA 26). In der Einleitung dieser Ausgabe fasst er einige Ergebnisse seiner wichtigen, aber nur schwer zugänglichen maschinenschriftlichen Dissertation The Survival of German ‚Volksbücher‘ zusammen. 85 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 230; zum ‚Volksbuch‘-Begriff vgl. S. 118–121 im Kap. 2.1.1.2. 86 Vgl. meine Explikation des zugrundeliegenden ‚Werk‘-Begriffs im Kap. 2.3.3.2. 87 Vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 256 f.; Flood: Einleitung, S. 38–41.
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ge“ vor.88 Uwe Meves kommt bei seiner Besprechung der Dimension der neuen Titelformulierung zu dem Schluss, dass die Publikumserwartung durch diese „ganz auf das ‚Wie‘ der Ereignisse ausgerichtet“ werde und zwar auf die „spannende[ ]“ Beschreibung von Ernsts Orientreise.89 Die „genaue Analyse der Umwandlung“ im HE Vb stellt er hier aber als Desiderat heraus. So ist der sich wandelnde Anhang von Sprichwörtern, der mit bis zu 117 Einträgen das Werk auf einmal mehr, einmal weniger didaktische Art und Weise eigens perspektiviert, gänzlich unerforscht.90 Weder ist die Frage nach seinem Verhältnis zum Haupttext oder seiner Funktion gestellt, noch wird bislang versucht, diese zusätzliche Dimension für eine ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ heranzuziehen. In den letzten Jahrzehnten befasste sich nur John L. Flood genauer mit dem HE Vb.91 Entgegen der abwertenden Forschungstradition92 lobt er [d]ie literarische Leistung des Frankfurter Bearbeiters,93 da „die Erzählung durch die Kürzung
88 Hans-Joachim Behr: Einleitung, S. 30. Vgl. dazu auch Hans-Joachim Behr/Szklenar: Art. Herzog Ernst, S. 1183 f. 89 Meves: Studien zu HE, S. 209; vgl. dazu auch ebd., S. 208–215. Schon Ludwig Uhland: Über die Sage vom Herzog Ernst. In: Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Bd. 5. Stuttgart [1832] 1870, S. 323–343, hier: S. 329 f., sieht „die Wunder der abenteuervollen Kreuzfahrt“ als Grund für die Langlebigkeit der Ernst-Geschichte an. 90 Vgl. dazu S. 255–260 im Kap. 2.3.1.2 und S. 572 im Kap. 3.4. 91 Die prekäre Forschungslage ist jedoch im Begriff sich zu ändern. Parallel zu meiner eigenen Arbeit führt Uta Goerlitz ein Projekt zur Narrativierung im Spannungsfeld von Tradierung und Transformation durch, welches [n]arrative Aneignungen des ‚Herzog Ernst‘ im Interferenzfeld volkssprachiger und lateinischer Wissens- und Erzählkulturen zwischen 1150 und 1700 untersucht. Mehrere Beiträge, darunter eine Neuedition und eine Monographie über den HE F/Vb-Komplex sind nach Auskunft der Projektleiterin in Vorbereitung. 92 Stellvertretend das Urteil von Görres: Teutsche Volksbücher, S. 85, nach dem der HE Vb „nur von mittlerem Werth, anfangs besonders schleppend, in der Folge wohl rascher voran schreitend, im Allgemeinen aber doch matt, und wenn man das, was dem Dichter gegeben war, abrechnet, leer und mit geringer Erfindung gedacht und durchgeführt“ sei. Doch auch Gerhardt: Skiapoden, S. 65 f., kommt noch zu dem Fazit, dass die Kurzfassung „den Text verunklärt“ habe. Bereits Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 46, weist darauf hin, dass HE Vb bemüht sei, die Handlung besser zu motivieren, außerdem würden gelehrte vermehrt durch volkstümliche Vergleiche ersetzt (vgl. S. 45); allerdings beklagt er, den behäbig-philiströsen Erzählton (vgl. S. 47) und dass „[d]as Heldenmässige der alten Sage [...] ins Komisch-Triviale herabgesunken“ sei (S. 44), womit er als Vorläufer Hans Naumanns anzusehen ist (vgl. zur Theorie des ‚gesunkenen Kulturguts‘ S. 220/Anm. 474 im Kap. 2.2.2.3). 93 So das gleichnamige Kap. bei Flood: Einleitung, S. 58–62, auf das sich auch die folgenden Nachweisklammern im Fließtext beziehen. – Schon in seiner Dissertation charakterisiert er HE Vb als „a streamlining of the F version“ (Flood: The Survival, Bd. 1, S. 341; vgl. dazu auch ebd., S. 342–344).
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mehr gewonnen als verloren“ habe (S. 59). Es entstehe dadurch eine „ausgeglichenere Erzählung“ (ebd.) mit größerer Emotionalität (vgl. S. 62).94 In der Neugestaltung einzelner Szenen erkennt Flood Erfindungsreichtum (vgl. S. 61) und hebt hervor, dass der Redaktor bestrebt sei, Ernst als unschuldig Verfolgten, Pfalzgraf Heinrich dagegen als den einzigen Missetäter zu zeichnen (vgl. S. 60). Allerdings offenbare die Bearbeitung auch einen fehlenden Sinn für das Augsburger Lokalkolorit des HE F. Die „geschichtsvermittelnde Funktion“ sei dadurch geschwunden, sodass es zu Fehldatierungen von Lechfeld-Schlacht und Kaiserkrönung komme. Im Endeffekt lebe Kaiser Otto in Polygamie mit Ottegeba und Adelheid und kämpfe in manchen Ausgaben nicht gegen den Volkstamm der ‚Friesen‘, sondern gegen die ‚Preußen‘.95 Die vorliegende Arbeit löst auch eine Forderung Hans-Joachim Behrs ein, der in seiner Rezension der Flood’schen Edition dafür wirbt, „die Veränderungstendenzen i n n e r h a l b des ‚Herzog Ernst‘-Volksbuches einmal genauer in den Blick zu nehmen“.96 Entsprechend der ‚typischen‘ Überlieferungsgeschichte eines Prosaromans, wie ich sie oben ausführe,97 dominiert beim HE Vb im sechzehnten Jahrhundert ebenfalls die Mainfrankfurter Produktion von Weigand Han beziehungsweise für dessen Erben. Von den fünf erhaltenen Redaktionen des sechzehnten Jahrhunderts erscheint lediglich der mutmaßlich von Wilhelm Ross um 1600 für den Magdeburger Verleger Johann Francke hergestellte Druck außerhalb der Messestadt. Im siebzehnten Jahrhundert streut die Überlieferung dann mit Basel, Erfurt, Straßburg und Nürnberg über weite Teile des Deutschen Reiches. Die späteren Druck- und Verlagsorte sind zum großen Teil unbekannt, jedoch kommen u. a. Berlin, Reutlingen und Köln als weitere Publikationsorte hinzu.98
94 Die Forschung zu Emotionen innerhalb der Ernst-Geschichte beschränkt sich ansonsten auf die Fassung HE B (vgl. Kasten: Psycho-Logik, S. 56–59). 95 Vgl. Flood: Geschichtsbewußtsein, S. 145, das Zitat ebd., S. 146. 96 Behr, Hans-Joachim: Rez. Flood, S. 399. 97 Vgl. das Kap. 2.2.2. 98 Vgl. die Übersicht bei Flood: The Survival, Bd. 1, S. 181, sowie für meine Auswahl die Abb. 16 unten, S. 339–342 – Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts erscheinen etliche weitere Ausgaben, darunter eine „straffe Nacherzählung“ von Heinrich August Ottokar Reichard und bei Enßlin und Laiblin ein Druck mit dem Kampf gegen die Vogelmenschen auf dem Titelblatt sowie im gleichen Verlag eine weitere Ausgabe mit dem Untertitel Oder wie Gott die Menschen durch Unglück und Herzeleid seinem Himmel zuführt (Flood: Einleitung, S. 30; vgl. zu Reichard auch Kreutzer: Mythos Volksbuch, S. 37–42).
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Abb. 15: Vereinfachtes Stemma der Textgeschichte des HE F/Vb.
Mein vereinfachtes Stemma der Textgeschichte (s. Abb. 15) beruht auf den Ergebnissen der Kollation von John L. Flood.99 Es handelt sich lediglich um den Versuch einer übersichtlicheren Darstellung, der weder den Anspruch erhebt, den genealogischen Überlieferungsprozess zweifelsfrei abzubilden noch Floods Erwägungen zu korrigieren. Ganz im Gegenteil bestätigt der haupttextuelle Vergleich die Gruppenbildung. Meine Vereinfachung seines Modells besteht lediglich darin, erschlossene Redaktionsstufen und nicht erhaltene Redaktionen auszublenden, da ausschließlich positiv-endgültig erhaltene Drucke und Handschriften Gegenstand einer Analyse von Dimensionen narrativer Sinnstiftung
99 Vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 230–257 und S. 277–280, sowie Flood: Einleitung, S. 42–45 und S. 48.
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sein können.100 Darüber hinaus sind für die ‚überlieferungsgerechte Interpretation‘ die exakte Datierung und Chronologie im Übrigen zwar nicht gleichgültig aber nachrangig. Schließlich wirken Redaktionen mitunter weit über ihren konkreten Entstehungszeitpunkt hinaus.101 Die Verfügbarkeit einer neuen Redaktion auf dem literarischen Markt tut dem keinen abrupten Abbruch. Erst nach und nach schwächt sich mit der mechanischen Verderbnis auf Exemplarebene die literaturgeschichtliche Relevanz einer älteren Redaktion ab. Für die Untersuchung der Dimensionen narrativer Sinnstiftung müssen nicht alle Redaktionen herangezogen werden. Bei großer Ähnlichkeit mehrerer Drucke genügt die Untersuchung eines Stellvertreters. Gibt es nur auf einer einzelnen Dimension größere Varianz, so kann diese unabhängig von den konstanten Dimensionen in die Analyse einbezogen werden. Außerdem sind für die Untersuchung des Überlieferungsprozesses gerade die Endpunkte der einzelnen Stemmazweige von besonderem Interesse. Schließlich werden hier die sinnstiftenden Veränderungen vorausgehender Redaktionen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mittradiert. Es ist an dieser Stelle allerdings mit Jan-Dirk Müller davor zu warnen, „die Vorstellung linearer Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Überlieferungsträgern“ aus dem Kontext hochmittelalterlicher Handschriftenkultur auf die Textgeschichte von Prosaromanen zu übertragen.102 Flood beschreibt „the nature of the normal linguistic development of a ‚Volksbuch‘ text“ als a story of gradual change, of slight retouching and of gentle modernisation, of punctuation, orthography, morphology, lexis and syntax. Sometimes a development may be reversed, sometimes a regionalism may be introduced. The effect then is that of a gentle ebbing and flowing, not that of a headlong rush to keep the language of the text up to date.103
Der Anteil der Setzer an spontanen Fehlerkorrekturen und nicht nur sprachlichen Modernisierungen darf nicht unterschätzt werden. Ihre Freiheiten führen zu
100 Vgl. S. 191f. und 196f. im Kap. 2.2.1.2. 101 Vgl. die anekdotischen Angaben Peter Hacks’ zur Entstehungsgeschichte seines Theaterstücks Das Volksbuch vom Herzog Ernst (vgl. Peter Hacks: Die Entstehung des ‚Herzog Ernst‘. In: Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk. Hg. von Gerhard Schneider. Berlin, Weimar 1974, S. 144–152, hier: S. 145–147). 102 Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 35. – Konkrete Kritik an Floods Stemma äußert Herfried Vögel, der weder „die Kollationierung der Eingangspartien“ für „ausreichend“ hält, um die Trennung der beiden Hauptgruppen zu belegen, noch Floods „[s]prachhistorische Argumente“ für die „Chronologie der Hanschen Drucke“ gelten lässt (Vögel: Rez. Flood, S. 171 f. und S. 172 f.). 103 Beide Zitate Flood: The Survival, Bd. 1, S. 347.
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gemeinsamen Lesarten bei Redaktionen, die nicht direkt voneinander abhängen.104 Die genaue Position einzelner Drucke innerhalb des Stemmas bleibt daher, wie Flood in seiner Dissertation einräumt „a mystery“, die stemmatologische Darstellung ein „hazardous undertaking“.105 Ausgangspunkt meines textgeschichtlichen Vergleichs der HE Vb-Redaktionen ist der Erstdruck von Weigand Han.106 Die weiteren Drucke teilt Flood in eine ältere und eine jüngere Gruppe. Zur älteren zählen dabei neben den von HE Vb Han 2 abhängigen Redaktionen die Ausgaben Marx von der Heydens und Michael beziehungsweise Martin Endters.107 Floods Einschätzung, dass es innerhalb dieser Redaktionen zwar „numerous readings“ aber nur wenige „[s]ignificant innovations“ gebe,108 lässt sich nur halten, solange man die paratextuelle und strukturelle Varianz unberücksichtigt lässt. Insbesondere der Druck von Jakob Singe erweist sich im Hinblick auf Kapiteleinteilung, Zwischentitel oder auch haupttextuelle Varianten immer wieder als Sonderfall. Hervorstechendes Merkmal der Redaktionsgruppe ist die hohe Frequenz bei der Verwendung von Illustrationen.109 Eine Besonderheit stellt das irritierende Titelblatt von HE Vb Schröter dar, das sowohl durch seine Formulierung als auch mit dem Holzschnitt, der die Entführung der indischen Prinzessin zeigt, eine Redaktion der ‚Liedfassung‘ HE G erwarten lässt.110 Innerhalb dieser älteren Gruppe wähle ich die jeweiligen Endpunkte der einzelnen Stemmazweige (HE Vb Endter 2, Schröter und Singe) als
104 Vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 254–257, sowie zum Setzer als Gestalter: Wehde: Typographische Kultur, S. 4. 105 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 268 und S. 257; vgl. dazu auch ebd., S. 262–268 sowie S. 276. – Aus den genannten Gründen fordert Bumke, dass sich die Forschung von der Stemmatologie des Herzog Ernst löse und „die verschiedenen Fassungen in ihrer Eigenart“ analysiere. Denn „[k]eine andere deutschsprachige Dichtung des hohen Mittelalters stellt“, so Bumke weiter „so interessante Materialien für eine text- und überlieferungsgeschichtliche Untersuchung“ – und, das muss ergänzt werden, für ‚überlieferungsgerechte Interpretationen‘, bereit (alle Zitate: Bumke: Überlieferung des HE, S. 411). 106 Angaben zu den jeweils zugrunde gelegten Exemplaren finden sich in Abb. 16 am Ende des Kap. – Zum Vergleich der Han-Redaktionen und zur Begründung der chronologischen Priorität vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 248 f., sowie zur Person Weigand Hans und seinen HE VbDrucken ebd., S. 182 f. und S. 247–249, sowie Reske: Die Buchdrucker, S. 229 f. 107 Für die ältere HE Vb-Gruppe vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 182–194 und S. 247–257. Die Urheberschaft Martins Endters ist dabei lediglich erschlossen. – Zu von der Heyden vgl. darüber hinaus Reske: Die Buchdrucker, S. 899. 108 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 250 f. 109 Vgl. Kap. 3.3.4 und 3.3.4.2. 110 Vgl. H[einrich] Stickelberger: Zum Lied und zum Volksbuch von Herzog Ernst. In: ZfdA 34 (1902), S. 101–112, hier: S. 108, und S. 499–501 sowie S. 508 im Kap. 3.3.1.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
weitere Untersuchungsfälle aus.111 Aufgrund der Sonderstellung des SingeDrucks berücksichtige ich darüber hinaus den direkt vorausgehenden Druck für Johann Francke, der sich insbesondere durch einen textspezifischen Holzschnittzyklus auszeichnet.112 Eine Untersuchung von HE Vb von der Heyden könnte grundsätzlich unterbleiben, doch beziehe ich ihn mit ein, um zusammen mit HE F Knoblochtzer die Straßburger Überlieferung vollständig zu berücksichtigen. Von diesen Redaktionen unterscheidet Flood eine jüngere Gruppe von HE Vb-Drucken. Datiert ist dabei einzig HE Vb L1, der 1742 erscheint. Jene mit einer L-Sigle bezeichneten Redaktionen sieht Flood als „significant recasting“ innerhalb einer ansonsten verhältnismäßig konservativen, d. h. invarianten, Überlieferungsgeschichte,113 wobei die haupttextuellen Dimensionen selbst hier über weite Strecken noch immer der Frankfurter Redaktion HE Vb Han 1 weitgehend entsprechen. Die Verwendung von gleichen Buchstaben als Siglen impliziert dabei nicht, dass diese Redaktionen von demselben Drucker oder aus demselben Verlag stammen. Während Flood L1 beispielsweise für ein Nürnberger Produkt hält, könne L3 seiner Ansicht nach ein Reutlinger Druck aus dem neunzehnten Jahrhundert sein.114 Aufgrund der Vielzahl verschiedener Drucke dieser Gruppe und ihrem verhältnismäßig hohen Grad an Konstanz beschränke ich mich bei meiner Analyse ganz auf die Enden der jeweiligen Verzweigungen des Stemmas. Das trifft auf HE Vb L2 und Fleischhauer ebenso zu wie auf HE Vb Zirngibl, P1, Everaerts, Trowitzsch und M2.115 Im Vergleich zur älteren HE Vb-Gruppe fällt vor allem auf, dass hier weniger Kapitel abgesetzt werden, was nicht nur strukturelle Folgen hat, sondern sich auch auf die Anzahl von Zwischentiteln und Illustrationen auswirkt.116 Das gemeinsame Titelbild dieser Redaktionen zeigt einen einzelnen gerüsteten Kämpfer.117
111 Zu Schröter vgl. darüber hinaus Reske: Die Buchdrucker, S. 90; zur Protestantisierungstendenz seines HE Vb-Druckes Stickelberger: Volksbuch von Herzog Ernst, S. 103; Classen: The German Volksbuch, S. 59. Zu Singe Reske: Die Buchdrucker: S. 210; John L. Flood: Eine schöne History/ von Hertzog Ernst. Erfurt 1611. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 8 (1981), S. 295. 112 Für Francke vgl. Reske: Die Buchdrucker, S. 583 und S. 587. 113 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 341; zur L-Gruppe vgl. darüber hinaus ebd., S. 259–261 und S. 276. 114 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 312–316. Umgekehrt weist Flood darauf hin, dass HE Vb M2 und N für ihre Titelillustrationen denselben Holzstock verwenden und daher möglicherweise aus demselben Verlag stammen (vgl. ebd., S. 273 f.). 115 Für die jüngere HE Vb-Gruppe vgl. ebd., Bd. 1, S. 195–215, S. 257–280, S. 315, S. 320 f. und S. 344–347 sowie Flood: Einleitung, S. 44–54. 116 Vgl. die Kap. 3.2.2, 3.3.5 und 3.3.4. 117 Vgl. S. 504–506 im Kap. 3.3.1.2.
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
339
Insgesamt ziehe ich in dieser Arbeit die sinnstiftenden Dimensionen von 17 Drucken aus dem HE F/Vb-Komplex heran. Dazu kommen mit HE F Cgm 572 und Cgm 224 zwei Handschriften, die ich komplett beziehungsweise punktuell berücksichtige. Abb. 16: Ausgewählte Überlieferungszeugen des HE Vb vom sechzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert.118 Sigle
Titelformulierung Flood Herkunft 1992 119
HE Vb Han 1
Ein gar lustige History von Hertzog Ernst/ in Bayern vnd Oesterreich/ wie er durch wunderbarlichen vnfall sich inn gefehrliche Rheisen begab/ darauß er mit etlich wenig seines Volcks wider erlediget/ vnnd gnad vonn Keiser Otten erlangt/ der jhm nach dem Leben gestalt hatt/ gar kurtzweilig zu lesen A
HE Vb Francke
Referenzexemplar
Frankfurt a. M.: Weigand Han Berlin, SBB-PK, Yu 314 R [1556/61]
Eine lustige History/ Von Hertzog Ernsten/ in Beyern vnd Oesterreich/ wie er durch wunderbarlichen Vnfall sich in gefaͤ hrliche Reisen begabe/ darauß er mit etlich wenig seines Volcks erlediget/ vnd Gnad von Keyser Otten erlanget/ der jhm nach dem Leben gestellet hatte/ kurtzweilig zu lesen E
Magdeburg: [Wilhelm Ross (?) München, BSB, 1 an Res./ Bavar. für] Johann Francke [um 1600] 1257
118 Vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 181–215; Flood: Einleitung, S. 15–30. – Bodo Gotzkowsky ermittelt für seine „Volksbücher“-Bibliographie des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts keine weiteren Textzeugen (vgl. für die Drucke des sechzehnten Jahrhunderts Gotzkowsky: Bibliographie der deutschen Drucke, Bd. 1, S. 330–334, und für die Drucke des siebzehnten Jahrhunderts ebd., Bd. 2, S. 89–91). Gerade aber für jüngere Redaktionen ist mit Neu- und Wiederfunden zu rechnen. Flood: The Survival, Bd. 1, gibt einige Redaktionen ohne Sigle an, die zum damaligen Zeitpunkt nicht aufzufinden waren (vgl. S. 216–218 und S. 281 f.). Zuletzt konnte ich seine Nr. 32 im Sammelband Yt 3761-1 der SBB-PK Berlin identifizieren. 119 Diese Siglierung entspricht derjenigen von Flood: The Survival, Bd. 1, mit einer Ausnahme, die für mich jedoch keine Rolle spielt. 1980 übernimmt Flood noch die Bezeichnungen aus den Vorarbeiten von K.C. King, obwohl er erkennt, dass HE Vb Spies (alte Sigle E, neue D) älter sein muss als HE Vb Francke (alte Sigle D, neue E) (vgl. ebd., S. 247). Allerdings muss die alphanumerische Reihenfolge gerade bei den jüngeren Redaktionen nicht notwendigerweise mit der chronologischen übereinstimmen (vgl. ebd., S. 258).
340
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Abb. 16: (fortgesetzt). Sigle
Titelformulierung Flood 1992
HE Vb Schröter
Wolfenbüttel, HAB, Lo 1287.1
Straßburg: Marx von der Heyden 1621
Berlin, SBB-PK, 4 an Yf 7868 R
[Nürnberg: Martin Endter um 1700]
Nürnberg, GN, 8° L. 1813v
Eine Lesens-wuͤ rdige Historie von Herzog Ernst in Bayern und Oesterreich, Wie er durch wunderliche Unfaͤ lle sich auf gefaͤ hrliche Reisen begeben, Jedoch endlich vom Kayser Otto, der ihm nach dem Leben gestanden, wiederum begnadet worden L2
HE Vb M2
Erfurt: Jakob Singe 1611
Eine ganz lustige History/ Von Hertzog Ernst/ in Baͤ yern und Oesterreich/ wie er durch wunderbarliche Untreu sich in gefaͤ hrliche Raisen begab/ daraus er mit etlich wenig seines Volcks wieder erlediget/ und Gnad von Kaͤ iser Otten erlangt/ der ihm nach dem Leben gestellet hatte/ gar kurtzweilig zu lesen K
HE Vb L2
Basel, UB, Wack. 159
Ein gantz lustige Histori/ VOn Hertzog Ernst/ in Beyern vnd Oesterreich/ Wie er durch wunderbarlichen Vnfall sich in gefaͤ hrliche Rheysen begab/ darauß er mit etlich wenig seines Volcks wider erlediget/ vnd Gnad von Keyser Otten erlangt/ der jhm nach dem Leben gestelt hat/ gar kurtzweilig zu lesen H1
HE Vb Endter 2
Basel: Johann Schröter 1610
Das Titelblatt ist im unikalen Wolfenbütteler Exemplar nicht erhalten. G
HE Vb von der Heyden
Referenzexemplar
Hertzog Ernst/ Eines Fürsten Sohn auß Bayern/ Wie er faͤ lschlich angeben ward/ derhalb er in des Keysers Vngnad kam/ jhm aber durch hilff seiner Mutter entgieng/ vnnd was jhm fuͤ r Abenthewr mit dem geschnaͤ belten Koͤ nig/ Riesen vnd Zwergen/ zu handen gangen sey. Alles sehr lustig vnnd kurtzweilig zu lesen vnd singen/ Jn der weiß wie Herr Ecken Außfahrt F
HE Vb Singe
Herkunft
[Ohne Ort: ohne Drucker ohne Halle, UB, Dd 2037 P/5 Jahr]
Eine Lesenswuͤ rdige Historia, vom Hertzog Ernst/ in Bayern und Oesterreich, Wie er durch wunderliche Unfaͤ ll sich auf gefaͤ hrliche Reise begeben, Jedoch endlich vom Kayser Otto, der ihm nach dem Leben gestanden, wiederum begnadet worden. Zuvor niemals also gedruckt M2
[Ohne Ort: ohne Drucker ohne München, BSB, 8° Bavar. 4069 Jahr] (44
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
341
Abb. 16: (fortgesetzt). Sigle
Titelformulierung Flood 1992
HE Vb P1
Frankfurt a.d.O./Berlin: Trowitzsch und Sohn [1830/ 51120]
Basel, UB, Phil. Conv. 132 Nr. 13
Eine lesenswuͤ rdige Historie vom Herzog Ernst, in Bayern und Oestreich, wie sich derselbe durch wunderliche Zufaͤ lle auf gefaͤ hrliche Reisen begeben, endlich aber vom Kaiser Otto, der ihm nach dem Leben getrachtet, wiederum begnadigt worden S
HE Vb Fleischhauer
[Ohne Ort: ohne Drucker ohne Ulm, SB, BB 946g Jahr]
Eine Lesenswuͤ rdige Historia, vom Herzog Ernst, in Baiern und Oesterreich, Wie er durch wunderliche Unfaͤ lle sich auf die Reise begeben Jedoch endlich vom Kaiser Otto, der ihm nach dem Leben gestanden, wiederum begnadigt worden Q
HE Vb Zirngibl
Referenzexemplar
Eine lesenswuͤ rdige Historie vom Herzog Ernst, in Bayern und Oesterreich, wie er durch wunderliche Zufaͤ lle sich auf gefährliche Reisen begeben, jedoch endlich vom Kaiser Otto, der ihme nach dem Leben gestanden, wiederum begnadet worden. Ganz neu gedruckt P1
HE Vb Trowitzsch
Herkunft
Berlin: [Wilhelm] Zirngibl [1802/19]
München, BSB, P.o.germ. 2058 s
Eine lesenswuͤ rdige Historie, vom Herzog Ernst in Bayern und Oestreich, wie er durch wunderliche Unfaͤ ll sich auf gefaͤ hrliche Reisen begeben, jedoch endlich vom Kaiser Otto, der ihme nach dem Leben gestanden, wiederum begnadigt worden T
Reutlingen: Justus Tübingen, UB, Dk XI.240 Fleischhauer [nicht nach 1813 (?)]
120 Das auf dem Titelblatt genannte Haus in der Oberwasserstraße 10 erwirbt der Verlag 1828 (vgl. Edmund Mangelsdorf: Das Haus Trowitzsch & Sohn in Berlin. Sein Ursprung und seine Geschichte von 1711 bis 1911. Berlin 1911, hier: S. 60). Der Druck von Volksbüchern geht aber erst 1830 während der vormundschaftlichen Verwaltung durch Wilhelm Mütterlein vom Oderfrankfurter an das Berliner Haus des Verlags über (vgl. ebd., S. 63). 1851 werden die beiden Standorte voneinander getrennt (vgl. S. 66). Da das Titelblatt beide Orte nennt, entsteht die Redaktion also zwischen 1830 und 1851. Die Datierung der UB Basel auf 1814 ist damit zurückzuweisen (vgl. die Plattform E-rara, online unter: http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-31282, letzter Zugriff am 11. September 2015).
342
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Abb. 16: (fortgesetzt). Sigle
Titelformulierung Flood 1992
HE Vb Everaerts
Herkunft
Referenzexemplar
Eine lesenswürdige Historie vom Herzog Ernst, in Bayern und Oesterreich, wie er durch wunderliche Unfaͤ lle sich auf gefaͤ hrliche Reisen begeben, jedoch endlich vom Kaiser Otto, der ihm nach dem Leben getrachtet, wiederum begnadet worden V
Köln: Christian Everaerts [1794/1817]
Köln, UB, RhL. O/1620
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst 3.1.1 Textgeschichtliche Auslassungen, Interpolationen und Ersetzungen 3.1.1.1 Die erste Reichshandlung: Vorgeschichten und Ottos erfolgreiche Werbung um Adelheid Der ältere Herzog Ernst ist der rechte Erbe Bayerns und Österreichs (vgl. Cgm 572, fol. 25r.). Er regiert machtvoll (‚strenglich‘), aber gerecht und friedlich. Die schöne und tugendhafte Adelheid, Tochter König Lothars, wird seine Frau. Der Vater gibt dem gemeinsamen und überaus schönen Sohn seinen Namen: Ernst. Diese kurze, aber durchweg positive Charakterisierung der Eltern macht den Leser nicht nur für Ernst, den jüngeren Herzog, gewogen. Vielmehr stehen in exponierter Anfangsstellung gerade jene Herzogtümer, deren sich Kaiser Otto im weiteren Verlauf der Handlung bemächtigen wird, und zwar hier als Ernsts rechtmäßiges Erbe. HE F Sorg 2 und 3 verstärken dies noch zusätzlich, indem das Geschlecht hier nicht nur „zuͦ alten zeiten“ (Cgm 572, fol. 25r.), sondern „zuͦ allen zeÿten“ rechtmäßig über Bayern und Österreich herrscht. Frieden und gerechte Regierung werden damit zu einer Kontrastfolie sowohl für Ottos als auch für Ernsts, des Jüngeren, Herrschaftsweise. Mit der erstmals bei Weigand Han erscheinenden Neuredaktion HE Vb wird die zeitliche Universalisierung des Herrschaftsanspruchs allerdings wieder zurückgenommen (vgl. Han 1, fol. Aijv.).121 Anstelle von Macht zeichnet in allen
121 HE Vb Francke, Singe und Schröter haben jeweils „vor zeiten“ beziehungsweise „vorzeiten“ (alle fol. Aijr.).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
343
HE Vb-Redaktionen Einigkeit das Regiment des älteren Herzogs aus, sodass auch von einem gemeinsamen bayerisch-österreichischen Herzogtum die Rede ist (vgl. Han 1, fol. Aijr.f.). Schwerer wiegen würde die zweimalige Bezeichnung Adelheids als „Jungfraw“ (Han 1, fol. Aijv.), was trotz der anschließenden Geburt bereits auf ihr späteres keusches Leben als Heilige hinweisen könnte, würde diese Ersetzung nicht stets mit dem gleichzeitigen Wegfall der Hervorhebung ihrer Tugendhaftigkeit einhergehen. Bald darauf stirbt Ernst, der Ältere, „nach des Almechtigen gots rüffender schickunge“ und „nach gemainem lauff des leÿbs Nature“ (Cgm 572, fol. 25r.). Einzige Freude der betrübten Adelheid ist Ernst, der Jüngere, welcher in Sprachen unterrichtet wird und zum Mann heranwächst. Aus christlicher Warte zeigt sich das Diesseits als ein Gottes Willen unterworfenes „ellend“ (Cgm, fol. 25r.). Dies ändern auch die Redaktionen des HE Vb nicht,122 der Verweis auf den natürlichen Lauf der Welt entfällt aber konsequent (vgl. Han 1, fol. Aijv.). Ritterlich-höfische Elemente werden für Ernsts Erziehung nicht explizit erwähnt, im Folgenden aber vorausgesetzt. Die Sprachkenntnisse machen es plausibel, dass Ernst auf seiner Reise kaum Verständigungsschwierigkeiten hat. Alle HE Vb-Drucke ergänzen hier pauschal, dass Ernst „in allen guten tugenden“ unterwiesen werde. Im folgenden Abschnitt gibt es deutlichere Differenzen zwischen den Redaktionen von HE F und HE Vb. So wird Ernst im HE F zu einem aufrechten, weisen und bescheidenen Herrscher, der mit „tugentlicher strennglicheit“ seine rechtmäßigen Erblande ordentlich regiert (vgl. Cgm 572, fol. 25r.f., das Zitat fol. 25v.).123 Damit erweist er sich als würdiger Nachfolger seines Vaters. Die HE Vb-Redaktionen beschreiben Ernsts Herrschaftsweise dagegen knapper: Mit „[a]deliche[r] gewalt“ regiert er „weißlich“, übt sich darüber hinaus aber auch im „Ritterspiel“124 und wird deshalb insbesondere von Adligen gelobt (Han 1, fol. Aiijr.). Ernsts Bescheidenheit ist damit durch ein gewisses Maß an höfischer Repräsentation ersetzt. Im HE F ist es dagegen sein Regiment, das ihm bereitwilligen Gehorsam gleichermaßen von Adelheid, seinen Hofleuten und des ganzen Volkes einbringt. Vor allem mit dem nahe verwandten Wetzelo, der ihm in „kecklichen wercken“ als weiser Ratgeber beisteht (Cgm 572, fol. 25v.), verbindet Ernst ein brüderliches Treueverhältnis. Es erscheint mir jedoch fragwürdig, wie Clemens
122 Die Wendung wird nun jeweils auf „des Allmechtigen GOttes schickung“ verkürzt (Han 1, fol. Aijv.). 123 Auf die vom Erzähler aufgerufene Metapher eines „Swert[s] des Adels“ (Cgm 572, fol. 25r.) gehe ich unten im Zusammenhang mit der Predigt des Bamberger Bischofs ein (vgl. S. 466f. im Kap. 3.1.2.4). Beides findet sich nur in den Redaktionen des HE F. 124 HE Vb Zirngibl, P1, Everaerts, M2 und Trowitzsch betonen diesen Umstand zusätzlich, indem Ernst hier das Ritterspiel nicht nur ‚treibt‘, sondern ‚exerziert‘ (jeweils S. 4, nur Trowitzsch: S. 3).
344
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Heselhaus davon zu sprechen, dass Wetzelo im HE F zum ‚eigentlichen Freund‘ des Herzogs werde.125 Nie steht die Unterordnung des Grafen unter den Herzog in Frage, punktuelle Ausnahmen in Situationen der Not werden – wie sich weiter unten zeigt – immer eigens betont. Die HE Vb-Drucke charakterisieren das Verhältnis der beiden an der vorliegenden Stelle nicht näher, doch halte sich Wetzelo stets in Ernsts unmittelbarer Nähe (vgl. Han 1, fol. Aiijr.). Während dies im HE Vb der Gegenstand von Adelheids Freude ist, nimmt sie im HE F emphatischen Anteil an dem sich vergrößernden Lob der Allgemeinheit für ihren Sohn (vgl. Cgm 572, fol. 25v.). Von einer eher ausgeglichenen Darstellung von Ernsts vorbildlicher Herrschaft und der daraus resultierenden Unterwürfigkeit des Volkes verschiebt sich durch Kürzungen das Augenmerk im HE Vb etwas vom Herzog weg auf vor allem adlige Untertanen. In allen Redaktionen dient der Abschnitt zur weiteren Aufwertung des Helden sowie zur Vorstellung seines Begleiters Wetzelo. Die Erzählung geht anschließend auf Adelheids „hÿmlische[ ] begirde“ über, als eine andächtige Witwe ein „hÿmlisch leben“ zu führen und durch „die werrk der barmherczikait“ die ewige Seligkeit zu erlangen (Cgm 572, fol. 25v.).126 Die HE Vb-Drucke ersetzen dabei Adelheids ‚himmlisches‘ durch „ein Christlich leben“ (Han 1, fol. Aiijv.), was einer Tendenz der Veräußerlichung ihres Glaubens entspricht. So ist das himmlische Begehren nicht mehr Teil ihres Wesens, ihr Leben im Witwenstand gerät zu einer bloßen Imitation der paulinischen Witwe in äußerlicher Werkgerechtigkeit (vgl. Han 1, fol. Aiijr.f.).127 Das gilt im Übrigen auch für Adelheids weltliche Wesenskomponente: Die Redaktionen des HE F zeichnen sie nämlich gleichermaßen als Weltkind, das – wie der verstorbene Gatte – der „swachait Jrer Natur“ ausgesetzt ist (Cgm 572, fol. 25v.). Der HE Vb verlagert die Anfechtungen der Welt ganz nach außen, im HE F korrespondieren diese „manigfeltig anfechtunge“ dagegen mit ihrer Jugend und dadurch mit einem Aspekt ihres irdischen Daseins. Diese textgeschichtliche Verlagerung steht einer andernorts vielfach konstatierten Tendenz des Prosaromans zur Verinnerli-
125 Vgl. Heselhaus: Märe und History, S. 229 f. 126 Auf den intertextuellen Verweis auf 1 Tim 5.5 gehe ich unten auf S. 462 im Kap. 3.1.2.3 genauer ein. – Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 131 und S. 138–144, weist für die Zeichnung von Adelheid als Witwe im HE C darüber hinaus die Übernahme von Formulierungen aus der ‚Epistola‘ 123 des Hieronymus nach. Diese sind im HE F jedoch getilgt (vgl. dazu Goerlitz: Heidenkampf, S. 98 f.). 127 Dieser Eindruck verschärft sich bei den Redaktionen HE Vb P1, Everaerts und Trowitzsch, die einerseits den Genitiv-Anschluss beiordnen und von „Werke[n] und Barmherzigkeit“ sprechen (jeweils S. 4, meine Hervorhebung, Trowitzsch: S. 3 mit abgekürztem Konnektor) sowie andererseits das eigentliche Ziel von Adelheids Begehren um das Streben nach dem ewigen Leben verkürzt, sodass es der Witwe nur mehr um eine nicht näher bestimmte „Gnad“ (ebd.) zu tun ist. Nur die zweite Beobachtung gilt auch für HE Vb M2, S. 4.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
345
chung des Geschehens im Allgemeinen durchaus entgegen.128 Darüber hinaus schwächt die HE Vb-Bearbeitung die auf den Verfasser des HE C zurückgehende Verschiebung des Erzählinteresses von Ernsts Abenteuern hin zum heiligen Leben der Adelheid wieder ab.129 Kürzen die HE Vb-Redaktionen ansonsten zumeist ihre Vorlage, so erzählen sie die Einflussnahme der Adligen auf Adelheid breiter. Im HE F geben sie ihr gemeinsam mit Ernst den treuen Rat, vermittels einer zweiten Ehe, weitere Erben zu gewinnen (vgl. Cgm 572, fol. 25v.). Die unausgesprochene Motivation dafür dürfte in der Absicherung der Erbfolge bestehen. Denn solange Ernst der einzige mit legitimem Anspruch auf die Herzogswürde ist, bleibt die Absicherung prekär. Das Thema der rechtmäßigen Herrschaft über Bayern und Österreich wird damit fortgeführt. In keinem der HE Vb-Drucke wird dagegen das genealogische Argument angeführt. Stattdessen ist das höfische Kommunikationssystem differenzierter dargestellt, die Adligen begehren nicht nur direkt von Adelheid, sich wieder zu verheiraten, sondern bitten darüber hinaus Ernst, dementsprechend auf sie einzuwirken. Dessen Insistieren führt letztlich dazu, dass sich die Herzoginmutter nicht länger weigert, sondern gelobt, „sich willig“ in eine Ehe zu „ergeben“, sollte die Verbindung „jrem Geschlecht“ keinen „schaden“ zufügen (Han 1, fol. Aiijv.). Dieser ‚Schaden‘ kann sich sowohl auf den gesellschaftlichen Rang des potentiellen Ehemanns beziehen als auch – eingedenk der wenig später geäußerten Vision – auf das problematische Verhältnis ihres Sohnes zu einem Stiefvater. Die HE F-Redaktionen erzählen indes vor dem nun erfolgenden Exkurs zur Vorgeschichte Ottos nichts von einer Einwilligung Adelheids, sondern lassen, indem sie weiterhin darauf hofft, gottgefällig leben zu können, ihre Antwort in der Schwebe (vgl. Cgm 572, fol. 25v.). Die Ausführungen über Otto und seine erste Frau Ottegeba nehmen im Vergleich mit der eigentlichen Elternvorgeschichte rund den vierfachen Raum ein (vgl. Cgm 572, fol. 25v.–26v.). Es ist daher nicht zurückzuweisen, wenn es in diesem Abschnitt über den Roman heißt, dass „dise histori gruntlich“ von Otto handle (Cgm 572, fol. 26r.) beziehungsweise „auß der massen gar gruntlichen“ über ihn „gemachet“ sei (Sorg 3, fol. aiijr.).130 Einerseits werden seine Vorfahren
128 Vgl. stellvertretend Wiemann: Erzählstruktur im Fortunatus, S. 295, und Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman, S. 91 f. (zum Romanerzählen des sechzehnten Jahrhunderts). 129 Vgl. Bartsch: Herzog Ernst, S. L; Hans-Joachim Behr/Szklenar: Art. Herzog Ernst, S. 1186, sowie Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 95–168, vor allem S. 122. 130 HE F Sorg 2 und Knoblochtzer stehen der Formulierung von Cgm 572 näher, dem Münchner Exemplar von Sorg 1 fehlt fast die ganze erste Lage und damit auch der vorliegende Abschnitt. Die Redaktionen des HE Vb variieren die Formulierung von Sorg 3 (vgl. stellvertretend Han 1, fol. Aiiijv.f.).
346
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
vorgestellt: sein Großvater, Sachsenherzog Otto, durch dessen Ehefrau das Geschlecht mit Karl dem Großen verwandt ist, und sein Vater Heinrich der Vogler mit Ottos Mutter Mechthild.131 Andererseits geht es hier um wichtige Daten und Stationen seines König- und Kaisertums: die Kaiserweihe zu Rom, die Eroberung Straßburgs sowie die Unterwerfung zahlreicher Länder und Völker, insbesondere der Sieg über die Ungarn vor Augsburg132 und die Gründung Magdeburgs mit der ausführlich beschriebenen Stiftung des Bistums zu Ehren des Ritterheiligen Mauritius.133 Wie bei diesem zugleich „himelischen vnnd ritterlichen“ Märtyrer (Sorg 2, fol. 4r.134) werden Ottos weltliche Taten in der Beschreibung christlich überhöht. Wenn er dem Heiligen Römischen Reich andere Länder unterwirft, kennzeichne ihn dies so gleichermaßen als „liebhaber [...] aller götlichen vnd menschlichen gerechtickeit“ (Cgm 572, fol. 26r.135). Und wenn er Straßburg „erstört“ und „mit gewalte“ erbricht, handelt er zugleich als ein alter Adam, welcher der Stadt hernach einen neuen Namen verleiht (ebd.). Vielleicht lässt es sich vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Gültigkeit beider Logiken, der innerirdischen und der jenseitig ausgerichteten Überhöhung des kaiserlichen Tuns, rechtfertigen, dass die HE Vb-Redaktionen Otto sowohl als großen Eroberer zeigen als auch darauf verweisen, dass er „lebet inn gutem friede“ (Han 1, fol. Avr.). Anders als die zahlreichen Ersetzungen von Jahreszahlen136 hat diese Interpolation jedenfalls sinnstiftendes Potential.
131 Kurz zur ‚Garnnetz‘-Anekdote, die Heinrich zu seinem Beinamen verhilft, S. 516f. im Kap. 3.3.3. 132 Einzig HE Vb Fleischhauer motiviert das ansonsten für sich stehende historische Ereignis damit, dass die Ungarn zuvor alles Land verdorben hätten (vgl. S. 6). 133 John L. Flood weist mögliche Quellen für die chronikalisch-enzyklopädischen Ergänzungen des HE C durch den HE F nach (vgl. Flood: Geschichtsbewußtsein, S. 140 f., sowie zur Ergänzung von Details zu Ottos Geschlecht und Vorgeschichte auch Bartsch: Herzog Ernst, S. LXXV; Heselhaus: Märe und History, S. 220, sowie Hans-Joachim Behr/Szklenar: Art. Herzog Ernst, S. 1183). 134 Cgm 572 hat hier anstelle des ersten Adjektivs das Substantiv „hÿmelfürst[ ]“ (fol. 26r.). 135 Der hier wichtige zweite Teil, die ‚menschliche‘ Gerechtigkeit, fehlt in den weiteren Redaktionen. 136 Der HE F ergänzt hier vor allem Augsburger Lokalkolorit. Dazu gehört die Erwähnung des Augsburger Bischofs Ulrich (vgl. dazu Flood: Geschichtsbewußtsein, S. 143 f., sowie zu dessen Verehrungsstätte St. Ulrich und Afra S. 321–329 in der Einleitung zu Teil 3). Dabei zeichnet sich HE F Sorg 3 durch besondere Ulrich-Frömmigkeit aus, wenn er hier von „de[m] lieb herr[n] sant Vlrich“ schreibt (fol. aiijv., meine Hervorhebung). Da den Mainfrankfurter Bearbeitern im Umkreis Weigand Hans derartiger Lokalpatriotismus fern liege, habe sich nach Flood mit den Redaktionen des HE Vb der „Sinn für Geschichte verflüchtigen“ müssen, was zu offensichtlichen Problemen bei der Chronologie der Ereignisse führt (ebd., S. 145; vgl. dazu auch Flood: Einleitung, S. 59 f.,
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
347
Wie die Elternvorgeschichte Ernst wertet dieser genealogisch-enzyklopädische Exkurs Otto als Hauptfigur des Romans auf. Wie jener rechtmäßig seine Erblande regiert, herrscht Otto als gegenüber Gott und Menschen verdienter Kaiser und „Lands vater“ (Cgm 572, fol. 26r.). Wie bei Otto und weiter oben bei Adelheid achtet der Roman auch bei der Figurenzeichnung von Ottos erster Frau Ottegeba darauf, sie mit Tugenden zu versehen, die sie „got vnd den menschen“ gleichermaßen angenehm machen (Cgm 572, fol. 26v.). Während die HE Vb-Redaktionen dabei die weltliche Seite stärker betonen und von einer „auß dermassen [...] schoͤ ne[n] Haußfrawen“ (Han 1, fol. [Avj]r.) oder „eine[r] sehr schoͤ ne[n] Jungfrau“ (Zirngibl, S. 6) schreiben,137 ist es im HE F ihre christlich-überweltliche Seite, die herausgehoben wird, wenn Otto mit ihr „ein hailig lebendige hausfraw“ ehelicht (Cgm 572, fol. 26v.). Besonders deutlich fällt die Kürzung der jenseitigen Komponente im Hinblick auf Ottos Handeln bei Ottegebas Tod und ihrer Beerdigung aus. Befiehlt er im HE F ihre Seele Gott, während er „die Jrdischen materi Jrs leibs [...] begraben“ lässt (Cgm 572, fol. 26v.), so berichten die HE Vb-Redaktionen nur das Faktum ihrer Bestattung (vgl. Han 1, fol. [Avj]r.). Dabei entfällt auch die indirekte Einordnung des Kaisers in die christliche Hierarchie, in der Gott „Oberste[r] kaiser“ ist (Cgm 572, fol. 26v.).138 Wie oben fehlt auch hier der Hinweis auf die Gott unterworfene „menschliche[ ] nature“ (ebd.). Stattdessen charakterisiert der HE Vb die Welt als „elendes jamerthal“ (Han 1, fol. [Avj]r.), das aber ebenfalls göttlichem Einfluss ausgesetzt ist. Es darf also nicht der Eindruck entstehen, dass die angesprochene Bearbeitungstendenz konsequent durchgeführt sei. Die folgende Reflexion Ottos über die Vorzüge des Ehestands, was die Gefahr von „bös anfechtunge vnd begirde des flaÿsches“ anbetrifft, und sein Plan zur Wiederverheiratung mit einer „götliche[n] vnd fromm fraẅen“ sind so im HE Vb fast ohne jede Änderung übernommen (Cgm 572, fol. 26v., vgl. Han 1, fol. [Avj]r.f.).139 Esther Ringhandt bemerkt, dass der HE F Ottos Macht gegenüber dem Rat der Fürsten im Vergleich zu älteren Fassungen der Ernst-Geschichte, aber auch mit
sowie Flood [Hg.]: Frankfurter Prosafassung, S. 78, Anm. zu 1 ff.). Allerdings ist schon im HE F das Datum von Ottos Kaiserkrönung nicht korrekt (vgl. Flood: Geschichtsbewußtsein, S. 141). 137 Die Verschiebung ist allerdings keineswegs konsequent durchgeführt, da der HE Vb Ottegebas Demut beim Sterben eigens in die Vorlage interpoliert (vgl. Han 1, fol. [Avj]r.). 138 Im HE Vb fehlt auch anders als im HE F jegliche Prachtentfaltung bei der Wiedergabe der Beerdigungszeremonie. Allein Zirngibl ergänzt wieder ein verstärkendes Adverb, das jedoch blass bleibt („sehr herrlich“, S. 6). 139 Leicht variiert wird dabei die zitierte Passage, die dadurch an Prägnanz gewinnt: „boͤ se Anfechtung durch Begierde des Fleisches“ (Singe, fol. Avr.), wobei schon HE F Sorg 2 die ursprüngliche Beiordnung durch einen Genitivanschluss ersetzt (vgl. fol. 4v.). Zum intertextuellen Verweis des Erzählers auf den Apostel Paulus vgl. S. 462 im Kap. 3.1.2.3.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
den historisch realen Verhältnissen steigere.140 Denn er verkündet hier nicht nur seine Vermählungsabsicht, sondern nennt mit Adelheid sogleich den Namen der Kandidatin (vgl. Cgm 572, fol. 26v.). Der HE Vb nimmt den Kompetenzzuwachs aber zurück und lässt die letzte Entscheidung „allesampt mit dem gantzen Rath“ fällen (Han 1, fol. [Avj]v.). Im Übrigen erkennen fast alle Redaktionen der anschließenden Werbungsfahrt höchstes protokollarisches Gewicht zu. Im HE F wird einer der obersten Räte nach Bayern entsandt (vgl. Cgm 572, fol. 26v.), im HE Vb ist es allerdings je nach Redaktion ein „gewaltige[r]“ (Han 1, fol. [Avj]v., und die meisten anderen Drucke141), ein „sehr große[r]“ (Zirngibl, S. 7) oder nur ein „große[r]“ (Everaerts, S. 7) beziehungsweise ein „ansehnliche[r]“ Herr als Bote (Fleischhauer, S. 8). Dessen Ersuchen überrascht Adelheid, die in allen Redaktionen „von ganczem herczen“ erschrickt (Cgm 572, fol. 26v.). Der HE F motiviert die heftige Reaktion mit der Sorge, die „kaÿserliche[ ] begird“ könne ihren „götlichen wercken vnd himlischem leben“ als Witwe entgegenstehen und dasselbe gegen ihren Willen beenden (ebd.).142 Alle HE Vb-Drucke verzichten auf die im HE F mehrfach verwendete ‚Begierde‘ und erklären das Erschrecken kausallogisch aus „jrem Christlichen wesen vnnd ganz erbarem Leben“ (Han 1, fol. [Avij]r.), ohne dass sich hier erkennen ließe, worin der Widerspruch zu Ottos Ehegesuch eigentlich begründet ist.143 In ihrer Seelennot sucht Adelheid die Hilfe ihrer Räte sowie ihres „getreẅe[n] sun[s]“ Herzog Ernst und dessen „getreẅe[n] freünd[s]“ Wetzelo (Cgm 572, fol. 27r.). Nur im HE F kommt es nach anfänglichen Meinungsverschiedenheiten „durch
140 Vgl. Ringhandt: HE-Fassungen, S. 305–307. 141 Hier müsste im Einzelfall geklärt werden, wie lange die alte Bedeutung im Sinne von potestas noch verstanden werden kann und ab wann das Adjektiv vom Leser auf vis bezogen würde (vgl. dazu den Art. Gewaltig im Grimm’schen Wörterbuch, Bd. 6, S. 5112 f., sowie den Art. gewaltig im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch, Bd. 6,4, S. 1808–1818). 142 Der Vergleich mit der paulinischen Ehelehre zeigt jedoch, dass Adelheids Sorge unbegründet ist (vgl. S. 462f. im Kap. 3.1.2.3). Im HE B ist die Anfechtung durch Ottos Werbungsbrief maximiert, jedoch nicht in sexueller, sondern in machtpolitischer Hinsicht. Der Kaiser stellt Adelheid in Aussicht, „koniginne | Ob allen romeschen richen“ zu werden (V. 364 f.), sodass sich „[i]n der werlt keyn wyp“ mit ihr vergleichen könne (V. 367) und alle ihr untertan sein würden (vgl. V. 371– 374 und V. 391 f.). Die Diskrepanz von angestrebtem Witwenstand und in Aussicht gestellter Würde einer Kaiserin ebnet der Versroman jedoch auf der Dimension der Figurenperspektive ein, indem Adelheid Ottos weltliches Ansinnen zu einem göttlichen Gnadenerweis umdeutet (vgl. V. 396–401). 143 HE Vb Trowitzsch, S. 6, verkürzt nicht etwa die nachfolgende umständliche Beschreibung der Ratsfindung, sondern die ohnehin verknappte Bemerkung zu Adelheids Witwenstand.
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gottlichs einsprechen“ (ebd.)144 zu einem „ainmüticlichen“ Rat, zu einer Annahme der Werbung. Indem Adelheid „onerschrockenlich solt willig“ Ottos „begirde“ entsprechen (ebd.), bleibt vermittels der Wortwahl die eingeführte Diskrepanz aber gewahrt. Dass diese wider das Erwarten der Räte ihren Schrecken für die Witwe nicht verliert, zeigt das weiter unten auch von ihr entworfene Zukunftsszenario. Gemeinsam ist allen Varianten der vorliegenden Textstelle, dass es eine Beratung unter Ausschluss Adelheids gibt, sie deren Ergebnis jedoch kennt und im Folgenden ihre Sorge hinsichtlich der Konsequenzen dieses Rats zum Ausdruck bringt. In den meisten Redaktionen des HE Vb weiß Adelheid, was bei der „heimliche[n] offenbarung“ (Han 1, fol. [Avij]v.) beschlossen wurde – ohne dass die Quelle ihrer Kenntnis thematisiert würde. Bei Singe weiß sie dagegen „von heimlicher Offenbarung/ was jhr habt beschlossen“ (fol. [Avj]v., meine Hervorhebung). Die Formulierung bezieht sich bei Singe also nicht auf die Klausur, sondern auf Adelheids Wissensquelle, die dennoch unbestimmt bleibt. Im HE F ist es Ernst, der Adelheid offiziell den Entschluss des Rates zur Annahme der Werbung mitteilt. Auf die unerwünschte Forderung, sich willig der kaiserlichen Begierde zu unterwerfen, antwortet sie in HE F Cgm 572: „Jch enwaiß von was haimlicher offenbarung“ (fol. 27r.). Es muss sich dabei um einen kommentierenden Ausruf der Herzoginmutter handeln, da sich direkt darauf der Erzähler einschaltet und sich die weitere Figurenrede nicht an den zitierten Satz anschließen lässt.145 Daran ändert sich nichts, wenn in den Drucken Sorgs und Knoblochtzers das Negationspräfix entfällt (vgl. stellvertretend Sorg 2, fol. 5r.).146 Doch zeigt sie sich durch die Änderung als hellsichtig, denn die Wendung muss sich im HE F auf jene Einflussnahme Gottes beziehen, welche die Räte „durch gottlichs einsprechen“ (Cgm 572, fol. 27r.) als einer Form ‚heimlicher Offenbarung‘ zu einer einvernehmlichen Lösung führt. Im HE Vb fehlen dagegen die anfängliche Uneinigkeit und damit die göttliche Einflussnahme auf die Beratung (vgl. Han 1, fol. [Avij]r.f.). Das bloße Ergebnis aber korrekt vorherzusehen, ist so wahrscheinlich, dass Adelheid zum erreichten Handlungsfortschritt noch nicht visionär begabt sein muss. Konsequenterweise entfällt im HE Vb der redeeinleitende Erzählerkommentar „Als ob sÿ künftige dinge weste“ (Cgm 572, fol.
144 HE F Knoblochtzer und Sorg 2 veräußerlichen die vox Dei, wenn sie stattdessen von „ansprechen“ (fol. 3v.) beziehungsweise von „außsprechen“ schreiben (fol. 5r., meine Hervorhebungen). 145 Ich greife an dieser Stelle dem Kap. 3.1.2 etwas vor, da sich die textgeschichtlichen Varianten nicht von der Erzählperspektive trennen lassen. 146 Die Verhältnisse sind daher deutlich komplizierter, als es Floods Bemerkung bei seiner Konjektur des HE Vb-Textes vermuten lässt (vgl. Flood [Hg.]: Frankfurter Prosafassung, S. 80, Anm. zu 74). Zu der entsprechenden Stelle im HE C vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 131 und S. 141.
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27r.). Die interne Prolepse wird dadurch unabhängig von der Bestätigung durch spätere Ereignisse zukunftsungewiss. Allerdings versieht sie in den HE F-Redaktionen selbst die Voraussicht mit einem einschränkenden „villicht“ (Cgm 572, fol. 27r.).147 Sie befürchtet „ettlich zwiträcht vnd onaÿnikait“ zwischen Otto und Ernst, den sie als „strengmütige[n] Jungling“ charakterisiert. Im HE Vb entfällt diese psychologische Motivierung ihrer Sorge (vgl. Han 1, fol. [Avij]v.). Überraschenderweise behalten aber alle Redaktionen Adelheids biblisches Oxymoron bei, nach der sie durch ihre Trauer lebendig tot sein werde. Dies zitiert erneut Paulus’ ersten Brief an Timotheus, der mit der Formulierung Witwen bezeichnet, die nicht alleine bleiben, sondern wollüstig leben (1 Tim 5.6). Auf der intertextuellen Ebene sind damit der auf Handlungsebene entfaltete Konflikt und Adelheids Sorge um die eigene Unversehrtheit enggeführt. Mit „manlichen worten“ verspricht ihr Ernst nun nicht nur – angelehnt an das Trauungsgelöbnis –, Otto „[i]n glucksamen vnd auch in widerwärtigen sachen“ gehorsam zu sein (Cgm 572, fol. 27r.). Er drückt darüber hinaus die Hoffnung aus, Gottes barmherzigen Beistand zu erlangen, wobei er den „[i]rdischen kaiser“ in eine Hierarchie unter den barmherzigen „Obersten kaiser[ ]“ einordnet.148 Somit bringt ihr Sohn Adelheid dazu, in das Ende ihres Daseins als fromme Witwe einzuwilligen.149 Indem also eine Vorausdeutung auf den späteren Konflikt an der vorliegenden Stelle eingefügt ist, überspielt der Roman die Unvereinbarkeit von Adelheids Wunsch und der handlungslogisch notwendigen Hochzeit.150 Zuletzt wird der kaiserliche Bote mit Adelheids Zustimmung zu Ottos ‚Begierde‘ (HE F) beziehungsweise ‚Begehren‘ (HE Vb) und der Nennung eines konkreten Hochzeitstermins abgesandt.151 Kaiser Otto ist über diese Nachricht „von herczen fro“ (Cgm 572, fol. 27v.) und bricht sofort auf, um Adelheid zur Hochzeit nach Mainz zu führen. Der Bericht
147 Allein der späte HE Vb Trowitzsch ersetzt den Potentialis durch temporale Gewissheit (vgl. S. 7). 148 Im HE Vb sind die Beschwichtigungen Ernsts im Kern identisch, lediglich die Emphase ist etwas abgeschwächt (vgl. Han 1, fol. [Aviij]r.). Nur in HE Vb Zirngibl qualifiziert der Herzog die Furcht seiner Mutter als „sorglos[ ]“ ab (S. 8). 149 Die HE Vb-Redaktionen emotionalisieren dabei die Mutter-Sohn-Beziehung, indem Adelheid Ernsts Worte in ihr Herz fasst (vgl. Han 1, fol. [Aviij]r.). 150 Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 143 f., weist darauf hin, dass der HE C die dort strukturanalog bestehende Problematik durch das Ausblenden jeglicher Sexualität in der Beziehung von Otto und Adelheid löse. 151 HE Vb Zirngibl bezieht die Formulierung nicht auf den Boten, sondern auf eine Nachricht. Die „froͤ hliche Bothschaft“ (S. 8) kann sich je nach Bezug des Possessivpronomens entweder auf Ernsts Ermutigung oder auf Ottos Ersuchen beziehen.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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partizipiert aber nicht an der höfischen Prachtentfaltung, worauf schon Uwe Meves aufmerksam macht.152 Es ist in Hinblick auf die Adelheid-Figur aber wichtig, dass darüber hinaus Emotion – von der pauschalen Erwähnung „hochzeitlich[er] freẅde“ (ebd.) abgesehen – ausgeblendet wird und vor allem dass der Roman keinerlei Überhöhung des christlichen Sakramentes vollzieht. Es geht hier allein um den juristischen Vollzug und um die Demonstration kaiserlicher Macht bei Ausdruck äußerlicher „weltwirdikeit“ (ebd., der Begriff nur im HE F).153 Adelheid bleibt dabei auffällig passiv: Sie wird Otto von Ernst entgegengeführt, jener bringt sie nach Mainz, wo es Otto ist, der „nach keiserlicher macht die hochzeit mit Jr vollendet“ (ebd.). Auch bei dem anschließenden Umritt ist Adelheid nur die Begleiterin des Kaisers. Sie nimmt ihr Schicksal in Demut an. HE F und HE Vb gestalten das erste Aufeinandertreffen Ernsts mit Otto sehr unterschiedlich. Adelheid steht dabei immer am Rande. Sie freut sich, beschenkt Ernst und die Seinen und bittet ihn im HE Vb zusätzlich, Otto gehorsam zu sein (vgl. HE F Cgm 572, fol. 27v.f., und HE Vb Han 1, fol. Br.f.). Im Zentrum zeigt der Roman dagegen das Verhältnis von Stiefvater und Stiefsohn beziehungsweise von Kaiser und Herzog. Ernst ist stets Ottos ‚allerliebster Sohn‘, doch treten die persönlichen Beziehungen in den Redaktionen des HE F deutlicher hervor. „[V]mb die liebe deine[r] muͦ ter“ möchte Otto ihn „für mein lieben sune“ halten „mit ganzer begirde“ (Cgm 572, fol. 27v.). Dieses Entgegenkommen verbindet der Stiefvater dabei einerseits mit dem durch die Vorgeschichte belasteten Begriff der ‚Begierde‘ und andererseits mit einer Plausibilisierung seines Handels, indem sich Adelheid „[i]nn allen dingen“ seinem Willen unterwerfe (ebd.). Im HE Vb, der oben die Problematik um Adelheids Verlust ihres Witwenstandes stark abschwächt, hat Otto Ernsts „Mutter von gantzem hertzen lieb“, begründet sein Wohlwollen dem Stiefsohn gegenüber jedoch mit dessen „frummkeit vnd mannheit“ (Han 1, fol. Bv.).154 Ernst ist im HE F als „mÿnniclichen“ liebender Sohn, „nit als ein Stuifsune“, gezeichnet, den eine „onzertrennte[ ] früntschäft[ ]“ mit dem Stiefvater verbindet (alle Cgm 572, fol. 28r.). Während er im HE Vb dagegen dem Kaiser zu Fuß fällt und ihm „als ein gutwilliger Son“ vor allem „vnderthenig vnd gehorsam“ sein möchte (Han 1, fol. Br.).155 Dadurch schließt der HE Vb einen
152 Vgl. Meves: Studien zu HE, S. 205. – Vgl. dagegen die Beschreibung im HE B, V. 479–519. 153 Die textgeschichtliche Varianz ist innerhalb dieser Passage nicht entscheidend. 154 In den Redaktionen des siebzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts wird die Bedeutung ‚Tüchtigkeit‘ nicht mehr verstanden und das Wort durch ‚Frömmigkeit‘ ersetzt (vgl. stellvertretend Singe, fol. [Aviij]v.). 155 Es trifft meines Erachtens daher eher für den HE Vb zu, dass Ernst nicht wie Ottos Sohn, sondern „nur so [...] ‚als ob‘“ er es wäre, behandelt wird, was Ringhandt: HE-Fassungen, S. 327, allerdings im Vergleich mit älteren Fassungen für den HE F reklamiert; zur Veräußerlichung von
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strukturellen Rahmen um die Ernst-Otto-Handlung, die zu Anfang wie am Ende von der Unterwürfigkeit Ernsts geprägt ist. In allen Redaktionen macht Ernst im Folgenden dem Reich und dem Kaiser Ehre, indem er als eine „veste mure“ (Cgm 572, fol. 28r.) die Länder vor „vnbilligkeit“ schützt (Han 1, fol. Bijr.). Entscheidend ist aber, dass Otto im HE F Ernst „zuͦ den höchsten eren“ fördert und ihn zum „nächste[n] nach seiner vnd der kaÿserin persone“ macht (Cgm 572, fol. 27v.f.). Wie eine abschließende Verspassage kommentiert, provoziert dies aber Neid und Sturm (vgl. Cgm 572, fol. 28r.). Der HE Vb ersetzt die aus HE C stammende Reimprosa-Stelle durch eine längere Prolepse156 auf Pfalzgraf Heinrich, der als „vngetrewer falscher mann“ Einigkeit, Ruhe und Frieden nicht lange mit ansehen könne und auf eine „falsche[ ] list“ sinne, damit Ernst „des Vatters huld verluͤ r“ (alle Han 1, fol. Bijr.). Dadurch dass hier aber Ernsts allzu große Überhöhung entfallen ist, gerät der neidische Intrigant im HE Vb zu einer Teufelsfigur,157 die darauf aus ist, Chaos zu stiften.
3.1.1.2 Die erste Reichshandlung: Heinrichs Verleumdung und seine Ermordung durch Herzog Ernst Erst im folgenden Kapitel berichten auch die HE Vb-Redaktionen vom Neid als Auslöser der Verleumdung durch den Pfalzgrafen (vgl. Han 1, fol. Biijr.). Auf die schwierige Charakterisierung Heinrichs durch den Erzähler als „der Ander Achitouel“ (Cgm 572, fol. 28v.; nur im HE F) gehe ich unten ein.158 Er verweist selbst darauf, dass Otto den „an eẅrs suns stat“ Geliebten den etablierten Räten vorziehe (Cgm 572, fol. 28v.).159 Dabei sinne der „ongetrewe“ auf Ottos Tod, um selbst zu herrschen. Entsprechend der Themensetzung im Anfangskapitel wird die ‚Erblichkeit‘ der vermeintlich angestrebten Herrschaft hervorgehoben (vgl. ebd.), was
Standespositionen vgl. ebd., S. 293–295 und S. 323–327. – Flood: Einleitung, S. 60, weist darauf hin, dass die Bearbeitung auch vermittels des Fußfalls Ernsts Unschuld am folgenden Geschehen stärker betone. – Für die Deutung dieses Vorgangs als strukturelles Ereignis vgl. S. 473f. im Kap. 3.2.1. 156 Zukunftsungewiss ist dagegen Ottos Voraussicht im HE F, nach der es „mit gotes vergangknuss vnd deiner [Ernsts, S.A.S.] hilfe“ möglich sei, Mord, Raub und Verwüstung vom Römischen Reich fernzuhalten (Cgm 572, fol. 28r.). Ich gehe auf S. 457f. im Kap. 3.1.2.2 näher darauf ein. 157 Im HE B wird Heinrich auf der Dimension von Ernsts Figurenperspektive explizit „valant“ genannt (V. 1302), vgl. zur Charakterisierung des Pfalzgrafen im Versepos auch V. 650, V. 653– 657, V. 673–679, V. 722 f. und V. 744 f. 158 Vgl. S. 461f. im Kap. 3.1.2.3. 159 Dabei findet Heinrich nur aufgrund seiner Verwandtschaft Gehör beim Kaiser, der Ernst gleich zwei Mal als seinen „liebsten sun[ ] vnd getreẅesten fürsten“ in Personalunion bezeichnet (Cgm 572, fol. 28v.).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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im HE Vb jedoch entfällt. Insgesamt ist im HE Vb der Wortlaut der Verleumdung abgekürzt, entspricht inhaltlich aber der Vorlage (vgl. Han 1, fol. Biijr.). Jedoch wird die von Heinrich gebrauchte Metaphorik ersetzt: Die Waffenmetaphorik des HE F evoziert einen Kriegszustand, in dem sich Ernst bereits durch „das geschoss seiner böswillikait“ und „den bogen seiner ontreẅe“ befinde (Cgm 572, fol. 28v.).160 Daher appelliert Heinrich hier an Ottos „schilte“ der „fürsichtikeit“ (ebd.). Am Ende des Verleumdungsteiles ihres Gesprächs reagiert Otto dementsprechend und kündigt an, Ernst zu „vernichten vnd [zu] erstören sein schalkhaftig bös liste“ und zwar beim Schall des „pluͦ tig[en] herhorn[s]“ (fol. 29r.). Wie Absalom, der Herr Ahithophels, David zu töten wünscht, möchte Otto Ernst töten.161 Im HE Vb wünscht Otto trotz seines Zorns – weniger martialisch –, Ernst zu vertreiben (vgl. Han 1, fol. Biiijr.).162 Heinrich spricht in diesen Redaktionen zuvor lediglich von Ernsts „boͤ se[m] begirigen hertzen/ das zu solcher boßheit geneigt“ sei (ebd., fol. Biijr.) und verharmlost den vermeintlich geplanten Mord etwas später als „buͤ berey“ (ebd., fol. Biiijr.). Die größte Änderung der HE Vb-Redaktionen hinsichtlich der äußeren Handlung besteht jedoch darin, dass Otto zunächst auf den Verleumder selbst zornig ist (vgl. Han 1, fol. Biijv.).163 Er glaubt Heinrich nicht, da Ernst und auch Adelheid164 bislang über allen Tadel erhaben seien, und wünscht, die Namen von dessen Informanten zu erfahren (vgl. ebd., fol. Biijv.f.).165 Entscheidend ist bei Heinrichs Antwort nicht, dass er vom Mordplan „von zweien oder dreien“ (ebd., fol. Biiijr.) beziehungsweise „von verschiedenen“ Ungenannten (Zirngibl, S. 12) erfahren habe, sondern dass er darüber hinaus die eigene Ohrenzeugenschaft behauptet. Die Autorität des Pfalzgrafen bleibt insofern auch in den interpolierten Redaktionen gewahrt. Im HE F genügt die Tatsache, dass es der mit dem Kaiser verwandte Heinrich ist, der sich mit den Anschuldigungen an Otto wendet, um sogleich Glauben bei ihm zu finden.
160 Schon im HE F Sorg 2 ist diese Bildlichkeit verunklart, wenn das „geschoss“ durch „geschloß“ ersetzt ist (fol. 7v.). 161 Vgl. 2 Sam 13.23–33 und 2 Sam 15–18. 162 Bei HE Vb Everaerts, S. 12, und Trowitzsch, S. 11, weicht der ‚Zorn‘ sogar einem bloßen ‚Unwillen‘. 163 Vgl. dazu Flood: Einleitung, S. 60 f. 164 Ihre Erwähnung ist nicht motiviert, dürfte jedoch daher rühren, dass Otto im HE F in einer hier ausgelassenen Reflexion über den zweifachen Schaden von Heinrichs Anschuldigungen hinsichtlich Ernst und Adelheid nachdenkt (vgl. Cgm 572, fol. 28v.). 165 In den älteren Redaktionen des HE Vb bezeichnet Otto Heinrichs Aussage als „verraͤ terey“ (Han 1, fol. Biijv.). In den jüngeren Redaktionen zeigt die alternative Formulierung „Nachricht“ beziehungsweise „Nachrichtung“, dass er der Verleumdung hier bereits Glauben schenkt (vgl. L2, S. 12; Fleischhauer, S. 13; Zirngibl, S. 12; Everaerts, S. 11; Trowitzsch, S. 11; P1, S. 11, und M2, S. 12).
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Um das, womit der HE Vb den ersten Teil des Gesprächs verlängert, verkürzt er den zweiten. Dieser beschränkt sich insofern auf den eigentlichen Rat Heinrichs, in Abwesenheit Ernsts und „ohn der Keiserin wissen“ Krieger zu sammeln, um Ernst zu verjagen (Han 1, fol. Biiijr.). Betont der HE F Ernsts Unschuld (vgl. Cgm 572, fol. 29r.f.), erwähnt der HE Vb dagegen die Unwissenheit Adelheids ein zweites Mal, wenn Heinrich anschließend selbst das Heer zum Feldzug rüstet. Besteht dieses in den Redaktionen des sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhunderts aus „mannliche[n] Ritter[n]“ (Han 1, fol. Biiijv.), werden diese in späteren Redaktionen zu „wohl muntirte[n]“ (P1, S. 12; M2, S. 13, ähnlich Trowitzsch, S. 12) oder sogar zu „wohl gekleidete[n] Leute[n]“ (Endter 2, S. 12; Everaerts, S. 12), was Heinrichs scheiternder Unternehmung den letzten Rest Heldenmäßigkeit nimmt. In den HE F-Redaktionen ist es dagegen Otto, der „uil guͦ ter streÿtperlicher Ritter“ in den Kampf mit Herzog Ernst schickt (Cgm 572, fol. 29r.). Vor allem aber zeigt Heinrich im HE F Otto einen zweifachen Treuekonflikt auf. Nicht nur sei Otto seiner Frau, aber mehr noch dem Reich zur Treue verpflichtet. Und er müsse darüber hinaus erkennen, dass Adelheid „[i]nn müterlicher treẅe“ Ernst treuer sein werde als ihrem Mann und Kaiser (Cgm 572, fol. 29r.). Ehe er Otto rät, die Kaiserin – und die Räte – uneingeweiht zu lassen, übernimmt Heinrich also Adelheids Perspektive, um deren mutmaßliche Konsequenzen gegen die Herzoginmutter zu wenden. Andernfalls werde Ernst rechtzeitig gewarnt und der Schaden für das Reich vermehre sich. In Bezug auf Otto wird die Entscheidung zwischen widerstreitenden Loyalitäten als Akt der Vernunft inszeniert. Das Adelheid unterstellte Verhalten dagegen mit einem misogynen Reimpaar als ‚Wankelmut‘ diskreditiert: „Dann wankeln muͦ t mit widerstreit tragent die frawen zü aller zeit“ (ebd.).166 Diese Erwägungen haben keine Entsprechung im HE Vb. Das Erzähltempo der nun folgenden Kriegshandlung ist stark gerafft, sodass sich bei der Lektüre ein Eindruck sich überschlagender Ereignisse einstellt. In allen Redaktionen verwüstet das kaiserliche Heer unter Heinrichs Führung weite Landstriche Österreichs „mit rauben . mit prennen . vnd andern solichen übeln“ (Cgm 572, fol. 29v.). Erneut betont der HE F, dass es sich um Ernsts „rechtes erbaigen“ handelt (ebd.) und schließt einen kurzen enzyklopädischen Exkurs an, nach dem die Ländereien in späterer Zeit dem Bistum Würzburg geschenkt worden seien. Der HE Vb nutzt diese Nennung, um Heinrichs Feldzug auf eben
166 Dies ist mit Ottos Selbststilisierung als Fortuna zusammenzusehen: Obwohl er Ernst selbst erhoben hat, sieht er es aufgrund von Heinrichs Verleumdung als angemessen an, dem Stiefsohn seine „gleserin zerbrechenlich lobe vnd gunst“ wieder zu entziehen und denselben zu „diemütigen vnd nÿdern“ (Cgm 572, fol. 29r.). Otto kann aus dieser Perspektive frei über irdische Güter verfügen, ohne dass dies als Akt des Wankelmuts anzusehen wäre.
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dieses Bistum auszuweiten (vgl. Han 1, fol. Biiijv.). Immer aber wendet sich das Heer in kürzester Zeit gegen Bamberg. Im HE F wird der überraschende Angriff dadurch verschlimmert, dass sich nicht näher bezeichnete Kräfte im Innern gemeinsam mit den Belagerern gegen die Bürger wenden (vgl. Cgm 572, fol. 29v.). Die HE Vb-Redaktionen motivieren dies, indem sich Heinrich hier einer Kriegslist bedient: Wie der ganze Krieg heimlich ohne Wissen der Kaiserin, der Räte des Reiches und des angegriffenen Herzogs begonnen wird, schleicht sich eine Vorhut unerkannt in die Stadt, um in „schnelle[r] eil“ über die Bürgerschaft herzufallen, sobald er mit dem Heer nachkommt (Han 1, fol. Biiijv.). Heinrich erweist sich damit im HE Vb doch als ein strategisch kluger Feldherr.167 Wenn die Bamberger Ernst, „jre[n] schutzherren“ (Han 1, fol. Bvr., Formulierung nur im HE Vb), über den Angriff des Pfalzgrafen im Auftrag des Kaisers informieren, sind sie im HE Vb bereits besiegt.168 Im HE F erhoffen sie sich von ihrer Nachricht dagegen noch Beistand von ihrem Herzog (vgl. Cgm 572, fol. 29v.). Nach einem Moment des Erschreckens wendet sich dieser in allen Redaktionen weinend an Gott (vgl. ebd. und Han 1, fol. Bvr.).169 Im HE F hebt Ernst dabei seinen eigenen Dienst an Kaiser und Reich hervor („als obe er mein leiplicher vater were“, Cgm 572, fol. 29v.).170 In den früheren Redaktionen des HE Vb vermutet er hinter Ottos Gesinnungswandel ‚Verrat‘ (vgl. Han 1, fol. Bvr.) oder eine ‚Verleumdung‘ (vgl. L2, S. 14; Fleischhauer, S. 15; Zirngibl, S. 14). In den jüngeren Drucken bleibt seine Vermutung dagegen unbestimmt (vgl. P1, S. 13; Everaerts, S. 13; M2, S. 14; Trowitzsch, S. 12). Ob Ernst mit 3.000 (HE F) oder 4.000 Rittern (HE Vb) in die Schlacht um Bamberg zieht, ist für die textgeschichtliche Entfaltung der Sinnstiftung des Romans unerheblich.171 Wichtig ist jedoch, dass die HE F-Redaktionen zunächst die Suche nach einer Rückzugsmöglichkeit für den Notfall als blindes Motiv einschalten, um Ernsts Zug in „ains leon muͦ t“ umso strahlender erscheinen zu
167 Vor einer einseitigen Verurteilung dieses Vorgehens vor dem Hintergrund der negativen Charakterzeichnung warnen Ernsts Kriegslisten im Orientteil und sein unbarmherziger Kampf gegen Heinrichs Heer im weiteren Verlauf des Romans. 168 Die Verluste bei der Schlacht um Bamberg sind auf beiden Seiten hoch. Nur HE Vb Fleischhauer quantifiziert die Opfer mit „viel hundert“ allein auf der Seite der Kaiserlichen (S. 14). 169 Zur großen Emotionalität des Ernst-Prosaromans vgl. Heselhaus: Märe und History, S. 230 und S. 242; Ringhandt: HE-Fassungen, S. 327–329 und S. 345 f. 170 Lediglich HE F Sorg 3 streicht hier das Adjektiv (vgl. fol. [avij]r.). 171 Bei Han 1 beauftragt Ernst einen namenlosen Herrn mit der Führung des Heerzuges (vgl. fol. Bvv.). Nicht alle HE Vb-Redaktionen folgen diesem Zug der Handlung. Bei Fleischhauer ist Ernst selbst Heerführer (vgl. S. 15); Zirngibl, S. 14; P1, S. 14; Everaerts S. 13; M2, S. 14, und Trowitzsch, S. 12, führen stattdessen einen ebenfalls namenlosen ‚General‘ ein, der jedoch wie der Herr im Han-Druck bei der folgenden Schlacht keine Rolle spielt.
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lassen (Cgm 572, fol. 30r.). Der HE Vb baut entgegen der allgemeinen Kürzungstendenz die vorliegende Ratsszene aus. Die Räte betrauern nach der Lektüre des Bamberger Briefes das „Blutuergiessen“ durch den Pfalzgrafen (Han 1, fol. Bvv.). Das emotionale Moment wird hier damit gegenüber dem Heldenmäßigen der Vorlage stärker gewichtet. Es ist daher nur konsequent, wenn diese Redaktionen gleichzeitig die Brutalität mildern, mit der Ernst im HE F „on barmherczikait“ die „ongewarneten viende“ bei einem morgendlichen Angriff „überrannt“ und „ertot“, ohne Gefangene zu nehmen (Cgm 572, fol. 30r.). Clemens Heselhaus sieht in der Figur des Herzogs an dieser Stelle Züge „des germanischen Ächters“,172 die sich im HE Vb jedoch verlieren. Dabei darf nicht übersehen werden, dass der HE F Ernst zum „ander fürstlich Judas Machabeus“ stilisiert und ihn damit mitnichten in einen germanischen, sondern in einen biblischen Kontext einordnet.173 Er ist der Listenreiche, der sein Heer „weÿslich ordnet vnd fürsichticlich anschicket“, „kecklich zefechten“ (Cgm 572, fol. 30r.). Auf der anderen Seite steht im HE F der „valsch graue“ – der assonantische Anklang an ‚Pfalzgraf‘ ist sicher gewollt –, der sich nur „von scham wegen“ eines „manns muͦ te“ besinnt, letztlich aber doch „mit schantlichem leben“ eine „schamliche flucht“ geben muss (Cgm 572, fol. 30r.f.). Gott interveniert nicht direkt, doch überhöht der Erzähler die poetische als „götliche[ ] gerechttikait“, nach der dem Herzog der Sieg über den Pfalzgrafen gebühre (Cgm 572, fol. 30r.). Im HE Vb sind die Kampfhandlungen entproblematisiert: Heinrich wird in offener Feldschlacht vernichtend geschlagen und „kam kaum daruon“ (Han 1, fol. [Bvj]r.). Dies gerät jedoch zum bislang fehlenden Beweis, dass Ernst „zu mechtig“ sei „mit seinem kriegßuolck“ (ebd.), und provoziert den Kriegseintritt des Kaisers. Otto reagiert nicht wie ein weiser Regent. Er zürnt und gelobt, Rache zu nehmen (vgl. Cgm 572, fol. 30v.). Im HE Vb nimmt er sofort Ernsts Städte „on widerstandt“ ein (Han 1, fol. [Bvj]v.). Der unmittelbare Aufbruch und die Widerstandslosigkeit sind neu. Der zweite Teil ersetzt eine Reflexion des Herzogs, der das Ausmaß der Verheerungen durch Heinrich inspiziert und beklagt, Otto habe ihm die Städte „on widersagen“ genommen (Cgm 572, fol. 30v.). Er bezieht sich auf ein Rechtsinstitut (diffidatio), das nach dem Fehdeverbot durch Maximilian I. von 1495 für die HE Vb-Redaktionen keine Bedeutung mehr hat.174 Auch bezieht
172 Heselhaus: Märe und History, S. 225. 173 Vgl. zu den biblischen Bezugnahmen des Erzählers das Kap. 3.1.2.3. – Nicht nur die HE VbRedaktionen tilgen den Vergleich, er ist bereits in den Drucken Sorgs und Knoblochtzers entstellt; vgl. Sorg 2, fol. 9v.: „der annder fürstlich in das Mathabius“. 174 Vgl. Mattias G. Fischer: Reichsreform und „Ewiger Landfrieden“. Über die Entwicklung des Fehderechts im 15. Jahrhundert bis zum absoluten Fehdeverbot von 1495. Aalen 2007 (Unter-
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sich Ernsts Betrübnis durch die Änderung im HE Vb erst auf den neuerlichen Heerzug durch Otto selbst. Die Folge von Heinrichs Verleumdung ist, dass Ernst und Otto unabhängig voneinander das Unrecht des jeweils anderen beklagen. Hier setzt Adelheid an, wenn sie im Folgenden einerseits Ernsts Boten abfängt und anderseits von Otto die Ursache seines Unwillens zu erfahren trachtet (vgl. Cgm 572, fol. 30v., und Han 1, fol. [Bvj]v.). Adelheid gewinnt nun in allen Redaktionen eine aktive Rolle, wobei sie Otto stets zwei Vorschläge unterbreitet, um die Krise zu überwinden. Im HE F nennt sie als erste Lösungsmöglichkeit Vergebung (vgl. Cgm 572, fol. 30v.). Dabei verwendet sie dieselben Worte, mit denen Ernst sein Unwissen über den Grund des kaiserlichen Angriffs zum Ausdruck bringt.175 Diesen Grund zu erfahren, ist im HE Vb die erste Strategie, den Konflikt einzuhegen (vgl. Han 1, fol. [Bvij]r.). Dem Beispiel der „barmhertzigkeit GOTtes“ solle Otto folgen. Außerdem spricht Adelheid ihn als Vater an, denn es gehe um „vnsern Son“. Doch schon nach Ottos Zurückweisung176 macht sie von dieser Argumentationsebene keinen Gebrauch mehr: Bei Vorstellung der alternativen Handlungsoption ist nur noch von ihrem Sohn die Rede (vgl. ebd., fol. [Bvij]v.). Es geht dabei – ähnlich wie im HE F – um die Einberufung einer Versammlung, „um gewissen grundt von solcher vnschuldigen vbelthat/ die wider meinen liebsteen Son erdacht ist/ [zu] erfahren“.177 Die ursprüngliche Variante der Versammlung im HE F legt das Hauptaugenmerk auf die rechtliche Verfahrensweise. Hier geht es Adelheid um eine ordentliche Anklage mit einer Möglichkeit für Ernst, sich zu verteidigen, wobei sie ihren Sohn damit dem „gemaine[n] vrtail Der fürsten vnd hern“ zu unterwerfen trachtet (Cgm 572, fol. 31r.).178 Dass sich der Kaiser dem Rat seiner Fürsten unterwerfen solle, zumal in einer Angelegenheit, in der er Herrschaft und Leben durch einen der ihren bedroht sieht, kann nicht nur psycho-, sondern auch handlungslogisch nur Ottos Ablehnung hervorrufen. Weder „güte gnad noch miltikeit“ könne der Herzog von ihm
suchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N.F. 34), hier: S. 9 f. und S. 29–31, zum ‚Ewigen Landfrieden‘, sowie S. 233–236. 175 Im Cgm 572 versucht sie, ihr Ziel mit dem Verweis auf die „lieb gotes des obersten kaisers“ (fol. 30v.) zu erreichen, wodurch indirekt an Ottos Liebe als irdischer Kaiser appelliert wird. In den anderen HE F-Redaktionen entfällt die Analogisierung der beiden ‚Kaiser‘ und es bleibt bei einer bloßen Unterordnung unter „de[n] oͤ bersten“ (Knoblochtzer, fol. [7]r., so auch Sorg 2, fol. 10v., und Sorg 3, fol. [aviij]r.; das benutzte Exemplar von Sorg 1 ist an dieser Stelle defekt). 176 Auch wenn im HE Vb M2 eine Verneinungspartikel fehlt, lässt es der Kontext dennoch nicht zu, dass sich Otto in dieser Redaktion umstimmen lasse (vgl. S. 15 f.). 177 Vgl. dazu Flood (Hg.): Frankfurter Prosafassung, S. 86, Anm. zu 114. 178 Für ein Plädoyer Wetzels, Adelheids und der Fürsten für eine diskursive Konfliktbewältigung im HE B vgl. V. 930–937, V. 972–996 und V. 1110–1157.
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erwarten (Cgm 572, fol. 31r.). Verschärfend kommt hinzu, dass sich Otto Ernst „als ein treẅn vater [...] erczaigt habe“ (ebd.). Es ist nun also Otto, der das Verwandtschaftsargument anführt. Im HE Vb ist seine Zurückweisung in der Wortwahl des Erzählers an Adelheids variiertes Ersuchen angeglichen: Beim Kaiser sei „keine barmhertzigkeit“ zu finden (Han 1, fol. [Bvij]v.). Sowohl die Redaktionen des HE F als auch diejenigen des HE Vb folgen dem lateinischen HE C darin, dass sich die abgewiesene Kaiserin im Anschluss an Gott wendet. „[E]in stimm“ (Han 1, fol. [Bviij]r., stellvertretend für HE Vb) beziehungsweise „ein stÿme von hÿmel“ (Cgm 572, fol. 31v., stellvertretend für HE F) tut ihr in einer ‚Audition‘ den Namen des Verleumders kund. Anhand der Parallelstelle im HE C macht Thomas Ehlen darauf aufmerksam, dass Gott dadurch „zum Auslöser des folgenden Handlungsteils, der Tötung Heinrichs, die die Ächtung und damit den Kreuzzug einleitet“, werde.179 Somit wird aber nicht nur entgegen älterer Fassungen der Ernst-Geschichte Adelheid zu einem instrumentum Dei.180 Die Nennung Heinrichs als Verleumder impliziert mehr noch die Zurückweisung der oben aufgerufenen Handlungsalternativen. Die himmlische Intervention zielt insofern implizit auch gegen eine Lösung nach „weltliche[n] rechten“ (Cgm 572, fol. 31r.) in Form einer rechtsprechenden Versammlung und gegen eine schnelle Vergebung, die Ernst in letzter Konsequenz auch nicht zum Heidenkampf nach Jerusalem führen würde.181 Im HE F zitiert Adelheid bei ihrem Gebet sowohl eine sibyllinische Weissagung als auch Sach 3.9 oder 4.10,182 darüber hinaus verweist sie auf die in Jesus Christus liegenden „Siben gäb. Des hailigen gaistes“ (Cgm 572, fol. 31r.).183 Um den Gottessohn anzubeten und dabei auf dessen Martern zu verweisen, könnte 179 Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 149. Vgl. dazu auch Heselhaus: Märe und History, S. 243. – Im Vergleich mit älteren Fassungen der Ernst-Geschichte handelt es sich um eine Gefülltstelle. Im HE B bleibt es offen, woher Adelheid den Namen des Verleumders kennt (vgl. V. 1000–1029). 180 Vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 150. 181 Vgl. für einen ähnlich gelagerten Zusammenhang die Verbindung des Palatine-Abenteuers mit der Eroberung des Heiligen Landes in Thürings von Ringoltingen Melusine (vgl. Jan-Dirk Müller [Hg.]: Romane, S. 140). 182 Der Sacharja-Verweis auf die sieben Augen Gottes kann je nachdem, ob der Vers im dritten oder vierten Kapitel gemeint ist, den oben ausgesprochenen Wunsch nach Vergebung unterstreichen (vgl. Sach 3.9) oder – weniger wahrscheinlich – daran erinnern, auch geringe Tage nicht zu verachten (vgl. Sach 4.10). 183 1 Kor 12.4–11 nennt mit Weisheit, Erkenntnis, Glaube, Heil- und Wunderkraft und den Fähigkeiten, weiszusagen, Geister zu unterscheiden, Sprachen zu sprechen und auszulegen neun solcher Gaben. Insbesondere im Anhang mit Adelheids Wundertaten erweist sie sich selbst als Trägerin etlicher dieser Gaben (vgl. unten, S. 431–437). Außerdem verweist die Predigt des Bischofs beim Versöhnungsgottesdienst auf die alles überbietende Gabe der Liebe (vgl. Cgm 572, fol. 67r.f., und 1 Kor 12.31 sowie 1 Kor 13).
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sich Adelheid auch auf die Evangelien berufen. Es ist insofern in Erwägung zu ziehen, ob der Roman den Verweis auf „Sibilla“ nutzt, um darauf aufmerksam zu machen, dass Adelheid im nächsten Handlungsabschnitt selbst die Funktion einer ‚Sibylle‘ einnimmt.184 Hier kündigt sie dem Pfalzgrafen ungefragt an, dass er „[i]nn die gruͦ be“ fallen werde, die er Ernst „gegraben“ hat, denn „Got zerbricht alle hoffart“ (ebd., fol. 31v.). Diese Assoziationsmöglichkeiten sind im HE Vb zurückgenommen. Anders als im HE F erbittet Adelheid hier jedoch nicht nur, den Namen des Verleumders zu erfahren, sie fordert hier Gott vielmehr auf, auf Otto einzuwirken, damit der unbekannte Täter bestraft werde (vgl. Han 1, fol. [Bviij]r.). Das Äquivalenzverhältnis von konkreter Bitte und entsprechender Audition im HE F ist damit im HE Vb aufgehoben. Adelheid kennt nun den Schuldigen und es ist an ihr, den Kaiser von „seinem fuͤ rnemen ab[zu]wenden/ damit diese falsche that moͤ cht gehen vber den/ der solche verraͤ therey angerichtet hat“ (ebd.). Sie wendet sich daraufhin nicht etwa an Otto, sondern – nachdem sie sich vor Gott nach Heinrichs Motivation fragt –, an Ernst (vgl. Han 1, fol. [Bviij]r.f.). In den meisten HE Vb-Redaktionen lässt sie dem Boten ausrichten, dass der Pfalzgraf „allein thaͤ ter“ sei, womit indirekt Otto entschuldigt wird (ebd., fol. [Bviij]v.).185 Die Forderung nach einer Bestrafung des Sünders und die Reflexion über die Hintergründe der Tat ersetzen im HE Vb eine Konfrontation zwischen Adelheid, Otto und Heinrich, die im HE F zwischen dem Gebet und der Abfertigung des Boten erfolgt. Es ist Adelheids Auftritt als ‚Sibylle‘, bei dem sie nicht länger eine weltliche Gerichtsversammlung wünscht, sondern Gott, den „aller gerechteste[n] richter lebendiger vnd totter“ dazu auffordert, Heinrich „mit verhangknüs des leiplichen tods“ zu bestrafen (Cgm 572, fol. 31v.). Ihr Antrieb ist dabei nicht negativ, denn nach ihren eigenen Worten gehe es darum, den Verleumder zur Buße zu führen, damit er seine Seele bewahre (vgl. ebd.). Doch weder verfängt die Erinnerung Heinrichs daran, dass seine Worte zur Vertreibung Ernsts von seinem „vätterlichen erbe“ geführt haben, noch die Ankündigung künftigen 184 Vgl. die Explikation bei Jürgen Beyer: Art. Sibyllen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Zusammen mit Hermann Bausinger u. a. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Bd. 12. Berlin, New York 2007, S. 625–630, hier: S. 625, vor allem der Umstand, dass die Prophezeiung ungefragt erfolgt, sowie zur christlichen Tradition des Motivs ebd., S. 626 f., und Jörg-Dieter Gauger: Ausblick. In: Sibyllinische Weissagungen. Griech.-dt. Auf der Grundlage der Ausg. v. Alfons Kurfeß neu übers. und hrsg. von JörgDieter Gauger. 2. Aufl. Düsseldorf, Zürich 2002 (Sammlung Tusculum), S. 461–478, hier: S. 465– 474. 185 Bei Francke und Singe ist dagegen von Heinrich nur als „eine[m] Thaͤ ter“ die Rede (Francke, fol. Bvv., vgl. Singe, fol. [Bvj]v.). Eine Komplizenschaft des Kaisers schließt diese Formulierung nicht aus.
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Unheils („Jr werdt fallen Jnn die gruͦ be“). Stattdessen vergrößern „solich weÿssagliche wort“ den „onuersönlichen zorn“ des Kaisers (ebd.). Mit der Entsendung des Boten geht das Moment des Handelns an Ernst über. Dieser richtet sich im HE F mit Anklängen an Ps 61 zunächst wie seine Mutter an den „hÿmlischen kaiser“, da mit dem „[i]rdisch kaiser“ keine Verständigung zu erlangen sei (Cgm 572, fol. 32r.). In den HE Vb-Redaktionen wendet er sich dagegen an seinen Freund Wetzelo, der ihn nach „schwermuͤ tigen gedancken“ (Han 1, fol. [Bviij]v.) bei der folgenden Mordtat unterstützt. Wie es zu diesem Mord auf dem Hof- beziehungsweise Reichstag zu Speyer kommt, ist aufgrund des abweichenden Differenzierungsgrades der Figuren- und Erzählerperspektiven unterschiedlich angelegt.186 Im HE F sei es Ernsts „lang begerte[r]“ Wunsch, Heinrich zu töten (Cgm 572, fol. 32v., vgl. dazu auch ebd., fol. 32r.). Außerdem werden die Tat und vor allem Heinrichs Leichnam drastischer beschrieben: „[M]it allem fraÿßlichem zoren vnd scharpfmütiger geitikeit wurgten vnd erstachen“ Ernst und Wetzelo den Pfalzgrafen (Cgm 572, fol. 32r.f.), sodass dieser von den Hofleuten im eigenen Blut und „mit abgehawem haupte“ gefunden wird, das „ferr vom Cörpel geworfen“ ist (ebd., fol. 32v.f.).187 Darüber hinaus heißt es nur in den HE F-Redaktionen, dass sie auch den Kaiser getötet hätten, wäre er ihnen nicht entronnen (vgl. ebd., fol. 32v.).188 Allerdings bittet Ernst nur hier an der Leiche des Feindes Gott um die Rettung von Heinrichs Seele. Die Stelle korrespondiert schon allein dadurch mit Adelheids Auftreten als ‚Sibylle‘ und nicht erst dadurch, dass der Pfalzgraf an dieser Textstelle wie geweissagt in die selbst gegrabene Grube stürzt.
186 Vgl. dazu ausführlicher das Kap. 3.1.2.2. 187 Die Stelle korrespondiert mit dem oben beschriebenen Kampf um Bamberg, bei dem sich Ernst ohne jede Barmherzigkeit zeigt. – Ähnlich drastisch stellt der HE B das Geschehen dar, wo ebenfalls Heinrichs abgetrennter Kopf wegrollt (vgl. V. 1293). 188 Damit entsprechen sich in diesem Punkt HE F und HE B, wo Ernst selbst äußert, dass er Otto hätte töten wollen (vgl. V. 1296 f.). Sowinski: Nachwort, S. 409, sieht im Mordgeschehen im Übrigen keinen „Bruch in der idealisierenden Charakterzeichnung“ des Herzogs im HE B. Robert Luff: Wissen als Macht im ‚Herzog Ernst B‘. In: Höfische Wissensordnungen. Hg. von Hans-Jochen Schiewer, Stefan Seeber. Göttingen 2012 (Encomia Deutsch 2), S. 85–101, hier: S. 93, wertet Heinrichs Ermordung als „gerechtes Schicksal“ und Ioana Craciun: Das Bild des Orients im Spielmannsepos Herzog Ernst. In: Kairoer Germanistische Studien 13 (2002/2003), S. 23–39, hier: S. 28, als einen „gottgefälligen Exorzismus“. Zwar fehlt explizite Verurteilung abgesehen von Ottos Figurenperspektive in der Tat auf allen Dimensionen, allerdings gibt es auch keine Rechtfertigung dieses Vorgehens. Aufgrund der fatalen Folgen und des strukturell ähnlichen Geschehens in Grippia halte ich in diesem Punkt jedoch eine vorsichtigere Deutung für angebracht. Wäre Ernst hier kein Sünder, so würden sein Kreuzzug und die Versöhnung am Weihnachtstag ihre Notwendigkeit verlieren.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Der HE Vb beschränkt sich auf die Übernahme der äußeren Handlung. Auch hier zieht Ernst mit Wetzelo und einem Diener, der während des Mordes die Pferde bewacht, nach Speyer (vgl. Han 1, fol. Crf.). Sie finden Pfalzgraf und Kaiser im Privatissimum.189 Anders als im HE F spricht Ernst den „meineydige[n] treulose[n]“ Verleumder an, ehe er ihn tötet (ebd., fol. Cv.f.). Eine Möglichkeit, sich zu rechtfertigen, erhält Heinrich jedoch in keiner Redaktion. Otto kann sich indes auch hier in eine Kapelle flüchten, was vor dem Hintergrund der göttlichen Intervention sinnstiftend zu verstehen ist (vgl. ebd., fol. Cijr.). Stattdessen betont der HE Vb den fehlenden Heldenmut des Kaisers, wenn sich dieser in seinem Versteck sehr fürchtet (vgl. ebd.).190 Ein eiliger Rückzug sichert die Mörder in allen Redaktionen vor der sich im Schloss schnell verbreitenden allgemeinen Unruhe. In allen Redaktionen gelten Ernst und Wetzelo als Mörder (vgl. HE F Cgm 572, fol. 33r., und HE Vb Han 1, fol. Cijv.). Ereignet sich die Tat im HE Vb ansonsten unerwartet, handelt es sich in einem Druck um einen „unversoͤ hnlichen Mord“ (Fleischhauer, S. 20). Immer löst die Tat Ottos Rachedurst aus. Im HE F schwört Otto privat, im HE Vb öffentlich Rache. Hier sollen die Flüchtigen sogar „on alle gnad tot[ge]schlagen“ werden (Han 1, fol. Cijv.). Der größte Unterschied besteht darin, dass der Erfolg der Flucht im HE F kausallogisch plausibilisiert wird: Weil die Nacht hereinbricht und sich die Verfolger vor einem Hinterhalt fürchten, stellen sie die Suche ein (vgl. Cgm 572, fol. 33r.). Im HE Vb ist es dagegen nach der offenbarenden Stimme zum zweiten Mal „GOTT“, der die Mörder „in seinem schirm einen sichern weg“ leitet (Han 1, fol. Cijv.). Außerdem ist Adelheids Monolog mit dem Leichnam, in dem sie im HE F einerseits Ernst rechtfertigt und andererseits für Heinrichs Seelenheil bittet (vgl. Cgm 572, fol. 33r.) durch ein Gebet ersetzt, das Ernst zur sicheren Flucht verhelfen soll (vgl. Han 1, fol. Ciijr.).191 Wie der obige Bezug auf das Fehderecht192 so ist auch der Beschluss der Räte,
189 Unterschiede der einzelnen HE Vb-Redaktionen lassen sich raumsemantisch ausdeuten, wenn es in den meisten Drucken „hinauff“ in eine Kammer oder ein Zimmer geht (stellvertretend Han 1, fol. Cv.) oder aber „hinein“ (Zirngibl, S. 18) beziehungsweise „hinab“ (M2, S. 18). 190 Den Widerspruch zwischen Ottos großer Furcht und der lapidaren Bezeichnung der Vorgänge als „vngewonlich spiel“ (Han 1, fol. Cijr.) beheben die späten HE Vb-Redaktionen, in denen der Erzähler stattdessen von einer „traurige[n] Geschichte“ spricht (Zirngibl, S. 19, ebenso: Everaerts, M2 und P1, jeweils S. 18, sowie Trowitzsch, S. 17). 191 Untersucht man die einander widerstrebenden Loyalitäten, so ist es wichtig, dass in HE Vb Zirngibl Adelheid nicht um Ernsts Rettung vor Otto als Kaiser, sondern als „ihre[m] Gemahl[ ]“ bittet (S. 20). – Zur Figurenrede eines namenlosen Herren, der angibt, Ernst und Wetzelo würden auch Otto getötet haben, wäre dieser nicht entronnen, vgl. S. 457 im Kap. 3.1.2.2. 192 Vgl. S. 356; und für den Vorgang des ‚Ächtens‘ Mattias G. Fischer: Fehdeverbot, S. 31 und S. 124 f.
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Ernsts Erblande dem Kaiser zuzusprechen und ihn mit Wetzelo in die „größern Ächte“ zu tun (Cgm 572, fol. 33v.), im HE Vb nicht verrechtlicht, sondern allgemeiner als ‚Vertreibung‘ und ‚Ungnade‘ beschrieben (vgl. Han 1, fol. Ciijr.).
3.1.1.3 Die erste Reichshandlung: Ottos Krieg gegen Ernst und dessen Entschluss zur Kreuzfahrt Sogleich belagert Otto Regensburg.193 Die HE F-Redaktionen beschreiben vor allem die unterschiedliche Bewaffnung von schlecht gerüsteten Bürgern und kaiserlichen Streitern (vgl. Cgm 572, fol. 33v.). Der HE Vb legt den Schwerpunkt stattdessen auf die Treue der Regensburger bei gleichzeitiger Abwesenheit ihres rechtmäßigen Schutzherrn (vgl. Han 1, fol. Ciijv.f.). Die Nachricht vom kaiserlichen Überfall betrübt den „zart lieb Herczog“ (Cgm 572, fol. 34r., fehlt Sorg 3, fol. bijv.), der sich im HE Vb weinend an Wetzelo wendet und Gott um die Treue seiner Bürger bittet (vgl. Han 1, fol. Ciiijr.). Dieser emotionale Zug ist im HE F bereits angelegt, wird im HE Vb jedoch ausgebaut und kontrastiert mit der Unbarmherzigkeit, die Ernst vor allem im HE F bei seiner Rache an Heinrich auszeichnet. Im Anschluss eilt Ernst zunächst nicht gleich nach Regensburg, sondern zu Heinrich von Sachsen, um ihm mit „fliessenden zehern“ ein „diemütigs ulissigs gebete“ vorzubringen (Cgm 572, fol. 34r.f.).194 Wie ein Arzt bei „swärer leiplicher kranckheit“ solle ihm Heinrich als Freund gegen Otto, der „on alle verdiente schuld“ seine Bürger töte, beistehen (ebd.). Entgegen der Erwartung der Regensburger geht es dem Herzog aber nicht um ein Entsatzheer, sondern lediglich um sicheres Geleit, damit er sie persönlich zur Aufgabe auffordern könne (vgl. ebd., fol. 34v.). Er hofft nur noch, dass es Otto jedem zugestehe, so viel an Hab und Gut zu retten, „wieuil Ir ÿglicher [...] tragen möge“ (ebd.). Im HE Vb denkt er dabei zunächst an sich und wünscht, „allda meine besten Kleinot“ an sich zu bringen (Han 1, fol. Cvv.). Außerdem gelobt er hier – anders als im HE F – bereits gegenüber dem Sachsenherzog, im Anschluss nach Gottes Willen in ein fremdes Land zu ziehen. Insgesamt ist der Grundton des Leidens um das Moment der Recht-
193 Die Anzahl seiner Kämpfer ist variabel: 30.000 im Cgm 572 (fol. 33v.), 10.000 in den HE FDrucken (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [10]r.), 12.000 in den HE Vb-Redaktionen (Han 1, fol. Ciijv.) – bis auf P1 mit 11.000 (S. 19). Bei den Opferzahlen wird nur Cgm 572 konkret: Mindestens 2.000 Kaiserliche sterben bei der Schlacht (vgl. fol. 33v.f.). 194 In drei der untersuchten Redaktionen des HE Vb fehlt, dass sich der standesgemäße Empfang gezieme, was vor dem Hintergrund der Ächtung Ernsts bemerkenswert ist (vgl. Zirngibl, S. 21, Everaerts, S. 20, und Trowitzsch, S. 19). Allerdings wird Ernst nur im HE F formal geächtet, im HE Vb lediglich vertrieben.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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fertigung ergänzt, was sich vor allem daraus ergibt, dass Ernst berichtet, er habe dem verleumderischen Pfalzgrafen „seinen verdienten lohn bezalt“ (ebd., fol. Cvr.).195 Eine solche Passage ist im HE F mit dem Hinweis ausgespart, Heinrich von Sachsen wisse wegen „gemainer lannds vmbrede“ bereits von den Hintergründen seines Ersuchens (Cgm 572, fol. 34r.). In allen Redaktionen geleitet Heinrich Ernst mit 5.000 Berittenen nach Regensburg (vgl. Cgm 572, fol. 34v., und Han 1, fol. [Cvj]r.f.). Die Konfrontation von kaiserlichen Belagerern und dem Sachsenheer ist von Dialogen Ottos und Heinrichs dominiert. Dabei verschiebt sich im HE Vb der Hauptredeanteil vom Kaiser zum Sachsenherzog, der hier auch um Gnade und Vergebung für Ernst bittet (vgl. Han 1, fol. [Cvij]r.f.). Schließlich sei es möglich, dass diesen hinsichtlich der Vorwürfe gar keine Schuld treffe (vgl. ebd., fol. [Cvij]r.).196 Davon ist im HE F keine Rede. Heinrich gebraucht stattdessen „listweÿse wort“,197 um den Kaiser zu besänftigen, der angesichts des ankommenden Heeres erschrocken ist (Cgm 572, fol. 35r.). Sein Ziel sei zu gewährleisten, dass Ernst seinen Untertanen zur Aufgabe raten könne (vgl. ebd.). Jedoch sieht Otto den Schutz eines – geächteten – Mörders als Akt kriegerischer Aggression an, zumal Ernst auch ihn töten habe wollen (vgl. Cgm 572, fol. 35r.f.). Wenn der HE Vb auch den letzten Teil dieser Figurenrede übernimmt, ist daran zu erinnern, dass in diesen Redaktionen – anders als im HE F – der Plan eines Mords an Otto nur den Status eines Gerüchtes hat.198 Hinzu kommt, dass die Bürger auf die militärischen Bewegungen vor ihrer Stadt reagieren. Im HE F ist es die Bewaffnung der Kaiserlichen, die ihren Ausfall provoziert (vgl. Cgm 572, fol.
195 In allen späten HE Vb-Redaktionen ist Ernsts Fürbitte für des Pfalzgrafen Seelenheil mit der Erinnerung an das von Heinrich erlittene Leid verbunden (vgl. stellvertretend L2, S. 22), in den früheren Redaktionen bezieht sich das ‚Leid‘ dagegen auf das im Folgenden weiter ausgeführte neue Leid, das der Heerzug Ottos aktuell hervorbringt. In HE Vb Fleischhauer bittet Ernst darum, dass Gott sein Seelenheil schütze (vgl. S. 23), was angesichts von Ernsts egoistischer Begründung der Regensburg-Fahrt, durchaus sinnstiftend ist. – Wenn Ernst im HE Vb darüber hinaus angibt, die „vrsachen“ nicht zu kennen (Han 1, fol. Cvr.), so hat sich deren Bezug an dieser Stelle verschoben. Oben geht es darum, dass er den Grund von Ottos Zorn nicht kennt, hier geht es um Heinrichs vorausliegende Motivation zur Verleumdung. 196 Die meisten Redaktionen bezeichnen die Verleumdung als ‚Be-‘ oder ‚Verschwätzen‘. HE Vb L2, S. 23, Fleischhauer, S. 24, und Everaerts, S. 22, betonen dagegen stärker die Folgen, wenn Ernst hier ‚beschwärzt‘ wird. Zirngibl ersetzt die Formulierung durch ‚Beschuldigen‘ (S. 23). 197 Durch die fehlende Verneinungspartikel in HE F Sorg 2, fol. 16r., und Sorg 3, fol. biiijr., wirft Heinrich hier nicht länger den Kaiserlichen vor, sich trotzig anzunähern, sondern charakterisiert damit das eigene Heer. Eigentlich verschärft seine Rede damit die bestehende Anspannung. 198 Vgl. das Kap. 3.1.2.2. Außerdem argumentiert Otto nur im HE F mit dem verletzten Treueverhältnis zwischen Vater und Sohn (vgl. dagegen Han 1, fol. [Cvij]r.).
