Mündliche Kulturen in ihrer Wechselbeziehung zu schriftlichen und audiovisuellen Kulturen: Das Gerücht über die Schlümpfe in Mexiko 9783964564634

Die vorliegende Arbeit über Wanderungen und Variationen eines unter den Kindern Mexikos in den achtziger Jahren weit ver

134 75 26MB

German Pages 400 [398] Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
0. Einleitung
1. Vom Wahrhaftigen Zu Den Verschiedenen Ordnungen Des Glaubwürdigen
2. Die Mündliche Dimension Von Gerüchten
3. Die Mündliche Dimension In Den Heutigen Gesellschaften Lateinamerikas: Stimme, Schrift Und Bild In Wechselwirkung
4. Fallstudie Über Das Gerücht Von Den Schlümpfen: Die Theoretische Und Methodologische Konstruktion
5. Die Versionen Des Gerüchtes Über Die Schlümpfe In Nezahualcoyotl, Estado De Mexico
6. Die Versionen Des Gerüchtes Über Die Schlümpfe In El Pedregal De San Angel, Mexiko-Stadt
7. Die Versionen Des Gerüchtes Über Die Schlümpfe In Valladolid, Yucatán
8. Kulturelle Konvergenz Und Kulturelle Divergenz
Bibliographie
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Mündliche Kulturen in ihrer Wechselbeziehung zu schriftlichen und audiovisuellen Kulturen: Das Gerücht über die Schlümpfe in Mexiko
 9783964564634

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Margarita Zires

Mündliche Kulturen in ihrer Wechselbeziehung zu schriftlichen und audiovisuellen Kulturen

Margarita Zi res

Mündliche Kulturen in ihrer Wechselbeziehung zu schriftlichen und audiovisuellen Kulturen Das Gerücht über die Schlümpfe in Mexiko

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zires, Margarita: Mündliche Kulturen in ihrer Wechselbeziehung zu schriftlichen und audiovisuellen Kulturen : das Gerücht über die Schlümpfe in Mexiko / Margarita Zires. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1997 Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1995 [D. 30] ISBN 3-89354-093-8

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1997 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

VORWORT Die hier vorliegende Studie über mündliche Kulturen in Mexiko ist das Ergebnis einer langen, oft umwegreichen Arbeit, welche den Versuch unternimmt, die Erzählungen von Kindern, die drei verschiedenen kulturellen Umfeldern in Mexiko angehören, zu interpretieren und in theoretische Kategorien zu übersetzen. Dieser Vorsatz bedeutete zunächst einmal, daß ich mich in die Welt der Legenden, der Kinderbücher, der Filme und Fernsehsendungen zu versetzen hatte, welche ein wichtiger Teil der jeweiligen Kinderwelt waren. Eine zweite und dritte Etappe der Arbeit bestand darin, Vergleichspunkte zwischen den drei unterschiedlichen Erzählwelten zu finden und darüber hinaus eine schriftliche Form der Darstellung in spanischer Sprache zu wählen, welche nicht ausschließlich auf das lateinamerikanische Fachpublikum zielte, bei dem weitreichende Vorkenntnisse über Mexiko unterstellt werden können. Schließlich war eine sinnvolle Übersetzung des spanischen Textes ins Deutsche nur dadurch möglich, daß der gesamte ursprüngliche Text neu interpretiert und neu organisiert wurde, um auf diese Weise Brücken des Verständnisses zwischen der deutschen und mexikanischen Welt zu bauen, zwischen zwei Sprachen, zwei Kulturen und unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen. Es ist für mich eine besondere Genugtuung zu erwähnen, daß die Arbeit in ihrer langen Entstehungsgeschichte von vielen Personen und Institutionen unterstützt wurde, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin. Dies gilt an erster Stelle für die Universidad Autónoma Metropolitana in Mexiko-Stadt, an der ich seit 1977 als Dozentin und Forscherin arbeite. Sie hat diese Arbeit in den letzten Jahren durch ein Stipendium unterstützt, wodurch es mir möglich war, mich weitgehend auf die Untersuchung zu konzentrieren. Die wissenschaftliche Betreuung, eine Vielzahl von Anregungen sowie ganz besonders die theoretischen Herausforderungen seitens meiner Doktorbetreuerin Prof. Dr. Birgit Scharlau waren für mich ein wichtiges Stimulans in den verschiedenen Phasen meiner Arbeit. Die akribische und immer kritische Lektüre einer erheblichen Anzahl von verschiedenen Versionen des jetzt vorliegenden Textes sowie die Kommentare meiner Kollegin und Freundin Carmen de la Peza waren für die gesamte Arbeit von großer Bedeutung. Weiterhin möchte ich meinem Vater, C. P. Adalberto Zires, fiir die sorgfaltige Durchsicht der von den Kindern selbst verfaßten Texte danken; eine häufig sehr mühsame und nicht immer leichte Arbeit. Nur sehr unzureichend kann ich meinen Dank an Dr. Brita Steinbach fiir die lange und eingehende Übersetzungsarbeit ausdrücken. Ihre kritische Lektüre des

Textes während der Übersetzung hat es mir häufig ermöglicht, meine Ideen sowohl in der spanischen als auch in der deutschen Version zu klären und/oder zu präzisieren. Ihre Anmerkungen waren für mich eine andauernde Aufforderung, nach Elementen zu suchen, um die Kluft zwischen dem lateinamerikanischen und dem deutschen Verständnis so weit wie möglich zu verringern. Die Übersetzung der letzten, hier vorliegenden Version der Untersuchung wurde von Dr. Ivo Dubiel mit viel Detailkenntnis Mexikos überprüft und von Brita Steinbach erneut gegengelesen. Dipl.-Ing. Jelle van der Veen war immer eine große Hilfe mit seinen ausgezeichneten Kenntnissen der Informatik. Brita Steinbach, Jelle van der Veen und Ivo Dubiel waren für mich, weit über das Fachliche hinaus, eine große Stütze bei meinen manchmal doch sehr langen Arbeitsaufenthalten in Deutschland. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle noch einmal dafür danken, daß sie dazu beigetragen haben, mir zu ermöglichen, mich mit viel Genuß in der Geschichtenwelt der Kinder und der der Mythen der Akademiker zu bewegen.

Frankfurt am Main, den 4.1.1996

Margarita Zires

1

Inhalt

INHALT

0

EINLEITUNG

17

0.1

Mündliche Kulturen

17

0.2 0.3

Schriftliche und audiovisuelle Kulturen Gleichzeitige Tendenzen der kulturellen Homogenisierung

18 19 22

0.6

und Differenzierung in Lateinamerika Verschiedene Konzeptionen des Gerüchtes Das Gerücht als mündliches, kollektives und anonymes Produkt in ständiger Verwandlung Die Fallstudie: Das Gerücht über die Schlümpfe

0.7 0.8 0.9 0.10

Die Vorgehensweise der Untersuchung Die Dokumente der Untersuchung Methodologische Überlegungen Verschiedene Studienobjekte und transdisziplinäre

27 27 28

Werkzeuge

29

VOM WAHRHAFTIGEN ZU DEN VERSCHIEDENEN ORDNUNGEN DES GLAUBWÜRDIGEN

31

1.1

Nachricht versus Gerücht, Wahres versus Falsches

31

1.2

Die kulturelle Dimension des Gerüchtes

35

1.3

Zu den Vorstellungen über Kultur, kulturelle Geflechte,

0.4 0.5

1

23 26

kulturelle Konvergenz und Divergenz

46

1.3.1 1.3.2

47 49

Über kulturelle Geflechte als dezentralisierte Gebilde Die Begriffe kultureller Konvergenz und Divergenz

2

DIE MÜNDLICHE DIMENSION VON GERÜCHTEN

53

2.1 2.2

Vom Text zur mündlichen kollektiven Aktion Vom Text zur Interaktion - Kommunikation von Angesicht

53

zu Angesicht Von der vokalen Aktion, dem Sprechereignis und dem Prozeß

55

2.3 2.4

der Verhandlung Die Beteiligung der Tradition und des kollektiven Gedächtnisses

57 60

8

2.5 2.6

3

Margarita

Die kollektive Dimension des Gerüchtes Die anonyme Dimension von Gerüchten: zwischen dem "man sagt" und "ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen"

Zires

62 65

D I E MÜNDLICHE DIMENSION IN DEN HEUTIGEN GESELLSCHAFTEN LATEINAMERIKAS: STIMME, SCHRIFT UND

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

4

BILD IN WECHSELWIRKUNG

69

Stimme und Schrift Die ungleichförmigen Auswirkungen der Schriftlichkeit in Lateinamerika Der Einbruch der audiovisuellen Kultur Die ungleiche Verbreitung und Auswirkung der audiovisuellen Technologien in Lateinamerika Die umgestaltete mündliche Kommunikation der heutigen Gesellschaften

69 71 75 83 92

FALLSTUDIE ÜBER DAS GERÜCHT VON DEN SCHLÜMPFEN: DIE THEORETISCHE UND METHODOLOGISCHE KONSTRUKTION

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7

Allgemeine Vorgehensweise der Untersuchung Der Ablauf der Vorstellung in den Schulen Allgemeine Bedingungen der schriftlichen Einzelbefragungen Allgemeine Bedingungen der mündlichen Gruppenbefragung Art der Teilnahme der Interviewerin an der Gruppenbefragung Überlegungen zum Rahmen der Gruppeninterviews Das Interview als Dispositiv der Gruppenproduktion mündlicher Erzählungen 4.8 Grenzen bei der Durchfuhrung der Interviews 4.9 Erstellung der Fragebögen und ihre Beantwortung durch die Schulleitung und die Informanten 4.10 Leitgedanken der vergleichenden Analyse der schriftlichen Befragungen 4.11 Leitgedanken zur Methodologie der Analyse und Interpretation der Gruppeninterviews

95

97 101 102 103 104 106 107 108 108 111 114

9

Inhalt 5

5.1

5.2

DIE VERSIONEN DES GERÜCHTES ÜBER DIE SCHLÜMPFE IN NEZAHUALCOYOTL, ESTADO DE MÉXICO

I 11

Das kulturelle Umfeld Nezahualcoyotls

117

5.1.1

Allgemeine Kennzeichnung

117

5.1.2

Kennzeichnung der Schule Benito Juárez

120

5.1.3

Tätigkeiten der Eltern

121

5.1.4

Tätigkeiten der Kinder

122

5.1.5

Alltagspraxis der Schriftlichkeit

123

5.1.6

Audiovisuelle Kultur

125

Die schriftlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschule

5.3

125

5.2.1

Die den Kindern bekannten Versionen

126

5.2.2

Die speziellen Versionen

127

5.2.3

Zur Konzeption der Texte

129

5.2.4

Die Anwendung der Regeln des Schreibens

132

Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der vierten Klasse der Grundschule: "Es que le digo a él que sí existen los pitufos"

135

5.3.1

Die den Kindern bekannten Versionen

136

5.3.2

Erste Phase der Befragung: Der erscheinende Schlumpf und die damit verbundenen Assoziationen

136

5.3.2.1 Mythen über ruhelose Seelen

138

5.3.2.2 Legenden und religiöse Volkstraditionen über den Teufel und die Jungfrau Maria

139

5.3.2.3 Erzählungen über lebendig werdende Puppen und Verbrennungen von Schlümpfen 5.3.3

141

5.3.2.4 Die Fernsehsendungen über die Schlümpfe

143

Einige Aspekte der Gruppendynamik der ersten Phase

146

5.3.3.1 Interaktionsschema zwischen den Kindern und der Interviewerin

146

5.3.3.2 Der Grad der Glaubwürdigkeit der Erzählungen der Kinder im Zusammenhang mit der Gruppendynamik 5.3.4

147

Zweite Phase der Befragung: Das Schema der Verfolgung gewann die Oberhand

149

5.3.4.1 Die Superhelden und "El Santo" gegen die Schlümpfe

150

10

Margarita Zires 5.3.4.2 Die lokale Version der Legende von der Llorona 5.3.4.3 Religiöse Erzählungen über Gott und den Teufel Die Gruppendynamik der zweiten Phase

152 156 158

5.3.6 5.3.7

Die unterschiedlichen Tonfälle während der Befragung Die angeführten Informationsquellen und die Autorität vermittelnden Elemente

163

5.3.8

Zur diskursiven Einordnung und Definition des Rahmens der Befragung

5.3.5

Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und Alltagsleben der Kinder: Vom Gerücht über die Schlümpfe zu lokalen Erzählungen 5.3.10 Produktion und Austausch verschiedener Arten des

163 167

5.3.9

5.4

Wissens während der Befragung Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschule: Aus dem Blickwinkel

173

der Zeugen Jehovas und anderer Sekten 5.4.1 Die den Kindern bekannten Versionen 5.4.2 Die speziellen Versionen

177 178 178

5.4.2.1 Die Version vom erscheinenden Schlumpf 5.4.2.2 Die Version vom sich rächenden Schlumpf

178 179

5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6

5.4.2.3 Die Version vom dämonischen Schlumpf Die Assoziationswelt der Kinder Die unterschiedlichen Tonfälle während der Befragung Die Stimmung in der Gruppe: Was wäre, wenn es stimmte? Die Gruppendynamik

181 182 183 184 185

5.4.7

Zwischen Befragung und Gruppengespräch

186

5.4.8

Die angeführten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente

187

5.4.9

Zur diskursiven Einordnung und Definition des Rahmens der Befragung

190

5.4.10 Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und Alltagsleben der Kinder 5.4.11 Produktion und Austausch verschiedener Arten des 5.5

170

Wissens während der Befragung Das Gerücht über die Schlümpfe im Lichte der Formen übernatürlichen Denkens: Einige Schlußfolgerungen

190 191 192

11

Inhalt

5.5.1 5.5.2 5.5.3

6

Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Befragungen Das Auftauchen der anonymen, kollektiven Stimme und

192

das Verwischen des individuellen Subjekts

195

Vielfaltige Formen übernatürlichen Denkens

197

5.5.3.1 Alte und neue Synkretismen 5.5.3.2 Animistische und magische Prinzipien im Denken der Kinder 5.5.3.3 Interpretationen der Figur des Teufels 5.5.3.4 Der Einfluß religiöser Sekten

197

DIE VERSIONEN DES GERÜCHTES ÜBER DIE SCHLÜMPFE IN EL PEDREGAL DE SAN ANGEL, MEXIKO-STADT

6.1

6.2

6.3

199 200 201

205

Das kulturelle Umfeld der Villenviertel im Süden von Mexiko-Stadt 6.1.1 Allgemeine Kennzeichnung 6.1.2 Kennzeichnung der Schule Peterson

205 205 206

6.1.3 6.1.4

209 209

Tätigkeiten der Eltern Tätigkeiten der Kinder

6.1.5 Alltagspraxis der Schriftlichkeit 6.1.6 Audiovisuelle Gewohnheiten Die schriftlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe

210 211

in der sechsten Klasse der Grundschule

212

6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4

212 213 215 217

Die den Kindern bekannten Versionen Die Version vom Roboterschlumpf Zur Konzeption der Texte Anwendung der Regeln des Schreibens

Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der vierten Klasse der Grundschule: "Ciertas historias ridiculas acerca de los pitufos"

220

6.3.1 6.3.2

Die den Kindern bekannten Versionen Die spezielle Version des Gerüchtes: Von der Version des Roboterschlumpfs zur Verteidigung der Schlumpfpuppen

220

6.3.3

Die Assoziationswelt der Kinder

226

6.3.3.1 Lokale mündliche Erzählungen gegen das Femsehen

226

6.3.3.2 Lokale mündliche Erzählungen über die Langeweile Die Schlümpfe und der Teufel Der spöttische Tonfall und die "habla fresa" der Kinder

228 229 231

6.3.4 6.3.5

222

Margarita Zires

12

6.4

6.5

6.3.6 6.3.7

Die Gruppendynamik Die angeführten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente

232

6.3.8

Zur diskursiven Einordnung

237

6.3.9

Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und Alltagsleben der Kinder

237

6.3.10 Produktion und Austausch verschiedener Arten des Wissens während der Befragung Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschule: Detektive gegen Abergläubische

235

238

240

6.4.1

Die den Kindern bekannten Versionen

241

6.4.2

Die speziellen Versionen: Unter der Logik der Detektive 6.4.2.1 Die Version vom Diebesschlumpf

242 242

6.4.2.2 Die Version vom Roboterschlumpf und die Verteidigung der Schlumpfpuppen

244

6.4.3

6.4.2.3 Die Version vom mordenden Dienstmädchen und durch Dienstmädchen erzählte lokale Geschichten über Puppen Gleichgültige, zweiflerische, spöttische Tonfälle und

6.4.4

"habla fresa" Die Gruppendynamik

249 250

6.4.5

Zur Definition des Rahmens der Befragung

252

6.4.6 6.4.7

Die angeführten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente Zur diskursiven Einordnung

253 254

6.4.8

Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und

246

Alltagsleben der Kinder 6.4.9 Produktion und Austausch verschiedener Arten des Wissens während der Befragung Die Ablehnung des Gerüchtes aus technologischen, rationalistischen und soziale Abgrenzung suchenden Prinzipien: einige Schlußfolgerungen

255

6.5.1 6.5.2

Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Befragungen Technologische Determinismen im Denken der Kinder

258 260

6.5.3 6.5.4

Rationalistische Prinzipien im Denken der Kinder Strategien sozialer Differenzierung und Individualisierungsprozesse

261

257

258

262

13

Inhalt

7

7.1

7.2

7.3

DIE VERSIONEN DES GERÜCHTES ÜBER DIE SCHLÜMPFE IN VALLADOLID, YUCATÁN

265

Das kulturelle Umfeld des Gebiets von Valladolid, Yucatán 7.1.1 Allgemeine Kennzeichnung 7.1.2 Kennzeichnung der Schule Hispanomexicano 7.1.3 Tätigkeiten der Eltern

265 265 268 269

7.1.4

Tätigkeiten der Kinder

270

7.1.5

Alltagspraxis der Schriftlichkeit

270

7.1.6 Audiovisuelle Gewohnheiten Die schriftlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschulen: "Por acá en Yucatán supimos" 7.2.1 Die den Kindern bekannten Versionen

272

7.2.2 7.2.3 7.2.4

275 278 281

Die Version vom Schlumpf als Alux Zur Konzeption der Texte Anwendung der Regeln des Schreibens

274 274

Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der vierten Klasse der Grundschule: "Como duendes o si no lo que dicen acá"

284

7.3.1 7.3.2

Die den Kindern bekannten Versionen Die spezielle Version: Der Schlumpf als Alux

284 285

7.3.3

Die Assoziationswelt der Kinder

288

7.3.3.1 7.3.3.2 7.3.3.3 7.3.3.4

288 290 292 294

Andere Maya-Legenden Der erscheinende Schlumpf und die Llorona Europäische Märchen und Sagen Erzählungen über Horrorfilme

7.3.4

Der Grad der Glaubwürdigkeit der Erzählungen

296

7.3.5

Die unterschiedlichen Tonfälle während der Befragung

299

7.3.6 7.3.7

Die Gruppendynamik Die angeführten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente

300 301

7.3.8

Zur diskursiven Einordnung

302

7.3.9

Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und Alltagsleben der Kinder

303

7.3.10 Produktion und Austausch verschiedener Arten des Wissens während der Befragung

305

Margarita Zires

14 7.4

Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschule 7.4.1 Die den Kindern bekannten Versionen

307 307

7.4.2

7.4.3

309 309 312

Die Assoziationswelt der Kinder

317

7.4.3.1 Die Erzählungen über die Figur des Yumbalam 7.4.3.2 Die Erzählungen über die Zauberer und ihre Verwandlungen

317 319

7.4.3.3 Erzählungen über den Volksglauben der Christen und Maya und über den Krieg der Kasten 7.4.3.4 Horrorfilme und die Sendungen über die

321

Schlümpfe Der Grad der Glaubwürdigkeit der Erzählungen Die unterschiedlichen Tonfälle während der Befragung Die Gruppendynamik

326 328 332 333

7.4.7

Die angeführten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente

335

7.4.8 7.4.9

Zur diskursiven Einordnung Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und

7.4.4 7.4.5 7.4.6

7.5

Die speziellen Versionen 7.4.2.1 Die Version vom Schlumpf als Alux 7.4.2.2 Die Version vom Schlumpf als X-tabay

336

Alltagsleben der Kinder 7.4.10 Produktion und Austausch verschiedener Arten des

337

Wissens während der Befragung Das Gerücht über die Schlümpfe im Lichte von Formen übernatürlichen maya-katholischen Denkens und bestimmter rationalistischer Prinzipien: einige Schlußfolgerungen

342

345

7.5.1 7.5.2

Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Befragungen Simultane Prozesse der Herstellung von Glaubwürdigkeit im Sinne der Maya und der Transformation der mündlichen Tradition der Maya

345

7.5.3

Unterschiedliche Strategien des Verwischens des individuellen Subjektes und des Auftauchens des kollektiven Subjektes

350

7.5.4

Vielfältige Formen übernatürlichen Denkens

352

7.5.5

Rationalistische Prinzipien im Denken der Kinder

352

346

15

Inhalt 8

8.1

K U L T U R E L L E KONVERGENZ UND KULTURELLE DIVERGENZ

355

Elemente kultureller Konvergenz

355

8.1.1

Elemente der kulturellen Konvergenz in den drei kulturellen Kontexten

356

8.1.1.1 Erzählungen über lebendig werdende Puppen und über Verbrennungen von Schlümpfen

356

8.1.1.2 Erzählungen über die Figur des Teufels und die

8.1.2

Version vom dämonischen Schlumpf

357

8.1.1.3 Erzählungen über die Sendung der Schlümpfe

358

8.1.1.4 Erzählungen über die Abwesenheit der Mutter

360

Punkte der Konvergenz zwischen Nezahualcoyotl und Valladolid

8.1.3

Punkte der Konvergenz zwischen Nezahualcoyotl und

8.1.4

Punkte der Konvergenz zwischen Valladolid und

8.1.5

Einige Überlegungen zu den Punkten der kulturellen

El Pedregal El Pedregal Konvergenz 8.2

8.3

361 363 363 364

Faktoren kultureller Konvergenz in Wechselbeziehung mit Tendenzen kultureller Divergenz

365

8.2.1

Die Katholische Kirche

365

8.2.2

Die Institution der Schule

368

8.2.3

Die Kulturindustrien

371

Unterschiedliche Subjekte und ungleiche soziale Chancen

BIBLIOGRAPHIE

373

377

0.

0

Einleitung

17

EINLEITUNG

Diese Untersuchung über die mündlichen Kulturen und ihre Wechselbeziehung mit schriftlichen und audiovisuellen Kulturen greift auf ein Gerücht zurück, das sich 1982 und 1983 in Mexiko im ganzen Land verbreitete. Durch eine Analyse dieses Gerüchts soll gezeigt werden, wie unter den gegenwärtigen Bedingungen Lateinamerikas mündliche, schriftliche und audiovisuelle Kulturen voneinander abhängig sind. Die Schwierigkeit des Wissenschaftlers, der über die Mündlichkeit arbeiten will, besteht darin, daß er diese Mündlichkeit durch das Prisma einer Gesellschaft mit Schrifttradition wahrnimmt. Diese Dominanz der Schrifttradition ist besonders stark unter Wissenschaftlern ausgeprägt. Ein zweites Prisma, das die Wahrnehmung der Mündlichkeit durch den Wissenschaftler gestaltet, ist die Gesellschaft, in die er eingebettet ist, mit ihren konkreten Ausprägungen und Wechselbeziehungen der Mündlichkeit, der Schriftkultur und der audiovisuellen Diskurse von Radio und Fernsehen. Die mexikanische Gesellschaft - der ich angehöre - wird vor allem durch die Interaktionsformen zwischen Radio und Femsehen geprägt, ebenso aber durch Erzählungen, die von dieser Kulturindustrie aufgenommen, verarbeitet und wieder in Umlauf gesetzt werden.

0.1

Mündliche Kulturen

Unter mündlichen Kulturen verstehe ich einerseits die verbalen Interaktionsrituale und andererseits die mündlichen Texte, die in diesen Ritualen unter bestimmten historischen Umständen erzeugt und weitergegeben werden. Ich gehe davon aus, daß jeder soziale Austausch - und damit jede Art der Mündlichkeit, einschließlich der sogenannten "primären" (Ong, 1982) - geprägt ist von bestimmten kulturellen Regeln und jeweils eigenen Formen, Wissen zu produzieren und weiterzugeben. Diese kulturellen Regeln und Formen der Produktion und Weitergabe von Wissen sind je nach dem spezifischen Zusammenhang in unterschiedlichen Sprachweisen und Technologien verankert. Radio und Fernsehen nehmen sowohl an der Gestaltung der Interaktionsrituale als auch der Inhalte teil. Die Sprache des Mundes, die Sprache des Körpers und die schriftlichen Ausdrucksformen bilden die diese Interaktionen strukturierende Materie. Die allgemeinen kulturellen Normen und die besonderen Normen der Produktion und Weitergabe von Wissen, die den verschiedenen gesellschaftli-

18

Margarita

Zires

chen Bereichen entstammen, bestimmen, was man sagt und was man nicht sagt, genauso wie die Form dessen, was man sagen kann und wie man etwas sagt. Es besteht also meines Erachtens keine Mündlichkeit, die nicht durch soziale Übereinkünfte geprägt ist. Schon die Sprache ist ein Produkt der Kultur, ein Medium, das für die mündliche Kommunikation formgebend ist.

0.2

Schriftliche und audiovisuelle Kulturen

Unter schriftlichen Kulturen verstehe ich die Diskurse, die in schriftlicher Form im Umlauf sind, und die Normen, die in konkreten Umfeldern bestimmen, was man schreibt, was man liest und unter welchen Umständen und in welcher Weise man schreibt und liest. Unter audiovisuellen Kulturen verstehe ich die Diskurse, die durch die Industrien des Rundfunks und des Fernsehens an einen bestimmten kulturellen Kontext weitergegeben werden. Teil der audiovisuellen Kulturen sind aber auch die Normen, denen diese Weitergabe unterliegt und die die Wechselbeziehungen von empfangenden Subjekten und sendenden Institutionen formen. Nicht zuletzt zählt zu diesen Normen die Art der Anwesenheit des Radios und des Fernsehers innerhalb der Wohnung. Sie tragen dazu bei, den Wohnraum und die Zeit im Alltag zu gliedern. Die Analyse dieser Faktoren erlaubt die unterschiedlichen Prozesse der Aneignung dieser Medien in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu erfassen. Hier wird davon ausgegangen, daß die Schrift und die neuen Formen audiovisueller Kommunikation sich auf sehr unterschiedliche Weise in die jeweiligen Gesellschaften eingefugt und die Produktion, Weitergabe und Bewahrung des Wissens verändert haben. In dieser Arbeit wird daher von mUndlichen Kulturen, schriftlichen Kulturen und audiovisuellen Kulturen im Plural und nicht im Singular gesprochen. Damit wird eine deterministische, ahistorische und generalisierende Sichtweise der Kommunikationstechnologien vermieden, die meint, daß diese Faktoren ausreichen, um makrosoziale und politische Veränderungen der Gesellschaften zu erreichen und die Denkstruktur der Personen zu verändern (Goody/Watt, 1968; Ong, 1982; McLuhan, 1964). Damit wird auch das Zentrum der Diskussion versetzt: Es geht nicht mehr um die allgemeinen Auswirkungen der Kommunikationsmedien, sondern um die vielfältigen Prozesse der Aneignungen in bestimmten historischen Kontexten. Einigen Kulturwissenschaftlern wurde im letzten Jahrzehnt bewußt, wie wichtig es ist, die Gleichzeitigkeit und gegenseitige Durchdringung der mündlichen For-

0. Einleitung

19

men der Kommunikation mit den schriftlichen und audiovisuellen Formen in heutigen Gesellschaften zu untersuchen (Finnegan, 1988; Scharlau, 1989). Es liegen jedoch bisher nur wenige konkrete Untersuchungen vor, die diesen Ansprüchen genügen. Unter den vorgelegten konkreten Fallstudien dieser Art in Lateinamerika sind die Arbeiten über den Wandel der mündlichen Kulturen und der Schrifttradition unter indigenen Gruppen Lateinamerikas seit der Kolonialzeit bis heute von Scharlau/Münzel (1986) und Lienhard (1990) zu nennen. Auch sind in diesem Zusammenhang die Analysen Zumthors (1980) über die gegenseitige Beeinflussung der mündlichen und schriftlichen Formen in der "KordelLiteratur" Brasiliens und die Untersuchungen über die Wechselwirkung dieser mündlichen/schriftlichen Formen mit Fernsehdiskursen von Armbruster (1989) und Nitschack (1989) anzuführen. Ebenso ist die Studie von Zires (1989) über die Gestaltung mündlicher Kindergeschichten in Mexiko unter dem Einfluß der Fernsehdiskurse zu erwähnen.

0.3

Gleichzeitige Tendenzen der kulturellen Homogenisierung und Differenzierung in Lateinamerika

Durch die wachsende Verstädterung, die Ausbreitung der neuen Informationsund Kommunikationstechnologien - Satelliten, Parabolantennen, Kabelfernsehen, Modem, usw. - und die Mediatisierung seiner Kultur (Schmucler/Mata, 1992) wurde das kulturelle Panorama Lateinamerikas bedeutenden Veränderungen unterworfen. Über Satelliten erhalten wir täglich Bilder, die ihres historischen Kontextes entblößt weltweit verbreitet werden und die die Blicke von Millionen von Menschen gleichzeitig auf das gleiche Objekt konzentrieren. Die wechselseitige Verbindung und die gegenseitige Abhängigkeit wächst täglich, und es ist daher schwierig sich vorzustellen, es gebe heute noch unabhängige Kulturen. Die Metapher des idyllischen globalen Dorfs von McLuhan wurde wieder aufgenommen, um eine weltweite kulturelle Homogenisierung zu erklären. Eine andere Metapher ist die "McDonaldisierung" der Welt, in der die kulturelle Homogenisierung als Ergebnis der Standardisierung und Zerstörung anderer Kulturen betrachtet wird. Die Verfechter wie die Kritiker dieser Konzepte sind sich jedoch im Grunde einig: die kulturelle Homogenisierung ist eine Tatsache. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Verbreitung von McDonald's und CocaCola - um die meistzitierten Beispiele aufzugreifen - überall dieselben Auswirkungen haben. Der Einschluß eines neuen Elementes in eine Kultur verändert

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diese Kultur: Diese Änderung ist jedoch nicht überall gleich. Mit dem Einschluß des neuen Elementes werden die übrigen Elemente der Kultur neu geordnet. McDonald's kann bestimmte Restaurants ersetzen oder mit anderen Restaurants gleichzeitig bestehen. Die Kriterien der Einschätzung lokaler Restaurants werden dadurch verändert. Die möglichen Wirkungen sind vielfältig und unvorhersehbar, da die konkreten Umstände, auf die das neue Element trifft und in denen es eine bestimmte Bedeutung gewinnt, vielfaltig sind. Diese Arbeit geht davon aus, daß eine dauernde Spannung besteht zwischen den Tendenzen zur Homogenisierung und den Tendenzen zur kulturellen Diversifikation. Anders als in Europa fand in Lateinamerika die Mehrheit der Bevölkerung Zugang zu den Kommunikationstechnologien (Rundfunk, Fernsehen) und ihren vielfältigen audiovisuellen Diskursen, bevor sie Zugang zur Schule und zum Buch hatte. Das läßt vermuten, daß diese Institutionen in Lateinamerika und Europa unterschiedliche Auswirkungen haben und keinesfalls eine weltweite homogenisierte Landschaft entsteht. Wenn wir auch einerseits immer mehr wechselseitig verbunden werden und starke homogenisierende Tendenzen wirksam sind - über die Verbreitung der neuen Kommunikationstechnologien und andere Prozesse - , so bestehen doch gleichzeitig andere sozio-ökonomische und politische Prozesse, die eine kulturelle Diversifikation und Fragmentation fördern (Ford, 1992). Seit mehr als einem Jahrzehnt besteht in Lateinamerika ein sichtbarer Prozeß der Konzentrierung wirtschaftlicher Macht in Händen einer immer kleiner werdenden Gruppe unserer Gesellschaften. Die "Modernität" führte weder zur Beseitigung der Armut noch zur Beseitigung politischer Marginalisierung. Einige Probleme wie sinkender Lebensstandard und Arbeitslosigkeit, die in vielen Gesellschaften auftreten, sind in Lateinamerika besonders einschneidend. Hier kommen aber noch die Hyperinflation, die Bedeutung von Drogengeldern in der Wirtschaft und die Kapitalflucht dazu. Das gestiegene Niveau der Information führte nicht zu einer steigenden politischen Beteiligung der Bürger. Als Folge der neoliberalen Ideologie hat die Rolle der politischen Parteien und die des Staates als regelnder Instanz erheblich an sozialer Bedeutung verloren. Andere zivile Bewegungen sind auf den Plan getreten, die bisher jedoch nur ein kurzzeitiges Leben aufwiesen. Starke Prozesse eines wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs fuhren in fast allen Ländern Lateinamerikas zu Prozessen kulturellen Zerfalls. Gleichzeitig ist die Existenz lokaler Logiken kultureller Produktion zu beobachten als Ergebnis unterschiedlicher wirtschaftlich-produktiver Ordnungen und besonderer Ein-

0. Einleitung

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Ordnungen in den Weltmarkt sowie lokaler kollektiver Gedächtnisse, die als Faktoren einer kulturellen Diversifikation wirken. Nach Brunner (1987) bedeutet kulturelle Heterogenität in Lateinamerika eine segmentierte Teilnahme am Weltmarkt der Botschaften und Symbole und eine differenzierte Teilnahme gemäß den lokalen Rezeptionsrege In. Der Begriff "kulturelle Heterogenität" verweist gegenwärtig nicht nur auf eine einfache Vielfalt von Kulturen der Ethnien, Gruppen, Klassen und Regionen Lateinamerikas (Scharlau/Münzel/Garscha, 1991: 7-9). Diese Kulturen stehen nicht isoliert, Seite an Seite, sondern sind gegenseitig voneinander abhängig. Sie stehen in ständiger politischer Spannung, deren wechselnde Stärke bestimmt ist durch das Verhältnis zum Nationalstaat und ihrer unterschiedlichen Einbindung zum bzw. Ausgrenzung vom Weltmarkt. Aus der Perspektive dieser Untersuchung erscheint eine Gegenüberstellung von kultureller Homogenisierung und Heterogenisierung, wie sie häufig in Studien über die Kulturen Lateinamerikas vorgenommen wird wenig sinnvoll. Es ist wichtiger zu untersuchen, auf welche Weise beide Tendenzen nebeneinander bestehen, sich kreuzen und beeinflussen. In der Analyse des hier zu untersuchenden Gerüchts, wird von einer Gleichzeitigkeit beider Tendenzen ausgegangen. Es werden daher zum einen die verschiedenen Versionen des Gerüchts erfaßt, d.h. die Dynamik seiner Umformung, die durch die Logiken kultureller Divergenz mitgeprägt ist. Zum anderen werden die gemeinsamen Elemente der unterschiedlichen Versionen des Gerüchts erarbeitet, die hier Punkte kultureller Konvergenz genannt werden. Die Überlegungen, die zu den hier verwandten Konzepten der "Punkte kultureller Konvergenz" und "Logiken kultureller Divergenz" führen, werden in Kapitel 1 der Arbeit vorgestellt. Der empirische Teil dieser Untersuchung wurde 1983 beendet. Seitdem haben in Mexiko Veränderungen stattgefunden: eine Ausweitung der Fernsehindustrie in Bezug auf die Anzahl der Kanäle, den Umfang der täglichen Programme, die Anzahl der Fernsehgeräte besitzenden Familien, die allgemeine Einführung des Kabelfernsehens und eine größere Verbreitung von Videogeräten und Videospielen. Trotzdem erlauben die Ergebnisse dieser Untersuchung von kulturellen Tendenzen zu sprechen, die mit dem Prozeß der Industrialisierung, der Urbanisierung, der allgemeinen Einschulung und der Ausweitung der Rundfunk- und Fernsehindustrie begannen.

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0.4

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Verschiedene Konzeptionen des Gerüchtes

Das Gerücht ist ein polymorphes Untersuchungsobjekt. Unter dem Begriff Gerücht wurden viele verschiedene Phänomene analysiert, um unterschiedliche Probleme zu lösen. In seiner Definition, Kennzeichnung und vielseitigen Abgrenzung wurde das Gerücht mit anderen Untersuchungsobjekten wie dem des Mythos, der Legende, der mündlichen Tradition, dem Klatsch, den Träumen, den Nachrichten, der Information und der Propaganda verglichen. In Abhängigkeit von den verwendeten Theorien und den zugrundeliegenden politischen Perspektiven wurden diese Begriffe dem des Gerüchts verschieden zugeordnet: einige dieser Konzepte wurden als dem Gerücht verwandt empfunden, andere als gegensätzlich. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen haben sich des Themas Gerücht angenommen und auf dieses Phänomen ihr theoretisches Handwerkszeug angewandt. An erster Stelle ist die Psychologie zu nennen mit ihren unterschiedlichen Ausrichtungen: die Gestalt-Psychologie, die Studien des Gedächtnisses durch Bartlett, der Behaviorismus und die kognitive Psychologie. Dies ergab für die ersten Wissenschaftler, die dieses Phänomen untersuchten, eine Fülle von theoretischen Werkzeugen. Das Ziel dieser ersten Untersuchungen war es, "Kliniken des Gerüchts" zu schaffen, um die Entstehung und Verbreitung unerwünschter Gerüchte während des Zweiten Weltkriegs zu verhindern (Knapp 1944; Allport und Postman, 1947). Diese Arbeiten sind sehr wichtig, da sie das Untersuchungsfeld des Gerüchts gestalteten, die Regeln zur Definition dieses Problems bestimmten sowie die Kategorien, um die Wirkungen eines Gerüchts zu untersuchen und zu bewerten mit der instrumentalen Ausrichtung, die der Kriegszustand vorgab. Über diese Studien wurde das Wissen über die Kontrolle von Gerüchten, zum "wissenschaftlichen" Forschungsgebiet. Dazu war es notwendig, die gesellschaftlichen Ursachen der Entstehung von Gerüchten zu kennen, die Motivationen des Einzelnen, an seiner Verbreitung teilzunehmen. Je nach den individuellen Bedürfhissen und Motivationen, die sie befriedigten, wurden die Gerüchte klassifiziert. Später waren auch Beiträge zu verzeichnen aus dem Bereich der funktionalistischen Soziologie (Shibutani, 1966; Dröge, 1970), der Sozialpsychologie (Rosnow, 1976; Rouquette, 1975), sowie Studien strukturalistischer Tendenzen aus anthropologischer oder freudianischer Sicht, die in Studien über das Gerücht ihren Niederschlag fanden (Bonaparte, 1950; Langer, 1957; Gritti, 1978). Die letztgenannten Autoren versuchten über die Gerüchte "ewige psychische Strukturen" und "universale Erzählstrukturen" zu erfassen.

0. Einleitung

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In dieser Arbeit soll vor allem die kulturelle und die mündliche Dimension des Gerüchts herausgestellt werden. Die kulturelle Dimension wurde in den Fallstudien von Morin (1969) und Kapferer (1987) untersucht, die mündliche Dimension wurde von der Mehrheit der Autoren als grundlegend betrachtet, aber niemals in ihren Untersuchungen berücksichtigt. In Kapitel 1 dieser Arbeit wird kritisch über das Konzept des Gerüchts bei Knapp, Allport und Postman nachgedacht, die im Gerücht eine Art von Entstellung der Wahrheit und politischer Propaganda sahen. Das Gegenteil des Gerüchts ist für sie die Objektivität und die Nachricht. Diese Studien sind durchdrungen von der Situation des Krieges und versuchen den Ursprung der Gerüchte zu finden und die Art ihrer Verbreitung zu erkennen, um Mittel zu ihrer Eindämmung zu besitzen. Für sie ist das Gerücht eine soziale Krankheit. In dieser Arbeit wird versucht, die Ordnung der Glaubwürdigkeit und Logik mündlicher Erzählproduktion in bestimmten kulturellen Kontexten zu erfassen. Die Frage nach der Wahrheit und Falschheit des Gerüchts wird somit gegenstandslos. Es wird versucht, einen Einblick in die Gesellschaft und ihre kulturellen Prozesse zu erhalten, von denen die Gerüchte ein Teil sind, wobei gleichzeitig die mit dem Gerücht besonders verbundenen Phänomene - Mythen, Legenden, verbale Prozesse kollektiver Kommunikation, usw. - beachtet werden, die von den ersten Wissenschaftlern dieses Feldes ausgeschlossen wurden.

0.5

Das Gerücht als mündliches, kollektives und anonymes Produkt in ständiger Verwandlung

In dieser Arbeit wird ein Gerücht als ein Produkt verstanden mit den Eigenschaften: mündlich, unvollständig und in ständiger Umformung gemäß dem jeweiligen historischen und kulturellen Kontext, in dem es kursiert. Es ist daher wichtig, seine vielfaltigen Versionen und Verwandlungen zu erkennen (Morin, 1969; Dröge, 1970). Damit entsteht eine Frage: Was ist eine Version? Es sei unterstrichen, daß eine Version nicht als Ableitung aus einer Ur-Erzählung verstanden wird. Die am meisten verbreiteten Versionen, die im Laufe dieser Arbeit vorgestellt werden, sind nicht die Modelle der speziellen Versionen der verschiedenen untersuchten kulturellen Kontexte. Die einen wie die anderen sind Produkte einer analytischen Rekonstruktion, die nach den Interviews durchgeführt wurde. Dies erlaubt, die den verschiedenen Erzählungen gemeinsamen Elemente zu entdecken, wobei das

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diesen Versionen Gemeinsame genauer herausgearbeitet werden muß, da sie in den verschiedenen kulturellen Kontexten unterschiedliche Dimensionen und besondere Formen annehmen. Der Akzent dieser Arbeit liegt nicht auf der Erarbeitung eines Modells oder einer Struktur der Erzählung, wie dies bei formalistischen Linguisten, den anthropologisch-strukturalistischen Studien und den strukturalistischen Forschungen über die Gerüchte der Fall ist (Lévi-Strauss, 1973; Gritti, 1978). Hier soll die Dynamik der Umformungen mündlicher Erzählungen analysiert werden. Daß ein Gerücht das Produkt der Mündlichkeit ist und mündlich weitergegeben wird, bedeutet nicht, daß es nicht durch schriftliche und audiovisuelle Diskurse geprägt werden kann, die ihm dann Glaubwürdigkeit verleihen. Es bedeutet auch nicht, daß es nicht durch die Massenmedien aufgenommen werden könnte. Das Gerücht entsteht in den Zwischenräumen der Institutionen und verbreitet sich über die informellen Kanäle. Es unterscheidet sich in dieser Weise vom Mythos, der eine legitimierte Erzählung ist, die über die offiziellen, institutionalisierten Kanäle einer Gemeinschaft oder Gesellschaft weitergegeben wird. Darüber hinaus bietet der Mythos im allgemeinen eine übernatürliche Erklärung der Ordnung der Welt an und bezieht sich auf die Vergangenheit, obwohl er der Gegenwart eine Erklärung der bestehenden Ordnung zur Verfügung stellt

(Campion-

Vicent/Renard, 1992: 10 f). Gerüchte sind üblicherweise kurze Erzählungen, die auch einen kurzen Lebenszyklus besitzen. Sie können aber in latenter Form im kollektiven Gedächtnis einer Gemeinschaft aufbewahrt bleiben und bilden häufig auch den Hintergrund für die Entstehung neuer Gerüchte, wie Edgar Morin (1969) nachweist. Wenn ein Gerücht nicht kurzfristig vergeht, verwandelt es sich in eine Legende oder in einen Mythos, die als Erzählungen von größerer Langlebigkeit und Dauer betrachtet werden. Legenden werden nach üblichem Verständnis als Geschichten über ländliche und übernatürliche Ereignisse aufgefaßt. In neueren Untersuchungen über "zeitgenössische Legenden" werden sie jedoch als Erzählungen über das moderne Leben in der Stadt verstanden, die nicht notwendigerweise übernatürliche Inhalte enthalten. Vielmehr verleiht ihnen gerade diese Beziehung zu tatsächlich Stattgefundenem Glaubwürdigkeit (Campion-Vincent/Renard, 1992). Für diese über zeitgenössische Legenden arbeitenden Wissenschaftler besteht eine enge Verbindung zwischen Legenden und Gerüchten. Gerüchte sind Phänomene, die Gruppen und Kollektive betreffen. Sie durchziehen gesellschaftliche Gruppen und manchmal verschiedene kulturelle Kontexte,

0. Einleitung

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so wie dies auch bei Legenden und Mythen der Fall ist. Auf ihrer Wanderschaft treffen sie auf unterschiedliche Türen und Schranken, die sie verändern, verformen oder ihre Verbreitung dauernd oder zeitlich begrenzt verhindern. Ihr Studium erlaubt daher die unterschiedlichen kulturellen Gewebe zu erkennen und die unterschiedlichen Ordnungen der Glaubwürdigkeit einer Gesellschaft zu erfassen auf der Grundlage der mündlichen Texte, die die sprechenden Subjekte in der verbalen Kommunikation miteinander produzieren. Während die Subjekte an der Erstellung des Gerüchts mitarbeiten, versinken sie in eine Anonymität, in das "man sagt", in ein Gemurmel von Stimmen und Gesten, die Gruppen und Kulturen durchziehen. Das Gerücht ist so betrachtet anonym, es besitzt keinen Autor und auch in dieser Hinsicht gleicht es der Legende und dem Mythos. Allgemein kann man feststellen, daß die schriftlichen und audiovisuellen Diskurse, wenn sie in eine mündliche Kommunikation aufgenommen werden, einen Prozeß der Anonymisierung erleiden. Die Spuren des Autors und die Ausdrucksformen der schriftlichen und audiovisuellen Sprache verblassen. Die theoretischen Überlegungen über die mündliche, kollektive und anonyme Dimension des Gerüchts werden in Kapitel 2 behandelt. Das Gerücht als fertiges Produkt steht nicht im Zentrum des Interesses dieser Untersuchung; vielmehr soll der Prozeß seiner Entstehung im Verlauf der Diskussion in der Gruppe untersucht werden. Die bisherigen Untersuchungen über das Gerücht haben diesen Aspekt niemals berücksichtigt. Will man die Dimension des Prozesses der mündlichen Kommunikation erfassen, müssen auch die gesellschaftlichen Bedingungen in ihrem Raum-Zeit-Bezug, welche die Entstehung und Umgestaltung von Gerüchten, Legenden und Mythen bestimmen, untersucht werden. Auch die verschiedenen verbalen und nonverbalen Ausdrucksformen der an diesem Kommunikationsprozeß teilnehmenden Subjekte sind zu analysieren. Die Dimension des Prozesses der mündlichen Kommunikation und die Dimension der Diskussion in der Gruppe sind auf diese Weise verschränkt. Die Analyse des Gerüchts über die Schlümpfe, die in dieser Arbeit vorgestellt wird, schließt nicht nur die Untersuchung des Inhalts der vielfältigen Versionen des Gerüchts ein, sondern auch die Untersuchung des Kontextes ihrer Produktion durch die Gruppe, in dem diese Versionen entstanden.

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0.6

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Die Fallstudie: Das Gerücht über die Schlümpfe

Das Gerücht über die Schlümpfe verbreitete sich 1982 und 1983 in ganz Mexiko, von der Grenze mit den USA bis zur Grenze mit Guatemala, vor allem unter den Kindern. 1 Diesem Gerücht zufolge wurden Puppen und Spielzeuge lebendig und brachten Kinder um. Zum Verständnis dieses Gerüchts werde ich in Kapitel 4 einige Bemerkungen einfügen. Da dieses Gerücht mit den Figuren der Fernsehsendung für Kinder Los Pitufos verbunden ist, können durch seine Untersuchung die Wechselbeziehungen aufgezeigt werden, die zwischen mündlichen Texten und den Texten bestehen, die von der Fernsehindustrie in die verschiedenen kulturellen Kontexte ausgestrahlt werden. Damit soll aber nicht gesagt werden, daß diese Wechselbeziehungen nur dann bestehen, wenn sich die Gerüchte auf Aspekte des Fernsehens beziehen. Das Gerücht über die Schlümpfe breitete sich in ganz Mexiko aus. Deshalb konnten durch diese Untersuchung die Elemente festgestellt werden, die verschiedenen kulturellen Kontexten gemeinsam sind, und auch diejenigen, die sie unterscheiden. Dies wurde im Rahmen der Analyse der Versionen des Gerüchts und der mit dem Gerücht verbundenen Erzählungen geleistet. Es wird dadurch möglich, sich dem Studium der Tendenzen der Konvergenz zu widmen, welche die Kulturen der analysierten Gruppen verbinden, die Knoten zwischen den verschiedenen kulturellen Geweben, aber auch den Logiken der kulturellen Divergenz, welche die Prozesse kultureller Differenzierung fördern. Diese Sichtweise ist meinen Untersuchungen zufolge bis jetzt in Fallstudien nicht aufgenommen worden. Den bisherigen Ausführungen läßt sich entnehmen, daß hier nicht nur eine Untersuchung über ein Gerücht vorgelegt werden soll, in dem die Mechanismen der Verbreitung eines mündlichen Textes untersucht werden. Die verschiedenen Versionen des Gerüchts werden als ein Einfallstor betrachtet, um einige mündliche Kulturen in Mexiko in ihrer Wechselbeziehung mit den schriftlichen Kulturen und den audiovisuellen Kulturen zu erfassen.

Die Verbreitung des Gerüchts über die Schlümpfe in ganz Mexiko konnte überprüft werden, als Volksschullehrer aus dem ganzen Land im Rahmen eines Kurses von Corona 1983 befragt wurden.

0. Einleitung

0.7

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Die Vorgehensweise der Untersuchung

Um zu erforschen, was Kinder in Mexiko über das Gerücht wissen, und die unterschiedliche Beherrschung der Regeln des Schreibens in verschiedenen kulturellen Kontexten kennenzulernen, wurden schriftliche Befragungen in drei Grundschulen durchgeführt. Mit denselben Kindern wurden danach auch Gruppeninterviews durchgeführt, um dadurch u.a. zu erfahren, welche Versionen des Gerüchts sie kannten und produzierten, was sie in diesen Versionen hervorhoben und welche Diskurse sie damit verbanden. Gleichzeitig wurde beleuchtet, welches Interesse die Kinder dem Gerücht entgegenbrachten und welche Glaubwürdigkeit sie ihm beimaßen. Das Gruppeninterview erschien außerdem als eine geeignete Technik, um den Gruppenprozeß der Entstehung von mündlichen Erzählungen unter Kindern zu erfassen. Aufgrund der kulturellen Heterogenität und der sozialen Differenzierung Mexikos wurden die Kinder von zwei Schulen in Mexiko-Stadt ausgewählt, die sich in ihren kulturellen Regeln und den alltäglichen Gewohnheiten klar unterschieden. Die Schule der dritten Kindergruppe befindet sich in Valladolid, im Südosten Mexikos auf der Halbinsel Yucatán. Diese Ortschaft wurde ausgewählt, weil sie Teil eines kulturellen Zentrums ist, dessen Gewohnheiten noch immer sehr mit den alten Traditionen der Maya verbunden sind. Die Kapitel 5, 6 und 7 sind jeweils einem dieser drei kulturellen Kontexte gewidmet. In jedem Kapitel werden auch die sozio-ökonomischen Strukturen des jeweiligen Kontextes beschrieben.

0.8

Die Dokumente der Untersuchung

In dieser Untersuchung wurden folgende Dokumente analysiert: die schriftlichen Texte der Kinder über die ihnen bekannten Versionen des Gerüchts; die von der Tonbandaufnahme überschriebenen Texte der Gruppeninterviews sowie die Tonbandaufnahmen selbst; die während der Gruppenbefragungen von der Assistentin geführten Protokolle und meine eigenen, nach jeder Gruppenbefragung erstellten Aufzeichnungen. Diese Dokumente erlaubten in jedem kulturellen Kontext den Entstehungsprozeß der unterschiedlichen Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe herauszuarbeiten. Gleichfalls konnten die Assoziationen dieses Gerüchts mit anderen mündli-

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chen, schriftlichen und audiovisuellen Erzählungen festgestellt werden, die den Versionen des Gerüchts einen bestimmten Grad von Glaubwürdigkeit verliehen.

0.9

Methodologische Überlegungen

Der Ausgangspunkt dieser Untersuchung waren das sprechende Subjekt und seine Diskurse, die durch eine künstliche Situation mündlicher Gruppenkommunikation provoziert wurden. Der Kunstgriff dieser Provokation war das Gerücht über die Schlümpfe. Dabei ist die produktive Dimension des sprechenden Subjektes hervorzuheben. Man kann nicht von passiven Subjekten sprechen, so wie dies in den 70er Jahren vor allem im Bereich der Soziologie verstanden wurde. Es ist daher von Interesse, die verschiedenen Prozesse der diskursiven Produktion in Hinblick auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Sprechenden zu untersuchen. Ausgehend von den Überlegungen Barthes' (1970) über die vielfältigen Konventionen, die einen Text formen, und dem Gesichtspunkt der Intertextualität (Kristeva, 1968; Zumthor, 1981) ist zu beachten, daß das sprechende Subjekt von vielfaltigen Diskursen sehr verschiedener Herkunft durchzogen ist, nämlich der Familie, der Schule, der Medien und der verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen. Diese, die Subjekte durchziehenden Diskurse sind nicht notwendigerweise kongruent und frei von Widersprüchen. Dieser Untersuchung zufolge wurden die Diskurse in mündliche, schriftliche und audiovisuelle eingeteilt, wobei dies nicht bedeutet, sie seien unabhängig voneinander. Wenn ein Subjekt spricht, nimmt es nicht nur die Elemente der mündlichen Diskurse auf, sondern auch die der schriftlichen und audiovisuellen Diskurse. Wenn ein Subjekt schreibt, bezieht es sich nicht nur auf schriftliche Texte, und wenn es audiovisuelle Diskurse verarbeitet, assoziiert es sie nicht nur mit audiovisuellen Diskursen. Diese Ausrichtung der Studie entfernt sich von den linearen und mechanistischen Konzeptionen vieler Untersuchungen über Wirkungen der schulischen Institutionen und der Kommunikationsmedien auf die untersuchten Subjekte. In solchen Analysen stehen meist nur die Zentren der Produktion des Wissens einer Gesellschaft im Mittelpunkt. Die Zwischenräume, die zwischen den Institutionen bestehen, und die Diskurse, die die Subjekte auf der Grundlage der Diskurse der vielfaltigen Instanzen des Wissens erstellen, werden beiseite gelassen. In den Kommunikationswissenschaften hat dies dazu geführt, daß Prozesse der mündlichen Kommunikation wie die Gerüchte nicht erforscht werden.

0.

Einleitung

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Die Notwendigkeit, den Blick abzuwenden von den Massenkommunikationsmedien und ihn auf die am Kommunikationsprozeß teilnehmenden Subjekte, die sogenannten Empfänger, zu konzentrieren, wurde in Lateinamerika im vergangenen Jahrzehnt allmählich erkannt. Es gibt aber weiterhin nur wenige Untersuchungen, die diese Ausrichtung übernehmen (Zires, 1983; Martín-Barbero, 1987; González, 1988; Corona, 1989; Barrios, 1992; Fuenzalida, 1992; MartínBarbero/Muñoz, 1992; Orozco, 1992, 1993; De laPeza, 1993). Aufgrund des Interesses dieser Untersuchung, die Bedeutung der Mündlichkeit in den gegenwärtigen Gesellschaften Lateinamerikas zu unterstreichen, steht das sprechende Subjekt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Da jedoch davon ausgegangen wird, daß die bestehenden mündlichen Kulturen umgeformt wurden, unter anderem durch die Einfuhrung der Schrift und die audiovisuellen Medien, wird auf einer zweiten Ebene das schreibende und das die Kommunikationsmedien empfangende Subjekt analysiert. Die Dimension der Schriftlichkeit wird durch die Analyse der von den Kindern aufgeschriebenen Texte über das Gerücht erfaßt. Die Dimension des Empfangs der Medien wird über die Analyse der Assoziationen der Kinder bezüglich der audiovisuellen Diskurse berücksichtigt. Wenn von sprechenden, schreibenden und audiovisuell empfangenden Subjekten die Rede ist, bezieht sich dies auf verschiedene Zeitpunkte der Analyse eines einzigen Subjektes. Die Gruppeninterviews wurden als Mechanismus aufgebaut, um mit Blick auf sprechende Subjekt die Produktion mündlicher Erzählungen zu fördern. schriftlichen Befragungen konzentrierten sich auf das schreibende Subjekt. der Analyse der von den Kindern in den Interviews übernommenen Elemente audiovisuellen Diskursen stand der Empfänger solcher Diskurse, vor allem Femsehens im Mittelpunkt.

das Die Bei aus des

0.10 Verschiedene Studienobjekte und transdisziplinäre Werkzeuge Um die mündliche Kultur in ihrer Wechselwirkung mit den schriftlichen Kulturen und den audiovisuellen Kulturen zu analysieren, bedarf es eines transdisziplinären Ansatzes. Das Ziel der Untersuchung führte dazu, daß vielfältige Studienobjekte auftraten und Techniken und Werkzeuge aus verschiedenen Disziplinen der Sozialwissenschaften verwendet wurden. Für die Analyse der sozioökonomischen und kulturellen Kontexte, in denen die schriftlichen und die mündlichen Befragungen durchgeführt wurden, kamen Techniken aus der Soziologie und solche aus der Anthropologie zum Einsatz. Es wurde zurückgegriffen

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auf statistische Daten sowie in jedem Kontext auf Feldbeobachtungen, ausgedehnte Interviews sowohl mit Informanten als auch der Leitung der Schulen, welche die Kinder besuchten. Überlegungen aus den verschiedenen Sprachwissenschaften (Sprachphilosophie, Semiologie, Pragmatik, Grammatik, Theorien der Diskursanalyse, der Argumentation und der Intertextualität) trugen zur Analyse der schriftlichen Texte der Kinder und der Überschreibungen der Tonaufhahmen der mündlichen Befragungen sowie der Analyse der Tonaufhahmen selbst bei. Dieselben Überlegungen wurden verwandt, um die Assoziationen der Kinder im Rahmen des Interviews mit mündlichen, schriftlichen und audiovisuellen Erzählungen zu analysieren. Ansätze der Soziologie der Kultur (Bourdieu, 1979), der Mikrosoziologie (Goffman, 1974) und der Ethnologie (Hymes, 1974; 1977) leiteten die Analyse der Gruppenbefragungen. Die theoretischen Überlegungen, die diesem Untersuchungsansatz über das Gerücht, die mündliche Kommunikation und über die mündlichen Kulturen zugrunde liegen, werden in den Kapiteln 1, 2 und 3 entwickelt. Die theoretische und methodologische Konstruktion der Fallstudie vom Gerücht über die Schlümpfe wird in Kapitel 4 dargelegt. Mittels der hier vorgelegten Studie vom Gerücht über die Schlümpfe wird versucht, mit größerer Genauigkeit die mündliche Dimension der gegenwärtigen Gesellschaften, vor allem Lateinamerikas, zu untersuchen. Obwohl die Fallstudie in dieser Analyse die mündlichen Kulturen Mexikos am Beispiel von Kindern aus drei Schulen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen untersucht, bin ich überzeugt, daß die Ergebnisse dieser Untersuchung dazu beitragen, ähnliche Prozesse in anderen sozio-kulturellen Kontexten Lateinamerikas zu verstehen.

Kapitel 1 1

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VOM WAHRHAFTIGEN ZU DEN VERSCHIEDENEN ORDNUNGEN DES GLAUBWÜRDIGEN

1.1

Nachricht versus Gerücht, Wahres versus Falsches

Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre "allgemeine Politik" der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht (Foucault, ¡978: 51). Die bisherigen Untersuchungen über Gerüchte sind in die Macht der Wissenschaft eingebunden, bestimmte Diskurse als wahr oder falsch zu beurteilen, bestimmten Kanälen, Quellen, Prozessen und Formen der Kommunikation Legitimität zu erteilen oder sie ihnen abzusprechen. Das "Gerücht" ist in der Umgangssprache ein Terminus, der nach wie vor dazu dient, die Wahrhaftigkeit bestimmter Erzählungen und verstreuten Wissens in Frage zu stellen, die im Umkreis von Institutionen entstehen und umlaufen, und zwar jenseits der zentralisierten Kommunikationssysteme in den Zwischenräumen der Gesellschaft. Die ersten Forscher, die Gerüchte untersuchten, faßten - in Übereinstimmung mit dieser Bedeutung des Wortes - das Phänomen des Gerüchtes auf als eine gesellschaftliche Krankheit, einen pathologischen Tatbestand. Hierzu trug der historische Kontext solcher Untersuchungen bei, nämlich das Ende des 2. Weltkrieges. Der sogenannte "psychologische Krieg" befand sich auf seinem Höhepunkt. Knapp, Allport und Postman arbeiteten zu jener Zeit an Instituten zur Kontrolle von Gerüchten in verschiedenen Städten der USA. Sie sahen es als ihre Aufgabe an, die Bevölkerung zu warnen vor der Nazipropaganda und jeder anderen Art von Botschaft, deren Quelle keine "offizielle Bestätigung" erfuhr. So sieht etwa Knapp das Gerücht als "a proposition for belief of topical reference disseminated without official verification" (Knapp, 1944: 22). Allport und Postman weisen daraufhin: we cannot always teil whether we are listening to fact or to fantasy. A datelined news item available to all readers in a reputable newspaper may ordinarily be taken as a secure Standard of evidence (Allport und Postman, 1947: X).

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Im Verlaufe dieser Diskussion wurde das Gerücht in einer Untersuchungsperspektive im Sinne eines naiven Positivismus zum Bestandteil einer Begriffsdichotomie: Nachricht versus Gerücht. Bei dieser Dichotomie wurde die Nachricht mit Wahrheit und Objektivität identifiziert bzw. mit der "formalen Kommunikation", d.h. der Presse und anderen als unumstritten geltenden Kommunikationsmitteln. Das Gerücht wurde negativ besetzt und mit dem Falschen, der Lüge, der Verdrehung von Tatsachen bzw. mit der informellen oder verbalen Kommunikation verbunden. Gemäß diesem Schema existieren nur eine einzige Wahrheit und eine einzige Realität, die sich entsprechen und miteinander gleichgesetzt werden. Die Nachricht stellt ein getreues Abbild der Wahrheit und der Realität dar. Die Sprachen der Kommunikationsmedien sind neutrale Träger. Die Botschaften richten sich nach ihren Bezugspunkten und nicht nach den Konventionen der Sprachen, die sie als Botschaften erst ermöglichen. Die Verdrehung der Wirklichkeit entsteht durch das Abweichen von der Nachricht: ... in telling a friend about the item, I depart from the news item as printed, rumor is started (Allport und Postman, 1947: X). Einen Grund für die Verzerrung der Information bildet diesen Autoren zufolge die Subjektivität, die gekennzeichnet ist durch ein begrenztes Gedächtnis, den Willen, zu lügen oder zu manipulieren, und einem Geflecht von emotionellen Bedürfnissen und eingebildeten Projektionen der Individuen. Das Gerücht wird in Verbindung gebracht mit der Unfähigkeit der Individuen, die Tatsachen zuverlässig wahrzunehmen, sich an sie zu erinnern und sie zu übermitteln. Sowohl Knapp als auch Allport und Postman leiten ihr Erklärungsschema der Gerüchte von Bartlett ab, einem der Vertreter der Gestaltpsychologie. Die Prozesse der Entstehung und regelmäßigen Verbreitung von Gerüchten folgen demnach den Funktions- und Organisationsregeln des Gedächtnisses. Die Kenntnis dieser Regeln würde es erlauben, die Art und Weise zu verstehen, wie Einzelheiten ausgelassen, beseitigt oder aufgebauscht werden, so daß die Erzählungen sich an bestimmte, mehr oder weniger strenge Strukturen der kognitiven Wahrnehmung und Gestaltung anpassen, die eine getreue Aufnahme der Ereignisse verhindern. Durch die Beschreibung vielfaltiger Laborexperimente versuchen Allport und Postman (1947) die Hindernisse zu erklären, die Individuen dazu bringen, die Eindrücke, denen sie ausgesetzt sind, nicht getreu wahrzunehmen und zu übermitteln. Accordingly, when we talk about the distortion of rumor, how it becomes deflected from the original evidence, we are using a literal criterion. We judge

Kapitel 1

33

the content in comparison with the objective facts - with the 'stimulus Standard' (Allport und Postman, 1947: 166). In diesem Sinne bedeutet die Untersuchung und Erklärung des Phänomens Gerücht zunächst nichts anderes als zu verstehen, auf welche Art und Weise die Individuen unfreiwillig die Wirklichkeit verzerren. Aber wie bereits oben angemerkt, ist das Gerücht auch mit der Manipulation, mit der absichtlichen Verzerrung von Information verbunden. Es ist auch das Ergebnis der verdeckten politischen Propaganda. Daher messen die erwähnten Autoren der Erklärung der psychologischen Bedürfnisse und Motivationen eine hohe Bedeutung bei, da diese Motivationen es ermöglichen, daß die Individuen sich beeinflussen lassen und an der Weitergabe "schädlicher" Gerüchte teilnehmen. In Übereinstimmung mit den individuellen Bedürfhissen und Projektionen, deren Ergebnis die Gerüchte darstellen, werden diese als der Ausdruck von Angst, von Wünschen oder Haß der teilnehmenden Individuen betrachtet (Knapp, 1944; Allport und Postman, 1947). Die "Quellen der modernen Information" erscheinen aus dieser Perspektive als die geeigneten Instrumente, um die Unterwerfung der Individuen unter das Gerücht, unter die eingebildete Abweichung von der Wirklichkeit und unter die politische Manipulation zu verringern. Die Presse und das Radio werden als neutrale Institutionen verstanden, Maschinerien ohne organisatorischen und produzierenden Körper, ohne jede Subjektivität. Damit sind zugleich auch der Wille zu täuschen und die Begrenzung des individuellen Gedächtnisses beseitigt. Die hier vorgetragenen Begriffe von Nachricht und Gerücht, aber auch das Erklärungsschema, aus dem sie entspringen, besitzen unübersehbare Mängel. Einige davon werden von den Verfassern selbst betont, wenn sie Empfehlungen ausarbeiten, Gerüchte zu steuern, und ihre Überlegungen sich von den Laborexperimenten entfernen. In diesen Fällen stützen sie sich auf gesellschaftliche Gegebenheiten und wirkliche Gerüchte, die in den USA und in Europa umliefen. Hier tauchen dann die vorher beiseite geschobenen Dimensionen von Macht und Kultur auf. Es schimmert ein anderes Untersuchungsmodell durch, das die Kategorien derselben Autoren in Frage stellt. Auf diese Alternative soll nun in dieser Arbeit der Blick gerichtet werden, um eine gegenstandsgemäßere Forschungsperspektive aufzubauen. Allport und Postman zeigen Fälle auf, in denen Presse und Radio "versagen", und zwar aus unterschiedlichen Gründen: -

die Journalisten waren nicht am Tatort und sind deshalb auf Erzählungen aus zweiter oder dritter Hand angewiesen,

-

die Berichterstatter waren bei Aufnahme und Übermittlung der Wirklichkeit Verformungsprozessen unterworfen,

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die Verbreitung bestimmter Nachrichten entsprach wirtschaftlichen oder politischen Interessen der Herausgeber bzw. stimmte mit staatlichen Informationspolitiken überein, die alle Instanzen des Informationsapparates durchliefen, wie dies in Deutschland, Italien und Japan während des Zweiten Weltkriegs der Fall war (Allport und Postman, 1947: 186 f.).

Angesichts dieser Beispiele läßt sich behaupten, daß Manipulation, Verzerrung und Lüge nicht bloß Eigenschaften von Gerüchten und auch nicht nur auf die mündliche Kommunikation beschränkt sind. Die Massenmedien spiegeln nicht ein getreues Abbild der Wirklichkeit wider. Sie können nicht losgelöst gesehen werden von der begrenzten und subjektiven Aufnahmefähigkeit ihrer Journalisten sowie von den wirtschaftlichen und politischen Interessen, die sie durchdringen. Die Annahme einer Neutralität der Institutionen der Information ist

fragwürdig.

Schon auf den ersten Seiten ihres Werkes kündigen Allport und Postman ein weiteres Problem an, das später nicht aufgegriffen wird: Was gewährleistet, daß die Nachricht als Paradigma der Wahrheit, nachdem sie einmal von den Lesern oder Rundfunkhörern empfangen wurde, ihren Durchlauf dort auch beendet, daß sie danach nur wörtlich weitergegeben und deshalb nie verzerrt wird, so daß aus ihr nie ein Gerücht entsteht? Haben viele Gerüchte nicht gerade ihren Ursprung in der Verbreitung einer Nachricht gehabt, wie es diese und auch andere Autoren bemerken? Allport und Postman zeigen selbst auf, welch vielfältige und kunstvolle Veränderungen ein wissenschaftlicher Bericht über Geologie und Paläontologie beim Durchlauf durch die Presseagenturen und verschiedenen Zeitschriften der USA erfuhr. In der europäischen Presse geschah im Jahre 1914 das Gleiche mit der Nachricht über die Eroberung Antwerpens durch die Deutschen (Allport und Postman, 1947:210-214). Die ungenaue Übertragung der Information ist nicht eine Besonderheit der informellen Informationskanäle. Wie diese Fälle zeigen, sind die Übertragungsprozesse von Gerüchten und die anderer Arten von Botschaften wie Presse- und Radiomitteilungen in gewisser Weise ähnlich. All dies begründet jedoch für Allport und Postman keine Änderung des antagonistischen Begriffschemas: Nachricht versus Gerücht. Für sie besteht die Wirklichkeit als ein Ganzes oder als eine gesonderte, davon klar ausgeschnittene Einheit, die die Ankunft eines ehrlichen Reporters mit einem Kodak-Photoapparat oder einem genauen Aufnahmegerät erwartet. Sie tun so, als bedeutete die Nachricht in Bezug auf jene "Wirklichkeit" den ganzen Bereich des Benannten und als wäre dem Gerücht die gesamte Welt der Unkenntnis und des Falschen zuzuordnen. Es handelt sich um eine problematische Dichotomie, die die Illusion nährt, daß die Steuerung von Gerüchten gelingen kann. Dies würde nicht nur eine er-

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folgreiche Steuerung der Nachrichteninhalte der Informationszentren bedeuten, sondern auch der weiteren Verarbeitungsprozesse auf Seiten der Empfanger der Information. Diese Vorstellungen unterliegen einer Steuerungsillusion. Bekanntermaßen haben die Institute zur Kontrolle von Gerüchten nicht die Ergebnisse erbracht, die diejenigen, die sie schufen, erwartet hatten (Allport und Postman, 1947; Shibutani, 1966; Dröge, 1970; Rosnow, 1976; Kapferer, 1987).

1.2

Die kulturelle Dimension des Gerüchtes In various ways, therefore, culture contrives both to simplify and adorn a tale. Through its power to conventionalize, culture becomes one of the two major determinants of the basic pattern of distortion, the other being those inherent tendencies in individual perception, retention, and report to which up to now we have given the larger portion of our attention (Allport und Postman, 1947: 158).

In diesem Teil der Arbeit soll der Blick gerade auf jenes Phänomen gerichtet werden, das Allport und Postman als Verzerrung betrachten. Damit soll nicht ein Prozeß der Informationsverdrehung gekennzeichnet werden, es ist vielmehr das Ziel, über den bestimmenden Faktor nachzudenken, der diesen Autoren zufolge diese Verzerrung hervorruft: die kulturellen Normen. Folgender Fall wurde von Allport und Postman aufgegriffen: Im Sommer 1945 fuhr kurz vor der Kapitulation Japans ein chinesischer Professor mit dem Auto durch eine größere Ortschaft im Bundesstaat Maine. Dort fragte er jemanden nach dem Weg zu einem nahegelegenen Hügel, der in einem der Touristenfuhrer angegeben worden war und von dem aus man einen schönen Ausblick auf die Landschaft haben könnte. Ein Anwohner zeigte ihm den Weg und eine Stunde später lief die "Geschichte" um, daß ein "japanischer Spion den Hügel bestiegen habe, um von der Gegend Fotografien zu machen". Allport und Postman behaupten, daß die "einfachen Tatsachen", "bar jeder Fantasie", die den "Kern der Wirklichkeit" ausmachen, in Übereinstimmung mit den drei Grundregeln der Wahrnehmung, der Mnemotechnik und der "Gestalt" verzerrt wurden: Nivellierung, Akzentuierung und Assimilation. Viele Einzelheiten, wie z.B. die Höflichkeit und Schüchternheit des Professors, waren vergessen worden. Andere Aspekte wie etwa die Nationalität des betreffenden Individuums wurden hervorgehoben. Und schließlich war die ganze Situation mit Hilfe von "Klischees" und "vorgefaßten Denkweisen" der Bevölkerung angepaßt worden, in der das Gerücht umlief.

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Margarita Zires What in the original situation was Oriental became specified as Japanese; what was merely a 'man' became a special kind of man, a 'spy'. The harmless holiday pursuit of viewing the scenery became the much sharper, sinister purpose of espionage. The truth that the visitor had a picture in his hand became sharpened into the act of'taking pictures'. The objective fact that no pictures of any possible value to the enemy could be taken from that particular rural location was overlooked (Allport und Postman, 1947: 136).

Die Autoren bringen eine allgemeine und kurze Erläuterung zur damaligen Kriegsstimmung in jener Region der USA, zur Unkenntnis ihrer Bewohner über Orientale und zu den Stereotypen über Japaner, die auf der öffentlichen Meinung, den Kriegsnachrichten und Filmen in jener Zeit beruhten. All dies dient ihnen dazu, außerhalb des Laboratoriums nachzuweisen, daß es ein Grundschema der Verzerrung der Wirklichkeit gibt und daß "die Macht der Konventionalisierung durch die Kultur" das Erfassen der Wirklichkeit verhindert. Hier ist anzumerken, daß auch diese Autoren die Wirklichkeit "verzerren", und zwar aufgrund der Faktoren, die nach ihrer Meinung "Verzerrung" hervorbringen, nämlich als einen Prozeß des Weglassens von Daten, Betonung anderer Daten und der Assimilation von Information aus einem Gesichtspunkt heraus oder aufgrund einer "vorgefaßten Denkweise". Zunächst fällt auf, daß Allport und Postman bei ihrer ursprünglichen Darstellung des Falles, die sie als Bezugspunkt verwenden und als objektive Sicht betrachten, die Höflichkeit und Schüchternheit des obengenannten Professors nicht erwähnen und auch den Tatbestand weglassen, daß er eine Fotografie in der Hand hielt. Diese Tatsachen verwenden die Autoren später dazu, um den Prozeß der Verzerrung herauszuarbeiten. Dabei stellen diese Tatsachen gemäß ihrer eigenen Meinung "wesentliche Einzelheiten zum zutreffenden Verständnis des Vorfalls" dar. Hinzu kommt, daß die Autoren es unterlassen, ihren eigenen Weg des Zugangs zum "Kern der Wirklichkeit" darzulegen: ihre Quellen und die Arbeit mit jenen Quellen. Der ganze Fall kann als Anpassung an eine spezielle politische Sicht und an das Erkenntnismodell eines naiven Positivismus (Gerücht versus Nachricht) gesehen werden. Man könnte behaupten, daß in dieser Arbeit auch der zu untersuchende Fall von Allport und Postman "verzerrt" wird. Aufgrund der Perspektive der hier vorgelegten Arbeit sind solche "Verzerrungen" aber als theoretische Konstrukte unvermeidlich. Unabhängig vom Problem der Objektivität sind Fragen zu diesem Fall zu stellen, welche die Perspektive der hier vorgelegten Arbeit klären helfen. Dabei tritt hervor, was bei Allport und Postman bereits anklingt: die sozialen Konventionen, die Stereotypen, die "Klischees", die vielfältigen kulturellen Normen. Diese wirken, dem Blickwinkel meiner Untersuchung zufolge, nicht nur bei der Produktion

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von Gerüchten, sondern auch bei der Verarbeitung jeder Art von Erzählung oder Wissen mit, bis hin zu demjenigen Wissen, das als wissenschaftlich bezeichnet wird. Rouquette, ein Autor, der Allports und Postmans Vorstellungen über Gerüchte aus der Sicht der französischen kognitiven Psychologie und Sozialpsychologie von Moscovici untersucht und interpretiert, behauptet: Was Allport und Postman (1945) als Verzerrungen beschreiben, sind nichts anderes als die verschiedenen Veränderungen des Inhalts, wie sie in jedem Prozeß der Kommunikation wahrscheinlich sind. Es handelt sich hier nicht um eine besondere Eigenschaft des Gerüchts, sondern um eine Eigenschaft, die jeder Austausch von Informationen besitzt. Es könnte für das Verständnis vieler sozialer Phänomene hilfreich sein, wenn man diese Veränderungen nicht als Fehler, sondern als besondere Merkmale eines bestimmten Diskurses ansieht. Die fehlende Treue der Wiedergabe durch das Gerücht ist kein Zeichen von Unfähigkeit, sondern die andere Seite einer anderen Treue, sie ist ein Zeugnis der Ausübung des sozialen Denkens (Rouquette, 1977: 13 f)Die Untersuchung der Gerüchte vermittelt somit einen gewissen Einblick in die kulturelle Welt, in der sie aufkommen und verbreitet werden. Die Untersuchung des Gerüchts aus Maine ermöglicht es, die Art und Weise zu erkennen, in der damals die Stereotypen der Nordamerikaner über Japaner und Spione im Kriegszusammenhang verarbeitet wurden. Das Gerücht stellt insofern eine Konstruktion und eine kollektive Schöpfung dar, bei der die kulturellen Normen ins Spiel gebracht und auf die Probe gestellt werden. Es sind diese kulturellen Normen, die nach meiner Auffassung hervorgehoben werden sollten und die bei der Verwandlung und Verbreitung der vielfaltigen Gerüchte und ihrer diversen Versionen in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen eine unterschiedliche Rolle spielen. Es handelt sich dabei um einen Prozeß der Produktion des Glaubwürdigen; dies ist der Interessenschwerpunkt meiner Untersuchung. Dabei ist der Terminus der Produktion hervorzuheben, da davon ausgegangen wird, daß dieser Prozeß nicht bloß die Bestätigung oder Wiedergabe bereits vorgefaßter Ideen darstellt. Das Glaubwürdige, wie es hier verstanden wird, bedeutet, daß nicht alles gesagt werden kann. Ainsi, le vraisemblable est dès l'abord réduction du possible, il représente une restriction 'culturelle' et 'arbitraire' parmi les possibles réels, il est d'emblée censure: seuls, parmi tous les possibles de la fiction figurative, ceux qu' 'autorisent' des discours antérieurs (Metz, 1968: 24). Diese Zensur würde sich demnach auf die "discours antérieurs" stützen. Nicht jedes Gerücht über den chinesischen Professor hätte glaubwürdig sein und sich im Jahre 1945 in jener größeren Ortschaft von Maine verbreiten können.

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Schwerlich hätte dieses Gerücht eine positive Äußerung über Asiaten beinhalten können. Wie Allport und Postman zeigen, konnten die Einwohner dieser Ortschaft einen Chinesen nicht von einem Japaner unterscheiden. A Chineseteacheronaholiday was a concept that could not arise in the minds of most f'armers, for they did not know that some American universities employ Chinese scholars on their staffs and that these scholars, like other teachers, are entitled to summer holidays (Allport und Postman 1947: 136 f)Allport und Postman behandeln implizit die restriktive Dimension der kulturellen Normen, indem sie die "Klischees", die "Stereotypen" und generell alles, was sie als "vorgefaßte Denkweisen" bezeichnen, ausschließlich als Vorurteile oder Hindernisse zur Erfassung der Wirklichkeit einordnen. Jedoch ist das Glaubwürdige nicht nur mit der Zensur verbunden, wie bereits früher vermerkt, sondern auch mit einem Komplex von Konventionen, die die Produktion dessen bestimmen, was gesagt werden kann, und die Art, in der dies gesagt wird. Diese mehr oder weniger expliziten Konventionen ergeben sich aus dem, was bis zu diesem Augenblick gesagt worden ist. Allport und Postman zeigen die Art und Weise auf, wie das Gerücht über den japanischen Spion erst ermöglicht wurde: durch Kriegsauswirkungen und damit zusammenhängende Verluste der Einwohner von Maine, durch Kriegserzählungen, Nachrichten aus Zeitung und Radio, Kriegsfilme (in denen die Japaner immer als die Schurken erschienen), Spionagefilme und das Fotografieverbot in strategischen Zonen. Die Untersuchungen über das Glaubwürdige lenken aber die Aufmerksamkeit auf die "discours déjà prononcés", das Diskursive, und lassen die direkte Teilnahme des Realen beiseite, in diesem Fall die Tatbestände des Krieges. Diese Tatbestände hatten zweifellos Auswirkungen auf die Produktion der Diskurse. Diese Auswirkungen werden jedoch immer vermittelt durch die "discours déjà prononcés", das bereits zuvor Formulierte, durch die vielfältigen Konventionen, die die Kriegsdiskurse in Radio, Presse, Kino und mündlichen Berichten regeln. In diesem Sinn behauptet Kristeva: Le sens du vraisemblable n'a plus d'objet hors discours, il n'est pas concerné par la connexion objet-langage, la problématique du vrai et du faux ne le regarde pas. Le sens vraisemblable 'fait semblant' de se préoccuper de la vérité objective; ce qui le préoccupe en fait, c'est son rapport à un discours dont le est reconnu, admis, institutionalisé... Or, le sens (au-delà de la vérité objective) étant un effet interdiscursif, l'effet vraisemblable est une question de rapport de discours (Kristeva, 1968: 61 f). Metz zufolge gibt es allgemeine Normen über das, was in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt werden kann, die aus dem "discours épars", der "opinion publique" entstehen. Spezielle Normen regeln die einzelnen Genres.

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Vielleicht kann man auch im Fall der Gerüchte von mehr oder weniger allgemeinen Normen sprechen, die unterschiedliche gesellschaftliche Räume und deswegen auch verschiedene Arten von Gerüchten und Erzählungen in unterschiedlicher Art durchdringen; in bestimmten Fällen und meist kleineren sozialen Gruppen können auch spezielle Normen der Produktion von Gerüchten vorliegen. Man kann sich fragen, ob im Jahre 1945 im Staat Maine und allgemein in den USA dieselben Regeln in allen Medien und Genres galten bezüglich dessen, was über einen Japaner gesagt werden konnte. Wäre es möglich gewesen, einen sympathischen und liebevollen Japaner in einem Kriegsfilm, in einem Liebesfilm, in einem Western, in einem Kriminalfilm oder in einem Roman zu zeigen? Wohl kaum. Nun sind aber die Regeln über andere, weniger umstrittene Themen und zu anderen historischen Zeiten nicht so einheitlich. Das dieser Arbeit zugrundeliegende Bild der Kultur ist nicht ein festgefügtes und homogenes Ganzes. Viel eher wird an das Vorhandensein vielfältiger gesellschaftlicher Räume oder Felder gedacht, die durch Normen und spezielle Regeln des Funktionierens bestimmt werden. Einige davon durchdringen verschiedene Felder und bilden in einer Gesellschaft in einem bestimmten Zeitraum das Umfeld des Glaubwürdigen. Aber auch dieses Umfeld selbst verändert sich. Dies würde die Sicht von Burgelin (1968) in Zweifel ziehen, der behauptet, daß die Funktion des Glaubwürdigen darin besteht, die kulturelle Kontinuität sicherzustellen. Sicherlich bildet die Gesamtheit der Regeln und Konventionen eine Geschichte, oder, besser gesagt, kulturelle Geschichten, die in keiner Abhandlung niedergeschrieben sind, die aber gleichwohl die Gestalt der Erzählungen regeln und umformen, sie in bestimmte Räume und Zeiten einordnen, und sich nicht durch die Macht eines individuellen Willens manipulieren lassen. Jedoch sind die Regeln nicht statisch, sondern von einer sich mehr oder weniger wandelnden Natur. Sie sichern nicht nur die Kontinuität, sondern auch Umstrukturierung und anhaltende Veränderung der Ausdrucksform der Erzählungen. Das Glaubwürdige verändert sich. Außerdem gibt es nicht nur ein Glaubwürdiges. Die kulturelle Heterogenität unserer derzeitigen Gesellschaften läßt eher daran denken, daß es vielfältige Glaubwürdigkeiten oder unterschiedliche Ordnungen von Glaubwürdigkeit gibt. Hinzu kommt, daß die Regeln, die verschiedene Gruppen, Kollektive und gesellschaftliche Felder bestimmen, vielfältig sind und nicht selten auch widersprüchlich. So gesehen muß die Dynamik der Veränderungen der Gerüchte und der Prozeß ihrer Umwandlung hervorgehoben werden, die Art und Weise, wie sie sich bilden

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und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und heterogenen kulturellen Räumen verbreiten. Diesem Gedankengang gemäß erwähnt Dröge (1970) einige Gerüchte, die das Vorhandensein verschiedener Ordnungen von Glaubwürdigkeit andeuten und die Produktion von Gerüchten in unterschiedlichen sozialen Schichten und Regionen Deutschlands während des 2. Weltkrieges regeln, er arbeitete dies jedoch nicht in dem hier verstandenen Sinne im Einzelnen aus. Allerdings zeigen andere von Dröge beschriebene Gerüchte, daß die Reaktionen auf die Ereignisse und die politische Atmosphäre jener Zeit weder einheitlich waren noch den allgemeinen Normen entsprachen. Ihm zufolge herrschte 1943 und 1944 große Sorge um deutsche Kriegsgefangene und es gab wenig Informationen über ihre Situation. Ein sich ausbreitendes Gerücht besagte: Die Briefe der gefallenen Stalingradkämpfer würden in der Schweiz zurückgehalten bzw. von deutscher Seite nicht an die Empfänger weitergegeben, da die deutsche Regierung die Verbreitung von positiven Nachrichten über die Zustände in der Sowjet-Union und die gute Behandlung der Gefangenen verhindern wolle (Dröge, 1970: 104). Ein anderes, in Deutschland weit verbreitetes Gerücht, das in vielen Varianten auftrat, lautete: Ein deutsches Flugzeug mußte hinter den russischen Linien notlanden. Dabei traf die Besatzung auf eine Gruppe deutscher Gefangener, die das Flugzeug rasch reparierten und währenddessen erzählten, daß es ihnen gut gehe und sie nicht allzuviel zu arbeiten bräuchten. Bei diesem Wohlergehen könnten sie jedoch nicht fliehen, denn für einen geflohenen Gefangenen würden zehn andere erschossen (Dröge, 1970: 104 f). Jedoch wurden diese Gerüchte "nicht einheitlich akzeptiert". In einigen Bevölkerungsteilen werden sie bis hin zur Umkehrung umgeformt. In diesen Fällen besagte die Version gerade das Gegenteil, nämlich, "daß die Gefangenen, vor allem SS-Angehörige, von den Russen getötet würden" (Dröge, 1970: 105). Sicherlich gehorcht die Dynamik der Variationen der Gerüchte nicht einheitlichen Normen. Diese Darlegungen führen zur Frage, ob es von dem Gerücht über den "japanischen Spion", von dem Allport und Postman nur eine Version berichten, auch andere Versionen gegeben haben könnte. In welchem Gebiet war die von ihnen behandelte Version verbreitet? In welchen gesellschaftlichen Schichten lief das Gerücht um, in welchen anderen nicht? Welche dieser Schichten verschafften ihm Glaubwürdigkeit? Auf der Grundlage welcher Elemente gelang dies? Die "Verzerrungen" und "Verdrehung von Tatsachen", die von Allport und Postman aus der Kiste von Abweichungen und Abnormitäten hervorgezogen

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werden, können aus anderer Perspektive betrachtet eine vielfältige Wahrheit, ein mannigfaltiges Wissen und unterschiedliche Produktionslogiken aufzeigen, die sich von der Logik der wissenschaftlichen Produktion unterscheiden, aber auch von der Logik der Nachrichtenproduktion. Es erscheint nunmehr angebracht, die Aufmerksamkeit weg von den Gerüchten und hin zu einer allgemeinen Diskussion über mündliche Erzählungen zu lenken und dabei die Diskussion von der Frage nach Wahrheit und Unwahrheit wegzulenken hin zur Frage nach der Glaubwürdigkeit. Die Untersuchung der Logik der Prozesse der Produktion und Verwandlung von Gerüchten und allgemein von mündlichen Erzählungen läßt die Beziehungen hervortreten, die zwischen Gerüchten, Legenden, Erzählungen wie auch Nachrichten der Medien bestehen. Gleichzeitig läßt sie diese vielschichtige Problematik über das Konzept der "Intertextualität" erkennen, das im Zitat von Kristeva bereits angesprochen wurde. In Übereinstimmung mit dieser Perspektive sind die Texte, die in einer Gesellschaft produziert und verbreitet werden, wechselseitig miteinander verflochten. Es gibt keine textuelle Autonomie, wie dies die philosophische und literarische Tradition unterstellt, wenn sie ihre Aufmerksamkeit nur den geschriebenen Texten schenkt. Hierbei werden die Untersuchungen über Einflüsse, Ursprünge und Quellen der Texte unbeachtet gelassen. Die lineare Beziehung zwischen einer Quelle und einem Text, als wäre der Text bloße Kopie der Quelle, wird hier in Frage gestellt. Anstatt die Entsprechung zwischen dem Text und seinem historischen Kontext bzw. zwischen dem Text und seinen PräTexten oder Prä-Kontexten auf allgemeine Art und Weise zu untersuchen, wird das Interesse auf die Untersuchung der Rolle gelenkt, die besagte Prä-Texte und Prä-Kontexte für den Text selbst spielen, ebenso wie auf das Erkennen verschiedener Arten innerer Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Texten. Diesem Gedankengang zufolge wird angenommen, daß der Text durch vielfältige Texte oder Textteile gebildet wird, daß er keine Autonomie besitzt und ihn demzufolge eine Vielheit kennzeichnet. Die wechselseitige Verflechtung von Texten wird auf sehr unterschiedliche Weise und auf unterschiedlichen Ebenen hergestellt: -

Ein Text kann sich auf einen oder eine Vielfalt von Texten oder auch nur auf bestimmte Teile anderer Texte beziehen,

-

die Texte können ein oder mehrere gemeinsame Vorbilder besitzen,

-

die Texte können ein und demselben oder aber unterschiedlichen Genres angehören,

-

sie können unter gewissen Gesichtspunkten von denselben Normen geregelt werden und unter anderen Gesichtspunkten nicht.

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So gesehen bedarf es zur Entstehung eines Gerüchts anderer Gerüchte und Erzählungen oder Redewendungen aus vielen Texten mit mehr oder weniger festgelegten, vorher bestehenden Formen, die ihm eine bestimmte Gestalt und spezifische Struktur verleihen. Die Art und Weise, auf die sich vielfältige Texte, Textfragmente und Redewendungen strukturieren lassen, und wie die verschiedenen, sie bestimmenden Normen in einem spezifischem Text zusammenwirken, bilden ein Kernproblem dieser Untersuchung. Welche Texte oder Textteile beziehen sich auf welche anderen? Wie beziehen sich die Textteile aufeinander? Welche unterschiedliche Beziehungslogik zwischen Texten bestimmt die mannigfaltigen Versionen von Gerüchten und anderen Texten? Dies sind grundsätzliche Fragen, die die Erforschung der Vielfalt der Prozesse der Produktion und Veränderung von mündlichen Erzählungen und allgemein von Kommunikationsprozessen ermöglichen. Dröge (1970) betont die Beziehungen, die zwischen den einzelnen Gerüchten bestehen. Im Gegensatz zu den frühen US-amerikanischen Theoretikern des Gerüchts, die der Ansicht sind, daß Gerüchte sich grundlos und plötzlich wandeln, vertritt er die These, daß in einer lang anhaltenden Krise wie dem 2. Weltkrieg die interpersonelle Kommunikation eine "inhaltliche Kontinuität" (Dröge, 1970: 117) zeitigt. Ihm zufolge stellt diese Kontinuität ein strukturelles Merkmal dar, das sie mit der formalen Kommunikation über die Massenmedien gemeinsam hat. Mit Bezug hierauf weist er auf einen Gesamtkomplex von Gerüchten hin, die sich im Mai und Juni 1941 in Deutschland über die Möglichkeit eines Paktes zwischen Deutschland und der Sowjetunion verbreiteten. Die Summe der Einzelgerüchte ergibt einen in sich schlüssigen thematischen Gesamtkomplex, in dem jedes Teilgerücht die anderen stützt (Dröge, 1970: 117). Nach Darlegung entsprechender Beispiele stellt Dröge fest: Alle diese Gerüchte, in denen sich die Erwartungen an das russische Entgegenkommen kontinuierlich steigern (Pacht —> Durchmarschrecht —> Abtretung; entsprechend: Ministertreffen —> Gipfeltreffen) sind verbunden durch eine Serie von stützenden, legitimierenden Aussagen, die sich auf fiktive oder reale Ereignisse berufen. Der ganze Kommunikationskomplex hat sich also so entwickelt, daß jedes Gerücht seine Glaubwürdigkeit von einem anderen erhält und seinerseits einem anderen Glaubwürdigkeit verleiht. Alle Inhalte zusammen bilden also eine in sich schlüssige, durchorganisierte Struktur, in der alle Elemente wechselseitig voneinander abhängig sind (Dröge, 1970: 117). In Übereinstimmung mit Dröge wird hier davon ausgegangen, daß die Gerüchte untereinander und mit anderen Arten von Texten wechselseitig verflochten sind

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und sich nicht "unbegründet sprunghaft" (Dröge, 1970: 117) ändern, obgleich seine Auffassung nicht im Einzelnen geteilt wird. Die Logik der Prozesse der Produktion und Umwandlung von Texten erlaubt nicht nur, "inhaltliche Kontinuität" anzusprechen. Dröge selbst nennt auch Beispiele, fur die zwar eine wechselseitige Verflechtung zutrifft, die jedoch die besagte lineare Kontinuität der Inhalte nicht wahren. In einigen dieser Fälle bildeten Gerüchte über Angriffe der deutschen Streitkräfte den Ausgangspunkt dafür, daß sich sowohl Gerüchte über Niederlagen als auch über erfolgreiche Schlachten herausbildeten; später wurden daraus Gerüchte über das Kriegsende, wobei einige eine Kapitulation voraussahen, während andere von einem Sieg ausgingen. Dies stellt die Auffassung in Frage, daß es einen Gesamtkomplex der GerüchteInhalte gibt als "eine in sich schlüssige, durchorganisierte Struktur", bei der einige Gerüchte die Prämissen anderer Gerüchte und zugleich auch die Schlußfolgerungen wiederum anderer Gerüchte bilden. Die Vorstellung eines Synkretismus, die gemäß Knapp die Produktion von Gerüchten kennzeichnet, beschreibt dies genauer: The inherent logic of the rumor's search for meaning is almost invariably primitive and a 'syncretic'. A few simple examples will suffice. During the early summer of 1942 a ship was torpedoed off the coast of a New England village. Rumors of the most extravagant character soon spread, recounting the vast numbers of casualties which resulted. After about a week the story became current that the casualties had been nurses. At this juncture a collier was sunk, purely through accident, in the Cape Cod Canal some miles distant. The aggregate of facts and phantasy assembled themselves finally into a story that a ship had been torpedoed in the Cape Cod Canal with the loss of thousands of nurses who were aboard her (Knapp, 1944: 33). Der Synkretismus verweist auf die Vorstellung der Verbindung unterschiedlicher oder entgegengesetzter Theorien oder Texte. Diese Perspektive steht im Widerspruch zur Vorstellung Dröges über eine "inhaltliche Kontinuität" und seiner Ansicht über "eine in sich schlüssige, durchorganisierte Struktur". Diese Erzählungen zeigen gewisse Ausdruckselemente auf, die wie ein Schiff, unbeschadet der inhaltlichen Unterschiede beibehalten werden. Knapp schildert zunächst die Geschichte eines torpedierten Schiffs. Er weist darauf hin, daß ein Gerücht hinzufügt, daß es Verletzte gab, und daß ein zweites Gerücht die Verletzten in Krankenschwestern umwandelte. Angesichts dessen tauchen weitere Fragen auf: Was ermöglicht die Herstellung einer Assoziation zwischen einem Schiff, das torpediert wurde, und Verletzten oder zwischen Verletzten und Krankenschwestern? Allein die Phantasie? Gab es nicht zu dieser Zeit andere Geschichten der Massenmedien, Kriegsgeschichten etwa, die den Ausgangspunkt für die Herstellung dieser Assoziationen bildeten? Könnten diese anderen Ge-

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schichten nicht ihrerseits wiederum die Regeln für diese Assoziationen bestimmt haben? Knapp legt an späterer Stelle dar, daß ein weiteres Schiff zufällig untergegangen sei, diesmal in einem Kanal; er berichtet von einem dritten Gerücht, das die vorherigen Gerüchte über das torpedierte Schiff aufnimmt und lediglich den neuen Ort des zweiten Schiffsuntergangs hinzufügt. Das letzte Gerücht zeigt, wie eine "ursprüngliche Erzählung" über ein torpediertes Schiff und die nachfolgenden Gerüchte, sicherlich zusammen mit anderen Arten von mündlichen Erzählungen und Berichten der Massenmedien, die Grundlagen für neue Assoziationen schufen mit der Folge, daß die Kenntnis des zufallig untergegangenen Schiffs nicht erhalten blieb. Vielleicht läßt sich behaupten, daß es nicht glaubwürdig war. Jedes untergehende Schiff wurde in diesem Kontext mit dem torpedierten Schiff verbunden. Knapp behauptet, daß "die Phantasie" und "primitives" Denken diese "extravaganten" Geschichten hervorbringen. Das heißt, daß "Phantasien" bei der Verarbeitung von Gerüchten eine Rolle spielen, aber auch bei der Verarbeitung anderer Arten von Erzählungen bis hin zu "wissenschaftlichen" Texten. Die Einschränkung des Phänomens des Gerüchts und des Prozesses seiner Produktion auf Phantasien, so daß es kein Ergebnis rationaler Logik sein kann, verbaut jedoch die Erkenntnis, daß der Synkretismus, wie extravagant und primitiv er auch immer sein möge, einen wesentlichen Teil der intertextuellen Logik darstellt, die nicht nur die mündlichen Kommunikationsprozesse regelt. Auch Allport und Postman verbinden die Glaubwürdigkeit des Gerüchts über den japanischen Spion mit Assoziationen:

The association of ideas is crude: a yellow man - a Jap - a spy-photographic espionage. One idea led to the other with almost mechanical inevitability until the final conclusion emerged (Allport und Postman, 1947: 137). Es kann aber nicht bei allen Assoziationen und Beziehungen, die die Diskurse generell und die Gerüchte speziell mit anderen Texten verbinden, von "mechanischer Unvermeidlichkeit" die Rede sein. Die Verbindung ist von unterschiedlich zwingender Kraft. Auch ist es nicht angemessen, von einer Assoziation von "Ideen" oder "Inhalten" zu sprechen, worauf Dröge im Zusammenhang mit seiner Vorstellung über "inhaltliche Kontinuität" hinweist. Das Beispiel des japanischen Spions und die Beispiele von Knapp, wie auch dessen Vorstellung des Synkretismus, lassen eher den Gedanken aufkommen, daß die Intertextualität nicht unbedingt mit Assoziationen von Inhalten zu tun haben muß, sondern vielmehr mit vielfältigen Assoziationen von Ausdrucksformen oder Gefügen derselben.

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Kristeva, die den Begriff der Intertextualität geprägt hat, behauptet, daß der Prozeß der Herstellung der Glaubwürdigkeit in der "unification de signifiants" besteht und daß dieser Prozeß über die unterschiedlichen ("différentes") und/oder entgegenstehenden ("opposés") Textinhalte oft hinausgeht. Es wurde bereits dargelegt, daß gemäß Kristeva das Glaubwürdige einen "effet interdiscoursif' beinhaltet, so daß verschiedene zusammengefügte bzw. gleichzusetzende Diskurse einen "effet de ressemblance" ergeben. le vraisemblable est un 'effet', un résultat, un produit qui oublie l'artifice de la production {Kristeva, 1968: 62). In ihrem Ergebnis lassen diese "effets" die Kunstfertigkeit der Herstellung des Glaubwürdigen vergessen und tilgen die Geschichte, d.h. die Gesamtheit der vorher bestehenden Diskurse, die das Ergebnis erst ermöglichten. Über die Ähnlichkeit oder die Gleichsetzung von Ausdrucksformen ersetzt ein Terminus einen anderen, nämlich der des Japaners denjenigen des Asiaten, und dies unabhängig von den unterschiedlichen Inhalten. Wenn der Vorgang der Herstellung der Glaubwürdigkeit sich über logische Verbote hinwegsetzt, wie Kristeva behauptet, überschreitet dies zugleich die formale Logik, die gemäß Dröge die Beziehungen zwischen den Gerüchten regelt, so als bildeten diese ein System zusammenhängender theoretischer Inhalte. Es muß jedoch betont werden, daß Kristeva das Vorhandensein einer anderen Ordnung und Verknüpfungslogik des Glaubwürdigen - "le sens déjà là" - nicht verneint; in der vorliegenden Arbeit wird dies als die kulturelle Ordnung bezeichnet. Der Begriff der Intertextualität erlaubt es, wichtige Aspekte dieser Ordnung zu erhellen. Zumthor, ein Theoretiker der Intertextualität behauptet, daß seit Beginn der französischen Gruppe "Tel Quel", der auch Kristeva angehört, der Begriff der Intertextualität bedeutet: l'existence de complexes signifiants, articulés, de façon diverse (souvent imprévisiblej, les uns sur les autres, et fondateurs d'une pluralité interne de ce texte. Ils suggèrent l'idée d'une genèse illimitée de la signification. Le texte, pas plus que le discours, n'est clos. Il est travaillé par d'autres textes, comme le discours par d'autres discours (Zumthor, 1981: 8). Aus dieser Perspektive ist zu beachten, daß eine kulturelle Ordnung nicht als ein System von logisch und formal zusammenhängenden Ideen und Prinzipien aufgefaßt werden kann. Die Vorstellung einer kulturellen Ordnung als eines "KonTextes", einer Mannigfaltigkeit von Texten, die untereinander "de façon diverse (souvent imprévisible)" verbunden sind, erlaubt es vielleicht, die Vielschichtig-

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keit von Kommunikationsprozessen und damit auch die kulturellen Prozesse in heutigen Gesellschaften zu erforschen. Deshalb erweist es sich als notwendig, andere generelle theoretische Überlegungen über die Kultur aus dem soziologischen und anthropologischen Bereich aufzugreifen.

1.3

Zu den Vorstellungen über Kultur, kulturelle Geflechte, kulturelle Konvergenz und Divergenz

Vor allem in Untersuchungen mit anthropologischem oder linguistischem Zuschnitt werden Kulturen als feststehende, abgeschlossene Einheiten ohne Bezüge untereinander aufgefaßt, bzw. als solche, deren Bezüge zumindest nicht den wesentlichen Gegenstand der Betrachtung darstellen. Dies gilt weniger für soziologische und politische Studien. In Lateinamerika werden neben vielen weiteren Klassifikationen der Kultur städtische versus ländliche, traditionelle versus moderne, dominierende versus dominierte Kultur, Hegemonialkultur versus untergeordnete Kulturen betrachtet; ebenso wird zwischen gehobener Kultur, Populärund Massenkultur unterschieden. All diese Studien neigen dazu, stillschweigend zu unterstellen, daß die Kulturen immer ein inneres Wesen, einen authentischen Kern oder ein eindeutiges Zentrum besitzen. Innerhalb der Anthropologie und der Soziologie wird im allgemeinen von einer Vorstellung der Kultur ausgegangen, die an die Idee von homogenen Gebilden gebunden ist, die durch mehr oder weniger zusammenhängende Überzeugungen, Produkte oder gesellschaftliche Verhaltensweisen gekennzeichnet sind, die zu einer Gemeinschaft, Gruppe oder Nation gehören. Dabei wird vor allem die homogene Dimension, die Kohärenz und folglich die Möglichkeit der Klassifikation hervorgehoben. Allerdings werden in neueren lateinamerikanischen Untersuchungen wie in der Arbeit von Garcia Canclini (1990) aus transdisziplinärer Perspektive die wechselseitigen Beziehungen behandelt: zwischen der sogenannten Prämoderne, der Moderne und der Postmodeme, zwischen einer "cultura culta", der "cultura populär" und der "cultura masiva", zwischen der ländlichen und der städtischen Kultur. Außerdem werden die mehrdeutigen, gegenseitigen Durchdringungen zwischen den hegemonialen und den untergeordneten Kulturen herausgearbeitet. Hieraus könnte man schließen, daß durch vielschichtige Vermischungsprozesse die Kulturen Lateinamerikas als hybride Kulturen gekennzeichnet werden können und die Vorstellung von bipolaren Kulturen zweifelhaft ist.

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Damit würde die Kultur weder die Kohärenz besitzen, die ihr bisher zuerkannt wurde, noch auf eine statische Einheit spezifischer, kultureller Produkte und Elemente verweisen. Letztlich wird dadurch der homogene Charakter der vorherrschenden Konzeption von Kultur sowie ihre implizite Vorstellung der Identität als eines unbeweglichen Kernes in Frage gestellt. Andererseits verweist das Hybride auf etwas, das gleichzeitig verschiedenen Umkreisen angehört und deshalb in diesem Sinne keine dauernde Identität aufweisen kann. Es stellt sich die Frage, ob nicht jede Kultur ein hybrides Gemenge ist. In diesem Fall gäbe es keine Kulturen, die nicht hybrid wären, und alle Kultur bestünde in ihrem Inneren aus heterogenen Elementen. Noch heute entsprechen beispielsweise die Ecksteine des christlichen Feiertagskalenders - Weihnachten, Ostern, Allerheiligen - den Daten der vorchristlichen Ritualkalender. Der kulturelle Hybridismus ist dann nicht nur ein Merkmal heutiger Kultur, wie einige postmoderne Tendenzen vertreten, deren Forschungsrichtung den Hybridismus mit großer Schärfe erkennbar machte. Die besonderen Formen des kulturellen Hybridismus sollten besser im Rahmen verschiedener Epochen und kultureller Kontexte untersucht werden. Teilt man diese Ansicht, so wird die Untersuchung der Kulturen zur theoretischen und methodologischen Herausforderung. Wenn Kulturen nicht aus homogenen Kernen oder Zentren bestehen, was ermöglicht uns dann, sie überhaupt zu definieren, zu unterscheiden und einzuordnen? Worin bestünde dann ihre "Identität"?

1.3.1 Über kulturelle Geflechte als dezentralisierte Gebilde In dieser Arbeit wird die Auffassung einiger neostrukturalistischer Strömungen geteilt, die den Begriff der Strukturalität stärker betonen als den Begriff der Struktur oder des feststehenden kulturellen Zentrums. Die Kulturen können demgemäß nicht als geschlossene, abgegrenzte Systeme mit wohldefinierten Grenzen und feststehenden Zentren begriffen werden. Eine bestimmte kulturelle Ordnung gibt sich niemals völlig zu erkennen und ist nichts Feststehendes. Ihre Elemente besitzen nicht dieselbe Art von Gegenwärtigkeit. Das Spiel der An- und Abwesenheit der besagten Elemente ist es, das die Strukturalität ausmacht. Je nach spezifischem historischem Zusammenhang treten bestimmte Elemente als passende oder als unterscheidende Merkmale auf. Diese Betrachtungsweise unterstreicht die zeitliche und die relationale Dimension. Es wird von der Vorstellung ausgegangen, daß in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Verflechtungen vielfältiger gesellschaftlicher Formen (Rituale, Praktiken, Technologien, Institutionen verschiedener Art) bestehen, die keine

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zentrierte Struktur, sondern eine dezentralisierte Organisation besitzen. Diese Verflechtungen verändern sich in Einklang mit den jeweiligen Umständen und ermöglichen dabei, die Verschiebungen und Gewichtsverlagerungen einer diskursiven Organisation zu erkennen. Dabei tauchen einige neue Elemente auf, alte verschwinden oder wiederholen sich oder versinken in einen latenten Zustand, wobei sie möglicherweise in anderen Verbindungen wieder auftauchen. Den unterscheidenden Elementen gelingt es nicht, endgültige Wesensmerkmale oder unveränderliche Kerne zu bilden. Bestimmte Umstände, der besondere historische Zusammenhang oder die Machtverhältnisse, können ein Merkmal in ein unterscheidendes verwandeln, das mit Merkmalen anderer Kulturen in Beziehung steht. Nun wird es Elemente geben, die in vielen Situationen als unterscheidende Merkmale auftreten und sich daher eines dauerhafteren Daseins erfreuen, und andere, die eine eher vergängliche Natur besitzen. Einige Überlegungen, die den Fall des in Kapitel 4 dargestellten Gerüchts über die Schlümpfe betreffen, sollten an dieser Stelle schon aufgegriffen werden. Bei der Durchführung der Gruppeninterviews fiel auf, daß die Kinder dieses Gerücht mit eigentümlichen Erzählungswelten aus verschiedenen kulturellen Zusammenhängen in Verbindung brachten. Die jeweilige Welt setzte sich aus verschiedenen Erzählungen und Bruchstücken solcher zusammen, die schriftlich oder mündlich oder über das Fernsehen weitergegeben wurden. Die Erzählungen gehörten verschiedenen Genres an. In jedem kulturellen Kontext besaßen sie eine spezifische diskursive Organisation, die ihnen eine unterschiedliche Ordnung von Glaubwürdigkeit vermittelte. Oberflächlich betrachtet wurde in semi-urbanen Gebieten im Südosten von Mexiko, in denen die Traditionen der Maya weiter überwiegen, das Gerücht über die Schlümpfe mit der Welt der Mayalegenden verbunden, wogegen es in Urbanen Gebieten vor allem mit bekannten Fernsehprogrammen verknüpft wurde. Die in Urbanen und semi-urbanen Gebieten durchgeführten Interviews ergaben unterschiedliche Schattierungen und Differenzierungen. Diese lassen sich als Verschiebungen und Gewichtsverlagerungen einer diskursiven Organisation begreifen, da weder genau dieselben diskursiven Elemente, dieselben Legenden oder Bruchstücke von Legenden erwähnt, noch in gleicher Weise mit denselben Filmen oder Fernsehprogrammen verknüpft wurden. Gleichwohl zeichneten sich gewisse Elemente durch ihre Wiederholung aus und dadurch, daß sie Punkte diskursiven Zusammenflusses darstellten, die die Assoziationen gestalteten. Gerade die Gegenüberstellung dieser Punkte des einen Kontextes mit denjenigen anderer Kontexte ermöglicht es, von unterschiedlichen Ordnungen der Glaubwürdigkeit und kulturellen Geflechten zu sprechen.

Kapitel I

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Diese Interviews - hätte es sich um ein Gerücht mit einem anderen Inhalt gehandelt - würden in jedem Kontext andere Assoziationen und Geschichten ergeben, die wiederum in jedem kulturellen Kontext andere Elemente als die unterscheidenden herausgestellt hätten. Wir stoßen hierbei auf Verschiebungen und Gewichtsverlagerungen der diskursiven Organisationen, die die kulturellen Geflechte bilden. Dies fuhrt zu folgender Problematik: Bis zu welcher Stelle bleibt die Verschiebung und Gewichtsverlagerung eine Abweichung von tendenziell Gleichem und ab wann verwandelt sie sich in etwas anderes? Jede Forschung besitzt ein besonderes Dispositiv, das eine bestimmte Art von Merkmalen und Gestalten einer Kultur bzw. ihres Geflechtes enthüllt. Der Blick ist bekanntlich ein Teil des Betrachteten. Wenn von kultureller Heterogenität die Rede ist und darunter verstanden wird, daß die Kulturen weder isolierte Bereiche, noch geschlossene Systeme sind, die auf Wesenskerne verweisen, daß sie vielmehr Geflechte vielschichtiger kultureller Formen darstellen, mit einem unterschiedlichen Grad an Kohärenz und Systematisierung, dann können auch die wechselseitigen Beziehungen zwischen den einzelnen kulturellen Geflechten gedacht werden, und zwar auf der Grundlage dessen, was ihnen gemeinsam ist. Dies fuhrt dazu, jene Elemente, die die verschiedenen kulturellen Geflechte durchziehen, zu erkennen, um auf diese Weise diejenigen Stellen zu erfassen, an denen sich die Kulturen berühren. Genauso können die besonderen Regelungen begriffen werden, die bewirken, daß Kulturen sich voneinander entfernen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Punkte kultureller Konvergenz und Logiken kultureller Divergenz zu erarbeiten.

1.3.2 Die Begriffe kultureller Konvergenz und Divergenz Die Analyse des Gerüchts über die Schlümpfe untersuchte die diskursiven Elemente, die verschiedene kulturelle Kontexte durchziehen. Die Elemente wurden als Konvergenzpunkte aufgefaßt, die von unterschiedlichen Kontexten geteilt werden. Im letzten Kapitel wird dargestellt, daß einige dieser Elemente eine größere Reichweite als andere besitzen und es in Abhängigkeit von ihrer unterschiedlichen Verbreitung erlauben, Linien unterschiedlicher Länge zu zeichnen. Es wird dann im Einzelnen erörtert, welche Elemente alle kulturellen Kontexte durchziehen, welche in mehreren Kontexten und welche nur in einem bestimmten kulturellen Kontext erschienen sind. Es wird auf verschiedene Konvergenzfaktoren hingewiesen.

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Unter Faktoren kultureller Konvergenz werden jene verstanden, die die wechselseitige Verbindung kultureller Geflechte wie die Verbreitung der verschiedenen Diskurse, Rituale und Praktiken unterstützen. Unter Faktoren kultureller Divergenz werden jene verstanden, die dazu neigen, die Trennung zwischen gesellschaftlichen Gruppen und kulturellen Geflechten zu fördern. Konvergenzpunkte oder die Elemente, die verschiedene Gruppen teilen, bedeuten nicht dasselbe für jede Gruppe. Konvergenz will nicht eine einheitliche Sicht oder Gleichheit der Bedeutung ausdrücken. Die Konvergenzpunkte zeigen nur die Stellen auf, an denen die speziellen Strategien verschiedener Kulturen sich auf ihren Bahnen verbinden. Diese speziellen Strategien stellen die Logiken kultureller Divergenz dar und beruhen auf zwei Bestimmungsgründen: einerseits die unterschiedlichen sozio-ökonomischen und politischen Niveaus, andererseits die lokalen Regeln kultureller Produktion, die dazu dienen, verschiedene Kulturen zu trennen. Bezüglich der lokalen Regeln kultureller Produktion sind im Einzelnen zu berücksichtigen: a. die verschiedenen alltäglichen Praktiken der Kinder, b. die unterschiedlichen raum-zeitlichen Regelungen bei gegebenen schiedlichen physischen und geografischen Zusammenhängen,

unter-

c. bestimmte gesellschaftliche Verhaltensnormen, insbesonders der mündlichen Interaktion, d. unterschiedlicher kultureller Zugang zu und Konsum von Informationsquellen, im Zusammenhang mit der Art der Ausbildung und dem Gebrauch von Massenmedien, d.h. im Zusammenhang mit der unterschiedlichen Interaktion der Kommunikationstechnologien in jedem kulturellen Kontext, e. unterschiedliche lokale diskursive Ordnungen im Zusammenhang mit dem Gedächtnis lokaler Gruppen. Die Konvergenz ist immer auf gewisse Aspekte beschränkt, die die wechselseitige kulturelle Verbindung in gewissen historischen Kontexten ermöglichen. In diesem Sinn wird mit dem Konvergenzbegriff versucht, die zeitliche Dimension kultureller Prozesse zu betrachten. Zwischen verschiedenen kulturellen Geflechten kann es viele kulturelle Konvergenzpunkte geben, die untereinander wechselseitig verbunden sind und deshalb Verknüpfungen zwischen den genannten Geflechten herstellen. Gegenüber dem Begriff der kulturellen Integration wird in dieser Untersuchung derjenige der kulturellen Konvergenz vorgezogen. Ersterer wird von Politikern verwandt, um die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in ihre ökonomisch-politischen Modernisierungsvorhaben einzubeziehen; dieser Begriff erlaubt nicht mehr, die

Kapitel 1

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vielfältigen kulturellen Strategien zu sehen, die eine Nation oder eine Region ausmachen. Der Begriff der kulturellen Konvergenz zusammen mit dem Begriff der kulturellen Divergenz versucht nicht nur eine Erklärung der wechselseitigen kulturellen Verbindung zwischen den Gemeinschaften, den gesellschaftlichen Gruppen und Ländern - all dies auf unterschiedlichen Ebenen - , sondern auch eine Betrachtung dessen, was sie trennt, wie die Tendenz sozio-ökonomischer Differenzierung und politischer Marginalisierung. Hier sollen zugleich die Punkte kultureller Konvergenz und die Tendenzen kultureller Divergenz untersucht werden. Das, was die Kulturen eint und das, was sie trennt, ist gleichzeitig wirksam, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Dies zeigt sich in der beobachtbaren Spannung zwischen beiden Tendenzen. Dies zu verstehen trägt dazu bei, die Art und Weise der Herausbildung und ständigen Umwandlung von lokalen versus regionalen, regionalen versus nationalen und nationalen versus transnationalen Strategien der Identität nachvollziehen zu können. Die Untersuchung der kulturellen Problematik aus der Perspektive kultureller Konvergenz und Divergenz erlaubt es, über die Mikro-Sicht hinaus zu gelangen und jenseits dieser Vorstellung mit ihrer Neigung, Kulturen als abgegrenzte und unabhängige Einheiten zu sehen, die diskursiven Verbindungen und die Faktoren hervorzuheben, die sie fordern und stören. Zugleich geht diese Perspektive auch über den makro-strukturalen Blickwinkel hinaus mit seiner Betonung von Gesamtheiten und Regelmäßigkeiten, da in dieser Sichtweise Besonderheiten und Regeln lokaler kultureller Produktion beiseite gelassen werden. Die Metaphern des globalen Dorfes, des Globalen, der Weltgesamtheiten, verstanden als Umhüllungen, erscheinen von daher gesehen irreführend und reduktionistisch. Es ist weit sinnvoller, von gleichzeitig bestehenden Tendenzen der Homogenisierung und der Heterogenisierung zu sprechen, von kultureller Konvergenz und kultureller Divergenz. Der Terminus "Tendenz" spielt auf eine kulturelle Dynamik an; die Termini "Konvergenz" und "Divergenz" deuten auf Bahnen hin, Linien, die bei diesen dynamischen Prozessen die kulturellen Geflechte durchqueren, zusammenfugen, trennen und auseinanderbringen.

Kapitel 2

2

DIE MÜNDLICHE DIMENSION VON GERÜCHTEN

2.1

Vom Text zur mündlichen kollektiven Aktion

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Die mündliche Dimension wurde in den Forschungen über Gerüchte selten beachtet. Die Tendenz, sich am Schriftlichen zu orientieren, wie sie in Kulturstudien vorherrscht, hat die Perspektive dieser Arbeiten geprägt und verhindert, die Materialität, d.h. die kennzeichnenden Züge mündlicher Kommunikation, im Prozeß der Produktion von Gerüchten zu erfassen. Dieser Tendenz zufolge werden die meisten kulturellen Phänomene analysiert, als handle es sich um geschriebene oder zu schreibende Texte, wobei unterstellt wird, der geschriebene Text sei das Modell oder das Ideal eines Diskurses. Ein deutliches Beispiel dieser Tendenz stellen die in Kapitel 1 erwähnten Studien von Allport und Postman über Gerüchte dar, in denen beklagt wird, daß das Gerücht sich nicht wie ein geschriebener Text verhält. Gerüchte sind aber keine schriftlichen Texte. Der Ansatz der über sie durchgeführten Forschungen beruht auf einer Schriftwelt, in der sich der Forscher bewegt und in der ein "Schriftkult" vorherrscht. Wie auch in dieser Untersuchung ist das Ergebnis immer die Produktion eines Schrifttextes. De Certeau (1975), der sich neben anderen Verfassern mit Schriftlichkeit und Sozialwissenschaften befaßte, beschreibt diesen Prozeß als einen Vorgang der "Um-Schreibung". Er untersucht die Art und Weise, in der die "Ethno-Graphie" bestimmte "Operationen des Schreibens", d.h. einer Graphie, anwendet, um den mündlichen Diskurs sowie das Wissen über Kulturen ohne Schrift zu erfassen. Dies erörtert er am Beispiel der Reiseerfahrungen von Jean de L6ry bei den Tupis in Brasilien im 16. Jahrhundert. Hier läßt sich eine Analogie herstellen zwischen Perspektive und Erzählverfahren in den Anfängen der Anthropologie und dem Blick der ersten Gerüchteforscher. Im einen wie im anderen Fall erleidet der orale Diskurs einen Prozeß der UmSchreibung. Die spezifischen Merkmale der vielen Sprachen (mündlich, schriftlich, im Rundfunk, im Film, etc.), die die materielle Dimension der Kommunikationsprozesse bilden und von der Semiologie untersucht werden, bleiben unbeachtet (Saussure, 1916; Barthes, 1981, 1984, 1985). Die Wechselwirkungen zwischen Stimme, Gebärden und Körper der untersuchten Subjekte, wie sie mündliche Kommunikation kennzeichnen, sind kein Gegenstand ihrer Betrachtung. In all diesen Forschungen scheint es, als verdiene die mündliche Sprache keine Berücksichtigung und warte nur darauf, aufgeschrieben zu werden, um sich auszudrücken:

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Margarita Zires Die orale Sprache wartet, um zu sprechen, darauf, daß ein Schreiben sie umschreibt und versteht, was sie sagt (De Certeau, 1975: 138).

Sozialwissenschaftler haben in den letzten Jahren Überlegungen der Sprachwissenschaften (Sprachphilosophie, Semiologie, Pragmatik, Diskursanalyse, Argumentationstheorien) zu Verfahren der Schriftlichkeit übernommen. So gibt es z.B. Studien über mündliche, schriftliche und bildliche Texte, über Praktiken und Rituale sozialer Interaktion, über Diskurse, die mehrere Sprachen besitzen können und deren Bedeutung durch bestimmte gesellschaftliche Konventionen in einem gegebenen historischen Kontext geregelt ist. Dies erlaubte im Sinne Foucaults (1969) eine Archäologie ethnologischen Wissens und den Aufbau der "Hermeneutik des Anderen" (De Certeau, 1975). De Certeau untersuchte auch den Ethnozentrismus, der mit der an der Schriftlichkeit orientierten Logik verbunden ist, sowie den Gebrauch von Macht, der das Schriftverfahren in der Ethnologie und anderen Disziplinen kennzeichnet. Einem Wissenschaftler, dessen Gewohnheit darin besteht, mit Texten und anderen feststehenden Schriftmaterialien umzugehen, als ob sie in einer Bibliothek oder einem Zeitungsarchiv nur darauf warteten, bearbeitet zu werden, verursacht das Gerücht als mündliche Kommunikation viel Unsicherheit. Die ätherische, vorläufige, kaum greifbare, nicht leicht überprüfbare und nur schwer nachzubildende Natur des Gerüchts verwandelt es in etwas, das dem "Wort des Wilden" ähnelt, das der Ethnologe zu untersuchen und zu zähmen beabsichtigt. Die Verfahren der Schriftlichkeit, wie sie zur Erfassung von Gerüchten verwandt werden, aber auch die diskursiven Formen der Genres und argumentativen Techniken, die Grundlage der Konstruktion der wissenschaftlichen Texte sind, ändern sich mit dem Forschungsansatz der jeweiligen Wissenschaft und ihren Werkzeugen. Allgemein läßt sich feststellen, daß in den meisten Untersuchungen über Gerüchte und Analysen über Studienobjekte, wie denen über mündliche Überlieferungen, Mythen und Legenden, die Transkription als wesentlicher Teil der Um-Schreibung und der Konstruktion des wissenschaftlichen Diskurses verstanden wird. Der Vorgang der Transkription bedeutet immer einen Prozeß der Wiedererstellung, der erneuten Deutung und damit der Anpassung an die Logik der Schrift und der Lektüre. Das gesprochene und mit Gesten versehene Wort, eingebunden in einen Körper in Bewegung und Interaktion mit anderen Körpern, verwandelt sich in ein geschriebenes Wort, bei dem die Stimme beseitigt wird, die auf eine Gestik und eine Körpersprache verweist. Der Inhalt des Gerüchts erleidet in diesem Prozeß eine Vereinheitlichung. Selten kommt es vor, daß Texte Gerüchte in mehreren Versionen darlegen. Meist wird eine Version ausgesucht, die die gemeinsamen Bestandteile der übrigen Versionen des Gerüchts aufnimmt. Tonfall, Pausen, Wiederholungen, Merkmale jeder mündlichen Erzählung, werden als überflüssig und nicht informativ betrachtet und weggelassen.

Kapitel 2

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Eingefugt werden Kommata, Strichpunkte, Punkte, etc., die das Gesprochene in Übereinstimmung mit den Konventionen der Lektüre gestalten und die nicht Teil der mündlichen Kommunikation sind. Daher verändert sich zugleich die ZeitRaum-Dimension des Phänomens. Die Transkription bringt es mit sich, daß der Rhythmus gebändigt und die sich in ständiger Bewegung und Umbildung befindende fließende Rede überwältigt und zum Stillstand gebracht wird. Eingeführt wird eine gewisse Dauer. Zugleich wird ein relativ feststehender Raum geschaffen, um diesen fließenden und flüchtigen Text der mündlichen Rede untersuchen zu können. Im Prozeß der TransSkription wird das gesprochene und durch Gestik ergänzte Wort in ein Buch übertragen, verwandelt sich in Buchstabenfolgen, die den Namen, den Stempel und die Identität des Sammlers, des Forschers und des Herausgebers aufweisen. Die anonyme, kollektive Stimme, die in einer Gesellschaften keine Legitimität besitzt, in der der geschriebene Text das höchstes Ansehen genießt, erhält eine andere Identität. Sie wird in den Kreis autorisierter, offizieller Texte innerhalb akademischer Institutionen aufgenommen. Damit verwandelt sie sich in legitimes Forschungsmaterial, das die Unterschrift eines Mitglieds in einem Expertengremium trägt. Die anonyme Stimme verwandelt sich in "analysierbares Material", das für den Bereich wissenschaftlicher Disziplinen "lesbar" wird. Aber nicht jede Unterschrift erfreut sich desselben Ansehens. Ihr Wert hängt vom Namen des Sammlers ab. In einem akademischen Umfeld bedeutet es nicht das Gleiche, ob Lévi-Strauss oder ein unbekannter Sammler eine mündliche Mythe veröffentlicht, selbst wenn der Sammler von den Leuten der Gemeinschaft, aus der die Mythe stammt, weit mehr anerkannt wird.

2.2

Vom Text zur Interaktion - Kommunikation von Angesicht zu Angesicht

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden die Formen der Kommunikation von Gerüchten skizziert, für die die materielle Dimension, also die besonderen Merkmale der Zeichen, bestimmend sind, zusammen mit den gesellschaftlichen Konventionen und Sprachregelungen, die an ihrem Funktionieren beteiligt sind. Dies geschieht anhand einiger Beiträge der Ethnographie des Sprechens und der Mikrosoziologie von Goffman. Wenn von "Skizzieren" die Rede ist, so deshalb, weil es bislang nur Andeutungen über diese bislang nicht bearbeitete und auch nur schwer faßbare Dimension der Gerüchte gibt. Diese Arbeit beabsichtigt, sich von einem Blickwinkel zu entfernen, der auf die Schrift ausgerichtet ist. Das Schreiben über Mündlichkeit bedeutet nicht nur, die Abwesenheit einer Schrift anzuzeigen und die Merkmale der Schriftform in abstrakter Form zu durchdenken. Es wird der Versuch gemacht, sich in konkreter

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Form Gedanken über ihre kennzeichnenden Merkmale und ihre vielschichtigen Wechselwirkungen zu machen. Das Gerücht beschränkt sich weder auf den Inhalt der Information, noch auf eine Gesamtheit von Wörtern oder mündlichen Zeichen. Es besteht auch aus paralinguistischen Zeichen wie Stimmfärbung, Stimmumfang, Pausen. Mündliche Sprache ist stets mit der Körpersprache verbunden. Die mündlichen Zeichen können nicht isoliert von einer anderen Gesamtheit von Zeichen und heterogenen Ausdrucksmöglichkeiten gesehen werden, nämlich von Gesichtsausdruck, Blicken und Gestik, die sich in Wechselwirkung miteinander befinden und sich an der mündlichen Kommunikation beteiligen. Auf diese Weise wird die raum-zeitliche Dimension der Kommunikation einbezogen, vor allem die physische Präsenz der Gesprächsteilnehmer als charakteristisches Merkmal der mündlichen Kommunikation. Der geschriebene Text benötigt eine Zeit des Schreibens und eine Zeit des Lesens, also einen zeitlichen Abstand zwischen der Niederschrift und der Lektüre, wogegen der mündliche Text durch die gleichzeitige Anwesenheit der Subjekte, die an der Kommunikation teilnehmen, gekennzeichnet ist. Der geschriebene Text erfordert eine lineare Lektüre in einer bestimmten Reihenfolge, wogegen der mündliche Text das parallele Erfassen vieler Ebenen der Kommunikation verlangt. Der geschriebene Text ist durch die physische Abwesenheit des Lesers zum Zeitpunkt der Niederschrift gekennzeichnet wie durch die physische Abwesenheit des Verfassers zum Zeitpunkt der Lektüre. Mündliche Kommunikation erfolgt "bei physischer Anwesenheit". Der Ausdruck der "Kommunikation von Angesicht zu Angesicht" spielt auf diese Eigenart an und erlaubt den Vergleich mit anderen Kommunikationsformen, die nicht diese physische Präsenz beinhalten. Dies trifft außer für die Schrift auch für Kommunikationsmittel wie Radio, Fernsehen und Kino zu. Der Terminus "mündlich" verweist nur auf den Mund, in Übereinstimmung mit dem Terminus "oral" (oris = lat. "des Mundes"), der üblicherweise verwendet wird, um eine bestimmte Art der Übertragung zu bezeichnen. Der Ausdruck "von Angesicht zu Angesicht" verweist auf eine Interaktion zwischen Körpern, auf das Spiel der Blicke, Bewegungen, Mienen, Gestik, also auf eine Wechselwirkung, die alle Sinne einbezieht. Der Ausdruck "Kommunikation von Angesicht zu Angesicht" unterstreicht, daß der mündliche Text ein Produkt darstellt, an dem zumindest zwei Gesprächspartner mit Mund, Gehör und Augen teilnehmen, und bei dem nicht nur die Worte und ihr Inhalt zählen. Der Text der mündlichen Kommunikation, der Kommunikation bei physischer Präsenz verschiedener Gesprächsteilnehmer, ist das Resul-

Kapitel 2

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tat der Interaktion zwischen dem Ausgesprochenen und dem Zusammenspiel von Gesichtern und Körpern im Augenblick des Sprechens. So verstanden verweist der Terminus "Text" nicht auf einen geschriebenen Diskurs, sondern auf ein Gewebe vielfältiger Zeichen unterschiedlicher Natur, also auf das Zusammenspiel der Sinne.

2.3

Von der vokalen Aktion, dem Sprechereignis und dem Prozeß der Verhandlung

Die Stimme, von der hier die Rede ist, ist eine Stimme in Aktion. Deshalb wird in dieser Arbeit von einer vokalen Aktion gesprochen, einem Konzept, das die Beiträge der Pragmatik, speziell von Austin (1962) aufnimmt, der sich auf Akte des Sprechens bezieht. Die Ethnographie des Sprechens betont ebenfalls die Aktion, also den Augenblick der Produktion des mündlichen Textes. Aus dieser Sicht kann von der Sprachanalyse, wie z.B. den Grammatikstudien, übergegangen werden zur Untersuchung der gesellschaftlichen Konventionen, die das Sprechen und die verschiedenen Sprecharten in bestimmten kulturellen Kontexten regeln. Von Interesse ist deshalb "the movement from a focus on the text to a focus on the communicative event" (Hymes, 1971: 46). Im Gegensatz zu anderen semiologischen und anthropologischen Tendenzen, die sich mit der Analyse des Inhalts oder der erzählten Begebenheit begnügen, unterstreicht die Ethnographie des Sprechens das Sprechereignis. The telling is the tale; therefore the narrator, his story, and his audience are all related to each other as components of a Single continuum, which is the communicative event (Ben-Arnos, 1971: 10). Durch den Begriff "event" wird die in Zeit und Raum einzigartige Begebenheit betont, die den Akt des Erzählens ausmacht, wobei behauptet wird, daß das erzählte Ereignis gerade eben mit dem Ereignis des Erzählens, dem Sprechereignis, verwoben ist, was bedeutet, daß eine vielschichtige Durchdringung zwischen den diskursiven Strukturen und den Strukturen des Erzählens, des Sprechereignisses, besteht (Bauman, 1986). Das fuhrt dazu, bei jeder mündlichen Produktion die verschiedenen situationsabhängigen Faktoren zu berücksichtigen. Deshalb werden u.a. die Identitäten und die Rollen der Teilnehmer in der untersuchten Gemeinschaft erwähnt, zusammen mit den wesentlichen Regeln und Normen der gesellschaftlichen Interaktion. Aus dieser Perspektive erweist es sich als notwendig, jedes Sprechereignis innerhalb der Gesamtheit mündlicher Ereignisse einer Gemeinschaft zu analysieren und hierbei die besonderen Begriffe der Definition und Einordnung zu berück-

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Margarita

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sichtigen, die die untersuchten Subjekte gebrauchen. Die Aufzeichnung der paralinguistischen Elemente (Tonfärbung, Volumen, Pausen, Rhythmen) wird bei der Transkription mündlicher Texte für sehr wichtig gehalten (Tedlock, 1971). Diese Richtung prägte auch den Begriff der Auffuhrung - "Performance" und "Performance oriented approach" - in der Absicht, die theatralische und künstlerische Dimension der mündlichen Produktion hervorzuheben, vor allem in Kontexten, die eine nur wenig verwurzelte Kultur der Schriftlichkeit besitzen. Obgleich dieser Begriff bei der Beschreibung einer mündlichen Produktion, die über Darsteller und Zuhörer eine darstellerische Komponente in sich trägt, treffend ist, erscheint er wenig geeignet zur Beschreibung einer mündlichen Produktion, die sich auf Klatsch bezieht, wie z.B. bei Abrahams (1970), der vom "gossip as Performance" spricht. Das Gleiche trifft für Gerüchte zu. Selbst wenn bei ihnen, wie auch beim Klatsch, mitunter darstellerische Elemente im Augenblick des Erzählens auftreten, so sind sie doch weder für Gerüchte noch für Klatsch kennzeichnend. Dies verdient größere Aufmerksamkeit, da die Untersuchung der körperlichen Dimension der Kommunikation diese Forscher dazu führte, die theatralische Dimension zu berücksichtigen. So bildet dieser Aspekt einen wesentlichen Teil der Analysen von Goffinan (1974) über die mündliche Interaktionen. Nun gibt es bei Goffmanns Konzeption zwei zu unterscheidende Aspekte: einerseits die Inszenierung, die jedes Gespräch beinhaltet, bei dem die Gesprächspartner eine gesellschaftliche Rolle spielen, andererseits die Theatralisierung eines Textes im Augenblick der Erzählung. Aus der mikrosoziologischen Perspektive Goffmans stellt die mündliche Kommunikation einen Prozeß der Verhandlung dar, bei dem die Teilnehmer laufend die Gesprächssituation neu definieren und umdefinieren. Dies ist das "framing", der Rahmen der kommunikativen Interaktion, über den die Teilnehmer gemeinsam - ausdrücklich oder stillschweigend - das Geschehen und die Bedeutung der Zusammenkunft festlegen. Dazu umreißen sie die Grenzen angemessenen Verhaltens, weisen sich unterschiedliche gesellschaftliche Rollen zu und stellen demzufolge die für diesen Augenblick geeignete Interaktionsstruktur und die zugehörigen Äußerungen her. Dieser Prozeß der Definition der Situation wird durch die Prinzipien der Reflexivität und Variabilität geregelt. Reflexivität heißt, die Definition des Geschehens bei gesellschaftlichen Begegnungen bildet einen Teil gerade eben dieser Begegnung. Der Variabilität zufolge kann der Rahmen des Austauschs sich wandeln, und deshalb auch seine Bedeutung. Daher äußert Goffman:

Kapitel 2

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to talk is like a structural midden, a refuse heap in which bits and oddments of all the ways of framing activity in the culture are to be found (Gofftnan, 1974: 499). Der Akt der Produktion von Erzählungen schließt auch vielschichtige Aktivitäten und eine andauernde Abwandlung der Schlüsselsituation ein. Diese wird nicht nur durch die verbale Sprache definiert: es wird gefragt, im Ernst gesprochen, gescherzt, ironisiert, nachgeahmt, geredet um des Redens willen, etc. Nach Goffman bildet der Konflikt einen Grundbestandteil dieses Prozesses, da die Teilnehmer darum kämpfen, ihre eigene Definition oder Umdefinition der Situationen durchzusetzen. Sie nehmen daher strategische Stellungswechsel vor, von Goffman als Bewegungen oder Züge ("moves") definiert. Er lehnt sich dabei an Wittgensteins Konzeption der Sprachspiele an, um die in jedem kommunikativen Austausch eingebaute Machtdimension hervorzuheben. Übereinstimmend mit Goffman ist jede Situation der Gerüchteproduktion nicht nur das Ergebnis der Summe von Informationen oder Erzählungen, die jeder Teilnehmer in das Gespräch einbringen kann, sondern auch des Verhandlungsprozesses über die gesellschaftlichen Rollen, die der einzelne Teilnehmer spielt. Aufgrund des - unten anzusprechenden - Gruppen- oder Kollektivcharakters bildet sich das Ergebnis nicht nur durch eine, sondern durch viele Verhandlungen. Theatralisierung bedeutet die erneute Darstellung einer bereits vorhandenen Erzählung, die entweder vom Sprechenden selbst erlebt wurde oder aber von dem Subjekt, das er in seiner Erzählung erwähnt, um den Gesprächsteilnehmer einzubeziehen. So behauptet Goffmann: it seems that we spend most of our time not engaged in giving information but in giving shows. And observe, this theatralicity is not based on mere displays offeelings or faked exhibitions of spontaneity or anything else... The parallel between stage and conversation is much, much deeper than that. The point is that ordinarily when an individual says something, he is not saying it as a bald statement of fact... He is recounting. He is running through a strip of already determined events for the engagement of his listeners (Goffman, 1974: 508). Diese Übertragung des Theatralischen auf das Gerücht bedeutet, daß während der Gerüchteproduktion die verschiedenen Teilnehmer in dramatischer Weise erzählen und damit irgendeinen Vorfall erneut erleben und immer wieder erschaffen. Der Sprecher, ohne daß dies ein Szenarium erfordert, schafft eine bestimmte Atmosphäre der Spannung, und zwar mit Hilfe von Stimmfarbung, Pausen, Blikken, Gebärden und Körperbewegungen. Wenn also jede Situation der Gerüchteproduktion eine Inszenierung im Sinne einer Verhandlung über die gesellschaftlichen Rollen der verschiedenen Teil-

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nehmer bedeutet, so heißt dies nicht notwendigerweise, daß eine Theatralisierung oder Dramatisierung des Erzählten stattfindet. Letztere ist bereits ein Produkt des Verhandlungsprozesses zwischen den verschiedenen Teilnehmern und der Art der Identifizierung, die ein bestimmter Gruppenzusammenhang erlaubt. So gesehen bildet sowohl die Dramatisierung als auch ihr Ausbleiben einen Bestandteil der Verhandlung. Für das Verständnis der Dynamik der Produktion und Transformation mündlicher Texte und insbesondere der Gerüchte ist es vorteilhaft, die gleitenden Übergänge zwischen einigen der verwendeten analytischen Kategorien - Aktion, "event" oder Ereignis, Verhandlung, Auffuhrung, Theatralisierung und Dramatisierung - , die die Betrachtung unterschiedlicher Gesichtspunkte dieser Produktion ermöglichen, nochmals kurz anzusprechen. Der Begriff "vokale Aktion" verweist auf die Bedeutung der Untersuchung des Kontextes einer Äußerung und der Regeln der gesellschaftlichen Interaktion. Der Begriff "event" oder Ereignis im Zusammenhang mit Erzählungen ermöglicht es, Nachdruck auf die Wechselbeziehungen zwischen erzähltem Ereignis und den vielschichtigen, gesellschaftlichen Faktoren zu legen, die bei der Produktion der mündlichen Erzählung mitwirken, also dem Sprechereignis bzw. dem Ereignis des Erzählens. Der Begriff "Verhandlung" betont den anhaltenden Prozeß des Definierens und Umdefinierens der Rollen, den Rahmen der mündlichen Interaktion

sowie

die

Machtdimension.

Durch

die

Begriffe

der

"Auffuhrung",

"Theatralisierung" und "Dramatisierung" können die theatralischen Elemente bei der Produktion mündlicher Erzählungen berücksichtigt werden. Es bedeutet eine theoretische Verlagerung, wenn von der Untersuchung isolierter Aussagen bei "Sprechakten" wie dies in der Pragmatik geschickt übergangen wird zur Analyse eines gesamten Textes bzw. einer Textgesamtheit in einem bestimmten kulturellen Zusammenhang wie dies in Studien der Ethnographie des Sprechens erfolgt (Hymes 1962).

2.4

Die Beteiligung der Tradition und des kollektiven Gedächtnisses

Bei der Produktion und Umwandlung des Gerüchts werden die Tradition und das kollektive Gedächtnis in einem unwiederholbaren Ereignis neu umgesetzt. Dieses Ereignis wird durch den gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang geregelt sowie durch die diskursive Situation und das besondere physische Umfeld, das den mündlichen Text in Zeit und Raum einordnet. Jedes Gerücht oder seine Versionen sind zeit- und raumbezogen. Die Zeit einer Gerüchteversion bezieht sich auf die Dauer des Ereignisses der Gerüchteproduk-

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tion, aber auch auf die gesellschaftliche Zeit und den historischen Zusammenhang, in den das Gerücht eingebunden ist. In einer Fabrik können die Arbeitspausen dazu beitragen, die Zeit der gesellschaftlichen Interaktion und der Produktion von Gerüchten zu bestimmen. Vor der Wahl eines neuen Präsidenten entsteht üblicherweise in den meisten Ländern eine Stimmung, welche die Produktion von Gerüchten über mögliche Kandidaten, ihre Politiken und Interessen, ihre gesellschaftlichen Beziehungen und ihr Privatleben fordert. Die Richtigkeit oder Bedeutung, die ein Gerücht in einem sozialen Raum einschlagen kann, ist abhängig von der physischen Umgebung der bei der Produktion eines Gerüchts zusammenwirkenden Personen und von den Normen, die in dieser Umgebung gelten und sie zu einem besonderen soziokulturellen Raum gestalten. Sicherlich unterhält sich der Angestellte eines Unternehmens über andere Themen und auf andere Weise, je nachdem, ob er sich am Arbeitsplatz befindet, in einem Restaurant oder aber im Rahmen eines Festes zu Hause. Das besondere räum- und zeitbezogene Umfeld durchdringt das Gesagte wie Kommentare, die die mündlichen Produktionen mitgestalten. Diese Kommentare werden oft in Untersuchungen nicht wahrgenommen, weil sie untrennbar in die mündlichen Produktionen integriert sind. Der Ansatz der vorliegenden Untersuchung wendet sich gegen mechanische, ahistorische Vorstellungen, die die mündliche Tradition als ein statisches, vergangenes und abgeschlossenes Phänomen betrachten. Die Tradition ist jedoch lebendig und befindet sich im Prozeß dauernder Umwandlung. Selbst wenn die Tradition mitunter schriftliche Formen aufweist, so bestehen doch ihre mündlichen Formen fort und entwickeln sich weiter. Durch die Tatbestände des auf einen bestimmten Tag und eine gewisse Stunde festgelegten Geschehens, an dem bestimmte Subjekte an einem besonderen Ort teilhaben, verleiht jede Umsetzung der Tradition erneute Dauerhaftigkeit. Zugleich erhält die Tradition dabei die Fähigkeit, neue Diskurse aufleben zu lassen, die in sie eingebunden werden. Die mündliche Tradition verändert sich durch Umsetzung und andauernde schöpferische Erzeugung mit Hilfe der Erinnerung. Kollektives und individuelles Gedächtnis spielen dabei eine aktive und sich wandelnde Rolle. Die Vergangenheit ist daher nicht statisch; sie befindet sich in steter Wiederverarbeitung. Die materielle Dimension der Tradition, des individuellen und kollektiven Gedächtnisses schließt die Vorstellung von der physischen Gegenwart der Körper ein. Dies bedeutet, daß es sich sowohl im Körper als auch zwischen den Körpern befindet, nämlich in den Wechselbeziehungen zwischen den körperlichen Zeichen: Laute, Blicke, Gebärden, Gestik.

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Die Anwendung dieser Vorstellung auf die Untersuchung der Gerüchteversionen fuhrt dazu, das vielfältige Spiel von Stimmen und die Stimmfärbung des Vortragenden zu berücksichtigen, zusammen mit den Erzählungen aller an der Gerüchteproduktion Beteiligten. Bislang wurde die Ausdrucksdimension des Gerüchts unter dem Blickwinkel der Theoretiker der Ethnographie des Sprechens betrachtet. Ein kennzeichnender Aspekt wurde jedoch noch nicht berücksichtigt, der gleichwohl spezifisch für das Phänomen des Gerüchtes ist: seine kollektive und anonyme Dimension. Ein Merkmal des Phänomens der Gerüchte ist, daß seine Produktion nicht nur eine einzige Erzählsituation betrifft, sondern viele Situationen oder Sprechereignisse, bei denen die Erzählung immer wieder produziert oder umgeformt wird.

2.5

Die kollektive Dimension des Gerüchtes

Das Gerücht stellt eine vokale Erzählung dar, die verschiedene soziale Gruppen und kulturelle Zusammenhänge durchzieht und sich dabei in ein mehrstimmiges Konzert verwandelt, das die verschiedenen Laute, Volumina, Gebärden und Arten des Sprechens aller einbezogenen Subjekte miteinander verflicht. Aber die große Mehrheit der Studien über Gerüchte haben diese kollektive Dimension nicht beachtet. In der Einleitung und im ersten Kapitel wurde gezeigt, wie die ersten Gerüchteforscher aus einer individualpsychologischen Sicht heraus das Gerücht auf ein individuelles Phänomen reduziert und als eine Verzerrung des individuellen Gedächtnisses verstanden haben. Das Subjekt, von dem sie reden, ist entweder vergeßlich oder aber ein bewußter Wahrheitsverdreher (Knapp, 1944; Allport und Postman, 1947). Die Autoren, die sich mit Gerüchten aus sozialpsychologischer oder soziologischer Sicht befaßten, haben die gruppendynamische Bedeutung des Gerüchts hervorgehoben. Jedoch unterscheiden sich die Autoren hinsichtlich ihrer Auffassungen über Gruppen. Für Rouquette stellt das Gerücht bei relativ stabilen Gruppen eine Möglichkeit dar, sich zu bilden, zu definieren und weiterzubestehen (Rouquette, 1975). Für Dröge bezieht sich das Gerücht auf stabile Primärgruppen mit ständiger Rückkopplung sowie auf undeutlich abgegrenzte und vorübergehende Gruppen (Dröge, 1970). Shibutani zufolge besitzt jedes Gerücht ein Publikum, das weder eine organisierte Gruppe noch eine bloße Ansammlung von Individuen darstellt. Auch er betont die "transitory groupings", die sich bei der Gerüchteproduktion bilden (Shibutani, 1966: 38).

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Kapitel 2

Kapferer spricht auch von "le public" und "le marche de la rumeur", und meint den damit verbundenen Austausch (Kapferer, 1987: 104). Er erwähnt die kollektive Dimension des Gerüchts, erläutert jedoch nicht, was er hierunter versteht. Der Gebrauch des Terminus "le public" ist wenig hilfreich, denn er verhindert das Verständnis fiir die Beteiligung des Sprechenden während des Prozesses der Produktion und Umwandlung von Gerüchten. Von "le public" zu sprechen heißt, die Beteiligung der entsprechenden Subjekte auf eine Tätigkeit des bloßen Zuschauens oder Konsumierens zu beschränken. Außerdem erscheint der Begriff "public" als Gegensatz zu "privé" unangebracht, weil das Gerücht sowohl die privaten als auch die öffentlichen Räume durchzieht. Gerüchte unterscheiden sich von Klatsch dadurch, daß sie die Grenzen gesellschaftlicher Gruppen überschreiten und sich nicht nur um Angelegenheiten dritter Personen drehen. Es gibt Gerüchte unterschiedlicher Verbreitung, solche, deren Umlauf sich auf einen bestimmten kulturellen Zusammenhang beschränkt, und solche, die verschiedene Kulturen und mitunter fast Kontinente durchziehen. So handelt es sich z.B. bei dem Gerücht über Marie Besnard, das Kapferer (1987: 189-193) untersuchte, um ein kollektives Gerücht, das besagt, eine Frau in einem kleinen französischen Dorf, nämlich Marie Besnard, habe ihren Ehemann vergiftet. Die unterstellten Beweggründe fiir die Vergiftung waren vielfaltig, änderten sich in Abhängigkeit von den unterschiedlichen, einbezogenen Gruppen, verdichteten sich jedoch in der Glaubwürdigkeit der Erzählung über die Vergiftung. Auch wenn nicht alle die Normen aller Gruppen teilten, genügte in diesem Zusammenhang eine teilweise Übereinstimmung der Diskurse und Normen, damit sich das Gerücht herausbilden und weiter verbreiten konnte. Das Zusammenströmen oder die Konvergenz vielfältiger Kräfte in einem bestimmten Punkt sind es, die ein kollektives Phänomen kennzeichnen, möge dieser Punkt in einer Aussage oder in einer Handlung oder aber in beidem zugleich bestehen. In diesem Fall war es beides. Es fand ein Prozeß der kollektiven Produktion der Schuldhaftigkeit Marie Besnards statt als ein Vorgang der Verdichtung vieler Stimmen und Auslegungen zu einer übereinstimmenden Aussage, die Marie Besnard für fünf Jahre ins Gefängnis brachte, ehe sie dann als unschuldig entlassen wurde. Solche Aussagen sind von vergänglicher Natur. Manche sind von zerbrechlicherer und flüchtigerer Art als andere, aber auch sie verschwinden nicht. Sie hinterlassen Spuren, die im Zustand schlummernder Mythen verbleiben, in Erwartung einer günstigen Gelegenheit, die es ihnen ermöglicht, wieder aufzuwachen. Ein von Morin (1956) untersuchtes bekanntes Gerücht besagt, daß in Orléans in bestimmten Geschäften für Damenbekleidung, die Juden gehörten, Mädchenhandel betrieben wurde. Von diesem Gerücht war zuvor bereits die

französische

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Stadt Rouen erfaßt worden. Morin bezeichnet dies als ein kollektives Phänomen. Er erörtert die Beteiligung der gesellschaftlichen Gruppen in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Rasse, Beruf oder Tätigkeit sowie religiösen oder politischen Neigungen. Einige Gruppen förderten das Gerücht, andere nicht. Die Gruppen, die es förderten, gingen zwar von recht unterschiedlichen Versionen aus, stimmten jedoch bei gewissen Diskursen überein, die dem Gerücht Glaubwürdigkeit verschafften. Auch in den Gruppen, die das Gerücht nicht förderten, gab es recht unterschiedliche Versionen gegen das Gerücht, aber auch übereinstimmende diskursive Punkte, die dem Gerücht Glaubwürdigkeit versagten. Morin läßt durchblicken, daß diejenigen, die das Gerücht für glaubwürdig hielten, wie auch diejenigen, für die dies nicht zutraf, bestimmte Diskurse und Normen teilten, die fast alle Gruppen durchzogen, etwa den Gedanken an eine Verschwörung in der Stadt, die Meinung, daß die Presse nicht die Wahrheit berichte, oder daß es unlauteren Wettbewerb zwischen den Händlern gegeben habe. Ein oft untersuchtes Gerücht, das sich über Europa, Nordamerika und Lateinamerika ausbreitete, ist der Fall des Anhalter spielenden Phantoms. Es bildeten sich verschiedene Versionen heraus. Die Untersuchungen über das Gerücht von dem Phantom blieben bisher allerdings weitgehend auf die psychologische Ebene beschränkt und versuchten, universelle psychische Strukturen zu entdecken oder ein kollektives, universelles Unbewußtes. Durch Brunvand (1981, 1984, 1986) und Campion-Vincent/Renard (1992) wurde es zwar als kulturelles und transkulturelles Phänomen betrachtet, die Punkte kultureller Konvergenz und Divergenz der verschiedenen Versionen wurden aber nicht analysiert. Das Gerücht über die Schlümpfe, das hier untersucht wird, erfaßte fast alle kulturellen Kontexte und Regionen Mexikos. Gemäß der hier zugrundeliegenden Konzeption stellt ein Gerücht ein kollektives Phänomen dar, das Gruppengrenzen überschreitet und mitunter auch transkulturell wird. Je nach Inhalt und Verbreitungswegen ist eine Gerüchteversion das Produkt entweder einer genau abgegrenzten Gruppe oder aber einer vergänglichen Gruppierung. Wird der Komplex von Situationen und Austauschprozessen, die ein Gerücht entstehen lassen, in Betracht gezogen, läßt sich nicht behaupten, daß die bei seiner Erarbeitung und immer wieder erfolgenden Ausarbeitung mitwirkenden Subjekte eine homogene Gruppe von Stimmen darstellen, obgleich sie auch keine amorphe Masse isolierter Individuen bilden. Dröge (1970) und Shibutani (1966) stimmen in dieser Hinsicht überein. Werden Gerüchte eher nach soziologischen Gesichtspunkten untersucht, um die kollektive Materialität oder Vokalität von Gerüchten zu erörtern, so läßt sich zeigen, daß das Gerücht eine vielfältige, vorübergehende vokale Aktion einschließt, bei der die Subjekte in Gegenwart anderer eine Erzählung aufbauen, wobei durch das Zusammenwirken von eigener Stimme und Körperzeichen mit

Kapitel 2

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denjenigen anderer bestimmte gesellschaftliche Grenzen überschritten werden können, oder auch nicht. All dies verwandelt nicht nur den Inhalt der Erzählung, sondern auch die Art und Weise des Sagens durch unterschiedliche Tonfärbungen, Tonumfang und besondere Betonungen. Bei einer makrokollektiven Betrachtung des Phänomens des Gerüchts, in der die vielfältigen Komplexe kommunikativer Ereignisse untersucht werden, trifft man auf die anonyme Dimension des Gerüchts. Die kollektive und anonyme Dimension sind miteinander verknüpft. Ein Subjekt ist an der Entstehung eines Gerüchts beteiligt und geht in der Anonymität unter, in dem Gewirr von Stimmen und Gebärden, das Gruppen überschreitet, in dem Gemurmel des "man sagt".

2.6

Die anonyme Dimension von Gerüchten: zwischen dem "man sagt" und "ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen"

Aus makrokollektiver Sicht sind Gerüchte anonym und haben keinen Verfasser. Wenn ein Gerücht überhaupt einen Ursprung hat und z.B. das Produkt einer manipulierenden Absicht ist, so ist nicht dies, sondern die Dynamik der Veränderung für das Gerücht konstituierend, die bei weiterer Verbreitung erzeugt wird. Es ist eine namenlose Stimme, und kein Beglaubigungsschreiben identifiziert es. So gesehen hat es kein Zentrum oder ist polyzentrisch. Das "man sagt", das dem Gerücht Rückendeckung verschafft, verweist auf ein Gemurmel, das von vielen Personen erzeugt wurde, ohne daß eine bestimmte hierbei herausragt. In diesem Gemurmel tauchen die mehr oder weniger bekannten Stimmen der Angehörigen und Freunde unter, ebenso wie die mehr oder weniger unbekannten Stimmen der Leute, die man etwa in einem Tagungszentrum trifft, in einem Durchgangsort für Reisende, in einem Geschäft, in einer Kirche, auf einem Markt, in einem Regierungsbüro oder in einem Park. Auch die Quellen der kollektiven Information gehen unter, die auf eine mehr oder weniger ungenaue Art angeführt werden, wie etwa "es erschien in der Zeitung" oder "in den Tagesnachrichten wurde berichtet", also ohne Datum und Uhrzeit. Das "man sagt" des Gerüchts wäre in diesem Fall ein Gemurmel, in dem der Sprechende sich wie in einem Meer verliert, dessen Wellen gebildet werden durch Worte, Stimmen, Ohren und Münder Tausender von Personen, die zu unterschiedlichen Zeiten eine mehr oder weniger ähnliche Erzählung wiedergeben. Aus der Mikrosicht, die die unterschiedlichen Sprechereignisse berücksichtigt, kann aber festgestellt werden, daß es für das Gerücht unterschiedlich bedeutsame, eindeutig identifizierbare Persönlichkeiten geben kann, ihm Unterstützung und Glaubwürdigkeit verschaffen in den verschiedenen Kontexten, in denen es umläuft. So gesehen kann der Ursprung des Gerüchts einem bestimmten Rund-

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funk- oder Fernsehsprecher, einem Journalisten oder Politiker zugeschrieben werden, obgleich dies nicht völlig sicher sein mag. Das Vorhandensein oder Fehlen dieses Hilfsmittels der Suche nach einer legitimierenden Autorität bezüglich Herkunft und Täterschaft wie auch die unterschiedliche Verwendung von Informationsquellen kennzeichnet die unterschiedlichen kulturellen Zusammenhänge, in denen das sich verwandelnde Gerücht umläuft. Die an der Gerüchteproduktion Beteiligten erwähnen daher mitunter genaue Daten und Orte, die - ihnen zufolge - ihrer Erzählung größere Glaubwürdigkeit verschaffen sollen. Im Gegensatz hierzu kann beim Übergang zur Makrosicht die Frage danach gestellt werden, was das "man" und das "sagt" bei dem Ausdruck "man sagt" bedeuten. Auf welches Subjekt und welche Zeit wird dabei Bezug genommen? So betrachtet handelt das "man sagt" zugleich von allem und keinem. Obgleich es ein "ich" gibt, das es äußert, und ein "du", das zuhört, so verweist der Ausdruck doch auf ein vorgestelltes Kollektiv, eine denkbare, gesellschaftliche Gesamtheit, eine unbegrenzte und heterogene Gemeinschaft sprechender Subjekte. Das "man sagt" meint alle, aber zugleich auch niemanden, denn es läßt die Möglichkeit des Verschwindens offen, ebenso wie die Option, keine Verantwortung im Hinblick auf das Gesagte zu übernehmen. Das "man sagt" erlaubt auch das Verstecken hinter einer Masse von Sprechenden, ohne daß bekannt wäre, wer genau was und warum sagt, falls etwa gerade dies wichtig werden könnte. "Man sagt" bezieht sich auf die Gegenwart, auf die aktuelle Zeit, in der der Sprechende dabei ist, zu sprechen. Es ruft weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft hervor, sondern eben bloß einfach die Zeit, in der gesprochen wird. Stillschweigend wird auf ein "man hört" angespielt, auf Münder und Ohren in Verbindung miteinander, obwohl eigentlich bei dem Ausdruck "man sagt" gerade ein kollektiver, sprechender Mund hervorgehoben wird. Nun gibt es auch noch andere Ausdrücke - wie "man sagte" - die gleichfalls zur Einleitung von mündlichen Erzählungen wie Gerüchten dienen können und besondere Nuancen einführen. Das "man sagt" hebt in Präsens und Singular die unpersönliche, anonyme Stimme hervor, von der der Sprechende seine Stimme umhüllt sieht. Das "die Leute sagen" betont die Vielzahl der Stimmen, in die der Sprechende die seinige einfugt. Der Ausdruck "man sagte" verweist auf eine vergangene Erzählung, die man sich im Moment des Erzählens und der Umsetzung vergegenwärtigt. Bei anderen Gelegenheiten wird - des Kontrastes halber - die Glaubwürdigkeit durch den entgegengesetzten Mechanismus vermittelt: "Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen", wenngleich das Erzählte völlig erfunden sein mag. Das

Kapitel 2

67

sprechende Subjekt stellt sich in ein imaginäres Zentrum und/oder an die Quelle der Information. Es verweist auf ein individuelles Gedächtnis. Die Ausdrücke "man sagt" bzw. "man sagte" spielen auf eine unpersönliche, anonyme kollektive Stimme an, die den Diskurs des sprechenden Subjekts durchdringt. Sie beziehen sich alle auf dieses kollektive Gedächtnis, das sich in einem ständigen Prozeß der Umwandlung befindet und bloß die Vergangenheit kennt, die gegebenenfalls vergegenwärtigt werden kann. Der mythischen Vorstellung eines unberührten Gedächtnisses der Völker, des kollektiven mündlichen Gedächtnisses, läßt sich die Auffassung von Duvignaud (1977) gegenüberstellen, nämlich die Vorstellung eines fragmentarischen kollektiven Gedächtnisses voller Brüche und "Löcher", das es erlaubt, nicht nur an die Erinnerung zu denken, sondern auch an das Vergessen, und sowohl die Dauerhaftigkeit als auch den Wandel einbezieht. Das kollektive Gedächtnis befindet sich wie im Schlummerzustand. Es besitzt niemals dieselbe Identität, schon deswegen, weil die es bildenden Elemente untertauchen und wiederauftauchen können, wie es der jeweilige historische Zusammenhang und die jeweiligen Gegebenheiten erfordern. Gerade jene bestimmen die Elemente der Vergangenheit, die wieder in die Gegenwart eintauchen können, und diejenigen, die als scheinbar nicht vorhanden verbleiben, gleichwohl in der Schwebe verharren, um bei anderer Gelegenheit wieder hervorgerufen werden zu können.

Kapitel 3

3

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DIE MÜNDLICHE DIMENSION IN DEN HEUTIGEN GESELLSCHAFTEN LATEINAMERIKAS: STIMME, SCHRIFT UND BILD IN WECHSELWIRKUNG

Im vorherigen Kapitel wurde die materielle Dimension des Gerüchts aufgezeigt. Im Anschluß daran wird hier darauf eingegangen, wie sich die Mündlichkeit der heutigen Gesellschaften - vor allem in Lateinamerika - verändert hat durch die Einfuhrung der Schrift und der Kommunikationstechnologien (Radio, Kino, Fernsehen und Video). Eine kurze Abhandlung der Beziehung zwischen Stimme und Schrift, zwischen der mündlichen und der schriftlichen Kommunikation, wird anschließend die Untersuchung der Beziehungen mit der audiovisuellen Kommunikation ermöglichen.

3.1

Stimme und Schrift

Stimme und Schriftzeichen stehen seit langem nebeneinander. Ong (1982) und Zumthor (1987) beschreiben neben anderen Autoren die langsame Aufnahme der Schrift und das Herausbilden einer Mentalität der Schriftlichkeit: die Ausübung der Handschriftkunst, die Kanzlei der Schreiber, die begrenzte Gruppe der Schreib- und Lesekundigen aus Teilen der Geistlichkeit und des Adels. Während dieses Zeitraums setzte sich Lesen und Schreiben durch, indem der Text laut vorgelesen wurde, indem man "die Worte kaute" (Zumthor, 1987). Gemäß Zumthor bewegte sich die Gesellschaft von einer primären Mündlichkeit ohne Schriftkenntnis zu einer gemischten Mündlichkeit hin mit einer nur äußerlichen Schriftlichkeit. Durch den Einbruch der Drucktechnik, der langsamen Einfuhrung des Buches und der Produktion und Ausbreitung des Gedruckten veränderte sich die Mündlichkeit jedoch von Grund auf. In dieser Phase, von Zumthor als "sekundäre Mündlichkeit" bezeichnet, bildet sich die Mündlichkeit "à partir de l'écriture au sein d'un milieu où celle-ci tend à exténuer les valeurs de la voix dans l'usage et dans l'imaginaire" (Zumthor, 1987: 19). Seitdem bremst die Gegenwart des Buches "le mouvement dramatique" (Zumthor, 1987: 20) der Sprache. Erst im Laufe der Industrialisierung und wachsenden Urbanisierung hat sich die Schriftlichkeit zum notwendigen Wissensbestandteil des Alltagslebens fast aller Gruppen der Industriegesellschaften entwickelt. In diesem Zusammenhang ist interessant, das Paradigma Mündlichkeit/Schriftlichkeit wieder aufzugreifen, das in den 80er Jahren die Grundlage zahlreicher Studien bildete, die die Auswirkung der Schrift untersuchten, vor allem der alphabetischen, und zwar nicht nur in westlichen Gesellschaften. In diesen Studien

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70

treten bestimmte Merkmale der Schrift hervor: ihre Dauerhaftigkeit, Reproduzierbarkeit und Übertragbarkeit. Die schriftlichen Zeichen können sich auf dauerhafte und unveränderliche Weise über Zeit und Raum hinweg bewegen. Das besagte Paradigma baut einen scharfen Gegensatz auf zwischen den Techniken oder der Dynamik mündlicher und schriftlicher Kommunikation. Die Techniken der schriftlichen Kommunikation führen demnach zu Veränderungen in den Denkweisen und Gesellschaftsstrukturen (Goody und Watt, 1968). Zugleich verursachen diese Schrifttechniken auch Bewußtseinsveränderungen, verstärktes kritisches Nachdenken und eine ausgeprägtere Introspektion in den entsprechenden Gesellschaften (Ong, 1982).

Human beings in primary oral cultures, those untouched by writing in any form, learn a great deal and possess and practice great wisdom, but they do not 'study'(Ong,

1982: 9).

Obschon diese Autoren, zusammen mit McLuhan (1964, 1967), das Nachdenken und die Diskussion über die Kommunikationstechnologien, insbesondere aber ihre Materialität, gefordert haben, kennzeichnet sie doch eine deterministische und reduktionistische Konzeption. Die Kommunikationstechnologien - vor allem die Schrift - werden als hinreichende Bedingung betrachtet für die Bestimmung oder Verursachung einer objektiven, eindeutig erkennbaren Geschichte, der Entstehung von Imperien und Bürokratien (Innis, 1964: 10), des Prozesses verstärkter wirtschaftlicher Entwicklung sowie der Industrialisierung und Demokratisierung (UNESCO, 1970). Abweichend von dieser deterministischen und ahistorischen Auffassung erscheint es notwendig, die unterschiedlichen Kommunikationstechnologien, und hierunter auch die Schrift, als ein von vielen Bestimmungsfaktoren zu betrachten, die einen bestimmten Typ wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung ermöglichen; aber immer müssen die konkreten sozio-ökonomischen und politischen Kontexte, in denen sie auftreten, berücksichtigt werden. Daher ist nicht das Auffinden allgemeiner Gesetze des Wirkens der Kommunikationstechnologien bedeutsam, sondern ihr konkreter Gebrauch oder ihre spezifischen Aneignungen. Finnegans (1988) Kritik der deterministischen Konzeption der Kommunikationstechnologien und des Paradigmas der Mündlichkeit/Schriftlichkeit führt zu interessanten Alternativen. Sie hebt die Bedeutung der Verschiebung des Diskussionszentrums hervor: von den allgemeinen Auswirkungen der Medien in westlichen Gesellschaften weg und hin zu ihren konkreten Aneignungen in unterschiedlichen Gesellschaften und historischen Kontexten.

The technological determinism model is in any case often a misleading guide in the study of orality and literacy because of its focus on the medium. This focus draws attention away from the way people in practice use technologies, make choices and select from (or ignore or even oppose) what is available to

Kapitel 3

71

them... It is within the context of actual use that the study of the different technologies of communication becomes most interesting (Finnegan, 1988: 160 f). Die Verfasserin untersucht die vielfältigen Anwendungen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die nicht selten in unterschiedlichen historischen Kontexten auch verschiedene soziale Folgen haben (Finnegan, 1988). Recht anschaulich ist in dieser Hinsicht ein Vergleich zwischen der Art und Weise der Einbeziehung der Schriftkultur in europäischen Gesellschaften mit derjenigen in sogenannten Entwicklungsländern.

3.2

Die ungleichförmigen Auswirkungen der Schriftlichkeit in Lateinamerika

In den europäischen Gesellschaften konnte die Schriftlichkeit alle gesellschaftlichen Schichten entscheidend durchdringen. In den Gesellschaften Lateinamerikas dagegen war ihre Auswirkung sehr ungleichförmig. Hier wird lediglich mangels genauerer Analysen ein allgemeiner Überblick über Schriftlichkeit und Analphabetismus in Lateinamerika anhand von Länderdaten angeboten. Diese Statistiken gewähren natürlich keinen Einblick in die unterschiedlichen Praktiken des Schreibens und Lesens der verschiedenen sozialen Kontexte innerhalb der nationalen Gesellschaften Lateinamerikas. Mit Hilfe breit angelegter Alphabetisierungskampagnen konnte in den letzten Jahrzehnten in den meisten Ländern Lateinamerikas ein gewisser Analphabetismus überwunden werden. Dies gelang auch aufgrund der wachsenden Notwendigkeit der Bevölkerung, in Gesellschaften mit einem hohen Grad an Verstädterung lesen und schreiben zu können. Der Anteil der Analphabeten an der Bevölkerung sank in Brasilien zwischen 1970 und 1990 von 33 % auf 19 %' und in Peru von 27,5 % auf 15 %.2 In Kolumbien betrug im Jahre 1973 die Analphabetenquote 19% und im Jahre 1990

2

Statistisches Bundesamt (1994), Länderbericht Brasilien 1994, Metzler-Poeschel, Stuttgart. Statistisches Bundesamt (1990), Länderbericht Peru 1990, Metzler-Poeschel, Stuttgart.

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nur 13 %. 3 In Mexiko war die Entwicklung ähnlich. Die Analphabetenquote sank von 24 % (1970) auf 17 % (1980) und 12 % (1990). 4 Tabelle 1: Analphabetenquoten Land Guatemala El Salvador Honduras Bolivien USA Brasilien Peru Ecuador Kolumbien Mexiko Nicaragua Panama Venezuela Paraguay Chile Costa Rica Kuba Argentinien Uruguay Kanada

in Lateinamerika, USA und Kanada

(1990)

Analphabetenquoten* 45 27 27 22 22(1992) 19 15 14 13 12 12(1986) 12 12 10 7 7 6 5 4 3(1986)

* Analphabeten in % der Bevölkerung über 14 Jahren. Quelle: Statistisches Bundesamt (1993), Länderbericht NAFTAStaaten 1993, Metzler-Poeschel, Stuttgart, 15 f.

Vergleicht man anhand von Tabelle 1 die Analphabetenquoten lateinamerikanischer Länder von 1990 mit denen der USA und Kanadas, so wird deutlich, daß die Kenntnis des Lesens und Schreibens auf dem amerikanischen Kontinent sehr unterschiedlich ist. Die anhand der Daten der Tabelle 1 erstellte Abbildung 1 zeigt, daß man im Hinblick auf den Analphabetismus drei Ländergruppen unterscheiden kann. Die niedrigsten Analphabetenquoten - weniger als 10 % der Bevölkerung - weisen

3

4

Statistisches Bundesamt (1993), Länderbericht Kolumbien 1993, Metzler-Poeschel, Stuttgart. INEGI, Censo General de Población y Vivienda de 1970, Censo General de Población y Vivienda de 1980 und Censo General de Población y Vivienda de 1990, Instituto Nacional de Estadística, Geografia e Informática, Mexiko.

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Kapitel 3

Kanada, Uruguay, Argentinien, Kuba, Costa Rica und Chile auf. Ein mittlerer Analphabetismus - 10 % bis 22 % der Bevölkerung - ist in Paraguay, Venezuela, Panama, Nicaragua, Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Peru, Brasilien, den USA und Bolivien zu verzeichnen. Die höchsten Analphabetenquoten finden sich in Honduras, El Salvador und Guatemala. In den USA stieg der Analphabetismus von 13 % der Bevölkerung im Jahr 1980 auf 22 % im Jahr 19925 als Folge wachsender Armut in bestimmten sozialen Schichten und der veränderten Struktur der Einwanderer in den letzten Jahrzehnten. 50 45 40 35 30 25 20

15

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Abbildung 1: Analphabetenquoten

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in Lateinamerika,

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USA und Kanada

(1990)

Diese statistischen Daten können natürlich nicht die spezielle Rolle verdeutlichen, die der Schrift für Alphabetisierte und Nicht-Alphabetisierte in besonderen Kontexten zukommt. Einige Alphabetisierte besitzen einen fiinktionalen Analphabetismus. Sie lernen lesen und schreiben, üben diese Fähigkeiten aber nicht aus und vergessen sie. Auch hat sich die Situation der Indigenen Lateinamerikas geändert. Völlig schriftlose Gemeinschaften haben aufgehört zu bestehen (Munzel in: Miinzel/Scharlau, 1986: 161). Die Analphabeten in Lateinamerika lesen und schreiben zwar nicht, sie besitzen aber einen größeren oder geringeren Kontakt mit Institutionen, die durch die Schrift geprägt sind. So gibt es etwa Analphabeten, die nur mündlich kommunizieren, weil sie die einmal gelernte Schrift im Alltag nicht brauchen und deshalb vergessen haben. Andere Analphabeten sind der Schrift zwar nicht mächtig, nehmen aber den von Schriftkenntnis geprägten Stil der Alphabeten in ihre Sprache mit hinein. Noch andere Analphabeten sind in einer jahrhundertealten Tradition der Mündlichkeit zuhause und lassen sich kaum von der Schriftlichkeit be5

Statistisches Bundesamt (1993), Länderbericht schel, Stuttgart.

NAFTA-Staaten

1993, Metzler-Poe-

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Margarita Zires einflussen. Bei wieder anderen hat sich der alten Mündlichkeit eine neue, mediatisierte Mündlichkeit überlagert. Das Medium, das ihre Ausdruckweise prägt, ist nicht die Schrift, sondern der Rundfunk und das Fernsehen. All diese verschiedenen Arten von Mündlichkeit werden aus der Logik alphabetischer Literalität als ein einziges kulturelles Defizit erfaßt. Den Blick für die verschiedenen Formen der Mündlichkeit hat die praktisch-politisch begründete Vormacht der Alphabetisierungsidee teilweise verstellt. Stattdessen hat sie zahllose Statistiken hervorgebracht, die dokumentieren, wie viele Analphabeten es in diesem oder in jenem Land noch gibt, oder wie viele zur Schrift bekehrt wurden (Scharlau/Münzel, 1986: 8 f).

Es gibt recht unterschiedliche Ordnungen der Schriftlichkeit. Sie enthalten sowohl besondere Normen des Lesens und Schreibens als auch spezifische Regelungen der Wechselbeziehung zwischen Lesen und Schreiben. In Mexiko, dem Land, in dem die empirischen Untersuchungen dieser Arbeit durchgeführt wurden, läßt sich grob gesprochen feststellen, daß in gewissen gesellschaftlichen Gruppen nicht nur das Lesen begünstigt, sondern auch das Schreiben eigener Texte in den Schulen gefordert wird. In anderen gesellschaftlichen Gruppen stellt das Lesen und Schreiben bereits einen großen Erfolg dar, der erlaubt, kleinere Geschäfte richtig vorzunehmen. Ethnographische Untersuchungen über die Kommunikation wie etwa diejenigen von Heath (1982) können zu einem besseren Verständnis der vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen Schrift- und Oralkulturen in Lateinamerika beitragen. Diese Studien zeigen in einigen Gemeinschaften des Südostens der USA unterschiedliche Ordnungen der Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf sowie verschiedene Beziehungen zwischen denselben. Dies erfolgt mit Hilfe umfangreicher Analysen der Rituale, Praktiken, "Akte des Sprechens" und schriftlichen "Ereignisse", die mit den Sozialisationsnormen der mündlichen und schriftlichen Sprache verbunden sind. Diese Sozialisationsnormen regeln die unterschiedlichen mündlichen Kulturen und die unterschiedlichen Ordnungen des Lesens und Schreibens. In Lateinamerika erhielt - anders als in Europa - die Mehrheit der Bevölkerung eher und leichter Zugang zu den neuen Kommunikationstechnologien (Radio, Kino, Femsehen) und zu den damit verbundenen vielfältigen audiovisuellen Diskursen als zur Schule und zur Buchkultur. Es erscheint somit fragwürdig, von mündlicher und schriftlicher Kultur im Singular zu sprechen. Durch die Rede von mündlichen und schriftlichen Kulturen im Plural soll ausgedrückt werden, daß die ontologischen und ahistorischen Auffassungen über die Mündlichkeit fraglich sind, besonders wenn sie unzulässige Generalisierungen über Kulturen zum Gegenstand haben.

Kapitel 3

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Wenn man wie Calvet (1984) und andere Autoren versucht, eine Kultur oder gar eine Gesellschaft mit ihren Gebräuchen der Bewahrung und Überlieferung von Traditionen von nur einem einzigen, wenn auch wichtigen Faktor her zu definieren, nämlich dem Grad der Schriftlichkeit, dann entsagt man den Möglichkeiten, die Kulturen und folglich auch die mündliche Dimension der kulturellen Prozesse zu verstehen. Der undifferenzierte Gebrauch von Konzepten wie "mündliche Gesellschaft", "Schriftgesellschaft", "mündliche Kultur" und "Schriftkultur" verhindert das Erkennen der verschiedenen Formen der mündlichen Interaktionen sowie der besonderen Formen der mündlichen, schriftlichen und audiovisuellen Produktion und Übermittlung von Wissen in einem gegebenen historischen Zusammenhang. Wie Zumthor (1983) zu Recht herausstreicht, gibt es keine Mündlichkeit an sich, wohl aber eine Vielfalt von Strukturen, durch die sie sich darstellt, wobei letztere gleichzeitig aufeinander einwirken. Jede von ihnen besitzt ihre eigene Ordnung und hat ein ganz bestimmtes Entwicklungsniveau in Bezug auf die anderen. Perspektiven, die einen scharfen Gegensatz zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit unterstellen, verhindern die Betrachtung der Wechselbeziehungen zwischen Schrift und Stimme generell, zwischen den schriftlichen und den mündlichen Formen, sowie zwischen audiovisuellen Formen und solchen der Videokultur. Die audiovisuellen Technologien haben nicht bewirkt, daß die mündliche Kommunikation verschwindet, wie das Vordringen der Schrift in das mittelalterliche Leben es nicht vermochte, die mündliche Kommunikation untergehen zu lassen. La fixation, par et dans l'écriture, d'une tradition qui fut orale ne met pas nécessairement fin à celle-ci, ni ne la marginalise à coup sûr. Une symbiose peut s'instaurer, au moins une certaine harmonie: l'oral s'écrit, l'écrit se veut une image de l'oral [...] Inversement, le fait qu'une tradition écrite passe au registre oral n'entraîne pas davantage son abaissement ni sa stérilisation (Zumthor, 1987: 172). Es erscheint auch nicht angebracht, die verschiedenen Arten von Mündlichkeit in Rangfolgen wie primär, sekundär usw. einzuteilen, wie dies Ong (1982), Zumthor (1983) und andere tun. Es könnte der Eindruck entstehen, daß man es mit einer vorgegebenen Abfolge in der kulturellen Entwicklung einer Gesellschaft zu tun hat.

3.3

Der Einbruch der audiovisuellen Kultur

Das Radio verbreitete sich seit den 20er Jahren in den Industriegesellschaften, später auch in den weniger entwickelten Gesellschaften. Die Anwesenheit eines Kastens mit Tönen, Stimmen, Lärm und Musik zu Hause wurde schließlich üb-

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lieh. Die vielfältigen Veränderungen der mündlichen Interaktionen und der Rituale des alltäglichen Lebens, die dies mit sich brachte, wie auch die Auswirkungen auf die öffentliche Meinung sind von den Kommunikationsforschem - wenn auch nicht ausfuhrlich - dargelegt worden. Eine neue Ordnung der Narrativität und der Sonorität entstand. Stimmen wurden nun mit den mehr oder weniger anonymen Stimmen der Ansager oder Sänger verbunden, mit einer Stimme ohne physische Anwesenheit, die im Radio, vom Tonbandgerät, auf Platten gehört wird, eine mit einem vorgestellten Körper verknüpfte Stimme als imaginäres Produkt eines Hörers. Esa voz sin cuerpo hace posible que en sus figuraciones se dibujen rastros, residuos, indices de los objetos privilegiados del deseo de quienes escuchan (Mier, 1987: 111). Auf die Radioindustrie folgten Foto- und Filmindustrie. Aufgrund der Fotografie kam es, zunächst in den westlichen Gesellschaften, zu einer Vermehrung von Bildern besonderer Natur, die bislang nicht zum Stillstand gekommen ist. Das Bild ermöglicht die Anwesenheit abwesender Personen, Tiere und Dinge, wobei bedeutende Änderungen der Wahrnehmung hervorgerufen werden. Die Fähigkeit, ein fotografiertes Objekt als Abbild (Anwesenheit einer Abwesenheit) eines bestimmten Objektes wahrnehmen zu können, impliziert das Vertrautmachen mit einem Komplex kultureller Codes und Normen sowie die Gewöhnung hieran, was nur selten erkannt wird. Ein recht anschauliches Beispiel ist das Erlebnis des britischen Anthropologen Barley bei seinem Studium der Dowayos in Kamerun. Die Alten konnten bestimmte Postkarten mit Löwen und Leoparden, die er ihnen zeigte, nicht erkennen. Sie sagten etwa: "Ich kenne diesen Mann nicht". Dagegen erkannten die Kinder das Abbild. Wir im Westen vergessen gern, daß man auch die Kunst, auf Fotos etwas wahrzunehmen, lernen muß. Wir sind von Geburt an mit Fotos konfrontiert, und da ist es für uns kein Problem, Gesichter und Gegenstände zu identifizieren, mögen diese auch aus den verschiedensten Blickwinkeln, in wechselndem Licht oder gar mit verzerrenden Objektiven aufgenommen sein. Die Dowayos haben keine solche Tradition in der Ausbildung des Gesichtssinns; ihre bildende Kunst ist auf bänderförmig angeordnete geometrische Muster beschränkt. Heutzutage lernen die jungen Dowayos natürlich Bilder durch die Schulbücher und durch Personalausweise kennen; nach dem Gesetz müssen alle Dowayos einen Ausweis mit Lichtbild haben. Wie sie dazu gekommen waren, blieb mir immer ein Rätsel, da viele Ausweisbesitzer nie in der Stadt gewesen waren und es in Poli keinen Fotografen gibt. Schaut man sich die Ausweise näher an, dann zeigt sich, daß häufig das Foto ein und desselben Dowayos von vielen verschiedenen Leuten benutzt wird. Vermutlich haben

Kapitel 3 die Behörden so ziemlich die gleichen Schwierigkeiten, jemanden Foto zu identifizieren, wie die Dowayos selbst (Barley, 1983: 125 f).

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Zu den fotografierten Bildern kamen Bilder in Bewegung hinzu, also die Darstellung der Wirklichkeit, des Lebens, in immer vielfältigeren und weiter spezialisierten Genres. Anfangs waren sie tonlos. Später entstanden Bilder, die von Stimmen abwesender Körper und einer abwesenden physischen Wirklichkeit in Bewegung begleitet wurden. Dabei wurde eine Vergangenheit im Augenblick ihrer akustischen und visuellen Erfassung als Gegenwart erlebt. Die Ausdehnung der Industrie dieser Bilder führte in diesem Jahrhundert zu weiteren Änderungen der Ordnung der Diskursivität und der Erzählbarkeit: der Visibilität und anschließend der Audibilität. Es gibt viele Berichte über die Reaktionen des Unverständnisses der kinematografischen Codes durch die ersten Zuschauer in den Anfangen des Kinos in Europa und nicht-westlichen Ländern, vor allem bei Anwendung von schnellen Aufnahmen und Nahaufnahmen (Morin, 1956: 199). Hier sei nur das vielzitierte Beispiel von Bela Baläsz von der Feldarbeiterin einer sibirischen Kolchose erwähnt. Nach ihrem ersten Film rief sie aus: "Wie furchtbar! Menschen ohne Beine, Köpfe ohne Körper" (Baläzs nach Morin, 1956: 199). Hat die kinematografische Erzählordnung eine neue Art des mündlichen und schriftlichen Erzählens in den Gesellschaften, die sie durchdringt, eingeführt? Als unvollständige Antwort auf diese Frage sei darauf hingewiesen, daß sich die Ordnung der Novellistik im Wandel befindet, seitdem die kinematografische Erzählweise eine gewisse allgemeine und entwickelte Sprache mit besonderen Regeln für die einzelnen Genres besitzt (Dardis, 1980). Der neuere Inhalt des Erzählten und die Art und Weise des Erzählens wird beim literarischen Roman von einer anderen visuellen Ordnung der Diskursivität durchtränkt. Es handelt sich dabei um andere Erzählrhythmen, andere Arten und Weisen der Beschreibung, die typisch sind für kinematografische Fiktion oder Dokumentation (u.a. Aufnahmen, Schnitte, Kamerabewegungen innerhalb der Aufnahmen, Montagen mit ihren besonderen Verknüpfungstechniken, spezifische Behandlung von Zeit und Raum). Nur über diese Einsicht ergibt sich ein Zugang zu den Arten des literarischen Erzählens von William Faulkner (der als Drehbuchautor für Hollywood arbeitete), Dashiel Hammett (Bearbeiter vieler literarischer Werke für den Film), Alain Robbe-Grillet (Schriftsteller, Filmregisseur und Drehbuchautor von Alain Resnais) und Marguerite Duras (Schriftstellerin, Filmregisseurin).

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Viele neue nordamerikanische Schriftsteller schreiben Romane, die dafür konzipiert sind, gleichzeitig gelesen und verfilmt zu werden; die Logik des Drehbuchs ist bereits ihr strukturierendes Element. Auch in Lateinamerika, wenn auch vielleicht weniger offenkundig, zeigte sich diese Allianz zwischen der Literatur und der Logik der filmischen Erzählung, die sich mehr auf die Verbindung und Zusammensetzung von Bildern stützt als auf die Entwicklung einer auf dem Wort beruhenden Phantasie. Filmemacher und Schriftsteller in Lateinamerika arbeiten sich gegenseitig zu. Bedeutende Schriftsteller wie Juan Rulfo, José Revueltas, José Emilio Pacheco, Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Vicente Leñero und andere haben Drehbücher für Filme erstellt. Ein Großteil der künstlerisch bedeutenden lateinamerikanischen Filmproduktion ist als eine Verfilmung ihrer Romane und Erzählungen entstanden. Bedeutende zeitgenössische Erzählungen von Autoren wie José Emilio Pacheco, Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, José Revueltas, Juan Rulfo, Jorge Ibargüengoitia, Rosario Castellanos und Vicente Leñero waren die Grundlage filmischer Schöpfungen. Das gleiche gilt für Romane und Erzählungen anderer Lateinamerikaner wie José Donoso, Edmundo Desnoes, Mario Vargas Llosa, Silvina Ocampo, Oswaldo Soriano und Jorge Amado. Die Arbeiten von nicht unbekannten Autoren der mexikanischen Literatur wie Aguilar Camin, Elena Poniatowska und Laura Esquivel wurden verfilmt. Auch der europäischen und USamerikanischen Filmproduktion dienten Werke lateinamerikanischer Autoren als Vorlage und führten, wie die Verfilmung von Romanen von Isabel Allende und Carlos Fuentes, zu erfolgreichen Produkten. Das Kino stellt aber nur den Anfang einer expandierenden audiovisuellen Industrie dar. Ab den 50er Jahren setzten grundlegende kulturelle Umwälzungen ein. Das Femsehen nahm seinen Einzug in die Haushalte. Der ständig vorhandene Kasten mit Bildern und Tönen wurde, wie zuvor das Radio, für jeden Haushalt in städtischen Gesellschaften zum unverzichtbaren Gegenstand. Jener Kasten bot anfangs dem Fernsehzuschauer nur wenige Programme mit nur wenigen Stunden Sendezeit an. Heute ist das Angebot vielfältig und deckt nunmehr 24 Stunden ab. Es ist allgegenwärtig. Die "Geschichte" dauert täglich den ganzen Tag. Der Fernsehzuschauer kann sich einschalten, wann immer es ihm beliebt. Das Radio litt zunächst unter dieser Einmischung und es wurde von der Verdrängung dieses Mediums gesprochen. Bald jedoch fand es seine besondere Rolle gegenüber dem Fernsehen, wie das Fernsehen seine Rolle fand gegenüber Radio und Film. Das Kino wird eher mit der Freizeit, das Fernsehen mehr mit dem Alltagsleben verbunden.

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Die physische Anwesenheit dieses Apparates zu Hause trägt, in jedem Heim auf unterschiedliche Weise, zur ausgeprägten Veränderung von Inhalten und Ritualen der mündlichen Interaktion bei. Es ist nicht das gleiche, ob sich in der Wohnung ein Fernsehgerät befindet oder nicht, ob es das Zentrum einer Einzimmerwohnung ist oder im Wohnzimmer einer geräumigeren Wohnung steht oder diese Geräte sich in jedem Zimmer einer Villa wiederfinden. Die Rituale des Fernsehempfangs sind unzählbar und prägen in allen Fällen - oft in sehr verschiedener Form - die übrigen Rituale des Alltags. Diese unterschiedlichen Rituale des Fernseh- und Radioempfangs verändern die mündlichen Interaktionen und ihre Normen: die Ordnung dessen, was gesprochen werden soll und kann, sowie die Art und Weise des Sprechens. Mit Radio und Fernsehen bildet sich eine neue Ordnung der Vokalität, der Audibilität und der Visibilität heraus, was auch die Ordnungen der Glaubwürdigkeit verändert. In ihrer Beschreibung des Eindringens des Fernsehens in die deutsche Gesellschaft behaupten Eisner und Müller, daß es fur die ständigen deutschen Fernsehzuschauer Teile von Wirklichkeit gibt, die nur deshalb wirklich (und wahr) sind, weil sie auf dem Bildschirm des Fernsehens erscheinen. Die wirkliche Wirklichkeit findet im Fernsehen statt (Eisner und Müller, 1988: 413). Die Verstärkung des Fernsehkonsums durch Kabel- und Satellitenfernsehen sowie durch die Kombination der Fernseh- und Videotechnik mit der Computertechnologie führt Eisner und Müller zum Gebrauch der Metapher des "angewachsenen Femsehers" im Sinne eines Apparates, der als eine Erweiterung der Haut anhaftet. Hierdurch wollen sie die eingehende Kopplung oder Interaktion zwischen dem kognitiven Apparat des Menschen und dem Fernsehen ausdrücken (Eisner und Müller, 1988: 393). McLuhans (1964) Vorstellung über die verschiedenen Kommunikationstechniken als Ausdehnungen des Körpers wird damit aufgenommen, um erneutes, vielfältiges Nachdenken anzuregen. Die Wirkungen des Fernsehens lassen sich nicht fur eine ganze Nation verallgemeinem, und dies gilt viel stärker für Länder, die wie Lateinamerika eine deutlich ausgeprägte kulturelle Heterogenität besitzen. Dennoch lassen sich gewisse allgemeine kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungstendenzen aufzeigen sowie wichtige Wandlungen von Wahrnehmung und Ordnungen der Glaubwürdigkeit in heutiger Zeit, die es verdienen, gründlicher untersucht zu werden. Baudrillard (1989) stellt den Gedanken vor, daß in heutigen Gesellschaften das Subjekt in einer "Videosphäre" lebt, durch die es nicht nur von Bildern umgeben ist, sondern auch Ausdehnungen seines Körpers erfährt, wie schon McLuhan

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behauptete. Der Körper besitzt neue Prothesen, oder besser: Das Subjekt und sein Körper haben sich in eine Ausdehnung seiner eigenen Prothesen verwandelt. Angesichts McLuhans optimistischer Sicht, der Mensch sei das Zentrum seiner Ausdehnungen, glaubt Baudrillard: Im Verhältnis zu diesen in Umlaufbahn kreisenden Satelliten ist der Mensch heute selber - samt seinem Körper, seinem Denken und seinem Lebensraum - ex-orbitant, ein Satellit geworden. Er ist nirgendwo mehr heimisch, er ist aus seinem eigenen Körper, seinen eigenen Funktionen herausgedrängt (Baudrillard, 1989: 115 f). Was bedeuten diese Prozesse für die Ordnung der Vokalität in den heutigen Gesellschaften? Obwohl es hier nicht möglich ist, dies gründlicher zu untersuchen, kann gleichwohl behauptet werden, daß die heutige Stimme eine andere ist als früher. Die heutigen Stimmen verbinden sich mit Stimmen und Bildern von Körpern, die zum Zeitpunkt des Hörens und Sehens abwesend sind, die wahrgenommen werden durch das Fernsehen, das Kino, den Monitor des Computers oder des Videogeräts. Diese Bildschirme gestalten "private" und "öffentliche" Räume, vom Schlafzimmer, Wohnzimmer, dem Restaurant, bis zum Autobus, der Bar und den Warteräumen der Büros. Der Bildschirm ist allgegenwärtig. Nichts kann mehr gedacht werden ohne diese Fernsehwelt, diese computerisierte, von Bildschirmen beherrschte Videowelt, die eine neue Zeit- und Raumlogik einführt. Virilio (1989) legt diese Wandlungen des Begriffs von Raum und Zeit dar, die dieser Prozeß der Technokommunikation einführte. Er spricht von der Ankunft des "audiovisuellen Fahrzeugs". Dies umfaßt die Gesamtheit der audiovisuellen Technologien. "Dieses letzte Fahrzeug" ersetzt die physischen Fortbewegungen und fordert die Trägheit der physischen Seßhaftigkeit am Wohnsitz. Der Fernsehplatz ersetzt den Flugplatz. Apparate, die Fortbewegungen simulieren, wie sie z.B. für Sportler gedacht sind, ersetzen reale Fortbewegungen. Ein neuer Begriff von Raum und damit verbunden von der Zeit entsteht. Die extensive, durch eine Geschichte geprägte Zeit wird abgelöst durch eine intensive, flüchtige Zeit. Wenn das "audiovisuelle Fahrzeug" die Dimensionen von Raum und Zeit umwandelte, auf welche Weise veränderte es die Beziehungen der Subjekte untereinander, brachte sie miteinander in Berührung oder trennte sie, forderte oder behinderte den mündlichen Austausch? Auf welche Weise ändern sich Stimme und Blick in dieser Epoche? Baudrillards Rede von einer Videosphäre erfaßt zugleich die Umwandlungen, die die Sensibilität der Subjekte erfahrt, die Art des Blickens in ihrer Wechselwirkung mit dem Bildschirm, die neue Informatikstimme, die Telefonstimme und das neue Bild, das "tele-image": Grundlegend ist für diese Videokultur die Existenz eines Bildschirms, nicht aber notgedrungen die eines Blicks. Die Wahrnehmung eines menschlichen

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Blickes ist vom taktilen Ablesen eines Bildschirms völlig verschieden. Bei letzterem handelt es sich um ein digitales Abtasten, wobei das Auge sich wie eine Hand an einer unendlichen gebrochenen Linie entlangtastet ... Die Stimme etwa bei der neuen Datenverarbeitungstechnologie oder sogar am Telefon, ist eine tastende/taktile Stimme, eine rein funktionale Stimme, gleichsam Nullpunkt der Stimme. Recht besehen ist es überhaupt keine Stimme mehr, so wenig es sich beim Bildschirm noch um einen Blick handelt. Das Paradigma der sinnlichen, mentalen Wahrnehmung hat sich vollständig gewandelt. Denn jene Taktilität hat nicht den organischen Sinn des Berührens, sondern bezeichnet bloß das hautnahe Aneinanderstoßen von Auge und Bild, das Ende der ästhetischen Distanz des Blickes ... [der] Proxemik der Bilder, Promiskuität der Bilder, taktile Pornographie der Bilder. Und doch ist das Bild, das auf dem Bildschirm erscheint, paradoxerweise immer ein Telebild ...Im Bannkreis der Kommunikation sind Dinge, Menschen und Blicke unablässig im Zustand virtuellen Kontaktes und berühren sich doch niemals ... Das virtuelle Bild ist zugleich zu nahe und zu fern: zu nahe, um wahr zu sein (um die richtige Nähe des Szenischen zu haben), zu fern, um falsch zu sein (um den Zauber des Künstlichen zu haben) (Baudrillard, 1989: 120-122). Baudrillard bezieht sich damit auf die neue Ordnung der Produktion von Bildern, auf eine neue Videokultur, die übereinstimmend mit Renaud nicht eine bloße Folge der audiovisuellen Kultur ist - ein Terminus, der ihm zu eingeschränkt erscheint sondern eine Umwandlung besagter Kultur darstellt, die noch auf der Vorstellung des Bildes als Repräsentation beruht. Der optische Eindruck von Filmleinwand und Computerbildschirm verbirgt die unterschiedliche - analoge bzw. digitale - Produktionslogik (Renaud, 1989: 22). Das neue numerische Bild, "l'imagerie", ermöglicht das interaktive Scheinbild, das sich von dem Show-Bild, dem Produkt der audiovisuellen Kultur, unterscheidet. Die neuen synthetischen, elektronisch gewonnenen Bilder leiten eine neue Phase der Technifizierung und Industrialisierung des Imaginären ein. Eine neue Ordnung der Visibilität erscheint, bei der die Unterscheidungen zwischen dem dargestellten und dem synthetischen Bild schwinden. Der Unterschied zwischen einem Stein und einer Beleidigung mag klar sein. Der Unterschied zwischen einer Videoaufnahme und einem synthetischen Bild, zwischen einem Film über fiktive Katastrophen und einer gefilmten Katastrophe, zwischen einer Kriegssimulation und einem simulierten Krieg sind weit feiner (Munari, 1989: 114). Neue kulturelle Konventionen kommen auf, um zwischen diesen Bildern unterscheiden zu können. Sie erfordern einen gewissen Grad der "Alphabetisierung" (Munari, 1989: 113), wie dies in den Anfangen von Kino oder Fernsehen gleichfalls erforderlich gewesen war. Heute kann weder geschrieben noch gelesen, noch gesprochen und gehört oder gesehen werden wie früher.

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Der geschriebene Text sieht sich verwandelt. Er ist mit dem Computerbildschirm und dem Textverarbeitungsprogramm verbunden. Eine neue Logik der Produktion, der Reproduktion, der Übertragung (durch Fax, elektronische Post, elektronische Konferenzen und Datenbanken), der Verarbeitung und Aufbewahrung von Schriften ist entstanden. Der Bildschirm und mit ihm das Bild von Text und Buchstabe erhalten eine andere Dynamik der Komposition. Dabei sind schneller Entwurf des Layouts, ständige Abwandlung und Druck möglich geworden. Eine neue Ordnung der Visibilität dringt in die Logik von Schrift und Lektüre ein, bei der das Buch, ohne zu verschwinden, eine Verdrängung durchmacht. Das Bild besitzt in der heutigen Kultur einen anderen Status. Die Entwicklung des Golfkriegs 1991 ist undenkbar ohne die Ausbreitung der Videokultur in der militärischen Maschinerie, ohne das Durchdringen der Showlogik, der Werbelogik und des Videoclips als Kennzeichen der Medienkultur. Diese Kultur vermittelt Kontakt und Sehen, verhindert jedoch zugleich den physischen Kontakt, indem sie sich zwischen die Subjekte schiebt. Nicht umsonst wird vom Golfkrieg als einem Bilderkrieg gesprochen, einem aseptischen Krieg, ohne physischen Kontakt und ohne gegenseitigen Blick der Feinde (Baudrillard, 1991). In diesem Krieg schwanden die Unterschiede zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Alles erschien, als wäre es ein Videospiel, das Scheinbild des Scheinbildes, und jeder Kriegsfilm erschien wirklicher und glaubhafter als der tatsächliche Krieg. Dieser selbst stellte sich als pure Illusion dar. Daß keine Menschen auf dem Schlachtfeld gezeigt wurden, sondern nur, abgeschirmt durch den Bildschirm, der Abschuß von Raketen und Fernlenkwaffen, entsprach zweifellos der Absicht: ein elektronischer, ästhetischer Krieg. Leurs war-processors, leurs radars, leurs lasers, leurs écrans rendent aussi inutile et impossible le passage à la guerre que l'usage du word-processor rend inutile et impossible le passage à l'acte d'écrire, puisqu'il lui ôte à l'avance toute incertitude dramatique (Baudrillard, 1991: 27). "La guerre du Golfe n'a pas eu lieu" betitelt Baudrillard seine Analyse des Golfkriegs. Die bisherigen Ausführungen über den Einbruch der audiovisuellen und der Videokultur unterstreichen die Notwendigkeit, die mündlichen Kulturen in ihrer Wechselwirkung mit den audiovisuellen gründlicher zu untersuchen. Die neuen Ordnungen der Produktion von Bildern lösen die alten Ordnungen der Visibilität, Vokalität und Audibilität ab und geben ihnen andere Rollen.

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Kapitel 3

3.4

Die ungleiche Verbreitung und Auswirkung der audiovisuellen Technologien in Lateinamerika

Die neue Videokultur drang in Lateinamerika und den sogenannten Entwicklungsländern nicht auf dieselbe Weise ein wie in den europäischen Ländern, Kanada oder den USA. Auch ist ihre Verbreitung und ihre Auswirkung in den einzelnen Ländern Lateinamerikas sehr ungleich. Das Radio erreichte 1986 gemäß dem World Communication Report der UNESCO fast die gesamte Bevölkerung Lateinamerikas. Zwischen 1965 und 1986 verdreifachte sich die Anzahl der Rundfunkempfänger in Lateinamerika und der Karibik. Im Jahr 1965 waren 137 Rundfunkempfänger pro 1000 Einwohner vorhanden, im Jahr 1975 waren es 251 und im Jahr 1986 bereits 327 Geräte (UNESCO, 1989: 156). Nach Ländern aufgeschlüsselt zeigen sich jedoch einige Unterschiede in der Verbreitung. Tabelle 2: Verbreitung von Radiogeräten (1986) Land USA Kanada Argentinien Uruguay Bolivien Venezuela Honduras Brasilien El Salvador Chile Kuba Ecuador Costa Rica Nicaragua Peru Mexiko Panama Paraguay Kolumbien Guatemala

in Lateinamerika,

USA und Kanada

Radiodichte* 2186 877 645 592 587 425 377 365 349 335 335 295 263 257 247 197 184 165 153 61

* Radiogeräte je 1000 Einwohner Quelle: UNESCO (1989) World Communication Report, Paris, 421 f.

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Die anhand der Daten der Tabelle 2 erstellte Abbildung 2 illustriert die ausgeprägten Unterschiede der Radiodichte, zwischen den USA und Kanada zum einen

Abbildung 2: Verbreitung von Radiogeräten in Lateinamerika, USA, und Kanada (1986) Während in den USA im Durchschnitt eine Person zwei Rundfunkempfänger besitzt, haben in Guatemala 1000 Einwohner durchschnittlich nur 61 Radiogeräte. Abgesehen von diesen Extremen und angesichts der Tatsache, daß ein lateinamerikanischer Haushalt im Durchschnitt mehr als vier Mitglieder umfaßt6, kann vermutet werden, daß 1986 im Durchschnitt jeder Haushalt Lateinamerikas ein Radio besaß. Die meisten Geräte je Einwohner waren in Argentinien, Uruguay und Bolivien zu verzeichnen, die wenigsten in Guatemala, Kolumbien, Paraguay, Panama und Mexiko (UNESCO, 1989: 421 f)Was den Besitz von Fernsehgeräten anbelangt, so hatten im Jahr 1965 in Lateinamerika und der Karibik nur 32 von 1000 Einwohnern einen Fernsehempfänger. Nach Ausweitung der Relaisstationen waren es im Jahre 1975 bereits 84 und im Jahre 1986 sogar 145 Fernsehgeräte auf 1000 Einwohner (UNESCO, 1989: 149). Der Ausweis von Länderdaten für Lateinamerika, USA und Kanada in Tabelle 3 zeigt, daß in den Ländern des amerikanischen Kontinents der Besitz von Fernsehgeräten sehr ungleich verbreitet ist. Obgleich diese Daten unterschiedlichen statistischen Quellen entnommen sind, mindert dies nicht notwendigerweise den Aussagegehalt der hier aufgezeigten Tendenzen. 6

Statistisches Bundesamt (1994), Statistisches Poeschel, Stuttgart: 228.

Jahrbuch für das Ausland,

Metzler-

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Kapitel 3

Da ein Haushalt in Kanada und den USA im Durchschnitt aus knapp drei Mitgliedern besteht 7 , ergibt sich, daß 1986 im Durchschnitt jeder Haushalt in diesen Ländern etwa zwei oder auch mehr Fernsehempfänger besaß. Diese Entwicklung, die eine individuelle Rezeption des Fernsehens fordert, verstärkte sich bis ins Jahr 1990 in Kanada, blieb aber für die USA konstant; wahrscheinlich war der US-amerikanische Markt schon gesättigt. Tabelle 3: Verbreitung von Fernsehgeräten

in Lateinamerika,

USA und

Kanada

(1986 und 1990) Fernsehdichte*

Land 1986 USA Kanada Argentinien Kuba Brasilien Uruguay Chile Panama Venezuela Mexiko Kolumbien Peru Costa Rica Bolivien Ecuador El Salvador Honduras Nicaragua Guatemala Paraguay

813 546 214 202 188 171 164 161 141 117 102 84 79 76 73 70 67 59 37 23

1990 808 634 222 207 213 233 205 165 167 145 114 97 149 163 83 90 72 62 52 59

* Fernsehgeräte j e 1000 Einwohner

Quellen: UNESCO (1989), World Communication Report, UNESCO, Paris, 427. Statistisches Bundesamt (1993), Länderbericht NAFTA-Staaten 1993, Metzler-Poeschel, Stuttgart, 17 f. Die anhand der in Tabelle 3 fur das Jahr 1990 ausgewiesenen Daten erstellte Grafik beleuchtet, daß die Entwicklung in Lateinamerika nicht gleichförmig ist.

Statistisches Bundesamt (1994), Statistisches Jahrbuch für das Ausland, MetzlerPoeschel, Stuttgart: 228.

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Abbildung 3: Verbreitung von Fernsehgeräten Kanada (1990)

in Lateinamerika,

USA und

In Lateinamerika lassen sich drei Ländergruppen unterscheiden. In Ländern wie Guatemala, Paraguay, Nicaragua, Honduras, Ecuador und El Salvador ist der Zugang zum Fernsehen 1990 sehr begrenzt. Zudem sind gegenüber dem Jahr 1986 vor allem aufgrund der wirtschaftlichen Situation keine wesentlichen Änderungen zu verzeichnen. In einer zweiten Ländergruppe mit Peru, Kolumbien, Mexiko, Costa Rica, Bolivien, Panama und Venezuela ist im Jahre 1990 eine vergleichsweise höhere Fernsehdichte zu verzeichnen. Auch im Jahre 1986 befanden sich diese Länder in der mittleren Gruppe. Allerdings war der Zuwachs der Fernsehdichte in Bolivien und Costa Rica sehr stark und in Panama nur geringfügig. In der dritten Ländergruppe mit der höchsten Fernsehdichte befanden sich Chile, Kuba, Brasilien, Argentinien und Uruguay. Dabei erhöhte sich von 1986 bis 1990 die Fernsehdichte in Chile, Uruguay und Brasilien stark, aber nur leicht in Argentinien und Kuba. Im Vergleich zu den Industrieländern USA und Kanada ist in Lateinamerika die Fernsehdichte durchgängig sehr viel niedriger. Die Übernahme der neueren Entwicklungen der Telekommunikation in Lateinamerika wurde nach Berichten der UNESCO (1989: 78) jedoch durch die schlechte wirtschaftliche Lage verzögert. Während einige Länder schon Satelliten installieren, senden andere weiterhin nur ein Schwarzweißfernsehen aus. Ähnlich ist es auf dem Gebiet der Nachrichtenübermittlung. Brasilien, Mexiko und Argentinien besitzen bereits nationale Datenbankverbindungen und installieren teilweise mit optischen Fasern verbundene Datennetze, in anderen Ländern wird die Post weiter von Hand sortiert.

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Alle Länder Lateinamerikas sind mit dem Intelsatsystem verbunden. Nur Brasilien und Mexiko haben eigene Satelliten installiert. Der brasilianische Satellit Brasilsat I wurde im Februar 1985 in seine Position gebracht, Brasilsat II im März 1986. Zusammen können beide Satelliten 12.000 Telefonverbindungen, 28.000 Telexverbindungen und 24 Fernsehkanäle verarbeiten (UNESCO, 1989: 78). Mexiko besaß 1984 ein Netz von 197 Fernsehrelaisstationen. Im Jahr 1985 waren es 277 Stationen. Im Juni des gleichen Jahres wurde der erste Satellit Mexikos, im November 1985 der zweite auf seine Bahn gebracht. Das Drittel der mexikanischen Bevölkerung, das vorher keinen Zugang zum Fernsehen hatte, wurde auf diese Weise angeschlossen (UNESCO, 1989: 78). Die beschriebenen Tendenzen der Verbreitung der audiovisuellen Technologien in Lateinamerika sollten nicht den Eindruck vermitteln, es liege hier eine homogene Verteilung und ein auf nationaler Ebene immer leichterer Zugang zu diesen Medien vor. Die Verteilung bestimmter Kommunikationstechnologien beschränkt sich auf Gruppen mit hohen Einkommen. Da Kabelfernsehen, Parabolantennen und Sonderübertragungen bestimmter Veranstaltungen hohe Kosten für die Benutzer verursachen, sind sie bei den Angehörigen der mittleren und unteren Einkommensschichten weniger verbreitet als die "unentgeltlichen" allgemeinen Medien Femsehen und Radio, die sich vor allem über die Werbung finanzieren. Übertragungen mit Sonderkosten wie Boxkämpfe, die allgemein in Mexiko sehr beliebt sind, werden auf öffentlichen Plätzen mit Hilfe großer Bildschirme übertragen und erinnern somit an den kollektiven Empfang von Radio und Fernsehen aus der Frühzeit dieser Medien. Das stellt ein Anzeichen dar für die besonderen Formen der Aneignung und Anpassung der Technologien der Kommunikation in Lateinamerika. Auch die Daten über die Verbreitung von Videogeräten auf dem amerikanischen Kontinent im Jahre 1986 zeigen eine ungleiche Verbreitung dieser Technologie. Diese Technologie ermöglicht es Fernsehsendungen aufzuzeichnen und Videofilme zu mieten und erlaubt somit, daß der Fernsehzuschauer gemäß seiner eigenen Zeitlogik bestimmte Sendungen auswählt und empfängt, was er zu sehen wünscht. Zusammen mit den Videokameras für Amateure, die in den letzten Jahrzehnten auf den Markt kamen, haben diese Geräte die Produktion von Filmen über die eigene Familie und Freizeit ermöglicht, aber auch einen Einsatz innerhalb ziviler und politischer Organisationen (Mraz, 1993), wobei dann u.a. Videofilme produziert wurden, deren Bilder und Aussagen nicht mit der Bild- und Tonauswahl in offiziellen oder kommerziellen Fernseh- und Radioprogrammen übereinstimmten. Der Verkauf und die Verbreitung von Videofilmen über die zapatistische Guerrillerobewegung von 1994 in Mexiko unter der Regierung kritisch gesinnten gesellschaftlichen Gruppen ist ohne die in den letzten Jahren

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im Mittelstand Mexikos erfolgte massive Verbreitung von Videogeräten nicht denkbar. Tabelle 4 zeigt, daß 1986 die Mehrzahl der Fernsehzuschauer in den USA und Kanada Videogeräte besaß. In Lateinamerika sind zwei Ländergruppen unterscheidbar. In Ländern wie Panama, Kolumbien, Venezuela und Peru begann auch der Mittelstand, diese Geräte zu kaufen. In Ländern wie Mexiko, Ecuador, Brasilien, Guatemala, Costa Rica, El Salvador, Argentinien, Uruguay und Chile besaß 1986 nur die reiche Minderheit solche Geräte. Dies hat sich, wie bereits oben vermerkt, zumindest in Mexiko inzwischen geändert. Tabelle 4: Verbreitung von Videogeräten

in Lateinamerika,

USA und

Kanada

(1986) Land USA Kanada Panama Kolumbien Venezuela Peru Mexiko Ecuador Brasilien Guatemala Costa Rica El Salvador Argentinien Uruguay Chile

Videogeräte in % der Fernsehhaushalte 59,0 58,1 43,0 39,2 38,8 37,7 19,4 17,1 15,0 9,8 9,5 8,7 7,3 6,2 5,0

Quelle: UNESCO (1989), World Communication Report, UNESCO, Paris, 159 Da diese Untersuchung die Wechselbeziehungen zwischen den Formen mündlicher und schriftlicher Kommunikation anhand der unterschiedlichen Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe untersucht, ist die gegenseitige Abhängigkeit von Analphabetismus und der Verbreitung des Fernsehens von Bedeutung, worauf die in Tabelle 5 wiedergegebenen Daten ein Licht werfen.