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
35v.),199 im HE Vb bemerken sie die Anwesenheit ihres Herzogs (vgl. Han 1, fol. [Cij]r.f.). Während Otto im HE Vb analog zu seinem geringeren Redeanteil passiv bleibt, erteilt er in den Redaktionen des HE F Heinrich explizit die Erlaubnis, „vnsren vnd des reichs veinde“ in die Stadt zu geleiten, um ein bewaffnetes Eingreifen der Sachsen auf Seiten der Regensburger zu verhindern (Cgm 572, fol. 35v.f.).200 Allen Redaktionen ist der Umschlag der Freude über Ernsts Ankunft in Traurigkeit gemein, wenn die Bürger erfahren, dass er Regensburg nicht entsetzen kann, obschon er dies möchte (vgl. Cgm 572, fol. 35ar., und Han 1, fol. [Cviij]r.f.).201 Daher rät der Herzog zur Aufgabe (vgl. Cgm 572, fol. 35ar.f., und Han 1, fol. [Cviij]v.f.).202 Schließlich verlässt Ernst unter dem Schutz der Sachsen traurig die Stadt (vgl. Cgm 572, fol. 35av., und Han 1, fol. Dr.). Es gibt jedoch auch signifikante Unterschiede der Vorgänge im HE F und HE Vb. Die HE F-Redaktionen räumen dem Leid der Bürger größeren Raum ein und lassen Ernst empathisch Anteil daran nehmen. Im HE Vb schildert Ernst dagegen den Kriegsverlauf aus seiner Perspektive. Er selbst ist es hier, der vertrieben wird und der sich entschlossen hat, den Widerstand aufzugeben. Doch fügt der HE Vb seiner Vorlage eine Beratung der Bürger ein, in der sie den herzoglichen Vorschlag ablehnen, um den Widerstand gegen den Kaiser fortzusetzen (vgl. Han 1, fol. Dr.). Dies wird im HE Vb damit zum eigentlichen Gegenstand von Ernsts Trauer und zeigt seinen realen Machtverlust. Er kann nur noch „die besten Kleinot“ an sich nehmen (ebd.) und Regensburg verlassen. HE Vb Zirngibl drückt als einzige Redaktion die ganze Ohnmacht des Herzogs aus, wenn sich nicht Otto als „zu mechtig“ erweist, um „widerstandt zuthun“ (Han 1, fol. Dr.), sondern Ernst als „zu schwach“ (Zirngibl, S. 25).203
199 Nur im Cgm 572 sehen die Bürger den ihnen unbekannten Sachsenherzog (vgl. fol. 35v.); in allen HE F-Drucken dagegen Ernst, den sie allerdings nicht erkennen können (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. 12v.). 200 Vgl. dazu Hans-Joachim Behr/Szklenar: Art. Herzog Ernst, S. 1186. 201 Ernsts Bemerkung bezüglich einer grundsätzlichen Bereitschaft zum Widerstand ist insofern von Relevanz, als sie dem eigentlichen Ziel der Begleitfahrt durch die Sachsen widerspricht und im HE F gleichzeitig mit Ottos Befürchtung übereinstimmt, das Heer könne den Regensburgern militärische Hilfe leisten (vgl. Cgm 572, fol. 35v.). 202 Ringhandt: HE-Fassungen, S. 301, sieht in der Notwendigkeit von Ernsts Anwesenheit ein Zeichen für die „größere[ ] Abhängigkeit der Bürger“ im HE F. Es fragt sich jedoch, ob ihre Abhängigkeit nicht noch größer wäre, wenn sie einer schriftlichen Anordnung Folge leisten müssten. Gegenstandslos ist der Erklärungsversuch in Hinsicht auf den HE Vb, wo sich die Bürger über Ernsts Rat trotz persönlicher Präsenz hinwegsetzen (vgl. Han 1, fol. Dr.). 203 In HE Vb M2 müssen die Bürger nicht ihren ‚Herren‘, sondern das „Heer“ ziehen lassen (S. 24), was der enttäuschten Hoffnung auf Entsatz Ausdruck verleiht.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
365
Im HE Vb macht Ernsts Abreise in erster Konsequenz die Bürger ratlos und in zweiter den Kaiser angriffslustig (vgl. Han 1, fol. Dv.). Im HE F lässt Otto unabhängig von der Absenz des Herzogs Eroberungsmaschinen bauen und vor der Stadtmauer in Stellung bringen (vgl. Cgm 572, fol. 35av.). Dass dafür Bäume gefällt werden müssen, bleibt im HE Vb, der „Bernfride vnd ander listig finde“ (ebd.) nicht erwähnt, als blindes Motiv stehen. Allenfalls könnte hier das Holz den Angreifern dazu dienen, die Stadt in Brand zu setzen. Denn im HE Vb steht die Drohung im Raum, Otto könne nach der Aufgabe die Bürger töten und die Stadt niederbrennen (vgl. Han 1, fol. Dijr.). Dieses Motiv ist neu und ersetzt den Versuch der Regensburger, im HE F ihrerseits Ottos Kriegsmaschinen zu verbrennen (vgl. Cgm 572, fol. 35av.). Weniger dient das neue Motiv dazu, die Otto-Figur negativer zu zeichnen, gerade anders herum wird der Kaiser bei der nachfolgenden Übergabe der Stadt wenn nicht als ‚barmherzig‘, so doch als „nit also vnbarmhertzig“ gezeigt (Han 1, fol. Dijr.).204 In allen Redaktionen erinnern sich die Bürger an Ernsts Rat und händigen Otto Regensburg ein (vgl. Cgm 572, fol. 35av., und Han 1, fol. Dijv.f.). Im HE Vb fallen ihm die Stadträte dabei zu Fuß, was eine weitere Motivparallele zur finalen Versöhnungsszene hervorbringt. Dass sich Otto im HE Vb tatsächlich doch noch als barmherzig erweist, zeigt sich darin, dass er die Bürger „bey ewerer Gerechtigkeit“ belässt (Han 1, fol. Diijr.), während er in den HE F-Redaktionen Regensburg „mit seinen dienern vnd Lehenherren Amptlüten vnd burgern“ besetzt (Cgm 572, fol. 35av.).205 Von ‚Barmherzigkeit‘ ist in den anschließenden Gefechten allerdings nichts mehr zu merken. Der HE F zeichnet ein Bild beiderseitigen Blutdursts. Durch „kriegen rauben prennen“ versucht Otto Ernst zu „zwingen vnd [zu] verderben“ (Cgm 572, fol. 36r.). Und auch Ernst und die Seinen kämpfen „als die fraÿdigen leon starckmütig vnd keck“ und verderben „mit manslachte rauben vnd prennen“ (ebd.).206 So wird nicht nur der Herzog „gancz vnd gar“ vertrieben, die Auseinandersetzung bleibt auch „nit one gross schedigung“ für Ottos „volks vnd kaiser-
204 Darüber hinaus bietet die vermeintliche Gefahr Anlass, eine weitere Beratung einzuschalten, wodurch der HE Vb das Element bürgerlicher politischer Praxis ausgestaltet. 205 Sorg 3 schwächt den Eingriff des Kaisers in die städtische Organisationsform ab, indem die Wendung hier auf „diener[ ] vnd lehenherren“ verkürzt ist (fol. [bvj]r.). – Auch im HE B besetzt Otto Regensburg mit seinen Leuten (V. 1664 f.). 206 Nur die HE F-Redaktionen thematisieren erneut, dass es Ernsts väterliche Erblande sind, die nun an den Kaiser (Cgm 572, fol. 36r.) beziehungsweise an seinen (Stief-)Vater fallen (alle Drucke, vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. 15r.).
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
toms“ (ebd.).207 Im HE Vb ist die Beschreibung der Grausamkeit von Ottos Kriegszug auf den Umstand reduziert, dass er am Lech in jenen Städten, die sich nicht sofort ergeben, alle töten lässt, die „an der Wehr“ (Han 1, fol. Diijv., und alle frühen Drucke) beziehungsweise „in Waffen“ stehen (L2, S. 27, und alle späten Drucke). Damit plausibilisieren diese Redaktionen aber gerade die oben beschriebene Furcht der Regensburger Bürger. Dass im HE Vb konkrete Heeresstärken angegeben werden und Otto seine Kämpfer in nur zwei statt drei Haufen teilt (vgl. Han 1, fol. Diijr.f.), ist weniger bedeutsam als die explizite Nennung der Sachsen als Ernsts Krieger. Denn damit wird sowohl Ernst gegenüber dem Sachsenherzog als auch dieser gegenüber Kaiser Otto wortbrüchig, ohne dass der Roman jedoch Konsequenzen daraus ziehen würde. Sobald Otto die Herzoglichen am Lech bezwungen hat, wendet er sich an die Donau.208 Ernst erkennt daraufhin seine Unterlegenheit an und entlässt die sächsischen Söldner einfach aus seinem Dienst (vgl. Han 1, fol. Diiijr. für falsch: fol. Ciiijr.). In allen Redaktionen sammelt Ernst nun die treuesten Ritter, um das Ende seiner Widerstandsbestrebungen und seinen Plan eines Kreuzzugs ins Heilige Land zu verkünden (vgl. Cgm 572, fol. 36v.f., und Han 1, fol. Dvr.f.). Die Einzelheiten von Ernsts Figurenrede bespreche ich unten.209 Im HE F ist dieser Monolog deutlich weiter ausgestaltet als in den Redaktionen des HE Vb. Vom materiellen Argument der erschöpften finanziellen Ressourcen über die Erkenntnis, sich der einer Naturgewalt gleichenden Macht des Kaisers nicht länger widersetzen zu können, leitet Ernst seine Argumentation auf eine theologische Begründung hin. Er wolle nicht länger mit „kriegen . manslachte . rauben vnd prennen“ (Cgm 572, fol. 36v.) seine Sünde vermehren, sondern Gott mit einer Bußfahrt versöhnen. Die theologische Ebene ist im HE Vb auf ein Moment der Nächstenliebe reduziert. Ernst möchte sich hier in erster Linie vor Otto, dem „Blutgirige[n] zornige[n] mann“ (Han 1, fol. Dvr.),210 außer Landes in Sicherheit bringen, da in seinem Herzogtum kein sicherer Unterschlupf mehr vorhanden sei. Er hofft, dass der Kaiser in seiner Abwesenheit seinen „grossen vnbillichen zorn“ vergessen möge (ebd.). Der Wunsch, dass nach seiner Abreise seinetwegen kein weiteres „Blut[ ] also vnschuldiglich mag ver-
207 HE F Sorg 3, fol. [bvj]v., ändert den seltenen substantivierten Infinitiv „oͤ sen“ (Cgm 572, fol. 36r.) im Sinne von ‚verwüsten‘ zum Substantiv „boͤ sen“, wodurch Ottos Handeln nicht nur beschrieben, sondern moralisch verurteilt wird. – Zum Erzählerkommentar bezüglich Ottos Unvernunft vgl. S. 457f. im Kap. 3.1.2.2. 208 In allen Redaktionen zieht das Heer, dem Otto hier folgt, die Donau hinunter, nur bei P1, S. 25, und Everaerts, S. 25, ist es zuvor auf die andere Donauseite geschickt worden. 209 Vgl. S. 463f. im Kap. 3.1.2.4. 210 Diese Formulierung fehlt in den jüngeren HE Vb-Redaktionen, vgl. stellvertretend L2, S. 28.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
367
gossen werden“ (fol. Dvr.f.), ist ein letzter Anklang an den ursprünglichen Argumentationszusammenhang, das sündhafte Handeln fortan zu unterlassen. Im HE F hat Gott Ernsts „verwandelunge“ bewirkt, sodass er der „gnad erwerbung“ wegen ins „ellende“ fährt (Cgm 572, fol. 37v.).211 Auch die einmütige Annahme seines Vorhabens durch die Ritter erfolgt „durch gotes einsprechen“ (ebd., fol. 37r.).212 Die göttliche Führung entfällt in den HE Vb-Redaktionen ebenso wie die Argumentation, dass Ernst und die Seinen ihr Land nicht aus Armut verlassen, sondern „umbe gotes eere“, was daran zu erkennen sei, dass sie sich neue Rüstungen für die Fahrt anfertigen lassen (ebd., fol. 37v., vgl. dazu Han 1, fol. Dvv.).213 Wer das Geld aufbringt, sich neu einzukleiden, kann schließlich gar nicht arm gewesen sein und muss daher andere – im Sinne des HE F: edlere – Beweggründe haben. Dies verkehrt der HE Vb ins Gegenteil. Zwar statten sich die Kämpfer neu aus, wobei in den späteren Redaktionen die ‚Wehren‘ durch ‚Gewehre‘ ersetzt werden (vgl. stellvertretend L2, S. 29).214 Aber hier geht es allein um einen gewissen Reisekomfort. Im Übrigen heben die Redaktionen hervor, wie „elendiglich“ der Herzog aus dem Land scheidet (Han 1, fol. Dvv). Gerade dieser Zustand, der aus dem Mangel an „Guts oder geldes“ (ebd.) resultiert, wird von Ernst Gott geklagt (vgl. ebd., fol. [Dvj]r.f.). Ernsts Armut wird hier also gerade nicht länger argumentativ ausgeschlossen, sondern umgekehrt besonders hervorgehoben.215 Der HE F blickt nach vorne und macht Ernst zu einem Werkzeug Gottes, wenn er und seine Diener zu einer „pruderliche[n] geselschaft“ werden (Cgm 572, fol. 38r.). Der HE Vb blickt dagegen zurück, wodurch Ernst ein Vertriebener bleibt. Bei den ersten Stationen außerhalb des römischen Kaiserreiches – Ungarn, bulgarische Wälder und Griechenland – wird Ernst in allen Redaktionen in Ehren empfangen (vgl. Cgm 572, fol. 38r., und Han 1, fol. [Dvj]v.f.). Insbesondere der Kaiser von Konstantinopel ist ihm „holde“ (Cgm 572, fol. 38r.), was im HE Vb
211 Im HE B ist der Entschluss zum Kreuzzug Ernst nur aus der Perspektive der mitfahrenden Ritter von Gott eingegeben (vgl. V. 1837–1839). 212 Vgl. dazu Heselhaus: Märe und History, S. 226. 213 Ebenso entfällt im HE Vb der Hinweis auf die je unterschiedlichen Reaktionen von Ernsts Freunden und Feinden auf die Nachricht von seinem Entschluss (vgl. Cgm 572, fol. 37v.). Vgl. dazu Ringhandt: HE-Fassungen, S. 312. 214 Nur HE Vb Trowitzsch enthält aufgrund einer Kürzung die Neuerung nicht (vgl. S. 25). 215 Adelheids Abschiedsgeschenke bestehen im HE Vb aus 100 Silbermark, Kleinodien und einer variablen Anzahl von Wünschen zur ‚Guten Nacht‘, die sie ihm „in geheim hinder des Vatters wissen“ schickt (Han 1, fol. Dvv.). Es reicht gerade, um die Ritter zu besolden. Dem Armutsmotiv wird insofern kein Abbruch getan. Im HE F verteilt Ernst dagegen 500 Silbermark und kostbare Gewänder in einem Akt der milte an die Kreuzritter. Im Augenblick der Abreise ist der oben auch in den HE F-Redaktionen erwähnte Mangel vergessen (vgl. Cgm 572, fol. 36v.) und Ernst kann sich wieder als freigebig erweisen, wie es sich für einen Herzog gebührt.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
sogar zu „grosse[r] lieb“ verstärkt ist (Han 1, fol. [Dvij]r.). Der Grund ist Ernsts Kampf gegen Otto und damit gegen den großen politischen Gegenspieler. Der Griechenkaiser lässt ein großes Schiff für die Überfahrt ins Heilige Land ausrüsten, das im HE F sehr ausführlich und mit einigen Kontextglossen beschrieben wird (vgl. Cgm 572, fol. 38r.f.).216 Der HE Vb ist hier kürzer, betont jedoch bei der Wahl der Schiffsleute, welche die Kreuzritter übersetzen sollen, die Hoffnung des Kaisers, das sie „nicht in ein Schiffbruch komen“ sollen (Han 1, fol. [Dvij]r.). Schon bei der Schiffsbeschreibung im HE F fällt auf, dass etliche Details im Zusammenhang mit der Gefahr einer Seenot stehen. In allen Redaktionen wird damit bereits motivlich auf den nachfolgenden Seesturm angespielt. Stets schließen sich griechische Wallfahrer mit eigenen Schiffen der „prüderliche[n] geselschafft“ an (Cgm 572, fol. 38v., ähnlich Han 1, fol. [Dviij]r.), ehe Ernst und die Seinen gottbefohlen in See stechen. Überblickt man die erste Reichshandlung im Zusammenhang, so lassen sich einige Bearbeitungstendenzen des HE Vb gegenüber dem HE F erkennen, die jedoch nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt sind. Stets bleiben Textstellen erhalten, die den Tendenzen entgegenstehen, und oft sind weitere Änderungen vorgenommen, die der vorherrschenden Bearbeitungsrichtung zuwiderlaufen. So lässt sich am Beispiel des Verhältnisses von Ernst und seiner Mutter Adelheid eine größere Emotionalität für die HE Vb-Redaktionen zeigen. Die Darstellung der leidenden Regensburger Bevölkerung, an der Ernst im HE F vor Ort und auch schon bei Heinrich von Sachsen empathisch Anteil nimmt, ist aber ersetzt durch die Rechtfertigung des eigenen Handelns und die Selbstdarstellung als eigentliches Opfer der kaiserlichen Aggression. Generell erzählt der HE Vb knapper, baut mit Vorliebe jedoch Ratsszenen aus und fügt der Vorlage eigene Beratungen hinzu. Das höfische Kommunikationssystem wird dadurch ebenso ausdifferenziert wie die Praxis bürgerlicher Entscheidungsfindung am Beispiel der Regensburger Stadträte. Ganz gleich, ob gegenüber Kaiser Otto, Herzog Ernst oder der Herzoginmutter Adelheid, der Einfluss der Räte ist im HE Vb stets gewichtiger. Gleichzeitig verlieren überkommene Rechtsinstitute wie die Fehde oder die Ächtung ihre Relevanz. Dies führt jedoch nicht dazu, dass Konflikte im HE Vb kommunikativ eingehegt würden. Im Großen und Ganzen bleiben alle kriegerischen Elemente der äußeren Handlung konstant. An manchen Textstellen lässt sich dabei zwar im Detail feststellen, dass die Brutalität des HE F abgemildert wird. So plant Ernst
216 Vgl. dazu S. 518f. im Kap. 3.3.3. Ein Aufsatz zum ‚enzyklopädischen Erzählen‘ ist im Erscheinen.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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nicht schon seit Langem, den Pfalzgrafen zu töten, die HE Vb-Redaktionen erzählen nichts von dessen verstümmelter Leiche und auch der Plan des Kaisermordes ist hier nichts weiter als ein Gerücht. Doch schon bei den Schlachten an Donau und Lech fragt sich, ob Ottos Vorgehen, jeden zu töten, der sich nicht sogleich ergibt, weniger grausam sein möchte als der Blutdurst, von dem der HE F erzählt. Zudem fordert Otto über die Vorlage hinausgehend die Seinen auf, die flüchtigen Mörder Heinrichs auf der Stelle, also ohne jede Beratung, zu töten. Eine religiöse Überhöhung von Gewalt als Strategie ihrer Rechtfertigung geht dem HE Vb anders als dem HE F vollkommen ab. Leicht lassen sich Beispiele dafür anführen, dass die Bearbeitung den theologischen Gehalt insgesamt abschwächt: So flüchtet Ernst im HE Vb vor der kaiserlichen Übermacht in den Orient, im HE F ist er dagegen ein Kreuzfahrer in göttlichem Auftrag. Es fehlt Gottes Einflussnahme auf die Beratung über Adelheids Wiederverheiratung, wobei die ganze Problematik des Verlustes ihrer Witwenschaft im HE Vb abgemildert ist. Genauso kehrt die Bearbeitung Ottegebas weltliche gegenüber der christlichen Seite hervor und schwächt die Einordnung des irdischen Kaisers in die göttliche Hierarchie ab. Aber während die erfolgreiche Flucht von Heinrichs Mördern im HE F kausallogisch erklärt wird, unterwirft sie der HE Vb explizit Gottes Schutz, sodass sie sich der Rache des Kaisers entziehen können. Wenn man darin eine Aufwertung des Helden sieht, muss man jedoch auch sehen, dass Ernst im HE Vb die kaiserliche Erlaubnis fehlt, seine eingeschlossenen Untertanen zu besuchen, und dass er wortbrüchig gegenüber dem Sachsenherzog wird, sobald er dessen Krieger in Kämpfen gegen Otto einsetzt. Stimmt es, dass die sehr ausführliche Schiffsbeschreibung des HE F in der Bearbeitung fasst vollständig gestrichen ist und dass der kurze enzyklopädische Exkurs zum Bistum Würzburg in äußere Handlung verwandelt ist, so lässt sich diese Tendenz doch nicht verallgemeinern, da die vergleichbare Textstelle zur Vorgeschichte des Stiefvaters im HE Vb tradiert wird. Viele weitere Veränderungen – gerade auch der einzelnen Drucke – stelle ich oben dar; sie müssen hier nicht alle wiederholt werden. Der einzige Aspekt aber, der meines Erachtens vollständig fortgelassen wird, ist die kontinuierliche Betonung der Rechtmäßigkeit von Ernsts ererbter Herrschaft über Bayern und Österreich.217 Es sind im HE F stets die väterlichen Erblande, die Heinrich zerstört, Otto erobert und Ernst verlassen muss, um ins Heilige Land zu ziehen.
217 Außerdem streicht der HE Vb die Motivierung, dass Adelheid der Ehe mit Otto zustimmen soll, um weitere Erben zu gewinnen.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
3.1.1.4 Die Orienthandlung: Agrippia – Stadt der Versuchung und einer abgewiesenen Alternative In den frühen HE F-Redaktionen wird die Kreuzfahrt schon nach fünf Tagen auf See vor die erste schwere Probe gestellt (vgl. Cgm 572, fol. 39r.f.). In HE F Sorg 2 (vgl. fol. 23v.) und Sorg 3 (vgl. fol. cjv.) dauert es dagegen 50 Tage, bis die Schiffe in ein schweres Unwetter geraten. Mit dieser Dauer stimmen die sechs Wochen der HE Vb-Redaktionen nahezu überein (vgl. Han 1, fol. [Dviij]r.).218 Immer führt der Sturm zum Untergang sämtlicher Schiffe mit griechischen Wallfahrern. Dass allein Ernsts Segelschiff den Wellen trotzt, motiviert der HE Vb damit, dass es besonders vorteilhaft mit Eisen beschlagen ist, während die Griechen „nicht so wolerbawte starcke Schiff hetten“ (ebd.).219 Zur Gefahr des Untergangs und zum Verlust der ertrinkenden Mitbrüder220 tritt in allen Redaktionen der Mangel an Nahrung als weiteres Übel hinzu (vgl. Cgm 572, fol. 39r., und Han 1, fol. [Dviij]v.). Da der HE Vb überspringt, wie das Unwetter abflaut, und die Ritter hier alsbald an der unbekannten Küste Agrippias anlanden, erwähnen diese Redaktionen zusätzlich Orientierungslosigkeit. Dem entspricht die jeweils anderslautende Anrufung Gottes. Der HE F erwähnt explizit, dass Gott „von der höhin der hÿmel“ ihr Flehen erhört (Cgm 572, fol. 39r.) und die Wogen glättet (vgl. ebd., fol. 39v.). Im HE Vb bitten die Kreuzritter darum, Land zu finden, und erreichen sogleich Agrippia. In beiden Fällen wenden sich Ernst und die Seinen also an Gott, doch nur die HE F-Redaktionen beschreiben dessen direktes Eingreifen.221 Alle Redaktionen verbindet, dass die ganze Agrippia-Episode gegenüber älteren Ernst-Geschichten verkürzt ist. Karl Bartsch folgert daraus, dass hier das Interesse an Adelheid die Orientbegeisterung überwiege.222 Hinsichtlich der äußeren Handlung, aber auch auf den Dimensionen der Figuren- und Erzählerrede
218 Die Dauer der Überfahrt nach Agrippia schwankt im HE Vb zwischen 14 (vgl. stellvertretend Han 1, fol. [Dviij]v.) und 40 Wochen (von der Heyden, fol. Ciiijv.; und alle späten Redaktionen ab L2). 219 Dieser Hinweis kann im HE F jedoch entfallen, da schon zuvor in aller Ausführlichkeit die besonderen Vorkehrungen für den Seenot-Fall beschrieben werden (vgl. Cgm 572, fol. 38r.f.). 220 Im HE Vb lässt es sich nicht mit Sicherheit sagen, ob sich die Bitte um Gottes Barmherzigkeit auf das Seelenheil der Griechen oder auf die eigene Rettung bezieht. Gleiches gilt für eine Wendung im HE F: Entweder es kommt gewöhnlich vor, dass im Fall einer Seenot die Nahrungsmittel knapp werden oder dass sich die Notleidenden an Gott wenden. Je nachdem, ob die Redaktionen ein Satzzeichen setzen, ist eine andere der Möglichkeiten wahrscheinlicher (vgl. Cgm 572, fol. 39r.; Sorg 1, fol. 10v.; Sorg 2, fol. 23v.; Sorg 3, fol. cjv.; und Knoblochtzer, fol. [19]r.). 221 Vgl. dazu Heselhaus: Märe und History, S. 227 f.; Ringhandt: HE-Fassungen, S. 337. 222 Vgl. Bartsch: Herzog Ernst, S. LI; Bowden: A false down, S. 21 und S. 26 f., allerdings jeweils in Bezug auf die lateinische Vorlage HE C.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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weichen HE F und HE Vb jedoch in charakteristischer Weise voneinander ab. Dabei sind die Differenzen bei der eigentlichen Beschreibung der Stadt noch am geringsten. Hält der HE F ein Gleichgewicht in Bezug auf Wehrhaftigkeit und Schmuck der Stadt (vgl. Cgm 572, fol. 39v.),223 verschiebt sich der Fokus im HE Vb ganz auf den ersten Aspekt (vgl. Han 1, fol. Ev.).224 Die Änderung korrespondiert damit, dass der Erzähler im HE Vb schon hier von der parallel geschehenden Entführung der indischen Prinzessin berichtet (vgl. Han 1, fol. Eijr.). Dass die Agrippiner dabei alle Begleiter der Jungfrau töten, hebt ihre Kampftüchtigkeit hervor,225 wodurch Ernsts vorsichtiges Vorgehen gegenüber dem Rezipienten gerechtfertigt ist. Nur „von fernst“ wagen die Ritter einen ersten Blick auf die Stadt, kehren nochmals zum Schiff zurück und verharren letztlich vier Tage vor den Toren, ehe sie sich ins Innere wagen (vgl. ebd., fol. Eijr.–Eiijr.). Im HE F weist der Erzähler dagegen nur auf die „zwigestalt“ der Bewohner hin (Cgm 572, fol. 39v.), die erst später als Kranichmenschen zu erkennen sind.226 Die Abwesenheit der Bewohner und die Unkenntnis der geographischen Lage der Stadt bedingen im HE F eine breit ausgeführte Reflexion des Herzogs, wie mit den Bewohnern umzugehen sei (vgl. Cgm 572, fol. 40r.). Mit Christen könne man Handel treiben, irre „das volck“ aber „[i]n dem onglauben der haÿdenschafft“, so müssten sie sich ihre Nahrung mit Gewalt von ihnen erzwingen (ebd.).227 Denn da sie ohnehin ihr Vaterland als Pilger „vmb gotes Ere“ verlassen hätten, sei es besser, im Heidenkampf zu sterben, als zu verhungern.228 Die Aussicht, auf Heiden zu treffen, ist dabei nicht nur als Gefahr zu sehen, sondern auch als Chance trotz des Seesturmes sogleich als miles Christianus aktiv werden zu können.229 Diese Figurenrede hat wie die folgende keinerlei Entsprechung im HE Vb.
223 Schon in den HE F-Drucken werden aus Marmor bloße „steyne[ ]“ (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [19]v.). 224 Mit Bowden: A false down, S. 24, ist darauf hinzuweisen, dass es überhaupt ungewöhnlich ist, ein Volk von Wunderwesen in einer Stadt und damit in einem Kulturraum zu lokalisieren. 225 In HE Vb P1, S. 30, und Everaerts, S. 30, ist ein Halbsatz entfallen, sodass hier auch der Bräutigam der Prinzessin stirbt. Die syntaktische Struktur ist allerdings fehlerhaft. 226 Vgl. für die monströsen Wundervölker des Erdrands auch meinen Vergleich mit den Wundertaten der heiligen Adelheid unten, S. 441–446. 227 In allen HE F-Drucken ist vom „gelauben der heydenschafft“ die Rede (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [20]r., meine Hervorhebung). Dies entschärft die Darstellung axiologischer Diskrepanz von einzig wahrem Christentum und jedweder Form von ‚Unglauben‘ (vgl. zu dieser Problematik Strohschneider: Fremde in der Vormoderne). 228 Vgl. dazu Goerlitz: Heidenkampf, S. 88 f., mit Bezug auf den HE C. 229 Vgl. mit Bezug auf den HE C Bowden: A false down, S. 20.
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Angesichts der unbewachten Stadttore rechnet Ernst im HE F mit einem Hinterhalt. Sollten die Einwohner angreifen, schwört er seine Kreuzritter darauf ein, jegliche Barmherzigkeit mit „scharpfhaÿt“ zu vertauschen und „Jung vnd alte . mann vnd froẅen“ gleichermaßen abzuschlachten (Cgm 572, fol. 40r.). Uta Goerlitz spricht von einer „vollständige[n] Exklusion der Andersgläubigen durch Vernichtung“.230 Ernst fordert die Seinen dabei dazu auf, „nach dem fanen vnd gottes vnd meinem Ritterlichen zaichen“ (ebd., fol. 40v.) zu folgen. Er bezieht sich hier auf eine Fahne, mit der die Ritter der göttlichen Führung Ausdruck verleihen. Im HE F symbolisiere sie Christi Leiden (vgl. ebd., fol. 40r.), im HE Vb zeige sie neben dem Kruzifix den reformatorischen Slogan: „Das Wort GOttes bleibet ewiglich bestahn“ (Han 1, fol. Eijr.). Es handelt sich dabei um den persönlichen Wahlspruch Friedrichs des Weisen von Sachsen, aber auch um denselben der Protagonisten des Schmalkaldischen Bundes Johann von Sachsen und Philipp von Hessen. Da er in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts jedoch „on halberds, powder flasks and even on [...] elegant horse muzzles“ im ganzen protestantischen Raum weit verbreitet ist, ist das Zitat als Vereinnahmung des Bayernherzogs für den reformierten Glauben zu verstehen.231 Im HE F kommt jedoch hinzu, dass Ernst die ‚Mitbrüder‘ auffordert, auch seinem ritterlichen Vorbild zu folgen. Während Gott ihnen bei der Rettung aus Seenot seine „parmherczikait“ (Cgm 572, fol. 39v.) erweist, kann es für einen Christen im Sinne des Romans unabhängig von jedweder kulturellen Leistung der Heiden keine friedliche Koexistenz geben. Das gilt de facto auch für den HE Vb, der nur die diskursive Entfaltung der Problematik kürzt, nicht aber ihre Gültigkeit hinterfragt. Ein Handel mit Andersgläubigen, um das eigene Überleben zu sichern, wird in keiner Redaktion auch nur in Erwägung gezogen. Ohne Gegenwehr gelangen die Ritter nach Agrippia (vgl. Cgm 572, fol. 40v., und Han 1, fol. Eiijr.). Der HE F zeigt ihre Ausgelassenheit, wenn sie in „welscher“ Sprache und „bis gen himeln“ vernehmlich singen (Cgm 572, fol. 40v.). Das Detail charakterisiert die Figuren und ist in Zusammenhang zu sehen mit jenem „fürwicz“, mit dem sie nach der Mahlzeit die Stadt erkunden (ebd., fol. 41r.) und der Ernst und Wetzelo im folgenden Handlungsabschnitt trotz drohender Gefahr nach
230 Goerlitz: Heidenkampf, S. 89. Vgl. dazu das Kap. Gegenbegriffe in der Darstellung des Christen – Heiden – Feindschaftsverhältnisses [sic] am Beispiel von Herzog Ernst B und Herzog Ernst F bei Nushdina: Darstellung des ‚Fremden‘, S. 112–115. 231 F[rederic] J[ohn] Stopp: Verbum Domini Manet in Aeternum, the Dissemination of a Reformation Slogan, 1522–1904. In: Lutheran Quarterly 1/1 ([1969] 1987), S. 54–71, hier: S. 56 und S. 60– 62, das Zitat S. 62, Hinweis bei Flood (Hg.): Frankfurter Prosafassung, S. 101, Anm. zu 16.
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Agrippia zurückführt.232 Der HE Vb minimiert anders als der HE F (vgl. Cgm 572, fol. 40v.f. und fol. 41r.f.) auch hier die Prachtentfaltung auf ein Minimum; es geht lediglich darum, dass sich die Kreuzritter stärken und Vorräte für ein halbes Jahr mitnehmen können (vgl. Han 1, fol. Eiijr.f., dieses Motiv auch Cgm 572, fol. 41v.). Während sie dabei auch der zurückgebliebenen Schiffsleute gedenken, richtet sich Ernst in den Redaktionen des HE F an seine „mitprüder[ ]“, dankt Gott mit Anklängen an die Evangelien für die Speisung „[i]nn der wüstin“ (Cgm 572, fol. 41r.) und warnt davor, etwas anderes als Nahrung mitzunehmen. Nicht nur weil er den Aufenthalt als Versuchung ansieht,233 sondern auch da die baldige Rückkehr der Bewohner zu erwarten sei (vgl. ebd.).234 Trotzdem fordert Ernst Wetzelo nach der Rückkehr ins Schiff auf, Agrippia mit ihm gemeinsam „subtiler“ zu erkunden (Cgm 572, fol. 41v.).235 Nur der HE F bringt das Risiko dieser Unternehmung zum Ausdruck, wenn Ernst die Ritter auffordert, 232 Im HE Vb besehen bereits hier ausschließlich Ernst und Wetzelo die Gemächer des Schlosses (vgl. Han 1, fol. Eiijv.). – Zur curiositas an der vorliegenden Textstelle vgl. Goerlitz: Heidenkampf, S. 89, mit Bezug auf den HE C. 233 Dieses Motiv hat auch der HE B (vgl. V. 2407–2418), während die Nahrung sowohl auf der Dimension der Erzählerrede als auch auf derjenigen der Figurenperspektiven als Gottesgeschenk gilt (vgl. V. 2403–2405, V. 2416–2418, V. 2424 f. und V. 2465 f.), dürfen die Reichtümer der Stadt nicht angerührt werden. Selbst das fatale Bad der Ritter stellt der Erzähler des HE B als Gabe Gottes heraus (vgl. V. 3210 f.). 234 Für eine ausführlichere Deutung der Bibelverweise vgl. das Kap. 3.1.2.3. Zu einer Parallelstelle in Brandans Meerfahrt vgl. Hartmut Beckers: Brandan und Herzog Ernst. In: Leuvense bijdragen 59 (1970), S. 41–55, hier: S. 45–54. Auf die Nähe der ‚bona terra‘-Episode zum HE B weist David Blamires: Herzog Ernst and the otherworld voyage. A comparative study. Manchester 1979 (University of Manchester, Faculty of Arts Publications 24), hier: S. 30, hin. In jüngerer Zeit vergleicht Bowden: A false down die Grippia-Episode mit Brandans dortigem Aufenthalt. Interessanterweise bezieht aber auch sie sich auf den HE B, der gar nicht gemeinsam mit Brandans Meerfahrt überliefert ist. Ein Vergleich der spätmittelalterlichen Fassungen würde sich aber schon deshalb anbieten, da hier kein Grundunterschied des „general drift“ vorliegt, wie ihn Clara Strijbosch: Between Angel and Beast: Brendan, Herzog Ernst and the World of the Twelfth Century. In: The Brendan Legend. Texts and Versions. Hg. von Glyn S. Burgess, Clara Strijbosch. Boston, Leiden 2006 (The Northern World 24), S. 265–280, hier: S. 272, für Brandan („the values of Christendom“) und HE B („the values of knighthood“) konstatiert. 235 Im HE Vb fehlt eine nähere Spezifizierung (vgl. Han 1, fol. Eiijv.). Nur Singe hat überraschenderweise eine Formulierung, die an HE F-Redaktionen erinnert: Wetzelo solle mit Ernst „dieselbige besser [...] besehen“ (fol. Diiijv.). – Zur Diskussion der Neugier der Ritter anhand des HE B vgl. Morsch: Beobachtung im HE B, insbesondere S. 117–119; Martin Baisch: Vorausdeutungen. Neugier und Spannung im höfischen Roman. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarb. v. Carmen Stange und Markus Greulich. Hg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 205–230, hier: S. 213–220, sowie Mareike Klein: Die Farben der Herrschaft. Imagination, Semantik und Poetologie in heldenepischen Texten des deutschen Mittelalters. Berlin 2014 (Literatur, Theorie, Geschichte 5), hier:
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auf Kampfeslärm zu achten, um gegebenenfalls einzugreifen (vgl. ebd.).236 Im HE Vb hat das Folgende dagegen den Charakter eines Ausflugs. Dies entspricht der Bearbeitungsrichtung, die auch bei der Jerusalem-Episode an den Tag tritt.237 Ernst und Wetzelo, den der erste als seinen ‚Freund‘ anspricht (vgl. Han 1, fol. Eiiijr.), „spacieren“ durch die Stadt und essen und trinken zunächst im königlichen Festsaal (ebd., fol. Eiijv.), ehe sie die Schlossanlage genauer besehen.238 Die Beschreibung der Pracht ist auf einzelne Einrichtungsstücke beschränkt, wobei das im HE F als wahre Sensation dargestellte Kalt- und Warmwasserbad im HE Vb nicht besonders hervorgehoben ist (vgl. ebd., fol. Eiiijr., und Cgm 572, fol. 42r.). Dennoch nehmen Ernst und Wetzelo auch hier ein Bad, legen sich in die königlichen Betten und „schlieffen ein gute zeit mit einander“ (Han 1, fol. Eiiijr.).239 Die aktualisierte Gefahr einer Rückkehr der Agrippiner und vor allem Ernsts Ermahnung, Gottes Versuchungen nicht zu unterliegen, verleihen jeder Erwähnung von Gold oder Edelsteinen im HE F einen ganz anderen Charakter. Subtil wird diese Versuchung über die Beschreibung der kostbaren Betten und Bäder von der Entwendung der Reichtümer auf den Gebrauch der Einrichtungsgegenstände umgelenkt (vgl. Cgm 572, fol. 41v.f.). Ernst und Wetzelo baden und schlafen hier nicht einfach. Es „lustet“ Ernst „zebaden“, er weckt in seinem Begleiter die „begirde des bads“, um schließlich den „begirlichen willen“ zu befriedigen (ebd., fol. 42r.). Ist es Gott, der oben aus Ernsts Perspektive betrachtet die Ritter in einer unbewachten Stadt mit offenen Toren speist, so suggerieren die hier verwendeten Formulierungen, dass es kein Zufall ist, wenn die Agrippiner just in dem Augenblick zurückkehren, als Ernst und Wetzelo ihre Rüstungen wieder angelegt haben (vgl. ebd.) Die erste Begegnung mit den Wundervölkern des Ostens wird mit den folgenden Handlungselementen erzählt, die in allen Redaktionen gleich sind: Das Heer der Kranichmenschen kommt mit der indischen Prinzessin zurück,240 die sie –
S. 270–273. – Stock: Kombinationssinn, S. 203–206, deutet das Bad der Helden im HE B als Abweisung der Möglichkeit einer symbolischen Reinigung. 236 Dieses Motiv hat auch der HE B (vgl. V. 2496–2509). 237 Vgl. unten, S. 407f. 238 Sowohl in HE Vb P1, S. 32, als auch bei Everaerts, S. 31, sind es nicht die Gebäude, sondern Bäume, die das Erstaunen der Ritter hervorrufen. Die Änderung ist durchaus plausibel, da zuvor schon der Schlossgarten erwähnt wird. Die Natur des Orients interessiert hier damit etwas mehr als dessen Kultur. Vielleicht ist darin eine Reaktion darauf zu sehen, dass es sich bei den Agrippinern um ein Wundervolk handelt. 239 Bowden: A false down, S. 22, weist darauf hin, dass es sich dabei um „activities“ handle, die üblicherweise von „guests“ ausgeführt werden. 240 Während der HE F den Einzug in vielen Einzelheiten vorstellt, setzt sich im HE Vb die Tendenz, die Prachtentfaltung zurückzudrängen, fort (vgl. Cgm 572, fol. 42v., und Han 1, fol. Eiiijv.).
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wie der Erzähler in einer internen Analepse – berichtet, mit Gewalt241 entführt haben (vgl. Cgm 572, fol. 42r., und Han 1, fol. Eiiijv.f.). Obwohl sie bemerken, dass Speisen fehlen, feiern sie auf eine fremde Art das Hochzeitsfest.242 Die allgemeine Freude wird jedoch von der Prinzessin getrübt, welche die Küsse des Königs verweigert und ihr Schicksal beklagt (vgl. Cgm 572, fol. 42v., und Han 1, fol. Evr.f.). Ernst möchte sie daraufhin retten. Gegen Ende des Festes, als die entkleidete Braut dem König zugeführt werden soll, warnt ein Diener vor einem Überfall durch Ritter, die er für Inder hält.243 Der König tötet daraufhin die Prinzessin durch Schnabelstiche in ihre beiden Seiten, Ernst und Wetzelo töten wiederum den König (vgl. Cgm 572, fol. 43r.f., und Han 1, fol. Evv.–[Evij]r.). Die Sterbeworte der Prinzessin enthalten die hier abgewiesene Alternative einer erfolgreichen Rettung, von der die Liedfassung HE G erzählt.244
241 Nur der HE Vb erzählt dabei, dass die Kranichmenschen die Inder getötet hätten (vgl. Han 1, fol. Evr.). Bei Francke werden aus ‚etlichen‘ Dienern „erliche“, was die Unrechtmäßigkeit des Überfalls unterstreicht (fol. [Dvj]v.). 242 Die Bezeichnungen für ihren Gesang changieren zwischen ‚Grölen‘ und ‚Grunzen‘. So hat HE Vb Han 1: sie „[g]roͤ lztzen wie die Enten“ (fol. [Evj]v.), Zirngibl dagegen: sie „grunzten wie die Schweine“ (S. 35). Die späten HE Vb-Redaktionen bieten Mischformen an. – Insgesamt nennt der HE Vb die Belustigungen zwar „wunderliche abenthewer“; die explizit erwähnten sind jedoch vom Standpunkt europäischer Festlichkeit des sechzehnten Jahrhunderts aus betrachtet konventionell. 243 Wie auch der HE B (V. 3410–3413) zeigt der HE F Ernst und Wetzelo deutlich passiver: Sie verbleiben in ihrem Versteck, werden aber entdeckt. Nachdem er Alarm geschlagen hat, möchte sie der Kranichmenschen-Diener töten (vgl. Cgm 572, fol. 43r.). Sie haben nicht die Kontrolle über das Geschehen und geringeren Anteil an dem Verlauf, der sich letztlich als Lösung des Ausgangskonfliktes erweist. Als sie das Versteck verlassen, ist die Prinzessin schon tödlich verwundet (vgl. ebd., fol. 43v.). Wenn die HE F-Drucke ihren Sterbemonolog nicht mehr als ‚klägliche‘, sondern als „keckliche[ ] Worte[ ]“ bezeichnen (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [24]r.), weisen sie bereits auf die weitere Bearbeitungsrichtung voraus. Denn der HE Vb, der die religiöse Ebene hier einmal mehr ersetzt, stellt das Heldenmäßige der Handlung deutlicher heraus. Ernst und Wetzelo greifen die königlichen Diener an. Doch kann einer entrinnen und den König warnen (vgl. Han 1, fol. [Evj]v.). Dies korrespondiert mit zwei weiteren Interpolationen der HE Vb-Redaktionen. Zum einen plant Ernst bereits beim Anblick der traurigen Prinzessin, den König zu töten, um sie zu befreien (vgl. ebd., fol. [Evj]r.). Eine zusätzliche Parallele zur Reichshandlung bedeutet dies im Übrigen nicht. Denn von einem Plan, Otto zu töten, erzählt nur der HE F. Zum anderen wünscht sich Ernst die anderen Ritter herbei, um gegen die Kranichmenschen zu kämpfen (vgl. ebd.). – In einigen der jüngeren HE Vb-Drucke ist das Geschehen grammatikalisch verunklärt. Sie legen nahe, dass es die Kreuzritter sind, die sich den Kranichmenschen als indische Rächer vorstellen würden (vgl. besonders L2, S. 37; Zirngibl, S. 35; P1, S. 35; Everaerts, S. 34 f.; und M2, S. 35). 244 Wenn sie dabei im HE F bedauert, dass die Ritter ihr nicht schneller geholfen hätten, wird zugleich Wetzelos Rat diskreditiert, mit einem Befreiungsversuch so lange zu warten, bis das Gros
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Nur in HE Vb L2 empfiehlt sie dabei nicht ihre Seele Gott (vgl. S. 38).245 Aus der Erfolglosigkeit des Rettungsversuchs resultiert ihr Tod. Dass dieser in den Armen eines Christen erfolgt und dass damit eine dritte Alternative zur Hochzeit mit dem Kranichkönig oder mit Ernst erzählt wird, gerät in dieser Redaktion vollständig aus dem Blick. Die Auslassung ist allerdings konsequent. Im HE F bedecken Ernst und Wetzelo trotz der nahenden Feinde in Gedenken „an das wesen menschlicher Nature“ den Leichnam und bitten für das Seelenheil der Prinzessin (Cgm 572, fol. 44r.).246 Im HE Vb gilt ihre Sorge angesichts der Toten allein dem eigenen Überleben (vgl. Han 1, fol. [Evij]v.).247 Doch schon zuvor ersetzen die HE Vb-Redaktionen die religiöse durch romanhafte Logik: Nach John L. Flood seien „die Worte“, mit denen die Prinzessin ihr Geschick beklagt, „viel anschaulicher und wirken menschlicher gegenüber den faden Worten“ des HE F.248 Die ‚faden Worte‘ zitieren den paulinischen Römerbrief. Im HE Vb steigert die Prinzessin ihr Begehren, von „diesen Teuffelischen Leuten“ zu fliehen, sodass sie sich selbst dann nicht zu ihrem Hochzeitsfest nach Agrippia wünschen würde, wenn sie „in einem Waldt/ da die Wilden thier wohnen“, wäre (Han 1, fol. Evv.). – Dieses Motiv lässt sich in zahlreichen Romanen nachweisen.249 Nine Miedema weist vollkommen zu Recht darauf hin, dass das Römerbrief-Zitat dagegen die Funktion habe, die Prinzessin schon vor dem Rettungsversuch als Christin zu kennzeichnen.250 Außerdem sei der Kontext des intertextuellen Verweises sinnstiftend. Denn Paulus führt weiter aus, dass derjenige, der „einsieht, dass er aufgrund seiner [...] Körperlichkeit immerwährend dazu gezwungen wird, dasjenige zu tun, was er verabscheut, da es seiner Seele
der Gäste das Fest verlassen habe, um damit die Aussicht auf die eigene Unversehrtheit zu vergrößern (vgl. Cgm 572, fol. 43v. und fol. 43r.). 245 Für die korrespondierende HE C-Stelle nennt Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 30, Odilos von Cluny Epitaphium Adelheidae als mögliche Quelle. 246 In Bezug auf ihre ‚Farbigkeit‘ im HE B zeigt Mareike Klein: Farben der Herrschaft, S. 285– 288, dass die goldene Decke einen Rahmen zu ihren goldenen Kleidern schlägt, sodass durch Ernst und Wetzel der Ausgangszustand wiederhergestellt ist (vgl. V. 3584 f.). Auch hier zeigt sich ihr Tod als positive Alternative zur Rettung durch Ernst und einem Leben unter den heidnischen Kranichmenschen (vgl. V. 3503–3515 und V. 3569). Vgl. zur indischen Prinzessin im HE B ferner Antunes: Schwelle des Menschlichen, S. 143–146. 247 HE Vb Singe hebt die Lebensgefahr mit einer Hinzufügung nochmals hervor (vgl. fol. [Dviij]r.). 248 Flood: Einleitung, S. 61. 249 Vgl. stellvertretend Agripina im Fortunatus (F 1509, S. 533 f. und S. 551) und die Kaiserin im Kaiser Octavianus, fol. Bijv.f. – Nur im HE F können Ernst und Wetzelo die Worte der Prinzessin hören, die der HE Vb als inneren Monolog erzählt. 250 Vgl. Miedema: Redeszenen, S. 180 (mit Bezug auf den HE C). Das folgende Zitat ebd.
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schadet, [...] durch diese Einsicht die Gerechtigkeit der Gebote Gottes“ bestätige. Die Agrippia-Episode erzählt damit nicht nur von einer abgewiesenen Alternative in Bezug auf die Prinzessin. Sie gewinnt auch an Verweisungspotential auf die Adelheid-Handlung, in der ebenfalls Paulus zitiert wird.251 Indirekt entwirft der Roman auch dort eine dritte Handlungsoption, durch welche die Kaiserin ihr Seelenheil bewahrt. Die Prinzessin stirbt als Jungfrau.252 Adelheid lebt mit Otto in einer ‚Josefsehe‘ und wirkt am Ende ihres Lebens als Heilige.253 Nach Miedema, die sich, wie klar gesagt werden muss, auf den HE C und dessen Rezeptionskontext bezieht, habe auch Ernsts Reaktion Verweisungspotential, da die Formulierung an Vergils Aeneis angelehnt sei.254 Da dort Aeneas die Schuld an Didos Tod trägt, lege der Verweis Ernsts Schuld am Tod der Prinzessin nahe. Jedoch stelle ich oben heraus, dass allein dieser dritte Weg ihre Unschuld bewahrt, so wie nur die ‚Josefsehe‘ Adelheids Heiligkeit sicherstellt. Die ‚Schuld‘ des Herzogs wäre insofern zu relativieren.255 Ernst ignoriert zunächst den Wunsch der Prinzessin, zu sterben, und möchte sie vor den Kranichmenschen retten. Sein Rettungsversuch zeitigt nun aber genau das mit dem Paulus-Zitat ersehnte Ergebnis. In allen Redaktionen kommen bei den folgenden Kampfhandlungen Hunderte der Kranichmenschen ums Leben.256 Zwar wehren sich die Agrippiner im HE Vb quantitativ und qualitativ heftiger,257 der Erzähler des Cgm 572 preist aber
251 Vgl. S. 462f. im Kap. 3.1.2.3. 252 Auch Bowden: A false down, S. 29, liest den Tod der Prinzessin im HE C als „the only possible – and perhaps the most desirable – outcome“. In Bezug auf die Prinzessin verhindert er die Mesalliance mit dem Kranichmenschen und auch im Hinblick auf Ernst erfordere es die Handlungslogik, dass der Herzog ins Kaiserreich zurückkehrt, um den Konflikt mit Otto zu lösen, statt König in einem fernen Land zu werden (vgl. ebd., S. 29 f.). 253 Zum Begriff der ‚Josefsehe‘ vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 131, S. 149 f. und S. 153 (mit Bezug auf den HE C). Die vorliegende Textstelle liest Ehlen allerdings vor dem Hintergrund des Hieronymus-Briefes (vgl. ebd., S. 133 f.). Zu den Wundertaten Adelheids vgl. unten, S. 431–441. 254 Vgl. Miedema: Redeszenen, S. 181. Zur möglichen Praxis eines „intellektuelle[n] Spiel[s]“, bei dem „Zitatkontexte“ sinnstiftend sind, vgl. ebd., S. 181–183, das Zitat S. 181. 255 Auch im HE B benennt der Erzähler den „kummer“ über den Tod ihrer Eltern als eigentliche Todesursache, worauf Ernst keinen Einfluss hat (vgl. V. 3121–3214, das Zitat V. 3122). Dagegen stellt Antunes: Schwelle des Menschlichen, S. 147 f., Ernsts grippianisches Abenteuer anhand des HE B als herrscherliches Versagen dar (vgl. dazu auch Neudeck: Kaiser Otto, S. 148). 256 Die HE F-Redaktionen nennen 500 Gefallene (vgl. Cgm 572 fol. 44v.). Im HE Vb findet sich die konkrete Zahl nur im Zwischentitel (vgl. Han 1, fol. [Eviij]v.), der jedoch in allen späteren Redaktionen entfallen ist. 257 D. h. nicht, dass sie sich im HE Vb ritterlicher verhalten würden. Zwar bewerfen sie Ernst und Wetzelo nicht länger mit allem, was ihnen zu werfen möglich ist (vgl. Cgm 572, fol. 44r.), sondern
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explizit Ernsts und Wetzelos Riesenstärke258 und stellt sie metaphorisch als „fraÿdige[ ] leon“ den heidnischen „Jagdhunden“ gegenüber (fol. 44r.). Nur in den HE F-Redaktionen sichern die beiden Helden den Rückzug aufs Schiff bis zuletzt alleine ab (vgl. ebd., fol. 44v.f.).259 Stets rettet sie aber erst die Unterstützung der anderen Kreuzritter. Der HE F motiviert ihre Ankunft in Agrippia bereits weiter oben, indem Ernst sie auffordert, auf Schlachtgetümmel zu achten und dieses ist es auch, das hier kausallogisch ihr Eingreifen verursacht (vgl. Cgm 572, fol. 44r. und fol. 41v.). Wenn Ernst und Wetzelo im HE Vb stattdessen Gottes Barmherzigkeit erflehen und „[v]on geschicht GOtts“ die Kreuzritter – wenn auch zunächst unbewaffnet – vor den Toren der Stadt erscheinen (vgl. Han 1, fol. [Evij]v.f.), dann sieht die Ersetzung zunächst inkonsequent aus. Schließlich werden religiöse Aspekte im HE Vb zumeist in den Hintergrund gedrängt.260 Das Vorgehen hat jedoch in der ersten Reichshandlung eine Parallele. Nach dem Mord am Pfalzgrafen begründen die Redaktionen des HE F den Erfolg von Ernsts und Wetzelos Flucht ebenfalls kausallogisch, während der HE Vb auf das Eingreifen Gottes verweist (vgl. Cgm 572, fol. 33r., und Han 1, fol. Cijv.). Es lässt sich daher die These aufstellen, dass der HE Vb in Notsituationen für die Helden Gottes Hilfe als ultima ratio der Lösung der Konflikte der Handlung präferiert, während das Gewicht des theologischen Diskurses vermindert wird. Ich komme weiter unten darauf zurück.261 Die nun folgende Seeschlacht, bei der Ernst ein „wurffzeug“ gegen die Agrippiner einsetzt, und die Seebestattung der verstorbenen Kreuzfahrer sind neue Handlungselemente der HE Vb-Redaktionen (vgl. Han 1, fol. Fr.–Fijr., das Zitat fol. Fr.). Sie gestalten das bloße Nachsetzen der Agrippiner zu Wasser und die zwölftägige Fahrt der zum Teil verwundeten Ritter aus (vgl. Cgm 572, fol. 45r.).262
sie schlagen und stechen auf die Helden ein (vgl. Han 1, fol. [Evij]v.), dafür ist aber ihr Gebrauch vergifteter Pfeile intensiviert, die sie nun verschießen, „als wenn es schneiet“ (ebd., fol. Fr.). 258 In den weiteren HE F-Redaktionen ist die Stelle verballhornt (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. [24]v.), im HE Vb fehlt sie ganz. 259 Die logische Unstimmigkeit, dass die Ritter vor der Feldschlacht nochmals „in einer guten ordnung“ „auß dem Schiff“ ziehen (Han 1, fol. [Eviij]v.), obwohl sie zuvor das Schiff verlassen, rührt daher, dass im HE F die Verstärkung der Kranichmenschen vom Meer her erfolgt (vgl. Cgm 572, fol. 44v.). Der HE Vb überträgt das Detail auf die Ritter. 260 So fehlt am vorliegenden Handlungsabschnitt Ernsts christliche Ermahnung an die Kreuzritter, „von gottes schickunge“ im Kampf gegen „die veind Cristi“ in Agrippia „das ewig leben“ verdienen zu können, indem sie eine möglichst große Anzahl der Kranichmenschen töten und „dem hellischen got“ senden (Cgm 572, fol. 44r.f.). 261 Vgl. unten, S. 381f., und 570f. im Kap. 3.4. 262 Vgl. dazu Flood: Einleitung, S. 61.
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3.1.1.5 Die Orienthandlung: Gottvertrauen und Kampf um die Handlungsmächtigkeit in Räumen der Wildnis Acht Ritter leiden im HE Vb an den Wunden der vergifteten Pfeile, es handelt sich um die einzigen Opfer des Kampfs mit den Kranichmenschen. Doch sobald ein Giftpfeil die Haut geritzt habe, bestehe keine Aussicht auf Rettung mehr (vgl. Han 1, fol. Fv.). Die Bearbeitung verbindet dieses neue Detail mit zwei antiken Motiven. Zum einen reagiert das Meer mit Ungestüm auf die Todwunden und beruhigt sich erst, sobald sie gestorben sind (vgl. ebd., fol. Fv.f.). Zum anderen werfen die Ritter die aufgebahrten Leichname mit einer Geldgabe über Bord und machen damit ein christliches Begräbnis durch etwaige Finder wahrscheinlicher (vgl. ebd., fol. Fijr.). Zwar besteht keine Möglichkeit irdischer Rettung, aber auf der Dimension der Erzählerrede zeigt sich die potentielle Handlungsmächtigkeit der Ritter: Hätte Gott den Vergifteten nicht den Tod geschickt, wären sie in der Lage gewesen, das Meer dadurch zu besänftigen, dass sie dieselben über Bord geworfen hätten (vgl. ebd.). Zudem mildert die Aussicht auf eine ordentliche Bestattung aus christlicher Warte die Konsequenzen ab. In allen Redaktionen des Romans macht der Schiffsmeister im Folgenden jedoch eine beunruhigende Entdeckung. Doch während der ‚Berg‘ im HE F aus gescheiterten Schiffen besteht, deren Masten einem Wald gleichen (vgl. Cgm 572, fol. 45r.f.),263 berichtet der Schiffsmeister im HE Vb von einem richtigen Berg, dem „Magneten Berg“ (Han 1, fol. Fiijr.). Auch wenn die HE F-Drucke im Zwischentitel ebenfalls diesen Berg nennen – und ihn auf Holzschnitten abbilden – (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. 26r.), gibt der Schiffsmeister auch in diesen Redaktionen ‚Unwetter‘ – und nicht etwa ‚magnetische Anziehung‘ – als Grund an, warum die Schiffe in diese Meeresregion verschlagen worden seien. Das herzogliche Schiff wird im HE Vb von der „krafft von dem Berg“ ergriffen (Han 1, fol. Fiiijv.) und auch im HE F erfasst das Schiff eine „crafft“ „von dem Magneten“ (Cgm 572, fol. 46r.). Doch dieser ist hier nicht mit dem Berg, der nur aus Schiffen besteht, identisch, sondern „des magneten scheine vnd . flammen“ gehen „auß dem wasser“ hervor (ebd., fol. 46v.).264 Darin ist der Grund zu finden, warum der HE Vb davon erzählt, dass der Südwind Ernst und Seinen ins „Magnetisch Meer“
263 Nur in den HE F-Redaktionen löst die unvermutete Anwesenheit zahlreicher Schiffe bei den Rittern die Furcht vor einem Piratenangriff aus, während der Schiffsmeister „von meinen eltern“ von der wirklichen Gefahr weiß (vgl. Cgm 572, fol. 45r.f.) – ein weiteres Beispiel für die ‚Perspektivität‘ dieses Prosaromans (vgl. dazu das Kap. 2.3.1). 264 Anders als HE F Cgm 572 nennen alle Drucke an der späteren Stelle explizit den „magnetenberg“ (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [27]v.). – Auch im HE B handelt es sich um einen ‚Berg‘ im konkreten Sinn (vgl. V. 3895–3897).
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verschlägt (Han 1, fol. Fijr.),265 obschon diese Eigenschaft hier vom Meer auf den Berg übertragen ist.266 Die HE F-Redaktionen nennen das Meer dagegen „sorgklich vnd sÿrtisch“ (Cgm 572, fol. 45v.) beziehungsweise „sorhlich vnd irdisch“ (alle Drucke, stellvertretend Knoblochtzer, fol. [26]v.). Es entspricht dem ‚Lebermeer‘, von dem HE B und die ‚Reisefassung‘ von Brandans Meerfahrt erzählen.267 Wie magnetisches Feuer und Magnetberg Schiffe aufgrund ihrer Anziehungskraft gefährden, bleiben sie im Lebermeer stecken, sodass sich die Nahrungsvorräte alsbald erschöpfen.268 Der HE F kombiniert beide Gefahren,269 der HE Vb beschränkt sich auf das Magnetberg-Motiv. Als der Schiffsmeister im HE Vb den Berg erblickt, erfleht er göttlichen Beistand. Ernst möchte das Schiff wenden lassen, doch sei es unmöglich „wider die gewalt GOttes“ zu handeln (vgl. Han 1, fol. Fiijr.f., das Zitat fol. Fiijv.). Da Gott den Tod der Kreuzritter nicht verhindern wolle, bleibe ihnen nur, sich in den irdischen Tod zu ergeben und auf Vergebung der Sünden zu hoffen, damit sie „Kinder des liechts“ würden (vgl. ebd., fol. Fiijv.f., das Zitat fol. Fiiijr.). Die abgewiesene Alternative irdischer Rettung kennen die HE F-Redaktionen nicht. Dafür ist Ernst hier Gott dankbar, dass sie durch die erlittene Trübsal einen Teil ihrer Sünden schon im Diesseits abbüßen können (vgl. Cgm 572, fol. 45v.).270 Er bekennt sein Unwissen in Bezug auf Gottes Wege, schließlich sei ihr eigentliches Ziel Jerusalem, und bittet um Erlösung (vgl. ebd., fol. 46r.).271 Der HE Vb verschiebt den
265 Die Stelle ist in allen späteren Redaktionen ab HE Vb L2 ausgelassen (vgl. S. 40). Die Information fehlt jedoch nicht, sondern ist im Gegenteil an prominente Position, in den Zwischentitel, verschoben: Wie die ungestuͤ men Wellen, das Schif [...] in das Magnerisch Meer getrieben, allwo sie grosse Noth erlitten (ebd.). 266 Innerhalb der späteren HE Vb-Redaktionen gibt es eine Ersetzung, die sinnstiftend wäre, wenn sie nicht isoliert stehen würde: Je nach Verwendung des Personalpronomens (er, es oder sie) fürchtet Ernst nur seinen eigenen Untergang (vgl. L2, S. 40; P1, S. 38; Everaerts, S. 38; M2, S. 38; und Trowitzsch, S. 36), den Untergang des Schiffes (vgl. Fleischhauer, S. 42) oder denjenigen aller Ritter (vgl. Zirngibl, S. 39). 267 Vgl. dazu Claude Lecouteux: Die Sage vom Magnetberg. In: Fabula 25/1–2 (1984), S. 35–65, hier: S. 48–50. 268 Vgl. zum Magnetberg in den verschiedenen Fassungen der Ernst-Geschichte Lecouteux: Magnetberg, S. 50–52. 269 „[F]uͦ rsträlen [sic]“ (Cgm 572, fol. 46v.) beziehungsweise „feür pfeyle[ ]“ (alle Drucke, stellvertretend Knoblochtzer, fol. [27]v.) des Magneten setzen dabei sogar die Masten in Brand. 270 Entsprechend können die Ritter auch im HE B darauf hoffen, hier und jetzt bereits für ihre Sünden zu büßen (vgl. V. 3888 f. und V. 4092–4095). – Im HE F Sorg 3 wird aus dem ‚durchlauchten‘ Herzog ein „allmächtiger“, da das Attribut Gottes hier zweifach verwendet wird (fol. [cviij]r.). Die Änderung steht jedoch allein und im Widerspruch zur demütigen Annahme des eigenen Geschicks. 271 Vgl. zum Inhalt des Gebets S. 465f. im Kap. 3.1.2.4.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Fokus des religiösen Diskurses: Der Perspektive auf das eigene Leid fehlt der Faktor der Bußleistung. Der Tod erscheint als Gottes Wille, dem sich die Kreuzritter willig ergeben. In allen Redaktionen werden Verstorbene betrauert, ihre Leichname an Deck gelegt, sodass die Greifen diese übers Meer hinwegtragen können. Doch gelten Ernsts Martern und seine „[j]ämmerliche[ ] clage“ im HE F (Cgm 572, fol. 46v.) seinen eigenen Rittern. Im HE Vb gibt es auf den Wracks fremde Tote, aber auch Überlebende, deren Klage sich mit dem Mitleid von Ernsts Rittern zu einem allgemeinen Flehen um Gottes Barmherzigkeit vermischt (vgl. Han 1, fol. Fvr.). Nach dieser kontemplativen Phase der Trauer fordert Wetzelo Ernst stets zu neuerlicher Aktivität auf (vgl. Cgm 572, fol. 46v.f., und Han 1, fol. Fvv.). Seine List, das Wrack mit Hilfe der Greifen zu verlassen ist in den HE Vb-Redaktionen das Ergebnis rationaler Kombinationsgabe. Sobald er „[o]hn alles gefehr“ zahlreiche Ochsenhäute entdeckt, teilt er Ernst den fertigen Plan, um zu entkommen, mit (Han 1, fol. Fvv.). Ernst ergänzt hier nur noch, was im HE F stillschweigend vorausgesetzt wird, nämlich dass sie ihre Rüstung tragen sollten, wenn der Greif sie in die Häute eingenäht zu seinem Nest bringt (vgl. ebd., fol. [Fvj]r.).272 Da der HE Vb den Umstand besonders betont, dass der ständisch untergeordnete Graf dem Herzog den rettenden Vorschlag unterbreitet, bietet Ernsts Hinweis Gelegenheit, letztlich doch dessen Überlegenheit herauszustellen.273 Oben stelle ich die These auf, dass der HE Vb Gottes Eingreifen als erzählerisches Mittel nutzt, um die Helden aus lebensbedrohlichen Situationen zu befreien.274 Insofern ist es bemerkenswert, dass die vorliegende Textstelle entgegen dieser Tendenz bearbeitet ist. Denn ursprünglich stellt der Erzähler des HE F gerade heraus, dass Wetzelo die List „nit [...] von menschlicher verstandnuß“ ersinne, sondern sie ihm „wunderlich von gottes eingiessen“ eingegeben sei (Cgm 572, fol. 47r.). Im HE F wird damit von drei Mittlerfiguren erzählt, über die Gott Einfluss auf die Handlung nimmt: Adelheid, die den Namen des Verräters erfährt, Ernst, der nach der militärischen Niederlage zur Kreuzfahrt ermuntert ist, und hier Wetzelo, interessanterweise nachdem Ernst oben betend Zweifel erhebt, Jerusalem als Ziel seines Zuges erreichen zu können. Anders als im HE Vb, wo Gottes Eingreifen punktuell als eine ultima ratio konzipiert ist, ist es im HE F im größeren Zusammenhang als Motivation von hinten zu sehen, die den Helden
272 Im HE B ist es Wetzels Idee, die Rüstung anzubehalten (vgl. V. 4178 f. und V. 4186–4188). 273 Bei HE Vb Zirngibl ergänzt Ernst den Vorschlag, ohne ihn als ergänzungsbedürftig zu kennzeichnen (vgl. S. 42). Ihr Verhältnis erscheint dadurch freundschaftlicher. Vgl. dazu auch Ringhandt: HE-Fassungen, S. 302–305. 274 Vgl. S. 378.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
schuldig werden lässt, auf dass er im Heiligen Land Buße tue und letztlich Vergebung erfahre. Das Motiv der Versuchung hat im HE F dabei nachgerade leitmotivischen Charakter: Nur hier wird Ernst erster im Reich nach Kaiser und Kaiserin, nur hier thematisiert er die Versuchung durch die Schätze Agrippias und nur im HE F erbarmen Ernst an der vorliegenden Textstelle die Toten gerade vor dem Hintergrund der Reichtümer, die sich auf den ebenfalls gescheiterten Schiffen befinden (vgl. Cgm 572, fol. 47r.). Im HE Vb fehlen sowohl die explizite Hervorhebung von Ernsts Erhöhung im Kaiserreich als auch seine Warnung vor den Schätzen der Kranichmenschen. Und nur hier nehmen Ernst und Wetzelo „Edel Gestein“ an sich,275 bevor sie wie in allen Redaktionen von den Kreuzrittern ungern, aber untertänig, in die Häute eingenäht und ans Deck getragen werden (Han 1, fol. [Fvij]r.). In allen Redaktionen werden nun nach und nach sechs der Ritter von den Greifen zu ihren Jungen getragen (vgl. Cgm 572, fol. 47r.f., und Han 1, fol. [Fvij]r.– Gv.). Im HE Vb werden die Mühsal für die Ritter und ihr Ausgeliefertsein an das mythische Wesen besonders hervorgehoben. Wenn im HE F stattdessen Gottes „schickung“ und „wirckung“ gleich drei Mal erwähnt werden (Cgm 572, fol. 47r. und fol. 47v.), so fehlt diese Komponente im HE Vb dennoch nicht. Sie ist lediglich von der Erzählerrede auf die Dimension der Figurenperspektiven verschoben. Denn nicht nur verbindet der zurückbleibende siebte Ritter das mutmaßliche Gelingen der List mit Gottes Einflussnahme, auch Wetzelo hofft auf dessen Beistand, um sich aus dem Greifennest zu retten (vgl. Han 1, fol. [Fviij]r.f.). Freilich ist es dann Ernst, der den geschwächten Grafen aus der Ochsenhaut schneidet. Dadurch bleibt im HE Vb Gottes Intervention an die Figurensicht gebunden. Vor allem aber stellen diese Redaktionen damit nochmals Ernsts Überlegenheit heraus, nachdem – wie oben erwähnt – die eigentliche List auf Wetzelo zurückgeht.276 In allen Redaktionen können die Kreuzritter unabhängig von einander in Zweiergruppen das Nest verlassen und von dem Berg herabsteigen, auf dem es sich befindet. Der letzte Ritter bleibt im Wrack zurück und muss ohne Nahrung den Tag des Jüngsten Gerichts erwarten (vgl. Cgm 572, fol. 47v., und Han 1, fol. [Fviij]r.– Gijr.). Im HE F ist aufgrund „gotes schicklichen willen[s]“ das Zusammentreffen der Diener unproblematisch;277 es ist daher wie die von Gott erflehte Begegnung mit
275 Das Motiv wird bei HE Vb Singe, fol. Evv. („ein gut Theil“ der Edelsteine), und L2, S. 44 („ein Theil [...] nach dem Besten“), sogar noch gesteigert. 276 Im HE F stammt der Plan aus der Perspektive des Erzählers von Gott und Wetzelo befreit sich selbst (vgl. Cgm 572, fol. 47v.). 277 Auch in diesem Fall steht der HE F dem HE B nahe (vgl. V. 4324–4331).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Ernst und Wetzelo nicht weiter erzählenswert (vgl. Cgm 572, fol. 47v.f., das Zitat fol. 47v.). Der HE Vb gestaltet die Suche dagegen aus. Ehe ein fliehender Hirsch dem einen Paar die Anwesenheit des anderen verrät, laufen die Ritter „wie die irrende[n]“ (L2, S. 48) beziehungsweise „wie die verlornen Schaaf/ die jren Hirten verloren haben“, durch den Wald (alle anderen HE Vb-Redaktionen, hier: Han 1, fol. Giijr.).278 Der Vergleich des Erzählers steht dabei in Diskrepanz zu den schnellen Fortschritten der Suche, wobei die Ritter die Natur (das Fluchtverhalten des Hirschen) beobachten und ihre Perspektive verändern (das Erklettern eines Baumes), um den Herzog wiederzufinden. Beides ist nur schwer mit dem Bild eines hilflosen Schafes zusammenzudenken, woraus zu ersehen ist, dass mit obiger Formulierung allein das Unterordnungsverhältnis der Diener unter ihren Herren zum Ausdruck gebracht werden soll und zwar durchaus auch in geistlichem Sinne.279 Nachdem einer der Ritter Ernst und Wetzelo von einem Baum aus erblickt, führt er mit seinem Rufen die verbliebenen Kreuzfahrer wieder zusammen (vgl. Han 1, fol. Giiijr.).280 Im HE Vb „klagt“ „ein jeder wie es jm gangen was“ (ebd.). Im HE F fragt Ernst, wer die anderen Ritter eingenäht habe, sodass sich sein „pitterlich waÿnen“ explizit auf den siebten Ritter bezieht, für dessen Seelenheil er betet.281 Im Folgenden entwerfen die Redaktionen des HE F das Tableau einer menschenfeindlichen Wildnis, die es durch Kultur schaffende Akte unter göttlicher Mithilfe zu bezwingen gilt. Zum einen gebricht es den Rittern an Nahrung (vgl. Cgm 572, fol. 48r.). Pilze,282 Kräuter und Wurzeln können den Hunger nur lindern. Erst als sie Feuer entzünden und die von Wetzelo gefangenen Fische in ihren Helmen kochen, können sie sich „nach Jrem lustlichen willen vnd begirde“ satt
278 In allen HE Vb-Redaktionen stillen die Ritter während der Suche ihren Durst an einer Quelle. HE Vb L2, S. 49, ersetzt ‚Durst‘ durch ‚Dienst‘. Dadurch wird die Suche nach Ernst zu einem Akt des Dienens, was neben den stets variierten Figurenbezeichnungen (‚Diener‘, ‚Gesellen‘, ‚Leute‘, ‚Mitbrüder‘, ‚Freunde‘) bei einer Analyse des Gemeinschaftsgefüges der Kreuzfahrer zu berücksichtigen ist. Vgl. zu derartigen Bezeichnungen in HE B und HE F Nushdina: Darstellung des ‚Fremden‘, S. 58–68. 279 Vgl. seine prominente Position bei Gebeten wie am Magnetberg oder vor der folgenden Floßfahrt (vgl. Han 1, fol. Fiijv.f., und fol. Gvv.). 280 Bei HE Vb Everaerts, S. 45, und M2, S. 46, rufen alle Diener gemeinsam nach Ernst und Wetzelo. 281 Dass dies im HE Vb ausgelassen ist, muss jedoch mit der Interpolation zusammengesehen werden, welche die Figurenrede des zurückgebliebenen Ritters auf dem Schiffswrack enthält (vgl. Han 1, fol. Gv.). 282 Alle HE F-Drucke ersetzen „swammen“ (Cgm 572, fol. 48r.) durch „samen“ (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [30]v.).
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essen (ebd., fol. 48v.). Zum anderen ist das Gelände äußerst unwegsam (vgl. fol. 48v.f.). Um ihren Durst zu stillen, übersteigen Ernst und die Seinen unter größten Mühen mehrere Bergkämme, „dahin [...] vor noch nach kein mensch nie komen was“ (fol. 48v.), und steigen in ein tiefes Tal hinab. Da der Rückweg zu steil ist, müssen sie dem Flussverlauf folgen, bis dieser in der Höhle eines Berges verschwindet (vgl. fol. 48v.f.). Hier ist nicht nur ein point of no return erreicht,283 es bedarf außerdem eines kulturschaffenden Aktes, um die Notsituation zu überwinden. Aufgrund von Gottes „einsprechen“ (fol. 49r.) bauen sie mit einfachen Mitteln – „nit vast clüglich . aber zümal vesticlich“ (ebd.) – ein Floß. Die Umsetzung des Plans wird dabei zum Beweis absoluten Vertrauens auf Gott: Eine Analepse des Erzählers erinnert an die weiter oben erzählte Seenot und das tosende Wasser höre sich so an, als ob ein „groß schiff da züerstozzen würd vnd vndergienge“ (ebd.). Obwohl die Kreuzritter „erschrockenlichen vnd onsäglichen zweiuel vnd sorglicher vorchte“ befällt, vertrauen sie sich „mit hofnung“ auf „gotes hilfe“ dem feindlichen Element an (ebd.).284 Der HE Vb berichtet schon zuvor vom kärglichen Mahl (vgl. Han 1, fol. [Fviij]r.) und auch hier finden sich die wesentlichen Elemente der Naturbeschreibung (die steile Wand, der Weg entlang am tosenden Fluss und der Berg mit der Höhle, vgl. ebd., fol. Giiijv.). Doch wird in diesen Redaktionen nur ein Mal auf die fehlende Möglichkeit eines Rückweges verwiesen (ebd.). Der Vergleich des Wasserrauschens mit einem scheiternden Schiff fehlt ebenso wie die Kulturleistung der Essenszubereitung. Und das Gebet der Ritter erfolgt erst nach dem Bau des Floßes als eine Bitte um Geleit. Diese Umstellung bewirkt gemeinsam mit den Kürzungen sowohl auf der Dimension der Erzählerrede als auch dessen, was überhaupt erzählt wird, dass die Überwindung des ‚tiefen Tales‘ im HE Vb ein Abenteuer innerhalb einer Reihe ist, ohne eine hervorgehobene Stellung in Bezug auf die globale Architektur des Romans.285 Außerdem ist die folgende Floßfahrt hier kein Beleg mehr für den unbedingten Gehorsam gegenüber dem Ratschluss Gottes. Im HE Vb wird das Floß bei der Bergdurchquerung hin und her geworfen, es ist einen halben Tag lang finster und aufgrund des brausenden Wassers können
283 Nicht nur der Rückweg über die Steilwand ist ausgeschlossen, es bestehe auch keine Aussicht auf eine Rückkehr ins „sirtisch mere“ (Cgm 572, fol. 49r., in allen Drucken: „irdysch moͤ re“, stellvertretend Knoblochtzer, fol. [31]r.). 284 Die Drucke ersetzen die ‚Hoffnung auf Hilfe‘ durch unmittelbare ‚Hilfe Gottes‘ (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. [31]v.). 285 Vgl. zur globalen Architektur des Herzog Ernst S. 467–471 im Kap. 3.2.1.
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die Ritter einander nicht hören (vgl. Han 1, fol. [Gvj]r.).286 In aller Kürze erzählen die Redaktionen, wie die Kreuzritter innerhalb der Höhle an den feuerhellen Berg Uno287 gelangen, der auf Deutsch Karfunkel heiße und von dem Ernst ein Stück abschlägt. In einer Prolepse verweist der Erzähler darauf, dass der Herzog den Steinsplitter seinem Vater schenken wird, der ihn dann zu einem Teil der Kaiserkrone macht (vgl. ebd.). Der größte Unterschied dieses Erzählabschnitts im HE F besteht darin, wie der Text insbesondere auf der Dimension der Erzählerrede mit Bedeutung aufgeladen ist. Die Aufzählung der „drierlaÿ vorchtlichs schaden[ ]“ (Cgm 572, fol. 49r.) – das Anstoßen des Floßes, die Finsternis und das Lärmen des Wassers – ist durch eine Aufzählung hervorgehoben.288 Es sei ein „wunder“ (ebd.), dass das Floß nicht zerschelle. Aber eigentlich ist das größere Wunder das gemeinsame Gebet der Ritter, obwohl sie einander nicht hören können. Sie bitten um eine Wiederholung ihrer Rettung aus dem „sirtischen mere“ (fol. 49v.).289 Der philosophisch-theologische Gehalt des Gebetes in der lateinischen Vorlage HE C ist hier auf einen Vergleich der erbetenen Rettung mit Jesu Erlösung seines Jüngers Petrus reduziert.290 Der HE F verweist damit auf jene Wundererzählung im Matthäus-Evangelium, in der Jesus übers Wasser geht, um aufs Schiff der Jünger zurückzukehren (vgl. Mt 14.22–33). Ehe sich Jesus zu erkennen gibt, halten sie ihn für ein Gespenst. Doch dann wünscht Petrus, zu ihm auf die Wellen des Meeres zu kommen. Auch er ist fähig, auf dem Wasser zu wandeln, bis ihn Glaubenszweifel überkommen und Jesus den Versinkenden retten muss (vgl. ebd., 28–31). Mit dem ‚Zweifel‘ ist ein Motiv aufgerufen, das am Anfang der Bergdurchquerung steht. Denn mit „onsäglichen zweiuel vnd sorglicher vorchte“ besteigen die Ritter weiter oben ihr Floß (Cgm 572, fol. 49r.), obwohl dessen Bau von Gott initiiert ist. Erst wie sie den Zweifel überwinden, enden die drei ‚Schäden‘, unter denen die Ritter bislang zu leiden haben. Dass ein entscheidender Wendepunkt erreicht ist, verdeutlichen die Redaktionen des HE F, indem sich der Erzähler unmittelbar nach dem Gebet mit einem
286 Zu dem verderbten Halbsatz, der die Dunkelheit näher beschreibt, vgl. Flood (Hg.): Frankfurter Prosafassung, S. 118, Anm. zu 15. Die späten HE Vb-Redaktionen ab L2 lassen den störenden Halbsatz weg (vgl. S. 50). 287 In den späten HE Vb-Redaktionen ab L2 heißt der Berg – wie im HE F – Unio (vgl. S. 51). Bei HE Vb Everaerts, S. 47, fehlt die lateinische Bezeichnung. 288 In Sorg 2, fol. 39r.f., und Sorg 3, fol. [dv]r., finden sich zusätzlich Alineazeichen, um die Auflistung zu verdeutlichen. 289 Die Drucke ersetzen die geographische Bezeichnung erneut durch ‚irdisches Meer‘ (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol [32]v.). 290 Zur Parallelstelle im HE C vgl. Bartsch: Herzog Ernst, S. LIf.; Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 321, Anm. zu 8.
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nota bene erstmals direkt an den Rezipienten wendet: „Nempt war“ (fol. 49v.). Als nächstes beschreibt er „ains seltzsamen liechtes Scheine von den gnaden des ewigen liechts“ (ebd.). Dessen Quelle ist auch hier der Fels ‚Unio‘, dessen Namen eine Kontextglosse als „ein aÿnikait“ erläutert.291 Schließlich gebe es nur einen einzigen derartigen Stein. Der Kontext legt weniger nahe, hier ein Symbol für die unio mystica zu sehen, eher ist Gottes Dreieinigkeit und mehr noch die Einigkeit der zwei Naturen Christi („warer got vnd mensch“, fol. 49v.) mitzudenken. Indem Ernst wie im HE Vb ein Stück dieses leuchtenden Steines abbricht, wird er der Gnade teilhaftig. Es liegt nahe, dass dies mittelbar auch für Otto und das Kaiserreich gelte, da der Erzähler wie im HE Vb darauf verweist, dass Otto den Splitter seiner Krone hinzufügen wird.292
3.1.1.6 Die Orienthandlung: Herzog unter Heiden – Ernst in Arimaspi Zunächst gelangen die sechs noch lebenden Kreuzritter aber in allen Redaktionen nach Arimaspi (vgl. Cgm 572, fol. 49v.f., und Han 1, fol. [Gvj]v.f.). In den HE VbDrucken sind der dortige Wald weniger ‚wild‘ und Schlösser wie Städte nicht „gar maisterlich starcke gebawen“ (Cgm 572, fol. 50r.), sondern einfach nur ‚hübsch‘. In einer dieser Städte begegnen die Ritter den Zyklopen, die der Erzähler mit einer
291 Zum weiteren Verweis des Erzählers auf „der stein puͦ ch“ (Cgm 572, fol. 49v.) vgl. S. 459f./ Anm. 528 im Kap. 3.1.2.3; zur strukturellen Bedeutung der Stelle vgl. S. 471f. im Kap. 3.2.1 und zur Verwendung der Kontextglosse vgl. S. 520 im Kap. 3.3.3. 292 Auch im HE B nimmt der leuchtende Stein, der dort der ‚Waise‘ heißt, eine prominente Stellung ein. Allerdings fehlt der konkrete christologische Zusammenhang. Stock: Kombinationssinn, S. 199, sieht den „ellende[n] Waise[n]“ und Ernst als „verwaisten ellenden“ zusammen, sodass mit der Integration des Steines in die Kaiserkrone und der Heimkehr des Herzogs ins Reich beide ihre „Sinnbestimmung“ erfüllen und die „Niederlage“ des Verrats, Mordes und Krieges letztlich in einen „Sieg“ umgedeutet werde. Unter Umständen liege mit der Reichskrone, welche die Leistung des Herzogs in Form des Steines integriere, sogar so etwas wie eine ‚Utopie‘ vor (vgl. ebd., S. 225). Vgl. dazu auch Alexandra Stein: Die Wundervölker des Herzog Ernst (B). Zum Problem körpergebundener Authentizität im Medium der Schrift. In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. In Verb. mit Alexandra Stein. Hg. von Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger. Leipzig, Stuttgart 1997, S. 21–48, hier: S. 47 f.; Stephen Mark Carey: ‚Undr unkunder diet‘: Monstrous Counsel in Herzog Ernst B. In: Daphnis 33 (2004), S. 53–77, hier: S. 73. Im Zusammenhang mit einer Deutung Ernsts als miles Christianus vgl. Spuler: The Orientreise, S. 412 und S. 416 f.; Neudeck: Ehre und Demut, S. 201 f., sowie Neudeck: Kaiser Otto, S. 134–139 und S. 151 f., mit ablehnenden Besprechungen bei Stock: Kombinationssinn, S. 166, und Monika Schulz: triuwe im HE B, S. 434/Anm. 143. – Für ältere Literatur zum ‚Karfunkel‘ vgl. Flood (Hg.): Frankfurter Prosafassung, S. 118, Anm. zu 23.
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Kontextglosse näher charakterisiert.293 Das Besondere der Darstellung dieser Begegnung ist, dass sie aus der Perspektive der Fremden reflektiert wird. So sind es die Zyklopen, die erschrecken (HE F) oder sich verwundern (HE Vb), weil die Menschen zwei Augen haben.294 Sie bestaunen Ernst und die Seinen, „als ob sÿ merwunder weren“ (nur im HE F, hier Cgm 572, fol. 50r.),295 und der Stadtgraf hält die Ritter aufgrund von Hörensagen für Satyrn.296 Nach einem Gespräch297 hofft er sogar, die Menschen „für ein wunder“ und als „kurczweil“ zur Schau stellen zu können (fol. 51r.).298 Wie in Agrippia, wo der königliche Diener Ernst und Wetzelo für Inder hält, wird damit die wahre Identität der Kreuzritter verkannt. Der HE F macht dabei allerdings plausibel, warum man sie für wilde Wesen halten könne: Trotz ihrer Rüstung seien die Ritter nackt, sie verlangen
293 Zur Verwendung von Kontextglossen vgl. das Kap. 3.3.3; zu den monströsen Wundervölkern des Erdrands vgl. auch die gemeinsame Besprechung mit den Wundertaten der heiligen Adelheid unten, S. 441–446. 294 Vgl. dazu auch S. 315 in der Einleitung zu Teil 3. 295 Anders Nushdina: Darstellung des ‚Fremden‘, die die Erzählerbemerkung aufgrund des Konjunktivs II als ironisch ansieht (vgl. S. 147). Der Erzähler bringe hier seine Verwunderung über die Reaktion der Zyklopen zum Ausdruck, da Zweiäugigkeit für ihn nichts Außergewöhnliches sei. Nushdina lässt hier aber außen vor, dass der Konjunktiv daher rührt, dass die Ritter keine Meerwunder sind und die Arimaspen dieselben auch nicht für solche, sondern für ‚wunderliche‘ oder ‚Wald-Leute‘ halten. 296 Der HE Vb führt mit dem obersten Statthalter als Boten des Zyklopengrafen eine zusätzliche Figur ein (vgl. Han 1, fol. [Gvij]r.). Der Wegfall eines Relativpronomens hat zur Folge, dass in HE Vb Fleischhauer, S. 53, P1, S. 48, und Everaerts, S. 48, dieser Statthalter und nicht länger der Stadtgraf die Wesenheit der Ritter fehldeutet, obwohl er sie zuvor selbst gesehen und gesprochen hat. 297 Anders als mit den Agrippinern ist eine mündliche Kommunikation mit den Arimaspen möglich. Anhand des HE B begründet dies Corinna Laude: Sye kan ir sprache nyt verstan. ‚Grenzsprachen‘ und ‚Sprachgrenzen‘ im Mittelalter. In: Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter. 11. Symp. des Mediävistenverbandes v. 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt a.d.O. Hg. von Kristian Bosselmann-Cyran, Ulrich Knefelkamp. Berlin 2007, S. 331–344, hier: S. 342, mit den Mündern der Zyklopen, die im Vergleich mit den Schnäbeln der Kranichmenschen den menschlichen Artikulationsorganen ähneln. Die Möglichkeit eines kommunikativen Austausches ist für sie der Grund, warum Ernst weniger aggressiv auftritt, obwohl es sich auch bei den Zyklopen um Heiden handelt (vgl. ebd., S. 339 f.). Allerdings ist die Verständigung im HE B prekärer, insofern die Ritter erst einen einjährigen Sprachkurs absolvieren, ehe sie wirklich mit den Zyklopen sprechen können (vgl. V. 4630 f., dazu ebd., S. 340). Außerdem berücksichtigt Laude bei ihrer Schlussfolgerung nicht die deutlich verminderte militärische Macht des Herzogs. Vgl. zum Kommunikationsproblem in Grippia auch Antunes: Schwelle des Menschlichen, S. 143 und S. 148–151. 298 Dies entspricht Ernsts Verhalten, der weiter unten die Wunderwesen aus dem Orient mit ins Kaiserreich nimmt.
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nach Kleidung, um ihre Blöße zu bedecken (vgl. fol. 50v.).299 Außerdem sind sie ausgehungert (vgl. fol. 50r.f.) und müssen gewaschen werden (vgl. fol. 51r.). Es mag überraschen, dass der Roman nicht auch umgekehrt die Besonderheit einer Begegnung mit aus der Sicht der Ritter fremden Wesen erzählt. Aber vielleicht tut er dies indirekt ja doch – zumindest in den Redaktionen des HE F.300 Denn obwohl Ernst wie bei den früheren Reisestationen vornehm empfangen wird, verweigert er eine Antwort, als der Herr der Stadt ihn fragt, „was volkes vnd geschlechtes“ sie seien und wie sie von wo aus nach Arimaspi gekommen seien (fol. 50r.). Des Herzogs Forderung nach Essen und Trinken, welche er anstelle einer Antwort äußert, ist sicher nicht als „Blick des Bürgers auf die Welt des Adels“ zu verstehen.301 Ernsts Verstoß gegen das höfische Zeremoniell ist meiner Ansicht nach nicht Folge der Unkenntnis des HE F-Verfassers, sondern markiert die Superiorität der Menschen gegenüber den Zyklopen aus Ernsts Figurenperspektive.302 Erst als sich der Graf zum zweiten Mal nach den Umständen ihrer Ankunft in seiner Stadt erkundigt, gibt ihm Ernst Auskunft. „[W]ider got vnd alle gerichtikaÿte“ sei er durch den römischen Kaiser von seinem „vätterlichen erbe“ und aus seinem „vatterlannd“ vertrieben worden (fol. 50v.). Daraufhin rekapituliert er zum Erschrecken (HE F) beziehungsweise zur Verwunderung des Stadtherrn (HE Vb) die meisten Stationen auf dem Weg nach Arimaspi (vgl. fol. 50v.f.). Der Hauptunterschied dieses Rückblicks im HE Vb liegt darin, dass Ernst hier die Vertreibung vollständig weglässt und den Schwerpunkt ganz auf den Magnetberg und die Rettung mit Hilfe der Greifen legt (vgl. Han 1, fol. [Gviij]r.–Hv.).303 Schnell erreicht die Kunde von den seltenen Gästen den König der Zyklopen, für den Ernst im weiteren Verlauf des Romans einige feindliche Völker bezwingt.
299 Während eine Einkleidungsszene im HE Vb vollständig fehlt, werden die Ritter im HE F mit kostbarsten Gewändern aus Seide und Pelz mit Verzierungen aus Purpur, Gold und Edelsteinen ausgestattet (vgl. fol. 51r.). 300 Im HE Vb wird Herzog Ernst zunächst vom Statthalter befragt und gibt an, dass sie von Agrippia gekommen seien (vgl. Han 1, fol. [Gvij]v.). Nur in HE Vb L2 fehlt aufgrund eines Zeilensprungs Ernsts Antwort (vgl. S. 52). Aufgrund ihres höfischen Verhaltens bei der Begrüßung des Stadtherrn hat dieser die Ritter „sehr lieb“ (Han 1, fol. [Gvij]v.). Auch dass sich das Stadtoberhaupt mit Ernst und Wetzelo als den vornehmsten der Ritter privatim trifft, um sie nach ihrer Herkunft zu fragen, ist ein neuer Zug des HE Vb, der die beschriebene Diskrepanz zwischen Menschen und Zyklopen einebnet. 301 So Ringhandt: HE-Fassungen, S. 321, vgl. für das Folgende auch ebd., S. 322. 302 Es schließt einen Rahmen des gebrochenen Zeremoniells, wenn Ernst weiter unten Arimaspi ohne Erlaubnis des Königs verlässt. Dies wird dort explizit mit dem Heidentum der Zyklopen begründet (HE F, vgl. Cgm 572, fol. 55r.) beziehungsweise wird dieser Grund vorher angesprochen und hier vorausgesetzt (HE Vb, vgl. Han 1, fol. Jiijr.f.). 303 Für eine genaue Analyse vgl. S. 452–454 im Kap. 3.1.2.1.
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Während im HE F dabei die Anwesenheit zweiäugiger Wesen das Faszinosum ausmacht (vgl. Cgm 572, fol. 51r.), schickt der König im HE Vb nach „Herzog Ernst“, der eine Berühmtheit zu sein scheint, die unabhängig von ihrer physischen Beschaffenheit die Aufmerksamkeit des Herrschers erregt (Han 1, fol. Hijr.). Nur in HE F Cgm 572 zieht der Stadtgraf gemeinsam mit den Kreuzrittern an den Königshof, wo er dann gezwungen wird, dem König die Menschen zu überlassen (vgl. fol. 51r.). In den HE F-Drucken wie auch im HE Vb ist der Zwang Teil der königlichen Botschaft, welcher der Graf pflichtschuldig, wenn auch ungern, nachkommt (vgl. Knoblochtzer, fol. [34]r., und Han 1, fol. Hijr.).304 Ausschließlich in den Redaktionen des HE F nutzt der Erzähler die Gelegenheit, um ein weiteres Mal zu zeigen, dass ein Ereignis je nach Perspektive des Wahrnehmenden gegensätzlich eingeschätzt wird: Die Forderung des Königs macht den Zyklopengrafen traurig, während sie für die Ritter „ain liebe freẅd“ ist, da sie nun hoffen dürfen, am Königshof „[e]erlicher“ behandelt zu werden (Cgm 572, fol. 51r.).305 In allen Redaktionen übernimmt Ernst alsbald Kriegsdienste für den König von Arimaspi. Anlass ist ein Überfall durch die Sciopoden. Im HE F sieht der Herzog eines Morgens aus der Ferne den Schein ihres „mortprannd[s]“ (Cgm 572, fol. 51v.). Im HE Vb entdeckt der Zyklopenherrscher zusammen mit Ernst und Wetzelo anlässlich einer mitternächtlichen Jagdgesellschaft eine abgebrannte Stadt (vgl. Han 1, fol. Hijr.). Dass die beiden Ritter gemeinsam mit dem König jagen, veranschaulicht dabei ihre hervorgehobene Stellung am Hofe. Immer wünscht Ernst den Arimaspen gegen die Feinde beizustehen, wobei der König die Sciopoden für unbezwingbar hält (vgl. Cgm 572, fol. 51v., und Han 1, fol. Hijv.). Dieser Kleinmut, den Ernst mit einer Kriegslist Lügen straft, kennzeichnet nicht nur an dieser Stelle die Defizienz seines Herrschertums. Zumal er selbst über das Wissen verfügt, das sich der Herzog für seine List zunutze macht. So stammt die Kontextglosse, in der u. a. die Fähigkeit der Sciopoden, schnell übers Wasser zu laufen, mitgeteilt wird, nicht wie andernorts vom Erzähler, sondern ist Teil der Dimension der Figurenperspektive (vgl. Cgm 572, fol. 51v., und Han 1, fol. Hijv.).306 Herzog Ernst vermutet richtig, dass die Sciopoden bei einem Angriff zum Meer flüchten werden, wo er ihnen aus einem Hinterhalt den Weg abschneidet
304 Das Blatt mit den folgenden Kämpfen gegen Sciopoden und Panochi ist im Münchner Exemplar von HE F Sorg 1 falsch nach fol. 33 eingebunden. 305 Oben reagieren Freunde und Feinde gegensätzlich auf Ernsts Entschluss, ins Heilige Land zu ziehen (vgl. Cgm 572, fol. 37v.). 306 Vgl. auch S. 517 im Kap. 3.3.3 und für eine Diskussion des Sciopoden-Bildes im HE F und HE Vb vor dem Hintergrund traditioneller Darstellung von Erdrandbewohnern Gerhardt: Skiapoden, S. 62–66.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
(vgl. Cgm 572, fol. 51v., und Han 1, fol. Hijv.f.). Damit erhält das in älteren Fassungen blinde Motiv, dass diese Wesen auch übers Wasser laufen können, – mit Christoph Gerhardt gesprochen – „eine epische Funktion“.307 In allen Redaktionen überwindet Ernst die Feinde, wobei er im HE F die meisten, im HE Vb alle bis auf einen tötet (vgl. Cgm 572, fol. 51v., und Han 1, fol. Hiijr.). Das variable Ausmaß der Brutalität korrespondiert mit dem je unterschiedlichen Anliegen, die feindlichen Überfälle beenden zu wollen (HE F) beziehungsweise die Sciopoden „zuruͤ ck[zu]schlagen/ oder gar zu tod“ zu schlagen (HE Vb, hier Han 1, fol. Hijv.). Immer nimmt der Herzog einen Überlebenden mit an den Königshof, wo er mit den Seinen für den Sieg geehrt wird und wo die Zinsforderung der Panochi die nächste Möglichkeit eröffnet, sich militärisch hervorzutun (vgl. Cgm 572, fol. 51v. und Han 1, fol. Hiijr.f.). Dieses „onzierlich[ ] volcke“ zeichnet sich durch seine „lanngen oren“ aus, in die sie sich im HE F einhüllen können (Cgm 572, fol. 51v.) und die ihnen im HE Vb „biß auff die erden“ herunterhängen (Han 1, fol. Hiijv.). Warum sie für die Zyklopen gefährlich sein sollen, sodass ihre Drohung, Arimaspi anzugreifen, mehr wäre als ein bloßes Überlegenheitsphantasma, ist nicht ersichtlich. Im HE F verweist der König darauf, dass die Zyklopen „[n]it von keiner schuldigen gerechtikait“ den jährlichen Zins bezahlt hätten, sondern „von Jrs muͦ twilligen übergewalts . vnd fürwitzer hoffart wegen“ (Cgm 572, fol. 52r.). Im HE Vb bleibt die Erfüllung der Zinsforderung gänzlich unmotiviert. Der König ist hier aufgrund der neuerlichen Präsenz feindlicher Völker betrübt, fragt Ernst, wie er sich verhalten solle, und wundert sich über die Kühnheit des Herzogs, als dieser vorschlägt, ein Heer aufzustellen (vgl. Han 1, fol. Hiijv.f.).308 Somit bietet die wehrlose Figur Gelegenheit, Ernst als vorbildlichen Feldherrn zu profilieren. Er ist es, der Arimaspi bis „[i]nn ewig zitte“ „vor allem Solde vnd onbillicher vordrunge“ sichert (diese Formulierung nur im HE F, hier Cgm 572, fol. 52r.), indem er die Panochi „nahent all ertöttet“ (ebd.). Nach Karl Bartsch verrate die Kürze der Kampfschilderung „den geistlichen Verfasser“.309 Doch wirft der unproblematische Erfolg auch ein negatives Licht auf die Verzagtheit des Königs. Im HE Vb tritt diese Deutungsmöglichkeit zurück, da Ernst die Panochi „mit listigkeit hindergeh[t]“ (Han 1, fol. Hiiijr.). Weniger wird hier der König diskreditiert, sondern Ernst als listenreicher Stratege aufgewertet.
307 Ebd., S. 62. 308 Dieser Eindruck ist in HE Vb Schröter verschärft, wo sich der König über Ernsts „kuͤ nheit vnd dapfferkeit“ verwundert (fol. [Fvj]r.). Gleiches gilt für Endter 2, fol. [E6]r. – Durch Ernsts List entsteht darüber hinaus eine zusätzliche Parallelstelle zur Agrippia-Handlung. Wie die Sciopoden wähnt sich Ernst dort in Sicherheit, wenn er die Stadt Richtung Meer verlassen kann, und wird von einem Heer der Kranichmenschen überrascht (vgl. S. 377f.). 309 Bartsch: Herzog Ernst, S. LII, mit Bezug auf den HE C.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Er zündet den Wald an, in dem die langohrigen Wesen lagern, und tötet die Flüchtenden (vgl. ebd.).310 In allen Redaktionen verschont der Herzog zwei Panochi, um sie mit sich zu nehmen (vgl. Cgm 572, fol. 52r., und Han 1, fol. Hiiijr.).311 Nach der Rückkehr wird er im HE F zu einem der „heÿmlichen rätte[ ]“ und vom König mit einem Land am Meer belehnt (Cgm 572, fol. 52r.). Im Kampf mit den Sciopoden wird der Herzog als Feldherr ausgewiesen, an der vorliegenden Textstelle als vorbildlicher Regent: Er regiert „tugentlich mit fride vnd aller gerechtikait“ (ebd.).312 Die HE Vb-Redaktionen vereinseitigen das Ernst-Bild, indem stattdessen ein zweites Mal von seiner Kampfestüchtigkeit erzählt wird.313 Die Stereotypie der Arimaspi-Handlung im HE Vb tritt am Anfang des folgenden Erzählabschnitts besonders deutlich hervor, wenn der Erzähler berichtet, dass das Königreich „von vielen Voͤ lckern“ angefochten werde (Han 1, fol. Hiiijv.). Nach Sciopoden und Panochi setzen denn auch sogleich die Riesen aus Cananei die Reihe der Bedrohungen fort. Ernst tritt im HE Vb zum dritten – im HE F zum zweiten Mal – als kluger Stratege hervor. In allen Redaktionen steht die körperliche Größe des Gegners für dessen Gefährlichkeit.314 Im Bewusstsein eigener
310 Ob sich der mutmaßlich Frankfurter Bearbeiter damit als genuin „[e]rfindungsreich“ erweist (Flood: Einleitung, S. 61) oder ob er eine Anleihe an Ernsts Kampf gegen die Zwerge im HE G nimmt (vgl. Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 45), ist für die vorliegende Fragestellung nachrangig. 311 Wenn es um den Status der Wunderwesen zwischen ‚Kuriosa‘, ‚Trophäen‘ und ‚Spielleuten‘ geht (vgl. Heselhaus: Märe und History, S. 227; Goerlitz: Heidenkampf, S. 100), ist es wichtig, dass sie im HE F als „menschen“ bezeichnet werden (Cgm 572, fol. 52r. u. ö.). Vgl. zum Status der Wundervölker als Menschen innerhalb der geistesgeschichtlichen Tradition Lecouteux: Les monstres, Bd. 1, S. 74–90; John Block Friedman: The Monstrous Races in Medieval Art and Thought. Syracruse [1981] 2000, hier: S. 178–196, sowie Marina Münkler, Werner Röcke: Der ordoGedanke und die Hermeneutik der Fremde im Mittelalter: Die Auseinandersetzung mit den monströsen Völkern des Erdrands. In: Die Herausforderung durch das Fremde. Unter Mitarb. v. Karin Messlinger und Bernd Ladwig. Hg. von Herfried Münkler. Berlin 1998 (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen, Forschungsberichte 5), S. 701–766, hier: S. 750–758; sowie im Zusammenhang mit der Frage, ob es Geschöpfe contra naturam seien Antunes: Schwelle des Menschlichen, S. 52–57. Ebd., S. 25–28 findet sich auch eine neue Darstellung des ‚Monster‘-Begriffs vor dem Hintergrund der mediävistischen Monstrositätsforschung. 312 Von seiner vorbildlichen Regentschaft berichtet auch der HE B, der die entsprechende Formulierung für Ernsts Herrschaft als wieder eingesetzter Herzog in der zweiten Reichshandlung fast wörtlich nochmals aufgreift (vgl. V. 4796 und V. 6017). 313 Die Belehnung wird unten nachgeholt, aber ohne über Ernsts Regentschaft zu berichten (vgl. Han 1, fol. [Hviij]v.). 314 Der Bote ist im HE F größer als ein „hoch pom“ (Cgm 572, fol. 52v.), obwohl er erst 15 Jahre – im Cgm 572 noch nicht einmal 15 Jahre – alt ist (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. [35]r.). Die HE Vb-Drucke geben mit „nahe zwoͤ lff schuh“ eine konkrete Körpergröße an, die bei den Zyklopen zu Entsetzen führt (Han 1, fol. Hvr.).
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Stärke droht der Bote der Riesen „mit hoffertigem gähem muͦ te“ (Cgm 572, fol. 52v.) mit der Verwüstung Arimaspis, sollte der geforderte Zins nicht gezahlt werden (vgl. ebd. und Han 1, fol. Hvr.). Obwohl die Forderung „onbillich“ ist und „tratzlich“ (Cgm 572, fol. 52v.) beziehungsweise mit „freche[r] rede“ (Han 1, fol. Hvr.) vorgebracht wird, neigt der Zyklopenkönig zu ihrer Erfüllung (vgl. ebd.). Im HE Vb ist er dabei noch nicht einmal fähig, dem Boten zu antworten, wobei HE Vb Zirngibl die Ursache explizit macht: Der Herrscher verstummt „vor Angst“ (S. 55). Er schickt im HE Vb um Rat nach Ernst (Han 1, fol. Hvr.f.), während dieser im HE F „uilleicht ongeuarlichen“ zugegen ist (Cgm 572, fol. 52v.). Unabhängig davon, ob Ernsts Antwort, das ungerechtfertigte Ersuchen „mit dem swert“ zurückzuweisen (ebd.), nur indirekt an den Boten gerichtet ist, oder ob er diesen unmittelbar durch seine „schnoͤ de bottschafft“ abweist (Han 1, fol. Hvv.),315 steht die Szene paradigmatisch für die Ohnmacht des Königs.316 Im Übrigen entspricht die derbe Formulierung des Herzogs317 im HE Vb dem unhöfischen Auftreten des Riesen und sollte nicht als Indiz eines ‚Absinkens‘ ins „Komisch-Triviale“ angesehen werden.318 Dass mit Ernst der Lehensmann und nicht der König als Lehensherr handlungsmächtig ist, zeigt sich auch im anschließend erzählten Kriegsgeschehen. Sobald die Riesen in Arimaspi einfallen, sammelt der Zyklop ein Heer, das er aber sogleich Ernst unterstellt (vgl. Cgm 572, fol. 52v.f., und Han 1, fol. Hvv.).319 Im HE F besteht dessen Kriegslist darin, die Feinde anzugreifen, als sie einen Wald durchqueren, sodass ihre Größe aufgrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit zum Nachteil ausschlägt (vgl. Cgm 572, fol. 53r.). Auch im HE Vb findet die entscheidende Schlacht im Wald statt, jedoch spielt das ursprüngliche Motiv keine Rolle: Nach einem Monat mit kleineren Scharmützeln überfallen die Ritter gemeinsam mit den Zyklopen die Riesen beim Mittagessen und haben dadurch das entscheidende Überraschungsmoment auf ihrer Seite (vgl. Han 1, fol. [Hvj]r.). Dabei erleiden sie jedoch selbst größere Verluste, während der HE F den Fokus
315 HE Vb Everaerts ersetzt die „schnoͤ de bottschafft“ durch eine „abschlaͤ gige Antwort“ (S. 53) und mildert damit die Schärfe von Ernsts Intervention ab. 316 Im HE F verdeutlicht dies der Bericht des Boten an die Riesen, nach dem ein „menschlin“ mit „uberhochuertige[n] wort[en]“ dem zahlungsbereiten König widersprochen habe (Cgm 572, fol. 52v.). 317 „Er solt heim ziehen vnnd wider seine Rysen sagen/ wenn sie die haut guckt [sic]/ solten sie kommen/ so solt sie jnen gekrawt werden“ (Han 1, fol. Hvv.). 318 So Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 44. Vgl. dazu S. 220/Anm. 474 im Kap. 2.2.2.3. 319 Durch einen Zeilensprung sammelt im HE F Knoblochtzer Ernst selbst das Heer (vgl. fol. [35]v.). Allerdings entfällt dadurch auch, dass der König angesichts der feindlichen Aggression erschrickt.
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3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
darauf legt, dass Ernst und die Seinen fast alle Riesen „on alle barmherczikait“ töten (Cgm 572, fol. 53r.). Zum Eindruck eines stereotypen Aufbaus der Handlungsabschnitte trägt bei, dass Ernst auch an dieser Textstelle ein Exemplar der Wunderwesen mit sich nimmt. In allen Redaktionen bleibt ein Riese beim Versuch, zu flüchten, zurück (vgl. Cgm 572, fol. 53r., und Han 1, fol. [Hvj]v.). Ernst lässt den schwer Verwundeten von einem Arzt behandeln. Im HE F wird der Verletzte nicht nur als „nahent gestorben[er] mensch[ ]“ bezeichnet, sondern auch als Ernsts „waurer nächster“ (Cgm 572, fol. 53r, meine Hervorhebung).320 Dies sperrt sich gegen die von Uta Goerlitz erkannte Tendenz des HE F, die christliche Einbindung der Wunderwesen als Gottes Geschöpfe zu lockern.321 Während hier also in letzter Konsequenz Erbarmen an die Stelle von Unbarmherzigkeit tritt, bietet im HE Vb Ernsts Einzug am Königshof – in Begleitung des Riesen – Gelegenheit, diesen auf- und die Zyklopen samt ihrem König gleichzeitig abzuwerten.322 So wird Ernst „seiner Mannheit halben“ gelobt, da „seiner gleichen“ zuvor „nie [...] in das Land kommen was“ (Han 1, fol. [Hvj]v.).323 Die arimaspische Abenteuerreihe schließt mit Ernsts Kampf gegen die Kraniche. Zwar stiftet der Herzog auch hier Frieden, jedoch dient er dabei nicht den Zyklopen, sondern den indischen Pygmäen (vgl. Cgm 572, fol. 53v.–54v., und Han 1, fol. [Hvij]r.–[Hviij]v.).324 Es handelt sich um eine private Unternehmung,
320 Paul Gerhard Schmidt: Germanismen?, S. 162/Anm. 13, weist für die Textstelle im HE C auf die Übernahme von Formulierungen aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter hin (Lk 10.25–37). 321 Vgl. Goerlitz: Heidenkampf, S. 100. Zur Inklusion monströser Völker in den christlichen ordo vgl. Rudolf Wittkower: Die Wunder des Ostens: Ein Beitrag zur Geschichte der Ungeheuer. In: Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln [1942] 1984, S. 87–150 und S. 364–384, hier: S. 96 f. und S. 109; Münkler/Röcke: Völker des Erdrands, S. 715 f. und S. 722. 322 HE Vb Endter 2 verkürzt zusätzlich den Heilungsprozess des Riesen zugunsten von Ernsts Fahrt zum König, indem aus dem ‚Aufkommen‘ (Gesunden) des einen das ‚Ankommen‘ (am Hofe) des anderen wird (vgl. fol. [Eviij]r.). 323 In allen älteren HE Vb-Redaktionen (außer von der Heyden, fol. [Evj]r.) wird Ernst vom Volk der Zyklopen gelobt, in den jüngeren ab L2 wird er dagegen „vor allem Volk“ (S. 58) gelobt, was indirekt immer den König kritisiert. 324 Ähnlich wie bei Ernsts erster Begegnung mit den Zyklopen reflektiert der Roman auch hier die eigene Fremdheit aus der Perspektive des anderen: In allen Redaktionen erschrecken die Pygmäen über die Zukunft der Menschen, die aus ihrem Blickwinkel „grosse[ ] lüte“ sind (Cgm 572, fol. 53v., vgl. auch Han 1, fol. [Hvij]v.) – und zwar kurz nachdem die Riesen Ernst als „menschlin“ bezeichnen (Cgm 572, fol. 52v.). Im HE Vb entfällt allerdings die zweite Textstelle, an der ein Pygmäe die Ritter zur Rache an den Kranichen auffordert, zu der sie wegen ihrer „schwachhait . vnd claÿnen glÿdmaß wegen“ nicht fähig sind, schließlich seien die Menschen „gegen vns zeschetzen groß rÿsen“ (Cgm 572, fol. 54 f.).