Kapitel

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3

Tabelle 5: Analphabetenquoten und Verbreitung von Fernsehgeräten in Lateinamerika, USA und Kanada (1990) Land Guatemala El Salvador Honduras Bolivien USA Brasilien Peru Ecuador Kolumbien Mexiko Nicaragua Panama Venezuela Paraguay Chile Costa Rica Kuba Argentinien Uruguay Kanada

Analphabetenquote" 45 27 27 22 22(1992) 19 15 14 13 12 12 (1986) 12 12 10 7 7 6 5 4 3 (1986)

Fernsehdichte b 52 90 72 163 808 213 97 83 114 145 62 165 167 59 205 149 207 222 233 634

a Analphabeten in % der Bevölkerung über 14 Jahren b Fernsehgeräte j e 1000 Einwohner Quelle: Statistisches Bundesamt (1993), Länderbericht NAFTAStaaten 1993, Metzler-Poeschel, Stuttgart, 15-18

Anhand der Daten der Tabelle 5 wurde die Abbildung 4 erstellt. Tabelle und Grafik lassen erkennen, daß in Lateinamerika Schrift und Fernsehempfang in vier verschiedenen Kombinationen miteinander verbunden sind.

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90

1000 900 800 700 600 500



400

20

300 200

ifi g 2 5 0-

ö

E

S™ I S.

JZ

100 0

3, e £

: Analphabetenquote im Jahr 1990 —m—

Fernsehgeräte je 1000 Einwohner im Jahr 1990

Abbildung 4: Analphabetenquote und Verbreitung von Fernsehgeräten Lateinamerika, USA und Kanada (¡990)

in

Die erste Gruppe lateinamerikanischer Länder ist durch hohen Analphabetismus und eine geringe Verbreitung des Fernsehens gekennzeichnet. Zu dieser Gruppe gehören Guatemala, El Salvador und Honduras, Länder mit großen wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten in den letzten Jahrzehnten. In der Gruppe mit einem mittleren Analphabetismus und einer mittleren Verbreitung des Fernsehens befinden sich Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Venezuela, Panama und Mexiko. Die dritte Ländergruppe mit Nicaragua, Paraguay, Peru und Ecuador besitzt einen mittleren Analphabetismus und eine geringe Verbreitung des Fernsehens. Die vierte Ländergruppe umfaßt Chile, Costa Rica, Kuba, Argentinien und Uruguay und besitzt einen geringen Analphabetismus und eine mittlere Verbreitung des Fernsehens. Verglichen mit lateinamerikanischen Ländern ist in den Industrieländern USA und Kanada die Fernsehdichte sehr viel höher. Unter dem Gesichtspunkt der Post-Industrialisierung bilden Kanada und die USA unterschiedliche Gruppen. Wie die meisten europäischen Länder besitzt Kanada einen geringen Analphabetismus und eine hohe Verbreitung des Fernsehens. Die USA dagegen zeigen eine hohe Verbreitung des Fernsehens, verbunden mit einem zwischen 1980 und 1990 steigendem Analphabetismus. Die Feststellung unterschiedlicher Verbreitung und quantitativer Auswirkungen der modernen Kommunikationstechnologien in den verschiedenen Ländern des amerikanischen Kontinents widerspricht der Theorie, daß durch diese Technologien eine kulturelle Vereinheitlichung stattgefunden habe.

Kapitel 3

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Las tecnologías comunicativas y la reorganización industrial de la cultura no sustituyen las tradiciones, ni masifican homogéneamente, sino que cambian las condiciones de obtención y renovación del saber y la sensibilidad. Proponen otro tipo de vínculos de la cultura con el territorio, de lo local con lo internacional, otros códigos de identificación de las experiencias, de desciframiento de sus significados y maneras de compartirlos (García Canclini, 1990: 244). Es wurde bereits erwähnt, daß die angeführten Statistiken nur Anzeichen für bestimmte Tendenzen der Entwicklung der Kommunikation in Lateinamerika sein können. Sie sollten durch qualitative Studien über die unterschiedlichen Praktiken der Kommunikation (Schrift, Radio, Fernsehen und Video), wie sie die Subjekte in ihrem Alltag in unterschiedlichen Kontexten Lateinamerikas ausfuhren, ergänzt werden. Im letzten Jahrzehnt entstanden gleichwohl einige Studien, die ethnographische Beiträge und solche der Soziologie der Kultur aufnehmen, um auf diese Weise die Auswirkungen der neuen Kommunikationstechnologien auf die Rituale des Alltags zu begreifen und ihre Bedeutung für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zu analysieren. Hervorzuheben sind unter diesen Studien die bahnbrechenden Analysen von Martín-Barbero/Muñoz (1992) über die Bedeutung der "telenovelas" in Kolumbien, genauso wie die von Jorge González geleiteten Studien über "telenovelas" in Mexiko (González 1988, 1994). Erwähnenswert ist außerdem die Arbeit von Mier und Piccini (1987) über das Thema Jugend und Fernsehen, in der Perspektiven der Anthropologie, der Soziologie und der Semiotik verwendet werden. Mata (1991) übernimmt Techniken der "Oral History" in ihrer anregenden Studie über das kollektive Gedächtnis des Radioempfangs in verschiedenen Sektoren unterer Einkommensschichten in Argentinien. Einige neuere Studien über den Kulturkonsum (Garcia Canclini/Piccini, 1993; Lozano, 1994; Valenzuela, 1993) erlauben, die mit jedem Medium verbundenen Praktiken innerhalb anderer Kulturpraktiken zu erfassen. Es ist ein bekanntes Problem dieser Studien, daß sie sich meist nur auf quantitative Methoden und solche der empirischen Soziologie stützen (Garcia Canclini/Piccini, 1993: 77), d.h. auf Fragebögen und deren Auswertung. Qualitative Studien über das alltägliche Umfeld, die Räume gesellschaftlicher Interaktionen in der Stadt oder auf dem Land und die lokalen Logiken der kulturellen Produktion und Aneignung der befragten Subjekte werden ausgeklammert. Die Befragten werden zu antwortenden Konsumenten reduziert; die lokalen Logiken kultureller Produktion, wie sie in Kapitel 1 besprochen wurden, werden in solchen Untersuchungen nicht zur Kenntnis genommen. In einigen Analysen über die Rezeption der Medien wird versucht, den Ansatz, der die Medien in den Mittelpunkt der Arbeit stellt, zu überwinden. Sie untersu-

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chen die Subjekte in ihrem familiären oder interinstitutionellen Milieu, in das sie eingebunden sind und berücksichtigen j e nach dem Ziel der Untersuchung unterschiedliche soziokulturelle Aspekte. Da es schwierig ist, die mit der Kommunikation verbundenen kulturellen Prozesse zu erfassen, werden in vielen Untersuchungen die Kommunikationsmedien isoliert und als unabhängige Variable aufgefaßt und das Subjekt der Untersuchung somit gleichzeitig auf die Rolle des Empfängers reduziert. Es gelingt dann diesen Untersuchungen oft nicht, das traditionelle Schema des Kommunikationsprozesses: Sender-Medium-Empfänger zu überwinden. Es wird meist nicht verstanden, daß das an den Kommunikationsprozessen teilnehmende Subjekt von vielfältigen kulturellen Diskursen und Regeln sehr verschiedener Herkunft durchzogen ist, nämlich der Familien, der Schule, der Medien und der verschiedenen sozialen Institutionen. Dabei wird oft vernachlässigt, daß die alltäglichen Rituale dieser Subjekte und ihre eigenen gesprochenen Diskurse die wichtigsten Wege sind, die uns erlauben zu verstehen, auf welche Weise die Subjekte schriftliche Diskurse und solche der Kommunikationsmedien aufnehmen, j e nach der lokalen Logik kultureller Produktion eines bestimmten Kontextes (Zires, 1983; Corona, 1989; Barrios, 1992; Fuenzalida, 1992; Orozco, 1992, 1993; De la Peza, 1993). Autoren wie Landi (1992), Mata (1992), Sarlo (1992) und Schmucler (1992) untersuchen die Auswirkung der neuen audiovisuellen Technologien und der Informatik auf die Politik in Lateinamerika und stellen eine "Mediatisierung" der Politik fest. Diese ist immer stärker der Logik der Kommunikationsmedien, des Marktes und des Spektakels unterworfen.

Pierde sentido hablar de la influencia de los medios en la política cuando la política se mimetiza con los valores de lo mediático como cultura (Schmucler, 1992: 109).

3.5

Die umgestaltete mündliche Kommunikation der heutigen Gesellschaften

Die mündliche Kommunikation ist nicht verschwunden, ihr Status hat sich jedoch gewandelt. Es wird zweifelsohne weiterhin gesprochen, aber die Art und Weise des Sprechens, des Zitierens, des Argumentierens sowie der Verwendung der mündlichen und audiovisuellen Quellen hat sich gewandelt und erhält in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen besondere Nuancen. Brunvand (1981, 1984, 1986), Campion-Vicent/Renard (1992) und andere Forscher sammelten in den letzten Jahren Gerüchte, die als städtische Legenden verstanden werden; für sie waren Legenden nicht nur ein Produkt ländlicher Regionen, der Eingeborenen oder der Vergangenheit.

Kapitel

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Die Bedeutung, die Gerüchten für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse zugestanden wird (Rose, 1951; Rosnow, 1973; Kaplan, 1982; Koenig, 1985; Fine, 1986; Kapferer, 1987), unterstreicht die Gegenwart des Vokalen in heutigen Gesellschaften. Das vokale Gewebe hat sich jedoch gewandelt. Die mündlichen Texte verweisen nicht nur auf Laute und Echos anderer, in physischer Anwesenheit der Teilnehmer erstellter mündlicher Texte sondern auch auf ohne gleichzeitige physische Anwesenheit erstellte akustische und audiovisuelle Texte, wie dies bei Rundfunk, Femsehen, Kassetten, Videoaufzeichnungen sowie auch elektronisch hergestellten Texten und Bildern der Fall ist. Gerüchte, städtische Legenden, Klatsch und mündliche Produktion sind heute verbunden mit dieser Vermehrung der Bilder und Töne. Sie entstehen zwischen den Fernsehbildschirmen, den Programmen mit 30 Kanälen, den Videorecordern, den Videospielen, auf den Korridoren und in Wartesälen. Sie zeigen die ständige vokale Verarbeitung, die von den Subjekten in Gegenwart anderer Teilnehmer und gegenüber der gesamten audiovisuellen Verflechtung durchgeführt wird. Das in dieser Arbeit näher untersuchte Gerücht von den Schlümpfen wurde 1982 und 1983 produziert. Dieses Gerücht wäre ohne die unterschiedliche Auswirkung des Fernsehens auf den mündlichen Austausch und allgemein auf die Erzählkultur der Kinder nicht zu verstehen. Die Beachtung des bisher diskutierten Zusammenhangs in der Untersuchung dieses Gerüchts ermöglicht Einsichten über die verschiedenen Eigenarten der Interaktion zwischen mündlichen, schriftlichen und audiovisuellen Kulturen im Lande der Untersuchung, Mexiko. Dies ist das Thema der folgenden Kapitel.

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Kapitel 4

4

FALLSTUDIE ÜBER DAS GERÜCHT VON DEN SCHLÜMPFEN: DIE THEORETISCHE UND METHODOLOGISCHE KONSTRUKTION

Ganz besonders unter Kindern war 1982 und 1983 das in dieser Arbeit untersuchte Gerücht in ganz Mexiko verbreitet, von der nördlichen Grenze mit den USA bis zur südlichen Grenze mit Guatemala. Das Gerücht besagte, daß Puppen und Spielzeug in Gestalt der Schlümpfe lebendig wurden und Kinder umbrachten. Um dies zu verstehen, sind einige Vorbemerkungen erforderlich. Die in den USA von der Gesellschaft Hanna Barbera produzierte und dort sehr erfolgreiche Fernsehserie Die Schlümpfe

wurde in Mexiko ab Mitte 1982 erst-

mals ausgestrahlt. Die Serie handelt von gutmütigen Kobolden, die von dem Riesen Gargamel verfolgt werden, der sie fangen und auffressen will. Noch vor dem Beginn der Ausstrahlung des Programmes in Mexiko und ausgehend von dem Erfolg, den der Verkauf der erwähnten Puppen in den USA gehabt hatte, wurde damit begonnen, die Rechte für die Produktion und den Absatz von Artikeln mit dem Markenzeichen der Schlümpfe in Mexiko zu verkaufen. Eine regelrechte "Schlumpfomanie" brach aus. Puppen aus Plüsch, Plastik und anderen Materialien, Schallplatten und Poster sowie andere Spielzeugprodukte wurden hergestellt und auf den Markt gebracht. Das Fernsehprogramm wurde viermal wöchentlich auf dem Kanal 5, dem Regionalprogramm der Hauptstadt, ausgestrahlt; wenig später wurde es von einem landesweit und international zu empfangenden Kanal übernommen. Die Einschaltquoten waren außerordentlich hoch. Nach Aussage eines der wichtigsten Hersteller von Schlumpfartikeln wurde in nur sechs Monaten ein größerer Umsatz mit diesen Produkten erreicht als in mehreren Jahren mit der Gesamtheit der Walt Disney-Artikel. Nach Beginn des Gerüchts über die Schlümpfe war ein plötzlicher Rückgang im Verkauf von Schlumpfartikeln zu verzeichnen; einige Hersteller und Vertreiber gingen in Konkurs. Die Herstellung dieser Produkte wurde eingestellt. In einem marginalisierten Wohngebiet am Rande von Mexiko-Stadt, Nezahualcoyotl, gab es eine Verbrennung von Schlumpfpuppen. In Unternehmerkreisen tauchte die Frage auf, wer ein solches Gerücht verbreitet habe, welche Interessen dahinter stünden und ob dieses Gerücht möglicherweise über das Fernsehen verbreitet worden sei. Einige Hersteller von Schlumpfprodukten und Informanten der mächtigen, privaten Fernsehanstalt Televisa vermuteten, daß die Ausbreitung des Gerüchts die Einstellung der Produktion solcher Produkte bewirken sollte. Trotz ihrer eigenen Nachforschungen gelang es nicht, diesen Verdacht zu bestätigen. In Vorbereitung der vorliegenden Untersuchung wurden vier Interviews in Unternehmerkreisen durchgeführt. Das erste Interview galt einer Agentur, die die

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Lizenzen zur Vermarktung von Artikeln mit dem Markenzeichen der Schlümpfe erteilte, andere galten den wichtigsten Herstellern von Schlumpfprodukten. Im Unternehmen Kay wurde behauptet, daß einer seiner Angestellten gesehen habe, daß in der Sendung "Hoy mismo", die von dem in Mexiko bekannten Guillermo Ochoa geleitet wurde, jemand das Gerücht verbreitet habe, daß die Schlumpfpuppen Kinder umbrächten. Diese täglich vier Stunden lang am Vormittag landesweit ausgestrahlte Sendung wurde vor allem von Hausfrauen gesehen und war allgemein sehr beliebt. Der Leiter des Unternehmens, das die Lizenzen für Produktion und Vertrieb von Schlumpfartikeln erteilte, erklärte, auch er habe davon gehört, daß das Gerücht in verschiedenen Sendungen und vor allem in derjenigen von Guillermo Ochoa verbreitet worden sei. Er habe deshalb selbst die Videoaufzeichnungen von vielen dieser Sendungen durchgesehen, dabei aber nichts Entsprechendes gefunden. Ihm erschien es plausibler, daß einige der Unternehmen, die keine offizielle Genehmigung der Verbreitung von Schlumpfartikeln erhalten hatten, obwohl sie sich darum bemühten, das Gerücht ausgelöst hätten. Allerdings konnte er keinen Nachweis hierfür erbringen. Wie dem auch sei, so hat doch ein großer Teil der in dieser Arbeit interviewten und aus verschiedenen Landesteilen Mexikos stammenden Personen behauptet, das Gerücht im Fernsehprogramm Guillermo Ochoas gehört zu haben. Guillermo Ochoa dazu selbst zu befragen, war mir trotz verschiedener Versuche nicht möglich; er ließ mir nur ausrichten, nichts dergleichen geäußert zu haben. Damit stimmt Uberein, daß einige befragte Personen meinten, Guillermo Ochoa selbst habe nichts dergleichen geäußert; es sei eine der von ihm life oder telefonisch interviewten Personen gewesen. Solche Anrufe aus ganz Mexiko bildeten einen Kernbestandteil dieses Vormittagsprogramms. Sollte es zutreffen, daß das Gerücht durch das Fernsehen in einer so populären Sendung bekannt geworden sei, so würde dies zweifelsohne seine sehr weite Ausbreitung erklären, nicht jedoch, warum es sich gerade unter Kindern verbreitete, die üblicherweise vormittags während der Schulzeit keine Sendungen sehen können. Im Rahmen dieser Arbeit war der genaue Ursprung des Gerüchts nicht von Bedeutung. Vielmehr interessierte die Analyse seiner gesellschaftlichen und kollektiven Dimension. Daher war es wichtig, die Vielzahl unterschiedlichster sozialer Faktoren festzustellen, die in diesem Vorgang zusammenfließen. Auch das von Morin untersuchte und in Kapitel 2 erwähnte Gerücht von Orléans war nicht das Ergebnis gezielter politischer Provokationen. Ähnlich wird auch in der Untersuchung des Gerüchts über die Schlümpfe nicht davon ausgegangen, daß es das Ergebnis gezielter wirtschaftlicher Strategien gewesen sei.

Kapitel 4

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Wie bereits in Kapitel 1 erwähnt, weicht diese Untersuchung von der traditionellen Perspektive der Analyse von Gerüchten ab. Die üblichen Analysen stellen die Untersuchung von Ursprüngen und die Ausbreitung von Gerüchten in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung, um mit Hilfe von Verbreitungsmodellen die Art und Weise ihrer Produktion zu erkennen und ihre Steuerung oder Bekämpfung zu ermöglichen. Das Gerücht wird in diesem Zusammenhang als eine gesellschaftliche Krankheit verstanden; Gerücht ist gleichbedeutend mit Lüge. In dieser Arbeit ist dagegen die Frage von wahr oder falsch oder die Objektivität der Gerüchte nicht von Bedeutung; hier interessieren vielmehr die Regeln seiner Produktion, wie es in einem bestimmten historischen Zeitpunkt gedacht und formuliert werden kann. Es sollen die kulturellen Normen der Konstruktion des Glaubwürdigen in den verschiedenen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in unterschiedlichen kulturellen Kontexten untersucht werden. Diese Normen lassen sich ableiten aus den vielfältigen Diskursen - mündlichen, schriftlichen oder audiovisuellen - , die in einem kulturellen Kontext umlaufen.

4.1

Allgemeine Vorgehensweise der Untersuchung

Unter Berücksichtigung der obigen Überlegungen wurden folgende Untersuchungsstrategien ausgewählt. a. Schriftliche Befragungen wurden mit Kindern der sechsten Klasse der Grundschule durchgeführt. Hierdurch sollte der Anteil derjenigen Kinder, die das Gerücht über die Schlümpfe in der jeweiligen Schule kannten, ermittelt, aber auch die Durchdringung der Schriftkultur in Erfahrung gebracht werden. Deshalb wurden die Kinder gebeten, aufzuschreiben, was sie über die Schlumpfpuppen gehört hatten. In Anbetracht der kulturellen Heterogenität Mexikos wurde die Untersuchung in drei kulturellen Kontexten durchgeführt. Diese Kontexte unterschieden sich durch eine bestimmte mündliche Kultur, die jeweils durch eine besondere, wechselseitige Verflechtung mit der schriftlichen und der audiovisuellen Kultur gestaltet war. Dies bedeutet, daß von der Vorstellung ausgegangen wird, daß Inhalt und Form der mündlichen Interaktionen der Kinder sowohl durch Rituale des Radios, Fernsehens, des Lesens und Schreibens sowie durch in ihrem kulturellen Milieu gebräuchliche audiovisuelle und geschriebene Diskurse auf unterschiedliche Art und Weise geprägt waren. Das erste kulturelle Umfeld dieser Arbeit war Nezahualcoyotl, eine städtische Zone am Rande von Mexiko-Stadt, in der die Menschen unter den sozioökonomischen Bedingungen der Marginalisierung leben. Sie läßt sich durch eine

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ausgeprägte Bedeutung audiovisueller Kultur - des Radios und des Fernsehens - und eine geringe Bedeutung der Schriftkultur kennzeichnen. Dies wird in Kapitel S eingehend behandelt. Beim zweiten kulturellen Umfeld handelte es sich um El Pedregal de San Angel, ein städtisches Wohnviertel mit Villen-Charakter in Mexiko-Stadt, in dem die Mehrheit der Bevölkerung unter privilegierten sozioökonomischen Bedingungen lebt. Es ist durch eine starke Bedeutung audiovisueller Kultur und Videokultur, aber auch der Schriftkultur gekennzeichnet. Das dritte kulturelle Umfeld war Valladolid, ein semi-urbanes Gebiet im Bundesstaat Yucatán, ungefähr 200 km entfernt von Mérida. Valladolid ist Teil einer Region, deren Gebräuche immer noch eine enge Beziehung zu den alten Maya-Traditionen erkennen ließen. Die in dieser Arbeit untersuchte soziale Gruppe in Valladolid lebte unter sozioökonomischen Bedingungen, die etwas über dem Durchschnitt Mexikos liegen; in Kapitel 7 wird näher darauf eingegangen. Dieser kulturelle Kontext ließ sich durch eine geringe Bedeutung audiovisueller Kultur und Schriftkultur kennzeichnen. Der Ort wurde ausgewählt, um zu untersuchen, in welchem Maße die Mythen und Legenden dieser alten Kulturzone immer noch für die derzeitige Bevölkerung von Bedeutung waren und auf welche Weise sie sich mit dem Gerücht über die Schlümpfe verflochten. Im sozioökonomisch marginalisierten städtischen Gebiet von Nezahualcoyotl und in der semi-urbanen Gegend von Valladolid gab es für die Kinder zum Zeitpunkt der Untersuchung aufgrund ihres familiären Milieus und auch in der Schule nur geringe Anreize zum Lesen und Schreiben, da Bücher und Bibliotheken nur schwer zugänglich waren und auch nur wenig Gelegenheit zum Lesen und Schreiben bestand. Dagegen fand sich unter den privilegierten sozioökonomischen Bedingungen im städtischen Wohnviertel von El Pedregal de San Angel eine ausgedehntere Schriftkultur. Bereits frühzeitig wurden die Kinder zur Lektüre und zum Schreiben angeregt. Bücher und Bibliotheken waren leicht zugänglich. Diese Situation hat sich in allen drei kulturellen Umfeldern bis heute (1995) nicht wesentlich geändert. Während in Nezahualcoyotl, dem marginalisierten städtischen Gebiet, die meisten Kinder zu Hause Radio und Fernsehen hatten, war dies in Valladolid, dem semi-urbanen Gebiet im Mayabereich, weniger der Fall. Im städtischen, sozioökonomisch privilegierten Gebiet von El Pedregal gab es in der Wohnung nicht nur mehrere Radio- und Fernsehgeräte, sondern ein kleiner Teil der Kinder besaß bereits Computer, Geräte für Videospiele und Videokassetten.

Kapitel 4

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In diesem Zusammenhang sind einige Bemerkungen über die in den letzten Jahrzehnten wachsende Bedeutung des Fernsehens in Mexiko erforderlich. Der erste Fernsehkanal in Mexiko-Stadt sendete ab 1950 und finanzierte sich Uber Werbung. 1983 konnten in Mexiko-Stadt vier Kanäle des privaten Fernsehkonsortiums Televisa, ein Kanal der staatlichen Gesellschaft Imevisión und ein Kanal, den eine Universität unterhielt, empfangen werden. Die Kanäle von Televisa hatten die höchsten Einschaltquoten. Jeder ihrer vier Kanäle sendete ungefähr 18 Stunden täglich für ein bestimmtes Segment der Bevölkerung. Kanal 2 sendete vorwiegend Nachrichtensendungen, "telenovelas" (Fernsehromane) 1 , Lach- und Spaßveranstaltungen und die Sportschau. Morgens war sein Programm auf ein weibliches Publikum und den Rest des Tages auf die Familie zugeschnitten. Kanal 4 strahlte mexikanische Filme aus und wandte sich an die unteren Schichten. Kanal 5 übertrug vor allem Serien und Sendungen aus den USA. Nachmittags sprach er besonders Kinder an und abends Erwachsene. Dieser Kanal wurde mehr von mittleren und hohen sozialen Schichten gewählt. Kanal 8 war der Kulturkanal der Televisa. Er besaß ein geringes Budget und geringe Einschaltquoten. Insgesamt strahlte 1983 das mexikanische Fernsehen in der Woche 71 Stunden Programm für Kinder aus, davon 30 Stunden über Kanal 5, der gute Einschaltquoten hatte. In Ferienzeiten sendete Kanal 5 im Durchschnitt 55 Stunden Kinderprogramm wöchentlich und 98 % dieser Sendungen kamen aus den USA. Televisa ist das bedeutendste Kulturkonsortium Lateinamerikas und hat sich über ganz Lateinamerika und den Süden der USA ausgebreitet. Es verlegt u.a. Zeitschriften, Bücher, Comics und Schallplatten, unterhält zahlreiche Fernseh- und Radiostationen und verkauft seine Produktionen erfolgreich weltweit. In Valladolid konnte man 4 Fernsehkanäle empfangen. Zwei davon gehörten Televisa und wiederholten Teile der in der Hauptstadt über Kanal 2, 4 und 5 ausgestrahlten Sendungen. Ein Kanal arbeitete 18 Stunden wie in MexikoStadt, der andere 6 Stunden täglich. Der dritte Kanal in Valladolid gehörte der staatlichen Imevisión und wiederholte vor allem das Programm des Kanals 13 in der Hauptstadt. In der Nähe von Valladolid befand sich eine öffentliche Station der Televisión Rural Mexicana, die 18 Stunden täglich Bildungs- und Schulprogramme unterstützte, aber auch kulturelle Sendungen

Hierbei handelt es sich um melodramatische Fernsehserien in Fortsetzungen, die täglich ausgestrahlt wurden. In Kanal 2 liefen mehrere "telenovelas" mit einer Zeitdauer von 30 bis 60 Minuten; in der Woche waren es 28 Stunden, immer unterbrochen durch viel Werbung.

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ausstrahlte. Die Kanäle von Televisa hatten die höchsten Einschaltquoten. Ein kleiner Teil der in der Hauptstadt über Kanal 5 gesendeten Kinderprogramme aus den USA wurden auch in Valladolid gesendet. Darunter befand sich auch die Serie Los Pitufos. Für diese Untersuchung wurden verschiedene Arten von Schulen ausgesucht, die sich durch bestimmte pädagogische Konzeptionen oder - unter einem allgemeineren Blickwinkel betrachtet - durch besondere Sozialisierungsperspektiven kennzeichnen ließen. Die so ausgewählten Schultypen befanden sich jeweils im Einklang mit den entsprechenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten sowie den kulturellen Normen der verschiedenen kulturellen Kontexte Mexikos. Diese Arten von Schulen erschienen auch als ein angemessener Indikator fiir die sozialen Gruppen, die ich untersuchen wollte. Diese Schulen bildeten einen natürlichen Raum fiir das Zusammentreffen einer Gruppe von Kindern unter möglichst homogenen sozialen Bedingungen. b. In den in die Untersuchung einbezogenen Schulen wurden Gruppeninterviews mit den Kindern der vierten und sechsten Klasse der Grundschule aufgezeichnet. Dadurch sollte - neben anderen Faktoren - untersucht werden, was unter Kindern untereinander diskutiert wurde, welche Versionen des Gerüchtes sie sich erzählten, was ihnen dabei hervorhebenswert erschien, mit welchen anderen Tatbeständen sie das Gerücht assoziierten und welche Stimmung des Interesses und des Glaubwürdigen sich dabei einstellte. Mir erschien wichtig, daß es sich um Gruppenbefragungen handelte. Dadurch wurde ein kollektiver Prozeß in Gang gesetzt, der den Umständen der Ausarbeitung und Verbreitung eines Gerüchts stark ähnelt. Obschon meine Anwesenheit als Interviewerin eine Abwandlung der natürlichen Dynamik der Produktion und Übertragung des Gerüchts bedeutete, bildete diese Variable doch eine Konstante in allen durchgeführten Interviews. Die unterschiedlichen Reaktionen auf diese Anwesenheit werden im Rahmen eines generellen Vergleichs der Befragungsergebnisse berücksichtigt. Im Hinblick auf die Wahl von Alter und Schulklasse der zu befragenden Kinder wurden eine Reihe von Pilotinterviews in einer Schule mit Kindern aus dem Mittelstand durchgeführt. Es wurden Kinder der zweiten, vierten, sechsten und achten Klasse der Grundschule befragt. Die Kinder der zweiten Klasse kannten das Gerücht und es begeisterte sie, darüber zu sprechen. Sie hatten jedoch Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen und eine gemeinsame Diskussion in Gang zu bringen. Die Kinder der vierten Klasse wußten über das Gerücht besser Bescheid als diejenigen der 2. Klasse, auch sie begeisterte es, sie konnten sich aber besser erklären und waren auch in der Lage,

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eine gemeinsame Diskussion zu führen. Letzteres gelang auch in der sechsten Klasse. Diese Kinder zeigten jedoch nicht das gleiche Interesse für das Gerücht wie diejenigen der zweiten und vierten Klasse. Obwohl sie davon gehört hatten, nahmen sie eine eher kritische Haltung dazu ein. Die Kinder der 8. Klasse wußten über das Gerücht weniger Bescheid, darüber zu sprechen interessierte sie nicht und sie machten sich darüber lustig. Aufgrund ihrer Fähigkeit, sich mündlich auszudrücken, ihres Interesses und ihrer besseren Kenntnis der Thematik wurden die Kinder der vierten und sechsten Klasse der Grundschule für die Interviews ausgesucht. Die Kinder der sechsten Klasse sollten auch schriftlich befragt werden, da sie unter den über das Gerücht informierten Kindern diejenigen waren, die sich schriftlich besser ausdrücken konnten. c. Zur besseren Kennzeichnung der unterschiedlichen kulturellen Kontexte dienten Fragebogen, die an die Schulleitungen gerichtet waren sowie an bestimmte Informanten, die sowohl die Schule als auch das kulturelle Milieu der sie besuchenden Kinder kannten. d. Die Kenntnis über den diskursiven Kontext der Kinder in den Gebieten, in denen die Gruppeninterviews durchgeführt wurden, wurde mit Hilfe verschiedener diskursiver Analysen gewonnen. Im Einzelnen handelt es sich um -

mündliche Erzählungen des jeweiligen Untersuchungsgebiets,

-

Bücher, Zeitschriften und Comics, die die Kinder lasen oder nur sahen und

-

Kinofilme und Fernsehsendungen in der Gegend von Mexiko-Stadt und Valladolid zur Zeit der Verbreitung des Gerüchtes über die Schlümpfe.

e. Außerdem wurde eine Analyse der Sendungen über die Schlümpfe vorgenommen, um auf diese Weise die von den verschiedenen Kindergruppen in den Gruppeninterviews aufgegriffenen Elemente der Sendungen erkennen zu können. Dies sollte auch ermöglichen, unterschiedliche Interpretationen oder Aneignungsprozesse herauszuarbeiten.

4.2

Der Ablauf der Vorstellung in den Schulen

In jeder der Schulen stellte ich mich der Schulleitung und den Lehrern als Dozentin der Universidad Autónoma Metropolitana in Mexiko-Stadt vor. Ich erläuterte, daß ich eine Untersuchung über das Gerücht von den Schlümpfen durchführte, legte dabei die kulturelle Dimension der Untersuchung dar sowie ihre Bedeutung für das Verständnis, wie Kinder die Botschaften des Fernsehens verarbeiteten.

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Die Reaktion der Schulleitungen gegenüber meinem Anliegen, ihre Schüler zu interviewen, war in den kulturellen Kontexten unterschiedlich, da j e d e Schule eine unterschiedlich festgelegte Zeitordnung hatte und ihr eine unterschiedliche Bedeutung zumaß. Dieser Umstand wird in den Vergleich der Befragungsergebnisse in den verschiedenen kulturellen Kontexten einbezogen. Im "Colegio Peterson" in El Pedregal de San Angel mit Kindern von Unternehmern, Staatsbediensteten und Politikern höherer Ebenen bat mich die Leitung, bestimmte Termine einzuhalten, um eine Unterbrechung der Tätigkeiten der Kinder zu vermeiden. In Nezahualcoyotl dagegen wurde mir für den selben Tag, an dem ich um einen Termin nachsuchte, dieser bewilligt. Da die Lehrerin der vierten Klasse fehlte, war es für die Schulleitung sehr nützlich, daß sich jemand mit den Kindern befaßte. Was die sechste Klasse betraf, so wurde ich gebeten, zu warten und die Befragung in der Pause durchzuführen. Die Schulleitung oder ihre Stellvertreter stellten mich den Klassenlehrern vor und diese ihrerseits den Kindern. Ich bat die Klassenlehrer, mich nur mit meinem Namen vorzustellen und den Kindern zu sagen, daß ich mich mit ihnen unterhalten wolle. Außerdem bat ich die Lehrerin, während des Interviews nicht anwesend zu sein, da dies den Rahmen verändere und das Interview von den Kindern möglicherweise als eine zu benotende Übungsaufgabe betrachtet werden könnte.

4.3

Allgemeine Bedingungen der schriftlichen Einzelbefragungen

Unmittelbar nachdem ich durch die Lehrerin den Kindern der sechsten Klasse vorgestellt worden war, legte ich dar, daß es mich interessierte zu wissen, was sie über die Schlumpfpuppen wüßten. Ich bat sie darum, das, was sie wüßten, mir auf einem Blatt Papier aufzuschreiben und forderte sie dazu auf, sich danach über das Geschriebene zu unterhalten. Dies bezweckte, den Anteil der Kinder festzustellen, die das Gerücht kannten, ihre individuelle, schriftliche Version des Gerüchts kennenzulernen, um diese mit den mündlichen Versionen des Gruppeninterviews vergleichen zu können. Dies würde es erlauben, ihre mündliche Kultur mit ihrer Schriftkultur in Verbindung zu bringen. Die Kinder nahmen dann Papier und Bleistift und ich bat sie, ihren Namen auf das Blatt zu setzen, falls sie dies wollten; wollten sie es nicht, mache dies jedoch nichts aus. Hierbei ging es nur darum, daß diese Übung von den Kindern nicht als eine Prüfiingsaufgabe angesehen wurde. Sollte es ihnen peinlich sein, sich über das Gerücht zu äußern - mir war bekannt, daß Kinder der Oberschicht dem Gerücht kritisch gegenüberstanden wagten sie dadurch möglicherweise mehr zu schreiben. Sie schrieben das, was sie wußten, einfach auf, setzten ihr Alter und

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Geschlecht sowie den Namen der Schule auf das Papier und, wer wollte, auch seinen eigenen Namen. An die Kinder richtete ich folgende Fragen: Was wißt ihr von den Schlumpfpuppen? Was habt ihr von den Schlumpfpuppen gehört? Diese Formulierungen waren bewußt gewählt, um die jeweiligen Versionen des Gerüchts auf indirekte Weise und ohne eine Wertung meinerseits zu erfragen. Außerdem sollte vermieden werden, daß die Kinder sich über die Sendungen anstatt über die Schlumpfpuppen äußerten.

4.4

Allgemeine Bedingungen der mündlichen Gruppenbefragung

Der von der Befragenden bei den Interviews eingeführte einheitliche Rahmen war von großer Bedeutung. Dies erlaubte später, die Abwandlung dieses Rahmens in den verschiedenen Interviews innerhalb der Darstellung der Befragungsergebnisse zu erörtern. Das Gruppeninterview wurde in einer Pause durchgeführt und nur die interessierten Kinder, im allgemeinen zwischen 7 und 13 Schüler, nahmen teil. Bei allen Interviews wurde ich von einer Assistentin begleitet, die bestimmte Aspekte der Gruppendynamik und der Körpersprache der Kinder aufzeichnete. Die Stühle wurden entweder im Klassenzimmer so umgestellt, daß sie einen Kreis bildeten, oder wir setzten uns auf den Boden, um näher bei den Kindern zu sein. Dadurch wurde ermöglicht, daß die Kinder sich miteinander unterhielten und die typische Unterrichtsstruktur durchbrochen wurde. Ich legte dar, daß die Unterhaltung aufgezeichnet würde, setzte das Tonbandgerät in die Mitte und fuhr fort, sie zu fragen, was sie von den Schlumpfpuppen wüßten. Ab diesem Moment begannen sie zu antworten. Es gab eine Reihe von Fragen, die den Rahmen meines Interviews bildeten und dann von mir stets in unveränderter Weise gestellt wurden, und andere, die sich aus der konkreten Situation ergaben, was die Kinder sagten. Bei den ersteren handelte es sich um Fragen wie: Was wißt ihr von den Schlumpfpuppen? Womit verbindet ihr das, was ihr von den Schlumpfpuppen gehört habt? Habt ihr Schlumpfpuppen oder andere Schlumpfartikel? Kennt ihr andere Leute, die Schlumpfgegenstände haben? Was haben sie mit diesen Puppen oder Gegenständen gemacht? Wissen eure Eltern hiervon? Was denken sie darüber? Wo habt Ihr dies gehört? Wer hat Euch dies erzählt? Mit der Frage "Was wißt ihr von den Schlumpfpuppen?" war - ebenso wie in der schriftlichen Befragung - beabsichtigt, in jedem der kulturellen Kontexte die jeweiligen Versionen des Gerüchts über die Schlumpfpuppen auf indirekte Weise und ohne Wertung meinerseits zu erfragen. In manchen Fällen erwies es sich als

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notwendig klarzustellen, daß es darum ging, was sie von den Schlumpfpuppen wußten und nicht von den Personen oder Figuren der Fernsehsendungen. Dies war vor allem dann der Fall, wenn die Kinder das Gerücht nicht kannten. Die genannte Frage mußte mitunter in mehrere aufgeteilt werden: Was habt ihr gerade gesagt? Was hast du darüber gehört? In diesem Fall wurde die Frage an einen oder mehrere der Teilnehmer gerichtet. Sie sollte die Beteiligung der Gruppe anregen, wenn diese nachgelassen hatte, oder sie in Gang bringen, falls die vorhergehende Frage nur die Antwort eines einzigen Kindes bewirkt hatte. Mit der Frage, womit sie das von den Schlumpfpuppen Gehörte verbänden, wurde beabsichtigt, das Assoziationsfeld oder die Reihe von Erzählungen zu erfahren, die mit den Versionen des Gerüchtes über die Schlumpfpuppen in Verbindung gebracht wurden. Tatsächlich mußte diese Frage selten gestellt werden, da die Kinder oft aus freien Stücken eine Verbindung zwischen dem Gerücht und anderen Diskursen herstellten, unabhängig davon, ob sie diesen auch zugleich Glaubwürdigkeit beimaßen. Die Frage nach dem Besitz von Schlumpfpuppen bezweckte zum einen herauszubekommen, ob die Kinder selbst Angst hatten, diese Puppen zu besitzen, nachdem darüber gesprochen worden war, daß der Besitz eines Schlumpfartikels verhängnisvolle Folgen haben könne. Zum anderen zielten sie darauf ab, die Art der Beziehung aufzudecken, die die Kinder zwischen ihren eigenen Aussagen und Erzählungen über Leute herstellten, die Angst gehabt und sich ihrer Schlumpfobjekte zu entledigen gewünscht hatten aus der Furcht heraus, daß ihnen sonst Unheil geschehe. Falls diese Fragen nicht dazu führten, das Gewünschte zu ermitteln, wurden die Kinder direkt gefragt: Kennt ihr Leute, die Schlumpfartikel loswerden wollten? Um zu erfahren, was über diese Art Erzählungen in ihrer familiären Umgebung bekannt war und welche Meinung hierüber bestand, wurde gefragt, ob ihre Eltern davon wüßten und was diese darüber dächten. Mit der Absicht, die Informationsquellen zu ermitteln, die den Kindern als vertrauenswürdig erschienen, wurden sie gefragt, wo sie das Erzählte gehört und wer es ihnen berichtet habe.

4.5

Art der Teilnahme der Intervieweriii an der Gruppenbefragung

Es kam mir darauf an, bereits mit dem Dispositiv des Interviews und seinen Fragen und Antworten den Raum für eine Gruppenunterhaltung zu schaffen, wobei ich dem Gespräch, das die Kinder miteinander führten, zuhören könnte. Daher

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versuchte ich, die Beteiligung der Gruppe soweit als möglich anzuregen und meine Person auszublenden. Dieser Vorgang nahm in jedem kulturellen Kontext spezielle Formen an und wurde in Übereinstimmung mit dem Interesse, der Gruppendynamik und der Rolle, die mir die Kinder im Rahmen des Interviews zuordneten, durchgeführt. Während des Interviews gab es meinerseits eine Reihe von einheitlichen Formen der Teilnahme. Da ich das Gespräch anregen wollte, tendierte mein Verhalten sowohl verbal als auch in der Körpersprache dazu, "phatisch" zu sein. Ich bemühte mich immer, die Sprechenden anzusehen und zu zeigen, daß ich ihnen zuhörte und der Unterhaltung folgte. Auf der verbalen Ebene warf ich einsilbige Ausdrücke wie "Mmh" und "Ah" ein; auch wiederholte ich mitunter das von einem Kind zuletzt Gesagte, um über das Aufgreifen der Formulierungen zu erfahren, ob dies bei anderen Kindern erneut die Unterhaltung oder bestimmte Assoziationen anregte. Wenn die Kinder sich miteinander unterhielten und begeistert waren, verstummte ich völlig, um die Rolle der Interviewerin möglichst völlig auszuschalten. Das Schweigen der Kinder wurde von mir unterschiedlich interpretiert. Wenn eine Stille entstand, nachdem auf eine meiner Fragen nur ein oder zwei Kinder geantwortet hatten, ging ich dazu Uber, die Frage an ein anderes Kind zu richten, das bislang noch nicht gesprochen hatte. Ich griff die Äußerung eines Kindes auf, um zu sehen, ob dadurch vielleicht eine weitere Antwort oder Unterhaltung zwischen ihnen hervorgerufen würde. Wenn die Kinder schwiegen, nachdem sie eine meiner Fragen beantwortet hatten, und niemand den Eindruck erweckte, sich weiter über das Thema verbreiten zu wollen, ging ich davon aus, daß die zuvor gestellte Frage beantwortet sei, und stellte die nächste. Die oben dargelegten grundlegenden und strukturierenden Fragen des Interviews wurden daher nur gestellt, wenn ich bemerkte, daß die allgemeine Aufmerksamkeit nachließ und die Kinder dem Gespräch nicht mehr zuhörten. Wenn ich etwas nicht verstand, fragte ich die Kinder nach der Bedeutung und bat sie um Erläuterungen. Im allgemeinen wartete ich mit der Bitte um Erklärung, bis sie das Gespräch über ein Thema abgeschlossen hatten. Wenn ich jedoch von der Unterhaltung überhaupt nichts verstand, unterbrach ich sie bereits vorher. Für den Fall, daß die Kinder sich um das Wort stritten und das Problem sich nicht auf "natürliche" Weise löste, d.h. gemäß der ihnen eigenen Gruppendynamik, sie mich vielmehr baten, daß ich eingriffe, so übernahm ich für kurze Zeit die Rolle der Moderatorin. Hierbei bevorzugte ich Kinder, die sich bislang noch nicht hatten äußern können.

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Bei nur geringer Beteiligung richtete ich direkt Fragen an mehrere der Kinder, die sich nur wenig beteiligt hatten. Sprachen mehrere Kinder gleichzeitig, bat ich sie darum, daß sie sich nacheinander äußerten, damit ihre Worte auch gehört werden könnten. Wenn sie sehr leise sprachen, bat ich darum, lauter zu sprechen, um von den anderen verstanden zu werden.

4.6

Überlegungen zum Rahmen der Gruppeninterviews

Es erscheint mir von Bedeutung, einige Überlegungen über die Regeln und Normen anzustellen, die den Rahmen betrafen, den ich bei der Durchfuhrung der Interviews vorschlug. In allen Schulen stellte ich mich innerhalb des Bereichs der Schule und der Klasse vor, bat darum, die Kinder einen Text über unübliche Themen schreiben zu lassen und sie dazu befragen zu können, und zeichnete dies auf. Dieser allgemeine Rahmen hat in den verschiedenen kulturellen Umfeldern eine unterschiedliche Bedeutung, wie die Reaktionen der Kinder zeigten. Zunächst ist hervorzuheben, daß nicht jede beliebige Person in den Schulbereich bis in das Klassenzimmer eindringen kann, ohne daß die Lehrerin anwesend ist. Die Kinder sind den Besuch anderer Lehrer, der Leitung oder der Schulaufsicht gewohnt, die die Berechtigung zum Betreten des Schulbereichs besitzen. Von geringfügigen Unterschieden in den verschiedenen kulturellen Umfeldern abgesehen kann aber verallgemeinert werden, daß diejenigen den Schulbereich betreten dürfen, die mit der Lehre zu tun haben. Die Tatsache, daß ich in diesen Bereich eindringen konnte, stellte mich notwendigerweise mit Personen der Schulhierarchie gleich. Im Gegensatz hierzu verhielt ich mich jedoch nicht wie eine Lehrerin, da ich versuchte, soweit wie möglich das typische Interaktionsschema einer Klasse aufzubrechen, demzufolge der Lehrer redet und das Kind zuhören muß. Indem ich mich in die Rolle der Interviewerin versetzte, ließ ich die Kinder eine höhere Stelle als sonst in der Schule üblich einnehmen und versetzte mich auf ihr Niveau. Hinzu kam noch, daß ich sie bat, sich über ein Thema zu unterhalten - die Schlumpfpuppen und alles, was sie damit assoziieren könnten - , über das üblicherweise nicht im Klassenzimmer gesprochen wird, es sei denn in den Pausen außerhalb des Unterrichts. Dies mußte notwendigerweise als ein Hinweis auf die ungewöhnliche Wichtigkeit des Themas innerhalb des Rahmens der Schule verstanden werden. Weiter kam hinzu, daß ich mich mit einem Tonbandgerät vorstellte, das normalerweise zum Musikhören dient oder aber zur Aufzeichnung der Aussagen von Politikern, Künstlern bzw. generell irgendwelcher Personen, die interviewt wer-

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den, um ihre Meinung in Zeitschriften, im Fernsehen und im Radio wiederzugeben. Da es nur üblich ist, die Aussagen von Personen mit öffentlichem Ansehen aufzuzeichnen, konnte die Aufzeichnung der Meinung der Kinder als Ausdruck hoher Wertschätzung ihrer Ansichten interpretiert werden. Daher fühlten sich einige der Kinder zunächst als Künstler, andere wiederum waren befangen. Diese Reaktion verflüchtigte sich jedoch in dem Maße, wie die Kinder immer mehr in der Gruppenunterhaltung aufgingen und aktiv daran teilnahmen. Im Gegensatz hierzu steht jedoch, daß ich immer die Funktion der Koordinatorin des Interviews beibehielt, indem ich mir erlaubte, sie zu fragen und ihnen bestimmte Regeln der Interaktion während des Interviews vorzugeben. Dies ließ mich offensichtlich eine den Kindern übergeordnete Stellung einnehmen, obgleich nicht notwendigerweise diejenige der Lehrerin, sondern möglicherweise diejenige einer Journalistin, eine ihnen durch das Fernsehen bekannte Rolle.

4.7

Das Interview als Dispositiv der Gruppenproduktion mündlicher Erzählungen

Den Ausgangspunkt bildete die Vorstellung, daß sich im Rahmen des Interviews ein Interaktionsraum herausbildete, für den unterschiedliche Arten von Regeln galten. Diese Regeln bestanden aus dem institutionellen Rahmen der Schule mit den ihm eigenen sozialen Konventionen, den von der Interviewerin eingeführten Regeln sowie solchen, die im Augenblick der Interaktion entstanden und mit der Gruppendynamik der Kinder und der Dynamik der Interviewerin selbst zu tun hatten. Der institutionelle Rahmen der Schule bestimmte einige allgemeine, für alle Schulen geltende Regeln. Jede einzelne Schule besaß jedoch auch, worauf bereits oben hingewiesen wurde, spezielle Regeln des Funktionierens. Die Interviewerin ihrerseits versuchte, einen Rahmen mit einer Reihe von Spielregeln für das Interview innerhalb des Schulbereichs einzuführen. Da die Regeln jeder einzelnen Schule und die Gruppendynamik innerhalb der Kinder Besonderheiten aufwiesen, bildete sich immer ein besonderer Interaktionsraum heraus, vor dessen Hintergrund die Interviewerin auf eigene Weise reagierte. Aufgrund dieser Ausführungen läßt sich sagen, daß es sowohl eine Ebene gab, innerhalb derer der von der Interviewerin gesetzte Rahmen in allen Interviews feststand, als auch eine Ebene, innerhalb derer eine Reihe von Variationen vorhanden waren, die das Ergebnis der Entwicklung des Interviews selbst waren. Dies in Rechnung zu stellen, ermöglicht das Verständnis des Prozesses der Herausbildung der unterschiedlichen Rollen der Teilnehmer der Interviews, der Interviewerin selbst sowie der Mädchen und der Jungen. Dies wiederum läßt sei-

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nerseits verstehen, wie sich der Spielraum des Interviews definierte und ständig umdefinierte, nämlich, was gesagt und getan werden kann, muß oder nicht darf. Die Auseinandersetzung um die Gestaltung des Spielraums des Interviews und der unterschiedlichen, den Teilnehmern zugewiesenen Rollen ist permanent. Darauf wurde bereits in Kapitel 2 hingewiesen, im Zusammenhang mit der Darstellung der Überlegungen von Goffman (1974) zur Dimension der Macht bei verbalen Interaktionen.

4.S

Grenzen bei der Durchführung der Interviews

Diese explizite Darstellung des Rahmens des Interviews soll keinesfalls den Eindruck erwecken, als sei meine Teilnahme völlig kontrolliert oder geplant gewesen. Zwar bestanden allgemeine Vorstellungen über das Vorhaben und seinen Rahmen, aber ein Teil davon war der Improvisation unterworfen und Ergebnis der unterschiedlichen Interaktion zwischen den Kindern des jeweiligen kulturellen Kontextes und mir. Einige dieser Interventionen wurden analysiert; dies wird beim Vergleich der Ergebnisse der Gruppeninterviews berücksichtigt. Es gibt auch gewisse Aspekte der Teilnahme, die sich erst bei der Analyse der Tonbandaufnahmen und ihrer schriftlichen Aufzeichnungen herausstellten. Nicht zuletzt waren auch die Anmerkungen meiner Assistentin über die Interviews sehr hilfreich.

4.9

Erstellung der Fragebögen und ihre Beantwortung durch die Schulleitung und die Informanten

Die Schulleitungen sowie Informanten, die nicht nur über das schulische Umfeld Bescheid wußten, sondern sich auch im kulturellen Milieu der sie besuchenden Kinder auskannten, erhielten Fragebogen. Mit ihrer Hilfe sollte eine genauere Kenntnis der sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen der Umgebung der Kinder sowie ihrer alltäglichen Gewohnheiten gewonnen werden, wobei es von besonderer Bedeutung war, ihre spezielle Zeitaufteilung, die mit dem physisch-räumlichen Umfeld verbundenen Möglichkeiten sowie auch ihre mündliche Kultur im Verhältnis zur schriftlichen und audiovisuellen kennenzulernen. Dabei wurde etwa gefragt, ob die Eltern einen Beruf hatten und wofür sie ihre Zeit verwandten. Dadurch sollten die sozioökonomischen und kulturellen Möglichkeiten der Familien in Erfahrung gebracht werden, wie z.B. die Möglichkeit des Zugangs der Kinder zu bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten, ob das Kind bei der Hausarbeit oder der Arbeit eines Elternteils mithalf, bestimmte Treffpunkte aufsuchte.

Kapitel 4

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Da es von Interesse war, die unterschiedlichen alltäglichen Gewohnheiten der Kinder kennenzulernen, wurden eine Reihe von Fragen entworfen, die sich auf ihre unterschiedliche Zeitaufteilung bezogen. Dabei wurde nach den Tätigkeiten am Nachmittag, während der Woche, am Wochenende und in den Ferien gefragt. In Bezug auf das physisch-räumliche Umfeld, in dem die Kinder sich bewegten und einander trafen, wurde nach der Art des Stadtteils, in dem sie wohnten, gefragt, sowie nach dem Haustyp, nach der Anzahl der Zimmer, danach, ob die Kinder möglicherweise ein Zimmer für sich allein besaßen oder aber es mit jemand teilen mußten. Es bedeutet nicht dasselbe, in einem Hochhaus zu wohnen oder aber in einem gehobenen Wohnviertel, in dem die Häuser meist durch Mauern von drei Metern Höhe gegen Einbruch geschützt werden, mit Polizisten am Eingang des Wohnviertels und wo die öffentlichen Verkehrsmittel nur von Hausangestellten benutzt werden. Wiederum anders ist das Wohnen in "vecindades", in denen Zimmer an Zimmer in einem langen Hof aneinandergereiht sind und jede Familie sich eines dieser Zimmer teilt. Wieder anders war die Situation in einer kleinen Stadt mit kleinen Häusern, in der es Ein- oder Mehrfamilienhäuser gibt und das Kind überall hingehen kann, ohne Angst haben zu müssen, und dabei nicht von den Eltern abhängig ist. Im Zusammenhang mit der Raumüberwindung war es von Interesse zu erfahren, ob die Familie ein Auto oder mehrere besaß, und ob ein Telefon vorhanden war. Der Besitz eines Autos bedeutet die Möglichkeiten des Kindes, andere Orte innerhalb oder außerhalb der Stadt zu erreichen und damit evtl. Nachmittagsunterricht zu nehmen, Freunde oder Verwandte zu besuchen. Der Zugang zu einem Telefon trägt dazu bei, daß die Kinder eine Form der mündlichen Interaktion mit entfernt wohnenden Verwandten und Freunden entwickeln. Die Tendenz dieser Art des mündlichen Austausches bei körperlicher Abwesenheit ist in der Megalopolis Mexiko-Stadt häufiger als in der Kleinstadt Valladolid. Von Interesse war es auch, die Anzahl der Familienmitglieder zu erfahren sowie die durchschnittliche Anzahl der Kinder pro Familie, ob andere Verwandte zusammen mit den interviewten Kindern wohnten und mit wieviel Personen die Kinder ihr Zimmer teilten. Weiter wurde danach gefragt, ob Hausangestellte beschäftigt waren (Putz- und Kochhilfen, Kindermädchen, Chauffeure, etc.), um die Art der Familienhierarchie zu erfahren, in der die Kinder nicht nur gehorchen, sondern auch befehlen lernten. Große Bedeutung wurde der Kenntnis individualistischer Verhaltensweisen der Kinder zugemessen. Gleiches galt für die Kenntnis der Interaktionsmuster, die für die Beziehungen der Kinder zu den Erwachsenen und untereinander sowohl in der Schule als auch zu Hause bestimmend waren. Es wurde angenommen, daß

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dies einen wichtigen Teil der kulturellen Normen jedes kulturellen Umfeldes bildete. Die Anwesenheit von Hausangestellten ist aus einem weiteren Grund von Bedeutung. Im allgemeinen gehören sie einer anderen sozialen Schicht oder aber einem anderen kulturellen Umfeld als die Familie selbst an, bei der sie arbeiten; oft kommen sie aus ländlichen Gebieten. Die Kinder bauen Beziehungen zu ihnen auf und entwickeln eine andere Art von Erfahrungen. Da viele der Hausangestellten sich mit den Kindern der Familie beschäftigen, lernen die Kinder Legenden und andere mündliche Traditionen aus Gegenden und sozialen Schichten kennen, mit denen sie sonst wenig Kontakt hätten. Diese Erzählungen sind bei den Eltern der Kinder nicht immer gern gesehen, obgleich sie den Kindern gefallen und ihnen Spaß machen. Die Kinder selbst schätzen mitunter diese Geschichten gering ein oder äußern sich überhaupt nicht darüber, wenn dies kein Prestige vermittelt. Gleichfalls wurde nach Terminen und besonderen Zeitpunkten gefragt, die die verbale Interaktion begünstigten, sei es unter den Kindern, sei es zwischen Kindern und Erwachsenen. Auch wurde ermittelt, ob es physische Orte in den Wohnvierteln gebe, in denen die Kinder lebten, die die verbale und mündliche Interaktion förderten, wie etwa Parks, Marktplätze, Zentren für Zusammenkünfte, Clubs. Weiter wurde in Erfahrung gebracht, ob es örtliche mündliche Erzählungen gebe, die in ihrem sozialen Umfeld kursierten. Es war wichtig, sowohl ihren Inhalt zu kennen wie auch die Faktoren, die dazu beitrugen, die speziellen Eigenarten der verbalen Interaktionsrituale in jedem kulturellen Umfeld zu untersuchen. Dies sollte zum Verständnis der speziellen Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe und ihrer Assoziationen beitragen. Um die Schriftkultur der Kinder kennenzulernen, wurde nach ihren Schreib- und Leseübungen in der Schule gefragt, nach den Schreib- und Lesegewohnheiten zu Hause, und zwar der Kinder selbst wie auch ihrer Eltern und Verwandten, mit denen sie täglich zusammenkamen. Außerdem wurde erfragt, zu welchem schriftlichen Material sie Zugang hatten. Ermittelt wurde, ob die Kinder außer den offiziellen Lehrbüchern der "Secretaría de Educación Pública", des Mexikanischen Erziehungsministeriums, auch andere Bücher läsen, das Vorhandensein einer Schulbücherei, von Büchern zu Hause und gegebenenfalls, welcher, sowie, ob sie Bücher kauften. Mit Bezug auf das Schreiben wurde nach der Art der Schreibübungen, schriftlichen Klassenarbeiten und Aufsätze in der Schule und als Hausaufgabe gefragt sowie, ob und auf welche Weise sie dies zur Ausarbeitung eigener Erzählungen anrege. Eine Reihe von Fragen bezog sich auf das System der Nonnen, die die Teilnahme der Kinder am Unterricht und das allgemeine Lehrsystem der Schule regelten.

Kapitel 4

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Was die audiovisuelle Kultur betraf, so wurde zunächst ermittelt, wieviele der Kinder einen oder mehrere Fernsehapparate zu Hause besaßen, den Ort, an dem die Fernsehgeräte aufgestellt waren, sowie die Rolle des Fernsehens bei der Zeitaufteilung im Alltag der Kinder. Deshalb wurde die Anzahl der Stunden erfragt, die die Kinder vor dem Fernsehgerät verbrachten und ob dies gemeinsam mit anderen Personen, Eltern, Geschwistern, Freunden, Nachbarn, Hausangestellten erfolge oder ob das Kind ein eigenes Fernsehgerät besitze. Auch wurde nach dem Besitz von Videorecorder und Geräten für Videospiele gefragt sowie, ob Kabelfernsehen vorhanden sei. All diese Fragen zielten darauf ab, die spezielle Art des Fernsehempfangs im jeweiligen kulturellen Umfeld in Erfahrung zu bringen. Außerdem wurde der Besitz von Radiogeräten erfragt und ob irgendwelche speziellen Sendungen gehört würden. Zudem wurde festgestellt, ob die Kinder üblicherweise das Kino besuchten, welche Filme sie sich ansahen, ob sie irgendwelche sonstigen Veranstaltungen wie z.B. Sportveranstaltungen besuchten und ob die Kinder Comics kauften. Eine Frage bezog sich auch darauf, ob die Kinder Berührung mit einer anderen Sprache hatten, da die Bevölkerung von Valladolid in einem Gebiet lebte, in dem sowohl Spanisch als auch Maya gesprochen wurde, wogegen in den Vierteln der Wohlhabenden in Mexiko-Stadt neben Spanisch auch das US-amerikanische Englisch vorkommt.

4.10 Leitgedanken der vergleichenden Analyse der schriftlichen Befragungen Als Basis der Analyse wurde zunächst die Anzahl der Kinder ermittelt, denen das Gerücht bekannt war. Dann wurden die unterschiedlichen, von den Kindern aufgeschriebenen Versionen des Gerüchts analysiert mit Bezug darauf, wie die Kinder individuell damit umgingen. Dies sollte dazu dienen, diese Versionen mit den während des Interviews vorgetragenen mündlichen Gruppenversionen zu vergleichen. Anschließend wurden die aufgeschriebenen Erzählungen der Gerüchteversionen im Hinblick auf die Schriftkompetenz der Kinder untersucht, um so die unterschiedliche Durchdringung der Schriftkultur in den verschiedenen kulturellen Umfeldern erfassen zu können. Diese Analyse beinhaltete verschiedene Aspekte. An erster Stelle wurde die Art und Weise untersucht, wie diese Übung von den verschiedenen Gruppen von Kindern in den unterschiedlichen kulturellen Umfeldern aufgefaßt wurde, und zwar sowohl anhand der expliziten Darlegungen wie auch mittels einer Analyse der impliziten Aussagen des schriftlichen Textes. Bezüglich des letzten Punktes

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wurde folgendes berücksichtigt: ob die Kinder zu den Gerüchteversionen Stellung bezogen haben; die Art und Weise, wie sie ihre Erzählung begannen, ob sie ihren Text etwa mit einer Überschrift versahen und ggf. mit welcher und auf welche Weise; ob sie sich auf Autoritäten als Quelle bezogen, um ihre Darlegungen zu begründen und ggf. auf welche; ob sie audiovisuelle Elemente in ihre Texte einfügten oder ob sie dies unterließen. An zweiter Stelle wurde in Betracht gezogen, wie die Kinder die Fläche des Papiers benutzten, auf dem sie schrieben. Hierbei ging es darum, die Art der Gestaltung und Strukturierung des Geschriebenen zu analysieren, etwa den Platz, den sie zwischen verschiedenen Buchstaben, Wörtern, Sätzen, Absätzen ließen oder nicht. Dies ist ein Ausdruck davon, was von den Kindern als Wort, Satz oder Absatz angesehen wird. Ich ging davon aus, daß dies von ihrer Vertrautheit mit dem Akt des Schreibens abhing, durch ihre Neigung zur Kommunikation im allgemeinen bedingt war wie auch durch bestimmte Regeln, die die Art des Schreibens in jedem kulturellen Umfeld bestimmen. Mit der Aufteilung der Papierfläche ist auch der Umgang mit der Zeichensetzung verbunden. Dabei wurde untersucht, welche Zeichen und wie die Kinder diese Zeichen verwendeten. Dabei wurde den Fällen Aufmerksamkeit geschenkt, in denen Kinder fortlaufend schrieben und dabei weder Punkt noch Komma setzten wie auch solchen, in denen sie sich als mit Anführungs-, Ausrufungszeichen und Fortsetzungszeichen vertraut erwiesen. Im Zusammenhang mit der Zeichensetzung wurde auch der Gebrauch von Großund Kleinbuchstaben zur Strukturierung von Sätzen und Absätzen berücksichtigt. Außerdem wurde die Beherrschung der Rechtschreiberegeln analysiert wie auch der Typ von Orthographiefehlern, die im jeweiligen kulturellen Umfeld häufig anzutreffen waren. Ferner wurde der Gebrauch der Kongruenzregeln zwischen Artikeln, Substantiven, Verben und Adjektiven bzgl. Anzahl und Geschlecht untersucht, um die Kenntnisse der Kinder im Hinblick auf die grammatikalischen Regeln des Spanischen zu erfassen. Bezüglich des syntaktischen Aspekts wurde untersucht, auf welche Weise die Kinder ihre Gedanken organisierten und ob eine Ordnung der Argumente Pro und Kontra dessen bestand, was sie über die Schlumpfpuppen schrieben. Es wurde auch untersucht, ob sie nur die üblichen Konjunktionen wie "und" sowie "daß" zur Verbindung von Sätzen gebrauchten - ein Merkmal der gesprochenen Sprache - oder aber, ob sie auch andere Arten von Konjunktionen verwendeten wie z.B. "obgleich", "jedoch", "trotz". Da der Gebrauch der adversativen Konjunktionen in der gesprochenen Sprache erst spät - wenn überhaupt - erworben wird, ließ sich hieran der Grad der

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Sprachbeherrschung der Kinder aufzeigen und ihre besondere Art, Texte zu strukturieren. Die Untersuchung der Klarheit der Schrift sollte in Erfahrung bringen, ob die Kinder sich in schriftlicher Form verständlich machen konnten und ob sie mit dem Akt des Schreibens vertraut waren. In diesem Teil der Untersuchung wurden Beispiele gesucht, die die Art des Schreibens der Kinder veranschaulichten und auch die Gerüchteversionen aufzeigten, die dem jeweiligen kulturellen Umfeld eigen waren. Schließlich wurde erforscht, ob in jedem kulturellen Umfeld ein typischer Wortschatz vorhanden war, der es ermöglichte, die Versionen des Gerüchts mit bestimmten Termini zu verbinden.

4.11. Leitgedanken zur Methodologie der Analyse und Interpretation der Gruppeninterviews Die Interviews wurden später aufgeschrieben. Dabei wurden die verwendeten speziellen Ausdrücke, die Pausen und andere besondere Formen der Sprechweise der Befragten berücksichtigt. In allen Gruppeninterviews wurden die gleichen Gesichtspunkte in Übereinstimmung mit den verschiedenen Untersuchungszielen analysiert. An erster Stelle wurden die verschiedenen Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe untersucht, die dem jeweiligen kulturellen Umfeld bekannt waren. Es wurde festgestellt, welche der Versionen die ganz spezielle darstellte, die die Welt von Erzählungen und Assoziationen aufzeigte, in die mich die Kinder während der Gruppeninterviews eingeführt hatten. Dabei stellte sich die Frage: Was wird als eine Version des Gerüchts verstanden? Wichtig erscheint hier, daß dies nicht als Ableitung aus einer gemeinsamen Matrix oder Originalerzählung aufgefaßt wird. Es gab stärker verbreitete Versionen, die in allen kulturellen Umfeldern produziert und verbreitet wurden, und solche, die nur in einem kulturellen Umfeld auftauchten. Eine sehr verbreitete Version des Gerüchts, die bei allen befragten Gruppen auftrat, war diejenige, daß sich ein Junge oder ein Mädchen allein mit einer Puppe in seinem Zimmer befindet. Diese schrammt, beißt, zerkratzt oder schlägt das Kind. Das Kind beklagt sich bei seiner Mutter. Diese schenkt ihm keine Beachtung. Später wird das Kind tot aufgefunden. Der Ort des Geschehens kann sich ändern. Das gleiche trifft für die Art und Weise des Mordes zu. Auch das jeweilige Spielzeug kann sich ändern. Oftmals ist es eine Puppe, bisweilen ein Poster, mitunter ein Abziehbild etc..

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Eine andere, einfachere und stärker verbreitete Version war diejenige, daß die Mutter das Haus verläßt. Das Kind bleibt mit der Puppe oder dem Poster allein. Bei Rückkehr der Mutter ist das Kind tot. Die Erzählung reduzierte sich auf eine knappe Version, die lediglich zum Ausdruck brachte, daß das Kind durch einen Schlumpf angegriffen wird. Die dargestellten Versionen bilden nicht das Modell, von dem die von mir in späteren Kapiteln dargelegten speziellen Versionen abgeleitet wurden. Sie waren das Ergebnis einer nachträglichen analytischen Rekonstruktion der Befragung, die es ermöglichte, in vielen Erzählungen gemeinsame Elemente zu erkennen. Da dies allein nicht genügte, war es erforderlich, das den Versionen tatsächlich Gemeinsame eingehender zu untersuchen und herauszufinden, ob in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zugleich auch spezifische Dimensionen und spezielle Formen auftreten. Den Schwerpunkt dieser Arbeit bildet nicht die Konstruktion eines Modells oder der Struktur einer Erzählung wie im Falle von formalistischen Analysen oder Studien der strukturalistischen Anthropologie Uber Erzählungen und Gerüchte. Vielmehr interessiert in meiner Untersuchung, wie bereits in Kapitel 1 aufgezeigt, die Dynamik der Variationen und Transformationen der mündlichen Erzählungen. Die speziellen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe des jeweiligen kulturellen Kontextes stellen einige der recht vielen Versionen dar, die ermittelt werden konnten. Sie wiesen das Merkmal auf, die kulturelle Welt der Kinder in diesem Umfeld zu veranschaulichen und mit den besonderen, dort kursierenden Erzählungen zu verbinden. Die speziellen Versionen stellen nicht auf natürliche Weise zum Vorschein kommende Wesensmerkmale eines kulturellen Umfeldes dar. Sie sind das Resultat einer Erarbeitung oder einer hermeneutischen Konstruktion. Als ich die verschiedenen Gruppenbefragungen abgeschlossen hatte, war mir noch nicht klar, welches diese Versionen seien. Die Tatsache, daß die speziellen Versionen kennzeichnend für ein bestimmtes kulturelles Umfeld sind, bedeutete nun nicht, daß sie nicht auch in anderen kulturellen Umfeldern auftauchen konnten. In der Tat traf dies auch zu. Es ermöglichte, das gemeinsam Glaubwürdige verschiedener kultureller Umfelder abzustekken. Das häufigere des Gerüchtes zweifellos die pen. Kapitel 8 zen kultureller

oder seltenere Auftreten der verschiedenen speziellen Versionen über die Schlümpfe in verschiedenen kulturellen Umfeldern zeigt unterschiedliche kulturelle Durchdringung der untersuchen Grupwird dies verdeutlichen, wenn es um die Problematik der TendenKonvergenz und Divergenz geht.

Kapitel 4

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Bei der Untersuchung der speziellen Versionen wurde die assoziative Welt oder der Komplex von Assoziationen analysiert im Hinblick auf die Häufigkeit ihrer Wiederholung oder, inwiefern sie eine besonders ausgeprägte Gruppenbeteiligung hervorriefen. Untersucht wurde auch die Herkunft dieses Komplexes von Assoziationen, ob er von mündlichen lokalen oder überregionalen Diskursen herrührte, ob er seinen Ursprung in schriftlichen Diskursen innerhalb oder außerhalb der Schule hatte oder aber von filmischen und/oder Fernsehdiskursen stammte. Was die speziellen Versionen betraf, so wurden hierbei die besonderen Termini und Äußerungen der jeweiligen Befragung analysiert. Auch wurden einige der besonderen Redeweisen untersucht. Dies verwies auf unterscheidende Regeln der Sprechweise wie auch auf gewisse Tonfalle, die den Diskurs "modalisierten", um so die Distanz zu dem Gesprochenen auszudrücken. Schließlich wurde auch die Körpersprache der Kinder beleuchtet, hauptsächlich aber die größere oder geringere körperliche Distanz zur Interviewerin und zwischen den Kindern. An nächster Stelle wurde die im Verlauf der Befragung aufkommende verbale Interaktionsform analysiert, um so den Rahmen der Kommunikation und der Gruppendynamik in Erfahrung zu bringen, innerhalb dessen die speziellen Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe entstanden. Dies bedeutete, folgendes zu berücksichtigen: -

die Rollen, die die Kinder der Interviewerin zuschrieben;

-

die speziellen Reaktionen der Interviewerin gegenüber den Befragten;

-

die Rollen, die die Kinder einander zuwiesen, sowie die Rollen, die sie dritten Personen beimaßen, und einige Festlegungen dieser Rollen (nach Geschlecht, ökonomischem Niveau, Religion, Alter, etc.);

-

die unterschiedlichen Regeln der Gruppenpartizipation während des Interviews;

-

die ausdrückliche oder stillschweigende Definition der Befragung wie auch der Tonbandaufzeichnung seitens der Befragten.

Die Befragung stellt eine Situation mündlicher Kommunikation dar, bei der die jeweiligen Umstände auch das von den Kindern Erzählte gestalten. Deshalb war es erforderlich, das physische und zeitliche Umfeld der Untersuchung zu analysieren wie auch die Art und Weise, in der die Gruppendynamik bei der Gestaltung der Erzählungen der Kinder mitgewirkt hat. Bei der Analyse der Gruppendynamik wurde zum einen der Typ meiner Teilnahme in Bezug zu derjenigen der Kinder berücksichtigt: ob z.B. während der Befragung häufig Fragen meinerseits erforderlich waren, um die Teilnahme anzuregen, was einen unterbrochenen Dialog bewirkte, oder ob es genügte, wenn ich

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wenig eingriff, und sich die Kinder in hohem Maße miteinander unterhielten. Zum anderen wurde die Gruppenstruktur der Kinder untersucht, ob es Gruppenfuhrer gab, wie deren Form des Eingreifens war, der Durchsetzung ihrer Meinung und die Art und Weise ihrer Interaktion mir gegenüber. Darüber hinaus wurde auch die Beziehung zwischen Mädchen und Jungen berücksichtigt wie auch ihre unterschiedlichen Interessen bezüglich der behandelten Themen und ihre mit speziellen Versionen des Gerüchts verbundenen Assoziationen. Die Analyse erstreckte sich auch auf Elemente des täglichen Lebens, die in die Erzählungen der Kinder einbezogen wurden, wie das physische und geographische Umfeld, in dem sie lebten, ihre speziellen Aktivitäten und die Art ihrer Zeitorganisation. Hinzu kamen auch Elemente, die mit ihren Besitztümern zu tun hatten, und solche, die einen Bezug zu speziellen Gegenständen und zu bestimmten Arten des Zusammenlebens im jeweiligen kulturellen Umfeld aufwiesen. Außerdem wurden auch die von den Kindern erwähnten Informationsquellen und Autoritätselemente in die Betrachtung einbezogen, die etwaige Herkunft der Diskurse oder diskursiven Elemente, die die Kinder mit bestimmten Versionen des Gerüchts assoziierten, das Prestige und die Glaubwürdigkeit, die sie den Quellen und den verschiedenen Diskursen zumaßen wie auch die Art und Weise, wie sie sie ggf. einordneten. Um die diskursive Organisation der Kinder zu analysieren, wurden bestimmte Punkte der Erzählung untersucht, in denen unterschiedliche Typen von Diskursen (mündliche, schriftliche, der Massenmedien) zusammenflössen; dabei wurde falls vorhanden - die vorherrschende Erzählstruktur untersucht. Dies wurde mittels einer Analyse von Personen, Aktionen, Zeit und Raum der Erzählungen durchgeführt. Die Befragungen boten Anlaß zur Reflexion über die Normen, die das kindliche Verhalten leiteten. Sie bildeten einen Rahmen, in dem die Kinder einige ihrer täglichen Sorgen erkennen ließen. Deshalb wurden einige der von den Kindern ausdrücklich oder stillschweigend formulierten Belehrungen herangezogen. Dadurch wurden unterschiedliche Arten mehr oder weniger systematisierten, zusammenhängenden Wissens erkannt, die in jedem kulturellen Umfeld als populäre Ratschläge, Empfehlungen, Verbote, etc. zirkulierten. Was die Sendefolge Die Schlümpfe betraf, so wurde hierbei die Beziehung untersucht, die die Kinder zwischen dieser und ihrer speziellen Version des Gerüchts herstellten. Es wurden auch die von den Kindern in den Befragungen hervorgehobenen einzelnen Sendungen, Personen und Konflikte der Schlümpfe und womit sie diese assoziierten untersucht. Schließlich wurde auch auf ihre Wertschätzung dieser Sendefolge eingegangen.

Kapitel 5

5

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DIE VERSIONEN DES GERÜCHTES ÜBER DIE SCHLÜMPFE IN NEZAHUALCOYOTL, ESTADO DE MEXICO

5.1

Das kulturelle Umfeld Nezahualcoyotls

5.1.1 Allgemeine Kennzeichnung Das heutige Nezahualcoyotl ist das Resultat vieler gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer und demografischer Faktoren. Die ökonomischen und demografischen Faktoren stehen in Zusammenhang mit der stürmischen Entwicklung von Mexiko-Stadt und der Landflucht, die Faktoren sozio-politischer Art dagegen mit den traditionellen Prozessen der Zentralisierung der Macht in der Hauptstadt Mexiko. Nezahualcoyotl liegt auf dem Gelände des trockengelegten Sees von Texcoco und stellte in den 40er Jahren eine Ansammlung von durch viele ungeregelte Landnahmen entstandenen Ansiedlungen dar. Die Bevölkerung stammte aus der Provinz, vor allem aus den an Mexiko-Stadt angrenzenden Bundesstaaten sowie aus den ärmeren Vierteln des Distrito Federal (Gebiet mit Sitz der Zentralregierung). In den 40er Jahren setzte in Mexiko der Prozeß der Industrialisierung ein. Das gesamte Gebiet der Hauptstadt entwickelte sich zum zentralen Anziehungspunkt für die Bevölkerung des Landes. Ohne eine Politik der Stadtplanung und -entwicklung begann Nezahualcoyotl völlig maßlos zu wachsen. Im Verlauf von 30 Jahren (1950-1980) erhöhte sich die Bevölkerung von anfangs 6.000 auf nunmehr 1.400.000 Einwohner um das 233fache. Im Jahre 1960 erreichte die Einwohnerversammlung des "Ex-Lago von Texcoco", daß dieses Gebiet nicht länger von der Gemeinde Chimalhuacän abhängig sein sollte. Man glaubte, so die Probleme der Verstädterung, der öffentlichen Dienste wie Trinkwasserversorgung, Abwasserentsorgung, Elektrifizierung, Straßenbefestigung, Legalisierung der Besitzverhältnisse sowie die Organisation des Schulwesens besser lösen zu können. Im Jahr 1963 wurde die Gemeinde Nezahualcoyotl gegründet. Damit wurde die Regelung der Besitzverhältnisse begonnen. Es wurde der Straßenbelag fertiggestellt und die wichtigsten Versorgungsnetze (Wasser, Strom, usw.) entstanden. Bis 1980 war dann die Bevölkerung auf ca 1.900.000 Menschen angewachsen, eine Stadt inmitten einer noch gigantischeren, der Stadt Mexiko, die damals einschließlich ihrer Peripherie ca. 14 Millionen Einwohnern aufwies, was 22 % der Bevölkerung des Landes Mexiko gleichkam (Garcia Luna, 1992; Negrete und Salazar, 1987). Im Gebiet der Untersuchung innerhalb Nezahualcoyotls, in der Nähe des am Rande der Gemeinde liegenden Abwasserkanals "Bordo de Xochiaca", fand man

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im Jahre 1983 eine Ansammlung von im Bau befindlichen Siedlungen mit einigen bereits befestigten breiten Zufahrtsstraßen, einigen halbbefestigten Straßen und anderen Straßen ohne jeden Belag. Die Umgebung bestand aus kleinen Häuschen, vielen Baustellen mit Rohbauten für Häuser mit einem oder zwei Zimmern, nur wenigen mehrstöckigen Gebäuden, Straßen und immer wieder Straßen, kleinen Märkten, Tortillerias 1 und ein paar kleinen Läden. An den Hauptstraßen befanden sich größere Gebäude, außerdem einige Kinos und zwei Arenen für Freistilringen. Auch waren einige katholische Kirchen, protestantische Gotteshäuser und solche neuer religiöser Sekten verstreut an den Straßen anzutreffen. 2 Nirgendwo war ein direkt sichtbares Zentrum zu finden, weder ein "Zöcalo" 3 , noch ein Einkaufsgebiet, nichts, was zur Strukturierung des physischen Raumes des Stadtviertels hätte dienen können. Als Begegnungsstätten dienten der Markt, die Tortillerias und für Männer und Kinder am Wochenende die Arenen für Freistilringen. Parks und Grünflächen fehlten praktisch völlig. Der nächste Park war der Wald von San Juan de Aragon, der sich außerhalb der Gemeindegrenzen befand und nur per Autobus zu erreichen war. Der "Bordo de Xochiaca", ein Abwasserkanal, dessen Bau auch die Zuwanderung in dieses Gebiet förderte, liegt am Rande von Nezahualcoyotl, fast an der Grenze zu Mexiko-Stadt. An seinen Ufern befanden sich bereits in den 80er Jahren einige der Müllkippen der Stadt, die bereits zu jener Zeit von den "pepenadores", den Müllsammlern, durchsucht wurden. Die Mehrzahl der Häuser in Nezahualcoyotl besaß zwei oder drei Zimmer. Recht üblich waren zunächst aus einem Zimmer bestehende Häuschen, an die im Laufe der Zeit angebaut wurde, weil sich inzwischen die ökonomische Situation der Eigentümer verbessert hatte, oder weil ein hinzugekommener Verwandter eine

Dies bezeichnet den Laden, in dem die Maisfladen hergestellt und verkauft werden. 2

Gemäß der Volkszählung von 1980 waren 9 4 % der Bevölkerung katholisch, 3 % waren protestantisch und ungefähr 1 % gehörte anderen Religionen an (INEGI, Censo General de Población y Vivienda de 1980, Instituto Nacional de Estadística, Geografía e Informática). Diese Anteile haben sich in den letzten Jahren geändert. Bereits 1983, als die Befragungen durchgeführt wurden, begannen sich vor allem in den Randgebieten der Stadt Mexiko und im Südosten des Landes protestantische Gotteshäuser und solche von aus den U S A stammenden neuen religiösen Sekten auszubreiten. Dabei ist daraufhinzuweisen, daß die Bezeichnung "Sekte" in dieser Arbeit nicht abwertend verwendet wird, sondern für die durch ihre kritische Einstellung den kirchlichen und zivilen Institutionen gegenüber gekennzeichneten religiösen Gruppen benutzt wird (Giménez, 1988).

3

Hierbei handelt es sich um die Bezeichnung für den Hauptplatz, an dem sich das Rathaus befindet.

Kapitel 5

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Bleibe brauchte. In einigen Fällen waren die zusätzlichen Räume auch für die Kinder bestimmt. Gemäß der Volkszählung von 1980 hatten in Nezahualcoyotl 38 % der Wohnstätten Dächer aus Wellpappe, Wellblech oder Asbest, 37 % der Wohnstätten besaßen den Wasser- und Kanalanschluß nicht im Haus, sondern in Höfen oder Eingängen; 42 % der Toiletten waren ohne Wasseranschluß. Von den Wohnstätten besaßen 29 % zwei Räume, 27 % lediglich einen Raum, so daß mehr als die Hälfte der Häuser (56 %) aus nicht mehr als zwei Räumen bestand. 17 % der Wohnstätten besaßen drei, 15 % vier Räume. Bezüglich der Schlafzimmer ergab sich, daß 46 % der Wohnstätten nur ein Schlafzimmer besaßen, 30 % zwei, und lediglich 15 % über drei Schlafzimmer verfügten. Bei 11 % der Wohnstätten hatte ein Raum zugleich die Funktion von Küche und Schlafzimmer. Die durchschnittliche Anzahl der Bewohner pro Wohnstätte betrug fünf Personen. Gemäß dem Informanten für dieses kulturelle Umfeld, und eigene Beobachtungen bestätigten dies, schlief das Kind üblicherweise entweder zusammen mit seinen Geschwistern und den Eltern in einem einzigen Zimmer oder aber nur zusammen mit seinen Geschwistern. Auch teilte in der Regel eine Großmutter die Wohnstätte mit der Familie. Die Familien hatten im Durchschnitt drei bis fünf Kinder. Die Toilette befand sich häufig im Hof. Einen Bestandteil des Stadtviertels dieses Gebietes bildeten bereits damals einige öffentliche Bäder in den Hauptstraßen, wie es in den meisten einfachen Wohnvierteln Mexikos der Fall ist. Leuten ohne eigenes Bad in ihrer Wohnung wurde so das Baden ermöglicht. Zugleich eröffnen sie aber auch Möglichkeiten zur Ausübung homosexuellen und heterosexuellen Verkehrs. Zu sexuellen Kontakten mit dem eigenen Ehepartner bieten oftmals Haus oder Schlafzimmer keine Gelegenheit. Möglicherweise lassen sich diese Anstalten mit den Clubs und Sportzentren der Mittel- und Oberklasse in den wohlhabenderen Gebieten der Stadt Mexiko vergleichen. Ein Gang durch Nezahualcoyotl zeigte immer wieder Häuser mit nur einem Raum, halbfertige oder gerade entstehende Bauten, Schulen, Straßen und immer wieder Straßen, außerdem einige Kirchen und andere christliche Gotteshäuser, öffentliche Bäder, Märkte, viele umherschweifende Hunde und nachts einige Betrunkene. Die große Anzahl von Zentren für anonyme Alkoholiker wirft Licht auf das Problem des Alkoholismus. Gemäß der Volkszählung sprachen 11 % der Bevölkerung kein Spanisch, wobei allerdings nicht aufgeführt wird, welche andere einheimische Sprache geläufig war.

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5.1.2 Kennzeichnung der Schule Benito Juárez Die Schule, an der die schriftlichen und mündlichen Befragungen der Kinder durchgeführt wurden, war eine öffentliche Schule, deren Besuch kein Schulgeld kostete. Sie führte den Namen Benito Juárez, wie neun andere öffentliche Schulen im Gebiet von Nezahualcoyotl und viele andere Schulen in Mexiko-Stadt und in anderen Teilen des Landes Mexiko. Dieser Name diente weniger zur Identifizierung als zur Gleichsetzung mit anderen Schulen. Die Anschrift der Schule erschwerte das Auffinden und ihre Identifizierung, da nur die Straße Tlalpan, ohne Angabe einer Hausnummer, im Stadtviertel "Vicente Villada" angeführt wurde. Zu jener Zeit wurden nur wenige Straßen dieses Stadtviertels namentlich ausgewiesen. Die Schulklassen bestanden aus ungefähr 40 Schülern. Die Probleme dieser Schule waren wie bei den meisten der öffentlichen Schulen dieser Gegend und auch in anderen Gegenden Mexikos der Absentismus der Lehrer und die unvollständige Durchführung des Lehrprogramms. Das Problem des Absentismus der Lehrer wurde mir sowohl durch den Informanten als auch durch die Eltern der Kinder und die Kinder selbst verdeutlicht. Beim Eintreffen in dieser Schule wurde ich von der Direktorin besonders freundlich empfangen, u.a. wohl, weil eine Lehrerin ausgefallen war und deshalb niemand sich mit einer der Gruppen befaßte, die ich befragen wollte. Deshalb konnte ich die Befragung auch sofort durchführen. Die Schule führte wie die meisten öffentlichen Schulen die von der Secretaría de Educación Pública4 vorgeschriebenen Lehrprogramme durch. Diese Programme dienten den anerkannten Privatschulen gleichfalls zur Orientierung. Da diese Untersuchung sich auch mit der Alltagspraxis des Lesens und Schreibens befaßt und die schriftlichen Texte der Kinder der sechsten Klasse analysiert, seien hier einige der 1982 rechtskräftigen Richtlinien des Programms zur Erlernung der spanischen Sprache der sechsten Klasse der Grundschule aufgeführt. Diesen Richtlinien zufolge sollte der Schüler folgende Fähigkeiten entwickeln: comunicarse en forma oral y escrita, a través de la descripción, el comentario, la interpretación, la expresión de opiniones y la elaboración de informes (Castillo, 1982: 22). In Bezug auf Phonologie und Orthographie sollte das Kind: usar correctamente las palabras homófonos, los signos de puntuación, mayúsculas y el acento ortográfico (Castillo, 1982: 22).

las

Das mexikanische Erziehungsministerium schreibt die Lehrprogramme für das gesamte Land Mexiko vor.

Kapitel 5

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Das Programm bestand aus mehreren Lerneinheiten und führte viele Übungen zur Erreichung der oben angeführten Ziele auf sowie weitere Übungen mit breiter angelegten Zielen, die dazu fuhren sollten, daß die Kinder literarische Texte sowie Werbetexte interpretieren konnten. Deshalb war unter den Zielen der Einheit 7 zu finden: interpretar textos, elaborar fichas de estudio y opinar y discutir sobre anuncios publicitarios (Castillo, 1982: 50). Um die Kinder mit der Literatur vertraut zu machen, war es dem Lehrprogramm zufolge erforderlich, daß die Lektüre nicht nur verwendet werden sollte als instrumento de información, sino como fuente de placer; no como un medio para un fin, sino como un fin en sí mismo. En otras palabras, se ocupa de la lectura por la lectura (Castillo, 1982: 20). Demzufolge wurde der Entwicklung der Fähigkeit der Kinder, ihre Gedanken auszudrücken und ihre Meinung zu vertreten, Wichtigkeit beigemessen, damit sie eine "conciencia crítica" wie auch ein "criterio personal" entwickelten (Castillo, 1982: 10).

5.1.3 Tätigkeiten der Eltern Der Schulleiterin wie auch dem Informanten für dieses kulturelle Umfeld zufolge sind die meisten der Eltern dieser Kinder Arbeiter, Handwerker oder kleine Händler, die auf dem Markt und auf den Straßen ihre Ware anbieten. Die Mehrzahl der Mütter sind Hausfrauen, obwohl ein Drittel auch als Hausangestellte auf Stundenbasis das Kochen, Waschen, Bügeln sowie andere Hausarbeiten erledigen und auch auf die Kinder aufpassen. Die erwerbstätige Bevölkerung betrug gemäß der Volkszählung 49 %, was unter dem Durchschnitt der Erwerbstätigkeit des Distrito Federal von Mexiko in Höhe von 53 % lag. Von den Erwerbstätigen sind 74 % Männer und 26 % Frauen. Der zuletzt genannte Anteil lag unter demjenigen des Distrito Federal in Höhe von 36 %. Frauen hatten in dieser Umgebung weniger Gelegenheit, eine monetär entlohnte Tätigkeit auszuüben. Die für die Tätigkeiten der Bevölkerung besonders repräsentativen oder bedeutsamen Branchen bildeten die Kleingewerbeindustrie, an zweiter Stelle der Handel, das Baugewerbe und die kommunalen Dienste, unter denen alle Arten von Aktivitäten in Verbindung mit sozialer Pflege, öffentlicher Verwaltung und Polizeischutz zusammengefaßt wurden. Von den Erwerbstätigen waren 38 % Handwerker, Arbeiter oder Hilfsarbeiter, 14 % waren Büroangestellte, und weitere 14% waren unselbständige Händler und Straßenverkäufer. Personen mit Hochschulabschluß machten lediglich 1 % der Erwerbstätigen aus, die spezialisierten

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Techniker 3 %, und 2 % waren Lehrer. 5 Die übrigen in der statistischen Erhebung angeführten Tätigkeiten waren nur wenig repräsentativ. Lediglich 2 % der Bevölkerung gaben an, Hausangestellte zu sein, obgleich dies meinem Informanten zufolge eine von vielen Frauen ausgeübte Tätigkeit darstellte. Eine Erklärung könnte darin bestehen, daß bei der Erhebung die Tätigkeit des Vaters, des "Hausvorstandes", stärker berücksichtigt und diejenige der Frau vernachlässigt wurde. Auch die Tatsache, daß eine verheiratete Hausangestellte oftmals nur einige Stunden arbeitet, um ihre eigenen Hausarbeiten nicht zu vernachlässigen, könnte hierzu gefuhrt haben. Nicht zuletzt fand diese Arbeit auch damals nicht viel soziale Anerkennung, so daß sie möglicherweise auch deshalb bei der statistischen Erhebung unbeantwortet blieb. Die ökonomische Situation der Familien der Kinder ermöglichte in der Regel nicht den Besitz eines eigenen Autos oder eines eigenen Telefonanschlusses.

5.1.4 Tätigkeiten der Kinder Am Vormittag besuchten die Kinder die Schule, die sie üblicherweise zu Fuß aufsuchten. Nachmittags erledigten sie ihre Hausaufgaben, spielten auf der Straße und halfen mitunter ihren Eltern bei der Hausarbeit oder bei der Beaufsichtigung jüngerer Geschwister. Während der Wochenenden gingen einige in die Kirche, besuchten Verwandte oder blieben einfach zu Hause. Sie spielten dann auf der Straße oder besuchten einen weiter entfernten Park im Stadtzentrum der Hauptstadt wie "la Alameda" oder "el Bosque de Chapultepec". 6 Während der Schulferien besuchten die Kinder die Verwandten in den Herkunftsorten der Familien. Gemäß der bereits angeführten Volkszählung waren 58 % der Bevölkerung von Nezahualcoyotl nicht dort geboren, sondern stammten aus anderen Bundesstaaten Mexikos.

In Mexiko benötigen Lehrer keinen Hochschulabschluß. Der Park von Alameda ist einer der ältesten von Mexiko-Stadt und liegt im Zentrum. Der Park von Chapultepec ist der größte Park der Stadt Mexiko. Beide Parks stellen für die einfacheren Schichten vor allem an Wochenenden einen beliebten Erholungsort dar.

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5.1.5 Alltagspraxis der Schriftlichkeit Zu Hause hatten die Kinder, von Schulbüchern abgesehen, lediglich einige Wörterbücher sowie Bücher zum Lesen- und Schreibenlernen für Erwachsene, Katechismen, Bibeln, einige Comics und "monitos".7 Familien mit anderen Arten von Büchern bildeten eine Ausnahme. Dabei konnte es sich um Arbeiter handeln, die sich abends weiterbildeten. Die Lektüre von Tageszeitungen oder Zeitschriften war nicht üblich. Nur einige der befragten Personen kauften öfters "El Alarma", eine Wochenzeitung mit Sensationsmeldungen. Die Schule besaß keine Bibliothek. Nur sehr wenige Kinder und dies erst in der 8. Klasse der Grundschule, also im Alter von etwa 14 bis 15 Jahren, besuchten öffentliche Bibliotheken. Da auch in der gesamten Gemeinde Nezahualcoyotl sich keine Bibliotheken befanden, waren die nächstgelegenen und für Kinder meist schlecht ausgestatteten Bibliotheken im Distrito Federal nur per Autobus zu erreichen. Außerdem gab es damals in Nezahualcoyotl - anders als heute - auch keine Buchhandlungen. Einige der befragten Eltern erklärten, daß sich in Nezahualcoyotl zwar viele Grundschulen bis zur 9. Klasse befanden, doch nur eine einzige "preparatoria". 8 Der Ort der nächstgelegenen Universität war ihnen unbekannt. Die Eltern konnten in 91 % der Fälle lesen und schreiben. In ihrem Alltagsleben waren sie häufig jedoch kaum gewohnt, diese Kenntnisse anzuwenden, obgleich einige auf ihrer Arbeitsstelle Bedienungsanleitungen lesen mußten. Auf dem Weg zur Arbeit wurden Comics gelesen. Die einzige Schriftpraxis bildete das gelegentliche Ausfüllen amtlicher Formulare, was den meisten Müttern Schwierigkeiten bereitete. Den als Hausangestellten tätigen Frauen fiel es in der Regel nicht leicht, die Botschaften zu schreiben, die sie oftmals bei ihrer Arbeit hinterlassen mußten. Briefe zu schreiben, ist in diesem Milieu ungewöhnlich. Die Verwandten werden besucht, und, falls dies nicht möglich ist, wird telefoniert. Sollte dies sehr teuer oder bei fehlendem eigenen Telefonanschluß umständlich sein, unterbleibt die Kommunikation mit ihnen. Die schulische Anwendung des Lesens und Schreibens der Kinder bestand in der Lektüre und im Abschreiben von Textteilen aus den offiziellen Schulbüchern. Mitunter mußten die Kinder auch kleine Erzählungen im Umfang von etwa einer halben Seite anfertigen. Sie handelten von ihrer Familie, ihrer Umgebung, ihren Ferien oder sonstigen, von den Lehrern vorgeschlagenen Themen. Diese Übungen wurden nicht immer korrigiert. Schriftliche Hausaufgaben wurden von der 5. 7

Hierbei handelt es sich um Comics fast ohne Text.

8

Die "preparatoria" umfaßt die letzten drei Schuljahre.

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Klasse der Grundschule an gestellt, also bei Kindern im Alter von etwa 10 oder 11 Jahren. Dabei handelte es sich um Zusammenfassungen von Erzählungen aus den Schulbüchern. Das Schreiben selbsterfundener Geschichten war unüblich. Einige Daten der Volkszählung können einen Überblick über die Bildungssituation dieses kulturellen Umfeldes vermitteln. Der Statistik zufolge betrug der Anteil der Analphabeten der Bevölkerung über 15 Jahre 9 %. Er lag damit wesentlich unter dem Durchschnitt für das gesamte Land Mexiko, wo er sich auf 17 % der Bevölkerung über 15 Jahre belief, überstieg jedoch den entsprechenden Anteil im Distrito Federal, der lediglich 6 % betrug. Von diesen 9 % der Analphabeten in Nezahualcoyotl waren 72 % Frauen. In Nezahualcoyotl hatten nur 54 % der Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren die Vorschule (Kindergarten) besucht, wodurch die Kinder bereits im Alter von 4 bis 7 Jahren in die Welt der Schule einführt wurden. Dies stach vom Durchschnitt des Distrito Federal in Höhe von 71 % ab. Keinerlei Grundschulausbildung hatten in Nezahualcoyotl 8 % der Kinder über 6 Jahre erhalten, 57 % dagegen hatten einige Jahre Grundschulausbildung (bis zur 6. Klasse), 21 % eine weitergehende Grundschulausbildung erhalten. Der Anteil derjenigen, über die keine nähere Auskunft zu erhalten war, betrug 14 %. Von der Bevölkerung im Alter von über 10 Jahren hatten 71 % keinerlei weitergehende Grundschulausbildung erhalten, 23 % hatten eine weitergehende Ausbildung erhalten. 3 % hatten eine Berufsausbildung absolviert, weitere 3 % hatten eine Hochschulausbildung (als Techniker oder in der Universität) erhalten, wenn auch nicht notwendigerweise abgeschlossen. Von den bereits oben erwähnten 57 % der Kinder im Alter über 6 Jahren, die eine gewisse Grundschulausbildung erhalten hatten, hatten nur 36 % die 6. Klasse der Grundschule abgeschlossen. Dies weist auf das in der gesamten mexikanischen Republik bekannte Problem des Schulabbruchs hin. Es ist die Folge vieler wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bestimmungsgründe, wie etwa der für einige Kinder bestehenden Notwendigkeit des Geldverdienens oder der Hilfeleistung im Elternhaus, der großen Entfernung zur Schule und dem fehlenden Schulplatz. Nicht zuletzt wird oftmals einer formalen Ausbildung in diesem gesellschaftlichen Milieu nur geringer Sinn beigemessen, da sie weder direkt eine konkrete Arbeitsstelle sichert noch die Tatsache erkannt wird, die vermittelten Kenntnisse könnten auch flir den Alltag nützlich sein. Die Volkszählung wies aus, daß in Nezahualcoyotl 28 % der Bevölkerung zwischen 6 und 14 Jahren die Grundschule nicht besuchten. Als Erklärung gaben einige an, die Grundschule bereits abgeschlossen zu haben (65 % der oben erwähnten 28 %), andere äußerten, die Schule umfasse nicht alle Stufen oder sei "unvollständig", es gebe nicht genügend Schulplatz für alle Kinder, die Kinder

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müßten im Haushalt mithelfen oder arbeiten; außerdem führten 27 % "sonstige Gründe" an. Obschon diese Information kaum dazu diente, wie beansprucht aufzuzeigen, weshalb die Kinder die Grundschule nicht besuchten, da auch 12- bis 14jährige mit bereits abgeschlossenem Schulbesuch in die statistische Erhebung einbezogen wurden und die Gründe von 27 % der einbezogenen Kinder unbekannt blieben, so unterstrich sie doch das Problem des Schulabbruchs, allerdings nicht das Problem des Absentismus der Lehrer.

5.1.6 Audiovisuelle Kultur Die Mehrzahl der Familien besaß ein Radio und hörte täglich Sendungen. Somit konnte von den Nachrichten Kenntnis genommen werden. Die meisten besaßen auch ein Fernsehgerät, in der Regel jedoch nur ein einziges. Deshalb erfolgte üblicherweise die Auswahl der anzuschauenden Sendungen in Übereinstimmung mit dem Geschmack der Eltern und Geschwister. Kabelfernsehen war in dieser Gegend nicht vorhanden. So gut wie niemand besaß Videorecoder, Geräte für Videospiele oder gar Computer. Die Kinder sahen üblicherweise ungefähr zwei bis drei Stunden täglich fem. Der Empfang der Sendungen stellte eine Familienangelegenheit dar, da das Kind zusammen mit seinen Geschwistern fernsah oder aber zusammen mit seiner Mutter, die beim Ansehen der "telenovelas" zugleich bügelte. Nicht unüblich war außerdem, daß zusammen mit keinen Fernsehapparat besitzenden Nachbarn Sendungen angeschaut wurden. Heute, 1995, fällt die große Anzahl der in Nezahualcoyotl bestehenden Videoklubs auf sowie der Geschäfte, die Geräte für Videospiele verleihen. Sie sind stets voller Kinder und Jugendlicher. Dies ist Ausdruck des Besitzes einer größeren Anzahl von Fernsehern, Videorecorder und ganz allgemein einer sehr viel ausgeprägteren audiovisuellen Kultur, die vermutlich durch eine stärker individualisierte Rezeption gekennzeichnet ist.

5.2.

Die schriftlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschule

In diesem Teil werden die schriftlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der Schule Benito Juárez vorgestellt. Außerdem wird untersucht, wie diese Kinder der sechsten Klasse implizit die Situation des Abfassens der Texte definierten, und ihre Kompetenz des Schreibens analysiert, um anhand konkreter Beispiele die Durchdringung der Schriftkultur in Nezahualcoyotl aufzuzeigen.

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Von insgesamt 41 Kindern der sechsten Klasse kannten 38 das Gerücht, also 93 % der Kinder. Außerdem schrieben die Kinder recht viele Erzählungen auf. Den Hintergrund hierfür bildete die in ganz Nezahualcoyotl recht starke Verbreitung des Gerüchts.

5.2.1 Die den Kindern bekannten Versionen Unter der Vielzahl von Gerüchten über die Schlümpfe besagte die einfachste Erzählung, die insgesamt 17mal vorkam, daß ein Schlumpf einen Jungen oder ein Mädchen umgebracht hatte. In den Fällen, in denen näher dargelegt wurde, auf welche Art der Schlumpf sein Opfer ermordet hatte, wurden verschiedene Verben genannt: "ahorcar", "estrangular", "comer", "morder", "arañar", "rasguñar" und "pellizcar". Die Handlungen "ahorcar" und "estrangular" erinnern an Horrorfilme, "comer" könnte einen Bezug zur Sendung Los Pitufos aufweisen, in der Gargamel stets die Schlümpfe bedroht, um sie zu fressen. Die Handlungen "morder", "arañar", "rasguñar" könnten eine Verbindung zu Märchen und Legenden über gefährliche Tiere aufweisen, "pellizcar" könnte daran erinnern, daß Eltern mitunter ihre Kinder mittels Kniffen bestraften. In neun der Versionen des Gerüchts tauchte die Figur der Mutter auf. Dabei wurde in einigen Fällen unterstrichen, daß der Schlumpf das Kind in Abwesenheit der Mutter angriff, als diese weggegangen war, etwa um auf dem Markt einzukaufen. In sechs Fällen wurde dargestellt, daß beim Angriff des Schlumpfes der Junge oder das Mädchen nach der Mutter riefen, die jedoch dem Kind keinen Glauben schenkte, so daß es umgebracht wurde. a mi me lo conto mi ermana ami me dijo que lospitufos entro ala casa de señora y ella tenia un pitufo y a su hija tenia 6 años y empesaron ajugar pitufo le saco la lengua yla niña le dijo asu mamá y le digo a su mama esta baloca y al poco rato la niña y aesta ba muerta (Mädchen Nr. 12 Jahre alt).

una y el que 33,

Meine Schwester erzählte mir, sie sagte mir, daß die Schlümpfe in das Haus einer Frau eintraten und sie hatte einen Schlumpf, und ihre Tochter war sechs Jahre alt, und sie fingen zu spielen an, und der Schlumpf streckte ihr die Zunge raus, und das Mädchen sagte das ihrer Mutter, und ihre Mutter sagte ihm, daß es verrückt sei, und nach kurzer Zeit war das Mädchen tot. 9

In einigen Fällen beschrieben die Kinder, daß die Mutter das Kind bestraft hatte, indem sie es auf den Hof geschickt oder im Wandschrank eingesperrt hatte, in dem sich Schlumpfpuppen befanden, die dann zu Mördern des Kindes wurden. Angesichts Sprach- und Rechtschreibefehlern der Kinder lassen sich ihre Darlegungen nur sinngemäß übersetzen. In dieser Arbeit wird immer versucht, auch in der Übersetzung die fehlerhafte Sprache und Schrift wiederzugeben.