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für die er im HE F explizit, im HE Vb nur de facto, sein Heer zurücklässt (vgl. Cgm 572, fol. 53v.).325 Die Motivation, die ihn zu der Fahrt veranlasst, ist im HE F hybrid: Wie auch im HE Vb geht es um die Befriedigung einer sicher nicht negativ verstandenen Augenlust, doch gehen die HE F-Redaktionen in dieser Motivation nicht auf. Denn ein weiteres Ziel ist es, den Pygmäen Frieden zu bringen326 und sie gegen die „schedlichen uogel anfechtunge“ zu sichern (Cgm 572, fol. 53v.). Dabei betont nur der HE F die Unrechtmäßigkeit der Angriffe durch die Kraniche und stellt damit eine Parallele sowohl zu den Abenteuern in Agrippia und Arimaspi als auch in der ersten Reichshandlung her (vgl. ebd., fol. 54r.f.). Nur im HE F tritt die Demonstration der Macht Gottes als ein drittes Ziel hervor, wenn Ernst den Pygmäen verheißt, dass sie „durch vns die grossen hilf gottes“ sehen werden (ebd., fol. 53v.). Die Redaktionen des HE Vb vereindeutigen dieses Motivationsgemenge dahingehend, dass die Nachricht von den Pygmäen Ernst vor allem die Möglichkeit bietet, seine Sammlung von Wunderwesen zu erweitern. Hier hat er explizit „lust solche leut [...] zusehen“ (Han 1, fol. [Hvij]v.) und bleibt auch am Anfang der Kampfhandlungen passiv wie ein Zuschauer. So lässt er sie „einen streit anfahen mit den Kraͤ nchen“ und greift erst ein, nachdem bereits viele Pygmäen tot sind (vgl. Han 1, fol. [Hviij]r.). Die Verluste fallen im HE F zwar nicht geringer aus, ereignen sich jedoch, während Ernst bereits auf ihrer Seite mitstreitet (vgl. Cgm 572, fol. 54r.). Nachdem der Herzog in allen Redaktionen auf eine materielle Belohnung für seinen Kampf verzichtet und stattdessen wie gewünscht „der natürlichen Pigmenni zweÿ“ erhält (Cgm 572, fol. 54v., vgl. Han 1, fol. [Hviij]v.),327 erfreut er sich an dem „vngeleichen Spilen vnd schimpfe der zwÿ clainen männlin vnd seins grossen Rÿsen“ (Cgm 572, fol. 54v.). Im HE Vb gereicht ihm dies zu „lust“ und „kurtzweil“ (Han 1, fol. [Hviij]v.).328 Erst hier sind sie ‚Spielleute‘ im eigentlichen Sinn.329
325 Tritt Ernst zuvor als Berater des Zyklopenkönigs auf, holt er sich nun selbst Rat „seiner heimlichen ratgeber“ (Cgm 572, fol. 53v.) beziehungsweise Wetzelos (vgl. Han 1, fol. [Hvij]r.f.). 326 Zum Anteil der parallelen Textstelle im HE C an der christologischen Stilisierung der ErnstFigur vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 154. Im HE Vb stammt der entscheidende Satz sogar von Ernst selbst (vgl. Han 1, fol. [Hvij]v.), im HE F spricht ihn die Gemeinschaft der Ritter aus. 327 Im HE Vb wählt der Pygmäenkönig ‚Knechte‘ statt ‚Diener‘ aus. Im HE Vb Zirngibl bleiben sie ohne nähere Bezeichnung (vgl. S. 58). Durch den Wegfall des wiederaufnehmenden Verbs samt Dativobjekt erhält Ernst bei Endter 2 „zwey kleine Maͤ nnlein [...] und zween Knechte“ (fol. Fr.). 328 In HE Vb Francke, Singe, Schröter, Endter 2, L2, Fleischhauer, Zirngibl, P1, Everaerts, M2 und Trowitzsch kehrt Ernst vermeintlich nach Agrippia zurück, allerdings ist schon im folgenden Satz von Ernsts Lehen in Arimaspi die Rede. 329 Vgl. dagegen Goerlitz: Heidenkampf, S. 100, die schon in Bezug auf den HE F davon spricht, dass aus den Wunderwesen des HE C ‚Spielleute‘ würden.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Eine andere Belustigung ist im HE Vb Ernsts Spaziergang am Strand, bei dem er und seine Ritter ein Schiff mit Mohren aus Indien sehen (vgl. Han 1, fol. Jr.f.). Da die Vorgeschichte, wie das Schiff nach Arimaspi verschlagen worden ist, hier erst anschließend nachgereicht wird, fehlt der Episode der Charakter der Koinzidenz, der die Textstelle im HE F auszeichnet (vgl. Cgm 572, fol. 54v.): Zu gleicher Zeit als Ernst erkennt, dass ihm alles „durch dÿ genämen miltikeit gottes“ gelinge, und er sich seines ursprünglichen Zieles, ins Heilige Land zu fahren, besinnt, bringen „des mers crafte vnd widerwertige[ ] winnde[ ]“ die Mohren von ihrem Kurs ab (nur im HE F, hier Cgm 572, fol. 54v.). In allen Redaktionen fragt Ernst direkt (HE Vb) oder über einen Boten (HE F) nach Herkunft, Herweg und Glauben der Mohren.330 Stets wird die Wichtigkeit der Glaubensfrage hervorgehoben: im HE F dadurch, dass sie zuerst beantwortet wird, obschon sie der Bote als letztes stellt, im HE Vb indem die Mohren ihre Bereitschaft, für den Glauben zu sterben, zum Ausdruck bringen (vgl. Han 1, fol. Jv., und Cgm 572, fol. 54v.f.).331 Nur im HE F ist Ernsts anschließende Frage, ob sich ihre Heimat im Krieg befände, durch die weiter oben erneuerte Hoffnung, Heiden zu bekämpfen, motiviert. Im HE Vb liegt die offene Aggression der Babylonier bereits ein Jahr zurück. Indem diese aber insgeheim rüsteten, um Indien „des Christlichen glaubens halben“ aufs Neue anzugreifen (Han 1, fol. Jiir.), schließen die HE Vb-Redaktionen an das Thema des gefährdeten Friedens an, das in Form der Verleumdung durch den Pfalzgrafen bereits in der ersten Reichshandlung eine Rolle spielt (vgl. Han 1, fol. Bijr.). Diese Bezugsmöglichkeit fehlt im HE F, da sich Indien und Babylon gegenwärtig im Krieg befinden. Dafür weist einerseits die Angst der Mohren, vom christlichen Glauben abgebracht und in „die schanntlichen vinsternuß der Abgötterÿe“ versetzt zu werden (Cgm 572, fol. 55r.), auf die Diskussion der Möglichkeit einer Konversion qua Gewalt voraus (vgl. ebd., fol. 59r.). Andererseits gemahnt die Metaphorik des Inders – Gottes Schirm schütze vor denjenigen, „die [...] den lasterbogen [...] vergiftlich schiessen“ (ebd., fol. 55r) – an die konkret vergifteten 330 In allen Redaktionen versorgt Ernst die irrenden Seefahrer mit Nahrung (vgl. Cgm 572, fol. 54v., und Han 1, fol. Jijr.). Nur im HE F bieten sie ihm im Gegenzug ihre Fürbitte an. Sorg 3 ersetzt dabei die ungewöhnliche Substantivierung „reichtung“ (Cgm 572, fol. 54v.) durch „reichtumb“ (fol. eijv.). Die Inder geben damit nicht nur an, dass ihr Hunger dadurch gestillt werde, dass man ihnen Nahrung reicht, sondern dass der Spender seinen Reichtum anwenden müsse. 331 Das Glaubensbekenntnis der Mohren geben die HE Vb-Redaktionen in drei verschiedenen Varianten wider. In den älteren Drucken glauben sie an Christus, den Erlöser, „vnnd alle diejenigen/ so an jn glaubten“ (Han 1, fol. Jv.). Die späteren Drucke ersetzen die Gemeinschaft der Gläubigen durch „diejenigen, so er bey sich haͤ tte“ (L2, S. 61), und damit durch die Gemeinschaft der Jünger. Nur HE Vb Zirngibl lässt die Beiordnung aus, sodass sich ihr Bekenntnis ganz auf Christus beschränkt (vgl. S. 59).
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Pfeile der ebenfalls heidnischen Kranichmenschen. Doch während sein Einsatz für die christliche Prinzessin aus Indien vergeblich bleibt (vgl. ebd., fol. 43v.), kann Ernst das christliche Volk der Inder gegen die babylonischen Feinde schützen (vgl. ebd., fol. 58r.). Nicht als Brautwerber, nur als Kreuzritter, hat Ernst den Erfolg, über den er am Eingang dieses Erzählabschnitts reflektiert. Dies ist der Augenblick, in dem Herzog Ernst im HE F „des hailigen gaistes Jnbrinstige hitze“ überkommt, wodurch sich seine Bereitschaft zum Heidenkampf dahingehend konkretisiert, für Gott in den „verren Jndia“ zu streiten (Cgm 572, fol. 55r.). Die Redaktionen des HE Vb ersetzen die Inspiration durch eine Beratungsszene.332 Das entscheidende Argument ist hierbei nicht, Gott im Land der Mohren zu dienen, sondern dass Ernst sein Leben nicht „vnder den Heyden“ in Arimaspi beschließen möchte (Han 1, fol. Jiijr.). An die Stelle eines göttlich geführten Kreuzzuges tritt die – allerdings christlich motivierte – Wiedergewinnung der Handlungsmächtigkeit des Helden. In allen Redaktionen verlässt Ernst die Zyklopen ohne Erlaubnis des Königs. Der HE F begründet den Bruch des Zeremoniells mit dem Heidentum des Herrschers (vgl. Cgm 572, fol. 55r.). Der HE Vb gedenkt dagegen kurz des Umstands, dass Ernst sein Lehen zurücklässt.333 Dies ist dabei weniger als Verletzung einer Treuepflicht zu verstehen, sondern als Demonstration der Bereitschaft, für den Glauben Materielles zurückzulassen (vgl. Han 1, fol. Jiijv.).
3.1.1.7 Die Orienthandlung: Kreuzzug oder Pilgerreise – Vom Mohrenkönig zum Heiligen Vater Ehe es im indischen Mohrenland334 zum ersten eigentlichen Heidenkampf kommt, werden die Ritter zunächst vom Mohrenkönig empfangen (vgl. Cgm 572, fol. 55v., und Han 1, fol. Jiijv.f.). Herzog Ernst wird dabei auf verschiedene Arten charakterisiert. Im HE F Cgm 572 verwenden die indischen Seeleute gerade jene Attribute, mit denen der Erzähler am Anfang des Romans Ernsts Vater beschreibt.
332 Eine Vorliebe für Beratungsszenen stelle ich oben auch für die erste Reichshandlung fest (vgl. S. 368). 333 Die Formulierung im HE Vb Fleischhauer betont den rechtlichen Zusammenhang, dass die Städte an den König zurückfallen (vgl. S. 64). 334 Zur traditionellen Verwechslung von ‚Äthiopiern‘ und ‚Indern‘ seit Ktesias und Plinius vgl. Friedman: The Monstrous Races, S. 8 und S. 15, wobei Indien und Äthiopien auch als Nachbarländer gedacht werden (vgl. Bernhard Sowinski: Anmerkungen. In: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mhd. Fassung B nach der Ausg. v. Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A. Hg., übers., mit Anm. u. einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski. Durchges. und verb. Ausg. Stuttgart 1979, S. 363–399, hier: S. 395, Anm. zu V. 5339).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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So zeichnen ihn seine „[a]denliche frommkeit vnd großmütig übertreffende strenglichait aus“ (fol. 55v., vgl. ebd., fol. 25r.).335 Die Redaktionen des HE Vb vereinfachen dies. Ernst ist für die Mohren schlichtweg „ein Mannlicher Held“ und „Christ gleubiger mensch“ (Han 1, fol. Jiiijr.). Es geht nicht um eine Einordnung des Helden in die Gesamthandlung, sondern um eine auf den erreichten Abschnitt abgestimmte Charakterisierung, wie unten im Vergleich mit dem indischen Herrscher deutlich wird. Während Ernst und Wetzelo im HE F darüber hinaus zu Geheimräten werden, deren Empfehlung stets Folge geleistet werde (vgl. Cgm 572, fol. 55v.),336 verzichtet der HE Vb-Bearbeiter entgegen der vorherrschenden Tendenz darauf, eine Ratsszene zu interpolieren, und ersetzt das Motiv durch eine kurze Periode fröhlichen Beisammenseins der Ritter mit den Indern (vgl. Han 1, fol. Jiiijv.f.). Damit wird das Motiv eines prekären Friedenszustandes wieder aufgegriffen. Im Folgenden erreichen das Königreich graduell abweichende Nachrichten babylonischer Gräueltaten auf je unterschiedliche Weise. Im HE F verbreitet sich das Gerücht, die Babylonier planten, die Inder zu martern und zu peinigen, sollten sie nicht das Christentum gegen „die Abgötterÿe“ vertauschen (Cgm 572, fol. 55v.).337 Die korrespondierende Passage des HE Vb ist parallel zur Zinsforderung der Riesen in Arimaspi angelegt (vgl. Han 1, fol. Hvr.f.). Ein Bote droht dem König mit Vernichtung,338 vor Schreck ist er nicht in der Lage zu antworten,
335 Die HE F-Drucke variieren diese Charakterisierung, ohne dass es zu einer Verschiebung käme: Hier zeichnen ihn „sin adenlich frümkeyt vnnd großmechtikeyt uͤ bertreffenlich“ aus (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [39]r.). 336 In den Drucken ist die Wendung, dass die Inder zu ihnen ‚kommen‘, um Rat zu erbitten, missverstanden, sodass ihr Rat hier ‚kaum‘ erbeten wird, was jedoch im Widerspruch zum folgenden Satz steht (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. [39]r.). 337 Bei der Schilderung der Kampfhandlungen erweisen sich jedoch auch die Christen als grausam, wenn sie im HE Vb viele Feinde „in der flucht“ töten, nachdem der Sieg eigentlich schon errungen ist (Han 1, fol. Kr.). Vgl. zur asymmetrischen Einschätzung christlicher und heidnischer Gewalt Goerlitz: Heidenkampf, S. 92. – Unten wird das Vorgehen der Babylonier nochmals beschrieben. Das „vnschuldig blut vergiessen“ an „Maͤ nner[n]“/ weiber[n]/ vnd kinder[n]“ steht im HE Vb im Zentrum (Han 1, fol. [Jvj]r.). Im HE F Cgm 572 ist dies als „marter der peine“ umschrieben (fol. 56v.). Die Drucke konkretisieren die Qualen als „marter der bein“ (Knoblochtzer, fol. [40]r., vgl. auch Sorg 1, fol. 30r.) oder „marter der behem“ (Sorg 2, fol. 49r., vgl. auch Sorg 3, fol. eiijv.). Außerdem treten in allen HE F-Redaktionen die Zerstörung von Kirchen unter Entweihung der Sakramente hinzu. Dies entspricht der auch in den Figurenreden verfolgten Strategie, sowohl diesseitige als auch jenseitige Folgen des bevorstehenden Kampfes vorzustellen. 338 HE Vb L2, S. 64, und Zirngibl, S. 61, verkürzen die Drohung, König und Land zu verderben und zu verbrennen um den letztgenannten Aspekt, was aber nur eine geringfügige Abmilderung darstellt.
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sodass Ernst das Wort ergreift und den Babyloniern mit Krieg droht. Dabei greift der Erzähler obige Charakterisierung des Herzogs als „[m]annlicher Held“ wieder auf (ebd., fol. Jv.), was den Kontrast zum handlungsohnmächtigen Herrscher unterstreicht. Wie in der Riesen-Episode charakterisiert der Bote Ernsts Intervention hernach als „schnoͤ de[ ] wort“ (ebd., fol. [Jvj]r., vgl. fol. Hvv.),339 was hier wie dort den Grenzübertritt der Feinde nach sich zieht. Vor der Schlacht ermahnen sowohl Ernst als auch der Mohrenkönig das Heer zu Tapferkeit und Opferbereitschaft (vgl. Cgm 572, fol. 56r.–57r., und Han 1, fol. Jvr.f. sowie fol. [Jvij]r.). Die Details bespreche ich unten auf der Dimension der Figurenperspektiven.340 Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Ernst sowohl in den Redaktionen des HE F als auch in denjenigen des HE Vb das Auserwähltsein der Christen betont, um die Bereitschaft zum Kampf zu erhöhen. Im HE F thematisiert er dafür zusätzlich die korrespondierende Ohnmacht der Heiden. Während sich Ernst hier allerdings mit einem Zitat des Hieronymus-Briefes 125 insbesondere an die einfachen Krieger wendet (vgl. Cgm 572, fol. 56r.),341 kritisiert er im HE Vb dagegen vor allem den verzagten König (vgl. Han 1, fol. Jvr.f.). Dessen Figurenrede fällt im HE Vb äußerst kurz aus und beschränkt sich darauf, den drohenden Verlust von Heimat, Frauen und Kindern – also irdischer Güter – zu thematisieren (vgl. ebd., fol. [Jvij]r.). Im HE F tritt noch eine heilsgeschichtliche Ermahnung hinzu (vgl. Cgm 572, fol. 56v.f.), die sich mit der aufs Irdische ausgerichteten Komponente die Waage hält. Immer führt Ernst auf des Königs Bitte hin das indische Banner ins Feld. Im HE F macht er den König selbst auf die Notwendigkeit, das Heer zu ordnen, aufmerksam, und der König befindet den Herzog aufgrund seiner Verdienste dieser Aufgabe für würdig (vgl. Cgm 572, fol. 57r.f.). Obschon der indische Herrscher, wie er selbst betont, keine Verfügungsgewalt über Ernst hat, ist sein Anteil an der Entscheidung, ihm die Führung anzuvertrauen, größer als im HE Vb.342 Dort ist nicht der Vorschlag aus Sicht des Königs, sondern die Annahme aus
339 HE Vb Schröter, fol. [Gvj]r., und Endter 2, fol. F4v., verleihen dem Affront der Zurückweisung zusätzliches Gewicht, wenn der Bote von „schmehlichen“ beziehungsweise „schmaͤ chlichen Wort“ spricht. – Das eigentliche Skandalon ist dabei jedoch nicht die Wortwahl, sondern einerseits die Zurückweisung an sich und andererseits der Umstand, dass diese durch einen Rat und nicht durch den König erfolgt. Allerdings nähern HE Vb Zirngibl, S. 63, P1, S. 61, Everaerts, S. 60, M2, S. 60, und Trowitzsch, S. 58, die Formulierung wieder dem niederen Stil aus der RiesenEpisode an: „wir wollen ihm Manns genug seyn“ (hier Zirngibl, S. 63). 340 Vgl. S. 464f./Anm. 539 im Kap. 3.1.2.4. 341 Vgl. zu diesem Brief mit Bezug auf seine Verwendung im HE C Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 131 f. 342 Nur im HE F wird Ernsts Position durch die Einflussnahme Wetzelos beschränkt, der seinen „herr[n] vnd bruͦ der“ zur Eile gemahnt (Cgm 572, fol. 57v.).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Ernsts Figurenperspektive begründet, insofern er dem Ansinnen aufgrund seiner guten Rüstung und der Präsenz seines Riesen gerne nachkomme (vgl. Han 1, fol. [Jvij]r.). Bei HE Vb Trowitzsch ist Ernst nicht ‚wohl gerüstet‘, sondern hat sich vor der Übernahme der Funktion des Bannerträgers „wohl geprüfet“ (S. 59), was Ernsts Einfluss weiter stärkt. Umgekehrt schwächen HE Vb Zirngibl und einige weitere Redaktionen die Position des Königs, der hier Ernst nicht länger ‚fleißig‘, sondern „sehr wehmuͤ thig“ um Annahme seines Ersuchens bittet (S. 63).343 Wertet der HE Vb Ernsts Stellung gegenüber dem Mohrenkönig auf, so tritt er hinsichtlich des Kampfgeschehens im Vergleich mit Wetzelo noch weiter zurück als im HE F.344 In allen Redaktionen ist es Wetzelo, der den König der Babylonier bei einem Angriff auf Ernst und das indische Banner mit einem Schwertstreich vom Pferd wirft (vgl. Cgm 572, fol. 57v.f., und Han 1, fol. [Jviij]v.). Der Riese verhindert, dass die Heiden ihrem Herrscher beistehen, sodass dieser sich ergeben muss. Doch während er im HE F Ernst sein Schwert einhändigt (vgl. Cgm 572, fol. 58r.), gibt er sich im HE Vb Wetzelo gefangen (vgl. Han 1, fol. Kr.). Die eigentliche Schlacht wird knapp, jedoch drastisch erzählt. Dabei ist die Schilderung im HE Vb hyperbolisch. Nicht länger wird Blut nur wie „fliessende[s] wasser“ vergossen (Cgm 572, fol. 58r.), sondern „wie ein bach“ fließt das Blut, sodass „mancher Heyd vnd Mor darinnen ertrincken must“ (Han 1, fol. [Jviij]v.).345 Außerdem werden textgeschichtliche Aktualisierungen vorgenommen. Die Redaktionen des HE F und die meisten des HE Vb erzählen vom Kampf mit Speeren und Schwertern (vgl. Cgm 572, fol. 57v., und Han 1, fol. [Jvij]v.). HE Vb Zirngibl ersetzt dagegen die ‚Wehren‘ durch „Gewehr[e]“ (S. 64) und in zwei anderen Drucken ist nicht länger von ‚Spießkrachen‘, sondern von „Schießkrachen“ die Rede (HE Vb P1, S. 62, und Everaerts, S. 61). Obwohl „der Sige [...] langczite“ auf dem „zalpret des glücks“ gelegen habe (Cgm 572, fol. 57v.), lässt der HE F dennoch keinen Zweifel daran aufkommen, dass Gott helfend auf der Seite der Christen in die Schlacht eingreift. So habe er es „geschickt“, dass der Riese gegen die Heiden
343 So auch HE Vb P1, S. 61, Everaerts, S. 61, M2, S. 61, und Trowitzsch, S. 59, jedoch ohne die Intensitätspartikel. – Singe lässt dagegen einen Halbsatz aus, sodass hier der Umstand fehlt, dass Ernst gerade in jenem Augenblick zum König kommt, als ein Bannerträger erwählt werden soll (vgl. fol. [Gviij]r.). 344 Allerdings fordert Wetzelo nur im HE F Ernst zu „käcke[n] wercke[n]“ auf, da aufgrund der Nähe des Feindes die Zeit ermahnender Worte vorbei sei (Cgm 572, fol. 57v.). 345 In HE Vb L2, S. 67, und P1, S. 62, ertrinken keine ‚Heiden‘, sondern „Held[en]“. Eingedenk der eindeutigen Sympathieverteilung gedenken diese Redaktionen also nur der christlichen Opfer. – Jedoch ersetzt P1 nochmals –‚Heiden‘ durch ‚Helden‘; dadurch werden die von Ernsts Riesen getöteten Babylonier sogar aufgewertet (vgl. S. 62).
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kämpfe, was den Tod zahlreicher christlicher Kämpfer verhindert habe (ebd., fol. 58r.).346 Dabei interpolieren die Redaktionen des HE Vb einerseits eine Erzählerrede, die in aller Knappheit von einer Ansprache des Babylonierkönigs berichtet. Indem der König nicht nur auf die zahlenmäßige Überlegenheit seines Heeres verweist, sondern die Kämpfer auch mit einem Verweis auf „Machomet“ zu trösten sucht (vgl. Han 1, fol. [Jvij]v.),347 integrieren diese Redaktionen eine Fremdsicht, die parallel zur Ermahnung der Christen gebaut ist. Dies sollte jedoch nicht als tolerantes ‚Einfühlungsvermögen‘ missverstanden werden.348 Nicht nur, da der Verweis vollkommen oberflächlich bleibt. Sondern vor allem, da die älteren Redaktionen des HE Vb die Babylonier andererseits als „Hunde[ ]“ und „Heydnische[ ] Hundt“ bezeichnen (Han 1, fol. [Jviij]r. und fol. Kr.).349 Der HE F spricht dagegen von einem „ongleübig volcke“ (Cgm 572, fol. 58r.). Interessanterweise wird die pejorative Ersetzung jedoch in zahlreichen der späteren HE Vb-Drucke zurückgenommen, indem der Mohrenkönig an der ersten der beiden Textstellen nun Gottes Beistand gegen die ‚Heiden‘ erbittet (vgl. Singe, fol. [Gviij]v.; L2, S. 67; Fleischhauer, S. 68; P1, S. 62; Everaerts, S. 62; M2, S. 62; und Trowitzsch, S. 60).350 Jedoch ersetzt nur
346 Vgl. dazu mit Bezug auf den HE C Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 151. – Beide Wendungen fehlen im HE Vb. 347 Es gibt einige orthographische Varianten, jedoch ist bis auf HE Vb L2, S. 66 („Mohoment“), der Bezug auf den islamischen Propheten, der in Mittelalter und Früher Neuzeit häufig als einer von mehreren ‚heidnischen Göttern‘ fehlinterpretiert wird (vgl. Richard William Southern: Das Islambild des Mittelalters. Übers. v. Sylvia Höfer. Stuttgart u. a. [1962] 1981, hier: S. 27), offensichtlich. 348 Vorsichtig äußert sich Laude: Grenzsprachen, S. 335/Anm. 19 und S. 343, zur ToleranzThematik im HE B. Weiter geht Albrecht Classen: Die guten Monster im Orient und in Europa. Konfrontation mit dem ‚Fremden‘ als anthropologische Erfahrung im Mittelalter. In: Mediaevistik 9 (1996), S. 11–37, hier: S. 19 f., der aber auch den mitleidigen Umgang mit der indischen Prinzessin unter die Toleranz-Problematik subsummiert (vgl. S. 25 f.) und verkennt, dass das Gros der Wundervölker traditionell als menschlich angesehen wird, der HE B in diesem Punkt also ganz konventionell verbleibt (vgl. S. 27). Der Eindruck von Toleranz entsteht vor allem dadurch, dass Aspekte, die für den Fortgang der Handlung nicht funktional sind (wie die Religion der Zyklopen oder die Hautfarbe der Mohren), streckenweise ausgeblendet bleiben, insofern sind die diesbezüglichen Bemerkungen von Petra Giloy-Hirtz: Begegnung mit dem Ungeheuer. In: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. Hg. von Gert Kaiser. München 1991 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 12), S. 167–209, hier: S. 198, etwas zu relativieren. 349 Diese Formulierungen stammen sowohl von der Figur des Mohrenkönigs als auch vom Erzähler. 350 Alle späten HE Vb-Redaktionen ab L2 verändern zudem die Epitheta, mit denen Gottvater und Gottsohn im Gebet versehen sind. Der ursprüngliche Wortlaut charakterisiert den Sohn näher als „vnsern HERrn vnd Heyland JHEsum Christum“ (Han 1, fol. [Jviij]r.), der spätere den Vater als „maͤ chtig und starck“ (stellvertretend L2, S. 67).
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HE Vb Zirngibl auch die zweite Stelle durch „heidnische Voͤ lker[ ]“ (S. 65, vgl. auch S. 64).351 Nach dem Kampf suchen die Christen in allen Redaktionen auf dem Schlachtfeld nach Verwundeten und Toten (vgl. Cgm 572, fol. 58r.f., und Han 1, fol. Kr.– Kijr.). Suchen im HE F auch Diener ihre Herren und umgekehrt, sind es im HE Vb Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen, welche die Suche im Einzelfall motivieren. Insbesondere Ernst betrauert einen seiner Ritter. Dessen Tod bietet stets Anlass, die tapferen Kämpfer auch von einer emotionalen Seite zu zeigen – so trauert Ernst im HE F, „das es ein Stein hertes hertz möcht haben erweicht“ (Cgm 572, fol. 58v.) – und zugleich das irdische Geschehen im Einklang mit Gottes Willen darzustellen. Schließlich habe Gott den getöteten Ritter bislang in allen Gefahren beschützt. Eingedenk dessen, dass der Tod im Kampf für das Christentum selig mache (vgl. Cgm 572, fol. 56r., und Han 1, fol. Jvv.), kann Ernst die Seele seines Kreuzritters nun getrost Gott empfehlen. Es folgen Verhandlungen über die Freilassung des babylonischen Königs. Die Grundstruktur besteht aus fünf Gesprächen. Im ersten (vgl. Cgm 572, fol. 58v.f., und Han 1, fol. Kijr.–Kiijr.) bietet Ernst dem Gefangenen an, sich für seine Freilassung einzusetzen, wenn er ihn im Gegenzug sicher nach Jerusalem geleite.352 Nachdem Ernst die Geschichte seiner Irrfahrt353 erzählt und seine Wunderwesen präsentiert, erklärt sich der König in allen Redaktionen zu dem Handel bereit. Sogleich rät Ernst dem Mohrenkönig, den Babylonier freizulassen (vgl. Cgm 572, fol. 59r., und Han 1, fol. Kiijr.f.). Er begründet dies im HE F damit, dass Indien „von schickunge des Obersten königs gott [...] ewiclichen“ vor den Feinden 351 Die Änderungen sind dabei nicht konsequent durchgeführt. Auf metaphorischer Ebene bleibt die Formulierung auf Figurenperspektive präsent, wenn Ernst im Zusammenhang mit dem Plan des Mohrenkönigs, den babylonischen Herrscher zur Konversion zu zwingen, in allen HE Vb-Redaktionen darauf hinweist, dass „boͤ se Hund“ kaum zu bändigen seien (Han 1, fol. Kiijv.; bei HE Vb Francke, fol. [Hvij]v., und Singe, fol. Hiijv.: „alte/ boͤ se Hunde“). 352 Dieser konkrete Vorschlag des Herzogs ist in den Redaktionen des HE Vb ausgelassen. Aber die spätere Bereitschaft des Babyloniers, sicheres Geleit zu gewähren, setzt ihn voraus (vgl. Han 1, fol. Kiijr.). Doch da das Angebot ausgespart ist, kann es der König nicht wie im HE F vorerst – mit Hinweis auf die jüngst erlittene militärische Schmach – ablehnen (vgl. Cgm 572, fol. 58v.). Doch bestätigt er aus seiner Figurenperspektive, was oben durch den Erzähler berichtet wird, nämlich dass Ernst ein „[m]annlicher Held“ sei sowie dass dieser zusammen mit Wetzelo entscheidend zum Sieg der Mohren beigetragen habe (Han 1, fol. Kijr.). Anerkennung ersetzt damit das Ressentiment des HE F. 353 Im HE F erzählt Ernst „alle histori“ seiner „Sorg vnd Arbaÿte“ (Cgm 572, fol. 58v.), im HE Vb „sein gantze Reyß“ (Han 1, fol. Kijr.). Die erlittene Irrfahrt tendiert damit aus der Figurenperspektive zu einem intentionalen Akt. Dabei ersetzt HE Vb P1 die neutrale Wendung, dass Ernst ‚erzählt‘ beziehungsweise ‚anzeigt‘ durch ‚bezeugen‘, wodurch seine Reisebeschreibung zudem dokumentarischen Charakter gewinnt.
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gesichert sei. Das heilsgeschichtliche Argument wird im HE Vb dadurch ersetzt, dass der Gefangene eine Friedensgarantie leisten solle. In beiden Fällen lehnt der indische Herrscher jedoch ab. Stattdessen müsse der feindliche König „bezwungen werden Cristenlichen glauben an sich zenemen“ (Cgm 572, fol. 59r., vgl. Han 1, fol. Kiijv.). Herzog Ernst bestreitet jedoch in allen Redaktionen die Möglichkeit einer gewaltsamen Bekehrung,354 dabei kommt es aber zu zahlreichen Varianten. Gemeinsamer Kern ist die Überzeugung, dass die Wahl der ‚richtigen‘ Religion dem ‚eigenen Willen‘ obliege und daher nicht von Außenstehenden erzwungen werden könne.355 Nur der HE F thematisiert dabei die vermittelnde Rolle der „hailigen predige“, die auf das menschliche Herz einwirken könne.356 Allerdings vermag sie nur jene Menschen zu erreichen, „die gott hett vßerwelt durch sein göttliche fürsichtikait zü dem Ewigen leben“ (Cgm 572, fol. 59r.). Der Versuch gewaltsamer Bekehrung ist damit im HE F ein Akt gegen den göttlichen Willen. Diese Konsequenz fehlt in den Redaktionen des HE Vb. Ernst wirbt hier insoweit für ‚Toleranz‘ gegenüber dem Andersgläubigen als dieser in seinem ‚Irrglauben‘ belassen werden solle. Schließlich habe ein Christ die Gewissheit, dass der Unglaube am Jüngsten Tag durch Gott bestraft werde. Besondere Beachtung verdient eine Variante im HE Vb L2, wo Ernst die Unmöglichkeit gewaltsamer Bekehrung auch vice versa thematisiert, wenn er fragt: „Wie wolt ihr einander darzu zwingen“ (S. 70, meine Hervorhebung)? Nichtsdestotrotz fordert der Mohrenkönig im dritten Gespräch (vgl. Cgm 572, fol. 59r., und Han 1, fol. Kiiijv.f.) seinen Feind auf zu konvertieren, um frei zu werden. Doch bietet dieser in allen Redaktionen alternativ eine Friedensgarantie357 und materielle Entschädigung in Form von Gold und Silber – im HE Vb zusätzlich durch die Rückgabe eroberten Landes – an. Ganz anders verläuft die anschließende Beratung über dieses Angebot (vgl. Cgm 572, fol. 59v., und Han 1, fol. Kvr.). Das betrifft bereits die Überleitung des Erzählers. Dieser lobt im HE F die ‚Weisheit‘ des Herrschers, sich an Ernst zu wenden, während er den zuvor mit
354 Die Diskursivierung der Möglichkeit gewaltsamer Bekehrung ist bereits Teil des HE C, fehlt jedoch in anderen Ausformungen der Ernst-Geschichte (vgl. Moriz Haupt: Herzog Ernst, S. 282). 355 Einige HE Vb-Drucke verdeutlichen diesen Aspekt, wenn Ernst vom „frey eigenen Willen“ (Everaerts, S. 65; vgl. M2, S. 65; und Trowitzsch, S. 63) beziehungsweise vom „freien Willen und Ueberzeugung“ (Zirngibl, S. 67) spricht. – Vgl. dazu auch Goerlitz: Heidenkampf, S. 92, die betont, dass es hier zwischen Christen und Nicht-Christen vermittelnde Positionen gibt. 356 In allen HE F-Redaktionen wird die „getreẅe vermanunge“ dabei in die Herzen „eingesäet“ (Cgm 572, fol. 59r.), nur bei Knoblochtzer wird sie „ingesetzt“ (fol. [42]v.). Die Verschiebung der Metaphorik ist dabei sinnstiftend: Die ins Herz gesetzte christliche Ermahnung wirkt sofort, während in der Handschrift und in den Sorg-Drucken die Saat erst aufkeimen muss. 357 Eine solche Garantie zu fordern, schlägt Ernst oben allerdings nur im HE Vb dem Mohrenkönig vor (vgl. Han 1, fol. Kiijr.f.).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Ernst abgestimmten Vorschlag des Heiden im HE Vb ohne ersichtlichen Grund als „listige Wort“ bezeichnet.358 In beiden Fällen handelt es sich um Stereotype. Doch im ersten Fall zur Aufwertung des christlichen Herrschers, der die Weisheit zu schätzen weiß; im zweiten zur Abwertung des heidnischen, dessen Tun auf Täuschung angelegt sei. Dies korrespondiert mit der abweichenden Figurenzeichnung im HE Vb, wo die Heiden in den meisten Redaktionen metaphorisch als ‚Hunde‘ verunglimpft werden und auch der Zyklopenkönig gegenüber Ernst immer wieder herabgesetzt wird.359 Seine wiedererlangte Handlungsmächtigkeit stellt Ernst im HE Vb nonchalant heraus, wenn er die Bitte des indischen Königs, ihm zu raten, mit der Gegenfrage beantwortet, ob er denn „meine vorige red“ „nicht behalten“ habe. In den Redaktionen des HE F gilt der Herzog dem König dagegen als „hilfreicher erlöser“, der ihm in aller Ausführlichkeit und Höflichkeit des göttlichen Beistandes für sein Reich versichert.360 Der König von Babylon beschwört „[b]ey meinem glauben“ (Cgm 572, fol. 59v.) beziehungsweise „vor Gott“ (Han 1, fol. [Kvj]r.) seine Treue. Im HE Vb schließt der Eid jedoch auch das mit Ernst separat ausgehandelte Geleit nach Jerusalem mit ein. Und mehr noch: Der zweite Teil ist mit 33 gegenüber 23 Wörtern im HE Vb Han 1 sogar deutlich länger. Der Friedensschluss verliert damit gegenüber der von Ernst geforderten Bedingung an Gewicht. Dies macht wiederum deutlich, dass es im HE Vb auch bei der Episode im Mohrenland mehr um die Wiedergewinnung der herzoglichen Handlungsmächtigkeit und weniger um Ernsts Einsatz für den christlichen Glauben geht. In allen Redaktionen macht es den Mohrenkönig traurig, dass Herzog Ernst in einem letzten Gespräch Abschied aus Indien nimmt (vgl. Cgm 572, fol. 59v.f., und Han 1, fol. [Kvj]r.–[Kvij]r.).361 Er versucht, ihn noch umstimmen, indem er Ernst im HE F Ehren und Reichtümer, „die von der welte liebhabern für groß werdent
358 Nur im HE Vb Fleischhauer spricht der Erzähler stattdessen von „lustige[n] Wort[en]“ (S. 72), was jedoch weder zum Ernst der Lage noch zur Seriosität des Angebots passt. 359 Vgl. dazu S. 400f. mit Anm. 351. – Darüber hinaus wird auch der Anfang der Unterredung zwischen Ernst und dem König von Babylon vom Herzog mit einem Tadel wegen der Verfolgung von Christen eröffnet (vgl. Han 1, fol. Kijr.). Im HE F lässt sich Ernst von dem heidnischen Herrscher dagegen sogar zur Eile ermahnen, als dieser unmittelbar nach der Freilassung in seine Heimat aufzubrechen gedenkt (vgl. Cgm 572, fol. 59v.). Der HE Vb tilgt dieses Detail; schließlich würde es die wiedergewonnene Handlungsmächtigkeit des Herzogs einschränken. 360 Vgl. dazu genauer S. 464f. im Kap. 3.1.2.4. 361 Der Umstand, dass ihn Ernst um die Erlaubnis zu gehen bittet (vgl. Cgm 572, fol. 60r., und Han 1, fol. [Kvj]v.f.), zeigt im Vergleich mit dem Abschied der Kreuzritter aus Arimaspi den Stellenwert der christlichen Religion für die Einhaltung des höfischen Zeremoniells. Dies gilt selbst in den Redaktionen des HE Vb, in denen der indische Herrscher – wie oben zu sehen – systematisch abgewertet wird.
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gescheczt“ (Cgm 572, fol. 60r.), und im HE Vb das „halbe Koͤ nigreich“ anbietet (Han 1, fol. [Kvj]r.). Der Unterschied der angebotenen Güter ist signifikant. Das Angebot ermöglicht es Ernst in den Redaktionen des HE F, „[a]lle er vnd reÿchtum diser welte vnd alle wollust“ für eine Fahrt in die Heilige Stadt zu verschmähen (Cgm 572, fol. 60r.).362 Obwohl der Herzog schließlich doch „grosse[ ] Schäcze[ ]“ mit sich führen wird (ebd.), schließt dies an die Zurückweisung irdischen Reichtums an, wie sie schon in Agrippia (vgl. ebd., fol. 41r.) und anlässlich der im magnetischen Meer gescheiterten Schiffe anklingt (vgl. ebd., fol. 47r.). Indem der HE Vb dagegen den avisierten Reichtum konkretisiert, wird ein anderer Bezug hergestellt: Bleibt die Möglichkeit, des indischen Königreichs teilhaftig zu werden, aufgrund des Todes der indischen Prinzessin bei den Kranichmenschen (vgl. Han 1, fol. [Evij]r.f.) eine abgewiesene Alternative qua äußerer Umstände, so weist Ernst hier das halbe Königreich aus eigener Motivation zurück.363 Er ist wieder ganz Herr seines Handelns. Daher kann er auch das Ersuchen des Mohrenkönigs, ähnlich wie Ernst selbst bei den Pygmäen einen der Diener überlassen zu bekommen, rundheraus abschlagen (vgl. Han 1, fol. [Kvij]r.). Indem der religiöse Zusammenhang gegenüber der Wiedergewinnung von Handlungsmächtigkeit zurücktritt, können im HE Vb sowohl die Bitte um christliches Andenken für den verstorbenen Ritter als auch der letzte Besuch an dessen Grab entfallen (vgl. Cgm 572, fol. 60r.). Nach kurzer Reise kommt Ernst mit dem heidnischen Herrscher nach Babylon (vgl. Cgm 572, fol. 60v.–61v., und Han 1, fol. [Kvij]r.–[Kviij]r.). Obwohl sich die erzählte Zeit seines Aufenthalts im HE Vb von 14 Tagen auf drei Wochen verlängert (vgl. Cgm 572, fol. 61r., und Han 1, fol. [Kvij]v.), verringert sich die Erzählzeit durch den Wegfall zahlreicher Details.364 Das betrifft schon den ehrenvollen Empfang des Königs, aber auch die Beschreibung des prunkvollen Palastes (vgl. Cgm 572, fol. 60v.f., und Han 1, fol. [Kvij]r.). Insbesondere tilgen die HE VbRedaktionen den Verweis des Erzählers auf Offb 14.8, der im HE F die Vergänglichkeit heidnischer – und allgemein: irdischer – Freude zum Ausdruck bringt (vgl. Cgm 572, fol. 60v.). Außerdem fällt die Beschreibung von Ernsts Wunderwesen hier kürzer aus und erhält eine neue Funktion.
362 Zu seiner Ausdeutung Jerusalems vgl. S. 465 im Kap. 3.1.2.4. 363 Einen Übergang von der Passivität in Grippia zu Aktivität in Arimaspi verzeichnen Neudeck: Ehre und Demut, S. 193–196 und S. 201 f.; Neudeck: Kaiser Otto, S. 129 f., sowie Stock: Kombinationssinn, S. 211, anhand des HE B. 364 In HE Vb L2 ist die Konsequenz aus der Kürzungstendenz gezogen. Zum einen fehlt hier die Angabe der Aufenthaltsdauer, zum anderen bezieht sich Ernsts „Fleiß“ nicht länger auf die Besichtigung der Stadt, sondern auf seine Fahrt (S. 73). Dadurch reisen die Kreuzritter noch an demselben Tag weiter.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Weder im HE F noch im HE Vb gehen seine Begleiter aus Arimaspi und Indien in der Funktion als ‚Reiseunterhalter‘ auf.365 Im HE F sind die „munster“ zugleich monstra in dem Sinne, als sie Ernsts „übertreffende tugent [...] bezeẅg[en]“ (Cgm 572, fol. 61r.). Sie verbürgen seine abenteuerlichen Rittertaten und machen dieselben sichtbar. Schwierig zu deuten ist aber die Formulierung, nach der „der Ewig werckman“ die Wunderwesen „nach seim gotlichen willen auss der erden hett gemacht . vnd geformiert Jn manicherlaÿ gestalte . gröss vnd sprauchen“ (ebd., fol. 60v.). Macht sie die Erschaffung durch Gott aus Erde zu einem Teil des sechstägigen Schöpfungswerkes, so irritiert der Hinweis auf Abweichungen hinsichtlich der Sprache. Vor dem Hintergrund des in der äußeren Handlung erreichten Ortes liegt es demnach nahe, dass die Wunderwesen erst nach der babylonischen Sprachverwirrung entstanden sind (vgl. Gen 11.5–8). Im HE Vb fällt zum einen die Funktion, Ernst und die Seinen auf der Fahrt nach Babylon zu unterhalten, weg.366 Zum anderen verwundern sich die Babylonier über die „wunderlichen geschoͤ pff GOttes“, die Ernst „auß den Laͤ ndern“ mitgebracht hat, „die er dem Koͤ nig vonn Armaspi vnderthenig“ gemacht habe (Han 1, fol. [Kvij]r.f.). Dies ist faktisch falsch.367 Ernst macht die Zyklopen zwar frei von Zinsforderungen und Übergriffen, auch schützt er die Pygmäen vor den Kranichen, aber über eine Ausdehnung des arimaspischen Herrschaftsgebietes berichtet der Roman oben nichts (vgl. Cgm 572, fol. 51r.–54v., und Han 1, fol. Hijr.–[Hviij]v.).368 Die Erwähnung der Wunderwesen dient hier somit nicht dazu, die von Ernst geleisteten Taten zu bezeugen, sondern zu übersteigern. Insgesamt fällt die verhältnismäßig positive Zeichnung der Figur des babylonischen Königs auf.369 Zwar muss ihn Ernst im HE F an sein Versprechen, ihn
365 HE F Cgm 572 nennt sie „schimpfe vnd gaugelspil[ ]“ (fol. 60v.). Aus ihrem ‚Gaukelspiel‘ wird bei Knoblochtzer „gaͤ ckenspill“ (fol. [44]r.) und in den beiden späteren Sorg-Drucken „gaͤ gespil“ (hier Sorg 2, fol. 54r., vgl. Sorg 3, fol. [evij]r.). Hat die ursprüngliche Form ein breiteres Bedeutungsspektrum von ‚Zauberei‘ über ‚Taschenspielerei‘ bis hin zu ‚Narrenpossen‘ (vgl. das Grimm’sche Wörterbuch, Bd. 4, Art. Gaukelspiel, S. 1561), vereindeutigen die Ersetzungen diese in Richtung auf das Spiel des ‚Gecken‘, also des ‚Narren‘ (vgl. das Grimm’sche Wörterbuch, Bd. 4, Art. Geck, S. 1914–1921). 366 Die „kurtzweil“ der Reise ist hier unabhängig von den Wunderwesen (Han 1, fol. [Kvij]v.). 367 Daran ändert sich auch nichts, wenn Ernst in HE Vb Fleischhauer nicht die Länder, sondern die Wundervölker dem Zyklopenkönig unterwirft (vgl. S. 74) oder wenn Ernst diese Formulierung unten in allen HE Vb-Redaktionen auf der Dimension der Figurenrede wiederholt (vgl. Han 1, fol. Nr.). 368 Dagegen werden die Ôren im HE B tatsächlich zinspflichtig und müssen Heeresfolge leisten – aber gegenüber Herzog Ernst und nicht direkt dem arimaspischen König (vgl. V. 4880– 4882). 369 Vgl. mit Bezug auf den HE C Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 154–156.
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nach Jerusalem zu geleiten, erinnern, doch entspricht er diesem Ersuchen dafür aus Dankbarkeit für die Befreiung aus mohrenländischer Gefangenschaft „mit frölichem antlütz“ (Cgm 572, fol. 61r.). Und wenn er dem Herzog im HE Vb nur „vngern“ „vrlaub“ gewährt (Han 1, fol. [Kvij]v.), dann ist dies nicht als mangelndes Pflichtgefühl misszuverstehen. Die ablehnende Haltung bezieht sich schließlich nicht auf die Entsendung eines Begleitheeres, an welches Versprechen sich der König im HE Vb sogar selbst erinnert (vgl. ebd., fol. [Kviij]r.). Die Wendung ersetzt vielmehr die Traurigkeit des babylonischen Volkes darüber, dass Ernst und „sein kurczweÿlig lüte“ die Stadt verlassen (Cgm 572, fol. 61v.). Allerdings ist noch auf eine Binnendifferenz der HE Vb-Redaktionen hinzuweisen. Der König lässt Ernst stets aufgrund „sein[er] dapfferkeit“ nicht gerne ziehen, obwohl er ‚ein Christ‘ (Han 1, fol. [Kvij]v.), ‚kein Christ‘ (von der Heyden, fol. [Fvij]v.; L2, S. 73; Fleischhauer, S. 74; Zirngibl, S. 71; P1, S. 68; Everaerts, S. 68; M2, S. 68, sowie Trowitzsch, S. 65) oder ‚ein Heyd‘ (Francke, fol. Jiijr.; Singe, fol. [Hvj]r.; Schröter, fol. Hvr., sowie Endter 2, fol. G2v.) ist. Nur bei Han 1 bezieht sich der konzessive Nebensatz auf den Herzog. Die Art und Weise der Einschränkung demonstriert also die Möglichkeit einer glaubensübergreifenden Wertschätzung hinsichtlich kriegerischer Tugenden. Die beiden Varianten beziehen den Konjunktionalsatz auf den König. Die erste suggeriert, dass üblicherweise nur Christen Tapferkeit angemessen zu würdigen wüssten, die zweite, dass eine solche Würdigung für Heiden ungewöhnlich sei. Die erste Ersetzung charakterisiert damit die Selbstsicht des christlichen Erzählers näher, die zweite seine Fremdsicht. In allen Redaktionen erhält Ernst neben zahlreichen Schätzen 2.000 Ritter zum Geleit bis kurz vor Jerusalem (vgl. Cgm 572, fol. 61v., und Han 1, fol. [Kviij]r.–Lr.). Der HE Vb verleiht der Schenkung größeres Gewicht, indem nur hier Ernsts Dank thematisiert wird (Han 1, fol. [Kviij]r.), wobei in Bezug auf das Begleitheer aus den „getreẅesten Ritter[n]“ im HE Vb „Heyden mit jhren besten wehren“ werden (Cgm 572, fol. 61v., und Han 1, fol. [Kviij]r.). Die kriegerische Tüchtigkeit wird dadurch zur Frage der besseren Ausrüstung veräußerlicht. In einigen HE Vb-Redaktionen geht dies erneut mit einer technischen Aktualisierung einher, indem die Heiden über beste ‚Gewehre‘ verfügen (vgl. Zirngibl, S. 71; P1, S. 68; Everaerts, S. 68; M2, S. 68; und Trowitzsch, S. 66). Was die Thematik der herzoglichen ‚Handlungsmächtigkeit‘ anbetrifft ist auf eine Variante in HE Vb Fleischhauer hinzuweisen. Da das Subjekt des Satzes hier zu einem Dativobjekt wird, ist es Ernst selbst, der dem babylonischen König befiehlt, ihm das Begleitheer zu stellen – eine maximale Ausweitung seiner Kompetenzen (vgl. S. 75). In keiner der Redaktionen dürfen sich Ernsts babylonische Begleiter Jerusalem nähern, da sie befürchten müssen, von den Christen getötet zu werden (vgl.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Cgm 572, fol. 61v., und Han 1, fol. Lr.).370 Von dieser Bedrohung hebt sich Ernsts eigener Umgang mit den heidnischen Kämpfern umso stärker ab. Im HE Vb dankt er zwar lediglich für die „ehrerbietung/ die sie jm auff dem weg erzeigt hetten“ (Han 1, fol. Lr.), doch geht er im HE F weit darüber hinaus, wenn er sie segnet und dabei bedenkt, dass „gottes barmherczikait“ ihn mit Hilfe der Babylonier doch noch in die Heilige Stadt geführt habe (Cgm 572, fol. 61v.). Dadurch erscheinen aus Ernsts Figurenperspektive selbst die Heiden als ein göttliches Werkzeug.371 Obschon die Ankunft des Kreuzfahrers Ernst mit den Wunderwesen in allen Redaktionen Aufsehen erregt und obschon der Herzog stets Gott am Heiligen Grabe für seinen Beistand dankt, hat dieser Erzählabschnitt im HE Vb einen völlig anderen Charakter als im HE F (vgl. Cgm 572, fol. 62r.f., und Han 1, fol. Lr.–Liijr.). Dies liegt zum einen daran, dass Ernst im HE Vb seinen Einzug in die Heilige Stadt inszeniert. Er schickt einen Diener mit den Wunderwesen voran und behält nur den Riesen bei sich, auf dass dieser ihm einen Weg durch den von ihm selbst ausgelösten Volksauflauf zu seiner Herberge bahnen kann (vgl. Han 1, fol. Lr.f.). Dort befriedigt er die Sensationslust der Einwohner, indem er die Wunderwesen am Fenster sehen lässt (ebd., fol. Lv.). Im HE F entsteht „groß Rumor“, sobald sich die Nachricht von der Ankunft jenes Kreuzfahrers verbreitet, dessen Begleiter im Seesturm und im „Sirtischen mere“ umgekommen seien (vgl. Cgm 572, fol. 62r.).372 Ohne dass Ernst spezielle Maßnahmen treffen müsste, wollen alle seine „wunderliche[n] Lüte“ besehen,373 welche dem Herzog das „wolgeuallen“ der Jerusalemer einbringen (ebd.). Nicht nur der König und die Königin gehen ihm im HE F entgegen, sondern Priester begrüßen Herzog Ernst darüber hinaus mit ihrem „Lobgesange“ (ebd.). Schwerer wiegt jedoch, dass ihn hier sein erster Weg zum Heiligen Grab führt.
370 In HE F Knoblochtzer ist die Textstelle aufgrund eines Zeilensprungs entstellt (vgl. fol. [45]r.). 371 Dies steht im krassen Widerspruch zur Brutalität von Ernsts Heidenkampf, welche in anderen Interpretationen hervorgehoben wird (vgl. Nushdina: Darstellung des ‚Fremden‘, S. 112–115, und mit Bezug auf den HE C Goerlitz: Heidenkampf, S. 89–92). 372 Die HE F-Drucke ersetzen das ‚sirtische‘ Meer weiterhin konsequent durch das ‚irdische‘ (vgl. Knoblochtzer, fol. [45]v., Sorg 1, fol. 35r., Sorg 2, fol. 55v., und Sorg 3, fol. [eviij]r.). – Im HE Vb ist der Auflauf der Menge unabhängig von diesem Motiv. Vom Untergang der griechischen Schiffe berichten hier einige Pilger dem König (vgl. Han 1, fol. Lijv.). Deren nähere Charakterisierung differiert in den einzelnen Redaktionen des HE Vb, ohne dass ich dies interpretatorisch ausdeuten möchte: Alle untersuchten Drucke nennen sie ‚groß‘, was sowohl körperlich als auch – wahrscheinlicher – sozial aufzufassen ist; nur HE Vb Schröter, fol. [Hvij]v., und Endter 2, fol. G4r., nennen sie stattdessen ‚stattlich‘, der HE Vb Everaerts, S. 70, ‚vornehm‘. 373 In HE F Sorg 3 entfällt die Modalpartikel ‚genug‘, sodass sich die Bewohner nicht über die Wesen verwundern (vgl. fol. [eviij]r.). Dies stimmt jedoch handlungslogisch nicht mit der Umgebung der Textstelle überein.
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Dorthin bahnt ihm in den Redaktionen des HE F der Riese den Weg (vgl. Cgm 572, fol. 62r.). Und dadurch wird das Gebet an heiliger Stätte zu dem einen Ziel seiner Reise und bleibt nicht wie im HE Vb eine Station unter vielen. Wie oben erwähnt, geht er dort zunächst in seine Unterkunft und trifft sich hernach mit dem König zum Mittagessen, bevor er schließlich die Grabesstätte Jesu besucht (vgl. Han 1, fol. Lv.–Liijr.). Seine Andacht fällt knapper aus und sein weiterer Aufenthalt in Jerusalem wird anders als im HE F nicht damit begründet, dass er aus Dankbarkeit einen einjährigen Dienst gelobt hätte (vgl. Han 1, fol. Liijr., und Cgm 572, fol. 62r.f.).374 Mehr noch: Der eigentliche Kreuzzug, der Heidenkampf im Königreich Jerusalem, wird im HE Vb vollständig ausgelassen (vgl. Han 1, fol. Liijr.). Für die Demonstration der Wiederherstellung von Ernsts Handlungsmächtigkeit ist die Episode nicht notwendig und kann daher entfallen. Deutlicher kann die Verschiebung der Motivierung von Ernsts Orientfahrt nicht werden. Nur im HE F berichten „Tempelherren vnd Spittaulmeister“ von heidnischer Aggression und Zerstörung (Cgm 572, fol. 62v.), und nur hier hat Ernst somit Gelegenheit, die bedrohten Gebiete zu sichern sowie verlorene zurückzuerobern (vgl. ebd.). Doch auch in diesen Redaktionen werden die Kampfhandlungen nicht als solche erzählt. Stattdessen werden verschiedene Perspektiven auf die ausgesparten Ereignisse etabliert: Wetzelo kündigt im Vorfeld an, Ernst werde „mit gottes vor hilfe“ „des tüfels kinder“ überwinden (ebd.). Auf der Dimension seiner Figurenperspektive wird also der Dualismus von Christen und Heiden, der oben mit Ernst und babylonischem König sowie dem heidnischen Begleitheer relativiert wird, in unverminderter Schärfe aufgegriffen.375 Der Erzähler kommentiert diesen Umstand nicht. Wenn er Wetzelos Figurenrede als „wärhafte worte“ bezeichnet (ebd.), bezieht sich dies allein darauf, dass der Herzog, wie avisiert, siegreich sein wird.376 Dabei verlasse sich Ernst nach Angabe des Erzählers nicht auf die eigene Stärke, sondern er vertraue auf Gott (vgl. ebd., fol. 63r.). Die Frömmigkeit ist Teil des hier entwickelten Idealbildes eines Ritters.
374 Vgl. dazu (jeweils mit Bezug auf den HE C) Bartsch: Herzog Ernst, S. LIII; Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 158–160, sowie Goerlitz: Heidenkampf, S. 94. 375 D. h. nicht, dass Ernst „die veinde[ ] cristi“ nicht mit allen Mitteln bekämpfen würde. Vielmehr verursacht er „uil schäden Manschlachte vnd raubnemens“ (beide Cgm 572, fol. 63r.). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sein Kampf nicht nur durch den Glaubensunterschied motiviert ist, er dient hier zumindest auch dazu, die Zerstörung christlicher Städte zu verhindern. 376 Wenn Ernst nach einem Jahr Aufenthalt Urlaub vom König der Stadt begehrt, bleibt in den Redaktionen des HE Vb offen, womit er die Zeit verbracht hat (vgl. Han 1, fol. Liiijv.f.). Nur der HE F spricht, wenn auch pauschal, von „uil arbeÿtsamem sweÿss“ und „arbeÿtsamer tugend“ beim Kampf für das Christentum (Cgm 572, fol. 63v.).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Ernsts Ruhm verbreitet sich durch „uil menschen munde“ wie „ein süsser honige“ (Cgm 572, fol. 63r.). An diesem Vorgang ist mit dem König von Babylon auch ein heidnischer Herrscher beteiligt. Aus eigener Erfahrung rät er seinen Untertanen, Jerusalem nicht zu bekriegen, solange sich Ernst dort aufhalte. Andernfalls drohe ihnen Tod oder Gefangenschaft (vgl. ebd.). Die Anerkennung ritterlicher Tüchtigkeit, die in dieser Perspektive im HE F mitschwingt, kennt keine Religionsgrenzen. Die Kunde von Ernsts Gegenwart erreicht in allen Redaktionen auch Kaiser Otto und die Herzoginmutter Adelheid (vgl. Cgm 572, fol. 63r.f., und Han 1, fol. Liijr.–Liiijr.), woraus zu ersehen ist, dass mit diesem Handlungsabschnitt bereits eine Übergangszone zur zweiten Reichshandlung erreicht ist.377 Im HE F ist Adelheid zu Tränen gerührt und äußert im Gebet den Wunsch, Ernsts „begirliches antlütz“ vor ihrem Tode nochmals zu sehen (Cgm 572, fol. 63r.). Richtet sich in der ersten Reichshandlung Ottos ‚Begierde‘ auf Adelheid und damit gegen das von ihr erstrebte Witwentum, verdeutlicht die Wiederaufnahme des Begriffs an dieser Stelle den Vorrang der Mutter-Sohn-Beziehung vor derjenigen zwischen Ehefrau und Ehemann, die unten die zweite Reichshandlung prägt.378 Obwohl Otto unabhängig von Adelheid von Ernst erfährt, fragt er nach dem Grund ihrer Tränen und wartet, ehe er Antwort erhält, mit einer als Sensation markierten Nachricht auf: „Jch hab eüch ettliche pettenprot zuͦ sagen“ (ebd.). Da er ihr aber über das schon Bekannte hinaus mitteilt, dass „Eẅr Sun“ ergraut sei, tröstet die Mitteilung die Kaiserin nicht, sondern vergrößert ganz im Gegenteil das mütterliche Leid. Adelheid weint nun „offenbarlich“ (ebd.), wobei Otto sich in diesen Redaktionen von Ernst distanziert, indem es um „Eẅr[n]“, also Adelheids, und nicht um ‚seinen‘ oder ‚ihren gemeinsamen‘ Sohn gehe. Im HE Vb bringt Otto dagegen „newe maͤ r“ (Han 1, fol. Liiijr., und die weiteren ungenannten Drucke) beziehungsweise „etwas neues“ (Zirngibl, S. 75) oder eine „neue Zeitung“ (P1, S. 72, sowie Everaerts, S. 71, M2, S. 71, und Trowitzsch, S. 69) über „vnser[n] Son“ (Han 1, fol. Liiijr., meine Hervorhebung). Schon unmittelbar zuvor, wenn eine interne Prolepse ankündigt, dass Adelheid und Otto von Ernst erfahren, weiten etliche der HE Vb-Redaktionen Adelheids Freude über diese Nachricht auf Otto aus.379
377 Nur im HE F wird Adelheid auch über den Aufenthalt von Graf Wetzelo informiert. 378 Vgl. zur ersten Reichshandlung S. 347–349 und zur zweiten S. 431–440. 379 Vgl. Francke, fol. [Jvj]r.; Singe, fol. [Hviij]v.; Schröter, fol. [Hviij]r.; Endter 2, fol. G4v.; Fleischhauer, S. 77; Zirngibl, S. 73; P1, S. 71, und Trowitzsch, S. 68, im Gegensatz zu Han 1, fol. Liijr. – Darüber hinaus geben Zirngibl, S. 73; P1, S. 71; Everaerts, S. 71; M2, S. 70, und Trowitzsch, S. 68, an, dass Kaiser und Kaiserin ihre Informationen nicht von zweien, sondern „von unterschiedlichen Pilgern“ erhalten (hier nach Zirngibl, S. 73). Kündigt die Prolepse in den anderen
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Bei deren Weitergabe an Adelheid wählt Otto aus jenen Informationen aus, die er zuvor von den Jerusalem-Pilgern erhält. Da ansonsten eine unmittelbare Doppelung vorliegen würde, lässt es sich stilistisch begründen, dass bei diesem ersten Gespräch das Detail der grauen Haare fehlt. Jedoch fällt auf, dass Otto der Kaiserin nicht davon berichtet, dass die Pilger Ernst in Begleitung von „viel wunderliche[n] Leut[en] auß seltzamen landen“ gesehen haben (Han 1, fol. Liiijr.).380 Da Adelheid keine weiteren Details erfährt, bleiben ihre Mutmaßungen, warum ihr Sohn vor der Zeit gealtert sein möge, Spekulation. Im HE F spricht sie von „manigem übel vnd onuell“ (Cgm 572, fol. 63v.), im HE Vb von „vngluͤ ck“, was in zwei Drucken zu „vngluͤ ck vnnd gefahr“ erweitert wird (HE Vb Schröter, fol. Jr., vgl. Endter 2, fol. G5v.). Stets bleibt offen, ob Adelheid nur von den Gefahren des Orients spricht oder ob sie Otto zugleich an die Vorfälle im Reich erinnert. Nur HE Vb Zirngibl verdeutlicht diesen Zusammenhang, wenn auf der Dimension ihrer Figurenperspektive klargestellt wird, dass „die grauen Haare die er hat, [an]zeigen [...], wie viel Ungemach er unschuldiger Weise hat erdulden muͤ ssen“ (S. 75). Ausschließlich in den Redaktionen des HE F schließt sich ein kurzes, in Erzählerrede wiedergegebenes Gespräch der Hofleute mit Otto an, das eine mit Zirngibls Variante vergleichbare Funktion erfüllt. Demütig bitten jene den Kaiser, seinen Zorn zu überwinden und Ernst in Gnade aufzunehmen. Doch der Kaiser ist trotz der eigentlich erfreulichen Neuigkeiten nicht umzustimmen (vgl. Cgm 572, fol. 63v.). Der Huldverlust, der oben, wie der Leser weiß, eine Folge der Verleumdung des Pfalzgrafen ist, ist damit im HE F wie bei HE Vb Zirngibl aktualisiert. Die Distanz von Ernst und Otto, die sich schon in der bereits diskutierten Verwendung des Possessivpronomens „Eẅr“ andeutet, tritt hier offen zu Tage. Die Sorge, noch immer in der Ungnade seines Stiefvaters zu sein, trübt Ernsts Wunsch, in sein Vaterland heimzukehren (vgl. Cgm 572, fol. 64v.f., und Han 1, fol. [Lvij]r.). Um in die Heimat zu gelangen, muss er jedoch zunächst Abschied von Jerusalem nehmen und über die Stationen Barus (im HE Vb: Paris381) und Rom ins Kaiserreich ziehen. Eingedenk der oben versäumten Bitte um Urlaub vom
HE Vb-Redaktionen am Ende des einen Kapitels lediglich das im nächsten folgende Gespräch an, so erhält diese in den genannten Drucken eine Evidenzfunktion, da das Gesagte zugleich aus anderen Quellen Bestätigung findet. 380 In HE Vb M2 liegt eine Variante vor, die eingedenk der späteren Forderung des Kaisers, ihm die Wunderwesen zu überlassen, Konfliktpotential bergen könnte: Nach den Pilgern bringe Ernst nicht etwa die Wesen ‚mit ihm‘, sondern ‚ihm‘, d. h. dem Kaiser, ‚mit‘ (vgl. S. 71). Aber seinen Wunsch nach den Zyklopen äußert Otto nur in den Redaktionen des HE F (vgl. Cgm 572, fol. 69v.). 381 HE Vb L2 zieht die Konsequenz aus der neuen Verortung und lässt Ernst „gen Frankreich“ ziehen (S. 77).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Zyklopenkönig (vgl. Cgm 572, fol. 55r.) ist Ernsts Abreise mit 2.000 Pilgern aus Jerusalem als wahre ‚Abschiedsorgie‘ zu bezeichnen, da er die Erlaubnis zu gehen nicht nur vom Patriarchen, dem König und der Königin erbittet, sondern auch „von uil andern treffenlichen personen geistlich vnd weltlichen“ (ebd., fol. 63v.). Deutlich bescheidener fällt der Abschied vom König im HE Vb aus (vgl. Han 1, fol. Liiijv.f.). Die Fahrt steht eigentlich unter einem guten Stern, insofern die Überfahrten kurz sind und „mit [s]chiflichem“ (Cgm 572, fol. 64r.) beziehungsweise „hilflichem“ (Sorg 3, fol. fjv.) oder „gutem wind“ (Han 1, fol. Lvr.) erfolgen. Doch an Bord vor Barus (vgl. Cgm 572, fol. 64r.) respektive nach zwei Tagen Aufenthalt in Paris (vgl. Han 1, fol. Lvr.f.) stirbt der Sciopode.382 Für seinen Tod – im HE B – gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Für Bernhard Sowinksi und Barbara Haupt ist sein Ableben notwendig, damit von Ernsts Trauer erzählt werden könne, durch die wiederum eine emotionale Bindung an die Wunderwesen hervortrete, was zur Charakterzeichnung der Ernst-Figur beitrage.383 Da seine körperliche Abweichung von der menschlichen Norm die Füße betrifft, sieht Alexandra Stein im Tod des Platthufs einen allegorischen Hinweis auf das Ende von Ernsts „Bewährungsweg“.384 Da der Tod im HE B von einer Flaute hervorgerufen worden ist (vgl. V. 5782–5784) und zuvor des Öfteren von einer göttlichen Einflussnahme auf Wind und Sturm erzählt wird, halte ich – auch in Bezug auf den HE F – eine gewollte Demonstration der göttlichen Allmacht für erwägenswert. Wenn der Sciopode im HE Vb sogar an Land nicht gerettet werden kann, zeigt dies allerdings entgegen der Bearbeitungstendenz eine verminderte Handlungsmächtigkeit des Herzogs. Davon abgesehen wiederholen sich einige Züge der Handlung, die ich bereits weiter oben festhalte. So legen die Redaktionen des HE F großes Gewicht darauf, dass Ernst sowohl in Barus als auch in Rom ehrenvoll empfangen wird. Die Bürger, aber auch „aller Roͤ mischer Adel [und] Senatt“ ziehen ihm entgegen (Cgm 572, fol. 64r.). Die Priester stimmen ihm zu Ehren sogar einen Lobgesang an (vgl. ebd.). Der hohe Rang des Herzogs wird dabei durch die Wunderwesen evident. In allen HE Vb-Redaktionen wird Ernst dagegen von den Römern lediglich „schoͤ n empfangen“, wie der Erzähler lapidar berichtet (Han 1, fol. Lvv.). Das
382 Grammatisch kann der Sciopode auch im HE F an Land sterben, jedoch wird erst im Anschluss daran erzählt, dass die Einwohner den Rittern entgegenschiffen (vgl. Cgm 572, fol. 64r.). – In zwei Drucken des HE Vb kommt es zu abweichenden Bezeichnungen: „Syclopedes“ (Endter 2, fol. [G6]r.) und „Scipiodes“ (Trowitzsch, S. 69). 383 Vgl. Sowinski: Anmerkungen, S. 398, Anm. zu V. 5780; Barbara Haupt: Herzog in Fernost, S. 166. 384 Stein: Wundervölker im HE B, S. 46.
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Interesse der namenlosen Figuren gilt hier ganz den Wunderwesen, die Ernst wie in Jerusalem öffentlich präsentiert, indem er sie „alle tag auff der gassen herumb fuͤ hren“ lässt (ebd., fol. [Lvj]r.).385 Wie sich Ernst im HE Vb weniger für die heiligen Stätten interessiert,386 nimmt auch das Interesse an ihm als Kreuzfahrer ab. Statt die Heiligen anzubeten, besieht Ernst im HE Vb die Attraktionen der Stadt „auff das fleissigste“ (Han 1, fol. [Lvij]r., vgl. dagegen Cgm 572, fol. 64v.).387 Allerdings verdient Ernsts Besuch beim Oberhaupt der katholischen Kirche aufgrund der charakteristischen Unterschiede von HE F und HE Vb einige Beachtung. Entsprechend der wiedererlangten Handlungsmächtigkeit sucht Ernst im HE Vb den Papst selbst auf (vgl. Han 1, fol. [Lvj]r.), während der (katholische) HE F eine weitere Möglichkeit, die Ehrerweisungen für den Herzog nochmals zu steigern nutzt, indem der Heilige Vater Ernst selbst in seinen eigenen Palast geleitet (vgl. Cgm 572, fol. 64r.).388 Doch wollen jener und die anwesenden Senatoren, dass Ernst ihnen seine Reise beschreibe (vgl. fol. 64v.). Rührt sie bereits diese Erzählung zu Tränen, so nutzt der Herzog die Gelegenheit, dem Papst und den Senatoren auch von der „onrechte[n] vßtreÿbung“ zu berichten, die ihm „onschuldiclichen“ von Kaiser Otto widerfahren sei (ebd.). Der HE F schließt hier erneut an die Thematik der Rechtmäßigkeit von Ernsts Erbbesitz an, die schon in der ersten Reichshandlung ein Stück weit die Eigenständigkeit dieser Redaktionen gegenüber dem HE Vb ausmacht.389 Dieses Gebaren des Kaisers gegenüber dem Herzog ist dem Papst denn auch „zuͦ mal laid vnd wider“ (Cgm 572, fol. 64v.). Ernsts Romfahrt wird dadurch zu einem vollen Erfolg. Öffentlich spricht ihn das Kirchenoberhaupt „von allen sün-
385 Einige Drucke machen daraus eine einmalige Veranstaltung (vgl. HE Vb Francke, fol. [Jviij]v.; Singe, fol. Jijv.; Schröter, fol. Jiijr., und Endter 2, fol. [G6]v.). 386 So berichten nur die Redaktionen des HE F, dass Herzog Ernst vor der Abreise noch alle heiligen Stätten zu Jerusalem aufsucht (vgl. Cgm 572, fol. 63v.), dass er deswegen zwei Tage in Barus verbringt, um damit den Heiligen Nikolaus zu ehren (vgl. ebd., fol. 64r.), und dass er in Rom die Basilika Santi Apostoli besucht, wobei sich hier das Motiv, dass ihm die Menge des herbeiströmenden Volkes den Zugang erschwert, wiederholt (vgl. ebd.). 387 Am konsequentesten ist die Bearbeitung im HE Vb Zirngibl ausgeführt, wo es gar nicht mehr darum geht, Rom zu besehen. Ernsts Weiterfahrt dient hier lediglich dazu, „unsere Reise nach Deutschland fort[zu]setzen“ (S. 75). 388 Corinna Dörrich: Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur. Darmstadt 2002 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), hier: S. 138 f., sieht Ernsts Romaufenthalt als adventus regis erzählt, der mit der Papst-Audienz die Versöhnung mit dem Kaiser bereits vorwegnehme. 389 Vor diesem Hintergrund ist auch Ernsts oben geäußerte Sehnsucht nach seinem Vaterland zu sehen, die der Erzähler mit einer verallgemeinernden Bemerkung ergänzt (vgl. Cgm 572, fol. 63v., und S. 459f./Anm. 528 im Kap. 3.1.2.3).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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den vnd pannen“ los,390 die er und die Ritter „vormals begangen hetten mit prennen rauben mit manslachte vnd Jn anderer weÿse da sÿ dannocht wider den kaÿser kriegtent“ (ebd.). Der Mord an Pfalzgraf Heinrich wird weder erwähnt noch explizit ausgespart und müsste daher in den Sündenerlass eingeschlossen sein. Ganz anders verläuft Ernsts Besuch des Vatikan im protestantischen HE Vb: In allen Redaktionen bis auf HE Vb Zirngibl bittet Ernst darum, dass der Papst „seinen Vatter [...] mit etlichen Herren“ besuche „vnd fuͤ r jhn bitte[ ]“ (Han 1, fol. [Lvj]r.). Doch selbst bei Zirngibl, wo Ernst das Ausmaß seines Begehrens abschwächt und die Kirchenvertreter nicht zu einer persönlichen Fahrt ins Kaiserreich auffordert (vgl. S. 76), schlägt ihm der Papst die Bitte ab, „denn er nicht in einigkeit mit dem Keiser stund“ (Han 1, fol. [Lvj]r.). Diese Begründung ist bedeutsam. Hält sie doch grundsätzlich die Möglichkeit offen, dass sich Ernsts neue Handlungsmächtigkeit sogar auf den Stellvertreter Gottes auf Erden erstrecken könne. Doch muss die protestantische Bearbeitung die Macht des Papstes einschränken, der sich nicht in der Lage sieht, auf den Kaiser einwirken zu können. Weiter unten, wenn sich Ernst Wetzelo gegenüber nun auch im HE Vb an das aus seiner Figurenperspektive zu Unrecht Erlittene erinnert, stellt der Graf denn auch klar, dass sie direkt auf Gott hoffen müssen, da sie „keine hilff vom Bapst“ zu erwarten haben (ebd., fol. [Lvij]v.).391 Die antikatholischen Befindlichkeiten stehen bei der Bearbeitung des HE Vb damit über der konsequenten Durchformung der neuangelegten Heldenfigur. Ich fasse die wichtigsten Unterschiede der Orienthandlung im HE F im Vergleich zum HE Vb zusammen. Die obige Analyse der HE F-Redaktionen arbeitet Ernst als geehrten Ritter heraus, dessen Heldentaten durch die monströsen Wesen, die er mit sich führt, sichtbar werden. Sie sind also monstra in dem Sinne, dass sie Ernsts Leistungsfähigkeit evident machen. Kriegerische Tüchtigkeit (in Agrippia und im Mohrenland), strategisches Geschick (in Arimaspi) und die Bereitschaft, auch die Ratschläge anderer (hier: Wetzelos) anzunehmen, zählen ebenso zu dem hier etablierten Idealbild wie die Fähigkeit, gut zu regieren (im arimaspischen Lehen), unbegrenzt auf Gott zu vertrauen (Floßbau und Bergdurchquerung im Tiefen Tal), ihm zu dienen (Verpflichtung in Jerusalem) und der Vorsehung gegenüber bedingungslos gehorsam zu sein.392 Diese Vorsehung zeigt sich in der
390 HE F Knoblochtzer hat stattdessen „suͤ nden vnnd bannen“ (fol. [48]r.), was zusätzlich an die ‚Verbannung‘ durch den Kaiser erinnert, was aber zu grammatischen Widersprüchen führt, da die Ritter Subjekt des Satzes sind. 391 Vgl. zur protestantischen Stoßrichtung der Bearbeitung oben, S. 372. 392 Die Orientreise unterliegt im HE B ebenfalls der Führung und Einflussnahme Gottes. Dies wird sowohl auf der Dimension der Figurenperspektiven als auch auf der Erzählerdimension
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direkten Einflussnahme Gottes: in der ersten und zweiten Reichshandlung auf Adelheid sowie auf Ernsts Entschluss, ins Heilige Land zu ziehen, sowie mannigfach im Orientteil.393 Darüber hinaus enthält der HE F zahlreiche theologisch-philosophische Diskurselemente,394 von denen einige (vor allem der eigentliche Heidenkampf in Jerusalem), aber bei Weitem nicht alle in den Redaktionen des HE Vb getilgt werden.395 HE Vb L2 macht die Unmöglichkeit gewaltsamer Konversion dabei sogar als wechselseitiges Problem für Christen und Andersgläubige deutlich. Anders als man meinen könnte, fügt die Bearbeitung ihrer Vorlage sogar noch einige theologica hinzu.396 Doch ist ihr Stellenwert im HE Vb ein geringerer. Wie die obigen Ausführungen zeigen, geht es hier in erster Linie um den Prozess, wie Ernst und die Seinen als Helden ihre Handlungsmächtigkeit einbüßen und wiedererlangen.397 Nach dem Seesturm bei der geplanten Überfahrt von Konstantinopel nach Jerusalem sind die Ritter orientierungslos. Obwohl Ernst und Wetzelo in Agrippia nicht warten, bis sie entdeckt werden, scheitert auch im HE Vb ihr Versuch, die indische Prinzessin zu retten. Nur hier wird angesichts der magnetischen Anziehung eine unmögliche Umkehr als abgewiesene Alternative thematisiert, ehe Ernst am Magnetberg weder sich noch seinen Rittern, geschweige denn den
geäußert (vgl. ohne Anspruch auf Vollständigkeit V. 3842 f., V. 4042, V. 4086 f., V. 4200 f., V. 4216, V. 4296, V. 4333, V. 4337–4341, V. 4415, V. 4442, V. 4499, V. 4624, V. 4666 und V. 5012). 393 Das Anlanden in Agrippia, die Rettung durch die Greifen, der Sieg über die Babylonier, der Floßbau im Tiefen Tal, das Wiederfinden der Ritter im Wilden Wald und die Inspiration zur Mohrenland-Fahrt. 394 Die Letzte Ehre für die indische Prinzessin und überhaupt ihr Tod als Jungfrau als eine Lösung des Agrippia-Konflikts, das Verständnis der Trübsal im syrtischen Meer als irdische Tilgung von Sündhaftigkeit, der Kampf für die Pygmäen als Demonstration der Macht Gottes, die in Frage gestellte Möglichkeit einer gewaltsamen Konversion, die Anerkennung von Heiden als instrumentum Dei sowie die Sündenvergebung durch den Papst. 395 Es fehlen der Besuch am Grab des gefallenen Ritters, die Bitte um Fürbitte für dessen Seele, Babylon als Mahnung vor der Vergänglichkeit des Irdischen sowie insgesamt der Besuch heiliger Stätten. Ebenso fehlt im HE Vb das Motiv der Versuchung durch irdischen Reichtum (in Agrippia, im syrtischen Meer und im Mohrenland). 396 Ich denke an den hier – analog zur erfolgreichen Flucht nach dem Mord am Pfalzgrafen – göttlich initiierten Entsatz Ernsts und Wetzelos in Agrippia. 397 Ein Nebenaspekt der Bearbeitung ist, dass einige Stationen von Ernsts Orientfahrt entproblematisiert erscheinen, wodurch diese phasenweise den Charakter einer bloßen Reise gewinnt. Dies betrifft den zweiten Besuch Agrippias ebenso wie den Kampf von Pygmäen und Kranichen, der zu einer Belustigung für den Herzog wird sowie die Kurzweil auf der Fahrt nach, sowie in Mohrenland und Babylon. Dadurch dass der Kampf mit den Heiden in der Umgebung von Jerusalem entfällt, erinnert auch dieser Handlungsabschnitt eher an eine Pilgerreise als an einen Kreuzzug.
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anderen Schiffbrüchigen, helfen kann. Ihr Ausgeliefertsein an die Greifen ist gegenüber dem HE F verstärkt. Aber Ernst kann Wetzelos Rettungsplan ergänzen und die Ritter können Naturbeobachtung und Perspektivenwechsel nutzen, um einander im Wilden Wald wiederzufinden. In Arimaspi ist Ernst deutlicher als Feldherr und Stratege herausgearbeitet (zusätzliche Waldbrand-List), der sich besonders vom handlungsunfähigen Zyklopenkönig abhebt. Indem der Angriff der Babylonier analog zur Zinsforderung der Riesen erzählt ist, wird dieses ‚arimaspische‘ Motiv auf die Handlung im Mohrenland ausgedehnt, wo Ernsts neue Handlungsmächtigkeit so weit angewachsen ist, dass er eigenmächtig Krieg erklären und seine Rolle in demselben definieren kann.398 Der Friedensschwur des Königs von Babylon hat nicht länger die Garantie des Friedens für die mohrenländischen Christen, sondern die Begleitung Ernsts nach Jerusalem zum Hauptthema. Und wenn Ernst hier das halbe Königreich Indien ausschlägt, wird im Vergleich zur Agrippia-Episode das Ausmaß der Veränderung deutlich: Verhindern dort mit dem Tod der Prinzessin äußere Umstände seine Herrschaft über die indischen Gebiete, weist er hier dieselbe aus freien Stücken zurück. Besonders anschaulich wird die Bearbeitungstendenz des HE Vb am Beispiel von Ernsts Audienz beim Papst. Im HE F erzählt er dem Heiligen Vater und den römischen Senatoren seine Reise und demonstriert seine Ritterlichkeit durch die anwesenden Wunderleute.399 Als er darauf auch von den Ereignissen der ersten Reichshandlung berichtet,400 erhält er öffentlichen Erlass seiner Sünden. Der Roman lässt in diesen Redaktionen also seinen Helden sündigen, auf dass von Ernsts Bußleistung erzählt werden kann, die ihm letztlich die göttliche Gnade einträgt, die sich hier in Form der Vergebung durch den Stellvertreter Gottes auf Erden und in der zweiten Reichshandlung durch den Inhaber der weltlichen
398 HE Vb Fleischhauer übersteigert dieses Motiv, wenn Ernst auch in Babylon dem Herrscher befehlen kann, ihm ein Heer aufzustellen. – In Bezug auf den HE B spricht Luff: Wissen als Macht, S. 94 f., von einer „e l e m e n t a r e [n] H a n d l u n g s m a c h t “, die Ernst befähige, „schnell, flexibel und eindeutig zu reagieren und so sein eigenes Leben und das seiner Männer zu retten“. Diese Handlungsmacht kann jedoch im Gegensatz zu meinem Verständnis des HE Vb nicht verloren werden, da sie sich aus Ernsts „adelige[r] Herkunft“, seiner „Bildung und Gelehrsamkeit“, seinem „militärischen und ritterlichen Handlungswissen“ sowie aus seiner „instinktiven Fähigkeit und Einsicht“ speist, „sich gegebenenfalls dem Rat seines klugen Vasallen [...] anzuschließen“ (ebd., S. 95, vgl. dazu auch S. 95–100). 399 Vgl. dazu auch S. 450f. und S. 455 im Kap. 3.1.2.1. 400 Das Motiv ungerechtfertigter Angriffe, das schon die erste Reichshandlung entscheidend prägt, wird im Orientteil immer wieder aufgegriffen. So ist es das verbindende Glied der ansonsten ganz unterschiedlich gearteten Kämpfe des Herzogs für den zyklopischen König und die indischen Pygmäen. Sowinski: Anmerkungen, S. 393, Anm. zu V. 4845 ff., spricht in Bezug auf Ernsts arimaspische Kämpfe im HE B von einem „bellum iustum“.
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Macht manifestiert. In den Redaktionen des HE Vb dagegen ersucht Ernst den Papst, zu Otto zu reisen, um dort für ihn die Versöhnung mit seinem Stiefvater zu bewerkstelligen. Allein schon, dass auf der Dimension von Ernsts Figurenperspektive mit der Möglichkeit kalkuliert wird, den Papst mit einem derartigen Auftrag zu betrauen, weist darauf hin, wie sehr sich die Handlungsoptionen des Herzogs im Vergleich zum Beginn seiner Orientfahrt erweitert haben. Dass Ernst mit seinem Vorhaben scheitert, widerlegt meine Argumentation nicht. Da es sich beim HE Vb um eine protestantische Überarbeitung handelt, wie weiter oben mit dem reformatorisch ergänzten Banner des Herzogs offensichtlich wird, kann die Hilfe des Oberhaupts der katholischen Kirche nicht die ultima ratio sein.
3.1.1.8 Die zweite Reichshandlung: Versöhnung als Weihnachtswunder Selbst wenn Herzog Ernst die Gefahren des Orients hinter sich gelassen, Jerusalem und Rom erreicht hat, ist der Konflikt mit Kaiser Otto noch nicht beigelegt. Im HE F reflektiert der Held daher aus seiner Figurenperspektive, dass er „[i]nn weÿt ferren lannden“ mitnichten „[s]einer arbaÿt ein ende gemacht“ habe, sondern mit der Rückkehr ins Kaiserreich erst am „Anfange“ dieser Mühen stehe (Cgm 572, fol. 64v.). Entsprechend äußert Ernst in den Redaktionen des HE Vb, dass er nun „aller erst in das recht ellend“ komme (Han 1, fol. [Lvij]r.). Die Bearbeitung spielt mit der im fünfzehnten/sechzehnten Jahrhundert immer noch bestehenden Doppeldeutigkeit des Wortes ‚Elend‘ zwischen exilium und miseria.401 Der Zorn seines Stiefvaters entfremdet also den ‚Herzog ohne Herzogtum‘ von seiner Heimat. Und auch schon im HE F imaginiert er sein „onstette[s] wesen“ als „armer flüchtiger gaste“ (Cgm 572, fol. 65r.), der um eine Herberge bitten muss, wo er einst selbst Obdach gewährt habe (vgl. ebd.). In den Drucken des HE F wird aus dem Adjektiv ‚unstet‘ ein Possessivpronomen, sodass sich Ernst hier als „armer gaste in vnsere[m] wesen“ sieht (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [48]r., meine Hervorhebung). Der Held ist im Reich also auf die ‚Gastfreundschaft‘ des ‚Gastgebers‘ angewiesen und hofft im HE F daher darauf, dass Gott ihm aufgrund seiner „onschulde“ die „milte gütikait“ Kaiser Ottos verschaffe (Cgm 572, fol. 65r.).402 Während sich die Ritter zum Zeitpunkt von Ernsts Reflexion im HE F bereits auf dem Weg ins Kaiserreich befinden, weilen sie während des Gesprächs im
401 Vgl. im Grimm’schen Wörterbuch den Art. Elend, Bd. 3, S. 406–409, hier: S. 406 f. – Bereits im HE B lässt sich das Wort in beiden Bedeutungen nachweisen (vgl. stellvertretend V. 4387 und V. 5473). 402 Vgl. zur Verwendung des Wortes ‚gast‘ in HE B und HE F Nushdina: Darstellung des ‚Fremden‘, S. 60–68.
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HE Vb noch in Rom. Da sie bereits von Ottos Vorhaben, einen weihnachtlichen Hoftag in Nürnberg einzuberufen, wissen, kann Wetzelo einen Plan fassen, wie sie unerkannt zurückkehren können (vgl. Han 1, fol. [Lvij]v.). Erneut enthält die Bearbeitung damit eine zusätzliche Beratungsszene, als deren Ergebnis geschlossene Wagen für die Wunderwesen gekauft und verschwiegene Knechte gedingt werden (vgl. ebd., fol. [Lvij]v.f.).403 Die HE Vb-Redaktionen lassen damit ein größeres Interesse an der Motivierung der äußeren Handlung erkennen.404 Doch auch wenn die jeweiligen Wirte zum Stillschweigen verpflichtet werden, löst die Präsenz des Riesen dennoch allgemeine Verwunderung aus (vgl. ebd., fol. [Lviij]r.). Der Widerspruch, dass die herzogliche Reisegesellschaft in Nürnberg trotzdem unerkannt bleibt, obwohl Ernst „mit seinen Leuten“ (ebd.) und in einigen Drucken sogar explizit „mit seinem wunderlichen Volck“ (hier Francke, fol. Kijv.405) in die Stadt reitet, wird jedoch invisibilisiert.406 Demonstriert die Umsetzung von Wetzelos Rückkehrplan im HE Vb vor allem die wiedererlangte Handlungsmächtigkeit der Ritter, so ist der weitere Verlauf des HE F so angelegt, dass er sich als Lohn für Ernsts Gottvertrauen deuten lässt.407 Zum einen lädt der Kaiser in diesen Redaktionen erst dann zum Hoftag, als sich Ernst und die Seinen bereits in die Lebensgefahr der Rückkehr begeben haben (vgl. Cgm 572, fol. 65r.). Zum anderen sieht Ernst anders als im HE Vb Adelheid nicht, wie sie in die Kirche geht (vgl. Han 1, fol. Mr.), sondern gibt sein und Wetzelos Leben „[i]nn dÿ hennd vnd gwalte des kaÿsers aller kaÿser“ (Cgm 572, fol. 65v.), auf dass Gott ihm vor dem weltlichen Kaiser beschütze und ihn Adelheid vor der Frühmesse in der Kirche finden lasse.
403 Ernst handelt im HE F allerdings ebenfalls entsprechend des gemeinsamen Rates der Ritter und nicht auf eigenen Entschluss hin (vgl. Cgm 572, fol. 65r.). Erzählt wird aber nur das Ergebnis und nicht der Weg dorthin. 404 Das zeigt sich gerade auch an der Bearbeitung des Wunderteils, vgl. unten, S. 437–439. 405 So auch HE Vb Singe, fol. Jiiijv.; Schröter, fol. Jiiijr., und Endter 2, fol. [G8]r. 406 Im HE F schleichen Ernst und Wetzelo dagegen nachts, allein und in Verkleidung in die Reichsstadt (vgl. Cgm 572, fol. 65r.). Hier wird allerdings umgekehrt ausgeblendet, dass zumindest der Riese bereits im Vorfeld die Aufmerksamkeit auf die Neuankömmlinge gezogen haben müsste. 407 Ein möglicher Einfluss Gottes auf das Geschehen wird im HE Vb nur auf der Dimension der Figurenrede etabliert. Ernst betont, dass Gott ihnen im Orient beigestanden habe, dass es nun aber einen Plan brauche, um Ottos Zorn zu widerstehen (vgl. Han 1, fol. [Lvij]r., wobei dieser Zusammenhang im HE Vb Trowitzsch nochmals etwas zugespitzt ist, vgl. S. 70). Wenn Wetzelo anführt, dass sie hierfür auf Gott vertrauen müssten, ist das allerdings als Teil der Protestantisierung des Romans zu sehen: Nicht auf den Papst, sondern direkt auf Gott müsse man hoffen (vgl. Han 1, fol. [Lvij]v.).
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In allen Redaktionen verkleidet sich der Herzog daraufhin als Bettler, um die Kaiserin unerkannt ansprechen zu können (vgl. Cgm 572, fol. 65v., und Han 1, fol. Mr.). Im HE Vb sucht Ernst ohne Umwege das Gespräch (vgl. Han 1, fol. Mijr.), im HE F Cgm 572 späht er „listig[ ]“ umher, bis er Adelheid findet (fol. 65v.).408 Aus deren Figurenperspektive wird das Sich-Wiederfinden von Mutter und Sohn, wie der Erzähler bereits hier angibt, später als Koinzidenz erkannt, da Ernst sie just in dem Moment gesehen habe, als sie für ihn betete (vgl. ebd.). Auf dieser Dimension wird somit der Aspekt göttlichen Geführtseins aktualisiert. Das Gespräch zwischen dem vermeintlichen Bettler und der Kaiserin, das sich durch das Wiedererkennen im HE F schnell zu einer „‚schönen, rührenden Familienszene‘ voll ‚sentimentaler‘ Details“ entwickelt, untersuche ich unten genauer.409 In Bezug auf die Bearbeitungstendenz des HE Vb ist vor allem festzuhalten, dass sich Ernst nicht länger selbst nennt und dabei auch nicht jene Worte aufgreift, mit der seine Mutter weiter oben die Nachricht vom vorzeitigen Ergrauen des Sohnes kommentiert (vgl. Cgm 572, fol. 63r.f. und fol. 66r.), sondern dass er das Gespräch ebenso schnell auf sich selbst lenkt, wie er direkt auf Adelheid zugeht, sodass ihr gar nichts anderes übrig bleibt, als in ihm ihren Sohn zu erkennen (vgl. Han 1, fol. Mijr.).410 Wetzelo begleitet Ernst im HE Vb in die Kirche (vgl. Han 1, fol. Mv.). Diese Redaktionen zeigen ihn somit als treuesten Gefährten, der dem Herzog, wie es schon in der Exposition des Romans heißt, nicht von der Seite weicht (vgl. ebd., fol. Aiijr.). Im HE F dagegen verbleibt Wetzelo vor der Kirchentür. Dies gibt Adelheid die Gelegenheit, sich im Gespräch mit Ernst nach des Grafen Befinden zu erkundigen (vgl. Cgm 572, fol. 66r.). Dies schließt an das Motiv an, dass Adelheid nur in diesen Redaktionen durch die Jerusalem-Pilger auch von Wetzelos Anwesenheit in der Heiligen Stadt erfährt (vgl. ebd., fol. 63r.). Die Figurenbeziehung von Wetzelo und Adelheid ist intensiviert, was unten im Anschluss an den Versöhnungsgottesdient noch deutlicher wird. Im HE F bricht Ernst das Gespräch ab, da ihn eine längere Unterhaltung verraten und seinen Feinden ausliefern könne. Stattdessen bittet er Adelheid um ihr „räts vnd müterlicher hilfe“ (fol. 66r.). Entgegen der Tendenz, Ernsts Hand-
408 Die HE F-Drucke ersetzen Ernsts „listige[ ] Spehe“ durch „listige[ ] sprach“ (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [49]r.). 409 Vgl. S. 451f. im Kap. 3.1.2.1, das Zitat Gerhardt: Verwandlungen, S. 74. 410 Wenn er ihr als Bettler erzählt, dass er „ein mal inn vngnade gegen [s]einem Vatter komen“ sei und daher „nit wider zu gnaden komen“ könne (Han 1, fol. Mijr.), schwächt HE Vb Zirngibl diese Einschätzung dahingehend ab, dass Ernst hier nur angibt, „schwerlich wieder Gnade [zu] erlangen“ (S. 79). HE Vb Trowitzsch lässt den zweiten Teil ganz weg (vgl. S. 80), sodass der Bezug auf das Schicksal des Herzogs lockerer wird und der richtige Schluss von Adelheid auf die wahre Identität des Bettlers weniger wahrscheinlich wird und damit mehr überrascht.
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lungsmächtigkeit herauszustellen, ist es in den Redaktionen des HE Vb die Herzoginmutter, die auf die Knappheit der Zeit verweist, ehe sie Ernst ihren Plan zu seiner Rettung unterbreitet (vgl. Han 1, fol. Miijr.). Dieser Plan, der Adelheid „in eine Schlüsselposition“ innerhalb der zweiten Reichshandlung versetzt,411 stimmt in allen Redaktionen in den wesentlichen Punkten überein: Der weihnachtliche Festgottesdienst bietet die günstige Gelegenheit für Herzog Ernst, unerkannt die Gnade seines Stiefvaters zu erlangen. Im Anschluss an den Segen des Bischofs von Bamberg (vgl. Cgm 572, fol. 66r.) beziehungsweise nach dem Evangelium (Han 1, fol. Miijr.) solle er Otto zu Fuß fallen.412 Auch den Bischof selbst und weitere Adlige möchte die Kaiserin darüber hinaus in allen Redaktionen in ihren Versöhnungsplan einbeziehen. Doch während die Ernst wohlgesonnenen Verwandten und Gönner im HE F im Vorfeld darauf hinwirken sollen, Ottos „prÿnnenden zorn“ zu löschen (Cgm 572, fol. 66v.), sieht der Plan in den späteren Redaktionen des HE Vb vor, dass die genannten Versöhnungshelfer an Ernsts Stelle einen Fußfall vor dem Kaiser tun (vgl. HE Vb Zirngibl, S. 79; P1, S. 76; Everaerts, S. 76; M2, S. 76, und Trowitzsch, S. 73). Dies steht im Widerspruch zu Adelheids obigen Ausführungen, die in allen Redaktionen weiter unten mit Ernsts Fußfall umgesetzt werden (vgl. Han 1, fol. Mvr.f.). In den früheren HE Vb-Drucken plant Adelheid eine gemeinsame Unterwerfungsgeste des Herzogs mit den anderen Fürsten und Herren (vgl. stellvertretend Han 1, fol. Miijr.). Der Hauptunterschied besteht nun aber darin, dass Ernst im HE F seinen Fußfall ganz „allein“ leisten solle (Cgm 572, fol. 66r.), während dies im HE Vb gemeinsam mit Wetzelo zu geschehen habe (vgl. Han 1, fol. Miijr.). Dies ist deshalb wichtig, da sich Wetzelo unten bei der Umsetzung von Adelheids Plan in allen Redaktionen während des Gottesdienstes versteckt hält (vgl. Cgm 572, fol. 66v., und Han 1, fol. Mvr.). Im HE Vb weichen die Ritter damit in diesem Punkt vom Vorbedacht der Kaiserin ab und handeln eigenmächtig.413 Sowohl im HE F als auch im HE Vb nimmt Ernst den Vorschlag seiner Mutter an. Vielleicht da Adelheid (nur hier) die trotz allem bestehende Todesgefahr explizit macht (vgl. Cgm 572, fol. 66r.), ist der Herzog im HE F nach Angabe des Erzählers durch ihre Worte „zwischen die hofnunge vnd vorchte“ gesetzt (ebd.,
411 Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 150, mit Bezug auf den HE C. 412 Das Ausmaß der von Adelheid geforderten Unterwürfigkeit ist im HE F noch etwas größer, wenn ihr Sohn „mit pitterlicher Stÿmme“ um „gnad vnd Barmherczikait flehen“ solle (Cgm 572, fol. 66r.), während er in den Redaktionen des HE Vb lediglich „vmb Christus willen vmb verzeihunge“ bitten solle (Han 1, fol. Miijr.). Der Bezug zum Christfest ist in der Bearbeitung etwas größer, im HE F die persönliche Erniedrigung. 413 Einschränkend ist jedoch zu sagen, dass Adelheid im folgenden Gespräch mit dem Bischof nur Ernsts Fußfall erwähnt (vgl. Han 1, fol. Miiijr.).
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fol. 66v.). Die HE F-Drucke betonen dabei die ‚Furcht‘ zusätzlich, indem sie vor den Konnektor gezogen wird (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. [50]r.). Auf der Dimension seiner Figurenperspektive bringt Ernst dies in einer gereimten Figurenrede zum Ausdruck, nach der er für den Folgetag mit seinem Tod rechnet (vgl. Cgm 572, fol. 66v.).414 Eine derartige Gemütsregung lässt sich im HE Vb nicht feststellen. Ernst nimmt wortreich Abschied, berichtet Wetzelo auf das genaueste von seiner Unterredung und beide erwarten daraufhin „de[n] andern tag[ ] mit freuden“ (Han 1, fol. Miijv.).415 In aller Kürze berichten die Redaktionen des HE F, dass Adelheid im Folgenden Verbündete sammele (vgl. Cgm 572, fol. 66v.). Während diese sich im Cgm 572 zu Rat und Tat verpflichten, da es sich in diesem Fall gehöre zu helfen beziehen die HE F-Drucke die Wendung auf Adelheids Figurenrede, die ihrer Bitte mit dem Hinweis auf die Angemessenheit der Unterstützung Nachdruck verleiht (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. [50]r.). In beiden Fällen ist die Ehre des – im HE F noch immer geächteten416 – Herzogs das entscheidende Argument, nur wird es in den einzelnen Redaktionen aus der Perspektive jeweils anderer Figuren geäußert. Der HE Vb fügt an dieser Stelle eigens eine Szene hinzu, in der Adelheid dem Bischof ihren Plan unterbreitet (vgl. Han 1, fol. Miijv.f.). Dies entspricht der oben bereits mehrfach erkannten Bearbeitungstendenz, der Beratung zwischen einzelnen Figuren größeren Anteil am Erzählten zu verleihen. Gegenüber dem HE F kommt es dabei zu einigen Verschiebungen: Kürzt die Bearbeitung Ernsts Furcht, so ergänzen die HE Vb-Redaktionen im Hinblick auf die Emotionalität des Textes Adelheids Jammer an dieser Stelle (vgl. Han 1, fol. Miiijr.). Nur einige späte HE Vb-Drucke ersetzen ihre „jaͤ merliche rede“ durch eine „bewegliche“, die aber ihrerseits den Bischof sehr „jammerte“ (hier Zirngibl, S. 80, vgl. P1, S. 77; Everaerts, S. 77; M2, S. 77, und Trowitzsch, S. 74). Diese Verschiebungen sind im Zusammenhang mit der vergrößerten Handlungsmächtigkeit der Helden zu deuten. Außerdem argumentiert Adelheid im HE Vb nicht mit Ernsts Ehre, sondern damit, dass der Herzog – wie er wisse – unschuldig in des Kaisers Ungnade gefallen sei (vgl. Han 1, fol. Miijv.f.).417 Da es zudem in diesen Redaktionen der
414 Im HE B erwartet Ernst dagegen nicht das Ende seiner Tage, sondern „[a]ller syner sorgen“ sieht „[e]r des tages eyn ende“ (V. 5884 f.). 415 Nur HE Vb Zirngibl, S. 79; P1, S. 76, und Everaerts, S. 76, haben diese ‚Freude‘ nicht. Doch macht Ernsts Bericht Wetzelo auch hier wie in den anderen HE Vb-Redaktionen „von hertzen fro“ (Han 1, fol. Miijv.), sodass die Binnendifferenz minimal bleibt. 416 Die HE Vb-Redaktionen ersetzen Rechtsinstitute wie ‚Fehde‘ oder ‚Ächtung‘ durch allgemeinere Ausdrücke, vgl. oben, S. 356 und S. 361f. 417 HE Vb Zirngibl ersetzt in ihrer Figurenrede die Ungnade des ‚Kaisers‘ durch diejenige ihres „Gemahls“ (S. 80). Da Zirngibl jedoch oben die Paarformel ‚Kaiser und Vater‘ in Bezug auf Ernst
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Bischof und nicht Adelheid ist, der um die Gunst weiterer Mithelfer wirbt (vgl. ebd., fol. Miiijr.), verschärft sich die Isolation Kaiser Ottos im eigenen Reich. Der Eindruck, dass der Kaiser im HE Vb in Isolation gezeigt werden soll, verstärkt sich im folgenden Erzählabschnitt weiter. „[M]it uil geprengks . der stolczen Edeln fürsten Grauen freÿen . Rittern vnd knechten“ hält der Kaiser im HE F Einzug in dir Kirche (Cgm 572, fol. 66v.) und auch Adelheid wird von zahlreichen Hofdamen und Jungfrauen begleitet (ebd., fol. 67r.). Im HE Vb ist dagegen nur knapp davon die Rede, dass Otto „mit seinen Herren“ den Gottesdienst besuche (Han 1, fol. Miiijv.f.). Diese Auslassung geht mit der Verkürzung der Beschreibung des herrschaftlichen Glanzes einher. Erzählen die Redaktionen des HE F vom Festgewand des Kaisers und der Kaiserin, von seiner Krone und ihrem Schmuck (vgl. Cgm 572, fol. 66v.f.), so setzen sich in der Bearbeitung Otto lediglich „auff seine[n] stul gantz herrlich [...] vnnd die Keiserin neben j[n]“ (Han 1, fol. Mvr.). Die Herrschaft des Kaisers ist defizitär und die Frau an seiner Seite zieht hinter seinem Rücken die Fäden. Im HE F erstrahlt die ganze Kirche dagegen im Widerschein des Glanzes von Adelheids Kleinodien (vgl. Cgm 572, fol. 67r.). Dass der Schmuck, den sie für diesen Tag angelegt hat, „von Jndia auß dem Morenlannd“ stammt, ist bereits ein Hinweis auf den Grund ihres festlichen Auftretens: die Rückkehr ihres Sohnes. Daher muss auch die Bemerkung ihres Mannes, die nur der HE F hat, ins Leere laufen. An diese schließt sich ein kurzer Dialog mit Adelheid an. Die Funktion des Gesprächs wird aber erst vor dem Hintergrund der Ereignisse der ersten Reichshandlung deutlich. Otto bringt sein „wolgeuallen“ zum Ausdruck, bemerkt, dass sich Adelheid in seiner Gegenwart bislang „nie so zierlichen erzaigt“ habe und wünscht sich, dass sie sich – für ihn – künftig immer auf diese Weise kleiden solle (ebd.). Seine Ehefrau kommt diesem Begehren scheinbar entgegen, indem sie bereit sei, sich „aller zeit [...] nach eüch zusenen“. Dies geschehe aber nur dann, wenn Otto im Gegenzug durch Gottes Eingeben ihren „keẅschen begirden“ entspreche (ebd.). In aller Öffentlichkeit dechiffriert Adelheid damit das Lob ihrer Kleidung als sexuelle Anspielung, die sie sogleich zurückweist. Dies charakterisiert ihre Beziehung mit Otto als ‚Josefsehe‘, die einen dritten Weg neben ihrem ursprünglichen Wunsch nach Witwenschaft und der Annahme von Ottos Werbung darstellt.418
einmal zugunsten des Verwandtschafts- und einmal zugunsten des Herrschaftsverhältnisses auflöst (vgl. S. 79), dürften stilistische und weniger sinnstiftende Erwägungen hinter der Variation stehen. De facto wird Adelheids Argumentation gegenüber dem Bischof bei Zirngibl dadurch aber etwas intimer. 418 Vgl. zu ihrer ‚Josefsehe‘ im HE C Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 131 und S. 149 f., sowie oben, S. 343–351 und S. 376f. – Dörrich: Poetik des Rituals, S. 137, liest das Gespräch dagegen als Vorwegnahme des Folgenden: Otto solle in Bezug auf die Versöhnungshandlung ihr gehorsamen.
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In Bezug auf Herzog Ernst berichtet der Erzähler auch noch für diesen Morgen von einer jeweils gegensätzlichen Gemütslage. Während er im HE Vb „des andern tags mit grossem verlangen gewart hatt“ (Han 1, fol. Miiijv.), betritt er im HE F die Kirche „mit grosser menschlicher vorchte vnd göttlicher andächt“ (Cgm 572, fol. 66v.).419 Obwohl nach Adelheids Plan im HE Vb Wetzelo gemeinsam mit Ernst dem Kaiser zu Fuß fallen solle, versteckt er sich auch in diesen Redaktionen – und zwar nicht „hinder d[er] kortüre“ (ebd.), sondern „hinder d[em] Altar“ (Han 1, fol. Mvr.). Die Ritter handeln damit nicht nur eigenmächtig, sie entweihen auch den heiligen Ort. Schließlich zielt die Vorsichtsmaßnahme dahin, dass Wetzelo Otto töten solle, wenn dieser Ernst gefangen nehmen lassen oder anderweitig bedrängen würde (vgl. Cgm 572, fol. 66v., und Han 1, fol. Mvr.).420 Allerdings beschreibt der Erzähler das alternative Geschehen im HE F drastischer, worauf ich unten bei der Analyse der Dimension der Erzählerrede näher eingehe.421 Denkt man an die erste Reichshandlung, so hegen die Ritter, allerdings nur in den Redaktionen des HE F, bereits zum zweiten Mal die Absicht, Otto zu töten. Ebenfalls ausgelassen ist im HE Vb die Predigt des Bischofs. Der Erzähler erwähnt zwar, dass es eine solche gebe, hat aber zunächst kein Interesse an deren Inhalt und erinnert nur iterativ daran, dass „alles angestellt [wardt] von der Keiserin“ (Han 1, fol. Mvr.). Einmal mehr geht es also um den Ausweis von Handlungsmächtigkeit, hier in Bezug auf Adelheid, während an derselben Textstelle im HE F die „nütze predig“ des Bischofs an das biblische Gebot der Feindesliebe gemahnt, auf dass jeder „des langgewerten zorns“ vergesse und angesichts der Schuld eines jeden gegenüber Gott seinen Schuldigern vergebe (Cgm 572, fol. 67v.).422 Erst weiter unten greift der Bischof im HE Vb das Argument der göttlichen Sündenvergebung auf, wenn er Otto direkt zu überzeugen sucht, sich mit Ernst zu versöhnen (vgl. Han 1, fol. [Mvj]r.). Im Großen und Ganzen erzählen HE F und HE Vb die Versöhnung von Herzog und Kaiser im Hinblick auf die äußere Handlung identisch. Jedoch kommt es im
419 Der Cgm 572 schafft für diesen emotionalen Zustand das neologistische Kompositum „vorchttrauriclichen“ (fol. 66v.). Bis auf Knoblochtzer behalten alle HE F-Drucke die Zusammenschreibung bei (vgl. aber fol. [50]r.). 420 Diese Vorsichtsmaßnahme ist eine Besonderheit von HE C, F und Vb innerhalb der Gruppe der Ernst-Geschichten (vgl. Moriz Haupt: Herzog Ernst, S. 285; Bartsch: Herzog Ernst, S. LIII, sowie Heselhaus: Märe und History, S. 229). – Die Formulierung im HE Vb legt zudem nahe, dass Ernst bereits in der ersten Reichshandlung eingekerkert gewesen sei, was nicht mit dem dort Erzählten übereinstimmt. 421 Vgl. S. 458f. im Kap. 3.1.2.2. 422 Die Einzelheiten bespreche ich unten, S. 466f. im Kap. 3.1.2.4. Vgl. dazu auch Dörrich: Poetik des Rituals, S. 135–139.
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HE Vb sowohl zu Ersetzungen, Auslassungen und Interpolationen als auch zu sinnstiftenden Verschiebungen. Ernst fällt Otto stets vor der Gemeinde zu Fuß und bittet um Gnade (vgl. Cgm 572, fol. 67v.) beziehungsweise um Verzeihung (vgl. Han 1, fol. Mvv.).423 Entsprechend den oben erzählten Gemütslagen ist er dabei in dem einen Fall „vorchtsam“ und trägt seine Bitte „waÿnent mit cläglicher stÿmme“ vor (Cgm 572, fol. 67v.), in dem anderen nähert er sich dem Kaiser dagegen „mit grossem muth“ (Han 1, fol. Mvr.). Obwohl ein aktiver Beistand während des Gottesdienstes nur im HE Vb explizit geplant ist, treten nun nur im HE F die Eingeweihten, aber auch nicht eingeweihte Adlige hervor, um das Gesuch des unkenntlichen Bittstellers zu unterstützen (vgl. Cgm 572, fol. 67v.f.).424 Die ohnehin prekäre Lage spitzt sich in allen Redaktionen weiter zu, wenn Kaiser Otto nach den genaueren Umständen der begangenen Untat fragt (vgl. Cgm 572, fol. 68r., und Han 1, fol. Mvv.). Adelheid erwirkt jedoch einen Aufschub der möglichen Eskalation, indem sie auf das Weihnachtsfest und im HE F auf die in der Predigt angesprochene Problematik der Sündenvergebung hinweist (vgl. Cgm 572, fol. 68r.). Im HE Vb erfolgt der zweite Teil der Argumentation aus der Perspektive des Bischofs, der sich wie auch Adelheid und die anderen Vornehmen zu Ernst vor den Kaiser kniet (vgl. Han 1, fol. Mvv.f.).425 Der Anteil des Bischofs an der Versöhnung ist damit ein weiteres Mal vergrößert, der Plan eines gemeinsamen Fußfalls ist umgesetzt. Trotz dessen, dass Otto dadurch überzeugt ist, sich mit dem Unerkannten zu versöhnen, führt das anschließende Wiedererkennen seines Stiefsohnes zum Zorn des Kaisers.426 Auf diese neuerliche Krise reagieren die Figuren im HE F und
423 Die HE Vb-Redaktionen ergänzen den rituellen Fußfall mit einem dreifachen Kopfneigen. Dies drückt den Grad der Unterwürfigkeit aus, lässt Ernst im Moment der eigenen Erniedrigung zugleich aber die Initiative behalten. 424 Anhand des HE C argumentiert Dörrich: Poetik des Rituals, dass durch den Umstand, dass die Fürsten im Eindruck der Predigt gemeinsam für Ernst eintreten, christliche über weltlichpolitische Ordnungsmuster gestellt werden (vgl. S. 136). Zum Normbruch von Ernsts deditio im HE B vgl. Neudeck: Kaiser Otto, S. 163–165 und S. 178–180. 425 HE Vb Zirngibl erhöht die Emotionalität der Szene etwas, wenn hier Adelheid die Bitte ihres Sohnes weder als ‚fleißig‘, wie in den frühen HE Vb-Redaktionen (vgl. Han 1, fol. Mvv.), noch als ‚inständig‘, wie in den späteren ab L2 (vgl. L2, S. 84), sondern als „inbruͤ nstig“ bezeichnet (Zirngibl, S. 82). 426 Insbesondere die Redaktionen des HE F beschreiben die sichtbaren Anzeichen für den „hiczige[n] zoren“ des Kaisers (Cgm 572, fol. 68r.). Für alle sind die „zornlichen flammen“ in seinem „erzünnten antlücz“ zu erkennen. Die „fraÿdigen krommen augen“ machen seinen Grimm gegenüber dem in Ungnade gefallenen Stiefsohn evident, jedoch werden sie in HE F Knoblochtzer, fol. [51]v., und Sorg 1, fol. 40v., zu „fraidigen koͤ nen“ und in Sorg 2, fol. 62v., sowie Sorg 3, fol. 42r., sogar zu „freüdigen koͤ nen augen“, wodurch die konkrete Beschreibung zwar ambivalent wird, der später erfolgende Stimmungsumschlag jedoch bereits vorweggenommen ist.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
HE Vb jeweils eigenständig. Die Fürsten, die oben bereits Ernsts Gnadengesuch unterstützen, sind es, die im HE F die Handlungsinitiative ergreifen und den Herrscher an die Gültigkeit der Vergebung gemahnen, die nur in den Redaktionen des HE F schon zu diesem Zeitpunkt durch den Akt des Friedenskusses vor Gott Rechtskräftigkeit erlangt hat (vgl. Cgm 572, fol. 68r.). Daraufhin bestätigt Otto mit „zuͤ chtiger stÿme [...] solich ablass vnd vergebunge“, die er Ernst als dem unerkannten Fremden geleistet hat (ebd., fol. 68v.). Die Konsequenz dieses Handlungsverlaufs ist, dass die folgende Frage nach dem Aufenthaltsort des Grafen Wetzelo im HE F die Versöhnungsszene zum dritten Mal mit Konfliktpotential auflädt. Schließlich bezieht sich der listig eingefädelte Friedensvertrag nur auf den Herzog. Ernst muss Wetzelo daher ganz im Vertrauen und „mit verwegnuß seins Lebenns“ dem Kaiser ausliefern (ebd.).427 In den HE Vb-Drucken greift dagegen angesichts von Ottos Zorn kein Dritter in die Handlung ein. Stattdessen gibt Ernst Wetzelo ein Zeichen (vgl. Han 1, fol. [Mvj]r.). Legt der HE F das Hauptaugenmerk auf die Beschreibung der kaiserlichen Emotion und demonstriert damit die Gefahr, in der die Helden schweben, verweist die Bearbeitung auf die Handlungsalternative, die sich Ernst und Wetzelo unabhängig von Adelheids Plan geschaffen haben und somit auf ihre wiedergewonnene Handlungsmächtigkeit. Doch bedarf es auch im HE Vb keiner gewaltsamen Intervention. Zwar wird die Gültigkeit des Friedensschlusses nicht thematisiert, aber Otto erkennt recht unvermittelt das Ausmaß der Fürsprache für den Herzog als hinreichenden Grund an, ihm tatsächlich zu vergeben (vgl. Han 1, fol. [Mvj]v.). Auch wenn der Friedenskuss für Ernst im HE Vb erst hernach – gemeinsam mit Wetzelo – erfolgt,428 entbehrt die Frage nach seinem „Freund“ anders als im HE F jeglicher Bedrohlichkeit. Otto spricht Ernst als ‚lieben Sohn‘ (ebd.), im HE Vb Zirngibl sogar als „[l]iebste[n] Sohn“ (S. 82) an und der Graf kann „mit grossen freuden“ aus seinem Versteck hervortreten (Han 1, fol. [Mvj]v.). Dieser letzte Teil der Versöhnungsszene ist in der Bearbeitung insofern entproblematisiert.
427 Zur bereits im HE C gegenüber den anderen Ausformungen der Ernst-Geschichte vergrößerten Konflikthaftigkeit vgl. Dörrich: Poetik des Rituals, S. 136–138. Eine Auseinandersetzung mit der Inszenierung der Versöhnung im HE B vor dem Hintergrund historisch-faktischer Rituale vgl. ebd., S. 111–120. 428 Als Zeichen der Versöhnung hilft Otto Ernst, Adelheid und dem Bischof vom Boden auf (vgl. Han 1, fol. [Mvj]r.). In einigen Drucken werden durch den Wechsel des bestimmten Artikels aus Akkusativobjekten Subjekte, sodass Adelheid und der Bischof Ernst gemeinsam mit Otto aufheben (vgl. Francke, fol. [Kvj]v., Schröter, fol. [Jviij]r., Endter 2, fol. H3r.). In den späteren Redaktionen ab L2 entfällt dieses äußere Zeichen der Versöhnung aber völlig (vgl. L2, S. 85).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Im HE F liefert Ernst seinen Gefährten dem Kaiser aus, ohne den Ausgang abschätzen zu können. Dies wird auf der Dimension der Figurenperspektiven verdeutlicht, wenn Otto sie beide als „schuldiger vnd übeltätter Des hailigen Römischen Reichs“ bezeichnet, die er nach seinem „enntlichs vrtaÿl“ eigentlich „mit leÿb vnd guͦ t [...] wolt vertilgt vnd vernichtet hon“ (Cgm 572, fol. 68v.). Dass es anders gekommen ist, sei nach dieser Figurenrede jedoch nicht Folge des listigen, aber rechtsgültigen Versöhnungsplans und auch nicht der Fürsprache Adelheids und der Fürsten, sondern Otto markiert als entscheidende Instanz „gott de[n] himlisch künig“, da Christus ihm „eingesprochen“ habe, Ernst zu vergeben (ebd.). Ein zweiter Friedenskuss für Wetzelo besiegelt die Beilegung des Konfliktes endgültig. Anders als bei Adelheids Audition oder Ernsts Entschluss zum Kreuzzug wird die göttliche Einflussnahme ausschließlich von der Figur selbst behauptet. Es gibt innerhalb der Haupthandlung aber keine Indizien, mit denen sich etwaige Zweifel an Ottos Perspektive festigen ließen. Zumal immer die Koinzidenz bestehen bleibt, dass er gerade dann einen Weihnachtshoftag ausruft, als sein Gnade bedürftiger Stiefsohn ins Kaiserreich zurückkehrt (vgl. Cgm 572, fol. 65r.). Die in allen Redaktionen des HE F zuvor erfolgte Sündenvergebung durch den Papst wird im Übrigen nicht thematisiert. HE Vb Singe verzichtet wie alle späteren Redaktionen ab L2 auf einen weiteren (Friedens-) Kuss durch die Kaiserin, die sich hier lediglich darüber freut, dass sich der Kaiser mit Ernst versöhnt hat (vgl. Singe, fol. [Jviij]v., und stellvertretend L2, S. 85). In den anderen Redaktionen des HE Vb küsst Adelheid dagegen sowohl ihren Sohn als auch Wetzelo (vgl. Han 1, fol. [Mvj]v.). Dieses Motiv teilt in gewisser Weise der HE F. Jedoch beschränkt sich Adelheids Kuss hier ganz auf den Grafen und nach Angabe des Erzählers erfolgt dieser Kuss „[i]n einer rechten keẅschen liebin“ (Cgm 572, fol. 68v.). Es geht hier insofern nicht um ein Rechtsinstitut, bei dem jeder Hinweis auf ihre Keuschheit überflüssig wäre. Darüber hinaus nimmt Wetzelo beim gemeinsamen Auszug „nach ordenunge“ aus der Kirche die Kaiserin „beÿ Jrer hannd vnd fuͦ rt sie auch herlichen [...] an die herberg“ (ebd., fol. 69r.). Corinna Dörrich geht bei ihrer Analyse der rituellen Versöhnung im HE C nicht auf diesen Umstand ein.429 Zieht man Adelheids Erkundigung um das Wohlbefinden des Grafen beim Wiedersehen mit ihrem Sohn (vgl. ebd., fol. 66r.) sowie den Umstand hinzu, dass sie von den Pilgern auch von Wetzelos Anwesenheit in Jerusalem erfährt (vgl. fol. 63r.), so zeichnet sich im HE F eine Nähebeziehung der beiden Figuren ab, die quer zu allen anderen Figurenkonstellationen liegt. Sie stört das etablierte Mutter-Sohn-Verhältnis
429 Vgl. Dörrich: Poetik des Rituals, S. 132–139.
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ebenso wie die Beziehung von Herzog und Vasall. Nicht zuletzt irritiert sie den anschließend ausgebreiteten Status Adelheids als Heilige. Eine Erklärung für diesen Zug der Handlung kann ich bislang nicht anbieten. Etwas Vergleichbares wissen die Redaktionen des HE Vb nicht zu berichten. Nach der Auslegung des Evangeliums durch den Bischof zieht sich die wiedervereinte kaiserliche Familie zum Mittagessen zurück (vgl. Han 1, fol. [Mvj]v.). In den späteren Drucken ab L2 führt ihre Freude zur Verwunderung des Volkes (vgl. stellvertretend L2, S. 85). Nach Jahren des Krieges und der Vertreibung überrascht die plötzliche Veränderung offensichtlich. Nur im HE Vb Zirngibl lassen sich die Umstehenden stattdessen von der kaiserlichen Freude anstecken (vgl. S. 83). Gerade diese späte Redaktion bringt also die Episode ganz traditionell mit Aufweis der Wiederherstellung der höfischen Freude zum Ende.
3.1.1.9 Die zweite Reichshandlung: Ernsts Verleumdungsfrage und die Erzählung seiner Fahrt Nach dem gemeinsamen Kirchgang kommt es in allen Redaktionen zu einem längeren Dialog zwischen Herzog Ernst und Kaiser Otto. Nur im HE Vb wird dieser von Ernsts Frage nach dem Grund für seine Vertreibung eingeleitet (vgl. Han 1, fol. [Mvij]v.), wobei er dabei nochmals seine Unschuld beteuert. In allen HE VbDrucken legt Otto aus seiner Figurenperspektive nochmals die Einzelheiten von Heinrichs Verleumdung dar, worauf ich unten genauer eingehe.430 Nur HE Vb Zirngibl lässt diese Rekapitulation mit dem Hinweis aus, dass „unsere geneigte[n] Leser“ von diesen Ereignissen bereits Kenntnis erlangt hätten (S. 83).431 Wenn Ernst daraufhin beteuert, dass er, „so war als Gott lebt“, „nie mit einem wort etwas wider euch geredt“ und aufgrund der Nachricht von der Verschwörung Heinrich getötet habe (Han 1, fol. [Mviij]r.), räumt er damit nur den Gegenstand der Verleumdung aus. Ottos hier ebenfalls geäußerte Mutmaßung, dass sein Stiefsohn ihn „auch erstochen“ haben würde, wenn er „nicht wer entrunnen in die Capell“ (ebd.), bleibt dagegen unkommentiert. Dies ist insofern wichtig, als sich der Erzähler oben nur im HE F über eine Tötungsabsicht äußert (vgl. Cgm 572, fol. 32v.), im HE Vb handelt es sich dagegen um ein Gerücht, das auf der Dimension der Figurenrede von einem Namenlosen geäußert und das auf derselben Dimension von Otto aufgegriffen wird (vgl. Han 1, fol. Ciijr. und fol. [Cvj]v.).
430 Vgl. die Gegenüberstellung der Dimension der Erzählerrede in der ersten Reichshandlung mit Ottos Figurendimension S. 456f. im Kap. 3.1.2.2. 431 Auch HE Vb M2 kürzt die Figurenrede, jedoch betrifft dies die Schilderung von Ernsts Mordanschlag auf den Pfalzgrafen (vgl. S. 80).
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Sowohl im HE F als auch im HE Vb berichtet Ernst Otto und den Hofleuten von seiner Orientfahrt. Dafür schickt er nach seinen „wunderlich gestalt hart ergarnet Spillüte[n]“ (Cgm 572, fol. 69r.)432 beziehungsweise nach seinem „wunderliche[n] Volck“ (Han 1, fol. Nr.). Wie oben beschränkt sich ihre Funktion jedoch auch im HE F nicht auf die Funktion höfischer Unterhaltung. Zwar erregen die „vor ongesehen munster“ und „ongehört menschen“ die Schaulust des Publikums, aber mehr noch sind sie Auslöser des „lob[s]“ für den Herzog, das sich mit einer hyperbolischen Formulierung des Erzählers nun „bis Jnn das gestirne“ erstrecke (Cgm 572, fol. 69r.).433 Zusammen mit dem „waure[n] zusagen“ und der „bestettigunge“ durch Wetzelo und der anderen Gefährten (ebd., fol. 69v.) sind sie der beste Beweis für Ernsts folgende Aussagen und damit Garanten für die Wiederherstellung und Überbietung des Ansehens, das Ernst in der ersten Reichshandlung verliert.434 Im HE Vb nutzt Ernst die Wunderwesen, um evident zu machen, „was mancherley gefahr ich erlitten hab“ (Han 1, fol. Nr.). Und dadurch, dass sie die Größe der überwundenen Gefahren veranschaulichen, demonstrieren sie seine Handlungsmächtigkeit. Gleichzeitig nutzt Ernst sie jedoch wie oben der Erzähler (vgl. ebd., fol. [Kvij]r.f.), um die geleisteten Taten zu übersteigern, wenn er nun selbst ausführt, er habe sie „dem Koͤ nig von Armaspi gantz vnderthenig gemacht“ (ebd., fol. Nr.).435 Nicht länger zinspflichtig zu sein, ist aber eigentlich nicht gleichbedeutend damit, über den Gegner zu herrschen.
432 Die HE F-Drucke variieren die Art und Weise, wie Ernst in den Besitz der Wesen gekommen ist, die er nicht länger listig ‚ergarnt‘, sondern sich mühevoll verdient habe (‚erarnt‘, vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. [52]r.). 433 Wie bei diversen Stationen seiner Rückreise kommt es wegen der Wunderwesen zu einem regelrechten Volksauflauf. Während Ernst im HE F sein Gefolge dem Volk präsentiert (vgl. Cgm 572, fol. 69r.), ist der Auflauf im HE Vb so groß, dass die Tore des Saals vor der Menge verschlossen werden müssen (vgl. Han 1, fol. Nr.). – Nur im HE F zeigt Ernst neben den monströsen Völkern des Erdrandes auch „zwaÿn überswarczen schüczlichen moren“ (Cgm 572, fol. 69r.). Zwar handelt es sich nach scholastischer Auffassung auch bei den Wundervölkern um Menschen, wenn sie gesellschaftlich zusammenleben und die artes beherrschen (vgl. Münkler/ Röcke: Völker des Erdrands, S. 758), aber die Mohrenländer sind darüber hinaus Christen. Dass Mohren Ernst nach Babylon begleitet hätten, steht oben nicht (vgl. Cgm 572, fol. 59v.f.). Es ist daher durchaus irritierend, dass sie kommentarlos in die Reihe der Wunderwesen eingereiht werden. Allerdings streicht HE F Knoblochtzer das pejorative Adjektiv ‚scheußlich‘ (vgl. fol. [52]r.). Zur geistesgeschichtlichen Nähe der Diskurse über monströse Völker und die Bewohner Schwarzafrikas vgl. Münkler/Röcke: Völker des Erdrands, S. 739 f. 434 Vgl. ihre Funktion als monstra auch Cgm 572, fol. 61r. – Anders Goerlitz: Heidenkampf, S. 100. 435 Am Rande und ohne eigene Ausdeutung sei angemerkt, dass der Zyklop im HE Vb M2 zwar auch nur ein Auge hat, es handelt sich aber entgegen der Tradition nicht um eines, das sich mittig auf der Stirn befindet, sondern um ein „rechte[s]“ (S. 81).
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Im HE F wird nur erzählt, dass Ernst auf die Bitte der Fürsten hin sechs Tage lang von „groß arbeÿt Sorge schaden vnd komernuß“ sowie diversen göttlichen Gnadenerweisen erzähle (Cgm 572, fol. 69r.f.) und zwar „von anfang bis an das ennde“ sowie „ordennlich nach einander“ (ebd., fol. 69v.). Den Inhalt seiner Erzählung geben – in Auszügen – aber nur die Redaktionen des HE Vb wieder. Nutzt er oben schon die Präsentation der Wunderwesen, um ganz pauschal auf die Kämpfe in Arimaspi zu verweisen, begründet er auch das Fehlen des Sciopoden und eines Kranichmenschen kurz. Dabei gibt er sich als Königsmörder zu erkennen (vgl. Han 1, fol. Nr.f.), was eingedenk des im HE Vb interpolierten Gesprächs über die Verleumdung und den möglicherweise auf Otto ausgedehnten Mordanschlag Konfliktpotential in sich birgt, welches jedoch in keiner Redaktion herausgestellt wird. Die Darstellung der Erzählung bricht mit dem Fund des Karfunkels und dem Vermerk ab, Ernst habe danach „alle geschicht“ erzählt, „wie es jm ferner gangen het“ (ebd., fol. Nijr.). Einen Vergleich dieses Reiseberichts mit den oben erzählten Ereignissen nehme ich bei der Analyse der Dimension der Figurenperspektiven vor.436 Anders als im HE B ‚vergisst‘ der Erzähler in keiner der hier untersuchten Redaktionen, dass Otto von Ernst den Unio (vgl. Cgm 572, fol. 69r.) beziehungsweise den Karfunkel (vgl. Han 1, fol. Nv.f.) geschenkt bekommt.437 Markus Stock erklärt die fehlende Wiederaufnahme des Motivs im HE B spekulativ mit der mündlichen Vortragssituation: Der Waise werde vielleicht deshalb nicht mehr erwähnt, um eine mögliche Nachfrage mit dem Hinweis zu beantworten, dass man ihn in der Reichskrone sehen könne.438 Außerdem lässt Kaiser Otto Ernsts „histori“ sowohl im HE B als auch HE F von „Canczlern vnd Schreibern“ „mit vlissiger warheit“ aufschreiben (Cgm 572, fol. 69v.). Die Ernst-Geschichte wird damit als eine schriftlich fixierte Einheit reflektiert. Sie ist nicht länger an den Körper der Ritter und der Wunderwesen gebunden, an deren Stelle die Autorität der kaiserlichen Kanzlei tritt – eine Vorform des Verständnisses des Romans als ‚Buchtyp‘.439 Eigentlich wäre der Kaiser damit nicht länger auf andere Formen der Präsenz angewiesen.440
436 Vgl. S. 456f. im Kap. 3.1.2.2. 437 Vgl. dazu meine strukturelle Deutung auf S. 471f. im Kap. 3.2.1. 438 Vgl. Stock: Kombinationssinn, S. 224 f. 439 Vgl. zu diesem Verständnis S. 127–129 im Kap. 2.1.1.3. – Dadurch, dass Otto die ganze Geschichte aufzeichnen lässt, integriert er auch Ernsts Abenteuer in Agrippia/Grippia ins Reich, was nach Mareike Klein: Farben der Herrschaft, S. 293 und 301, in Bezug auf den HE B gar nicht möglich sei. 440 Neudeck: Kaiser Otto, S. 176 f., sieht im Vergessen des Waisen im HE B ein Zeichen für die Aufwertung von Ernsts Erzählung und damit der Fiktionalität im Allgemeinen.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Dennoch bittet Otto den Herzog noch um die Zyklopen (vgl. Cgm 572, fol. 69v.). Ähnlich wie im HE B, wo der Kaiser generell danach trachtet, die Wunderwesen zu besitzen, ist Ernst unwillig, überlässt sie dem Kaiser jedoch nolens volens (vgl. ebd.).441 Aber warum beschränkt sich Ottos Wunsch hier auf die Einäugigen? Wie ich unten darlege, geht es kaum um eine allegorische Auslegung gerade dieses Wunderwesens. Ein Bezug auf Ottos fehlende Einsicht in der ersten Reichshandlung würde den erreichten Handlungsfortschritt konterkarieren und die erneute Einsetzung des Herzogs in sein altes Recht schmälern. Ich denke daher, dass seine Wahl nur deshalb auf die Arimaspen fällt, da ihr höfisches Wesen im Roman am ausführlichsten beschrieben wird – neben demselben der Agrippiner. Aber einen Kranichmenschen hat Ernst nicht mit sich ins Kaiserreich gebracht und Otto kann sich daher kein solches Wunderwesen ausbitten. Dass der HE Vb die Bitte und damit das zusätzliche Geschenk auslässt, ist dabei durchaus sinnstiftend. Herzog Ernst hat zu diesem Zeitpunkt seine Handlungsmächtigkeit bereits wiedererlangt. Er hat sich in den Augen seines Stiefvaters „also viel versucht“ (Han 1, fol. Nijr.), dass es keiner weiteren Bestätigung bedarf, damit der Kaiser ihm sein Erbland zurückgibt. Auch dieses Detail ist im HE Vb variiert. Geht es im HE F um Restitution, um die Rückgabe alles dessen, was ihm Otto nach eigenem Erachten „vnrechtlichen“ abgenommen habe (Cgm 572, fol. 69v.),442 überbieten die Redaktionen die ursprüngliche Landvergabe: Ernst erhält „[s]ein Landt wider“ und Otto „will“ ihm „noch mehr Stedt darzuschencken“ (Han 1, fol. Nijr.). Doch ist das nicht einfach ein Akt hyperbolischer Ausschmückung. Schon in der ersten Reichshandlung fällt auf, dass der Diskurs der Rechtmäßigkeit von Ernsts Erbe im HE Vb konsequent ausgeblendet wird, und auch in Bezug auf den Übergang von der Orient- zur zweiten Reichshandlung merke ich oben an, dass die Bearbeitung entsprechende Kürzungen vornimmt.443 Dieser Diskurs wird im HE Vb von dem Prozess der Wiederherstellung der Handlungsmächtigkeit völlig verdrängt.
441 Im HE B bittet Otto Ernst, ihm die Wunderwesen zu überlassen. „[V]ngerne“ erhält er nicht nur den Zyklopen, sondern auch den Panochi und einen Pygmäen (HE B, V. 5984–5989, das Zitat V. 5985). Was den Zyklopen anbetrifft, sieht Stein: Wundervölker im HE B, S. 46, dessen Einäugigkeit im Zusammenhang mit einer „Perversion zum Anti-Abbild einer höfischen Erzählsituation“ als eine „Deformation“. Da sie jedoch eine konkrete Ausdeutung der Eigenschaft unterlässt, kann nur gemutmaßt werden, ob sie diese Normabweichung in malam partem als fehlende Einsicht verstanden wissen möchte (vgl. zur Möglichkeit, die Wundervölker allegorisch zu deuten, unten, S. 441–446). 442 In den HE F-Drucken wird das ‚Unrecht‘ zu ‚Ungerechtigkeit‘ (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. [52]v.). 443 Vgl. S. 368 und S. 412f.
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Im HE F muss sich Ernst dagegen ein letztes Mal beweisen. Erst mit diesem Akt der milte sind „alle[ ] zweiuel[ ]“ an seiner Ehrwürdigkeit als Herrscher ausgeräumt (Cgm 572, fol. 69v.), die in der ersten Reichshandlung aufgekommen sind.444 Er strebt nicht nach Alleinbesitz, sondern ist bereit, die Herrschaft (hier über die Wunderwesen) zu teilen. Otto gibt Ernst daher sein „väterliche[s] erbe“ zurück (ebd., fol. 69v.f.) und nimmt ihn wieder „als [s]einen aigen leiplichen Sune“ an. Im HE F Cgm 572 – und nur in dieser Redaktion – macht Otto Ernst auch wieder zum Ersten im Reich nach Kaiser und Kaiserin, setzt ihn also wieder in jene Position ein, die den Neid des Pfalzgrafen erregt hat (vgl. fol. 28r.): So solle er „Jn meim reiche Nach mir vnd deiner muͦ tter der annder sein“ (ebd., fol. 70r.). In den Drucken wird der bestimmte Artikel durch den Konnektor ‚und‘ ersetzt, wodurch seine hohe Stellung unspezifisch bleibt. Ernst steht im Reich also hinter „mir vnd diner muͦ tter vnd ander“ (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [52]v.). Während Ernst in der Handschrift Ottos Hof verwalten solle („ein außrichter vnd Regierere meins ganczen hofs vnd gesindes“, Cgm 572, fol. 70r., meine Hervorhebung), stellt er ihm in den HE F-Drucken in Aussicht, einem eigenen Hof vorzustehen („ains gantzen hofs“, stellvertretend Knoblochtzer, fol. [52]v., meine Hervorhebung). Genau genommen schließt sich damit nur im Cgm 572 ein Kreis zum Anfang der Haupthandlung, wie auf der Dimension der Erzählerrede aber in allen Redaktionen des HE F hervorgehoben wird: Ernsts Glück habe „sich zümale vast widerumb an dem ennde [...] verkert“ wie es „ain anfang hette[ ]“ (fol. 70r.). Die rahmende Struktur ist evident, zumal der nun welterfahrene und kampferprobte Herzog auch wieder als ‚Kind‘ apostrophiert wird, wenn er Otto „als seim leiplichen vnd natürlichen vater“ „kintliche treẅe“ entgegenbringt (ebd.).445 Die Substitution der Vaterfigur ist erfolgreich vollzogen. Dass Ernst mit der Ausschaltung des ungetreuen Ratgebers selbst die Voraussetzung geschaffen hat, sein Ungehorsam gegenüber dem Vater also handlungslogisch notwendig ist, invisibilisiert der Roman an dieser Stelle. Schließlich ist Otto oben in seinem verblendeten Zorn nicht einmal mehr für die Argumente der im Folgenden als entscheidendes instrumentum Dei apostrophierten Adelheid zu erreichen – und mehr noch: Den Namen des Verleumders erfährt Ernst ja gerade von ihr, die durch göttliche Audition in Kenntnis desselben gelangt (vgl. ebd., fol. 30v.–31v.). Insofern ist es nachgerade
444 Anders als Landbesitz lässt sich Ehre im HE F durchaus noch steigern. So verheißt Otto Ernst künftig weitere „Eren vnd wirden“ (Cgm 572, fol. 70r.). 445 Eine Verschiebung gibt es in den HE F-Drucken hinsichtlich Ernsts Danks. Während er in der Handschrift fleißig für Ottos „guͦ thaite . gnaden . vnd barmherczikait“ dankt (Cgm 572, fol. 70r.), sind in den Drucken Ottos Attribute auf den Herzog bezogen, sodass er mit Fleiß und Gutheit, Gnade und Barmherzigkeit dankt (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [53]r.).
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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konsequent, wenn der Erzähler im HE F das Motiv göttlicher Fügung wieder aufgreift: „[D]urch das verdienen“ Adelheids habe Gott, „der da manigualtige . wunnderzaichen wirckt durch sein lieb hailigen vnd vßerwelten“ (ebd., fol. 70r.), das gute Ende bewerkstelligt. Die Defizienz dieses Handlungsgangs erhellt erst aus dem typologisch auf die Haupthandlung zu beziehenden Wunderteil. Bevor Kaiser Otto zu Speyer, also am Ort des Anschlags auf den Pfalzgrafen, einen „koͤ stlichen hof“ hält und Herzog Ernst mit Graf Wetzelo „in guter rhu“ in ihrer Heimat regieren (Han 1, fol. Nijr.), schließt sich auch im HE Vb ein Kreis zum Romananfang. Diese strukturelle Parallele zum HE F (Cgm 572) ereignet sich jedoch schon, sobald Ernst Otto zu Fuß fällt. Denn nur diese Redaktionen erzählen bereits in der ersten Reichshandlung von einem solchen Fußfall, mit dem Ernst als gutwilliger Sohn dem Stiefvater seine Treue gelobt (vgl. Han 1, fol. Br.).
3.1.1.10 Die zweite Reichshandlung: Die Wunder der heiligen Adelheid als Antitypus und Fortsetzung des Romans In allen Redaktionen beschließen einige Wundererzählungen zum Wirken der heiligen Adelheid den Roman (vgl. Cgm 572, fol. 70r.–71r., und Han 1, fol. Niijr.– [Nvj]v.). Der Erzähler des HE F verbindet diesen Teil der zweiten Reichshandlung insofern mit der abenteuerlichen Versöhnung zwischen Kaiser und Herzog, als sie Gott „durch das verdienen“ der Herzoginmutter bewirkt, wie er auch „sunst uil andre zaichen durch sÿ“ [...] erzaiget“ habe (Cgm 572, fol. 70r.). Die Ernst-Geschichte wird auf dieser Dimension als eines von zahlreichen Wundern dargestellt, „[d]erselben ettliche hernach also geschriben sint“ (ebd.). Trotzdem wird in der älteren Forschung jeglicher Zusammenhang dieser Mirakel mit der Haupthandlung in Abrede gestellt.446 Die folgenden Ausführungen erweisen jedoch sich textgeschichtlich entfaltende Bezüge, die über die rein additive Anknüpfung durch den Erzähler hinausgehen.447 Die Verbindung der Ernst-Geschichte mit den Wundererzählungen nimmt bereits der anonyme Autor des HE C vor. Sie ist, wie oben ausgeführt, Ausdruck einer lokal auf das Elsass und das Bistum Augsburg begrenzten Adelheidfrömmigkeit.448 Die Audition vom Einsturz der Augsburger Kirche und die Heilung eines Gelähmten gehören zum Bestand der miracula des Epitaphium domine
446 Vgl. Bartsch: Herzog Ernst, S. LIV; Heselhaus: Märe und History, S. 223. Doch erkennt Heselhaus immerhin an, dass die „legendarische[ ] Ausschmückung [...], so abseits sie eigentlich von der Dichtung“ liege, „doch so bedeutsam für die neuen Akzentlagerungen“ sei (ebd., S. 241). 447 Vgl. dazu auch Thomas Ehlens Nachvollzug einer „tropologischen Lesart“ des HE C (Ehlen: Hystoria Ernesti, das Zitat S. 136). 448 Vgl. S. 321–326 und S. 330f. in der Einleitung zu Teil 3.
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Adalheide auguste des Odilo von Cluny. Die anderen drei Wundererzählungen sind „der geläufigen Adelheidshagiographie“ dagegen unbekannt.449 Bedenkt man, dass es sich beim HE Vb zum einen um eine protestantische Bearbeitung handelt (vgl. den Slogan auf Ernsts Banner Han 1, fol. Evf., oder die erfolglose Audienz beim Papst ebd., fol. [Lvj]r. und fol. [Lvij]v.) und dass dem Frankfurter Bearbeiter zum anderen ein Sinn für das Augsburger Lokalkolorit seiner Vorlage mangelt,450 wäre es wahrscheinlich, dass die angehängten Wundererzählungen getilgt würden. Dennoch bleiben vier von fünf Mirakeln im HE Vb erhalten. Ja obwohl eines entfällt, baut die Bearbeitung diesen Teil des Romans entgegen der allgemeinen Kürzungstendenz sogar quantitativ etwas aus: Die rund 600 Wörter im Cgm 572 werden im HE Vb Han 1 zu etwa 700 Wörtern vermehrt.451 Darüber hinaus greift der Bearbeiter inhaltlich in die Wundererzählungen ein und stimmt sie auf das Romanganze hin ab.452 Anhand der Anzahl der jeweils erzählten Mirakel lassen sich innerhalb der HE F/Vb-Überlieferung drei Textklassen unterscheiden: Abb. 17: Übersicht über den Wunderepisoden-Bestand der einzelnen HE F/Vb-Redaktionen. Klasse I
Balken-, Heilungs-, Weinbeeren-, Mantel- und Auditionswunder
HE F
Klasse II
Balken-, Weinbeeren-, Mantel- und Auditionswunder
HE Vb ohne Trowitzsch
Klasse III
Weinbeeren-, Mantel- und Auditionswunder
HE Vb Trowitzsch
Ich stelle zunächst die fünf Einzelerzählungen separat anhand ihrer Ausformung im HE F Cgm 572 vor und interpretiere dann ihre Verbindung mit der ErnstGeschichte im Zusammenhang. Anschließend stelle ich die Bearbeitungstendenz des HE Vb näher vor, wobei insbesondere der Wegfall des Heilungsexempels zu bedenken ist. Es folgt eine Analyse des nochmals reduzierten Mirakelbestands im
449 Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 165, mit Hinweis auf die Edition Odilo von Cluny: Die Lebensbeschreibung der Kaiserin Adelheid. Odilonis Cluniacensis abbatis Epitaphium domine Adelheide auguste. Hg. von Herbert Paulhart. Graz, Köln 1962 (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 20/2; Festschrift zur Jahrtausendfeier der Kaiserkrönung Ottos des Großen 2), hier: S. 46 und S. 48. 450 Vgl. Flood: Geschichtsbewußtsein, S. 145 f. 451 Balkenwunder: 248 (Cgm 572) zu 188 Wörter (Han 1), Heilungswunder: 38 zu 0; Weinbeerenwunder: 101 zu 130; Mantelwunder 95 zu 219 und Auditionswunder 132 zu 178. Bei der Zählung bleiben die Schlusswendungen am Romanende ebenso wie die tituli außen vor. 452 Vgl. unten, S. 437–439.
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Druck von Trowitzsch. Innerhalb der Zusammenfassung der zweiten Reichshandlung diskutiere ich dann weiter unten das Sinnstiftungspotential der Wundererzählungen in Verbindung mit den Wundervölkern des Orients,453 von denen Ernst einzelne Exemplare mit ins Reich bringt. Die erste der Wundererzählungen spielt im elsässischen Seltz (vgl. Cgm 572, fol. 70r.f.). Darin, dass sie nicht zum kanonischen Bestand der Adelheidmirakel zählt, erkennt Thomas Ehlen einen Hinweis auf den möglichen Ursprungsort des HE C. Wie auch der Erzähler im HE F ausführt, geht der Bau der dortigen Klosterkirche, die Adelheid selbst zu ihrer Grablege bestimmt, realhistorisch auf die Kaiserin zurück (vgl. ebd., fol. 70r.).454 Bei jenem Kirchenbau habe nach der Mirakelerzählung ein Zimmermann sämtliche Balken zu kurz zugesägt (vgl. ebd.). Er fürchtet, deswegen von Adelheid und ihrer Dienerschaft getötet zu werden, und erwägt, „das lannd [zu] rawmen“ (ebd., fol. 70v.). Dann überlegt er es sich jedoch anders und bekennt im Vertrauen auf „die milten gütikeit der tugendsame[n] keiserin“ sowohl seinen Fehler (seine „schedliche onweÿßheÿte“) als auch seinen verworfenen Plan, das Land zu verlassen – allerdings ohne dabei seine Todesfurcht zu erwähnen (ebd.). Adelheid tröstet den Zimmermann und verabredet sich auf einen späteren Zeitpunkt mit ihm, an dem sie alleine auf der Baustelle sein können. Obwohl er ihr Vorhaben „für ain onsÿnnig gespötte“ hält, gelingt es den beiden bei dieser Gelegenheit, die verschnittenen Balken wieder auseinanderzuziehen (ebd.).455 Diese erste Erzählung charakterisiert nicht nur Adelheid als „senftmütig“ (ebd.) und demonstriert nicht nur ihre Fähigkeit, Wunder zu wirken, sie führt darüber hinaus mit dem Zimmermann eine Figur ein, die sich gleichermaßen durch Zweifel und Vertrauen auszeichnet. Er fürchtet Strafe und Tod und tut sich schwer damit, ein Ereignis contra naturam für möglich zu halten, vertraut aber auf die Kaiserin und wird letztlich dafür belohnt. Die anschließende Heilung eines Gelähmten ist die einzige Wundererzählung, die in den HE F-Drucken nicht in einem eigenen Kapitel steht (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. [53]v.), obwohl sie im Cgm 572 ebenfalls mit einer Initiale abgesetzt ist (vgl. fol. 70v.). Sie gehört zum traditionellen Bestand der Adelheid-Hagiographie, erinnert aber auch an die biblischen Heilungswunder Jesu und der Apostel (vgl. Mt 9, 1–8, Mk 2, 1–12, sowie Lk 5, 17–26, und Apg 3), wo es diskursiv immer auch um die Demonstration der Vollmacht des Gottessohnes geht. Adelheid gibt „eim armen lamen menschen“ in seinem „hüslin“ einen Apfel, durch den dieser „von stundan gerad vnd gesunt“ wird, sodass er auf-
453 Vgl. unten, S. 440–446. 454 Vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 168 und S. 165. 455 Zur Tradition dieses Motivs vgl. ebd., S. 390, Anm. zu V. 2.
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springen kann und „gienge wo hin er wolt on all hindernuß“ (Cgm 572, fol. 70v.). Sieht man den Apfel dabei in Verbindung mit der mariologischen Figurenzeichnung Adelheids – man denke an ihre keusche Josefsehe –,456 so lässt sich ein typologischer Zusammenhang von der Kaiserin mit Eva entwickeln. Die Nennung des Apfels ruft im geistlichen Kontext Assoziationen an die Paradieserzählung auf. Statt ein Gegenstand der Verführung ist er hier jedoch ein Instrument der Heilung. Dann aber ist Eva der Typus und die mariologische Adelheid der Antitypus: Ihr Heilungswunder überbietet den alttestamentarischen Sündenfall. Auffälliger ist jedoch, dass es bei den bisherigen Adelheid-Wundern immer um die Wiederherstellung von Mobilität geht: Wie Ernst durch Adelheids Wirken in sein Vaterland zurückkehren kann, muss der Zimmermann das Land nicht verlassen und der Lahme kann wieder gehen, „wo hin er wolt“ (ebd.).457 Der grundlegende Unterschied der folgenden beiden Erzählungen von den vorhergehenden ist, dass dort durch Adelheid Wunder zum Vorteil anderer gewirkt werden, während ihr hier Gott mit Wundern selbst hilft. So wehrt sie sich gegen eine Verleumdung durch „ettlich böß menschen“ unter ihren Dienern (Cgm 572, fol. 70v.), die ihre demütige Geste, Brosamen vom Tisch aufzuklauben und zu essen, perspektivisch gebunden in malam partem auslegen (vgl. ebd.).458 Macht der HE F nicht explizit, welcher Schuld die Diener Adelheid bezichtigen, vereindeutigt Otto in den Redaktionen des HE Vb, wie ihr Tun gedeutet werden kann, nämlich als ein Akt der avaritia. (vgl. Han 1, fol. Niiijr.). In Folge der Verleumdung erkennt der Kaiser die „verclagten sachen“ mit eigenen Augen (Cgm 572, fol. 70v.), was sich freilich nur auf die Zeichen, nicht aber auf deren Ausdeutung beziehen kann, und gerät wie in der ersten Reichshandlung gegenüber seinem Stiefsohn in unberechtigten Zorn (vgl. ebd., fol. 28v.f.). Dieser Konflikt wird nun nicht diskursiv gelöst, indem Adelheid den Kaiser beispielsweise vom wahren Beweggrund ihres Handelns überzeugt, sondern sie stellt die schützende Behauptung auf, es handele sich bei den Brotkrumen in ihrer Hand um Weintrauben (vgl. ebd., fol. 71r.). Tatsächlich werden die „prosem“ unter dem Sprechen „[i]nn weinberlin verwandelt“ (ebd.). Der Kontext der christlichen Mirakelerzählung legt nahe, dass Gott die Wandlung durch die Heilige bewirkt. So werden die Verleumder zum Schutz der Heiligen auf der Ebene der res Lügen gestraft, obwohl ihre Beobachtung eigentlich richtig und nur die Interpretation der Handlung fehlerhaft ist.
456 Vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 153. 457 HE F Knoblochtzer stärkt den Zusammenhang der beiden ersten Erzählungen des Wunderteils, indem der Erzähler den Gelähmten als „ai[n] andern lamen menschen“ einführt (fol. [53]v., meine Hervorhebung). 458 Sie „kerten das zuͦ dem poͤ sten dorczuͦ sÿ selbs genaÿget waren“ (Cgm 572, fol. 70v.).
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Warum Otto dann „einsmals“ Adelheids Liebe auf die Probe stellen möchte (Cgm 572, fol. 71r.), bleibt im HE F unmotiviert. Handlungslogisch sind die Wundererzählungen lediglich eine Reihung, die zwar zahlreiche Bezugsmöglichkeiten auf die Ernst-Geschichte aufweist, bei der die einzelnen Mirakel jedoch untereinander nur motivisch verbunden sind. Diese Episode wirkt zudem inkonsistent, weil vor dem Mantel-Wunder keine Rede von jenem Zorn ist, den Otto nach der wundersamen Rettung seiner Frau fahren lässt (vgl. ebd.). Doch ist der Zorn des Kaisers gerade eines der Motive, die primär Weinbeeren- und Mantel-Wunder sowie sekundär den ganzen Wunderteil mit der Ernst-Geschichte verbinden. In beiden Fällen benötigt die heilige Adelheid selbst Gottes Beistand. Otto prüft ihren ehelichen Gehorsam, auf dass sie sich entblöße und sich von ihm mit einer Rute schlagen lasse.459 Wie sie ihren Mantel aber „durch oder Jnn der Sonnen scheine“ wirft, hält dieser denselben „als einen schirme“ in der Luft (ebd.).460 Anders als im HE Vb kommt es deswegen gar nicht erst zum Ausbruch der kaiserlichen Aggression. Sofort bittet Otto Adelheid um „ablaße vnd vergebunge“ (ebd.). Ein Vergleich mit der Ausgangssituation zeigt, dass sich Adelheid zwar bereitwillig auszieht, dass es zum zweiten Teil der Liebesprobe aber gar nicht erst kommt. Ottos Einlenken rührt also nicht daher, dass sie die seltsame Prüfung bestanden hätte, sondern er erkennt, dass sich wie beim Weinbeeren-Wunder Ereignisse contra naturam und somit die Intervention Gottes wiederholen. Die Heilige erweist sich als weltlichen Kategorien, nach denen Otto als Ehemann und Kaiser die unbedingte Unterwerfung seiner (Ehe-)Frau einfordert, entzogen. Das letzte Wunder eröffnet Kaiser Otto sogar die Möglichkeit, Adelheids spirituelle Fähigkeit zu überprüfen. „[D]urch den hailigen Gaiste“ erfährt sie vom Einsturz einer Kirche, der sich zeitgleich in Augsburg ereigne (Cgm 572, fol. 71r.). Sie steht dabei in persönlicher Verbindung zu dem zerstörten Gotteshaus; schließlich geht sein Bau auf die Initiative eines „[i]rer nächsten fründe“ zurück (ebd.).461 Otto vermerkt den Zeitpunkt, „als die fraw der kirchen vale hett verkünt“ (ebd.), und entsendet einen Boten an den Ort des Geschehens. Da dieser in Erfahrung bringt, dass die Kirche tatsächlich und zwar just in dem Moment einstürzte, als die Kaiserin durch Audition Kenntnis davon erlangte, wird Adel-
459 Durch das Motiv des Entblößens bestehen Bezüge einerseits zu Adelheids Keuschheitswunsch als Witwe in der ersten Reichshandlung (vgl. Cgm 572, fol. 25v.) und andererseits zu Ottos sexuell motiviertem Lob ihrer Kleidung beim weihnachtlichen Versöhnungsgottesdienst (vgl. ebd., fol. 67r.). 460 Für Motivparallelen in den Hagiographien des heiligen Goar und der Kaiserin Kunigunde vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 392, Anm. zu V. 1. 461 HE F Sorg 3 lockert Adelheids Verbindung zum Erbauer etwas, der hier nur „jrer freünd einer“ ist (fol. [fviij]r.).
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heid am Hof „[i]nn größern eren“ gehalten „denn vor ÿe“ (ebd.). Zum zweiten Mal richtet sich damit eine übernatürliche Stimme an Adelheid. In der ersten Reichshandlung löst die Offenbarung des Namens des Verleumders mittelbar den Dreischritt von Ernsts Schuld, Buße und Vergebung aus, der die Haupthandlung des Romans prägt (vgl. ebd., fol. 31v.).462 Hier wertet das Auditionswunder das eigentlich schreckliche Ereignis um, indem der Einsturz zum Anlass der Steigerung von Adelheids Ehre gereicht. Ihr Ansehen beruht dabei nicht länger auf körperlicher Schönheit oder kaiserlicher Macht (ebd., fol. 67r.), sondern auf ihrer spirituellen Begabung (vgl. ebd., fol. 71r.). Schon bei der Vorstellung des Episodenbestands gehe ich oben auf einige mögliche Bezüge der Wundererzählungen auf die Haupthandlung ein. Im Folgenden werden diese Bezüge systematisch zusammengeschaut. Entscheidendes Bindeglied ist meines Erachtens der kaiserliche Zorn, die entscheidende Vergleichsgrundlage das jeweilige Gottvertrauen der anderen Figuren. Hier wie dort leben am Kaiserhof böse Menschen. Auf der Dimension ihrer Figurenperspektive werden die Handlungen der Protagonisten zum Schlechten hin ausgelegt. Die Diener missdeuten Adelheids demütige Gewohnheit, Brotkrumen zu essen, Heinrich schließt von Ernsts bevorzugter Stellung auf den Wunsch, den Kaiser zu töten, um allein zu herrschen. In beiden Fällen führt die Auslegung ad malam partem zu Ottos ungerechtfertigtem Zorn. Eine weltlich-diskursive Lösung des Konflikts wird nur innerhalb der ersten Reichshandlung erwogen, Adelheids Vorschlag eines Gerichtstages bleibt jedoch eine abgewiesene Alternative. Stattdessen greift Gott in das Geschehen ein. Er schützt die Seinen aber auf individuell abgestimmte Weise. Für die Heilige greift er punktuell in die Naturgesetze ein: verlängert Balken, verwandelt Brosamen und breitet schützend einen Mantel über der Hilfebedürftigen aus. Dem Ritter, der sein Heil nicht immer bei Gott, sondern auch in der Tat sucht, offenbart er mithilfe Adelheids den Namen seines Verleumders. Herzog Ernst erhält die Gelegenheit, sich zu rächen, schuldig zu werden, um von Gott auf einen Weg der Buße geführt zu werden.463 An dessen Ende stehen die Vergebung der Sünden (durch den Papst) und die Versöhnung (mit dem Kaiser). Doch obwohl sich auch Ernst wie Adelheid in zahlreichen Gebeten direkt an Gott wendet, bleibt sein Gottvertrauen anders als das seiner Mutter prekär. Immer
462 Ferner ist an Adelheids Kenntnis von der göttlichen Einflussnahme auf die Beratung über ihre Wiederverheiratung zu erinnern (vgl. oben, S. 349f.). 463 Es sei hier lediglich an die Erwähnungen göttlicher Intervention bei Ernsts Entschluss zur Kreuzfahrt, bei der Rettung aus dem Seesturm bei der Überfahrt von Konstantinopel ins Heilige Land, bei Wetzelos List mit den Ochsenhäuten und dem anschließenden Greifenflug, beim Wiederfinden im Wilden Wald, beim Plan des Floßbaus, bei der Koinzidenz während des Strandspaziergangs und beim Kampf gegen die Babylonier erinnert.
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wieder wird das Motiv des Zweifelns aktualisiert (vor der Floßfahrt, bei der Rückkehr ins Reich oder auch als Todeserwartung am Vortag der Versöhnung). Hierin besteht nun die Verbindung von Ernst-Geschichte und Balken-Wunder. Denn auch der Zimmermann zweifelt. Dennoch offenbart er sich der Kaiserin, deren Strafe er fürchtet, bekennt seinen Fehler und tut schließlich, wie ihm geheißen. Dass sich die Balken gegen ihre Natur in die Länge ziehen lassen, demonstriert den Erfolg eines Vertrauens auf die Allmacht Gottes und zwar angesichts weltlicher Zweifel und Ängste. Am Ende wird Ernst ebenso wie Adelheid die Ehre des Hofes zu Teil. Der Herzog kehrt mit dem Unio und den Wunderwesen, die seine orientalischen Rittertaten auch im Kaiserreich evident machen, zurück. Durch einen letzten Akt der milte stellt er seine Eignung zum Herrscher unter Beweis und wird wieder eingesetzt. Doch trotz des guten Endes der Ernst-Geschichte erweist sich Adelheids Weg, ihre Keuschheit zu bewahren und Ottos Zorn durch ihre spirituelle Begabung zu besänftigen, als Antitypus und damit als typologisch angelegte Überbietung der Haupthandlung.464 Jenes Mirakel, das die typologische Denkungsart im HE F am deutlichsten zum Ausdruck bringt, die Überbietung von Evas Anstiftung zum Sündenfall durch Adelheids Heilungswunder, ist dasjenige, welches als einziges in der Bearbeitung des HE Vb entfällt.465 Wie auch oben für die Haupthandlung zu sehen ist, geht dies jedoch nicht mit einer konsequenten Profanisierung einher. Schließlich bleiben vier der fünf Mirakel erhalten. Außerdem ergänzt der HE Vb nicht nur eine explizite Nennung Gottes als Verursacher der wundersamen Hilfe durch den Sonnenschein beim Mantelwunder (vgl. Han 1, fol. Nvr.), sondern er fügt weiterhin hinzu, dass Otto und Adelheid ihren Lebensabend „nach Gottes willen“ verbringen, bis „GOtt [sie] auß diesem jamerthal zu sich nam“ (ebd., fol. [Nvj]v.). Diese Tendenz setzt sich in der weiteren Textgeschichte fort, wenn in einigen späten Drucken Adelheid nicht länger als „die gute Fraw“ (ebd., fol. Nvr.), sondern als „die gottesfuͤ rchtige Kaiserin“ bezeichnet wird (stellvertretend Zirngibl, S. 87)466 und der Erzähler in HE Vb Singe damit schließt, dass das kaiserliche Paar nach seinem Ableben „in die ewige Frewde“ eingehe (fol. [Kvj]r.). Im Zusammenhang mit der Protestantisierung fehlt zwar der Hinweis auf eine Kanonisierung Adelheids als Heilige (vgl. Han 1, fol. Niijr.), aber der Grundaufbau der tradierten Mirakelerzählungen bleibt erhalten. Allerdings entfallen analog
464 Für den HE C weist Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 120, zudem eine typologisch überbietende Anlage des Romans als eine „christliche Ilias“ nach (das Zitat S. 160). 465 Damit entfällt nicht nur die Typus-Antitypus-Beziehung von Eva und Adelheid, sondern auch das einzige der Wunder, das sich durch eine imitatio Christi auszeichnet. 466 Vgl. HE Vb P1, S. 84; Everaerts, S. 83; M2, S. 83; Trowitzsch, S. 79.
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zum Heilungswunder gerade jene allegorischen Bezüge zur Haupthandlung, die den Mirakelanhang des HE F zur typologischen Überbietung der Ernst-Geschichte machen. Das gilt für die Thematik von Zweifel und Vertrauen beim BalkenWunder (vgl. ebd., fol. Niijr.f.)467 ebenso wie für die Darstellung von Adelheids Konsum der Brosamen als eine Geste der Demut bei gleichzeitigem Wegfall der bösen Diener als Antitypen Heinrichs (vgl. fol. Niiijr.). Stattdessen verbinden die Redaktionen des HE Vb die Ernst-Geschichte auf Handlungsebene mit den Adelheidwundern: Adelheid reitet vom Ort der Versöhnung zum Ort, an dem sich das erste Wunder ereignet (vgl. fol. Nijv.), sie blickt auf Ernsts Rückkehr und dessen Versöhnung mit Otto zurück (vgl. fol. Nijv.f.) und der Erzähler weist auf die sich parallel vollziehende Herrschaftstätigkeit Herzog Ernsts und des Grafen Wetzelo hin (vgl. fol. Nvv.). Des Weiteren ergänzt der HE Vb Überleitungen zwischen den einzelnen Episoden, was zur Motivierung ihrer Abfolge beiträgt (so zwischen Weinbeeren- und Mantelwunder, vgl. fol. Niiijr., oder in Bezug auf das eheliche Zusammenleben vor der Audition, vgl. fol. Nvv.). Durch die Anschlüsse auf Handlungsebene, die Überleitungen und dadurch, dass die im HE F angelegten Handlungskerne auserzählt werden, erweist sich die Bearbeitung des Legendenteils als Literarisierung. So entsteht beim ersten Mirakel, wenn sich Adelheid eingangs und am Ende der Zimmermann freut, eine Rahmung (vgl. Han 1, fol. Nijv.f. und fol. Niijr.). Weiterhin wird das Mantelwunder im HE Vb dramatisiert:468 Der Erzähler nennt explizit, wie Adelheid „mit blossem Leib“ vor Otto steht, und erzählt, wie dieser eine „grosse Ruten“ unter dem Mantel hervorholt. Anders als im HE F versucht er wirklich, seine Frau mit „grosen krefften“ zu schlagen, ehe er nach dem Eingreifen Gottes die Rute wegwirft (fol. Niiijr.–Nvr.).469 Auch Balken- und Auditionswunder zeichnen sich im HE Vb durch zusätzliche Details aus. Die Handwerker haben bereits Mauern hochgezogen (vgl. fol. Niijr.), Adelheid ist vor der übersinnlichen Nachricht vom
467 Was die Figurenzeichnung des Zimmermanns anbetrifft, ist es sinnstiftend, ob er Adelheid neutral „den“ (L2, S. 89; Fleischhauer, S. 90; Zirngibl, S. 86; P1, S. 83; Everaerts, S. 82; M2, S. 82), „seinen“ eigenen (Han 1, fol. Niijr.; Francke, fol. Liijr.; Singe, fol. Kiijv.; Schröter, fol. Kiiijr.; Endter 2, fol. [H6]v.) oder aber „jhr schaden“ anzeigt (von der Heyden, fol. Hijr.). Bei Trowitzsch fehlt die Episode ganz. 468 Eine Tendenz zur weiteren Zuspitzung lässt sich auch anhand minimaler Zusätze in den späten Redaktionen erkennen. Otto wirft Adelheid nun vor, „sehr geitzig“ zu sein, und schlägt „mit allen Kraͤ ften“ auf sie ein und der Zimmermann sägt die Balken „viel zu kurz“ (alle Zitate nach Zirngibl, S. 86, S. 87, S. 86, meine Hervorhebungen; vgl. P1, S. 83, S. 84, S. 83; Everaerts, S. 83, fehlt, S. 82; M2, S. 83, fehlt, S. 82; Trowitzsch, nur die erste Stelle: S. 79). HE Vb Zirngibl ersetzt ferner Adelheids Seufzen beim Auditionswunder durch einen „große[n] Schrecken“ (S. 88). 469 HE Vb L2 mildert aber die Nacktheit wieder (vgl. S. 90), Trowitzsch nimmt die Steigerung wieder zurück (vgl. unten unten, S. 439).
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Einsturz in ein Gespräch mit ihrem Mann vertieft und kommentiert die auditive Offenbarung damit, dass sie Gottes Willen nicht zuwiderhandeln könne (vgl. fol. [Nvj]r.f.).470 Fordert gerade der knappe Berichtsstil im HE F allegorische Bezugnahmen heraus, so gleichen die Interpolationen die Wunderepisoden im HE Vb an die Haupthandlung an. Die einzige der untersuchten Redaktionen, die ein weiteres Mirakel auslässt, ist HE Vb Trowitzsch. Neben dem Heilungs- fehlt hier auch das Balken-Wunder, sodass beide Episoden weggelassen sind, in denen Gott durch Adelheid Dritten hilft. Der Wunderteil des Romans ist damit ganz auf das Zusammenleben des kaiserlichen Paares fokussiert (vgl. S. 79 f.). Sie sitzen beieinander und erzählen sich Geschichten. Würde Otto nicht immer wieder die Harmonie stören, geriete der Wunderteil bei Trowitzsch zur Summe einträchtiger Szenen einer Ehe. Doch er tadelt die aus seiner Sicht schlechte Gewohnheit (im Weinbeeren-Wunder), beauftragt einen Boten, um den Wahrheitsgehalt ihrer übernatürlichen Offenbarung zu überprüfen, und vor allem schlägt er seine Frau, um zu „probieren [...], ob sie ih[n] auch von Herzen“ liebe (S. 79). Immerhin mildert Trowitzsch die Anstößigkeit der Episode, da der Erzähler die konkrete Blöße der Kaiserin invisibilisiert.471 Doch vermag es allein die göttliche Instanz, ehelichen Frieden herzustellen. Das Motiv einer Wiederherstellung von Handlungsmacht spielt bei Trowitzsch wie insgesamt im Wunderteil des HE Vb nur noch insofern eine Rolle, als es die von Gott verliehene spirituelle Fähigkeit der Kaiserin ist, die einen Lebensabend „in Lieb und Einigkeit“ ermöglicht (S. 80). In den HE Vb-Redaktionen bildet das Eheleben bis zum Tod den Abschluss der Handlung. Der Erzähler äußert hier in den früheren Drucken lediglich noch den Wunsch, dass Gott neben Otto und Adelheid auch ihn selbst und die Leser aufnehmen wolle (vgl. stellvertretend Han 1, fol. [Nvj]v.),472 und markiert das Ende des Romans.473 Im HE F fällt die christliche Ausgangsformel deutlich umfangreicher aus. Der Leser wird aufgefordert, mit dem Erzähler Gott darum zu bitten, dass er wegen Adelheids „vnd anderer seiner lieben heiligen verdÿnnuss“ ihnen allen „gesuntheit leÿbes vnd voran der selen“ verleihe (Cgm 572, fol. 71v.). Die Wirkmächtigkeit der Heiligen wird damit auf die Ebene der Rezipienten verlängert. Darüber hinaus erwähnt der Erzähler, dass Gott durch Adelheid nicht nur die im Roman erzählten Wunder gewirkt habe, sondern „noch uil bewerter
470 Damit gibt sie eine Grenze der erreichbaren Handlungsmächtigkeit an. 471 Anders als zahlreiche der anderen Redaktionen bleibt das Ereignis bei Trowitzsch zudem ohne Holzschnitt. 472 Dies entfällt in den späteren Redaktionen ab L2. 473 In HE Vb L2, P1, Everaerts und M2 folgt noch der oben diskutierte Sprichwörter-Anhang (vgl. S. 255–260 im Kap. 2.3.1.2).
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zaichen“ mehr (ebd.). Dadurch macht er explizit, dass es sich beim Mirakelbestand des HE F um eine Auswahl handelt, die letztlich er selbst verantwortet, was die Bezogenheit von Wunderteil und Haupthandlung nochmals erhöht.474 Überblickt man die Ereignisse der zweiten Reichshandlung im Zusammenhang, bestätigen sich einige Tendenzen, die bereits oben für die Bearbeitung des HE Vb festgestellt werden. Die Rückkehr ins Reich und die Versöhnung mit dem Kaiser erfordern im HE F ein größeres Maß an Gottvertrauen, das im HE Vb durch eine ausgeweitete Handlungsmächtigkeit des Protagonisten kompensiert wird. Obwohl Ernst im HE F noch nichts von Ottos Hoftag weiß, kehrt er zurück. Ohne sicher zu sein, dass sich Adelheid am Morgen in der Kirche befindet, riskiert er, den öffentlichen Raum zu betreten. Trotz Todesangst folgt er dem Plan seiner Mutter und liefert dem Kaiser den treuen Wetzelo aus, obschon die Lage angespannt und der Erfolg der List unsicher ist. Immer wieder gibt er damit sein und das Leben seines Gefährten in die Hand Gottes, wo er im HE Vb verfahren kann, ohne dass Gefahr besteht. Dabei handelt es sich weniger um eine primäre Entproblematisierung des Geschehens. Eine solche ist vielmehr Folge der ausgeweiteten Handlungsmächtigkeit des Herzogs. Ernst und Wetzelo planen ihre Rückkehr ins Reich genauer und sie weichen an einem entscheidenden Punkt von Adelheids Partitur der Versöhnung eigenmächtig ab. Außerdem ist die Handlung in diesem Abschnitt gerade durch die hinzugefügten Beratungsszenen klarer motiviert. Die stringente Motivierung und die vergrößerte Handlungsmächtigkeit verkleinern jedoch den Raum, der dem unerklärlichen, weil unerklärten Wirken einer göttlichen Instanz in den Redaktionen des HE F vorbehalten ist. Das gilt sogar für die durch Adelheid gewirkten Wundertaten. In demselben Maße, wie Ottos Handeln motiviert wird, gerät die göttliche Intervention zur bloßen Reaktion. Gezeigt wird im HE Vb die Grenze menschlicher Handlungsmächtigkeit: Weder Otto (insbesondere im Mantelwunder) noch Adelheid (beim zweiten Auditionswunder) kommen gegen den göttlichen Willen an. Im HE F dagegen wird der Rezipient mit einer Reihung von Ereignissen konfrontiert, deren Abfolge (und deren Vorhandensein) nicht auf der Handlungsebene motiviert sind, sondern die nur durch typologische Bezüge in das Romanganze eingepasst werden. Adelheids dritter Weg, den Witwenstand zu verlassen, sich aber dennoch der sexuellen Begierde ihres Mannes zu entzie-
474 Im HE F Knoblochtzer ist die Wendung aber in einer Weise variiert, dass es nicht länger der Erzähler ist, der noch viel erzählen könnte, stattdessen obliege es Gott, noch viele weitere Zeichen durch Adelheid zu tun (vgl. fol. [55]v.). Der Erzähler verliert damit gegenüber den anderen HE FRedaktionen etwas an Souveränität, mit der er über den Erzählstoff verfügt, dafür aber ist die oben bereits angesprochene Verlängerung des Werkes auf die Rezipientenebene intensiviert.
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hen, überbietet den kreuzritterlichen Weg ihres Sohnes, der schuldig werden muss, um – wie die Mutter – durch Gottes Eingriff zum Ziel geführt zu werden. Grundsätzlich lädt auch die Integration von Wunderwesen in den Roman zu einer Berücksichtigung geistiger Formen der Sinnstiftung ein. Anders als das typologische Denken wird das Sinnstiftungspotential der monströsen Völker des Erdrands, die Ernst aus dem Orient mit sich ins Kaiserreich bringt, jedoch in keiner Redaktion aktualisiert. Wie ich im folgenden Exkurs zeige, gilt diese Feststellung auch für den HE B, dessen vollständige Handschriften nur unwesentlich früher als die HE F-Zeugen datieren, und zu dem immer wieder allegoretische Deutungsversuche vorgelegt werden. Der HE B bringt ein „Interesse am Ungewöhnlichen und Phantastischen“ zum Ausdruck,475 wenn im Prolog angekündigt wird, dass im Folgenden „mychel wunder“ erzählt werden (V. 2 f.). Dieses Erzählinteresse wird auf der Handlungsebene gespiegelt, wenn immer wieder von der Verwunderung der Figuren die Rede ist (V. 1774 f., 2311 und 2315, 2731, 2819 und 2829, 2931, 3194, 3380, 4580 f., 5146–5148 und 5466). Als ‚Wunder‘ gelten dabei die Taten der Ritter (V. 3618, 3631, 4433 f., 4974, 5329, 5544, 5670, 5719, 5771, 5997 und 6002) ebenso wie die Leistungen insbesondere grippianischer Handwerkskunst (V. 2460 f., 2535–2537, 2541, 2612, 2700, 2812, 2817 und 4050 f.), die Wesen vom Erdrand (V. 5419, 5458, 5680, 5723, 5816 und 5983)476 und überraschende Wendungen der Handlung – unabhängig davon, ob sie explizit477 von Gott gewirkt werden (V. 2424 f. und 4330 f.) oder nicht (V. 1334 f., 3281, 4023 f. und 4032 f.). Zwar ist es richtig, dass der HE B „nicht nur dem Konsumbedürfnis eines adeligen Publikums nach ‚Wundern‘ entgegen[kommt], sondern [...] auch als Vehikel einer religiösen Unterweisung“ fungiert.478 Aber wenn sich Gott analog zu den Wundererzählungen von der heiligen Adelheid im HE C, HE F und HE Vb auch im HE B einer frommen Frau bemächtigt, um Wunder zu tun, nennt der Erzähler die Folge der göttlichen Intervention nicht ‚Wunder‘, sondern „zeichen“ (V. 251). Die abweichende Formulierung macht deutlich, dass es sich nur im Fall von Ottegebes nicht näher konkretisiertem Wandel um miracula, bei den Ereignissen der Ernst-Geschichte aber um mirabilia handelt. Anders als bei einem miraculum greift Gott bei mirabilia nicht contra naturam in seine eigene Schöpfung ein, Verwunderung lösen sie nur aufgrund der fehlenden Einsicht des
475 Sowinski: Nachwort, S. 416. 476 Zur Bezeichnung der monströsen Völker im HE B als ‚wunder‘ vgl. Antunes: Schwelle des Menschlichen, S. 36 f. und S. 139 f. 477 Ich unterscheide hier nicht zwischen den Dimensionen der Erzähler- oder Figurenrede. 478 Craciun: Bild des Orients, S. 25. Vgl. zur didaktischen Ausrichtung des HE B auch Neudeck: Ehre und Demut, S. 201 f. und S. 207.
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Menschen in den göttlichen Schöpfungsplan aus.479 Im HE F steht dagegen die ganze Ernst-Geschichte als ein „zaichen“ (HE F Cgm 572, fol. 70r.) neben den anderen Wundertaten Adelheids, die im Anschluss an die Haupthandlung des Romans erzählt werden. Da es sich bei den Wundervölkern um „geglaubte [...] Geo- und Ethnophänomene“ handelt,480 ist es meines Erachtens unglücklich, wenn in der HE B-Forschung von einem ‚fabulösen‘ Orient gesprochen wird.481 Offensichtliche Abweichungen von der gelehrten Tradition sollten aber davor warnen, in ihnen ausschließlich „Elemente der gelehrten Erdbeschreibung“ zu sehen.482 Denn schon der Umstand, dass weder die Grippianer noch die Arimaspen in den klassischen Refugien von Erdrandbewohnern – also in Wäldern, Höhlen oder Einöden –,483 sondern in ausgewiesenen Kulturräumen leben, lässt es fraglich erscheinen, dass ihr Zitat lediglich „the poem’s Christian credibility“ erhöhen soll.484 So erinnern die ‚Platthufe‘ auch nur noch entfernt an die antiken Skiapoden,485 haben die arimaspischen ‚Einsterne‘ nur noch wenig mit den sizilia-
479 Vgl. Münkler/Röcke: Völker des Erdrands, S. 724; Wittkower: Wunder des Ostens, S. 97, sowie Friedman: The Monstrous Races, S. 112. – So braucht es nicht zu verwundern, dass die Frequenz der Belege für ‚wunder‘ im Orientteil größer ist als in den beiden Reichsteilen (vgl. Spuler: The Orientreise, S. 411 f.). 480 Stock: Kombinationssinn, S. 295; vgl. dazu auch Giloy-Hirtz: Ungeheuer, S. 195–197 und S. 202–205. – Zweifel an ihrer Existenz gibt es zwar schon in der Antike (vgl. Wittkower: Wunder des Ostens, S. 93–95), aber wenn sich die Indizien im Spätmittelalter auch verdichten, hält man bei der Erforschung des amerikanischen Doppelkontinents weiterhin Ausschau nach den Erdrandbewohnern (vgl. Friedman: The Monstrous Races, S. 198–200 und S. 206 f.). Zudem werden sie im sechzehnten Jahrhundert in den aufblühenden Diskurs um Wunderzeichen integriert (vgl. Wittkower: Wunder des Ostens, S. 124 f. und S. 128–131). 481 Diese Kritik auch bei Barbara Haupt: Herzog in Fernost, S. 163 f. 482 Wehrli: Herzog Ernst, S. 444. – Vgl. allgemein zur Darstellung orientalischer Länder und Völker Szklenar: Bild des Orients, S. 153–177, sowie Friedman: The Monstrous Races, vor allem S. 5–25 (zum traditionellen Kanon bei Plinius). 483 Vgl. Münkler/Röcke: Völker des Erdrands, S. 705. 484 Jürgen G. Sang: Mythical Images and Dimensions in Medieval Orient Travel. In: Dimensions. A. Leslie Willson & Contemporary German Arts and Letters. Hg. von Peter Pabisch, Ingo R. Stoehr. Krefeld 1993, S. 363–372, hier: S. 364. 485 Vgl. die Gegenüberstellung von Gerhardt: Skiapoden, S. 31 f. und S. 57, und die dortigen Versuche, die Abweichungen zu erklären – insbesondere eine mögliche Benutzung der Quellensammlung zum Lucidarius-Projekt Heinrichs des Löwen, ebd., S. 41–53, sowie den Hinweis, dass der HE F-Übersetzer die Beschreibung der Tradition wieder etwas annähert, ebd., S. 64. Vgl. darüber hinaus Claude Lecouteux: Herzog Ernst, les monstres dits ‚Sciapodes‘ et le problème des sources. In: Études germaniques 34 (1979), S. 1–21; Lecouteux: Les monstres, Bd. 1, S. 253 f. und S. 268 f., sowie Antunes: Schwelle des Menschlichen, S. 157 f.
3.1 Die haupttextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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nischen Zyklopen gemein486 und den meisten Raum gewährt das Epos den Kranichmenschen, die gar nicht Teil des klassischen Kanons sind.487 Im christlichen Mittelalter werden die Wunderwesen als Teil des göttlichen Buchs der Natur verstanden, sodass die Elemente ihrer ‚Bedeutungswelt‘ sich ad malam oder ad bonam partem auslegen lassen und „various virtues and vices“ bezeichnen können.488 Zwar erfolgt die mittelalterliche Bedeutungskunde regelgeleitet und darf trotz gegensätzlicher Ausdeutungen einzelner Eigenschaften der res nicht als willkürlich verfahrender Prozess missverstanden werden,489 aber die Austauschbarkeit, die sich schon bei spätmittelalterlichen Moralisierungen zeigt,490 führt in der Praxis zu einem Deutungspluralismus, nach dem beispielsweise die langen Ohren der Panochen sowohl dafür stehen können, dass man wissbegierig in Bezug auf das Böse (Douce-Bestiarium) als auch in Bezug auf das Gotteswort (Gesta Romanorum) sei.491 So ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die moderne HE B-Philologie beim Versuch, Orienthandlung und Wundervölker allegorisch zu deuten, zu abweichenden Erklärungen kommt. Ioana Craciun liest die Ernst-Geschichte als ‚Profanisierung‘ der biblischen Adam-Geschichte, bei welcher der Orient das irdische ‚Jammertal‘ symbolisiere.492 Nach
486 Vgl. Lecouteux: Les monstres, Bd. 1, S. 74, und Bd. 2, S. 18–20; Friedman: The Monstrous Races, S. 15, sowie Giloy-Hirtz: Ungeheuer, S. 197. 487 Zur Sonderstellung der Grippianer gegenüber den Wunderwesen aus Indien und Arimaspi vgl. zuletzt Mareike Klein: Farben der Herrschaft, S. 277–279. Eine Übersicht über Deutungsversuche sowohl innerhalb der mittelalterlichen Bedeutungslehre als auch der modernen Philologie bei Carey: Monstrous Counsel, S. 66–73. Als Ursache ihrer Entstehung erwägt Claude Lecouteux: Die Kranichschnäbler der Herzog Ernst-Dichtung: eine mögliche Quelle. In: Euphorion 75 (1981), S. 100–102, hier: S. 101 f., die Nachricht von einer entsprechenden historischen Missgeburt. Vgl. darüber hinaus Claude Lecouteux: A propos d’un épisode de Herzog Ernst: La rencontre des hommes-grues. In: Études germaniques 33 (1978), S. 1–15; Lecouteux: Les monstres, Bd. 2, S. 94– 98, sowie Horst Brunner: Der König der Kranichschnäbler. Literarische Quellen und Parallelen zu einer Episode des ‚Herzog Ernst‘. In: Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin [2007] 2008 (PhStQ 210), S. 21–37. 488 Friedman: The Monstrous Races, S. 109; vgl. dazu auch ebd., S. 108–130; Münkler/Röcke: Völker des Erdrands, S. 747–750, sowie immer noch Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt [1958] 1977, S. 1–31, hier: S. 9 und S. 16 f. 489 Vgl. dazu Ohly: Geistiger Sinn, S. 6 und S. 9 f. 490 Vgl. Wittkower: Wunder des Ostens, S. 112. 491 Vgl. Friedman: The Monstrous Races, S. 124 f. 492 Vgl. Craciun: Bild des Orients, S. 26. Die Parallele beschränkt sich jedoch auf die globale Struktur eines mit Defizienz verbundenen Aufstiegs, auf den eine zu überwindende Krisensituation und ein erlösender Wiederaufstieg folgen. Konkrete Argumente, warum diese Struktur semantisch mit der Genesis zusammenzudenken sei, bleibt Craciun schuldig. Der Hinweis auf Ernsts
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Alexandra Stein versinnbildlichen die Wunderwesen dagegen eine pervertierte höfische Erzählsituation und stehen damit mittelbar für Scheitern und Wiederherstellung der Kommunikation zwischen Kaiser und Herzog.493 Die Wundervölker in Grippia und Arimaspi werden im HE B außer ‚Wunder‘ auch als „[w]underliche lute“ (V. 2248 und 2923) beziehungsweise „wunderlich folck“ (V. 4816) und „wunderlich gesynne“ bezeichnet (V. 5971). Daneben stehen die wenig charakterisierenden Bezeichnungen als ‚unbekannt‘ („vnkunder“, V. 27, vgl. 3250) und ‚seltsam‘ („seltzen“, V. 2318 und 2850, ähnlich: 2933, 3619, 5330 und 5816 f.). An keiner Stelle des Epos wird aber eine allegorische Auslegung im Sinne der mittelalterlichen Bedeutungskunde aktualisiert. Das gilt ebenfalls für die Dimension des Prologs, wo als Zuhörer nicht Gelehrte in ihrer Studierstube, sondern im Gegenteil welterfahrene Ritter fingiert werden, die aus eigener Anschauung die Erlebnisse des Helden bestätigen könnten (V. 1–30). Auf Handlungsebene setzt sich diese Argumentationsfigur fort, wenn Ernst seine orientalischen Rittertaten auch im HE B durch die Mitnahme der Wunderwesen sichtbar macht und bezeugt.494 Ich stimme insofern vollkommen mit Petra Giloy-Hirtz überein, dass „[d]as Phänomen der Wunder des Ostens [...] nicht naturkundlich untermauert“ wird. Die Besonderheiten der Wundervölker bleiben nach ihr „ohne Folgen für Sozialisation, Normen und Verhaltensweisen“, sodass der Eindruck entsteht, sie seien im Epos „‚entfremdet‘“.495 Angesichts des Aufwands, den mittelalterliche Gelehrte betreiben, um die Erdrandbewohner in den christlichen ordo zu integrieren,496 überrascht die Leichtigkeit, mit der sich Ernst als Herzog in das arimaspische Königtum einfügt. Dies liegt daran, dass der Orient der Ernst-Geschichte eine ‚heterotope Projektionsfläche‘ oder ein ‚Reflexionsraum‘ ist,497 zu deren beziehungsweise dessen
Kreuzzug (vgl. S. 29) reicht meines Erachtens dafür nicht aus. Die Parallelisierung von Bayern mit dem Paradies ist rein suggestiv (vgl. S. 39). 493 Vgl. Stein: Wundervölker im HE B, S. 27, S. 35 und S. 45 f., und dazu die Kritik bei Stock: Kombinationssinn, S. 165/Anm. 74. 494 Vgl. Stein: Wundervölker im HE B, S. 41 f.; Stock: Kombinationssinn, S. 216. 495 Giloy-Hirtz: Ungeheuer, S. 197 (die ersten beiden Zitate) und S. 201 (das dritte). – Neudeck: Kaiser Otto, S. 180–187, sieht in der besonderen Betonung des Wunderbaren der Ernst-Geschichte im HE B ein Fiktionssignal. 496 Vgl. Münkler/Röcke: Völker des Erdrands, S. 715 f. und S. 722, sowie das Kap. L’Eglise et les Monstres bei Lecouteux: Les monstres, Bd. 1, S. 153–236. 497 Zu den Begriffen vgl. Mareike Klein: Farben der Herrschaft, S. 233–235, S. 241, S. 268 und S. 293 f.; Stock: Kombinationssinn, Kapiteltitel für S. 189–217.
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Aufbau Elemente der westlichen Gesellschaft hinzugefügt sind.498 Daher haben meines Erachtens die Wunderwesen weder im HE B noch in der in dieser Arbeit analysierten Prosafassung eine allegorische Sinnqualität per se. Die von den Texten evozierte Sinnstiftungsfunktion beschränkt sich auf Bezüge zur Reichshandlung, die sowohl auf Handlungsebene als auch durch strukturelle Parallelen hergestellt werden. Die Entscheidung, ob es sich dabei eher um die Vorstellung „eigener Wünsche und Ideale“ bei gleichzeitiger Warnung vor „übermäßige[r] Affektivität und physische[r] Gewalt“499 oder doch um die Diskussion des Problems einer Verstätigung von ‚Treue‘ in einem auf Vasallität beruhenden Gesellschaftssystem handelt,500 muss ich für den HE B anderen überlassen. In Bezug auf den HE F/Vb-Komplex ist festzuhalten, dass auch hier eine Ausdeutung der Wunderwesen an keiner Stelle aktualisiert wird. Sie machen Ernsts Abenteuer und damit mittelbar sein unbedingtes Gottvertrauen beziehungsweise seine wiedergewonnene Handlungsmächtigkeit sichtbar und integrieren seine Ritterlichkeit gemeinsam mit seiner Erzählung ins Kaiserreich. Im HE F bieten sie zudem Gelegenheit, die herzogliche milte auf die Probe zu stellen. Auf die komplexen typologischen Bezüge im HE F gehe ich oben ein. Insofern ist es zu modifizieren, wenn es Markus Stock ablehnt, typologisches Denken auf weltliche Kontexte zu übertragen.501 Die Redaktionen des HE F partizipieren auf der Dimension des Haupttextes sowohl an weltlichen als auch an geistlichen Logiken. Der HE Vb behält zwar trotz seiner Tendenz zur Protestantisierung Adelheids Wundertaten bei, doch entfallen die entscheidenden Hinweise auf ein typologisches Verständnis des Romans. Im Hinblick auf die Wundervölker beobachtet Christoph Gerhardt zudem ein nur „begrenztes und eher antiquarisches 498 Vgl. dazu auch Craciun: Bild des Orients, S. 26 und S. 33; Nushdina: Darstellung des ‚Fremden‘, S. 150–155, und Barbara Haupt: Herzog in Fernost, S. 165. – Insofern ist es falsch, wenn Classen: Die guten Monster, S. 29, im Zusammenleben der Ritter mit den Arimaspen „praktisch ausgeübt[en]“ „Multikulturalismus“ erkennen möchte. Durch die höfische Zeichnung des Zyklopenreiches handelt es sich vielmehr um Monokulturalismus, wobei Abweichungen des Glaubens und der Wesenheit über weite Strecken invisibilisiert werden. 499 Mareike Klein: Farben der Herrschaft, S. 268 und S. 252. Vgl. dazu auch Rasma Lazda-Cazers: Hybridity and Liminality in Herzog Ernst B. In: Daphnis 33 (2004), S. 79–96, hier: S. 82 f. und S. 91–93. 500 Vgl. Stock: Kombinationssinn, S. 214 f. und S. 227 f. Vgl. dazu auch Carey: Monstrous Counsel, S. 54 f. und S. 62–64. – Nach Hans-Joachim Behr: Ungeheuer und Monstren oder Wie es einem bayerischen Herzog gelingt, aus dem Ungehorsam der Frauen gegenüber (männlichen) Autoritäten Kapital zu schlagen. In: Standpunkte und Impulse. Hg. von Iwona Bartoszewicz u. a. Wroclaw 2007 (Germanica Wratislaviensia 127; Acta Universitatis Wratislaviensis 2940), S. 7–21, hier: S. 19 f., geht es bei Ernsts Kämpfen mit den Wunderwesen allein um „die Rehabilitation des Helden“ (das Zitat S. 19). 501 Vgl. Stock: Kombinationssinn, S. 14 f.
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Interesse“,502 mit einer allegorischen Ausdeutung einzelner Eigenschaften wird trotz der zeitgleichen Konjunktur der Wunderzeichendeutung nicht gerechnet – aber das gilt für HE F und HE B ebenso.
3.1.2 Ausgewählte Beispiele von Sinnstiftung auf Erzähler- und Figurendimension Die Erzählerrede und die Perspektiven einzelner Figuren sind haupttextuelle Dimensionen, die am Prozess der Sinnstiftung eines Romans partizipieren. Die erzählte Welt und die Geschichte des Helden entspringen der Verfügungsgewalt des Erzählers, die sich nicht zuletzt in der Anordnung des Erzählten äußert, aber – was im Folgenden vor allem interessiert – in der Verteilung der Erzählung auf seine eigene und die Rede der verschiedenen Figuren.503 Besonders klar tritt ihr Konkurrieren um die Deutungshoheit hervor, wenn sie Anteil haben am Prozess des Erzählens der Geschichte von Herzog Ernst. Dies ist dann der Fall, wenn namenlose Pilger, Adelheid, Otto und Ernst selbst in variierenden Wiederaufnahmen je eigene Perspektiven auf das Geschehen eröffnen. Es zeigt sich im Folgenden, dass es bei der Fremd- und Eigendarstellung zu Verkürzungen und Vereindeutigungen kommt und dass gegenüber dem Leser Bekanntes betont, bewertet, verfremdet, verfälscht oder einfach weggelassen wird. Dabei forcieren Auswahl und Anordnung von Einzelaspekten auch neue Verknüpfungen und Bezüge. Es kommt zu typologischen Bezugnahmen und zu Rückgriffen auf die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn als eine Möglichkeit sinnstiftender Weltdeutung. So kann die Rede einer Figur eine buchstäbliche Bedeutung auf der Handlungsebene haben, wobei der jeweilige Adressat zu beachten ist, zugleich aber vermag sie, das Geschehen allegorisch, moralisch-tropologisch und/oder anagogisch auszudeuten.
502 Gerhardt: Skiapoden, S. 66. 503 Zu allgemeinen Bemerkungen bezüglich Erzähler und Figur als haupttextuelle Dimensionen narrativer Sinnstiftung vgl. S. 292–294 im Kap. 2.3.3.3. Zu Äußerungen des Erzählers in Form von Kontextglossen sowie zu seinem Exkurs über Kaiser Otto vgl. S. 516–520 im Kap. 3.3.3. – Die vorliegenden Arbeiten, die sich am Rande auch mit dem Erzähler im HE F befassen, helfen bei der genaueren Unterscheidung sinnstiftender Dimensionen wenig weiter. Nushdina: Darstellung des ‚Fremden‘, S. 18 f., hebt lediglich hervor, dass der Erzähler hinter seinen Roman und hinter die Tradition der Ernst-Geschichte fast vollständig zurücktrete. Ringhandt: HE-Fassungen, S. 16, kündigt zwar an, Welt- und Menschensicht des Erzählers sowie die von ihm beschriebenen Lebensformen zu untersuchen, vermischt dann allerdings bei den folgenden Ausführungen die Dimensionen des Romans.
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Auf den verschiedenen Dimensionen des Haupttextes entspinnt sich so eine komplexe Ernst-Geschichte, die im Laufe der Textgeschichte immer wieder etwas anders erzählt wird: eine Geschichte des Triumphs oder der eigenen Passion. Eine Geschichte, welche die Leidens- oder gerade umgekehrt die Handlungskompetenz des Helden hervorhebt.
3.1.2.1 Rückblicke der Figuren auf das Geschehen Zum Monolog der sterbenden Prinzessin in Grippia merkt Bernhard Sowinski in seiner Ausgabe des HE B Folgendes an: „Die [...] Erzählung der Ereignisse in Indien wiederholt (der Neigung des Dichters entsprechend) Bekanntes und ergänzt es.“504 Diese Äußerung ignoriert nicht nur den beträchtlichen zeitlichen Abstand von Werkentstehung und Überlieferung, sie ist auch blind für die Dimensionalität – in diesem Fall – des Versepos. Da die vorausliegende Analepse vom Erzähler und die vorliegende von einer Figur stammen, würde es sich selbst bei identischem Wortmaterial um keine Wiederholung handeln. Darüber hinaus weist Sowinski selbst auf Ergänzungen und damit auf Varianz hin, die im Hinblick auf ihre Funktion beziehungsweise ihren Beitrag zur Sinnstiftung des Werkes zu untersuchen wäre. Der Befund, so man ihn dahingehend modifiziert, dass Ereignisse mehrfach und aus unterschiedlicher Perspektive erzählt werden, kann im Übrigen auch für den HE F/Vb-Komplex Geltung beanspruchen. Besonders auffällig ist hier, dass Ernst seine eigene Geschichte wieder und wieder wechselnden Zuhörern erzählt. Aber auch andere Figuren haben Anteil daran, dass sich sein Ruhm und damit seine Geschichte „als ein süsser honige“ verbreitet (Cgm 572, fol. 63r.).505 Erstens warnt der babylonische König die Heiden ganz rudimentär vor Ernsts Tapferkeit (vgl. ebd.). Zweitens erreichen noch vor der Ankunft des Helden unterschiedliche Nachrichten Jerusalem. Im HE Vb hat der König der Stadt bereits durch Pilger von Ernsts Aufbruch zum Kreuzzug und dem Untergang der griechischen Schiffe erfahren (vgl. Han 1, fol. Lijv.), ehe ihm der Herzog „alle ding“ selbst erzählt (ebd.). In den Redaktionen des HE F ist nicht nur die ganze Bevölkerung informiert, ihre Kenntnis ist vor allem um ein Detail reicher. Denn neben dem Untergang der Schiffe wissen sie, dass die Kreuzfahrer „all [wern] verdorben Jnn dem Sirtischen mere“ (Cgm 572, fol. 62r.).506 Ihnen sind damit die beiden großen Unglücksfälle, die sich auf dem Meer ereignen, bekannt. Auf die dazwischenlie504 Sowinski: Anmerkungen, S. 384, Anm. zu V. 3548 ff. 505 Zitat nur in den Redaktionen des HE F. 506 Die HE F-Drucke haben die gemeinsame Variante ‚irdisches Meer‘ (vgl. stellvertretend Knoblochtzer, fol. [45]v.).
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gende Agrippia-Episode gibt es aber ebenso wenig einen Hinweis wie auf Ernsts Kämpfe in und um Arimaspi. Es ist Ernst vorbehalten, von diesen Abenteuern zu berichten und sie mit den mitgebrachten Wunderwesen zu bezeugen. Ernsts Anwesenheit in der Heiligen Stadt hat aber ihrerseits ebenfalls Nachrichtenwert, sodass drittens Pilger im Kaiserreich darüber berichten (vgl. Cgm 572, fol. 63r., und Han 1, fol. Liijr.). In allen Redaktionen erfährt Otto, dass Ernst in Jerusalem weile und dass die Haare seines Stiefsohns ergraut seien. Als die Herzoginmutter davon hört, mutmaßt sie über die Ursachen. Es bleibt in der Schwebe, ob sie mit dem „manige[n] übel vnd onuell“ (Cgm 572, fol. 63v.) beziehungsweise mit dem „nit [...] kleine[n] vngluͤ ck“ und „grossen schaden“ (Han 1, fol. Liiijr.) auf die Ereignisse der ersten Reichshandlung anspielt oder auf seine Orientabenteuer. Allerdings fehlt ihr in Bezug auf letzte in allen Redaktionen jegliche Kenntnis. Zum Teil liegt dies aber an Kaiser Otto, der im HE Vb die erhaltenen Informationen selektiv weitergibt und nichts davon erzählt, dass „viel wunderliche[ ] Leut auß seltzamen landen“ Ernst begleiten (ebd.). Aus der Perspektive dritter wird die Ernst-Geschichte also verkürzt und in unterschiedliche Richtungen vereindeutigt. Die Beispiele evozieren Bilder der Ernst-Figur als tapferer Heros, als glückloser Seefahrer, als ergrauter Pilger und als von Wundern umgebener Abenteurer. Erst in der Summe nähern sie sich der Komplexität der Romanfigur und ihrer Geschichte an. Was Ernsts eigene Rückblicke anbetrifft, sind Erzählungen innerhalb der ersten Reichsgeschichte, die sich demnach nur auf einen kleinen Ausschnitt der Ernst-Geschichte beziehen können, von später geäußerten zu unterscheiden, die sich trotz des erreichten Handlungsfortschritts auf die Ereignisse im Reich beschränken. Besonderes Interesse verdienen im Hinblick auf die sinnstiftende Funktion der Figurenperspektive allerdings Ernsts große Rückblicke gegenüber dem zyklopischen Stadtgrafen und Kaiser Otto. Zunächst gehe ich auf drei Stellen innerhalb der ersten Reichshandlung ein, an denen der Herzog in direkter Figurenrede an vorausliegende Ereignisse denkt. Als er vom Überfall der Kaiserlichen auf Bamberg erfährt, erinnert Ernst im HE F an das friedliche Zusammenleben und stellt seinen eigenen „vliss“ heraus, mit dem er Otto gedient habe, „als obe er [s]ein leiplicher vater were“ (Cgm 572, fol. 29v.). Die Dimension der Figurenperspektive wird also genutzt, um die einzelnen Elemente der Handlung nochmals explizit miteinander zu kontrastieren. An der entsprechenden Stelle im HE Vb bleiben seine Verdienste dagegen unerwähnt und er fragt Gott stattdessen in Anwesenheit Wetzelos, was für eine „verraͤ therey“ wohl vorgefallen sein möge (Han 1, fol. Bvr.). Kenntnis von der tatsächlichen Verleumdung hat Ernst zu diesem Zeitpunkt nicht. Die Schlussfolgerung, dass einzig und allein Verrat den Verhaltenswandel seines Stiefvaters hervorgerufen haben könne, ist jedoch die logische Konsequenz aus den Ereignissen, an die
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Ernst im HE F erinnert und die hier stillschweigend vorausgesetzt sind. Dass mit Wetzelo die einzige Figur mit einem Namen anwesend ist, die ihm später bei der Rache am Pfalzgrafen Heinrich behilflich ist, verstärkt noch den prospektiven Charakter des eigentlichen Rückblicks. Ernst zieht nicht nur selbst die richtigen Schlüsse, was bereits auf seine Handlungsmächtigkeit hindeutet, sondern er wendet sich – anders als im HE F, wo er allein dem Boten antwortet – gleich derjenigen Figur zu, mit der er später die eingetretene Krise gewaltsam zu lösen sucht. Ehe Ernst vor 50 ausgewählten Rittern seine militärische Niederlage einräumt und seinen Entschluss, einen Kreuzzug ins Heilige Land zu unternehmen, verkündet, erinnert er im HE F ausführlich (vgl. Cgm 572, fol. 36v.f.), im HE Vb deutlich knapper (vgl. Han 1, fol. Dvr.f.), an das vorausliegende Kriegsgeschehen.507 Zwei Aspekte sind dabei in HE F und HE Vb identisch: Der Zorn des Kaisers habe ihn unverdientermaßen getroffen (vgl. Cgm 572, fol. 36v. und fol. 37r.) und das andauernde Blutvergießen müsse ein Ende finden, da es Unschuldige (vgl. HE Vb Han 1, fol. Dv.f.) beziehungsweise Gottes Geschöpfe treffe (vgl. HE F Cgm 572, fol. 37r.). Ausschließlich im HE F reflektiert Ernst dabei, dass auch er selbst und seine Ritter mit „manigualtiger manslachte vnd andrer [s]einer süntliche[n] ongerechtikeite“ einen Beitrag zum allgemeinen Unrecht geleistet haben. Ob diese Überlegung auch den Mord am Pfalzgrafen einschließt, lässt der Text offen. Es gibt allerdings keine Hinweise, die eine Verallgemeinerung über das aktuelle Kriegsgeschehen hinaus nahelegten. Die Dimension der Figurenrede wird also genutzt, um entweder Schuld zu invisibilisieren (HE Vb) oder um gerade umgekehrt die Einsicht einer Figur in die eigene Sündhaftigkeit zumindest partiell zu explizieren (HE F). In beiden Fällen diskreditiert die Rückschau Ottos Handeln, von dem sich die anschließende Kreuzzugshandlung umso deutlicher absetzt. Weniger durch das, was Ernst erzählt, als durch das, was er zu erzählen unterlässt, zeichnet sich seine Figurenrede gegenüber dem Herzog von Sachsen im HE F aus. Otto habe ihm „uil onrechts vnd schedlichs übels [...] on alle verdiente schuld“ zugefügt (Cgm 572, fol. 34r.). Die genauere „vßlegunge vnd vrsache“ müsse er aber nicht darlegen, da dies zum einen „zelang“ für den Sachsenherzog sein würde und zum anderen ohnehin Gegenstand „gemainer lannds vmbrede“ sei (ebd.). Wie bei der Ansprache an die Kreuzritter ist auch in dieser Figurenrede eine eindeutige Benennung von Ernsts und Wetzelos Anschlag in Speyer vermieden. Das angesprochene Gerücht kann sich auf Mord und Ver-
507 Wie ich unten weiter ausführe, ist die Figurenrede im HE F entsprechend der Ebenen des mehrfachen Schriftsinns aufgebaut (vgl. S. 463f.).
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leumdung gleichermaßen beziehen.508 En passant bringt Ernst damit zum Ausdruck, dass seine Geschichte selbst in jenen Teilen des Reiches Tagesgespräch ist, die nicht direkt vom Krieg des Kaisers gegen den Herzog betroffen sind. Die Redaktionen des HE Vb halten die Spannung der markierten Leerstelle indes nicht aus und lassen Ernst sowohl von der „verraͤ terey“ als auch von seinem Mord erzählen (Han 1, fol. Cvr.). Dieser stellt sich aus seiner Figurenperspektive freilich als „verdiente[r] lohn“ dar (ebd.), wodurch der Rückschau die Funktion zuwächst, Deutungshoheit über das Vergangene zu erlangen. Bei der rückblickenden Figurenrede handelt es sich um die vermeintlich subjektivste Dimension narrativer Sinnstiftung, da ein bereits zuvor narrativ etablierter Weltausschnitt aus der Perspektive einer einzelnen Figur ausgewählt und dargestellt, d. h. gleichzeitig: interpretiert, wird. Der Roman erweckt den Eindruck, die Auswahl sei dem Kalkül einer Figur zuzurechnen und das weitere Geschehen sei durch ihre Verfügungs- und Deutungsgewalt zu beeinflussen. Doch zeigt sich an verschiedenen Stellen die Verfügungsgewalt des Erzählers, der in der Rede seiner Figuren einzelne Teile indirekt berichten oder weglassen kann und somit die ‚Subjektivität‘ dieser Dimension als bloßen Schein entlarvt. Gegenüber dem König von Babylon beschränkt sich Ernst bei der Rekapitulation seiner Geschichte ganz auf die Orientabenteuer, sodass er den Heiden durch den Eindruck seiner Ritterlichkeit für sich gewinnt.509 Im Vatikan ist seine Erzählung dagegen gerade umgekehrt auf das Kriegsgeschehen der ersten Reichshandlung fokussiert (vgl. Cgm 572, fol. 64v.).510 Der Papst und die römischen Senatoren bitten ihn, „all histori vnd verlauffen seiner vnaußleglichen arbeÿt“ zu erzählen. Ernst entspricht der Aufforderung, geht dabei aber nicht im ordo natu
508 Während diese Leerstelle Teil der histoire ist, finden sich Auslassungen innerhalb von Figurenreden auch auf der Ebene des discours. An diesen Stellen schaltet sich der Erzähler ein und gibt Teile der Figurenrede nur indirekt wieder. So präsentiert Ernst dem König von Babylon seine Wunderwesen und erzählt, dass er solcher „in seltzamen Landen“ teilhaftig geworden sei (Han 1, fol. Kiijr.). Der Erzähler unterbricht jedoch die Rede, die „vom anfang seiner außfarth/ biß auff diesen tag“ alle Stationen der Ernst-Geschichte umfasse (ebd.). Demnach beschränkt sich der Herzog auf seine Abenteuer im Orient. Die Taten der ersten Reichshandlung bleiben unabhängig von jeder Schuld-Frage ausgespart. Wenn er es mit seiner Erzählung auf Handlungsebene erreicht, dass der König seine Verweigerungshaltung gegenüber Ernsts Vorschlag aufgibt, kommt es nicht etwa auf Mitleid mit einem zu Unrecht Vertriebenen an, entscheidend ist gegenüber dem heidnischen Herrscher allein die Tapferkeit des Ritters, mit der er die vorgestellten Wesen unter seine Gewalt gebracht hat. Keine vergleichbare Einschränkung hat der Einwurf des Erzählers im HE F. Hier überzeugt Ernst durch „alle histori vnd leüffe seiner grossen Sorg vnd Arbaÿte die er bis her auf den tage [...] hett erlÿtten“ (Cgm 572, fol. 58v.). 509 Dies nur im HE Vb, vgl. S. 401 im Kap. 3.1.1.7. 510 In den Redaktionen des HE Vb fehlt an dieser Stelle jegliche Rückschau (vgl. Han 1, fol. [Lvj]r.).
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ralis vor. Denn am Ende steht seine Klage über „[s]ein ongütlich vnd onrechte vßtreÿbung von seiner herschaft vätterlichem erbe vnd besiczung seiner gütter“. Dass er Abenteuer sowohl am Rande der bekannten Welt (Arimaspi und Indien) und jenseits davon (Agrippia) ausgestanden hat, gerät zu einem Generator nicht nur der Ehre, sondern vielmehr der Fallhöhe, die Ottos Handeln im ersten Reichsteil umso verurteilenswürdiger macht.511 Bei der anschließenden Beichte erhält der Herzog dementsprechend die Vergebung der Sünden, die er „mit prennen rauben mit manslachte vnd Jn anderer weÿse“ im Krieg gegen Otto auf sich geladen hat (ebd.). Ich springe zum Gespräch zwischen dem als Bettler verkleideten Herzog und seiner Mutter Adelheid, das am Vortag des Weihnachtsgottesdienstes und der Versöhnung mit Otto stattfindet.512 Ernst hat Adelheid in der Kirche gesucht und gefunden. Er bittet sie und erhält von ihr „räts vnd müterlicher hilfe“ (Cgm 572, fol. 66r.). Und noch im Inkognito des gnadebedürftigen Bettlers „clopf[t]“ er „an die tür [ihrer] parmherczikait“ (fol. 65v.) und erhält die Zusicherung ihrer Fürsprache beim Kaiser (vgl. fol. 65v.f.). Es handelt sich hierbei insofern weniger um eine „rührende[ ] Familienszene“513 als um ein in Handlung aufgelöstes Zitat des Evangeliumsverses Mt 7.7. Damit wird der Anteil Gottes an der erfolgreichen Versöhnung indirekt demonstriert. Darüber markiert dieses Beispiel ein Extrem des Spektrums der Ernst-Geschichten innerhalb des Romans. Auf Adelheids Fragen an den Bettler, was er „todwirdigs begangen“ habe (fol. 65v.), „was [s]ein schulde vnd verhandlung seÿ“ (fol. 66r.) und woher er eigentlich komme, antwortet Ernst mit der komprimiertesten Ausprägung seiner Lebensgeschichte: „fraw Jr seÿt mein muͦ ter“ (ebd.).514 Was schon lange Gegenstand „gemainer lannds vmbrede“ ist (fol. 34r.) und hier augenfällig wird, bedarf gerade gegenüber der Mutter keines weiteren Wortes. Evidenzfunktion haben hier aber nicht wie an vielen anderen Stellen die
511 Auf der Ebene des discours wird die Pointierung durch den Erzähler für den Rezipienten nochmals verstärkt, wenn er allein diesen Teil wiedergibt, die Erzählung der Orientabenteuer jedoch auslässt (vgl. Cgm 572, fol. 64v.). 512 Für die Parallelstelle im HE Vb vgl. S. 417–420 im Kap. 3.1.1.8. 513 Gerhardt: Verwandlungen, S. 74. 514 Eine minimale Ausformung seiner Geschichte äußert Ernst ebenfalls inkognito gegenüber Otto, wobei man eigentlich nur in den Redaktionen des HE Vb von einer Geschichte sprechen kann. Er sei „ein[ ] suͤ nder/ der jrgendts auff ein zeit etwas wider euch gethan hat“ (Han 1, fol. Mvv.). Erst wenn Ernst seine Geschichte so weit camoufliert, dass irgendwer irgendwann irgendetwas getan habe, ist gewährleistet, dass er unerkannt bleibt. Ein höheres Maß an Unbestimmtheit einer Lebensgeschichte ist jedoch kaum möglich. – Der Parallelstelle im HE F fehlt jegliche Ereignishaftigkeit. Ernst benennt hier nur seine Unschuld und die Abneigung des Kaisers (vgl. Cgm 572, fol. 67v.).
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Wunderwesen, sondern Ernsts graue Haare. Doch belegen sie nicht das ritterliche Bestehen von Abenteuern, sondern sie sind Zeichen der erlitten Not und Mühsal. Die enge Verbundenheit zwischen Mutter und Sohn kommt zum Ausdruck, wenn Ernst zur Erklärung seines unnatürlich frühen Alterns weitere Rudimente seiner Geschichte nachträgt und dabei eben jene Verse wählt, mit der Adelheid weiter oben die entsprechende Nachricht ihres Mannes kommentiert: „Solich graw har vnd alt gestalte . kompt mir uon übel manigualte . Groß sorg vnd arbeÿt die mir anleyt . machent mich graw vor rechter zeite“ (fol. 66r.). Zwei große Rückblicke ermöglichen im Vergleich mit der vom Erzähler dargestellten Handlung Auswahl und Darstellungsweise als sinnstiftende Operationen auf der Dimension der Figurenrede zu untersuchen: Ernsts Erzählungen beim zyklopischen Stadtgrafen und nach der Versöhnung gegenüber seinem Stiefvater Kaiser Otto. In beiden Fällen verweigert Ernst zunächst jegliche Erzählung, da ihn dies vor der Versöhnung das Leben kosten würde (vgl. Cgm 572, fol. 67v., und Han 1, fol. Mvv.) beziehungsweise weil er zunächst auf die Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse drängt (vgl. Cgm 572, fol. 50r.f., und Han 1, fol. [Gviij]r.). Sobald sich in beiden Fällen die äußeren Umstände gewandelt haben, kommt es zu einem Gespräch im Privatissimum des jeweiligen Herrschers. In Arimaspi erwähnt Ernst sowohl im HE F als auch im HE Vb das Kaiserreich als Ausgangspunkt seiner Reise und geht dann vor allem auf die ersten Stationen im Orient ein. Im Zusammenhang mit der Präsentation der Wunderwesen und der Übergabe des Unio berichtet der Erzähler im HE F, dass Ernst sechs Tage lang – bestätigt durch Wetzelo und die anderen Ritter sowie durch die Präsenz der monströsen Menschen – Otto seine Geschichte „von anfang bis an das ennde“ und „ordennlich nach einander“, also im ordo naturalis, erzähle (Cgm 572, fol. 69v.). Den Inhalt dieser Erzählung geben nur die Redaktionen des HE Vb und zwar in direkter Figurenrede wieder. Otto zeigt dabei seine Perspektive auf die Verschwörungshandlung des ersten Reichsteils auf und Ernst ergänzt einen Bericht seiner Erfahrungen im Orient. Die Ereignisse der ersten Reichshandlung werden in Ernsts Erzählung gegenüber dem arimaspischen Grafen in den HE Vb-Redaktionen fast vollständig ausgeblendet: keine Rede von Verschwörung, Krieg, Mord oder Vertreibung, aber auch nicht von der Phase friedlicher Herrschaft. Er benennt lediglich die geographische („auß Deutschlandt“) und familiäre Herkunft, wobei er den „[a]ller gewaltigst Keiser in der Christenheit“ als seinen „Vatter“ bezeichnet (Han 1, fol. [Gviij]v.). Die Gründe, warum er „ein wahlfart [...] zum Heiligen Grab“ unternehmen wollte (ebd.), bleiben also außen vor. Er präsentiert sich als Sohn eines mächtigen Herrschers auf christlicher Mission. Der Schwerpunkt der Parallelstelle im HE F liegt ebenfalls auf dem Entschluss, nach Jerusalem zu ziehen (vgl. Cgm 572, fol. 50v.). Doch möchte er die Stätten von Christi „gepurte vnd heiligen
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marter“ (ebd.) als ein Opfer des mächtigsten Kaisers der Welt aufsuchen. Dieser, den er nicht als seinen Stiefvater zu erkennen gibt, habe ihn „wider got vnd alle gerechtikaÿte“ aus seinem Vaterland vertrieben (ebd.). Darauf, dass dem Zuhörer die christliche Heilsgeschichte ebenso fern steht wie die europäischen Machtverhältnisse, nimmt Ernst in keinem Fall Rücksicht. Aber während er sich im HE Vb als handlungsmächtiger Weltreisender einführt, stilisiert er sich im HE F als vertriebener und hilfebedürftiger Pilger. Auf Ottos Figurenrede zur Verleumdung des Pfalzgrafen (vgl. Han 1, fol. [Mvij]v.f.) gehe ich unten bei der Diskussion der Perspektiven auf Heinrichs Ermordung und eine etwaige Absicht des Herzogs, auch den Kaiser zu töten, näher ein. Ernst nimmt vor der Erzählung seiner Fahrt Stellung, indem er sich verteidigt und den Mord zur logischen Folge aus der Verleumdung erklärt. Weder im HE F noch im HE Vb erwähnt Ernst gegenüber dem Stadtgrafen die ehrenvolle Aufnahme in Ungarn und beim Kaiser von Konstantinopel. Die Erzählung seiner Fahrt beginnt stattdessen mit dem Seesturm und dem Untergang der griechischen Begleiter, Ritter, die der hilfebedürftige Pilger „mitgenossen“ (Cgm 572, fol. 50v.), der handlungsmächtige Reisende aber „gesind[e]“ nennt (Han 1, [Gviij]v.). Gegenüber Otto fehlt jeglicher Hinweis auf den ersten Teil der Ausfahrt (vgl. ebd., fol. Nr.f.). Einen Kranichmenschen kann Ernst nicht mit sich ins Kaiserreich bringen. Als Grund gibt er an, dass er den König dieses großen Reiches erstochen habe (vgl. ebd., fol. Nv.). Strukturell ist damit eine Parallele zur ersten Reichshandlung aufgezeigt, die auf Handlungsebene jedoch folgenlos bleibt, da Otto, dem Ernst das Aussehen dieser Erdrandbewohner beschreibt, nicht darauf eingeht. Gegenüber dem Stadtgrafen bleibt der Königsmord in allen Redaktionen unerwähnt. Anders als man erwarten könnte, stellt der handlungsmächtige Ernst nur im HE Vb die eigenen Verluste heraus, während er die Vielzahl getöteter Agrippiner verschweigt (vgl. ebd., fol. [Gviij]v.). Allerdings fallen diese Verluste mit acht getöteten Rittern gering aus. Im HE F unterstreicht der Hinweis auf die große Zahl an Opfern einerseits die Kampfestüchtigkeit der Ritter, andererseits ist sie, was die eigenen Verluste anbetrifft, mit der Darstellung des eigenen Leidens zusammenzusehen (vgl. Cgm 572, fol. 50v.). Die abgewiesene Alternative einer Rettung der indischen Prinzessin ist dabei an beiden Textstellen in allen Redaktionen völlig ausgeblendet. Sei es, dass sie keine Bedeutung für die Fahrt nach Jerusalem hat, sei es, dass ein Eingeständnis des eigenen Scheiterns vermieden werden soll. Unerwähnt bleibt nämlich auch das unvorsichtige Gebaren, das den Kampf mit den Kranichmenschen allererst auslöst. Was die Abenteuer zwischen Agrippia und Arimaspi anbetrifft, legt Ernst gegenüber dem Stadtgrafen im HE F das Hauptaugenmerk auf die Mühsal ihres Weges und auf ihr Leiden (vgl. Cgm 572, fol. 50v.f.). Das Haften des Schiffs im sir-
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tischen Meer,515 ihr Hungern auf dem fremden Wrack sowie die im Greifennest und im Wilden Wald erlittene Not geraten so zu einer Geschichte der eigenen Passion. Der Greifenflug und die Floßfahrt durch die dunkle Höhle wirken durch die im Vergleich lapidare Verknappung der Darstellung als Selbstverständlichkeiten. Die oben als göttlich gewirkt erzählte Problemlösungskompetenz (vgl. ebd., fol. 47r. und fol. 49r.) wird damit zugunsten einer Leidenskompetenz zurückgesetzt. Der HE Vb bearbeitet die Figurenrede dahingehend, dass Ernst zum einen genauer ins Detail geht, womit er ganz anders als im HE F den Pragmatismus der Ritter herausstellt (vgl. Han 1, fol. [Gviij]v.–Hv.). Zum anderen hebt er (nach der Kollision des Schiffs und beim Fund der Ochsenhäute) Gottes Beistand hervor, was der Fahrt trotz allen Unbills den Charakter eines gottgewollten Unterfangens verleiht.516 Fast schon minutiös beschreibt er die Rettung durch den Greifen; so hätten er und Wetzelo beispielsweise zwei Stunden im Nest verbracht, ehe sie sich aus den Häuten schneiden konnten. Dabei erwähnt der Herzog nicht, dass er es ist, der den entkräfteten Gefährten aus der Haut befreit (vgl. fol. [Fviij]r.). Es geht also um die Handlungskompetenz des Kollektivs, nicht um die eines einzelnen. Knapp sind auch die folgenden Stationen (das Wiederfinden im Wald, der gemeinsame Abstieg ins Tiefe Tal, der Floßbau und die -fahrt) erwähnt. Gegenüber Otto strafft Ernst seine Erzählung. Dass beim Schiffbruch am Magnetberg einige seiner Begleiter sterben, lässt er ebenso beiseite wie Hunger und Durst und die Gefahr beim Greifenflug: „da kam der Greiff/ fuͤ hret vns in sein Nest“ (Han 1, fol. Nv.). Würde er nicht auf die „grosse[ ] muͤ h“ eingehen, die es erforderte, aus diesem Nest wieder herauszukommen (ebd.), entstünde das Bild einer Orientreise, die bei aller Abenteuerlichkeit von den Rittern doch äußerst souverän gemeistert wird.517 Doch auch so gerät die Erzählung zu einem Bericht des Triumphs.518 Denn der Erzähler bricht sie just an der Stelle ab, als Ernst in
515 Statt von einem Unwetter, das die Ritter von Agrippia weggeführt habe, ist oben von harter Ruderarbeit die Rede (vgl. Cgm 572, fol. 45r.). Wahrscheinlich liegt ein Versehen vor, da die Anwesenheit der anderen Schiffe auf eben diese Weise erklärt ist. Die Abweichung trägt jedoch dazu bei, das erfahrene Unglück noch etwas stärker hervorzuheben. 516 Anders als im HE F gemahnt Ernst hier auch an den zurückgelassenen siebten Ritter, für den er um Gottes Gnade bittet. 517 Diese Inkonsequenz ist in den späten HE Vb-Drucken bereinigt. Ernst spricht hier von einem Greifennest, „daraus wir aber bald wieder entkamen“ (zitiert nach P1, S. 82, so auch: Zirngibl, S. 84 f., Everaerts, S. 81, M2, S. 81, und Trowitzsch, S. 78). Auffällig ist jedoch, dass die beiden etwas früheren Redaktionen HE Vb Schröter (vgl. fol. Kiijr.) und Endter 2 (vgl. fol. H5r.f.) den Bericht vom Aufenthalt im Greifennest wie denselben von der Floßfahrt sogar noch etwas ausgestalten. 518 Die von Ernst markierte Einflussnahme Gottes beschränkt sich nur darauf, dass die Ritter einander nach ihrem Greifenflug im Wilden Wald wiedergefunden haben (vgl. Han 1, fol. Nv.),
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überraschender Ausführlichkeit die Durchquerung des Berges schildert519 und Otto den Karfunkel als eine Trophäe überreicht (vgl. ebd., fol. Nijr.).520 Nur hier, wo der Stein auf Handlungsebene funktional wird, berichtet Ernst davon, wie er in seinen Besitz gelangte. Nicht Ernsts Erzählung, aber der vom Erzähler berichtete Ausschnitt beschränkt sich damit auf jene Episoden, von denen er auch dem Stadtgraf berichtet. Der eigentliche Heidenkampf im Mohrenland bleibt wie die Aufenthalte in Babylon, Jerusalem und Rom außen vor. Sie würden die Geschichte nur noch verlängern, in der es darum geht, dass die Ritter erfolgreich die Welt durchfahren und dem Kaiser etwas Seltenes mitgebracht haben. Vom Papst, vom Kaiser und von seiner Mutter wird Ernst aufgefordert, seine Geschichte zu erzählen. Während er gegenüber der Mutter mit einem Wort alles sagen kann, nötigt die Situation der listenreichen Versöhnung, auf jedwede Charakteristika zu verzichten, die Otto seine wahre Identität verraten könnten. Um den Effekt seiner Geschichte beim Papst zu maximieren, erzählt der heimkehrende Herzog im ordo artificialis. In den besonders ausführlichen Rückblicken gegenüber dem zyklopischen Stadtgrafen und seinem wiederversöhnten Stiefvater stilisiert Ernst seine Orientfahrt, sobald man textgeschichtliche Varianz berücksichtigt, zu einer Geschichte der Passion beziehungsweise des Triumphs. Der Roman erzählt die Ereignisse also mitnichten nur einmal. Neben dem Erzähler und dem Protagonisten sind auch die Perspektiven anderer Figuren am mehrdimensionalen Prozess der Sinnstiftung beteiligt. Bereits der Haupttext erweist sich damit als mehrdimensionales Gebilde, das textgeschichtlichem Wandel unterliegt. Dabei ist das Zusammenspiel der einzelnen Dimensionen durchaus komplex. Die Perspektive der Figuren kann in direkter Rede oder indirekt durch den Erzähler wiedergegeben sein, der im Übrigen an jedem Punkt die Erzählungen unterbrechen kann. So entsteht aber nicht nur ein Prozess des Konkurrierens um Deutungshoheit, die jeweiligen Welt-, Selbst- und Fremdsichten sind
und damit auf jenen Teil der Episode, der vielleicht am wenigsten nach transzendentalem Beistand verlangt. Das ist auch insofern besonders bemerkenswert, als es oben nur die Redaktionen des HE F sind, die das Wiederfinden auf diese Weise motivieren, während die Ritter im HE Vb einmal mehr ihre Handlungsmächtigkeit beweisen (vgl. dazu S. 382f. im Kap. 3.1.1.5). 519 Im HE Vb Zirngibl überträgt Ernst die Leuchtfähigkeit vom Karfunkelstein auf den ganzen Berg, was im Widerspruch zur entsprechenden Passage in der Orienthandlung steht. Die oben beschriebene Dunkelheit als eine der zu meisternden Gefahren wird dadurch konterkariert (vgl. S. 85). 520 Weiter oben erfährt Otto und mit ihm der Rezipient anlässlich der Präsentation der Wunderwesen und der Entschuldigung, nicht von allen ein Exemplar mitgebracht zu haben, bereits Rudimente von Ernsts Grippia- und Arimaspi-Erzählung (vgl. Han 1, fol. Nr.f.).