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Nur in einem einzigen Fall war es der Vater gewesen, der seinem Sohn nach dessen Rufen keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Auch der Fall, daß beide Eltern den Jungen nicht beachteten, kam nur einmal vor. Der Junge ließ die Geschichte wie folgt enden: ...asta una noche el niño amaneció arañado de la cara y sangrando y entonces les crelleron sus papás. (Junge Nr. 38, 12 Jahre alt). ...erst als eines nachts der Junge mit verschrammtem Gesicht und blutend aufwachte, und dann glaubten ihm seine Eltern.

Die physische Abwesenheit, die fehlende Zuneigung oder die geringe Aufmerksamkeit seitens der Mutter bzw. der Eltern wie auch der Umstand, daß diese dem Kind nicht glaubten, waren Themen, die von den Kindern auch in den Gruppeninterviews aufgegriffen wurden. Das Gleiche traf für die seitens der Eltern angewandten Strafen zu. In den Texten der Kinder bedeutete das Wort "pitufo" unterschiedliches. In den meisten der Nennungen war eine Puppe oder ein Gegenstand gemeint. "Pitufo" konnte jedoch auch einen Kobold bezeichnen, sowie ein Wesen, das erschien und wieder verschwand oder das einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte.

5.2.2 Die speziellen Versionen Die Version vom sich rächenden Schlumpf stellte eine sich mit der Ordnung von Glaubwürdigkeit dieses kulturellen Umfeldes in Einklang befindende Version dar. Dabei handelte es sich um eine Puppe oder einen Gegenstand, der sich nach einer Mißhandlung rächte und mordete: ami tia meconto que una niña tenia un pitufo i la niña aventó al pitufo y e pitufo separo y horco ala niña (Junge Nr. 11, 10 Jahre alt). Meine Tante erzählte mir, daß ein Mädchen einen Schlumpf hatte, und das Mädchen hatte den Schlumpf weggeworfen, und der Schlumpf stand auf und hängte das Mädchen auf.

Die Thematik der Rache erschien im Zusammenhang mit der Auffassung des Schlumpfs als Zauberer: Yo oido que han dicho que los pitufos son brujos y que hacen brujería con los niños que los maltratan un dia lio escuche que su papa y su mama le compraron un muñeco de peluche y no lo quiso el niño y como havia una fogata lo echo a la lumbre y cuando todos estaban dormidos al niño lo orearon se ohi an puros rumores en la calle en la escuela en la casa que se le metian el diablo y que le dician a los pitufos que los mataran (Junge Nr. 34, 12 Jahre alt). Ich habe sagen gehört, daß die Schlümpfe Zauberer sind und die Kindern verzaubern, die sie mißhandeln. Eines Tages habe ich gehört, daß sein Papa und seine Mama dem Jungen eine Plüschpuppe kauften und er sie nicht wollte, und da es ein Feuer gab,

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warf er sie in die Flamme und als alle schliefen wurde das Kind aufgehängt. Es wurden lauter Gerüchte auf der Straße, in der Schule, zu Hause gehört, daß der Teufel hineingefahren sei, und sie sagten den Schlümpfen, daß sie sie umbringen sollten.

Dieser Text griff zugleich zwei Themen auf, die in vielen Erzählungen der Kinder der Schule Benito Juárez, vor allem im mündlichen Interview der sechsten Klasse, auftraten. Die eine Thematik bildete die Verbrennung von Schlumpfpuppen; solche Verbrennungen hatten in Nezahualcoyotl angesichts der Produktion und Verbreitung des Gerüchts stattgefunden. Die andere Thematik, die Version vom teuflischen Schlumpf, handelte von einem vom Teufel besessenen oder gelenkten Schlumpf. In einigen Fällen wurde ausgeführt, daß "Vader Abraham", der niederländische Sänger der Kinderlieder über die Schlümpfe, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte, weshalb die Schlümpfe lebendig wurden und die Kinder umbrachten. yo oido que el padre abra el que invento los pitufos que ay un pitufo grande que tiene vida y que a un niflo lo orco el pitufo y que el padre abran tiene un (pacto con el demonio) y que un niflo amanesio colgado. (Junge Nr. 28, 11 Jahre alt). ich habe gehört, daß Vader Abra, der die Schlümpfe erfunden hat, daß es einen großen Schlumpf gibt, der lebendig ist, und daß der Schlumpf einen Jungen aufhing, und daß der Vader Abran einen Pakt mit dem Teufel hat, und daß ein Junge morgens aufgehängt war.

Eine der damals sehr beliebten Schallplatten hatte den Titel: "El Padre Abraham y sus pitufos. Ring Ring". 10 Die Texte einiger Lieder erwähnten Vader Abraham als Erfinder der Schlümpfe. Mit seinem langen Bart und dem von ihm getragenen Hut war das Aussehen Vader Abrahams für mexikanische Kinder ungewöhnlich. Beides könnte zur Herstellung einer Verbindung zwischen Vader Abraham und dem Teufel beigetragen haben. Hinzu kommt, daß in diesem Umfeld Erzählungen über den Teufel stark verbreitet sind, wie sich in den mündlichen Interviews zeigen wird. Eine andere der bedeutsamen speziellen Versionen war die vom erscheinenden Schlumpf, einem Wesen, das erschien und wieder verschwand. Sie führte zu Assoziationen mit Legenden und Mythen über ruhelose Seelen. As oydo de los pitufos lio tengo un amigo que sellama Jose meconto que una ñifla que estaba en sucuarto con unpitufodepeluche y que el pitufoseparo ledijo que noseportara

10

Die Schallplatte wurde von Pierre Kartner produziert und von Discos Columbia, S.A., Spanien gepreßt. Pierre Kartner nahm den Künstlernamen Vader Abraham an. Er ist der Dichter der Liedtexte in niederländischer Sprache. Außerdem ist er der Komponist der Melodie und sang diese Lieder in mehreren Sprachen.

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mal y se fue el pitufo y nuncalebolbieronaencontrar (Junge Nr. 31, 12 Jahre alt). Hast du von den Schlümpfen gehört Ich habe einen Freund, der José heißt. Er erzählte mir, daß ein Mädchen, das mit einem Schlumpf aus Plüsch in seinem Zimmer war, und daß der Schlumpf stehen blieb, ihr sagte, daß sie sich nicht schlecht benehmen solle, und der Schlumpf ging w e g und niemals kehrte er wieder zurück.

In einem von einem Mädchen geschriebenen Text wurde das Wort "rumor" nicht abwertend verstanden. Vielmehr wurde es verbunden mit Gesprächen, mündlich verbreiteten Erzählungen oder einfach mit den Äußerungen verschiedener Personen. ami me contaron que hay Rumores de que los pitufos mataron a una niña cuando estaba dormida yque recobraron vida pero hotros piensan de diferente manera piensan quela niña estaba osepcionada deque los pitufos estaban vivos esto me lo conto mi amiga Susana (Mädchen Nr. 7, 12 Jahre alt). Man hat mir erzählt, daß es Gerüchte gibt daß die Schlümpfe ein Mädchen umbrachten als es schlief und daß sie wieder lebendig wurden. Aber andere meinen anderes, sie meinen, daß das Mädchen verrückt war und glaubte, daß die Schlümpfe lebendig waren. Dies wurde mir von meiner Freundin Susana erzählt.

5.2.3 Zur Konzeption der Texte Die den Kindern von mir gestellte Ausgangsfrage lautete: "¿Qué han oído de los muñecos y otros objetos pitufos?" Kein Kind gab an, nichts zu wissen. Alle Kinder schrieben irgendetwas auf, obgleich drei Kinder sich nicht auf das Gerücht bezogen. Sie verfaßten Darlegungen über liebenswerte Schlümpfe, wie sie in der Fernsehsendung vorkamen, obgleich ich den Kindern zu Beginn der Befragung erklärte, daß dies für mich nicht von Interesse war. Es könnte sein, daß sich diese Kinder über ihre Unkenntnis zur Thematik der Fragestellung nicht im klaren waren. Eindeutig ist dagegen, daß drei andere Kinder von ihren Mitschülern abschrieben, da die Texte sogar die orthographischen Fehler wiederholten. Möglicherweise könnten die Kinder, die sich nicht auf das Gerücht bezogen, irgendetwas erfunden haben, um meine Aufforderung befolgen zu können, da sie nicht wagten, ihre Unkenntnis zuzugeben. Dachten sie, daß jemand, der nichts weiß, unterlegen sei? Muß auf jeden Fall - selbst bei Unkenntnis - geantwortet werden? Faßten die Kinder meine Frage als eine Prüfungsaufgabe auf, bei der sie nicht schlecht abschneiden wollten?

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In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß vor allem im Kreise der ärmeren Bevölkerung Mexikos auf die Frage nach einer Straße der Angesprochene nur schwerlich zugeben wird, sie nicht zu kennen. Er zieht es vor, sich auszudenken, wo diese Straße sein könnte und den Gesprächspartner in diese Richtung zu schicken. Bei Durchsicht der Eingangssätze der Texte der Kinder, die sich auf das Gerücht bezogen, sowie der Überschriften, mit denen sie teilweise ihre Texte versahen, zeigte sich, wie sie meine Aufforderung auffaßten und den Rahmen des Schreibens interpretierten: "mean dicho", "yo oi", "yo lo oy", "disen que", "me digo", "dise que", "de que", "a mi me contaron", "yo e oido desir", "mi hermano me dijo que", "mi tia me conto", "ami me dijo", "yo e oido", "Me dijieron", "he oido", "yo he hoido", "yo hoy que una ves", "a mi me an contado", "mi Hermana me ha contado", "una ves un nino", "a mi me conto", "yo eoido", "lio e oido", "ami me an dicho", "ami me lo conto", "yo oido", "yo e hoido", "yo ehoido". 11 Bei diesen Texten waren zwei Subjekte vorhanden: das hörende bzw. zuhörende Subjekt, das zugleich auch das schreibende war, und das sprechende, erzählende Subjekt. Dabei waren die Stimmen der sprechenden und erzählenden Subjekte mehr oder weniger anonym. Manchmal handelte es sich um eine Stimme im Singular, die durch ihre Freundschafts- oder Verwandtschaftsbeziehungen mit dem schreibenden Subjekt verbunden war. Manchmal handelte es sich auch um eine anonym bleibende Stimme im Plural, wie bei dem - falsch geschriebenen - Ausdruck "disen que". Die Aktionen waren Hören, Sprechen und Erzählen. Meine an die Kinder gerichtete Aufforderung wurde verstanden als der Rahmen der zu schreibenden Erzählungen, Unterhaltungen

und Gerüchte

über

die

"pitufos". Fünf Kinder versahen ihre Texte mit Überschriften: "As oido de los pitufos cuéntalo", "As oydo de los pitufos", "ami me contaron que hay rumores", "Yo e oido rumores ¡platicas acerca de los lia famosos pitufos que orean a los niños", "Relato". 12

11

Die oben wiedergegebenen Eingangssätze der Kinder lauten sinngemäß: "Die Leute haben mir gesagt", "ich habe gehört", "ich habe es gehört", "die Leute sagen, daß", "man hat mir gesagt", "man sagt, daß", "daß", "die Leute erzählten mir", "ich habe sagen gehört", "mein Bruder hat mir gesagt, daß", "meine Tante hat mir erzählt", "mir wurde gesagt", "ich habe gehört", "Die Leute sagten mir", "ich habe gehört", "ich habe gehört", "ich habe gehört, daß einmal", "mir haben die Leute erzählt", "meine Schwester hat mir erzählt", "einmal hat mir ein Kind gesagt", "mir wurde erzählt", "ich habe gehört", "ich habe gehört", "mir wurde gesagt", "mir wurde es erzählt", "ich habe gehört", "ich habe gehört", "ich habe gehört".

12

Die Überschriften lauten wie folgt: "Hast du von den Schlümpfen gehört, erzähle es", "Hast du von den Schlümpfen gehört", "Die Leute haben mir erzählt, daß es Gerüchte gebe", "Ich habe Gerüchte und Gespräche über die bereits berühmten Schlümpfe gehört, die Kinder aufhängen", "Erzählung".

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Sowohl die Eingangssätze der Texte der Kinder als auch die Überschriften einiger Texte verwiesen auf die anonyme Stimme eines Sprechenden sowie eines Zuhörenden. Die Kinder erzählten Gehörtes und reproduzierten es, ohne irgendeine Verantwortung zu übernehmen und ohne die Notwendigkeit der Darlegung einer Meinung zu verspüren. Der Text stellte für sie eine von vielen Stimmen dar, die in einem großen Getöse untertauchten. Fünf Kinder schrieben das Personalpronomen "yo" falsch, nämlich "llo". Die Hälfte der Kinder konnte ihren eigenen Namen nicht richtig schreiben. Nur ein Kind bezog Stellung zu seinem Text, die übrigen Kinder äußerten keine eigene Meinung. Die Kinder antworteten lediglich und schrieben Gehörtes auf bzw. das, was sie vermuteten, von diesen Aussagen aufschreiben zu müssen. Dabei vermittelten die Kinder den Eindruck, daß sie sich gerne zur Thematik äußerten, mochten sie hieran glauben oder nicht. Die mündlichen Gruppenbefragungen dauerten in diesem kulturellen Umfeld besonders lang. Die Tatsache, daß die Kinder ihre Meinung nicht offen darlegten, könnte bedeuten, daß sie nicht gewohnt waren, ihre Meinung zu äußern. Möglicherweise erschien es ihnen auch nicht notwendig, jemanden zu überzeugen. Kindern dieser gesellschaftlichen Gruppe wird, ihrer alltäglichen Erfahrung zufolge, im allgemeinen nur selten zugehört. Auch ließ sich aus den Äußerungen der Schulleitung kaum die Vorstellung ableiten, daß es gefordert wird, wenn Kinder eine eigene Meinung formulieren oder ihre Vorstellungen verteidigen. Vielmehr sollten die Kinder lernen, die Vorstellungen anderer zu kennen und gut wiederzugeben. Dazu gehörte das Aufschreiben der Darlegungen der Lehrer, Eltern oder der Bücher. Bei den wenigen alltäglichen Anwendungen des Lesens und Schreibens der Kinder kamen Übungen kritischer Zusammenfassungen von Äußerungen so gut wie nicht vor. Nur eines der Kinder äußerte offen seine Meinung und drückte sein Urteil aus: yo e oido rumores ¡platicas acercade los lia famosos pitufos que orean aniños enunaasamblea bíblica oi queeramalo tener muñecos de peluchedelospitufos. unos ermanos dijeronque eramalo tenermuñecosdelospitufos porque sesabe que satanas eldiablo losmaneja pormedio desús demonios enelperiodico también seiso una alarmante noticia sobre los pitufos melocontaron mistios queestudian labiblia yotambienestudio labiblia ¡yonunca pense quetan buenos quesebieran son malos llocreo y sigopensando queesbierdad lo quemistiosmecontaron (Junge Nr. 26, 11 Jahre alt). Ich habe Gerüchte und Gespräche über die bereits berühmten Schlümpfe gehört, die Kinder aufhängen. In einer Bibelversammlung habe ich gehört, daß es schlecht sei, Schlumpfpuppen aus Plüsch zu haben. Einige Brüder sagten, daß es schlecht sei, Schlumpfpuppen zu haben, weil man weiß, daß Satan, der Teufel sie durch seine Dä-

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monen steuert. In der Zeitung stand auch eine alarmierende Nachricht über die Schlümpfe. Mein Onkel und meine Tante haben es mir erzählt, die die Bibel studieren. Ich studiere auch die Bibel, ich habe niemals gedacht, daß, da sie so gut aussehen, sie böse seien. Ich glaube es und denke weiterhin, daß es die Wahrheit ist, was mein Onkel und meine Tante mir erzählt haben.

Nicht zufallig war dieser Stellung beziehende Junge Mitglied einer religiösen Gruppe, der Zeugen Jehovas. Er besuchte Bibelversammlungen, bei denen sich die Anhänger häufig trafen, um die Bibel zu lesen und auszulegen. Dadurch war er vertraut mit der Abgabe eigener Meinungen, dem Argumentieren und dem Vertreten von Glaubensvorstellungen. Für katholische Gläubige in Mexiko stellt dies, als Folge der Hegemonie dieser Kirche, ein seltenes Verhalten dar. Die Ansehen vermittelnden Quellen in den Texten der Kinder stellten in 73 % der angegebenen Quellen solche mündlicher Art dar: Verwandte, Freunde, Mitschüler, Straßenkameraden. Die anonyme und kollektive Stimme der Gemeinschaft dieser Kinder wurde jedoch nicht nur durch die direkte, unvermittelte menschliche Stimme formuliert, sondern bei 23 % der angegebenen Quellen durch die hohes Ansehen genießenden Stimmen in Radio und Fernsehen. Die in diesem Zusammenhang gebrauchten Formulierungen lauteten etwa: "Yo oi en la T.V...", "yo lo oy en la televisión", "en las noticias", "lo oy en el radio", "salió en 24 hrs", "lo oi en 24 horas". 13 Nur zweimal wurde die Zeitung erwähnt: "lo eleido en el periodico". 14 Dies erfolgte vermutlich deshalb, weil Zeitungen vor allem in der Schule Prestige vermittelten. Von den Kindern wurden sie so gut wie nie gelesen, jedenfalls nach Meinung der Schulleitung und des Informanten für dieses kulturelle Umfeld.

5.2.4 Die Anwendung der Regeln des Schreibens Was die Art des Umgehens mit dem Papierblatt und der Organisation von Wörtern und Sätzen in diesem Umfeld anbelangte, so schrieben 66 % der Kinder Wörter zusammen. 97 % der Kinder trennten die Sätze nicht voneinander. Beides wurde in den oben angeführten Beispielen gezeigt. Nur äußerst selten trennten die Kinder die Wörter so klar wie im folgenden Beispiel, selbst wenn dabei die Präposition "a" mit dem Artikel verbunden wurde: Yo he hoido que los "Pitufos" horcan y matan ala gente que ya an matado a mucha gente y lo vi en el periodico y lo oi decir con unos amigos mios y un

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"Ich habe im Fernsehen gehört... ", "ich habe es im Fernsehen gehört", "in den Nachrichten", "ich habe es im Radio gehört", "es wurde in '24 Stunden' gesendet", "ich habe es in '24 Stunden' gehört"

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"ich habe es in der Zeitung gelesen"

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nifio de mi calle como tiene pitufos dice que vio caminar ala pitufina (Junge Nr. 19, 12 Jahre alt). Ich habe gehört, daß die "Pitufos" Leute aufhängen und umbringen, daß sie bereits viele Leute umgebracht haben, und ich habe es in der Zeitung gesehen und ich habe es bei einigen meiner Freunde sagen gehört und ein Kind aus meiner Straße sagt, weil es Schlümpfe hat, daß es die pitufina laufen sah.

Die Kinder neigten nicht nur dazu, die Präposition "a" mit dem Artikel, sondern mitunter auch mit dem Possesivpronomen "mi" zu verbinden wie in einigen Beispielen der bereits weiter oben angeführten Eingangssätze: "ami mean dicho". Der Ausdruck "a mi" dürfte für das Gehör und sicherlich auch optisch für diese nur wenig ans Lesen und Schreiben gewöhnten Kinder als ein einziges Wort erscheinen. So schrieb auch ein Kind die Wörter nach dem Gehör zusammen: "y tambien dicia que los muflecos eran deamentiritas". 15 Dies zeigt eine Unkenntnis der spanischen Rechtschreibregeln. Keinerlei Zeichensetzung zur Satztrennung ließ sich bei 97 % der Kinder feststellen. Es fehlten Punkte, Kommata, Strichpunkte, usw. Dabei konnte ausnahmsweise doch ein Punkt oder ein Komma gesetzt werden, wenn auch nicht unbedingt an den richtigen Stellen. Hierfür lassen sich die bereits angeführten Beispiele heranziehen, bei denen im einen Fall das Wort "Pitufos" in Anfuhrungszeichen gesetzt wurde, und im anderen Fall zu Beginn des Satzes ein Ausrufungszeichen gesetzt wurde: "¡yonunca pense quetan buenos quesebieran son malos...", obgleich dann am Ende das auch notwendige zweite Ausrufungszeichen nicht gesetzt wurde. Die Kinder wußten zwar, daß es diese Zeichen gab, verstanden jedoch nicht, sie korrekt anzuwenden. Ungefähr 80 % der Kinder kannten nicht die Regeln des Gebrauchs der Großund Kleinschreibung, wie etwa den Beginn mit Großbuchstaben am Anfang des Absatzes und nach einem Punkt. Wurden weder Absätze noch Sätze durch Punkte getrennt, so mußten auch Großbuchstaben fehlen. Großbuchstaben fanden sich jedoch dann plötzlich mitten im Satz aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen. Möglicherweise wollte ein Kind, welches das Wort "Madre" oder "Hermana" mit Großbuchstaben versah, dadurch die Bedeutung der entsprechenden Person für sich selbst aufzeigen: Wenn Großbuchstaben bei Eigennamen verwendet werden, warum dann nicht auch bei für die Kinder wichtigen Personen? Die Setzung der spanischen Akzente war den Kindern weitgehend unbekannt. Keine Akzente verwendeten 97 % der Kinder. Von den insgesamt geschriebenen Wörtern wiesen 37 % einen Orthographiefehler auf in Texten, die im Durchschnitt 58 Wörter umfaßten. Von den insgesamt 15

"und es wurde auch gesagt, daß die Puppen unwahr seien"

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41 Kindern konnten 34, also 83 %, den Namen ihrer eigenen Schule - "Benito Juárez" - nicht zutreffend schreiben. Sie vergaßen die Großbuchstaben, wie im Falle von "juárez", schrieben Juárez am Ende mit "s" anstatt "z", also "Juáres", vergaßen den Akzent, schrieben also "Juárez", setzten keine Großbuchstaben, vergaßen den Akzent und verwendeten das "s" am Ende, und schrieben somit "juares". Der Name von Oaxaca, ein Bundesstaat der Republik Mexiko und gleichzeitig der Name seiner Hauptstadt, wurde von einem Mädchen "Guajaca" geschrieben, so wie man ihn hört. Da meine Ausgangsfrage, wie bereits oben dargelegt, lautete: "¿Qué han oído de los muñecos y otros objetos pitufos?" begannen die Kinder ihre Texte oftmals mit "he oído". Sie schrieben es mannigfaltig und in praktisch allen denkbaren Varianten, wovon die oben angeführten Beispiele einen Eindruck vermitteln. So erschien z.B. der Ausdruck "yo he oído" ohne "h" oder aber mit einem "h" an falscher Stelle, ohne Akzent bei dem Wort "oido". Auch wurden Worte unzulässigerweise miteinander verbunden, was u.a. die Schwierigkeit der richtigen Schreibweise des Hilfsverbs "haber" durch die Kinder aufzeigte. Dies stellt ein typisches Beispiel für die Schwierigkeiten dar, denen sich Anfänger beim Erlernen der Anwendung der Orthographieregeln der spanischen Sprache gegenübersehen. Bei einigen der wenigen Fälle, in denen ersichtlich war, daß das Kind damit vertraut war, das Hilfsverb "haber" mit "h" zu schreiben, waren auch verschiedene Fälle der Überkorrektheit zu finden. So wurde in dem genannten Beispiel, bei dem mit "Yo he hoido" begonnen wird, auch das Verb "oír" mit einem "h" versehen. Ein weiteres Beispiel hierfür war, daß ein Mädchen die Präposition "a" mit einem "h" versah, also mit der Form "ha" des Hilfsverbs "haber" verwechselte, danach jedoch das "h" des Verbes "ahorcar" zu schreiben vergaß, ein Fehler, der in allen kulturellen Umfeldern zu beobachten war: he oido que dicen que los pitufos han aorcado a muchos niños...y también que un niño resien nasido porque su papa le compro un pitufo ha ese niño lo mataron. (Mädchen Nr. 17, 11 Jahre alt) Ich habe die Leute sagen hören, daß die Schlümpfe viele Kinder aufgehängt haben...und auch, daß ein neugeborenes Kind, weil sein Vater ihm einen Schlumpf kaufte, dieses Kind von ihnen umgebracht wurde.

In einigen Fälle hatten die Kinder Probleme mit den Kongruenzregeln. Sie bildeten den Plural unzutreffend oder sie brachten das Geschlecht des Artikels nicht in Übereinstimmung mit dem Substantiv und dem Adjektiv. So schrieben mehrere Kinder mit Bezug zu einer einzigen Puppe den Plural "orearon" oder "mataron", oder aber mit Bezug zu den Schlümpfen die Singularformen "entro", "espanta" und "le dicían".

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Obschon die Gedanken vieler Kinder eine große Flüssigkeit zeigten, fiel auf, daß sie einzig die Konjunktion "y" zur Verbindung ihrer Überlegungen oder Argumente verwandten. Dies stellt eine Eigenheit der gesprochenen Sprache dar. Die oben angeführte Formulierung "¡yonunca pense quetan buenos quesebieran son malos llocreo y sigopensando queesbierdad" wäre bei Verwendung einer Adversativkonjunktion verständlicher, wie etwa: "Los pitufos se ven buenos, pero no lo son", "Si bien los pitufos se ven buenos, no lo son" oder etwa "A pesar de que los pitufos se ven tan buenos, son malos." Dies zeigte die Schwierigkeiten von Kindern dieses kulturellen Umfeldes auf, gegensätzliche Aspekte auszudrücken und aufzuschreiben. Dabei sollte nochmals daran erinnert werden, daß der Gebrauch der adversativen Konjunktionen besonders spät erlernt wird und ihr Gebrauch auch nicht immer erlangt wird. Die Anwendung der Regeln des Schreibens durch die Kinder der Schule Benito Juárez veranschaulicht deren äußerst geringe Kenntnisse. Die Lektüre und das Verständnis ihrer Texte bereiteten in der Mehrheit der Fälle angesichts der zahlreichen Fehler große Schwierigkeiten. Dies zeigte zugleich, welche Probleme den öffentlichen Schulen die Umsetzung der durch die Secretaría de Educación Pública vorgeschriebenen Lehrprogramme zur Erlernung der spanischen Sprache bereitete. Diese Situation hat sich bis heute grundsätzlich nicht geändert. Ähnliche Beispiele schriftlicher Texte wie die in dieser Untersuchung angeführten Zitate werden auch in einer Studie der Unidad de Publicaciones Educativas der Secretaría de Educación Pública angeführt (Piccini, 1989). Diese Studie kommt zu dem Ergebnis, daß die Praxis des Lesens bei Kindern, die die öffentliche Schulen besuchen, so gut wie unbekannt ist. Die Kinder versicherten zwar, daß Bücher dem Lernen dienten und auch Vergnügen bereiteten. Sie konnten jedoch kein einziges Buch nennen, von einigen Kindern in Michoacán abgesehen, deren Eltern Lehrer waren und ein Studium absolviert hatten.

5.3

Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der vierten Klasse der Grundschule: "Es que le digo a él que sí existen los pitufos"

Im Verlauf des Interviews in der vierten Klasse der Grundschule "Benito Juárez" in Nezahualcoyotl, die 65 Minuten ununterbrochener, äußerst angeregter Diskussion beinhaltete, erzählten die Kinder sehr viele Versionen des Gerüchts. Diese Versionen tauchten während der gesamten Befragung auf und wurden im Zusammenhang mit anderen Erzählungen modifiziert.

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5.3.1 Die den Kindern bekannten Versionen Die einfachste Version war, daß ein Schlumpfgegenstand, sei er eine Puppe, eine Schallplatte oder ein Schlüsselanhänger, ein Kind auf nicht näher dargelegte Weise umbrachte. Die Angaben zur Art des Mordes waren vielfaltig: der Schlumpf erhängte das Kind, riß ihm ein Stück Fleisch aus oder saugte ihm das Blut aus. Eine andere Version stellte darauf ab, daß der Mord erfolgte, als ein Erwachsener wegging oder die Mutter mit Wäschewaschen beschäftigt war, so daß der Junge, das Mädchen oder das Baby allein und wehrlos waren. Eine sehr gebräuchliche Version begann damit, daß das Kind den Angriff begann, um den Schlumpf umzubringen. Danach versuchte dieser seinerseits, sich zu rächen. Gemäß dieser Version waren die Schlümpfe nicht böse und verteidigten sich lediglich, weil die Kinder sie mißhandelten. In einer anderen Version mit glücklichem Ausgang wurde ein Kreuz oder ein Bild der Jungfrau Maria zur Lösung eingeführt. Dies verhinderte das Gelingen des Kindesmordes durch den Schlumpf, der dann wieder verschwand. Weil die Kinder im Verlauf der Befragung meinten, daß die Teilnahme erforderte, etwas Neues zur Erzählung beizutragen, war das Opfer kein Kind, sondern eine Frau. Dies wurde später noch gesteigert, als die Opfer eines Schlüsselanhängers, der lebendig wurde und erschien, einige Frauen waren, schließlich die ganze Familie "hasta el perro". Außerdem wurde der Gegenstand der Aggression zunehmend gefährlicher und steigerte sich in Menge oder Volumen. So handelte es sich nicht mehr um einen Schlüsselanhänger, sondern um eine Sammlung von Schlümpfen oder das gesamte Spielzeugdorf der Schlümpfe, was sowohl Prestige als auch die Legitimation zum Ergreifen des Wortes vermittelte. Besondere Bedeutung erlangte die Version vom erscheinenden Schlumpf, die anschließend dargestellt wird.

5.3.2 Erste Phase der Befragung: Der erscheinende Schlumpf und die damit verbundenen Assoziationen Unter den erzählten Gerüchteversionen über die Schlümpfe stellte die Version vom erscheinenden Schlumpf als eines Wesens, das erscheint und wieder verschwindet, die für dieses kulturelle Umfeld kennzeichnende Version dar. Hiermit begann das Interview. Ich bat einen der Jungen um Wiederholung seines mit einem anderen Jungen vor Einschaltung des Tonbandgeräts geführten Gesprächs. Später stellte sich heraus, daß der soeben von mir angesprochene Junge, Alfonso, der Anführer der Gruppe war und der einzige, der von anderen Kindern nament-

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lieh angesprochen wurde. Deswegen konnten seine Darlegungen namentlich gekennzeichnet werden, wogegen die Zitate der übrigen Kinder lediglich mit einer Referenzummer versehen sind. Alfonso: No, es que le digo a él que sí existen los pitufos. Dicen que un día un sefior puso un disco de los pitufos pa' su niño, y entonces estaba tocando, estaba tocando y salió el pitufo y al niño, este le arrancó un pedazo de carne y luego desapareció el pitufo y cuando el señor llegó, el niño estaba muerto. Nein, es ist so, daß ich ihm sage, daß die Schlümpfe doch existieren. Die Leute sagen, daß ein Mann eines Tages eine Schlumpfschallplatte für seinen Jungen auflegte, und als sie dann spielte, als sie dann spielte, und es kam der Schlumpf heraus und zum Jungen, dieser riß ihm ein Stück Fleisch heraus und danach verschwand der Schlumpf und, als der Mann zurückkam, war der Junge tot.

Junge Nr. 3: Sí que un día un niño tenía un muñeco de peluche de un pitufo, entons' que sale así, que aparece de verdad y que lo mata. Ja, eines Tages als ein Junge, der eine Schlumpfpuppe aus Plüsch hatte, da springt er daraus hervor, da erscheint er in Wirklichkeit und da tötet er ihn.

Alfonso: Por eso yo no tengo pitufos. Por eso mi mamá no me compra. Se ponen de verdad. Deshalb habe ich keine Schlümpfe. Deshalb kauft meine Mama sie mir nicht. Sie werden wirklich.

Junge Nr. 1: Yo vi un día un pitufo, que un día de la fiesta de una her, de una prima mía se le apareció un pitufo. Le regalaron un disco de pitufos y un 11averito y el llaverito revivió y estaba así dibujado el pitufo, el pitufo de esos que tenía la, se apareció, se apareció y luego lo mató a los, a los señoras. Mató a la familia hasta el perro. Ich sah eines Tages einen Schlumpf, daß an einem Festtag einer meiner Schwes, einer meiner Cousinen ein Schlumpf erschien. Ihr wurde eine Schlumpfschallplatte und ein Schlumpfschlüsselanhänger geschenkt und der Schlüsselanhänger wurde lebendig und so war der abgebildete Schlumpf da, der Schlumpf von denen, der diese hatte, erschien, er erschien und dann brachte er die, die Frauen um. Er brachte die ganze Familie um bis hin zum Hund.

Während der gesamten Befragung wurde das Wort "pitufo" 156mal erwähnt, wobei es 49mal im Sinne eines erscheinenden Wesens verwendet wurde, 17mal als eine Puppe, die lebendig wurde, 60mal als eine Figur der Fernsehsendung, 26mal als Spielzeug oder sonstiges Erzeugnis und viermal als Beiname einiger Kinder. Die Verben "aparecer" und "desaparecer" wurden 36mal erwähnt, "existir" 18mal, "salir" im Sinne von "lebendig werden" siebenmal und "revivir" viermal. Daneben wurden andere, diese Version kennzeichnende Synonyme verwendet wie "poner de verdad", "animar", "hacer realidad" und "poner vida". Was bedeutete ein Sprechen über etwas, das existiert, erscheint, verschwindet, lebendig wird? Es handelte sich um etwas, das scheinbar kein Leben besaß, in

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Wirklichkeit aber doch, oder es zumindest erlangen konnte, etwas, das sich scheinbar nicht bewegte, jedoch sich gleichwohl bewegte und nachts umging, etwas, das scheinbar nichts Böses vollbringen konnte, es aber in Wirklichkeit dennoch tat. Dieses bildete den erzählerischen Rahmen, innerhalb dessen sich Assoziationen herstellen ließen mit Mythen Uber ruhelose Seelen, mit Erzählungen über Puppen oder sonstige Gegenstände, die lebendig werden können, über Verbrennungen von Schlümpfen wie auch Erzählungen des religiösen Volksglaubens, die sich mit dem Teufel und der Jungfrau Maria befaßten. Insbesondere diese Assoziationen verschafften der Version vom erscheinenden Schlumpf Glaubwürdigkeit.

5.3.2.1 Mythen über ruhelose Seelen Im Einklang mit den mündlichen Volkstraditionen Mexikos können die Seelen der Toten, wenn sie für etwas Böses noch nicht genügend Strafe verbüßt haben, nachts als Schatten umgehen, die Lebenden aufsuchen, sie erschrecken, ihnen erscheinen und als Geist wandeln. Die Kinder erwähnten eine Legende präkolumbianischer Tradition, am 2. November, dem "Dia de los Muertos", feierlich der Toten zu gedenken. Dieser Feiertag hat in Mexiko nur wenig mit dem zeitgleichen europäischen Feiertag Allerseelen zu tun. Die indigenistische Bevölkerung Mexikos hat eine spezielle Vorstellung vom Tod, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Am 2. November finden viele rituelle Aktivitäten mit Bezug auf die Toten statt. Dazu zählt etwa das Schmükken des Hauses mit "Cempazüchil-Pflanzen", die nur für dieses Fest angebaut und gekauft werden, der Aufbau eines Hausaltars, auf dem als Opfergaben Essen und Getränke, die der Verschiedene mochte, hingestellt werden, auf daß er sich dem Altar nähere und die Gaben versuche. Es ist üblich, vor diesem Tag Totenschädel aus Zucker zu kaufen und, versehen mit dem Namen eines Freundes, an diesen zu verschenken. Diese wie auch andere Gebräuche spiegeln eine ebenso vertraute wie ironische Haltung dem Tod gegenüber wieder. Über dieses Thema unterhielten sich drei Kinder. Alfonso: Dicen que en el dia de los muertitos, cuando les ponen comida, es cuando los muertitos sale su pura sombra, van a la casa donde es familia de ellos

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Die Leute sagen, daß am Tag der "muertitos" (Totenlein) 1 6 , wenn ihnen Essen gebracht wird, es ist, wenn die Totenlein als bloßer Schatten heraustreten und in das Haus gehen, in dem ihre Familie ist

Junge Nr. 4: Sí es cierto. Ja, das stimmt.

Alfonso: Y de allí se llevan el olor de toda la comida. Und von dort nehmen sie den Geruch allen Essens mit.

Junge Nr. 4: Cuando se acabe el mundo van a salir todos los muertitos. Wenn die Welt aufhört, erstehen alle Totenlein auf.

Alfonso: Luego ya cuando pasan ocho días se les quita la comida y luego ya no tiene nada de olor, porque el olor se lo llevaron los muertitos. Danach, wenn bereits acht Tage vergangen sind, wird ihnen das Essen weggenommen und dann riecht es nicht mehr, denn den Geruch haben die Totenlein mitgenommen.

Mädchen Nr. 2: Sí es cierto. Se lo llevan para comer. Ja, das stimmt. Sie nehmen ihn w e g um zu essen.

Von den Toten wurde nicht nur erzählt, daß ihnen eine Form des Lebens und Essens zu eigen sei, sondern auch Geschichten über weiterhin büßende Toten wie die unten zu erwähnende Legende von der "Llorona".

5.3.2.2 Legenden und religiöse Volkstraditionen über den Teufel und die Jungfrau Maria Das Gerücht über den erscheinenden Schlumpf wurde auch mit den Legenden und religiösen Volkstraditionen über den Teufel und die Jungfrau Maria verbunden. Beide Figuren tauchten als Wesen auf, die lebendig werden können, auf dieselbe Art und Weise wie die Schlümpfe auch. Die Kinder kannten sich in den Mythen über die Erscheinungen der in Mexiko in vielen Varianten verehrten Jungfrau Maria aus, vor allem aber der "Virgen de Guadalupe". 1 7 Ihr werden Wunderkräfte zugeschrieben wie Heilung, Schutz vor der Bösartigkeit der realen Welt, aber auch vor derjenigen übernatürlicher Wesen, seien es Teufel, böse Erscheinungen oder gewalttätige Schlümpfe. Die Kinder versetzten die Jungfrau Maria in ihren Unterhaltungen in das Umfeld des Wunders. Sie erschien als ein 16

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Der Gebrauch der Verkleinerungsformen in der Alltagssprache Mexikos ("muertitos", "diosito", "abuelita") ist sehr häufig. Bezieht man sich auf Personen oder Gegenstände ohne Verkleinerungsform, könnte dies manchmal als grob und ungehobelt empfunden werden. Diese Arbeit behält i.d.R. die Verkleinerungsformen bei, selbst wenn die Übersetzung dabei schwerfallig wirkt. Die "Virgen de Guadalupe" ist die Schutzpatronin Mexikos. Sie wird darüber hinaus in ganz Lateinamerika und von der Spanisch sprechenden Bevölkerung der U S A verehrt.

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Wesen, das die sich in Gefahr befindenden Personen durch ihre Gegenwart in Gestalt eines Medaillons oder eines Bildes rettet. So erschien sie auch, als der Schlumpf sein Opfer angreifen wollte. Sie brachte ihn zum Verschwinden und führte auf diese Weise die Geschichte einem glücklichen Ende zu. Junge Nr. 1: Yo tengo una colección de pitufos con la aldea y un día yo estaba, yo casi me duermo casi a la media noche porque ahí me estaban molestando los moscos, me, tengo como que tengo una caja de pitufos así, también tengo la aldea y todo así, y salió un pitufo y se hizo grande y como que iba a buscar a alguien allá na'más que como vió a la Virgen que estaba ahí, un cuadro que tengo y se desapareció... Ich habe eine Sammlung von Schlümpfen mit dem Spielzeugdorf und eines Tages war ich, ich war fast eingeschlafen fast um Mitternacht weil mich die Mücken begannen zu belästigen, mich, ich habe, also ich habe eine Schachtel mit Schlümpfen, ich habe das Dorf und alles so, und es wurde ein Schlumpf lebendig und machte sich groß und als ob er dabei sei, jemanden dort zu suchen, nur so, weil er die Jungfrau Maria dort sah, ich habe ein Bild, und er ist verschwunden...

Besonders häufig erzählten die Kinder Geschichten über den Teufel. Sein Name wurde 66mal erwähnt und sechsmal als "Satan". Mehrmals im Verlauf der Befragung wurde behauptet, daß der Teufel in Wirklichkeit existiert. Jedoch nahm seine Existenz unterschiedliche Gestalt an. Er konnte als Katze auftreten oder aber als eine Sache wie das "traje de diablito", das Alfonso erwähnte und über das er ausführte: Alfonso: A las 12 de la noche, cuando existe el diablo, este, el traje, este, se fue caminando él solo, este así, él sólo se transformó como si alguien lo anduviera trayendo... Um 12 Uhr nachts, wenn der Teufel existiert, äh, das Kostüm, äh, fing an, allein zu laufen, äh so, es verwandelte sich ganz allein, als wenn jemand dabei sei, es zu tragen...

Der Teufel konnte sich in ganz normale Leute verwandeln, sie verwirren, umbringen. Er ritt auch zu Pferd wie andere Wesen in ländlichen Legenden, sprach mit den Leuten, erschreckte sie, verwandelte die Menschen zum Bösen, j a er konnte sogar die Gestalt der Jungfrau Maria annehmen und die Leute betrügen wie in folgender Darlegung. Alfonso: Dicen que la Virgen que se aparece en los árboles es el diablo porque en los árboles enveces dan flores y dicen que las flores son los diablos porque cuando agarraron al diablo le pusieron una corona de flores y a diosito le pusieron una corona de espinas, por eso toda clase de animal es el diablo... Die Leute sagen, daß die Jungfrau Maria, die in den Bäumen erscheint, der Teufel ist, weil in den Bäumen manchmal Blumen kommen und die Leute sagen, daß die Blumen die Teufel sind, weil, wenn man den Teufel ergriffen hat, ihm eine Blumenkrone aufgesetzt wird, und dem Göttchen eine Dornenkrone gegeben wurde, deshalb ist jede Art von Tier der Teufel...

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Die Macht des Teufels erfuhr eine gewisse Grenze durch die Macht Gottes, des Kreuzes und der Jungfrau Maria. Auch dies stellte einen Teil der Erzählungen der Kinder dar, wie weiter unten aufgezeigt wird.

5.3.2.3 Erzählungen über lebendig werdende Puppen und Verbrennungen von Schlümpfen Die Version des erscheinenden Schlumpfes verband sich auch mit Erzählungen über lebendig werdende Puppen, mit Schilderungen von sich bewegenden Gegenständen. Geschichten über nachts lebendig werdende Puppen wie Pinocchio sowie über sich bewegende und mit den Leuten sprechende religiöse Gegenstände waren den Kindern sehr bekannt. Der Junge Nr. 3 fügte den Erzählungen über Schlumpfpuppen als Angreifer eine spezielle Nuance hinzu, die als mögliche Erklärung dienen konnte, warum so gutmütige Wesen wie die Schlümpfe sich in böse verwandeln konnten. Ihm zufolge mißhandelten zunächst die Kinder die Puppen, weshalb jene sich schadlos hielten und an den Kindern Rache nahmen. Diese Erzählung schien auf einen Anhaltspunkt in populären Legenden zu treffen. Der Junge Nr. 3 brachte diese Thematik dreimal vor. Im übrigen wurde sie insbesondere durch die Mädchen aufgegriffen sowie durch den Jungen Nr. 1. Mädchen Nr. 1: También las muñecas, también las muñecas, si uno las avienta, las deja tiradas, también las muñecas cobran vida y en las noches los 'horcan cuando uno se duerme con ellas. Auch die Puppen, auch die Puppen, wenn man sie wegwirft, sie weggeworfen liegen läßt, auch die Puppen werden lebendig und nachts hängen sie einen auf, wenn man mit ihnen schläft.

Neben den auch aus dem Fernsehen bekannten Schlümpfen stellten die Kinder auch Bezüge zu anderen Fernsehsendungen her wie Cometa und La Bailena Josefina. Alfonso: Entonces dijo mi mamá que ya no me iba a comprar nada porque todas las cosas existen como la caricatura de Cometa que dicen que los juguetes si los destruimos existen y hasta nos pueden hacer algo. Dann sagte meine Mama, daß sie mir nichts kaufen würde, weil alle Dinge existieren, wie in der Zeichentricksendung von Cometa gesagt wird, daß, wenn wir Spielzeug zerstören, dieses lebt und uns auch etwas antun kann.

Junge Nr. 3: ¡Aja!., un día yo vi la película de Cometa que aventaron unos muñecos de guerra. Sí los estaban desarmando y los aventaban y los rompían y Cometa con la, con su magia los animaba y después los hacía que caminaran y disparaban bombas y todo y en la noche que sale como una grúa y empieza a salir humo y los duerme a los niños y piensan cosas feas.

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Aha! Eines Tages habe ich den Film Cometa gesehen, wobei einige Soldatenpuppen weggeworfen wurden. Als sie entwaffnet waren und weggeworfen und sie dann zerbrachen und Cometa mit der, mit ihrer Zauberei belebte sie wieder und danach machte sie, daß sie liefen und Bomben abschickten und alles und in der Nacht kommt ein Kran heraus und beginnt, Rauch abzugeben und die Kinder schlafen und träumen schreckliche Sachen.

Anhand dieser Sendung behauptete Alfonso, daß nicht nur die Puppen und die Schlumpfobjekte lebten, sondern "todas las cosas existen", alle Dinge konnten lebendig werden und sich bewegen. Dem Jungen Nr. 3 diente die Sendung über den Walfisch Josefina dazu, nicht nur Kritik an Kindern zu üben, die ihre Puppen schlecht behandelten, sondern auch an Kindern, die Tiere mißhandelten. Er erzählte den Inhalt einer Sendung, in der die Tiere an einem Jungen, der eine Schildkröte, eine Katze und einen Vogel weggeworfen hatte, das Urteil vollstreckten, indem sie ihn zur Strafe ins Wasser warfen. Der Junge Nr. 3 identifizierte sich völlig mit den Puppen und Tieren. Ihm zufolge fühlten und litten sie wie Menschen. Er erzählte den folgenden Traum: Junge Nr. 3: Un día unos nifios aventaban desde el cerro, aventaban unos pitufos y iban llorando los pitufos cuando iban dando de vueltas y por eso los pitufos ya asesinan a los niños porque los avientan a los pitufos. Los pitufos son buenos na'más que como los niños eran malos a veces a unos muñecos lo, les quitaban las patas, los, les quitaban todo, así las manos, los ojos, así les quitaban y en la noche los pitufos iban al cielo, después en la noche cuando los niños y cuando los niños se dormían, este, los pitufos les arrancaban los dedos, las uñas, Ies arrancaban todo y se rasguñan, cuando les hacían algo a sus muñecas, se les aparecían y les arrancaban las greñas. Eines Tages warfen einige Kinder vom Hügel herunter, warfen einige Schlümpfe herunter und die Schlümpfe fingen an zu weinen als sie herunterrollten, und deshalb ermorden die Schlümpfe die Kinder, weil sie die Schlümpfe wegwerfen. Die Schlümpfe sind gut, nur waren die Kinder böse, manchmal reißen sie den Puppen die Beine aus, sie, sie reißen ihnen alles aus, so die Hände, die Augen, so reißen sie die ab und nachts gingen die Schlümpfe in den Himmel, danach nachts, als die Kinder und als die Kinder eingeschlafen waren, äh, die Schlümpfe reißen ihnen die Finger und Zehen, die Nägel aus, sie rissen ihnen alles aus und kratzen sie, wenn sie etwas ihren Puppen antun, sie erschienen ihnen und rissen ihnen Haarbüschel aus.

Gegen Ende der Befragung tauchte eine weitere, für dieses kulturelle Umfeld kennzeichnende Erzählung auf. Sie befaßte sich mit der Verbrennung von Schlumpfpuppen auf Müllkippen, auf der Straße oder am Abwasserkanal, an dem häufig Müll verbrannt wurde. Dies erfolgte in einem Erzählumfeld, in dem die Geschichten nicht mehr ausschließlich das Produkt Dritter darstellten. Einige Geschichten, wie das Beispiel unten, wurden unter Gebrauch der ersten Person Singular, wie von den Kindern selbst erlebt, erzählt.

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Mädchen Nr. 3: Yo tenía un pitufo y lo quemé, en frente de mi casa lo quemé, lo eché así desde arriba de la azotea lo eché así, luego así se fue, así se fue la lumbre, se fue apagando cuando el pitufo iba para abajo, luego que me subo otra vez y que bajo por el pitufo y otra vez la lumbre se empezó a prender y cuando agarré al pitufo estaba bien caliente, bien caliente y que lo vuelvo a aventar y en la noche se me apareció en el baño. Ich hatte einen Schlumpf und habe ihn verbrannt, vor meinem Haus habe ich ihn verbrannt, ich habe ihn so von oben von der Dachterrasse geworfen, ich habe ihn so geworfen, dann ging, dann ging die Flamme weg, sie ging langsam aus als der Schlumpf nach unten fiel, dann als ich wieder nach oben ging und nach unten ging wegen des Schlumpfs und die Flamme noch einmal anging als ich den Schlumpf anpackte, war er ganz heiß, ganz heiß, und ich warf ihn wieder weg, und abends erschien er mir im Bad.

5.3.2.4 Die Fernsehsendungen über die Schlümpfe Die Kinder erwähnten die Fernsehsendung Los Pitufos selbst als ein Element, das in ihren Augen dem Gerücht über die Schlümpfe Glaubwürdigkeit verlieh. Obgleich die Sendung generell die Schlümpfe als gutmütige Wesen darstellte, wiesen die Kinder auf Aspekte hin, die zur Begründung der Bösartigkeit dieser Figuren dienten und Magie oder Zauberei darstellten. In den Sendungen verfugten sowohl der Zauberer Gargamel als auch der Papa Schlumpf über die Fähigkeit der Herstellung von Zaubertränken, die Wesen gut oder böse machen könnten. In einer der ersten Sendungen wurde die einzige weibliche Figur, "Pitufina", durch Gargamel geschaffen, der Zwietracht unter den Schlümpfen säen wollte. Papa Schlumpf verwandelte sie jedoch, so daß sie anschließend gut wurde. Die Kinder nahmen dieses Kapitel auf: Alfonso: En la película de los pitufos, que dicen que el Gárgamel hizo a los pitufos para que existieran y se comieran a los niños. Im Film über die Schlümpfe wird gesagt, daß Gargamel die Schlümpfe machte, daß sie leben und die Kinder fressen.

Junge Nr. 3: No, na'más hizo a Pitufina. Nein, er hat nur Schlumpfine gemacht.

Alfonso: Ajá, dicen que los hizo a los pitufos para que los pitufos de juguete y los que salen, o sea que los pitufos que salen son los de juguete y esos que se comen a la gente que sólo los hizo para que se comieran a toda la gente y por eso unos que por allá en el pueblo que dicen que cortan las cabezas. Aha, es wird gesagt, daß er die Schlümpfe gemacht hat, damit die Schlumpfspielzeuge und diejenigen, die auftreten, oder die Schlümpfe, die auftreten, sind die Spielzeuge und diese, die die Leute fressen, daß er diese nur gemacht habe, daß sie alle Leute fressen könnten und deshalb einige von dort im Dorf, die sagen, daß sie die Köpfe abhauen.

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Junge Nr. 1: ¡Ah! Ach!

Alfonso: son los que los llevan al país de los pitufos, el brujo Gárgamel y de las cabezas hacen pitufos. diejenigen, die sie ins Land der Schlümpfe bringen, der Zauberer Gargamel und aus den Köpfen machen sie Schlümpfe.

Diese Passage zeigte eine mündliche Anpassung des zuvor Dargelegten, die dazu diente, die Glaubwürdigkeit des Gerüchtes zu erklären, wobei der Anführer seine Auslegung anderen Kindern aufzwang. Dabei wurden mündliche Formen der anonymen Stimme einer Gemeinschaft und bestimmte Regeln der Produktion von Legenden und traditionellen Erzählungen in den Dörfern verwendet, die im oben wiedergegebenen Zitat unterstrichen sind. Diese Formulierungen Alfonsos verwiesen auf Erzählungen seiner Großmutter, die er mehrmals im Verlauf der Befragung erwähnte. Auf diese Weise wurde ein audiovisueller Diskurs mit lokalen mündlichen Produktionen gleichgesetzt. Die Kinder wiederholten während des Interviews an mehreren Stellen, daß die Figuren der Sendungen gut waren, daß in den Nachrichten jedoch das Gegenteil verbreitet wurde. Junge Nr. 1: Yo vi una película de los pitufos... que un día esos pitufos que así no salen en la tele que son buenos y que salían en las noticias que habían ahorcado a cinco niños en una casa. Ich sah einen Film über die Schlümpfe... daß eines Tages die Schlümpfe, die so nicht im Fernsehen vorkommen, daß sie gut sind, und daß in den Nachrichten kommt, daß sie in einem Haus fünf Kinder erhängt hatten.

Junge Nr. 3: Sí es cierto. Ja, das stimmt.

Junge Nr. 1: Y a la señora la ahorcaron y salieron por atrás los cinco, los cinco pitufos. Und sie hingen die Frau auf, und dann gingen die fünf weg, die fünf Schlümpfe.

In der Befragung wurde auch das Lied, mit dem die Fernsehsendung begann, aufgegriffen. Der Text dieses Liedes erzählte in Form eines Märchens: Desde hace muchos años en el lejano bosque existe una aldea escondida donde viven creaturitas. Se llaman pitufos y son bondadosos pero también existe Gárgamel, el malvado hechicero... El bosque sigue ahí. Si escuchan con atención quizá oigan los gritos de Gárgamel y si se portan bien, es posible que vean por ahí a los pitufos. Das Mädchen Nr. 1 bezog sich auf dieses Lied, um der Existenz der Schlümpfe Glaubwürdigkeit zu verleihen:

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Mädchen Nr. 1: También dicen que los pitufos existen muy lejos de aquí en donde, como unas aldeas que están muy lejos de aquí. Auch sagt man, daß die Schlümpfe weit weg von hier existieren, dort wo, wie einige Dörfer, die von hier sehr weit weg sind.

Das Lied wurde durch Mädchen Nr. 1 erzählt wie eine lokale mündliche Erzählung, die es von jemand anderem gehört hatte: "También dicen que". Die direkten Referenzen auf die Sendung Los Pitufos und andere audiovisuelle Diskurse wurden während der Befragung häufig verwischt. Auch das genaue Gegenteil war festzustellen, daß von den Kindern erfundene Geschichten als Szenen der Fernsehsendung über die Schlümpfe ausgegeben wurden, wie unten dargelegt wird. Deutlich wurde, daß den Kindern die Sendezeit und der damalige Sender sehr gegenwärtig waren. Sogar die Ansage der Sendungen während der Ferienzeit wurden im Interview zitiert: Junge Nr. 1: Supervacaciones...Las Aventuras de Los Pitufos. Superferien... Die Abenteuer der Schlümpfe.

An verschiedenen Stellen der Befragung griffen die Kinder Figuren der Sendungen auf. Dies traf etwa für den Kuchen backenden Bäckerschlumpf zu, wobei hinzugefugt wurde, daß es sich um Zauberkuchen handelte, eine mit ihrer Interpretation der Sendungen übereinstimmende Nuance. Auch wurde ein mit "Sopa a la Pitufo" bezeichneter Teil erzählt. Er handelt von der fixen Idee Gargamels, die Schlümpfe als Suppe zu verspeisen. Am Ende dieser von den Kindern sehr eingehend erzählten Geschichte, schnitten sie erneut das sie beunruhigende Thema an, wie gute Personen sich in böse verwandeln können, und bezogen sich dabei auf eine Sendung. Junge Nr. 1: Yo vi la segunda parte de los pitufos. Era de un pitufo que se volvía bueno, se volvía malo. Se volvía rojo que les picó algo así y que los pitufos se volvieron así malos. A todos les picaron, a todos. Ich habe den zweiten Teil der Schlümpfe gesehen. Er handelte von einem Schlumpf, der gut wurde und dann schlecht wurde. Er wurde rot als etwas sie stach und so wurden die Schlümpfe schlecht. Alle wurden sie gestochen, alle.

Junge Nr. 3: A todos les echaron. Alle bekamen sie etwas drüber geworfen.

Junge Nr. 1: Les echaron algo que no sé qué era, algo como polvito para que les salieran cuernos y todo. Luego les salió pelo negro y unos cuernos acá y los otros acá. Y les salió todo el cuerpo y se volvieron grandotes... Sie bekamen etwas drüber geworfen, wovon ich nicht weiß, was es war, etwas wie ein Pülverchen, damit sie Hörner bekamen und alles. Dann bekamen sie eine schwarze Haut und einige Hörner hier und die anderen dort. Und sie kamen aus ihrem ganzen Körper und sie wurden riesengroß...

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Diese Darlegungen spielten wiederum auf das Thema der Magie an, ein die Sendungen strukturierendes Element, das aufgegriffen wurde, um die Glaubwürdigkeit des Gerüchtes über die Schlümpfe herzustellen. Etwas später, während der zweiten Phase der Befragung, wird die Figur des Teufels rechtfertigen, daß die guten Schlümpfe böse werden. Zwischen Gargamel und dem Teufel, mit Bezug zur Magie des einen und den übernatürlichen Kräften des anderen, werden sich weitere Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe herstellen lassen. Als vorläufige Schlußfolgerung dieser Phase kann festgestellt werden, daß die Erzählungen der Kinder der vierten Klasse der Schule Benito Juárez zum einen übernatürliche Erklärungen beinhalteten. Diese stammten aus religiösen Erzählungen, in denen der Teufel, die Jungfrau Maria und Mythen über die ruhelosen Seelen erwähnt wurden. Zum anderen beinhalteten sie magische Erklärungen, die aus den Fernsehsendungen Los Pitufos, Cometa, La Ballena Josefina sowie anderen Märchen stammten.

5.3.3 Einige Aspekte der Gruppendynamik der ersten Phase In diesem Teil wird erörtert, welche Gruppendynamik ermöglichte, daß die Version über den erscheinenden Schlumpf auftauchte und sich ausbreitete.

5.3.3.1 Interaktionsschema zwischen den Kindern und der Interviewerin Der Anfuhrer der Gruppe, Alfonso, trug diese Version, wie bereits erwähnt, in einem Augenblick vor, als mir seine Rolle und Bedeutung innerhalb der Gruppe noch nicht bekannt war. Die übrigen Kinder bestätigten und vervollständigten diese Version und trugen dazu bei, ihr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Als Interviewerin beschränkte ich mich darauf, die Teilnahme aller Kinder anzuregen und jedes von ihnen ausdrücklich danach zu fragen, was es gehört hatte. Diese Regel wurde von der Gruppe übernommen, so daß nach ungefähr zehn Minuten mehrere Kinder anderen vorwarfen, bisher noch nichts beigetragen zu haben und versuchten, sie zum Sprechen zu bewegen. Das Ausgangsschema bestand aus Frage und Antwort. Die Kinder faßten sich als Informanten und mich als die Interviewerin auf. Jedoch begann dieses Schema sich bald zu verändern in dem Maße, wie die Kinder verstärkt untereinander eine Unterhaltung begannen und ihre Assoziationen zum Gerücht einbrachten: Filme, Fernsehsendungen, mündliche Erzählungen und Träume. Die Kinder stellten dann keine Informanten mehr dar, sie wurden vielmehr zu Geschichtenerzählern, Schilderern von Filmen, Traumerzählern. Dies führte dazu, daß die Interviewerin

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sich in eine der Gruppe Lauschende verwandelte, zu einer Zuhörerin von Geschichten, Filmen und Träumen. Dabei entstand die stillschweigende Regel, daß über jede Art von Erzählungen, Filmen, Legenden und Träumen gesprochen werden könnte, die eine vage Verbindung zu den Schlümpfen oder zu Erscheinungen aufwiesen. Die Interviewerin gestattete dies. Sie fragte die Kinder interessiert, unterbrach sie auch gelegentlich bei Verständnisschwierigkeiten oder wiederholte die Äußerungen unmittelbar, um auf diese Weise die Bedeutung dieser Darlegungen für die Gruppe besser erkennen zu können und die Erzählungen anzuregen. Wiederholt verdeutlichte die Interviewerin die Regeln der Gruppenpartizipation, daß nur ein Kind nach dem anderen reden sollte, daß genügend laut geredet werde, so daß auch die anderen die Aussagen verstehen könnten. Als ich bei einer solchen Gelegenheit einen Jungen bat, doch lauter zu sprechen, fragte mich der Anfuhrer der Gruppe, Alfonso: Alfonso: ¿Quiere que eche gritos? Wollen Sie, daß er losbrüllt? Diese Reaktion verdeutlichte eine der Vorstellungen, die die Kinder von mir hatten, nämlich einer Person, die eine gewisse Achtung und Ansehen verdient. Wie andere, ihnen nicht näher bekannte Erwachsene, sprachen sie auch mich mit "usted" an. Zugleich stellte dies einen Beleg ihrer Aufmerksamkeit gegenüber meiner Bitte um Information dar. Unter Berücksichtigung verschiedener Ausfuhrungen der Kinder kann festgestellt werden, daß sie davon ausgingen, daß mein Interesse vor allem auf Erzählungen mit Bezug auf die Schlümpfe gerichtet war. So wurde in einigen Fällen die Bezeichnung "pitufos" gebraucht, obwohl der Zusammenhang zu den Schlümpfen nicht ersichtlich wurde.

5.3.3.2 Der Grad der Glaubwürdigkeit der Erzählungen der Kinder im Zusammenhang mit der Gruppendynamik Inwieweit die Kinder selbst es für glaubwürdig hielten, daß die Schlümpfe erschienen und wieder entschwanden, ließ sich letztlich nicht ergründen. Offensichtlich ist lediglich, daß die Kinder dies erzählten. Die Spielregeln der Befragung bestimmten, daß geäußert werden konnte, daß die Schlümpfe und andere Figuren erschienen und wieder entschwanden, "que existen". Das Ausmaß des Glaubens ist jedoch nur schwer abschätzbar, zumal der Anführer, Alfonso, den Zweiflern drohte. Die Gruppendynamik erlaubte, daß er die Regel, hieran sei zu glauben, durchsetzte, die die anderen dann annahmen. Dies geschah, als eines der Mädchen seine Ungläubigkeit zum Ausdruck brachte, nachdem der Junge Nr. 1

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erzählt hatte, daß die Schliimpfe gegen die Fernsehfiguren der Superhelden kämpften. Mädchen Nr. 2: Y o no creo que los, existen. Ich glaube nicht, daß die, leben.

Alfonso: Y dicen que los que no creen, que se les va a aparecer y dicen que los que sí creen no Ies pasa nada. Und die Leute sagen, daß diejenigen, die nicht daran glauben, daß sie ihnen erscheinen werden, und die Leute sagen, daß denjenigen, die daran glauben, nichts passiert.

Interviewerin: Que los que sí creen, ¿qué? Was ist mit denen, die daran glauben, was?

Alfonso: N o les pasa nada y los que dicen que no, que no sé que existen, se les aparece. Es passiert ihnen nichts und diejenigen, die sagen, daß nicht, daß ich nicht weiß, daß sie existieren, ihnen erscheinen sie.

Mädchen Nr. 1: También una niña no cree en nada, una que se sienta conmigo tampoco no cree en nada, ni en la Virgen. Dice que en los cuadros Satanás los hizo. Satanás las hizo a las Vírgenes que nosotros porque creemos en Dios, nos vamos a ir con el infierno. En el infierno cuando nos mueramos. Es que ella no cree en Dios. Auch ein Mädchen, das an nichts glaubt, eines, das neben mir sitzt, glaubt auch an nichts, auch nicht an die Jungfrau Maria. Sie sagt, daß ihre Bilder von Satan gemacht worden sind. Satan hat die verschiedenen Jungfrauen Maria gemacht, daß wir, weil wir an Gott glauben, in die Hölle geraten werden. In der Hölle, wenn wir sterben werden. Es ist so, daß sie nicht an Gott glaubt.

Dem Mädchen Nr. 1 zufolge war die Tatsache, nicht an die Jungfrau Maria zu glauben, gleichbedeutend mit Gottlosigkeit bzw. dem Glauben an überhaupt nichts. Ein bestimmtes Muster verbaler Äußerungen blieb während der gesamten Befragung erhalten. Der Anführer und im allgemeinen die Jungen versuchten, Erzählregeln durchzusetzen, die das Einfuhren immer phantastischerer Geschichten wie über die Superhelden ermöglichten, und drohten denjenigen, die diesen Regeln nicht folgten. Die Mädchen versuchten dagegen, ein weniger phantastisches Erzählspiel durchzusetzen, allerdings mit nur geringem Erfolg. Ihnen verblieb schließlich nur die Übernahme der Spielregeln der Jungen und die Beschuldigung der Kinder, die sie nicht einzuhalten schienen, die also nicht an die Jungfrau Maria glaubten. Sie schränkten ihre Teilnahme ein. Während des Spiels, Geschichten über lebendig werdende Puppen auszudenken und zu erzählen, fragte ich die Kinder direkt danach, ob sie Schlumpferzeugnisse besaßen, um eher abschätzen zu können, welche Glaubwürdigkeit sie dem Gerücht beimaßen. Die Reaktion war uneinheitlich.

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Die Jungen, die sich in besonders ausgeprägtem Maße an der Befragung beteiligt hatten, wie etwa Alfonso und der Junge Nr. 3, versicherten, daß sie "nada" besäßen. Alfonsos Mutter kaufte ihrem Sohn nichts dergleichen. Er erklärte rundheraus, weil "los pitufos sí existen". Er schloß die folgende Überlegung an: Alfonso: pueden hacer muertes, como somos cinco hermanos, al más chiquito le pueden hacer algo. sie können Tote machen, und da wir fünf Brüder sind, könnten sie dem kleinsten etwas antun.

Ein anderer Junge dagegen, der Junge Nr. 1, nutzte die Gelegenheit dazu, mit dem Besitz von fünf Schlumpfkalendern zu prahlen. Die Mädchen, die sich in geringerem Umfang an der Unterhaltung beteiligt hatten, behaupteten mehrmals, daß sie einige Puppen besäßen, einige Haarspangen oder sonst irgendwelche kleinen Dinge. Sie legten dies ohne Furcht und sehr ruhig dar. Dies bewirkte, daß der Anfuhrer Reue empfand und folgendes behauptete: Alfonso: A veces na'más yo compro pitufitos, pero así en hilos así y luego los pierdo o ni sé donde los dejo, los tengo colgados en la casa y en la mañana cuando amanece ya no tengo pitufos. Manchmal kaufe ich nur so Schlümpfchen, aber so in Fäden und dann verliere ich sie oder ich weiß nicht, wo ich sie gelassen habe, ich habe sie aufgehängt zu Hause und morgens bei Sonnenaufgang habe ich keine Schlümpfe.

Mädchen Nr. 1: ¿Se te caen a la mejor? Sind sie dir vielleicht heruntergefallen? Alfonso antwortete hierauf nicht. Das Mädchen Nr. 3 erzählte jedoch sofort danach, daß es seine Puppe verbrannt hatte, wie bereits an früherer Stelle dargelegt. Das Gespräch vermittelte den Eindruck, daß ein gewisses Dilemma bestand. Zum einen vermittelte der Besitz modischen Spielzeugs, also von Schlumpferzeugnissen, ein gewisses Prestige. Zum anderen waren jedoch die bisherigen Äußerungen über die Existenz der Schlümpfe zu berücksichtigen. Dies bewog vermutlich einige der Kinder dazu, sich vorsichtig auszudrücken. Im übrigen verbleibt anzumerken, daß in diesem Zusammenhang erneut ein Mädchen Ungläubigkeit darüber äußerte, daß Schlumpfgegenstände gewalttätig werden könnten.

5.3.4 Zweite Phase der Befragung: Das Schema der Verfolgung gewann die Oberhand Die Version des Gerüchts vom erscheinenden Schlumpf, die in die Welt von Wesen, die lebendig werden können, einführte, gewann im kulturellen Umfeld

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der Kinder der vierten Klasse der Schule Benito Juárez im Verlaufe der Befragung zunehmende Bedeutung. Dabei ermöglichte die Gruppendynamik, unterschiedliche Nuancen einzubeziehen. In der zweiten Phase kamen neue Assoziationen auf, andere wiederum blieben weiterhin bestehen. Die Erzählungen wurden in ausgeprägtem Maße miteinander verknüpft und beanspruchten deshalb eine längere Zeit als während der ersten Phase. Zu den besonders bedeutsamen Assoziationen zählten die Fernsehsendungen über Superhelden und Helden des Freistilringens, die Legende von der "Andalona", einer lokalen Variante der Legende von der "Llorona", wie auch religiöse Erzählungen über Gott, vermischt mit solchen über den Teufel. Ihnen war ein bestimmter Wesenszug gemeinsam aufgrund der vorherrschenden Handlungsstruktur, der Verfolgung. Aufgrund einer Analyse der Figuren, Handlungen sowie von Ort und Zeit der von den Kindern erzählten Geschichten ergab sich die Verfolgung als typische Aktion. Die Mächte des Bösen standen in Auseinandersetzung mit den Mächten des Guten: Der Teufel und die Andalona kämpften gegen Gott, gegen die Superhelden und die Helden des Freistilringens. Die Schlümpfe befanden sich zwischen beiden Mächten. Die Kinder waren die Opfer der Schlümpfe, die ihrerseits unter dem Einfluß und der Macht des Teufels und der Andalona standen. Jedoch machten sich "diosito" und die Superhelden zur Verteidigung der Kinder auf. Die Erzählungen über diesen Krieg nahmen ungefähr die Zeitspanne von einer halben Stunde ein.

5.3.4.1 Die Superhelden und "El Santo" gegen die Schlümpfe Die Figuren der Zeichentricksendungen über Superhelden traten in Aktion, als der Junge Nr. 1, der zweite Anführer der Gruppe, folgendes erzählte: Junge Nr. 1: Un día las, las caricaturas de Los Superamigos hicieron que se trataba de la venganza de los pitufos y luego empezó con que el diablo los mandaba a los pitufos a que mataran a todos los niños y le trajera las cabezas pa'que no se acabara la lumbre y luego los Superamigos los, vencieron porque pues, porque Satanás mandó a más Pitufos a que lo ayudaran, na'más que necesitaba más y le llegaron más y le dió unos grandotes y lo volvieron a armar y después en un helicóptero mandaron a un Pitufo y el Pitufo mató a todos los que iban adentro en el helicóptero y este Satanás les dice y estaba muy enojado porque ya estaban ganando los Superamigos y llegó un día cuando amaneció ya estaban unas cabezas en la calle ahí, llenas de sangre y todo y unas cabezas bien hartas y los Superamigos mandaron a Superman en algo y se lo lie, y a Superman se los llevaron al infierno, na'más que Superman tiene rayos X. Eines Tages machten die, die Zeichentricksendungen der Superhelden, daß es um die Rache der Schlümpfe ginge und danach begann es, daß der Teufel den Schlümpfen

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befahl, alle Kinder umzubringen und ihm die Köpfe zu bringen, daß die Flamme nicht ausgehe und dann die Superhelden, sie, siegten, weil dann, weil Satan befahl, daß mehr Schlümpfe eingreifen sollten, nur er brauchte mehr, und es trafen mehr ein, und er gab ihm einige sehr große und sie haben ihn wieder zusammengesetzt, und danach wurde in einem Hubschrauber einem Schlumpf befohlen, und der Schlumpf brachte alle um, die im Hubschrauber waren, und dieser Satan sagte ihnen und war sehr erbost, weil die Superhelden bereits dabei waren, zu gewinnen und eines Tages, an dem bei Sonnenaufgang bereits einige Köpfe in der Straße dort waren, voller Blut und alles und lauter Köpfe und die Superhelden schickten Superman in irgendetwas und Superman wurde, und Superman wurde in die Hölle gebracht, nur Superman hat Röntgenstrahlen.

Anhand dieses Beispiels kann die Einführung des Schema der Verfolgung in einer kindlichen Fernsehversion in den Erzählungen der Kinder aufgezeigt werden. In die Erzählungen wurden einige das Gute repräsentierende Fernsehfiguren oder -stereotype eingebaut, hier die Superhelden wie beispielsweise Superman. Das Stereotyp des Bösen war bereits zuvor durch die Figur Satans oder des Teufels eingeführt worden. Die aus den USA stammenden Superhelden stellten für die Kinder dieses kulturellen Umfeldes nicht das einzige Stereotyp des Guten dar. Mexikanische Varianten der guten Helden waren, damals wie heute, die Helden des Freistilringens, ein von der einfachen Bevölkerung sehr geschätztes Vergnügen. Einige dieser Figuren wurden durch mexikanische Filme über das Freistilringen im ganzen Land bekannt. Diese Filme waren Teil des Programms des Senders 4, der sich an die einfacheren Schichten der Fernsehzuschauer wendete. Zu den Fernsehfiguren des Freistilringens gehörten "El Santo", "Mil Máscaras" und "Blue Demond". Einige dieser Helden zeigten sich mit Masken und Perücken. Sie kämpften im allgemeinen Mann gegen Mann, manchmal jedoch auch mit Waffen, dies nicht zuletzt aufgrund des Einflusses der Filme über Superhelden. Die Filme enthielten gleichfalls eine große Anzahl von Verfolgungsszenen. Die Kinder griffen während der Befragung auf diese Figuren zurück, die sich in verschiedenen Filmen mit Mumien, die lebendig wurden, auseinandersetzten. Mädchen Nr. 2: Yo vi una película así de una momia que se iba a vengar del Santo, así que revivía y así también revivían todas las momias y que iban a matar a todos los santos, así que llega el Santo de Plata y así que venía con un señor y también mataron a un señor que se llamaba Pingüino... y que le pegaban así a las momias... Ich habe einen Film gesehen von so einer Mumie, die gerade dabei war, sich an Santo zu rächen, so daß sie ins Leben zurückkehrte, und so kehrten alle Mumien wieder ins Leben zurück und sie waren gerade dabei, alle santos umzubringen, so kommt der Santo de Plata an und so kam er mit einem Mann an und sie brachten einen Mann um, der Pingüino hieß... und er wurde von den Mumien geschlagen...

Mädchen Nr. 3: También a los niños, también a los niños los 'horcaban y les quitaban la cabeza.

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Auch die Kinder, auch die Kinder hängten sie auf und schlugen ihnen den Kopf ab.

Alfonso: las momias iban a matar a un niño y entonces el niflo no se dejó y entonces como era hijo del Santo entonces dice: "¡Papá las momias me llevan!" Y le dijo a Mil Máscaras que le llevara unas pistolas y le llevó las de lumbre. Luego les descargó reteharta lumbre y quemó a las momias. Die Mumien waren dabei, einen Jungen umzubringen und der Junge wehrte sich und dann, da es der Sohn von Santo war, sagt er dann: "Papa, die Mumien nehmen mich weg!" Und er sagte es Mil Máscaras, daß er ihm einige Pistolen bringen sollte und dieser brachte solche mit Flammen. Dann schoß er lauter Flammen ab und verbrannte die Mumien.

Dieser Teil der Befragung erfreute sich einer besonders hohen Beteiligung seitens der Kinder.

5.3.4.2 Die lokale Version der Legende von der Llorona Alfonso, der wichtigste Anführer der Gruppe, kam als erster auf die Figur der Andalona zu sprechen, die auf La Llorona, eine der verbreitetsten und beliebtesten Legenden in Mexiko verweist. Dabei geht es um eine Frau, die wahnsinnig wurde und ihre Kinder umbrachte. Sie konnte deshalb nach ihrem Tod keinen Frieden finden und suchte als Geist weiterhin ihre Kinder. In den Nächten schreit sie: "¡Ay mis hijos!" Diese Erzählung weist unterschiedliche Varianten auf im Hinblick auf die Gründe zur Erklärung des Wahnsinns und des Todes der Mutter. Einer der bekanntesten Varianten zufolge wurde sie wahnsinnig, weil sie vom Vater ihrer Kinder verlassen wurde, der sich einer anderen Frau zuwendete. Handelt die Geschichte in der Kolonialzeit, ist die Rivalin eine Spanierin und sie selbst entweder "Indígena" oder Mestizin. In neuerer Zeit ist die Rivalin manchmal eine "gringa", eine "güerita" 18 oder eine sehr attraktive, die Männer verführende Frau, wie in Kapitel 7 beschrieben wird. Die Todesursache kann Selbstmord sein, den sie nach Ermordung ihrer Kinder und deren Vater begeht. Bei anderen Interpretationen wird der Tod durch die zivile Obrigkeit herbeigeführt oder durch die Nachbarschaft aufgrund von Mißbilligung und kollektiver Wut. Es gibt unzählige schriftliche, visuelle (in Form von Comics) und auch einige audiovisuelle Versionen der Legende, hauptsächlich als im Fernsehen ausgestrahlte Filme. Fast jede Sammlung mexikanischer Legenden enthält eine Version von der Llorona. Es wird davon ausgegangen, daß die Llorona aus der Kolonialzeit datiert und daß einige sie strukturierende Erzählelemente auf den Mythos der Göttin Cihuacoatl zurückgreifen. Fray Bernardino de Sahagún fuhrt darüber aus:

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Dies stellt in Mexiko die Bezeichnung für ein blondes Mädchen dar.

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Decían que esta diosa daba cosas adversas como pobreza, abatimiento, trabajos; aparecía muchas veces, según dicen, como una señora compuesta con unos atavíos como se usan en palacio. Decían que de noche voceaba y bramaba en el aire... Los atavíos con que esta mujer aparecía eran blancos... dicen también que traía una cuna a cuestas, como quien trae a su hijo en ella, y poníase en el tianguiz entre las otras mujeres y desapareciendo dejaba allí la cuna. Cuando las otras mujeres advertían que aquella cuna estaba allí olvidada, miraban lo que estaba en ella y hallaban un pedernal como hierro de lanzón, con que ellos mataban a los que sacrificaban; en esto entendían que fue Cihuacóatl la que dejó allí (Sahagún, 1570-1582: 32 f). Was die Zeit von Moctezuma anbelangt, so finden sich bei Sahagún folgende Ausführungen über Cihuacoatl: En su tiempo del mismo Moteccuzoma, el diablo que se nombraba Cihuacóatl de noche andaba llorando por las calles de México y lo oían todos diciendo: "Oh hijos míos, guay de mí, que ya os dejo a vosotros!..." (Sahagún, 1570-1582: 450). Die Kinder äußerten sich recht ausführlich über diese Legende. Sie wurde jedoch in diesem kulturellen Umfeld umgewandelt. Statt hervorzuheben, daß es sich um eine weinende Frau handelte, die für die Ermordung ihrer Kinder büßte, wurde von den Kindern der Umstand betont, daß sie die Straßen durchwandle. Daher bezogen sie sich auf sie als La Andalona. Alfonso verband die Geschichte von der Andalona mit Erzählungen über die Schlümpfe im Rahmen des Erzählschemas der Verfolgung und des Kampfes zwischen Gut und Böse der Helden des Freistilringens und Superhelden. Lediglich der Raum der Handlung verwies auf eine ländliche Umgebung, einen Hügel. Es gab noch keine Raumschiffe, aber viele Schlümpfe und Teufel. Die Andalona trat als die Frau des Teufels auf, als die Mutter der Schlümpfe, die Kinder fing und in böse Schlümpfe verwandelte. Alfonso: La mamá de los pitufos es la Andalona... como las señoras que no quieren a sus bebés cuando nacen. En vez de llevarlo a tirar y los tiran donde sea, tiene el pelo largo y nada más los tira y los lame y ya los mata, los deja en puro huesito... Die Mama der Schlümpfe ist die Andalona... wie die Frauen, die ihre Kinder, wenn sie geboren sind, nicht wollen. Anstatt es dort wegzuwerfen, werfen sie die überall hin, sie hat langes Haar und sie wirft sie nur einfach so und sie leckt sie und schon tötet sie sie, sie läßt sie als bloße Knöchelchen...

Junge Nr. 3: Sí, también yo soñé, o sea que todos los pitufos son niños y la Andalona los agarró... Ja, auch ich habe geträumt, nämlich, daß alle Schlümpfe Kinder sind und die Andalona hat sie eingefangen...

Alfonso wiederholte sofort und verbesserte seine Äußerungen:

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Alfonso: luego de eso el diablo es el esposo de la Andalona, o sea, que la Andalona es su mujer del diablo y el diablo le dijo a la Andalona que atrapara a niflos para que se los enconvirtiera en Pitufos y al papá Pitufo fuera un señor ya grande y todos los pitufos fueron niños. nach diesem ist der Teufel der Mann der Andalona, nämlich die Andalona ist seine Frau, des Teufels und der Teufel sagte der Andalona, daß sie Kinder einfangen sollte, um sie in Schlümpfe zu verwandeln und so wurde der Papa Pitufo ein bereits großer Mann und alle Schlümpfe wurden Kinder.

Diese Ausschnitte der Unterhaltung veranschaulichen, wie die mündliche Tradition sich in ständiger Umwandlung befindet, übereinstimmend mit dem allgemeinen kulturellen Umfeld und dem Erzählereignis. In diesem Fall handelte es sich um ein spezielles erzählerisches Umfeld, in dem die Verfolgung den Kern der Handlungsstruktur darstellte und die bis dahin gültigen Gruppenregeln erforderten, über die Schlümpfe und den Teufel zu sprechen. Da die Andalona böse war, mußte sie mit dem Teufel und den Schlümpfen verbündet sein. Diese Variante der Llorona fing Kinder nur ein, brachte sie aber nicht um. Die Jungen Nr. 1 und 3 sowie Alfonso verwendeten den Namen La Andalona. Das Mädchen Nr. 2 indessen bezog eine gewisse Distanz und verbesserte Alfonso mit der Behauptung, bei der Andalona handle es sich eigentlich um die Llorona. M ä d c h e n Nr. 2: Era la Llorona. Es war die Llorona.

Alfonso sprach einfach weiter. Er ließ den Wechsel nicht zu, bezog aber einen Aspekt der bekannteren Version der Llorona ein, nämlich den Schrei: "¡Ay mis hijos!", was als Zeichen dafür interpretiert werden kann, einen gewissen Kompromiß mit dem Mädchen herzustellen. Dann nahm er von dieser Version einer Andalona voller Schuldgefühle Abstand, bei der sie als Sirene durch Gott ihre verdiente Strafe erhielt. Er schloß mit der Version einer Andalona, die sich wiederum mit dem Teufel verbündete, "Diosito" besiegte, sich in eine Art Vampir mit großen Zähnen verwandelte und sich in viele umgehende, weiterhin Kinder einfangende Schatten vermehrte. Alfonso: Y entonces luego de eso, este, Dios la castigó y le puso cola de pescado y la echó al mar y entonces luego de que tiró a sus hijos cuando en el mar gritaba ¡Ay mis hijos! Así andaba gritando y luego le fue creciendo muy el pelo largo y Diosito se dió por vencido que el diablo lo venció que era su esposa y entonces la venció y que la convierte como estaba y que se le hace el pelo bien largo, luego que se le ponen unos dientotes bien largos y entonces luego de eso, su misma sombra de ella se volvió negra, hizo retehartas Andalonas con la pura sombra y por eso las sombras andan agarrando a niños y niñas. A las niñas las quieren nada más porque están bonitas y se las llevan al

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diablo y por bonitas las enconvierte en feas y las deja horribles y las vuelve a traer al lugar donde las agarró. Und dann nach diesem, äh, Gott bestrafte sie und gab ihr einen Fischschwanz und warf sie ins Meer und dann nachdem, daß sie ihre Kinder weggeworfen hat, als sie im Meer war, schrie sie "Wehe, meine Kinder!" So lief sie schreiend und dann wuchs ihr sehr das lange Haar und diosito gab sich für besiegt, daß der Teufel ihn besiegt habe, daß es seine Frau war und dann besiegte er sie und er verwandelte sie wie sie war und ließ ihr Haar sehr lang wachsen, dann wuchsen ihr einige riesengroße Zähne und dann nach diesem wurde ihr eigener Schatten schwarz, machte lauter Andalonas mit dem bloßen Schatten und deshalb gingen die Schatten um, um Jungen und Mädchen einzufangen. Die Mädchen mögen sie nur, weil sie hübsch sind, und sie bringen sie zum Teufel und er wandelt sie von hübschen in häßliche um und verwandelte sie in schreckliche und macht sie häßlich und bringt sie wieder zu dem Ort, an dem sie gefangen wurden. Diese Variante der Llorona als Vampir tauchte ein weiteres Mal in seinen Erzählungen auf und verschmolz mit der Figur der alltäglichen, Wäsche waschenden Mutter. Alfonso: Mi abuelito se murió de por ver a la Andalona. Un día por allá, por mi pueblo hay unas barrancas bien hondas y c o m o mi abuelito iba a ver a su hermana, él iba caminando en un río espantoso. Entonces la Andalona, c o m o si fuera gente así, ella a las 11 de la noche ya estaba lavando su ropa, y entonces luego mi abuelito que prende su tabaco y empezó a fumar y luego, luego que la Andalona se le pegó a los ojos y vió bien y que se va siguiendo al señor y luego entonces cuando se le fue siguiendo y llegó a su casa de allá y que lo agarra por atrás, que lo carga y que le da una mordida y que le entierra los dientes. Mein Großväterchen ist gestorben, weil er die Andalona sah. Damals eines Tages, in meinem Dorf gibt es einige tiefe Schluchten und als mein Großväterchen ging, seine Schwester zu besuchen, er war dabei an einem schrecklichen Fluß entlangzulaufen. Dann die Andalona, als wäre sie Leute, sie war dabei, um 11 Uhr nachts ihre Wäsche zu waschen, und dann danach zündete mein Großvater seinen Tabak an und begann zu rauchen, und dann, dann die Andalona heftete sich an seine Augen und sah gut und sie folgte dem Mann und später dann als sie ihn verfolgte und er an seinem Haus von dort ankam, ergriff sie ihn von hinten, greift ihn an und gibt ihm einen Biß und gräbt in ihn die Zähne. Diese Interpretation der Llorona beinhaltete außerdem ein bei vielen Legenden über Erscheinungen geläufiges diskursives Element mit der Äußerung, daß sie sich denjenigen, denen sie erscheinen, an die Augen heften. Diesen Darlegungen zufolge war die Andalona doch nicht die arme Mutter der Legende in ihrer konventionellen Form, die leidet und büßt, voller Schuldgefühle, ihre Kinder umgebracht zu haben. Hier handelte es sich um eine mächtige Frau, Frau des Teufels, die sich das Herz nicht rühren ließ, selbst wenn sie einmal weinte, und sich schließlich in einen Vampir verwandelte, der Kinder einfing.

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5.3.4.3 Religiöse Erzählungen über Gott und den Teufel Die Figur Gottes tauchte, wie bereits dargelegt, in dem Augenblick auf, als die Strafe für die Andalona anstand, weil sie ihre Kinder weggeworfen hatte. Alfonso: Dios la castigó y le puso cola de pescado y la echó al mar... Gott bestrafte sie und gab ihr einen Fischschwanz und warf sie ins Meer...

Die Figur Gottes erschien vor allem, um gegen den Teufel, gegen das Böse zu kämpfen, und um die Kinder zu verteidigen. Dabei wurden die Andalona, die Schlümpfe und die Kinder zu Nebenfiguren. Während dieser ziemlich lange dauernden Erzählung, bei der sich die Jungen Nr. 1 , 2 und 3 ständig um das Wort stritten, drohte Satan den Schlümpfen mit der Verwandlung in Sklaven, falls sie nicht genügend Kinder mitbrächten. Weil die Schlümpfe ihm jedoch Kinder ohne Köpfe brachten, geriet der Teufel in Zorn und drohte, sie zu verbrennen. Da erschien plötzlich ein ebenfalls drohender Gott, der darlegte: Junge Nr. 3: Y les dijo: "Vuelvan a la tierra, yo soy Dios, si no creen en mí no los salvaré y los dejaré que se chamusquen ahí para siempre". Und er sagte: "Kehrt auf die Erde zurück, ich bin Gott, wenn ihr nicht an mich glaubt, werde ich euch nicht erretten sondern euch verlassen, auf daß ihr hier auf e w i g brennt".

Junge Nr. 1: Pero na'más que Dios los estaba protegiendo y na'más no tenían cadenita, ni nada. Les puso unas y se sintieron y los pitufos les vieron: "miren lo que traen, ahí está Dios con ellos". Aber nur war es so, daß Gott sie beschützte, und sie hatten keine Kettchen mit Medaillons, noch sonst etwas. Er legte ihnen einige um und sie fühlten sich und die Schlümpfe schauten sie sich an: "Seht, was sie tragen. Hier ist Gott mit ihnen".

Alfonso: O sea que era como así visible y así era invisible y les dijo: "Yo soy Dios y si siguen agarrando o matando a los niños y los convertiré en buenos"... D.h., daß er sowohl sichtbar als auch unsichtbar war und zu ihnen sagte: "Ich bin Gott und wenn ihr weiterhin Kinder fangt oder tötet, werde ich euch in gute verwandeln"..

Junge Nr. 1: Y un día a un Pitufo lo alcanzó un rayo de Dios y se volvió bueno y se partió a la mitad y tenía lleno de sangre ahí y tenía la cabeza del diablo adentro y luego, luego Dios lo hizo otra vez y dijo: "¡Salva a esos niños!". Y dijo: "¡Sí!" Und eines Tages traf ein Blitzstrahl von Gott einen Schlumpf und er wurde gut und er zerfiel in zwei Teile und war voller Blut und hatte den Kopf des Teufels in seinem Körper und dann, dann erschuf ihn Gott noch einmal und sagte: "Errette diese Kinder!" Und er sprach: "Ja!"

Alfonso: O sea que Dios tiene una varita mágica y dice que llueva y na'más hace así y alrededor de él empieza a hacer agua y entonces luego de eso las bolitas de nieve las deja caer para abajo.

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Gott möge einen Zauberstab haben und sagen, daß es regne und er macht es so, und um ihn herum beginnt Wasser herunterzufallen und dann, nachdem dies geschah, läßt er Schneeflocken herunterfallen.

Junge Nr. 1: El diablo no se quedó contento y le dijo a los pitufos: "¿Qué están haciendo tontos?" Y le dice: "Yo no soy tu esclavo, yo soy esclavo de Dios, yo salvaré a todos los niños. ¿Quién eres tú para que me des órdenes? Yo soy el esclavo de Dios". Y luego dice Dios: "Yo lo convertí en bueno". Y luego lo salvó a hartos niños... na'más que como también el diablo también tiene otros poderes... Der Teufel war nicht zufrieden und sagte den Schlümpfen: "Was macht ihr, Dumme?" Und er antwortet: "Ich bin nicht dein Sklave, ich bin Gottes Sklave, ich werde alle Kinder erretten." "Wer bist du, daß du mir befiehlst?" "Ich bin der Sklave Gottes." Und dann spricht Gott: "Ich habe ihn in einen guten verwandelt". Und dann wird er lauter Kinder erretten... nur, da der Teufel über andere Kräfte verfügte...

Die Erzählung erstreckte sich über weitere Minuten, während derer der Teufel ein erneutes Mal in Aktion trat. Gott ließ in der Hölle Schnee fallen. Die Schlümpfe verwandelten sich in Schatten, die sich in alle Welt zerstreuten. Gott gab den Kindern Medaillons, um sie vor dem Teufel zu schützen. Jedoch verteilte der Teufel seinerseits Medaillons sowie ein Pulver, das die Kinder böse machte "y enton's lo mismo", was nichts anderes bedeutete, als daß die Geschichte sich ein um das andere Mal wiederholen könnte. In diesen Erzählungen erschien zugleich die Vorstellung eines Gottes als kämpfender Krieger und als mütterlicher Fee mit Zauberstab. Dies verwies zum einen auf Diskurse über die Superhelden der erwähnten Fernsehsendungen, zum anderen auf die mütterlichen Feen der Filme Walt Disneys, die sowohl im Kino als auch im Fernsehen gesehen werden konnten. Außerdem ergab sich eine Assoziation zu einer "telenovela", deren Ausstrahlung zu jenem Zeitpunkt gerade beendet worden war, in der die Hauptfigur einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte: El Maleficio. Der Teufel stellte nach den Schlümpfen die in den Geschichten der Kinder am häufigsten vorkommende Figur dar. Die bedeutsamsten, mit den Versionen des Gerüchts verbundenen Assoziationen bezogen sich in dieser Gruppe auf die Figur des Teufels. Wie bereits dargelegt, wurde der Terminus des Teufels während des Gruppeninterviews 66mal erwähnt. Einige seiner Darstellungen als Krieger schienen auf biblische Erzählungen zu verweisen, wie etwa auf den Kampf zwischen den Engeln und den Dämonen. Diese Geschichten könnten die Kinder in der Kirche während der Messe oder aber in den Katechismusstunden zur Vorbereitung auf die erste Kommunion gehört haben. Andere Erzählungen wiederum schienen eher ausschließlich mündlichen Ursprungs zu sein. Hierzu gehörten Geschichten vom erscheinenden und wieder entschwindenden Teufel, die anderen Legenden über ruhelose Seelen und Erscheinungen ähnlich waren, sowie

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auch Erzählungen, in denen schwarze Katzen bzw. Blumenkronen den Teufel verkörperten. Auch Erzählungen mit dem Gedanken: "se aparece más cuando se le tiene miedo" sind anzuführen. Vorstellungen v o m Teufel als bösartigem, über außerordentliche Kräfte verfügendem, äußerst despotischem Wesen führten zu Darlegungen über in Sklaven verwandelte Schlümpfe. Dies erinnerte an die Helden des Bösen der Fernsehserien über die Superhelden, an "Lex Lutor" aus "Superman", an "Pingüino" aus "Batman und Robin" und an "Doktor Lagarto". Der Unterschied bestand jedoch darin, daß diese Wesen ihre Kräfte der Technik verdankten, der Teufel dagegen über übernatürliche Kräfte verfugte. Die Dialoge zwischen den Figuren des Teufels und Gottes während ihres Kampfes sind Dialogen ähnlich, die zwischen den Superhelden bzw. den Helden in den Filmen über El Santo und anderen Helden des Freistilringens einerseits und ihren j e w e i ligen Feinden andererseits geführt wurden. Der dunkle Tonfall der Stimmen der Kinder bei der Darstellung von Äußerungen der Figuren des Teufels und der Andalona war unverwechselbar und verweist auf das Stereotyp des Bösewichts in den Zeichentricksendungen über die Superhelden. Die Kinder baten über lOmal um das Wort, um etwas über den Teufel und die Schlümpfe zu erzählen. Es schien, als stellten Darlegungen mit B e z u g zum Teufel gleichsam den Passierschein zur Teilnahme bei der Befragung dar. Alfonso behauptete: "Yo le tengo miedo al diablo". Ihm zufolge wurden Geschichten über den Teufel für so bedeutsam erachtet, daß er am Ende der Befragung diese wie folgt beschrieb: Alfonso: Platicamos que existen c o m o los pitufos y el diablo que existen, sí existen, o sea que ustedes así andan diciendo que si saben algo sobre el diablo o sobre los pitufos y entonces c o m o 'horita pasó Wir haben erzählt, daß z.B. die Schlümpfe leben und der Teufel lebt, ja, sie leben, oder d.h., sie sagen, ob wir etwas über den Teufel und die Schlümpfe wissen, wie das jetzt geschah.

5.3.5 Die Gruppendynamik der zweiten Phase Im Folgenden wird erörtert, welche Gruppendynamik ermöglichte, daß die dargelegten Assoziationen und Verarbeitungen mündlicher Erzählungen während der zweiten Phase auftauchten. Im Verlauf dieser Phase versuchte ich mich als Interviewerin völlig zurückzuhalten. Äußerungen meinerseits waren sehr selten. Sie dienten lediglich zur Bestätigung, daß ich den Kindern zuhörte, sowie zur Bitte um Klarstellung von Darlegungen. Alfonso und der Junge Nr. 1 rissen die erzählerische Produktion an sich. Beide fühlten sich ihrer Äußerungen dermaßen sicher, daß sie während dieser

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zweiten Phase, als die anderen sprachen, von ihren Plätzen aufstanden und umherliefen, um sich dann wieder zu setzen oder aber stehend zu sprechen. Aber auch der Junge Nr. 3 spielte eine gewisse Rolle bei der Unterhaltung. Die Mädchen nahmen dagegen eine nachgeordnete Stellung ein, zumal der Anfuhrer sich in einem ausgeprägten Konflikt mit ihnen befand und sich mit dem Jungen Nr. 1 verbündete. Das hatte zur Folge, daß beide, wenn immer möglich, den Mädchen das Wort raubten. Da jenen nicht gelang, dieser Macht entgegenwirken, nahmen sie eine nachgeordnete Stellung ein und wiederholten Äußerungen der Jungen. Sie wurden von ihnen heftig kritisiert, sobald sie Abwandlungen einführten. Dies wurde besonders deutlich, als Mädchen Nr. 2 Alfonso verbesserte und ihm entgegnete, daß die Andalona die Llorona sei. Er sah sich zu einer Verteidigung veranlaßt und gab dabei zu verstehen, daß er die übliche Version kannte. Er fugte hinzu, daß die Schatten der Andalonas umgingen, um Kinder einzufangen und zum Teufel zu bringen. Hauptsächlich aber fingen sie Mädchen, weil diese hübsch wären. Vom Teufel würden sie dann in häßliche Wesen verwandelt. Diese Äußerung konnte als Gegenangriff Alfonsos aufgefaßt werden, führte er doch eine für die Mädchen nur wenig vorteilhafte Erzählversion ein. Später wiederholte er diese dann, als er bemerkte, daß die Mädchen die Aufmerksamkeit auf sich zogen und ihn nicht reden ließen. Gleichwohl wurde diese Erzählversion sogar von den Mädchen selbst übernommen, wenn an späterer Stelle Mädchen Nr. 2 ausführte: Mädchen Nr. 2: Dicen que a las niflas que tienen el pelo largo y a las que son bonitas se las va a llevar el diablo. Die Leute sagen, daß Mädchen, die ihre Haare lang tragen und hübsch sind, vom Teufel geholt werden.

Da das Mädchen keine langen Haare trug und sich möglicherweise nicht gerade für hübsch hielt, warum sollte sie nicht eine vorübergehende Allianz eingehen, indem sie die Argumente des Anfuhrers übernahm? Wollte sie sich damit vielleicht bei den Kindern beliebt machen und auch ihre hübscheren Mitbewerberinnen angreifen? Wie anhand dieser Passagen ersichtlich, war der Machtkampf zwischen Jungen und Mädchen Bestandteil der Erzählproduktion der Gruppe und trug zur Gestaltung der Versionen der Geschichten bei. An einer späteren Stelle der Befragung versuchte Mädchen Nr. 2 sich zu äußern. Sie wurde dabei durch mich unterstützt, so daß sie ihre Darlegungen zu Ende führen konnte, ohne vom Anführer unterbrochen zu werden. Schließlich verbündeten sich Junge Nr. 1 und Alfonso gegen das Mädchen Nr. 2: Mädchen Nr. 2 (mit Pausen, in geheimnisvollem Tonfall): Yo vi una pelicula del diablo. Ich habe einen Film über den Teufel gesehen.

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Alfonso: ¡Oh tú con tu diablo! Oh du mit deinem Teufel!

Mädchen Nr. 2: de que un hombre y a su mamá y a su hijo daß ein Mann und seiner Mama und seinem Sohn Interviewerin: ¿De qué? Habla más fuerte. Wovon? Sprich lauter. Alfonso: No crean, no crean lo que dice ella del diablo. No porque ella, ella no sabe nada. Glaubt nicht, glaubt nicht, was sie über den Teufel sagt. Nein, weil sie, sie weiß nichts.

Junge Nr. 1: No porque no tiene tele. Nein, weil sie kein Fernsehen hat.

Alfonso: Na'más lo inventa, lo inventa Sie erfindet bloß, sie erfindet

Mädchen Nr. 2: Sí tengo tele Ich habe doch Fernsehen

Junge Nr. 3: Yo también tengo 3 teles Ich habe auch drei Fernseher

Alfonso: Y lo que yo conté de eso me lo contó mi abuelita, antes de que nosotros naciéramos. Und das, was ich hierüber erzählt habe, das hat mir mein Großmütterchen erzählt, bevor wir geboren wurden.

Diese Passage warf ein Licht auf die Machtspiele während der Erzählproduktion. Außerdem wird auf diese Stelle zurückzukommen sein bei der Analyse des Prestiges der verschiedenen, von den Kindern verwendeten Informationsquellen. Zunächst stellen sich folgende Fragen: Was führte in diesem Kontext dazu, zu behaupten, daß eine Erzählung bloß erfunden oder gelogen sei, oder aber - da es keinen Fernseher gab - ein Produkt der Unkenntnis? Was wurde in diesem Kontext als wahr oder Produkt rechtmäßigen Wissens angesehen? Hatten die Jungen nicht etwa auch ähnliche Erzählungen, ohne daß diese als Erfindungen abgetan worden waren? Im Kontext dieser Gruppenbefragung wurde jede von einem Mädchen, also von jemandem mit weniger Prestige und Macht, vorgetragene Erzählung abgewertet und oft als Produkt des Unwissens oder der Erfindung angesehen. Das geschah insbesondere, wenn das Mädchen beim Erzählen zaghaft war, zögerte und die Anfuhrer, die die Mädchen geringschätzten, sich belästigt fühlten. Völlig offensichtlich war, daß der Junge Nr. 1 und Alfonso nicht nur Geschichten nacherzählten, sondern auch neue erfanden. Jedoch besaßen sie normalerweise die Macht zu bestimmen, was als Erfindung oder als Lüge zu gelten habe, über

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welche Themen gesprochen werden durfte sowie welche Termini dabei zu verwenden waren. Deswegen hatte Alfonso bereits zuvor indirekt jenen gedroht, die es wagen würden, eine nicht mit der seinigen übereinstimmende Art von erzählerischen Erfindungen zu gestalten. Deshalb erzählte er folgendes: Alfonso: Los pitufos se iban a ver qué les decía Satanás y les dijo: "Tráiganme esos, los niños más mentirosos, mentirosos y si no me los traen los convertiré, los convertiré en esclavos y los mataré y no podrán revivir..." Die Schlümpfe gingen hin, um zu sehen, was ihnen Satan sagte und er sagte zu ihnen: "Bringt mir diese, die verlogensten, die verlogensten Kinder, und wenn ihr sie nicht bringt, werde ich euch umwandeln, euch umwandeln in Sklaven und euch umbringen und ihr werdet nicht wieder auferstehen können..."

Angesichts der unterschiedlichen Interessen der Kinder und der untereinander ausgetragenen Konflikte stellte sich die folgende Frage: Bis zu welchem Punkt wurden die in der Befragung behandelten Themen von den Jungen und Mädchen geteilt? Zweifellos wurden weder alle Erzählelemente noch die Art ihrer Behandlung von allen Kindern in gleicher Weise geteilt. So waren Themen allgemeinen Interesses etwa die Erzählungen über das Gerücht von den Schlümpfen, solche über die Fernsehsendungen von den Schlümpfen, Geschichten vom Teufel, über Wesen, die erscheinen oder lebendig werden wie die Llorona, und über den Glauben an Gott und an die Jungfrau Maria. Jedoch waren während der Befragung auch Zeitabschnitte festzustellen, während derer die Unterhaltung vor allem durch den Jungen Nr. 1 und Alfonso beherrscht wurde, die Mädchen weder an der Unterhaltung teilnahmen, noch Interesse an einer Teilnahme zeigten. Das traf zu bei mit den Superhelden verbundenen Erzählungen, bei Geschichten über den Kampf zwischen Gott und dem Teufel sowie über die Andalona und die Schlümpfe. Obgleich sich die Jungen im allgemeinen - und vor allem Alfonso sowie die Jungen Nr. 1 und 3 - fast an allen Unterhaltungen über die im Verlauf der Befragung angesprochenen Themen beteiligten, nicht zuletzt auch, weil sie von ihnen selbst aufgeworfen worden waren, so hatte gleichwohl jeder von ihnen auch ein spezielles Interesse an bestimmten Themen. Alfonso führte eher Themen über Legenden wie diejenige von der Andalona ein, wogegen der Junge Nr. 1 sich eher auf Fernsehsendungen bezog und der Junge Nr. 3 schließlich, wann immer möglich, sich zur Verteidigung der Puppen, der Schlümpfe oder der Tiere aufmachte, indem er ihr aggressives Verhalten gegenüber den Kindern rechtfertigte. Die Mädchen hingegen zeigten besonderes Interesse an Darlegungen über die Verbrennungen von Schlumpfpuppen in dem Gebiet, in dem sie lebten, sowie über weibliche Personen. Letzteres war sowohl bei Gesprächen über die Fernsehsendungen von den Schlümpfen der Fall als auch bei der Unterhaltung über lebendig werdende "muñecas", also im Femininum. Sie erwähnten deshalb auch mehrmals die Pitufina, ferner die Figur der Mutter als

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Bezugspunkt zu Hause und die Jungfrau Maria als Beschützerin der Erscheinungen. Bezeichnend war auch, daß auf meine direkte Frage an die Kinder, wovor sie denn Angst hätten, Alfonso eine imaginäre Figur, nämlich den Teufel, erwähnte. Die Mädchen hingegen erzählten von Angst vor durchaus realen Personen, solchen, die Mädchen und generell Frauen belästigen, wie Betrunkene, Drogenabhängige, um wegen derer sie Angst hatten, nachts und mitunter sogar tagsüber auf die Straße zu gehen. In diesem kulturellen Umfeld und bei dieser Gruppendynamik war nicht jeder beliebige Diskurs möglich. Nicht jedes der Kinder konnte zu jedem Zeitpunkt der Befragung über ein beliebiges Thema sprechen. Einige der den Rahmen der Befragung regelnden, eindeutig durch die Dimension der Macht gestalteten diskursiven Regeln ließen sich aufdecken, bei Betrachtung derjenigen Abschnitte der Befragung, in der ein Konflikt über das, was gesagt werden durfte, ausgetragen wurde. Zusammenfassend ließ sich feststellen, daß ein Zweifel an der Existenz Gottes undenkbar war. Ein Bezweifeln der Existenz verschiedener Varianten der Jungfrau Maria, wie seitens der Protestanten, verdiente harte Kritik. Solche Kritiken konnten durch jedes Gruppenmitglied - Jungen wie Mädchen - vorgetragen werden. Jedoch wurde diese Regel nicht auf jedes Thema und auch nicht zu jedem Zeitpunkt angewandt. Die die erzählerische Produktion regelnde diskursive Ordnung wechselte und ließ sich, wie bereits in Kapitel 2 erwähnt, als instabil kennzeichnen. Schnitt beispielsweise ein Mädchen das häufig angesprochene Thema des Teufels auf unsichere Weise und in einem ihm feindlichen Gruppenkontext an, so erlaubten die Anfuhrer ihm nicht, hierüber zu sprechen. Gleichwohl bedeutete dies keinesfalls, daß der Anführer unberührbar war. So verbesserte ihn der Junge Nr. 3 in einem Teil der Befragung durch die Ausfuhrung, daß Gargamel nicht alle Schlümpfe, sondern nur die Pitufina geschaffen hätte, wodurch Alfonso sich veranlaßt sah, erzählerische Modifikationen einzuführen. In einem anderen Fall korrigierte das Mädchen Nr. 2 gleichfalls Alfonso mit ihrer Darlegung, daß die Andalona die Llorona war. Der Junge Nr. 1 besaß mehr Gewicht als das Mädchen Nr. 2, lag auf Alfonsos Linie und hielt diese auch durch. Deshalb endete eine ähnliche Begebenheit gegen Schluß der Befragung auf andere Weise. Als Alfonso von einer Sendung über die Schlümpfe erzählte, verbesserte der Junge Nr. 1 ihn und meinte: "No Alfonso, no es cierto". Alfonso sah sich bemüßigt, gewisse Modifikationen an seinem Diskurs vorzunehmen.