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selbst Teil des Werkganzen. Die Geschichte des Herzog Ernst existiert nicht außerhalb ihres textinternen Erzählens und Wiedererzählens.521 Die Auswahl der Ereignisse verkürzt und invisibilisiert, sie deutet und stiftet Sinn. Gleiches gilt für ihre Präsentation, Formulierung und Anordnung. Die Geschichte wird vereindeutigt und dadurch komplex. Die widersprüchlichen Stilisierungen durch die haupttextuellen Dimensionen werden zum Teil ausgehalten, zum Teil aber auch paratextuell bearbeitet, was jedoch – wie ich unten zeige – die Sinnvielfalt nicht einhegt, sondern ihrerseits nochmals pluralisiert.522
3.1.2.2 Perspektiven auf Mordplan und Mordanschlag Auf eine besonders prominente Frage gehe ich nochmals gesondert ein, nämlich ob Ernst beim Mordanschlag auf seinen Verleumder auch seinen Stiefvater töten möchte. Das textgeschichtlich variierte Ringen um Deutungshoheit lässt sich hier besonders deutlich aufzeigen. Nur in den Drucken des HE Vb fragt Ernst, obwohl er um Heinrichs Verleumdung weiß, nachdem er sich mit Otto versöhnt hat, nach dem Grund seiner Vertreibung (vgl. Han 1, fol. [Mvij]v.). Aus seiner Figurenperspektive rekapituliert der Kaiser daraufhin die Einzelheiten.523 Heinrich hat eine ‚pflichtschuldige‘ Warnung inszeniert (vgl. ebd.), deren Wiedergabe ein Maß an Indirektheit erreicht, das dem Vorgang einer Verleumdung durchaus entspricht: Denn Otto erzählt, was Heinrich ihm erzählt habe, das er von dritten gehört habe, die ihrerseits von dem erzählten, was Ernst gesagt hätte (vgl. ebd.). Und das alles, obwohl Heinrich doch auch selbst Ohrenzeuge gewesen sein möchte (vgl. fol. [Mviij]r.). Während Ottos Angabe der Quellenberufung der Verleumdungsszene genau entspricht (vgl. Han 1, fol. Biijv.f.), variiert er die eigentliche Anklage. Denn Heinrich warnt den Kaiser oben nur davor, dass Ernst darauf sinne, ihm „den tod zuthun“, um danach selbst zu herrschen (fol. Biijr.). In seiner Rückschau nähert Otto das Setting des fingierten Mordplots jedoch an das tatsächliche Geschehen im privaten Gemach in Speyer an. So habe ihm Heinrich erzählt, „wo“ Ernst „allein zu seinem Vatter kem/ wollte er jn erstechen“ (fol. [Mvij]v.). Darüber hinaus lässt Otto seine in der ersten Reichshandlung geäußerten Zweifel an Heinrichs Aussagen beiseite (vgl. fol. Biijv.), sodass sich der weitere Rückblick auf den Mordanschlag direkt anschließt. Ernst sei „in [s]ein kamer“ gekommen und habe den Pfalzgrafen „an [s]einer seiten zu todt“ gestochen (fol. [Mviij]r.). 521 Vgl. dazu das Kap. 2.1.2. 522 Vgl. dazu die Teilkap. unter 3.3. 523 Zur Binnenvarianz der HE Vb-Redaktionen vgl. oben die jeweiligen Ausführungen im Kap. 3.1.1.
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Erstens durch die Verknappung und zweitens durch die Angleichung gewinnt die folgende Mutmaßung, Ernst „hette[ ] [ihn] auch erstochen“, so Otto „nicht [...] entrunnen“ wäre, an Plausibilität (Han 1, fol. [Mvij]r.). Der Kaiser macht den Gegenstand der Verleumdung also auch noch nach der Versöhnung zu einem Teil seiner eigenen Überzeugung.524 Diese wird im Übrigen von seinen Untertanen geteilt. Denn der namenlose Herr, den Adelheid unmittelbar nach dem Anschlag um Auskunft über die allgemeine Unruhe befragt, nimmt Ottos Worte bereits vorweg: „[I]hr son“ habe „den Pfaltzgrauen [...] erstochen/ vnd wenn jm jr Herr der Keiser nit entrunnen wer/ so het er jn auch vmmbracht“ (ebd., fol. Ciijr.). Doch obwohl der Erzähler hier behauptet, dass der Ungenannte „alle handlung vonn wort zu wort“ wiedergebe (Han 1, fol. Ciijr.), findet sich im HE Vb oben kein Hinweis darauf, dass Ernst Otto habe töten wollen. In einer „Kammer“ finden er und Wetzelo Kaiser und Pfalzgraf „allein bey einander“ (ebd., fol. Cv.). Ernst tötet seinen Verleumder, während Otto dagegen flüchtet. Der Herzog sieht Heinrichs Leichnam und bemerkt Ottos Absenz. Er zieht aber wieder ab, ohne dem Flüchtenden, der eigentlich gar nicht flüchtet, sondern sich in nächster Nähe und voller Angst versteckt, nachzusetzen und ohne jede Klage, den Stiefvater nicht getötet zu haben (vgl. fol. Cijr.). Ganz anders stellt sich die Lage in den Redaktionen des HE F dar. Nicht nur gibt es hier keinen entsprechenden Rückblick des Kaisers am Ende der zweiten Reichshandlung. Vor allem wird hier auf der Dimension des Erzählers gleich nach dem Mord klargestellt, dass Ernst und Wetzelo nicht nur Heinrich „wurgten vnd erstachen“, sondern darüber hinaus „[d]esglichen“ mit Otto zu tun „vermainten“ (Cgm 572, fol. 32v.). „[W]är er nicht so behend“ entkommen, „hetten sie Jn des lebens mit dem Riche beraubt“ (ebd.). Außerdem hat der HE F hier eine direkte Figurenrede des Herzogs, der bedauert, dass Otto geflohen ist, da er ihm für den Fall, dass der Kaiser „hie bÿ dir belÿben“ wäre, für sein „onrechtens“ gedankt haben würde (ebd.). Indem sich Ernsts Worte an den geköpften Leichnam des Pfalzgrafen richten, ist es auch ohne direkte Benennung deutlich, dass Ernst seinen Stiefvater gern ebenfalls tot zu seinen Füßen sähe. Freilich bleibt Heinrichs vermeintliche Warnung, Ernst denke „frü vnd spate“ daran, wie er Ottos „süsse[m] leben . den scharpfen tode“ zufügen könne, eine Verleumdung (Cgm 572, fol. 28v.). Daran ändert auch nichts, dass Ernst – nach Angabe des Erzählers –, sobald er davon erfährt, nach „dem tode seins valschen
524 Dies entspricht seiner Haltung im zweiten Krieg gegen Ernst, wenn er gegenüber dem Herzog von Sachsen angibt, dass sein Stiefsohn ihn „auch erstochen“ hätte, wenn er „nit wer entsprungen in ein Capell“ (Han 1, fol. [Cvj]v.).
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dargebers“ trachtet (ebd., fol. 32r.).525 Schließlich ist Ernsts Motivation nicht der Griff nach der Krone, sondern Rache. Aber nach der Verleumdung trachtet er tatsächlich nach dem Leben des Stiefvaters. Ottos zukunftsungewisse Hoffnung, „mit gotes verhangknuss vnd [s]einer [Ernsts, S.A.S.] hilfe“ „manschlacht Morde Rabereÿe [sic] [...] vnd verwüstunge“ vom Reich fernhalten zu können, die er im HE F äußert, als er Ernst an Sohnes Statt annimmt (fol. 28r.), gerät zu einer selffulfilling prophecy mit umgekehrtem Vorzeichen. Wie Adelheid Heinrich ankündigt, dass er sich mit der Verleumdung selbst eine Grube gegraben habe (vgl. fol. 31v.), löst Otto im HE F durch die Erhöhung des Stiefsohnes Heinrichs Neid aus, der im Folgenden Mord, Raub und Verwüstung über sein Kaiserreich und Ernsts Herzogtum bringt.526 Otto selbst ist zudem derjenige, der in unvernünftigem Zorn, „Stette [...] zerbrach“, „Dörffere verprannt“ und damit seinen eigenen „volks vnd kaisertoms“ Schaden bewirkt (fol. 36r.). Kurz vor Ende der zweiten Reichshandlung entwirft Ernst einen alternativen Plot, sollte sich Otto der listenreichen Versöhnung entziehen. Wie bei Heinrichs Tod beschreibt dies der HE F drastischer als die Redaktionen des HE Vb (vgl. Cgm 572, fol. 66v., und Han 1, fol. Mvr.). So hält sich Wetzelo im HE F während des weihnachtlichen Gottesdienstes mit blankem Schwert bereit, damit er Otto gegebenenfalls „erstäche vnd töttet“ und zwar „on vorchte“ und „on alle parmherczikait“ (Cgm 572, fol. 66v.). Damit verwendet der Erzähler, der diese Handlungsoption – nur im HE F – positiv als „[r]itterlich“ bewertet, gleich zwei Schlüsselbegriffe. Erstens gehört ‚Furchtlosigkeit‘ zum hier etablierten Heldenbild. Furchtlos sind die Ritter aber nur im Kampf beziehungsweise allgemeiner in konventionellen Situationen. Angesichts einer verlassenen Stadt wie in Agrippia, einer Floßfahrt auf einem tosenden Fluss wie im Tiefen Tal oder der Ungewissheit der Reaktion des Kaisers, also bei durchwegs exzeptionellen Vorgängen, fürchten sie sich. Doch versichern sich die Ritter an den anderen genannten Textstellen des göttlichen Beistands. Hier dagegen, wenn Ernst und Wetzelo den Festgottesdienst als möglichen Ort des Kaisermordes in Erwägung ziehen, wird dieser Zusammenhang nicht aktualisiert. Der alternative Handlungsplan überführt das finale Aufeinandertreffen für den Fall, dass sich kein Versöhnungswunder ereignet, in einen konventionellen Kampf, der trotz der Überrumpelung des Gegners von der Dimension des Erzählers aus als ‚ritterlich‘ erscheint. 525 Vgl. dazu auch Ottos Wiederholung der Verleumdung gegenüber Adelheid (vgl. Cgm 572, fol. 31r.), seine Beschreibung des Anschlags gegenüber Heinrich von Sachsen (ebd., fol. 35v.) und den Umstand, dass der Erzähler den Mord an Heinrich als „lang begerte[ ] sach“ verallgemeinert (fol. 32v.). 526 Vgl. zum abweichenden Geschehen im HE Vb S. 351f. im Kap. 3.1.1.1.
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Zweitens zeichnet die Ritter nicht nur hier gerade ihre ‚Unbarmherzigkeit‘ aus. Vor den Stadttoren des unbekannten Agrippia ermahnt Ernst die Kreuzritter, Barmherzigkeit mit Schärfe zu vertauschen, um auch Frauen und Kinder der Heiden töten zu können (vgl. Cgm 572, fol. 40r.). Das oben in Erinnerung gerufene Kriegsgeschehen innerhalb des Reiches wendet sich in aller Grausamkeit gegen Christen. Das vom Erzähler etablierte Bild von Ritterlichkeit schließt sogar einen möglichen Kaisermord am Weihnachtstag in einer Kirche ein, sofern eine ‚gerechte‘ Motivation wie die Verleumdung mit der folgenden ungerechtfertigten Vertreibung vom eigenen Erbe vorhanden ist. In Bezug auf die Eingangsfrage muss insofern festgehalten werden, dass Ernst im HE F zwar durchaus interessiert ist, Otto in Speyer zu töten, aber wie die Ereignisse in Nürnberg nochmals verdeutlichen, muss dies aus der Erzählerperspektive betrachtet nicht negativ interpretiert werden. Wie unten aus den Bezugnahmen auf die Bibel zu ersehen ist, wird Ernsts Ritterlichkeit sogar theologisch überhöht. Erst vor dem Hintergrund des Wunderwirkens der heiligen Adelheid ist Ernsts Weg im HE F aber als ein defizitärer zu erkennen.527 Im HE Vb sinnt Ernst außerhalb des weihnachtlichen Alternativgeschehens nicht auf Ottos Tod. Den kaiserlichen Rückblick nach der Versöhnung kommentiert er mit dem Schwur, „nie mit einem wort etwas wider euch geredt“ zu haben (Han 1, fol. [Mviij]r.). Dennoch ist auch in der Bearbeitung ein Rest der Selbstverständlichkeit des Rachemordes erhalten. So stellt Ernst seinen Anschlag auf Heinrich lapidar als eine sich temporal entfaltende Kausalrelation dar: „Als ich aber erfuhr/ das mich der Pfaltzgraff also verlogen hat/ habe ich jhn ertoͤ dt.“ (ebd.).
3.1.2.3 Intertextuelle Verweise auf die Bibel: Judas Makkabäus, Ahithophel und die Briefe des Paulus Anhand von drei Beispielen aus dem HE F demonstriere ich nachfolgend das Sinnstiftungspotential von intertextuellen Verweisen auf die Bibel innerhalb der Dimensionen von Figuren- und Erzählerreden.528 Es handelt sich um die Charak-
527 Vgl. dazu das Kap. 3.1.1.10. 528 Daneben findet sich eine Vielzahl größtenteils nicht markierter Antikenzitate (vgl. dazu auch S. 320 in der Einleitung zu Teil 3). So beschreibt der Erzähler Ernsts Sehnsucht nach seiner Heimat mit einem Zitat aus Ovids Briefen aus Pontus: „Jch waÿs nit an was natur ds staut . das ein ÿeglich mensch belangen haut . nach dem lannd so sein fründ sind gesessen . Des kan er hart nÿmer gar vergessen“ (Cgm 572, fol. 63v.). Der Rezipient, der den intertextuellen Verweis aufzudecken vermag, erkennt dabei, dass sich Ernst trotz der Präsenz der heiligen Stätten – wie Ovid – noch immer in Verbannung befindet. Er hat mit Jerusalem zwar das Ziel seiner Reise erreicht, sein Weg
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terisierungen Ernsts als „ander fürstlich Judas Machabeus“ (Cgm 572, fol. 30r.) und Heinrichs als „der Ander Achitouel“ (ebd., fol. 28v.) durch den Erzähler sowie um zwei Zitate aus den Paulus-Briefen im Zusammenhang der Eheschließung von Otto und Adelheid.529 Als Ernst in die Schlacht um Bamberg zieht, ist die Stadt von den Kaiserlichen unter Führung Heinrichs des Pfalzgrafen besetzt (vgl. Cgm 572, fol. 30r.). Mit dem Mut eines Löwen greift er die feindliche Übermacht „kecklich“ an und tötet die „ongewarneten viende“ „on barmherczikait“ (ebd.). Gefangene macht er keine. Heinrichs Heer flieht, doch sammelt er die Flüchtenden und wendet sie aufs Neue gegen Ernst, der seine Krieger inzwischen aus taktischer Klugheit mit den Bamberger Bürgern vereint hat (vgl. ebd.). Aus diesem zweiten Gefecht geht der Herzog „als der ander fürstlich Judas Machabeus“ siegreich hervor, „als sich das von götlicher gerechtikait gepurte“ (ebd.). Der Erzähler vergleicht Ernst damit aber nicht nur mit einem beispielhaften Kriegsmann, der zu den ‚Neun guten Helden‘ gezählt wird.530 Judas kämpft ebenfalls todesbereit wie ein Löwe, um das eigene Volk zu retten (vgl. 1 Makk 3.3 f., 3.59, 5.43 und 9.6–18). Er durchschaut die Falschheit seiner Feinde und erweist sich wie Ernst in Arimaspi als listenreich im Kampf (vgl. ebd., 5.28, 7.10 f. und 7.30). Doch die Tragweite des intertextuellen Verweises reicht weiter, wenn man seine Taten im ersten Makkabäer-Buch im Zusammenhang berücksichtigt (vgl. 1 Makk 3.1 bis 9.22). Stets überwindet Judas die Übermacht der Feinde im Vertrauen auf Gott: „Denn der Sieg im Kampf liegt nicht an der Größe des Heeres, sondern an der Kraft, die vom Himmel kommt“ (3.19, vgl. dazu 3.10 f., 3.17, 3.42 f., 4.34, 5.34, 7.43). Judas’ Feinde aber sind die Feinde Israels und damit die Feinde Gottes. Dadurch ist er legitimiert, ihre Städte niederzubrennen und die männliche Bevölkerung hinzurichten (5.28, 5.35, 5.51). Den abgeschlagenen Kopf des feindlichen Heerführers Nikanor lässt er in Jerusalem öffentlich aufhängen (vgl. 7.47). Über den Verweis auf den Befreier Jerusalems (vgl. 4.36–48) verweist Ernsts
und seine Geschichte können daher aber noch nicht zu Ende sein. Zum Nachweis des Zitates vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 369, Anm. zu Z. 5. – Ein weiterer intertextueller Verweis auf profanes Schrifttum liegt vor, wenn der Erzähler den Leser für weitere Informationen zur „natur“ des Unio auf „der stein puͦ ch“ verweist (Cgm 572, fol. 49v.). Trotz des vermeintlich markierten Verweises bleibt unklar, in welchem Werk der Rezipient nachschlagen soll. Schließlich handelt es sich hier um die Übersetzung des allgemeinen Hinweises im HE C, ein Lapidarium zu befragen (vgl. Ehlen [Hg.]: Hystoria Ernesti, S. 323, Z. 8). Moriz Haupt: Herzog Ernst, S. 278, verweist in diesem Zusammenhang auf Albertus Magnus. 529 Vgl. für intertextuelle Bezugnahmen auf die Briefe des Kirchenvaters Hieronymus anhand des HE C Ehlen: Hystoria Ernesti, vor allem S. 138–144. 530 Vgl. dazu Horst Schroeder: Der Topos der Nine Worthies in Literatur und bildender Kunst. Göttingen 1971.
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Befreiung Bambergs nicht nur bereits auf den erfolgreichen Kreuzzug ins Heilige Land voraus. Auch Ernsts Feinde im Reich werden automatisch ebenfalls zu Feinden Gottes. Sein grausames Vorgehen, das darin gipfelt, dem Pfalzgrafen an Ottos Seite den Kopf abzuschlagen, ist heilsgeschichtlich überhöht und erweist sich als notwendiger Schritt auf dem Weg zu seinem eigenen Kreuzzug, der ihn im Vertrauen auf Gott nach Jerusalem führt. Auslöser des Feldzuges ist Heinrichs Verleumdung. Der Erzähler beschreibt, dass Neid und Hass Ottos Berater dazu veranlassen, „als der Ander Achitouel durch ware lug“ den treuen Vasallen Ernst in Misskredit zu bringen (Cgm 572, fol. 28v.). Thomas Ehlen sieht die Parallelstelle im HE C als eine von mehreren „alttestamentarische[n] Stilisierungen“ an.531 Er hält eine typologische Bezugnahme für möglich, geht jedoch nicht näher darauf ein. Aber wer ist der biblische Berater, der auch im HE F als Vergleichsgrundlage für Ernsts Antagonist dient? Ahithophel ist der klügste Ratgeber König Davids, der, als Davids Sohn Absalom von seinem Vater abfällt und sich zum König von Hebron macht, die Seiten wechselt und fortan Absalom gegen David berät (vgl. 2 Sam 15.7–12). Von beiden wird sein Rat so hoch wie das Wort Gottes selbst geschätzt (vgl. ebd., 16.23). Deshalb fleht David auf seiner Flucht aus Jerusalem, Gott möge „den Ratschlag Ahithophels zur Narrheit“ machen (ebd., 15.31). Nach Einnahme des verwaisten Jerusalem berät Absalom mit Ahithophel und Husai das weitere Vorgehen (vgl. 16.20–17.14). Husai ist Davids Agent, zurückgelassen um Ahithophels Pläne zu sabotieren (vgl. 15.32–34). Während der weise Berater David sogleich nacheilen möchte, um ihn mit Hilfe des Effekts der Überraschung vernichtend zu schlagen (vgl. 17.1–3), überredet Husai den aufständischen Sohn, zunächst ein großes Heer zu versammeln, damit der erste Schlag gegen David mit Sicherheit nicht misslinge, weil dies selbst jene unter Absaloms Kriegern demoralisieren würde, die „ein Herz ha[ben] wie ein Löwe“ (vgl. 17.5–14, das Zitat 17.10). Die Bibel weist es als Gottes Werk aus, „daß der gute Rat Ahithophels verhindert“ wird und dadurch Absaloms Aufstand scheitert (17.14). Noch ehe der verräterische Sohn zum Leid des Vaters stirbt (vgl. 18.9 und 14 f.), nimmt sich Ahithophel das Leben selbst (vgl. 17.23). In beiden Texten gibt es eine Dreieckskonstellation von Vater und (Stief-) Sohn, die mit einander Krieg führen, sowie einem Berater, der bei dem Konflikt ums Leben kommt. Doch während Ahithophel dem aufständischen Sohn rät, erdichtet Heinrich lediglich einen Aufstand des Stiefsohnes. Außerdem hört Otto auf seinen Berater – Absalom nicht. Trotz der Unterschiede ist meines Erachtens der Kern des Vergleichs, dass sowohl Ahithophels Ratschlag als auch Heinrichs
531 Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 152.
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Verleumdung taktisch klug erdacht sind, jedoch durch das Eingreifen Gottes vereitelt werden. Auf der Dimension der Erzählerrede wird dadurch die vox Dei vorbereitet (vgl. Cgm 572, fol. 31v.), die Adelheid im weiteren Verlauf der Handlung den Namen des Verleumders offenbart und Ernst auf seinen Weg der Sünde, Buße und Vergebung führt.532 Wenn die beiden Stellen typologisch aufeinander bezogen sind, gilt es darüber hinaus als Nebenaspekt zu berücksichtigen, dass Ernst zwar den Krieg gegen Otto verliert, jedoch anders als Absalom am Leben bleibt. Die Ernst-Geschichte überbietet insofern die biblische Episode, als hier der Vater gleichzeitig siegen und der Sohn dennoch überleben kann.533 Wenn der Erzähler Adelheids Streben nach der ewigen Seligkeit beschreibt, zitiert er dabei Paulus’ Anweisungen zum Umgang mit Witwen im ersten Timotheusbrief (vgl. Cgm 572, fol. 25v., und 1 Tim 5.3–16). Demnach sollen ‚echte‘ Witwen, d. h. ältere ohne Angehörige, im Schutz der Gemeinde „ihre Hoffnung einzig auf Gott [...] setzen“ und „Tag und Nacht zu ihm [...] beten“ (1 Tim 5.5). Witwen mit Kindern sollen nach Paulus dagegen von diesen versorgt werden (vgl. 5.4), was auf Ernst hin zu lesen wäre, wenn der Apostel nicht Witwen von unter 60 Jahren aufgrund ihres „sinnliche[n] Verlangens“ (5.11) besonders behandeln würde, indem er fordert, dass „die jüngeren Witwen wieder heiraten“ sollen (ebd., 5.14). Indirekt sind damit zum einen die Anfechtungen der „swachait Jrer Natur“ vorbereitet (Cgm 572, fol. 25v.), mit denen Adelheid im Folgenden konfrontiert wird. Zum anderen ist ihre spätere Hochzeit mit Kaiser Otto aber nicht nur gleichzeitig gerechtfertigt, sondern im paulinischen Sinn sogar gefordert (vgl. ebd., fol. 27v.). Aufgrund ihrer Jugend ist sie nach der hier etablierten Gemeindeordnung zu einer Wiederverheiratung verpflichtet. Doch erweist sich ihre ‚Josefsehe‘ als ein dritter Weg, um Ehe und Keuschheit zu vereinen.534 Ausgangspunkt dieser Eheschließung ist Ottos Werbung um Adelheid (vgl. Cgm 572, fol. 26v.). Der Entschluss, um sie zu freien, ist das Ergebnis einer Gedankenrede, die der Erzähler indirekt wiedergibt und als Meditation über 1 Kor 7.9 ausweist: So betrachte Otto „[i]nn seim gemüte das wort Sant Pauls das pesser
532 Vgl. dazu S. 358f. im Kap. 3.1.1.2. 533 Zur großen Trauer Davids um Absalom vgl. 2 Sam 18.19–32 und 19.1–9. – Vage bleibt, worin die „ware lug“ bestehe, mit der Heinrich Ernst verleumde (Cgm 572, fol. 28v.). Ich denke nicht, dass der Erzähler damit ausdrückt, dass Heinrich mit seiner Lüge die Wahrheit sage. Möglicherweise dient das Adjektiv nur der Verstärkung. Aber vielleicht darf darin ein Hinweis gesehen werden, dass der Verleumder zwar zu lügen bezweckt, dadurch Ernst jedoch allererst auf den Weg der Wahrheit führt. – In Bezug auf Ahithophel ist daran zu denken, dass er zwar wahrhaftig, aber dem Falschen rät, und dass er zwar wahr spricht, dies aber durch Husai zu einem schlechten Rat verkehrt wird. 534 Vgl. dazu S. 421 im Kap. 3.1.1.8.
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were . ordenlich vnd elichen vermäheln . dann bös anfechtunge vnd begirde des flaÿsches“ (ebd.). Die auf der Erzählerdimension markierte Intertextualität lenkt damit frühzeitig die Aufmerksamkeit auf die Paulus-Briefe und lässt den Rezipienten eine wechselseitige Bezogenheit der künftigen Ehepartner erkennen, die ebenso unabhängig von Emotionen ist wie von politischen Erwägungen, sondern die allein auf dem paulinischen Eheverständnis und damit im Willen Gottes gründet.535
3.1.2.4 Mehrfacher Schriftsinn von Ernsts Figurenreden und die Liebesutopie des Bischofs von Bamberg Nicht nur Rückblicke sind, wie oben dargelegt, Möglichkeiten der Sinnstiftung durch direkte Figurenrede. Anhand einiger Ansprachen und Gebete Herzog Ernsts sowie anhand der Liebespredigt des Bischofs von Bamberg zeige ich nachfolgend, wie der HE F auf dieser Dimension an der Bedeutungskonstitution durch den mehrfachen Schriftsinn partizipiert. Wie Ernst den treuesten der Ritter seine militärische Niederlage gegen Otto eingesteht und ihnen seinen Entschluss, nach Jerusalem zu fahren, eröffnet, ist im HE F als direkte Figurenrede dargestellt (vgl. Cgm 572, fol. 36v.f.). Ich sehe darin weniger den Auftakt zu einer christologischen Stilisierung der Ernst-Figur.536 Meines Erachtens dient die Ansprache zwar auf der Ebene der Fiktion, die Niederlage und die materielle Not zu überhöhen; in erster Linie geht es aber darum, den Rezipienten auf die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn als eine Möglichkeit sinnstiftender Weltdeutung hinzuweisen. Denn die Rede des Herzogs ist in drei Gründe gegliedert, derentwegen er das Schwert niederlegen möchte. „Des ersten“ gebreche es ihm am „solde“ für seine Ritter (ebd., fol. 36v.). „Zum andern“ könne er dem Kaiser „nicht alczit widerstan“, so wie „ein Schif“ nicht auf Dauer „wider des wassers lauff“ ankomme (ebd., fol. 36v.f.). „Die dritt vnd größt sache“ aber sei, dass er sich mit Gott nach all den Sünden des Krieges „wider versöne“ (ebd., fol. 37r.). Aus diesen Gründen möchte Ernst zur „Stette der gepuͦ rt xpi . seins bittren leÿdens . seiner hailigen vrstende vnd auch seiner wirdigen vffarte gen hÿmeln“ ziehen (ebd.). Seine Krieger nicht mehr bezahlen zu können, entspricht dem buchstäblichhistorischen Verständnis, den Krieg mit dem Kaiser gegen eine Fahrt ins Heilige Land zu vertauschen. Dies in das Bild eines Schiffes umzusetzen, das sich nicht 535 Zur Verwendung des Römer-Briefes im Zusammenhang mit der indischen Prinzessin vgl. S. 376f. im Kap. 3.1.1.4. 536 Vgl. dazu mit Bezug auf den HE C Meves: Studien zu HE, S. 205; Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 153, sowie Goerlitz: Heidenkampf, S. 86 f. sowie S. 93 und S. 95.
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länger der Gewalt des Wassers widersetzen könne, ist als allegorischer Sinn dieses Teils der Ernst-Geschichte zu verstehen.537 Ernsts dritter Grund, die Sorge um das eigene Seelenheil, korrespondiert mit dem moralisch-tropologischen Sinn. Und indem er das Ziel seiner Fahrt nicht geographisch, sondern heilsgeschichtlich expliziert, verleiht seine Rede dem Entschluss zur Kreuzfahrt auch noch einen eschatologisch-anagogischen Sinn.538 Anhand weiterer Figurenreden des Herzogs lässt sich zeigen, dass Ernst immer wieder an allen Äußerungsformen des mehrfachen Schriftsinns anschließt. Dafür greife ich im Folgenden auf seine Warnung im verlassenen Agrippia (vgl. Cgm 572, fol. 41r.), seine Klage im sirtischen Meer (vgl. fol. 45v.f.), seine Motivationsrede im Vergleich mit derjenigen des Mohrenkönigs vor dem Kampf gegen die Babylonier (vgl. fol. 56r.–57r.), seine Worte zum Abschied aus Mohrenland (vgl. fol. 59v.f.) sowie auf sein Gebet am Heiligen Grab (vgl. fol. 62r.f.) zurück. Es versteht sich wohl von selbst, dass die Rede einer Figur buchstäbliche Bedeutung auf der Handlungsebene hat. So zielt Ernst beispielsweise auf die Verstetigung des Gehorsams seiner Ritter (vgl. Cgm 572, fol. 41r.), warnt vor der Rückkehr der Agrippiner (vgl. ebd.) und bittet andere Figuren, für die Seele eines seiner verstorbenen Mitfahrer zu beten (vgl. fol. 60r.). Auf dieser Bedeutungsebene sind Jerusalem und das Heilige Grab das Ziel seiner Reise (vgl. ebd.). Er kann daher befürchten und bedauern, dass er dieses Ziel nicht erreicht, zumal ihm Einsicht in die „weg[e]“ Gottes fehlt (fol. 46r.), und er kann sich und die Ritter verpflichten, auf ein Jahr dort zu dienen (vgl. fol. 62v.). An die allegorische Deutung des Gangs der Welt als Fahrt eines Schiffes schließt er gegenüber dem christlichen Mohrenkönig an, wenn er ihn davon überzeugt, dass mit der Sicherheit, die der besiegte Babylonier bietet, „der schiffpoden [seines] reichs an sicher schifstatt“ liege (fol. 59v.). Schließlich erhalte Gott „Sant Peters Schifflin das do dÿ hailig Cristenlich kirch ist“, im schweren Wellengang und lasse es nicht „versinken“ (ebd.). Obwohl es die Figurenzeichnung seines Gesprächspartners erwarten lässt,539 überträgt Ernst damit aber nicht eine
537 Dazu, dass die Metaphorik auch auf die Durchquerung des Berges auf dem Weg nach Arimaspi verweist, vgl. am Beispiel des HE B Stock: Kombinationssinn, S. 185 f., der hier auf Sir 4.31 f. als Quelle der Bildlichkeit hinweist. 538 Vgl. zum ‚vierfachen Schriftsinn‘ im Allgemeinen Ohly: Geistiger Sinn, S. 13–15. 539 Die Ebenen des Dies- und Jenseits sind stets aufeinander bezogen und doch getrennt. Wie sie jeweils gewichtet werden, hängt von der jeweiligen Perspektive ab. Dies zeigt sich bei den Ansprachen Ernsts und des Mohrenkönigs vor der Schlacht gegen die Babylonier (vgl. Cgm 572, fol. 56r.–57r.). Der Herzog hebt vor allem darauf ab, dass die Feinde nur den Leib, nicht aber die Seele der christlichen Krieger töten können (vgl. fol. 56r.). Sie müssen sich von allem Irdischen
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eingeführte Metapher aus christlichem Zusammenhang auf ein weltliches Thema. Vielmehr weist er auf eine Bedeutungsebene hin, die bereits Teil des weltlichen Königreiches ist, insofern es sich dabei um ein christliches Reich handelt. Doch bereits in den Drucken des HE F wird die Allegorie eines gesicherten Kiels („schiffpoden“) für die Zukunft des Reiches zu Dankesworten für die Aufnahme im Mohrenland beziehungsweise für die Überfahrt aus Arimaspi vermittels der Kaufleute: „wann da ich durch mage der schiffbotten úwers richs an sicher schiff statt erwelich geruͦ et vnnd frydsam beliben“ (stellvertretend Knoblochtzer, fol. [43]r.). Die Druckerverleger verstehen die Allegorie wörtlich und passen sie dementsprechend an die Romanhandlung an. In Bezug auf Jerusalem referiert Ernst auf eine allegorische Ebene, wenn er den Namen der Stadt etymologisch als „ein beschawung des Frides“ ausdeutet (fol. 60r.).540 Dass er dort gegen die Heiden zu kämpfen beabsichtigt, stellt keinen Widerspruch zur allegorischen Deutung dar, denn der Kampf gehört zur buchstäblich-historischen Sinnebene. Moralisch-tropologisch deutet Ernst seine Geschichte dagegen, wenn er sich dankbar für das Leiden im sirtischen Meer zeigt, das ihm und seinen Rittern bereits im Diesseits ermögliche, einen Teil ihrer Sünden abzubüßen, sodass er sie auffordert, geduldig zu sein im Angesicht des Todes (vgl. Cgm 572, fol. 45v.). Auch die konkrete Warnung, der Versuchung in Agrippia nicht zu erliegen und
lösen und im Vertrauen auf Christus in den Kampf ziehen (vgl. ebd.; für das Hieronymus-Zitat vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 131 f. mit Bezug auf den HE C). Losgelöst vom buchstäblichen Verständnis streiten sie sodann als Vertreter der Christenheit nicht nur gegen Heiden, sondern gegen die Boten des Antichrists selbst, die sie nicht einfach töten, sondern direkt zur Hölle senden werden (vgl. fol. 56v.). – Der mohrische König nennt seine Krieger zwar auch Kämpfer Christi wider die „teüflich fraÿßlickeit der verdampten heÿden“ (fol. 56v.), doch bleibt dies eine punktuelle Stilisierung. Denn er führt insbesondere die Bedrohung auf der diesseitigen Ebene weiter aus als Ernst. So greifen die Babylonier neben „leib vnd leben“ auch „vatterland vnd zeitlich er vnd guͦ te [...] weÿbe vnd kinder“ sowie „vatter vnd muͦ tter“ an (ebd.). Sein Heer solle daher das „Joch [...] der heÿdnischen vndertänighait“ abwehren (ebd., fol. 57r.) und die Zerstörung des Vaterlandes verhindern (vgl. ebd.). Anders als der Herzog dominiert für den Mohrenkönig das Irdische: „Denn wirt berürt dein aÿgen sach . So die nächst wannd prÿnnet an deim gemach“ (fol. 56v.f.). Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 348, Anm. zu Z. 11, weist dies als Horaz-Zitat nach. Während Ernst also mit Hieronymus einen Bezug auf die Überwindung des Teufels und das Erlangen des Himmelreiches herstellt, ist für die Rede des Mohrenkönigs mit dem Antikenzitat eine innerweltliche Metaphorik gewählt, um die von den Babyloniern ausgehende Gefahr zu illustrieren. Insofern ist es konsequent, dass er in seiner Rede auf die Flucht vor dem Feind als mögliche Gefahr sogar für die christliche Seele eingeht (vgl. ebd.). Denn wer geneigt ist, das Diesseitige über das Jenseitige zu stellen, riskiert, mit „schantliche[r] flucht“ zwar das kurze Erdenleben zu retten, dadurch aber „ewige[ ] verdamnuß“ zu verdienen (fol. 57r.). 540 Vgl. dazu Carl Siegfried: Die hebräischen Worterklärungen des Philo und die Spuren ihrer Einwirkung auf die Kirchenväter. Magdeburg 1863, hier: S. 22.
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etwas zu stehlen (vgl. ebd., fol. 41r.), sowie die Ablehnung von „er vnd reÿchtum diser welte vnd alle[r] wollust“ zugunsten der Anschauung der „werden gots statte“ (fol. 60r.), gehören auf diese Ebene.541 An mehreren Stellen schließlich legt Ernst das Geschehen anagogisch aus. Dies ist immer dann der Fall, wenn er von seinen Rittern als dem Volk Israel oder von seinen Feinden als den Feinden eben dieses Volkes spricht. In Agrippia ist dies indirekt durch zwei intertextuelle Verweise auf biblische Erzählungen der Fall. Zum ersten dankt Ernst Gott angesichts des unbewachten Festmahls für diese Speisung „[i]nn der wüstin“ (Cgm 572, fol. 41r.). Da es auf der buchstäblichen (Handlungs-)Ebene keinen Anlass gibt, die Stadt der Kranichmenschen als ‚Wüste‘ oder einen anderen Raum der ‚Wildnis‘ oder ‚Einöde‘ zu charakterisieren, deutet Ernst das Geschehen auf die Speisung der Israeliten mit Himmelsmanna und Wachteln beim Auszug aus Ägypten (vgl. Ex 16). Seine Warnung, etwas anderes als Nahrung aus der Stadt mitzunehmen, exemplifiziert er ferner mit einer Nacherzählung von Jos 7 (vgl. Cgm 572, fol. 41r.). Freilich macht nicht jede Erzählung einer Beispielgeschichte die Lebensgeschichte des Hörers auf eine eschatologisch-anagogische Bedeutungsebene hin lesbar. Doch ist hier genau dies aufgrund weiterer Handlungsparallelen der Fall. Zu denken ist an den Aufbruch ins Heilige Land (fol. 36v.f.), die Versuchung durch Gott (vgl. fol. 41r.) oder die Gegnerschaft der Kanaaniter, die sowohl in Jos 7 als auch in der Arimaspi-Episode thematisiert wird (vgl. fol. 52v.f.). Einen Verweis auf das Himmlische Jerusalem als Paradefall anagogischer Bedeutungskonstitution gibt es innerhalb der hier untersuchten Figurenreden nicht. Allerdings beschreibt Ernst die Stadt als vom Passionsgeschehen geziert und als „Er der alten Ee . vnd auch der neẅen“ (fol. 46r.). Als letztes Beispiel der Sinnstiftung auf der Dimension der Figurenrede gehe ich noch kurz auf die Predigt des Bamberger Bischofs ein, die nur in den Redaktionen des HE F ausgeführt ist (vgl. Cgm 572, fol. 67r.f.). Auf Handlungsebene dient sie der Vorbereitung der Versöhnung von Herzog und Kaiser, aber die Predigt geht in dieser ‚buchstäblichen Funktionalisierung‘ nicht auf. Zwar fordert er die Gemeinde zur Vergebung auf, damit Gott einem jeden auch vergebe, und konkretisiert dies im Hinblick auf Ernst und Otto, indem das „gifte des langgewerten zorns vnd alten neÿdes“ überwunden werden solle (fol. 67v.). Aber der Bischof predigt darüber hinaus gegen das Stückwerk bloßer Tugendhaftigkeit, das nur mit Hilfe der Durchdringung des Irdischen durch die Liebe zu überwinden sei: „ÿegliche tugend on dÿ liebe die verlüßt Jren namen vnd nucz genczlich . Dann on dÿ wrczel [sic] der lieb mag kein tugent gewachsen noch
541 Zu Ernsts „[g]eistlich Opfer seins reẅigen herczens“ (fol. 62r.) vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 158–160; Goerlitz: Heidenkampf, S. 94.
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bestan“ (fol. 67r.f.). Wenn sich Ernst am Übergang vom Kindes- zum Mannesalter selbst „mit dem Swert des Adels“ gürtet, „das mit der feÿhel . maniger tugende zuͦ gliczendem schein gefeget vnd gecläret was“ (fol. 25r.f.), dann zeigt der weitere Verlauf die Scheinhaftigkeit dieses Vorzugs auf. Ernsts aber auch Ottos Tugendhaftigkeit, die am Anfang der ersten Reichshandlung vorgestellt werden (vgl. fol. 25r.–26v.) sind hinfällig ohne das göttliche Gebot der Nächsten- und der Feindesliebe. Nur mit der Liebe würden der Hass und Neid eines Verleumders ins Leere laufen. Wenn sich bei Ernsts deditio das christliche gegen das politische Ritual durchsetzt, wie Corinna Dörrich für den HE C darlegt,542 dann ist das, was der Bischof hier aus seiner Perspektive formuliert, die Utopie eines christlichen Kaiserreiches, das Frieden durch Liebe auf Dauer zu stellen vermag.
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst 3.2.1 Globale Architektur und Äquivalenzrelationen Vorherrschendes Merkmal der globalen Architektur der Ernst-Geschichte ist die Verknüpfung von zwei in sich heterogenen Handlungsräumen, die durch zahlreiche Äquivalenzrelationen miteinander verbunden sind, sodass der Orient beziehungsweise einige seiner Teile zu Recht als ‚Reflexionsraum‘ oder ‚Heterotopie‘ des Kaiserreiches beschrieben werden.543 Die Ausformung dieser globalen Struktur ist für den HE B gut erforscht.544 Vieles lässt sich auf den HE F/VbKomplex übertragen, einiges ist dabei jedoch zu modifizieren. Mit der Verflechtung von Verleumdungs- und Versöhnungsgeschehen der Reichshandlung mit dem Schema der Kreuz- und Abenteuerfahrt des Helden verfügt der Verfasser des HE B souverän über strukturelle Elemente der literarischen Tradition.545 Dies
542 Vgl. Dörrich: Poetik des Rituals, S. 135–139. 543 Vgl. vor allem Stock: Kombinationssinn, S. 189–217; Mareike Klein: Farben der Herrschaft, S. 253–277. 544 Während Zeitangaben im HE B strukturelle Bedeutung haben, ist Vergleichbares für den HE F/Vb-Komplex nicht festzustellen (beispielsweise führt Ernst sechs Jahre lang Krieg im Kaiserreich und hält sich sechs Jahre lang in Arimaspi auf [vgl. V. 1191 und V. 5334]; Monika Schulz: triuwe im HE B, S. 411–423, weist zudem auf eine ‚annum-et-diem‘-Struktur hin). Was die Konstellation von Figuren anbetrifft, gelten für den Prosaroman die Ausführungen Stocks zur Organisation der Handlung im HE B mithilfe von Figurenpaaren (vgl. Stock: Kombinationssinn, S. 176– 180, und in diesem Zusammenhang Kap. 1.2.3, S. 69–73, zur Anlage des Fortunatus als Generationenroman). 545 Vgl. Neudeck: Kaiser Otto, vor allem S. 142 und S. 147 f.; zum Spiel mit dem Brautwerbungsschema vgl. ebd., S. 146 f.
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zeigt sich gerade dann, wenn er einerseits das Brautwerbungsschema in seiner ungefährlichen Spielart mit Ottos Werbung um Adelheid normgerecht durchführt, andererseits aber in Grippia Erwartungen einer Durchführung der ‚gefährlichen Brautwerbung‘ weckt und mit dem Tod der indischen Prinzessin enttäuscht. Nach Michael Curschmann entstehe die Ernst-Geschichte allererst durch die Spannung einer „aktualisierenden Beziehung der Reichsgeschichte auf die Orientfahrt“.546 Jürgen Kühnel schreibt, dass die räumliche Zweiteiligkeit quer liege zu einer dreiteiligen Handlungsstruktur von „Aufstieg – Sturz – Bewährung und erneute[m] Aufstieg des Helden“.547 Dieses Schema korrespondiere mit dem ‚Doppelten Kursus‘ des Érec Chrétiens des Troyes.548 Der gedankliche Anschluss an den Artusroman ist allerdings unnötig und irreführend.549 Wie in den von Elisabeth Schmid kritisierten Fällen bei ihrem Angriff auf Doppelweg-Analysen im Allgemeinen handelt es sich bei der von Kühnel beschriebenen Architektur der Ernst-Geschichte einfach um eine ‚Peripetie-Struktur‘.550 Mit der durch ‚Äquivalenzrelationen‘ vermittelten „linearisierten Anordnung“ von Reichs- und Orient-
546 Curschmann: Spielmannsepik, S. 41; vgl. dazu auch Szklenar: Bild des Orients, S. 152. 547 Kühnel: HE-Struktur, S. 258. – Ernsts Abstieg und Wiederaufstieg findet dabei jeweils in beiden Handlungsräumen statt. Er unterscheidet hier drei Ebenen, auf denen sich der Sinn der Geschichte entfalte: eine reale, eine allegorische und eine mythische Ebene, wobei nach Ernsts Sturz „die Ereignisse von der realen auf die allegorische Ebene verlegt“ (S. 265) und die Ereignisse dadurch „ins Exemplarische“ gewendet würden (S. 264). 548 Zum Hinweis auf den ‚Doppelten Kursus‘ vgl. Kühnel: HE-Struktur, S. 258; zur Darstellung der drei Teile ebd., S. 258–261. Vgl. dazu auch Wehrli: Herzog Ernst, S. 450. – Auf ein quantitatives Missverhältnis bei der vermeintlichen Realisierung des Schemas weist bereits Siegfried Jäger: Komposition des HE B, S. 229 f., hin; vgl. allgemein zum Schema des Versromans ebd., S. 221– 230. 549 Schon Wehrli: Herzog Ernst, S. 440, weist darauf hin, dass „Krise und Integration“ am Anfang des Epos „die objektive Größe des Reichs“ und nicht den Helden oder Otto als anderer Artus betreffen und dass Unterschiede zwischen Orient und Anderwelt bestehen (vgl. S. 444). Vor allem aber zeige Ernsts Scheitern in Grippia, dass es sich hier um keinen Artusritter handeln kann (vgl. S. 446). Außerdem ist zu fragen, welche Episode der obligatorischen ‚Zwischeneinkehr‘ von Kuhns ‚Doppeltem Kursus‘ entsprechen solle. Ein Mordanschlag ist schwerlich als ‚Freudenferne‘ zu interpretieren (vgl. Hugo Kuhn: ‚Erec‘. In: Hartmann von Aue. Hg. von Christoph Cormeau, Hugo Kuhn. Darmstadt [1948] 1973 [Wege der Forschung 359], S. 17–48, hier: S. 31). 550 Vgl. Elisabeth Schmid: Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Unter Mitwirkung v. Peter Ihring. Hg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 1999, S. 69–85, hier: S. 75, und dazu auch Stock: Kombinationssinn, S. 158. – Es überrascht insofern nicht, dass Sowinski: Nachwort, S. 422 f., zeitgleich zu Kühnel, über den „spätantiken Reiseroman[ ]“ als „kompositionelles Vorbild für die Herzog-Ernst-Dichtung wie für die Artusromane“ gleichermaßen mutmaßt.
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teil verfügt der HE B jedoch über ‚Kombinationssinn‘ – eine Form der Sinnstiftung, die Markus Stock in seiner Dissertation beispielgebend herausarbeitet.551 Stock geht ebenfalls von der strukturellen Dimension einer räumlichen Zweiteiligkeit des HE B aus (vgl. S. 151–166), wobei er den Orient als einen ‚Reflexionsraum‘ der Herrschaftsproblematik im Reich versteht (vgl. S. 189–217).552 Dabei sei die Zweiteiligkeit „die strukturelle Basis für sinnstiftende Operationen“ (S. 226). Sie löse einen „sinnbildenden Prozeß“ aus, den Stock als „korrelative Sinnstiftung“ bezeichnet (S. 28).553 Er zeigt für den HE B, dass es dabei um die Demonstration eines „unlösbare[n] Problem[s] der Herrschaftsform“ gehe (S. 227), deren Ziel die Reflexion der „Einheit des rîches in der zeitlich unbegrenzt eingehaltenen triuwe seiner Träger“ sei (S. 228). Ernst beschreite dabei einen „StellvertreterWeg“, auf dem er seine Leistungsfähigkeit ebenso demonstriere wie sich für das Reich als Ganzes „das Prinzip der personalen Bindung“ bewähre (S. 217). Der ‚Kombinationssinn‘ der beiden räumlich unterscheidbaren Werkteile liege also in der „Möglichkeit, eine Niederlage in einen Sieg umzukehren“ (S. 199). „Zweiteiligkeit und Handlungsdoppelung“ erweisen sich im Vergleich mit weiteren Werken des Hochmittelalters als „narrative Universalien“ (S. 11 mit Hinweis auf Walter Haug). Die Verbindung „durch signalhafte Äquivalenzrelationen“ sieht Stock ferner als „leistungsfähige[n] Sinngenerator“, der den Leser zu dem „interpretatorischen Akt [...] eine[r] kohärente[n] Lektüre“ auffordere (alle S. 283). Man könnte daher auch formulieren, dass die Ernst-Geschichte aufgrund ihrer ‚Polyfunktionalität‘ ein Aktualisierungspotential berge, das sich in der Fassungsgeschichte ebenso wie in der Redaktionsgeschichte der einzelnen Werke untersuchen lässt. An den späteren Fassungen lässt sich jedenfalls eine erweiterte
551 Hier Stock: Kombinationssinn, S. 301 f. Die folgenden Nachweisklammern im Fließtext beziehen sich auf diese Arbeit. – Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung ihrer Wichtigkeit für den HE B vgl. die Rez. von Christian Kiening, in: ZfdPh 123/3 (2004), S. 434–437, hier: S. 435, s. aber auch die Kritikpunkte von Ulrich Seelbach in seiner Rez., in: JbIG 40/1 (2008), S. 189–193, insbesondere zur selegierenden Beschränkung auf Strukturen und auf die gerade gewählten Strukturen. 552 In der jüngeren Vergangenheit erscheint nahezu in jedem Jahr eine neue Arbeit zum Orientteil des HE B beziehungsweise zu einzelnen Episoden der Orienthandlung. Gemeinsam ist ihnen der Ausweis von ‚Äquivalenzrelationen‘ zum Reichsteil im Sinne von Stock (vgl. Kasten: PsychoLogik; Craciun: Bild des Orients; Morsch: Beobachtung im HE B; Carey: Monstrous Counsel; Lazda-Cazers: Hybridity and Liminality; Nushdina: Darstellung des ‚Fremden‘; Hans-Joachim Behr: Herzog Ernst; Hans-Joachim Behr: Ungeheuer und Monstren; Laude: Grenzsprachen; Barbara Haupt: Herzog in Fernost; Bowden: A false down, sowie Antunes: Schwelle des Menschlichen). Als besonders fruchtbar erweist sich die Anknüpfung an Edward Saids Theorie des Orients als Konstrukt (vgl. Mareike Klein: Farben der Herrschaft, S. 233–235). 553 Vgl. dazu auch seine Fallstudie zur Kaiserchronik Stock: Kombinationssinn, S. 34–72.
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Mehrsinnigkeit durch größere Vielstimmigkeit erkennen. Ist im HE B nach Stock Ernst der Perspektiventräger der Geschichte, „um den herum die entworfene Welt gruppiert ist“ (S. 175), so betont Clemens Heselhaus, dass dieser Einzelheld im HE F „den Mächten und Wundern und Stimmen außer sich“ ausgesetzt werde.554 Dadurch aber gewinnen bislang periphere Akteure größeren Einfluss auf die Sinnstiftung. Dieses Phänomen gilt nicht nur für die Pluralisierung aktiver Instanzen auf den haupttextuellen Dimensionen, sondern auch für zusätzliche Dimensionen des Paratextes und der Werkarchitektur. Die Rede von zwei Handlungsräumen oder drei Handlungsteilen simplifiziert allerdings den Aufbau der Geschichte, unabhängig davon, ob man sich auf den HE A/B- oder den HE F/Vb-Komplex bezieht. Uwe Meves weist darauf hin, dass analog zur Reichs- in Bezug auf die Orienthandlung der Kreuzzugsorient „die ethnographische Wunderwelt“ ihrerseits umrahme,555 und die Argumentation in der Arbeit von Mareike Klein ist auch auf ‚Äquivalenzrelationen‘, aber zwischen Grippia und Arimaspi und damit innerhalb des Orients aufgebaut.556 Da im HE F und HE Vb explizite Appelle, Bezüge zwischen den einzelnen Werkteilen herzustellen, fast völlig fehlen,557 lässt sich die Entscheidung, wie fein die Handlungsräume letztlich für eine Analyse untergliedert werden, und damit, welche Äquivalenzrelationen überhaupt in den Blick geraten sollen, nicht von der Subjektivität des Interpreten trennen. Gerade deshalb ist es mir wichtig, unten mit der Kapitelgliederung eine objektiv fassbare Strukturierung der Ernst-Geschichte genauer zu untersuchen.558 Innerhalb der beiden Reichsteile scheinen mir zwei zusätzliche Einschnitte bei Heinrichs Verleumdung und der Versöhnung mit dem Kaiser nahezuliegen. Es entstehen dadurch vier Abschnitte der Reichshandlung: zwei, in denen Ernst und Otto miteinander kommunizieren, und zwei, in denen diese Kommunikation durch die Verleumdung und ihre Folgen unterbunden ist. Doch legt für den HE F und den HE Vb bereits der Umstand, dass die Otto-Figur am Anfang des ersten
554 Heselhaus: Märe und History, S. 243. 555 Meves: Studien zu HE, S. 169. 556 Vgl. Mareike Klein: Farben der Herrschaft, S. 233–302, vor allem: S. 292–302. – Selbstverständlich arbeitet auch Stock: Kombinationssinn, mit Binnendifferenzierungen (vgl. stellvertretend für den Orientteil: S. 193). 557 Nur in den Redaktionen des HE F verweist der Erzähler auf eine Kreisstruktur, insofern sich Ernsts „stand vnd wesen“ in eben jenen Zustand „verkert“ haben, „denn sie ain anfang hetten“ (Cgm 572, fol. 70r.). – Weiter unten komme ich auf die typologische Anlage der Geschichte zu sprechen. 558 Vgl. das Kap. 3.2.2.
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
471
Abschnitts noch nicht eingeführt ist,559 nahe, die Elternvorgeschichte zu separieren.560 Dadurch lässt sich die kurz beschriebene Herrschaft von Ernsts gleichnamigem Vater und seiner eigenen Regierungsweise sowohl in Bayern und Österreich als auch in Arimaspi miteinander in Beziehung setzen. Andererseits verstärkt sich der Eindruck der Asymmetrie des Erzählten. Bedenkt man zusätzlich, dass der Orient in mehrere Stationen untergliedert ist (neben Agrippia und Arimaspi sind das sirtische Meer mit den Naturräumen ‚Wilder Wald‘ und ‚Tiefes Tal‘, Mohrenland, Babylon und Jerusalem zu nennen) und dass Ernsts Fahrt mit Ungarn und Konstantinopel sowie Bari und Rom weitere Stationen umfasst, verkompliziert sich der vermeintlich übersichtliche Aufbau weiter. An zwei Beispielen möchte ich Stocks Suche nach Äquivalenzrelationen auf den Prosaroman ausweiten. Zum einen gehe ich an HE F Cgm 572 auf das Geschenk des Unio und zum anderen auf die Wiederholung des Fußfalls durch Herzog Ernst am Beispiel von HE Vb Han 1 ein. Auch im HE B erringt Ernst im Orient mit dem Waisen einen besonderen Stein, den er entsprechend der Prolepse des Erzählers Otto schenken wird (vgl. V. 4456–4465). Von einer Übergabe an den Kaiser erzählt das Versepos jedoch nichts. Stock sieht darin „eine ‚Lücke‘ in der Beschreibung, wie es zur Lösung der zentralen Krise des Romans“ – der Verstetigung des auf triuwe angewiesenen Herrschaftssystems561 – kommen könne (S. 224). Indem der Waise nicht innerhalb der Erzählung übergeben, sondern nur auf der Dimension der Erzählerrede auf den heutigen Aufenthaltsort verwiesen wird („[i]n riches kron man yen siecht“, V. 4465), werde die reale Kaiserkrone zum Symbol der Utopie einer „Einheit von Zentralmacht und Partikularfürst“ (S. 225). Im HE F dagegen wird erzählt, wie Ernst Otto den Unio schenkt: Der Herzog präsentiert seine Wunderwesen. Das Lob der Umstehenden kennt keine Grenzen, es steigt „bis Jnn das gestirne“ (Cgm 572, fol. 69r.). Genau in diesem Moment erfolgt die Übergabe des Steines, den – wie der Erzähler auch hier bereits oben in einer Prolepse ankündigt – „ein ÿeglicher Römischer kayser Jn seiner Crone tregt von groß zierlichs scheins wegen“ (ebd., fol. 49v.). Dieser Schein aber wird bei der Bergdurchquerung als „Scheine von den gnaden des ewigen liechts“ (ebd.) charakterisiert. Indem Otto nach der Versöhnung den Stein „aÿnikait“ als gegenwärtiger Vertreter der Zentralgewalt erhält, geht damit ebenfalls die göttliche Gnade an ihn und das Kaiserreich über. Über Äquivalenzrelationen sind nun
559 Zur Organisation des HE B entlang von Figurenpaaren vgl. Stock: Kombinationssinn, S. 176– 180, und S. 295f. im Kap. 2.3.3.3. 560 Durch die kurze Eltern- und Stiefvatervorgeschichte partizipiert die Ernst-Geschichte am Erzählschema des Generationenromans (vgl. dazu meine Ausführungen zum Fortunatus S. 69–73 im Kap. 1.2.3). 561 Diesem Aspekt ist auch der Aufsatz von Monika Schulz: triuwe im HE B gewidmet.
472
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
gleichzeitig die Gefahr einer zu großen Erhöhung des Herzogs (der Beifall der Umstehenden korrespondiert mit dem Neid des Pfalzgrafen), seine Unterordnung unter den Kaiser (die Übergabe des Unio als Symbol der Einigkeit) und Gott als Garant dieses weltlichen Herrschaftssystems (das beim Erlangen des Steins bewiesene Maß an Gottvertrauen und der Abglanz des ewigen Lichtes) aufgerufen. Was im HE B eine Leerstelle leistet, wird im HE F mit Hilfe einer Gefülltstelle realisiert, die aber zusätzlich die Instanz Gottes in das mögliche Gelingen einbezieht.562 Die globalen Architekturen der Ernst-Geschichten verschiedener Fassungen ähneln sich bisweilen stark. Dennoch ist Natalia Nushdina zu korrigieren, wenn sie beim Vergleich von HE B und HE F zu dem Ergebnis kommt, dass „[d]ie Struktur der Werke, mit Ausnahme des fehlenden Prologs in Herzog Ernst F [...] keine großen Unterschiede“ aufweise.563 Nicht nur lässt sie außer Acht, dass im Cgm 572 ein historiographisches Vorwort an die Stelle des HE B-Prologs tritt,564 vor allem aber lässt sich die F-Fassung der Ernst-Geschichte nicht ohne Berücksichtigung der prominenteren Position der Adelheid-Figur interpretieren. Spricht Hugo Kuhn bei seiner Darstellung des ‚Doppelten Kursus‘ in Hartmanns von Aue Erec von der Wiederholung des Räuberabenteuers als einem ‚epischen Doppelpunkt‘,565 so enthält der HE F am Übergang von der zweiten Reichshandlung zu den Wundererzählungen der heiligen Adelheid ein ‚typologisches Ausrufungszeichen‘. Der Erzähler schließt die eigentliche Ernst-Geschichte im HE F mit der Behauptung, dass Gott „manigualtige wunnderzaichen“ durch heilige Menschen wirke – so auch im Fall Adelheids und der glücklichen Versöhnung von Herzog und Kaiser (Cgm 572, fol. 70r.). Darüber hinaus habe Gott „uil andre zaichen durch sÿ [...] erzaiget“, die in Auswahl „hernach also geschriben“ seien (ebd.). Explizit werden die bisherige Romanhandlung und die folgenden Mirakelerzählungen aufeinander bezogen, sodass die Schlüsse, die sich aus einer Analyse des Wunderteils ziehen lassen, über das Bindeglied göttlichen Wunderwirkens auch für den Roman als Ganzes gelten. Thomas Ehlen spricht in Bezug auf den strukturell entsprechend konstruierten HE C von einer „neuen Struktur der Allegorie“, die „in der Horizontalen“ die „eher vertikale Struktur“ des HE A/B-Kom-
562 Vgl. dazu auch meine Ausführungen zur Liebespredigt des Bischofs von Bamberg, S. 466f. im Kap. 3.1.2.4. 563 Nushdina: Darstellung des ‚Fremden‘, S. 11. 564 Vgl. dazu das Kap. 3.3.2. Eine strukturelle Bedeutung kommt diesem Paratext meines Erachtens nicht zu, da sich das Vorwort aufgrund seiner lateinischen Sprache stärker auf den im Cgm 572 direkt nachfolgenden HE C bezieht. 565 Vgl. Kuhn: Erec, S. 34.
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
473
plexes erweitere.566 Bei meiner obigen Deutung weise ich typologische Bezüge der Adelheid-Mirakel auf die Ernst-Geschichte nach und lege die Überlegenheit des mütterlichen Lebenswegs dar.567 Die Geschichte wird also nicht nur durch einen Anhang verlängert, aufgrund der strukturellen Verklammerung wirken sich die im Hinblick auf den Gattungscharakter signifikant abweichenden Episoden sinnstiftend auf die Gesamtdeutung aus. So gesehen tritt im HE F die Anbindung an literarische Strukturen und Schemata hinter die typologische Verknüpfung von Ernst- und Adelheid-Geschichte zurück.568 In Bezug auf die oben zum Exempel gewählten Episoden geht es nicht länger um Realisierung und Modifikation des Brautwerbungsschemas, sondern um die erzählerische Entfaltung von paulinischer Ehelehre und christlichem Tod als Jungfrau.569 Wie ich im Kap. 3.1.1.10 zeige, ist diese Wirkung im HE Vb allein schon dadurch abgeschwächt, dass die Wundererzählungen motiviert und romanhaft bearbeitet werden, insbesondere aber der typologische Gehalt starker Kürzung unterliegt. Etwas weniger folgenreich, aber dennoch nicht zu ignorieren, ist die zweite Äquivalenzrelation des HE Vb Han 1, die ich im Folgenden vorstelle. Wie im HE B und HE F fällt Ernst an prominenter Stelle während des Weihnachtsgottesdienstes, bei dem es im Anschluss zur Versöhnung zwischen Sohn und Stiefvater kommt, Otto zu Füßen (vgl. fol. Mvv.). Dabei sieht Adelheids Plan eigentlich vor, dass sich Ernst gemeinsam mit Wetzelo dem Kaiser unterwerfen solle (vgl. fol. Miijr.). Dieser hält sich jedoch in HE F und HE Vb mit dem Schwert bereit, damit er, sollte es nicht zur Versöhnung kommen, Otto töten könne (vgl. fol. Mvr.). Doch nur in den Redaktionen des HE Vb stellt dieser Vorgang eine Wiederholung dar. Denn schon in der ersten Reichshandlung fällt Ernst, als Otto ihn in höchsten Ehren empfängt, dem Kaiser zu Füßen (vgl. Han 1, fol. Br.). Auf der haupttextuellen Inhaltsdimension lässt sich dieser Vorgang im Vergleich mit dem HE F und in Übereinstimmung mit der Erzählerrede als Akt vergrößerter Unterwürfigkeit interpretieren: Ernst „erzeigt sich als ein gutwilliger Son/ der jm vnderthenig vnd gehorsam sein wolt“ (ebd.).570 Beachtet man aber die strukturelle Äquivalenzrelation, gerät durch den Hinterhalt der zweiten Szene auch der erste Fußfall in ein ungünstiges Licht. Insbesondere fällt Adelheids inständige Bitte, Ernst möge „[s]einem Vatter [...] allzeit gehorsam sein“ (Bv.), aus der allgemeinen Freude
566 Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 136 f. 567 Vgl. S. 434 und S. 437–441 im Kap. 3.1.1.10 und S. 462f. im Kap. 3.1.2.3. 568 Vgl. S. 431 im Kap. 3.1.1.10. 569 Es sei hier nochmals daran erinnert, dass HE C und HE F hier nichts völlig Neues in die Geschichte einbringen, sondern entsprechende Tendenzen des HE B lediglich verdeutlichen (vgl. Neudeck: Ehre und Demut, S. 202/Anm. 70). 570 Vgl. auch meine Ausführungen S. 350–352 im Kap. 3.1.1.1.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
heraus. Über Äquivalenzrelationen lässt sich damit auch dieses Element in meine Deutung des HE Vb einbinden, obwohl es ihr haupttextuell zu widersprechen scheint. Thema ist hier eben nicht die Verstetigung des Reichsgedankens durch ritterliche triuwe (HE B) oder göttliche Liebe (HE F), sondern der Fokus verschiebt sich auf den Helden und dessen Handlungsmächtigkeit. Diese schließt eine Unterwerfungsgeste als Option ein, wenn es die Umstände erfordern. Sie bindet den Helden im Unterschied zum HE B jedoch gerade nicht. Zuletzt bleibt kurz einzuschätzen, ob die Sammlung von Sprichwörtern, die in einigen Drucken des HE Vb auf die Wundererzählungen von der heiligen Adelheid folgt, nur paratextuell oder auch strukturell zur Sinnstiftung dieser Redaktionen beiträgt. Ich zeige oben auf, dass es zahlreiche thematische Parallelen mit der Haupthandlung gibt und schlage dort vor, bei Differenzen eine Form negativer Didaxe in Erwägung zu ziehen, die den Rezipienten auffordert, gegebenenfalls auf der Lektürebasis des HE Vb Widerspruch gegen einige Lehren des ‚Anhangs‘ einzulegen.571 Entscheidend für die Frage nach der strukturellen Einheit von HE Vb L1, L2, M1, M2, N, P1 bis P5 und Everaerts ist die Entscheidung, wo der Prosaroman von Herzog Ernst ende. Die eigentliche Erzählung schließt im HE F noch vor den Wundererzählungen. Zur Einheit werden die beiden Werkteile durch die strukturelle Verbindung in der Form des oben erwähnten ‚typologischen Ausrufungszeichens‘. Sie als Einheit zu erkennen fällt dabei leicht, da mit Adelheid und Otto prominente Figuren der Ernst-Geschichte an der weiteren Handlung, die jedoch nicht romanhaft erzählt ist, beteiligt sind.572 Im HE Vb, der das ‚typologische Ausrufungszeichen‘ tilgt, wird die Einheit zum einen dadurch gewährleistet, dass der knappe Stil der Mirakel an das romanhafte Erzählen des Hauptteils angeglichen wird, und zum andern dadurch, dass nun mit Ernst und Wetzelo auch die beiden anderen Protagonisten in diesem Werkteil Erwähnung finden. Beim Sprichwörteranhang gibt es dagegen weder Übereinstimmungen des Personals noch explizite Bezugnahmen des Haupttextes auf die Sammlung oder umgekehrt, und auch die Dimension des Titelblattes kündigt in den entsprechenden Redaktionen nur die Ernst-Geschichte, nicht aber jenen Teil des Buches an, der sich selbst als ‚Anhang‘ klassifiziert. Dies sind für mich Signale, die Sprichwörter zwar als Teil des Werkes zu besprechen, zumal da ich das ‚Werk‘ als einen ‚Buchtyp‘ verstehe und die gemeinsame Überlieferung in zahlreichen Redaktionen die geschichtliche Erscheinungsform des Romans prägt, die Sammlung aber anders als die Wunder-
571 Vgl. zu seiner inhaltlichen Analyse im Vergleich mehrerer Varianten S. 255–260 im Kap. 2.3.1.2. 572 Vgl. S. 436f. im Kap. 3.1.1.10.
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
475
erzählungen nicht als Teil der globalen Architektur der Ernst-Geschichte aufzufassen.
3.2.2 Die Kapiteleinteilung Innerhalb des Spektrums struktureller Analysemöglichkeiten wie der Untersuchung des Einsatzes von Erzählschemata oder dem Vergleich von ‚Kontrast-‘ und ‚Parallelstellen‘ zielt die Interpretation der Kapitelgliederung stärker auf den Prosaromans als ‚Buchtyp‘.573 Zu seinen ‚internen Merkmalen‘ gehören nach Franz Simmler Kapitelgrenzen „zur Kennzeichnung der Kontinuität der Handlungsabfolge“.574 „Die Eingangsgestaltung“ solcher Kapitel lässt sich mit Ursula Rautenberg als ein „festes Dispositiv für illustrierte volkssprachliche Unterhaltungs- und Erbauungsliteratur beschreiben“, das sich sowohl in Handschriften als auch Drucken bis ins siebzehnte Jahrhundert durch „die dreiteilige Struktur von Überschrift, Bild und Beginn des Kapiteltextes“ auszeichne.575 Allerdings zeigt sich an den Redaktionen des HE F ein Strukturpluralismus, der Kapitelgrenzen prekär werden lässt und alternative Sinnabschnitte zur Diskussion stellt.576 So ist die Verwendung von Initialen, Alineazeichen und Leerzeilen teilweise unabhängig von Anfang und Ende der Kapitel. Erst in den Redaktionen des HE Vb kristallisiert sich dieses als vorherrschende Segmentierungseinheit heraus, was im Druck von Everaerts besonders deutlich wird, indem hier alle Kapitel durchnummeriert sind. Die Untersuchung des HE F/Vb-Komplexes erfolgt anhand von drei Klassen und zwei Einzelfällen. Die Einteilung orientiert sich mit der Verwendung von Zwischentiteln an der höchsten Hierarchieebene und entspricht damit der Einteilung im Kapitel 3.3.5:
573 Vgl. zum Prosaroman als ‚Buchtyp‘ S. 127–129 im Kap. 2.1.1.3. 574 Simmler: Mikro- und Makrostrukturelle Merkmale, S. 206. Vgl. dazu auch Simmler: Melusine um 1700, S. 579–581; Backes: Geordnete Texte, S. 312–314, sowie meine Ausführungen auf S. 124– 127 im Kap. 2.1.1.2. 575 Alle Zitate Rautenberg: Typographie, S. 354. 576 Zu einer Theorie der sinnstiftenden Funktion der Kapiteleinteilung vgl. S. 294f. im Kap. 2.3.3.3 und für die paratextuellen Möglichkeiten, den Sinn eines Kapitels in einem Zwischentitel oder in einer Illustration zu verdichten vgl. die Kap. 3.3.4 und 3.3.5.
476
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Abb. 18: Klasseneinteilung der HE F/Vb-Redaktionen anhand der Verwendung von Zwischentiteln. Sonderfall577
HE F Cgm 572
Klasse I
HE F Sorg 1, Knoblochtzer, Sorg 2 und Sorg 3
Klasse II
HE Vb Han 1, von der Heyden, Francke, Schröter und Endter 2
Sonderfall
HE Vb Singe
Klasse III
HE Vb L2, Fleischhauer, Zirngibl, P1, Everaerts, M2 und Trowitzsch
Anders als Defekte der verwendeten Exemplare sind signifikante Binnendifferenzen innerhalb der einzelnen Klassen bei den Ausführungen berücksichtigt. So enthält beispielsweise HE F Sorg 3 als Teil der Klasse I einen zusätzlichen Kapiteleinschnitt, während im HE Vb Endter 2 im Vergleich mit den anderen Vertretern der Klasse II zwei Kapitel zu einem zusammengezogen sind. Die am deutlichsten hervortretende Makrostruktur der Handschrift HE F Cgm 572 sind das Incipit und die zehn Zwischentitel, die jeweils Kapitel von teils beträchtlicher Länge (vgl. fol. 39r.–49v. oder fol. 54v.–65r.) einleiten. Nach jedem Zwischentitel beginnt der Kapiteltext mit Platz für eine unausgeführte Initiale. Jedoch deutet an zwei Stellen Weißraum auf ebenfalls fehlende Initialen hin, ohne dass dies mit einem Zwischentitel zusammenhinge (vgl. fol. 55v. und fol. 70r.). Darüber hinaus untergliedern ausgeführte Initialen den Abschnitt mit den Erzählungen der Adelheid-Wunder (vgl. fol. 70v.f.). Je nachdem, ob man hierin Kapitelgrenzen sieht, steht die Handschrift den Klassen I und II näher oder den späten HE Vb-Drucken der Klasse III, die alle Wundererzählungen mit Ernsts Präsentation der Wunderwesen zu einem Kapitel zusammenfassen (vgl. P1, S. 81–85). In den Kapiteltexten von Cgm 572 scheinen 18 Alineazeichen auf einer darunterliegenden Hierarchieebene zu liegen. Aber sie stehen zumeist an Scharnierstellen, an denen die Erzählung zwischen haupttextuellen Dimensionen wechselt oder unterschiedliche Zeitebenen aufeinandertreffen: beispielsweise zwischen der Prolepse auf Ottos künftiges Begräbnis und der Analepse auf seine erste Heirat (vgl. fol. 26r.) oder wenn die Perspektive nach Ernsts Abzug aus Regensburg mit Otto wieder auf eine andere Figur übergeht (vgl. fol. 35av.). Auch zeigen sie Erzählerreden an, die sich an den Rezipienten richten (vgl. fol. 37v., fol. 40v.
577 Von einer Besprechung des HE F Cgm 224 als einem weiteren Sonderfall sehe ich ab, da die Verbindung einer einzigen Kapitelüberschrift mit ‚Marginalzwischentiteln‘ im Orientteil den Roman nur bedingt strukturiert (vgl. dazu S. 520f. im Kap. 3.3.3 und S. 554 im Kap. 3.3.5.2).
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
477
und fol. 71r.).578 Sie erleichtern also die Lektüre, indem sie den Leser auf Sprünge in der erzählten Zeit und auf Perspektivenwechsel aufmerksam machen. Eine strukturierende Funktion, was die Untergliederung der Kapitel betrifft, haben sie nicht. Wohl aber ist der Text wie in allen Redaktionen mithilfe von Absätzen gegliedert, worauf ich unten eingehe.579 Eine Besonderheit der HE F-Redaktionen besteht darin, dass Verspassagen nicht konsequent, aber häufig, hervorgehoben werden.580 Im Cgm 572 erfolgt die Hervorhebung durch Unterstreichung sowie durch ein vorangestelltes ‚X‘ oder den vorangestellten Hinweis ‚verß‘. Da es sich hierbei um eine Form der Auszeichnung und nicht der Strukturierung handelt, gehe ich im vorliegenden Kapitel nicht näher auf diese Markierungen ein.581 Die Kapitel als höchste buchtypische Gliederungsebene werden in der Klasse I mit einem Zwischentitel eingeleitet, dem stets ein Alineazeichen vorangeht und auf den immer ein Holzschnitt folgt. Stellvertretend beziehe ich mich auf die 31 Kapitel von HE F Sorg 2, die immer mit einer Initiale beginnen. Deren Größe variiert stark, ohne dass diese Abweichung eine sinnstiftende Funktion hätte. Die Illustrationen wie auch der jeweilige Kapiteltext sind, wenn es der Umbruch erfordert, erst auf die Seite nach dem Zwischentitel gedruckt. Auch unterhalb der Kapitelebene werden Initialen und Alineazeichen verwendet.582
578 Weitere Alineazeichen werden verwendet auf fol. 26v., fol. 28r., fol. 33v., fol. 38r., fol. 45r., fol. 45v., fol. 51r., fol. 51v., fol. 63r., fol. 64v., fol. 64v., fol. 70r. und fol. 70r. 579 Vgl. das Kap. 3.2.3. 580 Zur Vorlage HE C als ‚Reimprosa‘ vgl. S. 319f. in der Einleitung zu Teil 3. 581 Vgl. zu den Verspassagen S. 293f. im Kap. 2.3.3.3. 582 Besonders hervorgehoben sind zwei Stellen, an denen zu einer Initiale eine Leerzeile hinzukommt. Der erste Einschnitt zwischen der knappen Beschreibung der Hochzeit Ottos mit Adelheid und dem Abschied der Gäste (vgl. fol. 6r.) entspricht fast einer Kapitelgrenze bei HE Vb Singe (vgl. fol. [Avij]v.). Der zweite erfolgt unmittelbar auf den Fund von Heinrichs verstümmeltem Leichnam (vgl. Sorg 2, fol. 13r.). Sowohl zwischen der erfolgreichen Verleumdung und der Sammlung eines Heeres für den ersten Kampf gegen Ernst (vgl. fol. 8v.) als auch zwischen dessen Ächtung und Ottos zweiter Sammlung (vgl. fol. 13v.) finden sich ebenfalls Initialen innerhalb der Kapitel – aber ohne Leerzeile. Beide Einschnitte sind ohne Entsprechung in anderen Redaktionen. Alle vier zusätzlichen Einschnitte verfeinern die Einteilung und sind daher auf ihren Beitrag zur strukturellen Sinnstiftung hin zu befragen. Ähnlich wie Cgm 572 enthält auch Sorg 2 weitere Alineazeichen. Sie stehen – aber nur am Romananfang – an jenen Stellen, an denen Verspartien der Reimprosa des HE C mit dem Zusatz ‚Versus‘ gekennzeichnet sind (vgl. fol. 8r., fol. 9r., fol. 10r. und fol. 11r.). Darüber hinaus dient es zur Hervorhebung von Aufzählungen (vgl. fol. 20v., fol. 23r., fol. 24r., fol. 38r., fol. 39r. und fol. 39v.) sowie zur Kennzeichnung zweier zeitlicher Sprünge (vgl. fol. 4v. und fol. 8v.) beziehungsweise eines Szenenwechsels (vgl. fol. 10r.). Kurz nach Mitte des Romans, wenn der Text kaum untergliedert ist (vgl. fol. 39v.–64v.), aber auch innerhalb des stark segmentierten Schlusses (vgl. fol. 64v.–67v.) kommen untergeordnete Einschnitte nur noch in Form von Absätzen vor.
478
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Meine Angaben zu den Redaktionen der Klasse II beziehen sich auf die Redaktion Han 1. Die Kapitel sind hier immer mit Zwischentitel und Initiale gekennzeichnet. In den meisten Fällen kommt eine Illustration hinzu. Nur im 15. und 25. Kapitel fehlt der Holzschnitt (vgl. fol. [Eviij]v. und fol. Hiiijr.). Selten, wenn es der Seitenumbruch erfordert, sind die Abbildungen nachgestellt. Ansonsten segmentieren nur noch Absätze den Text. Der Druck von Singe steht der Klasse II am nächsten, die Kapiteleinteilung weicht jedoch an zahlreichen Stellen ab. Am Anfang setzt Singe deutlich mehr Kapitelgrenzen – so ist der Text des zweiten und dritten Kapitels von Han 1 jeweils in vier Kapitel geteilt (vgl. fol. Aiijv.–[Bvij]r.). Dies lässt sich jedoch nicht als Tendenz verallgemeinern, da u. a. Hans 44. und 45. sowie 47. und 48. Kapitel bei Singe zu jeweils einem zusammengezogen sind (vgl. fol. Jvr.–[Jvj]v. und fol. [Jviij]v.–Kiijr.). Der dreiteilige Kapitelbeginn mit Zwischentitel, Initiale und Holzschnitt findet sich aber auch hier. Als Vertreter der Klasse III lege ich HE Vb P1 zugrunde. Die Kapiteleinteilung ist hier unabhängig von der paratextuellen Dimension der Illustrationen. Je nach Seitenumbruch können die Holzschnitte dem Zwischentitel voran- oder nachgestellt sein, bei drei Kapiteln gibt es kein Bild (vgl. S. 5, S. 27 und S. 57), in einem Fall jedoch zwei Abbildungen (vgl. S. 42 und S. 46). Zwischentitel und Initiale konstituieren in der Klasse III den jeweiligen Kapitelbeginn. Unter dieser Ebene gibt es zahlreiche Absätze, die in zwei Fällen um eine Leerzeile erweitert sind (vgl. S. 16 und S. 32). Die hierarchisch untergeordnete Gliederung entspricht keinem Kapiteleinschnitt in anderen Redaktionen und wird bei der Analyse berücksichtigt. Die Einteilung in Untersuchungsabschnitte orientiert sich an gemeinsamen Kapitelgrenzen der verschiedenen Klassen, Überlappungen sind dabei nicht zu vermeiden. Der erste Abschnitt endet vor Ernsts Mord an Heinrich, der zweite vor dem Entschluss zum Kreuzzug, der dritte vor der Ankunft in Agrippia, der vierte vor derselben in Arimaspi, der fünfte vor der Rückkehr ins Kaiserreich und der sechste und letzte Abschnitt umfasst die zweite Reichshandlung inklusive der Adelheid-Wunder.
Abb. 19: Übersicht über die Kapitelverteilung im ersten Handlungsabschnitt. Cgm 572
Kl. I
Kl. II
Singe
Kl. III
Elternvorgeschichte bis Einflussnahme der Räte auf Adelheid als Witwe
1
1
1
1
1
Ottos Vorgeschichte bis Annahme Ernsts an Sohnes Statt
2
2
2
2–5
2
Heinrichs Verleumdung mit Kampf um Bamberg bis Adelheids Nachricht an Ernst
3
3
3
6–9
3
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
479
Der erste untersuchte Handlungsabschnitt ist in allen Redaktionen in drei einander jeweils entsprechende Kapitel unterteilt. Allein HE Vb Singe nimmt eine Sonderstellung ein. Doch selbst in diesem Druck umfasst das erste Kapitel wie in den anderen Redaktionen die Elternvorgeschichte, Ernsts Jugend, Erziehung und Regentschaft sowie seine Freundschaft mit Wetzelo. Zu diesem Expositionskapitel zählt aber auch Adelheids Leben als Witwe und die Einflussnahme der Räte, wodurch sich der eingangs erwähnte frühe Tod des Vaters am Ende als handlungsauslösend für das weitere Romangeschehen erweist. Bis auf HE Vb Singe folgt in allen Redaktionen ein Kapitel, das zunächst analog zum ersten Otto als zweiten Partner der künftigen Ehe vorstellt. Der Leser erfährt seine Vorgeschichte und von seinem Dasein als Witwer, darüber hinaus vom Entschluss Adelheids zu heiraten, an dem in unterschiedlichem Maße auch die Räte beteiligt sind.583 Während Singe mehrere Kleinkapitel unterscheidet, umfasst dieses zweite Kapitel in den anderen Redaktionen auch noch die Reaktion des Herzoghofes auf die Werbung sowie die Hochzeit,584 in deren Folge Ernst von Otto an Sohnes Statt angenommen wird. Die Struktur ist deutlich: Ein Problem wird aufgerufen und scheinbar gelöst. Bereits das dritte Kapitel entlarvt in allen Redaktionen – Singe nimmt wieder eine Sonderstellung ein – die Problemlösung als prekär. Anstelle eines dauerhaften Friedens herrschen Verleumdung, Krieg und Zerstörung. Es beginnt mit Heinrichs Verleumdung und endet damit, wie Ernst durch Adelheid von dieser Verleumdung erfährt.585 Die Kapiteleinteilung des ersten Handlungsabschnitts erweist sich als klar strukturierte Exposition, bei der ein Problem etabliert und gelöst wird, das Scheitern dieser Lösung jedoch das Ausgangsproblem radikalisiert.586 Die Folge von Singes feinerer Untergliederung des zweiten und dritten Schritts der Exposition ist ein Verlust an übergeordneter Struktur, der mit einem Gewinn an Motiviertheit einhergeht. Otto und Adelheid verbindet der Verlust des jeweiligen Ehepartners (Singes drittes Kapitel, fol. Avr.–[Avj]r.). Logische Folge ist die Hochzeit, deren Problematik strukturell hervortritt, wenn die knappe Notiz
583 Vgl. S. 345–350 im Kap. 3.1.1.1. 584 Die Leerzeile mit Initiale in HE F Sorg 2 hebt die Hochzeit als markantes Ereignis innerhalb der Exposition hervor, ohne aber die klare Strukturierung zu durchbrechen (vgl. fol. 6r.). Gleiches gilt für die Initiale, mit der die Verleumdung des Pfalzgrafen vom Beginn der Kriegshandlungen gegen Ernst auf einer untergeordneten Gliederungsebene abgegrenzt ist (vgl. fol. 8v.). 585 HE Vb P1 trennt den letzten Teil – Adelheids Mitteilung mit dem Namen des Verleumders – durch einfache Leerzeile vom Rest des Kapitels ab (vgl. S. 16), vermutlich um auf der Folgeseite ein Hurenkind zu vermeiden. 586 Diese Struktur verschiebt sich bei HE Vb Endter 2, der ansonsten immer mit der Klasse II übereinstimmt, da das zweite und dritte Kapitel miteinander vereint sind (vgl. fol. A3r.–B3v.). Die Lösung des Problems und das Scheitern sind dadurch miteinander verbunden. Ottos Begehren führt unmittelbar zur Katastrophe.
480
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
der Feier mit der ausführlichen Schilderung der Überredungskunst von Ernst und den Räten – und nur mit dieser – vereint ist (viertes Kapitel, fol. [Avj]r.–[Avij]v.). Die Hochzeit mit der Mutter erfordert die Klärung des Verhältnisses zum Stiefsohn, dessen Erhöhung mit dem Unwillen Heinrichs strukturell verschränkt ist (fünftes Kapitel, fol. [Avij]v.–Br.). Ähnlich lässt sich die Folge der Unterteilung des sechsten (Heinrichs Verleumdung und Eroberung Bambergs, fol. Br.–Biijr.), siebten (Ernsts Reaktion, fol. Biijr.–Biiijr.) und achten Kapitels (Ernsts Befreiung der Stadt, fol. Biiijr.–Bvr.) als interne Homogenisierung beschreiben, durch die jedoch die großen Linien der Konstruktion aus dem Blick geraten. So verliert auch Ottos Vorgeschichte durch ihre Separierung in Singes zweites Kapitel ihre strukturelle Entsprechung zum Romanbeginn und wird zu einem historiographischen Exkurs (fol. Aiijv.–Avr.). Im Vergleich dazu wirkt Singes neuntes Kapitel uneinheitlich (fol. Bvr.–[Bvij]r.): Adelheid erfährt von den Kämpfen, erhält nicht von Otto, wohl aber von Gott eine Antwort und teilt diese Ernst mit, der seinerseits nicht zu sagen vermag, „ob er widerumb vor seinem Vater Gnad finden kuͤ ndt oder nicht“ (fol. [Bvij]r.). Die strukturelle Inhomogenität dieses einen Kapitels korrespondiert mit der auf Handlungsebene herrschenden Verwirrung. Abb. 20: Übersicht über die Kapitelverteilung im zweiten Handlungsabschnitt. Cgm 572
Kl. I
Kl. II
Singe
Kl. III
4
4
4
10
4 ...
Hilfe durch Heinrich von Sachsen
5
5–6
11–12
Ernst in Regensburg
6
7
13
7–8
8–9
14
Ermordung des Pfalzgrafen bis Ottos Zug gegen Regensburg
Eroberung der Stadt bis Raub und Brand an Donau und Lech
... 4–5 ...
Auf die dreiteilige Entfaltung des Grundkonflikts nimmt im vierten Kapitel von HE F Cgm 572 die Katastrophe ihren Lauf, bis die Handlung einen Tiefpunkt erreicht (vgl. fol. 32r.–36v.). Ernst ermordet den Verleumder, woraufhin Otto die Erblande seines Stiefsohns bestürmt, erobert und verheert. Der Sachsenherzog Heinrich vermag es dabei lediglich, Ernst zu ermöglichen, dass er seinen Untertanen zur Aufgabe raten kann. Am Ende des Kapitels ist der Herzog geschlagen und entmachtet. Die strukturelle Einheit der Katastrophe gilt auch für die Redaktionen der Klasse III. Hier endet das vierte Kapitel jedoch damit, dass die Bürger von Regensburg darin übereinkommen, Ernsts Hauptstadt dem Kaiser einzuhändigen (vgl. P1, S. 24). Deren Verlust ist gleichbedeutend mit dem Ende der Herrschaft des Herzogs. Dadurch werden aber die folgenden Verwüstungen, an denen auch die
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
481
Herzoglichen beteiligt sind, in der Klasse III von der Katastrophe abgespalten und strukturell mit dem Entschluss zum Kreuzzug als Lösung des Konfliktes verbunden. Die Kriegssünden, die Ernst im Heiligen Land abzubüßen gedenkt – nicht aber den Mord am Pfalzgrafen –, stehen hier in einem gemeinsamen fünften Kapitel. Die anderen Redaktionen unterteilten den Handlungsabschnitt feiner. Die Differenzen nuancieren lediglich das folgende Ergebnis und können außer Betracht bleiben. Stets verbunden bleiben die Ermordung des Pfalzgrafen und Ottos Eintritt in den Krieg als direkte Aktion und Reaktion.587 Isoliert steht dagegen die Episode mit Heinrich von Sachsen. Auch Ernsts Aufenthalt in Regensburg erhält in den Klassen I und II sowie bei Singe ein eigenes Kapitel und wird damit aus dem Kontinuum des Kriegsgeschehens herausgehoben.588 Da es nicht Ernst ist, der selbst über die Aufgabe der Stadt entscheidet, sondern mit den Bürgern Dritten innerhalb des Grundkonfliktes Verantwortung überträgt, stärkt die Strukturveränderung den Eindruck eines pluralen Geschehens: Heinrich von Sachsen und die Regensburger gewinnen strukturell an Eigengewicht. Abb. 21: Übersicht über die Kapitelverteilung im dritten Handlungsabschnitt. Cgm 572
Kl. I
Kl. II
Singe
Kl. III
5
9
10
15
... 5
Abschied aus dem Reich bis Abschied aus Konstantinopel
10
11
16
6 ...
Schifffahrt bis Ende der Seenot
11
12
17
Ernsts Plan, ins Heilige Land zu ziehen, bis Abschluss der Vorbereitungen
Als dritten Handlungsabschnitt setze ich die kurze Übergangsphase an, auf die HE F Cgm 572 das fünfte Kapitel verwendet (vgl. fol. 36v.–39r.). Der besiegte Herzog nimmt das Kreuz, kommt jedoch nicht nach Jerusalem, sondern wird an
587 Invisibilisieren die paratextuellen Dimensionen die Grausamkeit von Ernsts Tat (vgl. S. 537 im Kap. 3.3.4.2), wird sie strukturell auf einer untergeordneten Ebene durch Leerzeile und Initiale hervorgehoben. Das Hofgesinde findet Heinrich „inn seinem eÿgen pluͦ t vmbgewalczet vnnd mit abgehawem haubte vnnd verre vonn dem Coͤ rpel geworffen dort ligen“ (Sorg 2, fol. 13r.). Obschon sie sich „on verzyehen“ „eyleten“, um den Mördern nachzusetzen, unterbricht die Redaktion den Erzählfluss strukturell. Der Leser ist so gezwungen, selbst einen Moment lang am Tatort zu verweilen. – Wenig später setzt die Inkunabel eine weitere Initiale. Die Strafen für Ernst – Ächtung und Kriegseintritt des Kaisers – werden dadurch voneinander abgesetzt, ohne den Gesamtzusammenhang zu unterbrechen (vgl. ebd., fol. 13v.). Darin ist eine unmittelbare Abfolge mehrerer Eskalationsstufen zu erkennen. 588 Vgl. dazu S. 294f. im Kap. 2.3.3.3.
482
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
die Küste des unbekannten Agrippia verschlagen. Eigentliches Ziel und tatsächliche Station der Fahrt sind in der Handschrift durch die Kapiteleinteilung strukturell verklammert. In den Redaktionen der Klassen I und II inklusive des SingeDrucks ist dieser Zusammenhang dreigeteilt. Das einstweilige Scheitern des Kreuzzugsplanes verliert damit seine strukturell hervorgerufene Notwendigkeit. Es wird kontingent. Ernst kann sich vorbereiten und Abschied nehmen – sowohl in der Heimat als auch beim Kaiser von Konstantinopel. Erst als er sich dem Meer und dessen Winden aussetzt, wird sein Zug ins Heilige Land räumlich umgelenkt. Eine völlig neue Konzeption der Kapiteleinteilung weisen die Drucke der Klasse III auf. Sie teilen mit den Klassen I und II sowie Singe die Kapitelgrenze beim Verlassen des Kaiserreiches (vgl. P1, S. 27). Aber sowohl das hier endende fünfte als auch das beginnende sechste Kapitel sind umfangreicher. Oben weise ich darauf hin, dass die Klasse III das Kriegsgeschehen nach der Belagerung Regensburgs und Ernsts Kreuznahme zusammenzieht. Die Stationen außerhalb der Reichsgrenzen sind nun aber damit verbunden, dass die Kreuzritter tagelang vor der verlassenen Stadt der Kranichmenschen stillliegen (vgl. ebd., S. 27–30). Am Ende des Kapitels erfährt der Leser vom Raub der indischen Prinzessin, was begründet, warum sich die Agrippiner außerhalb der Stadtmauern befinden. Jenseits des Reiches beginnt damit strukturell ein Raum, der ebenso von fremden Menschenkaisern wie Mischwesen bewohnt ist und in dem Abenteuer und die Naturgewalt der Elemente auf Ernst warten. Abb. 22: Übersicht über die Kapitelverteilung im vierten Handlungsabschnitt. Cgm 572
Kl. I
Kl. II
Singe
Kl. III
6
12
13
18
... 6
Erster Einzug in Agrippia bis Verlassen der Stadt im Kampf
13
14
19–20
7
Kampf vor den Toren bis Ankunft im sirtischen Meer/am Magnetberg
14
15
21
Erkennen der magnetischen Gefahr bis Annahme/Ergänzung der Greifenlist
15–16
16–17
22–23
8
Durchsuchen der Schiffe nach Häuten bis Abstieg letzter Diener aus dem Nest
17–18
18–19
24–25
9 ...
Zusammenkunft der Diener im Wald bis Prolepse auf Unio in der Kaiserkrone
19–21
20–22
26–28
Windstille vor Agrippia bis Vorbereitung des ersten Einzugs
483
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
Eine strukturelle Sonderstellung hat die Agrippia-Episode im Cgm 572 nicht. Sie ist als Ganzes Teil eines großen Kapitels, das darüber hinaus die Not im sirtischen Meer, die Greifenflüge und die Durchquerung von Wildem Wald und Tiefem Tal enthält. Es endet erst mit der Ankunft im Reich der Zyklopen, nachdem Ernst auch noch den Stein Unio gefunden hat (vgl. fol. 39v.–49v.). Diese Einteilung reduziert strukturell die Bedeutung der dazwischenliegenden Episoden. Dass Ernst und Wetzelo bei ihrer Rückkehr nach Agrippia den Versuchungen der Stadt erliegen und dass sie im sirtischen Meer die Nichtigkeit des Irdischen erkennen, hebt sich damit ebenso auf wie der Tod der Prinzessin und der listenreiche Greifenflug ausgeblendet werden. Mit Gottes Willen erblicken sie Agrippia und im Vertrauen auf Gott finden sie den Unio. Gott führt sie in Versuchung und belohnt ihr Vertrauen. Das ist der Sinn, den der Zuschnitt des sechsten Kapitels im Cgm 572 stiftet. In den Klassen I und II sowie bei Singe erhalten die einzelnen Episoden dagegen ein größeres Eigengewicht. Im Großen und Ganzen fallen dabei zwei Besonderheiten auf: erstens die zum Teil extreme Kleinteiligkeit, wenn z. B. die Zusammenkunft der Ritter im Wilden Wald und ihre Bitte, auch Ernst und Wetzelo wiederzufinden, ein Kapitel von nur einer halben Textseite ausmachen (vgl. Sorg 2, fol. 37r.),589 sowie zweitens das Überspielen von inhaltlichen Grenzen. So beginnt ausschließlich bei Singe ein Kapitel mit Ernsts und Wetzelos Rückkehr nach Agrippia (vgl. den Wechsel vom 19. zum 20. Kapitel, fol. Dvr.), während in den Klassen I und II der erste Einzug und das Verlassen der Stadt nach der Rückkehr den Rahmen eines etwas größeren Kapitels bilden. Folge der kleineren Einheiten ist einerseits ein besonderer Bilderreichtum in diesem Teil des Romans.590 Andererseits wird jeder Episodenteil, wird der Vorgang, sich aus der Ochsenhaut zu schneiden, das Nest zu verlassen, den Baum herabzuklettern oder einander im Wald wiederzufinden, zu einer Gelegenheit, das eigene Gottvertrauen (Klasse I) oder die eigene Handlungsmächtigkeit (Klasse II inklusive Singe) zu demonstrieren.591 Nicht Gott tritt wie im Cgm 572, sondern die Ritter treten hier als Agierende im vierten Handlungsabschnitt hervor. Werden dennoch Aspekte verbunden, die inhaltlich getrennt werden könnten, ist dies als möglicher Beitrag der Kapiteleinteilung zur Sinnstiftung zu analysieren. Nur wenn wie bei Singe allein der zweite Einzug Ernsts und Wetzelos nach Agrippia mit dem Kampf und dem Tod der Prinzessin verbunden sind, deutet sich auch strukturell ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis an. Andernfalls
589 In der Klasse II sowie bei Singe ist das Kapitel nur unwesentlich länger, da es anfangs noch den Abstieg der letzten beiden Ritter aus dem Greifennest umfasst. 590 Vgl. dazu die Kap. 3.3.4 und 3.3.4.2. 591 Vgl. zu dieser grundsätzlichen Differenz zwischen HE F und HE Vb das Kap. 3.4.
484
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
bringt bereits die Ankunft im Land der Kranichmenschen die weiteren Verwicklungen mit sich. Außerdem gibt es keine Redaktion, bei der ein Kapitel mit der Flucht aus Agrippia enden würde. Immer deutet sich schon die folgende Katastrophe im sirtischen Meer beziehungsweise am Magnetberg an. Die Struktur zeigt dadurch, dass Ernst sein Ziel noch nicht erreicht hat, selbst wenn das Ausmaß der Gefahr jeweils erst im folgenden Kapitel zu erkennen ist.592 Erneut unterteilen die Redaktionen der Klasse III den Handlungsabschnitt alternativ. Das siebte Kapitel umfasst die gesamte Agrippia-Episode. Darüber hinaus wird knapp vom Südwind als bevorstehendes „Unglück“ erzählt (P1, S. 38). Der erste und zweite Einzug in die Stadt werden also auch hier zu einer strukturellen Einheit.593 Zugleich zeigt sich der Handlungsabschnitt als eine Kette aufeinanderfolgender Abenteuer. Um welches Abenteuer es sich handelt, klärt sich erst während des ersten Absatzes im achten Kapitel, das damit schließt, dass Ernst und Wetzelo gemeinsam den Plan ersinnen, mithilfe der Greifen den Magnetberg wieder zu verlassen (vgl. S. 41). Die Problemlösungskompetenz als Teil der wiedererlangten Handlungsmächtigkeit tritt strukturell hervor. Anders als bei den anderen Redaktionen schließt das neunte Kapitel in der Klasse III nicht vor der Ankunft in Arimaspi. Die Ritter durchsuchen die Schiffe, finden die Ochsenhäute, entkommen den Greifen, schlagen sich sowohl durch den Wilden Wald als auch durch das Tiefe Tal. Sie kommen vom zyklopischen Stadtgrafen zum König und bezwingen zum einen die Sciopoden und zum anderen die Panochen (vgl. P1, S. 41–52). Erst mit der Zinsforderung der Riesen beginnt hier ein neues Kapitel. Die Reichweite der gemeinsamen List wird vermittels der Kapitelstruktur verlängert und im Hinblick auf den nächsten Handlungsabschnitt werden dadurch die Riesen – wie im Cgm 572 und in der Klasse I – als vermeintlich stärkster Widersacher der Zyklopen aus dem Kontinuum der Bedrohungen in Arimaspi herausgehoben.
592 Auf kleine Verschiebungen der Kapitelgrenzen kann ich hier nicht näher eingehen. So endet das 18. Kapitel der Klasse I mit dem Sterben des zurückgelassenen Ritters (vgl. Sorg 2, 36v.). In der Klasse II finden sich am Anfang der Kapitel 16 und 17 kleine Ergänzungen zur Ungewissheit des Aufenthaltsorts und zum Leid der Ritter vor dem Schiffbruch am Magnetberg (vgl. Han 1, fol. Fijv. und fol. Fiiijv.). Und HE Vb Singe verschiebt einen Einschnitt beim Aufenthalt im Greifennest minimal nach vorne (vgl. fol. [Evj]v.). 593 Die Leerzeile, die auf einer untergeordneten Ebene das Kapitel zu unterteilen scheint, hat mehr eine mimetische denn eine strukturelle Funktion. Sie bildet nämlich den Stillstand der Handlung ab, wenn Ernst und Wetzelo im Bett des Kranichmenschenkönigs schlafen (vgl. S. 32).
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
485
Abb. 23: Übersicht über die Kapitelverteilung im fünften Handlungsabschnitt.
Ankunft in Arimaspi bis Herzogtum als Lohn für Sieg gegen die Panochen
Cgm 572
Kl. I
Kl. II
Singe
Kl. III
7
22
23–25
29–31
... 9
23–24 26–27
32–33
10–11
28
34
12
29–31
35–37
13
32
38–39
Zinsforderung der Riesen bis Rückkehr nach Sieg gegen die Kraniche
8–9
Begegnung mit mohrischen Kaufleuten bis zu deren Einkehr bei Ernst
10
25
Beratung über Fahrt ins Mohrenland bis Angriff der Babylonier aufs Mohrenland Verteidigung der Mohren bis Ernsts Sieg bei Verlust eines seiner Ritter Ernsts Unterredung mit dem Babylonier Präsentation der Wunderwesen bis Diskussion gewaltsamer Konversion
40 26
33
Der Babylonier vor dem Mohrenkönig bis Ernsts Abschiedsgesuch
34–35
41
Vorbereitung der Babylonreise bis Nachricht über Ernst in Jerusalem
36–38
42–43
14
Pilger am Kaiserhof bis Abschluss von Ernsts Fahrt außerhalb des Kaiserreichs
39–42 ...
44–47 ...
15 ...
Wie aus der Abb. 23 zu ersehen ist, variiert die Einteilung des fünften Handlungsabschnitts, an dessen Ende die Ritter wieder an die Grenze zum Kaiserreich gelangen, stark. Die Redaktionen des HE F (Cgm 572 und Klasse I) untergliedern dabei in lediglich vier beziehungsweise fünf Kapitel. Jeweils ist Ernsts Ankunft beim zyklopischen Stadtgrafen mit seinen Kämpfen gegen Sciopoden und Panochen verbunden, für die er noch in demselben Kapitel ein arimaspisches Herzogtum erhält. Das siebte beziehungsweise 22. Kapitel führt Ernst also nach Arimaspi und macht ihn zum Herzog. Auf seine ersten Kämpfe kommt es dabei gar nicht an. Seine Schlachten mit den Riesen und den Kranichen stehen dagegen – wie in allen Redaktionen – jeweils in einem eigenen Kapitel. Zusammen sind dieses achte und neunte Kapitel im Cgm 572 nur knapp so lang wie das siebte und erreichen gemeinsam nicht einmal ein Viertel der Länge des zehnten Kapitels. Umso größer ist das Gewicht, das die Einteilung den Kämpfen gegen Riesen und Kraniche verleiht. Die Riesen stehen aber durch ihre Herkunft aus Kanaan für die
486
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Feinde Israels, was aufgrund des typologischen Denkens im HE F eine Sonderstellung begründet. Die Bedeutung des Kampfes gegen die Kraniche liegt nun aber darin, dass Ernst hier nicht in eigener Sache das Schwert ergreift. Gegen Sciopoden, Panochen und Riesen verteidigt er das Königreich Arimaspi, dessen Schutz er selbst untersteht. Er ist wie in der ersten Reichshandlung zum Kampf gezwungen. Die Parteinahme für die Pygmäen ist dagegen – wie bei den folgenden Heidenkämpfen im Mohrenland und in Jerusalem – selbst gewählt. Sie korrespondiert aber auch mit dem Versuch, in Agrippia Partei zu nehmen: für die Prinzessin, die wie die Pygmäen aus Indien stammt, und gegen die Wundermenschen mit den Kranichköpfen. In den Redaktionen der Klasse II (und bei Singe) – nicht aber in den späten Drucken der Klasse III – verlieren die Episoden ihre Sonderstellung dadurch, dass die Kapitelgliederung verfeinert ist und nun auch der Panochen-Kampf separiert steht. Sobald Ernst aber Kontakt zu Figuren aus der geographisch bekannten Welt erhält,594 die, wie ihn zuvor ein Seesturm nach Agrippia, zu den Zyklopen bringt, setzt sich eine Ereigniskette in Gang, die ihn bis in die Heimat führt und im Cgm 572 nur ein Kapitel umfasst (vgl. fol. 54v.–65r.).595 Aus diesem Kontinuum ist in der Klasse I als Scharnier das Gespräch mit dem König von Babylon herausgehoben, bei dem Ernst die in Arimaspi errungenen Wunderwesen präsentiert (vgl. Sorg 2, fol. 52r.). Der Bogen der Begegnung mit den Mohren ist damit nur bis zu jener Stelle geschlagen, wenn Ernst ihrem Feind gegenübertritt. Strukturell mit seiner Heimkehr verbunden ist dagegen die Vorstellung der Wunderwesen. Ihre Überwindung überzeugt nicht nur den heidnischen Herrscher, Ernst nach Jerusalem zu geleiten, sondern hilft ihm eingedenk der Kapiteleinteilung bis an die Schwelle des Kaiserreichs. Alle anderen Redaktionen untergliedern diesen Abschnitt feiner. Der oben beschriebene Effekt wiederholt sich. Das Eigengewicht der Episoden erhöht sich, das große Ganze tritt strukturell zurück. Einen größeren Zusammenhang verbindet dabei lediglich das 13. Kapitel in der Klasse III, das die komplette Episode im Mohrenland umfasst (vgl. P1, S. 58–67). Nur in diesen Redaktionen gewinnt sie an Eigenständigkeit, da der Handlungsverlauf weder untergliedert noch in eine größere Einheit integriert ist. Insbesondere verwendet HE Vb Singe ein einzelnes Kapitel auf die Überwältigung des Babylonierkönigs durch Wetzelo und
594 Nur im HE F wird die Koinzidenz der Begegnung noch durch eine Reflexion Ernsts eingeleitet, vgl. S. 395 im Kap. 3.1.1.6. 595 Eine alternative Einteilung entsteht, wenn man die nicht ausgeführte Initiale berücksichtigt, die – ohne Zwischentitel – vor dem Angriff der Babylonier steht (vgl. Cgm 572, fol. 55v.). Der Heidenkampf gewinnt dann weiter an struktureller Bedeutung innerhalb Ernsts Aufenthalt im Orient.