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5.3.6 Die unterschiedlichen Tonfälle während der Befragung Während der gesamten Befragung waren zwei Tonfälle vorzufinden, die die von den Kindern erzählten Gerlichteversionen nuancierten, ein heiterer und ein geheimnisvoller Tonfall. Die Tendenz war, daß die Jungen laut redeten, gemessen, mäßig langsam, flüssig und entweder in ruhigem oder aber in heiterem Ton. Die Mädchen sprachen indessen etwas schrill, recht langsam, mit Pausen versehen und entweder in geheimnisvollem und dramatischem Ton oder aber eher tratschend. Dabei kam es auch vor, daß diese Tendenzen sich mischten. Während eines Teils dieser Phase der Befragung redeten die Mädchen flüssiger und drückten ihr Vergnügen aus, wogegen in einem anderen Teil Alfonso, der wichtigste Anführer, seinen Äußerungen einen geheimnisvollen Ton beigab. Wiederum an anderer Stelle nahm der Tonfall eines Mädchens zugleich ein solches Ausmaß von Dramatik, Geheimnis und Klatsch an, daß dies bei den Jungen Lachen hervorrief und ihre Darlegungen in Zweifel zog. Als ganz im Gegenteil hierzu ein Junge in sehr neutraler und unpersönlicher Weise eine Version des Gerüchts erzählte, schien dies zu bewirken, daß andere Jungen und Mädchen auf ernstere und geheimnisvollere Weise sprachen und dabei, um die Spannung zu erhöhen, mehrere Pausen einflochten. Die Mischung von heiteren und geheimnisvollen Tonfällen diente dazu, das Spiel der Beteuerung, man sei gläubig, zu veranschaulichen, in das sich die Befragung schließlich verwandelte, ein Spiel, das an Unterhaltungen zwischen Kindern erinnerte, bei denen man sich geheimnisvolle und gruselige Geschichten erzählt. Die unterschiedlichen Tonfälle während der Befragung stellten auch ein wichtiges Element des Prozesses der Verhandlung und nicht zuletzt des zwischen den Kindern anhaltenden Machtkampfes dar.

5.3.7 Die angeführten Informationsquellen und die Autorität vermittelnden Elemente Nach Wiedergabe dieses Komplexes von Erzählungen werden die von den Kindern erwähnten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente sowie das ihnen beigemessene Prestige untersucht. Zunächst ist zu vermerken, daß mündliche Informationsquellen am häufigsten angeführt wurden, nämlich in 50 von 84 Bezugnahmen, was 60 % der insgesamt angeführten Quellen gleichkam. Darunter befanden sich fast alle Verwandten. Am häufigsten angeführt wurden die Mutter mit acht und die Großmutter mit fünf Erwähnungen. Außerdem erfolgten Bezüge auf Geschwister, Onkel, Tanten, Cousin, Cousine und schließlich nicht namentlich genannte Jungen und Mädchen.

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Als Orte, an denen die Informationen gehört worden waren, wurden mehr oder weniger entfernte Orte genannt, von denen zu vermuten war, daß dort solche Gespräche stattfinden konnten: der "Bordo de Xochiaca", also der Abwasserkanal am Rande von Nezahualcoyotl, das Dorf San Lorenzo, die Stadt Puebla, das Dorf San Bartolo im Bundesstaat Guanajuato und die Stadt Guanajuato mit Bezug zu den Mumien, weil es dort ein Museum mit Mumien gibt. Neben den mündlichen Informationsquellen ließ sich noch eine große Anzahl audiovisueller Informationsquellen feststellen, nämlich mit insgesamt 34 Erwähnungen. Dabei war die Angabe mitunter recht unscharf, indem lediglich ausgeführt wurde, daß das Erzählte im Fernsehen gesehen und gehört worden war, im Kino oder in einem bestimmten Fernsehprogramm ohne nähere Angabe über die Sendung oder den Film. Es wurde aber auch auf spezielle Sendungen hingewiesen wie die Sendungen Hoy Mismo und 24 Horas, die Kindersendungen über Los Pitufos, Los Superamigos, La Mujer Araña, El Hombre Araña, Cometa, Ballena Josefina, die "telenovela" El Maleficio und Filme über die Freistilringkämpfer sowie andere, in denen die Figur des Teufels vorkam, diese jedoch ohne Nennung eines Titels. Unabhängig davon, ob die erwähnten Informationsquellen erfunden waren wie im Falle der Nachrichtensendungen, so zeigten sie doch das ihnen beigemessene Prestige. Die Kinder erwähnten keine schriftliche Informationsquelle, weder eine Zeitung noch Schulbücher, noch Märchen- oder Legendenbücher. Dies stellte einen deutlichen Hinweis auf die geringe Durchdringung der Schriftkultur in diesem kulturellen Umfeld dar. Besonders geschätzt wurden sowohl die Informationen aus dem Femsehen als auch diejenigen, die der mündlichen Tradition entstammten. Dies ließ sich anhand einer bereits weiter oben angesprochenen Passage der Befragung veranschaulichen, bei der ein Mädchen sprechen wollte und erwähnte, daß es einen Film über den Teufel gesehen hatte. Da der Anführer jedoch seinerseits sprechen wollte, würdigte er sie herab, indem er ausführte, sie verstünde nichts vom Teufel. Der zweite Anfuhrer fügte hinzu, daß sie nichts wissen könne, weil sie kein Fernsehen besaß. In dieser Passage wurde demnach festgesetzt, daß eine Person ohne Fernsehgerät auch nichts wüßte und kein zum Reden berechtigendes Ansehen besäße. Noch interessanter war in diesem Zusammenhang jedoch, daß der Anführer Alfonso, der zu verschiedenen Gelegenheiten bereits von den Erzählungen seiner Großmutter gesprochen hatte und der im allgemeinen die Welt der Legenden in die Befragung eingebracht hatte, mit den Erzählungen seiner Großmutter die mündliche Tradition verteidigte. Auf diese Weise wurden die Anerkennung, die mündli-

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chem Wissen der Großeltern zukam, sowie die mit dem Alter verbundenen Kenntnisse hervorgehoben. An späterer Stelle, im Zusammenhang mit der Frage nach dem Besitz von Schlumpfpuppen, kam Alfonso hierauf zurück. Junge Nr. 3: Yo no tengo nada. Mi mamá no me compra. Ich habe keine. Meine Mama kauft mir keine. Alfonso: A mí tampoco. Los pitufos sí existen. Dice mi abuelita que antes que nosotros naciéramos los pitufos sí existían y por eso no me compran nada porque existen los pitufos y pueden hacer muertes, como somos cinco hermanos, al más chiquito le pueden hacer algo. Ich auch nicht. Die Schlümpfe leben wirklich. Meine Großmutter sagt, daß, bevor wir geboren wurden, die Schlümpfe wirklich lebten und deshalb kaufen sie mir nichts, weil die Schlümpfe leben und Tote machen können, und da wir fünf Brüder sind, könnten sie dem kleinsten etwas antun.

Die Figuren der Großeltern wurden nicht nur von Alfonso als Informationsquellen verwandt, obwohl seine Äußerungen zu den beredsamsten gehörten und er sich bereits zu Beginn der Befragung auf sie bezog: Alfonso: Una vez cuando mi abuelita estaba señorita, dice que en la noche vió una hilerita de puros muñequitos azules que iban caminando y entonces luego de eso salió mi mamá vió, vió retehartas luces chiquititas así y que luego prenden el foco y no había nada y luego, luego que desaparecen los muñequitos esos. Einmal als mein Großmütterchen ein junges Mädchen war, so sagt sie, daß sie in der Nacht eine Reihe von lauter blauen Püppchen sah, die dabei waren, zu laufen und dann nach diesem ging meine Mama, um zu sehen, sie sah so lauter klitzekleine Lichtchen und daß sie dann das Licht angemacht haben und es war dann nichts und dann, dann verschwanden diese kleinen Püppchen.

Diese Erzählung spielte auf die Version des Gerüchts über die Schlümpfe als erscheinende blaue Puppen an und zugleich auch auf die Legende von den Irrlichtem mit von den Hügeln herunterkommenden blauen Lichtern. Mittels zweier Äußerungen des Jungen Nr. 1, des zweiten Anführers, ließ sich gleichfalls das Prestige erkennen, das die Figur der Großmutter als Handelnde, Zeugin und mündliche Informationsquelle genoß: Junge Nr. 1: Un día allá en el pueblo de mi abuelita se les apareció un pitufo, a mi abuelita se le pareció un pitufo. Eines Tages dort im Dorf meines Großmütterchens erschien ihnen ein Schlumpf, meinem Großmütterchen erschien ein Schlumpf.

Junge Nr. 1: Por allá en San Bartolo, Guanajuato, y luego allá, allá están momias y todo por allá y mi abuelita fue a ver a las momias y había en lugar de momias unos pitufos que dijieron, que dijieron: "¡Ahí detente!, ¡Ahí detente!" y luego dijieron: "¿Quién eres tú?" Yo soy alguien que tú no podrás verme.

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Dort in San Bartolo, Guanajuato und danach, dort gibt es Mumien und ganz dort und mein Großmütterchen ging, die Mumien ansehen und es gab statt der Mumien einige Schlümpfe, die sagten, die sagten: "Halt! Halt!" Und danach sagten sie: "Wer bist du?" Ich bin jemand, den du nicht wirst sehen können.

Der Ausdruck "allá, por allá", der einen nicht genau bestimmten Ort andeutet, wird häufig beim Erzählen ländlicher Legenden verwendet. Während der Befragung trat 12mal der Ausdruck "dicen que" auf. Hinzu kamen die ähnlichen Sätze: "a mí me dijeron que" sowie "a mí me contaron que". Wie bereits zuvor erwähnt, verwiesen diese Ausdrücke auf die kollektive und anonyme Stimme einer bestimmten Gemeinschaft. Auf sie beriefen sich die Kinder als Autoritätselemente und Grundlage ihrer Darlegungen. Mit Hilfe dieser Ausdrükke erklärten die Kinder ihre Erzählungen für allgemein bekannt. Junge Nr. 3: En Guanajuato dicen que las momias de antes, había muchos señores malos y que cuando se moría alguien, le quitaban todo el cerebro y na'más les ponían vendas y les echaban yeso, después les ponían más vendas... In Guanajuato sagen die Leute, daß die Mumien von früher, es gab viele böse Männer und daß, wenn jemand starb, ihm das ganze Gehirn entfernten und ihn bloß verbanden und ihnen Gips gaben, dann gaben sie ihnen mehr Binden...

Weitere Beispiele lauteten wie folgt: Mädchen Nr. 1: También dicen que si uno quema a un pitufo que si sale humo negro son del diablo y si sale humo café son de Dios. Die Leute sagen auch, daß, wenn jemand einen Schlumpf verbrennt, und schwarzer Rauch aufsteigt, dann sind sie vom Teufel, und wenn brauner Rauch aufsteigt, sind sie von Gott.

Mädchen Nr. 3: En el agua sucia dicen que ahí se aparecen... Im schmutzigen Wasser, sagen die Leute, daß sie dort erscheinen...

Auch Alfonso gebrauchte mehrere Male diesen Ausdruck, nicht selten auch, um seine Aggressionen gegenüber den Mädchen zu begründen. So richtete er sich auch an eine von ihnen mit den folgenden Worten: Alfonso: Dicen también que la pitufina y un pitufo se van a morir y a las que están diciendo pitufas, así como a ésta que le decimos pitufo... Die Leute sagen auch, daß die Pitufina und ein Schlumpf sterben werden und diejenigen Mädchen, die als Pitufas bezeichnet werden, genauso wie diese, die wir als Pitufo bezeichnen...

Diese Ausdrücke stachen gegenüber anderen ab, die die Kinder gebrauchten, um ihre Äußerungen einzuleiten und auf diese Weise während der Befragung die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: "Yo vi una película", "Yo soñé", "Yo también soñé", "Yo vi en las noticias", "Yo vi un día un pitufo", "Yo tengo", "Yo también". "Yo, Yo ". Dieses "ich, ich" brachte zum Ausdruck, auf welche Weise Kinder im allgemeinen um das Wort baten oder um Teilnahme an der Aktivität

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im Klassenzimmer nachsuchten. Durch die Betonung der ersten Person, das "yo", versuchten sie, allgemeine Aufmerksamkeit und das Wort zu erlangen. In einigen Fällen unterstrichen die Kinder, daß sie das Wort ergriffen hatten und betonten ihre Figur als sprechende Subjekte: "Yo digo...", "Yo digo que".

5.3.8 Zur diskursiven Einordnung und Definition des Rahmens der Befragung Die Kinder ordneten ihre eigenen Diskurse nicht explizit ein. Jedoch konnte bei der Analyse der von den Kindern verwendeten Eingangssätze herausgearbeitet werden, wie die Kinder die Art der Diskurse definierten und umdefinierten. Dies geschah, indem die Kinder die Aussagen des vorhergehenden Kindes wie auch ihre eigenen mit Hilfe von Sätzen wie den folgenden einordneten: "Yo me sé otra", "Yo también sofié". Dies ermöglichte das Verständnis davon, wie die Kinder den Rahmen der Befragung definierten und umdefinierten. Während der ersten fünf Minuten der Befragung erzählten die Kinder knappe Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe. Nach dieser Phase, als die Kinder mit der Darlegung von Assoziationen begannen, erzählte einer der Anführer, der Junge Nr. 1, eine Geschichte, die eine andere diskursive Logik zu enthalten schien. Sie handelte von Schlümpfen und Erdölbohrlöchern: Junge Nr 1: Un día cuando no podían tapar un pozo petrolero, se les apareció el diablo y les dijo: "No lo van a poder tapar con nada, aunque sea que los pitufos, que corten quinientos mil cabezas de niños..." lo podían tapar más que con quinientas mil cabezas de niños Eines Tages als sie ein Erdölbohrloch nicht zustopfen konnten, erschien ihnen der Teufel und sagte ihnen: "Ihr werdet es mit nichts zustopfen, es sei denn, daß die Schlümpfe 500.000 Köpfe von Kindern abschneiden..." sie konnten es nur mit 500.000 Köpfen von Kindern zustopfen

Alfonso: Sí, yo también me sé otro. Ja, ich kenne auch eine andere. Anschließend erzählte Alfonso eine Geschichte von einem nachts lebendig werdenden Teufelskostüm. Es stellte sich die Frage, worauf sich der Junge mit seinen Worten "yo también me sé otro" bezog. Was war mit "otro" gemeint? Eine andere Geschichte? Eine andere Erzählung? "Cuento" stellte das von den Kindern am häufigsten gebrauchte Wort dar, das an dieser Stelle paßt. Traf dies zu, so bedeutete dies, daß der Junge implizit die Darlegungen seines Vorgängers als eine Geschichte definierte, als eine erfundene Erzählung. Dasselbe galt dann für seine eigene Erzählung. Damit stand im Einklang, daß die Kinder von diesem Augenblick an begannen, über Filme zu erzählen. Die folgenden Äußerungen begannen mit: "Yo vi una película". Wenig später wiederholten andere Kinder dann den-

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selben Ausdruck: "Yo me sé otro". Auf dieselbe Weise sagt ein Mädchen: "Yo me sé otra también, que...". Was war mit "otra" gemeint? Es ließe sich vermuten, daß die Äußerung sich auf "historia", oder aber auf "narración" bezog. "Narración" stellt, im Gegensatz zu "historia" kein von den Kindern verwendetes Wort dar. "Historia" bezog sich in diesem Zusammenhang sicherlich nicht auf irgendeine Lektion historischen Stoffes, sondern auf eine fiktive Geschichte. Als der Anfuhrer Alfonso das Thema der Andalona einführte und der Junge Nr. 3 sich äußern wollte, griff die Interviewerin in das Gespräch ein: Interviewerin: ¿Tú también oiste eso? Du hast dies auch gehört? Junge Nr. 3: Sí también yo soflé, o sea que todos los pitufos son niños y la Andalona los agarró... Ja, auch ich habe geträumt, nämlich, daß alle Schlümpfe Kinder sind und die Andalona hat sie eingefangen...

Sowohl die Äußerungen Alfonsos als auch diejenigen des Jungen Nr. 3 wurden als Träume definiert und der Raum der Befragung als einer, in dem Träume erzählt werden konnten. Auf implizite Weise deutete der Junge Nr. 3 an, daß viele Leute gleiche oder doch recht ähnliche Träume haben könnten, was eine gemeinsame Erfahrung beinhalten könnte. Die Äußerung Alfonsos, die Andalona sei die Mutter der Schlümpfe und die Frau des Teufels, gehörte dem Jungen Nr. 3 zufolge zur Gattung der Träume. Daran lassen sich die folgenden Fragen anknüpfen: Weshalb gehörte diese Darlegung zur Art der Träume? Welche Teile seiner Erzählung und derjenigen Alfonsos führte zu ihrer Klassifizierung als Traum? Die wirre Art, in der sie Alfonso anfangs erzählte oder aber der erzählte Inhalt? Verdankte sie es dem Tatbestand, daß ihm dies weder eine andere Person erzählt, noch daß er es auf der Filmleinwand oder dem Fernsehbildschirm gesehen haben könnte? Letztlich wurde mir nicht deutlich, worauf die Kinder sich bezogen, wenn sie von Filmen, "historias" und "cuentos" erzählten. Mitunter handelte es sich bei dem von ihnen als "película" Bezeichneten sicherlich um im Fernsehen gezeigte Filme, wie etwa die Filme über El Santo contra las momias. Dasselbe galt für Erzählungen der Sendungen über Los Pitufos, Cometa, Ballena Josefina. Außerdem waren manche Erzählungen, bei denen die Kinder sich auf Fernsehsendungen oder Kinofilme bezogen, zu großen Teilen das Produkt ihrer eigenen Erfindung. Dies traf auf die Darlegungen über Los Superamigos zu, ferner auch auf Erzählungen über die Schlümpfe und den Teufel oder den "Film" über den Teufel, die Schlümpfe und die Andalona. Obgleich die erwähnten Figuren keine Erfindungen darstellten und einen gemeinsamen Bezugspunkt zwischen den Kindern und mir bildeten, so erlangten sie doch dadurch neue Merkmale, daß sie einer Erzählung

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mit besonderen diskursiven Regeln beigemischt wurden, Regeln, die nicht genau den Konventionen der Fernseh- oder Filmproduktion folgten. Die Kinder erschufen und bildeten, wie bereits zuvor erwähnt, neue Geschichten mit Hilfe von Bruchstücken alter Erzählungen. Außerdem empfanden sie die Notwendigkeit, eine solche Produktion als Reproduktion von bereits Bestehendem vorzustellen. Sie faßten somit den Rahmen der Befragung so auf, daß eine aktive Erfindung und Wiedererschaffung von Geschichten erlaubt war. Jedoch durfte dies nicht zugegeben werden. Möglicherweise behaupteten sie deshalb: "Yo me sé otro", "Yo me sé otra". Am Beginn dieses Kapitels wurde dargelegt, daß Wissen in offiziellen traditionellen Schulen wie der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl, bei Kindern im Alter zwischen 10 und 12 Jahren in diesem sozioökonomischen Milieu bedeutete, Informationen von Eltern, Lehrern, aus Büchern, Fernsehen und Kino wiederholen zu können. Auf diese Weise fühlten die Kinder ihre Äußerungen durch Institutionen des Wissens und deren entsprechende diskursive Gattungen garantiert, was sich an späterer Stelle noch deutlicher zeigen wird. Während der Befragung bestand das Erzählspiel im Darlegen von Geschichten, die nur andere erschaffen konnten und die Kinder lediglich wiederholten. In diesem spielerischen Umfeld bedeutete die Aussage, daß jemand nichts wisse und erfinde, zweifellos eine Herabsetzung sowohl des Inhalts der Aussage als auch der Person der Sprechenden. Wie im vorigen Unterkapitel ausgeführt, unterschieden die Kinder zwischen dem, was "se ve u oye por la televisión" und dem, "lo que dice la abuelita". Jedoch entsprach diese Unterscheidung nicht den üblichen Parametern zwischen dem "lo que pertenece a la televisión" und dem, "lo que dice la abuelita". Es war keinesfalls einfach, festzustellen, was das Unterscheidende und Kennzeichnende ausmachte. Das rührte daher, daß die Kinder die damaligen, aus dem Fernsehen stammenden Figuren wie die Schlümpfe in mündliche Erzählungen einführten, von denen angenommen wurde, daß die Großmutter sie erzählt hatte. Hinzu kam, daß Figuren aus sehr alten mündlichen Traditionen wie die Llorona in Erzählungen aufgenommen wurden, von denen die Kinder behaupteten, sie in Filmen oder Fernsehprogrammen gesehen zu haben. Insgesamt fünfmal im Verlaufe der Befragung behaupteten die Kinder mit Nachdruck "Sí, es cierto". Zum ersten Mal erfolgte diese Äußerung, als der Junge Nr. 1 erwähnte, daß in der Fernsehsendung die Schlümpfe gut waren, in den Nachrichten dagegen dargelegt worden war, daß sie fünf Kinder erhängt hätten. Der Junge Nr. 3 fügte hinzu: "Sí, cierto". Das zweite Mal tauchte diese Bemerkung auf, als ein Mädchen erwähnte, es habe eine Verbrennung von Schlümpfen am

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"Bordo de Xochiaca", dem Abwasserkanal, stattgefunden, außerdem erschiene dort stets ein Ungeheuer: Mädchen Nr. 3: En el agua sucia dicen que ahi se aparecen, que hay como, hay lumbre y se va y dicen que si la apagan que se les aparece un monstruo como en los pitufos y se llamaba la zorra. Im schmutzigen Wasser, sagen die Leute, daß sie dort erscheinen, daß es gibt wie, es gibt Flammen und sie geht, und die Leute sagen, wenn sie ausgelöscht wird, dann erscheint ihnen ein Ungeheuer wie bei den Schlümpfen und es nannte sich die Füchsin.

Mädchen Nr. 2: Si cierto. Ja, das stimmt.

Gleichfalls fand sich die besagte Äußerung, als die Kinder sich auf das Thema vom "Dia de los muertitos" bezogen und darlegten, wie diese aus ihren Gräbern auferstehen und den Geruch des ganzen Essens verzehren. Hier tauchte, wie an anderen Stellen auch, die besagte Äußerung auf, um die Zustimmung des Sprechenden zu den Aussagen anderer Kinder zu betonen. Dies läßt vermuten, daß die Erzählungen weder von allen Kindern noch in gleicher Weise geteilt wurden.

5.3.9 Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und Alltagsleben der Kinder: Vom Gerücht über die Schlümpfe zu lokalen Erzählungen Durch die Befragung und die sich hieraus ergebende Erzählproduktion in der Gruppe versetzten die Kinder sowohl sich selbst als auch mich in verschiedene Szenarien ihres imaginären wie auch ihres alltäglichen Lebens. Deshalb verdient die Ermittlung der von ihnen aufgegriffenen Elemente ihres alltäglichen Umkreises Interesse. Welche Personen, Tiere, Gegenstände, Orte und Zeiten wurden in ihren Erzählungen erwähnt und wie flochten sie diese Elemente in ihre Geschichten ein? Die Kinder ließen lediglich einige Elemente ihres täglichen Lebens hervortreten. Dabei spiegelte sich nicht das Alltagsleben als solches wieder. Vielmehr waren es nur einige Elemente, die zu den Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe und seinen vielfältigen Assoziationen einen Bezug herstellen konnten, zusammen mit solchen Elementen, die die Gruppendynamik im Verlauf dieser Befragung entstehen ließ. Da einige Erzählungen der Versionen des Gerüchts den Raum zu Hause als Ort der Handlung aufwiesen, wurden Gegenstände dieses Bereichs von den Kindern zur Kennzeichnung der Art des Hauses und der Familie betont. Bei den Gegenständen trat das Fernsehgerät hervor. Neben der Erwähnung der Tätigkeit des

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Fernsehens durch einige Kinder und dem beiläufigen Aufzeigen der Präsenz des Fernsehapparates in anderen Erzählungen erschien in der Befragung das Fernsehgerät als ein in hohem Maße Prestige vermittelnder Gegenstand. Unterschieden wurde zwischen Familien mit und ohne Fernsehgerät. Die Besitzenden hatten ein Wissen, das es ihnen erlaubte, öffentlich ihre Meinung zu vertreten. Es sei daran erinnert, daß in diesem durch den Besitz von wenig Wohnraum pro Person gekennzeichneten kulturellen Umfeld das Fernsehgerät den Raum zu Hause dadurch gestaltete, daß es entweder den Mittelpunkt des einzigen Zimmers darstellte oder aber den wichtigsten Platz des Gemeinschaftsraumes in den etwas größeren Wohnungen einnahm. Die Tatsache, daß ein Kind ein Zimmer allein besaß, wurde als in diesem Milieu unüblich betont, wie auch das Vorhandensein von zwei Bädern in einem Haus hervorgehoben wurde. In einer Erzählung wurde erwähnt, daß ein Junge das Haus verlassen mußte, um das Bad aufzusuchen, und ihm dabei der Schlumpf erschien. Dies läßt durchscheinen, daß die Familien dieses Stadtviertels in "vecindades" lebten, bei denen Zimmer an Zimmer in einem Innenhof aneinandergereiht sind, wobei jede Familie eines der Zimmer einnahm und in der Regel das Bad gemeinsam genutzt wurde. Dabei gab es nicht immer fließendes Wasser. Es mußte vielmehr oft in Kannen herantransportiert werden, was seinen Niederschlag in den Erzählungen der Kinder fand. Außer dem Fernsehgerät wurden noch Marienbilder und Kruzifixe erwähnt, die die Häuser, in denen die Kinder wohnten, schmückten und die Wände gestalteten. Hingewiesen wurde auch auf Medaillons mit dem Abbild der Jungfrau Maria, die in Kirchen gekauft werden können und als Schutz und Amulett gegen Angriffe anderer und die Versuchung durch Dämonen um den Hals getragen werden. In diesem Zusammenhang sollte auch auf das von den Kindem hervorgehobene Nachtgebet hingewiesen werden, das Alpträume zu vermeiden half. Beim Szenario des Heimes wurde auch die Mutter erwähnt, die zum Einkaufen wegging und deshalb das Kind mit dem angreifenden Schlumpf allein ließ, und sogar die Andalona, eine Mutter, die ohne Hilfe einer Maschine oder einer Hausangestellten Wäsche wusch. Wie zuvor erwähnt, stammten aus diesem sozioökonomischen Milieu oft die Wasch- oder Putzfrauen für die wohlhabenden Schichten. Ein anderes, häufig erwähntes Szenarium war die Straße. Dabei kam auch der Müllplatz vor, wohin verbrannte oder beschädigte Schlumpfpuppen geworfen wurden, die gleichwohl wieder lebendig wurden, und wohin einige Frauen "tiran a sus hijos recién nacidos". Dies wurde mehrmals erwähnt und direkt auf die Figur der Andalona bezogen. Hierbei erschien nicht nur das Problem des Gefühls des Verlassenseins seitens der Kinder, mit dem einige Versionen des Gerüchts

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verknüpft waren, sondern auch eine sehr viel breitere gesellschaftliche Problematik dieses kulturellen Umfelds, nämlich die Auflösung der Familienbeziehungen und die äußerst kärglichen sozioökonomischen Bedingungen. Weder gab es eine Familienplanung noch sichere Abtreibungspraktiken. Familien unterstützende Institutionen waren selten. Alleinstehenden Frauen fehlte oft ein ausreichender ökonomischer Unterhalt bzw. eine hinreichende Unterstützung bei der Erziehung durch Kindertagesstätten, Kindergärten, etc. In diesem Zusammenhang erschienen als Figuren Frauen wie die Andalona und die Andalonas im Plural, die ihre Kinder wegwarfen und mit dem Teufel selbst verbunden und verheiratet waren. Im gleichen erzählerischen Umfeld wurde auch von einem betrunkenen Papa Pitufo gesprochen, der den Gefahren der Nacht auf der Straße ausgesetzt war. Die Erzählungen führten auch auf die nächtliche Straße. Das bedeutete zugleich, sich in eine Gefahrenzone für die Kinder zu versetzen. In dieser Zone streunten zahlreiche Hunde und Katzen. Es streiften auch Hilfspolizisten umher, sowie "borrachitos y los mariguanos" und Männer, denen beim nächtlichen Umherwandeln die Andalona und Schatten erschienen, vor denen sie sich ängstigten. Die Betrunkenen und Drogenabhängigen erschreckten die Kinder, insbesondere die Mädchen. Als gegen Ende der Befragung Alfonso behauptete, daß die Dinge, vor denen man keine Angst habe, auch nicht erschienen, richtete ich an ihn die Frage, wovor er denn Angst hätte. Er antwortete mir sofort und mit besonderem Nachdruck, daß er vor dem Teufel Furcht empfände. Das Mädchen Nr. 1 hingegen erwiderte, ohne daß sie von mir direkt gefragt worden wäre: Mädchen Nr 1: Yo le tengo miedo a los borrachitos y a los mariguanos Ich habe Angst vor den "borrachitos" (Saufboldchen) und Drogenabhängigen Interviewerin: ¿A qué le tienes miedo? Wovor hast Du Angst? Mädchen Nr 1: a los borrachicos y a los mariguanos. La otra vez me corretearon... Na'más me corretió así y venían por aquí mi hermanito y se le quedó viendo y no'más nos estaba viendo así y nosotros nos echamos a correr y se estaba asomando y que nos va corretiando hasta la casa y que se quería meter y mi mamá agarró una piedra y ya no nos hizo nada vor den "borrachicos" und Drogenabhängigen. Neulich liefen sie mir nach... nur ist er mir nachgelaufen und es kam mein Brüderchen daher und der hat ihn angeschaut und er hat uns nur so angeschaut und wir machten uns daran, zu laufen und er schaute heraus und er lief uns bis zu Hause nach und wollte hineingehen und meine Mama nahm einen Stein und dann ließ er uns in Ruhe. Das von dem Mädchen gebrauchte Wort "borrachicos" vereint zwei Bezeichnungen für gefurchtete Figuren, nämlich die "borrachitos" und die "robachicos". Diese beiden Figuren sind zugleich real und imaginär, wird doch mit ihnen den

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Kindern gedroht, damit sie nicht auf die Straße gehen. Sowohl Betrunkene als auch Drogenabhängige und Kindesräuber wurden in dem Stadtviertel, in dem die Kinder wohnten, gefürchtet, ein Stadtviertel, in dem der Alkohol und der Konsum von Marihuana ein Problem darstellten. Auch den Informationen der Schulleitung zufolge verhielten sich Betrunkene und Drogenabhängige im allgemeinen recht aggressiv, nicht zuletzt gegenüber ihren eigenen Kindern. Die Figur der "robachicos" steht in Beziehung zur Llorona, die in ihrer lokalen Variante der Andalona auch Kinder raubte, was möglicherweise die Bedeutung der Geschichten über "robachicos" aufzeigte. Der Diminutiv des Wortes "borrachitos" scheint der Figur der Betrunkenen die Gefährlichkeit zu nehmen und den Anschein zu erwecken, es könnte sich um eine den Kindern nahestehende Person oder um eine schutzbedürftige Person wie sie selbst handeln. Auf dieselbe Weise sprachen die Kinder von "muertitos", "diosito" und der "Virgencita", wenn sie Bezug nahmen auf Medaillons mit der Darstellung schutzbietender Figuren. Das galt nicht in dem Fall, in dem Gott als kämpfender Krieger aufgefaßt wurde, der sich dem Teufel und den Schlümpfen widersetzt. Hierbei verschwand der Diminutiv. Die Kinder erwähnten nur selten Orte des Stadtviertels. Dabei fiel jedoch die recht häufige Nennung des "Bordo de Xochiaca" auf, des Abwasserkanals, von dem behauptet wurde, daß dort Verbrennungen von Schlumpfpuppen stattgefunden hatten. Dieser Ort schien ein wichtiger Bezugspunkt für die Kinder dieses Stadtviertels zu sein. Überdies fanden sich bei den dargelegten Geschichten einige, die in eine ländliche Umgebung verwiesen oder in Gegenden, aus denen die Eltern oder Verwandten der Kinder stammten. Das galt z.B. für folgende häufig gebrauchten Ausdrücke: "En el pueblo de mi abuelita", "por mi pueblo". Auch wurden verschiedene Ansiedlungen in den Bundesstaaten Guanajuato und Puebla erwähnt. Hügel, Flüsse, Brücken waren die Orte, an denen die Andalona oder die Schlümpfe erschienen. Die Kinder erwähnten auch einige Ereignisse, die ihnen von besonderer Wichtigkeit zu sein schienen, wie etwa Familienfeste, der "Dia del niüo", der "Dia de los muertos" und der "Dia del grito", die Feier des Jahrestags der mexikanischen Unabhängigkeit am 16. September.

5.3.10 Produktion und Austausch verschiedener Arten des Wissens während der Befragung Die Befragung wurde zu einem Rahmen von Überlegungen über das Verhalten der Kinder und der sie umgebenden Personen. Fast jede Äußerung enthielt eine

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mehr oder weniger versteckte Verhaltensempfehlung. Eine Sammlung zerstreuter Elemente des Wissens ergab sich dadurch, daß im Rahmen der Unterhaltung eine Erzählung mit einer anderen, ein Filmstoff mit einem Traum zusammengefügt, mit den Bruchstücken bereits dargelegter Geschichten gespielt und sie miteinander verwoben wurden. Im Zusammenhang mit der Gruppendynamik und den sich im Verlauf dieser Befragung einspielenden speziellen Formen des Wissens war das Thema des Glaubens äußerst wichtig. Die als richtig angesehenen Glaubensbekenntnisse wurden besonders eindringlich vorgetragen: der Glaube an Gott und an die Jungfrau Maria, der Glaube an den Teufel und an die Erscheinungen. Dabei kam der Gedanke zur Sprache, daß die nicht an die Jungfrau Maria Glaubenden Erscheinungen erleben würden. Das Kind, das damit spielte, zu sagen: "No creo en el diablo, no creo en Dios" sollte von einem Ungeheuer entführt werden. Unterschwellig war dies eine Kritik an denjenigen, die zwar an Gott und Christus glaubten, nicht jedoch an die Heiligenbilder und die Jungfrau Maria, also eine Kritik an den Angehörigen protestantischer Sekten des Stadtviertels. Mädchen Nr. 1: También una niña no cree en nada, una que se sienta conmigo tampoco no cree en nada, ni en la Virgen. Dice que en los cuadros Satanás los hizo. Satanás las hizo a las Vírgenes que nosotros porque creemos en Dios, nos vamos a ir con el infierno. En el infierno cuando nos mueramos. Es que ella no cree en Dios. Auch ein Mädchen, das an nichts glaubt, eines, das neben mir sitzt, glaubt auch an nichts, auch nicht an die Jungfrau Maria. Sie sagt, daß ihre Bilder von Satan gemacht worden sind. Satan hat die verschiedenen Jungfrauen Maria gemacht, daß wir, weil wir an Gott glauben, in die Hölle geraten werden. In der Hölle, wenn wir sterben werden. Es ist so, daß sie nicht an Gott glaubt.

Da die Befragung sich während eines längeren Zeitraumes um die Versionen des Gerüchts von den Schlümpfen drehte, kam ein Komplex von Erzählungen auf, der stillschweigend darauf hinwies, daß die Kinder doch Vorsicht walten lassen sollten bei scheinbar unbeseelten Schlumpfgegenständen wie z.B. Puppen, Schlüsselanhängern, Schallplatten, Bildern, Kalendern, Flicken, Poster, Gemälden. Im weiteren Verlauf der Befragung wurde von den Kindern die Behauptung aufgestellt, solche Vorsicht wäre nicht nur bei Schlumpfgegenständen angebracht, sondern bei allen Gegenständen, scheinbar leblosem Spielzeug und Puppen bis hin zu angeblich so harmlosen Tieren wie Katzen. Dieser gesamte Komplex von Vorsichtsregeln ließ sich mit dem Sprichwort "der Schein trügt" zusammenfassen. Die Schlumpfgegenstände, die üblichen Puppen, die Katzen und auch die Jungfrau Maria sind nicht das, was sie zu sein scheinen. Wie bereits zuvor gesehen, führte Alfonso in der Befragung auf sehr bestimmte Weise aus:

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Alfonso: Dicen que la Virgen que se aparece en los árboles es el diablo porque en los árboles enveces dan flores y dicen que las flores son los diablos... Die Leute sagen, daß die Jungfrau Maria, die in den Bäumen erscheint, der Teufel ist, weil in den Bäumen manchmal Blumen kommen und die Leute sagen, daß die Blumen die Teufel sind...

Daraus resultierten auch andere, spezifischere Empfehlungen, so z.B.: Die Kinder dürfen die Puppen nicht mißhandeln, denn diese werden sich sonst rächen. Dasselbe galt für Tiere, wie der Junge Nr. 3 bereits erwähnte. Allerdings teilten nicht alle seine Meinung. Ein Beispiel hierfür stellt die folgende Äußerung dar: Mädchen Nr. 2: Dice mi mamá que una señora le dijo que una muñeca, así que la niña no les había hecho nada y se durmió con todas sus muñecas y así que, cuando amaneció la niña, ya amaneció con, llena de sangre la cara y rasguñada... Meine Mama sagt, daß eine Frau ihr sagte, daß eine Puppe, so, daß das Mädchen ihnen nichts gemacht habe und mit all ihren Puppen eingeschlafen sei und so daß, als es Tag wurde das Mädchen, es aufwachte, das Gesicht voller Blut und zerkratzt...

Diesen Darlegungen zufolge konnten Puppen und andere Gegenstände, auch wenn sie nicht mißhandelt wurden, Kinder auf verschiedene Weise angreifen. Vorsicht vor ihnen! Außerdem kam auch zum Ausdruck, daß die Kinder nicht mit ihren Puppen schlafen sollten. In einer Stimmung von Feindseligkeit den Mädchen gegenüber wurden an sie gerichtete Empfehlungen vorgetragen. Diesen Empfehlungen zufolge müßten sich hübsche Mädchen speziell vor dem Teufel in acht nehmen, vor allem Mädchen mit langen Haaren. Letzteres wurde nicht nur vom Anführer behauptet, der ihnen gegenüber eine gewisse Phobie verspürte, sondern auch vom Jungen Nr. 3. Wie erwähnt, wurde diese Auffassung auch von Mädchen Nr. 2 übernommen. Nur kurz zuvor hatte sie ausgeführt: Mädchen Nr. 2: Si no se hacen trenza así que el pelo esté largo, largo, se tienen que hacer trenza porque si no se van con el diablo y el diablo les corta el cabello Wenn sie sich keine Zöpfe flechten so, wenn das Haar lang, lang ist, sie müssen sich Zöpfe flechten, weil sonst kommen sie zum Teufel, und der Teufel schneidet ihnen das Haar ab.

Weitere Empfehlungen richteten sich an die Eltern. Sie sollten dafür sorgen, daß die Kinder und vor allem Säuglinge nicht allein blieben, wenn Schlumpfpuppen und andere scheinbar harmlose Gegenstände in ihrer Nähe waren. Aus dem Tonfall ließ sich schließen, daß diese Aussagen als Empfehlungen gedacht waren, anders als die schwere, an Frauen gerichtete Kritik, die ihre Kinder auf den Müllhaufen werfen. In diesem Fall wurde von den Kindern unterschwellig die Forderung nach Bestrafung erhoben:

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Alfonso: Cuando la Andalona, dicen que cuando empezó a hacer la Andalona fue una señora que tiraba a sus hijos cada que los tenía, los tiraba... Y entonces luego de eso, este, Dios la castigó y le puso cola de pescado y la echó al mar y entonces luego de que tiró a sus hijos cuando en el mar gritaba: "¡Ay mis hijos!", así anda gritando y luego le fue creciendo muy el pelo largo... Als die Andalona, die Leute sagen, als die Andalona begann zu tun, war die Andalona eine Frau, die ihre Kinder wegwarf, sobald sie die hatte, warf sie sie weg... Und dann nach diesem, äh, Gott bestrafte sie und gab ihr einen Fischschwanz und warf sie ins Meer und dann nachdem, daß sie ihre Kinder weggeworfen hat, als sie im Meer war, schrie sie: "Wehe, meine Kinder!" So lief sie schreiend und dann wuchs ihr sehr das lange Haar...

Eine weniger versteckte Kritik richtete sich an die Betrunkenen, Drogenabhängigen und nachts umhergehenden Männer. Ihnen konnte der Teufel oder die Andalona erscheinen. Ganz generell empfahlen die Kinder, keinesfalls nachts das Haus zu verlassen und auf die Straße zu gehen, manchmal auch zu keiner Tageszeit. So äußerte das Mädchen Nr. 1, wobei sie zunächst von den bösen Schlümpfen sprach: Mädchen Nr 1: Mi mamá dice que son malos... que si me llaman así, los niños que para que cuando me cuenten algo así de los pitufos que no vaya, que porque mi mamá se enoja, por eso no le gusta que salgamos a la calle, a mi mamá Meine Mama sagt, daß sie böse sind... daß, wenn sie mich rufen, die Kinder, daß, um mir etwas so über die Schlümpfe zu erzählen, daß ich nicht hingehen soll, denn meine Mama ärgert sich, deshalb möchte sie nicht, daß wir auf die Straße gehen, meine Mama

Beim Erzählen flochten die Kinder beiläufig einzelne Kenntnisse ein. Hierzu gehört etwa: den "muertitos" am Totentag Essen geben, daß sie sich vom Geruch ihrer Lieblingsspeisen nähren, Hinweise, wann Träume erzählt werden könnten, wie auch die Art, wie man böse Träume verhindern könnte: Junge Nr 1: Un día yo soñé, un día yo soñé que iba a llover pero fuego. Ya venía el fiiego pa'ca y bajó, ya veía el fuego pa'bajo, na'más que lo conté, sino se hubiera hecho realidad, ¿verdad Alfonso? Eines Tages habe ich geträumt, eines Tages habe ich geträumt, daß es gerade regnete, aber Feuer. Schon kam das Feuer herab, schon sah ich das Feuer herabkommen, da ich das erzählt habe, sonst wäre es wirklich geworden. Nicht wahr, Alfonso?

Alfonso: Sí. Ja.

Es verstand sich für die Kinder von selbst, daß derjenige, der seine Träume erzählte, damit zugleich verhinderte, daß sie wahr wurden. Bestimmte Träume, nämlich die angenehmen, dürften dagegen nicht erzählt werden. Bei Alpträumen jedoch war es besser, sie zu erzählen.

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Gleichfalls mit Bezug zu Träumen wurde das Beten als Erfordernis angesprochen, sich guter Träume zu versichern: Mädchen Nr. 2: Cada vez que... que no le reza mi mamacita, sueña así con los muertos, así, ¿no?. Immer wenn... daß meine Mammi nicht betet, träumt sie von den Toten, so, nicht wahr? Über die Art und Weise, wie man sich vor Erscheinungen wie dem Teufel und den lebendig werdenden Schlümpfen schützen konnte, gaben alle Beiträge denselben Hinweis. In dieser Hinsicht äußerte der Junge Nr. 1, daß ein Bild der Jungfrau Maria ihn vor einem aus seinem Schlumpfdorf heraustretenden Schlumpf beschützt hatte, der sich groß machte. Als dieser Schlumpf das Bild der Jungfrau Maria sah, verschwand er. Dasselbe wurde von Kreuzen und Kettchen, die vor dem Teufel schützten, behauptet. Dieses Wissen bedeutete für die Kinder eine Selbstverständlichkeit. So erwähnte Junge Nr. 1 auch, daß während des Kampfes zwischen Satan und Gott letzterer die Kinder schützte, indem er ihnen Kettchen mit Medaillons umlegte. Die Gruppenbefragung als Rahmen der Produktion mündlicher Erzählungen ermöglichte nicht nur, daß ein Komplex bereits geäußerten Wissens reproduziert wurde, sondern daß auch neues Wissen produziert wurde. Dies erfolgte, weil jede Befragung, jedes neue Umfeld und jede bestimmte physische Umgebung den mündlichen Erzählungen, und damit auch dem jeweiligen Wissen, eine neue Nuance vermittelt.

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Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschule: Aus dem Blickwinkel der Zeugen Jehovas und anderer Sekten

Nach der Untersuchung des Interviews der vierten Klasse der Grundschule wird nun die Analyse der Gruppenbefragung vorgenommen, die mit der sechsten Grundschulklasse in derselben Schule durchgeführt wurde. Der Vergleich bietet die Möglichkeit, einige mit dem Umfeld, mit der speziellen Dynamik der Befragungen sowie mit dem Alter der Kinder oder der kognitiven Entwicklung verbundene Unterschiede darzustellen, um hieran anknüpfend einige Regelmäßigkeiten über ihre mündliche Kultur im allgemeinen zu entwickeln. In den beiden folgenden Kapiteln ergibt sich dann die Möglichkeit eines Vergleichs mit anderen kulturellen Umfeldern. Zunächst werden die Versionen des Gerüchts dargelegt, deren Kenntnis mir die Kinder vermittelten, die wichtigsten ihrer Assoziationen sowie die solche Asso-

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ziationen ermöglichende Gruppendynamik, wie sie sich während der Befragung von Kindern der vierten Klasse ergab.

5.4.1 Die den Kindern bekannten Versionen Die Befragung dauerte 20 Minuten, während derer die Kinder 26 kurze Geschichten mit höchstem Interesse erzählten, wovon 17 von unterschiedlichen Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe handelten. Dieselbe Gruppe hatte die im Punkt 2 dieses Kapitels vorgestellten Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe geschrieben. Die einfachste in dieser Gruppe vorkommende Version des Gerüchts bestand darin, daß irgendein Schlumpfgegenstand ein Kind durch Erhängen oder Erwürgen umbrachte. In einigen Versionen wurde beschrieben, daß das Kind allein und wehrlos war, weil die Mutter auf den Markt gegangen war oder das Kind nicht schreien gehört hatte. Bei einer anderen Version mit einem gewissen glücklichen Ausgang wurden Hund und Kreuz ins Spiel gebracht. Zwar gelang es dem Hund, das Mädchen vor dem Schlumpf zu retten, er selbst jedoch endete als Opfer des Schlumpfs. Danach nahm die Mutter ein Kreuz, das bewirkte, daß der Schlumpf verschwand.

5.4.2 Die speziellen Versionen Während der Befragung kamen drei miteinander verbundene Versionen des Gerüchts auf, die die Regeln des Glaubwürdigen der Kinder beleuchteten. Es handelte sich dabei um die Versionen vom erscheinenden und wieder entschwindenden Schlumpf, von dem sich rächenden Schlumpf und vom dämonischen Schlumpf. Diese drei Versionen kamen auch in der Befragung der vierten Klasse der Grundschule vor. Sie erlangten jedoch in der sechsten Klasse eine spezielle Nuance.

5.4.2.1 Die Version vom erscheinenden Schlumpf Die Version vom erscheinenden Schlumpf tauchte auch in dieser Befragung auf, obgleich sie weder dasselbe Ausmaß an Bedeutung besaß noch die strukturierende Version darstellte. Hierbei handelte es sich um ein Wesen, das im Haus umging, die Straßen durchstreifte oder über die Hügel wandelte, ein Wesen, das erschien und wieder entschwand, das lebendig wurde ("cobraba vida") und wiederauflebte ("revivia"). Die angeführten Verben wurden neunmal erwähnt. Diese

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Version wurde mit Legenden über Tote, die ins Leben zurückkehrten, religiösen Geschichten über Kreuze und aus Oaxaca stammende Kobolde verbunden. Mädchen Nr. 1: Una vez allí por mi calle, una niña me contó que por allá por Oaxaca, este, iban caminando por el, por un cerro y que unos como unos duendes les hablaron y que cuando voltearon eran los pitufos... Einmal, da in meiner Straße erzählte mir ein Mädchen, daß dort in Oaxaca, äh, sie gerade zum, zu einem Hügel gingen, und daß einige, wie einige Kobolde sie ansprachen, und als sie sich umdrehten, waren es die Schlümpfe...

Bemerkenswert ist, daß in dieser Version - wie bei Geschichten über Kobolde üblich - keinerlei gewalttätige Aktion seitens der Schlümpfe zu verzeichnen war. Die Kobolde erschienen den Leuten, erschreckten oder verlockten sie, ließen ihnen plötzlich Untaten widerfahren, um dann zu verschwinden. Dasselbe galt auch in der folgenden Version, bei der der Schlumpf lebendig wurde und den Leuten erschien, ohne einen Schaden zu verüben. Junge Nr. 4: Nosotros también teníamos un pitufo chiquitito, este, de goma y este cuando dijeron eso, lo tiramos, lo tiramos y como decían que se levantaban y que caminaban que al otro día que lo tiramos, este. Para el otro día, bueno al otro día que lo tiraron que sí apareció allá en el patio de mi casa y lo quemamos, ¿no?, pero no se quería quemar con petróleo y lo partimos así y lo quemamos y ya desde ese día ya no vemos el programa. Wir hatten auch einen kleinen Schlumpf, äh, aus Gummi, und äh, als die Leute das sagten, haben wir ihn weggeworfen, haben wir ihn weggeworfen, und da die Leute sagten, daß sie aufstehen und daß sie gingen, haben wir ihn am nächsten Tag weggeworfen, äh. Am nächsten Tag, gut, am nächsten Tag, als sie ihn weggeworfen hatten, da erschien er ganz wirklich dort im Hof unseres Hauses und wir haben ihn verbrannt, nicht?, aber er wollte sich nicht mit Petroleum verbrennen lassen und wir haben ihn so auseinandergebrochen und ihn verbrannt und nun seit diesem Tag sehen wir die Sendung nicht mehr.

5.4.2.2 Die Version vom sich rächenden Schlumpf In dieser Erzählung wurde geschildert, daß die Schlumpfpuppe ein Kind angriff, nachdem sie von ihm mißhandelt worden war. Dies wurde verbunden mit Geschichten über Puppen, die - vor allem nachts - lebendig wurden. In dieser Hinsicht handelte es sich um dieselbe Version wie sie der Junge Nr. 3 und einige Mädchen in der vierten Klasse der Grundschule erzählten. Mit der folgenden Erzählung begann die Befragung: Mädchen Nr. 3: A mí me contaron que, mi tía me contó que una vez una niña tenía un pitufo ¿no? y lo quería mucho, mucho, mucho y luego la niña una noche no lo quiso. Estaba de mal humor la niña y aventó al pitufo y el pitufo que cobra vida en la noche y le andaba rascando a la niña y la niña estaba grite y grite y la mamá no la oía y en la mañana ya llegó su papá y le dijo que

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qué pasaba y no abrían el cuarto de la ñifla y el pitufo ya estaba allí todo lleno de sangre y este con las manos llenas de sangre y la ñifla ya estaba muerta ahí... Die Leute erzählten mir, daß, meine Tante erzählte mir, daß ein Mädchen einmal einen Schlumpf hatte, nicht?, und es mochte ihn sehr, sehr, sehr, und dann mochte das Mädchen ihn in einer Nacht nicht. Das Mädchen hatte schlechte Laune und warf den herunter, und der Schlumpf wird in der Nacht lebendig und er zerkratzte das Mädchen und das Mädchen schrie und schrie und die Mama hörte sie nicht, und morgens kam sein Papa und sagte, was geschehen sei und sie konnten das Zimmer des Mädchens nicht aufmachen, und der Schlumpf war da, ganz voller Blut und äh, mit den Händen voller Blut und das Mädchen war schon tot dort...

Danach erzählte Mädchen Nr. 2, daß eine Frau gerade die Schlumpfpuppen ihrer Tochter verbrannte, nachdem sie "das" erfahren hatte. Mädchen Nr. 2: Su mamá quemó a todos, pero uno sólo no quería quemarse o sea que se salía y se salía y que luego el pitufo le gritaba que se iba a vengar por matar a sus demás compañeros Die Mama verbrannte alle, aber ein einziger ließ sich nicht verbrennen, d.h., daß er herausging und, er ging heraus und daß der Schlumpf dann aufschrie, daß er sich dafür rächen würde, daß seine anderen Kameraden umgebracht worden seien.

Diese Version wurde von Mädchen Nr. 1 unmittelbar mit einer auch in der Befragung der vierten Klasse der Grundschule vorgetragenen Erzählung über die Irrlichter verbunden, die vom Hügel herabkamen: Mädchen Nr. 1: Sí dice mi papá que - como él es cargador de colchones que reparte por toda la República por ejemplo por San Luis, dice que una vez veía unas capas blancas, pero que se subían al camión y que na'más le gritaban: "me vengaré y me vengaré." Dice mi papá que se oía, pero que lo iban siguiendo, pero con unas llamas de lumbre. Ja, mein Papa sagt, daß - da er Matratzenausträger ist - daß er in der ganzen Republik ausliefert, z.B. bei San Luis, er sagt, daß er eines Tages einige weiße Umhänge sah, daß sie aber auf den Lastwagen hinaufstiegen, und daß sie ihn bloß anschrien: "ich werde mich rächen und ich werde mich rächen." Mein Papa sagt, daß man es hörte, aber daß sie ihm folgten, aber mit einigen Feuerflammen.

Die Version vom sich rächenden Schlumpf erweckte die meisten Assoziationen, nämlich mit Geschichten über eifersüchtige und rachsüchtige Puppen, mit Erzählungen über "jugar al panteón", mit Geschichten über Puppen, die nach Mißhandlungen durch die Kinder diese bei Vollmond umbrachten, sowie mit Filmen über Mörderpuppen wie "El Fetiche". Mit dieser Art von Erzählungen schloß auch die Befragung. Der Ausdruck "luna llena" tauchte während der Befragung der sechsten Klasse wie auch in der vierten Klasse mehrmals auf. Er ermöglichte den Kindern das Horrorszenarium zu beschreiben, bei dem der Schlumpfgegenstand und andere Puppen in Aktion traten. Dies verweist auf viele Legenden, Filme und Zei-

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chentricksendungen, in denen der Vollmond den Schauplatz erleuchtet, in dem der Vampir, der Werwolf, Frankenstein und andere Schreckensfiguren aus ihren Schlupfwinkeln heraustreten, um alle Arten von Missetaten zu begehen.

5.4.2.3 Die Version vom dämonischen Schlumpf Der Schlumpf, der eine Puppe oder ein anderer Gegenstand sein mochte, war in dieser Version besessen, von den Mächten des Teufels gesteuert, oder es handelte sich bei ihm einfach um den Teufel selbst. Zu dieser Auffassung trug insbesondere ein Junge bei, der den Zeugen Jehovas angehörte, aber auch andere Kinder, die zwar ihre Religion nicht zu erkennen gaben, jedoch Gedanken über die Figur des Teufels im Sinne anderer Sekten, wie z.B. der Mormonen, äußerten. Mädchen Nr. 2: A mí me dijieron que, mi hermana me dijo que antes que salieron los pitufos en la Biblia que iban a salir desde antes los pitufos, que los pitufos iban a ser del diablo. Die Leute sagten mir, daß, meine Schwester sagte mir, daß, bevor die Schlümpfe erschienen, stand in der Bibel, daß sie schon seit langem erscheinen würden, daß die Schlümpfe vom Teufel sein würden.

Später im Verlauf der Befragung wurde dieselbe Version des dämonischen Schlumpfs erneut unterbreitet, wiederum als Prophezeiung, die bereits in der Bibel niedergeschrieben worden war. Der Junge führte aus: Junge Nr. 3: Mi mamá, mi mamá el día cuando oyó que los pitufos revivieron y como en la Biblia salió que iban a salir unos que antes de que saliera iban a salir unos, que antes de que saliera, iban a salir unos pitufos en la leyenda de la Biblia y del templo. Este, desde ese día mi mamá ya no quiere saber nada de pitufos. Meine Mama, meine Mama, am Tag, als sie davon hörte, daß die Schlümpfe lebendig wurden, und wie in der Bibel stand, daß einige erscheinen würden, daß bevor sie erschienen, erschienen einige, daß bevor sie erschienen, einige Schlümpfe in der Legende der Bibel und vom Gotteshaus erscheinen würden. Äh, von diesem Tag an will meine Mama nichts von den Schlümpfen wissen.

Auf meine Frage nach der Religion der Kinder antwortete der Junge: Junge Nr. 3: Sí entonces creemos en todo eso. Como estudiamos la Biblia hay un texto que dice que que sólo dice es Jehová... Desde tiempos antiguos ha hecho milagros. Ja, wir glauben an dieses alles. Da wir die Bibel studieren, gibt es dort einen Text, der sagt, daß daß allein sagt, daß es Jehova ist... Seit alters her hat er Wunder getan.

Junge Nr. 1: También en mi calle hay unos, este, hay una familia que son mormones y en su templo ahí decían todo lo de los pitufos y sí eran malos ahí casi siempre estudiaban lo de los pitufos y cuando este, los pitufos dicen que

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sí existían los d'esos, los mormones empezaron a poner cruces así en todo y empezaron a bendecir. In meiner Straße gibt es auch einige, äh, es gibt eine Familie, die Mormonen sind, und in ihrem Gotteshaus, da sagten sie das alles über die Schlümpfe, und daß sie böse seien, dort haben sie fast immer das über die Schlümpfe studiert und wenn, äh, die Schlümpfe sagen, daß sie lebendig werden könnten, dann begannen die Mormonen, Kreuze zu hinzulegen so überall und begannen zu segnen.

In diesem Zusammenhang wurde über die "asambleas bíblicas" gesprochen, an denen einige Kinder teilnahmen, wie bereits bei der Beschreibung der schriftlichen Versionen erwähnt. Die Tätigkeiten "estudiar la Biblia" und "estudiar los pitufos" wurden von Anhängern der Zeugen Jehovas als eine ernsthafte, alle Familienmitglieder einbeziehende Arbeit aufgefaßt. Mit diesen Erzählungen ließen sich solche anderer Kinder verbinden, die die Schlümpfe als vom Teufel mittels seiner Dämonen gesteuerte Kobolde ansahen oder aber als wieder auferstandene Tote, die mit dem Teufel im Bunde waren und ihm gehorchen mußten. Mit Bezug hierzu tauchte die Figur des Vader Abraham auf, des Komponisten der Schlumpflieder. Einem Mädchen zufolge befahl dieser den Schlümpfen, Leute umzubringen, und einem anderen Mädchen zufolge hatte Vader Abraham einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. In diesen Versionen wurde der Grund gesucht, warum die Schlumpfgegenstände Leute umbringen könnten. Dies war entweder möglich, weil der Teufel direkte Gewalt über die Schlümpfe besaß, oder aber, weil er sich eines menschlichen Wesens bediente. Die Geschichte vom Teufelspakt verweist auf die bereits erwähnte "telenovela" El Maleficio, die zur Zeit der Befragung gerade lief, und in der die Hauptperson mit dem Teufel im Bund war.

5.4.3 Die Assoziationswelt der Kinder Wie bereits anhand von Erzählungen an früherer Stelle dargelegt, zeigten die Kinder die Folgen der Entstehung und Verbreitung des Gerüchts über die Schlümpfe in ihrem kulturellen Umfeld auf: das Verbrennen dieser Objekte und die Ablehnung, die Sendungen über Los Pitufos anzusehen. Solche Darlegungen wiederholten sich während der gesamten Befragung. Mädchen Nr. 1: Una niña de por mi casa dice que en Oaxaca que hicieron una como casa y que ahí van aventando todos los muñecos y que ahí les echaban gasolina y petróleo y parece que también bálsamo para que no revivieran. Ein Mädchen aus meiner Gegend sagt, daß in Oaxaca, daß sie eine Art Haus gemacht haben, und daß dort alle Puppen weggeworfen wurden, und daß sie sie mit Benzin

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und Petroleum übergössen haben und anscheinend auch mit Balsam, damit sie nicht wieder lebendig werden könnten.

Eine andere Erzählung dieses Typs lautete wie folgt: Mädchen Nr. 4: Mi tía tiene muñecos. Le había comprado a sus hijas muñecos de pitufos, playeras y todo y cuando oyeron ese rumor de que los pitufos asustaban, quemaron todo... Nosotros como antes no creíamos en eso, le había dicho mi papá que mejor nos lo regalara para jugar con ellos y mi tía dijo que no, que pa'qué queríamos problemas. ¿Qué tal si era cierto? ¿No? Y los quemaron todos. Meine Tante hat Puppen. Sie hatte ihren Töchtern Schlumpfpuppen, T-Shirts und alles gekauft, und als sie dieses Gerücht gehört haben, daß die Schlümpfe erschreckten, haben sie alles verbrannt... Da wir an das zuvor nicht geglaubt haben, hat ihr mein Papa gesagt, daß sie sie uns besser schenken sollte, um mit ihnen zu spielen, und meine Tante hat gesagt, wozu wollten wir Probleme haben. Was wäre, wenn es stimmte? Nein? Und sie haben alle verbrannt.

Wie bei den schriftlichen Versionen derselben Kinder wurde auch im Verlaufe der mündlichen Befragung der Terminus Gerücht hier nicht abwertend verstanden.

5.4.4 Die unterschiedlichen Tonfalle während der Befragung Die Stimmung neigte im Verlauf der Befragung zu einer ausgeprägteren Ernsthaftigkeit als es in der vierten Klasse der Grundschule der Fall gewesen war, da die Kinder einen großen Teil der Befragung dem gemeinsamen Nachdenken über die Folgen des Gerüchts widmeten. Deshalb sprachen die Kinder im allgemeinen vergleichsweise langsam und mit Pausen versehen. Die Tonfalle unterschieden sich nicht nach dem Geschlecht der Kinder, sondern waren Folge der vorgetragenen Erzählungen. So konnte festgestellt werden, daß während dieser Befragung drei Arten von Tonfallen vorherrschten, die die von den Kindern erzählten Gerüchteversionen nuancierten: ein ernsthafter, ein heiterer und ein geheimnisvoller Tonfall. Die mit der Version vom dämonischen Schlumpf verbundenen Geschichten wie auch die Erzählungen über Verbrennungen von Schlümpfen wurden eher in ernsthaftem Ton vorgetragen. Dabei sprachen die Kinder meist mit lauter Stimme, langsam, mit Pausen versehen und in ruhigem Ton. Der Junge, der Anhänger der Zeugen Jehovas war, fiel dabei durch seine bestimmte und ernste Art des Redens auf. Die Version vom erscheinenden Schlumpf hingegen und ihre Assoziationen mit Legenden über Kobolde wurde von den Kindern in einem heiteren Tonfall erzählt. Die Kinder sprachen mit Begeisterung, recht flüssig und, je nach Kind unterschiedlich, mit lauter oder leiser Stimme. Die Version vom sich rächenden Schlumpf und Geschichten über Puppen, die sich für die Mißhandlung durch die Kinder rächten, wurden langsam und mit Pausen versehen

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erzählt. Der Tonfall war dabei geheimnisvoll und mit einer gewissen Dramatik, so wie auch die Mädchen in der vierten Klasse der Grundschule gesprochen hatten.

5.4.5 Die Stimmung in der Gruppe: Was wäre, wenn es stimmte? "¿Qué tal si era cierto?" fragte das Mädchen Nr. 4, als es von den durch seine Tante verbrannten Schlumpfpuppen berichtete, die sein Vater lieber als Spielzeug für seine Kinder gehabt hätte. Dieser Ausdruck gibt Anlaß, die Stimmung in der Gruppe während der Befragung zu analysieren. Die Kinder erlaubten sich an verschiedenen Stellen, bei den Versionen des Gerüchts sowohl Zweifel anzumelden als auch Zustimmung oder Glauben auszudrücken. So dachten die Kinder gemeinsam darüber nach, warum der Besitz von Schlumpfgegenständen nicht unabänderlich zu einer Gewalttat führte. Sie überlegten auch, warum in bestimmten, ihnen bekannten Fällen den noch Schlumpfgegenstände besitzenden Leuten nichts geschehen war. Junge Nr. 2: El nifio ese que le digo que lo espantó la Pitufina, todavía tiene mufiequitos. Der Junge, dieser, von dem ich gesprochen habe, der von der Pitufina erschreckt worden ist, hat noch Püppchen.

Interviewerin: ¿Sí? Ja?

Junge Nr. 2: No, no creo que sea cierto. Porque no creo que no sea cierto porque si hubiera sido cierto, lo quemaría enseguida... O si no, ps, los tiraba. Pero no jugaba con ellos. O sólo que. ¿qué tal si lo mataban? Nein, ich glaube nicht, daß das stimmt. Weil ich nicht glaube, daß es nicht stimmt, denn wenn es gestimmt hätte, würde er sie sofort verbrennen... Oder falls nicht, ps, würde er sie wegwerfen. Aber er spielte nicht mit ihnen. Oder nur, daß. Was wäre, wenn sie ihn umbringen würden?

Junge Nr. 5: O sólo que dicen eso de los pitufos haya sido una mentira nada más, para nada más, para espantar a la gente, ¿no? Oder nur, daß das, was die Leute über die Schlümpfe sagen, eine Lüge wäre, nur so, nur um die Leute zu erschrecken, oder nicht?

Die Äußerungen und Überlegungen der beiden Kindern blieben unentschieden: Was wäre, wenn mit dem Gerücht nur die Leute erschreckt werden sollten? Was wäre, wenn die Schlümpfe den Jungen wirklich umbrächten? Dabei ist anzumerken, daß keines der Kinder kategorisch behauptete, nicht an das Gerücht zu glauben.

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Nur kurz vor diesen Äußerungen hatte das Mädchen Nr. 5 die Erwachsenen mit den folgenden Darlegungen kritisiert: Mädchen Nr. 5: espantan con los pitufos a las nifias para que hagan la tarea... Asi tienen un pitufo y las nifias les tienen miedo y para que obedezcan con eso Sie erschrecken mit den Schlümpfen die Mädchen, damit sie die Aufgaben machen... So haben sie einen Schlumpf und die Mädchen haben davor Angst, und damit sie dadurch gehorchen.

Diese Äußerung hatte bei den Kindern gewisse Zweifel über die Glaubwürdigkeit des Gerüchts erweckt. Auf die Frage, wie sich ihre Eltern denn über Schlumpfpuppen, die Kinder umbrächten, äußerten, antworteten einige Kinder, daß ihre Eltern nicht daran glaubten. Andere Kinder wiederum behaupteten das Gegenteil. Junge Nr. 1 führte aus, daß seine Eltern meinten, es könnte möglich sein, jedoch wüßten sie es nicht genau. Als Einziger versicherte der Junge, der Anhänger der Zeugen Jehovas war, sehr entschieden: Junge Nr. 3 : Todos los de mi familia si creen en eso porque nosotros estudiamos la Biblia. Alle aus meiner Familie glauben daran, weil wir die Bibel studieren.

Unmittelbar darauf erzählte er, daß es bereits in der Bibel stünde, daß die Schlümpfe des Teufels seien.

5.4.6 Die Gruppendynamik Die von den Kindern im Verlauf der Befragung erzählten Geschichten entstanden in einer Stimmung ausgeprägter Harmonie und Toleranz. Alle Kinder nahmen teil und ließen die anderen teilnehmen. Kein Kind machte einem anderen das Wort streitig. Dies war jedoch keineswegs ein Ausdruck des Desinteresses. Weder gab es einen Anfuhrer, noch eine Auseinandersetzung zwischen Jungen und Mädchen, so wie während der Befragung der vierten Klasse. Wenn es eine Unterscheidung gab, dann die zwischen katholischen Kindern, die sich als an Gott und die Jungfrau Maria Glaubende erklärten, und dem Jungen, der Anhänger der Zeugen Jehovas war. Während dieser Befragung wurden die Anhänger anderer Religionen als der katholischen nicht, wie üblich, kritisiert. Ein Mädchen und ein Junge trugen achtungsvoll Behauptungen der Mormonen und anderer religiöser Gruppen vor. Möglicherweise war dabei bedeutsam, daß ein Angehöriger dieser Gruppen anwesend war, der ein in seiner Klasse geschätzter Junge sein mochte.

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Die Analyse der gesamten Befragung ließ keinen Konflikt erkennen sowie auch keine Kritik zwischen den Kindern über ihre Erzählungen, die die Grenzen ihrer Vorstellungen über Glaubwürdigkeit und die Machtbeziehungen innerhalb der Gruppe hätten aufzeigen können.

5.4.7 Zwischen Befragung und Gruppengespräch Die sich zwischen den Kindern und der Interviewerin entwickelnde Beziehung folgte fast während der gesamten Befragung dem Grundschema eines Interviews, in dem die Kinder meine Fragen durch ihre Erzählungen beantworteten. Auch wenn sie sich miteinander unterhielten, war die Figur der Interviewerin dabei doch nicht völlig ausgeblendet. Um herauszuarbeiten, wie die Kinder den Rahmen der Befragung definierten, wird eine hierfür kennzeichnende Passage wiedergegeben. Als ich die Äußerung eines Jungen nicht genau verstanden hatte, entstand eine Konfusion. Nach meiner Erklärung, die Befragung stelle keinen Wettbewerb dar, bat ich die Kinder, die Situation der Befragung zu definieren: Junge Nr. 5: Ella quiere contestar. Sie möchte antworten. Interviewerin: ¿Concursar? No es concurso, ¿eh? Este no es concurso. In Wettbewerb treten? Es ist kein Wettbewerb, Äh? Dies ist kein Wettbewerb.

Junge Nr. 5: No que quiere decir ella Nein, daß sie sagen möchte

Interviewerin: ¿Tú crees que es un concurso? Du glaubst, daß es ein Wettbewerb ist?

Junge Nr. 5: No, pero ella quiere decir algo. Nein, aber sie möchte etwas sagen.

Interviewerin: A ver, ¿qué creen que es? Nun, was glaubt ihr, daß es ist?

Mädchen Nr. 2: Esta es una entrevista para Es ist eine Befragung, um zu

Junge Nr. 4: Es una participación. Es ist eine Teilnahme.

Mädchen Nr. 2: Es una entrevista para ver qué saben acerca de los pitufos. Es ist eine Befragung, um zu sehen, was man über die Schlümpfe weiß.

Interviewerin: Exacto. Genau.

Mädchen Nr. 4: Una conversación

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Ein Gespräch

Einer der Jungen übernahm die Rolle, einem Mädchen das Wort zu erteilen. Einige Kinder begannen, bei der Befragung die Führung zu übernehmen. Außerdem verwendete der Junge den Ausdruck "contestar". Demzufolge war ich die Fragende, die Kinder die Antwortenden. Sie sprachen mich mit "usted" an. Für sie stellte ich eine Autoritätsperson dar, die Interviewerin. Das Mädchen Nr. 2 definierte den Rahmen unserer verbalen Interaktion genauso wie ich ihn zu Beginn des Interviews definiert hatte, nämlich als "una entrevista para ver qué saben acerca de los pitufos", wogegen der Junge Nr. 4 die Tatsache hervorhob, daß alle teilnahmen. Er definierte den Rahmen der Befragung als "una participación". Auf derselben Interpretationslinie sprach das Mädchen Nr. 4 von "una conversación". Dies verwies auf einige Augenblicke der Befragung, während derer sich meine Gestalt etwas aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit versetzt sah und die Kinder untereinander sprachen.

5.4.8 Die angeführten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente Während dieser Befragung waren, wie auch bei der vierten Klasse der Grundschule, die mündlichen Informationsquellen die wichtigsten. Immerhin fünfmal wurde die Bibel als Informationsquelle erwähnt, wogegen eine audiovisuelle Informationsquelle nur einmal angegeben wurde. Als mündliche Informationsquellen wurden zumeist Kinder und Freunde genannt, deren Namen nicht erwähnt wurde. An zweiter Stelle erschienen die Verwandten: Tante, Mutter, Vater und Schwester. Dazu kommen die Patin, der Sohn der "comadre" 19 und der Lehrer. Sie veranschaulichen die Gemeinschaft, in der die Kinder lebten. Der Lehrer stellte als Informationsquelle eine besonders geachtete Figur dar. Die Kinder besprachen mit ihm, was sie gehört hatten: Junge Nr. 4:... a veces como que se oyen pasos en mi casa por la noche... se estaban oyendo ruidos, y después que q'iba a ver yo, que no había nadien ... manchmal hört man nachts bei mir zu Hause so wie Schritte... und man hörte Geräusche, und danach, dann ging ich nachsehen, und es gab niemanden

Junge Nr. 1: No, ha de ser como dice el maestro en la mañana. Nein, es dürfte so sein, wie der Lehrer morgens sagt.

Interviewerin: ¿Qué dijo el maestro? ¿Les dijo el maestro algo d'esto? 19

Die "comadre" und der "compadre" bezeichnen Beziehungen zwischen Personen, die durch eine Patenschaft verbunden sind. Die Institution des "compadrazgo" zeigt, wie in Mexiko nähere Beziehungen zwischen verschiedenen Familien aufgebaut werden können.

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Was hat der Lehrer gesagt? Hat euch der Lehrer etwas davon erzählt?

Junge Nr. 1: No, pero él dice que en su casa que se oyen pasos en la noche, como está todo silencio. Ha de ser como dijo el maestro que pueden también hacer mucho ruido aquí en el salón, ¿no? y luego en la noche como hay silencio, el eco de esos pasos salen. Nein, aber er sagt, daß man bei ihm zu Hause, daß man nachts Schritte hört, weil alles still ist. Es dürfte so sein wie der Lehrer sagte, daß man auch viele Geräusche im Schulzimmer machen kann, nicht? und dann nachts, da es still ist, kommt das Echo dieser Schritte heraus.

Junge Nr. 4: Ha de ser eso. Es dürfte so sein.

Während der Befragung tauchten auch einige Ausdrücke auf, mittels derer die Kinder sich auf den Ort bezogen, an dem sie die Geschichte gehört hatten. Formulierungen wie "Una vez allí por mi calle", "Una vez por allá por mi calle" und "Una niña de por mi casa" drückten die Art der mündlicher Gemeinschaft der Kinder aus, in der sie lebten und zusammen wohnten: in der "vecindad", bei der Zimmer an Zimmer aneinandergereiht ist, wobei jede Familie sich eines der Zimmer teilt, und in der Straße, in der die nahen Verwandten und Freunde wohnten. Eine andere Redewendung brachte deutlich die sich in einer solchen Gemeinschaft bildende Kommunikationskette zum Ausdruck: "A mí me contó mi hermano que le habían contado a él, un compañero que este, que una, su hermana de ese muchacho... ". Die Analyse der Eingangssätze der Erzählungen der Kinder ergab, daß die für die kollektive und anonyme Stimme einer Gemeinschaft typische Formulierung "dicen que" fünfmal vorkam. Sechsmal war "a mí me contaron" aufzufinden, wobei das sprechende Subjekt seine Teilnahme als Hörender oder Sprechender in dieser Gemeinschaft der Stimmen hervorhebt. In einigen Fällen schwankten die Kinder auch zwischen der anonymen und der nahen Form. Sie begannen damit, diese anonymen Stimmen anzuführen, ergänzten dann jedoch einen Satz, in dem sie sich auf eine nähere und weniger anonyme Stimme beriefen, so etwa: "A mí me contaron que, mi tía me contó que..." oder "A mí me dijeron que, mi hermana me dijo que...". Während dieser Befragung wurden auch schriftliche Informationsquellen erwähnt, die Zeitung und die Bibel. Was die Zeitung anbelangt, so führte ein Mädchen aus: Mädchen Nr. 3:... y que en el periódico yo leí que los pitufos sí recobraban vida. No'más eso. ... und, daß ich in der Zeitung gelesen habe, daß die Schlümpfe lebendig wurden. Nur dies.

Interviewerin: ¿En qué periódico?

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In welcher Zeitung? Mädchen Nr. 3: El editorial Der Leitartikel Interviewerin: ¿La editorial de un periódico o así se llama el periódico? Der Leitartikel in einer Zeitung oder heißt die Zeitung so? Mädchen Nr. 3: Ajá, así se llama Aha, sie heißt so Diese Äußerung veranschaulichte das Prestige, das die Zeitung als Informationsquelle genoß, wenn auch nicht gerade ihren häufigen Gebrauch, denn das Mädchen erinnerte sich nicht an einen Zeitungsnamen und meinte, daß "Leitartikel" einen Zeitungsnamen darstellen könnte. Von der insgesamt fünfmaligen Nennung der Bibel entfielen drei auf Äußerungen des den Zeugen Jehovas angehörenden Jungen und zwei auf Kinder, die dabei die Mormonen und Anhänger anderer als der katholischen Religion anführten, die die Bibel stets als einen Bezugspunkt verwenden. So spielte ein Mädchen auf die "asambleas bíblicas" an, an denen viele Anhänger dieser Religionen teilnehmen. Ein Junge erwähnte den Ort dieser Versammlungen, "la Arena México y Arena Nezahualcoyotl", in der ansonsten vor allem Freistilringen stattfinden. Im allgemeinen werden in den Bibelversammlungen Abschnitte aus der Bibel gelesen und interpretiert. Die Ausübung des Lesens der Bibel bildet einen Teil der Riten der Gruppenidentifikation dieser Religionen. So hatte auch der Junge Nr. 3 voller Stolz von der Praxis des Bibelstudiums gesprochen, dem er sich unterzog, um seine Äußerungen stützen zu können. Das Mädchen Nr. 2, das die Aussage seiner Schwester anführte, in der Bibel stünde, die Schlümpfe seien der Teufel gewesen, behauptete am Ende seiner Darlegungen: "No se lo contaron. Lo vió en una Biblia ella". Aus der Bibel etwas zu "sehen" schien für mehrere Kinder von größerer Bedeutung als etwas durch mündliche Erzählung erfahren zu haben. In diesem Fall wird durch "sehen" eher als durch "hören" der Beweis der Gültigkeit des Erzählten erbracht. Außerdem werden "sehen" und "lesen" vermutlich einfach gleichgesetzt. Der Junge Nr. 3, der Anhänger der Zeugen Jehovas war, legte in einem bereits oben angeführten Zitat dar, daß die Schlümpfe bereits in der "leyenda de la Biblia" vorkamen. Die Kinder erwähnten weder das Radio noch das Fernsehen als solches. Die einzige von ihnen genannte audiovisuelle Informationsquelle war der Film El Fetiche, der von einer verhexten Puppe handelte und den Kindern zufolge im Fernsehen gesendet worden war.

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Das bedeutete keineswegs, daß die Kinder nicht dem Fernsehen ausgesetzt waren oder ihnen keine Sendung gefallen hatte. Vielmehr stellt dies eine Folge der Definition des Rahmens der Befragung dar.

5.4.9 Zur diskursiven Einordnung und Definition des Rahmens der Befragung Die Kinder ordneten ihre eigenen Diskurse nicht explizit ein. Über die Informationsquellen der Kinder wurde ersichtlich, daß bei Kindern von Sektenanhängern deutlich unterschieden wurde zwischen dem, was man in der Bibel "sehen" könne, und dem, was "man sagt" oder aber die Freunde sagen. Die anderen Kinder erwähnten nur mündliche Quellen, wobei der Lehrer eine gewisse Bedeutung erlangte. Die Kinder sprachen, wie bereits erwähnt, ausdrücklich die Konzeption der Befragung an: "una entrevista para ver qué saben acerca de los pitufos". Sie überlegten, dachten nach und sprachen mit lauter Stimme und in ernstem Ton über die Glaubwürdigkeit des Gerüchts von den Schlümpfen. Deshalb bezogen sich die Kinder weder auf Filme und Träume, wie dies in der vierten Klasse der Grundschule geschehen war.

5.4.10 Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und Alltagsleben der Kinder Die Mehrzahl der Erzählungen der Kinder handelte von Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe. Deshalb wurden von den Kindern nur die Elemente des Alltagslebens erwähnt, die mit diesen Versionen des Gerüchtes verbunden waren. So nannten die Kinder die Bibel Versammlungen und Stätten, an denen "se estudia lo de los pitufos". Daher wurden auch die Gotteshäuser und Arenen erwähnt, in denen Bibel Versammlungen stattfanden. Der Junge Nr. 3, der Anhänger der Zeugen Jehovas war, sprach recht ungezwungen über sein religiöses Glaubensbekenntnis, und der Junge Nr. 1 bezog sich auf die Mormonen. Insgesamt entstand der Eindruck, dies sei den Kindern vertraut. Auffallend war, daß - anders als in der vierten Klasse, die diesen Gruppen ausgeprägt abwehrend entgegentrat - keine Zurückweisung erfolgte. Außerdem rückten mit der Verbrennung von Schlumpfpuppen verbundene Gegenstände in den Vordergrund. Deshalb wurde von Benzin gesprochen, von Petroleum und Müll, da die Verbrennungen vermutlich bei der Müllkippe stattgefunden hatten. Dies stellte eine Verbindung mit der Tradition der Verbrennung

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von Judas her, die in ganz Mexiko in den einfachen Gegenden einen Tag vor Ostern 20 stattfindet. Bei der Version vom erscheinenden Schlumpf wurden hauptsächlich Orte auf dem Land erwähnt, an denen nahe Verwandte der Kinder wohnten: der Hügel, das Kreuz, das ein Erscheinen der Schlümpfe verhinderte oder sie zum Verschwinden brachte, wie dies auch in der vierten Klasse geschehen war. Bei den durch die Kinder in ihren Erzählungen erwähnten Personen fällt der Matratzenausträger auf, der den Berufstyp kennzeichnete, den die Väter der Kinder dieses Stadtviertels ausübten. Auch wurden viele Verwandte erwähnt: Eltern, Geschwister, Onkel und Tante sowie mehrere Male auch die "comadres" und Kinder der "comadres" als wichtiger Teil der familiären Welt und näheren Umgebung des Kindes. Nicht zuletzt wurde auch der Lehrer erwähnt, auf dessen Bedeutung bereits hingewiesen worden ist. Gleichfalls wurde bereits dargelegt, daß die Eltern die Kinder erschreckten, um sie dadurch zu veranlassen, ihre Aufgaben zu machen und zu gehorchen. Angesichts der regen Beteiligung am Gespräch über diese Thematik dürfte ein solches Vorgehen in diesem Umfeld sehr verbreitet gewesen sein. Die Kinder äußerten deutlich Kritik an dieser Handlungsweise. Diese Kritik bewirkte bei den Kindern, an der Glaubwürdigkeit des Gerüchts über die Schlümpfe zu zweifeln.

5.4.11 Produktion und Austausch verschiedener Arten des Wissens während der Befragung Von den Erzählungen der Kinder ausgehend ließen sich Elemente des ihnen gemeinsamen Wissens herausarbeiten, vor allem über die geeignete oder ungeeignete Behandlung der Schlumpfpuppen und anderer Gegenstände, von denen sie behaupteten, daß sie lebendig werden könnten. Hinweise auf die Gefahr einer Mißhandlung von Puppen im allgemeinen, im besonderen aber Schlumpfpuppen und anderen Schlumpfgegenständen, weil diese fühlten und sich rächen könnten, erfolgte auf dieselbe Weise wie in der vierten Klasse. Dabei wurde mitunter die Art der Mißhandlung im einzelnen angegeben sowie ihre Folgen. Hieraus ließen sich die folgenden Ratschläge ableiten: - sich um die Puppen zu kümmern, - sie auf eine gleichberechtigte Art zu behandeln, - sie nicht eifersüchtig zu machen.

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Zur Feier dieses Tages werden in Mexiko Judaspuppen verbrannt.

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Andere Empfehlungen waren an die Eltern gerichtet, besonders an die Mütter, wenn sie zum Markt gingen und deshalb das Haus verließen. Die wichtigste Empfehlung war, das Kind nicht allein mit Puppen zu lassen, noch weniger mit Schlumpfpuppen, oder gar eingeschlossen in einem Schrank, weil es nicht gehorcht hatte. Äußerungen der Kinder, einige Eltern schüchterten üblicherweise ihre Kinder ein, um sie zum Gehorsam zu veranlassen, und verursachten dadurch bei ihnen mitunter psychologische Komplexe, führten zu einer an die Eltern gerichteten Kritik. Außerdem wurde implizit seitens der Kinder empfohlen, sich vor den Eltern zu hüten, wenn sie von dieser Art Maßnahmen Gebrauch machten. Andere

Empfehlungen

befaßten

sich mit

Maßnahmen,

dem

Angriff

von

Schlumpfpuppen vorzubeugen. Ein Ratschlag bestand darin, sie zu verbrennen. Auch gerade das Gegenteil wurde empfohlen: sie nicht zu verbrennen. Eine Verbrennung könnte die Puppen gerade zur Rache veranlassen. Bei Erzählungen über Puppen, die sich nicht verbrennen ließen, weil sie besessen waren oder aus einem sonstigen seltsamen Grund, wurde der Vorschlag ausgesprochen, sie mit Benzin, Petroleum oder Balsam zu verbrennen, damit sie nicht ins Leben zurückkehren könnten. In anderen Fällen wurde auch nur empfohlen, das Kreuz zu nehmen und das Haus zu segnen.

5.5

Das Gerücht über die Schlümpfe im Lichte der Formen übernatürlichen Denkens: Einige Schlußfolgerungen

Nach der Erörterung der Untersuchung der beiden an der Schule Benito Juárez in Mexiko-Stadt durchgeführten Befragungen werden nun die zwischen den Befragungen bestehenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten analysiert.

5.5.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Befragungen An erster Stelle ist hervorzuheben, daß unterschiedliche implizite und explizite Auffassungen von der Befragung bestanden. Dies bewirkte, daß sich die Befragung in der vierten Klasse zu einem Spielraum der Erfindung von Geschichten und des Glaubens entwickelte. In der sechsten Klasse dagegen wurde die Befragung zu einem Rahmen gemeinsamer und realitätsnäherer Erzählproduktion und Überlegungen, innerhalb dessen die Kinder sich erlaubten, die Glaubwürdigkeit des Gerüchtes über die Schlümpfe anzuzweifeln. In der ersten Gruppe ermöglichte die Befragung einigen Kindern, ihrer Phantasie und ihrem Vorstellungsvermögen freien Lauf zu lassen, so daß sie jede Art von Geschichten produzierten, auch wenn sie sich nur indirekt auf das Gerücht der Schlümpfe bezogen, so wie etwa

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die Erzählung über den Krieg zwischen Gott und den Superhelden einerseits und dem Teufel und den Schlümpfen andererseits. Dagegen unterhielten sich die Kinder in der sechsten Klasse über konkrete Folgen des Gerüchts in ihrer Umgebung und dachten hierüber nach. Infolgedessen entstanden viele Erzählungen über Verbrennungen von Schlumpfgegenständen und über die Ablehnung von Sendungen über die Schlümpfe. Die Gruppendynamik war gleichfalls in beiden Befragungen sehr unterschiedlich. In der vierten Klasse verschwand die Figur der Interviewerin während mehr als 20 Minuten aus dem Mittelpunkt der Befragung und verwandelte sich in eine Zuhörerin. In der sechsten Klasse geschah dies nicht. Das Grundschema des Interviews mit Frage und Antwort blieb stets gegenwärtig, obgleich während einer kurzen Zeitspanne eine Gruppenunterhaltung mit intensiver Beteiligung seitens der Kinder entstand. Hinzu kam, daß sich in der vierten Klasse ein Konflikt zwischen Jungen und Mädchen entwickelte, bei dem die ersteren gewannen und ihre Interessen und Erzählform durchsetzten. Im Gegensatz hierzu herrschte in der sechsten Klasse unter den Kindern generell, und damit auch zwischen Mädchen und Jungen, Toleranz und Anerkennung. In dieser Gruppe fiel insbesondere ein Junge auf, der Anhänger der Zeugen Jehovas war und von seinen Klassenkameraden in starkem Maße anerkannt wurde. Die unterschiedlichen Auffassungen über die Befragung wie auch die so andere Gruppendynamik hatten meines Erachtens mit speziellen Eigenheiten der verschiedenen Mitglieder beider Gruppen zu tun. Neben anderen Gründen haben diese verschiedenen Auffassungen auch ihre Begründung in der unterschiedlichen kognitiven Entwicklung der Kinder. Die Kinder der sechsten Klasse waren mindestens zwei, mitunter auch drei Jahre älter als diejenigen der vierten Klasse. In Anlehnung an Piaget gehe ich davon aus, daß eine solche Altersdifferenz eine unterschiedliche kognitive Entwicklung mit sich bringt. Wenn die Kinder der vierten Klasse die Befragung in einen Raum erzählerischen Spiels verwandelten, innerhalb dessen eine größere Anzahl von Elementen des symbolischen Spiels als eines Spiels mit Regeln vorzufinden war, so gestalteten die Kinder der sechsten Klasse die Befragung dagegen als ein Spiel gesellschaftlicher Regeln mit nur wenigen Elementen des symbolischen Spiels. Das "symbolische Spiel" oder das Phantasiespiel ist durch eine egozentrische Gedankenwelt gekennzeichnet, deren Funktion es ist, dem Ich durch eine Verwandlung des Realen gemäß den eigenen Wünschen zu genügen. Bei diesem Spiel gilt für das Kind: Es erlebt alle seine Freuden wieder oder auch seine Konflikte (die es aber im Spiel nunmehr meistert), und vor allem kompensiert und vervollständigt es das Leben mit Hilfe der Fiktion. Kurz, das symbolische Spiel ist keine Bemühung zur Unterordnung des Individuums unter das Reale, sondern im Gegenteil eine verzerrende Assimilation des Realen an das Ich (Piaget, 1964: 170).

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Diese Art von Spiel ist für Kinder im Alter von zwei bis sieben Jahren kennzeichnend, was gleichwohl nicht sein späteres völliges Verschwinden bedeutet. Jedoch nimmt es mit der kognitiven und emotionalen Entwicklung der Person stärker an das gesellschaftliche Leben angepaßtere Formen an. Das Spiel der Regeln, das ab dem Alter von sieben bis zum Alter von zwölf Jahren anhebt, stellt dagegen ein kollektives Spiel dar, innerhalb dessen das Kind sich an die Realität anzupassen sucht. Dieses wird durch die Entwicklung von Fähigkeiten des logischen Denkens ermöglicht, die es der Person erlauben, zunehmend komplexere logische Verfahren durchzuführen. Dies bedeutet auch, daß unterschiedliche Gesichtspunkte einander zugeordnet werden können, was ermöglicht, daß die Person die Fähigkeit zu sozialer Kooperation und gegenseitiger Achtung erwirbt (Piaget, 1964: 183-201). Dies führte neben anderen Faktoren dazu, daß die Kinder unterschiedliche Versionen des Gerüchts produzierten und vor allem unterschiedliche Assoziationen hierzu auslösten. In der vierten Klasse entsprachen die Assoziationen den diskursiven Regeln, die sich im Einklang mit dem Spiel der Erfindung von Geschichten befanden, das durchzusetzen den männlichen Anführern der Gruppe gelang. In der sechsten Klasse wurden die Assoziationen realitätsbezogener. Diese entsprachen anderen Auffassungen der Befragung und anderen diskursiven Regeln, die harmonische Beziehungen innerhalb der Gruppe sowie Toleranz gegenüber Mitgliedern religiöser Gruppen wie den Zeugen Jehovas und den Mormonen zum Ausdruck brachten. Bei der erzählerischen Produktion beider Gruppen waren auch einige interessante Übereinstimmungen und Konvergenzen zu verzeichnen. Die Versionen vom erscheinenden Schlumpf, vom sich rächenden Schlumpf und vom dämonischen Schlumpf tauchten in beiden Kindergruppen auf, obgleich mit gewissen Nuancen. Assoziationen mit Legenden über Erscheinungen nahmen bei der Erzählproduktion der vierten Klasse einen bedeutsameren Raum ein als bei der sechsten Klasse, wo Erzählungen über lebendig werdende Puppen die zentrale Rolle beanspruchten. Den Assoziationen von Erzählungen über die Figur des Teufels wurde in beiden Gruppen dieselbe Wichtigkeit beigemessen. Aufgrund der unterschiedlichen Auffassung über die Befragung wurden auch unterschiedliche Informationsquellen erwähnt. Deswegen erlangten in der vierten Klasse die audiovisuellen Quellen und dabei das Femsehen eine größere Bedeutung, obgleich in beiden Gruppen mündliche Quellen in hohem Maße angeführt wurden und ein großes Prestige besaßen. Weil diese Befragung als ein Raum der Erfindung angesehen wurde, verwendeten die Kinder der vierten Klasse Personen und Erzähllogiken vieler Unterhaltungssendungen wie etwa der über die Superhelden. Dies geschah nicht in der sechsten Klasse, in der sich ein Rahmen gemeinsamer Überlegungen mit realistischerem Ansatz herausbildete. Bei beiden

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Befragungen verdient die geringe Anzahl erwähnter schriftlicher Informationsquellen Beachtung, mit Ausnahme der in der sechsten Klasse angeführten Tageszeitung und der Bibel. Dies scheint darauf hinzuweisen, daß die Kinder der sechsten Klasse, die bereits zwei weitere Jahre an formaler Ausbildung erhalten hatten und deswegen mit der Schriftkultur besser vertraut waren, dachten, daß irgendeine schriftliche Informationsquelle wie die Tageszeitung erwähnt werden müßte. Außerdem führte die Mitgliedschaft einiger Kinder in Gruppen, deren Bezugspunkt die Bibel bildete, dazu, daß schriftlichen Quellen ein größerer Wert beigemessen wurde, und dies besonders, wenn sie sich einer Universitätsdozentin gegenübersahen. Die häufige Erwähnung der Figur der Großmutter als Autorität vermittelndes Element und die ihr in der vierten Klasse zugemessene Bedeutung erwies sich für das Verständnis einiger der Transformationsprozesse als sehr bedeutsam, die die zeitgenössische mündliche Erzähltradition in den marginalisierten Stadtrandgebieten von Mexiko erfahren hat. Wie aus dem Interview der vierten Klasse ersichtlich ist, beriefen sich Alfonso und der Junge Nr. 1 auf die Stimme der Großmutter als Teil einer Anerkennung verdienenden Tradition. Die von ihr angenommenermaßen erzählten Märchen hatten jedoch nicht nur mit einer Welt alter Erzählungen zu tun. Die Figur der Großmutter erzählte Geschichten von Schlümpfen, die lebendig waren, und vermischte Erzählungen über mordende Schlümpfe mit Legenden von Irrlichtern und Erscheinungen sowie Elementen des Films von El Santo contra las momias. Nicht nur das der Großmutter oder der mündlichen Tradition zugehörende Wissen wurde geschätzt, sondern auch das Fernsehwissen. An einer Stelle des Interviews wurde behauptet, daß Personen ohne Fernsehgerät nicht berechtigt wären, zu erzählen. Rhetorische Formen mündlicher Erzählproduktion wurden beim Sprechen über Fernsehsendungen aufgegriffen. Elemente audiovisueller Diskurse wurden in Erzählstrukturen mündlicher traditioneller Legenden eingefügt. Auf diese Weise entstanden im Interview Geschichten von Fernsehgroßmüttern und Fernsehsendungen, die nach Gepflogenheit der Großmutter erzählt wurden.

5.5.2 Das Auftauchen der anonymen, kollektiven Stimme und das Verwischen des individuellen Subjekts Die Kinder der Schule Benito Juárez betonten nur selten ihre Figur als individuelle sprechende Subjekte und entwickelten auch, mit Ausnahme Alfonsos in der vierten Klasse, keine Strategie der Differenzierung zwischen den verschiedenen Gruppenmitgliedern. Nur der Name Alfonsos wurde bekannt. In der sechsten

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Klasse fiel ein Junge besonders auf, der ein Angehöriger der Zeugen Jehovas war, der jedoch nicht namentlich angesprochen wurde. Deshalb wurden die Zitate der Kinder im Text nur mit einer Referenznummer gekennzeichnet, mit Ausnahme von Alfonso. Weil in der vierten Klasse eine ausgeprägte Auseinandersetzung um das Rederecht stattfand, benutzten die Kinder mehrmals das Personalpronomen "yo", um auf diese Weise um das Wort zu bitten oder zum Ausdruck der Tatsache, daß ihnen dies geglückt war. Außerdem erzählten sie mehrmals einige Geschichte als von ihnen selbst erlebte Begebenheiten. In der sechsten Klasse erforderte das Ergreifen des Wortes nicht den Gebrauch des "yo", sondern stets wurde ein "nosotros" verwendet. In den schriftlichen Texten der sechsten Klasse benutzten die Kinder verschiedentlich die auf die anonyme und kollektive Stimme einer Gemeinschaft anspielenden Ausdrücke des "dicen que" oder des "a mi me contaron". Beim Schreiben der Versionen drückten sie ihre Meinung nicht aus, abgesehen von dem Jungen, der Anhänger der Zeugen Jehovas war. Einige Kinder wagten nicht zuzugeben, daß sie zur Fragestellung nichts wußten. Sie reproduzierten lediglich irgendetwas, was sie zuvor gehört hatten. Ihre Texte erinnerten an eine in einem kollektiven Gemurmel untergehende Stimme. Obwohl die schriftliche Kommunikation eine Tendenz zur Begünstigung des Auftauchens des schreibenden individuellen Subjekts, des "yo", aufweist, war dies in der sechsten Klasse der Schule Benito Juárez nicht der Fall. Dies stellte sicherlich eine Konsequenz der geringen Übung der Regeln des Schreibens dar, sowie der Tatsache, daß weder in der Schule noch im familiären Umfeld der Kinder das Ausdrücken einer eigenen Meinung gefördert wurde. Zudem gehörten die Kinder dieser Schule einem kulturellen Umfeld an, dessen Mitglieder zwar in ihrer Mehrheit lesen und schreiben konnten, in der Praxis diese Fähigkeiten aber wenig ausübten, wie es die statistischen Daten vermuten ließen. Die wenigen Male, in denen das Personalpronomen in den Texten benutzt wurde, dienten der Unterstreichung des Gehörten: "yo oí" und "yo e oido". Im allgemeinen bestand bei den Kindern eine Tendenz, nach dem Gehör zu schreiben. Die spezifischen Formeln mündlicher Erzählproduktion wurden auch bei der Abfassung ihrer Texte verwendet. Die Ausdrücke "se dice" oder "a mi me contaron" fanden auch im mündlichen Interview der vierten Klasse Verwendung und in noch ausgeprägterem Maße in der mündlichen Befragung der sechsten Klasse. Das sprechende Subjekt tendierte dazu, sich zu verwischen und anhand der Stimmen einer Gemeinschaft aufzutauchen. Dies bietet die Möglichkeit, zu fragen, auf welche Art von Gemeinschaft hingewiesen wurde.

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Aus den mündlichen Quellen ließ sich ableiten, daß die Kinder sich auf Beziehungsnetze von Großfamilien bezogen, auf Onkel, Tanten, Cousin, Cousine, Großmütter und compadres. In der sechsten Klasse ließ sich dies durch den mehrmaligen Gebrauch des Personalpronomens "nosotros" deutlicher ersehen. Damit bezogen die Kinder sich auf diese Großfamilie oder aber auf die biblische Gemeinschaft der Zeugen Jehovas. Anhand der erwähnten Orte wie des "Bordo de Xochiaca" und der Straße sowie durch die Verwendung von Formulierungen wie "Una vez allí por mi calle" und "Una vez por allá por mi casa" könnte auch das Vorhandensein bestimmter Netze nachbarlicher Beziehungen angedeutet sein, möglicherweise einer kleinen lokalen Gemeinschaft, auf die die Kinder in ihren Erzählungen anspielten.

5.5.3 Vielfaltige Formen übernatürlichen Denkens Übernatürliche Argumentationen tauchten fast während der gesamten Erzählproduktion beider Kindergruppen auf. Diese Argumentationen waren verbunden mit Diskursen des Volksglaubens wie Erzählungen über lebendig werdende Puppen und ruhelose Seelen, mit Diskursen der Volksreligion wie denjenigen, die von Gott, dem Teufel, der Jungfrau Maria und Kreuzen handelten, mit Horrorgeschichten und phantastischen Geschichten wie denjenigen über die Superhelden. In diesen Diskursen tauchten übernatürliche Wesen auf oder Figuren, die übernatürliche Formen oder Verhaltensweisen annehmen konnten.

5.5.3.1 Alte und neue Synkretismen Die Formen der Denkweise religiösen Volksglaubens trugen dazu bei, eine große Anzahl von Erzählungen beider befragter Gruppen zu gestalten, obgleich mit gewissen Nuancen. Innerhalb dieser Denkweisen religiösen Volksglaubens waren Elemente und Konzeptionen eines katholischen religiösen Diskurses zu erkennen sowie eines Diskurses von Sekten wie den Zeugen Jehovas. Hinzu kamen auch gewisse Elemente eines prähispanischen und indigenistischen religiösen Diskurses, deren Weiterbestehen gelang, soweit sie von Strukturen anderer Diskurse religiösen Volksglaubens getragen oder in sie eingefugt wurden. Es handelt sich dabei um einen von einigen Forschern als religiöser Synkretismus bezeichneten Prozeß. Einige vertreten die Ansicht, daß der Synkretismus die Schaffung eines philosophischen Systems mit Interaktion zweier Religionen bedeutet. Meiner Meinung nach stellen jedoch die meisten Religionen, auf jeden Fall aber das Christentum, das Resultat von Synkretismus dar. Man denke nur an den Evangelisten Lukas, der die überlieferten Berichte im Hinblick auf sein

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nichtjüdisches Publikum umgestaltet, oder an den Versuch der Kirche z.B. im "Heliand", den herrschenden germanischen Stämmen nach dem Untergang des römischen Kaisertums ein Glaubensangebot zu machen, das ihrer traditionellen Denkweise entspricht und eine Christianisierung erleichtert (Sowinski, 1989:251). Die Religionen lassen sich, so wie sie praktiziert werden, nicht als reine Systeme ritueller Formen und Inhalte ansehen. Bereits vor Ankunft der Spanier war die Religion der Nahuatl 21 Ausdruck vielfältiger Formen und Inhalte, die von verschiedenen indigenistischen Kulturen stammten wie den Tolteken, Chichimeken und Azteken. Auch die katholische Religion, in ihrer nach Amerika gelangenden Form, besaß besonders in ihrer volkstümlichen Fassung viele "heidnische" Formen. Dem widerspricht keineswegs, daß die Schicht der Priester und Spezialisten konsistentere und reinere Glaubensinhalte vertrat. Dies begründet die göttliche Herkunft dieser Glaubensinhalte und rechtfertigt die Existenz und Privilegien dieser Schicht, deren Funktion die Bewachung dieses Glaubenssystems darstellt. Das Fehlen religiöser Systematik und Kohärenz, soweit es denn besteht, läßt sich besonders ausgeprägt bei Kindern ausmachen aufgrund ihrer kognitiven Entwicklung und ihrer, verglichen mit den Erwachsenen, größeren Unkenntnis des Sinns vieler religiöser Praktiken. Der Prozeß des religiösen Synkretismus erlangt unterschiedliche Modalitäten je nach dem Ausmaß der Macht und der Art der Interaktion zwischen Gruppen unterschiedlicher Religionen und Kulturen. Im allgemeinen gedeiht dieser Prozeß über die Gemeinsamkeiten, die die verschiedenen Religionen aufweisen, d.h. von den ähnlichen rituellen Formen aus, obgleich dies keine Verschmelzung der Inhalte dieser rituellen Formen bedeuten muß. Die indigene Bevölkerung Mexikos übernahm an erster Stelle die religiösen Formen - Taufe, Beichte, Prozessionen - , die ihrer Religion und ihrem Ritualkalender anzupassen waren. Dabei verlieh die indigene Bevölkerung ihnen einen anderen Sinn oder andere Interpretationen als die Spanier und die heutigen mestizischen Mexikaner (Madsen, 1957, Thompson, D., 1954). Sowohl in der sechsten als auch in der vierten Klasse der Grundschule wurden Geschichten über Volksglauben im Zusammenhang mit den Toten erzählt. Einige besaßen prähispanische oder indigenistische Elemente wie die mit Bezug zum "Dia de los muertos" und solche über umherwandelnde Toten wie der Llorona, die insbesondere in der vierten Klasse auftauchten. In der sechsten Klasse wurde nur einmal ein Bezug hergestellt, als ein Mädchen darlegte, daß gemäß seiner

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Bezeichnung für einen der wichtigsten Stämme und seine Sprache im Hochland von Mexiko.

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Tante und anderer Leute die Schlümpfe Tote wären; ein Kind fügte hinzu, daß die Schlümpfe Tote wären, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hätten. Zu den diskursiven religiösen Elementen ausschließlich katholischer Natur gehörten die in der vierten Klasse der Grundschule erwähnten Medaillons und die Jungfrau Maria. Diskursive Elemente, auf die sich sowohl die Katholiken als auch Mitglieder von Sekten bezogen, waren Kreuze, Weihwasser und der Teufel.

5.5.3.2 Animistische und magische Prinzipien im Denken der Kinder Während beider Befragungen schälte sich eine animistische Konzeption heraus, die für die Konstruktion einer beträchtlichen Anzahl der von den Kindern produzierten Erzählungen bedeutsam war. Im Einklang mit dieser Konzeption besitzen alle belebten oder unbelebten Wesen eine Seele und Leben. In diesem Zusammenhang sind Erzählungen zu sehen, in denen ein lebendig werdender Gegenstand die Hauptperson bildete, sei es eine Schlumpfpuppe, ein Schlüsselanhänger oder ein Poster. Es sei hier an die Darlegung des Jungen Nr. 3 der vierten Klasse erinnert, der ausführte, daß die Puppen fühlten und unter der Mißhandlung der Kinder litten. Auch in der sechsten Klasse war dies ähnlich. Immerhin 30 % der Erzählungen der Kinder bezogen sich auf Geschichten über Puppen, die die Mißhandlung durch die Kinder spürten und sich dafür rächten, sowie anderen Puppen gegenüber Eifersucht empfanden, wenn sie von den Kindern ungleich behandelt wurden. In der vierten Klasse der Grundschule erzählten die Kinder viele Geschichten, bei denen die Begründung der Erscheinung des Schlumpfs und anderer Figuren magischer Natur war. Außerdem war auch von einem Gott mit Zauberstab die Rede im Stil der mütterlichen Fee Walt Disneys sowie von Zauberern der Fernsehsendung Los Pitufos. In der sechsten Klasse der Grundschule verband einer der Jungen in seinem Text das Gerücht über die Schlümpfe mit der Zauberei, an die einige in diesem kulturellen Umfeld glaubten. Diese animistischen religiösen Elemente und Konzeptionen sowie diejenigen eines magischen religiösen Denkens durchzogen alle zuvor genannten religiösen Diskurse, den katholischen, den Diskurs der Sekten, den prähispanischen oder indigenistischen Diskurs.

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5.5.3.3 Interpretationen der Figur des Teufels Die Figur des Teufels tauchte in vielen Erzählungen beider Gruppen auf. In der vierten Klasse gelang es sogar dem Anfuhrer Alfonso, die Befragung im Hinblick auf Erzählungen über die Schlümpfe und den Teufel zu definieren. Alle Kinder beteiligten sich an dieser Produktion von Erzählungen. In der sechsten Klasse nahm die Version vom dämonischen Schlumpf zumindest ein Drittel der Zeit des Interviews in Anspruch. Gleichwohl wiesen die Erzählungen über die Figur des Teufels in beiden Gruppen Unterschiede auf. Wenn in der vierten Klasse der Teufel mit Legenden katholischer Tradition in Verbindung gebracht wurde, wurde er in der sechsten Klasse eher mit einigen Erzählungen und Interpretationen der Zeugen Jehovas und der Mormonen verknüpft. In beiden Gruppen erzählten die Kinder von einem Schlumpf, der der Teufel selbst sein konnte, weil dieser sich in einen Gegenstand, ein Tier oder eine Person verwandeln konnte. Auch tauchte die Figur des Teufels auf, der dem Schlumpf oder der Puppe befahl, Kinder oder generell Leute anzugreifen oder umzubringen. Auch konnte sich die Figur des Teufels mit anderen verbünden, um den Schlümpfen zu befehlen. In der vierten Klasse war dies die Andalona, die Kinder fing und in böse Schlümpfe verwandelte. In der sechsten Klasse sprachen die Kinder von einem Pakt zwischen dem Teufel und Vader Abraham, der dann den Schlümpfen befahl, Kinder umzubringen. Die Kinder der sechsten Klasse tendierten zu einer prophetischen Vorstellung von der Figur des Teufels. Durch die Stimme des Jungen, der Anhänger der Zeugen Jehovas war, und die Äußerungen eines anderen Mädchens über die Mormonen ließ sich die Vorstellung dieser Gruppen vom Teufel und dem Schicksal der Menschheit ersehen. Aufgrund der Behauptung, die Entstehung der Schlümpfe als Verkörperung des Teufels stünde bereits in der Bibel, vermittelten die Kinder die Vorstellung einer deterministischen Welt. Die Missetaten von Gegenständen, fremden Wesen oder Personen sind dann vorhersehbar. Das Leben ist nicht das Resultat unvorhersehbarer und chaotischer Prozesse. Seine Geschichte, sein Werden und vor allem seine großen Übel sind bereits festgelegt. Der Gläubige der Zeugen Jehovas kann das Künftige wissen, er kann die möglichen Missetaten und Übel des Dämons durch Lektüre und Studium der Bibel vorhersehen. Dafür ist die Bibel da. Derjenige, der Verbindung mit der Welt der Bibel aufnimmt, diese studiert, ist dem Wissen näher. Es stellt eine Aufgabe der Anhänger dieser religiösen Gruppen dar, ihre Prophezeiungen denjenigen, denen sie unbekannt sind, mitzuteilen. Im Gegensatz hierzu war das Verhalten der Figur des Teufels, der Schlümpfe und der Andalona in der vierten Klasse unvorhersehbar. Der Teufel konnte sich in jedes Ding oder Wesen verwandeln, in Blumen, Katzen, Personen. Er war der

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Mann der Andalona oder der bösen Llorona. Die einzigen Widersacher, die seine Machenschaften verhindern konnten, waren die Figur Gottes, der Jungfrau Maria und des Kreuzes. Den Angelpunkt der Handlungen eines großen Teils der Erzählungen bildete der Kampf zwischen Gut und Böse. Die Bibel wurde dabei kein einziges Mal angeführt, obwohl die Kinder mit einigen Passagen der Bibel hätten vertraut sein können, die im Evangelium der sonntäglichen katholischen Messe gelesen werden. In der Gruppe der sechsten Klasse hätte die Version des Gerüchts über die Schlümpfe seitens des Jungen, der Anhänger der Zeugen Jehovas war, als etwas Bedrohliches aufgefaßt werden können, da er nicht im geringsten daran zweifelte und es für völlig glaubwürdig hielt. Gleichwohl besaß seine Version etwas eher Beruhigendes. Irgendwo stand dies bereits geschrieben. Die Bösartigkeit war im voraus bekannt. Die Lösung bestand darin, sich von diesen Puppen fernzuhalten, die Sendung nicht anzusehen und weiterhin die Bibel zu studieren. Auch hier bildete der Kampf zwischen Gut und Böse den Angelpunkt einiger Erzählungen, obgleich in einer deterministischen, durch festgelegte gesellschaftliche Normen beherrschten Welt, die die Kinder dieses Alters bereits kennen und beachten mußten.

5.5.3.4 Der Einfluß religiöser Sekten Anhand der zuvor angesprochenen Erzählungen der Kindern in der sechsten Klasse konnte festgestellt werden, wie das Denken der aus den USA stammenden neuen Sekten die mündliche Tradition auch in Nezahualcoyotl zu prägen angefangen hatte. Diese Sekten haben sich in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich in marginalisierten Randgebieten der mexikanischen Städte verbreitet, sowie in den Staaten Tabasco, Chiapas, Quintana Roo und Yucatán im Südosten des Landes (Giménez, 1988). Zu den bekanntesten, in Mexiko eingedrungenen Sekten zählen die Zeugen Jehovas und die Mormonen. Diese Sekten betrachten gemäß Giménez die Welt als schlecht und verderbt, so daß sie einen radikalen Wechsel durch ein übernatürliches Ereignis erwarten. Sie verwerfen alles ihnen teuflisch Erscheinende wie Familienfeiern, religiöse Feste, soweit sie nicht mit ihrem Kult zu tun haben, Militärdienst und Freundschaften außerhalb der eigenen Anhängerschaft, usw. Sie unterscheiden sich durch ein geschlossenes System der Beweisführung, mittels dessen sie jedes gegenwärtige wie zukünftige Ereignis interpretieren (Giménez, 1988). Den Zeugen Jehovas zufolge ist Christus kein Gott. Die der Bibel entnommenen Daten und Zahlenangaben werden rigoros nach einem Auslegungsschema inter-

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pretiert. Am Ende der Weltgeschichte erwarten sie eine Schlacht zwischen den Kräften von Jehova-Gott und denen des Teufels. Satan wird für tausend Jahre in Ketten gelegt werden und die Sektenmitglieder werden menschliche Wesen, die Lebenden wie die Toten, bekehren. Diese Prophezeiung ähnelt Geschichten der Kinder der vierten Klasse, abgesehen davon, daß nicht von Jehova die Rede war, sondern von Gott in einer Art von Superheld, der sich den Schlümpfen und Teufeln entgegenstellte. Während einer anderen, in Carrillo Puerto im mexikanischen Bundesstaat Quintana Roo durchgeführten Befragung erzählte mir ein junger Anhänger der Zeugen Jehovas die Version vom dämonischen Schlumpf und seine Interpretation dieses Phänomens. Eine zusammenfassende Wiedergabe seiner Ausführungen, zu deren Aufzeichnung er mir die Erlaubnis erteilte, dient dazu, den Hintergrund der Art des Denkens der Kinder der sechsten Klasse zu beleuchten. Der junge Mann erzählte, er habe gehört, ein Mädchen sei von einem lebendig gewordenen Schlumpf erhängt worden. Danach beschloß er, die Schlumpfpuppe seiner Tochter zu verbrennen. Bei dieser Verbrennung entstand ein unsäglicher Qualm, den er mit Spiritismus und Dämonismus in Verbindung brachte. Seiner Meinung nach übten auch Fernsehsendungen auf die Kinder einen teuflischen Einfluß aus. Ein Studium der Apokalypse habe ihn erkennen lassen, daß dem Satan und den Dämonen, die an Boden gewinnen wollten, nur noch wenig Zeit verbliebe. Deshalb bedienten sie sich der Puppen wie der Schlümpfe. Er führte einige Bibelzitate an, nämlich die Psalmen 110-1 sowie Matthäus 6, 9 und 10, mit deren Hilfe er den Komplex von in der Bibel geschriebenen Prophezeiungen beweisen wollte. Als Beispiel führte er eine biblische Prophezeiung an, der zufolge sich der Weltkrieg von 1914 habe vorhersehen lassen. Diese Denkweise stellt sich das Übel stets außerhalb des Menschen liegend und ihn verfolgend vor. Es ist eindeutig mit der Figur des Teufels identifiziert, der jede Form annehmen und sich in jeder noch so harmlosen Figur oder Person wie den Schlumpfpuppen verkörpern kann. Es handelt sich um ein Denken, bei dem das Schicksal in der Bibel festgelegt und aufgeschrieben ist. Eines der vielen Bücher evangelistischer Inspiration und Propaganda faßt diesen Gedanken so: Los crímenes, las atrocidades e inmoralidades de la sociedad, tanto antigua como contemporánea, señalan la existencia de espíritus malignos que se adueñan de las mentes y de los cuerpos de los hombres para impulsarlos a la maldad y a la depravación (Romanos 1: 24-32; Efesios 2: 2-3; Apocalipsis 9: 20,21) (Unger, 1971: 11). Mittels dieser in mexikanischen Buchläden vertriebenen Bücher sollen die Menschen wachsam gemacht und vor dem Einfluß der Dämonen in der heutigen Welt gewarnt werden. Sie erklären die Herkunft einiger Auffassungen, die sich in den

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Interviews zeigten. Der Autor schreibt über die vielfältigen Aktionsfelder der Dämonen, wie z.B. den Spiritismus, die Vorhersage der Zukunft, die Magie: el objetivo principal de los demonios es destruir la paz y la armonía, y producir en las vidas de los hombres toda la angustia, aflicción, desgracia, falta de bienestar, recelo, ansiedad y confusión que sea posible (Unger, 1971: 36). Allerdings stimmen sowohl die Bibelzitate dieses Autors als auch die des Anhängers der Sekte der Zeugen Jehovas, abgesehen von den Stellen aus der Apokalypse und den Ephesern, nur bedingt mit der vertretenen Argumentation überein. Sie folgen jedoch den Regeln der Argumentation dieser Gruppen und dienen zur Vermittlung des Eindrucks, der Sprechende oder Schreibende sei gut unterrichtet, so daß ihm geglaubt werden kann. Die Kinoproduktion der USA hat die Verbreitung dieser Denkweise gefordert und audiovisuelle Versionen von "engendros diabólicos" geschaffen, die auf mexikanischen Kino- und Fernsehbildschirmen ausgestrahlt worden sind, wie z.B. El Exorcista und Juegos Diabólicos. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe und seine Assoziationen in diesem kulturellen Umfeld die Möglichkeit boten, mit den Vorstellungen über vielfältige übernatürliche Kräfte Kontakt aufzunehmen, Kräfte, die das Leben des Menschen und der ihn umgebenden Gegenstände beherrschen, nämlich die Magie und Zauberei, die Macht Gottes, die Macht des Teufels, diejenige der Jungfrau Maria sowie der Toten. Im folgenden Kapitel werden die Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe und die Art seiner Interpretation in einer wohlhabenden Gegend untersucht, nämlich in El Pedregal de San Angel im Süden von Mexiko-Stadt.

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DIE VERSIONEN DES GERÜCHTES ÜBER DIE SCHLÜMPFE IN E L PEDREGAL DE SAN ANGEL, MEXIKO-STADT

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Das kulturelle Umfeld der Villenviertel im Süden von MexikoStadt

6.1.1 Allgemeine Kennzeichnung Die Schule Peterson ist die zweite fiir die Durchführung der Gruppenbefragungen ausgewählte Schule. Sie liegt in einem der Villenviertel im Süden von MexikoStadt, in El Pedregal de San Angel. Die diese Schule besuchenden Kinder kamen entweder aus demselben Wohnbezirk oder aus an den Pedregal grenzenden Stadtteilen. Um ein Bild des physisch-geografischen und sozialen Umfeldes dieser Schule zu vermitteln, werden diese Stadtteile zunächst beschrieben. El Pedregal liegt im Lavafeld eines ehemaligen Vulkans. Das Gelände besteht aus Fels, was ihm den Namen Pedregal gab. Etwa 90 % der Häuser dieses Bezirkes gleichen Festungen. Sie sind von über drei Meter hohen Steinmauern umgeben, damit man keinen Einblick in das Innere der Häuser gewinnen kann, und sollen sowohl privaten Freiraum als auch Sicherheit gewährleisten. Die Zugänge einiger Straßen und Wohnsitze werden durch private Schutzdienste kontrolliert. Die Straßen und die diesen Stadtteil durchziehenden Alleen sind gut gepflastert. An ihnen liegen weder kleine Geschäfte, noch Bürokomplexe oder öffentliche Gebäude, abgesehen von einigen, die in einem Häuserblock konzentriert sind, darunter auch eine katholische Kirche und ein kleines Einkaufszentrum mit einer Bank. Für den kleinsten Einkauf benötigt man ein Auto. Auch gibt es keinen Zöcalo oder öffentlichen Platz, an dem sich die Leute außerhalb des Hauses treffen könnten, von dem kleinen Geschäftszentrum abgesehen. Geht man durch dieses Stadtviertel, so sieht man nur Straßen und Alleen, von Mauern umgebene Häuser, die neuesten Automodelle und in den Hauseingängen die Chauffeure. Nur selten begegnet man in dieser Umgebung Fußgängern, abgesehen von den Hausangestellten, die außerdem als einzige die öffentlichen Verkehrsmittel in den Hauptstraßen benutzen. Die Kinder werden, wenn sie das Haus verlassen, gefahren, meist von der Mutter oder dem Chauffeur, denn die Mehrzahl der Familien besitzt mindestens 2 oder 3 Autos, meist neueren Modells. Viele der Wohnsitze dieses Bezirkes wurden in den 50er und 60er Jahren gebaut. Sie fallen durch ihre moderne Architektur auf sowie durch die technische Ausstattung und die Sicherheitseinrichtungen gegen Diebstahl: Alarmanlagen, Videokameras, die das Haus betretende und verlassende Personen aufzeichnen, und Türen, die sich per Fernbedienung öffnen und schließen. Es handelt sich um ein Wohngebiet der Neureichen, das durch eine in hohem Maße Wert auf Äußeres

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legende Kultur geprägt ist, und dies innerhalb einer Gesellschaft, die durch ausgeprägte Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeiten gekennzeichnet ist. So gesehen ist die Angst vor Dieben und Räubern durchaus nachvollziehbar. Die meisten Häuser dieses Gebietes stehen auf Grundstücken mit einer Fläche von 1000 bis 2000 m", haben große Garagen, Parks, und einige verfugen auch über Schwimmbecken und Sportplätze. Die Häuser weisen mindestens vier Schlafzimmer auf, so daß die meisten Kinder ihr eigenes Zimmer besitzen, weil die Familien im allgemeinen zwei bis drei Kinder haben. Gemäß einer Auskunft der Schulleitung und der Informantin für dieses Umfeld wohnte nur ein Viertel der Schüler in diesem Gebiet. Die übrigen kamen aus angrenzenden, etwas weniger prächtigen Bezirken wie San Jerónimo, Contreras und Jardines de la Montaña. Dort standen die Häuser auf kleineren Grundstücken mit einer Fläche von 500 bis 700 m". Sie hatten weniger Schlafzimmer; Garten und Garage waren mit ungefähr 50 bis 100 m" nicht so groß. Die Kinder dieser Familien mußten gleichfalls von den Eltern oder, falls vorhanden, vom Fahrer im Auto transportiert werden. Eine äußerst kleine Minderheit, die auch als solche hervorstach, kam aus noch exklusiveren Vierteln wie z.B. dem Teil von El Bosque de la Montaña, in dem der ehemalige Präsident Mexikos, Salinas de Gortari, einen Wohnsitz hatte, oder aus dem Viertel San Angel Inn, in dem eine sehr privilegierte soziale Schicht alter Abstammung wohnt, die auf ihre mexikanischen Traditionen stolz ist und ihre Häuser im Kolonialstil erbaute.

6.1.2 Kennzeichnung der Schule Peterson Die Schule Peterson war eine exklusive, zweisprachige Schule, die Schulgeld erhob und eine persönliche Betreuung anbot. Die Gruppen bestanden aus ca. 15 Kindern. Die Schulleitung und etwa ein Drittel der Lehrer stammten aus den USA. Sie besaßen mehrere Schulen in verschiedenen Gegenden von MexikoStadt , unter anderem in Las Lomas de Chapultepec, einem Wohngebiet im Westen der Stadt mit schon seit Generationen wohlhabenden Leuten. Diese Schule besuchten Kinder einer wohlsituierten Schicht, jedoch nicht der ökonomischen Elite des Landes. Die Eltern dieser Kinder sind weder die in der Zeitschrift Forbes erwähnten 12 mexikanischen Multimillionäre, noch mexikanische Großunternehmer. Vielmehr handelte es sich um Kinder einer gehobenen Mittelschicht berufstätiger Eltern, die in der Regel über ein Einkommen von zwischen 6000 und 8000 US-$ monatlich verfügten, in Einzelfallen auch mehr.

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Die Kinder dieser Schule waren Teil kleiner Kernfamilien mit zwei bis drei Kindern, die zu Hause mit dem Dienstpersonal zusammen wohnten. Bei 25 % bis 30 % dieser Familien waren die Eltern geschieden. Der Schulleitung zufolge unterschied sich die Schule Peterson sowohl von vielen staatlichen als auch traditionellen mexikanischen Privatschulen dadurch, daß die Beteiligung der Schüler beim Lernprozeß gefördert und auf Gruppenentscheidungen Wert gelegt wurde. Deshalb hielten sie es für wichtig, daß die Schüler den Unterrichtsstoff des Lehrers nicht bloß auswendig lernten und isolierte Einzeldaten ansammelten, sondern verstünden. Gemäß der Informantin der Schule war es die allgemeine Auffassung der Kinder, daß die Lehrer ihnen für ihren Lernprozeß zu Diensten stünden. Jede Ungerechtigkeit seitens der Lehrer wurde von den Kindern den Eltern erzählt und von diesen der Schulleitung mitgeteilt. Ein weiterer Punkt, in dem sich diese Schule von den oben genannten unterschied, hat mit ihrer Vorstellung von Disziplin zu tun. Der Informantin zufolge legte die Schule einen nicht so ausgeprägten Wert auf die Beachtung disziplinarer Normen im Zusammenhang mit formalen Details wie z.B. der Schuluniform, wohl aber im Hinblick auf die Ausführung der Schularbeiten und die gegenseitige Rücksichtnahme im Zusammenleben der Schüler. Nach Aussagen der Schulleitung und der Informantin vertrat die Schule Peterson, wie alle zweisprachigen Schulen, die Ansicht, daß alle den gehobenen Schichten angehörenden mexikanischen Kinder, die in Zukunft eine gewichtige Rolle im Leben ihres Landes zu spielen wünschten, notwendigerweise Englisch sprechen müßten. Dies sei notwendig, um zu reisen und sich in den USA wie auch anderswo in der Welt verständigen zu können, um eventuell im Nachbarland oder in Kanada zu studieren, und um - wie die Eltern und bekannte Leute dieser gesellschaftlichen Schicht - mit US-Amerikanern Geschäfte tätigen zu können. Außerdem dient die englische Sprache auch dazu, zum Einkaufen in die USA zu fahren, was in mittleren und höheren Schichten Mexikos beliebt ist. Der Tatbestand, daß das Lernen der englischen Sprache für diese gesellschaftlichen Gruppen als eine elementare Notwendigkeit gilt, reiht sich ein in den Kontext der ökonomischen und politischen Abhängigkeit Mexikos von den USA. Englisch zu lernen bedeutet unter anderem auch, Zugang zum Wohlstand der ersten Welt zu haben, zu der auch in US-amerikanischen Serien gezeigten Welt, wie sie das mexikanische Fernsehen ausstrahlte. Die Schule Peterson stellte im Vergleich zu anderen zweisprachigen Schulen (Spanisch - Englisch) eine kleine Schule dar, in der die eine Hälfte des Unterrichts in Englisch und die andere Hälfte in Spanisch gehalten wurde. Außerdem befaßten sich die Kinder dieser Schule nicht nur mit Englisch, um die Sprache zu

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lernen, sondern auch, um durch Stoff aus den Bereichen der Sozial- und Naturwissenschaften Aspekte der US-amerikanischen Kultur verstehen zu können. Demzufolge bestand eine gewisse Neigung zugunsten bestimmter Formen des US-amerikanischen Lebens und zum Konsum von dort importierter Produkte. Dies ging einher mit einer anderen, gegensätzlichen kulturellen Tendenz zugunsten bestimmter mexikanischer Gebräuche, da der in dieser Schule sehr wichtige Elternbeirat sich aus mexikanischen Eltern zusammensetzte. Deshalb sollten gewisse mexikanische Traditionen geachtet und die traditionellen mexikanischen Feste gefeiert werden. So feierte man in dieser Schule den "Dia de los muertos" sowohl nach US-amerikanischer Sitte (Halloween) als auch nach mexikanischem Brauch mit Opfergaben für die Toten. An dieser Stelle ist auf das in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen Mexikos bestehende permanente Gefühl der Ambivalenz den US-Amerikanern gegenüber hinzuweisen. Dies hat mit dem Machtverhältnis zwischen beiden Ländern und der in einem Land großer sozialer Ungleichheit vorherrschenden hierarchischen Struktur zu tun. Einerseits bewundert man in Mexiko die ökonomische und politische Vorherrschaft des Nachbarlandes USA in der Welt und versucht, in der makro- wie mikroökonomischen Politik, das US-amerikanische Wissen (das technologische und administrative Know-how) nachzuahmen. Anderseits werden die USA jedoch kritisiert und abgelehnt, weil sie ihre Macht sozio-ökonomisch, politisch und kulturell in Mexiko durchsetzen. Teils schätzt man ihre effizienteren Verfahren in Wirtschaft und Verwaltung ebenso wie ihre Lebensweise und kulturellen Modelle, die mit einer Gesellschaft des Konsums und Spektakels verbunden sind. Teils werden eben diese Formen kritisiert, indem die kulturellen Wandlungsprozesse, die sie in Mexiko hervorgerufen haben, mißbilligt werden, da sie vielfältige und ungleiche Änderungen der kulturellen Identität mit sich brachten. Diese Prozesse werden in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen auf verschiedene Art erlebt und haben unterschiedliche Wirkungen mit sich gebracht. Es ist nicht dasselbe, einer gesellschaftlich wohlhabenden Gruppe anzugehören, die mit wichtigen wirtschaftlichen und politischen Kreisen der USA direkte Verbindung hat und von der man behaupten kann, daß sie deren Verbündete in Mexiko darstellt, oder aber Teil einer Mittelschicht zu sein, die gerne direkten Kontakt zu Händlern und Politikern der USA hätte. Wiederum anders ist es, arbeitslos zu sein aufgrund - unter anderem - der Wirtschaftspolitik des IMF oder aber ein "espalda mojada"' zu sein, der zur untersten gesellschaftlichen und

Bezeichnung für Mexikaner, die auf der Suche nach Arbeit illegal in die U S A einwandern und dabei z.T. durch den Rio Bravo schwimmen. In den U S A werden sie als "wetbacks" bezeichnet.

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wirtschaftlichen Schicht gehört und bereits mit den Brosamen vom Tische des nördlichen Nachbarn vorlieb nehmen würde. Die Eltern der Kinder der Schule Peterson gehörten den beiden zuerst genannten gesellschaftlichen Gruppen an. Deshalb war es ihnen wichtig, daß ihre Kinder Englisch lernten.

6.1.3 Tätigkeiten der Eltern Der Informantin zufolge hatten 90 % der Väter ein Universitätsstudium absolviert. Einige waren Politiker, Rechtsanwälte, Ärzte, Ökonomen, Ingenieure oder Architekten. Sie hatten ihr eigenes Geschäft, wenn es auch meistens nicht sehr groß war. Einige wenige waren Angestellte oder Staatsbedienstete in wichtigen Positionen. Eine kleine Minderheit der Eltern stach hervor, weil sie Manager in Großunternehmen waren oder einen Posten der höheren Politik bekleideten. Etwa 30 % der Mütter hatten ein Universitätsstudium als Ökonomin, Ärztin oder Psychologin absolviert. Ebenfalls etwa 30 % der Mütter war noch berufstätig, während die übrigen als Hausfrau tätig waren. In allen Häusern waren Hausangestellte beschäftigt, unabhängig davon, ob die Mutter berufstätig war oder nicht. Im allgemeinen waren es zwei Angestellte, wovon eine im Haus wohnte und die andere stundenweise beschäftigt war, obgleich in den großen Villen auch drei oder mehr Hilfskräfte arbeiten konnten und etwa 40 % der Familien auch einen Fahrer hatten. Für die Eltern der Kinder dieser Schule war kennzeichnend, daß sie sich an der Gestaltung schulischer und außerschulischer Aktivitäten, die von der Schule durchgeführt wurden, über den Elternbeirat beteiligten. Dies drückt eine größere Aufmerksamkeit der Eltern ihren Kindern gegenüber aus als dies in anderen Schulen für privilegierte soziale Schichten der Fall ist. Dasselbe gilt in Vergleich zu Eltern von Kindern, die staatliche allgemeine Schulen für einfachere Schichten besuchen. In solchen Schulen ist eine Elternbeteiligung nicht vorgesehen.

6.1.4 Tätigkeiten der Kinder Die Kinder gingen morgens zur Schule, nachmittags machten sie üblicherweise ihre Hausaufgaben, sahen fern, hatten zwei- bis dreimal wöchentlich Sportunterricht, wie Schwimmen, Tennis, Fußball, Karate, Tanzschule, oder lernten ein Musikinstrument wie Gitarre, Klavier, Orgel oder Flöte. Einige von ihnen nahmen Sportunterricht in exklusiven privaten Clubs wie Club Libanés, Club France, Club Alemán, oder in privaten Sportakademien. Die Wochenenden verbrachten sie gleichfalls in Clubs, oder sie fuhren zusammen mit ihrer Familie zu ihren

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Wochenendhäusern südlich oder nördlich von Mexiko-Stadt, z.B. in Cuernavaca oder in Valle de Bravo. Während der Ferien reisten die Kinder an die mexikanischen Strände, an denen einige wenige der Familien ein Haus besaßen und andere Appartements gemietet hatten. Die Kinder besuchten die USA, in denen gleichfalls einige Familien ein Haus oder ein Appartement besaßen, vor allem in San Antonio und Houston, Texas, oder in Vail, Colorado. Es war üblich, daß die größeren Kinder der Grundschule einige Male an Zeltlagern teilnahmen, einen Ferienkurs belegten oder "sport clinics" in den USA oder Kanada besuchten.

6.1.5 Alltagspraxis der Schriftlichkeit Gemäß der Informantin dieses Umfeldes besaßen die meisten Häuser mehrere Enzyklopädien als Nachschlagewerke für die Kinder bei der Ausarbeitung ihrer Hausaufgaben und einige auch als Wohnzimmerdekoration und Prestigeobjekt, das die Familie als "gebildet" auswies. Außerdem gab es auch noch Bücher, die mit den Berufen der Eltern zu tun hatten, sowie Moderomane und Bestseller wie die Romane von Taylor Caldwell oder des jeweils neuesten Nobelpreisträgers für Literatur. Die meisten Familien hatten eine Zeitung, irgendeine nationale und/oder internationale politische Zeitschrift sowie eine Frauenzeitschrift abonniert. In einigen Häusern war eine private Bibliothek vorhanden, die wirklich genutzt wurde und nicht nur der Dekoration diente. Die Kinder besaßen spanische und englische Wörterbücher. Sie lernten die Hälfte des Unterrichtsstoffes in Englisch und die andere Hälfte in Spanisch. Das Lesen englischer Texte wurde stärker gefordert als die Lektüre in Spanisch, die sich auf die typischen Märchen von Grimm und Andersen sowie einige europäische und US-amerikanische Abenteuergeschichten beschränkte, wie diejenigen Mark Twains. Die Schule besaß eine Bibliothek, die die Kinder einmal in der Woche aufsuchen mußten. Die Bibliothek hatte nur wenige spanische Bücher im Bestand, jedoch eine große Anzahl englischer Bücher. Von öffentlichen Bibliotheken machte man keinen Gebrauch. Mußten die Kinder ein Buch in Spanisch lesen, so kauften sie es. Was die schulische Praxis des Lesens und Schreibens anbetraf, so mußten die Kinder die offiziellen Schulbücher des Erziehungsministeriums lesen; darüber hinaus hatten sie jedoch von der 2. Klasse der Grundschule an kleine Arbeiten zu schreiben, für die auch andere Bücher heranzuziehen waren. Hinzu kamen noch Übungen zum Erfinden von Geschichten und Aufsätze, in denen sie ihren Gedanken und ihrer Phantasie freien Lauf lassen konnten. Einige ihrer Aufgaben mußten die Kinder allein machen, andere dagegen in Gruppenarbeit mit dem Ziel

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der Förderung der Zusammenarbeit. Sie führten genauso viele schriftliche Arbeiten in Spanisch wie in Englisch durch. Der Schulleitung und der Informantin dieses Umfeldes zufolge war es bei diesen Arbeiten sehr wichtig, die eigene Meinung auszudrücken und zu begründen. Fast täglich erhielten die Eltern der Kinder Rundschreiben der Lehrerin, der Sprecherin oder Vertreterin der Eltern jeder Gruppe, die über die Tätigkeiten der Kinder informierten und in denen auch um eine Zusammenarbeit mit den Kindern oder den Eltern gebeten werden konnte. Dies ist ein Beispiel fiir die in diesem kulturellen Umfeld gebräuchlichen schriftlichen Kommunikationsformen.

6.1.6 Audiovisuelle Gewohnheiten Der Informantin dieses kulturellen Umfeldes zufolge besaßen die Familien im Durchschnitt zwei bis drei Fernsehgeräte. Eines befand sich in einem Wohnzimmer, ein anderes im Schlafzimmer der Eltern oder in der Küche, ein weiteres in einem anderen Zimmer. Waren drei Fernsehgeräte vorhanden, so war es sehr wahrscheinlich, daß eines sich im Zimmer der Kinder befand. Falls noch mehr Geräte vorhanden waren, hatte die Hausangestellte ihr eigenes Gerät oder dieses befand sich in der Küche. Daraus läßt sich schließen, daß die Femsehrezeption zumindest in der Hälfte der Haushalte eher ein individuelles als ein familiäres Ereignis darstellte. Was die Zeitdauer des Fernsehkonsums anging, so sahen die Kinder, der Informantin zufolge, im Schnitt zwei bis drei Stunden täglich fern, den Eltern zufolge jedoch nur ein bis zwei Stunden. Sie tendierten zur Angabe einer geringeren Stundenzahl, da das Femsehen nur wenig Ansehen genoß. Oftmals lief das Fernsehen bloß und gleichzeitig spielten die Kinder oder machten ihre Hausaufgaben. Etwa 1 0 % dieser Kinder hatten einen Computer mit darauf installierten Videospielen, die sehr beliebt waren. Die Hälfte der Familien besaß Kabelfernsehen, das damals Cablevisiön genannt und von Televisa kontrolliert wurde. Heutzutage empfangen mehr als die Hälfte der Familien Cablevisiön, Multivisiön oder eine andere Kabelfemsehgesellschaft. Viele Familien besitzen auch eine Parabolantenne, die in Mexiko mehr als 2 m Durchmesser besitzen muß. Gemäß der Informantin hörten die Kinder fast nie Radio, weil es für sie kaum geeignete Sendungen gab. Hatten sie jedoch ein Radio mit Kassettenrecorder, so benutzten sie dieses, um Musikkassetten zu hören. Einige Familien besaßen bereits einen Videorecorder und sahen in den USA gekaufte Videofilme oder Filme von Familienfeiern und Ferien, die mit der eigenen Videokamera erstellt waren.

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Die schriftlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschule

In diesem Teil wird anhand der Analyse der schriftlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der Schule Peterson die Kompetenz des Schreibens der Kinder dargestellt, um die Durchdringung der Schriftkultur in diesem kulturellen Kontext aufzuzeigen. In diesem Umfeld waren Produktion und Verbreitung des Gerüchtes nicht so ausgeprägt wie in der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl. Es gab weniger Versionen des Gerüchtes und sie waren auch nur einem kleineren Anteil der Kinder bekannt. Von den 14 Kindern der sechsten Klasse der Schule Peterson hatten neun Kinder, und damit 64 % der Kinder, etwas von dem Gerücht gehört, die anderen fünf, also 36 %, kannten es nicht. Sowohl die Kinder, die das Gerücht kannten, als auch diejenigen, die nichts davon gehört hatten, überschrieben ihren Aufsatz mit dem Titel "Die Schlümpfe" oder einfach "Schlümpfe". Diejenigen, denen das Gerücht bekannt war, bezogen den Terminus Schlumpf immer auf Puppen, die die Kinder besaßen, wogegen diejenigen, denen das Gerücht unbekannt war, ihn mit den Figuren des Fernsehprogramms in Verbindung brachten.

6.2.1 Die den Kindern bekannten Versionen Die von den meisten Kindern der sechsten Klasse der Schule Peterson beschriebene Version des Gerüchtes handelte von Kindern, die von Schlumpfpuppen gebissen, verschlungen, gefressen oder einfach umgebracht worden waren. Die Handlung bestand deshalb in Beißen, Essen, Verschlingen oder Umbringen. Das Umfeld der Handlung war das Haus. Der Ort, an dem die Puppenübeltäter entdeckt wurden, waren der Wandschrank, der Schrank oder das Schließfach. Dreimal schrieben die Kinder, daß die Puppen angetroffen wurden "con sangre, evidencia del asesinato", "con sangre en la boca" oder "con huellas de sangre". Die Art der beschriebenen Handlungen scheint im Zusammenhang mit solchen des Bösewichtes in den Schlumpfsendungen zu stehen, nämlich mit Gargamel, der in jeder Sendefolge versucht, die Schlümpfe zu fangen, um aus ihnen eine Schlumpfsuppe machen zu können. Auch erinnert sie an in diesem kulturellen Kontext bekannte Märchen über Hexen, die Kinder fressen, wie in Hänsel und Gretel. Außerdem lassen die beschriebenen Szenen von Schlümpfen mit Blut im Mund an Szenen aus Vampirfilmen denken.

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6.2.2 Die Version vom Roboterschlumpf Die für diese gesellschaftliche Gruppe kennzeichnende Version, die bei der Beschreibung der Gruppenbefragung eingehender ausgearbeitet wird, ist die vom Roboterschlumpf, die ein Kind wie folgt ausführte: Cuando yo fui a un campamento en el camión me enteré que un niño filé con su mamá a Reino Aventura y que se ganaron un "pitufo" grande. Llegaron a la casa y la mamá iba a ir al super, la mamá le preguntó que si quería ir y el niflo le dijo que se quería quedar a jugar con su "pitufo". Cuando la mamá llegó y vió a su hijo muerto y que el asesino fue el "pitufo", un "pitufo robot". (Junge Nr. 3, 11 Jahre alt). Als ich in dem Bus in ein Zeltlager fuhr, erfuhr ich, daß ein Junge mit seiner Mutter zu dem Freizeitpark Reino Aventura ging und daß sie einen großen "Schlumpf' gewannen. Sie kehrten nach Hause zurück und die Mutter wollte in den Supermarkt gehen, die Mutter fragte ihn, ob er mitkommen wollte, und der Junge sagte ihr, daß er dableiben wollte, um mit seinem "Schlumpf 1 zu spielen. Als die Mutter zurückkam und sie sah ihren Jungen tot und daß der Mörder der "Schlumpf' war, ein "Roboterschlumpf'.

Angesichts der Unglaubwiirdigkeit, die das Gerücht in diesem kulturellen Umfeld hervorrief, entstand eine sehr kennzeichnende Erzählung, in der die Kinder die Schlumpfpuppen verteidigten. Ein Mädchen benutzte dabei den Spottnamen "suspiritos azules", den Gargamel gebraucht, wenn er sie verfolgt: Yo nunca había oído hablar de que los pequeños suspiritos azules, llamados "PITUFOS" fueran capaces de deborarse a un niño. Creo que es ridiculo que un pobre pitufito se coma a un niño. Como no estoy segura de lo ocurrido en mi opinión sería la imaginación de cualquier persona presente en el accidente. N o creo que pudiera ser, y si no fuera los pitufos los consideraríamos INOCENTES. Quisiera saber lo que ocurrió pues es un caso extraño porque si a un niño se 10 comieron, ¿no podría ser que tengan otra víctima? (Mädchen Nr. 2, 11 Jahre alt). Ich habe niemals sagen gehört, daß die kleinen blauen Träumchen, die man "SCHLÜMPFE" nennt, in der Lage wären, einen Jungen zu verschlingen. Ich glaube, daß es lächerlich ist, daß ein armes Schlümpfchen einen Jungen frißt. Da ich nicht sicher bin, was passiert ist, stellt es meiner Meinung nach eine Phantasie von jemandem dar, der bei dem Unfall dabeigewesen ist. Ich glaube nicht, daß das sein könnte, und wenn es nicht die Schlümpfe gewesen sind, müssen wir sie als U N S C H U L D I G betrachten. Ich würde gerne wissen, was geschehen ist, denn es ist ein seltsamer Fall, wenn ein Junge gefressen worden ist. Könnte es nicht sein, daß sie ein anderes Opfer haben?

Dieser Text ist vor allem deshalb interessant, weil er einerseits die Abwehr dieser gesellschaftlichen Gruppe ausdrückt, an ein Gerücht zu glauben, das besagt, daß

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eine Puppe ein Kind auffrißt, obgleich andererseits als glaubwürdig betrachtet wird, daß ein oder mehrere Kinder ermordet worden seien. Die Tendenz der meisten Kinder bestand darin, die Unglaubwürdigkeit des Gerüchtes zu verdeutlichen. Die Anfangssätze ihrer geschriebenen Texte drückten bereits das Mißbehagen dieser Kindergruppe aus, ihre Kenntnisse vom Gerücht über die Schlümpfe darzulegen. Obwohl das Mädchen des oben erwähnten Textes das Gerücht kannte, schrieb es: Yo nunca había oído hablar de que los pequeños suspiritos azules llamados "PITUFOS" fueran capaces de deborarse a un niño... Ich habe niemals sagen gehört, daß die kleinen blauen Träumchen, die man "SCHLÜMPFE" nennt, in der Lage wären, einen Jungen zu verschlingen...

Nur ein Mädchen bekannte von Anfang an, vom Gerücht über die Schlümpfe gehört zu haben, und erwähnte sogar verschiedene Informationsquellen: Yo sabía que habían unos muñecos pequeños llamados pitufos se habían comido a un niño. Esto me lo contaron, y yo me enteré en Valle de Bravo atravez de un periódico. El rumor le dió pánico a algunos niños y a otras personas, pero a algunos les pareció absurdo. Cada quién lo tomó como quizo (Mädchen Nr. 4, 12 Jahre alt). Ich wußte, daß es einige kleine Puppen gab, die man Schlümpfe nannte, die einen Jungen gefressen hatten. Das erzählte man mir und ich habe es in Valle de Bravo durch eine Zeitung erfahren. Das Gerücht rief bei einigen Kindern und bei anderen Personen Panik hervor, aber anderen schien es völlig unsinnig. Jeder nahm es wie er es wollte

Trotzdem begann die Mehrzahl der Kinder ihren Aufsatz mit Sätzen wie: "Bueno, yo la verdad no se mucho acerca de esto, pero eh oido...", "Yo supe poco. Me contaron que..." oder "Yo no sé mucho de eso, sólo sé que...". Das läßt nicht ausschließen, daß die Kinder ihre Kenntnisse vom Gerücht über die Schlümpfe als etwas betrachteten, das sie in Wirklichkeit nicht wissen sollten. Das könnte der Fall sein, weil ihren kulturellen Normen und ihrer spezifischen Ordnung von Glaubwürdigkeit zufolge ein Gerücht, das von einem zubeißenden, kinderfressenden und erwürgenden Schlumpf handelte, kein Prestige vermittelte. Die folgende Version dient hierfür als Beispiel: La verdad, yo no creo en eso, si fuese cierto yo ya no estaría aquí, porque yo tengo 46 pitufos. A mí, me contaron que a un niño sus pitufos le guiñaban el ojo y el niño, le decía a su mamá, ella no le creía y un día se encontró a su hijo en un armario con un pitufo con el ojo cerrado y aorcandolo! ¡Pero yo, no creo nada! (Mädchen Nr. 9, 11 Jahre alt). Ehrlich, ich glaube nicht daran, wenn das stimmte, dann wäre ich nicht hier, denn ich habe 46 Schlümpfe. Die Leute erzählten mir, daß ein Junge von seinen Schlümpfen angeblinzelt worden sei und der Junge, er sagte es seiner Mama. Sie glaubte es nicht

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und eines Tages fand sie ihren Sohn in einem Schrank mit einem Schlumpf mit geschlossenen Augen und erhängt! Aber ich, ich glaube nichts!

6.2.3 Zur Konzeption der Texte Auf meine Bitte, ihre Kenntnisse über die Puppen und Schlumpfgegenstände aufzuschreiben, fühlten sich fast die Hälfte der Kinder verpflichtet bzw. berechtigt, ihre Meinung hierüber zu äußern. Sie wiederholten nicht nur und schrieben auf, was sie über die Schlumpfgegenstände gehört hatten, sondern sie brachten auch ihr Urteil zum Ausdruck. Die Übung, über die Schlumpfpuppen zu schreiben, wurde auf diese Weise als ein Spiel definiert, bei dem die Kinder ihre Kenntnisse und ihre Art des Argumentierens einsetzen konnten. So schrieben denn auch einige: "Yo no creo en eso", "Creo que esto es ridículo", "Yo, en lo personal no estoy seguro de ello" und "Quisiera saber lo que ocurrió pues es un caso extraño...". Es konnte auch sein, daß sie die Position derjenigen ausdrückten, die sich zum Gerücht über die Schlümpfe geäußert hatten: "El rumor le dió pánico a algunos niflos y a otras personas pero a algunos les pareció absurdo. Cada quién lo tomó como quizo". Einem Mädchen, das nichts wußte, schien es nicht nur angebracht, diese Unkenntnis auszudrücken, sondern darüber hinaus auch noch zu äußern, was es gerne wissen möchte: "Yo no me he enterado de nada al respecto, pero me gustaría saber". Dies macht deutlich, daß diese Kinder es gewohnt sind, ihre Bedürfhisse, ihre Wünsche und ihre Meinungen zu äußem. In diesem Fall wurde das Pronomen der 1. Person Singular immer richtig geschrieben: "yo", anders als in der Schule Benito Juárez. Eine solche Haltung befindet sich im Einklang mit der Einstellung einer Schicht der mexikanischen Gesellschaft, die wichtige Entscheidungspositionen in Wirtschaft und Politik innehat. Die Kinder dieser Gruppe sollen in der Schule nicht nur lernen, zu gehorchen, sondern auch zu befehlen, was auch beinhaltet, ihre Bedürfnisse, Meinungen und ihre Wünsche auszudrücken. Im Gegensatz zu den Kindern der Schule Benito Juárez hatten die Kinder der Schule Peterson, die nichts über das Gerücht wußten, keine Bedenken, ihre Unkenntnis hierüber schriftlich auszudrücken: "Los Pitufos. Yo no sé nada", "Pitufos. No me enteré de eso" oder "Yo no me he enterado de nada al respecto, pero me gustaría saber". Diese Unkenntnis scheint ihnen keinen Konflikt bereitet zu haben, vielmehr ganz im Gegenteil. Zwei dieser Kinder verschafften sich keine Klarheit darüber, daß sie eigentlich nichts wüßten. Sie deuteten meine Frage nach ihren Kenntnissen über die Schlumpfpuppen um als eine Meinungsumfrage über die Fernsehsen-

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dung Los Pitufos. Das veranlaßte sie zur Kritik an dem Umstand, daß die Folgen sich wiederholten: A mi me han dicho que repiten los programas y cuando salen nuevos son muy tontos y son muy cortos... y con tantas cosas que hacen de ellos los chotean... (Mädchen Nr. 13, 12 Jahre alt). Mir hat man gesagt, daß die Folgen sich wiederholten und wenn neue kommen, dann sind sie sehr blöde und sehr kurz... und mit den vielen Gegenständen, die sie aus ihnen machen, werden sie für Hinz und Kunz zugänglich und sind total "out"...

Los pitufos no me gustan porque ya no estan de moda, estan muy "choteados" y "se van afamando" (Junge Nr. 14, 12 Jahre alt). Die Schlümpfe gefallen mir nicht, weil sie außer Mode sind, sie sind für Hinz und Kunz zugänglich und total "out" und "sie verlieren an Berühmtheit"

Hierdurch kam eine für diese gesellschaftliche Gruppe typische Haltung zum Vorschein: die Kritik an allem, was einst ein exklusives Produkt für eine gehobene Gruppe darstellte und mittlerweile allen zugänglich geworden war. Dies wirft ein Licht auf die Art und Weise, in der die Logik sozialer Differenzierung die Diskurse über das Gerücht von den Schlümpfen gestaltete. Um dieses Phänomen zu verstehen, sind einige Darlegungen über die Vorgeschichte der Verbreitung von Schlumpferzeugnissen erforderlich. In Kapitel 4 wurde die "Schlumpfomanie" angesprochen, die es erlaubte, in ganz Mexiko Produkte mit den Figuren der Schlümpfe zu verbreiten. Anfangs wurden alle Produkte importiert. Später begann dann die Herstellung in Mexiko zu günstigeren Preisen für die breite Masse. Zu Beginn galt der Besitz von Schlumpfgegenständen als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Elite, weil sie entweder direkt in den USA gekauft oder aber importiert nur zu hohen Preisen erhältlich waren. Vom Zeitpunkt der Herstellung dieser Produkte in Mexiko an fielen die Preise und die Schlumpferzeugnisse verloren das Ansehen, das sie zuvor in den privilegierten Schichten genossen. Dazu ist anzumerken, daß dieses Phänomen der Popularisierung, der Herstellung in Mexiko und des damit zusammenhängenden Prestigeverlustes für die Eliten bei fast allen Konsumgütern auftritt, vor allem aber bei anfangs ausländischen Erzeugnissen. Ein ähnliches Phänomen war bei der Sendung Los Pitufos zu beobachten, die anfangs ausschließlich über Kabelfernsehen empfangen werden konnte und deshalb nur einer Minderheit zugänglich war. Anschließend wurde sie über die üblichen Fernsehkanäle verbreitet. Zu Beginn bedeuteten die Sendungen eine Sensation. Sie waren neu und es gab keine Wiederholungen. Als die erste Serie mit etwa 40 Sendefolgen von Los Pitufos vorbei war, wurde sie erneut ausgestrahlt, denn das Fernsehpublikum war noch begeistert, und die Wiederholung bedeutete für das kommerzielle Fernsehen weiterhin ein Geschäft. Genau hiergegen richtet

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sich die Kritik der Kinder der Schule Peterson. Die Sendungen hatten ihre Originalität verloren. Deshalb gaben die zwei Kinder zu verstehen, daß die Schlümpfe "choteados" waren, also für Hinz und Kunz zugänglich und damit total "out", daß sie außer Mode gekommen waren und ihre Berühmtheit verloren hatten. Der Terminus "choteado" ist ein umgangssprachlicher Begriff, der besagt, daß etwas nicht länger exklusiv ist und alle Zugang hierzu haben. Dieser Aspekt wird bei der Erörterung der Ergebnisse der Befragungen ausführlicher behandelt werden. Was die Informationsquellen der Kinder anbelangt, so waren ihre Angaben mündlicher Quellen im allgemeinen recht unbestimmt. Auffallend ist dabei, daß keine Verwandten vorkamen, wohl aber in zwei Fällen Freunde und einmal ein Mädchen aus der Schule als nächste und genauere Referenz. Nur ein einziges Mal berief sich ein Junge auf die anonyme und kollektive Stimme: "a mi me contaron". Hierbei wurde diese Stimme kritisiert, denn der Junge betonte schlichtweg, daran nicht zu glauben. In diesem Zusammenhang ist auch interessant, die ablehnende Stimme in einem bereits zuvor erwähnten Text des Mädchens Nr. 2 hervorzuheben: "Yo nunca había oído hablar de que los pequeños suspiritos azules, llamados "PITUFOS" fueran capaces de deborarse a un niño". Es fällt auf, daß drei Kinder die Zeltlager und das Wochenenderholungsgebiet Valle de Bravo als den Ort erwähnten, an dem sie von dem Gerücht gehört hatten. Die Nächte in Zeltlagern sind dafür bekannt, daß die Kinder dieser Gesellschaftsschichten sich die Freude des Erzählens von Gerüchten gönnen, des Erzählens von geheimnisvollen Legenden, von Schauergeschichten und Horrorfilmen. Nur eine einzige schriftliche Quelle wurde angeführt, nämlich eine Zeitung direkt aus Valle Bravo. Zweimal wurde die Sendung Hoy Mismo als Quelle genannt. Vielleicht wirft die Bezugnahme auf diese populäre Sendung ein Licht auf die Art und Weise, in der Wort und Bild des Fernsehens wesentliche Bezugspunkte für die kollektive Stimme darstellen.

6.2.4 Anwendung der Regeln des Schreibens Richtet man das Augenmerk auf die Form, in der die Texte geschrieben wurden, so ist die klare Gedankenführung hervorzuheben. Dies läßt sich sehr gut anhand des Textes des Mädchens Nr. 2 ersehen, das die Schlumpfpuppen verteidigte. Die deutliche Reihenfolge der Gedanken geht mit einer guten Gestaltung des Textes in Sätze und Absätze einher. Bemerkenswert ist zudem die Kenntnis der Regeln der Groß- und Kleinschreibung, nicht nur bei der Strukturierung der Sätze, sondern auch, um bestimmte Wörter im Text hervorzuheben. Deshalb schrieb sie das

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Wort "inocentes" in Großbuchstaben: "INOCENTES". Zwar ist die Interpunktion nicht fehlerfrei. Punkte, Kommata und Fragezeichen werden aber verwendet. Die klare Gedankenfiihrung der Texte ist als Ergebnis der den Kindern geläufigen Praxis des Lesens und Schreibens zu sehen. Die Kinder wurden, wie bereits zuvor erwähnt, ständig durch die Lehrer aufgefordert, Tagesereignisse aufzuschreiben sowie Zusammenfassungen von Büchern zu erstellen, bei denen sie auch ihre Meinung hierüber wiedergeben mußten. Aus den Texten der Kinder ließ sich ableiten, welche Bedeutung die Schule dem richtigen Schreiben ohne orthographische Fehler beimaß. Trotzdem bereitete die Zeichensetzung einigen Kindern teilweise Probleme. Zwei Drittel der Kinder verwendeten Punkte und Kommata, lediglich zwei Texte fielen durch ein fast völliges Fehlen des Gebrauchs dieser Zeichen auf, wie auch durch eine Aneinanderreihung der Sätze durch die Konjunktion "y", wie dies in der Umgangssprache üblich ist: Bueno, yo la verdad no se mucho acerca de esto, pero eh oido, que había un niño como de 11 años que quería una colección de pitufos y no se la compraron hasta que un día se la compraron y en la noche empezó oir vocesitas y pasos y le fue a decir a su mamá, pero no le creyó y el proximo día el nifto creo que apareció su todo mordido y en otras palabras muerto (Mädchen Nr. 1, 11 Jahre alt). Gut, ehrlich gesagt weiß ich nicht viel darüber, aber ich habe gehört, daß es einen ungefähr 11 Jahre alten Jungen gab, der eine Sammlung Schlümpfe wollte, und man hatte ihm keine gekauft bis man ihm eines Tages welche kaufte und nachts als er Stimmchen und Schritte hörte und es seiner Mutter sagte, aber sie glaubte ihm nicht und am nächsten Tag, glaube ich, schien der Junge ganz zerbissen und in anderen Worten tot

Die unterstrichene Konjunktion "y" in diesem Zitat wird an späterer Stelle untersucht. In zwei Fällen war seitens der Kinder Überkorrektheit festzustellen, indem, um den Gebrauch von Kommata keinesfalls zu unterlassen, ihre Verwendung übertrieben wurde. Auch ist darauf aufmerksam zu machen, daß einige Kinder die Ausrufungszeichen dazu benutzten, ihre Meinung zu unterstreichen, wie im oben erwähnten Fall des Kindes, das nicht an das Gerücht glaubte: "¡Pero yo, no creo nada!". Ebenso ist auf den Gebrauch von Anfuhrungsstrichen für nicht im Wörterbuch stehende, obgleich umgangssprachlich gebrauchte Wörter hinzuweisen wie "choteado". Diese Gruppe hatte keine Schwierigkeiten mit den Kongruenzregeln bzgl. Anzahl und Geschlecht zwischen Artikeln, Substantiven, Adjektiven und Verben.

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Die Orthographie zeigte die typischen Probleme von Kindern bei der Verwendung des "h". So schrieben sie das Hilfsverb "haber" ohne "h", wie z.B. "eh oido" (ich habe gehört); "ahorcar" (aufhängen) wird gleichfalls ohne "h" geschrieben. Außerdem gab es auch in diesem Zusammenhang Fälle von Überkorrektheit wie z.B. "hiban" (sie gingen) und "habrieron" (sie würden haben). Jedoch war diese Art von Fehlern nur bei etwa 11 % der Kinder sehr ausgeprägt. Die Kenntnis der Setzung von Akzenten war bei 44 % der Kinder sehr gut, bei den anderen dagegen eher schlecht. Es waren Fälle zu verzeichnen, in denen fälschlicherweise Akzente gesetzt wurden, wie z.B. "comprarón". Gleichwohl konnte anschließend kein Akzent gesetzt werden, wie z.B.: "empezó", "creyó", "proximo", "apareció". Die Kinder dieser Gruppe verstanden es auch, mehrere Male Adversative wie etwa "pero" zu verwenden: "le fue a decir a su mamá, pero no le creyó". In diesem kulturellen Umfeld wiesen 7 % der von den Kindern geschriebenen Wörter irgendeinen Orthographiefehler auf in Texten, die

durchschnittlich

74 Wörter enthielten. Die Texte fielen durch ihren Umfang und die besonders geringe Anzahl an Rechtschreibfehlern auf. Was die Art des Umgehens mit dem Papierraum und der Gestaltung von Wörtern und Sätzen anbelangt, so ist zu bemerken, daß alle Kinder Wörter, Sätze und Absätze sehr deutlich voneinander trennten. Außerdem ist auf die Art hinzuweisen, in der drei Kinder sich äußerst großzügig verbreiteten, indem sie Buchstaben und Absätze über das ganze Blatt Papier verteilten, wie etwa in dem folgenden Beispiel: "A mi, un niño "Hoy mismo" que habia mordido un pitufos con sangre

me contó que vio en una coleccion de pitufos niño y que encontraron en la boca.

Y otra cosa que me contó fue que un niño compró un pitufo de peluche grande que al dia siguiente encontraron al pitufo y de peluche que tenia la cabeza descapuchada y ya no estaba el niño" (Junge Nr. 7, 12 Jahre alt). Mir hat ein Junge erzählt, daß er in "Hoy Mismo" gesehen hat, daß eine Sammlung von Schliimpfen einen Jungen gebissen hatten, und daß man Schlümpfe mit Blut im Munde angetroffen hat. Und etwas anderes, das er mir erzählt hat, war, daß ein Junge einen großen Plüschschlumpf kaufte, und daß am nächsten Tag sie den Plüschschlumpf ohne Kapuze antrafen und den Jungen gab es nicht mehr

Sicherlich steht diese Art der Behandlung und des Ausfüllens des Papierblattes in Verbindung mit der erreichten Kenntnis der Verteilung von Buchstaben, Sätzen

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und Absätzen auf einem Blatt Papier, die den Regeln des Briefeschreibens entspricht. Kinder dieses Alters und kulturellen Kontextes empfangen und schreiben gewiß bereits Briefe, wenn sie selbst oder ihre Verwandten auf Reisen sind. Möglicherweise hat es aber auch mit einer gewissen Abneigung Papier gegenüber zu tun, eines für sie billigen Gutes. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Kinder der Schule Peterson über gewisse Kenntnisse der Regeln des Schreibens verfügten. Die Lektüre und das Verständnis ihrer Texte bereiteten keine Schwierigkeiten. Einer in derselben Schule durchgeführten Untersuchung zufolge wiesen diese Kinder, verglichen mit den Kindern einer ländlichen Schule, ein breiteres Wissen über Bücher auf (Corona, 1989: 59).

6.3

Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der vierten Klasse der Grundschule: "Ciertas historias ridiculas acerca de los pitufos"

Im Anschluß an die schriftliche Befragung der sechsten Klasse der Schule Peterson werden nun die Ergebnisse der mündlichen Befragungen der vierten Klasse erörtert. Es handelte sich um eine kleinere Gruppe als in der Schule Benito Juárez. Anders als in jener Schule stellten sich die Kinder der vierten Klasse der Schule Peterson vor, ohne daß ich sie darum gebeten hätte. Deswegen werden die Zitate der Kinder mit Namen versehen.

6.3.1 Die den Kindern bekannten Versionen Während dieser etwa 20 Minuten dauernden Befragung erzählten die Kinder fünf knappe Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in einer Stimmung völliger Ungläubigkeit und diejenigen, die daran glaubten und es verbreiteten, wurden mit Spott bedacht. Die erste Version handelte davon, daß ein Junge gerade mit seiner Puppe spielte, während die Mutter sich in einem anderen Stockwerk des Hauses befand, der Schlumpf den Jungen biß, dieser seine Mutter rief und sie antwortete, er möge still sein. Weil der Schlumpf den Jungen weiterhin biß, begann der Junge erneut nach der Mutter zu schreien, daß er wieder gebissen würde. Die Mutter ging hinauf, um nach dem Jungen zu sehen und fand ihn tot vor. Bevor Fernando mit dieser Erzählung anfing, nahm er von der Geschichte Abstand und behauptete: "Yo creo que es mentira, pero...". Während der Junge sprach, kicherten einige Kinder. Zweimal korrigierten sie ihn und machten sich dabei lustig über seine Geschichte und zugleich auch über ihn. Trotzdem erzählte

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er weiter, gab dabei seinen Ausführungen einen theatralischen Tonfall und flocht Äußerungen von Kindern ein, die angeblich die Angriffe der Schlümpfe erlebt hatten: Fernando: Un niño estaba jugando con sus pitufos y su mamá estaba abajo, entonces empezó a gritar: "Mamá, mamá los pitufos me están comiendo" Ein Junge spielte gerade mit seinen Schlümpfen und seine Mutter war unten, dann fing er an zu schreien: "Mama, Mama die Schlümpfe fressen mich auf'

Die übrigen Kinder brachen in ein Gelächter aus. entonces la mamá le dijo... und dann sagte die Mutter ihm...

Abraham: ¿Qué te pasa? Was ist mit dir los?

Im Bestreben, Fernando zu korrigieren, wiederholten die übrigen Kinder im Chor und in spöttischem Tonfall: "Los pitufos me están pegando". Die Schlümpfe hauen mich.

Fernando: Bueno: "me están pegando" Gut: "sie hauen mich"

Die übrigen Kinder brachen in ein Gelächter aus. entonces que dice, que le dice: "¡Ay ya cállate!". Entonces después grita: "Mamá, mamá los pitufos me están comiendo". dann sagt er, dann sagt sie ihm: "Ach sei doch still!" Dann schreit er danach: "Mama, Mama, die Schlümpfe fressen mich".

Die übrigen Kinder korrigieren erneut: "mordiendo". beißen mich.

Fernando: Bueno y grita: "Ahhh...", entonces sube la mamá y lo ve ahí muerto pero con todos los pitufos ensangrentados. Nun gut und er schrie: "Ahhh...", dann kam die Mutter hinauf und sah ihn dort tot, aber mit allen blutüberströmten Schlümpfen.

Die zweite von den Kindern erzählte Version entspricht einer der speziellen Versionen der sechsten Klasse der Schule Benito Juárez: die Verbrennung der Schlümpfe. Der Junge erzählte, daß es bestimmten Leuten nicht gelungen war, ein paar Schlumpfpuppen zu verbrennen. Hier jedoch erzählte der Junge dies, indem er von der Geschichte Abstand nahm und gegen ihre Glaubwürdigkeit argumentierte. Er sprach mit Pausen. Seine Stimme war dabei gelassen, ruhig und tief. Es schien, als ob er eine Vorlesung hielt, in der er seine Schulkenntnisse anwandte. Ihm zufolge stellte es ein gewöhnliches und normales Phänomen dar, daß gewisse Schlumpfpuppen, da sie aus Plastik hergestellt waren, sich nicht verbrennen ließen:

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Daniel: También nos contó esto un niño de la escuela llamado Juan Carlos y pues nosotros creo que nadie le creyó porque cómo va a ser que los pitufos, este, y luego también nos contó que los habían tratado aquí mal a los pitufos y no habían podido y pus claro, no se pueden quemar, mmm este, cosas, este, mms si no tiene el fuego, no tiene donde apoyarse para seguir quemando, como la madera se quema porque el fuego se apoya en la madera para seguir quemándola, pero no se puede apoyar en plástico tan rápidamente porque el fuego se apaga y es más, la cantidad de pitufos, porque tenían que ser varios, este al echarlos en el fuego, este, p'us apagarían el fuego. Auch erzählte uns dies ein Junge aus der Schule, der Juan Carlos hieß, und nun wir, ich glaube, daß niemand ihm glaubte, denn wie kann es sein, daß die Schlümpfe, äh, und dann erzählte er uns, daß sie hier die Schlümpfe schlecht behandelt hatten und daß sie nicht gekonnt hätten und es ist dann klar, daß sie sich nicht verbrennen lassen, mmm äh, Sachen, äh, mms, wenn das Feuer nichts hat, wodurch es unterstützt wird, um weiter zu brennen, wie Holz brennt, weil das Feuer durch Holz unterstützt wird, um dann weiter zu brennen, aber es wird nicht so schnell durch Plastik unterstützt, denn das Feuer geht aus und hinzu kommt die Menge von Schlümpfen, denn es müssen mehrere gewesen sein, äh, als man sie ins Feuer wirft, äh, dann würden sie das Feuer ausmachen.

Eine weitere Version des Gerüchtes beschrieb einen neben einer sehr großen Schlumpfpuppe schlafenden Jungen, und diese flüsterte ihm ins Ohr: "Mata a tu papá, mata a tu papá" und der Junge vollbrachte dies. Der Junge schloß hier gleichfalls seine Erzählung, indem er sagte, daß er daran nicht glaubte. Diese Version erinnert an einen zu jener Zeit laufenden Horrorfilm, in dem ein Dämon einem Jugendlichen einflüsterte: "Mata a tus papás. Mata a tus papás". Der Jugendliche führte diesen Befehl aus, da er vom Dämon beherrscht war.

6.3.2 Die spezielle Version des Gerüchtes: Von der Version des Roboterschlumpfs zur Verteidigung der Schlumpfpuppen Obwohl die Kinder der vierten Klasse den verschiedenen Versionen des Gerüchtes gegenüber eine distanzierte Haltung einnahmen und sie als kaum glaubwürdig betrachteten, schufen sie eine Version, die sich mit ihrer Ordnung von Glaubwürdigkeit verband: die Version vom Roboterschlumpf. Diese Version wurde bereits im Zusammenhang mit den schriftlichen Versionen der sechsten Klasse der Grundschule erwähnt. Daniel: si fuera cierto, sería una grabadora que se hubiera metido en los pitufos, pero pues no puede ser que un pitufo se levante y muerda al otro niño. Wenn es stimmte, würde es ein Kassettenrecorder im Inneren der Schlümpfe sein, aber dann könnte es nicht sein, daß ein Schlumpf aufsteht und den anderen Jungen beißen würde.

Dies rief Gelächter hervor, dennoch fuhr er fort:

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Daniel: pero tampoco puede ser, ¿cómo se llama? a control remoto. Aber es kann auch nicht eine, wie heißt es doch?, eine Fernsteuerung sein.

Diese Version wurde gleich, nachdem sie dargelegt worden war, als unglaubwürdig beiseite getan. Durchaus möglich wäre zwar, daß eine Puppe sich aufgrund eines eingebauten Kassettenrecorders oder aber einer Fernsteuerung bewegte; daß dies jedoch dazu fuhren könnte, daß die Puppe aufstehen und ein Kind beißen könnte, befand sich nicht in Einklang mit der Ordnung von Glaubwürdigkeit der Kinder. Die Version des Roboterschlumpfes kam in dem Augenblick auf, als der Gruppenführer Abraham ausführte, daß Computer interessantere Gegenstände darstellten als das Fernsehen mit seinen Schlumpffiguren und -Sendungen. Abraham: Mira a mí en lo personal, p'us yo digo, tienen un aspecto gracioso y pu's son entretenidos, pero a mí en lo personal no me gustan. O sea, a mí nada más me gusta cuando los vi por primera vez: "¡Ay pues que bonitas cositas!" ¿no?, o sea si están bonitos, pero no me llamó la atención, tanto la atención como otras cosas que a mí me llaman la atención, /.verdad?, así como las computadoras, todas esas y p'us a mí se me hizo: "¡Ay pues están muy bonitos!" y ya, así na'más, /.no? Y he visto los programas. Los veía a veces cuando no tenía nada que hacer, pero p'us en lo general no me divierten mucho y además no colecciono nada y luego discos tampoco y una vez nos pusieron aquí a bailar uno de los pitufos. Sieh mal, was mich persönlich anbelangt, dann sage ich, sie haben ein drolliges Aussehen und sind unterhaltsam, aber, was mich persönlich anbelangt, so gefallen sie mir nicht. D.h., sie gefielen mir nur als ich sie zum ersten Mal sah: "Ach, welch hübsche Dinge!" Nicht wahr? D.h., sie sind hübsch, aber sie zogen doch nicht meine Aufmerksamkeit auf sich, so wie andere Dinge meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nicht wahr? So wie die Computer, all diese und dann dachte ich: "Ei, dann sind sie sehr hübsch!" und ach so, so weiter nichts, nicht wahr? Und ich habe die Sendungen gesehen. Ich habe sie manchmal gesehen als ich nichts zu tun hatte, aber dann im allgemeinen unterhalten sie mich nicht sehr und außerdem sammle ich nichts und auch nicht Schallplatten und einmal sollten wir tanzen nach der Schlumpfmusik.

Verschiedene Kinder: ¡Ay sí! Ach ja!

Abraham: Lo odiamos, lo odiamos y todo. Wir hassen sie, wir hassen sie und alles.

Die unterstrichenen Ausdrücke in diesem und den unten wiedergegebenen Zitaten werden an späterer Stelle untersucht. Die während der 80er Jahre in die wohlhabenden Schichten von Mexiko eindringende Welt der Computer und Videospiele vermittelte in zunehmendem Maße Prestige. Das Fernsehen geriet in Mißkredit. Dies führte gleichwohl nicht dazu, daß die Kinder dieses kulturellen Kontextes kein Fernsehen anschauten. Jedoch

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bewirkte es, daß sie nicht mehr mit großem Interesse davon sprachen. Die Gleichgültigkeit und Kritik der Kinder, wenn diese in der Befragung über das Fernsehen redeten, veranschaulichte diese Haltung. Dies verband sich mit einem Diskurs, der eine Apologie der Technik und ihrer unendlichen Macht darstellte, die Wohltaten verbreitet, jedoch auch Gefahren bedeutet, was z.B. auf die Fernsehsendungen für Kinder über die Superhelden verweist. Dies wird bei der Analyse der Befragung in der sechsten Klasse wieder aufgenommen. Die Vorstellung dieser Kinder von Macht und Grenzen des Menschen unterschied sich sehr stark von derjenigen der Kinder der Schule Benito Juárez. In diesem kulturellen Umfeld wird der Mensch als den Puppen überlegen betrachtet. Der Gedanke, daß eine Puppe Leben erlangen und sich von allein bewegen könnte, ist allenfalls denkbar als Ergebnis menschlicher Technologie. Möglicherlicherweise trugen solche Vorstellungen dazu bei, daß die Kinder der vierten Klasse gegen Ende der Befragung die Schlumpfpuppen gegenüber allen ihnen bekannten Versionen des Gerüchtes verteidigten. Sie übten Kritik an Leuten, welche die Schlümpfe verspotteten, an Zeitungen, die gegen sie gerichtete Geschichten erfanden, ebenso wie an den Herstellern, die den Kindern zufolge die Puppen verfälschten. In diesen Fällen stellte die Figur des Schlumpfes das wehrlose Opfer dar. Schuldig war an allen den Puppen gegenüber verübten Aggressionen und an allem Spott der Mensch, sei es als Journalist, Händler, Verkäufer oder Hersteller. Magali: Yo por otra parte pienso que todas las compañías así de platos y todo eso, ha, han, le han hecho mucha burla a los pitufos porque ahora que los pitufos son famosos, ¿no?, por su figura y por todo eso. Pero ahora como yo he visto, como te dije antes yo he visto en muchas revistas que se han burlado mucho de los pitufos. Además llegan y empiezan a hacer cositas de pitufos y pon tú que tú vas a una tienda y te dicen: "¡Ay no p'us los pitufos ya llévenselo porque yo no quiero eso aquí en la tienda", ¿no?...No es para hacerles tanta burla así a los pitufos, ¿no? Ich andererseits glaube, daß alle Firmen, so von Tellern und all diesem, ha, haben, haben die Schlümpfe oft verspottet, weil die Schlümpfe jetzt berühmt sind, nicht wahr? Wegen ihres Aussehens und wegen all diesem. Aber jetzt, wie ich es gesehen habe, wie ich dir vorher gesagt habe, ich habe in vielen Zeitschriften gesehen, daß sie die Schlümpfe sehr stark verspottet haben. Dann kommen sie und fangen an, kleine Schlumpfsachen zu machen und, stell' dir vor, wenn du ins Geschäft gehst und die Leute dir sagen: "Ach nein, die Schlümpfe, nehmen Sie die mit, weil ich dies nicht hier im Geschäft haben möchte", nicht wahr? Es ist nicht notwendig, die Schlümpfe so sehr zu verspotten, nicht wahr?

Daniel: Una vez, este, o sea, yo pienso que mucha gente han hecho así demasiadas cosas de los pitufos y son así propagandas entonces, este, le hacen di-

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bujos, y yo, mucha gente está tratando de reconstruirlos, o sea, de falsificarlos por no decir otra palabra así. Porque yo he visto una vez en Chapultepec estaba. Me iba a subir al tren un niflo traía un libro de los pitufos, un cuento y lo abrí y estaban pintados con el gorro muy parado, así como mal hechos, que los trataron de hacer así, así nada más al aventón, así, los trataron de falsificar o algo. Einmal, äh, d.h., ich denke, daß viele Leute allzu viele Sachen mit den Schlümpfen gemacht haben, und sie haben dann Werbung gemacht, äh, sie machen Abbildungen, und ich, viele Leute sind dabei, zu versuchen sie nachzumachen, d.h., sie zu verfälschen, um kein anderes Wort zu gebrauchen. Denn ich habe es einmal gesehen, es war im Park von Chapultepec. Ich war gerade dabei, in den Zug einzusteigen, ein Junge hatte ein Schlumpfbuch, eine Geschichte und ich schlug es auf, und sie waren mit einer zu gerade hochstehenden Zipfelmütze gezeichnet, und auch schlecht gezeichnet, daß sie versucht haben, sie so zu machen, vor lauter Eile. Sie haben versucht, sie zu verfälschen oder etwas ähnliches.

Diese Äußerungen ließen Kritik am Händler durchblicken, dem Bösewicht der wahren Geschichte, der eine schlechte Werbung für die Schlumpferzeugnisse verbreitete. Die außerdem angesprochene Kritik an den mexikanischen Produzenten erfolgte vor dem Hintergrund, daß, wie bereits erwähnt, anfangs alle Schlumpferzeugnisse aus Importen stammten. Danach begann man sie in Mexiko aus billigeren Werkstoffen herzustellen, die auch für die einfacheren Schichten zugänglich waren. Dies schien den Kindern zu mißfallen, die sie aufgrund ihrer Exklusivität und Originalität als Prestigeobjekte besaßen. Ein impliziter Gegensatz der Termini tauchte im Diskurs der Kinder auf: das Wahre, das Original versus das Falsche, die Kopie, das Verfälschte, bzw. die Massenproduktion. Daniel sprach davon, daß er in Chapultepec war, als er das schlecht gemachte Buch über die Schlümpfe sah. Der Park von Chapultepec ist der größte Park der Stadt Mexiko und für die einfacheren Schichten ist er vor allem an Wochenenden der wichtigste Erholungsort. Die von Daniel zum Ausdruck gebrachte Kritik stellte eine Wiedergabe typischer Äußerungen einer gesellschaftlichen Gruppe dar, die direkt in den USA einkaufte oder aber die Importartikel mexikanischer Geschäfte. Die Schilderung der schlechten Qualität mexikanischer Produkte diente ihm zur Verdeutlichung, daß er eine andere Art von Erzeugnissen kannte, daß er Zugang zu Ausländischem hatte, was lange nicht für alle zutraf. Diese Art von Diskursen läßt sich nicht getrennt von der permanenten Strategie einer privilegierten sozialen Schicht sehen, sich in einer Gesellschaft großer sozialer Unterschiede wie der mexikanischen abzugrenzen.

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6.3.3 Die Assoziationswelt der Kinder Innerhalb der Gesamtheit der durch die Kinder vorgetragenen Erzählungen fielen lokale Geschichten aus ihrem gesellschaftlichen Bereich auf, die darauf abzielten, die Unglaubwürdigkeit der Gerüchte aufzuzeigen.

6.3.3.1 Lokale mündliche Erzählungen gegen das Fernsehen Die lokalen mündlichen Erzählungen übten Kritik am Fernsehen, an der Sendung Los Pitufos, an ihren Figuren und auch am damals bei Kindern üblichen Zeitvertreib, Schlumpffamilie zu spielen. Mit dieser Art von Diskurs begann die Befragung und es war der Anführer der Gruppe, der den ersten Darlegungen den Stempel aufdrückte. Abraham: Mira yo he leído varias veces de que aquí, o sea en las revistas, una vez en la del Consumidor vino una, una, un artículo acerca de los pitufos de que se estaba notando de que en cuanto salieron a la televisión, así en tele normal, porque antes ya habían salido, que empezaron los niños, los empezaron los niños, les dieron una atención general, ¿verdad? o sea que casi nunca se ponía a cierto programa de televisión, ¿sí?, entonces yo empecé a leer y vi que según la revista se decía, se estaba atrofiando, se estaba, el lenguaje de un niño. Estaba empezando a interrumpir, por ejemplo que pitufo papá, que pitufo esto, que pitufo lo otro, etcétera, ¿no? Entonces todo esto es lo que decía, luego en otra revista que los pitufos estaban descomponiendo a la niñez de que no eran buen ejemplo y luego ciertas historias ridiculas acerca de los pitufos. Sieh mal, ich habe oft gelesen, daß es hier, d.h. in den Zeitschriften, einmal in der Zeitschrift Consumidor kam ein, ein, ein Artikel über die Schlümpfe, daß man bemerkte, daß sobald sie im Fernsehen ausgestrahlt wurden, so im normalen Fernsehen, denn sie waren zuvor schon ausgestrahlt worden, begannen die Kinder, begannen die Kinder, sie ließen ihnen eine allgemeine Aufmerksamkeit zukommen, nicht wahr? D.h., daß sie fast nie ein bestimmtes Fernsehprogramm einschalteten, ja? Nun fing ich an, zu lesen, und sah, daß der Zeitschrift zufolge gesagt wurde, daß es verdirbt, die Sprache eines Kindes verdirbt. Daß es begann, zu unterbrechen, z.B., daß Papa Schlumpf, Schlumpf hier, Schlumpf da, etc., nicht wahr? Nun ist es all dies, was er gesagt hat, dann in einer anderen Zeitschrift, daß die Schlümpfe die Kindheit zerrütten, daß sie kein gutes Beispiel waren und dann einige lächerliche Geschichten über die Schlümpfe.

Diese Kritik stellte ein fast allen Kindern gemeinsames Thema dar, das sie während der Befragung mehrmals mit einigen Varianten wieder aufgriffen. Beispielsweise erzählte ein anderer Junge, daß er in einer Zeitschrift gelesen hatte, daß ein Junge "Zeit verliert", wenn er Sendungen über die Schlümpfe ansah und sich den Kopf mit solch dummen Sachen vollstopfte.

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Sebastián: Yo una vez oí, o sea vi en una revista, en Teleguía o en una revista. No me acuerdo qué revista era que estaba. Sí decía que nada más los niflos se fijan en los pitufos y pierden el tiempo viendo los pitufos y siempre: "Ay que vamos a ver los pitufos y los pitufos..." y se les mete en la cabeza muchas cosas que no son ciertas de que: "Ay se roban a los pitufos y que se los come un dragón, sí que Gárgamel y que Azrael" y así muchas cosas que se les meten a los niños en la cabeza. Ich habe einmal gehört, d.h. ich habe in einer Zeitschrift gesehen, in Teleguía oder in einer anderen Zeitschrift. Ich weiß nicht mehr, in welcher Zeitschrift es stand. Dort wurde gesagt, daß die Kinder sich nur auf die Schliimpfe fixieren und Zeit verlieren, indem sie die Schliimpfe ansehen und immer: "Ach, gehen wir die Schliimpfe ansehen und die Schliimpfe..." und sie setzen ihnen Sachen in den Kopf, die nicht wahr sind, wie etwa: "Ach, die Schliimpfe werden geraubt und daß ein Drache sie frißt, ja, daß Gargamel und daß Azrael" und dann werden den Kindern viele Sachen in den Kopf gesetzt.

Den Kindern dieses kulturellen Umfeldes zufolge stellte die Tatsache, daß einige Kinder unterschiedliche Versionen des Gerüchtes erzählten und daran glaubten, bereits ein Zeichen dafür dar, daß sie durch das Fernsehen allgemein geschädigt waren und vor allem durch die Sendungen Los Pitufos verdorben ("atrofiados") wurden. Eine andere, in den Erzählungen stets wiederkehrende Idee war das Problem der Fernsehsucht der Kinder ganz allgemein und insbesondere im Hinblick auf die Sendungen über die Schlümpfe. In diesem Zusammenhang wurden von den Kindern der vierten Klasse verschiedene Geschichten vorgetragen, die sich mit Kindern befaßten, die dieses Syndrom aufwiesen. Daniel: Yo pienso a veces que los niños ya se no, se dicen por ejemplo, tienen que ir al doctor por ya, así tienen una enfermedad, catarro o algo, tienen que ir al doctor. Vamos a decir que los pitufos pasan a las cinco de la tarde y a las cinco de la tarde tienen que: "Ay no papá por favor, por favor, mañana, mañana" y no se quieren perder nunca los pitufos y luego problemas familiares. Ich denke manchmal, daß die Kinder sich nicht, sich zum Beispiel sagen, daß sie zum Arzt gehen müssen, sie haben so eine Krankheit, Schnupfen oder etwas, sie müssen zum Arzt gehen. Stellen wir uns vor, daß die Schlümpfe um fünf Uhr nachmittags gesendet werden und um fünf Uhr müssen sie: "Ach nein, Papa bitte, bitte, morgen, morgen" und sie wollen nichts von den Schlümpfen versäumen und dann gibt es Familienkrach.

Die Kinder erwähnten in diesem Interview viermal, daß das Fernsehen die Kindheit "atrofiaba"; zweimal, daß es sie "descomponía" und weitere vier Male, daß es "le metía cosas en la cabeza". Anhand dieser Ausdrücke sowie der entsprechenden Erzählungen lassen sich die Stimmen der Eltern und Lehrer wiedererkennen. Es stellt die in ihrem Umfeld

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vorherrschende Meinung gegen das Fernsehen dar, die auch in Ausbildungs- und Elternzeitschriften veröffentlicht wird. Die zentralen Argumente gegen das Fernsehen lauten, daß es das freie Entwickeln der Phantasie des Kindes verhindert, den Spracherwerb beeinträchtigt, das Kind zu aggressiven Einstellungen anregt sowie zum passiven Wesen werden läßt.

6.3.3.2 Lokale mündliche Erzählungen über die Langeweile In direkter Verbindung mit diesen Erzählungen stand die Erklärung über vermeintliche Langeweile, unter der die Kinder der vierten Klasse beim Ansehen der Sendungen über die Schlümpfe litten. Dabei wurde der Umstand betont, daß diese Sendungen außer Mode seien. Anhand einer bereits genannten Äußerung Abrahams wurden die Elemente dieser Art von Erzählungen klar: die Sendungen gegenüber der Welt der Computer ins Lächerliche zu ziehen und Kinder, die diese Sendungen anschauen, als kindlich und mit wenig Durchblick einzustufen. Die Thematik der Langeweile wurde von allen Kindern geteilt. Die Mehrheit gab zu verstehen, daß die Sendungen zu häufig wiederholt worden seien, weshalb sie sich auch nicht mehr dafür interessierten. Das Wort "aburrirse" wurde sechsmal erwähnt, sowohl in Zusammenhang mit dem Fernsehen generell als auch der Sendung Los Pitufos. Fernando: Hay muchas caricaturas como los pitufos que se repiten muy seguido, o sea como la Pantera Rosa o Don Gato, cualquiera de esas caricaturas y ves así la primera caricatura que no la has visto: "Ay p'us que padre está!" ;.no? y a los dos días la vuelves a ver y ya te aburre, te aburre y te aburre y p'us ya, /.no? y, o sea, yo tengo unos muñecos, unos pitufos, unos pitufitos chiquitos porque me gustan. Tienen, tienen así, son graciosos, son chistosos, así, de figuras bonitas que están jugando fútbol así, /.no? Pero nada más así con el deporte y no así de coleccionar miles de pitufos. Es gibt viele Zeichentricksendungen wie die Schlümpfe, die sich sehr oft wiederholen, d.h., wie der Rosarote Panther oder Don Gato, welche dieser Zeichentricksendungen auch immer und siehst du so die erste Sendung, die du noch nicht gesehen hast: "Ach, wie toll ist sie!" Nicht wahr? Und in zwei Tagen siehst du sie wieder und schon langweilt sie dich, sie langweilt dich und langweilt dich und dann schon, nicht wahr? und, d.h., ich habe einige Puppen, einige Schlümpfe, einige klitzekleine Schlümpfchen, denn sie gefallen mir. Sie haben, sie haben so, sie sind drollig, ulkig, so, hübsche Figürchen, die dann Fußball spielen, nicht wahr? Aber keine andere, die Sport macht und nicht so, um Tausende von Schlümpfen zu sammeln. Der Ausdruck von Langeweile bedeutet im allgemeinen zugleich das Empfinden von Gleichgültigkeit, Distanz und der Erhabenheit einer Sache gegenüber. Dies spiegelt die Pose einer gesellschaftlichen Gruppe wider gegenüber Gütern, die

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außer Mode sind, und bildet eine weitere Strategie der Suche nach gesellschaftlicher Distinktion.

6.3.4 Die Schlümpfe und der Teufel Als die Kinder nicht mehr beachteten, was andere von ihnen halten könnten und die Stimmung des Spottes nachließ, begannen sie über das Verhältnis zwischen dem Wort Schlumpf und dem Wort Teufel zu sprechen. Einige behaupteten felsenfest, Schlumpf bedeute in irgendeiner Sprache Teufel. Der Anfuhrer der Gruppe begann hiermit: Abraham: Y aparte también leí un artículo acerca de que decía de que había una historia de que el autor de los pitufos "pillo", no sé que... así el autor que es francés creo de que hubo una historia de que decía de que no sé que idioma pitufo quiere decir diablo Und abgesehen davon habe ich einen Artikel gelesen, der darum ging, daß es eine Geschichte gebe, daß der Autor der Schlümpfe "pillo", ich weiß nicht genau,...so der Autor, der Franzose ist, glaube ich, daß es eine Geschichte gab, die besagte, daß, ich weiß nicht, in welcher Sprache, Schlumpf Teufel bedeutet.

Interviewerin: ¿En la revista decía eso? In der Zeitschrift wurde das gesagt?

Abraham: Sí, en la revista decía. Ja, in der Zeitschrift wurde es gesagt.

Verschiedene Kinder: Sí yo también lo he oído. Ja, auch ich habe es gehört.

Daniel: Y yo también lo he oído por parte de muchos amigos, por parte de mi doctor. Sí, así. Und ich habe es auch von vielen Freunden gehört, von meinem Arzt. Ja, so ist es.

Interviewerin: ¿El doctor también te dijo eso? Der Arzt hat dir das auch gesagt?

Daniel: Estaba hablando con mi papá y yo lo oí. Er sprach gerade mit meinem Vater, und ich habe es gehört.

Abraham: Tonces ya de que pitufo en ese idioma quería decir diablo y que estaban relacionados con el diablo y que eran juguetes del, diabólico todo eso, ¿no? Nun ja, daß Schlumpf in dieser Sprache Teufel bedeuten sollte, und daß sie mit dem Teufel verbunden wären, und daß sie Spielzeug des, teuflisch, all dies, nicht wahr?

Interviewerin: ¿Eso dónde lo oíste tú? Wo hast du das gehört?

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Margarita Zires Abraham: Mira eso yo lo oí cuando fui al club, yo voy al Club Alemán. Allí decían y luego en la revista esa. Sieh mal, das habe ich gehört, als ich im Club war, ich gehe ja in den Club Alemán, dort wurde das gesagt, und danach in jener Zeitschrift.

Später sprachen einige Kinder über andere Kinder, die vor Schlumpfpuppen Angst hatten, weil diese in Verbindung mit dem Teufel stünden. Dies zeigte, daß die Figur des Teufels ihnen Respekt und Furcht einflößte und daß seine Existenz unbestritten war. Eine klare Verbindung zwischen dem Wort Schlumpf und Teufel war in irgendeiner Sprache vorhanden. Daß die Schlumpfpuppen und der Teufel in Wirklichkeit jedoch miteinander verbunden waren, erweckte starke Zweifel, und obwohl der Anführer zu Beginn angab, daß es teuflische Schlumpfspielzeuge gäbe, distanzierte sich Carlos von dieser Auffassung und bot in spöttischem Ton eine andere an: Carlos: Yo he visto así, un nifio, una vez estaba así, le enseñó un pitufo otro niño: "¡Ay no ya quítamelo!", así como si fuera así un diablo o así, algo que tuviera así pánico o algo así, no sé si fiie la figura o algo le han dicho mal de los pitufos que se les metió en la cabeza y están ya están así como de diabólicos. Ich habe es gesehen, ein Junge, es war einmal so, ein anderer Junge zeigte ihm einen Schlumpf: "Ach, geh' weg damit!" So als ob es ein Teufel oder so wäre, etwas, das so erschreckend wäre oder etwas ähnliches, ich weiß nicht, ob es die Figur war oder ob man ihm etwas schlechtes über die Schlümpfe gesagt hat, das sich ihnen in den Kopf gesetzt hat, und sie waren, sie waren schon so wie teuflisch.

Am Ende spottete Abraham selbst über Kinder, die die Schlümpfe als Teufel ansahen. Dies erinnert an die Bedeutung der Figur des Teufels in den Erzählungen der Kinder der Schule Benito Juárez, obwohl ihre Interpretation dort eine andere war. In der vierten Klasse der Schule Peterson scheint die Figur des Teufels eher an amerikanische Horrorfilme zu erinnern, in denen teuflische Objekte und Puppen vorkommen, als - wie in der Schule Benito Juárez - an örtliche mündliche Erzählungen oder Legenden aus dem religiösen Bereich.

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6.3.5 Der spöttische Tonfall und die "habla fresa" der Kinder Die Kinder sprachen während dieses Interviews in sehr anschaulicher Form. Wenn sie die Versionen des Gerüchtes erzählten und die Sendungen über Los Pitufos kritisierten, war ein spöttischer Tonfall vorherrschend, der mit den ersten Erklärungen des Anführers Abraham aufkam. Der Spott wurde mit einem herablassenden Ton verbunden, mittels dessen die Kinder den Eindruck erweckten, sie befänden sich gegenüber denjenigen, die an das Gerücht glaubten, in einer überlegenen Position, und die Thematik, über die sie befragt würden, sei unter ihrer Würde. Sie schienen auszudrücken, daß sie sich nicht mit dem Schmutz solcher Geschichten bekleckern wollten. Die im Verlauf dieser Befragung vorherrschenden Tonfalle des Spottes und der Verachtung gingen einher mit einer Sprechweise, die als "habla fresa" bezeichnet wird. Es handelt sich um die Sprechweise der sogenannten "jóvenes fresas", der Kinder von Unternehmern, von Politikern und Persönlichkeiten, die sozioökonomische und politische Macht besitzen und ihre Gruppenzugehörigkeit zur Schau stellen. Es gibt eine Anzahl Termini, sozusagen einen Wortschatz der "habla fresa", der auch während der Befragung verwendet wurde. Als Beispiele hierfür lassen sich das typische "o sea" (d.h.) erwähnen und der wiederholte Gebrauch des Ausdrucks "¿no?" (nicht wahr?), der dazu dient, die Zustimmung des Zuhörers zu fordern, und ein Synonym zu "¿verdad?" darstellt. Darüber hinaus vermitteln diverse Ausdrücke wie "mira" (sieh mal) oder "fíjate" (stell dir vor), in herablassendem Tonfall gesprochen, den Eindruck, der Sprechende sei dem Zuhörer überlegen. Die Äußerung "¿Qué te pasa?" (Was ist mit dir los?) kann dazu dienen, den Zuhörer zu korrigieren. Sie wurde von Abraham verwendet, um Fernando zu verbessern, als dieser die erste Version des Gerüchtes über die Schlümpfe erzählte. Eine oben zitierte Ausfuhrung Abrahams, in der er die Bedeutung der Computer der kindlichen Welt der Sendungen über Los Pitufos entgegenhält, diente dazu, den Gebrauch einiger Ausdrücke der "habla fresa" zu veranschaulichen. Diese Ausdrücke sind im Text unterstrichen. Häufig werden dabei die Ausdrücke "o sea", "¿no?" und "¿verdad?" in entsprechendem Tonfall verwendet. Gleiches gilt für eine ebenfalls oben wiedergegebene Ausführung Fernandos, der bemerkt, daß sich ständig wiederholende Sendungen wie La Pantera Rosa und Los Pitufos bei den Kindern Langeweile hervorriefen. Ist von "fresas" die Rede, ist zugleich auch von "nacos" zu sprechen. "Naco" ist ein Wort, das dazu dient, eine Person als "ungebildet" und "unkultiviert" einzu-

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stufen, als einen Menschen, der sich nicht gemäß den Regeln der gesellschaftlichen Gruppe zu benehmen weiß, der der Sprechende angehört. Die "habla fresa" war damals bereits soweit standardisiert, daß sie humoristischen Sendungen in Radio und Femsehen Stoff bot, wie z.B. dem Komiker Luis de Alba in seiner Sendung El Pirrurris, die sich über diese Art und Weise des Sprechens lustig machte. Wird über die Kinder der vierten Klasse der Schule Peterson gesagt, sie sprächen wie "niños fresas", so drückt dies zugleich aus, daß ihre verbalen Darlegungen durch eine diskursive Strategie der Suche nach gesellschaftlicher Abgrenzung geformt waren. Die Kinder bauten in ihren Diskursen von Anbeginn an eine implizite Unterscheidung auf zwischen einem "nosotros" und einem "los otros". Das "Wir" waren diejenigen, die nicht an das Gerücht glaubten, die Kabelfernsehen besaßen, die Besitzer von Computern waren, die Zugang zu privaten Clubs hatten. Die "Anderen" waren diejenigen, die "historias ridiculas" glaubten, die kein Kabelfernsehen hatten und durch das Femsehen verdorben wurden.

6.3.6 Die Gruppendynamik Da die meisten Kinder bei ihren ersten Darlegungen ihren Vornamen genannt hatten, gab es eine stärker individualisierte Art und Weise der Interaktion zwischen den Kindern und mir. Während der gesamten Zeitdauer der Befragung zeigten die Kinder ein reges Interesse. Weder fielen sie einander ins Wort, noch gab es Stillschweigen oder längere Pausen. Sie hörten den Darlegungen der anderen zu und äußerten sich fast immer einer nach dem anderen. Im allgemeinen blieb das Schema des Interviews von Frage und Antwort während der gesamten Zeit erhalten. Es gab aber auch Augenblicke, in denen die Kinder sich stärker miteinander als mit mir beschäftigten. Dies erfolgte bei der Assoziation des Wortes "Schlumpf' mit der Figur des Teufels und bei der Thematik der Langeweile. In der Gruppe herrschte eine harmonische Stimmung. Es gab im allgemeinen keine heftigen Streitereien. Lediglich Femando wurde einmal kritisiert, als er eine Version des Gerüchtes erzählte und die anderen ihn verspotteten. Der Anführer war zweifelsohne Abraham, der durch seine arrogante Haltung gegenüber den anderen Kindern und mir auffiel. Seine Äußerungen wurden von den anderen Kindern sowohl inhaltlich als auch in der Sprechweise nachgeahmt, obwohl dabei die Arroganz abgeschwächt wurde. Daniel war ein recht unabhängiger Junge und wurde von den anderen geschätzt. Er sprach ruhig und drang darauf, daß die Kinder nachdachten und ihr Wissen anwendeten. Die Mädchen

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ahmten Abraham nach, mit Ausnahme von Magali, die gegen Ende der Befragung das Thema der Verteidigung der Schlümpfe einbrachte. Auch wenn die Kinder den Rahmen der Befragung nicht ausdrücklich definierten, so waren doch gewisse Äußerungen zu verzeichnen, die als Schlüssel dazu dienen konnten, wie sie den Rahmen auffaßten und umdefinierten. Meiner Frage zu Beginn des Interviews, was die Kinder über Schlumpfpuppen und andere Schlumpfgegenstände gehört hatten, wich der Gruppenführer Abraham aus und definierte das Thema der Befragung um. Damit brachte er sofort seine kritische Meinung über das Fernsehen und die Sendung Los Pitufos zum Ausdruck. Am Ende der Darlegung griff Abraham meine Frage wieder auf und beschloß, nichts über das Gerücht zu erzählen und es umzudefinieren als "ciertas historias ridiculas acerca de los pitufos". Fernando nahm die Frage erneut auf und erzählte die erste Version des Gerüchts mit Unterstützung Abrahams und anderer Kinder, die diese Geschichte ins Lächerliche zogen. Diese Äußerung Abrahams erschien mir sehr aufschlußreich, weil sie den Leitgedanken und die Regeln der Teilnahme für das gesamte Interview prägte. Mein Anliegen wurde stets als Meinungsumfrage aufgefaßt oder als Bitte um Stellungnahme seitens der Kinder. Die Versionen über das Gerücht wurden stets mit einem persönlichen Kommentar versehen, mittels dessen die Kinder zum Ausdruck brachten, was sie davon hielten: "Yo creo que es mentira, pero nos contó...", "Creo que nadie le creyó porque como va a ser que los pitufos..." und "que dicen que los pitufos en la noche hablan a los niños que: 'Maten a sus papás', que cosas así, pero no creo que sean ciertas". Der von Abraham häufig gebrauchte Ausdruck "a mí en lo personal", wie auch einige wiederholt verwendete "yo digo" oder "yo creo" beleuchteten, wie die Kinder die Position desjenigen einnahmen, der die Information nicht nur weitergibt, sondern bewertet und beurteilt. Sie versetzten sich insofern in eine überlegene Position denjenigen gegenüber, die an das Gerücht glaubten, die die Sendungen über Los Pitufos sahen, an ihnen Gefallen fanden und mit anderen Kindern "Schlümpfe" spielten. Anhand der Analyse der Darlegungen läßt sich gut erkennen, daß die Kinder ihren Spott auf Kinder richteten, die an das Gerücht glaubten oder es erzählten und deshalb von ihnen als "niños-niflos" eingestuft wurden. Sie faßten sich zumindest in dieser Hinsicht als Erwachsene auf und stellten sich entsprechend dar. Die Kinder, das waren die anderen. Auf diese Weise verhielten sie sich bereits ab der ersten Äußerung Abrahams. Auch Daniel führte aus: "Yo pienso a veces que los niños...". Carlos veranschaulichte dies so: Carlos: Yo he visto en esta escuela que está, están aquí los niños y que están jugando y que se estaban peleando: "Ay no que yo soy Gárgamel" y "Ay no que yo soy Azrael!" y "Ay no que yo soy papá Pitufo" y hacían las voces

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¿no?, hacían las voces de Fortachón... y así se la pasaban así todo el recreo discutiendo nada más por una tontería. Ich habe in dieser Schule gesehen, daß hier die Kinder beim Spielen waren und sich stritten: "Ach nein, denn ich bin Gargamel" und "Ach nein, denn ich bin Azrael!" und "Ach nein, denn ich bin Papa Schlumpf' und sie ahmten die Stimmen, nicht wahr?, von Muskelschlumpf nach... und so verbrachten sie so die ganze Pause, indem sie sich über eine bloße Albernheit zankten.

Die Kinder sprachen mich immer mit "tú" an. Daraus ließ sich entnehmen, daß sie mich als eine Person auf gleicher Ebene betrachteten. Dieselbe Haltung nahmen die Kinder gegenüber anderen Erwachsenen ihres Umfeldes ein. Als ich sie fragte, ob ihre Lehrerin das Gerücht kannte, nannten sie eine Lehrerin mit Vornamen "Paty" und erzählten, daß sie ihre Meinung erfuhren, nachdem sie sich selbst bereits eine eigene gebildet hatten: Interviewerin: ¿Y las maestras saben de esto? Und wissen die Lehrerinnen davon?

Mauricio: Paty sí sabe. Paty weiß davon.

Interviewerin: ¿Qué dijo ella? Was hat sie gesagt?

Sebastián: Ah, pues dijo que era una mentira. Y pues ya nosotros estábamos como que ni nos importaba. Ach, sie hat gesagt, daß es eine Lüge war. Und dann bereits waren wir dazu gekommen, daß es uns egal war.

In jedem kulturellen Umfeld bestehen unterschiedliche Regeln des Gebrauchs der Personalpronomina "usted" und "tú". Vor allem in ländlichen Gebieten galt es als schwerwiegender Verstoß gegen die Anstandsregeln, wenn Kinder Erwachsene mit "tú" ansprachen. In einigen Gegenden redeten Kinder ihre Eltern ihr ganzes Leben lang mit "usted" an. Die Kinder der Schule Peterson dagegen sprachen der Informantin zufolge die Mütter ihrer Klassenkameraden stets mit "tú" an. Im Umfeld dieser Schule war üblich, jede zum gleichen gesellschaftlichen Kontext gehörende Person, Erwachsene wie Kinder, mit "tú" anzusprechen. Dies trug dazu bei, eine gewisse gesellschaftliche Nähe zu betonen und die Grenze zwischen den Generationen zu verwischen, um den Eindruck des "nosotros somos iguales" zu erwecken. In manchen Äußerungen stellten sich die Kinder über mich. Angesichts meiner Bitte um Information hoben sie hervor, daß sie diejenigen waren, die sich auskannten, die Zeitschriften gelesen hatten, und ich insofern die Unwissende sei, die ihre Information erhalten müsse. Besonders stachen dabei die Äußerungen des Anfuhrers Abraham hervor: "Y mira, yo una vez oí en un artículo de una revista, que un artículo de los pitufos, ¿no?...y aparte también leí en un artícu-

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lo...", "Mira a mí en lo personal, pues yo digo..." sowie "Yo creo que yo, mira yo tengo un primo...". Während all dieser Darlegungen forderten die Kinder, daß ich mich als aufmerksam erwies, und legten nahe, daß ihre Mitteilungen die wahrhaftige Information darstellten: Fernando: Oye también yo he oído que... Hör mal, auch ich habe gehört, daß... Ana Lorena: Pero, ¿sabes qué?, este, por allá... Aber, weißt du was?, äh, dort... Diese Äußerungen von Fernando und Ana Lorena wurden in einem etwas bescheideneren Tonfall vorgetragen als die von Abraham.