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
487
die Trauer um den gefallenen Ritter (vgl. fol. Hr.–Hijr.). Das allgemeine Schlachtgeschehen und der persönliche Verlust werden in ihrer Verklammerung aus der Episode im Mohrenland herausgehoben. Das ist insofern sinnstiftend als dieselbe Verquickung beim Schwur des besiegten Königs eine Rolle spielt: Den Mohren sichert er Frieden, Ernst sein Geleit nach Jerusalem zu.596 Nur in den HE F-Redaktionen enden die jeweiligen Kapitel vor der Rückkehr ins Reich. Das 42. der Klasse II beziehungsweise das 47. bei Singe reicht von Ernsts und Wetzelos Beratung über ihre Rückkehr in Rom bis zu ihrer unerkannten Ankunft in Nürnberg (vgl. Han 1, fol. [Lvj]v.–[Lviij]r.). Geplant und heimlich überschreiten sie die Reichsgrenze. In der Klasse III beginnt das 15. früher und endet später. Pilger bringen die Nachricht von Ernsts Aufenthalt in Jerusalem ins Reich und am Ende des Kapitels ist er mit Wetzelo nicht nur in Nürnberg angekommen, sondern hat schon den konkreten Plan, in der Kirche nach Adelheid zu suchen (vgl. P1, S. 71–75). Die Einteilung entproblematisiert das Geschehen insofern, als dass bereits die Botschaft, dass Ernst sein Ziel erreicht habe, den Boden für seine Rückkehr bereitet. Die Reichsgrenze gewinnt durch diese Struktur an Durchlässigkeit. Abb. 24: Übersicht über die Kapitelverteilung im sechsten Handlungsabschnitt. Cgm 572
Kl. I
Kl. II
Singe
Kl. III
11
27
... 42
... 47
... 15
43–45
48–49
16
Einzug in weihnachtliche Kirche bis Ende des Gottesdienstes
46
50
17
Rückblenden auf Geschehen der ersten Reichshandlung
47
51
Präsentation der Wunderwesen vor Otto bis Ernsts Heimkehr
48
Überschreiten der Grenze ins Reich bis Ankunft in Nürnberg Treffen mit Adelheid bis Vorbereitung des Fußfallplans
Wunder der heiligen Adelheid
28–31
49–52
18
52–55
Der letzte Handlungsabschnitt umfasst die zweite Reichshandlung inklusive der Erzählungen von Adelheids Wundertaten. Beides zusammen bildet in HE F
596 Vgl. S. 403 im Kap. 3.1.1.7.
488
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Cgm 572 eine strukturelle Einheit, wobei eine nicht ausgeführte Initiale ohne Zwischentitel die Wundererzählungen auf einer untergeordneten Gliederungsebene vom Versöhnungsgeschehen absetzt (vgl. fol. 70r.). Außerdem ist die Bedeutung der einzelnen Wundertaten – auch die Heilung des Lahmen – innerhalb des Kontinuums hervorgehoben, indem sie mit ausgeführten Initialen eingeleitet werden (vgl. fol. 70v.f.). Die Versöhnung wird dadurch auch strukturell als eines von mehreren Wundern ausgewiesen.597 In den Klassen I und II sowie bei Singe sind die Wundererzählungen in einzelne Kapitel separiert. Der strukturelle Zusammenhang zum weihnachtlichen Versöhnungswunder ist aufgehoben, dafür treten die Wunder für sich stärker hervor. Dies wirkt sich in der Klasse I, relativ gesehen, mehr aus, da die anderen Redaktionen auch sonst feiner untergliedern.598 Auch die einzelnen Schritte zur Versöhnung erhalten hier eigene Kapitel, während in den HE F-Redaktionen noch in demselben seine Ankunft im Reich erzählt wird, und wie er in sein wiederverliehenes Herzogtum weiterzieht. Im HE Vb ist die Formulierung entfallen, dass es sich bei der Versöhnung nur um eins von mehreren Wundern handelte. Die Redaktionen der Klasse III verbinden aber die Präsentation der Wunderwesen mit den Mirakelerzählungen – zumindest strukturell steht Ernsts Orientfahrt hier wieder auf einer Stufe mit den Adelheid-Wundern. Die Kapiteleinteilung kann Einzelaspekte strukturell hervorheben oder ausblenden, verklammern oder voneinander trennen. Räumliche, zeitliche oder figürliche Grenzen der haupttextuellen Dimensionen können so bestätigt oder überspielt werden.599 Große Differenzen bei den Kapitellängen wie im HE F Cgm 572 und mit Abstrichen in den Klassen I und III deuten auf erhöhte Bedeutung dieser Dimension für die Sinnstiftung des Romans hin. Bei den Drucken der Klasse II zeigt sich dagegen ein buchwirtschaftlich intendiertes Kapitelverständnis, das vor allem dazu dient, die Leseeinheiten zu minimieren und die Frequenz der Illustrationen zu maximieren. Im HE F und in den Drucken der Klasse III werden größere inhaltliche Einheiten verbunden, die Funktionen innerhalb der globalen Architektur erfüllen, indem sie beispielsweise die göttliche Führung demonstrieren. Bei einer feineren Einteilung lösen sich die Einzelepisoden aus der globalen Architektur. Die Kapiteleinteilung bildet tendenziell die Pluralität der Orte und Akteure ab. Die Figuren erscheinen in ihrem Handeln autonom,
597 Vgl. S. 416–437 im Kap. 3.1.1, vor allem S. 431. 598 13 Prozent der Kapitel entfallen in Klasse I auf die Mirakel, nur sieben bis acht Prozent in Klasse II und bei Singe. 599 Vgl. zur Kapiteleinteilung des Fortunatus S. 260–264 im Kap. 2.3.1.2 und S. 73–78 im Kap. 1.2.3.
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
489
kausale Binnenmotivierungen treten ebenso hervor wie Momente der Kontingenz.
3.2.3 Die Absatzgestaltung Auf einer untergeordneten Hierarchieebene wiederholt sich der oben beschriebene Sinnstiftungsprozess bei der Einteilung einzelner Absätze.600 Im vorliegenden Zusammenhang gewinnt diese Dimension gerade dadurch an Bedeutung, da sie rein struktureller Natur ist. Denn anders als bei der Kapiteleinteilung spielen Paratexte wie Zwischentitel oder Holzschnitte keine Rolle. Dabei fällt textgeschichtlich auf, dass Absatz- und Kapitelgrenzen durch die jeweils andere Strukturierungsmöglichkeit ersetzt werden können.601 Anhand der HE Vb-Redaktionen betrachte ich im Folgenden an zwei Kapiteln die Möglichkeiten der Sinnstiftung qua Gestaltung der Absätze.602 Es handelt sich um das 32.603 und das 46. Kapitel,604 in denen zum einen Ernsts Sieg über die Babylonier und zum anderen die Versöhnung mit Otto erzählt werden. Es ist zu beachten, dass es neben Absätzen im eigentlichen Sinne auch vergrößerte Spatien – zumeist nach Satzschlusszeichen – gibt, die ebenfalls den Textfluss unterbrechen. Da ihre Größe jedoch variabel ist, kann im Einzelfall oft nicht entschieden werden, ob es sich noch um ein normales Spatium oder bereits um ein vergrößertes handelt. Meine exemplarische Besprechung bezieht sich daher ausschließlich auf eindeutige Absätze. Außerdem findet sich Rotstrichelung in HE F Cgm 572 und im Druck von Knoblochtzer.605 Im Anschluss an die Analyse der HE Vb-Beispiele diskutiere ich diese unten an Knoblochtzers Inkunabel als eine Variante der Absatzgestaltung und erwäge ihren Beitrag zum Sinnstiftungsprozess.
600 Vgl. zur Dimension der Kapiteleinteilung das Kap. 3.2.2. 601 Den Vorgang, dass aus Kapitel- Absatzgrenzen werden, beobachtet Simmler: Melusine um 1700, S. 582–584, am Beispiel von Feyerabends Buch der Liebe. 602 Eine umfassende Untersuchung der Absatzgliederung der HE F/Vb-Redaktionen ist ein Desiderat. Diese könnte im Vergleich mit den Abschnittsgrenzen der HE B-Handschriften durchgeführt werden (vgl. dazu Mißfeldt: Abschnittsgliederung, S. 166–217). 603 Bei den späten Redaktionen ab HE Vb L2 entspricht dies einem Ausschnitt innerhalb des 13. Kapitels. Zum Sonderfall der Kapitelgliederung bei HE Vb Singe s. oben. 604 Bei den späten Redaktionen ab HE Vb L2 entspricht dies dem Anfang des 17. Kapitels, statt mit einer Kapitel- endet der Ausschnitt hier mit einer Absatzgrenze. 605 Die Rotstrichelung ist im Cgm 572 jedoch nicht durchgehend ausgeführt (vgl. Karin Schneider: Cgm 572, S. 162).
490
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Abb. 25: Absatzgrenzen im 32. Kapitel von Han 1 und in anderen HE Vb-Redaktionen. Han 1, von der Heyden, L2 u. a.
Schröter, Endter 2
Singe
Francke
Feldzug des Mohrenkönigs bis Hinweis, dass Wetzelo und der Riese bei Ernst sind
1. Absatz
1. Absatz
38. Kapitel
keine Absätze
Trostrede des Babylonierkönigs mit Mahomet bis aufkommender Kriegslärm
2. Absatz
Babylonischer Versuch eines Sturms auf das Banner bis Gebet des Mohrenkönigs Schlachtfeld mit einem Bach von Blut
2. Absatz
3. Absatz
Versuch des Babyloniers, Ernst zu Boden zu reiten, bis Schlachtfeld als Leichenfeld
39. Kapitel, 1. Absatz
Rückkehr der siegreichen Mohren bis Ernsts Klage über toten Ritter beim Mohrenkönig
39. Kapitel, 2. Absatz
Ernsts Gespräch mit dem Babylonierkönig
40. Kapitel
Das 32. Kapitel wird nur bei HE Vb Francke nicht weiter durch Absätze untergliedert. Bei Singe enthält der Handlungsabschnitt neben einem Absatz zwei Kapitelgrenzen. Schröter und Endter 2 haben an dieser Stelle nur eine Absatzgrenze, die anderen HE Vb-Redaktionen zwei solcher Grenzen. Bei Francke ist die Schlacht eine strukturelle Einheit, zu der neben den eigentlichen Kampfhandlungen auch die Vorbereitungen, die anschließende Klage über die Toten und erste Verhandlungen mit dem Besiegten zählen (vgl. fol. Hiijr.–[Hvj]r.). Schröter und Endter 2 spalten davon die Vorbereitungen ab. Dadurch entsteht ein Absatzzusammenhang, der vom Versuch, Ernst das Banner abzujagen, bis zu jenem Gespräch reicht, in dem der Babylonierkönig Ernsts Tapferkeit lobt (vgl. Schröter, fol. [Gvij]r.–Hr., und Endter 2, fol. [F6]r.–[F7]v.). Die Tatsache, dass der Herzog das Banner trägt und die Friedensverhandlungen führt, wird somit etwas mehr herausgestellt. Wenn dagegen wie bei Han 1 der dritte Absatz mit der hyperbolischen Beschreibung der Kriegsgräuel einsetzt, erhöht sich strukturell der Einfluss derselben auf das folgende Gespräch, in dem Ernst sein Unverständnis darüber äußert, dass die Heiden den einzig wahren Glauben mit Gewalt bekämpfen (vgl. Han 1, fol. [Jviij]v.–Kijr.). Allerdings relativiert dies dann auch das anschließende Lob durch den unterlegenen Herrscher. Durch die zweite Absatzgrenze sind in diesen Redaktionen die gebetartigen Ansprachen der beiden Könige miteinander ver-
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
491
bunden. Die Stilisierung der Schlacht als Stellvertreterkampf für Mahomet und den Christengott wird auf diese Weise unterstrichen. Auf die Kapitelgrenzen bei HE Vb Singe gehe ich hier nicht ein. Aber das 39. Kapitel enthält eine Absatzgrenze zwischen der Beschreibung des verwaisten Feldes und der Rückkehr der Mohren, die den flüchtenden Babyloniern nachgesetzt hatten (vgl. fol. Hv.). Der Absatz bildet damit einerseits den Moment der (Leichen-)Ruhe ab. Andererseits tritt die Wendung „eitel todte Coͤ rper“ typographisch aus dem Schwarz des Textbildes hervor. Die Struktur hebt damit den Tod und die mit ihm einhergehende Unterbrechung der Handlung hervor. Ehe ich die zweite Beispielstelle untersuche, betrachte ich vergleichend die Rotstrichelung im HE F Knoblochtzer. Ich setze nach Ernsts mahnender Ansprache und dem kurzen Bericht über die Zerstörung durch die Babylonier ein (vgl. fol. [40]r.). Eine Kapitelgrenze hat die Redaktion nur am Ende des Abschnitts (vgl. fol. [42]r.).606 Die Funktion der Rotstrichelung deckt sich nicht mit derjenigen der Absatzgestaltung der späteren Drucke. Hervorgehoben werden Satzanfänge ohne oder mit vorausstehendem Satzschlusszeichen, aber auch die Anfänge von Nebensätzen und gar nicht selten beiordnendes ‚Und‘. Auf die 130 Zeilen des Textausschnitts kommen so 53 Strichelungen an syntaktisch ausgewiesenen Positionen. Darüber hinaus sind 13 Ortsbezeichnungen und Eigennamen rot gestrichelt. Auffällig sind daher eher diejenigen Passagen, in denen auf etwaige syntaktisch motivierte Auszeichnungen verzichtet wird. Die erste ist sieben Zeilen lang und enthält den Anfang der Trostrede des Mohrenkönigs (vgl. fol. [40]r.). Die restlichen 19 Zeilen der Figurenrede enthalten dabei mit zehn sogar überdurchschnittlich viele Markierungen. Diese finden sich immer dann, wenn die Figur die mohrischen Krieger direkt ermahnt. Im auffälligen Abschnitt thematisiert der König dagegen die Gräueltaten der Babylonier. Die zweite Textstelle verbindet Wetzelos Mahnung zur Eile mit Ernsts Eintritt in die Kampfhandlungen (vgl. fol. [41]r.). Indem auf acht Zeilen Länge also gerade der Übergang von der Rede zur Handlung strukturell überspielt wird, kommt gewissermaßen die Eile zum Ausdruck, zu welcher Wetzelo den Helden auffordert. Es lassen sich also auch inhaltliche Gründe für Unterschiede bei der Rotstrichelung erkennen, in der Summe überwiegt aber die Funktion, syntaktische Einheiten zu verdeutlichen.
606 Für die textgeschichtlichen Varianten zwischen HE F und HE Vb vgl. S. 396–398 im Kap. 3.1.1.7, für eine Untersuchung der hier am Sinnstiftungsprozess beteiligten Dimensionen des Haupttextes vgl. S. 464f. im Kap. 3.1.2.4.
492
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Abb. 26: Absatzgrenzen im 46. Kapitel von Han 1 und in anderen HE Vb-Redaktionen. Han 1, von der Heyden, L2 u. a.
Schröter
Endter 2
1. Absatz
1. Absatz
1. Absatz 1. Absatz
Singe
Francke
Erwartung des Weihnachtstages bis Pause des Bischofs vor Predigt Ernsts Fußfall inkognito bis Ernst nennt sich einen unschuldigen Sünder
2. Absatz
Ottos Nachfrage wegen der Untat
2. Absatz
Adelheid bittet für Ernst bis Otto Vergeben und Aufheben von Ernst
3. Absatz
Anagnorisis bis Ernsts Wink an den verborgenen Wetzelo
4. Absatz
Otto erkennt Fürsprachen an bis freudiges Verlassen des Verstecks Friedensküsse bis Mittagsmahl in allgemeiner Freude
keine Absätze
2. Absatz
5. Absatz
2. Absatz
3. Absatz
Die Versöhnung mit Otto als zweite untersuchte Textstelle ist bei HE Vb Francke erneut nicht untergliedert. Die meisten Redaktionen verwenden dagegen eine Absatzgrenze zur Binnendifferenzierung, Endter 2 zwei und Singe sogar vier. Strukturell entsteht damit bei Francke der trügerische Eindruck eines harmonischen Geschehens: Wie von Adelheid geplant, läuft die Versöhnung von Ernsts vorfreudigem Erwarten des Weihnachtstages bis zum vereinten Mittagsmahl der versöhnten Kontrahenten ab (vgl. fol. Kvv.–[Kvij]r.). Ottos Zorn beim Wiedererkennen des Stiefsohnes tritt tendenziell in den Hintergrund. Die meisten Redaktionen erreichen im Hinblick auf die Sinnstiftung durch Absatzgestaltung den gegenteiligen Effekt, indem sie eine Absatzgrenze unmittelbar nach Ernsts Wink an den verborgenen Wetzelo setzen (vgl. stellvertretend Han 1, fol. [Mvj]r.). Dies ist das Zeichen, Otto zu töten, denn der Kaiser hat Ernst erkannt und sein Zorn droht, den listenreichen Versöhnungsplan zu durchkreuzen. Doch unmittelbar nach dem Absatz entlädt sich die Spannung, wenn Otto die zahlreichen Fürsprachen für seinen Stiefsohn anerkennt und Wetzelo das Versteck verlassen kann, ohne den alternativen Mordplan in die Tat umzusetzen. Bei Schröter ist dieser Absatz nur um ein Geringes verschoben (vgl. fol. [Jviij]v.). Er untergliedert die Erzählung nun dort, wo eigentlich schon alles überstanden ist und alle Zweifel beseitigt sind. Spannung baut er insofern nicht auf,
3.2 Die strukturellen Dimensionen des Herzog Ernst
493
vielmehr dient er dazu, den Friedenskuss des Kaisers als äußeres Zeichen der Versöhnung herauszustreichen. Nicht etwa der listige Einfall wird hier strukturell betont, sondern gerade die rituelle Norm. In noch gesteigertem Maß gilt dies für die Redaktion von Endter 2, in der ein zusätzlicher Absatz nicht nur die Pause abbildet, die der Bischof von Bamberg vor seiner Predigt einlegt, sondern der Ernsts Fußfall als zweiten rituellen Vorgang in exponierte Stellung bringt (vgl. fol. H2v.). Das listenreich variierte und das normierte Ritual stehen bei Endter strukturell auf einer Ebene. Darin ist dann durchaus eine – unbewusste – Gegenbewegung zu jener Tendenz des HE F zu sehen, das christliche über das politische Ritual zu stellen.607 Die letzte hier zu diskutierende Variation der Absatzgestaltung stellt der in vielerlei Hinsicht alleinstehende Druck von Singe dar. Vier Absätze in kurzer Folge zeigen, wie hier bewusst mit der strukturierenden Möglichkeit des Absetzens gearbeitet wird (vgl. fol. [Jvij]r.–[Jviij]v.). Zunächst verläuft alles nach Adelheids Plan, die Pause des Bischofs eingeschlossen. Strukturell exponiert wird aber Ottos Nachfrage nach der Beschaffenheit der zu vergebenden Tat. Nur knapp vier Zeilen umfasst dieser Absatz, dessen Inhalt den Plan der Kaiserin zu vereiteln droht. Sie ist es denn auch, die selbst erfolgreich interveniert. Doch: Der Kaiser erkennt den Stiefsohn (noch vor dem Friedenskuss) und Ernst sieht sich gezwungen, Wetzelo das verabredete Zeichen des Todes zu geben. Beide Vorgänge, die vermeintlich Ernst beziehungsweise Otto das Leben kosten werden, sind jeweils mit Absatzgrenzen markiert. Der Erzählfluss ist typographisch unterbrochen. Die Struktur spiegelt die Hektik der Handlung wieder, das Auf und Ab in Bezug auf die Hoffnung auf ein gutes Ende. Erst als Otto nachgibt, schlägt die Handlung in Freude um und die Absatzgestaltung erfolgt ruhiger.608 Was die Rotstrichelung in HE F Knoblochtzer betrifft, bestätigt sich der obige Befund.609 Auf 124 Zeilen kommen sechs Markierungen von Eigennamen und Herkunftsbezeichnungen sowie 55 Strichelungen mit potentiell strukturierender und damit sinnstiftender Funktion (vgl. fol. [50]r.–[52]r.). Im Vergleich zur oben analysierten Stelle fällt auf, dass einzelne Strichelungen auf bestimmte Artikel fallen, die möglicherweise für Relativpronomen gehalten wurden, worunter die Funktion, syntaktische Zusammenhänge zu verdeutlichen, leidet. Inhaltliche Einschnitte wie Ottos und Adelheids jeweils separater Einzug in die Kirche werden zwar mit Strichen eingeführt, aber auch unterbrochen (vgl. fol. [50]r.f.). Höhe-
607 Vgl. S. 466f. im Kap. 3.1.2.4. 608 Vgl. zur Tendenz dieser Redaktion, Kapitelgrenzen ebenfalls häufiger zu setzen, das Kap. 3.2.2. 609 Für die zum Teil erheblichen inhaltlichen Abweichungen des Handlungsabschnitts in HE F und HE Vb vgl. das Kap. 3.1.1.8.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
punkte wie Ernsts Fußfall oder das Wiedererkennen durch Otto ereignen sich dagegen zwischen markierten Textstellen (vgl. fol. [51]r.f.). Insgesamt ist die Frequenz der Hervorhebungen zu hoch, als dass der Inhalt sinnstiftend strukturiert würde. Außerdem tritt eine solche Funktion in Konkurrenz zur Verdeutlichung syntaktischer Zusammenhänge oder zur Markierung von Figurennennungen: Aufgaben, die von der Absatzgestaltung nicht geleistet werden müssen.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst 3.3.1 Titelformulierungen und Titelblätter 3.3.1.1 Die Titelformulierungen Die ausgewählten Redaktionen des F/Vb-Komplexes von Herzog Ernst lassen sich hinsichtlich ihrer Titelformulierungen in vier Klassen unterteilen.610 Abb. 27: Klassen der Titelformulierungen der HE F/Vb-Überlieferung. Klasse I
Hie nach uolget
HE F Cgm 572 (mit lat. Buchtitel); Cgm 224, Knoblochtzer, Sorg 1, Sorg 2 und Sorg 3
Klasse II (ältere HE Vb- Lustige History Gruppe)
HE Vb Han 1 (vnfall), von der Heyden und Francke (beide: Vnfall), Endter 2 (Untreu)
Sonderfall
Hertzog Ernst
HE Vb Schröter (mit Titel des HE G)
Klasse III (jüngere HE Vb-Gruppe)
Lesenswuͤ rdige Historie
HE Vb L2, Fleischhauer, Everaerts, M2 und Trowitzsch (alle: Unfaͤ ll[e]); P1 und Zirngibl (Zufaͤ lle)
Die Redaktionen des HE F kennen keinen eigentlichen Werktitel, sondern weisen eine Incipit-Formel auf. Das gilt nicht nur für die beiden Handschriften (Cgm 572 und Cgm 224), sondern auch alle Inkunabeln. Sie bilden gemeinsam die Klasse I, die damit Handschriften- und Druckkultur verbindet. Hie nach uolget Aine hüpsche liepliche historÿ . eins Edeln Fürsten Herczog Ernsts von Bairn vnd uon Österrich Leitformulierung der Klasse I nach Cgm 572
610 Beim Druck von Singe fehlt im einzigen erhaltenen Exemplar das Titelblatt und damit die genaue Titelformulierung. Entsprechend dem auf Flood beruhenden Stemma (vgl. S. 335, Abb. 15, in der Einleitung zu Teil 3) gehört HE Vb Singe jedoch wahrscheinlich zur Klasse II.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
495
Die Drucke folgen der Formulierung von Cgm 572 bei der üblichen graphischen Varianz wörtlich. Ernst wird als Positivfigur (Edel)611 und hinsichtlich seines Adels (Fürst) sowie seines Territoriums (von Bairn vnd uon Österrich) eingeführt. Die Erzählung ist als wahr (historÿ) und unterhaltsam (hüpsch und lieplich) ausgewiesen. Cgm 224 setzt dabei nur mit etwas stärkerer Deixis ein (Hie hebt sich an), um dann aber Ernsts Epitheta zu verknappen (Herczog Ernnst von ÿstérreich). Während die anderen Redaktionen dieser Klasse eine Geschichte ankündigen, die auf das Incipit folge und von besagtem Herzog handele, ist die Formulierung des Cgm 224 selbstreferentiell (Hie statt Hie nach) und setzt den Herzog, seine Lebensgeschichte und die vorliegende Handschrift damit in eins (Hie hebt sich an Herczog Ernnst von ÿstérreich). Damit aber bezieht sich Cgm 224 mit seiner Titelformulierung nicht auf eine historische Entität außerhalb des Codex, wie es bei Cgm 572 der Fall ist, wenn HE C und HE F eine lateinische Einleitung vorangestellt wird, welche die angekündigte Erzählung mit der für wahr erachteten Geschichtsüberlieferung abgleicht und Unstimmigkeiten des Erzählten zu korrigieren vermeint.612 Dieser Vorrede ist ein weiterer Titel vorangestellt: Hystoria ducis bauarie Ernesti duplici ydiomate. Wie die historiographische Vorrede richtet sich dieser Titel an einen lateinkundigen Leser. Er formuliert trotz der nachstehenden Korrigenda einen Wahrheitsanspruch der Redaktion (Hystoria),613 stellt den Protagonisten als bayerischen Fürsten vor und verweist auf die doppelte Ausführung des angekündigten Haupttextes in zwei verschiedenen Sprachen.614 Anton Sorgs Inkunabeln beginnen direkt mit dem Incipit. Allerdings ist dem jüngeren Sammeldruck, der Sorg 3 enthält, ein lable title vorangestellt, der nicht nur in aller Kürze die drei Titelhelden der gesammelten Werke nennt (herczog Ernsten, Schildtberger und sant Brandon), sondern auch eine inhaltliche Summe aus diesen drei Narrationen zieht (von den selczsamen wundern so sy erfaren vnd gesehen habent auf dem moͤ re vnd auf dem land). Uwe Meves bezeichnet dies als ‚Werbeslogan‘, mit dem Sorg „[u]ngewöhnliche, Neugier auslösende Nachrichten“ ankündige und versuche, den Herzog Ernst „in Richtung ‚abenteuerlicher
611 Allerdings weist Volkmann: Romantitel, S. 1174, darauf hin, dass dieses Beiwort in einem Maße zeittypisch sei, dass man es „streng genommen nicht als anpreisendes Epitheton“ ansehen könne. 612 Vgl. S. 513 im Kap. 3.3.2.1. 613 Hätte der Roman diesen Anspruch nicht, wäre ein Abgleich mit vermeintlichen historischen Fakten in der vorliegenden Form auch gar nicht sinnvoll. 614 Zur überraschenden Doppelüberlieferung von HE C und HE F in einer Handschrift vgl. S. 321–329 in der Einleitung zu Teil 3, und S. 566 im Kap. 3.4.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Reiseroman‘ zu trimmen“.615 Dieser Titelformulierung soll eine werbende Funktion zwar nicht abgesprochen werden, da sie über diejenige Information hinausgeht, die zur Identifizierung des Buchinhalts anhand des Titels nötig ist, aber sie beraubt die Werke zugunsten des kleinsten gemeinsamen Nenners (Wunder des Meeres und der [fernen] Länder) all ihrer Spezifika. Unerwähnt bleiben ebenso der göttliche Ratschluss, der den zweifelnden Brandan aufs Meer führt, wie Ernsts Mordanschlag auf Kaiser und Pfalzgraf sowie sein Kreuzzug.616 Und auch eine genauere Beschreibung der Welterfahrenheit eines Johann Schiltperger hätte das Interesse des kaufkräftigen Augsburger Patriziats sicher wecken können. Die Funktion der knappen Inhaltsangabe erscheint mir daher eher eine Begründung der Zusammenstellung von auch separat erhältlichen Titeln in einem gemeinsamen Band zu sein, wobei die Klassifizierung des HE F in dieser Symbiose als ‚Reiseroman‘ oder sogar ‚Reisebeschreibung‘ zu revidieren ist.617 Schon Volkmann weist zu Recht darauf hin, dass die Wendung húbsche liebliche historie des Incipits nicht an die Tradition des Reiseberichts, sondern an diejenige des Ritterromans anschließe.618 Das alles ändert jedoch nichts daran, dass Sorg mit dieser neuen Dimension die Lektüre des Rezipienten auf den Orientteil lenkt. Wenn Meves aber weiterhin darauf hinweist, dass in der ‚Volksbuch‘-Fassung dann auch noch „das attraktive Zugwort ‚wunder‘“ in die Titelformulierung integriert werde,619 so suggeriert er eine einseitige Aufmerksamkeitslenkung für den gesamten HE F/Vb-Komplex, die sich bei der folgenden Besprechung späterer Redaktionen nicht bestätigt, da die Reichshandlung in den anderen Titelklassen zumindest gleiches Gewicht erfährt. Ein gar lustige History von Hertzog Ernst/ in Beyern vnd Oesterreich/ wie er durch wunderbarlichen vnfall sich inn gefehrliche Rheisen begab/ darauß er mit etlich wenig seines Volcks wider erlediget/ vnnd gnad vonn Keiser Otten erlangt/ der jhm nach dem Leben gestalt hatt/ gar kurtzweilig zu lesen. Leitformulierung der Klasse II nach Han 1
615 Meves: Studien zu HE, S. 204 f. – Vgl. dazu auch Volkmann: Romantitel, S. 1187. Schmitt: Titel(blatt) der Inkunabelzeit, S. 20, spricht neutral von „Sachtitel und Inhaltsangabe zugleich“, vgl. auch Schmitt: Tradition und Innovation, S. 92. 616 Zur Tendenz der Titelformulierungen, Negatives auszublenden vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 70. 617 So Knape: Historie in Mittelalter und früher Neuzeit, S. 262; kritisch Herkenhoff: Außereuropäische Welten, S. 45. Vgl. dazu S. 330/Anm. 73. 618 Vgl. Volkmann: Romantitel, S. 1187 f. 619 Meves: Studien zu HE, S. 204. Titelformulierungen mit dem Wortbestandteil ‚wunder‘ verbinden den Prosa- mit dem ‚hohen‘ Barockroman, der sich ansonsten von der ‚niederen‘ Romantradition abzugrenzen sucht (vgl. Breyl: Pictura Loquens, S. 62 und S. 66).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
497
Die Klasse II verfügt wie die nachfolgenden über einen eigentlichen Werktitel, der nicht nur den Beginn durch eine kurze Inhaltsreferenz markiert, sondern darüber hinaus die werbende Funktion deutlicher herausstreicht. Stärker noch als die Klasse I betonen die Vertreter der Klasse II (hier zunächst zitiert nach Han 1)620 die Unterhaltungsfunktion der erzählten Geschichte (mit dem Beiwort lustige [History] und dem Zusatz gar kurtzweilig zu lesen). Herzog Ernst ist auch hier ein großer Herrscher (in Beyern vnd Oesterreich), sein Adel wird wie in Cgm 224 aber nicht näher thematisiert.621 Die weitere Titelformulierung fasst das Geschehen kurz zusammen, wobei die Buß- und Abenteuerfahrt – wie auch bei Schröter und in der Klasse III – blass bleibt, was im Widerspruch zur Forschungsmeinung steht, die späteren Fassungen der Ernst-Geschichte (neben HE Vb vor allem die Liedfassung HE G) legten den Schwerpunkt gerade auf die Kuriosa des Orients. Der Titel hält dabei offen, welcher Motivation Herzog Ernst folgt, wenn er das Reich verlässt.622 Wenn er sich inn gefehrliche Rheisen begab, werden zunächst weder seine Kreuznahme noch der Krieg mit dem Kaiser erwähnt. Vielmehr ist die Ursache seines Aufbruchs als wunderbarlicher vnfall und damit als nicht-intentional markiert:623 Ernst geht nicht in den Orient, um die Heiden zu bekriegen, sondern aus Ursachen, die noch näher zu betrachten sind. Obwohl die Titelformulierung Züge der folgenden Handlung vorwegnimmt, wird im Vergleich zur Klasse I zusätzliche Was-Spannung erzeugt, da mit der Art der Gefahr und der Beschaffenheit des Wunderbaren entscheidende Details ausgespart bleiben.624 Der Titel nennt weder die bedrohlichen Geo- und Ethnophänomene des fernen Ostens (Kranichmenschen, Riesen oder den Magnetberg) noch handlungsreiche Episoden wie Seesturm oder Heidenkampf, sondern erwähnt – und dies auch nur indirekt – lediglich die großen Verluste, die Ernst und seine
620 Auf eine separate Besprechung von HE Vb Francke kann verzichtet werden, da er sich von Han 1 nur durch minimale Kürzungen (zwei Mal entfällt die Steigerungspartikel gar, dazu das Präfix wider) unterscheidet, was aber keine sinnstiftende Varianz zeitigt. Noch näher bleibt HE Vb von der Heyden an der Han’schen Formulierung, bei dem aus der gar lustige[n] eine gantz lustige Histori wird. 621 Meves: Studien zu HE, S. 209, sieht darin eine Abkehr von der Tradition des Ritterromans. 622 Vgl. zur Offenheit und Mehrdeutigkeit von Titelblattsyntax (am Beispiel der Melusine-Tradition) Götz: Syntax von Titelblättern, S. 250. 623 Einige Vertreter der Klasse III vereindeutigen diese Tendenz, indem sie vnfall modernisieren und durch Zufaͤ lle ersetzen (s. unten). 624 Nach Meves: Studien zu HE, S. 209, werde das Interesse dagegen „ganz auf das ‚Wie‘ der Ereignisse“ gelenkt. Im Gegensatz zum ‚Wie‘ der Erzählung ist das ‚Wie‘ der erzählten Handlung aber dem ‚Was‘ zuzurechnen. Vgl. zur Aufrechterhaltung von Spannung auch Flood: The Survival, Bd. 1, S. 69 f.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Gefolgsleute vor ihrer Errettung erleiden (darauß er mit etlich wenig seines Volcks wider erlediget [ward]). Wie die Orienthandlung im Haupttext so ist auch die Erwähnung von Ernsts Fahrt innerhalb des Titels von Bezügen auf die Reichshandlung gerahmt, wenn der Herzog letztlich gnad vonn Keiser Otten erlangt/ der jhm nach dem Leben gestalt hatt. Auch ohne Kenntnis der Geschichte kann der Rezipient diesen Nachsatz auf den unterbestimmten wunderbarlichen vnfall beziehen und er muss dies tun, wenn er sich ausgehend von der Titelformulierung ein (dann rezeptionssteuerndes und damit sinnstiftendes) Bild des Romans schon vor Lektüre des Haupttextes machen möchte. Die Rahmungsstruktur der Titelformulierung wird ersichtlich durch die Versetzung des kaiserlichen Angriffs ins Plusquamperfekt (gestalt hatt), was auf einen Zeitpunkt vor Ernsts Rheisen und damit auf den vnfall rekurriert. Weiterhin fällt auf, dass Ottos Angriff auf Ernsts Leben im Titel von HE Vb Han 1 – aber auch von Francke und von der Heyden sowie den meisten Vertretern der Klasse III (L2, Fleischhauer, Everaerts, M2 und Trowitzsch) – als vnfall bezeichnet wird, ohne dass die Intrige Heinrichs oder seine Ermordung durch Ernst erwähnt würden. Allerdings benötigt Ernst nach der Titelformulierung später die kaiserliche Gnade, um zurückzukehren, was auf eigenes Verschulden hindeutet. Indem von dem die Reise auslösenden Moment als ‚Unfall‘ gesprochen wird, die genaueren Umstände aber im Ungefähren bleiben, entsteht dadurch jene Spannung, die in der (HE B-)Forschung zu Ernst als unschuldig Schuldigem viel diskutiert wird.625 Gerade ab dem Spätmittelalter wird die Bedeutung des ‚Unfall‘Begriffs geschärft, der zuvor ein missliches Ereignis bezeichnet, das nach dem Grimm’schen Wörterbuch durchaus mit intendiertem Handeln verbunden sein kann. Davon hebt sich nun aber das Verständnis von ‚Unfall‘ als einem ‚unglücklichen Zufall‘ ab, das „das zuständliche wie alles planmäszige handeln“ ausschließt.626 Wenn HE Vb P1 und Zirngibl ‚Unfall‘ durch ‚Zufall‘ ersetzen, verstehen die Verantwortlichen die Titelformulierung im Sinne dieser jüngeren Begriffsbedeutung. Von dieser Formulierung weicht HE Vb Endter 2 signifikant ab, was weitreichende Folgen hinsichtlich der lektüresteuernden Funktion des Titels zeitigt. Der wunderbarliche vnfall von Han 1 ist hier durch wunderbarliche Untreu ersetzt. Aus dem nicht näher geklärten Geschehen wird ein bewusster Akt, der mit dem Treueverhältnis die entscheidende Instanz des vormodernen Personenverbandsstaates
625 Vgl. S. 314 mit Anm. 4 in der Einleitung zu Teil 3. 626 Vgl. den Art. Unfall im Grimm’schen Wörterbuch, Bd. 24, S. 521–528, hier: S. 524–526, das Zitat ebd., S. 526.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
499
unterminiert. Der Herzog Bayerns und Österreichs ist aufgrund von Untreu gezwungen, sein Land zu verlassen. Doch wer ist hier untreu? Einziges Subjekt des Nebensatzes ist Ernst – vertreten durch das Personalpronomen er. Auch hier lässt sich seine Bedürftigkeit nach kaiserlicher Gnad auf mangelnde Treue Ernsts deuten. Doch auch die andere namentlich genannte Figur des Titels (Kaͤ iser Otten) bringt als oberster Lehensherr nicht die notwendige triuwe gegenüber seinem Lehensmann und Stiefsohn auf, da er ihm nach dem Leben gestellt hatte. Unerwähnt bleibt dagegen wie in allen Titelformulierungen des Untersuchungskorpus die Figur des eigentlichen Intriganten, Pfalzgraf Heinrich. Es bleibt festzuhalten, dass die Dimension des Titels von Endter 2 die Ursache von Ernsts Raͤ isen also anders als alle anderen untersuchten Formulierungen als intentionalen Akt ausweist, aber offen hält, ob Ernst, Otto oder eine hier namen- und gestaltlos bleibende Figur als Schuldiger anzusehen ist. Insgesamt wird in der Klasse II also die Aufmerksamkeit des Lesers gleichermaßen auf den Orient als Ort der Gefahr, des Verlustes und der Rettung als auch auf das Reich als Ort des Unfalls (bei Endter 2: der Untreue), der Lebensbedrohung und der Gnade gelenkt. Hertzog Ernst/ Eines Fuͤ rsten Sohn auß Bayern/ Wie er faͤ lschlich angeben ward/ als wolt er Keys. Friderich seinem Stieffvatter mit gifft vergeben haben/ derhalb er in deß Keysers Vngnad kam/ jhm aber durch hilff seiner Mutter entgieng/ vnnd was jhm fuͤ r Abenthewr mit dem geschnaͤ belten Koͤ nig/ Riesen vnnd Zwergen/ zu handen gangen sey. Alles sehr lustig vnnd kurtzweilig zu lesen vnd singen/ Jn der weiß/ wie Herr Ecken Außfahrt. Titelformulierung des Sonderfalls HE Vb Schröter
Eine gesonderte Betrachtung innerhalb der Titelformulierungen des HE Vb verdient der Basler Druck von Schröter aus dem Jahr 1610 nicht nur deshalb, da er im Obertitel den Namen des Helden separat voranstellt.627 Dieser Werktitel führt den Inhalt des folgenden Romans vielmehr am ausführlichsten, aber auch mit großen Widersprüchen zu anderen Dimensionen aus, und stellt daher einen Sonderfall dar. Am Ende der Titelformulierung verweist auch diese Redaktion auf den Unterhaltungswert des Erzählten (Alles sehr lustig vnnd kurtzweilig zu lesen). Die Verweise auf Lustigkeit und Kurzweil sind also zu einer gemeinsamen Formulierung zusammengezogen, die jedoch mit folgenden Worten fortgesetzt ist: vnd singen/
627 Ein solcher ‚Protagonistentitel‘ würde die Redaktion als besonders modern ausweisen, wenn der Blick nicht mit Hilfe von größerer Type und Rotdruck auf die Beiworte Eines Fuͤ rsten Sohn auß Bayern gelenkt würde.
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Jn der weiß/ wie Herr Ecken Außfahrt.628 Versucht aber ein Leser, den nachfolgenden Romantext im sogenannten ‚Bernerton‘ zu singen, stößt er schnell an seine Grenzen. Denn anders als die Liedfassung des HE G, auf die sich auch der Titelholzschnitt mit der indischen Prinzessin beziehen lässt,629 ist der Prosatext nicht sangbar. Anders als die Redaktionen der Klasse II wird im Schröter-Druck die Störung des Treueverhältnisses näher bezeichnet, wenn Hertzog Ernst deshalb in deß Keysers Vngnad kam, da er faͤ lschlich angeben ward, den Kaiser vergiften zu wollen. Obwohl Ernst in der Liedfassung tatsächlich versucht, seinen Stiefvater zu vergiften,630 wird er in HE Vb Schröter unzweifelhaft als ein Unschuldiger eingeführt, wobei der Intrigant wiederum unbenannt bleibt. Es deutet sich eine Tendenz an, antagonistische Instanzen auf der Dimension der Titelformulierung zu invisibilisieren. Vielleicht aus Scheu, mit dem Bösen zu werben, oder um die Spannung auf das Folgende zu erhöhen? Möglicherweise bleibt Heinrich aber auch deshalb ausgespart, da er im Haupttext der HE Vb-Redaktionen kaum mehr Profil als ein bloßer Funktionsträger gewinnt. Als einzige Redaktion erwähnt Schröter zudem Ernsts leibliche Eltern. Während der Vater nur zur Informationsvergabe in Bezug auf Ernsts Stand und Herkommen dient (Eines Fuͤ rsten Sohn auß Bayern), wird mit Adelheid diejenige Figur – allerdings ohne Namen – thematisiert, die im HE C und im HE F/VbKomplex mit der Erzählung ihrer Wundertaten (Audition und abschließende Episoden) erhöhtes Gewicht im Vergleich zur älteren Tradition der Ernst-Geschichte erfährt: Nur durch hilff seiner Mutter entkommt Ernst seinem Stieffvatter, der hier übereinstimmend mit der Liedfassung aber gegen den Haupttext Friderich genannt ist. Während in den Titelformulierungen der Klassen II und III abschließend von der kaiserlichen ‚Gnade‘ die Rede ist, erwähnt Schröter nur die Vngnad des ersten Handlungsabschnitts. Darüber hinaus entfällt hier die Rahmungsstruktur des Haupttextes, die von den anderen Titeln nachvollzogen wird. Ernst wird verleumdet, fällt in Ungnade und entkommt. Daran schließen sich die orientalischen Abenthewr an. Von einer Rückkehr und Versöhnung mit dem Kaiser weiß die Titelformulierung nichts zu berichten. Da Kaiser Friderich in der
628 Vgl. zum Hinweis auf Ecken Ausfahrt auch Flood: The Survival, Bd. 1, S. 300 f. Interessanterweise sind im Berliner Sammelband SBB-PK Berlin, Sign. Yf 7868 R, u. a. HE Vb von der Heyden und Heinrich Nettesheims Druck von Ecken Ausfahrt miteinander verbunden. 629 S. unten, S. 508, sowie weiterhin: Stickelberger: Volksbuch von Herzog Ernst, der umgekehrt auch auf einen Druck der Liedfassung verweist, dessen Titelformulierung inhaltlich vom HE Vb beeinflusst sei (vgl. S. 108), und Flood: The Survival, Bd. 1, S. 187. Von einer Beeinflussung des HE Vb durch den HE G im Allgemeinen geht Sonneborn: Gestaltung der Sage, aus (vgl. S. 45). 630 Vgl. die Edition von King (Hg.): Das Lied von Herzog Ernst, S. 32 f. (Strophe 2). Laut Variantenapparat gilt dies für alle überlieferten Ausgaben.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Liedfassung bei Ernsts Heimkehr bereits verstorben ist, braucht dies nicht zu überraschen, hat aber Konsequenzen für die sinnstiftende Figurenzeichnung auf dieser Dimension. Während in den Klassen II und III die Gewalt, die Otto dem Titelhelden einst entgegenbringt, zwar deutlicher herausgestellt wird, lenkt die gleichzeitige Erwähnung seiner Gnade die Aufmerksamkeit auf die Ursache des widersprüchlichen Handelns, also auf den Un- oder Zufall beziehungsweise auf die Untreue. Bei Schröter dagegen ist Friderich-Otto ein irregeleiteter Herrscher, der aufgrund eines bloßen Verrat-Phantasmas seinen Stiefsohn zum Verlassen des Reiches nötigt. Bleiben in den anderen Klassen die Wunder des Orients im Unklaren, so spart zwar auch Schröters Titelformulierung sowohl Ernsts Kreuzzug ins Heilige Land als auch den Heidenkampf in Jerusalem aus, da diese nicht Teil der Liedfassung sind, erwähnt aber die Abenthewr mit dem geschnaͤ belten Koͤ nig/ Riesen vnnd Zwergen. Damit teilt diese Titelformulierung das Interesse des HE G an den Kuriosa des Orients, wobei die Vermählung mit der indischen Prinzessin, die als fascinosum des Liedes anzusehen, aber nicht Gegenstand der Prosafassung ist, nicht erwähnt wird. Die Verwendung eines textfremden Titelblatts ist zwar als nicht-intentional oder zumindest nicht als semantisch intendiert anzusehen,631 führt aber eine Dimension narrativer Sinnstiftung ein, die vor allem die Figuren des Herzogs und des Kaisers anders bewertet, als dies in den anderen Klassen der Fall ist: Ernst wird zum unschuldigen Opfer des Verleumders und der kaiserlichen Gewalt; Friderich-Otto ist dagegen ebenfalls Opfer des Intriganten, aber gleichzeitig Täter an seinem Stiefsohn. Außerdem wird das Reich bei Schröter zum Ort der Falschheit, des Giftes und der Ungnade, aus dem den Titelhelden allein der mütterliche Beistand helfen kann – und zwar hinaus in eine Welt der Abenteuer. Eine lesenswuͤ rdige Historie vom Herzog Ernst, in Bayern und Oesterreich, wie er durch wunderliche Zufaͤ lle sich auf gefährliche Reisen begeben, jedoch endlich vom Kaiser Otto, der ihme nach dem Leben gestanden, wiederum begnadet worden. Ganz neu gedruckt. Leitformulierung der Klasse III nach Druck P1
Die Vertreter der Klasse III stehen für die jüngeren Redaktionen der HE Vb-Überlieferung, wobei ihre Titelformulierungen große Ähnlichkeit zur Klasse II aufweisen.632 Der klassifikatorische Unterschied besteht in der hinsichtlich des Text-
631 Vgl. das Kap. 2.1.4.2. 632 Die einzelnen Drucke der Klasse III unterscheiden sich durch graphische Varianz sowie durch die Ersetzung von Verben und Partizipien durch bedeutungsverwandte Ausdrücke (gestanden in HE Vb L2, M2 und P1 sowie bei Fleischhauer und Trowitzsch; getrachtet bei Zirngibl und Everaerts sowie begnadet in L2, M2 und P1 sowie bei Everaerts; begnadigt dagegen bei Zirngibl, Fleischhauer und Trowitzsch). – Im Kolophon wird der Titel in einigen Redaktionen nochmals
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
sinns allerdings wenig spezifischen Ersetzung der lustigen History durch lesenswuͤ rdige Historie.633 Die einzige sinntragende Änderung besteht, wie oben bereits bemerkt, in der Ersetzung des wunderbarlichen vnfall[s] durch wunderliche Zufaͤ lle in P1 und bei Zirngibl.634 ‚Zufall‘ in diesem Sinne meint ein Ereignis, das Ernst unversehens, ungewollt und von außen zustößt.635 Seit dem siebzehnten Jahrhundert wird damit aber auch auf die Unberechenbarkeit des Geschehens, also auf die fehlende Bekanntheit der Gründe verwiesen.636 Die Folge davon ist, dass die Protagonisten das ihnen zufallende Geschick, das Ernst zum Verlassen des Reichs führt, eindeutig passiv erleiden, was dem Figurenkonzept des mittelalterlichen Minneromans entspricht.637 Letztlich steht nach der Titelformulierung der Kaiser aber über dem Zufall, wenn er Versöhnung und Heimkehr ermöglicht. Bei HE Vb Trowitzsch verliert der Aufenthalt im Orient darüber hinaus seine Bedrohlichkeit, da hier das entsprechende Adjektiv gefährlich[ ] entfällt und sich der Held somit lediglich auf die Reise begibt. Eine Neuheit besteht nun darin, dass gerade diese im Verhältnis junge Redaktionsklasse mit der jeweiligen Aktualität der Ausgabe wirbt. So sei der Herzog Ernst in P1 [g]anz neu gedruckt und nach M2 [z]uvor niemals also gedruckt worden. Gustav Schwab sieht in dem Hinweis Gedruckt in diesem Jahr, der sich im HE Vb L2 findet, einen „Stempel der ewigen Jugend“,638 der, wie sich unten zeigt, in auffälliger Weise mit dem archaistischen Auftreten des Helden auf dem Titelbild dieser Redaktion kontrastiert. Als ‚neu‘ beworben wird dabei nicht die erzählte Geschichte, sondern der Druck, also nicht die materia, sondern das artificium.639 Diese Formulierungen lenken daher den Blick auf den Roman als Druckerzeugnis,
verkürzend aufgegriffen, hier stellvertretend nach dem Wortlaut von L2: „So viel von der Lesenswuͤ rdigen Beschreibung Herzog Ernsts“ (S. 91). 633 Entgegen der von Wahrenburg: Funktionswandel, S. 57, beschriebenen Tendenz wird History nicht durch die „Bezeichnungen ‚Geschicht‘, ‚Begebenheiten‘, ‚Gedicht‘ und ihrer Komposita“ ersetzt (S. 57). Stimmt man seinen Ausführungen zu, wird der „Akzent“ daher also gerade nicht „auf die Begebenheit selbst“, auf „das dargestellte Ereignis, als singuläres Faktum“ verlagert (alle S. 58). Damit stimmt die im Folgenden bemerkte Betonung des Artifiziellen überein. 634 L2, Fleischhauer, Everaerts, M2 und Trowitzsch haben den Plural wunderliche Unfaͤ ll/Unfaͤ lle. 635 Vgl. den Art. Zufall im Grimm’schen Wörterbuch, Bd. 32, S. 342–346 hier: S. 344 f.; und den Art. Zufaͤ lle. In: Grosses Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Kuͤ nste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden […]. Bd. 63. Hg. von Johann Heinrich Zedler. Leipzig, Halle a.d.S. 1750, S. 1097. 636 Vgl. den Art. Zufall, S. 345. 637 Vgl. dazu am Beispiel von Veit Warbecks Magelone Armin Schulz: Poetik des Hybriden, S. 228 f. 638 Vorwort zum ersten Band von Gustav Schwabs ‚Volksbuch‘-Sammlung Geschichten und Sagen, S. V. 639 Vgl. dazu S. 146–152 im Kap. 2.1.2.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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was indirekt die Wichtigkeit der paratextuellen Dimensionen erhöht. Für sich genommen sind sie allerdings genauso wenig sinnstiftend wie die Angabe von Drucks-, Verlags-, Verkaufs- oder Messeorten auf dem Titelblatt. Damit sind alle Titelformulierungen des Prosa-Herzog Ernst vorgestellt. Während das Incipit der Klasse I nur den Protagonisten näher vorstellt, wird der zentrale und deutungswürdige Konflikt in den Klassen II und III mit unterschiedlicher Einschätzung der Intentionalität desjenigen Reichsgeschehens wiedergegeben, das zur Vertreibung des Helden führt. Die Titelformulierungen der Klassen II und III zeichnen sich durch ein Gleichgewicht von Orient- und Reichsteil aus, wobei die Erwähnung des Orients analog zum Haupttext von Elementen der Reichshandlung gerahmt ist. Eine Sonderstellung nimmt der Druck von Schröter aufgrund einer Kontamination mit der Überlieferung der Liedfassung HE G ein. Dabei kommt es aber nicht nur zu Widersprüchen von Titelformulierung und Haupttext (Name des Kaisers), der eigentlich ‚falsche‘ Titel steuert dennoch die Lektüre und stiftet Sinn, insofern er die Figuren und ihr Verhältnis charakterisiert und sich als positive Endgültigkeit in die Textgeschichte des Werkes einschreibt.
3.3.1.2 Die Titelblätter Von den Formulierungen verschiebt sich der Fokus im Folgenden auf das Visuelle und damit auf das Titelblatt als prominente Gesamtkomposition.640 Die Redaktionen des HE F kennen außer dem lable title des HE F Sorg 3, der oben besprochen wird, kein Titelblatt.641 Den Holzschnitt, der in den Inkunabeln – und im Cgm 224 als Blindritzung – der Elternvorgeschichte des Romans vorangestellt ist, bespreche ich im Kapitel 3.3.2.1 als eines der Elemente des Romaneingangs.642 Die Analyse beschränkt sich damit auf die Redaktionen des HE Vb die alle ein
640 Groß- und Rotdruck sind bei der Gestaltung der Titelformulierung „offen für [...] Semantisierungen“ (Rautenberg: Buchtitelblatt der Inkunabelzeit, S. 44, zum Rotdruck). Einzelne Aspekte können ausgezeichnet und damit hervorgehoben werden. Im Fall der HE Vb-Redaktionen wird zumeist der Name des Titelhelden rot gedruckt, dann dessen Herkunft, aber auch die Angaben zum Druckerverleger. Durch Großdruck sind ebenfalls der Name des Helden und die Herkunftsangabe herausgestrichen. In etwas kleinerer, aber immer noch vergrößerter Type ist die Gattungsbezeichnung gedruckt. In manchen Fällen steht allerdings die Schmuckfunktion ganz im Vordergrund wie bei HE Vb M2, der jede zweite Zeile rot druckt. 641 Für Knape: Historie in Mittelalter und früher Neuzeit, S. 341, dienen die drei Sorg-Ausgaben als Beispiel für die Entwicklung der Druckgestaltung bei der deutschen Erzählliteratur des späten fünfzehnten Jahrhunderts. 642 Vgl. S. 511f. – Wenn in der Klasse III der Held als Krieger dargestellt wird, so zeigen ihn diese Illustrationen als Herrscher.
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illustriertes Titelblatt enthalten. Lediglich beim HE Vb Singe ist es aufgrund von Blattverlust beim unikalen Textzeugen überlieferungsgeschichtlich entfallen. Abb. 28: Titelblätter im HE F/Vb-Komplex. Klasse I
Kein Titelblatt
Redaktionen des HE F
Klasse II
Unterschiedliche Bildmotive
a) Abschieds- und Gnadenszene (HE Vb Han 1 und von der Heyden) b) Reiter und Mann in totem Pferd (Endter 2) c) Entführung der indischen Prinzessin (Schröter) d) Reiter mit zwei Hellebardenträgern (Francke)
Klasse III
Einzelner Kämpfer als Titelbild
HE Vb L2, Fleischhauer, Zirngibl, P1, Everaerts, M2 und Trowitzsch
Anhand des gemeinsamen Bildmotivs lassen sich die Redaktionen der jüngeren HE Vb-Überlieferung als eine eigentliche Klasse von den älteren HE Vb-Drucken absetzen, deren Titelholzschnitte sehr unterschiedliche Themen aktualisieren. Die Klasse III zeichnet sich durch die Darstellung eines einzelnen bewaffneten Mannes in landschaftlicher Umgebung aus. Im Zusammenspiel mit der Titelformulierung ist er als Herzog Ernst zu identifizieren. Doch findet sich derselbe Holzschnitt auch auf Titelblättern zum Gehörten Siegfried.643 Fehlt wie bei HE Vb L2 eine Individualisierung der Figur in Form eines Wappens, wäre in Erwägung zu ziehen, ob in dem gemeinsamen Erscheinungsbild eine Art ‚Gattungszeichen‘ zu sehen ist. Das Bild würde den prototypischen Protagonisten eines ‚Heldenromans‘ der Vorzeit vorstellen: antikisierend mit Lanze und Buckelschild.644 Das Gros der Redaktionen dieser Klasse verfährt jedoch anders. So fällt beim Druck von Zirngibl auf, was mit Barbara Weinmayer als ‚aktualisierende Traditionspflege‘ zu bezeichnen ist, von der älteren Forschung aber abgelehnt wird.645 Wie auch in P1 und M2 sowie bei Fleischhauer hält der Herzog einen ovalen Schild mit geviertem Wappen aus Rauten und Löwen in der Hand. Zusätzlich ziert aber die Abbildung des Reichsapfels die Schildmitte, womit die Kurwürde Pfalz-Bayerns symbolisiert wird (s. Abb. 29). Dadurch entspricht das Wappen bei Zirngibl
643 Vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 196 und S. 310. 644 Vgl. dazu meine Überlegungen zum möglicherweise sinnstiftenden Bildzitat der Lehrszene im Erstdruck des Fortunatus (S. 30–34 im Kap. 1.1.3). 645 Vgl. Weinmayer: Gebrauchssituation, S. 9–17, und mein Kap. 2.1.2. – Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 43, weist die Modernisierung der abgebildeten Kleidung als „arge Anachronismen“ zurück.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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der zwischen 1623 und 1806 gebräuchlichen Form.646 Auch P1, M2 und Fleischhauer aktualisieren die überkommene Geschichte, indem das hier verwendete Wappen immerhin erst ab der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts nachzuweisen ist.647
Abb. 29: Titelbild Eine lesenswuͤ rdige Historie vom Herzog Ernst. Berlin: [Wilhelm] Zuͤ rngibl [1802/19], Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. P.o.germ. 2058 s.
Ernst erscheint auf den Titelbildern damit einmal als individueller und moderner Held, einmal als typischer Protagonist einer Vorzeit. Bei allen Redaktionen der
646 Vgl. Wilhelm Volkert: Art. Bayerisches Wappen. In: Historisches Lexikon Bayerns. Publiziert am 22. Mai 2012. http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_45123 [18. November 2013], mit der dortigen Abb. 9. 647 Vgl. ebd., mit der dortigen Abb. 5. – HE Vb Everaerts und Trowitzsch vereinfachen die Darstellung, indem die eine Hälfe des Schildes nur schraffiert wird. Dadurch entfällt der realhistorische Bezug.
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Klasse III ist er aber allein ohne seinen Freund und Ratgeber Wetzelo abgebildet und wird weder durch den Kaiser, noch durch Sarazenen angefochten. Auch die Wunderwesen des Orients und das Skandalon des Anschlags auf Kaiser und Pfalzgraf werden nicht dargestellt. Egal ob mit größerer Aktivität durch ein gezogenes Kurzschwert (Zirngibl) oder eher repräsentativ mit Lanze (L2) oder auf ein Langschwert gestützt (alle anderen Redaktionen der Klasse): Bildthema ist allein Ernsts Reckentum. Die von der Titelformulierung angeführten Umstände und Abenteuer werden zur bloßen Bewährungsprobe. Wie Ernst am Ende der Haupthandlung wieder in seine angestammten Lande eingesetzt wird, so illustriert dieses Titelblatt die immerwährende gloria und maiestas des Helden. Die von HE Vb Han 1 dargestellte Szene ist zweiteilig, wodurch der relative Romanbeginn und das relative Ende vorgestellt werden.648 Im Bildzentrum beugt ein junger Mann demütig das Knie. Es könnte sich um eine Initiations- und Abschiedsszene handeln, in der er mit Händedruck einen älteren Mann um die Erlaubnis, zu gehen, bittet und Abschied von ihm nimmt. Dazu passt, dass die Szene vor den Toren angesiedelt ist und sich in der linken Bildhälfte bereits drei Reiter zum Aufbruch bereit gemacht haben.649 Allerdings fehlt ein viertes Pferd für den Jüngling und das Handzeichen desjenigen Reiters, der als einziger der Szene zugewandt ist, wird schwerlich als Abschiedsgruß zu deuten sein. Vielmehr handelt es sich um eine Gnadengeste. Dann aber nimmt der Holzschnitt die Titelformulierung auf, dass Ernst gnad vonn Keiser Otten erlangt. Und zwar nach seiner Rückkehr von gefehrliche[n] Rheisen. Wenn ich das Bild richtig lese, wird Otto verdoppelt und es sind sowohl ein Abschied als auch ein Gnadenakt dargestellt. Auf jeden Fall invisibilisiert die Titelillustration den Konflikt zwischen Kaiser und Herzog und harmonisiert die Personenbeziehung. Dies stimmt mit der Titelformulierung überein, die Ernsts Anschlag und den nachfolgenden Krieg als wunderbarlichen vnfall verharmlost. Allerdings entsteht dadurch eine Spannung zwischen der Figurenzeichnung Ottos auf dem Schnitt und der als Relativsatz syntaktisch untergeordneten Information, dass es der Kaiser gewesen sei, der Ernst nach dem Leben gestalt hatt. Es entsteht letztlich der Eindruck, dass es unglückliche Umstände sind, die das gute Verhältnis der Protagonisten stören und nicht näher genannte Abenteuer verursachen.
648 Die Ausführungen gelten auch für HE Vb von der Heyden, der das Bild seitenverkehrt nachschneidet. 649 In diesem Sinn wird der Holzschnitt im weiteren Romanverlauf wiederverwendet. Er illustriert die Kapitel mit Ernsts Werbung um Kreuzfahrer (vgl. fol. Ciiijv., falsch für: fol. Diiijv.), seinen Abschied zur Kreuzfahrt (vgl. fol. [Dvj]r.), seinen Aufbruch vom Mohrenland mit dem Babylonier (vgl. fol. [Kvj]v.) und den Auszug aus Rom (vgl. fol. [Lvj]v.).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
507
Abb. 30: Titelbild Eine ganz lustige History/ Von Hertzog Ernst. [Nürnberg: Martin Endter um 1700], Sign. 8° L. 1813 y © Germanisches Nationalmuseum Nürnberg.
Demgegenüber ist das Titelbild von Endter 2 rätselhaft. Ein Mann steht in einem toten Pferd. Ein Reiter, dessen Begleitung abgeschnitten ist, spricht mit ihm. Die Gestik des Unglücklichen lässt auf seine Ratlosigkeit, vielleicht auch auf Hilflosigkeit, schließen. Es gibt allerdings keine Szene im Roman, auf die sich das Bild in seiner konkreten Ausformung beziehen ließe. Schaut man aber Titelbild und -formulierung als Komposition zusammen, lässt sich der Tod des Pferdes auf die gefaͤ rliche[n] Raͤ isen beziehen. Die Figur in dem Kadaver wäre somit Ernst. Die einzige Figur, die noch im Titel erwähnt wird, ist Kaiser Otto, der durch den Reiter repräsentiert würde. In Übereinstimmung mit der Titelformulierung müsste seine ausgestreckte Hand dann als Zeichen gnädiger Aufnahme gedeutet werden. Der Bildinhalt träte also in ein symbolisches Verhältnis zum Gesamt der Romanhandlung. Die Handlungsmacht läge völlig bei Otto, Ernst käme die Rolle des Gefallenen zu, dem nichts übrig bleibt, als die kaiserliche Gnade zu erflehen. Dies wäre eine radikale Umdeutung des Romans, wobei der Faktor der Untreu, die nach dem Titel Auslöser für die gefahrvolle Reise ist, auch im Holzschnitt völlig im Unklaren bleibt. Ursprünglich stammt der Holzschnitt aus dem 25. Kapitel einer zeitgenös-
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sischen Ulenspiegel-Redaktion, in dem der Protagonist in Erwartung tödlicher Gefahr sein Pferd aufschneidet und sich in den Kadaver stellt.650 Als Titelbild zum Herzog Ernst ist der Schnitt insofern glücklich gewählt, da es an dieser Stelle des Ulenspiegel um die unrechtmäßige Rückkehr in die Heimat geht, wofür der Landesherr getäuscht werden muss. Vor dem Hintergrund des Listhandelns des Schwankhelden kehren sich die oben vermuteten Verhältnisse um: Ernst ist dann derjenige, der Otto überlistet, um ins Reich zurückzukehren. Die weihnachtliche Versöhnung gerät in dieser Darstellung zu einem erfolgreichen Listhandeln. Doch erst durch die Analyse des Zusammenspiels mehrerer Dimensionen narrativer Sinnstiftung dieser Redaktion und unter Berücksichtigung inter- wie intratextueller Bezüge kann die Tragweite dieses Deutungsansatzes richtig eingeschätzt werden.651 Die Formulierungen stehen daher an dieser Stelle teilweise im Konjunktiv. Wie sich die Titelformulierung der Redaktion HE Vb Schröter auf die Liedfassung bezieht, so stellt auch die Titelblattillustration eine Szene ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die in der Romanhandlung lediglich als interne Analepse des Erzählers vorkommt und ausschließlich Nebenfiguren betrifft: die Entführung der indischen Prinzessin durch den König der Kranichmenschen. Ins Bild gesetzt ist damit der erste Teil der abschließenden Titelformulierung, was jhm für Abenthewr mit dem geschnaͤ belten Koͤ nig/ Riesen vnnd Zwergen/ zu handen gangen sey. Die Dimension des Titelblatts lenkt die Rezeption in diesem Druck spezifisch auf die Wunderwelt der Abenteuerfahrt.652 In den anderen Redaktionen dominiert dagegen die repräsentative Illustration von Ernst als Titelheld; auch wird das Reichsgeschehen in einem Fall als Handlungsrahmen symbolisch illustriert. Zuletzt betrachte ich den Holzschnitt bei HE Vb Francke. Während Flood hier „three armed men“ erkennt,653 sehe ich lediglich zwei mit Schwertern und Halmbarten654 ausgerüstete Krieger oder Wächter, während die dritte Figur zwar
650 Vgl. Flood: The Survival, Bd. 1, S. 194. 651 Vgl. die Zusammenfassung im Kap. 3.4. 652 Flood: Einleitung, S. 34, verweist noch auf eine hier nicht ausgewertete Redaktion von Enßlin und Laiblin aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, wo das Titelbild den Kampf mit einem Kranichmenschen zeige. Aber auch zu dieser Zeit werden die Kuriosa des Abenteuerteils nicht verabsolutiert, was der neue Untertitel eines weiteren Drucks in demselben Verlag verdeutlicht: oder wie Gott die Menschen durch Unglück und Herzeleid seinem Himmel zuführt (vgl. ebd.). 653 Flood: The Survival, Bd. 1, S. 186. 654 Die Verwendung solcher Waffen stellt im Vergleich mit Darstellungen von Spießträgern eine weitere Form der Aktualisierung der Ernst-Geschichte dar. Die schwarzen Punkte auf der linken Halmbarte deuten eine Form der Befestigung an, wie sie ab dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts verwendet wird (vgl. E[duard] A[chilles] Geßler: Führer durch die Waffensammlung. Ein
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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beritten, aber unbewaffnet ist. Die Halmbartenträger umgeben den Reiter: Der linke blickt auf das Pferd und geht in der Reitrichtung mit, der rechte hat Blickkontakt mit dem Unbewaffneten und bewegt sich auf diesen zu. Glücklich ist der Reiter nicht darüber. Seine Augen sind verengt, die Gesichtszüge zeigen nach unten, was sich am Schnurrbart erkennen lässt. Möglicherweise stemmt er darüber hinaus seine linke Hand in die Seite. Die Szene ist allgemein gehalten, wirkt aber unterstrichen durch den ungleichmäßigen Einsatz roter Farbe bedrohlich. In Bezug auf die Titelformulierung könnte es sich um den angekündigten Vnfall oder wahrscheinlicher um eine Illustration der Gefährlichkeit des Reisens im Allgemeinen handeln – unabhängig davon, ob dem Reisenden hier konkret nach dem Leben gestellet wird. Identifiziert man die prominente Figur in der Bildmitte mit dem durch Groß- und Rotdruck aus der Titelformulierung hervorgehobenen Herzog Ernst, so erscheint er auf dieser Dimension als angefochtener Reisender, als potentielles Opfer. Eine etwaige Schuld oder Täterschaft des Helden gerät hier dagegen nicht in den Blick.
3.3.2 Integrierte Vor- und Nachworte In keiner Redaktion des Prosa-Herzog Ernst gibt es ein abgesetztes Vor- oder Nachwort im eigentlichen Sinn. Ihre Funktionen übernehmen andere Textteile. Mit Gérard Genette gesprochen, muss man die entsprechenden Bemerkungen, „jeweils aus dem Beginn (oder womöglich dem Schluß) des Textes heraussuchen“.655 Dadurch erhalte man ein ‚integriertes Vorwort‘ beziehungsweise – analog dazu gedacht – ein ‚integriertes Nachwort‘. Ich beschreibe daher zunächst jeweils die Elemente des Romaneingangs und prüfe dabei, inwieweit diese sinnstiftende Vorwort-Funktionen erfüllen. Schließlich wiederhole ich diesen Vorgang mit den abgestuften Romanausgängen der einzelnen Redaktionen.
3.3.2.1 Elemente des Romaneingangs Expositionellen Charakter hat die Beschreibung der Jugend des Helden. Dieser Beginn der eigentlichen Romanhandlung ist in allen Redaktionen gleich: Ernst wird vorbildlich unterrichtet, findet in Wetzelo einen treuen Begleiter und wird
Abriß der schweizerischen Waffenkunde. Zürich, Aarau 1928, hier: S. 54), die Klinge selbst weist ins sechzehnte Jahrhundert (vgl. ebd., S. 55). Zur Geschichte der Stangenwaffen vgl. insgesamt ebd., S. 43–58; Volker Schmidtchen: Kriegswesen im späten Mittelalter. Technik, Taktik, Theorie. Weinheim 1990, hier: vor allem S. 188–190. 655 Genette: Paratexte, S. 160; vgl. zum Folgenden insgesamt ebd., S. 159–165.
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allgemein geachtet.656 Doch liegt die Witwenschaft seiner Mutter wie ein Schatten auf seiner jungen Herrschaft. Zahlreiche Bewerber begehren Adelheid, die in völliger Andacht lebt. Ihre Räte, aber auch Ernst selbst legen ihr eine weitere Vermählung nahe, womit der zentrale Konflikt zwischen Stiefvater und -sohn vorbereitet ist. Doch ist diesem Handlungsbeginn in allen Redaktionen die Schwundform einer Elternvorgeschichte vorangestellt. Ernsts gleichnamiger Vater wird als friedlicher und gerechter Herrscher eingeführt. Die Wahl Adelheids zur Ehefrau wird vom Erzähler als standesgemäß und damit positiv gewertet. Gegenstand der Exposition ist also insgesamt die Demonstration von Vorbildlichkeit in Bezug auf Person (Tugenden, Erziehung), Haus (Wahl eines angemessenen Ehepartners) und Staat (im Wechselspiel von guter Regierung und treuer Untertänigkeit). Darüber hinaus wird die Instanz des Göttlichen vom Erzähler mit dem vorzeitigen Tod des Vaters als Fatum und mit Adelheid als Gegenstand christlicher Andacht vorgeführt. Das Ende der Exposition markiert die Einführung widerstreitender Interessen: einerseits in Form der Konkurrenz mehrerer Bewerber, andererseits in Bezug auf Adelheid zwischen Weltabgewandtheit und öffentlichen Rücksichten.657 Abb. 31: Elemente des Romaneingangs im HE F/Vb-Komplex.658 alle Redaktionen
Klasse I
Klasse II und Klasse III
Incipit oder Titelformulierung, Elternvorgeschichte und Ernsts Jugendgeschichte Sorg 1 und 2 sowie Knoblochtzer
Thronholzschnitt
Sorg 3
Thronholzschnitt und lable title
Cgm 224
Thronholzschnitt als Blindritzung
Cgm 572
ohne Holzschnitt, aber mit lateinischem Titel und lateinischer Einleitung
Han 1, von der Heyden, Francke, Singe, Schröter, Endter 2, L2, Fleischhauer, P1, M2 und Trowitzsch
Titelbild, Zwischentitel und Einleitungsholzschnitt
Zirngibl und Everaerts
ohne Einleitungsholzschnitt
656 Für notwendige Nuancierungen, die im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht relevant sind, sowie für die konkreten Stellennachweise, vgl. S. 342f. im Kap. 3.1.1.1. 657 Im Kap. 3.1.2.3 erweise ich dies für die HE F-Redaktionen mit Hinweis auf die paulinische Ehelehre allerdings als Scheinwiderspruch (vgl. S. 462f.). 658 Im unikalen Exemplar von HE Vb Singe fehlt aufgrund von Blattverlust das Titelblatt.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Durch diese Werkteile sind damit die Hauptcharaktere sowie die zentralen Themen und Konfliktlinien etabliert. Alle Redaktionen enthalten darüber hinaus jedoch auch noch ein Incipit (Klasse I) beziehungsweise eine Titelformulierung (Klassen II und III). Diese sind ebenfalls an der Exposition des Romans beteiligt, indem zumindest der Protagonist vorgestellt, der Rezipient zum Teil aber darüber hinaus ins Geschehen von Reichs- und Orientteil eingeführt wird.659
Abb. 32: Hienach volget ein hübsche liebliche Historie eines edlen fürsten Herczog Ernst von Bairen vnd von oͤ sterreych [Augsburg: Anton Sorg 1477/80] Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. 2° Inc.s.a. 667, fol. 2r.
Außer in HE F Cgm 572 werden alle Incipits und Titelformulierungen auch noch von einer Abbildung begleitet. Die Titelbilder bespreche ich oben zusammen mit textlichen Formulierungszusätzen auf den Titelblättern.660 Letzte haben ins-
659 Für genauere Angaben vgl. das Kap. 3.3.1.1. 660 Vgl. das Kap. 3.3.1.2.
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besondere eine werbende Funktion;661 betonen sie doch die Neuheit des jeweiligen Produkts, die sich von der Traditionalität der erzählten Geschichte abhebt. Nicht näher gehe ich dort auf einen Holzschnitt ein, der in allen Inkunabeln den ProsaHerzog Ernst visuell einleitet. Auch im HE F Cgm 224 findet er sich als Blindritzung. Ein junger Mann sitzt auf einem Thron. In Übereinstimmung mit der Elternvorgeschichte könnte es sich um Ernsts gleichnamigen Vater handeln oder um Ernst, von dem das Incipit spricht. Die Mauern des Innenraums enden in Gesichtshöhe. Die Figur blickt zur Seite über die Mauer hinweg ins Weite. Die Hände weisen in dieselbe Richtung. Gesprächspartner oder sonstige Begleitpersonen fehlen. Es ist daher der Betrachter, den die Figur einlädt, ihren Blicken zu folgen. Da es sich bei der Landschaft im Bildhintergrund nur um unspezifische Hügel handelt, gehe ich nicht davon aus, dass es darum geht, in ihr das Herzogtum Bayern und Österreich zu erkennen, welches sowohl vom Incipit als auch vom ersten Satz des folgenden Textes erwähnt wird. Stattdessen halte ich es für möglich, dass die dargestellte Szene der Romanhandlung enthoben ist und ganz im Rezeptionsakt aufgehen soll: Der Thronende lädt den Betrachter ins Buch und zur Lektüre ein. Analog zu einem Vorwort beginnt mit der bildlichen Darstellung das ‚Gespräch‘ oder besser: die Rezeption. Diese Redaktionen reflektieren sich in dem einleitenden Bild also selbst als ein schriftliches Medium in Handschrift beziehungsweise Druck. In den HE Vb-Redaktionen (Klassen II und III) sind mit einem Zwischentitel662 und einer Abbildung zwei weitere paratextuelle Elemente des Romaneingangs der Elternvor- und Jugendgeschichte vorangestellt. Unabhängig vom Bildthema verweisen die Kapitelüberschriften und tituli unisono auf die Hochzeit von Ernsts Vater mit der Königstochter Adelheid. Auch die Illustrationen beschränken sich ganz auf den Romaneingang und haben keine Bedeutung in Bezug auf das Erzählganze. Vorwortfunktion übernehmen diese Elemente daher nicht. Deswegen erwähne ich lediglich ein Detail in den Schnitten von HE Vb Singe und Francke (jeweils fol. Aijr.). Während sich Ernsts Eltern in der linken Bildhälfte in einem Innenraum unterhalten, zeigt rechts der Blick ins Freie eine zerklüftete, unkultivierte Landschaft, über der sich ein Wolkenmassiv auftürmt. Mit aller Vorsicht ließe sich hierin ein Verweis auf die drohenden Unbilden sehen. Mehr als eine weitere Hinführung auf den Werkinhalt bedeutete dies im Zusammenhang der Frage nach Vorwortfunktionen aber auch nicht. – Auf den ‚lable title‘ im Sammelband von HE F Sorg 3 und auf die lateinische Titelformulierung im Cgm 572 gehe ich hier nicht ein,663 denn Vorwortfunktionen erfüllen auch sie nicht.
661 Zu den Vorwort-Funktionen im Allgemeinen vgl. S. 300–303 im Kap. 2.3.3.4. 662 Zu Kapitelüberschriften und tituli des HE F/Vb-Komplexes vgl. das Kap. 3.3.5. 663 Vgl. dazu S. 495f. im Kap. 3.3.1.1.
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3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
Auf einen Sonderfall bei den Eingangselementen der HE F/Vb-Redaktionen muss ich aber noch genauer zu sprechen kommen. Es handelt sich um ein abgesetztes Vorwort, das jedoch zum einen beiden im Cgm 572 enthaltenen Werken (HE C und HE F) vorangestellt und zum anderen in lateinischer Sprache abgefasst ist (vgl. fol. 1r).664 Von allographer Hand werden historiographische Korrekturen vorgenommen, um noch vor Beginn der Rezeption vor einer historischen Klitterung durch die Romane zu warnen.665 So differenziert das Vorwort zwischen drei verschiedenen Adelheiden, womit die Heilige, von der vor allem die Wundergeschichten am Romanende handeln, und Ernsts Mutter, die Frau Kaiser Ottos, auseinanderfallen. Vom heutigen Stand der Geschichtsforschung her tragen diese Bemerkungen wenig zur chronologischen Klärung bei, jedoch liegt hier eine eigene Dimension der Sinnstiftung vor, die als Peritext eine ‚gute Lektüre‘ im Sinne Genettes ermöglichen soll.666 Schließlich werden die beiden Romantexte nicht verworfen, in ihren Wortlaut wird nicht eingegriffen, sie werden lediglich mit einem Warnhinweis versehen, dass ihr geschichtlicher Inhalt „in effectu corrupta“ sei, wobei aber der elegante Stil lobend hervorgehoben wird. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die beiden Romane vermittels der Einleitung rückwirkend legitimiert und in das Geschichtsbild der historischen Rezipienten zur Zeit der Zusammenstellung des Bandes integriert werden, wie Thomas Ehlen ausführt.667 Auch sind die Werke im Zusammenhang der Entstehung des Codex gerade aufgrund der Augsburger Verehrung der heiligen Adelheid attraktiv. Doch lenken diese Zeilen als Warnung verstanden den Blick gerade nicht auf die historische Figurenkonstellation. Schließlich sei hier weder im HE C noch im HE F etwas zu lernen. Die Romane sind vielmehr trotz ihrer inhaltlich falschen Behandlung eines relevanten Themas der Lektüre wert. Das Lob der Eleganz und vor allem das Vorhandensein von lateinischem Ausgangstext und deutscher Übersetzung in einem Codex weisen dabei auf eine Rezeption im Zusammenhang von stilistischer Sprachschulung hin.668
664 Ediert ist das Vorwort mit zahlreichen Unsicherheiten bei der Entzifferung bei Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 217. 665 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 179–183. 666 Vgl. Genette: Paratexte, S. 191 u. ö. 667 Vgl. Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 181 f., sowie zur Sinnstiftung durch die narrative Form der Geschichtsschreibung das gleichnamige Kap. bei Neudeck: Kaiser Otto, S. 67–74, der u. a. den HE B analysiert. – Zum historiographischen Interesse im Augsburg des fünfzehnten Jahrhunderts vgl. S. 321–329 in der Einleitung zu Teil 3. 668 Allerdings unterbleibt ein Hinweis auf historiographische Quellen, die eine sichere Information ermöglichen könnten, was aber vielleicht aufgrund einer Möglichkeit direkter Rückkoppelung im Entstehungszusammenhang auch gar nicht nötig war.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
3.3.2.2 Elemente des Romanausgangs Ein eigentliches Nachwort haben die Redaktionen des HE F/Vb nicht. Gemeinsam ist ihnen, dass sie nach der Ernst-Geschichte noch zu Erzählungen von den Wundertaten Adelheids überleiten. Auf mehrere Schlusswendungen folgt in einigen Redaktionen der Klasse III noch ein Anhang mit Sprichwörtern.669 Der Kolophon am Ende einiger Redaktionen der Klasse II ergänzt das Titelblatt und wird bei deren Behandlung in aller Kürze angesprochen.670 Abb. 33: Elemente des Romanausgangs im HE F/Vb-Komplex. Klasse I (HE F) Romanschluss
ja
Überleitung
ja (typologisch)
Wundererzählungen
ja (fünf)
Klasse II
Klasse III ja ja (romanhaft)
ja (vier)
Schlusswendung Romanseite ja (bezogen auf discours)
ja (vier bzw. drei)
ja (bezogen auf histoire)
Bitte um Gottes Beistand
ja
nein
Schlusswendung Leserseite
ja (christlich)
ja (christlich)
ja (romanbezogen)
Sprichwörteranhang
nein
nein
teilweise
Kolophon
nein
teilweise
nein
Nachwortcharakter haben die Wundererzählungen meines Erachtens nur, solange sie die erzählte Geschichte nicht einfach verlängern. Durch den romanhaften Anschluss in den HE Vb-Redaktionen (Klassen II und III) ist aber genau dies der Fall. Dies korrespondiert mit der histoire-bezogenen Schlusswendung, die zur Handlungsseite den Roman abschließt. Wie hier das weitere, von Wundern begleitete Eheleben Ottos und Adelheids erzählt wird, so stellt der Erzähler nach diesen weiteren Episoden fest, dass „sie nach Gottes willen in lieb vnd einigkeit gantz friedlich mit einander [lebeten]/ biß sie GOtt auß diesem jamerthal zu sich nam“ (stellvertretend Han 1, fol. [Nvj]v.). In den Redaktionen der Klasse I ist die werkseitige Schlusswendung dagegen auf den discours bezogen: „Desglichen“ (stellvertretend Cgm 572, fol. 71r.f.), also von solchen Wundern,
669 Zu den Adelheid-Wundern vgl. das Kap. 3.1.1.10, zum Sprichwörteranhang vgl. S. 255–260 im Kap. 2.3.1.2. 670 Vgl. S. 501f./Anm. 632 im Kap. 3.3.1.1.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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möcht wir noch uil bewerter zaichen hie beschreiben vnd sagen die gott der Herre durch sein wirdige dienerin geworcht vnd geton hat vnd möchten das . von übervlissiger warheit wol tone . Doch woll wir das von verlengerung wegen . die da ist ein muͦ ter der verdrossenheit vnderwegen lassen vnd das soinennde diss wercks hie einflechten.
Der Erzähler verfügt souverän über seinen Stoff. Er ist ihm Mittel, um seine Version der Ernst-Geschichte zu erzählen. Zu dieser gehört nun aber, dass er den Ernst-Teil des Romans mit einem ‚typologischen Ausrufungszeichen‘ zu einem von mehreren Adelheidwundern erklärt und damit post textum dazu einlädt, den Weg des Helden im Vergleich mit dem seiner Mutter neu zu bewerten.671 Die Handlung wird dadurch nicht verlängert, sondern das bisher Erzählte wird vielmehr reflexiv überhöht. Jetzt, da der Leser die Geschichte kennt, ist eine Auseinandersetzung mit ihr zwischen Erzähler und Leser möglich und zwar auf Augenhöhe.672 Wie der mittelalterliche Prolog nach Hennig Brinkmann einen werk- und einen publikumsbezogenen Teil aufweist,673 so verfügen auch die Romanausgänge der HE F/Vb-Redaktionen sowohl über eine werk- als auch über eine leserseitige Schlusswendung. In den Klassen I und II ist die Ausgangsformel christlich gehalten, wobei sie in der Klasse I deutlich umfangreicher ausfällt. Wie ich oben ausführe,674 schließt der Erzähler den Rezipienten in eine Bitte um „gesuntheit [...] der selen“ (stellvertretend Cgm 572, fol. 71v.) ein, wobei er die Wirkmächtigkeit der heiligen Adelheid über den Erzählzusammenhang hinaus auf den Leser zu verlängern sucht. Der Romanlektüre wird damit entgegen der theologischen Kritik ein christlicher Nutzen zugeschrieben.675 Der Fokus liegt dadurch abschließend auf Adelheid, Ernst gerät als vermeintlicher Held des Romans aus dem Blick. Nur HE F Sorg 3 erwähnt ihn noch einmal, um vor dem Beginn des zweiten im Sammeldruck enthaltenen Romans einen unmissverständlichen Schlusspunkt zu setzen: „Hie endet sich dz buͦ ch genant herczog Ernst“ (fol. 45v.). Wenn der Erzähler in den Redaktionen der Klasse III erzählt, dass Adelheid und Otto „friedlich mit einander [lebeten], bis sie GOtt aus diesen [sic] Jammerthal zu sich nahm“ (stellvertretend HE Vb L2, S. 91), dann beschränkt sich dies dagegen auf die Figuren des Romans. Der Leser wird nicht länger mit einbezogen. Die leserseitige Schlusswendung ist darauf verkürzt, dass der Roman und damit die Lektüre für beendet erklärt wird: „So viel von der Lesens-wuͤ rdigen Beschrei-
671 672 673 674 675
Vgl. dazu S. 472f. im Kap. 3.2.1. Vgl. dazu Genette: Paratexte, S. 228. Vgl. Brinkmann: Der Prolog im Mittelalter, S. 88 und S. 99. Vgl. S. 439f. im Kap. 3.1.1.10. Zu dieser Kritik vgl. S. 117f. im Kap. 2.1.1.1.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
bung Herzog Ernsts. ENDE“ (ebd.).676 – Von den hier näher analysierten Drucken enthalten HE Vb L2, P1, M2 und Everaerts darüber hinaus einen Anhang mit Sprichwörtern und Redensarten. Wie ich oben zeige, handelt es sich dabei jedoch in der Tat um einen ‚Anhang‘ und nicht um ein ‚Nachwort‘,677 sodass eine erneute Besprechung an dieser Stelle entfallen kann.
3.3.3 Glossen und Marginalien ‚Glossen‘ übersetzen oder erklären knapp kurze Textstellen, unabhängig davon, ob sie am Rand der Seite, zwischen den Zeilen oder als ‚Kontextglossen‘ innerhalb der Textzeile stehen. Randbemerkungen, die über die Funktion einer Kurzerklärung hinausweisen, nennt man dagegen ‚Marginalien‘.678 Innerhalb der Exposition zum Prosa-Herzog Ernst erwähnt der Erzähler Ottos Vater. Diesen habe man „hainrich den vogler“ genannt (HE F Cgm 572, fol. 26r.). Der ungewöhnliche Name wird sogleich mit einer Anekdote erläutert, „denn do Jn die kurfürsten suͦ chten . das sÿ jn künig welten . Da funden sie Jn beÿ seinen kinden mit eim garnnecze vogel vahen“ (ebd.). Diese Namensetymologie ist für eine ‚Kontextglosse‘ bereits grenzwertig lang. Außerdem fehlt ihr aufgrund des kausalen Satzanschlusses der gelehrte Duktus, zumal die Erklärung selbst narrativ entfaltet ist. Um eine weiterführende Randbemerkung handelt es sich aber ebenfalls nicht. Man müsste sie schon analog zur ‚Kontextglosse‘ mit dem Neologismus ‚Kontextmarginalie‘ belegen, um sie in das vorliegende Begriffsinstrumentarium einzuordnen. Berücksichtigt man den Zusammenhang, in dem der Roman Heinrich den Vogler vorstellt, verschärft sich das Problem. Denn eigentlich geht es hier um eine Präsentation Kaiser Ottos (vgl. Cgm 572, fol. 25v.–26v.). Der Erzähler ordnet ihn als 81. Kaiser seit Augustus historisch ein, nennt das Jahr seiner Krönung und führt sein Geschlecht bis auf Karl den Großen zurück. Darüber hinaus zählt er Ottos siegreiche Kämpfe auf und geht auf die Stiftung des Bistums Magdeburg sowie vor allem auf seine erste Ehe mit Ottegeba ein.679 In der zweispaltig geschriebenen Handschrift Cgm 572 entspricht die Passage insgesamt rund 110 Textzeilen, in Sorgs Zweitdruck680 sind es immer noch über 60 (vgl. fol. 3v.–4v.) und in der
676 Diese Wendung fehlt bei HE Vb Everaerts vollständig, Zirngibl verkürzt sie auf die Minimalform „Ende“ (S. 88). 677 Vgl. S. 474f. im Kap. 3.2.1 und darüber hinaus S. 255–260 im Kap. 2.3.1.2. 678 Vgl. S. 310f. im Kap. 2.3.3.4. 679 Für mögliche Quellen der historiographischen Versatzstücke vgl. Flood: Geschichtsbewußtsein, S. 140 f. 680 Das Münchener Exemplar des Erstdrucks ist an dieser Stelle defekt.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
517
Bearbeitung HE Vb Han 1 sogar 85 Zeilen (vgl. fol. Aiiijr.–[Avj]r.). Es handelt sich bei der Einführung der Figur, die zudem sowohl ana- als auch proleptisch über das Romangeschehen hinausweist, also um eine beträchtliche Textmenge. Die folgende Überlegung ist nicht abgeschlossen. Sie versteht sich als Anregung, über den fließenden Übergang von haupt- und paratextueller Sinnstiftung nachzudenken. Zweifelsfrei handelt es sich beim obigen Beispiel um Erzählerrede und damit um eine haupttextuelle Dimension der Sinnstiftung. Weder wird die Linearität der Erzählung durch typographische Dispositive durchbrochen, noch gibt es einen Wechsel der Stimme.681 Aber hätte der Exkurs oder hätten Teile von ihm eine andere Funktion, wenn er oder sie aus der Erzählerrede herausgelöst wäre(n) und als ‚echte‘ Marginalie am Seitenrand stehen würde(n)? Denn auch so unterscheidet sich die Passage erheblich vom Rest der Erzählerrede im Roman. Der Erzähler begibt sich gleichsam auf eine andere Dimension, um aus einer anderen Perspektive mit anderer Stimme zu erzählen. Ein kurzer Exkurs kann diese Technik, die ich vorläufig ‚Perspektivenimitation‘ nennen möchte, verdeutlichen. Wie unten zu sehen ist, verwendet der Erzähler ‚Kontextglossen‘, um naturkundliches Wissen über die Wunder des Orients in den Erzählfluss zu integrieren. Auch an einer weiteren Textstelle findet sich eine erläuternde Kontextglosse. Denn bei einem der Nachbarvölker Arimaspis handle es sich um „solich lütte“, „die man zuͦ Latin nennet Sciopedes das ist das sie allain ain fuͦ ß habent“ (Cgm 572, fol. 51r.). Aber weder spricht hier der Erzähler, noch ist die Erklärung schon am Ende. Es ist der Zyklopenkönig, der Ernst gegenüber weiter ausführt, dass sich diese Feinde mit ihrem Fuß „vor der Sonnen glaste“ schützen und dass sie deshalb nicht bezwungen werden könnten, weil sie „so balde“ laufen, „das sie niemant erlauffen mag“ (ebd.). Insbesondere vermögen sie, über Wasser zu laufen, sodass „[s]ÿ kain fürlauffen gehindern“ kann, sobald sie das Meer erreichen (ebd.). Die Pointe dabei, dass anders als an vergleichbaren Textstellen ausgerechnet der König als Figur und nicht der Erzähler das enzyklopädische Wissen entfaltet, besteht nun darin, dass er offenkundig selbst über jenes Wissen verfügt, welches Ernst später nutzt, um die Sciopoden zu besiegen. Durch die Integration des Wissens in die Perspektive der Figur entsteht das Bild eines verzagten Königs, der nicht in der Lage ist, sich seiner eigenen Kenntnisse zu bedienen.682 Wenn Remigius Bunia Genettes wichtiges Fragenpaar, wer in einer Erzählung sehe und wer davon spreche, um die hinsichtlich des Prosaromans als ‚Buchtyp‘ wichtige Frage erweitert, wer denn eigentlich schreibe,683 könnte vorstehende 681 Zu diesen Kriterien der ‚Paratextualität‘ vgl. Bunia: Stimme der Typographie, S. 379 und S. 383. 682 Vgl. dazu auch S. 389f. im Kap. 3.1.1.6. 683 Vgl. Bunia: Stimme der Typographie, S. 387; Genette: Die Erzählung, S. 132–134.
518
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Überlegung dazu geeignet sein, die Analyse des Erzählmodus auszudifferenzieren. Wie der Erzähler so tun kann, als ob er die Perspektive einer Figur einnehme, so können auf den haupttextuellen Dimensionen eines Romans anscheinend auch Paratexte imitiert werden. Die Begriffe der ‚Perspektive‘ und der ‚Fokalisierung‘ würden sich bei Berücksichtigung der (zudem textgeschichtlich unfesten) Paratextualität weitern.684 Im Folgenden konzentriere ich mich allerdings auf ‚Glossen‘ und ‚Marginalien‘ im engeren Sinne. Als erstes geht es um einige deutsche ‚Kontextglossen‘ im lateinischen HE C. Als zweites gehe ich auf die bereits erwähnten Glossen im Zusammenhang mit den Wundern des Orients ein, um dann die Marginalien im HE F Cgm 224 anzusprechen. Abschließend betrachte ich vereinzelte Randbemerkungen in den Exemplaren verschiedener Drucke. Abb. 34: Verschwinden von Kontextglossen bei Übersetzung und Bearbeitung. Hervorhebungen von mir. HE C im Cgm 572, fol. 7v.f.:
HE F Cgm 572, fol. 38r.f.:
HE Vb Zirngibl, S. 29:
prore et pupes sciolis epibatis i.e. magistris nautarum committuntur, forri siue latera nauis tabulata cum caua i.e. hutenar experte nauis vtraque disponuntur. Storiola i.e. domuncule in quibus merces reponuntur exstruuntur, remi qui habent palmulas i.e. lappen per columbria i.e. riemloechir i.e. foramina per que eminent remi. exponuntur transtra i.e. tabule in quibus sedent remiges sternuntur Malus i.e. mastboem ad sustinendum velum erigitur et medio masthalda i.e. arbori cui solent insistere infigitur, Ceruta i.e. wetirbana. in summitate mali ponitur [...].
vnd wurden auch die schiff vnd Jr grensel wolbewerten Schifmaistern empfolhen vnd die zwuͦ Schiffseÿten versacht . vnd wol angeschickt mit guͦ ten hütenar oder Rennschifflin vnd die hüslin oder vnderschaÿde Dorein man die kaufmanschatz beschloß vnd dÿ Ruͦ derlöcher gemacht vnd die Siczstüle darauf die Schiflüt sazzent . Do ward auch vfgericht der mastbome zuͦ vffenthaltunge des winndfanen vnd gar starck eingesteckt Jnn sein vndergerÿste Darnach ward der weterfan obnen an die helmstang geheft [...].
Da nun das Schiff ganz wohl mit Proviant versehen war, desgleichen mit viel Segelbaͤ ume und Stricke, und mit allen Wehren, wie einem solchen Schiff gehoͤ ret, ging Herzog Ernst mit seiner Ritterschaft [...].
684 Zur ‚Perspektivität‘ vgl. auch die Kap. 1.3.5 und 2.3.1.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
519
Prominent innerhalb der Forschung zum lateinischen HE C sind 32 deutsche Kontextglossen.685 Sie werden zur Erklärung schiffs- und kriegstechnischen Vokabulars verwendet. Die folgende Textstelle bezieht sich auf die Ausrüstung der Kreuzfahrerschiffe in Konstantinopel. Sie demonstriert das Verschwinden dieser Dimension bei den Übergängen vom HE C zum HE F und vom HE F zum HE Vb: Aus paratextuellen Versatzstücken (HE C)686 wird zunächst ein Teil des Haupttextes (HE F), ehe das Gros der einstigen Glossen durch eine radikale Textkürzung verschwindet (HE Vb). Als paratextuelle Dimension gelten die Kontextglossen, da ihre Integration zwar innerhalb der Haupttextzeilen erfolgt, der Erzählfluss jedoch durch das Stakkato wiederholter ‚id est‘-Einschübe (im HE C durch Abkürzungszeichen) unterbrochen wird. Verstärkt wird der Effekt durch den Sprachwechsel. Im HE F werden die meisten Fachbegriffe dem Erzählfluss einverleibt, wobei im Einzelfall mit ‚oder‘ verbundene Paarformeln an die Stelle von Lemma und Glosse treten. Die kurze Aufzählung im HE Vb hat gänzlich narrativen Charakter und steht beispielhaft für das geringer werdende Interesse an den technischen Details der Erzählung, was sich formal auf den narrativen Einbezug paratextueller Sinnstiftungsformen auswirkt.687 Weitere Kontextglossen finden sich bei der Belagerung der Stadt Regensburg, bei der Bewaffnung von Ernsts Rittern, ehe sie zum Kreuzzug aufbrechen, und insbesondere im Zusammenhang mit den Wundern des Orients.688 In Agrippia erzählt der Erzähler, was Ernst und Wetzelo beim Einzug der Kranichmenschen beobachten (vgl. Cgm 572, fol. 42v.). Die geraubte Prinzessin wird dabei „für der Sunnen glaste“ durch „ain vfgespannes [sic] Seÿdins tuͦ che“ geschützt, „[d]as was 685 Vgl. Rolf Bergmann, Stefanie Stricker: Art. 710a München, Bayerische Staatsbibliothek Cgm 572. In: Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. Bd. 1: Teil A: Verzeichnis der Handschriften, Teil B: Einleitung, Teil C: Katalog Nr. 1–200. Unter Mitarb. v. Yvonne Goldhammer und Claudia Wich-Reif. Hg. von Rolf Bergmann, Stefanie Stricker. Berlin, New York 2005, S. 1333–1334, hier: S. 1334; Ehlen: Hystoria Ernesti, S. 169–173, mit einer kritischen Edition der unten zitierten HE C-Textstelle ebd., S. 269 f., sowie Bartsch: Herzog Ernst, S. LXXVIf. – Zur Verwendung einer Kontextglosse im Fortunatus vgl. S. 34 im Kap. 1.1.3. 686 Durch Genettes Autorfixierung müssten Marginalien als „Form des erschließenden Fremdkommentars“ vom ‚Paratext‘ ausgeschlossen werden, was aber nicht sinnvoll ist (vgl. zur Kritik an Genette das Kap. 2.2.1.2, das Zitat: Neuber: Texterschließung durch Marginalien, S. 177). Was die Glossen im HE C betrifft, geht Paul Gerhard Schmidt: Germanismen?, S. 162, jedoch im Übrigen von „Erklärungen des Autors“ und nicht von „in den Text eingedrungene Glossen eines Lesers“ aus. 687 Vgl. dazu künftig meinen Aufsatz in einem Sammelband zum ‚Enzyklopädischen Erzählen‘, hg. von Matthias Herweg, Johannes Klaus Kipf und Dirk Werle. 688 Ich beschränke mich hier auf die Formulierungen im HE F Cgm 572, vgl. daher auch das Kap. 3.1.1.
520
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Bistinctus Das ist ein Schlecht seÿdin doch zwiuach geuerbtes tuͦ ch“ (ebd.). Zwar lobt der Erzähler in dieser Episode allenthalben das technische und künstlerische Geschick der Agrippiner, doch dient die Etablierung und Erläuterung eines lateinischen Fachbegriffes an dieser Stelle meines Erachtens vor allem dazu, seine eigene Kompetenz herauszustellen.689 An der nächsten Textstelle wird diese Funktion jedoch von einer anderen überlagert: Ernst und die Seinen vertrauen sich einem reißenden Fluss an, der sie durch eine Höhle unter einen Berg führt (vgl. Cgm 572, fol. 49v.). Dort sehen sie „einen scheinperlichen vellsen . Der haÿst zú latein vnio Das ist ze tütsch als uil gesprochen als ein aÿnikait“ (ebd.). Der Erzähler übersetzt den Namen des Steines aber nicht nur, er begründet diesen Namen auf der Basis seines Buchwissens: „Denn als man list so ist seins gelichens Jnn gestalt vnd nature keiner mer Jnn der welte“ (ebd.). Obwohl sich die Ritter also im tiefsten Orient und an einem Ort befinden, der kaum schwerer zugänglich sein könnte, verfügt der Erzähler über Bildungsgut, das ihn in die Lage versetzt, ein Phänomen zu erklären, das es nur an diesem einen Ort gebe. Ein kompetenterer Erzähler lässt sich nicht wünschen. Doch wie ich oben ausführe, leuchtet der besondere Stein und zwar „von den gnaden des ewigen liechts“ (ebd.).690 Indem der Unio aber Anteil an der Allgegenwart Gottes habe, lässt sich bei der übersetzenden Glosse an die Einigkeit der Naturen Christi oder an die Einigkeit der Trinität denken. Wie Ernst aufgrund seines Gottvertrauens dieses Lichts teilhaftig wird, wandelt sich die abseitige Spezialkenntnis des Erzählers zur Teilhabe an der christlichen Glaubenswahrheit. An dieser partizipieren durch die spätere Integration des Steines in die Kaiserkrone aber sowohl unmittelbar das Reich als auch mittelbar der spätmittelalterliche Rezipient. Im Vergleich zu den oben dargestellten Kontextglossen scheinen die Marginalien im Münchener Codex Cgm 224 zunächst paratextuellen Charakter zu haben. Sie sind in alter Tinte ausgeführt, aber nach der eigentlichen Niederschrift nachgetragen. Auffällig ist, dass ihr Vorkommen ganz auf Ernsts Orientreise
689 Die Verwendung von Kontextglossen als erzählerisches Mittel im HE F ersieht man aus zwei einschlägigen Textstellen. Beide bestätigen das naturkundliche Wissen des Erzählers: Die Zyklopen führt er mit ihrem Herkunfts- und lateinischen Gattungsnamen ein, an den sich eine Erklärung anschließt, die über eine Glosse hinausweist: „Dieselben Arimaspi haist man nach anderm lateine Cÿclopes . das sind lütte in Jndia . die habent ein auge obe der nasen vnd essent nü tierflaÿsch“ (Cgm 572, fol. 50r.). Die Vermutung des zyklopischen Stadtgrafen, bei den Rittern handle es sich um „waldlüte oder Satiri“, ergänzt er mit einer Begriffserklärung: „das sind halb menschen vnd halb pöcke“ (ebd.). 690 Vgl. S. 385f. im Kap. 3.1.1.5. Im HE B handelt es sich dagegen um den „weyse[n]“, der aufgrund seiner „ellende“ so genannt werde (V. 4462 f.).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
521
beschränkt bleibt. Benannt werden die Wundervölker, denen er dort begegnet (vgl. fol. 171v., fol. 189r., fol. 191r., fol. 192r., fol. 193r., fol. 195v.), der Magnetberg (fol. 183r.), der Greifenflug (fol. 184r.), die Floßfahrt durch den Berg (fol. 188r.) sowie seine Weiterfahrt nach Babylon (fol. 197v.). Sie strukturieren somit die einzelnen Episoden der Orienthandlung. Was die Struktur dieser Redaktion anbetrifft, überrascht im Übrigen das Fehlen von Zwischentiteln. Nur ein einziger findet sich im gesamten Roman: Wie die burger von Regennspurg Dem kaÿser die Statt übergaben vnnd einliessen (fol. 165v.). Die Funktion dieser Marginalien besteht also darin, die fehlende Strukturierung des Orientteils zu kompensieren.691 Aufs Ganze gesehen sind Glossen (abgesehen von Kontextglossen) und Marginalien in meinem Untersuchungskorpus ausgesprochen rar. Daher schließe ich das Kapitel mit einigen kurzen Hinweisen auf die wenigen handschriftlichen Spuren in drei der untersuchten Exemplare.692 Der Besitzervermerk eines Hans Pfullner am Ende des Exemplars von HE Vb Singe geht spielerisch mit der Möglichkeit um, die Rechtmäßigkeit dieses Besitzverhältnisses anzuzweifeln (vgl. fol. [Kvij]v.). Der Eintrag ist jedoch weder als Marginalie anzusehen noch trägt er etwas zur Sinnstiftung des Romans bei.693 An jener Textstelle, die das Sterben des letzten Ritters am Magnetberg enthält, findet sich im untersuchten Exemplar von HE Vb Schröter eine einzige schwer leserliche Marginalie. Sie ist mit einiger Unsicherheit zu entziffern als „vörher den gesehen“ (fol. [Evj]v.) und könnte sich auf die vorausstehenden Trostworte oder die Erwähnung von Menschen auf anderen Schiffen beziehen (vgl. fol. Eiijr.). Je nachdem würde der geistliche Gehalt der Textstelle unterstrichen oder Kritik an einer Unachtsamkeit des Erzählers geübt. Gerade die unsaubere Ausführung lässt aber erkennen, dass der Fund eher als interessantes Rezeptionsbeispiel zu verbuchen ist, als dass hier ein Leser die Lektüre anderer Rezipienten lenken und in die Sinnstiftung des Romans eingreifen möchte.
691 Vgl. auch S. 554 im Kap. 3.3.5.2. 692 Zur Handschrift im gedruckten Buch als einem eigenen ‚Texttypus‘ vgl. Harms: Wege zum Leser; Harms: Sammlungszusammenhang, S. 170 f. – Handschriftliche Ergänzungen finden sich im Berliner Sammelband SBB-PK, Sign Yf 7868 R, der als ein individuell zusammengestelltes ‚Heldenbuch‘ HE Vb von der Heyden neben anderen Drucken enthält. Die handschriftliche Einleitung zu diesem Band setzt sich aus Zitaten aus der Vorrede zum 1590 von Sigmund Feyerabend gedruckten Heldenbuch zusammen. An die ursprüngliche Zusammenstellung erinnert allerdings nur noch ein ebenfalls handschriftlicher Auszug aus dem Rosengarten zu Worms. 693 Mit herzlichem Dank für die freundliche Entzifferungshilfe an Thomas Kreutzer (HohenloheZentralarchiv).
522
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
In die Nähe des obigen Befundes zu den ‚Marginalzwischentiteln‘ im Cgm 224 ist schließlich jener handschriftliche Zusatz zu verorten, der auf fol. fijv. in der Münchener Inkunabel des HE F Sorg 3 Ernsts Klage vor seiner Rückkehr ins Kaiserreich auf einer Metaebene erweitert. Inmitten der Figurenrede ist ein Ergänzungszeichen nachgetragen, auf das sich eine Randnotiz bezieht, die jedoch mitsamt den Blättern des Exemplars beschnitten wurde. Der Sprachduktus lässt vermuten, dass es sich um einen Zwischentitel handelt, der jedoch in dieser Form nicht nachzuweisen ist: [...] Herzog [rst] Jnn [ ]ho Lannd [ ]omme, vnd [...] freulich [...] vnnd [...] freudiger [...] vnnd [...] [k?]omm.694 Nur teilweise stimmt das erhaltene Wortmaterial mit der Überschrift von Han 1 überein, wobei der HE Vb die entsprechende Textstelle stark bearbeitet.695 Dabei irritieren allerdings sowohl die Wortwahl der Marginalie als auch der Ort ihrer Hinzufügung. Zum einen unterbricht sie Ernsts Reflexion an jener Stelle, an der er vom selbstmitleidigen Blick auf die eigene Heimatlosigkeit zu einer Bitte um Gottes Gnade übergeht. Ein gedanklicher Einschnitt liegt also durchaus vor. Dennoch störte eine Kapitelgrenze an dieser Stelle den zusammenhängenden Gang der Gedankenrede. Zum anderen geht es hier um die „grosse truͤ bsal[ ]“, die Ernst erleiden muss, wozu weder freulich noch freudiger passen wollen. Für weiterführende Schlüsse ist der Textverlust freilich zu groß, es wäre aber zu überlegen, ob bereits bei dieser frühen Gelegenheit auf das gute Ende der Geschichte paratextuell angespielt werden soll. Dann aber wäre auch der Einschnitt glücklich gewählt. Denn Ernsts Hinwendung zu Gott enthält ein Moment der Hoffnung. Das in dieser Form bewiesene Gottvertrauen würde paratextuell mit der Erfüllung am Romanende verklammert, was dann als ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu diskutieren wäre. Der auf den ‚Marginalzwischentitel‘ folgende Rest des Gebets lautet: Hierumb ewiger got vnd herr sihe an mein grosse truͤ bsale. vnd vrteÿl nach meiner vnschulde vnd verleich mir dein goͤ tliche genad vnd hilff das ich vor des keÿsers augen müge milte guͤ tigkeÿt erfinden vnd darzuͦ mit freüden müg beschauen mein aller liebste muͦ ter die dann bißher zemal vnseglich traurig vnd sorguaͤ ltig ist vmb mein außwesen.