6.3.7 Die angeführten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente Als Informationsquellen bzw. Autorität vermittelnde Personen erwähnten die Kinder Freunde und Klassenkameraden, die Lehrerin, den Arzt und den Vater. Angesichts der dieses Interview durchziehenden Stimmung von Unglaubwürdigkeit genossen nicht alle Informationsquellen dasselbe Prestige und dieselbe Glaubwürdigkeit. So wurde Juan Carlos, ein Junge, den Daniel vorher zitiert hatte, als jemand eingeordnet, der unglaubwürdige Geschichten erzählte: Daniel: Es que Juan Carlos cuenta muchas historias no verdaderas. Das ist so, weil Juan Carlos viele unwahre Geschichten erzählt. Im Gegensatz zu Juan Carlos wurden der Arzt und der Vater Daniels mit ihrer Aussage, das Wort "pitufo" bedeute in irgendeiner Sprache "Teufel", als vertrauenswürdige Quellen eingestuft. Die Person der Lehrerin wurde als eine unwichtige Informationsquelle erwähnt. Auch wenn sie über das Gerücht der Schlümpfe Bescheid wußte, so kamen ihre Bemerkungen doch nicht rechtzeitig. Es war nicht einerlei, an welchen Orten die Kinder diese Erzählungen gehört hatten. Abraham zufolge konnte man das in einem privaten Club, z.B. im Club Alemán Gesagte, als glaubwürdig betrachten. Die Kinder griffen die Gespräche ihres kulturellen Umfeldes auf, die Stimmen der Erwachsenen sowie diejenigen anderer Kinder ihres Alters. Dies war genauso in der Schule Benito Juárez, obgleich sich die Inhalte unterschieden. Die Kinder der Schule Peterson übten Kritik an den Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe. Dazu übernahmen sie andere Stimmen. Anders als in der Schule Benito Juárez kam die Stimme der Großmutter nicht vor, dagegen jedoch dieje-

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nige des "niño-adulto", des Kindes, das sich anderen, an das Gerücht glaubenden Kindern gegenüber überlegen sah. Die Kinder zitierten nicht die Erwachsenen, sondern betrachteten sich als solche und führten von Erwachsenen herangezogene Quellen an, nämlich geschriebene Quellen. In dieser Gruppe gebrauchten die Kinder nicht die auf die kollektive und anonyme Stimme einer Gemeinschaft verweisenden Formen "se dice" oder "a mi me dijeron". Jedoch benutzten sie die schriftlichen Quellen auf eine anonyme Art und Weise: "Según la revista se decía... luego en otra revista...", "Yo también he visto en muchas revistas que..." und "Y mira, yo una vez oí en un artículo de una revista... y aparte también leí un artículo...". Diese zuletzt angeführten Formulierungen erschienen mir äußerst interessant, zeigten sie doch zweierlei auf. Zum einen schaute man auch in diesem kulturellen Umfeld eher in die Zeitungen als daß man sie las. Zum anderen wurde deutlich, daß Äußerungen unbedingt mittels schriftlicher Quellen zu untermauern waren, und zwar selbst dann, wenn sie möglicherweise auf einer anonymen mündlichen Quelle basierten: "yo oí en un artículo de una revista". Da in diesem kulturellen Umfeld schriftliche Quellen als äußerst glaubwürdig galten und hohes Prestige vermittelten, äußerte Abraham bereits zu Beginn des Interviews, daß er viel las: "Pues yo, mira yo he leído muchos artículos porque yo leo mucho, ¿no?...". Dies ist auch vor dem Hintergrund der Bedeutung zu sehen, die Leseübungen in der Schule beigemessen wurde und daß eine Interviewerin aus der Universität anwesend war. Die von den Kindern namentlich angeführten schriftlichen Quellen waren die Zeitschriften El Consumidor, Teleguía und die Zeitschrift Times aus den USA. Zweifelsohne bedeutete dies nicht, daß die Kinder diese Zeitschriften lasen, sondern daß die Eltern diese Zeitschriften kauften. So ist kaum vorstellbar, daß in der Fernsehzeitschrift Teleguía, die gerade davon lebt, daß Leute fernsehen wollen, empfohlen würde, die Kinder sollten möglichst nicht fernsehen und noch weniger die Sendungen über die Schlümpfe sehen, weil ihnen dadurch dummes Zeug in den Kopf gesetzt würde. In der Zeitschrift El Consumidor, die öfters kritische Artikel über den Konsum in allgemeinen veröffentlicht, sind dagegen verschiedentlich auch kritische Artikel über das Fernsehen in seiner Bedeutung für Kinder erschienen, aber ohne direkten Bezug auf die Sendungen über die Schlümpfe. Auch die Herkunftsorte von Zeitschriften waren nicht unwichtig. Da die Zeitschrift Times aus den USA stammt, galt sie vermutlich als etwas Besseres. Ihr wurde ein höherer Informationsgehalt als dem Fernsehen zugeschrieben, das den

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Worten Abrahams zufolge nichts sagte ("no dice nada"). Deshalb empfahl er, Zeitschriften wie die Times zu lesen. Neben der Zeitschrift Times wurde von Abraham auch das Kabelfernsehen als besonders vertrauenswürdige Quelle erwähnt. Zu jener Zeit wurden im Kabelfernsehen fast ausschließlich aus den USA stammende Programme ausgestrahlt. An audiovisuellen Quellen wurden von den Kindern das normale Fernsehen sowie das Kabelfemsehen erwähnt. Ersteres wurde durchgängig kritisiert, wogegen letzteres als ein spezielles Fernsehen hervorgehoben wurde. Fernzusehen wurde stets als eine negative, abzuwertende Aktivität betrachtet, die die Kinder verderbe und ihnen die Zeit stehle. Fernsehsendungen wurden lediglich erwähnt, um sie ihrer ständigen Wiederholungen wegen zu kritisieren, wie La Pantera Rosa und Don Gato.

6.3.8 Zur diskursiven Einordnung Genauso wie in der Schule Benito Juárez ordneten die Kinder der Schule Peterson ihre eigenen Diskurse nicht explizit ein. Aus den Darlegungen des vorhergehenden Abschnitts ließ sich jedoch eine implizite Einordnung der Diskurse der Kinder ableiten, die sich auf die Informationsquellen bezog: der geschriebene Diskurs der Zeitschriften, der Fernsehdiskurs, unterteilt nach normalem Fernsehen und Kabelfernsehen, sowie der mündliche Diskurs, der von der Vertrauenswürdigkeit der Personen abhing, die den Kinder die betreffende Geschichte erzählt hatten. So galt etwa der Diskurs von Juan Carlos als nur wenig vertrauenswürdig, ganz im Gegensatz zum Diskurs des Vaters und des Arztes. Der Diskurs der Lehrerin war zwar prinzipiell vertrauenswürdig, da er aber zu jener Zeit nichts Neues bot, wurde ihm durch die Kinder keine Wichtigkeit beigemessen.

6.3.9 Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und Alltagsleben der Kinder In den Erzählungen der Kinder kamen elektrische Geräte des Alltagslebens zu Hause vor, die seinerzeit aufgrund ihrer Exklusivität prestigeträchtig waren, wie der Computer und das Kabelfernsehen. In zwei Fällen der erzählten Versionen des Gerüchtes fand die Übeltat der Schlümpfe in aus mehreren Stockwerken bestehenden Häusern statt, so daß das Kind nach der Mutter rufen mußte. In zwei Fällen spielte sich die Handlung in den Zimmern der Kinder ab, die allein schliefen. Dies stellt einen Hinweis auf eine gewisse Größe der Häuser dar wie auch auf die spezielle Einteilung des architektonischen Raums.

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Unter den alltäglichen Aktivitäten erwähnten die Kinder öfter das Fernsehen, wozu fast alle Kinder der Hauptstadt Zugang hatten. Häufig wurden auch Aktivitäten angeführt, die wohlhabenden Familien vorbehalten waren, wie etwa der Besuch eines angesehenen privaten Clubs, der Ausdruck des Konsums einer privilegierten Gruppe der mexikanischen Gesellschaft ist. Dasselbe trifft für Arztbesuche zu, da die breite Masse üblicherweise die öffentlichen Gesundheitsdienste in Anspruch nimmt, und alle übrigen Ärzte in Mexiko Privatärzte sind und somit weit höhere Ausgaben verursachen.

6.3.10 Produktion und Austausch verschiedener Arten des Wissens während der Befragung Im Verlauf der gesamten Befragung formulierten die Kinder direkt oder indirekt eine Gesamtheit von Verhaltensnormen, Evaluierungsmustern und Formen der Kritik, die in Zusammenhang mit dem ihrem kulturellen Umfeld eigenen Wissen standen. Von Anfang der Befragung an versetzten sich sowohl der Gruppenführer als auch die meisten der Kinder in die Rolle des "niño-adulto". Dieser kleine Erwachsene wußte alles; er wußte, was für die anderen Kinder, die "niflos-niños", gut ist und was nicht, und dies vor allem in bezug auf das Fernsehen. Aufgrund dieser angenommenen Rolle des "niño-adulto" kamen Elemente des Wissens zum Vorschein, wie in dieser sozialen Gruppe Kinder sein sollten. Aus dem Mund der Kinder ertönte die kollektive Stimme der Erwachsenen. Während spöttisch die Versionen der Gerüchte über Schlümpfe erzählt wurden, ergaben sich die impliziten Empfehlungen, an solche Gerüchte nicht zu glauben und keine Angst davor zu haben, daß Schlumpfgegenstände den Kindern Schaden zufügen könnten. Explizit behaupteten die Kinder mehrmals, daß man sich vor Kindern wie Juan Carlos aufgrund ihrer Äußerungen in acht nehmen müsse. Die Notwendigkeit des Lesens, um Kenntnisse zu erwerben und informiert zu sein, wurde mehrmals betont. Deshalb erfanden die Kinder auch Zitate oder führten aus, sie hätten Artikel oder Zeitschriften gelesen, aus denen sie entnommen hätten, Sendungen über die Schlümpfe setzten den Kindern nur dummes Zeug in den Kopf. Hintergrund war das in diesem Umfeld bestehende Gebot, sich geschriebener Quellen zu bedienen, um einem Diskurs Anerkennung zu verschaffen. Die Kinder gingen davon aus, daß hauptsächlich durch Lektüre Bildung erlangt wird. Hinzu kam die Tatsache, daß die Befragung in der Schule stattfand, zudem in einer Schule, in der viel Nachdruck auf die Praxis des Lesens gelegt wird.

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Die während der Befragung am häufigsten unterstützte Empfehlung bestand darin, daß Kinder Schlumpfsendungen nicht sehen sollten, weil dies ihre Sprache verdürbe, ihnen dummes Zeug in den Kopf setzte und die Kindheit zerrütte. Hieraus wurde dann abgeleitet, daß die Kinder auch nicht das "Schlumpfspiel" spielen dürften. In diesem Zusammenhang wurde Kritik am Fernsehen geübt, weil Sendungen wiederholt werden, und sie empfahlen, dies zu unterlassen. Offensichtlich glaubten die Kinder, das Recht - und möglicherweise auch die Pflicht - zur Kritik am Fernsehen zu haben. Bei der Verteidigung der Schlumpfpuppen kritisierten die Kinder Zeitschriften, Verkäufer und Händler, die Schlumpfpuppen verspotteten, aber auch die mexikanischen Hersteller, die die Schlumpfgegenstände nur mangelhaft kopierten. Diese kritische Einstellung der Kinder spiegelte die beständige Übung wider, eigene Meinungen zu äußern, und zeigt, daß es einen Rahmen gab, in dem diese Äußerungen durch Erwachsene wahrgenommen wurden. Während die Kinder über andere Kinder sprachen, die sich vor den Schlumpfpuppen fürchteten, und sie verspotteten, tauchte auch das Thema der eigenen Ängste der Kinder auf. Daniel, ein von der Gruppe geschätzter Junge, erzählte, daß er ab und zu im Dunkeln Angst hatte, obgleich nicht vor Schlumpfpuppen. Daniel: Yo a veces en las noches, cuando está todo obscuro que mi papá ya se fue a dormir y que está todo, todo obscuro, a veces me da miedo, ¿no?. Pero yo no tengo pitufos, o sea me da miedo nada más así. Ab und zu habe ich nachts, wenn alles ganz dunkel ist und mein Papa bereits schlafen gegangen ist und wenn alles, alles dunkel ist, dann habe ich manchmal Angst, nicht wahr? Aber ich habe keine Schlümpfe, d.h., ich bekomme bloß Angst.

Abraham: Pues sí, es natural. Aber ja doch, das ist normal. Dieses Gespräch verdeutlicht, welche Ängste als normal galten und in der Gruppe ernsthaft angesprochen werden konnten und welche die Spottlust weckten. Auch ließ sich während des Interviews der Respekt und die Vorsicht erahnen, die allen Kindern die Figur des Teufels einflößte. Dabei muß aber unterschieden werden zwischen diesem Respekt der Kinder der Schule Peterson und der Glaubwürdigkeit, die die Kinder der Schule Benito Juárez der Version vom dämonischen und teuflischen Schlupf beigemessen hatten. In der Schule Peterson wurde der Anführer Abraham korrigiert, als er die Idee einer möglichen Existenz teuflischer Schlumpfpuppen aufbrachte. Dies wurde von den anderen als nicht glaubwürdig angesehen und brachte schließlich Abraham selbst dazu, diese Art von Glauben zu verspotten. Bei der an die Kinder gerichteten Frage, ob Erwachsene ihres Umkreises von den Gerüchten wüßten, wurde zugleich die in diesem kulturellen Umfeld bestehende

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Verpflichtung zu einem guten Verhältnis zwischen Mutter und Kindern aufgezeigt: Man muß der Mutter alles erzählen. Daniel: Pues mi mamá, las historias que yo oigo pues se las cuento, pero sabe que yo no creo y ella tampoco cree. Und dann meine Mutter, die Geschichten, die ich höre, erzähle ich ihr dann, aber sie weiß, daß ich nicht daran glaube und sie glaubt auch nicht daran.

Im Verlaufe der Befragung entstand eine Situation, die aufzeigte, was in diesem kulturellen Umfeld als Schimpfwort galt und wer solche Wörter, wenn überhaupt, aussprechen durfte. Ein Mädchen erwähnte, daß in der Stadt auf einigen Wänden geschrieben stand: "cosas de pitufos" und "un chorro de palabras malas". Auch als ich nachhakte, weigerte es sich, diese Worte zu nennen. Erst nach weiterem Drängen meinerseits und anderer Kindern wagte das Mädchen, diese Abraham mitzuteilen, damit er sie aussprach: Abraham: Ah, que decían putos y quien sabe qué. Ach, da stand Hurensohn und wer weiß was sonst noch.

Offenkundig durfte das Wort "Hurensohn" in einem Umfeld wie diesem nicht benutzt werden, schon gar nicht durch ein Mädchen. Die Schrift auf den Fassaden, von der das Mädchen sprach, stand möglicherweise in Zusammenhang mit einer Bande Jugendlicher, die sich Los Pitufos nannte. Sie könnte sich allerdings auch auf die Polizei bezogen haben, die zu dieser Zeit blaue Uniformen trug und deshalb den Spitznamen "pitufos" bekommen hatte.

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Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschule: Detektive gegen Abergläubische

Nach der Analyse des Gruppeninterviews in der vierten Klasse der Schule Peterson wird jetzt die Gruppenbefragung in der sechsten Klasse derselben Schule behandelt. Dies wird einen Vergleich beider Klassen ermöglichen, zur Feststellung einiger Regelmäßigkeiten der mündlichen Kultur dieses Wohnviertels im Süden von Mexiko-Stadt. Diese sechste Klasse war eine kleinere Gruppe als in der Schule Benito Juárez. Anders als dort stellten sich einige der Kinder vor, andere wurden im Verlauf der Befragung namentlich angesprochen. Deswegen konnten viele der Zitate mit Namen der Kinder versehen werden. Zunächst werden die Versionen des Gerüchtes dargelegt, die die Kinder im Rahmen der Gruppenbefragung der sechsten Klasse der Grundschule der Schule Peterson mitteilten, zusammen mit den damit verbundenen speziellen Assoziationen der Kinder und der Gruppendynamik.

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6.4.1 Die den Kindern bekannten Versionen Im Verlauf der ungefähr eine Viertelstunde dauernden Befragung erzählten die Kinder 10 Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe. Sechs davon handelten von Schlumpfpuppen, die Kinder mordeten durch Beißen oder Nagen, Erzählungen, die den schriftlichen Versionen der Kinder dieser Klasse recht ähnlich waren. In der Hälfte der 10 Versionen wurde die Figur der Mutter in die Erzählung eingeflochten. Diese befand sich zu Hause und nahm von dem Jungen keine Notiz, sie glaubte ihm nicht und hielt ihn für verrückt. In einigen der Fälle ging die Mutter einfach weg und ließ das Kind allein. Die Untaten der Schlumpfpuppen geschahen zu Hause, und vor allem im Zimmer des Kindes. Ein Beispiel dieser Version erzählte Rafael. Rafael: Bueno yo me enteré de esto porque me lo platicaron varios amigos que lo vieron en Hoy Mismo. Bueno, este, el niflo, era hora de dormir y se fue a dormir y este, gritó a su mamá que este, que, que viniera, pero no le hizo caso. Entonces a la mañana siguiente apareció el niño con mordidas y pequeñas huellas ahí en el closet y ahí estaba el pitufo con sangre en la boca y ya. Nun, ich habe davon erfahren, weil einige Freunde, die es in Hoy M i s m o gesehen hatten, mir erzählt hatten. Nun, äh, der Junge, es war Zeit, ins Bett zu gehen und er ging ins Bett und äh, er rief seine Mutter, daß, äh, daß, daß sie kommen sollte, aber sie beachtete ihn nicht. Dann am nächsten Morgen hatte der Junge Bisse und kleine Kratzspuren dort im Wandschrank und dort war der Schlumpf mit Blut im Munde und das war es.

Die ersten Versionen wurden auf so distanzierte Weise erzählt, als hätte ich die Kinder gebeten, mir über den Geschichtsunterricht des vorherigen Tages zu berichten. Die Stimmen waren teilnahmslos und leise. Nach dieser Eingangsphase erzählte dagegen Mayra eine Version des Gerüchtes sehr energisch und voller Dramatik. Zum Schluß drückte sie ihre Meinung aus und versicherte, daß sie nicht daran glaubte. Mayra: Mira, a mí me dijeron que un niño tenía muchísimos pitufos, pero había uno preferido, ¿no?, entonces que un día le dijo a la mamá que el pitufo le estaba guiñando el ojo, pero la mamá no le creyó pues cómo iba a creer que el pitufo le estaba guiñando el ojo y así, varios días estuvo diciendo y la mamá le dijo: "mira para que no te preocupes voy a meter el pitufo al armario y lo metió en el locker", como esos Sieh mal, man hat mir erzählt, daß ein Junge sehr viele Schlümpfe hatte, aber einen davon mochte er besonders gern, nicht wahr? dann, eines Tages sagte er der Mama, daß der Schlumpf ihm zugezwinkert habe, aber die Mama glaubte ihm nicht, denn, wie könnte sie ihm glauben, daß der Schlumpf ihm zugezwinkert habe, und so, einige Tage sagte er dies immer wieder, und die Mama sagte zu ihm: "Sieh mal, damit du dir

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keine Sorgen machst, setze ich jetzt den Schlumpf in den Schrank, und sie setzte ihn in das Schließfach", so wie dieses

Dabei zeigte sie auf ein sich im Klassenzimmer befindendes Schließfach. Mayra: entonces metió al pitufo y el niño le seguía diciendo que el pitufo le guiñaba el ojo. Entonces la mamá le dijo: "Ay tú estás mal niflo, /.cómo crees?" y un día se durmió el niño y al otro día la mamá lo fue a despertar y ya no estaba el niño. Entonces fue a ver al armario para sacar el pitufo y encontró al niño en el armario, pero la verdad yo no creo nada. dann setzte sie den Schlumpf in das Schließfach, und der Junge sagte immer noch, daß der Schlumpf ihm zuzwinkerte. Dann sagte die Mama ihm: "Ach, da stimmt irgendetwas bei dir nicht! Wie kannst du das nur glauben?" und eines Tages schlief der Junge ein und am anderen Tag wollte die Mama den Jungen aufwecken, aber der Junge war nicht da. Dann schaute sie im Schrank nach, um den Schlumpf herauszunehmen, und fand den Jungen im Schrank, aber ehrlich gesagt, ich glaube nichts davon.

Die unterstrichenen Ausdrücke in diesem und den im folgenden wiedergegebenen Zitaten werden an späterer Stelle untersucht. Ab dieser Darlegung, die an die "habla fresa" der Kinder der vierten Klasse erinnert, wurden im weiteren Verlauf der Befragung Spekulationen und Überlegungen angestellt, wobei die Kinder ihre eigenen Interpretationen und Assoziationen einbrachten.

6.4.2 Die speziellen Versionen: Unter der Logik der Detektive Die Überlegungen folgten dem Grundton von Detektivsendungen. Die Kinder versetzten sich in die Rolle von Detektiven. In diesem Zusammenhang tauchten die Versionen vom Diebesschlumpf auf, vom mordenden Dienstmädchen und - wie vorher in der vierten Klasse - die vom Roboterschlumpf und die Verteidigung der Schlumpfpuppen.

6.4.2.1 Die Version vom Diebesschlumpf Als erstes fiel den Kindern der Dieb ein als an den Untaten Schuldiger. Daß als glaubwürdig galt, daß der Dieb der Schuldige war, stellte keinen Zufall dar, denn es gab viele lokale Geschichten über Einbrüche in Wohngegenden dieser gesellschaftlichen Gruppe. Interviewerin: ¿Qué dices? Was sagst du?

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Mädchen Nr. 2: No, no, nada. Nein, nein, nichts. Junge Nr. 1: yo, yo te digo. Dice ella que si no podría haber sido un ladrón que lo pudo ir a matar al niño y ponerle al pitufo sangre y echarle la culpa. Ich, ich sag es dir. Sie sagt, ob es nicht ein Dieb gewesen sein könnte, der das Kind umgebracht hatte und den Schlumpf blutig gemacht hatte, um ihm die Schuld zuzuschieben.

Junge Nr. 3: Alguien que les caiga mal los pitufos. Jemand, der die Schlümpfe nicht mag.

Interviewerin: Alguien a quien le caigan mal los pitufos, ¿dices? Jemand, der die Schlümpfe nicht mag, meinst du?

Mädchen Nr. 2: Para que ya no tengan éxito. Porque al principio, ya ves, estaban geniales y había estampas y pitufítos y de todo, entonc's capaz de que alguien ahora quiere ya deshacerse de ellos y ya que ya no sean tan conocidos. Damit sie keinen Erfolg mehr haben. Weil zu Beginn, Du weißt schon, wie wunderbar sie waren und es gab Bildchen und Schlümpfchen und alles das, dann will jemand sie höchstwahrscheinlich heute loswerden und nun, da sie nun nicht mehr so bekannt sind.

Junge Nr. 2: Pero eso ya sería más como de película. Aber das wäre eher wie aus einem Film. Junge Nr. 3: Bueno alguien que les esté haciendo la competencia, capaz. Bueno lo que yo pienso que es más lógico que sea eso, porque si es un ladrón o algo estando en muy, muy diferentes partes, algunos en Alemania, otros en, aquí en México. Son lugares muy lejos. Que un ladrón, ¿de dónde sacaría para estar yendo de aquí para allá nada más? Nun, jemand, der ihnen höchstwahrscheinlich Konkurrenz macht. Nun, was ich denke, ist, daß es logischer ist, daß es so ist, denn wenn es ein Dieb ist oder so etwas, das gleichzeitig in sehr, sehr unterschiedlichen Gegenden ist, einige in Deutschland, andere in, hier in Mexiko. Es sind weit entfernte Orte. Daß ein Dieb, w o kann er Geld hernehmen, um nur von hier nach dort zu gehen?

Mädchen Nr. 2: No pero nada más con que un pitufo mató a alguien, entonces ya nadie quiere a los pitufos. Nein, aber es langt, wenn ein Schlumpf jemanden umgebracht hat, dann mag niemand mehr die Schlümpfe.

Die Überlegungen der Kinder erinnern an Szenen und Dialoge von Scooby Doo, einer sich an Kinder wendenden Detektivsendung. In dieser Sendung spielten einige Jugendliche die Rolle von Detektiven, die Kriminalfälle aufklärten. Nicht selten handelte es sich um anscheinend irrationale oder übernatürliche Phänomene, in denen es den Jugendlichen gelang, die wahren rationalen Ursachen der Delikte zu entdecken. Die Sendung lief unter dem Namen des die Jugendlichen

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begleitenden Hundes. Dieser Hund und einer der Jugendlichen wurden als ängstlich dargestellt, hatten aber viel Glück, wogegen die anderen drei Jugendlichen furchtlos und sehr intelligent waren. Die Sendung endete meistens mit der Erklärung der klugen Jugendlichen der Polizei gegenüber, auf welche Weise sie den Schuldigen entdeckt und den Fall gelöst hatten. Diese detektivische Interpretationslogik ließ sich auch anhand des von Mädchen Nr. 2 geschriebenen Textes ersehen, der im Unterpunkt 2 angeführt wurde. In diesem Text argumentierte das Mädchen mit der Notwendigkeit, die Ermordung eines Kindes sowie anderer möglicher Opfer zu untersuchen, um den Schuldigen zu finden und die Schlümpfe für unschuldig zu erklären. Auch der Junge Nr. 6 benutzte Kriminaljargon: "las evidencias del asesinato", die Indizien des Mordes, womit die blutbeschmierten Schlumpfpuppen gemeint waren. Die zuvor angeführten Äußerungen der Kinder verdeutlichten, daß sie die Vorfalle keineswegs für übernatürliche Phänome hielten, bei denen leblose Gegenstände lebendig werden könnten. Sie waren der Ansicht, es wäre für das Verständnis des Gerüchtes notwendig zu denken und "la lógica" zu gebrauchen. Die Logik bestand darin, das scheinbare Phänomen zu bezweifeln und die verschiedenen in der Diskussion vorgestellten Hypothesen einer Prüfung zu unterziehen.

6.4.2.2 Die Version vom Roboterschlumpf und die Verteidigung der Schlumpfpuppen An einer anderen Stelle der Befragung drehten sich die Überlegungen der Gruppe im Kreis. Dabei entstand die Version des ferngesteuerten Schlumpfs. Junge Nr. 2: Yo creo que no tarda el E.T. 2 en comerse a alguien porque es muy popular y yo creo que de seguro lo van a querer hundir y van a matar a alguien, a un niflo, y así lo matan, luego le hacen como mordisqueadas y luego la sangre se la embarran a los pitufos y luego los ponen en un closet y entonces crean que los pitufos fueron. Pobres, pus, un pitufito, ¿qué va a hacer? Ich glaube, daß E.T. bald jemand essen wird, weil er sehr beliebt ist und ich glaube, sie wollen ihn sicher untergehen lassen und sie werden jemanden umbringen, ein Kind, und so bringen sie es um, dann machen sie, als ob es gebissen worden wäre, und dann schmieren sie das Blut auf die Schlümpfe und dann stecken sie sie in einen Wandschrank, damit geglaubt wird, daß es die Schlümpfe waren. Die Armen, ach, ein Schlümpfchen, was kann es anstellen?

Trini: O la imaginación del niño. Oder die bloße Einbildung eines Kindes.

E.T. war eine Modepuppe aus einem Film desselben Namens des Regisseurs Steven Spielberg. Die Kinder der Schule Peterson sprachen den Namen auf Englisch aus.

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Rodrigo: También puede ser que, también alguien que le paguen que vaya caminando los pitufos a control remoto y que hagan que mordisqueen a los niños, pero sería muy caro. Es kann auch sein, daß auch jemand, der dafür bezahlt wird, daß er die Schlümpfe per Fernbedienung steuert und zum Laufen bringt, daß sie die Kinder beißen müssen, aber das dürfte sehr teuer sein.

Rafael: No porque no encuentran, este, los pitufos, pus yo creo que los abren cuando se encontraron con todo el niño así. Yo creo que lo abrieron y yo creo, hubieran encontrado algo electrónico. Nein, weil sie nicht treffen, äh, die Schlümpfe, doch ich glaube, daß man sie öffnet, als man sie mit dem ganzen Kind traf. Ich glaube, daß sie es geöffnet haben und ich glaube, daß sie etwas Elektronisches gefunden hätten.

Trini: Pero saldría muy caro porque te imaginas todos los pitufos a control remoto y aparte venderlos a un mismo precio, o sea, no serían tan tontos los productores como para dar las cosas así. Aber das würde recht teuer werden, weil, stell dir vor, wenn alle Schlümpfe eine Fernsteuerung hätten, und sie außerdem noch zum selben Preis verkauft werden müßten, d.h., die Hersteller wären doch nicht so blöd, um die Sachen so zu geben.

Obwohl diese Version schließlich verworfen wurde, weil die Kinder der Ansicht waren, eine Fernsteuerung sei zu teuer, wird hierdurch die Konzeption einer möglichen technologisierten Welt aufgezeigt mit kommerziellen Auseinandersetzungen zwischen Spielzeugherstellem. Eine so beschriebene technologisierte Welt erinnert u.a. an US-amerikanische Sendungen über Superhelden wie Batman und Robirt sowie Superman, in denen aus der Technik eine Schau gemacht wird. Geläufige Elemente stellen hierbei Roboter und durch Fernsteuerung gelenkte technische Waffen dar. Die Erörterung der Versionen vom Roboterschlumpf und vom Diebesschlumpf wurden im Verlauf der Befragung mit einer Verteidigung der Schlumpfpuppen vermischt, wie sie auch im Interview mit der vierten Klasse erfolgte. Die Idee eines oder mehrerer Morde von Kindern wurde nicht bezweifelt, wohl aber, daß die Schlumpfpuppen die Mörder gewesen sein könnten. Den Kindern zufolge erschien es glaubwürdig, daß hinter dem Mord der Kinder Personen stünden, die die Puppen in die Angelegenheit hineinzuziehen wünschten. Auch kommerzielle Motive könnten hierfiir sprechen. Die klitzekleinen "pitufitos" mit ihren hübschen Gesichtern ließen sie als unvereinbar mit der Vorstellung von böswilligen Wesen erscheinen. Mädchen Nr. 3: Ay, pero ¿cómo van a poder unos pitufitos matar a gente que? Ach, aber wie können einige Schlümpfchen dazu kommen, Leute umzubringen?

Junge Nr. 3: Unos pobres suspiritos azules. Einige arme blaue Träumchen.

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Auch Mayra gab zu verstehen, daß sie nicht glaubte, daß Schlümpfe Kinder umbrächten. Mayra: porque si no yo estaría muerta... Ay con tantos pitufos en mi casa, yo ya no existiría si fueran malos. Grandes y de todos tamaños, 46 compraron mis hermanos. No estaría viva. denn, wenn es so wäre, dann wäre ich tot... Ach, mit so vielen Schlümpfen zu Hause, ich würde schon nicht mehr da sein, wenn sie böse wären. Große und in allen Größen, 46 Stück haben meine Geschwister gekauft. Ich würde nicht mehr leben.

In dieser Klasse wurden, anders als in der vierten, die Fernsehsendungen über die Schlümpfe mit keinem Satz erwähnt, weder kritisiert noch gelobt. Die Kinder griffen lediglich den Gedanken auf, daß die Figuren gut und klein waren sowie den Ausdruck Gargamels, der sie, wie gesagt, "suspiritos azules" nannte.

6.4.2.3 Die Version vom mordenden Dienstmädchen und durch Dienstmädchen erzählte lokale Geschichten über Puppen Als die Kinder sich mit den Schlumpfpuppen identifizierten, entstand auch die Version vom mordenden Dienstmädchen, das ein Kind umzubringen und einer Schlumpfpuppe die Schuld zuzuweisen fähig ist. Junge Nr. 3: Tal vez hayan sido las sirvientas de una casa las que mataron al niño. Vielleicht waren es auch die Dienstmädchen eines Hauses gewesen, die den Jungen umgebracht haben.

Junge Nr. 4: Y ellas mismas pusieron al pobre muñequito. Und sie selbst stellten das arme Püppchen hin.

Trini: Sí, pobres suspiritos azules. Ja, arme blaue Träumchen.

Den Hintergrund dieser Version bildete die Tatsache, daß viele lokale Geschichten über Dienstmädchen für Unterhaltung in den Familien sorgten, die sich eine Hausangestellte leisten konnten. In diesen Erzählungen wurde von allerlei tatsächlichen und eingebildeten Übeltaten gesprochen, zu denen Hausangestellte fähig sind. Offensichtlich gab es in diesen Kreisen weniger häufig Geschichten, die sich mit den Aggressionen und dem Unrecht befaßten, dem die Hausangestellten ausgesetzt waren. Die besagten Erzählungen waren Ausdruck der Ambivalenz den Dienstmädchen gegenüber. Einerseits wurde anerkannt, daß man sie brauchte, da ihre Anwesenheit den Familien den Genuß einer gewissen Bequemlichkeit ermöglichte sowie eine flexiblere Organisation und Zeiteinteilung. Andererseits herrschte ihnen gegenüber ein gewisses Mißtrauen, nahmen sie doch an der Vertrautheit des

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Alltagslebens im Hause der Familien teil, denen sie nicht angehörten. Auch stammten sie aus anderen sozialen Schichten oder kulturellen Umfeldern und hatten andere Gebräuche, die im allgemeinen von ihren Arbeitgebern nicht respektiert wurden. Von Bedeutung ist außerdem, daß die Hausangestellten üblicherweise die Kinder beaufsichtigen mußten, wenn die Mutter wegging oder sich nicht mit den Kindern beschäftigen konnte oder wollte. In Mexiko ist es im allgemeinen Aufgabe der Mutter, auf die Kinder aufzupassen und sie zu erziehen, unabhängig davon, ob sie berufstätig ist oder nicht. Die Teilung dieser Verantwortung mit dem Vater ist vom kulturellen Umfeld abhängig sowie von vielen speziellen gesellschaftlichen und psychologischen Faktoren. In diesem Zusammenhang verdient eine von der argentinischen Psychoanalytikerin Langer durchgeführte sozialpsychologische Untersuchung eines Gerüchtes der Erwähnung, das sich in vielen Variationen in "aristokratischen" Kreisen von Buenos Aires verbreitete. Dieses Gerücht handelte von einer Hausangestellten, die das Kind, auf das sie aufpassen sollte, umbrachte, es kochte und seinen Eltern als exklusive Speise vorsetzte. In dieser Analyse geht die Autorin nicht nur auf die Gefühle des Mißtrauens gegenüber den Hausangestellten ein, sondern behandelt auch den sozialen Prozeß des Machtverlusts der argentinischen Aristokratie während der ersten Regierungsperiode Peróns, der Zeit, in der dieses Gerücht aufkam (Langer, 1957). Dieser Typ des gegen Hausangestellte gerichteten Gerüchts trat früher auch in Mexiko auf. Er drückt ein andauerndes Gefühl des Mißtrauens der Privilegierten gegenüber ihren Untergebenen aus. Trotz der Kritik der Kinder an dem Gerücht über die Schlümpfe und ähnlichen Erzählungen trugen sie selbst gegen Ende der Befragung einige Geschichten vor über sich nachts bewegende Puppen, mit denen sie vertraut waren. Diese Geschichten schienen ihnen viel Spaß zu bereiten, obgleich sie stets am Schluß Wert auf die Feststellung legten, daß sie nichts davon glauben würden. Dies deutete darauf hin, daß die Kinder zwischen dem Vergnügen des Erzählens und der Pflicht, sie ablehnen zu müssen, schwankten. Ivonne: No yo la verdad no creo, o sea, dicen que también los muñecos cambian de lugar y luego hablan y quién sabe qué, nada más para asustarte. Nein, ehrlich gesagt, glaube ich das nicht, d.h., man sagt, daß auch die Puppen den Ort wechseln und dann reden, und wer weiß was, alles bloß, um dir Angst einzujagen.

Trini: Tú tienes los muñecos en un lugar y fíjate bien donde los dejas ¿eh? porque a las doce si vas se están moviendo y están hablando y carcajéandose, o sea, pero hay gente que sí los ha visto, aunque yo no creo.

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Du hast die Puppen an einer Stelle und stell genau fest, wo du sie läßt, nicht? Weil um zwölf, wenn du hingehst, bewegen sie sich und reden und lachen schallend, d.h., aber es gibt Leute, die das gesehen haben, obwohl ich das nicht glaube.

Die Kinder äußerten ein reges Interesse daran, daß ein Mädchen mir seine Erzählung über eine Puppe vortrüge. Als die Kinder sie hierzu fast nötigten, erzählte das Mädchen die Geschichte. Mädchen Nr. 4: Ah, sí me contó mi muchacha 3 que una niña tenía una muñeca, entonces ésta, siempre, siempre le quitaba todo lo de su hermano chiquito para dárselo a la muñeca. Entonces agarraba y les decía: "¡Come!, ¡come!" y la muñeca le dijo: "No porque no tengo dientes." La niña se quedó traumada, bueno según esto. Ach, tatsächlich hat mein Dienstmädchen mir erzählt, daß ein Mädchen eine Puppe hatte, und daß dieses immer, immer alles seinem kleinen Bruder wegnahm, um es der Puppe zu geben. Dann packte es die Puppe und sagte: "Iß, iß" und die Puppe sagte ihr: "Nein, denn ich habe keine Zähne." Das Mädchen bekam ein Trauma, nun gut, demzufolge.

Die Kinder verspürten offensichtlich das Bedürfnis, sich nicht nur von denjenigen, die an das Gerücht über die Schlümpfe glaubten, abzugrenzen, sondern auch von denjenigen, die solche Geschichten über Puppen fiir wahr hielten. Anhand von Äußerungen der Kinder ließen sich die an solche Erzählungen Glaubenden auch näher charakterisieren. Rodrigo: Una prima se enteró de la noticia y ella es muy temerosa, ¿no? Cree mucho en las supersticiones y ya regaló a sus pitufos. Eine Cousine erfuhr von der Nachricht und sie ist sehr ängstlich, nicht? Sie ist sehr abergläubisch und sie hat bereits ihre Schlümpfe verschenkt.

Unmittelbar hiernach stellte ich die Frage, ob die Kinder Erwachsene kannten, die an das Gerücht glaubten. Dies verneinten sie einhellig. Außerdem wurde hinzugefugt, daß dies entweder "adultos sin imaginación" sein müßten oder aber Dienstmädchen. Es ließ sich somit feststellen, daß den Kindern zufolge nur Dienstmädchen, phantasielose, ängstliche oder abergläubische Leute an das Gerücht glauben konnten. Von solchen Personen wollten sie sich abgrenzen. Gleichwohl fällten die Kinder das Urteil über die an das Gerücht Glaubenden in einer weniger schroffen Art und Weise als die Kinder der vierten Klasse. Deshalb erlaubten sie sich auch das Vergnügen, die von Dienstmädchen gehörten Geschichten über sich bewegende und sprechende Puppen zu erzählen. Obschon sie betonten, nicht an diese Geschichten zu glauben, forderten sie doch ihre Klassenkameraden auf, solche zu erzählen. Ein Grund hierfür könnte sein, daß der von den Kindern im Verlauf der Befragung aufgebaute Rahmen dem eines Zeltlagers ähnlich war, wie es die Kinder erwähnten. Im Zeltlager wurden üblicherweise

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Das Wort "muchacha" stellt in Mexiko ein Synonym für "Hausangestellte" dar.

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Gespenstergeschichten und Legenden erzählt, ohne daß die Kinder befürchten mußten, durch ihre Klassenkameraden als schwachsinnig eingeschätzt zu werden, wie dies in ihrer gewohnten Umgebung der Fall wäre.

6.4.3 Gleichgültige, zweiflerische, spöttische Tonfälle und "habla fresa" Drei Arten von Tonfällen kennzeichneten die Äußerungen der Kinder und verliehen ihnen eine spezielle Bedeutung. Vor allem zu Beginn der Befragung war ein distanzierter und völlig gleichgültiger Tonfall festzustellen. Als die Kinder ihre eigenen Versionen über das Gerücht aufbauten und sich gemeinsam Gedanken machten über die möglichen Schuldigen an den Kindermorden, kam ein zugleich ernster und vor allem zweiflerischer Tonfall auf. Der dritte Tonfall schließlich ist derjenige des Spottes, Scherzes und Vergnügens, der die Verteidigung der Schlümpfe und die Erzählungen über die sich nachts bewegenden Puppen durchdrang. Dabei läßt sich feststellen, daß sowohl der erste als auch der dritte Tonfall den Eindruck vermittelten, daß die Kinder sich gegenüber der behandelten Thematik erhaben vorkamen. Die im Interview der vierten Klasse vorherrschende Sprechweise der "habla fresa" war auch während dieser Befragung zu beobachten, und zwar durchgängig bei Mayra, einmal bei Trini und an verschiedenen Stellen bei Ivonne und Rafael. Gleichwohl führte dies nicht generell zu einer arroganten und anmaßenden Einstellung der Kinder. Vielmehr diente die Verwendung der "habla fresa" in einigen Teilen des Interviews den Kindern dazu, den Abstand gegenüber der angesprochenen Thematik auszudrücken und das Empfinden zu vermitteln, weit darüber zu stehen. In den Passagen der genannten Kinder war die wiederholte Verwendung einiger von den Kindern alltäglich gebrauchten Termini der "habla fresa" anzutreffen, wie das "o sea", das "¿no?" mit entsprechender Intonation. Im Vergleich zur vierten Klasse nahm jedoch die "habla fresa" in der sechsten eine eher nuancierte und abgemilderte Form an. Die Mischung aus gleichgültigen und spöttischen Tonfällen sowie die Verwendung der "habla fresa" waren Zeichen einer distanzierten Haltung der Kinder gegenüber dem Inhalt des Gerüchts.

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6.4.4 Die Gruppendynamik Die Befragung erfreute sich einer regen Beteiligung durch alle Kinder. Während die ersten Versionen des Gerüchts erzählt wurden und als gemeinsam Überlegungen angestellt wurden, verlief die Befragung in recht geordneten Bahnen. Die Kinder hörten einander zu und äußerten sich eines nach dem anderen. Gegen Ende der Befragung lockerte sich die Stimmung auf. Die Kinder bemühten sich nicht mehr darum, die Formen des Interviews einzuhalten, so daß sie beim Erzählen der Geschichten über die Puppen gleichzeitig redeten. Das typische Interaktionsschema eines Interviews mit Frage und Antwort dauerte während dieser Befragung nur wenige Minuten, als die Kinder sich darauf beschränkten, die ersten vier Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe kurz und bündig zu erzählen, wobei sie die Rolle von Informanten einnahmen. Die Lage wandelte sich, als die Kinder die Gerüchteversionen vom Diebesschlumpf, vom Roboterschlumpf, vom mordenden Dienstmädchen und die Erzählungen über die sich nachts bewegenden Puppen diskutierten. Die größere Interaktion zwischen den Kindern ermöglichte, meine Person als Koordinatorin und Interviewerin auszublenden, so daß die Kinder den weiteren Verlauf des Interviews bestimmten. Insgesamt herrschte in der Gruppe eine harmonische Atmosphäre. Es gab keine Konflikte zwischen Jungen und Mädchen. Niemand spielte sich als Gruppenführer auf, obgleich einige Kinder auffielen, sei es aufgrund der Anzahl ihrer Darlegungen wie etwa Mayra, sei es aufgrund der durch ihre Äußerungen hervorgerufenen Reaktionen, wie etwa Alejandra. Mayra stellte das energische, kritische und etwas arrogante Mädchen dar. Alejandra repräsentierte das leichtgläubige und ängstliche Mädchen. Sie beteiligte sich nur einmal an der Befragung, nachdem Mayra eine Version des Gerüchtes über die Schlümpfe voller Dramatik erzählt hatte, bei der die Mutter den Jungen im Schrank gefunden hatte. Weil Mayra nicht sagte, ob er tot war, fragte Alejandra sofort: Alejandra (mit bebender Stimme, erschreckt): ¿Cómo lo encontró? Wie fand sie ihn?

Mayra (mit ernster Stimme): Muerto. Tot.

Alejandra (mit bebender Stimme): ¿Cómo muerto? Wie, tot?

Dabei erhob sich ein Gelächter der anderen Kinder. Mayra (ernst und sicher): ¡Ay Alejandra!, pues metido en el armario con el pitufo en el hombro. Ach, Alejandra! nun, in den Schrank gesteckt mit dem Schlumpf auf der Schulter.

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Nach dieser Darlegung äußerte sich Alejandra nicht mehr und begnügte sich für den Rest des Interviews mit der Rolle einer Zuhörerin. Die ängstliche Reaktion von Alejandra fiel auf, da in diesem kulturellen Umfeld ein solches Verhalten unüblich war. Deshalb reagierten Mayra und die anderen Kinder mit Spott. Sie sahen Alejandra die Leichtgläubigkeit und Furcht nicht nach. Dieser Zwischenfall zeigte die Grenzen des Bereichs des Glaubwürdigen der Kinder auf und die Bandbreite von toleriertem und nicht toleriertem Verhalten. An einer Stelle der Befragung versuchten die Kinder, die Spielregeln zu ändern und mich in die Rolle der Befragten zu versetzen. Trini fragte, ob ich und die Assistentin an das Gerücht glaubten, worauf ich ihr die Frage zurückgab: Trini: ¿Ustedes creen? Glaubt ihr das?

Interviewerin: ¿Qué creen? Was glaubt ihr?

Mädchen Nr. 6: ¿Qué si tú crees en eso? Ob du daran glaubst? Junge Nr. 4: ¿Qué piensan de lo que cuentan? Was haltet ihr von dem, was man erzählt?

Interviewerin: ¿qué creen, que creemos o que no creemos? Was glaubt ihr? Ob wir glauben oder nicht?

Mayra: Yo no creo porque si no estaría muerta. Ich glaube nicht, denn, wenn es so wäre, dann wäre ich tot.

Diese Frage, die mir Trini kurz darauf erneut stellte und die ich wiederum nicht beantwortete, um den Diskussionsprozeß nicht zu beeinflussen, belegte nicht nur die Neugier der Kinder, sondern auch ihre Haltung mir sowie Erwachsenen im allgemeinen gegenüber. Demzufolge hatten sie das Recht, von den Erwachsenen Klarheit zu verlangen und ihnen ihre Fragen zu stellen. Sie waren es gewohnt, mit Erwachsenen zu diskutieren. Sie sprachen sie, wie bereits im Interview der vierten Klasse erwähnt, mit "tú" an, was Ausdruck einer eher auf gleicher Ebene stattfindenden Kommunikation war. An einer anderen Stelle versetzte sich Mayra in eine mir überlegene Position, hob durch ihren Tonfall hervor, daß sie mir die Gunst erwies, mir Informationen zukommen zu lassen. Sie benutzte dabei einige Ausdrücke der "habla fresa", um zu unterstreichen, daß sie über Gerüchte über die Schlümpfe erhaben sei. Ein Verhalten zwischen Gleichen war für die Kinder dieser gesellschaftlichen Gruppe gegenüber Erwachsenen üblich. Es ließ sich auch bei meiner Frage beob-

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achten, ob die Kinder von Erwachsenen wüßten, die das Gerücht kannten. Einer der Jungen antwortete: Rafael: Pues esta Elsa Cabrera. Nun, die Elsa Cabrera. Interviewerin: ¿Quién es? Wer ist sie? Rafael: La mamá de un amigo. Die Mama eines Freundes. Interviewerin: Y ella sabe, pero ¿qué piensa de eso? Und sie kennt es, aber, was denkt sie darüber?

Rafael: Nada y que no es cierto. Nichts, und daß es nicht stimmt.

Junge Nr. 4 (lachend): Que están todos locos. Sie sagt, daß alle verrückt sind.

6.4.5 Zur Definition des Rahmens der Befragung Obgleich eine explizite Definition der Befragung fehlte, so gab es doch bestimmte Schlüsseldarlegungen, die eine Richtschnur zur Art und Weise abgaben, wie diese im Verlauf der Befragung umdefiniert wurde. Wie erwähnt, erzählten die Kinder anfangs kurz und bündig einige Versionen des Gerüchts, ohne ihre Meinung hierüber zu äußern. Dieser Teil ließ sich wie der Bericht einer Klasse auffassen oder der Rahmen eines Nachrichtenblattes ohne Leitartikel. Dieser Rahmen änderte sich jedoch ab der Darlegung Mayras. Sie genoß das Erzählen einer Version des Gerüchts und äußerte ihre Meinung, indem sie sich gegen die Glaubwürdigkeit des Geschilderten aussprach. Die anderen Kinder fingen eine Diskussion untereinander an über den oder die eigentlich Schuldigen an den Kindermorden. Der Rahmen der Befragung wurde dadurch umdefiniert in einen Raum des Nachdenkens, der gemeinsamen Spekulation, innerhalb dessen die Kinder sich in Detektive verwandelten, die die Unbekannten entdecken mußten. In ihren Überlegungen tauchten verschiedene mögliche Schuldige auf: ein Dieb, die Konkurrenten von Schlumpfprodukten, eine ferngesteuerte Schlumpfpuppe. Am Ende des Interviews wandelte sich der Rahmen der Befragung erneut. Die Abkehr von den Detektiven und der gemeinsamen Überlegung führte zu einer Sitzung über Erzählungen von sich nachts bewegenden Puppen. Dies erinnerte an eine Sitzung über Gespenstergeschichten und Legenden, die diesen Kindern

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ersichtlich Vergnügen bereitete, obgleich dies nicht ihrer Ordnung von Glaubwürdigkeit entsprach.

6.4.6 Die angeführten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente Weil die Kinder die meiste Zeit der Befragung dazu verwendeten, über mögliche Schuldige an den Kindesmorden zu spekulieren und sich zur Unglaubwürdigkeit des Gerüchtes über die Schlümpfe zu äußern, versuchten sie kaum, ihre Diskurse durch die Stimmen anderer oder durch geschriebene und audiovisuelle Quellen zu begründen. Unter den wenigen von den Kindern angeführten Informationsquellen fanden sich vor allem mündliche Quellen wie nicht namentlich genannte Kinder, die "muchacha" oder Hausangestellte. Als Ort, an dem die Kinder Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe gehört hatten, wurde das Ferienlager viermal erwähnt. Da die Versionen des Gerüchts keine Glaubwürdigkeit besaßen, genossen auch die angeführten Informationsquellen, wie z.B. die Hausangestellte, kein besonderes Ansehen. So fügte das Mädchen, das die Geschichte des Dienstmädchens wiedergab, zum Schluß der Erzählung den Ausdruck hinzu: "según esto", was der Sprecherin die Möglichkeit gab, die Distanz zur Erzählenden zu unterstreichen. Als audiovisuelle Quelle wurde Hoy Mismo zitiert. Filme galten diesen Kindern als Quellen, denen man nicht allzuviel Glauben schenken dürfe, da sie unsinnige Vorstellungen anregen würden. Junge Nr. 2: También en algunas películas pasa que los muñecos se mueven y matan y después la gente quiere creerlo y pues lo ve. Auch geschieht es in einigen Filmen, daß die Puppen sich bewegen und umbringen und danach wollen die Leute das glauben und dann sehen sie es in der Wirklichkeit.

Mädchen Nr. 1: Eso es lo mismo con los pitufos. Das ist bei den Schlümpfen genauso. Von den Kindern wurde keine einzige schriftliche Quelle erwähnt. Möglicherweise sahen sie keinen Sinn darin, ein Gerücht, das von ihnen als unglaubwürdig eingestuft wurde, mittels hohes Ansehen genießender schriftlicher Quellen zu untermauern. Deshalb empfanden sie nicht die Notwendigkeit, wie die Kinder der vierten Klasse ihre Aussagen mit schriftlichen Quellen, notfalls auch mit erfundenen, zu belegen. Ihre Erzählungen führten die Kinder häufig mit Redewendungen ein wie: "bueno yo oí que", "yo me enteré que", "yo me enteré de esto", "yo la verdad no creo" und "yo creo que". Diese Ausdrücke legten mit "yo" und "me" die Betonung auf

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den Sprechenden. Dadurch wollten die Kinder hervorheben, daß sie gut informiert waren und Bescheid wußten. Gleichwohl fiel auch der Gebrauch von Ausdrücken auf, die an die anonyme und kollektive Stimme einer Gemeinschaft erinnerten, wie z.B. "A mí me lo contaron", "Mira, a mí me dijeron", "Bueno, pues a mí me contaron" oder "dicen que". Hierdurch unterstrichen die Kinder, daß sie das Erzählte nicht erfanden. Andere waren es, die ihnen das Gerücht erzählt hatten, und deshalb kannten sie es. In dieser Hinsicht war es auch völlig unwichtig, wer etwas gesagt hatte, da die Kinder diesen Darlegungen sowieso keine Glaubwürdigkeit beimaßen. Die Kinder verwendeten diese Ausdrücke nicht, um sich auf eine Gemeinschaft zu beziehen, der sie zugehörten und mit der sie sich identifizierten. Vielmehr wiesen diese Redewendungen auf eine Masse hin, von der sie sich abheben wollten. Diese Ausdrücke standen deshalb im Kontrast zu den oben erwähnten mit ihrem häufigen Gebrauch der ersten Person Singular, wodurch die Kinder ihre persönliche Position über das Gefragte zum Ausdruck brachten. Für die Kinder war bedeutsam, ihre Überlegungen und Meinungen zu den ihnen erzählten Geschichten zu äußern. Damit wollten sie die Idee vermitteln, Bescheid zu wissen und außerdem als nachdenkende Personen eingeschätzt zu werden. Demgegenüber war zweitrangig, was andere wußten, glaubten oder meinten.

6.4.7 Zur diskursiven Einordnung Die Kinder ordneten einige ihrer Erzählungen implizit ein. Eine Analyse ihrer Äußerungen ergab, daß die Kinder Gerüchte unter die Rubrik "Aberglaube" einreihten, als unsinnige Vorstellungen, die "adultos sin imaginación" und Dienstmädchen glaubten. Der Diskurs der Kinder stand im direkten Gegensatz hierzu, denn sie waren die logisch Denkenden. Im Hinblick auf Filme klang in verschiedenen Äußerungen der Kinder eine andere implizite Einordnung an. Filme galten als Fiktion und konnten nicht als Argument herangezogen werden. Sie standen im Gegensatz zu den eigenen Überlegungen und Gedanken der Kinder, die versuchten, sich auf "lo lógico" und das Reale zu stützen.

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6.4.8 Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und Alltagsleben der Kinder Die ersten von den Kindern erzählten Versionen des Gerüchtes führten in das Zimmer eines Hauses, in dem sich das Kind allein befand und durch Bisse umgebracht worden war. Wie in der vierten Klasse besaß jedes der Kinder ein eigenes Zimmer. Einige der Kinder besaßen größere Schlumpfsammlungen, wie z.B. 46 Schlumpfpuppen der Geschwister Mayras.

die

Andere von den Kindern in ihren Erzählungen erwähnte Orte waren die von ihnen besuchten privaten Clubs und das Zeltlager. Letzteres war offensichtlich der Ort, an dem die Kinder dieser Gruppe nachts ohne die Eltern zusammen sein konnten, um sich geheimnisvolle Geschichten einschließlich mexikanischer Legenden zu erzählen. Die Organisatoren der Zeltlager regen üblicherweise selbst Unterhaltungen beim Lagerfeuer an. Ein anderer von den Kindern erwähnter Ort war der Freizeitpark Reino Aventura mit seinen vielen mechanischen Spielen als Ausflugsziel am Wochenende oder in den Ferien. Man kann ihn als das Disneyland von Mexiko-Stadt ansehen. Angesichts der hohen Eintrittspreise sind hauptsächlich Familien der Mittel- und Oberschichten in der Lage, diesen Freizeitpark mit ihren Kindern zu besuchen. Der Informantin zufolge halten einige Kinder der Schule Peterson und ihre Eltern ihn für einen zweitrangigen Park, da sie bereits Disneyland, Orlando und andere Freizeitparks in den USA besuchten. In der Version des Gerüchtes dieser Gruppe ließ die Mutter das Kind zu Hause, um in den Supermarkt oder Selbstbedienungsladen zu gehen. Dies war für die Mittel- und Oberschichten der mexikanischen Gesellschaft kennzeichnend. In den Versionen des Gerüchts in der Schule Benito Juárez ging die Mutter zum Markt in der Nähe des Hauses. Dort bestand noch ein persönlicheres Verhältnis zwischen den "marchantas", der Käuferin und der Verkäuferin. Unter den Personen des Alltagslebens wurde die Hausangestellte recht häufig erwähnt. Sie war als Hauptperson einer Version des Gerüchts angeblich des Kindermords schuldig. Im Zusammenhang mit dieser Version wurde das den Angestellten gegenüber bestehende Mißtrauen bereits angesprochen. Die Hausangestellte konnte aber auch die Erzählerin von unglaubwürdigen Geschichten über sich bewegende Puppen sein. Bei fast allen von den Kindern erzählten Versionen des Gerüchtes kam die Figur der Mutter vor. Verschiedentlich wurde erwähnt, daß die Mutter den Jungen nicht beachtete, daß sie ihm nicht glaubte, denn sie eilte nicht zu seiner Rettung herbei, so daß er am folgenden Tag tot aufgefunden wurde.

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Auch in der sechsten Klasse der Schule Peterson bestand die Furcht vor dem Verlassensein durch die Mutter, wenn auch in abgeschwächter und weniger dramatischer Form als in der vierten Klasse der Schule Benito Juárez. Die fehlende Aufmerksamkeit der Mutter wurde in der Schule Peterson genauso betont wie in der sechsten Klasse der Schule Benito Juárez. Die nähere Untersuchung der Art und Weise, wie die Kinder der sechsten Klasse der Schule Peterson diese Geschichten erzählten, ergab zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen der Tatsache, daß die Mutter den Jungen nicht beachtete und ihm nicht glaubte. Mayra behauptete: "la mamá no le creyó, pues como le iba a creer que el pitufo le estaba guiñando el ojo...". Während der gesamten, bereits oben wiedergegebenen Erzählung vermittelte das Mädchen den Eindruck, sich mit der Figur der Mutter zu identifizieren. Ivonne erzählte auf andere Art eine Version des Gerüchts, die dann durch andere Kinder vervollständigt wurde. Ivonne: A mí me contaron en un campamento que estaba un niño jugando en su cuarto con unos pitufos y en eso que le empezaba a gritar a su mamá que los pitufos lo estaban a corretear alrededor y la mamá pues no le hacía caso porque decía que el niño era muy juguetón y le seguía gritando que después los pitufos se le encimaban y la mamá no le creía y después le empezó a gritar que los pitufos le estaban mordiendo y la mamá no le hizo caso y al rato que pues pasó al cuarto y lo vió muerto. Man hat mir in einem Zeltlager erzählt, daß ein Junge in seinem Zimmer mit einigen Schlümpfen spielte und dabei anfing, seiner Mama sehr laut zuzurufen, daß die Schlümpfe ihm hinterherliefen, und dann beachtete die Mama ihn nicht, weil sie sagte, daß der Junge sehr verspielt sei, und er schrie danach weiter, daß die Schlümpfe sich auf ihn stellten, und die Mama glaubte ihm nicht, und danach fing er zu schreien an, daß die Schlümpfe ihn beißen, und die Mama beachtete ihn nicht und als sie kurz darauf in das Zimmer kam, sah sie ihn tot.

Mädchen Nr. 4: Ninguna de las mamás creen. Die Mütter glauben niemals.

Rafael: Eso les pasa por no creer. Das geschieht ihnen recht, weil sie nicht glauben.

Die Äußerung Rafaels beinhaltete, daß eine sich nicht um ihr Kind kümmernde und ihm nicht glaubende Mutter die Strafe verdiente, daß ihr Kind umgebracht wird und sie von ihm verlassen wird. Das Opfer war bei dieser Version nicht nur das Kind, sondern auch die Mutter. Dies stellte eine latente Interpretation dieser Version des Gerüchts dar. Hierbei wurde ein Vorwurf gegen die Mutter erhoben, weil sie ihrem Jungen nicht glaubte. Die Kinder identifizierten sich mit dem umgebrachten Jungen. In

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der Darlegung von Mayra wurde dagegen nicht nur kein Vorwurf erhoben, sondern im Gegenteil die Haltung der Mutter geteilt. Die unterschiedlichen Formen, diese Version des Gerüchtes zu erzählen, und die damit verbundenen Identifikationen veranschaulichten, welchen Interpretationsspielraum das Gerücht in demselben kulturellen Umfeld aufweisen konnte.

6.4.9 Produktion und Austausch verschiedener Arten des Wissens während der Befragung Aufgrund einer Stimmung voller Ungläubigkeit gegenüber den verschiedenen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe wurden mehrmals im Verlauf der Befragung Empfehlungen ausgesprochen, daß die Kinder vor den Schlumpfpuppen keine Angst zu haben brauchten, vor den "pitufitos" oder den "pobres suspiritos azules". Das paßte nur zu Abergläubischen. Der Spott und die Kritik an Kindern, die Angst vor den Schlumpfpuppen hatten, wie z.B. Alejandra, diente zur Bekräftigung der Idee, man sollte solche Dinge nicht glauben, es wäre nur ein Zeichen von Dummheit. Die Empfehlung, keine Angst vor Schlumpfpuppen zu haben, wurde für alle Puppen verallgemeinert. Deshalb versetzten die Kinder sich in die Rolle ihrer Verteidiger. Es wurde offenkundig, welche Art von Glauben durch die Kinder toleriert wurde und welche nicht. Daß eine Puppe sich bewegen könnte, bildete einen Grund zum Lachen; daß sie einen Jungen umbringen könnte, war ganz und gar abwegig und deshalb unglaubwürdig. Daraus ergab sich die Empfehlung, die Kinder sollten sich vor Personen hüten, die dergleichen verbreiteten, bloß um die Kinder zu ängstigen. Im Verlauf der Befragung wurde mehrmals geraten, anstatt sich vor wehrlosen Puppen zu fürchten, sollte man eher gegenüber Personen vorsichtig sein, die Kinder umbrächten und dann versuchten, den Verdacht auf die Puppen zu lenken. Das bedeutete vor allem, vor Dieben vorsichtig zu sein, vor Puppen, die eine Fernbedienung eingebaut haben könnten, und vor Dienstmädchen. Vor jenen müßte man sich auch dann in acht nehmen, wenn sie unwahre Geschichten erzählten. Innerhalb der gemeinsamen Überlegungen über die Schuldigen an den Kindesmorden wurde implizit empfohlen, die Kinder sollten "la lögica" gebrauchen und ihre Hypothesen überprüfen. Vor der Macht der Einbildungskraft sollten die Kinder sich hüten. Andernfalls könnte dies dazu fuhren, an solche Geschichten wie das Gerücht über die Schlümpfe zu glauben.

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Im einzelnen wurde angeführt, daß Filme keine Richtschnur für logische Überlegungen abgeben dürften, da sie nur unsinnige Vorstellungen anregten. Es wurde davor gewarnt, auf Filme mit sich bewegenden Puppen zu vertrauen. Bei der Verteidigung der Schlumpfpuppen wurde auch eine bestimmte Ästhetik aufgegriffen, die bei den Überlegungen der Kinder ein gewisses Gewicht hatte: Etwas so Hübsches kann nicht schlecht sein. Trini: A mí se me hace que si los pitufos están tan bonitos, tienen una cara tan bonita, ¿cómo van a matar a alguien? Mir scheint es, daß, wenn die Schlümpfe so hübsch sind, so nette Gesichter haben, wie können sie jemanden umbringen?

Woran die Kinder glaubten oder was sie empfahlen, ist gleichwohl nicht frei von Doppeldeutigkeiten. Bei den zuvor erwähnten Geschichten der Mutter, die dem Jungen nicht glaubte, legte Mayra nahe, daß es richtig wäre, wenn die Mutter ihn nicht beachtete, wogegen andere Kinder vorbrachten, daß die Mutter deswegen Strafe verdient hätte.

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Die Ablehnung des Gerüchtes aus technologischen, rationalistischen und soziale Abgrenzung suchenden Prinzipien: einige Schlußfolgerungen

Nachdem die Ergebnisse der Analyse der an der Schule Peterson durchgeführten Befragungen dargelegt wurden, werden nun die Regelmäßigkeiten erläutert, die erlauben, von einer gemeinsamen mündlichen Kultur zu sprechen, zusammen mit den Unterschieden, die u.a. auf die spezifische kognitive Entwicklung der Kinder und auf bestimmte Situationen der Gruppendynamik verweisen.

6.5.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Befragungen Die fehlende Glaubwürdigkeit des Gerüchtes über die Schlümpfe in diesem kulturellen Umfeld förderte nicht die Produktion mündlicher Erzählungen. Deshalb waren die Befragungen kürzer als in den anderen untersuchten kulturellen Umfeldern. In der vierten Klasse dauerte sie 20, in der sechsten 15 Minuten. Jedoch erlaubten die Befragungen die Produktion lokaler mündlicher Erzählungen: in der vierten Klasse über den Einfluß des Fernsehens auf die Kinder, in der sechsten Klasse über Übeltaten von Dieben und Dienstmädchen. Beide Gruppen kannten mehrere Versionen des Gerüchtes. Sie betrachteten es als unglaubwürdig, daß ein Kind von einer Schlumpfpuppe getötet werden könnte. Gleichwohl gab es einzelne Kinder, die am Erzählen solcher Geschichten ein gewisses Vergnügen zu finden schienen, wie Juan Carlos in der vierten Klasse,

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oder aber diese Geschichten als nicht ganz so unglaubwürdig betrachteten und deshalb Angst hatten, wie Alejandra in der sechsten Klasse. Die Distanz, die die Kinder gegenüber dem Gerücht über die Schlümpfe empfanden, äußerte sich auf unterschiedliche Weise. Während das Gerücht in der vierten Klasse eine ausgeprägte Haltung der Verachtung gegenüber denjenigen hervorrief, die daran glaubten, wurde in der sechsten Klasse eine tolerantere Haltung eingenommen. Zugegeben wurde die Möglichkeit, daß einige Kinder umgebracht worden sein könnten, wenn auch nicht durch Schlumpfpuppen. Dies stand möglicherweise in Zusammenhang mit der unterschiedlichen Definition des Rahmens des Interviews. In der vierten Klasse geriet die Befragung zu einem Rahmen der Kritik und des Spottes an denjenigen, die das Gerücht für wahr hielten, sowie an den Kindersendungen im Fernsehen. Hingegen wurde die Befragung in der sechsten Klasse, obgleich Kritik und Spott nicht fehlten, definiert als ein Rahmen der gemeinsamen Information, des Meinungsaustausches und des Nachdenkens. Ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber dem Gerücht und den hieran Glaubenden prägte die Kinder der vierten Klasse. In der sechsten Klasse war dieses Gefühl der Überlegenheit nuancierter. Die Kinder der vierten Klasse versetzten sich in die Position des "nino-adulto", des kleinen Erwachsenen, der sich von anderen Kindern unterschied, die durch das Fernsehen verdorben waren. Durch sie hindurch sprach der dem Kind internalisierte Erwachsene dieses kulturellen Kontextes in seiner Einstellung zum Fernsehen. Diese kritische Haltung zeichnete die typische Pose dieser sozialen Gruppe auf. Deshalb wurde das Gerücht so stark verspottet. Deshalb unterstrichen die typischen Tonfälle der "habla fresa" die Verachtung der Personen, die an diese Art von Erzählungen glaubten. Deshalb bestand auch die äußerst stereotype Argumentationsart, wobei diese Kinder geschriebene Quellen zur Begründung ihrer Ausführungen erfanden. Die Kinder unterstrichen auf diese Weise, daß sie einer Gruppe von Leuten angehörten, die las und "historias ridiculas" wie diejenigen über mordende Schlumpfpuppen ablehnte. Sie zeigten damit, welches Prestige in diesem kulturellen Umfeld schriftliche Quellen und die Praxis des Lesens und Schreibens genossen. Sie zogen die Kriterien und Wertungen des Systems der Schriftproduktion heran. Deshalb gerieten mündliche und audiovisuelle Texte in Mißkredit, was einen signifikanten Teil des "lo que se debe decir" in diesem kulturellen Umfeld ausmachte. Die Tatsache, daß die Kinder behaupteten, Kinder sollten kein Fernsehen schauen, bedeutete keinesfalls, daß sie selbst nicht fernsahen. Wie erwähnt, verbrachten die Kinder dieser Schule, der Informantin zufolge, im Schnitt zwei bis drei

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Stunden täglich vor dem Fernsehgerät. Dabei sahen sie sicher auch die Sendungen über die Schlümpfe. In einer von mir 1983 geleiteten Untersuchung über die Fernsehrezeption informierten die Kinder der Schule Albatros, die aus dem gleichen kulturellen Kontext kamen wie die der Schule Peterson, daß eine ihrer Lieblingssendungen Los Pitufos wären. Trotz der Bitte, darüber zu sprechen, wollten sie nicht weiter davon reden. Als Grund gaben sie an, vom Gerücht über die Schlumpfpuppen gehört zu haben. Die Kinder der sechsten Klasse nahmen eine ähnliche Haltung wie die der vierten Klasse ein, jedoch mit wichtigen Nuancen. Die Kinder versetzten sich in die Rolle des jugendlichen Detektivs, der seine Kombinationsfähigkeit beweisen will, indem er Spuren aufdeckt und "la lógica" gebraucht. Auch sie vermittelten die Vorstellung, den an das Gerücht Glaubenden überlegen zu sein, jedoch durch Anwendung ihrer Kenntnisse und den Gebrauch von "la razón". Ihr Spott war abgemildert, ihre Haltung toleranter. Da die Kinder sich in die Lage eines Detektivs versetzten, konnten sie sich für das Phänomen interessieren und trotzdem eine gewisse Distanz einhalten. Sie verwarfen weder sofort das Gerücht noch die Möglichkeit eines oder mehrerer Kindesmorde. Vielmehr suchten sie nach glaubhaft Schuldigen. Dies erlaubte die Erzählung von Geschichten über Diebe und Dienstmädchen als Ausdruck ihrer sozialen Ängste, den Übeltaten dieser Personen ausgesetzt zu sein. Die tolerantere und nachdenklichere Haltung der Kinder der sechsten Klasse ist auch auf ihren weiter fortgeschrittenen kognitiven Prozeß zurückzufuhren, der die Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte ermöglicht und das Nachdenken fordert. Diese tolerantere und nachdenklichere Haltung war auch bei den Kindern der sechsten Klasse der Schule Benito Juárez festzustellen.

6.5.2 Technologische Determinismen im Denken der Kinder Bemerkenswert ist, daß in beiden Gruppen im Zusammenhang mit der diskursiven Verteidigung von Schlumpfpuppen die Version vom Roboterschlumpf entstand, jedoch nach Erörterung in der Gruppe verworfen wurde. In diesem kulturellen Umfeld war der Tatbestand, daß eine Puppe Leben erlangen und sich von alleine bewegen könnte, lediglich als ein Ergebnis menschlicher Technologie denkbar. Die Diskussion der Version vom Roboterschlumpf und die Kritik am Gerücht zeigte die Vision einer möglichen automatisierten Welt auf, "bajo control remoto", beherrscht von Wissenschaft und Technologie, die ihrerseits Produkte des

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menschlichen Geistes darstellen. Bei dieser Konzeption wird der Mensch als den Puppen überlegen betrachtet. Die Identifikation der Kinder beider Gruppen mit den Schlumpfpuppen und die Verteidigung der Puppen zeigte auf, daß die Kinder das hinter den meisten Versionen des Gerüchtes stehende animistische Denken nicht teilten, demzufolge das Kind von einer Schlumpfpuppe umgebracht wurde. Genau dieses animistische Denken forderte den Spott der Kinder der Schule Peterson heraus, sowohl in der vierten Klasse, als Fernando die erste Version des Gerüchtes erzählte, als auch in der sechsten Klasse beim Erzählen verschiedener Geschichten und Filme über sich nachts bewegende Puppen.

6.5.3 Rationalistische Prinzipien im Denken der Kinder In beiden Befragungen führten Erzählung und Diskussion von Versionen des Gerüchtes dazu, daß die Kinder sich gegen das irrationale Denken, ein bloßes Produkt der Einbildung, aussprachen. Deshalb wurde in der sechsten Klasse mehrmals empfohlen, daß die Kinder sich vor ihrer eigenen Vorstellungskraft hüteten. Andernfalls glaubten sie Geschichten wie das Gerücht über die Schlümpfe und phantasierten wie im Film Dinge, die in Wirklichkeit nicht existierten. Aufgrund dieser Kritik am irrationalen Denken legten die Kinder der vierten Klasse dar, daß das Gerücht erzählende Kinder durch das Fernsehen verdorben wären und ein verzerrtes Wahrnehmungsvermögen besäßen. In Verbindung hiermit wurde in der sechsten Klasse die Kritik am Aberglauben vorgetragen. Nachdrücklich wurde dagegen an die Notwendigkeit appelliert, "la lögica" zu gebrauchen und Hypothesen zu überprüfen. Auch in der vierten Klasse verwarf Daniel die Version von der Verbrennung der Schlümpfe, indem er versuchte, sein Schulwissen und "la lögica" anzuwenden. Die Produktion mündlicher Erzählungen wurde in beiden Befragungen zu einem großen Teil von rationalistischen Prinzipien geprägt. Deshalb war die vorherrschende Tendenz gegen animistische und übernatürliche Erklärungen als Mittel zum Verständnis des Phänomens des Gerüchtes über die Schlümpfe gerichtet. Daß die Tendenz zu rationalistischem Denken vorherrschte, bedeutete gleichwohl nicht, daß Arten übernatürlichen Denkens völlig gefehlt hätten. So hatten etwa die Kinder der vierten Klasse eine Beziehung zwischen den Worten "Schlumpf' und "Teufel" hergestellt. Diese religiöse Figur flößte ihnen Respekt ein. Auch hatte Abraham die Idee eines teuflischen Schlumpfs vorgebracht, die jedoch später wieder fallengelassen wurde. Die animistischen Elemente fehlten nicht, wohl aber waren sie sehr schlecht angesehen. Die Kinder der sechsten Klasse erzählten mit Interesse und Vergnü-

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gen Geschichten über sich nachts bewegende Puppen, die auf animistisches Denken zurückgehen, obgleich sie immer wieder unterstrichen, daß sie daran nicht glaubten. Ein Beispiel für diese Art des Denkens in diesem kulturellen Umfeld stellt auch das Spiel mit den "güijas" dar. Es werden Buchstaben bewegt, die der Vorstellung zufolge die Kontaktaufhahme mit den Toten erlauben. Ein weiteres Beispiel ist die Begeisterung für Horrorfilme, in denen Dinge zum Leben erweckt werden. Der Informantin zufolge versicherten die meisten Eltern dieser Kinder, katholischen Glaubens zu sein, obgleich sie diesen nicht praktizierten. Sie ließen ihre Kinder taufen und sorgten dafür, daß sie die erste Kommunion begingen, stellte dies doch ein gesellschaftliches Ereignis dar. Sie besuchten jedoch nicht häufig die Kirche. Ihre religiösen Praktiken waren durch die Tendenzen der Säkularisierung einer industrialisierten, Urbanen und konsumorientierten Gesellschaft geprägt. In diesem kulturellen Umfeld werden animistische Interpretationen der katholischen Volksreligiosität verworfen. Da die Tendenz zu rationalistischem Denken vorherrschte, grenzten die Kinder sich von den Abergläubischen ab. Dabei bleibt anzumerken, daß der Terminus "superstición" aufgrund des Einflusses der Aufklärung nach der Unabhängigkeit Mexikos zur Abwertung indigener Glaubensvorstellungen verwendet wurde. Während der Kolonialzeit wurde dagegen hierfür der Ausdruck "idolatría" gebraucht. Mit der Bezeichnung "Aberglauben" wurde nach der Unabhängigkeit Mexikos nicht der "heidnische" Charakter gewisser Glaubensvorstellungen hervorgehoben, sondern ihre vermeintliche Irrationalität. Dieser Terminus wurde zur sozialen Abgrenzung von der indigenen Bevölkerung und ihren Kulturen verwendet (Rowe und Schelling, 1991: 88).

6.5.4 Strategien sozialer Differenzierung und Individualisierungsprozesse Für die Kinder der sechsten Klasse in ihren schriftlichen Texten sowie die Kinder der vierten Klasse in der Befragung bildete die Langeweile ein wichtiges Thema, die sie angesichts der Sendungen Los Pitufos und anderer sich wiederholender Fernsehsendungen empfanden. Diese Art von Diskurs stellt einen Teil der für diese gesellschaftliche Gruppe kennzeichnenden Strategie der Suche nach Originalität und Exklusivität dar. Der Diskurs der Langeweile kann als Ausdruck einer typischen Sehnsucht nach den Zeiten betrachtet werden, in denen der Genuß exklusiver Güter den Mitgliedern ihrer sozialen Gruppe vorbehalten war. Bei den Kindern der Schule Peterson handelte es sich um eine Sehnsucht nach der Zeit, als die Sendungen nur von Besitzern des Kabelfernsehens empfangen werden

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konnten, eine Sehnsucht nach der Zeit, als die Puppen vor allem in den USA hergestellt wurden und nur wenige Zugang zu ihnen hatten. Die Ablehnung des Gerüchts über die Schlümpfe in diesem kulturellen Umfeld hing auch mit einer Strategie sozialer Differenzierung zusammen. Die Kinder spürten, daß die daran Glaubenden keine ihrer sozialen Gruppe zugehörigen Personen waren. Sie gehörten zur Gruppe der Dienstmädchen oder aber der "nacos", mit denen sie sich keinesfalls identifizieren wollten; hier war Abgrenzung angebracht. In beiden Befragungen konnten - obwohl sie von kürzerer Dauer waren als in der Schule Benito Juárez - die meisten Kinder namentlich identifiziert werden, wogegen die Kinder der anderen untersuchten kulturellen Kontexte nur mit einer Nummer bezeichnet werden konnten. Dies war der kleineren Gruppenstärke zu verdanken und der Tatsache, daß die Kinder sich teilweise zu Beginn der Befragung vorstellten und im sich Verlauf der Befragung namentlich ansprachen. Dieser Sachverhalt zeigt eine unterschiedliche Art und Weise des Auftretens der Kinder in den verschiedenen kulturellen Kontexten auf und eine Strategie der individuellen Differenzierung innerhalb der Gruppen der Kinder der Schule Peterson. In Verbindung hiermit stand auch, daß die Kinder in der Befragung nicht nur Kenntnisse mitteilten, sondern auch Meinungen äußerten. Alle Kinder der Schule Peterson gaben persönliche Stellungnahmen ab. Dies hing mit einer sehr personalisierten Erziehung zusammen, die großen Wert auf den Eigennamen legte, und ist Ausdruck von Unterscheidungsmechanismen innerhalb der Gruppe. In einer durch Corona (1989) in der Schule Peterson durchgeführten Studie über die unterschiedliche Aneignung des Fernsehdiskurses bei Kinderspielen wurde festgestellt, daß Kinder ab dem Alter von fünf Jahren bei ihren Gruppenspielen anfingen, sich voneinander zu unterscheiden. Während in einer Gruppe von Arbeiterkindern in Mexiko-Stadt die Kinder bei ihren Spielen eine sich auf "nosotros" beziehende Sprachform gebrauchten, verwendeten die Kinder der Schule Peterson Formen, um sich voneinander zu unterscheiden. Bei den Spielen der Arbeiterkinder waren alle zusammen "Los Supermanes": "somos supermanes". Die Kinder der Schule Peterson dagegen stellten beim Spiel immer einen speziellen Superhelden dar, wie z.B. "Superman", "Batman" oder "Robin". Fielen ihnen während des Spiels die Namen nicht ein, dann bezeichneten sie sich als "Superman 1" oder "Superman 2". Bei anderen in der Studie aufgezeichneten Spielen tendierten die Kinder der Schule Peterson dazu, sich mit ihrem Eigennamen zu bezeichnen. Dies war bei den Spielen der Arbeiterkinder nicht der Fall. Vielmehr wurden Bezeichnungen verwendet, die die Beziehung des redenden Kindes zu seinem Gesprächspartner ausdrückten: "hermano", "hijo", "amigo".

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Llamarse por un nombre propio o por una relación comporta diferencias. En el primer caso el nombre identifica, distingue, separa. El no tener nombre propio indefine, convierte en masa (Corona, 1989: 120-125). Die Kinder der Schule Peterson versuchten, jemand Besonderes zu sein. Das Ergebnis dieses Individualisierungsprozesses kann anhand der Analyse der diskursiven Strategien der Kinder veranschaulicht werden. Hierfür kennzeichnend war der spezifische Gebrauch des Personalpronomens "yo" gegenüber Ausdrükken wie "se dice", die auf eine kollektive, anonyme Stimme verwiesen, mit der die Kinder sich nicht identifizierten. Dies fügt sich in eine Strategie sozialer Differenzierung ein, der Abgrenzung von der Masse und dem "gemeinen" Volk. Die spezifischen Strategien sozialer Differenzierung und Individualisierung der Kinder der Schule Peterson ließen einen anderen Sozialisierungsprozeß erkennen als bei den Kindern der Schule Benito Juárez. Die Untersuchung in diesem kulturellen Kontext zeigte die Vision der Kinder von einer möglichen technologisierten Welt auf. Sie beleuchtet, daß rationalistische Prinzipien sowie Strategien sozialer Differenzierung und Individualisierungsprozesse die Erzählproduktion der Kinder gestalteten. Nach der Darstellung von zwei sich unterscheidenden Urbanen Kontexten der Hauptstadt Mexiko werden im folgenden Kapital die Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in einem suburbanen Gebiet, der Stadt Valladolid im Bundesstaat Yucatán, untersucht.

Kapitel 7

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DIE VERSIONEN DES GERÜCHTES ÜBER DIE SCHLÜMPFE IN VALLADOLID, YUCATÁN

7.1

Das kulturelle Umfeld des Gebiets von Valladolid, Yucatán

7.1.1 Allgemeine Kennzeichnung Valladolid ist ein semi-urbanes Gebiet, das 1980 36.397 Einwohner 1 hatte. Es gilt als ein wichtiges Zentrum im Nordosten der Halbinsel Yucatán und übte die Rolle einer Handelsstation aus zwischen den umliegenden Regionen und Mérida, der etwa 155 km entfernt liegenden Hauptstadt des Bundesstaats. Außerdem war es ein Versorgungszentrum für Cancún und die Insel Cozumel (Gutiérrez Bolaflos, 1979). Valladolid liegt in der Maisregion Yucatáns, die im Westen an die Sisalregion grenzt, die die Umgebung der Stadt Mérida umschließt, und im Norden an die Viehzuchtregion von Tizimin. Durch die beträchtliche Reduzierung des Hochwaldes in den angrenzenden Regionen gingen die Maiserträge der Bauern um Valladolid zurück, was die Migration in diese Stadt, vor allem aber in die Touristenzentren von Cancún zur Folge hatte, wo die Leute hofften, Arbeit zu finden. In geringerem Ausmaße fand eine Einwanderung von Landfrauen nach Valladolid statt, die dort als Hausangestellte arbeiteten, eine Tendenz, die sich bis in die heutige Zeit fortgesetzt hat (Gutiérrez Bolaños, 1979). Valladolid ist von Maya-Dörfem umgeben, die neben dem Anbau von Mais und anderen Agrarerzeugnissen die Produktion von Hängematten betreiben und traditionelle Stickereien dieser Region herstellen. Ein großer Teil der Agrarprodukte wird auf den Märkten oder in den Straßen von Valladolid verkauft, das Kunsthandwerk in einigen Geschäften für die Touristen, die auf dem Weg nach Mérida oder Cancún durch Valladolid kommen. Fast alle Einwohner von Valladolid sprachen Spanisch, ein großer Teil sprach oder verstand die Maya-Sprache, und eine Minderheit sprach nur Maya. Gemäß der Volkszählung von 1980 sprachen von der 31 339 umfassenden über fünf Jahre alten Bevölkerung 32,2 % nur Spanisch, 50,7 % der Bevölkerung waren zweisprachig, 13,4 % sprachen nur Maya und 3,6 % machten keine Angaben über ihre Sprachen. Dies bedeutet, daß 83 % der Bevölkerung Spanisch sprachen und 64 % der Bevölkerung Maya. Unter der zweisprachigen Bevölkerung fand man Maya, die nach Valladolid eingewandert waren und in den ärmeren Stadtteilen lebten. Sie waren Händler, INEGI, Censo General de Población y Vivienda de 1980, Instituto Nacional de Estadística, Geografía e Informática, (Volkszählung von 1980).

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die vor allem mit den Maya-Bauern handelten, die nach Valladolid kamen, um in ihren Geschäften einzukaufen. Zur zweisprachigen Bevölkerung gehörten auch viele Einwohner von Valladolid, die in den Dörfern der Umgebung Verwandte hatten und die von Kind an "la maya", wie sie es nannten, sprechen gehört hatten. Im allgemeinen sprachen die Maya-Frauen nur Maya, die Männer waren meist zweisprachig. Außerdem gab es eine wichtige, nur Maya sprechende Bevölkerungsgruppe, die sich in Valladolid vorübergehend zum Verkauf ihrer Waren sowie zum Einkauf des für ihre Arbeit und des zum täglichen Leben Notwendigen einfand. Überall hörte man Maya sprechen, im Zentrum, auf dem Markt, in allen wichtigen Geschäften und auf allen öffentlichen Plätzen. Seit mehreren Jahrzehnten ist ein Prozeß der linguistischen und kulturellen Homogenisierung im gesamten Gebiet zu beobachten, wobei die Maya-Sprache in der Bevölkerung an Ansehen verloren hat, vor allem bei den jüngeren Generationen, die Maya nicht beherrschen oder nicht sprechen wollen. Jedoch ist dieser Ansehensverlust nicht so ausgeprägt wie bei anderen indigenen Bevölkerungen. Auf meine Frage, ob die Kinder Maya sprachen, wurde mir in der Schule, in der die Befragungen durchgeführt wurden, von der Schulleitung versichert, daß die Kinder es nicht in der Schule sprachen. Dies klang, als ob die Behauptung des Gegenteils bedeuten würde, daß die Schule an Ansehen verlieren könnte. Diese Reaktion könnte darauf zurückzuführen sein, daß für die nicht den Maya angehörende Bevölkerung die Maya-Sprache die Sprache der Dienstmädchen, Landarbeiter und heutzutage der Maurer bedeutet (Terán/Rasmussen, 1992). Als Gegenbewegung zu dieser Tendenz wurden im letzten Jahrzehnt Programme zur Förderung der Mayakultur geschaffen, die vom Instituto Nacional Indigenista 2 , das in Valladolid ein Büro hat, durchgeführt werden sowie von der Dirección de Culturas Populares der Secretaría de Educación Pública. 3 Letztere hat Bücher mit Texten in beiden Sprachen, Maya und Spanisch, veröffentlicht. Sie sind jedoch nur wenig verbreitet. Der Informantin zufolge gibt es derzeit einige zweisprachige Schulen in der Umgebung von Valladolid, jedoch nicht in der Stadt selbst. Der bereits oben angeführten Volkszählung zufolge stammten 91 % der in der Gemeinde Valladolid wohnenden Bevölkerung aus derselben Region oder dem Bundesstaat Yucatán. 6 % der Einwohner von Valladolid stammten aus anderen Bundesstaaten Mexikos, 3 % stammten aus dem Ausland. Dies zeigt die kulturelle Homogenität dieses Gebietes auf. 2

Die Aufgabe des Instituts ist die Untersuchung und Förderung der indigenen Kulturen

3

Diese Unterabteilung des mexikanischen Erziehungsministeriums befaßt sich mit der

in Mexiko. Förderung der regionalen Volkskulturen.

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Der Zócalo, der Hauptplatz, an dem sich das Rathaus befindet, weist in seiner Mitte einen Park mit einem Kapokbaum (Ceiba pentandra) auf, einem Baum mit mythischer Bedeutung in der prähispanischen Mayakultur. Der Markt und viele kleine Läden lagen an den Straßen im Zentrum, vor allem in der "Calle 39" oder "Calle comercial". Dort gab es Fachgeschäfte, nicht spezialisierte Läden und fliegende Händler. Selbstbedienungsläden waren selten. In der Nähe des Zentrums befanden sich zwei Kinos. In der Stadt Valladolid befindet sich ein sehr bekannter "Cenote". 4 Diese Cenotes sind zu Erholungszentren für die yukatekische Bevölkerung und zu Anziehungspunkten für Touristen geworden. In ungefähr 30 km Entfernung von Valladolid liegen die Mayaruinen von Chichén Itza, 60 km entfernt befinden sich diejenigen von Cobá. Valladolid ist eine kleine Stadt mit gewissen sozialen Unterschieden, die jedoch weniger ausgeprägt sind als in Mexiko-Stadt oder anderen mexikanischen Städten. Zu dieser Zeit waren keine gehobenen Wohnviertel vorhanden, die auch nur etwa dem in Kapitel 6 beschriebenen von El Pedregal de San Angel vergleichbar gewesen wären. Die Armutsviertel waren nicht durch eine kulturelle Marginalisierung wie in Nezahualcoyotl gekennzeichnet. Die meisten Häuser in der Umgebung des Zentrums und in der Nähe der für die Durchführung der Befragungen ausgewählten Schule waren ältere, einstöckige Gebäude. Dort wohnte ein großer Teil der diese Schule besuchenden Kinder. Die Häuser waren von schlichter, rustikaler Ausstattung mit einfacher Möblierung. Einige besaßen einen Innenhof. Die Fenster waren aufgrund der Hitze während eines großen Teils des Tages geöffnet, so daß Vorbeigehende hineinschauen konnten. Man konnte die als Betten verwendeten Hängematten in den Zimmern sehen. Dabei ist zu bedenken, daß diese Gegend im allgemeinen sehr heiß ist. Die mittlere Temperatur liegt stets über 18 °C und das Maximum schwankt zwischen 38 und 43 °C. Eine Gewohnheit bestand darin, an der Haustür zu sitzen, vor allem nachmittags, um mit den Vorbeikommenden zu plaudern oder irgendeine Handarbeit zu verrichten. Die Mehrzahl der Häuser, in denen die befragten Kinder wohnten, besaßen zwei oder drei Zimmer, in denen größere Familien mit ungefähr fünf Kindern lebten. In einigen der Häuser teilten auch die Großeltern die Wohnung mit den Kindern Die Cenotes sind natürliche Höhlungen, die durch tiefe Einbrüche des Kalkbodens entstanden. Sie lassen den Grundwasserspiegel ans Tageslicht treten... Einige dieser Löcher besitzen einen Durchmesser von 60 Metern und mehr, und ihre Tiefe ändert sich mit der Tiefe des örtlichen Grundwasserspiegels... In einem Land ohne Oberflächenwasser wie dem Norden von Yucatán waren die Cenotes der bestimmende Faktor für die Gründung der alten Siedlungszentren (Morley, 1946: 29 f)-

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und Enkeln, in etwas größeren Häusern konnten auch Onkel, Tanten sowie Vettern und Cousinen hinzukommen. In den wohlhabenderen Gegenden von Valladolid mit sehr viel größeren Häusem konnte ein Kind auch sein eigenes Zimmer haben, jedoch stellte dies eher eine Ausnahme dar. Normalerweise teilte es sein Zimmer mit anderen Geschwistern. In diesem kulturellen Umfeld gab es auch Hausangestellte, die hier geringer entlohnt wurden als in Mexiko-Stadt. Die wohlhabenderen Familien beschäftigten zwei im Haus wohnende Hausangestellte, die weniger Wohlhabenden nur eine, die stundenweise arbeitete. Die meisten Hausangestellten waren Maya. Viele von ihnen beaufsichtigten die Kinder der Familien, bei denen sie arbeiteten. Auch dies trug dazu bei, daß die Kinder der nicht der Maya-Bevölkerung angehörenden Familien von der mündlichen Tradition der Maya Kenntnis hatten. Ungefähr die Hälfte der Familien der Kinder der hier ausgewählten Schule besaß ein Auto, das etwa drei bis fünf Jahre alt war. Dieses diente der Beförderung der Familie an Wochenenden und in den Ferien. Während der Woche wurde es hauptsächlich vom Vater gebraucht, der damit zur Arbeit fuhr. Die meisten Kinder gingen zu Fuß zur Schule, nur einige wenige wurden von ihren Eltern mit dem Auto gebracht. Sie benötigten weder für den Schulweg noch für ihre Freizeitaktivitäten ein Auto, wie dies für die Kinder der Schule Peterson in El Pedregal zutraf.

7.1.2 Kennzeichnung der Schule Hispanomexicano Die Schule, an der die Befragungen mit den Kindern durchgeführt wurden, befindet sich in einem Häuserblock am Zócalo von Valladolid und heißt "Colegio Hispanomexicano". Sie hielt sich für die beste Schule am Ort und wurde von Nonnen des Ordens "Hermanas Mercedarias del Santo Sacramento" geleitet. Es handelte sich um eine private, nicht zweisprachige Schule. Die Klassen bestanden aus etwa 35 bis 40 Schülern. Die Schule wurde von den wohlhabenderen Schichten dieser Stadt besucht. Der monatliche Schulbeitrag war wesentlich niedriger als in Schulen der Mittelschichten in Mexiko-Stadt und betrug ungefähr ein Fünftel des an der Schule Peterson zu bezahlenden Betrages. Gleichwohl war diese Schule aufgrund des erhobenen Schulgelds den Kindern weniger verdienender Schichten verschlossen, wie z.B. kleineren Angestellten, Handwerkern wie Metzgern, Sattlern, Maurern, Hausangestellten, Verkäuferinnen und Maya. Diese schickten ihre Kinder in die kostenlose öffentliche Schule namens Delio Moreno Cantón, die sich zwei Häuserblökke von der Schule Hispanomexicano entfernt befand. Sie war durch häufiges

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Fernbleiben von Lehrern, lückenhafte Durchführung des Unterrichtsprogramms und wenig Disziplin gekennzeichnet. Die Besonderheit des pädagogischen Systems der Schule Hispanomexicano bestand darin, daß auf die religiöse Bildung der Kinder und ihrer Eltern Wert gelegt wurde. Deshalb wurden die Eltern zur Teilnahme an religiösen Zusammenkünften eingeladen und die Kinder erhielten Religionsunterricht. Es ist anzumerken, daß, obwohl Mexiko als katholisches Land gilt, seit der Reform von 1857 in Mexiko eine religiöse Unterweisung gesetzlich nicht erlaubt ist. Jedoch wird sie seit der "Guerra Cristera" geduldet. Dieser Bürgerkrieg entbrannte zwischen 1926 und 1929 und entstand in Abwehr der antikirchlichen Regierungsmaßnahmen (Meyer, 1974). In der Schule Hispanomexicano galten sowohl in den Klassen als auch innerhalb des Schulgebäudes insgesamt eindeutige Disziplinarregeln. Die Lehrer waren keine Geistlichen. Es gab wenig Fernbleiben seitens der Lehrer. War ein Lehrer verhindert, so wurde er durch die Nonnen ersetzt. Die Lehrpläne der Schule wurden entsprechend den Studien- und Unterrichtsplänen der Secretaría de Educación Pública durchgeführt. In der Schule wurden lediglich die Bücher dieses Ministeriums durchgearbeitet, genauso wie in den öffentlichen Schulen.

7.1.3 Tätigkeiten der Eltern Der Information der Schulleitung zufolge sprachen oder verstanden zumindest die Hälfte der Eltern die Maya-Sprache, obwohl sie sie weder zu Hause noch mit ihren Kindern verwendeten. Die Eltern der die Schule Hispanomexicano besuchenden Kinder waren z.B. Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte, Händler und höhere städtische Angestellte von Valladolid sowie Lehrer, die ihre Kinder unter gewissen finanziellen Opfern in diese Schule schickten. Außerdem wurde die Schule von Kindern weniger wohlhabender Eltern besucht, die ein Stipendium erhielten. Die meisten Mütter der Kinder übten weder einen Beruf aus noch arbeiteten sie außer Hauses; sie waren Hausfrauen. Weil die Hausarbeit mit Hilfe von Hausangestellten durchgeführt wurde, besuchten sie häufig nachmittags Verwandte und Freunde und sahen fern. Im allgemeinen besuchten die Leute in Valladolid ihre Verwandten oft während der Woche und am Wochenende. Sie aßen mittags oder abends häufig zusammen. Wenn sie sich nicht zu Hause trafen, sahen sie sich oft auf dem Zócalo, im Kino oder auch in den Gaststätten. Wenn die Männer sich untereinander trafen, suchten sie die in der Stadt verbreiteten Kneipen auf. Die Frauen gingen zur Kirche oder trafen sich bei den Freundinnen zu Hause.

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In der ganzen Region war die Siesta in den drückendsten Stunden der Hitze üblich. Die Geschäfte waren zu dieser Zeit geschlossen. Die Männer kamen zum Essen nach Hause. Die Leute tranken Bier oder lokalen Schnaps wie den in Valladolid produzierten, der den Namen der Herstellerfamilie "Soza" trug. Die Fabrik, in der er hergestellt wurde, war eine der wenigen von Valladolid. Diese Art des Alkoholkonsums ist nicht mit dem starken Alkoholismus zu verwechseln, der im Gebiet der Sisalmonokultur in der Umgebung von Mérida, der Hauptstadt des Bundesstaats, herrschte und den ausgeprägten sozialen Zerfall widerspiegelte, der dort nach dem Rückgang der Nachfrage nach Sisal und dem Zusammenbruch der Sisalindustrie eingetreten war.

7.1.4 Tätigkeiten der Kinder Die Kinder gingen üblicherweise morgens zur Schule, nachmittags machten sie Hausaufgaben, spielten mit Freunden und sahen fern. Einige Mädchen nahmen nachmittags Tanzunterricht, andere Kinder gingen zum Musikunterricht, jedoch bildete dies eher die Ausnahme. In Valladolid konnten die Kinder sich zum täglichen Spielen auf dem Platz oder im Park treffen, um Rollschuh zu laufen und herumzurennen. Mitunter spielten sie auch im Haus der Freunde. Sie bewegten sich unabhängig von Eltern oder sonstigen Erwachsenen fort. An Wochenenden pflegten sie zum Religionsunterricht und zur Kirche zu gehen oder ihre Verwandten zu besuchen. Während der Ferien verbrachten sie fast die ganze Zeit in Valladolid, die Hälfte der Kinder jedoch suchte für eine Woche die nahegelegenen Strände von Yucatán oder Cancán auf. Lediglich eine Minderheit war in Disneyland gewesen.

7.1.5 Alltagspraxis der Schriftlichkeit Die Kinder benutzten in der Schule lediglich die offiziellen Schulbücher der Secretaría de Educación Publica. Da diese mitunter erst mit Verspätung eintrafen, konnte es auch Unterrichtswochen geben, in denen der Stoff ohne die Schulbücher behandelt werden mußte. In der Schule war keine Bibliothek vorhanden. Auch in ganz Valladolid befand sich nur eine einzige Bibliothek, die jedoch keine für die Kinder der Grundschule geeigneten Bücher besaß und auch von den Schulkindern nicht besucht wurde. Auch war keine Buchhandlung anzutreffen, was sich inzwischen geändert hat. Ein paar "Bestseller" des umsatzstarken Diana-Verlags konnte man im Schreibwarengeschäft kaufen, andernfalls mußte man nach Mérida fahren.

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Zeitungskioske ließen sich leicht ausfindig machen. Dort kauften die Kinder einige ihrer Lieblingscomics wie Kaliman, Aguila Salvaje oder bebilderte Horrorgeschichten. Bei den Kindern zu Hause fanden sich zumeist eine Bibel, ein Wörterbuch sowie einige Bücher über lokale und mexikanische Geschichte. Auch waren Bücher über Mythen und Legenden der Maya vorhanden. Die Haushalte der Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte, etc. besaßen einige Bücher über Sachgebiete, die in der Studienzeit gebraucht worden waren. Dasselbe war in den Lehrerhaushalten der Fall, in denen auch Bücher über Sachgebiete ihres Unterrichts vorzufinden waren. Die Eltern der Kinder konnten alle lesen und schreiben. Die meisten Eltern lasen gewöhnlich keine Bücher, wohl aber die örtliche Tageszeitung "El Diario de Yucatán", die in Valladolid regelmäßig gelesen und diskutiert wurde. Die Lektüre der Tageszeitung war der Informantin zufolge unmittelbar nach der Alphabetisierung der Bevölkerung zur Gewohnheit geworden, was in anderen Teilen Mexikos keineswegs üblich war und ist. Was die schulische Praxis des Lesens und Schreibens anbetraf, so mußten die Kinder nur die Schulbücher lesen, einige Textteile daraus abschreiben und möglichst fehlerfrei nach dem Diktat der Lehrerin schreiben. Die Kinder hatten auch kleine Erlebnisaufsätze zu verfassen, die allerdings nur mitunter korrigiert wurden. Äußerst selten mußten sie eine kleine Untersuchung durchführen, sei es individuell oder in der Gruppe. Die wenigen von ihnen zu erledigenden Aufgaben stellten vor allem Gedächtnisübungen über vereinzelte Daten aus den Schulbüchern dar. In diesem Zusammenhang werfen einige Zahlen aus der Volkszählung von 1980 ein Licht auf die allgemeine Bildungssituation der Stadt Valladolid. Danach betrug der Anteil der Analphabeten in diesem Gebiet 26 % der Bevölkerung über 15 Jahren und lag damit wesentlich über dem Durchschnitt für das Land Mexiko insgesamt, der sich auf 17 % belief. Von diesen 26 % Analphabeten in Valladolid waren 60 % Frauen. Eine "Vorschule" (Kindergarten) hatten in Valladolid 50 % der Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren besucht, ein verglichen mit 54 % in Nezahualcoyotl etwas niedrigerer Anteil. Von der über sechs Jahre alten Bevölkerung erhielten 1 5 % keinerlei Grundschulausbildung, etwa 47 % erhielten eine gewisse Grundschulausbildung und 12 % erhielten eine weitergehende Grundschulausbildung; 26 % machten keine Angaben. Von den 47 %, die eine gewisse Grundschulausbildung erhielten, schlössen lediglich 19 % die sechste Klasse der Grundschule ab. Wie in Nezahualcoyotl bestand das Problem des Schulabbruchs.

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Von der Bevölkerung im Alter von mehr als 10 Jahren erhielten 81 % keinerlei weitergehende Grundschulausbildung, 14 % hatten eine weitergehende Ausbildung. Eine Berufsausbildung hatten 3 % erhalten, weitere 3 % hatten eine Hochschulausbildung (als Techniker oder in der Universität) erhalten, aber oft nicht abgeschlossen. Die nächste Universität war im 155 km entfernten Mörida. Aus den Angaben der Volkszählung von 1980 läßt sich ersehen, daß die Bildungssituation in Valladolid schlechter war als in Nezahualcoyotl und allgemein in Mexiko. Obwohl diese Daten nicht den speziellen Kontext der Kinder der Schule Hispanomexicano wiedergaben, die sich in günstigeren sozioökonomischen und erzieherischen Verhältnissen befanden, so zeigen sie doch das kulturelle Milieu auf, das die Kinder der Schule Hispanomexicano mit anderen gesellschaftlicher Gruppen teilten und das sich durch eine wenig ausgeprägte Schriftkultur auszeichnete.

7.1.6 Audiovisuelle Gewohnheiten Gemäß der Volkszählung von 1980 verfugten nur 64 % der Wohnstätten von Valladolid über elektrische Energie. Dies bedeutete, daß in einigen Wohngebieten insgesamt der Empfang von Fernsehen und Radio nur über Batteriebetrieb möglich war. In diesen Wohngebieten lebten allerdings nur wenige Kinder der Schule Hispanomexicano. Alle mit elektrischem Strom versorgten Familien besaßen der Informantin zufolge zu Hause auch ein Radio. Der lokale Rundfunksender von Valladolid wurde häufig gehört, vor allem von den einfachen Leuten, bei denen fast während des ganzen Tages das Radio lief. Hier konnte man lokale Nachrichten hören, yukatekische Musik, romantische Balladen, etc. Ab und zu wurde dabei auch in Maya-Sprache gesendet, dann nämlich, wenn bestimmte Ansagen übertragen wurden, die von der gesamten Bevölkerung gehört werden sollten. Heute verbreitet der Rundfunk ganze Sendungen in Maya-Sprache. Die meisten Familien der Kinder der Schule Hispanomexicano besaßen ein Fernsehgerät. Dieses befand sich im Wohnzimmer, Eßzimmer oder an einer zentralen Stelle, an der die ganze Familie zusammenkam. Im Schnitt wurde ein bis zwei Stunden täglich ferngesehen. Wie in Kapitel 4 erwähnt, konnten in Valladolid vier Fernsehsender empfangen werden. Die beiden beliebtesten Sender gehörten Televisa, dem privaten Fernsehkonsortium. Sie übertrugen vor allem Sendungen der Fernsehkanäle 2, 4 und 5 aus Mexiko-Stadt. Ein weiterer Fernsehsender war staatlich und strahlte vor allem Sendungen des Kanals 13 in Mexiko-Stadt aus. In der Nähe von Valladolid

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befand sich ein öffentlicher Sender der Televisión Rural Mexicana, der zur Unterstützung offener Bildungsprogramme gedacht war und auch Schulbildungsprogramme ausstrahlte. Da in den Familien nur ein Fernsehgerät vorhanden war, wurden die Sendungen gemäß dem Geschmack der Eltern und Geschwister ausgewählt. Jedoch war diese Gruppenentscheidung angesichts der Auswahl zwischen den Programmen nur weniger Sender nicht allzu schwierig. Oft sahen die Kinder während der Zeit, in der keine Kinderprogramme ausgestrahlt wurden, zusammen mit den Müttern die "telenovelas" an oder andere Sendungen für Erwachsene. Kinder aus Familien, die kein Fernsehgerät besaßen, sahen oft bei Freunden fem. Nicht ungewöhnlich war es, Kinder, die zu Hause kein Fernsehgerät hatten, an das geöffnete Fenster eines Hauses angelehnt zu sehen, um fernsehen zu können. Die Rezeption des Fernsehens fand im allgemeinen im Familienkreis statt. Mitunter nahm sie jedoch auch kollektive Formen an. Damals begannen einige Läden bereits damit, Abspielgeräte für Videospiele zu vermieten. Es gab kein Kabelfernsehen und auch keine Videoclubs. Videorecorder und Computer waren fast nicht vorhanden. Heutzutage besitzt fast die gesamte Bevölkerung Valladolids zumindest ein Fernsehgerät. Auch ist das Kabelfernsehen vorhanden. Etwa ein Drittel der Einwohner besitzt inzwischen Videorecorder und es gibt in Valladolid verschiedene Videoclubs. Auch der Besitz von Abspielgeräten für Videospiele sowie von Computern hat zugenommen. In Valladolid befanden sich zwei Kinos, die von unterschiedlichen sozialen Gruppen der Gesellschaft von Valladolid besucht wurden. Dort wurden mexikanische und US-amerikanische Filme gezeigt, die in den größeren Städten Mexikos erfolgreich gewesen waren. Meistens ging die ganze Familie ins Kino, die Eltern mit den Kindern, gleich welchen Alters. Sie sahen sowohl Gewaltfilme als auch Filme von Walt Disney, die dann mit lauter Stimme im Kino kommentiert wurden.

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Die schriftlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschulen: "Por acá en Yucatán supimos"

In diesem Teil werden die schriftlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der Schule Hispanomexicano in Valladolid vorgestellt. Dabei wird auf die Schreibkompetenz der Kinder eingegangen, um über konkrete Beispiele die Durchdringung der Schriftkultur in diesem kulturellen Kontext ersehen zu können. Es fällt auf, daß 30 von insgesamt 39 Kindern, also 77 % der Kinder, das Gerücht kannten, ein höherer Anteil als in der Schule Peterson. Dies deutet darauf hin, daß nicht die geographische Entfernung den bedeutsamsten Faktor zur Verbreitung eines Gerüchtes darstellt, sondern vielmehr die Ordnung der Glaubwürdigkeit eines kulturellen Kontextes.