694 Mit herzlichem Dank für die freundliche Entzifferungshilfe an Eef Overgaauw (Staatsbibliothek Berlin). 695 Wie Hertzog Ernst mit grossen trauren von Rom hinweg zog/ vnd wuste nit ob er in sein landt dorffte ziehen/ dieweil er noch inn seines Vaters vngenaden was (HE Vb Han 1, fol. [Lvj]v.), vgl. dazu S. 416f. im Kap. 3.1.1.8.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
523
3.3.4 Illustrationen Nachfolgend untersuche ich mit Hilfe des Quotienten aus Erzählzeit und Anzahl der verwendeten Illustrationen, ob sich eine quantitative Schwerpunktsetzung einzelner Redaktionen erkennen lässt. In einem zweiten Schritt bespreche ich die jeweiligen Zyklen als Ganzes. Es geht dabei nicht um Fragen künstlerischer Qualität, sondern um das Verhältnis von Romantext und Bildmedium. Zuletzt frage ich anhand einiger Schlüsselstellen im Vergleich der verschiedenen Redaktionen danach, wie das Was und das Wie der bildlichen Umsetzung die Sinnstiftung der Romane beeinflussen. Was die relative Quantität von Textholzschnitten und Textmenge anbetrifft, bilden die frühen ‚Volksbuch‘-Drucke (Han 1, von der Heyden, Francke, Singe, Schröter und Endter 2) eine gemeinsame Klasse. Der Quotient aus Wörtern je Textholzschnitt liegt bei 400 oder etwas darüber. Mehr als doppelt so viele Wörter kommen bei den HE F-Drucken Sorgs und Knoblochtzers auf eine Illustration. Das Gros der späteren (L2, P1, M2 und Fleischhauer) im Vergleich mit den früheren ‚Volksbuch‘-Drucken liegt bei etwa drei Mal so vielen Wörtern je Bild (zwischen 1.170 und 1.280). HE Vb Trowitzsch weicht davon ab, da hier zwei beziehungsweise drei Textholzschnitte eingespart sind. Eine eigentliche Sonderstellung nimmt aber allein Zirngibl ein, bei dem eine Abbildung erst alle 3.000 Wörter verwendet wird: mehr als sieben Mal so viele als bei Han 1. Der Unterschied der Illustrationsfrequenz im Orientteil im Vergleich zur gemittelten Frequenz in den beiden Reichsteilen ist in vielen Redaktionen nicht signifikant, wobei in der Mehrzahl der Drucke im Orientteil etwas mehr Wörter auf einen Holzschnitt kommen, sodass zumeist die Reichshandlung reicher illustriert ist. Aus dem Rahmen fällt dabei Zirngibl, bei dem im Orientteil weniger als halb so viele Bilder auf die gleiche Wortanzahl kommen als in den beiden Reichsteilen. Von einer „Fernen- und Wundersucht“696 kann hier schon von der Quantität her nicht gesprochen werden. Dass aber auch die Bildinhalte zumeist nicht geeignet sind, ein solches Rezeptionsinteresse zu befriedigen, zeige ich weiter unten.
696 Heselhaus: Märe und History, S. 225.
524
3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Abb. 35: Abbildungsfrequenzen als Quotient aus Wort- und Illustrationsanzahl je Handlungsteil.697
Sorg 1, 2 und 3698
1. Reichsteil
2. Reichsteil
Reich gesamt
Orientteil
Roman gesamt
860
970
890
960
920
550–590
240–280
390–410
420–490
400–450
1.230–1.240
1.240
Knoblochtzer Han 1 von der Heyden Francke Endter 2 Schröter
630
Singe
430
310
380
1.640–1.680
820–850
1.230–1.260
L2
430
P1 M2
1.320–1.360
1.110–1.130
Fleischhauer Trowitzsch
2.520
Zirngibl
3.010
1.540
1.170 1.480
1.280
1.570
1.820
1.680
2.270
4.770
3.110
Vergleicht man schließlich die Illustrationsfrequenz der beiden Reichsteile untereinander, so fällt auf, dass das Romanende im Verhältnis reicher illustriert ist. Dies gilt auch in jenen Redaktionen, welche die Wunder der heiligen Adelheid nicht eigens bebildern. So kommen am Romanbeginn bei fast allen Redaktionen mindestens knapp doppelt so viele Wörter auf ein Bild als im zweiten Reichsteil;
697 Die Erzählzeit kann nicht aufgrund von Normseiten ermittelt werden, da vor allem bei den Frühdrucken große Mengenunterschiede durch die Verwendung großer Initialen aber auch durch abweichende Zeilenzahlen je Seite vorliegen. Näherungsweise wurde daher eine Normwortanzahl je Zeile bestimmt, die dann mit der tatsächlichen Zeilenzahl multipliziert wurde. Schließlich wurden die Quotienten gerundet. Durch den Wandel der Getrennt- und Zusammenschreibungen entstehen Verzerrungen. Die Tendenzen, auf welche es mir ankommt, bleiben davon aber unberührt. 698 HE F Sorg 1 und 3 wurden aufgrund der großen Textverluste in den Münchener Exemplaren nicht eigens ausgezählt. – HE F Cgm 224 verfügt nur über eine einzige Blindritzung, die mit dem Einleitungsbild der Inkunabeln übereinstimmt. Die Redaktion HE Vb Everaerts enthält gar keinen Textholzschnitt.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
525
bei HE Vb Trowitzsch sogar mehr als drei Mal so viele. Auch Singe, M2 und Fleischhauer entsprechen dieser Beobachtung – wenn auch weniger eindeutig. Lediglich bei den Wiegendrucken von Sorg und Knoblochtzer ist das Verhältnis umgekehrt, da hier für Ernsts Rückkehr ins Kaiserreich und seine Versöhnung mit Otto (Abschnitt H) nur ein einziges Bild verwendet wird. Bei den meisten der späteren Redaktionen kann man dagegen die Umstände der Reintegration des Helden ins Kaiserreich als eigentlichen Abbildungsschwerpunkt erkennen. Abb. 36: Relative Abbildungsfrequenz in den einzelnen Handlungsabschnitten.699 Kl.
A
B
C
D
E
F
G
H
I
I
31 Sorg 1, 2, 3, 1,9 0,5 0,6 1,3 0,4 1,2 5,0 4,5 0,2 Knoblochtzer
II
50 Han 1
2,6 1,2 0,7 2,8 0,8 1,1 0,9 0,7 0,5
45 v.d. Heyden
2,1 0,9 0,6 2,5 0,7 1,2 1,0 0,6 0,5
52 Francke
2,4 1,1 0,7 1,9 0,9 1,0 0,9 0,7 0,4
49 Endter 2
1,5 1,1 1,0 1,3 0,8 1,1 1,1 0,7 0,4
49 Schröter
2,4 0,9 1,0 1,8 0,9 0,9 0,8 0,7 0,4
Legende
55 Singe
1,1 1,2 0,8 1,5 0,9 1,1 1,0 0,9 0,5
< 0,5
16 L2
1,1 1,4
X 1,7 0,6 0,7 2,4 0,5
X
0,5 bis 0,7 erhöht
16 P1
1,1 1,5
X 1,7 0,6 0,7 2,2 0,5
X
0,8 bis 1,2 durchschnittlich
17 M2
0,9
X 0,7 1,8 0,9 0,6 2,6 0,6
X
1,3 bis 2,0 vermindert
16 Fleischhauer
0,8
X 0,7 1,5 1,0 0,7 2,4 0,5
X
2,1 bis 4,0 stark vermindert
13 Trowitzsch
1,3 1,3
X 1,1 0,8 0,6
X 0,4
X
> 4,1
fast ohne Bilder
0,6
X 0,6
X 0,4
X
X
ohne Bilder
III
6 Zirngibl
X
X 0,8
stark erhöht
Betrachtet man die relativen Abbildungsfrequenzen genauer unterteilt nach einzelnen Handlungsabschnitten, lassen sich deutliche Verschiebungen bei der
699 Pro Abschnitt wurde zunächst die Wort- durch die Illustrationszahl geteilt, danach dieses Zwischenergebnis durch die durchschnittliche Illustrationsfrequenz der ganzen Redaktion. Die ersten drei und die letzten Abschnitte umfassen die Reichshandlung: Elternvor- und Ernstgeschichte inklusive seinem Mord am Pfalzgrafen (A), Kampfhandlungen zwischen Kaiser und Herzog (B), Kreuzzug bis Seesturm (C), Rückkehr und Versöhnung (H), Wunder der heiligen Adelheid (I). Die Orienthandlung ist genauer unterteilt in Agrippia (D), Magnetberg mit dem Tiefen Tal (E), Arimaspi (F) und Babylon/Jerusalem (G).
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Schwerpunktsetzung erkennen. So wird ersichtlich, dass in den späten HE VbDrucken mit den Adelheid-Wundern (I) gerade jene Episoden nicht mehr bebildert sind, die in allen früheren Redaktionen die jeweils größte Illustrationsfrequenz aufweisen. Wie sich auch anhand der Kapiteleinteilung und der Zwischentitel bestätigt,700 steht die Legende der heiligen Adelheid hier nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern wird im Wortsinn invisibilisiert. Ebenfalls sind die eigentlichen Heidenkämpfe im Mohrenland und in Jerusalem (G) in den späten Drucken nicht oder weniger stark bebildert. Stattdessen finden die frühe Reichshandlung mit Elternvorgeschichte und Ernsts Jugend bis zur Ermordung des Pfalzgrafen (A) sowie die Abenteuer in Arimaspi (F) größere Aufmerksamkeit. Zusammen mit der Magnetberg-Episode (E) und der Versöhnung zwischen Kaiser und Herzog (H) liegt hier der eigentliche Schwerpunkt der Illustrierung in der späten Klasse III. Das Reichsgeschehen – jedoch nicht die Kampfhandlungen zwischen den Heeren Ernsts und Ottos (B) – und ein Teil der Orienthandlung sind hier deutlich wichtiger als das Kreuzzugsgeschehen (C701 und G), das in der Klasse II leicht überdurchschnittlich bebildert ist. Es mag überraschen, dass für die bildgewaltige Agrippia-Episode (D) mit ihrer Beschreibung orientalischer Pracht und der monströsen Kranichmenschen – von Zirngibls Druck abgesehen – unterdurchschnittlich wenige Holzschnitte verwendet werden. Der Grund dafür besteht darin, dass textfremde Illustrationen gerade bei denjenigen Szenen, an denen die Agrippiner beteiligt sind, besonders auffallen würden.702 Während für die Arimaspi-Episode beispielsweise bei der Darstellung von Riesen auf den Bildervorrat aus anderen Romanen zurückgegriffen werden kann und sich so mancher Druckerverleger bei der Abbildung der kleinen Pygmäen als sehr kreativ erweist, fehlt für Agrippia eine entsprechende Ausweichmöglichkeit. Die Folge davon ist jedoch, dass diese erste Station im abenteuerlichen Orient auf der Dimension der Illustrationen kaum zur Geltung kommt. Ist die Episode um Magnetberg, Greifenflug und Wanderung durch das Tiefe Tal (E) in der Klasse I die am zweitstärksten bebilderte und enthält sie auch in
700 Vgl. die Kap. 3.2.2 und 3.3.5. 701 Ambivalent stellt sich die Bebilderung von Ernsts Aufbruch zum Kreuzzug in der Klasse III dar (C): Während die Abbildungsfrequenz in HE Vb M2 und bei Fleischhauer erhöht ist, illustrieren die anderen Redaktionen den Handlungsabschnitt nicht. Allerdings reicht für den erhöhten Wert bei M2 und Fleischhauer ein einziger Holzschnitt. 702 Zur Verwendung textfremden Holzschnittmaterials vor allem im sechzehnten Jahrhundert vgl. S. 108–113 im Kap. 2.1.1.1. – Zu möglichen Bildquellen für alle Wundervölker außer den Kranichmenschen, die für eine Illustration herangezogen werden hätten können, vgl. Wittkower: Wunder des Ostens, S. 98–109, S. 120–131 und S. 140–145.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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allen folgenden Redaktionen überdurchschnittlich viele Holzschnitte, so fehlen hier bei Zirngibl Abbildungen völlig.
3.3.4.1 HE Vb Zirngibl als Sonderfall und das Bildprogramm der Klasse III Der gesamte Zyklus umfasst bei Zirngibl neben dem Titelbild lediglich sechs (Text-)Holzschnitte: Jeweils zwei für die frühe Reichshandlung und die Versöhnung Ernsts mit dem Kaiser sowie jeweils einen für Agrippia und Arimaspi. Stellt das Titelbild Ernst allein und als Kriegsmann mit Schwert und Schild dar, so kommen Herzog und Kaiser bei den Textholzschnitten jeweils auf vier Darstellungen. Sie erfahren also das gleiche Gewicht auf dieser Dimension. Während Otto dabei immer auf seinem Thron sitzt, also statisch verbleibt, ist Ernst der Handelnde. Eine deutliche Diskrepanz besteht aber zwischen den beiden Hälften der Serie. Der Beginn ist geprägt von Aggression: Heinrichs Verleumdung, seine Ermordung und Ernsts Tötung des Kranichmenschenkönigs vor der im Hintergrund sterbenden indischen Prinzessin (Zirngibl, S. 11, S. 18 und S. 36). Dieser Figur wird bei Zirngibl eine Scharnierstelle als abgewiesene Alternative zuteil. Denn Ernsts Versuch, sie mit Gewalt zu befreien, scheitert genauso, wie zuvor schon sein Plan misslingt, den unrechtmäßigen Einfall des kaiserlichen Heeres in sein Erbland mit Gewalt zu stoppen. Die zweite Hälfte der Abbildungen von Zirngibl zeichnet sich dagegen durch Friedlichkeit aus: die Begegnung der Ritter mit den dunkelhäutigen Kaufleuten aus Mohrenland, der Bericht der Pilger über die Heldentaten seines Stiefsohnes und sein Fußfall vor Kaiser und Kaiserin (S. 59, S. 74 und S. 81). Schließt man das Titelbild in den Zyklus mit ein, so erzählen die Bilder bei Zirngibl die Geschichte eines wehrhaften Kriegers der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit,703 der beim Kaiser verleumdet wird und Rache an seinem Verleumder nimmt. In einer fremden Welt, die von Kranichmenschen und Mohren bevölkert ist, versucht er sich zunächst mit kriegerischen, dann mit friedlichen Mitteln zu behaupten. Sein Ruhm verbreitet sich – und zwar durch christliche Pilger – bis zum Kaiser, dem er schließlich zu Füßen fällt, um Gnade zu erlangen. Am Ende beider Halbserien wird jeweils eine weibliche Figur ins Bild gesetzt. Steht am Ende der ersten Zyklushälfte die sterbende Prinzessin zu Füßen des aggressiven Helden, kniet dieser am Ende der zweiten Hälfte selbst mit einer Geste maximaler Unterwürfigkeit zu Füßen nicht nur Ottos, sondern auch Adelheids (Zirngibl, S. 36 und S. 81). Das Schwert, das Ernst auf dem Titelbild in Händen hält und dessen Fatalität sich in den aufeinanderfolgenden Morden an
703 Zum Titelbild vgl. S. 504–506 im Kap. 3.3.1.2.
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Heinrich und dem Agrippinerkönig verdichtet, spielt am Ende keine Rolle mehr. Die Illustrationen bei Zirngibl zeigen vielmehr Gewalt als Irrweg auf und geben sich als Plädoyer für eine friedliche Konfliktbewältigung zu erkennen. Die Illustrationsprogramme der anderen späten Volksbuch-Drucke (Klasse III) fallen mit 14 bis 17 Textholzschnitten deutlich reicher aus als bei Zirngibl. Beratungs-, Boten- und Reiseszenen verbinden die Reichs- und Orienthandlungsteile, wobei Schiffsdarstellungen der Orientfahrt vorbehalten bleiben. P1 weist dabei auf den zweiten Blick eine ähnliche Ausprägung wie Zirngibl auf. Die erste Reichshandlung wird von Otto dominiert, P1 zeigt ihn thronend bei Heinrichs Verrat (S. 11) und dessen Ermordung (S. 17) sowie als siegreichen Feldherrn, dem die Regensburger Bürger zu Füßen fallen (S. 25). Nur der erste Holzschnitt zeigt nicht seine Hochzeit mit Adelheid, sondern diejenige von Ernsts gleichnamigem Vater (S. 3). Der Titelheld ist dagegen nur ein einziges Mal abgebildet und zwar, wie er mit weit vorgerecktem Arm die Klinge in Heinrichs Flanke treibt (S. 17). Ein Gleichgewicht herrscht dagegen bei den Holzschnitten zur zweiten Reichshandlung vor. Je drei Mal sind Ernst, sein Stiefvater und seine Mutter abgebildet. Auffällig ist das Übergewicht sakraler Elemente: christliche Pilger an Ottos Thron (S. 71) und ein kirchlicher Innenraum mit Kleriker (S. 75 und S. 78). Die Instanz der Kirche – oder allgemeiner: das Christentum – versöhnt Kaiser und Herzog. Da Illustrationen von Ottos Hochzeiten fehlen, ist seine Darstellung am Anfang nur mit Verrat, Mord und Krieg verbunden; am Ende dagegen mit Frieden und Gnade. In Bezug auf die Otto-Figur, die keinen Anteil an der dazwischenliegenden Orienthandlung hat, wiederholt sich bei P1 also die von Zirngibl bekannte Zweiteilung. Der letzte Holzschnitt zeigt die kaiserliche Familie vereint beim Anblick eines Langohren, eines textfremden Acephalen, eines Riesen und zweier Pygmäen und somit erstaunt angesichts der wunderlichsten Geschöpfe Gottes (S. 81). Neben P1 ist HE Vb Fleischhauer die einzige Redaktion der Klasse III, die Ernst als Mörder illustriert (S. 19).704 Die Tat sticht dabei besonders hervor, da Fleischhauer zuvor beide Vermählungsszenen mit Adelheid ins Bild setzt (S. 3 und S. 5). In Übereinstimmung damit achtet der Illustrator darauf, Ernsts Inkognito sowohl bei der Begegnung mit seiner Mutter als auch beim Fußfall vor Otto durch eine Rüstung mit geschlossenem Helm zu wahren (S. 82 und S. 85). Seine Unterwerfungsgeste, bei der ihm der Bischof von Bamberg schützend zur Seite steht, ist die einzige im gesamten Zyklus. Die abschließende Präsentation der
704 Bei M2 ist die Szene textfremd mit der Begabung der Fortunatus-Söhne am Bett des sterbenden Vaters illustriert (S. 17). Überträgt man das Personal des Herzog Ernst auf die vorgestellte Situation und sieht dementsprechend Otto im Bett im Gespräch mit Heinrich und Ernst, so zeigt das Bild zwar die große Intimität von Kaiser und Pfalzgraf, spart aber das eigentliche Skandalon der Ermordung völlig aus.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Wunderwesen wirkt besonders intim, indem der Riese mit Ernst und Adelheid gemeinsam am Tisch sitzt und die Pygmäen einander wie Kinder bei den Händen halten (S. 88). Otto ist von dem finalen Familienidyll allerdings ausgegrenzt. Das Sakrale dominiert bei L2 die Bilder zur zweiten Reichshandlung, aber nur aufgrund der Wiederholung eines Schnitts, der Ernst im Gespräch mit Adelheid im Rücken eines betenden Priesters zeigt, dessen Talar ein Kruzifix ziert (S. 81 und S. 83). Die eigentliche Versöhnung mit Ernsts Fußfall in der Weihnachtsmesse fehlt, sodass Otto auf dieser Dimension nicht in den christlichen Zusammenhang einbezogen ist. Außerdem ist für die Illustration der Botschaft der Pilger von Ernsts erfolgreichem Kreuzzug ausgerechnet jener Holzschnitt wiederholt, der in der ersten Reichshandlung Heinrichs Verleumdung darstellt (S. 76 und S. 12). Ernst und Adelheid benutzen hier also den sakralen Raum, um sich gegen die verleumderische Welt Ottos durchzusetzen. Außerdem schwächt das Bildprogramm am Romanbeginn den aggressiven Gehalt ab und zeigt an der Stelle von Heinrichs Ermordung Bewaffnete, die sich erst auf dem Weg zum Ort des Racheakts befinden (S. 18). Die Illustrationen von M2 zeigen zwar den Besuch der Pilger bei Otto (S. 71),705 dafür fehlt aber jegliche Ansicht eines Kirchenraums. Das gilt auch für die folgende Darstellung des Wiedererkennens Ernsts durch Adelheid, bei dem es sich auf der Dimension des Bildes um ein erotisches Stelldichein handelt (S. 75). Den versöhnenden Fußfall beim Weihnachtsgottesdienst illustriert M2 – wie Fleischhauer – schließlich mit einer Ritterschlag-Szene (S. 77). Betrachtet man die Illustrationen zu beiden Reichsteilen zusammen, so erzählen sie bei M2 Vorkommnisse des höfischen Alltags. Es werden Hochzeiten mit Turnieren gefeiert (S. 3 und S. 5), es kommt zu Intrigen (S. 11) und heimlichen Treffen (S. 75). Der Kaiser empfängt Boten (S. 71). Junge Männer reiten in die Fremde, werden heimgekehrt zu Rittern geschlagen (S. 27 und S. 77) und am Ende gibt es ein großes Festmahl (S. 80). Der Grund dieser ‚Banalisierung‘ der Ernst-Geschichte liegt ohne Frage in der Verwendung textfremder Holzschnitte, die kaum auf das Erzählte abgestimmt sind. Aber ein Beitrag zur Sinnstiftung des Romans ist dennoch vorhanden und festzuhalten. Die Dimension der Bilder erzählt in M2 die Lebensgeschichte eines Helden, der aufgrund höfischer Intrigen vertrieben wird. Man beachte dabei die fehlende Intimität der eigentlichen Verleumdung im Vergleich mit der Isolation des Helden bei seinem Aufbruch. Schließlich bewährt er sich im Orient und wird in die Gesellschaft des Kaiserhofes reintegriert.
705 Dass es sich um den Fortunatus-Holzschnitt zur Rückgabe des Schmuckkastens in der Andrean-Episode handelt, fällt nicht weiter auf. Aber explizit als Pilgerin ist die kniende Figur ebenfalls nicht zu erkennen.
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In den Bildern zur ersten Reichshandlung überrascht bei HE Vb Trowitzsch das völlige Fehlen der Ernst-Figur. Sein Vater heiratet Adelheid (S. 2) und der verleumderische Pfalzgraf wie auch die Gnade bedürftigen Regensburger treten an Ottos Thron (S. 10 und S. 23). Der letzte Holzschnitt wird am Anfang der zweiten Reichshandlung wieder aufgegriffen und zeigt nun die Pilger, welche Otto Nachricht über Ernst bringen (S. 68). Erst ganz am Schluss ist Ernst der Handelnde, wenn er sich Adelheid zu erkennen gibt (S. 72), Otto zu Füßen fällt (S. 74) und zuletzt der gesamten Hofgesellschaft seine Wunderwesen präsentiert (S. 77). Was den Orient innerhalb der Klasse III anbetrifft, sind zunächst der dargestellte Handlungsraum und der Grad seiner Fremdheit zu beschreiben. Abschieds- und Begrüßungsszenen, Beratungen und Reisen zu Wasser wie zu Land finden sich zahlreich, ohne dass die Illustrationen zur Spezifizierung des jeweiligen Orientbildes beitragen würden.706 Selbst die textspezifischen Abbildungen des einsamen Ernst am Strand des Magnetbergs (L2, S. 41) oder in den Trümmern des havarierten Schiffes (P1, S. 38) zeigen mehr die Unbilden des Reisens im Allgemeinen als den abenteuerlichen Orient im Speziellen. Von den Kämpfen gegen Kranichmenschen, Panochen, Sciopoden, Riesen, Kraniche, Babylonier und Heiden wird nur die Schlacht der Pygmäen gegen die Kraniche – und diese auch nur von P1 bildlich in Szene gesetzt (S. 55).707 Statt der Wunderstadt Agrippia und ihrer mischgestalteten Bewohner ist nur das Schiff der Ritter zu sehen (Fleischhauer, S. 34, M2, S. 31, und Trowitzsch, S. 30) oder Ernst, wie er mit den Seinen die entwendeten Vorräte an Bord bringt (L2, S. 33, und P1, S. 31). Als einziges Monstrum wird der Riese in allen Redaktionen der Klasse III dargestellt. Die literarische Prominenz dieser Spezies erleichtert den Rückgriff auf Holzschnittmaterial aus anderen Werken.708 Der Rezipient wird jedoch nicht Augenzeuge des Kampfes, sondern der Botenszene, in der die Zinsforderung vorgebracht wird. Generell ist der Herzog in dieser Klasse nie bei seinen orientalischen Kämpfen zu sehen. Seine Bewährungsprobe besteht in der Selbsterhaltung bei gefährlichen Überquerungen des Meeres – allen voran in den Klauen des fliegenden Greifen.
706 Eher irritiert es dabei, auf die (textfremde) Stadtansicht Venedigs (M2, S. 31) oder auf jene Löwin zu stoßen, die sich im Kaiser Octavianus an das Schiff mit dem jungen Lyon klammert (Trowitzsch, S. 37, und L2, S. 63). Diese Motive finden sich allerdings auch schon in Redaktionen der Klasse II (s. unten). – Zur Ansicht des Dogenpalasts vgl. Flood: Fortunatus in London, S. 245. 707 Bei M2 kehrt Ernst bereits vom Schlachtfeld zurück (S. 54), L2 zitiert einen naturkundlichen Darstellungsmodus (S. 59) und Trowitzsch bedient sich der größenverzerrenden Perspektive, sodass die Heere in weiter Ferne für Pygmäen stehen (S. 53). Fleischhauer verzichtet ganz auf eine Darstellung der ‚kleinen Leute‘. 708 Vgl. insbesondere Trowitzsch, wo nicht der Riese als Bote zu sehen ist, sondern der Besuch eines Ritters bei einem Riesen (S. 51).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Nur P1 (S. 42) und Fleischhauer (S. 46) verwenden für diese Szene textspezifische Schnitte. L2 (S. 45), M2 (S. 42) und Trowitzsch (S. 40) greifen auf ein Bild aus dem Kaiser Octavianus, damit aber auf den noch weit wunderbareren Greifenflug des Lyon im Maul einer Löwin zurück. Ernsts Schicksal liegt hier in den Klauen und im Maul zweier wilder Tiere. Wer dieses potenzierte Abenteuer listenreich übersteht, schreckt im Folgenden auch vor den arimaspischen Wunderwesen nicht zurück. Es fällt auf, dass das heilige Jerusalem als letzte Station im Orient wie die folgenden Zwischenziele Bari/Paris und Rom überhaupt nicht illustriert wird. Die einzige Darstellung des Handlungsabschnitts G zeigt Ernsts Abschied vom Mohrenkönig. L2 (S. 72), M2 (S. 67) und Fleischhauer (S. 73) illustrieren ihn mit einer berittenen Reisegesellschaft; in P1 (S. 67) sieht man Ernst beim Abschiedshandkuss.709 Trotz der vielen Reisedarstellungen handelt es sich auch auf dieser Dimension bei keiner der späten HE Vb-Redaktionen um einen Reiseroman, da die Vielzahl attraktiver Reiseziele nicht ins Bild gesetzt wird.
Abb. 37: Ein gar lustige History von Hertzog Ernst. Frankfurt a. M.: Weigand Han [1556/61], Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Abteilung Historische Drucke, Sign. Yu 314 : R, fol. [Fvj]v.
709 Bei Trowitzsch bleibt der Abschnitt ganz ohne Illustration.
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3.3.4.2 Das Bildprogramm der Klasse II Enthalten die späten HE-Vb-Drucke etwa drei Mal so viele Illustrationen wie Zirngibl, so entspricht dies doch nur knapp einem Drittel der Abbildungsmenge der früheren HE Vb-Klasse II mit ihren 45 bis 55 Textholzschnitten. Derartige Redaktionen sind es, die Michael Curschmanns Rede vom Bild als „Signum des volkssprachigen Buchs“ rechtfertigen.710 Allerdings erreichen die Druckerverleger den Bilderreichtum vor allem durch Wiederholungen und Zweitverwendungen. Textspezifische Holzschnitte sind selten, sodass im Vergleich mit den späteren Redaktionen nur wenige zusätzliche Wunder des fernen Ostens präsentiert werden, obwohl allein auf den Orientteil jeweils 24 bis 26 Abbildungen entfallen.711 Allerdings erfährt Agrippia entsprechendes Lokalkolorit bei Endter 2 und Francke, die sogar die Kranichmenschen ins Bild setzen (Endter 2, fol. [C7]v. und fol. Dr., sowie Francke, fol. Ev.), und mit Abstrichen bei Singe, bei dem zahlreiche Orientalen an einer Schlacht beteiligt sind (Singe, fol. Er.). Alle weiteren Reise-, Kampf- und die meisten Stadtansichten sind aber unspezifisch. Doch ist dabei jener Schnitt hervorzuheben, der bei Francke die Ankunft der Ritter und im Bildhintergrund ein durchaus wehrhaftes Agrippia vorstellt (Francke, fol. Diijv.).712 Von den Kuriositäten der Stadt wird allein das ‚Speisungswunder‘ illustriert, das Ernst und den Seinen zu neuer Nahrung verhilft (Singe, fol. Diiijr.; Schröter, fol. Diijr.; und Francke, fol. Diiijv.).
710 Curschmann: Wort – Schrift – Bild, S. 735. 711 Im HE Vb von der Heyden sind es allerdings nur 21 Orient-Illustrationen. 712 Die Redaktion verwendet die Ansicht wieder, um Ernsts Ankunft in Paris zu illustrieren (Francke, fol. [Jvij]r.).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Abb. 38: Eine ganz lustige History/ Von Hertzog Ernst. [Nürnberg: Martin Endter um 1700], Sign. 8° L. 1813 y © Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, fol. [C7]v.
Abb. 39: Eine lustige History/ Von Hertzog Ernsten. Magdeburg: [Wilhelm Ross (?) für] Johann Francke [um 1600], Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. 1 an Res./Bavar. 1257, fol. Evr.
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Abb. 40: Ein gar lustige History von Hertzog Ernst. Frankfurt a. M.: Weigand Han [1556/61], Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Abteilung Historische Drucke, Sign. Yu 314 : R, fol. [Hvij]r.
Die Magnetberg-Episode ist jeweils mit zwei Holzschnitten illustriert. Eine erste Schiffsdarstellung steht für die noch bevorstehende Havarie, eine zweite für die Not der Ritter, die ihr Schiff beziehungsweise die Insel nicht mehr verlassen können. Nur Endter 2 weicht von dieser Bildtradition ab und nimmt anstelle der zweiten Schiffsansicht denjenigen Schnitt vorweg, auf dem Ernst den Karfunkel findet, um damit die Suche nach einer Rettungsmöglichkeit zu illustrieren (Endter 2, fol. D5r. und fol. E2r.). Nur von der Heyden hat innerhalb der Klasse II einen einzelnen Schnitt an dieser Textstelle: Wie für die Ankunft in Agrippia zeigt diese Redaktion eine venezianische Hafenszene (fol. Cvr. und fol. Diijv.).713 Insgesamt wird von den Drucken die äußere Handlung der Magnetberg-Episode herausgestellt, das körperliche Darben der Ritter oder ihre Hinwendung zu Gott werden
713 Indem auch der Abschied aus Konstantinopel und die Versorgung mit Nahrung in Agrippia mit Hilfe von Schiffsdarstellungen illustriert sind, wird Ernsts Reise hier als solche evident. Von der Heyden verwendet die venezianische Stadtansicht darüber hinaus für Ernsts Fahrt zu den Pygmäen und die Ankunft des Mohrenschiffes in Arimaspi sowie für die Nachricht der Pilger an Otto, dass Ernst in Jerusalem sei (fol. [Evj]v., fol. [Evij]v. und fol. Gv.).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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dagegen nicht abgebildet – der theologische Gehalt des Romans ist somit invisibilisiert. Nur bei Francke treiben Ritter zwischen den Planken ihres gescheiterten Schiffes, während eine Figur (Ernst?) die Hände klagend erhebt (fol. Evr.). Nur hier ist auch die emotionale Seite von Ernsts Fahrt für den Betrachter erfahrbar. Wie in der oben analysierten späten HE Vb-Klasse III dient in den meisten Drucken der Greifenflug des Lyon aus Kaiser Octavianus dazu, dem Leser die listenreiche Rettung aus der lebensbedrohlichen Lage vor Augen zu führen. Die folgende Station des ‚Tiefen Tals‘ macht deutlich, dass es bei der textfremden Zweitverwendung von Holzschnittmaterial nicht um mimetische Übereinstimmung mit dem Haupttext geht. In der Abbildung von Bären, Wildschweinen, Hirschen, Drachen und Schnecken wird vielmehr die abstrakte Bedrohung der Ritter durch ihre Orientierungslosigkeit in der Kulturferne einer ungezähmten Natur konkretisiert. Sie fliehen auf den Bildern die Tiere oder töten sie und gewinnen ihre Handlungsmächtigkeit wieder durch die Planung oder Ausführung des kulturschöpfenden Aktes, ein Floß zu bauen (vor allem Han 1, fol. Gvr.). Obwohl allein die Abbildungen von Francke die erzählte Handlung mimetisch abzubilden suchen (fol. [Eviij]v., fol. Fijr., fol. Fiijr. und fol. Fiiijv.), würde ich also von einer sich vergrößernden „Entfremdung zwischen Text und [...] Holzschnitten“ gerade nicht sprechen.714 Im Kontrast zum ‚Tiefen Tal‘ ist der folgende Orientraum Arimaspi kultiviert. Auch wenn die dargestellten Botenszenen Kriege zur Folge haben,715 stehen sie doch im Kontrast zur vorherigen Brutalität des Animalischen. Ein Eindruck von Fremdheit entsteht nicht, Ernst ist Teil einer feudalen Gesellschaft.716 Als Sonderfall ist hier der Druck von Francke anzusehen, der nicht nur die Zyklopen als solche darstellt (fol. Fvv. und fol. [Fviij]r.), sondern auch Panochen (fol. Gv.), Riesen (fol. Giijr.) und Pygmäen (fol. Gvr.). Allerdings gleicht er dabei den thronenden Zyklopenkönig europäischen Konventionen an: Herrscher ist der Zweiäugige unter den Einäugigen (fol. Gv. und fol. Giijr.). Die abschließende Darstellung des Mohrenschiffs und des Gesprächs der Ritter (nicht bei Endter 2 und
714 Sonneborn: Gestaltung der Sage, S. 43. 715 Von einer einzigen Ausnahme abgesehen bleiben alle Kämpfe in Arimaspi ohne Illustration. Nur Endter 2 wiederholt für Ernsts Kämpfe mit Kranichmenschen (fol. D2r.), Riesen (fol. [E6]v.) und Babyloniern (fol. F4r.) einen Holzschnitt, der im Übrigen keine Verwendung für die Reichshandlung findet und daher Waffengänge als ein Leitmotiv der Orienthandlung ausweist. 716 Am Rande möchte ich darauf hinweisen, wie Perspektive kreativ eingesetzt wird, um Ernsts Besuch bei den ‚kleinen Leuten‘ zu illustrieren: Han 1 (fol. [Hvij]r.) und von der Heyden (fol. [Evj]v.) verwenden die Hafenansicht Venedigs, Endter 2 die Darstellung einer Burg mit einem einsehbaren Innenraum (fol. [E8]r.). In diesen Panorama-Ansichten erscheinen die sichtbaren Menschen sehr klein – fast wie Pygmäen.
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Singe) lassen sich erneut als Zeichen wiederhergestellter Handlungsmacht verstehen: Ernst und die Seinen können selbst darüber entscheiden, ins Mohrenland weiterzuziehen. Sein Anteil an den orientalischen Kämpfen bleibt dagegen selbst bei Francke ausgeblendet, der die Wundervölker in der Regel in Botenszenen zeigt. Beim Kampf der Pygmäen gegen die Kraniche greifen die Ritter zwar zum Schwert, doch stehen sie abseits der eigentlichen Kampfhandlung (fol. Gvr.). Die letzten Stationen von Ernsts Orientreise führen ihn über das Mohrenland und Babylon nach Jerusalem. Während die Illustrationen die Kämpfe in Arimaspi ausblenden, ist dagegen der Heidenkampf ein wichtiger Bestandteil des Bildprogramms. Mindestens zwei Schnitte werden jeweils auf ihn verwendet. Das ganze Spektrum entfaltet Singe, der eine Belagerung, eine offene Feldschlacht und die Gefangennahme des babylonischen Königs zeigt (Singe, fol. [Gvj]r.–Hr.). Die Unerbittlichkeit des Kampfes von Christen und Heiden führen insbesondere Han 1 (fol. Iiiijv. und fol. [Ivj]v.), von der Heyden (fol. Fv. und fol. Fijv.) und Schröter (fol. Gvr. und fol. [Gvj]v.) vor Augen, indem sie Abbildungen verwenden, welche einen zwischen den Heeren kämpfenden Löwen und den Leichnam eines Königs vorstellen, der gerade verbrannt wird.717 Diese Aggression wird nach dem Sieg der christlichen Mohren durch die Darstellung von Friedensverhandlungen und Ernsts gemeinsamer Reise mit den Babyloniern bis vor die Tore Jerusalems eingehegt. Die Präsentation der Wunderwesen, die im Haupttext immer wieder zur Sprache kommt, zeigt nur Francke textspezifisch (fol. [Hvj]v. und fol. Jvr.). Wenn Ernsts weiterer Kreuzzug im Heiligen Land illustriert wird, dann ausschließlich friedlich.718 Ernst wird empfangen und isst bei Schröter (fol. Hvijr.) und Endter 2 (fol. G4r.) gemeinsam mit dem Jerusalemer König. Bei Francke stellt er ihm seine Wunderwesen zur Schau (fol. Jvr.). Insgesamt ist der Orient der älteren HE Vb-Klasse II überraschend vertraut. Dargestellt wird vorrangig die äußere Handlung in Form unterschiedlicher Arten der Konfliktbewältigung. Das Wunderbare in Gestalt animalischer Bedrohung muss Ernst beim Greifenflug und im Tiefen Tal überwinden, um Handlungsmacht durch kommunikative Problemlösung, mit Hilfe von Transportmitteln und nicht zuletzt auf kriegerischem Wege zurückzugewinnen. Der Heidenkampf beschränkt sich auf das Mohrenland, wird dann aber in seiner äußersten Brutalität abgebildet.
717 Konkret lässt sich die Darstellung des verbrennenden Königs auch auf die zukunftsungewisse Ankündigung des babylonischen Boten beziehen, dass der Mohrenherrscher bei Verweigerung der Konversion verbrannt würde. – Zum Heidenkampf allgemein in verschiedenen Redaktionen des HE F/Vb-Komplexes vgl. Goerlitz: Heidenkampf, S. 101–103. 718 Dass die Abbildung von Ernsts Verabschiedung von den Babyloniern bei Endter 2 ein abgeschlagenes Haupt enthält, ist aber völlig unmotiviert (fol. G3r.).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Nimmt man die beiden Reichsteile aller sechs Redaktionen der Klasse II zusammen, erhält man ein Konglomerat von über 150 Textholzschnitten, die sich gleichmäßig auf Romanbeginn und -ende verteilen. Am Anfang stehen die Hochzeiten Adelheids mit Ernsts gleichnamigem Vater und Otto, bei Singe zusätzlich ein Schnitt mit Otto als thronender Kaiser sowie eine Ratsszene vor Ottos Werbung (Singe, fol. Aiijv. und fol. Avv.).719 Nur Singe und Endter 2 bebildern das frühe Zusammenleben von Adelheid, Otto und Ernst. Wenn Endter 2 für Ernsts Empfang bei Otto einen Schnitt verwendet, bei dem der Herzog den Kopf eines Enthaupteten mit sich führt (Endter 2, fol. [A6]v.), kann der Leser dies bei der Lektüre der nachfolgenden Szenen (Heinrichs Verleumdung und Ermordung) als bildliche Vorausdeutung auf den Tod des Pfalzgrafen verstehen.720 Während die Verleumdung stets als Gespräch dargestellt wird (bei Endter 2 ohne Bild), weichen die Redaktionen bei der Abbildung von Ernsts Mord am Pfalzgrafen voneinander ab: Endter 2 zeigt die Ankunft am Kaiserhof (fol. B4r.), Schröter eine Unterredung von Ernst und Wetzelo mit Otto und Heinrich (fol. Bvv.), bei Francke holt Ernst mit dem Schwert aus (fol. [Bvj]v.), Singe illustriert nach einem durch Blattverlust verlorenen Schnitt, wie Ernst dem zur Flucht gewandten Pfalzgrafen nachsetzt (fol. [Bvij]r.), bei von der Heyden ersticht Ernst Heinrich hinterrücks in freier Natur (fol. Biijr.) und Han 1 stellt schließlich nach dem Fortunatus die Entsorgung der Leiche in einem Brunnen dar (fol. Cr.). Je nachdem, ob und wie die eigentliche Bluttat dargestellt ist, lässt sich dies als Gewichtung oder aber als Ausblendung von Ernsts Schuld innerhalb der ersten Reichshandlung interpretieren. Mit jeweils fünf bis sieben Holzschnitten misst die Klasse II der Schlacht um Regensburg und deren Vorbereitung großes Gewicht bei.721 Dabei reitet Ernst zu Heinrich von Sachsen und erbittet ein Entsatzheer. Schröter stellt dieses gegen den Haupttext sogar im Kampf mit den Kaiserlichen dar (Schröter, fol. Cr.). Hier (fol. Ciiijr.f.), bei Han 1 (fol. Dv. und fol. Dijv.) und bei von der Heyden (fol. [Bviij]v.f.) ist die Verteidigung der Bürger mit denjenigen Ansichten bebildert, die
719 Bei Endter 2 sind Ottos Hochzeit und Werbung vertauscht, sodass es sich beim dargestellten Verlöbnis eigentlich um seine erste Frau Ottegeba oder um seine Eltern Heinrich und Mechtilde handeln müsste (fol. A3v.). – Schröter zeigt nicht die Hochzeit Ernsts des Älteren mit Adelheid, sondern wie diese ihm von König Lotharius versprochen wird (vgl. fol. Aijr.). Analog dazu könnte es sich beim folgenden Holzschnitt in HE Vb von der Heyden um jene Szene handeln, in der Ernst seine Zustimmung zu Adelheids Wiederheirat gibt (fol. Aiijv.). 720 Verwendet von der Heyden diesen Schnitt dagegen für die Verleumdungsszene selbst (fol. [Avij]r.), so ist symbolisch dargestellt, wie Heinrich Ernsts Leben verräterisch dem Kaiser ausliefert. 721 Die früheren Kämpfe des Pfalzgrafen in Bamberg illustriert nur Singe (fol. Biijv. und fol. Biiijv.).
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auch die Grausamkeit des Heidenkampfes illustrierten. Zu sehen sind das Verbrennen eines Leichnams und ein abgetrenntes Haupt. Singe (fol. Cvv.) und Endter 2 (fol. Cv.) zeigen dagegen die Belagerung ohne Gewaltanwendung. Ottos Brutalität ist auf dieser Dimension dadurch abgemildert. Wie der Haupttext so stellen auch die Bilder Ernsts Aufbruch zum Kreuzzug und seine ersten Stationen in Ungarn und beim griechischen Kaiser als problemlos vor: Ernst plant seinen Abschied, wird empfangen und besteigt das Schiff, das ihn nach Agrippia bringen wird. Allein bei von der Heyden scheint die Abreise aus Konstantinopel bedrohlich, wenn die Löwin aus dem Kaiser Octavianus dem Schiff der Kreuzfahrer nachsetzt (fol. Ciiijr.). Auch die Darstellungen des Weges von Jerusalem zurück ins Kaiserreich deuten bei Han 1 und Singe auf keinerlei Schwierigkeiten hin. Bei Endter 2 stellt sich Ernsts Schiff auf der Überfahrt nach Rom einmal mehr die genannte Löwin entgegen (Endter 2, fol. [G6]v.). Schröter verwendet für den Romaufenthalt dagegen eine Botenszene, die hier als Papstaudienz anzusehen ist (Schröter, fol. Iiijr.). Bei diesem Druck steht Ernsts Rückreise allerdings unter einem besonders ambivalenten Stern. Einerseits verwendet Schröter für den Bericht der Pilger bei Otto, durch den der Ruhm noch vor dem Helden die Heimat erreicht, die Begabung des Fortunatus durch die Jungfrau des Glücks (fol. Hviijv.). Andererseits illustriert er Ernsts Sorge um seine Aufnahme bei Otto mit Amrichs Sterndeutung aus der Melusine (fol. Iiijv.). Ein schlechtes Omen, wenn man den intertextuellen Verweis berücksichtigt, der von dieser Zweitverwendung ausgeht. Blendet man ein Wissen um die Herkunft des Schnittes aus, wird die Ansicht des auffälligen Nachthimmels aber als eine Anspielung auf den weihnachtlichen Schweifstern hin lesbar. So verwendet Han 1 diesen Schnitt denn auch für die Ankunft Ernsts in Nürnberg am Vortag des Christfestes (fol. [Lviij]v.).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Abb. 41: Ein gar lustige History von Hertzog Ernst. Frankfurt a. M.: Weigand Han [1556/61], Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Abteilung Historische Drucke, Sign. Yu 314 : R, fol. [Lviij]v.
Abb. 42: Eine lustige History/ Von Hertzog Ernsten. Magdeburg: [Wilhelm Ross (?) für] Johann Francke [um 1600], Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. 1 an Res./Bavar. 1257, fol. Kvv.
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Übereinstimmend mit dem Haupttext entsteht Adelheids Plan zur Versöhnung ihres Sohnes mit ihrem Ehemann in einem Kirchenraum. Han 1 wiederholt denselben Schnitt für den Plan und seine Durchführung (Han 1, fol. Mv. und fol. Mijv.), was zum einen deren große Sorgfalt illustriert, zum anderen aber auch Adelheids Anteil an der Versöhnung erhöht, während Otto ausgeblendet wird und damit vollkommen passiv bleibt. Lediglich Schröter (fol. Ivr.f.) und von der Heyden (fol. Gvr.f.) zeigen vor einem neutralen Hintergrund je eine Boten- und Gesprächsszene. Durch die sich vergrößernde Anzahl abgebildeter Figuren entsteht in den beiden Redaktionen der Eindruck, dass nach der heimlichen Wiedererkennung von Ernst und Adelheid schnell die Öffentlichkeit in die Vorbereitungen einbezogen werde.722 Die theologische Komponente entfällt dabei völlig, zumal Schröter die Versöhnung in einen Außenraum verlagert. Anstelle des die Haupthandlung abschließenden Gastmahls verwendet er dann die Ansicht eines Palastes (Schröter, fol. [Ivij]r. und fol. Kijr.). Auch Han 1 (fol. Miiijv.) und Endter 2 (fol. H2v.) greifen mit einer Krönungsszene auf das Inventar höfischer Repräsentation zurück, um Ernsts Fußfall während des Weihnachtsgottesdiensts zu illustrieren. Diese wichtige Szene bleibt bei von der Heyden aber ohne Illustration. Auf Adelheids Plan folgt sogleich das Versöhnungsmahl (fol. Gvv. und fol. [Gviij]r.). Konzentriert man sich auf die Bilddimension, kehrt Ernst bei von der Heyden also nach Nürnberg zurück, wird begrüßt, empfangen und gefeiert – unterwerfen muss er sich nicht. Am Ende des Romans stehen die Präsentation der Wunderwesen und die Wunderwirkung der heiligen Adelheid. Nur bei Francke sind die Wundervölker der Orienthandlung zu sehen: ein Panoche, ein Zyklop, zwei Pygmäen und im Hintergrund ein Riese (fol. Lr.). Auch Han 1 und Endter 2 zeigen tatsächlich Monstra, aber nicht die von Ernst gesammelten curiosa. Han 1 (fol. [Mviij]v.) behilft sich mit den Söhnen der Melusine, Endter 2 (fol. H4v.) wiederholt den Einzug der Kranichmenschen in Agrippia, obwohl Ernst gerade von diesem Wundervolk kein Exemplar mit sich nehmen kann. Fast alle Redaktionen der Klasse II verwenden gleich vier Abbildungen auf die ‚Elternnachgeschichte‘ mit Adelheids Wundertätigkeit,723 die jedoch allesamt wenig Wunderbares vorstellen. Durch die Abbildung von Festmählern, vertrauten Gesprächen und einer prachtvollen Tumba (nur Han 1 und Schröter) herrscht der Eindruck höfischen Lebens vor. Davon stechen aber die Bilder mit der Baustelle des Münsterbaus zu Saltza (von der Heyden, fol. Hijr., Francke, fol. Lijv., Singe, 722 Singe geht einen Schritt weiter und zeigt anstelle von Ernsts Fußfall eine kollektive Demutsgeste (Singe, fol. [Ivij]r.). 723 Lediglich von der Heyden reduziert die Bildredaktion um den letzten Schnitt zum Einsturz der Augsburger Kirche.
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fol. Kiijr., und Endter 2, fol. [H6]r.) und vor allem eine Entkleidungsszene aus der Griseldis irritierend hervor (Han 1, fol. Niiijv., von der Heyden, fol. [Hiij]r., und Singe, fol. Kiiijv.). Das jeweilige Wunder ist hier nicht Bildgegenstand, wenn auch die öffentliche Entblößung der Kaiserin einem gesellschaftlichen Martyrium entspricht. Bei Francke findet die Entkleidung im Privatissimum statt, dafür erhebt Otto ein Reisigbündel (?) gegen Adelheid (fol. Liiijv.). Das folgende Gespräch über den Kircheneinsturz findet ebenfalls in einem Schlafgemach statt (fol. Lvv.) Da weder der helfende Sonnenstrahl noch der Einsturz zu sehen sind, zeigt die Bilddimension Franckes am Romanende keine Wunder, sondern Szenen einer bedrohten und letztlich geretteten Ehe. Quantitativ besonders hervorgehoben sind in der Klasse II dennoch die Adelheid-Episoden, wobei im Mittelpunkt eher das höfische Leben in seiner Ambivalenz von Kulturschöpfung (Münsterbau), fragilem Angefochtensein (Entblößung der Kaiserin) und Vergänglichkeit (Tumba) als ihre Wundertätigkeit steht. Diese Illustrationen fügen sich in Zyklen ein, die einhergehend mit zahlreichen Zweitverwendungen und Wiederholungen gerade im Orientteil den Verlust und die Wiedergewinnung der Handlungsmächtigkeit des Helden zeigen. Die theologischen Implikationen des Romans werden dagegen – vom Heidenkampf abgesehen – invisibilisiert. Das äußere Geschehen wird vorgestellt in allgemeinen Gesten, Reise- und Kampfszenen, wobei die eigentlichen Schlachten abgesehen vom Kampf im Mohrenland und der Belagerung Regensburgs ausgespart bleiben. Selbst Ernsts Mord an Heinrich ist oft nicht dargestellt, was bei der Interpretation den Helden tendenziell entlastet. Der Orient wirkt mit seiner feudalen Gesellschaft überraschend vertraut, die Bedeutung der Wunderwesen ist auf der Dimension der Illustrationen sowohl im Orient wie während und nach Ernsts Rückkehr gering. Allerdings ist die Sonderstellung der textspezifischen Schnitte Franckes jeweils zu berücksichtigen.
3.3.4.3 Das Bildprogramm der Klasse I Die Drucke der Klasse I sind die ältesten bebilderten HE F/Vb-Redaktionen.724 Die Illustrationen von Knoblochtzer sind Sorg 2 bis auf Ernsts Einkehr in Ungarn sehr
724 Für die Holzschnitte von Sorg vgl. Schramm: Bilderschmuck, Bd. 4, S. 6 f., die Übersicht S. 50–52 und die Tafeln 33–36; die Zahl der Wiederholungen korrigiert bereits Geck: Buchkundlicher Exkurs, S. 16 f., von zwei auf eins. Für Knoblochtzer vgl. Schramm: Bilderschmuck, Bd. 19, S. 7, die Übersicht S. 13–15 und die Tafeln 37–41. Die Angaben bei Richard Muther: Die deutsche Bücherillustration der Gothik und Frührenaissance (1460–1530). Bd. 1. München, Leipzig 1884, S. 16, Nr. 64 und 65, sowie S. 74, Nr. 527, sind dürftig, die inhaltliche Nacherzählung anhand der Bildmotive weist viele sachliche Fehler auf.
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genau nachgeschnitten (Knoblochtzer, fol. [17]r.).725 Sie sind alle textspezifisch und es gibt bis auf jene Darstellung der Ungarn-Episode bei Knoblochtzer sowie den beiden Bildern zur Havarie am Magnetberg (Sorg 2, fol. 32r. und fol. 33v.) keinerlei Wiederholungen. Im Vergleich zur Klasse II werden jedoch etwa 20 Holzschnitte weniger verwendet, sodass die Illustrationsfrequenz nur etwas weniger als halb so groß ist. Die erste Reichshandlung wird in dieser Klasse von einem Holzschnitt eingeleitet, der Ernst oder seinen Vater auf einem Thron zeigt, ich bespreche ihn oben als Einleitungsbild.726 Dominante Bildquelle ist hier aber die Belagerung Regensburgs. Fünf der elf Abbildungen zeigen Ernst bei Heinrich von Sachsen, seinen Zug mit dem vermeintlichen Entsatzheer und dessen Empfang vor der Stadt sowie Ottos Vorbereitungen zum Sturm und schließlich die Aufgabe der Bürger (Sorg 2, fol. 14v.–19r.). Am Romanbeginn sind nur die wichtigsten Stationen ins Bild gesetzt: Ottos Heirat mit Adelheid, die Verleumdung Heinrichs am Thron des Kaisers, die ihm zwar den Platz an dessen Seite einbringt, aber auch zur Ermordung durch Ernst führt (fol. 3v., fol. 7r. und fol. 12r.). Ohne Umschweife erzählen die Bilder vom Aufstieg und Fall eines Verschwörers, der verschränkt ist mit der neuerlichen Verheiratung des Kaisers mit einer Frau, die bereits einen wehrhaften Sohn aus erster Ehe hat. Die wichtigste Erkenntnis aus den Illustrationen der Regensburg-Belagerung ist, dass Ernst auch mithilfe militärischen Beistands seine Untertanen nicht vor dem Kaiser zu schützen vermag. Sein Mord am Pfalzgrafen bleibt dabei die einzig explizit dargestellte Bluttat der ersten Reichshandlung, die mit dem Plan seiner Kreuznahme, seinem Empfang beim König von Ungarn und seinem Abschied vom Kaiser der Griechen abgeschlossen wird (fol. 20r., fol. 22r. und fol. 23v.). Die Grausamkeit gerade der Kaiserlichen ist vollkommen ausgeblendet. Auf den Abbildungen zur Orienthandlung fließt in der Klasse I ebenfalls kaum Blut. Von den zahlreichen Schlachten ist nur der Kampf mit den Kranichmenschen aus Agrippia dargestellt (Sorg 2, fol. 31r.).727 Die Heereszüge innerhalb Arimaspis sind dagegen völlig invisibilisiert. Die Bilder zeigen nur den Boten der Riesen und Ernsts Ankunft bei den Pygmäen (fol. 43r. und fol. 45r.). Anstelle des eigentlichen Heidenkampfes im Mohrenland oder in Jerusalem stellen Sorg und Knoblochtzer nur die Begegnung von Ernst mit den christlichen Mohren am Strand und die Präsentation der Wunderwesen gegenüber dem gefangenen König von Babylon dar (Sorg 2, fol. 46v. und fol. 52r.). Der eigentliche Schwerpunkt der 725 Vgl. dazu Bartsch: Herzog Ernst, S. LXXIII. 726 Vgl. S. 511f. im Kap. 3.3.2.1. 727 Zwei Holzschnitte verwendet die Klasse I auch auf die Ansicht der wehrhaften Stadt und darauf, wie Ernst sich mit den Seinen Agrippia nähert (Sorg 2, fol. 24r. und fol. 26r.).
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Bebilderung des Orients liegt hier auf Ernsts Weg vom ‚irdischen Meer‘ nach Arimaspi. Dabei kommt es zur einzigen Bildwiederholung bei Sorg, der auf diese Weise die Statik der Situation nach der Havarie zu illustrieren versteht. So kann Ernst seinen Kreuzzug zunächst nicht fortsetzen und ist selbst auf der Dimension der Bilder zu passivem Stillhalten gezwungen (fol. 32r. und fol. 33v.). Die Bildwiederholung ist insofern sinnstiftend. Für den ersten Teil des nachfolgenden Weges ist der Herzog auf die Hilfe des Greifen angewiesen, der ihn – bewegungsunfähig eingenäht in eine Tierhaut – übers Meer in das Nest trägt (fol. 35r.). Nur langsam erlangen die Ritter ihre Bewegungsfreiheit zurück. Denn sie müssen zunächst aus dem Nest herabsteigen und die dichte Bewaldung sowie zerklüftete Berge überwinden (fol. 36r.–37r.). Konkretisieren die Drucke der Klasse II dabei die Bedrohung der kulturfernen Natur durch den Einsatz zahlreicher wilder Tiere, so ist es hier die ungezähmte Natur selbst, die sich Ernst in den Weg stellt und im Folgenden durch Floßbau und -fahrt überwunden werden muss (fol. 39r. und fol. 40r.). Völlig überraschend ist die Bildökonomie des Romanendes. Die Klasse I invisibilisiert nicht nur die Stationen Jerusalem, Bari und Rom, sondern auch den Plan und die Durchführung der Versöhnung mit dem Kaiser. Der Betrachter sieht allein Ernsts Ankunft vor dem Nürnberger Stadttor (Sorg 2, fol. 59r.). Er hat im Orient bereits im Kampf mit den Elementen das Seine für ein gutes Ende des Romans getan, er muss auf der Bilddimension nur noch in der Heimat ankommen. Das Interesse verschiebt sich nun ganz auf die Legende seiner Mutter, der Roman wird also ins Hagiographische umgebogen. Dafür werden alle Wunder der heiligen Adelheid, die mit einer eigenen Kapitelüberschrift versehen sind – also alle außer der Heilung des Lahmen –, abgebildet. Dabei fällt im Vergleich zur Klasse II auf, dass gerade das eigentlich Wunderbare ins Bild gesetzt ist: Adelheid zieht mit dem Zimmermann die Balken in die Länge; die Brosamen haben sich in Weintrauben verwandelt; ein Sonnenstrahl hält schützend den Mantel vor die entblößte Kaiserin, nach der Otto bereits mit der Rute ausholt (fol. 65r.–66v.). Der letzte Schnitt zeigt zweigeteilt den Einsturz der Augsburger Kirche und die hellsichtige Adelheid beim gemeinsamen Mahl mit Otto in synchroner Zusammenschau (fol. 67r.). Die Geschichte von Ernsts Kreuzzug ist damit auf der Bilddimension der Klasse I in Übereinstimmung mit dem Haupttext nur mehr ein Wunder unter vielen.728
728 Vgl. vor allem S. 431 im Kap. 3.1.1.10.
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3.3.4.4 Kurzzusammenfassung Die Ausführungen zeigen den großen Beitrag, den Illustrationen zur Sinnstiftung der einzelnen Redaktionen leisten, und wie sie unterschiedliche Interpretationsschwerpunkte setzen. So zeigen beispielsweise die Holzschnitte der ältesten Klasse I die Folgen höfischen Intrigantentums: Ein Verleumder steigt auf und macht den Helden zum Mörder. Militärischer Beistand rettet ihn nicht, erst sein erfolgreicher Zug in den Orient bereitet das gute Ende vor, durch das sich Ernsts Lebensgeschichte mit den Legenden um seine heilige Mutter vereint. Grosso modo gilt dies zwar auch für die Serie der jungen Klasse III, doch die theologischen Implikationen des Romans sind hier völlig ausgeblendet. Die textgeschichtlich dazwischenliegende Klasse II stellt mit ihrem Bilderreichtum vor allem die äußere Handlung mit Reise-, Gesprächs- und – seltener – Kampfszenen dar. Die quantitative Fülle gilt hier auch für die Wundererzählungen um Adelheid, die vermittels des Bildprogramms in den Erzählfortgang eingebunden werden, hier aber keine Sonderstellung einnehmen. Was den Orient anbetrifft so wirkt er auf den meisten Illustrationen aller Redaktionen vertraut, die Vielzahl der Wunderwesen würdigen nur Francke und P1. Seine wilde Landschaft (Klasse III) und Tierwelt (Klasse II) werden zur eigentlichen Bewährungsprobe des Helden. Der Zyklus der spätesten untersuchten Redaktion von Zirngibl schließlich lässt sich lesen als ein bildliches Plädoyer für eine friedliche Bewältigung von Konflikten.
3.3.5 Zwischen- und Kolumnentitel Wenige Jahre bevor der Cgm 572 mutmaßlich im Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra geschrieben wird, vollendet Heinrich von Steynfurt 1441 eine Handschrift des Versromans HE B (vgl. nach V. 6022). Wie die Redaktionen des Prosaromans HE F/Vb ist auch dieser Textzeuge durch Zwischentitel untergliedert.729 Der Schwerpunkt der zwölf inhaltssummierenden Überschriften liegt ganz klar auf dem Orientteil der Ernst-Geschichte. Nur die erste (Auenture wye der phaltzgraffe den hertzogen verlog zu hoffe, nach V. 626) und die letzte (Wye der hertzoge wider heyme zu lande kam vnd wie er des keysers hulde gewan, nach V. 5698) beziehen sich auf das Geschehen im Kaiserreich. Das Gros benennt die wichtigsten Stationen und Ereignisse der Orientfahrt (Grippia und die Kranichmenschen, nach V. 2176 und 2816; Magnetberg mit Greifenflug, nach V. 3882; und Arimaspi mit den Kämpfen gegen Platthufe, Langohren und Riesen sowie für die Pygmäen, nach V. 4334, 4666, 4812, 4890 und 5012). Außerdem ist die Grenze zwischen
729 Der lateinische HE C als Vorlage des HE F enthält dagegen keine Zwischentitel.
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Reichsgeschehen und Fahrt (nach V. 1972) sowie der Übergang von Arimaspi ins Heilige Land hervorgehoben (nach V. 5332). Liest man den Text der Zwischentitel des HE B im Zusammenhang, so entsteht eine gewichtende und interpretierende Kurzfassung des Versromans. Dieser erzählt demnach die Geschichte eines Herzogs, der aufgrund einer Verleumdung, Hof und Reich verlassen muss, um in den fernen Ländern Grippia und Arimaspi wundersamen Wesen zu begegnen und mit ihnen zu kämpfen. Mit der Zwischenstation Jerusalem kehrt er ins Reich und in die Gnade seines Herrn zurück. Auf Ernsts Kreuzzugsmotivation deutet nichts außer der Erwähnung Jerusalems hin. Die konfliktträchtige Personenkonstellation bleibt wie das ganze Reichsgeschehen mit dem Mord an Heinrich unterbelichtet. Die aus dem Hochmittelalter stammende Fassung ist auf dieser Dimension als Abenteuerroman mit orientalischen Schauplätzen präsentiert. Der Vergleich ist deshalb aufschlussreich, da Uta Goerlitz, die sich als einzige mit den Zwischentiteln der HE F-Überlieferung auseinandersetzt, für die Wiegendrucke ein „primäres Interesse“ an der „abenteuerlichen Reise Ernsts“ erkennt, das sich gegenüber den HE F-Handschriften gerade auf der Dimension der Zwischentitel ablesen lasse.730 Diese Tendenz lässt sich im Vergleich mit dem Cgm 572 bestätigen, relativiert sich aber durch die Orientfokussierung in der Nürnberger HE B-Handschrift wieder. Im Folgenden werden die Zwischentitel zum jeweils nachstehenden Kapiteltext in Beziehung gesetzt, wodurch sie sich als Mittel der Schwerpunktsetzung, Interpretation (‚Gefülltstellen‘) und ex negativo der Invisibilisierung erweisen. Was den von mir gewählten Ausschnitt der HE F/Vb-Überlieferung anbetrifft, sind dabei drei Klassen und drei Sonderfälle voneinander zu unterscheiden.731 Die Inkunabeln des HE F bilden dabei mit 31 Überschriften die Klasse I,732 die frühen HE Vb-Drucke mit 51 bis 52 Überschriften die Klasse II und die späteren HE Vb-Drucke mit nur 18 Überschriften die Klasse III. Die meisten Zwischentitel enthält Singe mit 54. Der Unterschied zur Klasse II ist dabei größer als es die absoluten Zahlen vermuten lassen, da Singe die Zwischentitel oft anders als die Vertreter dieser Klasse setzt. Als zweiter Sonderfall ist die Handschrift HE F Cgm
730 Goerlitz: Heidenkampf, S. 101. Einige Hinweise auf den Einsatz von Überschriften im ProsaHerzog Ernst gibt Heselhaus: Märe und History, S. 226 und S. 242. 731 Die Klassenbildung erfolgt nach der Setzung von Überschriften und entspricht der Klassenbildung bei der Kapiteleinteilung. HE F Add. 22622 stand mir nicht zur Verfügung, das Vorhandensein von elf Zwischentiteln (vgl. Ward: Add. 22622, S. 19), lässt aber eine Nähe zum Sonderfall Cgm 572 vermuten. 732 Die trotz Blattverlust erhaltenen Zwischentitel von Sorg 1 und 3 weichen von Sorg 2 nur geringfügig (beispielsweise durch Tempuswechsel oder graphisch) ab.
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572 anzusehen. Da sie nur zehn Überschriften enthält, gibt es quantitativ überraschenderweise die größte Nähe zu den Vertretern der späten Klasse III.733 Ebenfalls eine Sonderstellung nimmt die zweite Münchner Handschrift Cgm 224 ein, die neben dem Incipit, einen einzigen rot geschriebenen Zwischentitel und im Orientteil zahlreiche Marginalien enthält, die ebenfalls als Äquivalente zu Kapitelüberschriften anzusehen sind.734 Abb. 43: Klassen der Zwischentitelverwendung im HE F/Vb-Komplex. Klasse I
31 Überschriften
HE F Sorg 1, 2 und 3, Knoblochtzer
Klasse II
51/52 Überschriften
HE Vb Han 1, von der Heyden, Francke, Schröter, Endter 2
Sonderfall
54 Überschriften
HE Vb Singe
Klasse III
18 Überschriften
HE Vb L2, Fleischhauer, Zirngibl, P1, Everaerts, M2, Trowitzsch
Sonderfall
10 Überschriften
HE F Cgm 572
Sonderfall
1 Überschrift, 10 Marginalien
HE F Cgm 224
Nachfolgend untersuche ich jeweils Zwischentitelformulierungen und ihr Verhältnis zum Kapiteltext anhand je eines Vertreters der Klassen I bis III (Sorg 2, Han 1 und L2) sowie anhand der drei Sonderfälle. Signifikante Abweichungen der anderen Redaktionen kommen ebenfalls zur Sprache.735 Ich teile dabei die Handlung in drei Abschnitte ein: erstens die erste Reichshandlung bis zu jenem Punkt, an dem Ernst mit Konstantinopel die europäische Welt verlässt; zweitens die orientalischen Räume Agrippia und Arimaspi bis zur Überfahrt mit den Kauf-
733 In Bezug auf das Vorhandensein oder Fehlen von Überschriften stimmt HE F Cgm 572 zu über 75 Prozent mit der Klasse III überein. Dem stehen nur etwas mehr als 60 Prozent Übereinstimmung mit den anderen Vertretern des HE F (Klasse I) und nur 30 Prozent im Vergleich mit der Klasse II gegenüber. 734 Die Konzeption der Handschrift sieht allerdings weitere Zwischentitel vor, die jedoch unausgeführt geblieben sind; zum Cgm 224 vgl. auch S. 520f. im Kap. 3.3.3. 735 HE F Knoblochtzer stimmt in der Setzung von Überschriften ausnahmslos mit den SorgDrucken überein. Auch die Formulierungen sind nahezu identisch. Die einzige bedeutungsrelevante Variante findet sich bei derjenigen Überschrift, die das Wiederfinden von Ernsts Begleitern nach dem Greifenflug beinhaltet. Denn bei Knoblochtzer fehlt der Hinweis auf gotes schickung (Sorg 2, fol. 36v.) völlig (Knoblochtzer, fol. [29]v.). In den Wäldern des Tiefen Tals, also einem traditionellen Fortuna-Raum, sind die Ritter damit dem Zufall ausgeliefert, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass sie einander treffen.
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leuten ins Mohrenland; und drittens Ernsts Rückkehr über Babylon und Jerusalem ins Kaiserreich bis zum Ende der Wundererzählungen um Adelheid.
3.3.5.1 Zwischentitel der ersten Reichshandlung Die Analyse beginnt mit dem Einleitungskapitel, in dem die Elternvorgeschichte, Ernsts Erziehung und Freundschaft mit Wetzelo sowie Adelheids angefochtener Stand als Witwe beschrieben werden.736 Bereits hier tritt schon die Sonderstellung des Singe-Druckes hervor, der dieses Kapitel zwar wie die anderen HE VbRedaktionen737 mit nachfolgender Überschrift versieht: Der Anfang dieser History meldet/ wie der alte Hertzog Ernst von Beyern vnd Oesterreich/ sich mit des Koͤ nigs Tochter/Adelheit genennet/ vermaͤ hlet (fol. Aijr.), dann aber die Einleitung stärker untergliedert und zwei zusätzliche Überschriften setzt, um paratextuell hervorzuheben, dass die Exposition zusätzlich Ottos Vorgeschichte umfasst.738 Ottos Werbung um Adelheid wird damit vorbereitet und der Blick stärker auf den Kaiser gelenkt, was dem Bildinhalt des ersten Holzschnitts zu diesen Zusatzkapiteln entspricht (vgl. fol. Aiijv.).739 Während Singe damit das große Gewicht, das der Kaiser durch den enzyklopädischen Exkurs zu seinem Stammbaum und seinen Stiftungen und Eroberungen erfährt, paratextuell umsetzt, blenden es alle anderen Redaktionen aus (vgl. stellvertretend Sorg 2, fol. 3v.–4v.). Doch im Detail weicht schon Singes erster Zwischentitel von den Formulierungen der Klasse II ab. Denn die anderen Redaktionen konkretisieren Adelheids Herkunft, die Koͤ nigs Lotharij Tochter sei. Die paratextuelle Aufwertung der Rolle Ottos korrespondiert insofern mit einer entsprechenden Abwertung von Ernsts mütterlicher Herkunft.740
736 Zur Expositionsfunktion der ‚(Stief-)Elternvorgeschichte‘ vgl. S. 509–511 im Kap. 3.3.2.1. 737 Im HE F fehlt der erste Zwischentitel aufgrund der Verwendung eines Incipits. 738 Diese Zwischentitel lauten: Von des Roͤ mischen Keysers/ Ottonis/ Ankunfft vnd Regiment (fol. Aiijv.) und Wie Keyser Otto mit seinen Herrn rathschlaget/ jhm ein ander Gemahl zu nemen (fol. Avr.) 739 Otto thront auf diesem Schnitt majestätisch mit Krone und Zepter zwischen schwer bewaffneten Wachen. – Weitere Zusatzüberschriften von Singe gegenüber allen anderen Redaktionen thematisieren Ottos Sendung nach Ernst unmittelbar nach seiner Hochzeit mit Adelheid (vgl. fol. [Avij]v.) und Ernsts Kämpfe gegen Pfalzgraf Heinrich (vgl. fol. Biijr. und fol. Biiijr.). 740 Bei HE Vb Everaerts aus der Klasse III ist der Beginn der Formulierung ‚Der Anfang dieser Historie meldet‘ durch eine Nummerierung des Kapitels ersetzt: „Das 1. Kapitel“ (S. 3). Dieses Durchzählen stärkt die Dimension der Kapiteleinteilung als wichtigste Form der Strukturierung des Buchtyps Prosaroman.
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In jeder Redaktion ist das folgende Kapitel mit dem Hinweis auf die Verbindung von Otto und Adelheid741 überschrieben: In Klasse I und Cgm 572 wird die Hochzeit, in allen anderen Redaktionen Ottos Werbung sowie die Zusage von Ernst und den Seinen thematisiert.742 Für die Sinnstiftung des Romans ist von großer Bedeutung, dass der Zwischentitel nur die Vermählung konstatiert, nicht aber Adelheids Zweifel an einer Wiederverheiratung. Insbesondere bleibt die „heymliche[ ] offenbarung“ unerwähnt (Sorg 2, fol. 5r.), die Adelheid die Zwietracht zwischen Ernst und Otto vorhersehen lässt, in deren Folge die kommende Katastrophe Schritt für Schritt vorbereitet wird.743 Insgesamt wird der Bereich des Göttlichen durch die Zwischentitel invisibilisiert: Dies betrifft die „stymm von himel“, die Adelheid den Namen des Verräters nennt (Sorg 2, fol. 11r.) und sie damit zum instrumentum Dei macht, als solches sie Ernsts Mordanschlag, den Krieg zwischen Kaiser und Herzog sowie dessen Kreuznahme verursacht.744 Generell fehlen auf der Dimension der Zwischentitel die Anrufungen Gottes (vgl. z. B. Sorg 2, fol. 11r. und fol. 11v.), dessen Beistand (vgl. ebd., fol. 24r.) und Ernsts Einsicht, mit dem Widerstand gegen den Kaiser seine Sünden wider Gottes „creature“ zu vermehren (ebd., fol. 20v.).745 Der Haupttext narrativiert dagegen das deus lo vult. Wie die Vermählung von Otto und Adelheid erwähnen alle Redaktionen auf dieser Dimension auch den Verrat des Pfalzgrafen und seine Ermordung durch Ernst.746 Die Zwischentitel lassen Heinrichs Verleumdung und Ernsts Mordanschlag direkt auf- und auseinander erfolgen. Dass dazwischen der heimliche
741 Diese wird in der Klasse I schon hier als Heilige bezeichnet (vgl. Sorg 2, fol. 3r., und Knoblochtzer, fol. [2]r.). 742 HE Vb Francke stimmt hier mit dem Sonderfall Singe überein, wenn nach dem Zwischentitel Adelheid nicht ‚gegeben‘, sondern zugesaget vnd vermehlet wird (Francke, fol. Aiijv.). Innerhalb der Klasse III nimmt Everaerts hier eine Sonderstellung ein, indem der zweite Teil des Zwischentitels mit der Gewährung von Ottos Begehren entfällt (vgl. S. 4). 743 Vgl. dazu wie zu allen haupttextuellen Varianten Kap. 3.1.1. 744 Die Überschriften der Klassen II (ohne Endter 2) und III erzeugen sogar zusätzliche WieSpannung, indem sie anführen, dass Ernst vom Verrat erfahren habe, lassen aber alles Weitere im Dunkeln (vgl. Han 1, fol. Bijv., und L2, S. 11); allerdings ist das Motiv etwas anders gelagert, wodurch der göttlichen Instanz größere Verantwortung zuwächst (vgl. Han 1, fol. [Bvij]v.f., und L2, S. 17). 745 Die Klassen II und III kürzen diese Bezüge im Haupttext stark (vgl. z. B. Han 1, fol. Dvr.f. oder fol. [Dviij]r., und L2, S. 28 f. oder S. 31 f.), wenn auch nicht konsequent (so Han 1, fol. Ciiijr., wie auch L2, S. 21), sodass sich die Diskrepanz von Überschrift und Kapiteltext abschwächt. 746 Die einzige Ausnahme macht Endter 2, woher auch die unterschiedliche Anzahl von Überschriften innerhalb der Klasse II rührt. Es fehlt eine separate Erwähnung des Verrats, was aber nicht allzu sehr ins Gewicht fällt, da die nachfolgende Überschrift analog zu den anderen Redaktionen davon spricht, dass Ernst Heinrich als seinen Verraͤ ther ersteche (Endter 2, fol. B3v.).
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Angriff auf Österreich und die Belagerung Bambergs geschehen (vgl. Sorg 2, fol. 8v.–10r., Han 1, fol. Biiijv.–[Bvj]v., und L2, S. 13–15), also bereits vor dem Mord Kriegshandlungen gegen Ernst vorgenommen werden, ist anhand der Zwischentitel nicht ersichtlich. Gleiches gilt für den Umstand, dass Ernst die Truppen des Pfalzgrafen bereits geschlagen hat und dieser sich nach der Niederlage zu Otto flüchten muss, Ernst also einen Besiegten angreift. Die Zwischentitel kaprizieren ganz auf die Unschuld des Herzogs. Die Klasse I und Cgm 572 entlasten ihn gleich doppelt, da er hier nicht nur falschlich vom Pfalzgrafen verraten ward, sondern auch on alle schuld (Sorg 2, fol. 7r., und Cgm 572, fol. 28r.). Seine Mordtat verübt er an seine[m] verraͤ ter (Sorg 2, fol. 11v., sowie Cgm 572, fol. 32r.), sie ist damit als Reaktion auf erlittenes Unrecht legitimiert. Frevelhafte Details, wie der Umstand, dass Ernst Heinrich enthauptet, und auch sein Zorn und seine „geÿtikeÿt“ (vgl. Sorg 2, fol. 12v.f., das Zitat fol. 12v.; Klasse II und III schwächen im Kapiteltext ab), fehlen auf dieser paratextuellen Dimension ganz. Auf der anderen Seite wird erst durch den Haupttext deutlich, dass der folgende Kriegszug von Otto gegen Regensburg auf reichsrechtlicher Basis erfolgt (vgl. Sorg 2, fol. 13v.) – auch wenn es hernach zu „kriegen . Rauben Prennen“ kommt (Sorg 2, fol. 19v.). Die Verheerungen gehen dabei sowohl von Ottos wie auch von Ernsts Truppen aus. Die Zwischentitel ergreifen jedoch Partei für Ernst und stellen vor allem Heinrich und Otto in ein schlechtes Licht. Insgesamt sind die in den Klassen II und III am Haupttext vorgenommenen Änderungen jedoch so umfassend, dass die anhand von Sorg 2 aufgezeigte Diskrepanz von Überschriften und Kapitelinhalten nahezu eingeebnet wird.747 Quantitativ gesehen besteht der Hauptunterschied innerhalb des ersten Abschnitts in der Gewichtung des Kampfes um Regensburg. Die Klassen I und II, aber auch Singe versehen Ernsts Ritt zum Herzog Heinrich von Sachsen, dessen Bereitstellung von 5.000 Mann,748 Ernsts Empfang in Regensburg und die An-
747 So schwächen sie die Kriegsgräuel ab und beschränken sie auf Ottos Heer (vgl. Han 1, fol. Diijv.–Dvr., und L2, S. 28). Diese Abschwächung ist allerdings rein semantischer Natur, da Otto auch hier alle töten lässt, die ihm Widerstand leisten (vgl. Han 1, fol. Diijv.f., und L2, S. 27). Außerdem sinnt hier Ernst nicht schon vorab auf Heinrichs Tod (vgl. Han 1, fol. Cr.f., und L2, S. 18), die Äußerung, dass er auch Otto töten wolle, stammt nicht wie bei Sorg 2 (vgl. fol. 12v.) vom Erzähler, sondern erfolgt zunächst aus der Perspektive einer namenlosen Figur (vgl. Han 1, fol. Ciijr., und L2, S. 19 f.) und wird dann von Otto wiederholt (vgl. Han 1, fol. [Cvij]r., und L2, S. 23). Von einer Enthauptung des Pfalzgrafen ist weder haupt- noch paratextuell die Rede (vgl. Han 1, fol. Cijv., und L2, S. 19). 748 Klasse II und Singe emotionalisieren den Vorgang, da es grosse erbermbd sei, die Heinrich von Sachsen zur Unterstützung Ernsts führe (Han 1, fol. Cvv.). Den gleichen Effekt zeitigt die Überschrift zur Aufgabe der Regensburger Bürger, da sie ihr Handeln psychologisch einsichtig
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griffsbemühungen des Kaisers nach Ernsts Abschied749 jeweils mit einer eigenen Überschrift (vgl. stellvertretend Sorg 2, fol. 14r.–18r.). Durch die feinere Untergliederung dieser Episode im Vergleich mit anderen fehlen hier in der Summe der Zwischentitel deutlich weniger Informationen des Haupttextes.750 In der Klasse III folgt dagegen auf die Überschrift, die Ernsts Mord am Pfalzgrafen beinhaltet, direkt die Aufgabe der Regensburger Bürger (vgl. L2, S. 18 und S. 26), bei Cgm 572 sogar schon Ernsts Entschluss zur Kreuzfahrt (vgl. fol. 36v.).751 Die Klassen I und II sowie Singe zeigen größtes Interesse an der Eroberung der Stadt und summieren wie auch alle anderen Redaktionen sämtliche Kriegshandlungen unter diese eine Schlacht. Klasse III konstatiert lediglich die militärische Niederlage der Regensburger, während Cgm 572 das Kampfgeschehen völlig ausblendet und somit Ernsts Mord unmittelbar mit seiner Kreuznahme und Fahrt nach Jerusalem zusammenschließt. Auf die Überschrift Wie herczog Ernst dem kaÿser den pfaltzgrauen seinen verräter . an der seiten erstache (fol. 32r.) folgt Wie herczog Ernst das Crütze an sich name . mitsampt Jm . fünftzig . Ritter vnd fuͦ r über mere gen Jerusalem (fol. 36v.). Statt einen Kreuzzug zu unternehmen, zieht Ernst in der Klasse III mit seinen Rittern vom Lande und begibt sich auf eine Reise (L2, S. 29). Der erfolglose Kriegsmann wird zum Reisenden, nicht aber zum christlichen Kreuzfahrer. Ähnlich verfahren die Zwischentitel der Klasse I und lassen Ernst in das ellend [ ]faren (Sorg 2, fol. 19v.). Im Vergleich dazu sticht die Formulierung der Klasse II und bei Singe heraus: das sie mit jhm woͤ lten ein Wahlfahrt thun gen Jerusalem zum heiligen grabe (Han 1, fol. [Diiij]v., für falsch: fol. Ciiijv.). Die weiteren Stationen (Ungarn
macht: Nach den Klassen II und III übergeben die Bürger die Stadt, weil sie sahen/ das der Keiser nit ablassen wolt (Han 1, fol. Dijv., vgl. dazu L2, S. 26). 749 Die Klasse II und Singe führen in der Überschrift Ernsts Auszug aus Regensburg als Auslöser für Ottos Übergang zum Sturm an (vgl. Han 1, fol. Dv.), während die Klasse I dies unerwähnt lässt und nur beschreibt, dass Otto Bäume fällen lässt, um seinen Angriff vorzubereiten (vgl. Sorg 2, fol. 18r.). 750 Es fehlt aber die wichtige und überlieferungsgeschichtlich variante Motivation, die Ernst das sächsische Heer verpflichten lässt. Zur Enttäuschung der Regensburger besteht sie darin, ihnen den Rat zur Aufgabe zu übermitteln (vgl. Sorg 2, fol. 15r.) beziehungsweise in den Klassen II und III seine Kleinodien aus Regensburg fortzuschaffen (vgl. Han 1, fol. Cvv., und L2, S. 22). Dieses einmal positiv, einmal negativ zur Figurenzeichnung beitragende Detail bleibt trotz der zusätzlichen Überschriften unerwähnt. 751 Vollkommen isoliert steht der Zwischentitel Wie die burger von Regennspurg Dem kaÿser die Statt übergaben vnnd einliessen im Cgm 224 (fol. 165v.). Der einzige echte Zwischentitel dieser Redaktion stellt das Reichsgeschehen des Herczog Ernnst von ÿstérreich (fol. 146r.) unter das Zeichen des Machtverlusts, wobei der Held außen vor und Otto ebenso namenlos wie passiv bleibt. Einen eigenständigen Sinn entfaltet der kontingente Abbruch der Einrichtung der Handschrift nicht.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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und Griechenland), die in den Klassen I und II sowie bei Singe eigene Überschriften erhalten (vgl. stellvertretend Sorg 2, fol. 21v. und fol. 23r.), werden in der Klasse III ebenso unter die Reiseankündigung subsummiert wie der Seesturm, der Ernst nach Agrippia bringt, sowie sein erster Besuch der verwaisten Stadt.752
3.3.5.2 Zwischentitel des Abenteuerteils der Orienthandlung Die wenigsten Überschriften, die den zweiten (orientalischen) Handlungsabschnitt untergliedern, verwendet die Handschrift HE F Cgm 572.753 Nach der ersten gelangt Ernst nach Agrippia und muss kämpfen, um wieder aus der Stadt zu kommen (vgl. fol. 39r.). Dann zieht er durch schickung vnd hilf gottes weiter nach Arimaspi (fol. 49v.). Dort besiegt er das Riesenvolk der Cananey und auf einer Insel nicht näher bezeichnete Großvögel (vgl. fol. 52r. und fol. 53v.), ehe [h]ernach uolgt wie herczog Ernst Jnn die ferren Jndia kam vnd daselbst vmb Cristlichen glauben strÿtte (fol. 54v.). Damit ist das Motiv des Kreuzzugs, das die Redaktion Cgm 572 in der letzten Überschrift zum ersten Abschnitt aufruft (vgl. fol. 36v.), wieder aufgegriffen. Genannt werden nur die Stationen Agrippia und Arimaspi sowie die aus der Bibel geläufigen Kanaanäer (vgl. Num 13, vor allem 31–33). Magnetberg und Zyklopen bleiben ohne Erwähnung. Die Zwischentitel vermitteln von Ernsts Fahrt also trotz aller Umwege des Haupttextes das Bild eines gottgeführten Kampfes gegen die Konkurrenten des biblischen Volkes Israel und des Christentums. Die Klasse III hat quantitativ betrachtet nur eine zusätzliche Überschrift, sie setzt jedoch ganz andere Interpretationsschwerpunkte. Agrippia bleibt namenlos, dafür wird die Handlung viel detaillierter beschrieben und entproblematisiert: Die Stadt ist leer und Ernst kann sich daher mit seinen Rittern aus dem königlichen Palast mit Nahrung versorgen, daß sie ein halb Jahr genug hatten (L2, S. 33).754 Der Magnetberg wird hier als das Magnerisch Meer eingeführt, wohin Ernst nicht von Gott geführt, sondern durch ungestuͤ me[ ] Wellen verschlagen und in grosse Noth gebracht wird (S. 40).755 In eine Ochsenhaut eingenäht bringt ihn
752 Sogar die interne Analepse auf die Entführung der indischen Prinzessin durch die Agrippiner ist in der Klasse III noch Teil dieses Kapitels (vgl. L2, S. 31 f.). 753 In Agrippia und am Magnetberg werden zusätzliche Alineazeichen ohne Überschrift verwendet (vgl. Cgm 572, fol. 40v. und fol. 45r.f.). 754 Auch die Drucke der Klassen II und III erwähnen die Versorgung mit Nahrung (vgl. Han 1, fol. Eijv., und L2, S. 33), sie fehlt allerdings bei Everaerts, der auf diese Weise gleichermaßen Irritation und Spannung erzeugt: Wie Herzog Ernst in die Stadt gieng, und niemand darinn war (S. 30). 755 Wenn die entsprechende Überschrift bei Everaerts Ernst und seine Ritter unerwähnt lässt und nur vom Schiff spricht, das ins magnetische Meer getrieben werde (vgl. S. 38), reduziert sich die Präsenz der Helden auf dieser Dimension. Sie sind den Elementen schutzlos ausgeliefert.
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ein Greif in sein Nest (S. 44). Der nächste Zwischentitel setzt seinen Aufenthalt in Arimaspi bereits voraus, wohin die grossen Risen eine Zinsforderung schicken, die unerfüllt bleibe (S. 56). Nach den Riesen trifft Ernst in Indien die kleinen Leut, die stets einen streit haben mit den Kraͤ nchen (S. 59). Rein zufällig begegnet ihm bei einem Strandspaziergang das anlandende Schiff voll Morn (S. 61), das ihn im dritten Handlungsabschnitt vom abenteuerlichen Orient in den Raum der Kreuzzüge bringt. Die biblisch-theologische Sinnebene, mit der im Cgm 572 die Geschichte strukturiert wird, gerät in der Klasse III völlig aus dem Blick, stattdessen bildet die Dimension der Zwischentitel die Handlungsfülle des Haupttextes ab. Ziellos abenteuert Ernst als Spielball des Zufalls von einem Kuriosum zum nächsten. So besucht er Riesen, Zwerge, Greifen, magnetische Wellen und verlassene Städte. Auch die Mohren sind zu diesen curiosa zu zählen, worauf ein Holzschnitt in dem ansonsten mit Illustrationen äußerst sparsamen Druck von Zirngibl hindeutet, der bei dieser Gelegenheit gleich sieben Figuren mit dunkelschraffierter Haut vorstellt. Der sinnstiftende Kontrast von den Überschriften in Klasse III und Cgm 572 könnte nicht größer sein. Die Drucke der Klasse I enthalten alle Kapiteleinschnitte des Sonderfalls Cgm 572, darüber hinaus gibt es hier jedoch zusätzliche Zwischentitel. Außerdem weichen alle gemeinsamen Überschriften bis auf jene, welche die Agrippia-Episode einleitet, stark im Wortlaut voneinander ab. Konstatieren die Zwischentitel im Cgm 572 den Sieg gegen Riesen und Großvögel und zeigen sie diese damit lediglich als Antagonisten auf, die es zu überwinden gilt, um den Zielort für den Glaubenskampf zu erreichen, so verraten die Überschriften bei Sorg 2 größeres Interesse an den Abenteuern und naturkundlichen Details. Es geht hier um die Zinsforderung der Riesen (vgl. fol. 43r.) und um den Umstand, dass in Indien die kleÿnen leẅte[ ] nur zweier elenbogen lang waren (fol. 44v.).756 Ernsts Strandspaziergang, der nach den Überschriften aller Redaktionen außer Cgm 572 den weiteren Fortgang zufällig auslöst (vgl. fol. 46v.), kommt oben beim Vergleich mit der Klasse III zur Sprache. Dass Sorg 2 zuvor bei Ernsts Weg nach Arimaspi die göttliche Führung fortlässt und stattdessen davon spricht, wie Ernst von des wassers fluß und zwar auf dem düllen floß dorthin kommt (fol. 39v.), verrät wiederum Liebe zum erzählerischen Detail. Dies geht aber nicht wie bei der Klasse III in einer gänzlichen Invisibilisierung des
756 Dieses Interesse insbesondere an Details der Erzählhandlung teilen auch die Überschriften der Klasse II. An der besprochenen Stelle wird zwar auf einen Hinweis auf die Kleinheit der Pygmäen verzichtet, dafür aber auf ihren steten Kampf mit den Kranichen verwiesen (vgl. Han 1, fol. [Hvij]r.). Dieses Phänomen umfasst weiterhin diverse Prolepsen (vgl. ebd., fol. Er., fol. [Fvj]v., fol. Gvr. oder fol. Hiiijv.), detailliertere Angaben zum Kampfgeschehen mit den Agrippinern (fol. [Eviij]v.) und Details im Grenzland von Greifennest und Arimaspi (vgl. fol. Giijv.).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Göttlichen auf, denn eben die Wendung von gotes schickung verwendet Sorg 2 – wie auch die Klasse II – bei einer zusätzlichen Überschrift, nach der Ernsts Begleiter einander nach dem Greifenflug wiederfinden. Insgesamt untergliedern die Klassen I und II wie auch Singe sowohl die Agrippia-Episode als auch den Weg nach Arimaspi deutlich stärker als Cgm 572. Wie im Haupttext reiten Ernst und die Ritter nochmals in die verwaiste Stadt und kämpfen mit den Kranichmenschen (vgl. Sorg 2, fol. 25v. und fol. 31r., Han 1, fol. Eijv. und fol. [Eviij]v., und Singe, fol. Diiijr., fol. Dvr. und fol. [Dviij]v.).757 Sie erreichen den Magnetberg, wo die meisten Diener sterben, Ernst und Wetzelo sowie vier weitere Ritter sich aber in Ochsenhäute einnähen lassen, ins Greifennest und wieder heraus gelangen (vgl. Sorg 2, fol. 32r, fol. 33v., fol. 34v. und fol. 35v., Han 1, fol. Fijv., fol. Fiiijv., fol. [Fvj]v. und fol. [Fviij]v., sowie Singe, fol. Eijv., fol. Eiiijr., fol. Evv. und fol. [Evj]v.). Im Wald treffen einander zunächst die vier Begleiter wieder und suchen ihren Herrn;758 schließlich bauen sie gemeinsam ein Floß, das sie nach Arimaspi bringt (vgl. Sorg 2, fol. 36v., fol. 37r., fol. 38v. und fol. 39v., Han 1, fol. Gijv., fol. Giijv., fol. Gvr. und fol. [Gvj]v., sowie Singe, fol. [Eviij]v., fol. Fr., fol. Fijr. und fol. Fiijr.). Es zeigt sich, dass die Hervorhebung der Abenteuer und curiosa nicht erst in den Drucken der Klasse III erfolgt, sondern – und das ist das Überraschende – in Übereinstimmung mit der eingangs besprochenen HE B-Handschrift noch klarer bei diesen älteren Redaktionen hervortritt.759 Allerdings ist hier der Fokus vom Kuriosen im Sinne des naturkundlich Merkwürdigen auf das Abenteuerliche verschoben. Der Orient ist nur mehr Raum und Anlass für die Handlungen des Helden, um die es in den Zwischentiteln dieser Redaktionen eigentlich geht. Die Klasse II und Singe haben auch für die Arimaspi-Abenteuer zwei zusätzliche Zwischentitel, die das Faszinierende einer Begegnung mit dem Fremden interessanterweise für beide Seiten hervorheben. So schickt der Zyklopenkönig nach den Rittern, sobald er erfährt, dass sich in seinem Land kuͤ ne Leut mit zweien augen befänden (Han 1, fol. Hv., und Singe, fol. Fvv.). Hier sind also die Ritter selbst das Kuriosum. Im weiteren Verlauf wird dann auf die Zinsforderung der Panochen und ihre Niederlage gegen Ernst verwiesen, wobei die Klasse II davon spricht, dass Ernst sie töte, während Singe das Verb ‚erlegen‘ bevorzugt (vgl. Han 1, fol. Hiijr., und Singe, fol. [Fvij]r.), was den menschlichen Status der Erdrandbewohner in
757 Singe verwendet insgesamt drei Überschriften auf die beiden Besuche. 758 Übereinstimmend bezeichnen HE Vb Francke (fol. Fiijr.) und Schröter (fol. [Evij]v.) die zu überwindenden Berge auf dieser Dimension als ‚hoch‘, wobei Singe den ‚sorglichen Weg‘ zugleich um sein Epitheton beraubt. Die Hindernisse werden also einerseits im Wortsinn vergrößert, andererseits wird ihrer Überwindung die Schwere genommen. 759 Variiert ist das besondere Orientinteresse nochmals beim HE F Cgm 224, auf den ich unten eingehe.
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Zweifel zieht.760 Umgekehrt verstärkt der entsprechende Zwischentitel bei Francke Ernsts Tat. Denn nur hier habe Ernst die Panochen getoͤ dtet vnd vmbbracht (fol. Gv.). Besonders hervorgehoben sind einzelne Elemente der Orienthandlung durch die nachträglichen ‚Marginalzwischentitel‘ im Cgm 224. Jenen Teil der ErnstGeschichte, der von Agrippia bis zum Aufbruch ins Mohrenland reicht, stellt die Handschrift unter insgesamt zehn solcher Überschriften. Die andere Handschrift Cgm 572 verwendet im entsprechenden Textausschnitt lediglich fünf, ein Klasse I-Druck 14 und der Sonderfall HE Vb Singe sogar 19 Zwischentitel. Es handelt sich bei der nachträglich im Cgm 224 etablierten Dimension insofern rein quantitativ um einen Mittelwert. Im Vergleich mit den eigentlichen Zwischentiteln fallen die marginalen Ergänzungen aber deutlich kürzer aus. Der Fokus liegt weniger auf der Romanhandlung als auf den monströsen Völkern des Orients (die leut [...] mit den krenichköpffen, fol. 171v.; mit ainem aug; fol. 189r.; mit ainem Fuͦ ß, fol. 191r.; mit den lanngen oren, fol. 192r.; die Risen, fol. 193r.; die kleinn Leuten Pigmey, fol. 195v.). Mit Handlung verbunden sind davon allein die Pygmäen; doch gehört mit den Vögeln [zu] streyten (fol. 195v.) zum kanonischen Wissen um dieses Wundervolk, sodass der Zusatz eher als Epitheton denn als Handlungsangabe zu verstehen ist.761 Was jedoch die geographischen und den Greif als tierisches Wunder des Ostens anbetrifft, erwähnen sie die Marginalzwischentitel nur indirekt zur Lokalisierung von Ernsts Aufenthalt (da ernësto zu den mangnents perg kam, fol. 183r.; da ernësto durch den perg fuͦ r, fol. 188r.; do Hertzog Ernst zoch in das verr Jndia Zustreyten, fol. 197v.) oder seiner Bewegungsart (da du greiffen ernësto fuͦ rten, fol. 184r.). Der Heidenkampf ist damit zwar als Fluchtpunkt angedeutet, fraglos wird die Rezeption in dieser Redaktion aber vor allem auf die naturkundlichen Besonderheiten des Orients gelenkt. Zuletzt sei noch auf die große Varianz hingewiesen, welche sich in Bezug auf Ernsts Anlandung am Magnetberg zeigt. Diese wird auf der Überschriftendimension von Cgm 572 völlig übergangen (vgl. fol. 45v.), die Klasse III verweist auf Sturm und Not (vgl. L2, S. 40) und die Klasse I erwähnt die Rede eines schiffmeyster[s], der fordert, Gott um Beistand anzurufen (Sorg 2, fol. 32r.). Dies führen auch die Redaktionen der Klasse II an, jedoch ohne dabei den Magnetberg zu erwähnen. Sie sprechen unspezifisch von grossen sorgen (vgl. Han 1, fol. Fijv.). Singes Überschrift rekurriert ebenfalls auf den Schiffman, verzichtet aber darauf, Gott zu gedenken, und schließt fatalistisch, wie sie nun dem Tode kuͤ mmerlich entrennen wuͤ rden/ vnd wie vbel es jhnen ergieng (fol. Eijv.).
760 Vgl. S. 441–446 im Kap. 3.1.1.10. 761 Zum naturkundlichen Wissen um den ewigen Kampf zwischen Pygmäen und Kranichen vgl. Friedman: The Monstrous Races, S. 18.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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Einige zentrale Aspekte des Haupttextes werden zudem konsequent ausgeblendet. Kein Zwischentitel einer Redaktion erwähnt die Entführung der indischen Prinzessin, ihren von Ernst mitverschuldeten Tod oder die dadurch abgewiesene Alternative einer Regentschaft über Indien (vgl. Sorg 2, fol. 24r.–31v., Han 1, fol. Er.–Fijr., oder L2, S. 33–39), wie sie die Liedfassung HE G realisiert. Auch die Vielzahl der Wunderwesen, denen Ernst begegnet, reduziert sich auf der Dimension der Zwischentitel: Nur die Klasse I nennt Kranichmenschen, nicht jedoch Zyklopen, Sciopoden oder Panochen (vgl. Sorg 2, fol. 31r. und fol. 39v.– 46v.). Die letzten haben nur Drucke der Klasse II, in der sich durch Erwähnung der Zweiäugigkeit von Herzog Ernst und den Seinen indirekt auf das Vorhandensein von Zyklopen schließen lässt (vgl. Han 1, fol. Hv. und fol. Hiijr.). Im Wesentlichen werden nur Riesen und Pygmäen, diese jedoch unspezifisch als ‚kleine Leute‘ in Überschriften hervorgehoben (vgl. Sorg 2, fol. 43r. und fol. 44v., Han 1, fol. Hiiijv.f. und fol. [Hvij]r., oder L2, S. 56 und S. 59). Das vermeintliche Interesse an den Wundern des Orients ist daher zu relativieren.762 Dies gilt im Übrigen auch für den ‚Waisen‘ oder den ‚Unio‘, der auch als ‚Karfunkel‘ firmiert. Der selbstleuchtende Edelstein, den Ernst aus dem Orient ins Kaiserreich mitbringt und den Otto zu einem Bestandteil der Kaiserkrone macht, spielt paratextuell keine Rolle (vgl. Sorg 2, fol. 39v., Han 1, fol. [Gvj]r., und L2, S. 51).
3.3.5.3 Zwischentitel des Kreuzzugsorients und der zweiten Reichshandlung Der dritte Handlungsabschnitt führt die Ritter wieder in bekanntere Gefilde zurück. Dies fällt jedoch abgesehen von den Redaktionen der Klasse II und Singe (vgl. Han 1, fol. Jiijv., und Singe, fol. Gvr.) nicht mit der Grenze eines Kapitels zusammen, da der Abschied aus Arimaspi mit den ersten Abenteuern im Mohrenland (dem heutigen Äthiopien) zusammengezogen ist.763 Die geringste Untergliederung durch Zwischentitel nimmt erneut Cgm 572 vor. Auf die Ankündigung von Ernsts Glaubenskampf in den ferren Jndia (fol. 54v.) folgt als einzige weitere Überschrift Wie herczog Ernste wider Jnn Kaÿser Ottens hulde vnd genade genomen warde (fol.
762 So Heselhaus: Märe und History, S. 225. 763 Die Redaktionen der Klasse I summieren unter der Überschrift von Ernsts Strandspaziergang und der Ankunft des Mohrenschiffes auch noch die gesamte Kampfhandlung und die Gefangennahme des Babylonierkönigs (vgl. Sorg 2, fol. 48r.–52r.). Ernsts erster eigentlicher Kampf als Kreuzritter wird dadurch ausgeblendet und ist durch die Präsentation seiner Wunderwesen ersetzt (vgl. Sorg 2, fol. 52v.). In der Klasse III zählen zum Kapitel der Beratung Ernsts und der Seinen über einen möglichen Abschied aus Arimaspi darüber hinaus die Verwicklungen um eine zu erzwingende Konversion des besiegten Babyloniers und dessen Friedensschwur inklusive der Zusicherung, Ernst nach Jerusalem zu geleiten (vgl. L2, S. 63–72).
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65r.). Wie am Beginn des zweiten Abschnitts Ernsts Mord an seinem Verräter und der Aufbruch nach Jerusalem unmittelbar aufeinander folgen, schließt sich an seinen Kreuzzug fast schon mechanisch die Wiedereinsetzung in die kaiserliche Gnade an. Es handelt sich beim Cgm 572 im Übrigen um die einzige Redaktion, welche die eigentliche Versöhnung zwischen Kaiser und Herzog in einer Überschrift expliziert. Die Klasse I hat als ersten Zwischentitel im dritten Abschnitt die Präsentation der Wunderwesen vor dem babylonischen König. Dass Ernst diesen gerade besiegt und gefangengenommen hat, wird ausgeblendet. Stattdessen sagt die Überschrift, wie die wunder gefangen leüt [...] manigen hübschen schimpff vor dem Babylonier aufführen (Sorg 2, fol. 52r.).764 Auch die weitere Heimfahrt des Helden wird entproblematisiert, obwohl dafür auf das Motiv des Glaubenskampfes völlig verzichtet werden muss. Ernsts einjähriger Aufenthalt in Jerusalem fehlt auf der Dimension der Zwischentitel, obwohl die Klasse I im Vergleich mit anderen Redaktionen im Haupttext die heilsgeschichtliche Komponente von Ernsts Kämpfen weit stärker betont (vgl. Sorg 2, fol. 56v.f.). Wie der König von Babylon zur bloßen Zwischenstation eines heiteren Vergnügens wird, bleibt das Prekäre der Versöhnung von Ernst und Otto außen vor. Dieser habe nach Nürnberg zu einem weihnachtlichen Hoftag geladen,765 just zu der Zeit, als sich die Ritter der Stadt nähern (vgl. Sorg 2, fol. 59r.). Dafür verwendet die Klasse I – wie auch Singe und die Klasse II – gleich vier Zwischentitel auf die der Haupthandlung nachgestellten Episoden zur Wundertätigkeit Adelheids. Dies entspricht der doppelten Anzahl der Zwischentitel, welche von Ernsts Glaubenskampf im Nahen Osten und seiner Rückreise über Bari/Paris und Rom handeln. Dass in den Adelheid-Kapiteln jedoch legendarische Wunder erzählt werden, ist allenfalls aus dem letzten Zwischentitel ersichtlich. Zunächst lässt die Kaiserin ein Münster bauen, isst zum Missfallen ihres Mannes Brosamen und wird in ihrer Liebe von ihm versucht (vgl. Sorg 2, fol. 64v., fol. 65v. und fol. 66r.). In Übereinstimmung mit der Dimension der Illustrationen
764 Dies fällt insbesondere im Vergleich mit den Drucken der Klasse II und Singe auf. Entspricht Han 1 inhaltlich aber bei freier Formulierung der Klasse I (vgl. fol. Kijv.), so bittet der Babylonierkönig bei Schröter und Endter 2 bei der Präsentation um seine Freilassung (vgl. Schröter, fol. Hr., und Endter 2, fol. [F7]v.). Hier wird der eigentliche Zusammenhang also nicht vergessen. Bei Singe sucht ihn Ernst sogar ganz ohne seinen wunderlichen Anhang auf, woraufhin die Überschrift indirekt auf das vom Babylonier-König versprochene Geleit nach Jerusalem respektive das Sicherheitsversprechen an den Mohrenkönig zu sprechen kommt (fol. Hijr.: wie der Koͤ nig [...] mancherley Verheissung that). 765 In der Klasse II und bei Singe entfällt mit dem Hinweis auf den Weihnachtstag zusätzlich noch die heilsgeschichtliche Komponente (vgl. stellvertretend Han 1, fol. [Lviij]v.).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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verlieren die Zwischentitel kein Wort darüber, dass sich das verschnittene Holz auf der Baustelle in Saltza wundersam verlängert oder sich die Brosamen in Weintrauben verwandeln oder ein Sonnenstrahl Adelheid vor Ottos Schlägen schützt.766 Ihre Heilung des Lahmen, die nur der HE F kennt, wird von den Zwischentiteln gänzlich invisibilisiert. Nur die letzte Überschrift macht deutlich, dass sich in Adelheids Kenntnis eines entfernten Kircheneinsturzes das Wirken des Heiligen Geistes offenbart (vgl. Sorg 2, fol. 66v.). Diese ‚Elternnachgeschichte‘ wird von den Redaktionen der Klasse III auf der Dimension der Zwischentitel nicht thematisiert. Nur kurz erwähnt wird hier die Station im Mohrenland, wobei weder der Kampf mit dem König von Babylon noch die Vorstellung der Wunderwesen eine Rolle spielen, sondern allein der gemeinsame Abschied vom Mohrenkönig mit dem Ziel Jerusalem (vgl. L2, S. 72). Der dortige Glaubenskampf bleibt allerdings ausgeblendet, nur der Bericht zweier Pilger an Kaiser Otto findet Erwähnung, nach dem Ernst Jerusalem mit viel wunderliche[n] Leute[n] erreicht habe (L2, S. 76). Daran knüpft der letzte Kapiteltitel dieser Redaktionen an, der angibt, dass Ernst seinen Eltern die Wunderwesen bei der Nacherzählung seiner Wallfahrt präsentiere (L2, S. 86).767 Nicht der Karfunkelstein, den Ernst im Haupttext Otto bei dieser Gelegenheit schenkt (vgl. stellvertretend Sorg 2, fol. 63v.f.), ist nach paratextueller Präsentation das fascinosum, sondern die Wunderwesen. Sie werden aber wie der Kreuzzug selbst nicht näher spezifiziert. Dazwischen verwendet die Klasse III zwei Überschriften auf die Vorbereitung der Versöhnung, doch ohne diesen Begriff zu verwenden. Ernsts Mutter, deren Wundertaten im Folgenden übergangen werden, ist erster Ansprechpartner für ihren Sohn und weist ihm die Modalitäten, welche letztlich zum Happy End führen werden (vgl. L2, S. 80 und S. 83).768 Damit hat Adelheid als handlungsarrangierende Figur ebenfalls eine wichtige Funktion am Romanende, jedoch auf der Ebene der Haupthandlung und nicht losgelöst vom bisherigen Geschehen als wundertätige Heilige.
766 Zu den entsprechenden Holzschnitten vgl. S. 543 im Kap. 3.3.4.3 und zur Stellung des Zwischentitels zwischen Kapitelüberschrift und Bildbeischrift S. 307–309 im Kap. 2.3.3.4. 767 Die Klasse II hat dieselbe Überschrift, Schröter (fol. Kijr.) und Endter 2 (fol. H4v.) ersetzen die Wallfahrt jedoch durch Reiß/Raͤ iß, was den Schwerpunkt auf die Kämpfe im Allgemeinen verschiebt. Dies findet Bestätigung in der Überschrift zum Tode des Sciopoden, wo beide Drucke das naturkundliche Faktum ergänzen, dass diese Wesen nur einen, dafür aber vergrößerten Fuß haben (vgl. Schröter, fol. Jr., bzw. Endter 2, fol. G5v.). 768 HE Vb Trowitzsch kürzt den Zwischentitel der Wiedererkennungsszene. Während die anderen Redaktionen das Aufsuchen der Mutter und den Vorgang, sich zu erkennen zu geben, separieren, erscheint Ernsts Handeln durch Trowitzschs Straffung zielstrebiger (vgl. S. 72), was im Übrigen der Bearbeitungstendenz schon der älteren HE Vb-Drucke gegenüber dem HE F besser entspricht (vgl. dazu S. 417–420 im Kap. 3.1.1.8).
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
In Bezug auf die Wundererzählungen stimmen die Redaktionen der Klasse II und Singe mit den Inkunabeln der Klasse I überein. Jedoch zeichnen sich dabei HE Vb Schröter und Endter 2 dadurch aus, dass sie Ottos Zorn über Adelheid bereits im Zwischentitel zum ‚Weintrauben-Wunder‘ einsichtig machen. Sie verhalte sich nämlich wie ein geitziges Weib (Schröter, fol. Kiiijv., und Endter 2, fol. [H6]v.) und Geiz ist eine Todsünde. Das Ausmaß der Anschuldigungen und die Schamlosigkeit ihrer Ankläger vergrößern aber nur Adelheids Heiligkeit. Das gilt im Übrigen auch für die Klasse II und für Singe, wenn sie in demjenigen Zwischentitel, der die Bewährungsprobe ihrer Liebe ankündigt, explizit machen, wie Otto sie mit Ruten schluge (stellvertretend Han 1, fol. Niiijv.).769 Alle anderen Stationen dieses dritten Handlungsabschnitts (Mohrenland, Jerusalem, Rom und Nürnberg) sind in der Klasse II und bei Singe deutlich stärker untergliedert als bei den oben besprochenen Redaktionen. Hier ist ersichtlich, dass Ernst gegen die Babylonier kämpft, die in das christliche Mohrenland einfallen (vgl. Han 1, fol. Jiiijv. und fol. [Jvj]v.). Die Präsentation seiner Wunderwesen vor dem gefangenen König wird hier von der Glaubenskampf-Thematik gerahmt: Auf die Kampfhandlungen im engeren Sinne folgt der Versuch zur Konversion des Babyloniers (vgl. Han 1, fol. Kiiijr.). Doch statt zum Christentum überzutreten, sichert er künftigen Frieden zu und lässt Ernst bis vor die Tore Jerusalems geleiten (vgl. ebd., fol. Kvv. und fol. [Kvj]v.). Dessen Anwesenheit in der Heiligen Stadt wird hier nicht nur indirekt, sondern mit einer zusätzlichen Überschrift zu seinem Empfang beim König bedacht (vgl. ebd., fol. Lijr., fehlt bei Singe). Der Kreuzzug als eigentliches Movens der Orientreise wird dadurch präsent gehalten. Nur die Redaktionen der Klasse II und Singe enthalten Zwischentitel zum Tod des Sciopoden in Paris, zu Ernsts Rom-Aufenthalt, wobei die Audienz beim Papst unerwähnt bleibt, und zu den Zweifeln, die der Herzog auf dem Weg nach Nürnberg empfindet (vgl. Han 1, fol. Liiijv., fol. Lvv. und fol. [Lvj]v.). Fallen die anderen Klassen durch Entproblematisierung des finalen Aufeinandertreffens von Ernst und Otto (Klasse I) oder durch Betonung der vermittelnden Rolle Adelheids (Klasse III) auf, zeigen die Überschriften der Klasse II – bei Singe fehlen zwei Zwischentitel770 – einerseits ein gesteigertes Problembewusst-
769 Francke nähert die Formulierung von Ottos Erkenntnisinteresse dem Zwischentitel der Klasse I an. Zielt der Kaiser dort darauf ab, zu prüfen, ob sy jn von ganczem herczen lieb hette (Sorg 2, fol. 66r.), und fällt in der Klasse II ansonsten das Adjektiv weg, ergänzt Francke den Wortlaut wieder im ursprünglichen Sinne: ob sie jhn von grund jhres Hertzen lieb hette (fol. Liiijr.). 770 Dies betrifft die Instruktion Ernsts durch Adelheid und die Präsentation der Wunderwesen bei der Nacherzählung der Orienterlebnisse. Auch der Zwischentitel zu Ernsts Fußfall weicht von der Klasse II ab: Insbesondere wird vorweggenommen, dass Ernst Gnade erlanget (Singe, fol. [Jvij]v.).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
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sein771 und bauen andererseits Adelheids Anteil an der Konfliktlösung nochmals aus. So erfahren wir, dass Ernst Otto gegenüber die Untreue des Pfalzgrafen beklage (vgl. Han 1, fol. [Mvij]r.), und auch direkt, wie Adelheid ihren Sohn instruiert, dem Kaiser zu Füßen zu fallen (vgl. Han 1, fol. Mijv.).
3.3.5.4 Kurzzusammenfassung und Fehlen eines Kapitulariums Dies alles macht deutlich, dass es beim Einsatz der zusätzlichen Zwischentitel in der Klasse II und bei Singe nicht darum geht, die Kreuzzugsthematik in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr bilden diese Redaktionen auf der paratextuellen Dimension des Zwischentitels den gesamten Inhalt des Haupttextes genauer ab. Beide zeigen großes Interesse auch an den Kriegshandlungen im Reich – Singe darüber hinaus an der Otto-Figur – und differenzieren die einzelnen Stationen von Ernsts Reise aus. Reich wie Orient sind hier Räume, in denen sich die Erzählhandlung entfaltet. Adelheid interessiert denn auch als Handlungsträgerin unabhängig vom Status ihrer Heiligkeit. In Folge der genaueren Entsprechung von Zwischentiteln und Kapitelinhalten erhöht sich zwar das relative Gewicht der Kreuzzugsthematik im Vergleich zu den Klassen I und III, jedoch ist dies aufgrund der nicht-funktionalen Detailfülle im Vergleich mit einer stärker zielgerichteten Redaktion wie Cgm 572 einzuschränken. Die weltlichen Verwicklungen, aber auch Adelheids Wunder spielen für die Zwischentitel des Cgm 572 keine Rolle: Auf den Mord folgt der Kreuzzug, den Ernst unter Gottes Führung erfolgreich vollbringt und dadurch Gnade von Otto erlangt. Die Wunderwesen, die in den Klassen I und III von Wichtigkeit sind, interessieren in den Zwischentiteln der Handschrift in keiner Weise. Die späte Klasse III macht die heilige Adelheid zur Strippenzieherin der Versöhnung ihres Sohnes mit ihrem Mann. Die Wiegendrucke (Klasse I) entproblematisieren die zweite Reichshandlung. Interessanterweise stimmen die Überschriften aller Redaktionen aber darin überein, dass Ernst unschuldig sei, sowie in dem Umstand, dass sowohl der Unio als auch die Episode um die indische Prinzessin vollständig ausgeblendet werden. Werden Zwischentitel separat gelistet und referenziert, so ist ein diskontinuierlicher Zugriff auf die einzelnen Kapitel eines Werkes erleichtert. Ohne Angabe von Blatt- oder Seitenverweisen fungiert eine solche Zusammenstellung nur als zusammenfassende und dadurch sinnstiftende Inhaltsangabe eines Romans. Anders als
771 Jedoch fehlt auch hier wie in jeder Redaktion ein Hinweis auf das dramatische Detail, dass sich Wetzelo während des Weihnachtsgottesdienstes verborgen hält, um Otto für den Fall einer Festsetzung Ernsts zu töten (vgl. stellvertretend Sorg 2, fol. 61r.). Dieses Detail hat jedoch weitreichende Bedeutung für alle Interpretationsansätze, die auf einem vermeintlichen Wandel der Persönlichkeit des Helden beruhen.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
der Erstdruck des Fortunatus, weist aber keine der untersuchten HE F/Vb-Redaktionen ein ursprünglich konzipiertes Kapitularium auf.772 Zu relativieren ist diese Feststellung jedoch für die Sammeldrucke von Anton Sorg. Während dem HE F Sorg 3 ein gedruckter Titel vorangestellt ist, der nur eingeschränkt als funktionales Äquivalent zu einem Inhaltsverzeichnis angesehen werden kann,773 findet sich im vorderen Buchdeckel des Münchener HE F Sorg 2-Exemplars eine handschriftliche Eintragung. Genannt werden nicht nur die Protagonisten der enthaltenen Werke (Ernst, der Schiltperger und St. Brandan), sondern auch „Machemet mit seinem glauben“ als ein inhaltliches Detail aus Schiltpergers Reisebuch, das auf fol. 103v. handschriftlich aufgegriffen ist. Vermerkt ist ferner, dass die beiden auf Herzog Ernst folgenden Werke „bey dem ersten Zöpffen“ beziehungsweise „bey dem andern Zöpffen“ aufzufinden seien.774 Hiermit sind sicher keine ‚Bücher‘ oder ‚Kapitel‘ der Drucksammlung gemeint, da ansonsten die Nummerierung fehlerhaft wäre. Es muss sich um Papierstreifen oder Bändchen handeln, welche die drei Werke voneinander trennten, die jedoch nicht mehr nachzuweisen sind. Damit liegt ein handschriftliches Inhaltsverzeichnis im Korpus vor, das jedoch unabhängig von den Zwischenüberschriften der Romane ist. Einem Kapitularium näher kommt nur das Register des Konrad Hager. Es befindet sich als Beibund im Tübinger Exemplar von Erhart Gross’ Doctrinale für die Laien (Straßburg: Knoblochtzer um 1477/80), das zu Hagers Zeit mit einem unvollständigen Exemplar von HE F Knoblochtzer verbunden gewesen ist.775 Es verzeichnet kürzend die Titelformulierung und ausschließlich die ersten drei Zwischentitel inklusive der Ermordung Heinrichs (vgl. fol. Ir.). Sinnstiftend ist das Register jedoch insofern, als ohne Hervorhebung der erste Eintrag für das zweite Buch des Verbunds anschließt: „Daß ie capitel ist gott sein gepott zw halten“ (ebd.). Die Zusammenstellung liest sich damit als moralische Verurteilung der Sünden sowohl des verleumderischen Pfalzgrafen als auch des mordenden Herzogs.
772 Zum Inhaltsverzeichnis des Fortunatus von 1509 vgl. S. 42–48 im Kap. 1.1.5. 773 Vgl. S. 495f. im Kap. 3.3.1.1. 774 Mein Dank für die Bestätigung meiner Entzifferung gilt Thomas Kreutzer (Hohenlohe-Zentralarchiv). 775 Das Exemplar von HE F Knoblochtzer hat die Sign. Dk XI 11.2, das Gross-Exemplar die Sign. Gb 598.2 in der UB Tübingen. Beschreibungen bietet Gerd Brinkhus: Die Bücherstiftung Konrad Hagers für die Universität Tübingen im Jahre 1539. Eine Studie zum ältesten erhaltenen Bestand der Tübinger Universitätsbibliothek. In: Bibliothek und Wissenschaft 14 (1980), S. 1–109, hier: S. 35 (Nr. 103) und S. 38 (Nr. 118).
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
561
3.3.5.5 Kolumnentitel Prinzipiell können die Funktionen von Kolumnentiteln denjenigen von Zwischentiteln ähneln. Im Unterschied zur Kapitelüberschrift hängt beim Kolumnentitel der jeweilige Referenztext aber stark vom äußerlich zufälligen Seitenumbruch ab. Dies ist allerdings nur bei ‚lebenden‘ Kolumnentiteln der Fall.776 In der HE FÜberlieferung fehlen Kolumnentitel allerdings völlig. Denn Konrad Hagers handschriftliche Zusätze an den Seitenrändern des oben genannten Exemplars von HE F Knoblochtzer kompensieren allein die fehlende Foliierung des Drucks, einen Bezug zum Inhalt haben sie nicht.777 Abb. 44: Kolumnentitel im HE F/Vb-Komplex. Klasse I
alle HE F-Redaktionen
ohne Kolumnentitel
Klasse II
HE Vb Han 1, von der Heyden, Francke, Singe, Schröter, Endter 2
links: Ein schoͤ ne History/ rechts: Von Hertzog Ernst.
HE Vb L2, Fleischhauer, Zirngibl, P1, Everaerts, Trowitzsch
ohne Kolumnentitel
HE Vb M2
links und rechts: Herzog Ernst.
Klasse III
Beim ‚toten‘ Kolumnentitel besteht zwar kein Bezug zum Inhalt der jeweiligen Seite, wohl aber zum Werkganzen. Denn hier bleiben die Formulierungen über die Redaktion hinweg konstant, wobei sich dieselben auf linke und rechte Seiten verteilen können. So überschreiben in den älteren HE Vb-Drucken der Klasse II linke und rechte Kolumnentitel den gesamten Roman mit der Titelformulierung Ein schoͤ ne History/ Von Hertzog Ernst. Die graphische Varianz ist dabei zu vernachlässigen. Paratextuell sind damit Reichs- und Orienthandlung unter dem gemeinsamen Signum der Ernst-Geschichte miteinander verklammert. Auch die abschließenden Wundererzählungen von der heiligen Adelheid werden so stärker mit der Haupthandlung verbunden, obwohl der Protagonist im HE Vb in diesem Teil des Romans nur oberflächlich präsent gehalten ist und die typologischen Bezüge der HE F-Redaktionen entfallen sind.778
776 Vgl. dazu Genette: Paratexte, S. 301 f. 777 Vgl. die Beschreibung im Inkunabelkatalog deutscher Bibliotheken INKA, online unter: http://www.inka.uni-tuebingen.de/?inka=17001403, letzter Zugriff am 11. September 2015. 778 Vgl. S. 437–439 im Kap. 3.1.1.10 und S. 472f. im Kap. 3.2.1.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
Als einziger Druck der späten Klasse III enthält der HE Vb M2 den Kolumnentitel Herzog Ernst. Dies ist gerade deshalb besonders bemerkenswert, weil dieser Druck darüber hinaus einen Anhang mit nützlichen Sprichwörtern enthält, der trotz seiner Separierung als ‚Anhang‘ mit dem einheitlichen Kolumnentitel versehen ist. Für diese eine positiv-endgültige Redaktion des Romans ist damit die Einheit von der narrativ entfalteten Handlung und den anschließend aufgelisteten Redensarten paratextuell hergestellt. Ein Bezug der Sprichwörter auf die Romanhandlung ist hier somit als angemessene Rezeption nahegelegt.779
3.3.6 Mitüberlieferung Es wäre der Gegenstand einer eigenen Arbeit, alle Werke, die während des Überlieferungszeitraums Symbiosen mit einer der Redaktionen des HE F/Vb-Komplexes eingehen, jeweils auf ihren sinnstiftenden Beitrag hin zu untersuchen. Da es sich um ein Phänomen auf Exemplarebene handelt,780 ist mit einem facettenreichen Ergebnis zu rechnen.781 Wie Peritexte können mitüberlieferte Werke potentiell die Rezeption lenken. Sie stehen dabei expliziten intertextuellen Verweisen nahe.782 Allerdings werden bei der Mitüberlieferung die entsprechenden Texte für eine unmittelbare Anschlussrezeption direkt bereitgestellt.
779 Zum Beygefuͤ gte[n] Anhang nuͤ tzlicher Redensarten u. Spruͤ ch-Woͤ rter (S. 85) vgl. S. 255–260 im Kap. 2.3.1.2. 780 Eine Ausnahme ist die Verlegersynthese Anton Sorgs. Oben weise ich darauf hin, dass Sorg seinen HE F zusammen mit Brandans Meerfahrt und Johann Schiltpergers Reisebuch vertreibt (vgl. S. 330 in der Einleitung zu Teil 3 und S. 495f. im Kap. 3.3.1.1). Aus diesem Grund haben sich gleich mehrere Sammelbände in dieser Zusammenstellung erhalten. Das Exemplar der Staatsbibliothek Bamberg (Sign. Inc. typ. E.IV.20) wird noch vor 1505 spätgotisch gebunden. Denn die ausführende Bamberger Werkstatt ist nur zwischen 1472 und 1505 tätig (schriftliche Auskunft von Stefan Knoch, Direktion der SB Bamberg). Es enthält neben den genannten Texten Ludolphus’ Suchensis Buch von dem Weg zum heiligen Grab. Interessant für die narrative Sinnstiftung des Herzog Ernst sind die Verbindung von Heidenkampf und ethnologisch-historischen Beschreibungen im Reisebuch, die Überblendung von eigener Lebenswelt und Heilsgeschichte bei Ludolphus sowie die Modifikation bekannter Episoden im Brandan. 781 Die Vorarbeiten von Flood: The Survival, Bd. 1, sind in diesem Punkt unvollständig. So partizipiert der Band der ULB Tirol Innsbruck, Sign. 203.660, nicht nur an der Überlieferung eines, sondern von vier weiteren Werken (vgl. S. 208). Der Verbund der SBB-PK Berlin mit der Signatur Yt 3761 ist nach kriegsbedingter Verlagerung inzwischen wieder zugänglich. 782 Vgl. S. 311f. im Kap. 2.3.3.4. – Zur handschriftlichen Mitüberlieferung der Melusine vgl. S. 113–115 im Kap. 2.1.1.1) und zum Buch der Liebe S. 162 im Kap. 2.1.3 sowie S. 218–220 im Kap. 2.2.2.3). Zu Gustav Schwabs ‚Volksbuch‘-Sammlung mit Melusine, Fortunatus und Herzog Ernst vgl. S. 312f. im Kap. 2.3.3.4.
3.3 Die paratextuellen Dimensionen des Herzog Ernst
563
Beispielsweise ist es sinnstiftend, wenn Pfalzgraf Heinrich im HE F Cgm 224 über das Register zum beigebundenen Lucidarius als ein Diener Gottes lesbar wird, der die Funktion erfüllt, Ernst auf den rechten Weg zu führen (vgl. E 1450/ 1500, S. 60–62).783 Die von Ernst und Adelheid erlittenen Drangsale erscheinen in neuem Licht, sobald man berücksichtigt, dass nach dem Lucidarius Not die guten Christen davor schützt, dem Weltlichen zu verfallen (vgl. E 1450/1500, S. 52), und dass gerade Selige und Erwählte weltliches Unglück erdulden müssen (vgl. E 1450/1500, S. 54 und S. 57 f.). Adelheids Fürbitte für den verleumderischen Pfalzgrafen gewinnt ihrerseits an Gewicht, wenn man sie zusammen mit den Ausführungen über das Fegefeuer und das dortige Leid der Seelen (vgl. E 1450/ 1500, S. 94 f.) oder mit Bezug auf das Jüngste Gericht (vgl. E 1450/1500, S. 112) liest. Auch in Bezug auf Adelheids Wunderwirken lädt hier die Mitüberlieferung zu weiterführender Betrachtung ein (vgl. E 1450/1500, S. 119 und S. 131–136). Umgekehrt lässt eine Verbindung mit Teufelsbündner-Erzählungen Heinrichs Verleumdung als einen scheiternden Teufelspakt erscheinen. So enthält etwa der Band 12314.g.28 der British Library in London neben dem HE Vb N eine späte Redaktion des Wagnerbuchs. Der HE Vb P4 ist im Innsbrucker Sammelband 203.660 (Universitäts- und Landesbibliothek Tirol) unter anderem mit Des Weltberuffenen Herzogs von Luxenbourg [...] Verbündniß mit dem Satan überliefert. Historien wie diese belegen gemäß der Argumentation der Herzog von Luxenbourg-Vorrede, dass es Pakte zwischen Menschen und Teufeln gebe, zu denen man durch Neid oder Rachsucht verleitet werden könne (vgl. fol. A2r.). Gott lasse dabei das Böse geschehen und strafe erst hernach mit ganzer Gerechtigkeit (vgl. fol. A3r.). Dies stimmt gut mit den HE Vb-Redaktionen überein, in denen Heinrich, wie oben gezeigt, teuflische Züge gewinnt.784 Es muss aber beachtet werden, dass es sich bei den mitüberlieferten Texten ebenfalls um eigenständige, variante Redaktionen handelt. Die jeweilige Spezialforschung müsste daher nicht nur berücksichtigt, sondern auf etwaige Abweichungen hin modifiziert werden. Für die Einordnung in eine Literaturgeschichte als Überlieferungsgeschichte wäre außerdem für jedes Exemplar der Verbundzeitpunkt festzustellen. Anschlussstudien sind in Planung und werden separat veröffentlicht.
783 Die nachfolgenden Stellennachweise beziehen sich auf die Edition der Handschrift im Cgm 224: Elucidarium [2., oberdt. Übers., Cgm 224]. In: Die oberdeutsche Elucidarium-Rezeption im 15. Jahrhundert. Untersuchungen und Texte. Hg. von Monika Oswald-Brandt. Diss. masch. Eichstätt 1987, S. 1–146. – Zu diesem Codex vgl. Karin Schneider: Cgm 224, S. 85. 784 Vgl. S. 352 im Kap. 3.1.1.1.
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
3.4 Die überlieferungsgerechte Interpretation des Herzog Ernst Der Prosaroman Herzog Ernst ist ab der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts handschriftlich und gedruckt überliefert (Redaktionen des HE F). Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert wird er als grundlegend aktualisierte ‚Frankfurter Prosafassung‘ mit zahlreichen zweit- und mehrfachverwendeten Holzschnitten tradiert (frühe HE Vb-Redaktionen). Mein Untersuchungskorpus umfasst ferner späte HE Vb-Drucke des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts.785 Bei einer derart zeitlich langen wie räumlich weiten Überlieferung ist der Leser mit Phänomenen des Lautwandels und des dialektalen Ausgleichs konfrontiert.786 Dass es sich dabei wie bei der Ersetzung des mediterranen Barus durch Paris im HE Vb (vgl. Han 1, fol. Lvr.f.) oder der Metaphorisierung des ‚sirtischen‘ Meeres in Nordafrika zum ‚irdischen‘ Meer in den HE F-Drucken (vgl. Knoblochtzer, fol. [26]v. u. ö.) um lexikalische Missverständnisse handelt, ändert nichts an einem möglichen Beitrag der Varianten zur Sinnstiftung des Romans. Weiterhin sind im Laufe der Jahrhunderte technische Aktualisierungen gerade im Kriegswesen zu beobachten.787 Anhand des Herzog Ernst zeige ich oben, dass vormodernes Romanerzählen ‚dimensional‘ erfolgt: ‚dimensional‘ in Raum und Zeit. Die Prosaromane sind aus textgeschichtlich variablen ‚Dimensionen‘ zusammengesetzt, die jeweils eigene ‚Perspektiven‘ auf das Erzählte eröffnen und an seinem ‚Sinn‘ partizipieren. Die Werke sind daher multiperspektivisch und dynamisch. Sie lassen sich als wiedererzählte Traditionsliteratur nicht von ihrer jeweils überlieferten Form trennen. Möchte die Literaturwissenschaft nicht jeglicher literaturgeschichtlichen Fundierung entbehren, darf sie nicht bestrebt sein, die Eingriffe von Überlieferungsbeteiligten auszumerzen. Paratexte sind Teil des Werkes und nicht ‚Beiwerk‘. Die Folge eines textgeschichtlich aufgeklärten Literaturverständnisses ist, dass Interpretationen offen sein müssen für ‚dimensionale Mehrdeutigkeit‘. Diese einhegen zu wollen, hieße die Vielfalt der uns überlieferten Literatur zu verknappen und wäre nicht ‚überlieferungsgerecht‘. Es wird oben deutlich, dass es dabei keine Rolle
785 Vgl. die Einleitung zu Teil 3, S. 322–342. 786 Ab dem siebzehnten Jahrhundert wird ‚frumb‘ so nicht mehr als ‚tüchtig‘ verstanden und durch ‚fromm‘ ersetzt (vgl. HE Vb Singe, fol. [Aviij]v.). Schon die HE F-Drucke ersetzen den bayerischen Ausdruck ‚swammen‘ durch ‚Samen‘ (vgl. Knoblochtzer, fol. [30]v.). 787 Z. B. „Schießkrachen“ statt ‚Spießkrachen‘ bei HE Vb P1, S. 62, und Everaerts, S. 61. – Besonders variabel sind Zahlenangaben von Kämpfern, Opfern oder von Zeitdauern. Hinweise, dass diese zahlensymbolisch zu verstehen seien, gibt es im Korpus nicht, weswegen ich auf eine entsprechende Ausdeutung verzichte. Anders verhält es sich mit der Deutbarkeit von Ernsts Figurenreden nach der Bedeutungskonstitution durch den mehrfachen Schriftsinn (vgl. das Kap. 3.1.2.4).
3.4 Die überlieferungsgerechte Interpretation des Herzog Ernst
565
spielt, aus welcher Intention heraus textgeschichtliche Varianten entstanden sind. Inhaltliche, ästhetische, ökonomische Gründe oder bloßer Zufall formen unsere Untersuchungsgegenstände gleichermaßen. Das vorliegende Kapitel fasst einige zentrale Aspekte der vorstehenden Analysen nochmals zusammen. ‚Überlieferungsgerechtigkeit‘ im strengen Sinn beanspruchen nur die Analysen selbst, nicht aber die nachfolgende Kurzfassung. Vorherrschendes Merkmal der globalen Architektur ist die Verknüpfung von Reichs- und Orienthandlung. Durch die Kombination heterogener und doch aufeinander bezogener Räume wird die Ernst-Geschichte polyfunktional, worin ein Aktualisierungspotential begründet liegt, das sich in der Fassungs- wie in den jeweiligen Redaktionsgeschichten historisch untersuchen lässt. Das Verleumdungs- und Versöhnungsgeschehen ist mit dem Schema der Kreuz- und Abenteuerfahrt verflochten. Dabei sollte sich der Interpret bewusst halten, dass weder das Reich vor der Verleumdung beziehungsweise der Versöhnung mit dem Reich nach diesen Ereignissen gleichzusetzen ist, noch ‚der‘ Orient einen einheitlichen Handlungsraum vorstellt. Traditionsliteratur zeichnet sich durch Offenheit zur inhaltlichen Bearbeitung aus. Das hat Auswirkungen auf den Figuren- und Episodenbestand und deren jeweiligen Stellenwert. Führt der HE C als direkte Vorlage des HE F gegenüber dem HE B mit Heinrich von Sachsen eine neue Figur ein (vgl. S. 250 bei Ehlen), kommt im HE Vb mit dem obersten Statthalter als Boten des zyklopischen Stadtgrafen eine weitere hinzu (vgl. Han 1, fol. [Gvij]r.). Hat Ernsts Aufenthalt im Vatikan im HE F bedeutsamen Anteil an der Vergebung seiner Sünden (vgl. Cgm 572, fol. 64v.), wird die Episode im HE Vb zur abgewiesenen Alternative (vgl. Han 1, fol. [Lvj]r.), um bei Zirngibl nur noch als Durchgangsstation bei der „Reise nach Deutschland“ zu erscheinen (S. 75). Hinzu kommt, dass Prosaromane wie Herzog Ernst dimensional erzählen, was man als historisch variables, intermedial-repetitives Erzählen verstehen könnte. Ereignisse werden als Erzählerbericht und in der Rückschau aus Figurenperspektive erzählt, in ein Bild umgesetzt und metatextuell in Buch- und Zwischentitelformulierungen verdichtet. Immer wieder kommt es dadurch zu neuen Perspektivierungen.788 Erst die späte HE Vb-Redaktion von Zirngibl lässt die finale Rekapitulation durch Ernst mit dem Hinweis aus, dass „unsere geneigte[n] Leser“ bereits Kenntnis davon erlangt hätten (S. 83).
788 Ich spreche von ‚Perspektivenimitation‘, wenn dabei etwa eine Figur aus dem Blickwinkel einer anderen Dimension spricht. So entsteht in der Arimaspi-Handlung das Bild eines verzagten Zyklopenkönigs, wenn nicht der Erzähler als Kontextglosse, sondern die Figur ‚marginales‘ Wissen aus der Naturkunde formuliert und dieses im Anschluss Ernst dazu befähigt, den vermeintlich übermächtigen Gegner zu besiegen (vgl. Cgm 572, fol. 51v.).
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
In HE C und HE F ist die alte Ernst-Geschichte mit Augsburger Lokalkolorit aktualisiert.789 Dabei zeichnet sich der Druck Sorg 3 durch besondere UlrichFrömmigkeit aus, wenn der Heilige hier zusätzlich „lieb herr“ genannt wird (fol. aiijv.). Ich weise oben darauf hin, dass das Interesse für die lokale Geschichte im Zusammenhang mit dem städtischen Humanismus oder dem Einfluss der Melker Reform stehen könnte.790 Die Verbindung von lateinischem HE C und frühneuhochdeutschem HE F in einem gemeinsamen Codex (Cgm 572) stimmt gut mit dem Grundsatz der Klosterreform als Bildungsreform überein, was sich in der Förderung der privaten lectio und der Einführung in den modus recte scribendi äußert.791 Die an der Ernst-Figur gezeigte Frömmigkeit ließe sich vor dem Hintergrund der benediktinischen Grundsätze „Armut, Keuschheit und Gehorsam“ lesen, die Liebespredigt des Bischofs von Bamberg (Cgm 572, fol. 67r.f.) könnte mit dem studium divini amoris zusammengesehen werden und das gemeinsame Gebet der Ritter bei der gefährlichen Floßfahrt (vgl. fol. 49v.) lädt ebenfalls zu einer gemeinsamen Lektüre mit Texten der benediktinischen beziehungsweise Melker Spiritualität ein.792 Im Laufe der Überlieferung gehen aber sowohl das Bewusstsein für die lokalgeschichtliche Bedeutung der Ernst-Geschichte als auch die hervorstechende Bedeutung des theologischen Gehalts verloren.793 Für die Redaktionen des HE F ist typologisches Denken zentral. Mit einem ‚typologischen Ausrufungszeichen‘ sind die auf die Haupthandlung folgenden Adelheid-Mirakel auf die Geschichte des Helden bezogen. Diese wird zu einem „zaichen“ neben den anderen Wundertaten der heiligen Kaiserin (HE F Cgm 572, fol. 70r.). Strukturell verdeutlicht dies Cgm 572, indem das Versöhnungswunder der zweiten Reichshandlung ein gemeinsames Kapitel mit den Adelheid-Mirakeln bildet (vgl. fol. 65r.–71v.). Ihr Wunderwirken ist bei Knoblochtzer sogar auf die Rezeptionsgegenwart des Lesers verlängert (vgl. fol. [55]v.). Die reflexive Überhöhung der Romanhandlung ermöglicht eine neue Sicht der Ernst-Geschichte, was den Mirakeln die Funktion eines ‚integrierten Nachworts‘ verleiht. Dass die HE F-Drucke die Ernst-Geschichte aus ihrem „dominanten hagiographischen Rahmen“ lösen und zu einem abenteuerlichen Reiseroman umformen, wie Uta
789 Vgl. Flood: Geschichtsbewußtsein, S. 143 f. 790 Vgl. S. 325f. in der Einleitung zu Teil 3. 791 Vgl. das gleichnamige Kap. bei Schreiner: Auslegung der Regel, S. 108–144, hier vor allem S. 128–139. Vgl. dazu ferner Christine Glaßner: Stift Melk und die Melker Reform im 15. Jahrhundert. In: Die benediktinische Klosterreform im 15. Jahrhundert. Hg. von Franz Xaver Bischof, Martin Thurner. Berlin 2013 (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie 56), S. 75–91, hier: S. 76–80. 792 Das Zitat Schreiner: Auslegung der Regel, S. 107; vgl. dazu auch ebd., S. 141 und S. 152. 793 Vgl. Flood: Geschichtsbewußtsein, S. 145.
3.4 Die überlieferungsgerechte Interpretation des Herzog Ernst
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Goerlitz anhand von Zwischentiteln zeigen möchte, lässt sich bei Berücksichtigung weiterer Dimensionen der Sinnstiftung nicht halten.794 So biegen die Holzschnitte der Inkunabeln die zweite Reichshandlung gerade ins Hagiographische um. Weder der Plan noch die Durchführung der Versöhnung sind zu sehen, wohl aber die eigentliche Wundertätigkeit Adelheids. In Übereinstimmung mit dem Haupttext wird die Ernst-Geschichte zu einem Wunder unter vielen. Und auch die Mitüberlieferung der Sorg-Drucke (das Reisebuch des Johann Schiltperger und die Reisefassung von Brandans Meerfahrt) weist nur auf den ersten Blick in dieselbe Richtung. Die eigentlichen Reiseattraktionen – Rom, Jerusalem und die Wunder des Orients – gewinnen in keiner Redaktion eindrückliche Kontur. Die erwähnten Deutungen sind in der Darstellung des Spektrums historisch manifester Sinngehalte als jeweils begrenzte Perspektive auf die Ernst-Geschichte zu erkennen. In allen Redaktionen ist das erzählte Diesseits ein Gottes Willen unterworfenes „ellend“ (Cgm 572, fol. 25r.). Während es in den HE Vb-Redaktionen vor allem um Verlust und Wiedererlangen der Handlungsmächtigkeit des Helden geht, muss Ernst im HE F sein Gottvertrauen beweisen. Als „ander fürstlich Judas Machabeus“ (Cgm 572, fol. 30r.) ist er ein beispielhafter Kriegsmann, der nicht nur todesmutig, listenreich und im Vertrauen auf Gott für das eigene Land kämpft.795 Als monstra machen die von ihm aus dem Orient mitgebrachten Wunderwesen neben der Leistungs- auch seine Leidensfähigkeit evident. Die Fähigkeit, gut zu regieren, die Bereitschaft, Ratschläge anderer anzunehmen und der Vorsehung bedingungslos gehorsam zu sein, ergänzen das hier etablierte Idealbild. Erzählt der Roman Ernsts Irrfahrt als Reihung göttlich gewirkter Problemlösungen (vgl. Cgm 572, fol. 47r. und fol. 49r.), stellt er sie ex post als Geschichte der eigenen Passion dar (vgl. ebd., fol. 50v.f.). Nur im HE F wird die Trübsal im sirtischen/irdischen Meer als Beitrag zur diesseitigen Tilgung der eigenen Sündhaftigkeit reflektiert (vgl. fol. 45v.f.) und strukturell lässt sich zeigen, dass im Cgm 572 das einstweilige Scheitern des Kreuzzugsplanes notwendig ist, wenn das fünfte Kapitel der Handschrift gerade vom Entschluss zur Fahrt bis zum Beginn der Irrfahrt reicht (vgl. fol. 36v.–39r.). Otto und mehr noch Heinrich, der als „der Ander Achitouel“ (Cgm 572, fol. 28v.) taktisch klug agiert, von Gott jedoch zu Fall gebracht wird (vgl. fol. 31v.), geraten durch die biblischen Verweise des Erzählers zu Feinden Gottes und der Mord am Pfalzgrafen wird auf dieser Dimension zum notwendigen Schritt einer Befreiung Jerusalems. Die göttliche Intervention bei der Verleumdung führt Ernst 794 Goerlitz: Heidenkampf, S. 101 f. – Eine ähnliche Schlussfolgerung zieht Meves: Studien zu HE, S. 208–215, angesichts von Titelformulierungen der HE Vb-Redaktionen. 795 Bereits in den HE F-Drucken ist der biblische Vergleich allerdings entstellt (vgl. Sorg 2, fol. 9v.).
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3 Die deutsche Herzog Ernst-Prosa
auf einen dreiteiligen Weg der Sünde, Buße und Vergebung. Die Zwischentitel von Cgm 572 verdeutlichen die stringente Handlungsführung: Auf den Mord folgt der Kreuzzug, den Ernst unter Gottes Führung vollbringt und dadurch Gnade von Otto erlangt. Nur in den HE F-Redaktionen hegt er schon lange den Plan, den Pfalzgrafen zu töten, und trachtet zudem in Otto nach dem Leben des Stief- und Landesvaters (vgl. Cgm 572, fol. 32v.) und nur hier erkennt er vor dem Aufbruch ins Heilige Land die eigene Sündhaftigkeit (vgl. fol. 36v.f.), wobei die Kapitelüberschriften im HE F seinen Mord legitimierend als Reaktion auf erlittenes Unrecht deuten.796 Wenn Ernst im HE F später gegenüber dem Papst auf seine Geschichte zurückblickt, schließt er gegen den ordo naturalis mit einer Klage über die Vertreibung aus seinen rechtmäßigen Erblanden (vgl. fol. 64v.). Die Orientfahrt gerät in dieser Rückschau zu einem Generator der Fallhöhe, die seine Vertreibung umso verurteilenswürdiger macht. Als Stellvertreter Gottes auf Erden vergibt der Papst Ernst seine Sünden797 und letztlich versöhnt sich auch Otto mit dem heimgekehrten Stiefsohn. Mit der Übergabe des Unio geht ein Schein des ewigen Lichtes, von dem der Erzähler in der Orienthandlung berichtet, auf das Kaiserreich über (vgl. fol. 49v. und fol. 69r.). Gleichzeitig etabliert die Äquivalenzrelation zwischen Erlangung und Weitergabe des Steins Gott als Garanten auch des weltlichen Herrschaftssystems. Am Ende der zweiten Reichshandlung entsteht durch das Zusammenspiel von Ernst- und Erzähler-Dimension ein ritterliches Idealbild der Furchtlosigkeit in konventionellen Kämpfen und des Gottvertrauens in exzeptionellen Momenten (vgl. fol. 66v.). In gerechtfertigten Fällen fordert es Unbarmherzigkeit wie bei der Ermordung des Pfalzgrafen. Erst vor dem Hintergrund des Wunderwirkens der heiligen Adelheid ist Ernsts Weg im HE F als ein defizitärer zu erkennen. Ihre Josefsehe mit Otto überbietet den kreuzritterlichen Weg des Sohnes, der schuldig werden muss, um – wie die Mutter – durch göttliches Eingreifen zum Ziel geführt zu werden.798 Nur der HE F zeichnet die junge Witwe als Weltkind von schwacher Natur (vgl. Cgm 572, fol.
796 Auf der Bilddimension kommt es im Vergleich verschiedener HE Vb-Redaktionen zu sinnstiftenden Differenzen, je nachdem ob der Leser zum Augenzeugen des Mordgeschehens gemacht wird. Endter 2 zeigt die Ankunft am Kaiserhof (fol. B4r.), Schröter Ernst und Wetzelo im Gespräch mit Otto und Heinrich (fol. Bvv.), bei Francke holt Ernst mit dem Schwert aus (fol. [Bvj]v.), Singe illustriert, wie er dem flüchtenden Pfalzgrafen nachsetzt (fol. [Bvij]r.), und von der Heyden, wie Ernst Heinrich hinterrücks ersticht (fol. Biijr.), Han 1 stellt schließlich nach dem Fortunatus die Entsorgung der Leiche in einem Brunnen dar (fol. Cr.). 797 Angesichts des Bildprogramms der HE F-Drucke, die nur Heinrichs Ermordung, nicht aber die Kriegsgräuel illustrieren, stellt sich dabei die Frage, wofür Ernst mit seinem Kreuzzug eigentlich büßt? 798 Auch noch der späte Illustrationszyklus von HE Vb Zirngibl zeigt Gewalt als einen Irrweg auf und plädiert für eine friedliche Konfliktbewältigung.
3.4 Die überlieferungsgerechte Interpretation des Herzog Ernst
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25v.), dem es nach der paulinischen Ehelehre unabhängig von politischen Erwägungen geboten ist, wieder zu heiraten.799 Indem sie dann aber gleichzeitig eine Ehe eingeht und ihre Keuschheit bewahrt, lebt sie einen dritten Weg, der die biblische Lehre modifiziert.800 Dass bloße Tugendhaftigkeit, wie sie die Exposition für Ernst und Otto vorstellt (vgl. fol. 25r.–26v.), ohne Nächsten- und Feindesliebe fruchtlos bleibt,801 verdeutlicht im Übrigen die Predigt des Bischofs von Bamberg (vgl. fol. 67r.f.). Nur auf der Basis des Doppelgebots der Liebe kann Frieden auf Dauer gestellt werden. Otto dagegen provoziert durch die Erhöhung des Stiefsohnes, von der er sich Sicherheit für das Reich verspricht (vgl. fol. 27v.f.), Heinrichs Neid und Verleumdung.802 Nachdem Otto nicht nur eine rechtliche Bearbeitung des Konflikts, sondern auch eine direkte Vergebung etwaiger Schuld im Sinne der Feindesliebe zurückweist (vgl. fol. 30v.f.), wird Adelheid zu einem instrumentum Dei, dem Gott den Namen des Verleumders offenbart (vgl. fol. 31v.). Dies löst dann die weitere Handlungskette der Ernst-Geschichte aus. Trotz der protestantischen Grundhaltung behalten die HE Vb-Redaktionen die Mirakelerzählungen der heiligen Adelheid bis auf ihre Heilung des Lahmen bei. Sie werden aber erzählerisch in das Romangeschehen eingepasst803 und demonstrieren nun die Grenze menschlicher Handlungsmächtigkeit: Weder Otto (im Mantelwunder) noch Adelheid (beim zweiten Auditionswunder) kommen gegen den göttlichen Willen an (vgl. Han 1, fol. Niiijr.–[Nvj]v.). Auf der Dimension der Illustrationen sind die Adelheid-Episoden in den frühen HE Vb-Drucken besonders prominent, in Übereinstimmung mit dem Haupttext wird ihr höfisches Eheleben, nicht aber ihre Wundertätigkeit dargestellt (vgl. ebd., fol. Nijv.–[Nvj]r.). Die Drucke
799 Im HE Vb sind die Anfechtungen der Welt durch die Anträge verschiedener Adliger genauso veräußerlicht (vgl. Han 1, fol. Aiijv.) wie Adelheids Glaube, der in bloßer Werkgerechtigkeit die paulinische Witwe nur imitiert (vgl. ebd., fol. Aiijr.f.). Dieser Eindruck verschärft sich bei den Redaktionen HE Vb P1, S. 4, Everaerts, S. 4, und Trowitzsch, S. 3. 800 Zur Figur eines ‚dritten Weges‘ vgl. den Tod der indischen Prinzessin, die weder Braut des Kranichschnäblers noch gerettet wird, was schematisch zur Ehe mit Ernst führen würde. Sie stirbt als Jungfrau (Cgm 572, fol. 43v.). 801 Diese These lässt sich strukturell mit einem Blick auf die Kapiteleinteilung des Anfangs stützen. In allen HE F-Redaktionen (und allen HE Vb-Drucken außer Singe) erweist sie sich als klar strukturierte Exposition, bei der ein Problem etabliert und scheinbar gelöst wird, das Scheitern dieser Lösung jedoch das Ausgangsproblem verschärft. 802 Da im HE Vb die Erhöhung fehlt, gerät Heinrich zur Teufelsfigur, die Frieden nicht leidet und Chaos stiften will (vgl. Han 1, fol. Bijr.). 803 Sind ‚tote‘ Kolumnentitel vorhanden, stellen sie die gesamte Reichs- und Orienthandlung inklusive der Adelheid-Wunder unter das Signum der Ernst-Geschichte. Bei HE Vb M2 gilt dies zusätzlich für den Sprichwörteranhang.
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ab L2 invisibilisieren die ‚Elternnachgeschichte‘ dann im Wortsinn. Durch den Wegfall des Balken-Wunders liegt bei Trowitzsch der Fokus ganz auf der problematischen Ehe des Kaiserpaars, deren Frieden nur durch Gott bewahrt werden kann (vgl. S. 79 f.). Nach einhelliger Forschungsmeinung liege mit dem HE Vb eine lose, emotionale Abenteuerfolge mit Fokus auf den Kuriosa vor, wobei John L. Flood die Kürzungstendenz der Bearbeitung als durchaus geschickt herausstellt.804 Der Redaktor sei bestrebt, Ernst als unschuldig Verfolgten und Pfalzgraf Heinrich dagegen als den einzigen Missetäter zu zeichnen.805 Meines Erachtens ist für die Redaktionen des HE Vb vor allem zentral, wie Ernst und die Seinen als Helden ihre Handlungsmächtigkeit einbüßen und wiedererlangen. Die ganze Ohnmacht des Herzogs am Ende der ersten Reichshandlung drückt Zirngibl aus, wenn Otto nicht länger „zu mechtig“ ist (Han 1, fol. Dr.), sondern Ernst „zu schwach“ (Zirngibl, S. 25). Im HE Vb geht Ernst nicht in göttlichem Auftrag auf Wallfahrt, sondern er flieht vor dem Kaiser (vgl. Han 1, fol. Dvv.–[Dvj]v.). Nur im HE Vb wird angesichts des Magnetbergs die Unmöglichkeit der Umkehr als abgewiesene Alternative thematisiert (vgl. fol. Fiijv.). Nur hier gibt es in anderen Wracks weitere Schiffbrüchige, denen Ernst genauso wenig helfen kann wie seinen Rittern oder sich selbst (vgl. fol. Fvr.). Das Ausmaß des Ausgeliefertseins an die Greifen ist gegenüber dem HE F noch verstärkt. Doch zeichnen ihr Pragmatismus und ihre Handlungskompetenz die Ritter während der Orienthandlung aus (vgl. fol. [Gviij]v.–Hv.): Ernst kann Wetzelos Rettungsplan erfolgreich ergänzen, durch Naturbeobachtung und den Wechsel der Perspektive finden die Ritter im Wilden Wald einander wieder und wenn es Not tut, kommt als ultima ratio der göttliche Beistand wie von selbst hinzu. Betont er im HE F seine Opferrolle (vgl. Cgm 572, fol. 50v.), so kann sich Ernst trotz seiner Vertreibung gegenüber dem zyklopischen Stadtgrafen als Sohn eines mächtigen Herrschers auf christlicher Mission präsentieren (Han 1, fol. [Gviij]v.). Der schwache Zyklopenkönig erweist sich als Gelegenheit, Ernsts Fähigkeiten als Feldherr und Stratege herauszustellen (vgl. u. a. Han 1, fol. Hiijv.f., und die Verschärfung bei Schröter, fol. [Fvj]r., Endter 2, fol. [E6]r., und Zirngibl, S. 55). Im Mohrenland erklärt er eigenmächtig Krieg (vgl. Han 1, fol. Jv.) und Fleischhauer übersteigert dieses Motiv sogar noch, wenn Ernst auch in Babylon dem Herrscher befehlen kann, ein Heer für ihn aufzustellen (vgl. S. 75). Nicht länger ist der Hauptgegenstand des Schwurs des Babyloniers die Friedensgarantie für das Mohrenland,
804 Vgl. Flood: Einleitung, S. 58–62. 805 Vgl. ebd., S. 60.
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sondern die Zusicherung sicheren Geleits für Ernst nach Jerusalem (vgl. Han 1, fol. [Kvj]r.). Dass er es im protestantischen HE Vb nicht vermag, den Papst für seine Dienste einzuspannen, da dieser ablehnt, für ihn zu Otto zu reisen, weil er „nicht in einigkeit mit dem Keiser“ stehe (Han 1, fol. [Lvj]r.), demonstriert nicht Ernsts, sondern des Papstes beschränkte Machtfülle (vgl. auch fol. [Lvij]v.). Vom Ende her zeigt sich, dass Ernst als christlicher Vorbildritter den Beistand des katholischen Kirchenoberhaupts gar nicht benötigt. Insbesondere die Kapiteleinteilung der späten Drucke erhöht die Durchlässigkeit der Reichsgrenze zudem strukturell, wenn die Nachricht der Pilger von Ernsts Aufenthalt in Jerusalem gleichsam den Boden für seine Rückkehr vorbereitet, die hier in einem einzigen Kapitel bis zum Vorsatz erzählt ist, Adelheid in der Kirche zu sprechen (vgl. P1, S. 71–75). Sein späterer Reisebericht gegenüber Otto gerät denn auch zu einer Erzählung des Triumphs, die in der Übergabe des Unio gipfelt (Han 1, fol. Nijr.). Letzte Reste erzählter Beschwerlichkeit tilgen die späten HE Vb-Redaktionen (vgl. stellvertretend P1, S. 82). Das Titelbild dieser Drucke zeigt Ernst denn auch als prototypischen Helden, der in seiner gloria und maiestas jede Bewährungsprobe zu bestehen vermag. Der eigentliche Heidenkampf kann dabei ausgespart bleiben. Die Geschichte würde nur verlängert, da es nur darum geht, dass die Ritter erfolgreich die Welt durchfahren und dem Kaiser etwas Seltenes mitgebracht haben. Wenn die Handlung im HE Vb entproblematisiert erscheint, ist dies die Folge der erweiterten Handlungsmächtigkeit des Herzogs. Er plant seine Rückkehr ins Kaiserreich genau (vgl. Han 1, fol. [Lvij]v.f.), modifiziert Adelheids Versöhnungslist eigenmächtig (vgl. fol. Miijr. und fol. Mvr.) und gerät in Nürnberg beim weihnachtlichen Gottesdienst nicht in dem selben Maß in Gefahr, wie dies im HE F der Fall ist (vgl. Cgm 572, fol. 67v.–68v., und Han 1, fol. [Mvj]v.). Von der Heyden lässt auf der Bilddimension die Versöhnungsszene ganz aus, sodass Ernst nach Nürnberg zurückkehrt, begrüßt, empfangen und gefeiert wird. – Unterwerfen muss er sich nicht (vgl. fol. G4v.–[Gviij]v.).806 Ebenso harmonisiert das Titelbild von Han 1 Abschied und gnadenvolle Wiederaufnahme. Die Zwietracht zwischen den Protagonisten wird auf der Dimension der Titelformulierung als wunderbarlicher vnfall verharmlost. Nur Endter 2 ersetzt ‚Unfall‘ durch wunderbarliche Untreu. Aus dem nicht-intentionalen Geschehen wird ein bewusster Akt, der die entscheiden-
806 Wenn bei Francke durch fehlende Absatzstrukturierung der Eindruck eines harmonischen Ablaufs der Versöhnung strukturell entsteht (vgl. fol. Kvv.–[Kvij]r.), gilt dies nur für diese eine Redaktion. Singe unterbricht den Erzählfluss dagegen mehrfach typographisch. Die Absatzstruktur spiegelt die Hektik der Handlung wieder (vgl. fol. [Jvij]r.–[Jviij]v.). Erst als Otto nachgibt, schlägt die Handlung in Freude um und die Gestaltung erfolgt ruhiger.
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de Instanz des vormodernen Personenverbandsstaates unterminiert. Doch hält der Titel offen, wer wem untreu sei. Überkommene Rechtsinstitute wie Fehde oder Ächtung verlieren im HE Vb an Verbindlichkeit. In den Redaktionen ab L2 fehlt das Aufheben des Herzogs nach seinem finalen Fußfall als äußeres Versöhnungszeichen (vgl. L2, S. 85). Andererseits hebt Schröter durch Absatzgestaltung nicht etwa die listige Täuschung des Kaisers, sondern gerade den Friedenskuss als Zeichen der rituellen Norm strukturell hervor (vgl. fol. [Jviij]v.). In noch gesteigertem Maß gilt dies für die Redaktion von Endter 2 (vgl. fol. H2v.). Insgesamt entfällt im HE Vb die Betonung der Rechtmäßigkeit von Ernsts Erbe. Allerdings baut die Bearbeitung trotz der allgemeinen Kürzungstendenz vorhandene Ratsszenen aus und fügt neue hinzu. Dadurch werden sowohl das höfische Kommunikationssystem als auch die Praxis bürgerlicher Entscheidungsfindung ausdifferenziert. Die zusätzlichen Beratungen motivieren die Handlung und schmälern den Raum für göttliche Intervention. Nur in den Redaktionen des HE Vb fällt Ernst im Übrigen zweimal Otto zu Füßen. Dass sich dabei Wetzelo am Weihnachtstag mit blankem Schwert in der Kirche verborgen hält, um den Kaiser im Falle des Misserfolgs zu töten (vgl. Han 1, fol. Mvv.), lässt Zweifel daran aufkommen, ob die erste Stelle, als Otto Ernst in höchsten Ehren empfängt (vgl. fol. Br.), haupttextuell als Zeichen der Unterwürfigkeit aufgeht. Eingedenk der strukturellen Äquivalenzrelation der beiden Textstellen zeigt sich, dass es schon hier nicht um den Reichsgedanken ritterlicher triuwe gehen muss. Die Handlungsmächtigkeit des Helden schließt einfach Unterwerfung als Option ein, wenn es die äußeren Umstände erfordern. Bedenkt man dies, kann das Nebeneinander aus christlich-moralischen Tugendlehren und machiavellistischen Handlungsmaximen im Sprichwörteranhang einiger später HE Vb-Redaktionen nicht überraschen. Im Innsbrucker Sammelband (Sign. 203.660) ist dessen Bedeutung für ein HE Vb P4-Exemplar sogar noch ausgeweitet, wenn auch der ebenfalls enthaltene Finkenritter über eine beträchtliche Sammlung sinnreicher Scherzreden verfügt. Während die Kapitelüberschriften der Nürnberger Handschrift des HE B diesen zu einem Abenteuerroman mit orientalischen Schauplätzen machen, gilt Entsprechendes beim HE F/Vb-Komplex nur für die ‚Marginalzwischentitel‘ des Cgm 224. Lediglich der ‚HE G‘-Titel von HE Vb Schröter verrät ein erhöhtes Interesse an den Kuriosa des Orients, der hier als Wunderwelt erscheint, in die sich der Held durch die Hilfe seiner Mutter rettet. Er entkommt aus einem Kaiserreich, das die Titelformulierung mit Bezug auf die Handlung des HE G als Reich der Falschheit, des Giftes und der Ungnade zeichnet.807 Die quantitative Analyse der
807 Vgl. S. 499–501 im Kap. 3.3.1.1.
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Illustrationsfrequenz zeigt, dass gerade bei den späten Drucken die Reichshandlung stärker bebildert ist als Ernsts Orientfahrt. Ernst kann sich leicht als Herzog ins arimaspische Königtum einfügen, da die Zeichnung des Orients zudem als ‚heterotope Projektionsfläche‘ oder als ‚Reflexionsraum‘ Elemente der westlichen Gesellschaft einschließt.808 Gerade auf der Bilddimension des HE Vb wirkt der Orient mit seiner feudalen Gesellschaft überraschend vertraut. Das seit der Antike oftmals ausspekulierte Sinnstiftungspotential der Erdrandbewohner wird nicht aktualisiert.809 Die Wunderwesen besitzen keine allegorische Sinnqualität per se, stattdessen gibt es sowohl strukturelle als auch Bezüge auf Handlungsebene zu den Reichsteilen des Romans. Auch hier sind die Prüfung des Gottvertrauens und der Wiedergewinn von Handlungsmächtigkeit die beherrschenden Themen. Wenn im Cgm 572 das Anlanden in Agrippia, die Not im sirtischen Meer, die Greifenflüge sowie die Durchquerung von Wildem Wald und Tiefem Tal bis zum Fund des Unio und der Ankunft in Arimaspi in einem gemeinsamen Kapitel erzählt sind (vgl. fol. 39v.–49v.), ist dieser erste Teil der Orienthandlung strukturell als Einheit markiert. Gott führt die Ritter in Versuchung und belohnt letztlich ihr Vertrauen. Was sich dazwischen ereignet, ist strukturell von geringer Bedeutung. Dass der Kampf mit den Riesen dagegen ein eigenes Kapitel umfasst (vgl. fol. 52r.–53v.), lässt sich mit ihrer Herkunft aus Kanaan erklären. Den Feinden des biblischen Israels gebührt angesichts der Wichtigkeit typologischen Denkens für den HE F eine Sonderstellung.810 Weiterhin nutzt Ernst den Kampf für die Pygmäen zu einer Demonstration der Macht des Christengottes (vgl. fol. 53v.). Zurückgekehrt machen die monströsen Wesen Ernsts Abenteuer und damit mittelbar sein unbedingtes Gottvertrauen beziehungsweise seine wiedergewonnene Handlungsmächtigkeit sichtbar und integrieren gemeinsam mit der Erzählung seiner
808 Zu den Begriffen vgl. Mareike Klein: Farben der Herrschaft, S. 233–235, S. 241, S. 268 und S. 293 f.; Stock: Kombinationssinn, Kapiteltitel für S. 189–217. 809 Vgl. dazu Münkler/Röcke: Völker des Erdrands. 810 Unabhängig vom Reichsgeschehen thematisieren alle Redaktionen im Orient die Unmöglichkeit gewaltsamer Bekehrung von ‚Heiden‘. Gemeinsamer Kern ist die Überzeugung, dass die Wahl der ‚richtigen‘ Religion dem eigenen Willen obliege und nicht von Außenstehenden erzwungen werden kann. Nur der HE F thematisiert dabei die vermittelnde Rolle der „hailigen predige“ (Cgm 572, fol. 59r.). Doch vermag sie nur jene Menschen zu erreichen, „die gott hett vßerwelt durch sein göttliche fürsichtikait zü dem Ewigen leben“. Der Versuch gewaltsamer Bekehrung ist damit im HE F ein Akt gegen den göttlichen Willen. Diese Konsequenz fehlt in den HE Vb-Redaktionen, wo Ernst insoweit für ‚Toleranz‘ gegenüber Andersgläubigen wirbt, als diese in ihrem ‚Irrglauben‘ belassen werden sollen. Schließlich strafe Gott diese am Jüngsten Tag selbst (vgl. Han 1, fol. Kiijv.). HE Vb L2 thematisiert die Unmöglichkeit gewaltsamer Bekehrung sogar vice versa, wenn Ernst fragt: „Wie wolt ihr einander darzu zwingen“ (S. 70)?
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Taten Ernsts Ritterlichkeit in Ottos Reich (vgl. Cgm 572, fol. 69v., und Han 1, fol. Nr.–Nijr.). Im HE Vb zieht sich die kaiserliche Familie nach dem Weihnachtsgottesdienst zum Mittagessen zurück (vgl. Han 1, fol. [Mvj]v.). In den späten Drucken wundern sich die Umstehenden über die neuerliche Eintracht (vgl. stellvertretend L2, S. 85). Nur bei Zirngibl steckt das wiedererlangte Glück auch das Volk an (vgl. S. 83). Gerade diese späte Redaktion aus dem neunzehnten Jahrhundert bringt die Episode also ganz traditionell mit der Wiederherstellung höfischer Freude zum Ende.
4 Literaturverzeichnis 4.1 Handschriften, historische Drucke und Editionen Fortunatus Historische Drucke Fortunatus. Ampedo. Andolosia. Augsburg: [Johann Otmar] 1509 [München, BSB, Rar 480]. Fortunatus/ Von seinem Seckel/ vnnd Wuͤ ntschhuͤ tlin. Jetzundt von newem/ mit schoͤ nen luͤ stigen Figuren zu gericht. Sehr kurtzweilig/ vnd nuͤ tzlich zu Lesen. Frankfurt a. M.: Herman Gülfferich 1549 [München, UB, W. 8 P.germ. 42]. Fortunatus. Von seinem Seckel/ vnnd Wündschhütlin/ Jetzundt von neuwem mit schönen lustigen Figuren zugericht/ Sehr kurtzweilig zu lesen. Frankfurt a. M.: Thomas Rebart und Kilian Han 1570 [Berlin, SBB-PK, 1 an: Yu 827]. Fortunatus. Von seinem Seckel/ vnnd Wünschhuͤ tlein/ Yetzundter von neüwem mit schoͤ nen lustigen Figuren zuͦ gericht/ Sehr kurtzweylig zu lesen. Augsburg: Michael Manger 1590 [Coburg, LB, Cas A 791]. Fortunatus. Von seinem Seckel unnd Wünschhuͤ tlein. Yetzundter von neüwen mit schoͤ nen lustigen Figuren zuͦ gericht. Sehr kurtzweylig zu lesen: Augsburg: David Francke 1609 [München, BSB, Res P.o.germ. 381]. Fortunatus. Ein schoͤ n kurtzweiliges Buch/ von seinem Seckel und Wuͤ nschhuͤ tlein/ wie er dasselbige bekommen/ und wie es ihm ergangen. Jetzt wiederum von neuem mit schoͤ nen Figuren gezieret/ sehr lustig und kurtzweilig zu lesen. Nürnberg: Johann Friedrich und Michael Endter 1677 [Berlin, SBB-PK, Yu 1626/R]. Fortunatus mit seinem Seckel und Wuͤ nsch-Huͤ tlein, Wie er dasselbe bekommen, und ihm damit ergangen/ in einer uͤ beraus lustigen Lebens-Beschreibung vorgestellet. Mit schoͤ nen Figuren gezieret. [Nürnberg (?): o.Dr. um 1680] [Wolfenbüttel, HAB, Lo 1479.1]. Der Fortunatus/ Von Seinem Seckel vnd Wuͤ nschhuͤ tlein/ Leben vnd Wandel/ Gluͤ ck vnd Vngluͤ ck/ Jetzunder von Neuem Mit vielen schoͤ nen vnd lustigen Figuren zugericht vnd vermehret. Sehr anmuͤ htig vnd kurtzweilig zu lesen. Basel: [o.Dr.] 1699 [Berlin, SBB-PK, Yu 1630 R]. Fortunatus mit seinem Seckel und Wunschhuͤ tlein. Eine alte Geschichte fuͤ r neue Zeiten. Mit einer Vor- und Nachrede, und jedem Theile angehaͤ ngten wichtigen Anmerkungen. Erster Theil. Frankfurt, Leipzig [= Wien: Johann David Hoͤ rling] 1787 [Bayreuth, UB, 19/GF 6516 F74.787–1 [= Mikrofilm nach London, BL, 1074.d.31]]. Fortunatus mit seinem Seckel und Wünsch-Hütlein. Wie er dasselbe bekommen, und ihm damit ergangen in einer überaus lustigen Lebens-Beschreibung vorgestellet. Mit schönen Figuren gezieret. [O.O.: o.Dr. Ende 18. Jh.] [Berlin, SBB-PK, Yu 1656/10 R]. Schönhuth, Ottmar F[riedrich] H[einrich]: Fortunatus mit seinem Seckel und Wünschhütlein. Eine gar wundersame und anmuthige Historie. Mit schönen Figuren. Auf’s Neu erzählt für Jung und Alt. Reutlingen: Fleischhauer und Spohn 1849 [München, BSB, P.o. germ. 1333 by]. Eine uͤ beraus lustige Lebensbeschreibung von Fortunatus Wuͤ nschhuͤ tlein, mit dem Seckel, der nie vom Gelde leer geworden ist. Frankfurt [a. M.], Leipzig [um 1850] [München, UB, W 8 P. germ. 13653].
DOI 10.1515/9783110517156-005
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4 Literaturverzeichnis
Editionen Fortunatus. Nach dem Augsburger Druck v. 1509. Hg. von Hans Günther. Halle a.d.S. 1914 (Neudrucke dt. Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jh.s 240/241). Fortunatus. Von Fortunato und seynem Seckel auch Wünschhütlein. Mit einem Vorw. v. Renate Noll-Wiemann. Hildesheim, New York 1974 (Dt. Volksbücher in Faksimiledrucken A,4). Fortunatus. Studienausg. nach der Editio Princeps v. 1509. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1996. Fortunatus. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 383–585. Fortunatus. Die Bearb. und Umschrift eines spätmittelalterlichen dt. Prosaromans für jüdisches Publikum. Hg. von John A. Howard. Würzburg 1991 (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie 11).
Herzog Ernst F/Vb Handschriften [HE F Add. 22622:] Hie nach volget ain hübsche liepliche historÿ ains edlen fürsten Hertzog Ernsts von baÿrn vnd von Österreich [Hs. Bayern 1470] [London, BL, Add. 22622, fol. 81r.–125r.]. [HE F Cgm 224:] Hie hebt sich an Herczog Ernnst von ÿsterreich [Hs. Bayern, 2. Hälfte 15. Jh.] [München, BSB, Cgm 224, 146r.–227v.]. [HE F Cgm 572:] Hie nach uolget Aine hüpsche liepliche historÿ · eins Edeln Fürsten Herczog Ernsts von Bairn vnd uon Österrich [Hs. Schwaben, 3. Viertel 15. Jh.] [München, BSB, Cgm 572, 25r.–71v.].
Historische Drucke [HE F Sorg 1:] Hienach volgt ain hüpsche liepliche historie ains edeln fürsten herczog Ernst von bairen vnd von oͤ sterich [Augsburg: Anton Sorg 1475/76] [Bamberg, SB, Inc. typ. E.IV.20]. [HE F Knoblochtzer:] Hie nach volget ein hüpsche liebliche hystorie eins edlen fürsten hertzog Ernst von beyern vnd von österich [Straßburg: Heinrich Knoblochtzer um 1477] [München, BSB, 2° Inc.s.a. 667b]. [HE F Knoblochtzer (Tübingen):] Hie nach volget ein hüpsche liebliche hystorie eins edlen fürsten hertzog Ernst von beyern vnd von österich [Straßburg: Knoblochtzer um 1477] [Tübingen, UB, Dk XI 11.2, mit dem Register in: Gb 598.2]. [HE F Sorg 2:] Hienach volget ein hübsche liebliche Historie eines edlen fürsten Herczog Ernst von Bairen vnd von oͤ sterreych [Augsburg: Anton Sorg 1477/80] [München, BSB, 2° Inc.s.a. 667, 2r.–67v.] [zusammen mit: Hÿe vahet an der Schildtberger der vil wunders erfaren hat in der heydenschafft vnd in der Türckeÿ. [Augsburg: Anton Sorg um 1477/80]. Hÿe hebt sich an sant Brandons buͦ ch was er wunders erfaren hat. [Augsburg: Anton Sorg um 1477/ 80]]. [HE F Sorg 3:] Hienach volget ein húbsche liebliche historie eines edlen fúrsten herczog Ernst von Bairen vnd von oͤ sterreich [Augsburg: Anton Sorg 1479/86] [München, BSB, 2° Inc. s.a. 666, 2r.–45v.].
4.1 Handschriften, historische Drucke und Editionen
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[HE Vb Han 1:] Ein gar lustige History von Hertzog Ernst/ in Bayern vnd Oesterreich/ wie er durch wunderbarlichen vnfall sich inn gefehrliche Rheisen begab/ darauß er mit etlich wenig seines Volcks wider erlediget/ vnnd gnad vonn Keiser Otten erlangt/ der jhm nach dem Leben gestalt hatt/ gar kurtzweilig zu lesen. Frankfurt a. M.: Weigand Han [1556/61] [Berlin, SBB-PK, Yu 314 R]. [HE Vb Francke:] Eine lustige History/ Von Hertzog Ernsten/ in Beyern vnd Oesterreich/ wie er durch wunderbarlichen Vnfall sich in gefaͤ hrliche Reisen begabe/ darauß er mit etlich wenig seines Volcks erlediget/ vnd Gnad von Keyser Otten erlanget/ der jhm nach dem Leben gestellet hatte/ kurtzweilig zu lesen. Magdeburg: [Wilhelm Ross (?) für] Johann Francke [um 1600] [München, BSB, 1 an Res./Bavar. 1257]. [HE Vb Schröter:] Hertzog Ernst/ Eines Fürsten Sohn auß Bayern/ Wie er faͤ lschlich angeben ward/ derhalb er in des Keysers Vngnad kam/ jhm aber durch hilff seiner Mutter entgieng/ vnnd was jhm fuͤ r Abenthewr mit dem geschnaͤ belten Koͤ nig/ Riesen vnd Zwergen/ zu handen gangen sey. Alles sehr lustig vnnd kurtzweilig zu lesen vnd singen/ Jn der weiß wie Herr Ecken Außfahrt. Basel: Johann Schröter 1610 [Basel, UB, Wack. 159]. [HE Vb Singe:] [o.T.] Erfurt: Jakob Singe 1611 [Wolfenbüttel, HAB, Lo 1287.1]. [HE Vb von der Heyden:] Ein gantz lustige Histori/ VOn Hertzog Ernst/ in Beyern vnd Oesterreich/ Wie er durch wunderbarlichen Vnfall sich in gefaͤ hrliche Rheysen begab/ darauß er mit etlich wenig seines Volcks wider erlediget/ vnd Gnad von Keyser Otten erlangt/ der jhm nach dem Leben gestelt hat/ gar kurtzweilig zu lesen. Straßburg: Marx von der Heyden 1621 [Berlin, SBB-PK, 4 an Yf 7868 R]. [HE Vb Endter 2] Eine ganz lustige History/ Von Hertzog Ernst/ in Baͤ yern und Oesterreich/ wie er durch wunderbarliche Untreu sich in gefaͤ hrliche Raisen begab/ daraus er mit etlich wenig seines Volcks wieder erlediget/ und Gnad von Kaͤ iser Otten erlangt/ der ihm nach dem Leben gestellet hatte/ gar kurtzweilig zu lesen [Nürnberg: Martin Endter um 1700] [Nürnberg, GN, 8° L. 1813v]. [HE Vb L2:] Eine Lesens-wuͤ rdige Historie von Herzog Ernst in Bayern und Oesterreich, Wie er durch wunderliche Unfaͤ lle sich auf gefaͤ hrliche Reisen begeben, Jedoch endlich vom Kayser Otto, der ihm nach dem Leben gestanden, wiederum begnadet worden [o.O.: o.Dr. o.J.] [Halle, UB, Dd 2037 P/5]. [HE Vb M2:] Eine Lesenswuͤ rdige Historia, vom Hertzog Ernst/ in Bayern und Oesterreich, Wie er durch wunderliche Unfaͤ ll sich auf gefaͤ hrliche Reise begeben, Jedoch endlich vom Kayser Otto, der ihm nach dem Leben gestanden, wiederum begnadet worden. Zuvor niemals also gedruckt [o.O.: o.Dr. o.J.] [München, BSB, 8° Bavar. 4069(44]. [HE Vb P1:] Eine lesenswuͤ rdige Historie vom Herzog Ernst, in Bayern und Oesterreich, wie er durch wunderliche Zufaͤ lle sich auf gefährliche Reisen begeben, jedoch endlich vom Kaiser Otto, der ihme nach dem Leben gestanden, wiederum begnadet worden. Ganz neu gedruckt [o.O.: o.Dr. o.J.] [Ulm, SB, BB 946g]. [HE Vb Trowitzsch:] Eine Lesenswuͤ rdige Historia, vom Herzog Ernst, in Baiern und Oesterreich, Wie er durch wunderliche Unfaͤ lle sich auf die Reise begeben Jedoch endlich vom Kaiser Otto, der ihm nach dem Leben gestanden, wiederum begnadigt worden. Frankfurt a.d.O., Berlin: Trowitzsch und Sohn [1830/51] [Basel, UB, Phil. Conv. 132 Nr. 13]. [HE Vb Zirngibl:] Eine lesenswuͤ rdige Historie vom Herzog Ernst, in Bayern und Oestreich, wie sich derselbe durch wunderliche Zufaͤ lle auf gefaͤ hrliche Reisen begeben, endlich aber vom Kaiser Otto, der ihm nach dem Leben getrachtet, wiederum begnadigt worden. Berlin: [Wilhelm] Zirnguͤ bl [1802/19] [München, BSB, P.o.germ. 2058 s].
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4 Literaturverzeichnis
[HE Vb Fleischhauer:] Eine lesenswuͤ rdige Historie, vom Herzog Ernst in Bayern und Oestreich, wie er durch wunderliche Unfaͤ ll sich auf gefaͤ hrliche Reisen begeben, jedoch endlich vom Kaiser Otto, der ihme nach dem Leben gestanden, wiederum begnadigt worden. Reutlingen: Justus Fleischhauer [nicht nach 1813 (?)] [Tübingen, UB, Dk XI.240]. [HE Vb Everaerts:] Eine lesenswürdige Historie vom Herzog Ernst, in Bayern und Oesterreich, wie er durch wunderliche Unfaͤ lle sich auf gefaͤ hrliche Reisen begeben, jedoch endlich vom Kaiser Otto, der ihm nach dem Leben getrachtet, wiederum begnadet worden. Köln: Christian Everaerts [1794/1817] [Köln, UB, RhL. O/1620].
Editionen [HE F:] Das deutsche Volksbuch. In: Herzog Ernst. Hg. von Karl Bartsch. Wien 1869, S. 227–305. [HE Vb:] Die Historie von Herzog Ernst. Die Frankfurter Prosafassung des 16. Jh.s. Aus dem Nachlass v. K.C. King. Hg. von John L. Flood. Berlin 1992 (TMA 26).
Melusine, Historische Wunderbeschreibung, Wunderbare Geschichte Historische Drucke Die Histori oder geschicht von der edeln vnnd schoͤ nen Melusina. Augsburg: Heinrich Steiner 1538 [Berlin, SBB-PK, Yu 821]. Die History oder Geschicht/ von der Edlen vnd schoͤ nen Melusina: Frankfurt a. M.: Herman Gülfferich 1549 [München, UB, 8° P. germ. 328]. [Buch der Liebe:] Das Buch der Liebe/ Jnhaltendt Herrliche Schön Historien Allerley Selten vnd newen Exempel/ darauß menniglich zu vernemmen/ beyde was recht ehrliche/ dargegen auch was vnordentliche Bulerische Lieb sey [...]. Jn gegenwertiger Form vnd zierlicher Teutscher Sprach/ mit kurtzen verstaͤ ndlichen Summarien vber alle Capitel/ auch schoͤ nen Figuren/ auffs new zugericht/ vnd in Truck geben/ dergleichen vor nie gesehen. Frankfurt a. M.: Sigmund Carl Feyerabend 1587 [Basel, UB, Sign. Wack 688]. Historische Wunder-Beschreibung von der so genannten Schoͤ nen Melusina Koͤ nigs Helmas in Albanien Tochter/ Welche eine Sirene oder Meer-Wunder gewesen/ und ihrer Hervorkunfft aus dem in Franckreich gelegenen Berg Adelon/ Auch was sich allda sehr seltzam und merckwuͤ rdig mit ihr zugetragen. Auf ein Neues uͤ bersehen/ mit reinem T[eutsch] verbaͤ s[se]rt/ und mit schoͤ nen Figuren geziere[t] [O.O.: o.Dr. um 1709/1735] [Wolfenbüttel, HAB, M: Lm 3b]. Geschichte der edlen vnd schoͤ nen Melusina, eine Tochter des Koͤ nigs Helmas. Aufs neue uͤ bersehen, und mit schoͤ nen Figuren gezieret [Leipzig: Solbrig um 1800] [Berlin, SBB-PK, Yt 3751].
Editionen Thüring von Ringoltingen: Melusine. Nach den Handschriften. Hg. von Karin Schneider. Berlin 1958 (TMA 9). Melusine. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 9–176.
4.1 Handschriften, historische Drucke und Editionen
579
Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Hg. von Ursula Rautenberg und André Schnyder. 2 Bde. Wiesbaden 2006. Thüring von Ringoltingen: Die schöne Melusina. Ein Feenroman des 15. Jh.s in der dt. Übertr. Die Bilder im Erstdruck Basel 1473/74 nach dem Exemplar der ULB Darmstadt. Hg. von Heidrun Stein-Kecks. Darmstadt 2012. Historische Wunder-Beschreibung von der so genannten Schönen Melusina. Die „Melusine“ (1456) Thürings von Ringoltingen in einer wiederentdeckten Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert. Edition und Beitr. zur Erschließung des Werkes v. Catherine Drittenbass u. a. Hg. von André Schnyder. Berlin 2014 (Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben 14).
Weitere Prosaromane [Brissonetus:] Messerschmidt, Georg: Brissonetus (1559). Hg. von Joachim Knape. Tübingen 1988 (Neudrucke dt. Literaturwerke N.F. 40). Dialog von einem ungeratenen Sohn. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 811–827. Hug Schapler [Fassung von 1500 und Fassung von 1537 (Auszug)]. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 177–381. [Ismenius:] Artopeus, Johann Christoph: Ismenius Oder/ Ein vorbild Staͤ ter Liebe. Das ist. Die Historÿ von der staͤ ten liebe deß Jünglings Ismenij vnd der Jungfrawen Ismene gegeneinander/ wie sie beyde/ nach langwiriger übung Cupidinis/ widerwertigkeit zuͦ Land vnd Meer/ letzlich widerumb bey Goͤ ttlicher guͤ te/ vnd aller Welt jhrer bestendigkeyt halben gnad gefunden/ vnd sich als ein Exempel aller standhafften Liebhaber vorgestellt haben [...]. Straßburg: Jobin 1573 [München, BSB, A.gr.b. 1492]. [Kaiser Octavianus:] Salzmann, Wilhelm: Ein Schöne Vnnd Kurtzweilige Hystori von dem Keyser Octauiano/ seinem weib vnd zwyen sünen/ wie die jn das ellend verschickt/ vnnd wunderbarlich jn Franckreych bey dem frummen Künig Dagoberto widerumb zuͦ samen kommen sind. Neülich vß Frantzoͤ sischer sprach jn teütsch verdolmetscht. Straßburg: Bartholomäus Grüninger 1535 [München, BSB, Rar. 2289]. Knabenspiegel. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 679–810. [Magelone:] Warbeck, Veit: Ein sehr lustige histori von dem ritter mit den silbern schlüsseln vnd der schonenn Magelonna, fast lieplich zu lesenn, in kurtzs auß der frantzoßischen sprache in die teutschen versetzet. 1527 [Gotha, FB, Chart. B 437, fol. 1r.–111v.]. [Magelone:] Warbeck, Veit: Historia von der schoͤ nen Magelona eines Königs Tochter von Neapolis, und einem Ritter, genannt Peter mit den silbern Schluͤ sseln, eines Grafen Sohn von Provincia. Aus dem Franzoͤ sischen in das Deutsche übersetzt. Samt einer Vorrede von Georg Spalatin. Nürnberg: J.A. Endter [um 1650] [München, BSB, P.o. gall. 1057F]. [Magelone:] Warbeck, Veit: Geschichte der schoͤ nen Magelona, Prinzessin von Neapolis, und eines Ritters, genannt Peter mit den silbernen Schluͤ sseln, Sohn des Grafen von Provinzia. Aus dem Franzoͤ sischen uͤ bersetzt. Frankfurt, Leipzig: [o.Dr. um 1800] [Wolfenbüttel, HAB, Lm 14 f].
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4 Literaturverzeichnis
Magelone. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 587–677. [Ritter Galmy] [Wickram, Jörg (?):] Ein schoͤ ne vnd liebliche History/ von dem Edlen vnd theuwren Ritter Galmyen/ vnd von seiner zuͤ chtigen Liebe/ so er zu einer Hertzogin getragen hat/ welche er in eines Muͤ nches gestalt/ von dem Feuwer vnd schendtlichen Tod erloͤ ßt hat/ zu letzt zu einem gewaltigen Hertzogen in Britannien erwehlt/ mit schoͤ nen Figuren angezeigt. Frankfurt a. M.: Georg Rab, Weigand Han Erben 1564 [München, BSB, ESlg/P.o.germ. 2103y]. [Ritter Pontus A] Eleonore von Österreich: Ritter Pontus. Ein Rhumreich/ Zierlich/ vnd Fruchtbare History/ Von dem Edlen/ Ehrnreichen/ vnd mannhafftigen Ritter Ponto/ des Koͤ nigs Son auß Galicia. Auch von der schoͤ nen Sidonia/ Koͤ nigin inn Britannia. Durch die hochgeborne Fraw Leonora/ Koͤ nigin auß Schottenlandt auß Frantzoͤ sischer Znngen inn Deudsch bracht/ kurtzweilig zu lesen. Frankfurt a. M.: Weigand Han 1557 [Berlin, SBB-PK, Yu 1051R]. Tristrant und Isalde. Prosaroman. Nach dem ältesten Druck aus Augsburg v. Jahre 1484, vers. mit den Lesarten des zweiten Augsburger Druckes aus dem Jahre 1498 und eines Wormser Druckes unbekannten Datums. Hg. von Alois Brandstetter. Tübingen 1966 (ATB, Ergänzungsreihe 3).
Sogenannte ‚Volksbuch‘-Ausgaben Buch der schönsten Geschichten und Sagen für Alt und Jung wieder erzählt. 2 Bde. Hg. von Gustav Schwab. Stuttgart: Liesching 1836/1837. Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer urspruͤ nglichen Echtheit wiederhergestellt. Bd. 3. Hg. von Karl Simrock. Frankfurt a. M.: Heinrich Ludwig Brönner 1846. Deutsche Volksbücher. Die schöne Magelone/ die Schildbürger/ Fortunatus. Doktor Faust/ Melusine. Nach den frühesten Drucken und mit den alten Holzschnitten. Hg. von Peter Jerusalem. Ebenhausen 1912. Drei deutsche Volksbücher. Mit den Holzschnitten der Frühdrucke. Hg. von Richard Benz. Sonderausg. Köln, Olten [1956] 1969 (Die Bücher der Neunzehn 177). Fortunatus. Die schöne Magelonna. Historie von dem gehörnten Siegfried. Ausgew. und eingel. v. Peter Suchsland. Textrevision v. Erika Weber. Berlin, Weimar 1968 (Dt. Volksbücher in drei Bänden 1; Bibliothek deutscher Klassiker).
Sonstige literarische Werke und Quellentexte Allgemeines Verzeichniß derer Buͤ cher, welche in der Frankfurter und Leipziger Ostermesse des 1785 Jahres entweder ganz neu gedruckt, oder sonst verbessert, wieder aufgeleget worden sind, auch inskuͤ nftige noch herauskommen sollen. Leipzig: M.G. Weidmanns Erben/Reich [o.J.]. Aristophanes: Comoediae novem. Venedig: Aldus Manutius 1498 [München, BSB, 2 Inc. c.a. 3612].
4.1 Handschriften, historische Drucke und Editionen
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[Bibel:] Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausg. Unter Mitarbeit v. Heinz Blanke. Hg. von Hans Volz. Herrsching 1972. [Bibel:] Die Bibel. Einheitsübersetzung. 11. Aufl. Freiburg i.Br. 2009. [Bilderbogen:] Märchen Sagen und Abenteuergeschichten auf alten Bilderbogen. Neu erzählt v. Autoren unserer Zeit. Mit einem illustrationsgeschichtlichen Anh. und Katalog der wiedergegebenen Bilderbogen v. Ulrike Eichler. Hg. von Jochen Jung. München 1974. Borges, Jorge Luis: Von der Strenge der Wissenschaft. In: Gesammelte Werke. Der Gedichte erster Teil. Hg. von Gisbert Haefs, Fritz Arnold. München, Wien 2006, S. 285. Buchhändleranzeigen des 15. Jahrhunderts. Hg. von Konrad Burger. Leipzig 1907. Calvino, Italo: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Dt. v. Burkhart Kroeber. 11. Aufl. München 1999. [Dresdener Heldenbuch:] Das Dresdener Heldenbuch und die Bruchstücke des Berlin-Wolfenbütteler Heldenbuchs. Edition und Digitalfaksimile. Hg. von Walter Kofler. Stuttgart 2006. Dresserus, Mattheus, Heinrich Rätel: Warhafftiger Bericht Von dem Zustand der Kirchen vnd Religion in dem Koͤ nigreich Persien. In: Mattheus Dresserus: Historien vnd Bericht/ Von dem Newlicher Zeit erfundenen Koͤ nigreich CHINA/ wie es nach vmbstenden/ so zu einer rechtmessigen Beschreibung gehoͤ ren/ darumb beschaffen. Jtem/ Von dem auch new erfundenen Lande VIRGINIA. Jetz und [sic] auffs newe vbersehen/ vnd mit einem Zusatz vermehret/ Nemlich: Wie es vmb die Religion in Perser vnd Mohren land/ vnter Priester Johan bewand sey. Leipzig: Frantz Schnellboltz 1597, S. 271–297 [Berlin, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Rara G 643h]. Elucidarium [2., oberdt. Übers., Cgm 224]. In: Die oberdeutsche Elucidarium-Rezeption im 15. Jahrhundert. Untersuchungen und Texte. Hg. von Monika Oswald-Brandt. Diss. masch. Eichstätt 1987, S. 1–146. Erasmus von Rotterdam: Festina lente/Eile mit Weile. In: Adagia. Lat./Dt. Auswahl, Übersetzung und Anm. v. Anton J. Gail. Stuttgart 1983, S. 164–211. Flugschriften des späteren 16. Jahrhunderts. Bd. 3. Hg. von Hans-Joachim Köhler. Leiden 1992. Grimm, Jacob, Wilhelm Grimm: Hänsel und Gretel. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausg. letzter Hand. Mit einem Anh. sämtlicher nicht in allen Aufl. veröffentlichten Märchen. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 1980, S. 100–108. [HE A/B:] Untersuchung und überlieferungskritische Edition des Herzog Ernst B mit einem Abdruck der Fragmente von Fassung A. Hg. von Cornelia Weber. Göppingen 1994 (GAG 611). [HE C:] Hystoria ducis Bauarie Ernesti. In: Kritische Edition „Herzog Ernst“ C und Untersuchungen zu Struktur und Darstellung des Stoffes in den volkssprachlichen und lat. Fassungen. Hg. von Thomas Ehlen. Tübingen 1996 (ScriptOralia 96; A: Altertumswissenschaftliche Reihe 23), S. 219–393. [HE Erf:] Gesta Ernesti ducis. Die Erfurter Prosa-Fassung der Sage v. den Kämpfen und Abenteuern des Herzogs Ernst. Hg. von Peter Christian Jacobsen, Peter Orth. Erlangen 1997 (Erlanger Forschungen A,82). [HE G:] Das Lied von Herzog Ernst. Nach den Drucken des 15. und 16. Jh.s. Hg. von K.C. King. Berlin (TMA 11). Heidegger, Gotthard: Mythoscopia Romantica oder: Discours von den so benanten Romans. Faksimileausg. nach dem Originaldruck v. 1698. Hg. von Walter Ernst Schäfer. Bad Homburg u. a. 1969 (Ars poetica, Texte 3). [Maguelonne] L’Ystoire du vaillant chevalier Pierre, filz du conte de Provence, et de la belle Maguelonne, fille du roy de Naples. Hg. von Jean-François Kosta-Théfaine. Clermont-Ferrand 2010 (Manuscrit Cobourg, Landesbibliothek 4).
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4 Literaturverzeichnis
Meierus, Henningus: Catalogus Bibliothecae Illüstrissimi Principis ac Domini, Domini Guilielmi jünioris Brünsüicensiüm ac Lünaebürgensiüm Dücis inclÿti Domini süi clementissimi conscriptüs. 1586 [Berlin, SBB-PK, Ms. Catal. Fol. 60]. Melber, Johannes: Incipit variloquus. Idem vocabulum diuersimode acceptum varie theutunisando exprimens. Predicatoribus consolabile enauigium. Compilatus per venerabilem magistrum Johannem melber de gerolczhofen ex sermonibus auditis et per eundem conscriptis sub venerando viro magistro Jodoco eychman de kalw eximio doctore ac famosissimo verbi dei predicatore in heidelberga. Reutlingen: Greyff [um 1480] [München, BSB, 4 Inc. s.a. 1254 d]. Odilo von Cluny: Die Lebensbeschreibung der Kaiserin Adelheid. Odilonis Cluniacensis abbatis Epitaphium domine Adelheide auguste. Hg. von Herbert Paulhart. Graz, Köln 1962 (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 20/2; Festschrift zur Jahrtausendfeier der Kaiserkrönung Ottos des Großen 2). Petrarcha, Franciscus: Von der Artney bayder Gluͤ ck/ des guten vnd widerwertigen [...]. Augsburg: Heinrich Steiner 1532 [Stadtbibliothek Braunschweig, Camman C 527 (2°)]. Petrarcha, Franciscus: Von der Artzney bayder Gluͤ ck/ des guten vnd widerwertigen. Hg. und komm. von Manfred Lemmer. Hamburg 1984. Platon: Phaidros. In: Werke. Bd. I.1: Phaidros – Lysis – Protagoras – Laches. In der Übers. v. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Hg. von Johannes Irmscher. Durchges. v. Regina Steindl und Christian Krebs. Berlin 1984 (Philosophiehistorische Texte), S. 60–119. Schedel, Hartmann: Registrum huius operis libri cronicarum cu[m] figuris et ymagi[ni]bus ab inicio mu[n]di. Nürnberg: Anthonius Koberger 1493 [Weimar, HAAB, Inc. 118]. Schedel, Hartmann: weltchronik. Kol. Gesamtausg. v. 1493. Einl. und Komm. v. Stephan Füssel. Augsburg 2004. Verlegerplakate des XVI. und XVII. Jahrhunderts bis zum Beginn des dreißigjährigen Krieges. Hg. von Günter Richter. Wiesbaden 1965. Verzeichnis der in den Jahren 1787 und 1788 von der k. Zensur verbotenen Buͤ cher. In: Materialien zur alten und neuen Statistik von Boͤ hmen. Bd. 10. Leipzig, Prag: Widtmann 1790, S. 33–37. Vocabula pro iuvenibus. Augsburg: Johannes Schaur 1496 [München, BSB, 4 Inc. c.a. 1067 a#Beibd.1.].
4.2 Forschungsliteratur Abel, Julia, Andreas Blödorn und Michael Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz. Einführung. In: Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung. Hg. von Julia Abel, Andreas Blödorn, Michael Scheffel. Trier 2009 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81), S. 1–11. Aczel, Richard: Hearing Voices in Narrative Texts. In: New Literary History 29/3 (1998), S. 467–500. Ader, Dorothee: Die Abkehr von der Tradition. Zur Rezeption des Tristrant in den Drucken des 15. Jahrhunderts. In: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Hg. von Catherine Drittenbass, André Schnyder. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 42), S. 437–458.
4.2 Forschungsliteratur
583
Ader, Dorothee: Prosaversionen höfischer Epen in Text und Bild. Zur Rezeption des ‚Tristrant‘ im 15. und 16. Jahrhundert. Heidelberg 2010 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte). Althoff, Gerd: Sinnstiftung und Instrumentalisierung: Zugriffe auf das Mittelalter. Eine Einleitung. In: Die Deutschen und ihr Mittelalter: Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter. Hg. von Gerd Althoff. Darmstadt 1992 (Ausblicke), S. 1–6 und S. 165–168. Ammon, Frieder von, Herfried Vögel: Einleitung. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. von Frieder von Ammon, Herfried Vögel. Berlin 2008 (P&A 15), S. VII–XIX. Ansbacher, Walter, Christine Kratzer: Register der Personen- und Ortsnamen. In: Benediktinerabtei St. Ulrich und Afra in Augsburg (1012–2012). Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer ehemaligen Reichsabtei. Fs. zum tausendjährigen Jubiläum. Bd. 1: Textband. In Zusammenarbeit mit Walter Ansbacher und Thomas Groll. Hg. von Manfred Weitlauff. Augsburg 2011, S. 1445–1485. Ansorge, Hans-Jürgen: Art und Funktion der Vorrede im Roman. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Diss. masch. Würzburg 1969. Antunes, Gabriela: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur. Trier 2013 (Literatur – Imagination – Realität 48). Art. gewaltig. In: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hg. von Ulrich Goebel, Anja LobensteinReichmann, Oskar Reichmann. Bd. 6,4 bearb. v. Oskar Reichmann. Berlin, New York 2009, S. 1808–1818. Art. Zufaͤ lle. In: Grosses Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Kuͤ nste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden […]. Bd. 63. Hg. von Johann Heinrich Zedler. Leipzig, Halle a.d.S. 1750, S. 1097. Augustyn, Wolfgang: Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck in Deutschland – Versuch einer Skizze aus kunsthistorischer Sicht. In: Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck. Hg. von Gerd Dicke, Klaus Grubmüller. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 16), S. 5–47. Augustyn, Wolfgang: Historisches Interesse und Chronistik in St. Ulrich und Afra in Augsburg im Umfeld von monastischer Reform und städtischem Humanismus. Wilhelm Wittwer und sein ‚Catalogus abbatum‘. In: Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. Hg. von Gernot Michael Müller. Berlin, New York 2010 (Frühe Neuzeit 144), S. 329–387. Augustyn, Wolfgang, Peter Geffcken: Die Äbte von St. Ulrich und Afra im Mittelalter. In: Benediktinerabtei St. Ulrich und Afra in Augsburg (1012–2012). Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer ehemaligen Reichsabtei. Fs. zum tausendjährigen Jubiläum. Bd. 1: Textband. In Zusammenarbeit mit Walter Ansbacher und Thomas Groll. Hg. von Manfred Weitlauff. Augsburg 2011, S. 344–403. Aust, Hugo: Zum Stil der Volksbücher. Ein Problemaufriß. In: Euphorion 78/1 (1984), S. 60–81. Bachorski, Hans-Jürgen: Geld und soziale Identität im ‚Fortunatus‘. Studien zur literarischen Bewältigung frühbürgerlicher Widersprüche. Göppingen 1983 (GAG 376). Backes, Martina: ‚[...] von dem nabel hinauff ein menschlich vnd hübsch weyblichs bilde/ vnd von dem nabel hin ab ein grosser langer wurm.‘ Zur Illustrierung deutscher Melusinehandschriften des 15. Jahrhunderts. In: Literaturwissenschaftliches Jb. der Görres-Gesellschaft 37 (1996), S. 67–88. Backes, Martina: Fremde Historien. Untersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte französischer Erzählstoffe im deutschen Spätmittelalter. Tübingen 2004 (Hermaea 103).
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4.2 Forschungsliteratur
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5 Register 5.1 Werke, Verfasser, historische Personen Alexander (Johann Hartlieb) 103, 142, 219, 236 Apollonius (Heinrich Steinhöwel) 114, 219, 226, 228 Bibel – Gen 405 – Ex 466 – Num 551 – Jos 466 – 2 Sam 353, 461f. – 1 Makk 460 – Ps 278, 360 – Spr 30 – Sir 464 – Sach 358 – Mt 385, 433, 451 – Mk 433 – Lk 393, 433 – Apg 433 – 1 Kor 358, 462f. – Röm 376 – 1 Tim 350, 462 – Offb 404 Brandans Meerfahrt 330, 373, 380, 496, 560, 562, 567 Brissonetus (Georg Messerschmidt) 118, 123, 272 Buch der Liebe (Sigmund Feyerabend) 116f., 137f., 162, 179, 194, 201, 209, 218f., 222, 224, 279, 303, 313 Cumpanei 220f., 331 Elisabeth von Nassau-Saarbrücken 122, 124f., 185, 203–208 Erasmus von Rotterdam (Adagia) 154f. Euryalus und Lucretia (Niklas von Wyle) 101f., 104, 107, 114
DOI 10.1515/9783110517156-006
Florio und Bianceffora 130, 142, 219 Fortunatus – Erstdruck 9, 11–48, 66, 68, 72, 83–93, 96–101, 104, 120, 123–125, 130, 142f., 147, 194, 215, 222, 242, 260, 263f., 266, 269, 271, 295, 302, 376 – Redaktionen im 16. Jh. 10f., 21, 49, 108f., 111–113, 115f., 148, 180, 215f., 219, 222–225, 228, 236, 260f. – Redaktionen im 17. Jh. 51f., 236, 261–264 – spätere Redaktionen 20, 82, 170f., 232–234, 262–264, 312 – moralisierende Redaktion um 1850 17f., 49–93, 96–99, 137, 295 Gabriotto und Reinhart (Jörg Wickram) 219 Gehörnter Siegfried 504 Gesner, Conrad (Bibliotheca universalis) 117 Goldtfaden (Jörg Wickram) 242 Griseldis (Heinrich Steinhöwel) 102, 114f., 541 Herzog Ernst A/B 139f., 314–319, 373, 428, 441–447, 467–474, 544f. Herzog Ernst C 293, 319–323, 326, 358, 377, 431–433, 513, 518–520 Herzog Ernst F/Vb 1f., 104f., 137, 142, 145, 150f., 214f., 287, 292f., 295f., 315f., 322–332, 335–574 – F-Handschriften 214f. – Cgm 224 328, 495, 512, 520f., 554, 563 – Cgm 572 141f., 292f., 325f., 342–446, 476–488, 494–496, 513, 518, 545–559, 565–574 – Add. 22622 214f., 328, 332 – F-Inkunabeln 214f., 218, 222f., 330f. => Klasse I – Sorg 1 331, 389 – Sorg 2 342, 370, 560 – Sorg 3 342, 346, 366, 370, 395, 495f.,515, 522, 560 – Knoblochtzer 330f., 392, 402, 427, 434, 440, 491, 493f., 546, 560f., 566
5 Register
– frühe Vb-Drucke 104f., 210, 219–223, 225, 228, 234, 332–334, 337f. => Klasse II – Han 1 222f., 342–446, 496–499, 506, 535–538, 540f., 564f., 568–574 – Francke 228, 359, 375, 490, 492, 508f., 532f., 535f., 539–541, 554 – Schröter 228, 454, 492f., 499–501, 503, 508, 521, 537f., 540, 558, 572 – Singe 228, 337, 349, 359, 373, 478–488, 490–493, 536–538, 545–559 – von der Heyden 228, 506, 521, 537f., 540 – Endter 2 393f., 454, 493, 498f., 507f., 532–541, 548, 556–558, 571f. – späte Vb-Drucke 137, 234f., 255–260, 337f. => Klasse III – L2 255, 259f., 376, 395, 399, 402, 404, 410, 502, 504, 529f. – M2 150, 255–260, 364, 502, 528f., 562 – P1 255–260, 399, 498, 502, 528, 530, 571 – Trowitzsch 341, 399, 417f., 439, 502, 530, 557 – Zirngibl 151, 364, 392, 400f., 410, 412f., 423f., 426, 498, 504f., 523, 527f., 552, 565, 570, 574 – Fleischhauer 355, 361, 363, 406, 528 – Everaerts 255–260, 475 – Karl Simrock 234f. Herzog Ernst G 319, 375, 497, 499–501, 508, 555 Herzog Gottfried 102, 118 Herzog Herpin (Elisabeth von Nassau-Saarbrücken) 130, 185, 204–207, 209f., 219 Hug Schapler (Elisabeth von Nassau-Saarbrücken) 102, 107, 115, 130, 175, 204–210, 217, 219, 241, 244, 279, 291 Hugo Kapet (Johann Ferdinand Roth) 137, 210, 279 Ismenius (Johann Christoph Artopoeus) 149 Kaiser Octavianus (Wilhelm Salzmann) 104, 118, 148, 211, 216, 219, 228, 312, 530f., 535, 538
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Knabenspiegel (und Dialog) (Jörg Wickram) 302 Königin Sibille (Elisabeth von Nassau-Saarbrücken) 122, 131, 204f., 208, 211 Lauber, Diebold 103, 305 Loher und Maller – Elisabeth von Nassau-Saarbrücken 185, 204–209, 219 – Dorothea Schlegel 210 Magelone (Veit Warbeck) 2, 24, 104–106, 118, 124, 135, 137f., 180, 210, 214–216, 219, 228–231, 252–254, 260, 303, 312 Melusine (Thüring von Ringoltingen): ‚Vulgata‘-Redaktionen 42, 102, 104–110, 113–116, 118, 120, 124–126, 130, 134, 144f., 151, 153, 160f., 166, 173, 176f., 180, 194, 206, 211–213, 215–217, 219, 223–226, 228, 246–249, 265, 269, 271, 277–279, 282, 293, 307, 310, 312 – Historische Wunderbeschreibung 50, 135–137, 144f., 149f., 230–232, 249, 279 – Wunderbare Geschichte 135, 144f., 231f. Nachbarnroman (Jörg Wickram) 99 Ritter Galmy 107, 131, 219, 228 Ritter Pontus (Eleonore von Österreich) 102, 104–106, 108–113, 125, 130, 180, 206, 214f., 219, 222, 236 Ritter von Turn (Marquart von Stein) 116 Schiltperger, Johann (Reisebuch) 104, 330, 496, 560, 567 Schönsperger, Johann 166–170, 306, 331 Schwab, Gustav (Geschichten und Sagen) 312f., 502 Sieben weise Meister 104, 117, 223, 312 Sorg, Anton 102f., 169, 218, 329–332, 495f., 560 Spalatin, Georg 24, 138, 214, 230, 252–255 St. Ulrich und Afra 323, 325f., 328f. Tristrant und Isalde 115f., 124, 142, 167f., 170, 206, 211, 215f., 219, 228, 236, 300
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Ulenspiegel 507f.
Zerstörung Trojas 102, 237
Wigoleis vom Rade 124, 169, 219 Wilhelm von Österreich 102, 131, 142, 236
5.2 Wörter, Begriffe, Sachen abgewiesene Alternative 76, 375, 377, 380, 404, 414f., 436, 453, 527, 555, 559, 565, 570 Absatz(gestaltung) 78–81, 97f., 225, 294–296, 478, 489–494, 571f. Anmerkung 195, 311 Anonymität 3, 123, 159, 230 Äquivalenzrelation 40f., 296, 357–360, 377f., 390, 395–398, 409–411, 418, 430, 436f., 445, 452f., 467–474, 486, 527, 568, 572f. Auslassung 47, 63–68, 71f., 123, 169, 178, 224f., 230, 234, 249, 262, 291, 342–446, 449–455, 570 Autor(intention) 38f., 49, 141, 151, 156f., 162, 171, 177–185, 188–190, 193–198, 275f., 289–291, 303, 327 Bedeutung (s. Sinn-Begriff) Beiwerk 38f., 564 bibliographical code 191–197, 287 Bild 41, 44f., 52–56, 91–93, 108–113, 179f., 222–224, 252f., 303–307, 379, 475, 510–512, 523–544, 567, 569f., 572f. Bilderbogen 249–252 Bildprogramm 52–56, 93, 113, 209f., 222–224, 237, 291, 304–306, 331, 338, 527–544 Buchhändleranzeige 102–105, 218 Buchmarkt (s. ökonomische Logik) Buchtyp 100f., 104, 122–138, 152, 161–166, 176, 180f., 196, 222, 237, 287, 294–296, 308, 316, 428, 504, 512, 517f. Deutungshoheit, Konkurrenz um 17f., 38f., 51, 55, 57f., 87, 89, 96–99, 140f., 173, 176f., 194, 198, 238, 243, 248, 265, 269,
280–282, 405, 434, 443, 446, 450, 455f., 499–501, 537, 564 Dialogizität 7f., 198, 241 Didaxe 24, 30–39, 41f., 49f., 56–60, 67, 78, 85f., 89f., 99, 245f., 254, 257–260, 271f., 300, 302, 312f., 320f., 325f., 328f., 334, 513, 566 Dimension(alität) 1, 3, 6f., 15, 18f., 38f., 60, 81, 90–99, 128, 196f., 239–265, 270–273, 280f., 286–313, 447, 455f., 564f. Edition, überlieferungsgerechte 21, 156, 181–202, 280f., 289 Einband 158, 170, 201, 237 Elternvorgeschichte 23, 40, 57f., 69–73, 88f., 342f., 345–348, 470f., 478f., 509f. Ersetzung 65, 69, 75, 89, 139, 182, 215, 232–234, 236, 265, 291f., 314, 321, 342–446, 498, 501f., 564, 570–572, 574 Erzähler(perspektive) 58–64, 82–86, 89f., 107, 176f., 246–249, 292–294, 368, 385f., 446f., 455f., 459–463, 472f., 515–517, 520, 565 Erzählschema 69–78, 142f., 203, 250f., 269f., 278–280, 295f., 467f., 472f., 565 Evidenzfunktion 90f., 249, 307, 405, 413, 427, 435, 451f., 568, 573 Fassung (s. Redaktion) Fehler 155–157, 160f., 169, 178f., 189, 198, 289–291, 336 Figur(enperspektive) 16–19, 25, 60–64, 175f., 245f., 315, 321, 359f., 382f., 389f., 402, 434, 436, 446–459, 463–467, 516f., 527, 565–574 Format 10, 104, 127, 164, 167, 170f., 209, 219–222, 226, 237
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Fußnote (s. Anmerkung) Generationenroman (s. Elternvorgeschichte) globale Architektur (s.a. Erzählschema) 72, 140f., 286, 295f., 314, 321, 467–475, 488f., 565 Glosse 34, 80, 83–86, 310f., 315, 368, 386f., 389, 516–521, 565 haupttextuelle Dimension 16–19, 58–69, 82–86, 244–249, 291–295, 342–467, 515–518, 565–574 Holzschnitt (s. Bild) Illustration (s. Bild) Incipit 476, 494–496, 503, 510–512, 546 Inhaltsverzeichnis 42–48, 309f., 496, 559f. Innovation 11–15, 82, 129–132, 135f., 142f., 148–170, 236, 238, 241, 267f., 282–286, 336f., 502, 504f., 511f. Intermedialität (s.a. Text-Bild-Relation) 90–93, 108–113, 303–307, 565 Interpolation 49, 58–60, 67f., 107, 225, 230, 234, 244–248, 265, 342–446, 572 Interpretation, überlieferungsgerechte 1f., 4f., 19, 98f., 127f., 156f., 177–181, 186f., 189f., 197–200, 254, 270, 280–282, 285–287, 290f., 294, 307, 335f., 564–574 Intertextualität 105–113, 175, 233, 281, 290, 293, 320, 322, 350, 358f., 376f., 398, 459–463, 465f., 499f., 503, 507f., 538, 567 Invisibilisierung 44f., 52–54, 56, 90, 267, 448f., 456, 506, 534–536, 540–545, 548, 552f., 556f., 569f. Kanon(isierung) 20, 118, 165, 305f. Kapitel(einteilung) 39f., 42f., 52, 73–78, 125, 209, 225, 260–265, 295, 338, 475–489, 547, 571–573 Kolophon 125, 301, 501f., 514 Kolumnentitel 110, 163, 309, 561f., 569 Konkretisation 171–177, 181, 238, 276, 358, 450, 472, 545 Konstanz 1f., 82, 190, 195, 236, 260, 279, 285f., 336–338
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law of change 158, 191f., 196, 288f. Leerstelle (s. Konkretisation) Lektüreerleichterung 44, 60, 84, 123–126, 135, 150, 163, 168–170, 217f., 243, 476f., 488, 559 Lektürelenkung 3f., 28, 36, 51–54, 58, 96f., 176f., 239, 273f., 300–303, 306f., 374, 463, 496–503, 508, 512f., 515, 554, 562 Lesebogen 170f. Leserspur 158, 201, 521f., 554, 560f. linguistic code (s. bibliographical code) Literaturgeschichte 1f., 7f., 21, 122, 131–134, 145f., 150–152, 157, 161, 182, 185f., 189f., 200, 206, 236–238, 276, 279, 281, 287–289, 294, 319, 563f. Magister-cum-Discipulis-Holzschnitt 30–34 manuscript culture 181–191, 197–202, 209, 286, 336 Marginalie 146, 310f., 332, 516–522, 546, 554, 572 Materialität 1, 8, 94, 156f., 161, 163f., 175, 189–192, 196–199, 202, 270, 273–277, 294 Medienwandel 14, 146–148, 151f., 157–159, 163–165, 200f., 211–215, 283–285, 309 Mehrdeutigkeit (s. Deutungshoheit) mise en page 94, 128, 148, 157, 193, 197f., 208f. 211, 294f., 307f. Mitüberlieferung 113–116, 311–313, 495f., 562f., 567, 572 Montage 14–16, 86, 142f., 236, 266, 269f., 467 moralisatio (s. Didaxe) Motivierung 136, 168, 321f., 350, 381f., 394, 408, 417, 438, 440, 479f., 488f., 548, 572 Motto 49f., 56–60, 62, 67, 69–78, 86–90, 92f., 96f., 233 Nachwort 19, 24, 36–39, 49, 58–60, 88–90, 106f., 194, 224f., 277–279, 300–302, 514–516, 566 Narrations-Begriff 3, 7, 123, 195, 244, 265, 273, 304 Neuheit (s. Innovation) new philology 5, 183, 197–202, 268
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5 Register
Nicht-Intentionalität 5, 113, 132f., 157, 177–182, 189, 289f., 501, 564f. Offenheit (s.a. Deutungshoheit) 3f., 99, 114f., 130–132, 140, 180–183, 195–198, 210, 236, 241, 269f., 280f., 286f., 314, 449, 497, 499, 564f. ökonomische Logik 5, 15, 113, 128f., 134, 152–155, 157f., 165–169, 176, 178–181, 194, 201f., 216–226, 238, 241f., 287–290, 297, 299f., 488, 495f., 511f., 565 Organon einer alternativen Ästhetik 265–267, 270f., 279f. Parallelfassungen 183–186, 289f. Parallelstellen (s. Äquivalenzrelation) paratextuelle Dimension 4, 25–39, 42–48, 51–60, 69–78, 83–93, 108–116, 125–127, 148–150, 156f., 163, 190–197, 217f., 222–224, 252–264, 277–279, 296–313, 476–478, 494–573 Perspektive/Perspektivierung 3, 16–19, 60, 93–99, 173–177, 239–265, 278–282, 292f., 383, 386f., 389, 436, 446–448, 455f., 517f., 530, 564f. Perspektivenimitation 517f., 565 Pluralisierung (von Autorschaft) 8, 162, 194, 198, 281f., 285–289, 470 Prosaroman, frühneuhochdeutscher 1, 8, 98–138, 202–238 Prosaroman, neuhochdeutscher 1, 100, 135, 229–231, 237f. Protestantisierung 5, 171, 225, 237f., 245f., 254, 338, 372, 412f., 416f., 432, 437f., 445, 569, 571 Rahmung (s. strukturelle Dimension) Redaktion 183–188, 281, 286–290, 332 Register 42–48, 163, 309f., 559f., 563 Retextualisierung (s. Wiedererzählen) Romankritik 117f., 271, 300 Rotdruck/Rotstrichelung 489, 491, 493f., 499, 503, 509 Sackgasse, historische 2, 234, 286 Sammlung 113–116, 162, 218f., 234f., 312f., 326, 495f., 562f., 572
Schreiber, intelligenter 157–162, 169–171, 174f., 181 Schriftsinn, mehrfacher 96, 272, 446, 463–467 Sinn-Begriff 7, 60, 95, 97f., 127, 134, 157, 164, 177–182, 191, 194, 196f., 199, 218, 265, 273–281, 294f., 303, 443f., 463, 564 Sinnlosigkeit 12, 98, 265–272 Sinnstiftung, narrative 1, 3, 7, 15, 37, 39, 95f., 98f., 127, 134, 140f., 170f., 195–197, 238, 240, 244, 265, 270, 273–277, 286, 291, 294–298, 300, 311f., 446, 450, 455, 517, 544 Spätüberlieferung 21, 49–99, 135–138, 149–151, 156, 185f., 189f., 200, 210, 213f., 226–235, 238, 249, 288f., 574 Sperrdruck 58–60 Sprichwörter 85, 243, 255 Sprichwörteranhang 234f., 255–260, 333, 474, 514, 516, 562, 572 Stimme 7f., 18, 60f., 173, 198, 240f., 292f., 517 strukturelle Dimension 39–48, 69–81, 97f., 260–265, 278–280, 294–296, 351f., 430f., 445, 467–494, 565–573 Tarnschrift 232–234 Text-Bild-Relation (s.a. titulus) 53f., 90–93, 108–113, 169, 177, 180, 303–308, 483, 488, 565 Textgeschichte 49f., 64f., 128–138, 155, 174f., 181–238, 275f., 279–291, 333–336, 564 Textgliederung 78f., 97, 125f., 163f., 225, 260, 292, 294f., 307–309, 475–477, 489 Textsortenwechsel 135, 137f., 210, 215, 229–234, 238, 249–252 Titel(formulierung) 25, 52, 298–300, 332f., 494–512, 571f. Titelbild/Titelblatt 22, 25–34, 42, 49, 51f., 57, 64, 150, 194, 225, 297–300, 337f. 502–512, 527, 571 titulus (s.a. Zwischentitel) 42–45, 48, 86–88, 90, 92f., 109f., 112, 169, 177, 225, 308, 379, 475 Traditionsliteratur 11–15, 64f., 105f., 129–135, 138–170, 190, 210, 231f.,
5 Register
236–238, 244, 274, 287f., 314–342, 504f., 564f. Typographie (s.a. mise en page) 58–61, 78f., 94, 127f., 158, 163f., 170f., 190–193, 239, 294f., 298, 489, 491, 493, 503, 517 Typologie 57, 431f., 434, 437f., 440f., 445f., 459–462, 472–474, 485f., 566, 568f., 573 typologisches Ausrufungszeichen 431f., 472, 474, 488, 515, 566 Überlieferung(sprozess) (s. Textgeschichte) Überlieferungsbeteiligte 2–4, 7, 115, 129, 133f., 150–170, 174f., 178–181, 186–195, 201f., 213–225, 237f., 270f., 274–277, 286–288, 296, 299f., 307f., 328, 336f., 465, 526, 564 Umbesetzung (s. Ersetzung) Varianz 1f., 5–7, 94, 128, 133f., 156–160, 164, 170–192, 198–202, 236f., 279–282, 289–291, 336–338, 564f. voice theory (s. Stimme) Volksbuch 105, 119f., 129, 146, 219f., 232, 312f., 332–337
639
Vorwort 34–39, 57, 88f., 148–150, 225, 244, 252–254, 277f., 300–303, 472, 509–513 Werk-Begriff 1f., 96, 98f., 113, 126f., 134f., 141f., 151f., 156, 181, 183–186, 188, 190–197, 200, 202, 269, 276f., 281f., 286–291, 332, 474f., 564 Widmung(svorrede) 201, 300 Wiedererzählen 5f., 13, 64–66, 82f., 138–152, 161f., 181, 192, 200, 238, 277, 287f., 312f., 455f., 502, 564 Wiederholung von Bildern 42, 108–113, 179, 217f., 224, 231, 237, 286, 305f., 529, 532, 540–543 Würzburger Schule 186–192, 200–202, 280f. Zielform 81, 126f., 129–138, 308 Zweitverwendung von Holzschnitten 108–113, 169, 179–181, 202, 209, 222–224, 237, 286, 305f., 501, 526, 529–532, 535, 538, 541, 573 Zwischentitel (s.a. titulus) 44, 125–127, 169, 176, 225, 261–264, 307–309, 330, 379, 476–478, 521f., 544–560, 568, 572