7.2.1 Die den Kindern bekannten Versionen Unter den von den Kindern aufgeschriebenen Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe fand sich die einfachste Version, die besagt, daß der Schlumpf ein Mädchen oder einen Jungen umbrachte, ohne daß angegeben wurde, wie dies geschah. In den Fällen, die dies näher beschrieben, wurden verschiedene Verben benutzt: "ahorcar", "degollar" und "estrangular", welche insgesamt neunmal genannt wurden. Diese Verben und Handlungen stellen einen Bezug her zur Welt der den Kindern bekannten Horror-Comics und -Filme. Außerdem kamen die Handlungen "arañar" fünfmal und "rasguñar" viermal vor, was sich auf ein Lebewesen mit Klauen bezieht, sei es nun ein Tier oder ein Monster. Ein Mädchen schrieb folgendes: "Los Pitufos" yo se que un pitufo mató a una niña en México le salieron su parras y a la otra niña la araño pero no logro matarla y la niña vio que el llavero se mueva, yo lo oí en 24 horas y lo vi en el periodico (Mädchen Nr. 28, 11 Jahre alt). "Die Schlümpfe" Ich weiß, daß ein Schlumpf ein Mädchen in Mexiko umbrachte, er fuhr seine Krallen aus und das andere Mädchen kratzte er, aber es gelang ihm nicht, es umzubringen und das Mädchen sah, daß der Schlüsselanhänger sich bewegte. Ich habe es in "24 horas" gehört und es in der Zeitung gesehen

Die unterstrichenen Ausdrücke in diesem und den im folgenden wiedergegebenen Zitaten werden an späterer Stelle untersucht.

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Auch bei den Kindern der Schule Hispanomexicano fanden sich die speziellen Versionen anderer kultureller Umfelder, wie der Roboterschlumpf, der Diebesschlumpf und der erscheinende Schlumpf. Von weitaus größerer Bedeutung war jedoch, daß die Kinder der Schule Hispanomexicano die Versionen des Gerüchts mit der Welt der Maya-Legenden verknüpften. Dies erfolgte etwa dadurch, daß sie zur Beschreibung der Handlungen der Schlümpfe dieselben Verben verwendeten, die auch für Handlungen von Figuren der Maya-Legenden gebraucht werden. Die Kobolde und andere auf dem Lande und in Höhlen lebende Figuren verübten Untaten ("hacen maldades"). Das Wort "Schlumpf' nahm in diesem kulturellen Umfeld unterschiedliche Bedeutungen an. In den meisten Fällen bezog sich der Terminus Schlumpf auf eine Puppe, die lebendig wurde. Das Wort "muñeco" tauchte 20mal in den verschiedenen Texten der Kinder auf. Das Wort "Schlumpf' bezog sich mehrmals auch auf einen Kobold ("duende"). Insgesamt fünfmal wurde der Terminus Schlumpf mit den "Aluxes" assoziiert. Diese Kobolde der Mythologie der Maya erscheinen in allen Büchern über traditionelle mündliche Erzählungen der zeitgenössischen Maya. Diese Traditionen nahmen, wie sich herausschälte, eine Schlüsselstellung in den Erzählungen der Kinder ein. Da sie sich von den bekannteren mexikanischen, europäischen oder US-amerikanischen Geschichten unterscheiden, sind an verschiedenen Stellen dieses Kapitels zum Verständnis der Erzählungen der Kinder Vorbemerkungen erforderlich.

7.2.2 Die Version vom Schlumpf als Alux Eine der speziellen Versionen dieses kulturellen Umfeldes hatte mit den Aluxes zu tun. Nach Untersuchungen über die Legenden der heutigen Maya (Baqueiro López, 1981; Ligorred, 1985; Macias, 1985; Villa Rojas, 1978) kann es sich bei den Aluxes um Kobolde handeln; es können auch kleine Menschen sein, Zwerge, die lebendig werden, oder die Tonfiguren, die man in den Ruinen der alten Maya-Städte findet. Diesen Untersuchungen zufolge sind die Aluxes klein und Kindern im Alter von zwei oder drei Jahren ähnlich, sie leben draußen auf dem Land und erscheinen nach Sonnenuntergang. Man darf sie nicht anfassen, manchmal auch nicht sehen, ohne eine Krankheit zu bekommen. Sie werden als verspielte, kecke, schelmische Figuren beschrieben. Sie treiben Unfug und verüben Streiche: Sie hüpfen, springen und spielen Verstecken. Mitunter, etwa wenn die Aluxes den Menschen während des Schlafs ihre Sandalen und Zigarren stehlen, sind diese Streiche lästiger. Sie verspotten die Menschen. Manchmal zeigen sie auch ihre gütigen Kräfte und hüten die Maisfelder, wenn ihre Herren

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sie gut behandeln und ihnen zu essen besorgen. Auf diese Weise hält man sie bei Laune, so daß die Aluxes dafür sorgen, daß es den Maisfeldern auch in Zeiten der Dürre nicht an Wasser mangelt (Baqueiro López, 1981). Werden sie jedoch schlecht behandelt, dann lassen sie die Maisfelder verderben oder stehlen die Ernte. Anhand der von Morley (1946: 204 f) und Ligorred (1985: 160, 218) gesammelten Legenden läßt sich behaupten, daß die Legende des Alux mit dem Mythos der Maya von der Schöpfung der Welt verbunden ist. Das erste Geschlecht wären demzufolge die Aluxes oder Aluxoob im Plural der Maya-Sprache gewesen. Die erste Welt wurde von Zwergen bewohnt, den "saiyam uinicoob" oder "ajustadores" gemäß Morley. Diese Zwerge sollen die großen Maya-Städte gebaut haben, die heute zu Ruinen verfallen sind. Dieses Werk war in der Dunkelheit vollbracht worden, denn die Sonne war noch nicht erschaffen worden. Als diese entstand, verwandelten sich die Zwerge zu Stein; ihre Abbildungen können in den Ruinenstädten noch heute bewundert werden (Ligorred, 1985). Baqueiro López (1981) zufolge sind die Aluxes auch mit der alten Mayakeramik verbunden. Er fuhrt aus, daß die Leute noch heute erzählen, daß die Aluxes die Tonfiguren sind, die in den alten Tempeln und Grabstätten gefunden werden. Dies ist einer der Texte, in dem ein Junge die Figuren der Schlümpfe mit den A luxes verband: por aca en yucatan supimos que los pitufos de peluche por las noches cobravan vida y hacían maldades los pitufos se parecen a unos animalitos muy pequeños que les dicen aluxes que por las noches ivan a las milpa para comer las masorcas y también cuentan en santa ana que los pitufos y los aluxes se reunieron por la noche y mataron a un señor que vive a 3 cuadras de mi casa Esto lo oí de mis papás" (Junge Nr. 18, 11 Jahre alt), hier in Yucatán haben wir gewußt, daß die Plüschschlümpfe nachts lebendig wurden und Untaten verübten, die Schlümpfe gleichen gewissen sehr kleinen Tierchen, die man Aluxes nennt, die nachts auf die Maisfelder gingen um die Maiskolben zu essen und in santa ana wird auch erzählt, daß die Schlümpfe und die Aluxes sich nachts versammelten und einen Mann umgebracht haben, der 3 Häuserblöcke von mir entfernt wohnt Das habe ich von meinen Eltern gehört

Diese Erzählung zeigt, wie das Gerücht über die Schlümpfe teilweise durch die Struktur der von den Aluxes handelnden Geschichten gestaltet wurde. Die Plüschschlümpfe wurden mit den Aluxes verglichen und ihnen wurden die gleichen typischen Handlungen zugeschrieben, nämlich "hacer maldades". Die Texte der Kinder führten in die Welt der Figuren und Handlungen der MayaTradition ein. Obgleich die meisten Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe von einer Schlumpfpuppe handelten, so war dies doch in vielen Erzählungen verflochten mit der Welt der Maya. In acht der schriftlichen Texte erwähnten die

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Kinder, daß die Figuren Untaten ausführten ("hacían maldades"). Häufig wurde auch geschrieben, daß die Figuren ihre Opfer in die Höhle führten ("llevaban a la cueva") oder etwas stahlen, was sie dann in ihre Höhle brachten. Der Junge Nr. 15 führte aus, daß die Schlümpfe "no se dejaban ver", weil dann etwas Böses geschehen könnte. Diese Handlungen sind kennzeichnend für die Aluxes und andere typische Figuren aus den mündlichen Erzählungen der Maya. Zwei Kinder, die offensichtlich das Gerücht über die Schlümpfe nicht kannten, legten einfach dar, daß die Aluxes in der Nacht zum "Dia de los muertos" die Flaschen wuschen. Die speziellen Versionen anderer kultureller Umfelder wie der Roboterschlumpf, der Diebesschlumpf und der erscheinende Schlumpf wurden gleichfalls durch das Erzählschema mündlicher Maya-Traditionen und vor allem durch die Legende vom Alux gestaltet. So stellte ein Junge zwar zunächst die Version vom ferngesteuerten Schlumpf als glaubwürdig dar, fügte dann jedoch dieser Version nahtlos eine andere an, die anscheinend nichts mit einer Welt der Technologie zu tun hatte, sondern mit der Welt der Zwergengeschichten und der Welt der Zauberei, me contaron que en una noche mataron a una niña y dicen que son manejados ai control remoto o semeten enanos y que por las noches despiertan y matan en la noches y también Dicen que es brujería. naci el 24 de septiembre de 1972. (Junge Nr. 10, 11 Jahre alt). Man hat mir erzählt, daß eines nachts ein Mädchen umgebracht wurde, und die Leute sagen, daß sie durch Fernbedienung gelenkt werden, oder Zwerge hineingesetzt werden, und daß sie nachts aufwachen und nachts umbringen und die Leute sagen auch, daß es Zauberei ist. ich bin am 24. September 1972 geboren. Der Junge beschrieb verschiedene denkbare Gründe, weshalb ein Mädchen durch einen Schlumpf hätte umgebracht werden können. Die Welt der Technologie wurde mit der Welt der Zauberei und der Zwerge aus Maya-Erzählungen und europäischen Märchen vereinigt. Die im kulturellen Umfeld der Schule Peterson auftauchende Version vom Diebesschlumpf wurde mit Legenden von den Aluxes und mit Elementen aus den Sendungen über die Schlümpfe verknüpft, möglicherweise auch mit Kriminalserien. Yo se que le rascuñaron su caraapitufina que los pitufos estaban de gira que fueron muy famosos y en la feria decían que en la noche recobravan vida dicen que no son pitufos sino estandisfrasados tambián que en la noche salen y te llevanasu cueva y que son malos que los agarro por la policía porque estaban robando En 24 horas y en un pueblo Atentamente: su amiga de los pitufos (Mädchen Nr. 24, 11 Jahre alt).

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Ich weiß, daß sie das Gesicht der Schlumpfine zerkratzten, daß die Schlümpfe auf Tournee waren, daß sie sehr berühmt waren, und auf dem Jahrmarkt sagte man, daß sie nachts lebendig wurden, man sagt, daß es nicht die Schlümpfe sind, sondern sie sind verkleidet, auch, daß sie nachts hervorkommen und dich in ihre Höhle bringen, und daß sie böse sind, daß die Polizei sie festgenommen hat, weil sie gerade dabei waren, zu stehlen. In "24 horas" und in einem Dorf Hochachtungsvoll: Ihre Freundin von den Schlümpfen

In diesem Text wurde die weibliche Person der Sendungen erwähnt, die Pitufina. Die Schlümpfe als Übeltäter wurden aufgefaßt als Diebe in der Verkleidung von Schlümpfen, die, wie in manchen Erzählungen über die Aluxes, ihre Diebesbeute in eine Höhle schleppten. Zugleich wurde das für eine Kriminalgeschichte typische glückliche Ende eingebaut, demzufolge es der Polizei gelang, die verkleideten Diebe zu fassen. Auch die Version vom erscheinenden Schlumpf erhielt in diesem kulturellen Umfeld eigene Merkmale. Die Kinder schrieben nicht nur, daß die Schlümpfe "existen", daß sie erscheinen und wieder verschwinden, so wie dies auch die Kinder der Schule Benito Juárez behaupteten. Sie fugten hinzu, daß sie Untaten verübten und daß sie sich nicht sehen ließen, was für viele Figuren der MayaErzählungen typisch ist. Es wurde kein Kind umgebracht, die Schlümpfe erschienen nur, so wie die Aluxes, und ließen sich nicht fangen. Außerdem wurde eine Figur der Fernsehsendungen einbezogen, der die Schlümpfe verfolgende Kater namens Azrael, ein Verbündeter von Gargamel. "Los pitufos" Yo supe que los pitufos cobraban vida por las noche y hacian maldades nosedejavan ver ni agarrar porque sedesaparecen y un gato los perseguía ylos quería agarar yo lo oi en la tele en 24 horas ytambien lo vi iba a casa de mitia y también mi hermano lo vio (Mädchen Nr. 15, 11 Jahre alt). "Die Schlümpfe" Ich wußte, daß die Schlümpfe nachts lebendig wurden und Untaten verübten, sie ließen sich weder sehen noch fangen, denn sie verschwinden, und eine Katze verfolgte sie und wollte sie fangen, ich habe es im Fernsehen gehört in 24 horas, und ich habe es auch bei meiner Tante zu Hause gesehen, und auch mein Bruder hat es gesehen.

7.2.3 Zur Konzeption der Texte Die überwiegende Mehrheit der 30 Kinder, die über das Gerücht schrieben, legte Versionen des Gerüchtes dar, die in den Kontext der traditionellen

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Erzählungen eingebunden waren. Von den insgesamt 39 Kindern schrieben neun nicht über das Gerücht, drei davon schrieben nur über die Fernsehsendungen. Die schriftliche Befragung wurde in diesem kulturellen Umfeld aufgefaßt als Rahmen des Schreibens über das Gerücht, über die Fernsehsendungen und über

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mündliche Erzählungen der Maya, in denen den Schltimpfen ähnliche Figuren vorkamen. Von den wenigen Kindern, die ihre Geschichten betitelten, verwandte ein Junge die Überschrift "Los Aluxes", alle übrigen schrieben "Los Pitufos". Zwei Jungen betrachteten die schriftliche Befragung als einen Rahmen, um ausschließlich Geschichten über Aluxes zu erzählen. Möglicherweise war ihnen das Gerücht über die Schlümpfe unbekannt. Hieraus kann geschlossen werden, daß es bei den Kindern gut angesehen war, sich über ihre lokalen Traditionen zu äußern, zumal einer Interviewerin aus der Hauptstadt gegenüber. Von den 30 Kindern, die etwas über das Gerücht schrieben, legten vier ihre eigene Position bezüglich des Gerüchts dar und erklärten offen, nicht daran zu glauben: Los pitufos son unos muñequitos muy bonitos dicen muchas personas que existen pero para mi són puros cuentos mi mamá me dijo que existierón pero hace mucho tiempo... (Mädchen Nr. 1, 11 Jahre alt). D i e S c h l ü m p f e sind einige sehr hübsche Püppchen sagen viele Leute, daß sie lebendig waren, aber für mich sind das lauter Märchen, meine M a m a hat mir gesagt, daß sie früher mal lebendig waren, aber vor langer Zeit...

A mi me contaron que los pitufos en la noche recobraban bida y hacían maldad pero yo no creo... (Mädchen Nr. 5, 11 Jahre alt). D i e Leute erzählten mir, daß die S c h l ü m p f e nachts lebendig werden und Untaten verüben, aber ich glaube das nicht...

... mi amiga Virginia me conto que son muy malos pero lio no les crei nada tengo barios muñequitos pero mi mama no me deja meterlos en mi cuarto... (Mädchen Nr. 6, 11 Jahre alt). ... m e i n e Freundin Virginia hat mir erzählt, daß sie sehr b ö s e sind, aber ich habe ihnen nichts geglaubt, ich habe mehrere Püppchen, aber m e i n e M a m a läßt sie mich nicht in mein Zimmer nehmen...

a mi me dijieron por una prima que en el bosque vieron un pitufo y yo no lo creo... (Mädchen Nr. 9, 11 Jahre alt). mir sagte man durch eine Cousine, daß im Wald ein S c h l u m p f g e s e h e n wurde, und ich glaube e s nicht...

Keines der Kinder schrieb, daß es an das Gerücht glaubte. Zieht man die Texte aller 39 Kinder heran, so begannen acht Kinder ihre Geschichten mit den Ausdrücken "yo se", "yo ce" oder "yo supe", wodurch sie eine gewisse Identifikation mit ihren Darlegungen zum Ausdruck brachten. Die anderen Kinder bezogen sich häufig auf die anonymen mündlichen Quellen als Autoritäten für ihre Aussagen. In einigen Fällen wurden Freunde oder Verwandte erwähnt, wie die Cousine, Eltern und Geschwister.

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Bemerkenswert ist, daß die Kinder 21 mal Ausdrücke verwendeten, die sich auf die anonyme und kollektive Stimme eines kulturellen Umfeldes beriefen, wie "dicen que", "decían que", "a mi me contaron", "me contaron", "a mi me dijieron", "oi que digan", "también cuentan en santa ana", "la gente de aqui llego a decir" oder "por aca en yucatan supimos". Die Kinder sahen sich eingebettet in den Wirrwarr anonymer Stimmen ihres Herkunftsorts, den sie beim Schreiben als sehr gegenwärtig empfanden. Im Gegensatz zu denjenigen der Schule Benito Juárez, schienen die Kinder von Valladolid nicht ihre gesamte persönliche Identität in diesem Stimmengewirr zu verlieren. Obwohl sie sich auf die anonyme Stimme beriefen, fanden sie doch Möglichkeiten zur Betonung ihrer speziellen Formen des Denkens und Schreibens. Viele schrieben nicht nur über das Gerücht, sondern auch über das Vergnügen an den Schlumpfsendungen. Zwei Mädchen verliehen ihren Ausfuhrungen eine persönliche Note und beendeten sie wie folgt: "Los pitufos y su amiga Olivia" und "Atentamente: su amiga de los pitufos". Die verwendeten Ausdrücke vermittelten den Eindruck, daß ihre Texte teilweise als vertrauliche Briefe an eine rührselige Illustrierte aufgefaßt wurden, wobei sich Zeichen größerer und geringerer Formalität vermischten. Andere Kinder fugten Zeichnungen mit Gesichtern der Schlümpfe in ihre Texte ein und zwei Mädchen Blumen, um ihren Aufzeichnungen eine persönliche Note zu verleihen. Ein anderes Mädchen beendete den Text, indem es seinen Kosenamen unterstrich: "Es lo único que se. Estodo. Lupita". Auch gab ein Mädchen einen persönlichen Traum wieder, der einen Bezug zu den Figuren aus den Sendungen Los Pitufos aufwies. Ein anderes Mädchen wiederum erzählte nicht nur das Gerücht, sondern schrieb auch über seine Vorlieben im Hinblick auf die Unterrichtsfächer. Das Mädchen war außerdem besonders stolz darauf, welch guten Eindruck, seinen Darlegungen zufolge, seine gute Handschrift auf ihre Verwandten machte: Estudio en la escuela Hspano Mexicano Estoy en 6°aflo Mi maestra es la directo Se llama Rosario Gonsales azcorra. Empece a estudiar aquí desde el primer grado Tengo 12 años: Me gusta mucho el espal y me gusta mucho el libro de español desde primer Año Me llamo mucho la atención pero matematicas no me gusta Mi tia me dice que tengo muy bonita letra a mi me gustan mucho los pitufos en la tele salen los jueves ge Ha se dejarón de pasar mi amiga Virginia me conto que son muy malos pero Ho no les crei nada tengo barios muñequitos pero mi mamá no me deja meterlos en mi cuarto lo mando a la Ciudad de Mexico es la ciudad que me gusta más. (Mädchen Nr. 6, 12 Jahre alt). Ich lerne in der Schule Hspano Mexicano. Ich bin in der 6. Klasse. Meine Lehrerin ist die Rekto. Sie heißt Rosario Gonsales azcorra.

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Ich fing hier vom ersten Jahr zu lernen an. Ich bin 12 Jahre alt: Mir gefällt span sehr gut, und mir gefällt das Spanischbuch sehr gut. Seit dem ersten Jahr ist mir aufgefallen, aber Mathematik gefallt mir nicht. Meine Tante sagt mir, daß ich eine sehr schön Handschrift habe, mir gefallen die Schlümpfe sehr im Fernsehen kommen sie donnerstags, aber sie kommen nicht mehr, meine Freundin Virginia hat mir erzählt, daß sie sehr böse sind, aber ich habe ihnen nichts geglaubt, ich habe mehrere Püppchen, aber meine Mama läßt sie mich nicht in mein Zimmer nehmen, ich schicke das nach Mexiko-Stadt, dies ist die Stadt, die mir am meisten gefallt.

Diese individuellen Äußerungen ließen erkennen, daß den Kindern der Schule Hispanomexicano mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde als denjenigen der Schule Benito Juárez. Die Art und Weise, sich in ihren Texten vorzustellen und ihre Interessen zu äußern, waren Anzeichen dafür, daß sie gewohnt waren, sich auszudrücken. Den Kindern war ihr Herkunftsort sehr gegenwärtig, sowie die Tatsache, daß ich aus Mexiko-Stadt kam. Mehrere Kinder schrieben, daß sich ihre Schule in Valladolid befände, obgleich Junge Nr. 30 diesen Namen als "vayadolid yucatán" schrieb. Junge Nr. 18 formulierte: "por aca en yucatan supimos" und Mädchen Nr. 6 schickte in Gedanken ihren Text nach Mexiko-Stadt. Fünf Kinder nannten als audiovisuelle Quelle die Sendung 24 Horas, eine aufgrund ihrer Popularität in Mexiko sehr bedeutende Nachrichtensendung. Durch diese Erwähnung wollten die Kinder möglicherweise unterstreichen, daß sie informiert waren, daß sie diese Informationsquelle kannten und daß sie zu Hause ein Fernsehgerät besaßen. Weitere drei Kinder führten schriftliche Informationsquellen an ("un periódico") ohne nähere Angabe, um welche es sich handelte, andere nannten die Zeitschriften Teleguía und TVnovelas. Die Erwähnung dieser beiden Zeitschriften ist aufschlußreich, da sie gerade vom Medium Fernsehen und seiner Verbreitung leben. Ihre Funktion besteht darin, den Fernsehkonsum anzuregen. Es ist anzunehmen, daß sie in diesem kulturellen Umfeld bekannte und angesehene Informationsquellen darstellten, obgleich die Kinder sie wohl kaum lesen dürften.

7.2.4 Anwendung der Regeln des Schreibens Bezüglich des Umgangs mit dem Papierblatt fiel auf, daß die Mehrheit der Kinder dieses kulturellen Umfeldes mehr Platz gebrauchten als die Kinder der Schule Benito Juárez und etwas weniger als die Kinder der Schule Peterson. Sie neigten dazu, die Buchstaben und Sätze geräumig auf dem Papier zu verteilen. Vom Haupttext getrennte Überschriften oder Schlußsätze verwendeten 10 Kinder. Dies ist ein Zeichen dafür, daß die Kinder in der Schule eine gewisse Unterweisung bezüglich der Strukturierung der Wörter auf dem Papier erhalten hatten.

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Es bedeutete nicht zugleich, daß sie die Trennregeln für Wörter und Sätze beherrscht hätten. Von 31 Kindern wurden einige Sätze nicht voneinander getrennt, was das Verständnis des Inhalts erschwerte. Die oben zitierten Ausfuhrungen des Jungen Nr. 18 und der Mädchens Nr. 10, 24 und 15 belegen dies. Außerdem verknüpften acht Kinder Wörter wie "nosedejavan" im Text des Mädchens Nr. 15 oder "semeten" im Text des Jungen Nr. 10, die dort unterstrichen sind. Die Verbindung der Reflexivpronomina mit den Verben, als bildeten sie zusammen ein einziges Wort, war sicherlich darin begründet, daß die Kinder beim Schreiben der gesprochenen Sprache dem Gehör folgten. Dies erinnerte an die Schreibweise der Kinder der Schule Benito Juárez. Auch die geringe Anwendung der Regeln der Zeichensetzung war den Kindern der Schule Hispanomexicano und der Schule Benito Juárez gemeinsam. In den Texten von 30 Kindern fanden sich weder Punkt noch Komma. Von neun Kindern wurden immerhin einige Satzzeichen benutzt, obgleich niemals alle erforderlichen. Dabei kannten drei Kinder Anfuhrungsstriche, die sie für ihre Überschriften verwendeten, wie das Mädchen Nr. 15 "Los Pitufos". Da die Kinder die Regeln der Zeichensetzung kaum anwendeten, setzten sie auch die Regeln der Großschreibung nicht ein. In den Texten von 10 Kindern kam kein einziger Großbuchstabe vor, 22 Kinder benutzten sie ab und zu, darunter die Mädchen Nr. 15 und 24. Nur drei Kinder wendeten Großbuchstaben zutreffend an. Außerdem schrieben einige Kinder ihren gesamten Text nur in Großbuchstaben. Einige Kinder schrieben, aus welchen Gründen auch immer, stets die Buchstaben "d", "p" oder "c" groß. Fast alle Kinder mißachteten die Regeln der Akzentsetzung der spanischen Sprache. Keinen einzigen Akzent setzten 32 Kinder in ihrem Text, die übrigen sieben Kinder versahen ab und zu einige Wörter mit einem Akzent, aber nicht immer an der richtigen Stelle. Die hier wiedergegebenen Texte sind repräsentativ. Im Text des Jungen Nr. 18 wurden zwei Wörter zutreffend mit, vier weitere Wörter unzutreffenderweise nicht mit Akzenten versehen. In vielen Fällen setzten die Kinder wie die Mädchen Nr. 6 und Nr. 1 unnötigerweise einen Akzent bei Wörtern mit Endungen auf "on" wie "són" und "dejaron". Der Text des Mädchen Nr. 6, das so stolz auf seine schöne Handschrift war, zeigte einen weiteren Orthographiefehler. Das Mädchen wußte nicht, welche Wörter mit "11" und welche mit "y" zu schreiben sind. Gerade das häufig benutzte Personalpronomen der ersten Person Singular wurde als "llo" geschrieben, anders als bei den Kindern der Schule Peterson und in Übereinstimmung mit den Kindern der Schule Benito Juárez. Der Junge Nr. 30 schrieb den Namen der Stadt, in der er lebte, als "vayadoiid", wie bereits oben angemerkt. Der Name der Schule wurde von den Kindern in sechs verschiedenen Varianten falsch geschrieben:

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"ispano mexicano", "Hspano Mexicano", "Hispano Méxicano", "Hispafto Mexicano", "Ispano mexicano" und "Hipano Mexicano". Auch hier traten die bekannten Probleme der Kinder mit dem Buchstaben "h" auf. In den Texten der Kinder fanden sich auch einige Fälle von Überkorrektheit. So wurde etwa "o sea" als "ho sea" geschrieben. In mehreren Fällen wurden Wörter auch nur unvollständig geschrieben, wie z.B. beim Mädchen Nr. 6, das "directo" anstelle von "directora" oder "pe" anstelle von "pero" schrieb. In diesem kulturellen Umfeld wiesen 15 % der Wörter irgendeinen orthographischen Fehler auf bei Texten mit einer Länge von durchschnittlich 63 Wörtern. Insofern ließ sich feststellen, daß die Kinder der Schule Hispanomexicano sich in der Orthographie besser auskannten als diejenigen der Schule Benito Juárez, jedoch weniger Bescheid wußten als die Kinder der Schule Peterson. Probleme mit den Kongruenzregeln im Hinblick auf Anzahl und Geschlecht zwischen Artikeln, Substantiven, Adjektiven und Verben hatten in der Schule Hispanomexicano neun Kinder. Auch in der Schule Benito Juárez gab es diese Probleme. Anhand des Textes des Mädchens Nr. 28 ließ sich ersehen, daß der Plural des adjektivischen Possesivpronomens im Falle von "su garras" nicht richtig gebildet wurde. Im übrigen stellte sie an späterer Stelle nicht den richtigen Zeitbezug der Verben her, als sie "mueva" anstelle von "movía" schrieb, ein Fehler, der auch bei anderen Kindern auftrat. Bei der Handhabung der Adversative ist auffallend, daß immerhin acht Kinder das Bindewort "pero" benutzten. Diese Beispiele der Anwendung der Regeln des Schreibens verdeutlichten die geringe Kenntnis dieser Regeln bei den Kindern der Schule Hispanomexicano. Die Lektüre und das Verständnis ihrer Texte bereiteten Schwierigkeiten. Diese waren jedoch weniger ausgeprägt als bei den Texten der Kinder der Schule Benito Juárez. Die durch die Secretaría de Educación Pública vorgeschriebenen Lehrprogramme zur Erlernung der spanischen Sprache wurden, wie diese Texte zeigten, nur unvollkommen umgesetzt. Gleichwohl waren die Kinder der Schule Hispanomexicano in der Lage, ihre Meinung und persönlichen Vorlieben in schriftlicher Form auszudrücken, ebenso wie die Kinder der Schule Peterson.

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7.3

Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der vierten Klasse der Grundschule: "Como duendes o si no lo que dicen acá"

Im Anschluß an die schriftliche Befragung in der Schule Hispanomexicano werden die Ergebnisse der Analyse der mündlichen Befragung erörtert.

7.3.1 Die den Kindern bekannten Versionen Während der etwa 30 Minuten dauernden mündlichen Befragung in der vierten Klasse der Schule Hispanomexicano erzählten die Kinder 14 Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe, von denen fünf mit der Welt der Maya-Legenden verknüpft waren. Dabei nannten sie auch die spezielle Version vom Schlumpf als A lux. Unter den erwähnten Versionen befand sich als schlichteste Variante die Erzählung, die lediglich besagte, daß der Schlumpf nachts ein Mädchen umbrachte, ohne genauer anzugeben, auf welche Weise dies geschah. Weitere Versionen machten nähere Angaben zur Art des Mordes, meistens durch Kratzen und Aufhängen. Bei den meisten Versionen beging der Schlumpf den Mord während der Abwesenheit der Mutter. Er griff das Mädchen an, als seine Mutter das Haus verlassen hatte, um Einkäufe zu tätigen, als sie gerade beim Waschen war und Seife einkaufen ging, als sie während der Herstellung einer "piñata" 5 , die ausgerechnet einen Schlumpf darstellte, mehr Papier einkaufen mußte, als sie gerade mit Bügeln beschäftigt war oder als sie einfach das Haus verließ, um Lebensmittel einzukaufen. Der Kontext der Tat des Schlumpfs verwies häufig auf die Legenden über die Aluxes, in denen oft erzählt wird, daß sie versuchen, die Leute, die auf Wegen und Straßen unterwegs sind, vom Weg abzubringen. So wurde in einem Fall gesagt, daß ein Junge vom Fahrrad fiel, in einem anderen vom Motorrad und in einem dritten verlief er sich auf dem Lande. All diese Varianten bereiteten das Feld vor, in dem dann die spezielle Version dieser Gruppe von Kindern entstand, die vom Schlumpf als Alux. Die Aluxes wurden bereits im vorhergehenden Abschnitt vorgestellt.

Dabei handelt es sich um eine, hauptsächlich aus Ton oder Karton hergestellte, große Figur, die Obst und Süßigkeiten enthält. Sie wird an den Festen an einem Seil aufgehängt und dann mit einem Stock vor allem von Kindern zerschlagen. Danach versuchen die Kinder, möglichst viel vom Inhalt der "piñata" aufzuheben.

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7.3.2 Die spezielle Version: Der Schlumpf als Alux In dieser Version tauchten Schlümpfe auf, die verspielt, keck und schelmisch waren, Untaten verübten, wie etwa die Personen vom Weg abbrachten, sie lockten und in einigen Fällen auch entführten: Junge Nr. 1:... a mi mamá cuando ella era chiquita en un pueblo dice que allí existían los pitufos de verdad y un día la desmayaron. ... meiner Mama, als sie noch klein war, in einem Dorf, sagte sie, daß dort die Schlümpfe wirklich existierten und eines Tages haben sie sie ohnmächtig gemacht.

Interviewerin: ¿La desmayaron? Wurde sie ohnmächtig gemacht?

Junge Nr. 1: Sí que siempre que iba a lavar allí al río 6 , este que, que, que siempre le salían y le bailaban y que le hacía así el pitufo. Ja, daß, immer, wenn sie dort am Fluß waschen ging, äh daß, daß, daß sie immer auftauchten und für sie tanzten und daß der Schlumpf so machte.

Der Junge machte mit der Hand eine Geste, um jemanden zu rufen. Interviewerin: ¿Que la llamaban? Haben die sie gerufen?

Junge Nr. 1: Sí, ajá, querían que ella, dice que así a los niños, así cuando es de noche se los llevan. Ja, aha, sie (die Schlümpfe) wollten, daß sie, sie sagt zu den Kindern, so, wenn es Nacht ist, nehmen die Schlümpfe sie mit.

Der Schlumpf bringt in dieser Version das Kind weder um, noch greift er es auf irgendeine Weise physisch an. Vielmehr bezaubert und verfuhrt er es, macht es ohnmächtig und kann es dann wegtragen. In diesem Fall gleicht der Schlumpf oder Alux eher der Figur des Kindesräubers, vor dem die Kinder der Schule Benito Juárez Angst hatten, oder der X-tabay der Maya-Legende. Sie ist eine verführerische Frau, die die Männer anlockt, sie bezaubert, so daß sie ihr folgen. Sie lenkt sie vom Weg ab und bringt sie manchmal um. Die Legende von der Xtabay wird im Zusammenhang mit der Befragung der sechsten Klasse näher behandelt. In einer von den Kindern fast unmittelbar anschließend erzählten Version, die eine rege Beteiligung hervorrief, war der Schlumpf ein eher wohlwollendes Lebewesen, das nur kitzelte und sein "Opfer" anlächelte:

Die vom Jungen Nr. 1 erzählte Handlung spielt auch am Fluß. Es bleibt unerklärt, wie die Kinder an mehreren Stellen und ganz konkret von Ausflügen zum Fluß, von der Mutter, die dort wäscht, und von am Fluß auftretenden Wesen erzählen können. Yucatán ist eine fast horizontale Kalktafel ohne Flüsse. Das Wasser läuft unterirdisch ab und ist über die Cenotes erreichbar.

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Mädchen Nr. 1: Una tía me contó que estaba una señora así lavando, este, después su niña estaba acostada en una cuna, tenía dos años y que se fue la señora a este a comprar, así jabón, este y la niña este y que le hacen así y que le hacen cosquillas y que su mamá no estaba, que abre sus ojos y era un pitufo. Se estaba riendo. Eine Tante hat mir erzählt, daß eine Frau beim Waschen war, äh, danach lag ihre Tochter in der Wiege, sie war zwei Jahre alt, und daß die Frau wegging, um äh, einzukaufen, also Seife, äh und das Mädchen äh, und daß sie so machten, und daß sie sie kitzelten, und seine Mama war nicht da, und als sie ihre Augen aufmachte, war ein Schlumpf da. Dieser lachte sie an. Junge Nr. 1: Pero ¿cómo estaba el pitufo?, ¿vivo?, ¿o de qué era? Aber wie war der Schlumpf? Lebendig? Oder aus was war er? Mädchen Nr. 1: Vivo. Lebendig. Junge Nr. 1: ¿de peluche o de qué? aus Plüsch oder woraus? Mädchen Nr. 1: No, no tenía muñecos. Se le apareció. Nein, nein, sie hatte keine Puppen. Er erschien ihr. Interviewerin: ¿No tenía muñecos? Sie hatte keine Puppen? Junge Nr. 1: ¿Cómo? ¡Vivo! Wie? Lebendig! Mädchen Nr. 2: Fantasma, ¡ay mamá! Gespenst! oh Mama! Verschiedene Kinder: ¡Ah! ¡Oh! Mädchen Nr. 2: Los adultos, yo no creo que crean porque Die Erwachsenen, ich glaube nicht, daß sie es glauben weil Mädchen Nr. 3: ya están grandes, sie schon groß sind. Mädchen Nr. 2: Yo le he contado cosas así a mi mamá y dice que son puros cuentos. Ich habe solche Sachen meiner Mama erzählt und sie sagt, daß es lauter Märchen sind. Mädchen Nr. 3: ¡Cuentos! Märchen! Wie ersichtlich zweifelten die Kinder diese Version an. Jedoch verhinderte dies nicht, daß ein anderer Junge anschließend Uber die SchlUmpfe sprach, als seien sie etwas Lebendiges. In der folgenden Version befanden sich die Schlümpfe, wie die Aluxes oder die X-tabay, ab und zu am Fluß und riefen die Leute:

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Junge Nr. 1:... ya mérito se iba a hacer de noche, después, este, así nos salimos a jugar un rato, esto con un amigo, tenía un caballo, nos subíamos, nos íbamos al río y veíamos a muchos pitufos dando vueltas así... ... es war schon dabei, Abend zu werden, dann, äh, so gingen wir weg, um ein bißchen zu spielen, mit einem Freund, er hatte ein Pferd, wir stiegen auf, wir gingen an den Fluß, und sahen eine Menge Schlümpfe, die im Kreis umhergingen so... Mädchen Nr. 2: Pero unos eran niños disfrazados. Aber einige waren verkleidete Kinder. Junge Nr. 1: No, no son niños, son así unos niños así chiquitos Nein, das sind keine Kinder, sie sind so einige so klitzekleine Kinder Er machte ein Zeichen mit der Hand, um zu zeigen, wie groß sie waren. Junge Nr. 1: que el diablo se los lleva. daß der Teufel sie wegnimmt. Mädchen Nr. 3: Que eran como pitufos. Daß sie wie Schlümpfe waren. Interviewerin: ¿el diablo dijiste? Du hast Teufel gesagt? Junge Nr. 1: ¡Ajá! Aha! Mädchen Nr. 2: C o m o duendes o si no lo que dicen acá. Wie Kobolde oder, wenn nicht, das, was man hier sagt. Junge Nr. 1: ¡Ajá! Son duendes. ¡Los aluxitos! Aha! Es sind Kobolde. Die Aluxeslein! Einige Kinder gleichzeitig: ¡Ah sí! Ach ja! Mädchen Nr. 3: ¡Los que no crecen!. Los que no crecen. Diejenigen, die nicht wachsen! Diejenigen, die nicht wachsen. Mädchen Nr. 2: Eh, como ese sapito. He, wie dieses Krötchen. Sie deutete die Gestalt einer kleinen Kröte an. Durch diesen Prozeß der erzählenden Ausarbeitung durch die Gruppe nahm die Version des Gerüchtes über die Schlümpfe eine allen Kindern annehmbar erscheinende Form an. Diese waren schließlich der Ansicht, daß die Schlümpfe eher "Aluxitos" wären als verkleidete Kinder oder aber kleine Kinder, die der Teufel entführte. Die Existenz der Aluxes wurde während der Befragung durch keines der Kinder in Zweifel gezogen. In diesem Punkt bestand völlige Übereinstimmung.

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Im Verlauf der Befragung hoben die meisten Kinder das kecke und schelmische Wesen der Schltimpfe in ihrer Gestalt der Aluxes hervor. Da sie keine ihnen Angst einflößenden Figuren waren, sprachen einige der Kinder auch von den "Aluxitos" im Diminutiv. Sie kitzelten ein Baby und lächelten es an, sie tanzten und gingen im Kreis umher.

7.3.3 Die Assoziationswelt der Kinder Die Version vom Schlumpf als Alux führte zu vielfältigen Assoziationen mit anderen Maya-Legenden, Mythen über ruhelose Seelen, griechischen Sagen, Märchen und Horrorfilmen.

7.3.3.1 Andere Maya-Legenden Als die Kinder das Gerücht über die Schlümpfe mit anderen Legenden und Glaubensvorstellungen der Maya verknüpften, tauchte auch die Figur des "uay-chivo" auf. Diese Figur geht auf den Maya-Glauben zurück, die Zauberer könnten sich in jedes Tier verwandeln. Villa Rojas berichtet näher darüber, daß sie einen Namen erhalten entsprechend der Gestalt, die sie annehmen: Así el que toma la apariencia de gato es uay-miz; si de toro uay-uacax, etc, etc. Esta clase de animales puede no causar daños y limitar su acción a simples travesuras que ocasionan espanto en los poblados; en cambio, pueden usar artes mágicas para tener tratos sexuales con mujeres dormidas (Villa Rojas, 1978:390). Der Autor legte eine ihm erzählte Geschichte dar, die von einem übernatürlichen Tier in der Gestalt eines Hundes handelte und "uay-pek" genannt wurde. Mit Hilfe von Kreuzen aus geweihten Palmen oder indem auf den Boden am Hauseingang Kreuze aus Salz und gemahlenen Kräuterblättern gezeichnet wurden, gelang es, das Tier zu verscheuchen (Villa Rojas, 1978: 390). In einer anderen Legende wurde erzählt, daß die Figur einen Pakt mit dem Teufel schloß und sich in eine Ziege verwandelte (Medina, 1982:45-61). Auf diese Legende wird im Zusammenhang mit der Analyse des Interviews der sechsten Klasse eingegangen. Rosado Vega (1934: 90) zufolge wird die Entsetzen bedeutende Partikel "uay" dem Namen dieser Figuren beigefugt. Während der Befragung stellte sich heraus, daß die Kinder diese Figuren nicht gut zu kennen schienen. So fragte etwa ein Junge, als über den Uay-chivo gesprochen wurde, worum es ginge. Der antwortende Junge beschrieb den Uaychivo als Uay-toro und behauptete zudem, daß der Uay-chivo pfiff. Dies stellt

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jedoch eine Eigenschaft anderer Figuren der Mythologie der Maya dar, wie die der Balamoob, die in der Befragung der sechsten Klasse auftreten. Junge Nr. 3: Mi hermano llegó una vez casi a las doce de la noche y como ahí frente a mi casa hay una mata de flamboyan, ahí se para el uay-chivo y chifla. Mein Bruder kam einmal fast um zwölf Uhr nachts nach Hause und dort gegenüber meinem Haus gibt es eine Mata von Flammenbäumen, dort steht der Uay-chivo und pfeift.

Interviewerin: ¿El qué? ¿uanchido? Was? uanchido? Junge Nr. 3: Cuando se oye lejos es que está cerca. Cuando se oye recio es que está lejos. Wenn man ihn von der Ferne hört, dann ist er nah. Wenn man ihn laut hört, dann ist er fern.

Interviewerin: ¿Y qué hace? Und was macht er? Junge Nr. 2: ¿Qué es eso de uay-chivo? Was ist das, ein Uay-chivo? Junge Nr. 3: Se convierte en animal y en toro. Su cabeza es toro y su cuerpo es humano. Er verwandelt sich in ein Tier und in einen Stier. Er hat einen Stierkopf und einen menschlichen Körper.

Das von Junge Nr. 3 - und auch an späteren Stellen von den Kindern - verwendete Wort "mata" oder in Maya "pak"' wird von Terán und Rasmussen wie folgt erläutert: es el término más generalizado en Yucatán para denominar a los sembradíos y, en especial, a los árboles" (Terán/Rasmussen, 1992, Band I: 130). Während der Befragung kam auch eine weitere mythische Mayafigur vor, der Boob, der laut Baqueiro López (1981) ein behaartes Untier mit dem Körper eines Pferdes und dem Kopf eines Jaguars ist. Villa Rojas (1978: 300) zufolge ernährt er sich von Menschenfleisch. Das Mädchen Nr. 4 griff den Namen dieser Figur samt ihrer aggressiven Bedeutung auf, verband sie jedoch mit den Toten. Mädchen Nr. 4: Dicen que hay unos muertos que se llaman Boobus. Man sagt, daß es einige Tote gibt, die Boobus heißen. Interviewerin: Boobus, mmh y ¿qué hacen? Boobus, mmh und was machen die? Mädchen Nr. 4: Pues matan a la gente. Nun, die bringen Leute um. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß auch die Maya noch heute glauben, daß die Toten, obschon sie an speziellen Orten, entfernt von ihren Hau-

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sern wohnen, doch am "Día de los muertos" mit ihren Verwandten und Freunden zusammentreffen können und sich dann von den Speisen und Opfergaben ernähren, die diese ihnen während des Jahres, vor allem jedoch an diesem Feiertag, zubereiten. Die Hunde besitzen die Macht, die Toten sehen zu können (Villa Rojas, 1978:298). Der Ahnenkult stellt eine prähispanische Tradition der Maya dar, über die bereits De Landa berichtete (1574-1575: 58-60). Laut Villa Rojas besteht weiterhin der Glaube, daß, wenn der Ritus nicht befolgt wird, Krankheiten oder andere Schäden hervorgerufen werden können. Es sei daran erinnert, daß die erscheinenden Toten und die Nahrungsmittel, die in Mexiko am "Dia de los muertos" als Opfergaben dargebracht werden, in den Erzählungen der Kinder der Schule Benito Juárez eine wichtige Rolle spielten.

7.3.3.2 Der erscheinende Schlumpf und die Llorona Während dieser Befragung kam auch die Vorstellung vom erscheinenden Schlumpf vor, eine spezielle Version der Kinder der Schule Benito Juárez. Dabei wird behauptet, daß der Schlumpf lebendig ist, erscheint und wieder verschwindet. Bei den Versionen über den die Kinder vom Weg ablenkenden Schlumpf drehte es sich um ein Wesen, das erschien: Mädchen Nr. 4: Puésss que una niña estaba durmiendo y su cuarto estaba lleno de cosas de pitufos y que aparecieron muchos pitufos y que la rasguñaron yyy, este, le quitaron un ojo y cuando amaneció la vieron y pensaron que los pitufos porque ya no estaban las cosas de los pitufos. Nun, daß ein Mädchen schlief und sein Zimmer war voll von Schlumpfsachen, und daß viele Schlümpfe erschienen und daß sie es zerkratzten, und, äh, ihr ein Auge ausrissen, und als es hell wurde, sahen sie es und dachten, daß die Schlümpfe, weil jetzt keine Schlumpfsachen mehr da waren.

Bei der oben wiedergegebenen Version vom Schlumpf als Alux handelte es sich auch um ein erscheinendes Wesen. Dabei wurde nicht von einer Puppe, sondern von einem lebendigen Wesen gesprochen. Das Wort "existir" wurde sechsmal im Interview genannt, das Verb "aparecer" fünfmal. Diese Version führte zu manchen der auch in der Schule Benito Juárez auftauchenden Assoziationen: einmal mit lebendig werdenden Puppen, dreimal mit Toten, die wiedererweckt wurden oder erschienen, viermal mit der Legende von der Llorona. Erneut entstand hier eine Version über eine aggressive Llorona, die wegen der Ermordung ihrer Kinder keine Schuldgefühle hatte. Die Betonung wurde nicht auf die Strafe gelegt, weiterhin leiden, sondern weiter morden zu müssen. In der Geschichte war keinerlei Spur von Reue zu erblicken, vielmehr ging es um ständige Rache. Dieser Version der Kinder der Schule Hispanomexicano zufolge

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brachte die Llorona nicht nur ihre eigenen Kinder um, sondern auch andere Kinder und Männer. Sie suchte außerdem die Schuld für ihre Handlungen bei anderen: Mädchen Nr. 1: Este, en el pueblo de mi mamá también existe la Llorona. Äh, im Dorf meiner Mutter existiert auch die Llorona. Mädchen Nr. 2: Hasta en TRM 7 , en televisión salió la historia de la Llorona, que ella tenía tres hijos, entonces uno, le dice, vamos a bañarnos al río, lo ahogó, lo llevó a lo hondo. Estaban en un barco, lo tiró. El otro también le pasó lo mismo. Entonces ya en la noche ella se ponía una bata blanca y un velo tapado y gritaba: "¡Ay mis hijos!" Entonces pasó por donde estaban unos señores y los ahorcó. Dice así ella: "Ustedes mataron a mis hijos, ¿por qué lo hicieron?" Sogar in TRM, im Fernsehen lief die Geschichte von der Llorona, daß sie drei Söhne hatte, dann einer, sie sagte ihm, gehen wir im Fluß baden, sie ertränkte ihn, sie brachte ihn zu einer tiefen Stelle. Sie waren in einem Boot, sie warf ihn hinaus. D e m anderen geschah dasselbe. Dann nachts zog sie einen weißen Umhang an und warf einen Schleier um und schrie: "Wehe, meine Kinder!" Dann kam sie an einigen Männern vorbei und erhängte sie. Sie sagte zu ihnen: "Ihr habt meine Kinder umgebracht, warum habt ihr das getan?"

Mädchen Nr. 1: Mi mamá, este así también oyó eso, una historia y este así por todo el río que está por el pueblo de mi mamá salen así, los señores que ya murieron y la Llorona también. Un día salió la Llorona cuando hay niños así ajuera de la calle y los mata. Meine Mama, sie hat das auch so gehört, eine Geschichte und äh, in der Gegend des Flusses in der Nähe des Dorfes von meiner Mama, da kommen sie heraus, die Männer, die schon gestorben waren, und die Llorona auch. Eines Tages ging die Llorona heraus, wenn es Jungen draußen auf der Straße sind und bringt sie um.

Die Schreie der Llorona bezogen sich auf jemanden, der nach immer mehr Toten verlangt. In der von dem Mädchen erzählten Filmversion wurde ein audiovisuelles Detail hervorgehoben, nämlich die Art der Kleidung der Llorona, ein weißer Umhang und ein Schleier. In einer anderen Version gegen Ende des Interviews erzählte Mädchen Nr. 3 einen mit der Llorona verbundenen Vorfall, als sei er von einem anderen Mädchen und dann auch von ihm selbst erlebt worden. Im ersten Teil der Erzählung drückte das Mädchen Nr. 3 gleichwohl seine Zweifel aus, ob das andere Mädchen das Ereignis nicht doch bloß phantasiert habe. Im zweiten Teil der Erzählung assoziierte das Mädchen Nr. 3 das Geschehnis dann auf recht eindeutige Weise mit seinen eigenen Ängsten vor dem Alleinsein. Das Szenarium der Handlung der Llorona war die Haustür. Auch in anderen Erzählungen kratzten die Aluxes an der Tür:

TRM stellt die Abkürzung von "Televisión Rural Mexicana" dar.

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Mädchen Nr. 3: Y entonces que vió al, que llegó la Llorona y le dijo: "Abreme la puerta". Estaba con su hermano y entonces no le quizo abrir la puerta porque se lo estaba imaginando. No sé si se lo estaba imaginando o algo así y no le abrió la puerta y llegó su mamá y empezó a llorar la niña porque la asustaron y también cuando iban a bautizar a mi hermanita yo me quedé con la hija de la señora que trabajaba en mi casa. Entonces oíamos así gritos: "Aaayy", cosas así que a mí me asustaron y empezamos a llorar y todo eso. Llega mi mamá y le dije: "Ya no me dejes sola porque a mí me asustan mucho..." Und dann sah es, daß die Llorona ankam und ihm sagte: "Öffne mir die Tür". Es war mit seinem Bruder zusammen und es wollte ihr dann nicht die Tür öffnen, weil es sich das nur einbildete. Ich weiß nicht, ob es sich das nur einbildete oder so etwas, und es machte ihr die Tür nicht auf, und seine Mutter kam an und das Mädchen fing zu weinen an, weil sie erschreckt wurde, und auch als sie zur Taufe meines Schwesterchens gegangen waren, blieb ich mit der Tochter der Frau, die in unserem Hause arbeitete, zurück. Dann hörten wir solche Schreie: "Wehe", solche Sachen, die mich erschreckten, und wir fingen zu weinen an und all das. Meine Mama kommt zurück und ich sagte ihr: "Laß mich nicht mehr allein, denn ich fürchte mich so..."

7.3.3.3 Europäische Märchen und Sagen Die Version vom Schlumpf als Alux wurde auch mit europäischen Märchen in Verbindung gebracht, die von Kobolden und Feen handelten. Unmittelbar nachdem die Kinder mit der Interpretation des Schlumpfes als Alux zufrieden waren, kamen Assoziationen mit Kobolden auf: Mädchen Nr. 3: En Dinamarca hay unos enanitos que, pero no me acuerdo como se llaman y que ellos ayudan mucho a los animales y que hay unos monstruos que quieren hacer mal a la gente, pero esos anima, esos enanitos ayudan a, a la gente para que no los asusten y que son, ¿cómo se llaman? gnomos y que no sé qué y que son malos y que hacen maldades. Ya no me acuerdo. In Dänemark gibt es einige Zwerglein, die, aber ich erinnere mich nicht daran, wie sie heißen, und daß sie den Tieren viel helfen, und daß es irgendwelche Ungeheuer gibt, die den Leuten schaden wollen, aber diese Tie, diese Zwerglein helfen den, den Leuten, daß sie sie nicht erschrecken, und daß sie sind, wie heißen sie doch? Gnomen und, was weiß ich noch, und daß sie Bösewichter sind und Untaten verüben. Ich erinnere mich nicht mehr daran.

Wenig später tauchte die Assoziation mit Feen auf: Mädchen Nr. 2: También en Dinamarca que hay unas hadas que hay veces que las gentes las quiere agarrar y que ellas vuelan y todo y que ellas nadan y que ellas vuelan sobre un pantano y allá se muere la gente.

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Auch in Dänemark, w o es einige Feen gibt, die die Leute manchmal fangen wollen und daß sie fliegen und alles und daß sie schwimmen und daß sie über einen Sumpf fliegen und dort sterben die Leute.

Junge Nr. 3: Ajá, ven para el cielo y luego Aha, sie gucken in die Luft und dann

Interviewerin: ¿Cómo? ¿Quiénes ven para el cielo? Wie? Wer guckt in die Luft?

Mädchen Nr. 2: Es que son unas hadas que las gentes las quiere agarrar, entonces que la gente, que la hada le habla, le hace una maldad de ir a un lago, a un pantano para que ella se, para que la gente que la está correteando se ahoge en el pantano. Das sind einige Feen, die die Leute fangen wollen, dann, daß die Leute, daß die Fee zu ihnen spricht, sie verübt eine böse Tat, an einen See zu gehen, an einen Sumpf, damit sie sich, damit die Leute, die ihr hinterherlaufen, im Sumpf ertrinken.

In dieser Erzählung erhalten die in europäischen Märchen meist durch Wohlwollen gekennzeichneten Feen der X-tabay vergleichbare Eigenschaften. Die Xtabay ist, wie gesagt, eine verführerische Frau, die Männer vom rechten Weg abbringt und manchmal ermordet. In ähnlicher Weise erhielt auch die Geschichte vom Werwolf gewisse Mayazüge, als ein Junge erzählte, daß der Werwolf nahe bei seinem Haus wohnte. Ein Beweis hierfür waren zertrümmerte Stühle und zerbrochene Teller sowie beim Vorbeigehen sich schließende Türen und Fenster, was typische Handlungen des Kobolds X-Bolon Thoroch sind, der nachts Geräusche häuslicher Alltagsarbeiten verursacht (Baqueiro Lopéz, 1981). Da von den Aluxes häufig behauptet wird, daß man sie weder sehen noch berühren dürfe, kamen die Kinder zu Assoziationen mit der Figur der Medusa: Junge Nr. 1: Empezaron a tirar piedrecitas y salimos corriendo, porque dice mi papá que si los ves te mueres. Sie fingen an, Steinchen zu werfen und wir rannten weg, weil mein Papa sagt, daß du stirbst, wenn du sie siehst.

Interviewerin: ¿Si ves a los aluxes te mueres? Wenn du die Aluxes siehst, stirbst du?

Junge Nr. 2: Como la Medusa. Wie die Medusa.

Mädchen Nr. 2: No'más les ves los ojos y te quedas como estatua de piedra. Wenn du nur ihre Augen siehst, wirst du zur Statue aus Stein.

Interviewerin: ¿Cómo? Wie?

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Verschiedene Kinder erwiderten: En lugar de pelos tiene serpientes vivas y este Perseo le cortó la cabeza. Anstelle von Haaren hat sie lebendige Schlangen und dieser Perseus hieb ihr den Kopf ab.

Mädchen Nr. 2: Y mochó un espejo. Und zerbrach einen Spiegel.

Mädchen Nr. 3: Aja, para que no lo, para que la Medusa se viera. Aha, damit nicht, damit die Medusa sich selbst sieht.

Mädchen Nr. 1: Se convirtiera en piedra y luego Sie wurde zu Stein und dann

Mädchen Nr. 2: Perseo le pueda cortar la cabeza. Perseus konnte ihr den Kopf abschlagen.

Mädchen Nr. 3: Y dicen en una leyenda del libro de segundo afio, dicen en una leyenda de Egipto que cuando Perseo le cortó la cabeza como Medusa estaba derramando sangre cada, este, cada sangre se volvía en una serpiente con que, cuando, con la que se mató esta, no, no la reina de Egipto. Und man sagt in einer Legende aus dem Buch der zweiten Klasse, man sagt in einer Legende aus Ägypten, daß, als Perseus ihr den Kopf abschlug, da Medusa das Blut vergoß, alles, äh, alles Blut wurde zu Schlangen, womit, als, womit sie getötet wurde, nein, nein, die Königin von Ägypten.

Anhand dieser Version kann außerdem erneut ein Zusammenhang mit der Xtabay gesehen werden, die sich mitunter in eine Schlange verwandelt. Dies erzählten einige Kinder im Interview der sechsten Klasse.

7.3.3.4 Erzählungen über Horrorfilme Die Version vom Schlumpf als Alux führte auch zu Assoziationen mit Horrorfilmen. Das Mädchen Nr. 3 erzählte, daß in einem Film, dessen Titel sie nicht angab, ein braver Junge gerade las und Musik hörte. Er setzte sich einen Kopfhörer auf, dabei wurde er vom Teufel besessen, der ihm befahl: "¡Mata a tu mamá! ¡Mata a tu papá! ¡Mata a tus hermanos". Der Junge folgte diesem Befehl. Ein Priester, der von der Tat erfahren hatte, versuchte ihm zu helfen. Der Junge kam ins Gefängnis. Schließlich verließ ihn der Teufel wieder. Der Junge bereute seine Tat, und als er im Krankenhaus war, sah man auf seinem Körper eine Schrift, die besagte: "¡Ayúdenme por favor!" Die Erzählung dieses Films lenkte sieben Minuten lang die Aufmerksamkeit aller Kinder auf sich. Ein Teil der Handlung dieses Films bildete auch eine in der Schule Peterson vorkommende Version des Gerüchts. Dort wurde dargelegt, daß der Schlumpf anstelle des Teufels dem Jugendlichen befohlen hatte, er solle seine Eltern umbringen, wobei die Kinder einhellig der Ansicht waren, daß der

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Schlumpf nicht die Ermordung der Geschwister befohlen hatte. Anders als in der Schule Peterson wurde bei den Kindern der Schule Hispanomexicano ein Bezug zu einem Film hergestellt. Auf meine Nachfragen, in welchem Film sich diese Szene abgespielt haben könnte, erhielt ich die Namen von über zehn Filmen zur Antwort. Nach Betrachtung dieser Filme zeigte sich, daß die entsprechende Szene in allen fehlte. Die Äußerung der Kinder der Schule Hispanomexicano sowie die Antworten der Personen, die ich nach dem Film befragte, illustrieren, welchen Prozeß audiovisuelle Diskurse durchlaufen, wenn sie in einen Vorgang der Entstehung mündlicher Geschichten eingeflochten werden. Die Tendenz, Filmtitel, Regisseur und Schauspieler wegzulassen, bedeutete eine Umwandlung in einen anonymen Diskurs. Das Mädchen Nr. 3 verwendete bei seiner Erzählung außerdem auch dem Film El Exorcista entnommene Szenen. Im Film El Exorcista sieht man auf dem Körper einer besessenen Jugendlichen die Schrift: "Help me". In beiden Filmen war die Hauptfigur vom Teufel besessen. Die Erzählung des Mädchens Nr. 3 über die Art und Weise des Mordes der Eltern und Geschwister wird auszugsweise wiedergegeben. Sie wurde eingehend beschrieben von dem Augenblick an, als der Junge vom Teufel besessen wurde, sein Gesicht sich veränderte, er das Gewehr suchte und seine Familie umbrachte. Die Beschreibung war voller visueller und audiovisueller Einzelheiten. Dies zeigte auf, daß sie den Film gesehen hatte und die Rolle einer Zeugin annahm. Bemerkenswert ist auch, wie das Mädchen den Schall des Gewehrs und des Schusses beschrieb. Mädchen Nr. 3: y ¡pán! tira, era de dos balas, así, disparaba y salían dos balas, tres, cuatro veces le disparó a su papá. Entonces su mamá dijo: "¡No hijo! ¿Qué te está pasando?" y ¡pán! que le dispara a su mamá. Entonces sale su hermanita la chica y dice: "¡Mamá, mamá mamacita linda!" y entonces ella no se había dado cuenta que su hermano estaba tras ella, cuando voltea ella, le tira un disparo, sale un bebecito de dos afios, sale así... Sólo quedaba su hermana mayor y este y ella salió de su cama y se escondió abajo de la mesita del comedor... y entonces este voltea a ver la muchacha y ¡pán! le da un disparo... Und peng, Schuß, das waren zwei Kugeln, so, er drückte ab und es gingen zwei Kugeln los, drei, viermal feuerte er auf seinen Papa. Dann sagte seine Mama: "Nein, Sohn! Was ist mit dir los?" und peng, da schießt er auf seine Mama. Dann kommt sein Schwesterchen, das kleine, und sagt: "Mama, Mama, liebes Mamilein!" Und dann hatte es nicht gemerkt, daß sein Bruder hinter ihm war, als es sich umdreht, er drückt einen Schuß auf es ab, da kommt ein Babylein von zwei Jahren heraus, es kommt heraus... Nur seine ältere Schwester blieb übrig, und äh und sie kam aus ihrem Bett und versteckte sich unter dem Tischchen des Eßzimmers... und dann drehte sie sich herum, um zu sehen, und peng, er feuerte auf sie ab...

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Im vorliegenden Fall wurde ein Horrorfilm in eine Welt lokaler mündlicher Erzählungen eingebaut und deswegen mit diesen gleichgestellt, obgleich gewisse audiovisuelle Merkmale erhalten blieben. Jede audiovisuelle Erzählung stützt sich bei ihrer mündlichen Wiedergabe auf andere erzählerische Formeln. Sie wird dabei umgewandelt gemäß dem Entstehungskontext der Erzählung oder dem spezifischen mündlichen Ereignis, das die passende, von solch einem Film zu erzählende Information bestimmt.

7.3.4 Der Grad der Glaubwürdigkeit der Erzählungen Die Tatsache, daß die Kinder unterschiedliche Versionen des Gerüchtes erzählten und diese mit Erzählungen verschiedenartiger Natur assoziierten, bedeutete durchaus nicht, daß für die Gruppe alle Versionen die gleiche Glaubwürdigkeit besaßen. Die ersten Versionen riefen viele Zweifel bei den Kindern hervor, wobei bei zwei Anlässen einige Kinder sagten, daß sie nicht daran glaubten. Ein Anlaß bot sich unmittelbar zu Beginn der Befragung, als ein Junge erzählte, daß sein Onkel behauptet hätte, daß die Schlümpfe existierten und einen in einem Auto sitzenden Mann umgebracht hätten: "Se parecieron, se metieron y lo mataron". Unmittelbar danach äußerten drei Mädchen, daß sie dies nicht glaubten: Mädchen Nr. 2: Pues yo no creo en ellos. Aber ich glaube nicht an sie. Mädchen Nr. 4: Ni yo. Auch ich nicht. Mädchen Nr. 3: Yo tampoco. Ich auch nicht.

Die gleiche Reaktion erfolgte auf die Erzählung über einen Jungen, der mit einem Motorrad auf der Straße fuhr: Junge Nr. 1: El veia carretera, pero estaba yendo en puro monte. Entonces ya que se fija que es puro monte. Se le aparecen puros pitufos. Er sah die Straße, aber er fuhr aufs Land. Dann stellte er fest, daß er mitten auf dem Land war. Es erschienen ihm lauter Schlümpfe.

Mädchen Nr. 1 (leise sprechend): Ay, esas cosas me dän miedo. Ach, diese Sachen machen mir Angst.

Interviewerin: ¿Si? Ja?

Mädchen Nr. 2: Pero son puros cuentos. Aber das sind doch lauter Märchen.

Junge Nr. 2: Yo ni creo en ellos.

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Ich glaube auch nicht daran.

Mädchen Nr. 1: A lo mejor son puros cuentos. Vielleicht sind es lauter Märchen.

Junge Nr. 2 (leise sprechend): Nada más, nada más el padre Abraham los inventa. Weiter nichts, weiter nichts, der Padre Abraham hat sie erfunden. Interviewerin: ¿Que el padre Abraham los inventa? Was, hat Vader Abraham sie erfunden? Junge Nr. 2: A d e m á s no existen. Son niños disfrazados. Außerdem existieren sie nicht. Es sind verkleidete Kinder.

Mädchen Nr. 1: Dice mi mamá que iba un señor en su carro... y que un pitufo estaba parado así, este, y, y, y, creía que lo iban a chocar, que da así y que había puros árboles llenos de pitufos. Meine Mama sagt, daß ein Mann in seinem Wagen fuhr... und daß ein Schlumpf ihn anhielt, so, äh, und, und, und, er glaubte, daß sie mit ihm zusammenstießen, daß es so war, und daß es ganze Bäume voller Schlümpfe gab.

Diese Passage zeigt, daß die Kinder sich erlaubten, ihre Ängste, ihre Ungläubigkeit und ihren Anflug von Zweifel im Hinblick auf die Version vom Schlumpf auszudrücken, der auf dem Weg erscheint. Das verhinderte jedoch nicht, daß das Mädchen Nr. 1, das anfänglich Angst gehabt hatte, gleich darauf in geheimnisvollem Ton eine ähnliche Version erzählte, zu der dann keiner einen Kommentar abgab. Das gleiche Verhalten war beim Erzählen der ersten Versionen über das Gerücht zu beobachten. Ein Junge erzählte die Version, danach drückten die anderen gewisse Zweifel aus. Nach und nach begannen die Kinder mit dem Erzählen anderer, ähnlicher Geschichten, was ihnen Vergnügen bereitete, unabhängig davon, ob sie die Erzählungen für glaubwürdig hielten oder nicht. Das Mädchen Nr. 2, das als erstes sehr nachdrücklich seinen Unglauben den Schlümpfen gegenüber geäußert hatte, erzählte später in geheimnisvollem Tonfall eine von ihr selbst erlebte Geschichte, die möglicherweise mit Kobolden zu tun hatte, die nachts Geräusche häuslicher Arbeiten verursachten, wie der bereits zuvor erwähnte X-Bolon Thoroch. Dies erweckte Zweifel seitens der Zuhörer und zeigte erneut gewisse Grenzen der Glaubwürdigkeit in dieser Gruppe von Kindern auf: Mädchen Nr. 2 (mit tiefer Stimme): A mí me tiene sucedido algo, de noche cuando estoy durmiendo, como me invitaron a dormir a casa de una amiga, empecé a ver que la puerta de su casa, la estaban toque y toque. Entonces oí que están dando unos pasos. Oí que mueven el sillón, que están barriendo, oí que abren la puerta para tirar la basura. Mir ist etwas passiert, nachts wenn ich gerade schlafe, da ich eingeladen wurde, bei einer Freundin zu übernachten, sah ich, daß an der Tür ihres Hauses, da waren sie,

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klopf, klopf. Danach hörte ich, daß sie einige Schritte gingen. Ich hörte sie den Sessel rücken, daß sie fegten, ich hörte, daß sie die Tür aufmachten um den Müll wegzuwerfen. Interviewerin: ¿Y qué creías que eso era? Und was meintest du, was das war? Mädchen Nr. 2: Pues para mí, los espíritus. También estaba y o sólita en mi casa porque mi mamá a veces sale de compras y se lleva a mi hermano y a mi abuelita y mi papá está en su trabajo, entonces oigo que se tiran los trastes, que aspiran atrás. Nun, für mich, die Geister. Auch war ich allein zu Hause, weil meine Mama manchmal zum Einkaufen weggeht und meinen Bruder und meine Oma mitnimmt, und mein Vater ist auf der Arbeit, dann höre ich, daß das Geschirr umgestoßen wird, daß hinten gesaugt wird. Junge Nr. 1: Pueden ser los ratones. Könnten die Ratten sein. Junge Nr. 2: Los gatos. Die Katzen. Mädchen Nr. 3: O los perros. Oder die Hunde. Mädchen Nr. 2: N o , en mi casa todas las ventanas y las puertas nunca las abrimos, sólo la puerta del patio, pero tiene mosquitero y todo está cerrado así y en las noche se oye que está tirando platos, ollas... Cuando me levanto a ver está todo tirado: "platos rotos y" Nein, bei mir zu Hause öffnen wir niemals die Fenster und Türen, nur die Tür zum Innenhof, aber dort ist ein Moskitonetz, und so ist alles zu und nachts hört man, wie Teller und Töpfe umgeworfen werden... Wenn ich aufstehe, um zu sehen, ist alles umgeworfen: "kaputte Teller und" Interviewerin: ¿Y qué crees que era? Und was meinst du, was es war? Mädchen Nr. 2: N o sé, espíritus. Ich weiß nicht, Geister. Junge Nr. 2: También puede ser que te lo imaginas y entonces en tus sueños si hay sueños y se hacen realidad. Es kann auch sein, daß du dir das vorstellst, und dann in deinen Träume, wenn es Träume gibt und sie werden wirklich. Mädchen Nr. 2: N o porque hasta mi mamá, mi hermanita a veces empieza a llorar. Mi hermano oye también que está tirando platos. Nein, weil sogar meine Mama, mein Schwesterchen fängt manchmal zu weinen an. Mein Bruder hört auch, daß Teller geworfen werden. Nach dieser Äußerung sprach ein anderer Junge über den Uay-chivo, und das Mädchen Nr. 2 erzählte eine von ihrer Mutter gehörte Geschichte, bei der be-

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stimmte Kobolde an der Tür des Hauses gekratzt und solche Geräusche hervorgerufen hatten. Die Kinder bezweifelten dies nicht. Möglicherweise war diese unterschiedliche Reaktion der Gruppe der Erwähnung von Kobolden zuzuschreiben. Kobolde waren in der Gruppe als völlig glaubwürdig akzeptiert, was sich auch anhand der Version vom Schlumpf als Alux zeigte. Den bisherigen Darlegungen zufolge ergibt sich, daß eine genauere Ermittlung dessen, was die Kinder als glaubwürdig einstuften, keineswegs einfach ist. Feststellen läßt sich gleichwohl, daß die Regeln der Gruppe den Ausdruck von Angst, des Zweifels sowie des Glaubens zuließen. In diesem Zusammenhang fragte ich die Kinder, ob sie Schlumpfgegenstände hätten. Hierauf antworteten zwei Kinder ruhig, sie besäßen Schreibmappen und Bleistifte mit Schlümpfen. Die Jungen Nr. 1 und 2 drückten in zugleich nervösem und vergnügtem Tonfall aus, sie hätten Schlümpfe, diese wären jedoch versteckt: Junge Nr. 2: Yo tengo uno de los pitufos, pero lo tengo hasta el fondo. Ich habe einen von den Schlümpfen, aber ich habe ihn ganz nach unten gesteckt. Junge Nr. 1: Yo tengo un pitufo grande, sólo que lo tengo metido en el closet, así, si oigo que se abre, ¡me levanto volando! Ich habe ein großen Schlumpf, aber ich habe ihn in den Wandschrank gesteckt, so, wenn ich höre, daß dieser aufgeht, stehe ich im Nu auf.

Außerdem berichtete das Mädchen Nr. 1, seine Mutter habe ihm keinen Schlumpf aus Plüsch kaufen wollen, weil sie befürchtete, daß er ihrer Tochter etwas antun könnte. Anhand von Inhalt und Tonfall der Äußerungen der Kinder wurde deutlich, daß einige Kinder, vor allem Mädchen, keinerlei Angst vor Schlumpffiguren hatten. Andere Kinder dieser Gruppe jedoch ließen eine gewisse Vorsicht walten, wie auch die Kinder der sechsten Klasse in der Schule Benito Juárez.

7.3.5 Die unterschiedlichen Tonfälle während der Befragung Zwei unterschiedliche Arten von Tonfällen waren während des gesamten Interviews vorherrschend und nuancierten die Erzählungen der Kinder, nämlich ein vergnügter sowie und ein geheimnisvoller, dramatischer Ton. Der heitere Tonfall begleitete im allgemeinen die Version vom Schlumpf als Alux und verschiedene Assoziationen mit Maya-Legenden sowie die Sage von der Medusa. In diesen Fällen sprachen die Kinder voller Begeisterung, mit lauter Stimme, flüssig und mit je nach Kind unterschiedlicher Geschwindigkeit. Der geheimnisvolle Tonfall begleitete die Legende von der Llorona, die Erzählungen über Geister, den Werwolf und die Horrorfilme. Dieser Ton überwog in der Schlußphase des Interviews, als die Befragung zu einer Sitzung über Geister- und Horrorgeschichten

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wurde, wobei nicht länger nach der Glaubwürdigkeit der Erzählungen gefragt wurde. Dann wurde mit leiser Stimme gesprochen, mit vielen Pausen, langsam und in dramatischem Ton. Nur während der Erzählung der einem Horrorfilm entnommenen Geschichte über einen vom Teufel besessenen Jungen sprach das Mädchen ziemlich schnell, jedoch immer auf äußerst dramatische Weise. Zu Beginn der Befragung färbte neben den beiden vorherrschenden Tonfällen als dritter ein ernster Ton die Erzählungen der Kinder. Er wurde stets dann verwendet, wenn die Kinder ihre Zweifel an Äußerungen anderer ausdrückten. Die Darlegungen waren dann knapp und flüssig, die Stimme laut, tief und mit einem fragenden Tonfall verbunden. Manchmal vermischten sich diese Tendenzen. So wurde eine Erzählung über Kobolde und auch die vom das Baby kitzelnden Schlumpf langsam erzählt, mit Pausen versehen und in geheimnisvollem Ton vorgetragen.

7.3.6 Die Gruppendynamik Die Teilnahme der Kinder war im allgemeinen rege, obwohl die Äußerungen während der ersten Minuten des Erzählens des Gerüchtes nicht so begeistert klangen. Begeisterung kam auf, als die Kinder begannen, über die Aluxes zu sprechen. Am Anfang des Interviews wurde das Schema von Frage und Antwort aufrechterhalten. Als die Kinder die Version vom Schlumpf als Alux entwickelten, nahmen viele teil und das Schema löste sich auf. Die Kinder begannen in stärkerem Maße, sich miteinander zu unterhalten. Die Person der Interviewerin tendierte dazu, zu verschwinden, und beschränkte ihre Äußerungen weitgehend auf die Bitte um Erläuterung. Am Ende der Befragung stellte ich für die Kinder nur eine Zuhörerin dar oder jemanden, dem sie Geschichten erzählen konnten. In dieser Phase wendeten die Kinder sich nicht nur mir, sondern auch ihren Klassenkameraden zu, die ihre Erzählungen ergänzten. Die Kinder fragten mich kein einziges Mal nach dem Grund der Befragung. Insofern änderte sich meine Rolle als Interviewerin nicht. Die Kinder beantworteten meine Fragen und erzählten. Dabei sprachen sie mich mit dem Personalpronomen "usted" an, mit dem sie üblicherweise Erwachsene wie Lehrer, Eltern ihrer Freunde usw. ansprachen. Deshalb kann angenommen werden, daß sie mich in gewisser Hinsicht als eine Respektsperson und nicht als ihresgleichen betrachteten. Angesichts des ungezwungenen und spontanen Verhaltens sowohl mir gegenüber als auch untereinander, empfanden die Kinder die Situation nicht als Prüfung. Deshalb erlaubten sie sich auch, auf meine Fragen ihre Unkenntnis zuzugeben. Sie bekundeten gleichfalls Zustimmung oder äußerten ihre persönli-

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che Meinung Uber die Erzählungen, ohne daß dies zu irgendwelchem Spott gegenüber Gruppenmitgliedern oder Außenstehenden führte. Die Regeln der Produktion von Erzählungen in dieser Gruppe legten fest, daß man Toleranz walten lassen müßte, was jedoch nicht Indifferenz bedeutete. Entstand bei irgendeiner Erzählung die Vorstellung, sie sei unglaubwürdig, drückten die Kinder in emsthafter Weise ihre Zweifel aus oder legten alternative Erklärungen dar, wobei sie stets sehr ruhig reagierten. Obgleich keine explizite Definition des Interviews und seines Inhaltes vorgenommen wurde, so ließ sich aus der Darlegung der Kinder ableiten, daß sie die Befragung als einen Rahmen auffaßten, innerhalb dessen sie einer Interviewerin aus Mexiko-Stadt ihre lokalen Legenden erzählen und von ihnen selbst erlebte Geschichten berichten konnten. Zugleich entwickelte sich die Befragung auch zu einem Rahmen gemeinsamer Überlegungen über die Versionen des Gerüchtes und die im Laufe der Befragung aufkommenden Assoziationen. Die Kinder gingen sehr harmonisch miteinander um. Es kam keine Auseinandersetzung auf, um das Wort zu ergreifen, und sie ließen die anderen aussprechen. Alle beteiligten sich, im allgemeinen hörten sie einander zu und ergänzten ihre Erzählungen. Es ließ sich kein Gruppenführer ausmachen, obgleich während der Befragung an zwei Stellen jeweils ein Mädchen die Aufmerksamkeit auf sich zog. Dies war der Fall, als Mädchen Nr. 2 von den Geistern und den zu Hause gehörten Geräuschen sprach sowie als Mädchen Nr. 3 den Horrorfilm erzählte.

7.3.7 Die angeführten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente Die Kinder erzählten während der Befragung viele Geschichten als selbst erlebt, ohne Wahrung von Distanz dem Inhalt gegenüber und ohne Angabe, woher und an welchem Ort sie die Erzählungen gehört hatten. Deshalb wurden die Worte "según" oder sinngemäße, eine Quelle angebende Ausdrücke kaum verwendet, anders als in der Schule Peterson. Bei der Analyse der Aussagen der Kinder fiel auf, daß sie in der Regel ihre Darlegungen einfach begannen, ohne einen einleitenden Hinweis, ob sie etwa die Geschichte gehört hatten: "Que mi prima chocó por un pitufo...", "Que una niña estaba en un bosque...", "En Dinamarca hay unos enanitos que...", "También en Dinamarca que hay unas hadas...", "Es que una ñifla estaba acostada en su cuna...", "Es que había una vez..." oder "Es que un día los pitufos...". Da die Kinder während dieses Interviews aus eigenem Antrieb nur sehr wenige Informationsquellen angaben, fragte ich sie auch mitunter direkt danach, wer ihnen die dargelegte Geschichte erzählt hatte.

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Soweit die Kinder überhaupt Quellen erwähnten, handelte es sich meistens um mündliche Auskünfte der Mutter, aber auch der Tante, der Cousine und der Hausangestellten. Die wichtigste Autoritätsperson war die Mutter. Ihr schrieben die Kinder die Erzählung vieler lokaler Geschichten und Versionen des Gerüchtes zu. Außerdem trat sie als Instanz in Erscheinung, die in diesem kulturellen Umfeld zwischen Glaubwürdigem und Unglaubwürdigem zu unterscheiden wußte. Einigen Kindern zufolge hatte ihnen die Mutter erzählt, daß die Schlümpfe lebendig waren. Anderen Kindern zufolge hatte die Mutter jedoch gesagt, solche Behauptungen über Schlümpfe wären "puros cuentos". Von den an die anonyme und kollektive Stimme einer Gemeinschaft erinnernden Ausdrücken machten die Kinder nur dreimal Gebrauch: "A mí me han platicado", "Es que dicen que" und "dicen que". Ein einziges Mal wurde eine schriftliche Quelle erwähnt, nämlich das Spanischbuch der zweiten Klasse mit der Sage der Medusa. Audiovisuelle Quellen wurden fünfmal genannt. Die Nennung von "la tele" im allgemeinen und der Sendung 24 Horas erfolgte erst auf meine Nachfrage. Zweimal wurde von den Kindern spontan "una película" als Referenz angeführt. Nur einmal während des gesamten Interviews, als über die Legende von der Llorona gesprochen wurde, nannte ein Mädchen eine audiovisuelle Informationsquelle, den Fernsehsender Televisión Rural de México. Angesichts der geringen Bedeutung, die die Kinder üblicherweise der Nennung von Informationsquellen zumaßen, kann geschlossen werden, daß in diesem kulturellen Umfeld die Televisión Rural de México, das Spanischbuch und die Mutter großes Ansehen genossen.

7.3.8 Zur diskursiven Einordnung Anhand der Analyse des Beginns der Aussagen der Kinder und ihrer Beurteilung ließ sich eine gewisse implizite Einordnung ihrer Diskurse ersehen. Die Kinder unterschieden zwischen lokalen mündlichen Geschichten wie den über die "Aluxitos", die als "lo que dicen acá" gekennzeichnet wurden, und Geschichten, die sie im Film und in "TRM", gesehen hatten. Auch kam der Terminus "leyenda" mit Bezug zur Geschichte von der Medusa vor, die im zitierten Buch des zweiten Schuljahres als "cuento mitológico" eingeordnet wird. Das Wort "leyenda" stellte eine den Kindern geläufigere Bezeichnung dar, die auch fiir die von ihnen erzählten Maya-Geschichten verwendet wurde.

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Als unglaubwürdig angesehene Versionen des Gerüchtes wurden als "puros cuentos" bezeichnet, als Produkt eines Traums oder Ergebnis der bloßen Einbildung. Der Ausdruck "puros cuentos" kam bereits zu Anfang des Interviews zweimal vor, als die Kinder die ersten Versionen des Gerüchtes erzählten und bevor die Version des Schlumpfs als Alux auftauchte. Außerdem wurde diese diskursive Unterscheidung mit Geschichten verknüpft, die von Vader Abraham erfunden worden seien. Dann wurde sie mit Erzählungen verbunden, an die Erwachsene nicht glaubten, weil sie groß sind, und die somit implizit nur von Kindern geglaubt werden könnten. Diese Auffassung befand sich in Einklang mit derjenigen der Kinder der Schule Peterson. Als die Erzählung des Mädchen Nr. 2 über nachts durch Geister verursachte Geräusche bei seinen Klassenkameraden Zweifel hervorrief, tauchte die diskursive Unterscheidung zwischen einem bloßen Produkt der Phantasie bzw. des Traumes und der Wirklichkeit auf. Jedoch waren die Grenzen zwischen diesen beiden Kategorien keinesfalls deutlich gezogen. So hatte das Mädchen Nr. 3 bei der Erzählung, die Llorona sei an die Haustür gekommen, Schwierigkeiten, zwischen der bloßen Vorstellung und der Realität zu unterscheiden: "y entonces no le quizo abrir la puerta porque se lo estaba imaginando. No sé si se lo estaba imaginando o algo así y no le abrió la puerta...". Gerade weil diese Grenzen verwischt waren, bildeten sie an verschiedenen Stellen des Interviews einen Gegenstand gemeinsamer Überlegungen.

7.3.9 Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und Alltagsleben der Kinder Die Erzählungen der verschiedenen Versionen des Gerüchtes und die durch sie hervorgerufenen Assoziationen führten vor allem aufs Land, in die Umgebung von Valladolid, in Höhlen, auf Flüsse und auf die Straße. In diesen Szenarien erschienen die Schlümpfe, die Aluxes und die Llorona. Die Straße und einige der Transportmittel dieser Region wurden erwähnt, wie etwa das Pferd, das Fahrrad, das Motorrad und das Auto. Die Kinder erwähnten die Städte Mérida, Mexiko, Mazatlán und Iguala, die für sie einen Bezugspunkt zu bilden schienen, als Orte der Handlungen der Geschichten. In diesem kulturellen Umfeld wurde das Zimmer nur einmal als Aktionsfeld der erzählten Begebenheiten direkt genannt. Auch der Raum des Hauses wurde nur selten ausdrücklich erwähnt. Jedoch bezogen sich die Kinder hierauf implizit bei den Versionen des Gerüchtes, in denen die Abwesenheit der Mutter hervorgehoben wurde.

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Was zu Hause vorzufindende Dinge des Alltagslebens anbelangt, so wurde das Moskitonetz erwähnt, in dieser Region ein unentbehrlicher Gegenstand, der Insekten abhält und zugleich den Luftaustausch nicht verhindert. In den Erzählungen tauchten das Wort "Tür" ("puerta") zwölfmal und das Wort "Fenster" ("ventana") siebenmal auf. Dies hatte teilweise mit der Angst der Kinder vor dem Alleinsein zu Hause zu tun, und davor, daß jemand das Haus betreten könnte. Dabei dachten die Kinder dieses Umfeldes, anders als diejenigen der Schule Peterson, nicht nur an einen Dieb, sondern auch an die Aluxes, die sich beim Öffnen der Tür nicht sehen ließen. Ein Junge erzählte eine Geschichte über einen Diebstahl bei einigen Nachbarn. Ein anderer Junge schilderte, wie sein Großvater Dieben einen Schreck einjagen wollte, ein Gewehr hervorzog, aber beim Öffnen der Tür nichts vorfand: Junge Nr. 4:... mi abuelito agarra un rifle y que y que, así, así ve por la ventana y no hay nada, después se metió otra vez y se acuesta y otra vez siguen tocando y no ve nada. ... Mein Opa packt ein Gewehr und daß, und daß, so, so schaute er aus dem Fenster, und da war nichts, dann ging er wieder ins Haus, und geht schlafen und ein weiteres Mal wurde geklopft und er sah nichts.

Nach Verlassen des Hauses war die Straße eine weitere von den Kindern angeführte Umgebung. Sie bildete das Aktionsfeld der Llorona, und dort war der Uaychivo zu hören. Außerdem kamen die Kinder auch auf die Stadtviertel Valladolids, die keinen Anschluß an das Stromnetz besaßen, zu sprechen, wie z.B. San Francisco. Zu jener Zeit war ein fehlender Stromanschluß fiir viele einfache Wohngegenden von Valladolid typisch. Als Aktivitäten der Kinder wurden Spielen, Fernsehen schauen und in die Ferien fahren, z.B. nach Mazatlán, genannt. An kirchlichen Aktivitäten wurden insbesondere das Besuchen des Religionsunterrichts und die Feier einer Kindstaufe erwähnt. Anhand der Geschichten wurden mehrere Tätigkeiten der Mutter angesprochen. Sie wusch, bügelte und bastelte "piñatas". Auch erzählte sie den Kindern lokale mündliche Geschichten. Sie entfernte sich, um einzukaufen, oder ging aus anderen Gründen weg und ließ die Kinder mit den Schlumpfpuppen allein. Außerdem wurde die Hausangestellte erwähnt, die mit ihrer Tochter im Haus wohnte. Dies zeigte ein recht nahes Verhältnis der Kinder zu den Hausangestellten und ihren Familienmitgliedern auf, die meistens Maya waren. Die Hausangestellten, die auf die Kinder aufpaßten, erzählten ihnen häufig Geschichten wie bereits in Kapitel 6 erwähnt, die in jenem Umfeld aber kein Ansehen genossen. Vor allem auf diesem Weg könnten die Kinder der Schule Hispanomexicano einige der von ihnen während des Interviews erzählten mündlichen Traditionen der Maya kennengelernt haben.

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7.3.10 Produktion und Austausch verschiedener Arten des Wissens während der Befragung Im Verlauf der Befragung wurde eine Sammlung von zu treffenden Vorsichtsmaßnahmen und Verhaltensempfehlungen formuliert. Die Vorsichtsmaßnahmen wurden nicht immer von allen Kindern geteilt und waren manchmal auch widersprüchlich, da nicht alle Erzählungen die gleiche Glaubwürdigkeit besaßen. Anhand der ersten Versionen des Gerüchts wurde abgeleitet, die Kinder sollten Schlumpfpuppen, den "pifiatas" in Gestalt von Schlumpfpuppen und jeder Art von Schlumpfartikeln gegenüber Vorsicht walten lassen. Dabei wurden implizit Ratschläge erteilt, solche Gegenstände nicht zu kaufen oder sie zu verstecken, um einem denkbaren Angriff vorzubeugen. Keines der Kinder äußerte jedoch die Notwendigkeit, sich von Schlumpfgegenständen zu trennen, noch sie zu verbrennen. In Widerspruch zu dieser Empfehlung sagte ein Junge, daß er mit seinem Schlumpf schlafen ging. Er zog dabei weder die Vorsichtsmaßnahmen der anderen in Zweifel, noch verspottete er sie. Umgekehrt erhoben die anderen auch nicht den Vorwurf unvorsichtigen Verhaltens. Offensichtlich verstieß dies nicht gegen die Gruppennormen. Einige Empfehlungen richteten sich an die Mütter, im Zusammenhang mit den Versionen des Gerüchts und den von den Kindern beim Alleinsein ausgestandenen Ängsten. Hieraus wurde abgeleitet, die Mütter sollten ganz generell ihre Kinder nicht allein lassen, vor allem nicht allein mit Schlumpfgegenständen. Sie sollten ihnen keine Schlumpfpuppen kaufen, denn diese könnten ihnen vielleicht schaden. In Verbindung mit der Version von auf dem Feld, an Wegen und Straßen erscheinenden Schlümpfen, die die Leute erschreckten und vom Weg abbrachten, wurden unterschiedliche Empfehlungen ausgesprochen, die eine Diskussion auslösten. Ein Teil der Kinder war der Ansicht, daß die Schlümpfe lebendig waren und erschienen, ein anderer Teil behauptete das Gegenteil. Während die einen nahelegten, vorsichtig mit ihnen zu sein, empfahlen die anderen eher das Gegenteil: Man müsse dies nicht glauben und brauche keine Angst vor ihnen zu haben. Diesen Kindern zufolge handelte es sich bei diesen Erzählungen um "puros cuentos". Nachdem die Version vom Schlumpf als Alux entstanden war, wurde auch ein Gemisch von Wissenselementen angesprochen, das sich auf das Verhalten gegenüber bestimmten Figuren der Maya-Mythologie bezog. In diesem Kontext wurde geäußert, man müsse mit den Aluxes vorsichtig sein, um sie nicht zu sehen. Sollte man ihnen begegnen, müsse man sich hüten, nicht vom Weg abzukommen.

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Die Befragung als Rahmen für Austausch und Produktion von nicht allen Kindern geläufigen Kenntnissen hätte dazu dienen können, daß einige der Kinder, denen der Uay-chivo unbekannt war, sich dieses Wissen hätten aneignen können. Jedoch waren die Erläuterungen der Kinder zum Uay-chivo unzutreffend. Dasselbe geschah mit den Boobs, die mit den Toten verknüpft wurden. In Verbindung mit der Erzählung des Mädchens, das meinte, durch Geister verursachte Geräusche gehört zu haben, wurde die Empfehlung ausgesprochen, sich weniger vor Geistern und mehr vor der eigenen Phantasie und Traumvorstellungen in acht zu nehmen. Diese Empfehlung ergab sich auch bei den Kindern der Schule Peterson. Aufgrund der Erzählungen über Geräusche von Türen und Fenstern, die sich teils auf menschliche Wesen, teils auf Wesen der Legenden bezogen, wurde geäußert, man müsse auf jeden Fall beim Öffnen der Tür vorsichtig sein. Falls es sich um einen Dieb handelte, wäre die Kenntnis wichtig, wie man ihn überlisten könnte. Einem Mädchen zufolge genügte zum Vertreiben eines Diebes, den Eindruck zu erwecken, im Hause befände sich ein Gewehr. Mädchen Nr. 3: Se debe de decir: "Tráiganme el rifle que está debajo de la cama." Man muß nur sagen: "Bringt mir das Gewehr, das unter dem Bett liegt". Junge Nr. 2: Sí, pero en mi casa no hay rifle. Ja, aber bei mir zu Hause gibt es kein Gewehr.

Mädchen Nr. 3: Pues que los engañe tu mamá, que vacile. Así mi mamá nos dice en mi casa, pero se van así, pues que vacile. Nun, deine Mama muß sie täuschen, sie überlisten. So hat es uns meine Mama zu Hause gesagt, aber sie gehen dann weg, nun, sie muß sie überlisten.

Handelte es sich dagegen um die an der Tür kratzenden und Geräusche auslösenden Aluxes, war das Wissen bedeutsam, daß die Aluxes sich nicht sehen ließen, daß sie verschwanden und daß Gewehre sie nicht erschreckten. Eine andere Empfehlung, um gleich welches Wesen, das sich an Tür oder Fenster befand, zu verjagen, lautete, ein Kreuz zu schlagen und zu beten. Mädchen Nr. 2: Y entonces de noche me espanté mucho y empecé a oír que tocan la puerta y empecé a oír las uñas en la puerta de mi cuarto... entonces me persigné y dije así: "Que cruz, cruz, cruz, que se vaya el diablo. Cruz, cruz, cruz que venga Jesús. Cruz, cruz, cruz, que se vaya el lobo, lo que sea y que venga Jesús". Und dann nachts habe ich einen großen Schrecken bekommen, und ich hörte zunächst, wie an die Tür geklopft wurde und ich hörte die Krallen an der Tür meines Zimmers... dann machte ich ein Kreuz und sagte dabei: "Kreuz, Kreuz, Kreuz, der Teufel möge verschwinden. Kreuz, Kreuz, Kreuz, daß Jesus komme. Kreuz, Kreuz, Kreuz, der Wolf möge verschwinden, was er sei, und daß Jesus komme".

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Dies erinnert an die Empfehlungen der Kinder der Schule Benito Juárez, sich vor den Puppen, dem Teufel und anderen gefährlichen Figuren zu schützen. Hierbei genügte es, ein Medaillon, Gemälde oder das Bild der Jungfrau Maria oder Gottes bei sich zu haben.

7.4

Die mündlichen Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe in der sechsten Klasse der Grundschule

Nach den dargelegten Ergebnissen der Analyse der Gruppenbefragung der vierten Klasse der Schule Hispanomexicano werden jetzt die Resultate der in der sechsten Klasse derselben Schule durchgeführten Gruppeninterviews vorgestellt. Anhand eines Vergleichs der Ergebnisse beider Interviews können dann einige Regelmäßigkeiten der mündlichen Kultur in Valladolid aufgezeigt werden. Zunächst werden die während der Befragung vorkommenden Versionen des Gerüchtes dargelegt sowie die damit für die Kinder verbundenen Assoziationen und die Gruppendynamik, die hierzu beitrug.

7.4.1 Die den Kindern bekannten Versionen In der etwa 45 Minuten dauernden Befragung, die sich einer regen Beteiligung durch die Gruppe erfreute, erzählten die Kinder 15 Versionen des Gerüchtes, die sie mit einer großen Anzahl von Maya-Legenden und anderen örtlichen Erzählungen verknüpften. Die einfachste Version des Gerüchtes besagte, daß eine Schlumpfpuppe ein Mädchen umgebracht hatte, und zwar ohne nähere Angabe der Art des Mordes. In drei weiteren Versionen erfolgten genauere Angaben: zweimal ein Mord durch Aufhängen und einmal durch Aussaugen. Eine andere Version besagte, daß der Kauf von Schlumpfpuppen ein schlechtes Vorzeichen darstellte. Mädchen Nr. 3: También dicen que cuando tú compras, has de cuenta un peluche y que si lo llevas a tu casa, te da mala suerte, un peluche de pitufo. Auch sagt man, daß, wenn du kaufst, z.B. einen aus Plüsch, und wenn du ihn mit nach Hause nimmst, bringt er dir Unglück, ein Plüsch von Schlumpf.

Die unterstrichenen Ausdrücke in diesem und den im Folgenden wiedergegebenen Zitaten werden an späterer Stelle untersucht. Die Kinder erzählten auch die Version vom Roboterschlumpf, eine spezielle Version der Kinder der Schule Peterson, bei der in den Schlumpf eine Fernsteuerung eingebaut war, so daß er Kinder umbrachte. Jedoch löste diese Version keinerlei Assoziationen aus:

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Junge Nr. 1: También dicen que a los pitufos, así cuando los están haciendo, les ponen una máquina, que matan a los niños de noche... Adentro les ponen una máquina pa' que los ahorquen. Auch sagt man, daß den Schlümpfen, dann, wenn sie sie machen, eine Maschine eingesetzt bekommen, daß sie die Kinder nachts umbringen... Man setzt ihnen eine Maschine ein, damit sie sie aufhängen.

Unter den bereits bekannten Versionen war auch diejenige vom Schlumpf, der sich nicht verbrennen ließ, eine spezielle Version der Kinder der Schule Benito Juárez. Im hier betrachteten kulturellen Kontext wurde sie allerdings mit einer gewissen Distanz erzählt, da erwähnt wurde, daß dies einen Traum oder ein Produkt der bloßen Einbildung des entsprechenden Mädchens darstellte. Diese Distanz erinnert an die Haltung der Kinder der Schule Peterson: Mädchen Nr. 5: Sí, una amiga que vió en sus sueños, que soñó que ese pitufos que tenía que se convirtió en uno grande. Entonc's ella le prendió fuego. Le empezó a meter papeles, echó al pitufo y que - se imaginó ella - que no se, que no prendía el pitufo y que cuando fueron sus papás vieron que el pitufo sí había prendido, pero la niña no lo vió, se imaginó, lo quemó. También que, que al día siguiente empezó a ver la niña, en su imaginación mantas azules que salían y blanco. Ja, eine Freundin, die in ihren Träumen sah, die träumte, daß dieser Schlumpf, den sie hatte, sich in einen großen verwandelte. Dann steckte sie es in Brand. Sie fing an, ihm Papier reinzustecken, warf den Schlumpf, und daß - sie stellte sich dies vor - daß er nicht, daß der Schlumpf kein Feuer fing, und als ihre Eltern kamen, sahen sie, daß der Schlumpf Feuer gefangen hatte, aber das Mädchen sah es nicht, sie stellte es sich vor, sie verbrannte ihn. Auch daß, daß am nächsten Tag das Mädchen anfing, zu sehen, in ihrer Vorstellung blaue und weiße Tücher, die rauskamen...

Eine andere, ähnliche Version wurde anschließend mit weniger Distanz erzählt. Diese schien an einige Szenen aus dem Film Poltergeist zu erinnern: Mädchen Nr. 1: También que, como se llama, que una niña soñ, estaba que le gustaban mucho los pitufos, las caricaturas de los pitufos y cuando le empezaron a contar que esas cosas que mataban y que todo, tenía un pitufo grande y que entonces que decían, que ella dijo que, que así que ella pensó que, que vió en la tele, se estaba quemando, se estaba quemando la tele y se sentía así que alguien. No, que salían los pitufos y que la iban a matar y que desde eso, empezó a regalar su pitufo y que nadie lo quería de allá por su colonia. Auch daß, wie heißt es, daß ein Mädchen träum, ihm gefielen die Schlümpfe sehr, die Sendungen der Schlümpfe und als sie anfingen, ihm zu erzählen, daß diese Sachen, daß sie töteten und das alles, es hatte einen großen Schlumpf und, daß, als sie dann sagten, daß es sagte, daß als es so dachte, daß, daß es im Fernsehen sah, das Fernsehen verbrannte, das Fernsehen verbrannte und man fühlte so, als ob jemand. Nein, daß die Schlümpfe heraustraten und daß sie es umbringen wollten und daß seitdem begann es, seinen Schlumpf zu verschenken, und daß niemand dort in ihrem Wohnviertel ihn haben wollte.

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7.4.2 Die speziellen Versionen Die speziellen Versionen der Kinder der sechsten Klasse der Schule Hispanomexicano waren die vom Schlumpf als Alux und als X-tabay. Sie werden im Folgenden dargelegt.

7.4.2.1 Die Version vom Schlumpf als Alux Wie in den schriftlichen Texten derselben Gruppe und im Interview der vierten Klasse stellte die Version vom Schlumpf als Alux eine spezielle Version dar. Die Schlümpfe wurden mit den Aluxes verknüpft, oder besser umgekehrt: die Aluxes mit den Schliimpfen. In einer Stimmung voller Begeisterung erzählten einige Kinder, wer diese waren: Mädchen Nr. 2: También dicen que hay aluxes que son hombrecitos así enanitos que son malos que te llevan a su cueva y Auch sagt man, daß es Aluxes gibt, die kleine Menschen sind, wie Zwerge, die böse sind, die dich in ihre Höhle bringen und

Mädchen Nr. 3: ¡Son como los pitufos! Sie sind wie die Schlümpfe!

Junge Nr. 4: ¡Son iguales! Sie sind gleich!

Mädchen Nr. 3: No, son más grandes. Nein, sie sind größer.

Junge Nr. 4: Están en los ranchos. Sie sind in den Ranchos.

Mädchen Nr. 3: Casi en los ranchos. Fast in den Ranchos.

In diesem Zusammenhang kamen Erzählungen von sympathischen, kecken, schelmischen und gütigen Aluxes auf, die lediglich Streiche verübten. Gleichfalls wurden jedoch auch Geschichten über bösartige Aluxes erzählt. Unter den erstgenannten verdient eine hervorgehoben zu werden, in der der Junge von der Beziehung zwischen dem Onkel eines Jungen und den Aluxes erzählt: Junge Nr. 2: A mí me contaron que un niño, un amigo, que su tío de un niño que se llevaba con los aluxes, que se llevaba y que diario le pintaban su casa y que hablaba con ellos. Estaban pintando la casa y estaban, ¿cómo se llama?. Estaban cantando. Y que agarran martillos y todo para quitar la pintura y que no se quitaba. Y una pintura normal que no se quitaba y que un día que llegan los aluxes. Y que se despiden de su tío y le empezaron a hacer así,

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Margarita Zires Man erzählte mir, daß ein Junge, ein Freund, daß der Onkel eines Jungen, der mit den Schlümpfen gut auskam, daß er mit ihnen gut auskam und daß sie ihm täglich sein Haus anstrichen und daß er mit ihnen sprach. Sie waren dabei, das Haus anzustreichen und waren dabei, wie heißt es doch? Sie sangen dabei. Und daß sie Hämmer nahmen und alles, um die Farbe abzumachen, und daß sie nicht abging. Und eine normale Farbe, die nicht abging, und daß eines Tages als die Aluxes ankamen. Und daß sie sich von seinem Onkel verabschiedeten und anfingen, ihm so zu machen,

Während er dies sagte, winkte er wie zum Abschied und schnitt Grimassen. Junge Nr. 2: al tío de ese niño. dem Onkel dieses Jungen.

Als sich die Kinder später über Kobolde aus Gold unterhielten, die Schätze zurückließen, wurde eine weitere Geschichte über gütige Aluxes erzählt, die einer Großmutter, die ihnen "Atole" 8 angeboten hatte, Geld zurückgelassen hatten. Den Kindern zufolge mochten die Aluxes Atole sehr gern: Mädchen Nr. 4: También dicen que los aluxes, si tú los ves, has de cuenta en la ventana, en la noche que tú le debes de que elote, elote para que lo coma y que te deja dinero. Auch sagt man, daß die Aluxes, wenn du sie siehst, wie z.B. am Fenster, in der Nacht, daß du ihnen Maiskolben geben sollst, Maiskolben, damit er das ißt und daß er dir Geld daläßt.

Mädchen Nr. 5: Nó, este, atole, atole de elote. Nein, äh, Atole, Atole aus Mais.

Junge Nr. 3: A mi abuelita se le apareció. Meiner Oma erschienen sie.

Mädchen Nr. 1: También allá en mi casa. Auch dort bei mir zu Hause.

Mädchen Nr. 2: Que te deja poco dinero, pero que si tú le sigues poniendo, te va dejando dinero. Daß er dir wenig Geld zurückläßt, aber wenn du es ihm weiterhin gibst, wird er dir weiterhin Geld dalassen.

Mädchen Nr. 3: También a mi abuelita se le apareció en el techo de mi casa de mi tía Rosita, un día que estaba sonando que cayó una vez, en la ventana de mi abuelita y mi abuelita la agarró y vió que tenían nombres, pero nombres raros y pues se imaginó, como sabía ella que, mi abuelita, que en casa de mi tía Rosita habían aluxes, se imaginó, preparó atole y lo puso en la ventana, vió que le dejaron, cuando se fue mi abuelita y cuando regresó tenía dinero ya. Y entonces el dinero lo agarró y que cada vez que agarraba, o sea cada billete, cada moneda que agarraba, aparecía una más.

Bei "Atole" handelt es sich um ein aus Mais hergestelltes Getränk.

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Auch meiner Oma sind sie erschienen auf dem Dach meines Hauses, bei der Tante Rosita, eines Tages, als es läutete, da fiel einmal etwas herunter, am Fenster meiner Oma und meine Oma packte es und sah, daß sie Namen hatten, aber seltene Namen, und dann stellte sie sich vor, weil sie wußte, daß, meine Oma, daß es im Haus der Tante Rosita Aluxes gab, sie stellte sich das vor, sie machte Atole und stellte es ans Fenster, sie sah, daß sie Geld zurückließen, als meine Oma wegging und sie wieder zurückkam, war dort schon Geld. Und dann nahm sie das Geld, und jedes Mal, wenn sie es nahm, d.h. jeden Geldschein, jede Münze, die sie nahm, erschien wieder eine neue.

Neben diesen sympathischen und gütigen Aluxes gab es auch andere, die Furcht einflößten. Ein Mädchen legte dar, daß ein "vaquero" (Rinderhirt), als er einen Alux unter einem Schutzdach sah, ihm aus Angst aus dem Weg ging. Ein anderes Mädchen erzählte die Version von einigen bei ihrer Erscheinung Angst verbreitenden Aluxes: Mädchen Nr. 1: A mí me dijeron que mi tío, o sea el papá de mi mamá de acá, fue a un rancho y que en el rancho se les aparecieron los aluxes cuando estaban durmiendo y alrededor oían ruido, pero como tenían miedo porque les habían contado que ahí habían aluxes, no miraban. Y que llegó uno del rancho y le empezó a gritar: "¡Patrón, patrón, no mire a ver porque se convierte usté! ¡Patrón, patrón!" Y que su papá de Mari, no miró a ver, como tenía una cruz, la agarró y se la mostró al alux y dió así la vuelta y cuando se levantó no había ni un alux, que nada más veía un sombrero chiquito en la sombra. Man sagte mir, daß mein Onkel, d.h., es war der Vater meiner Mama hier auf ein Rancho ging, und daß auf diesem Rancho ihnen die Aluxes erschienen als sie schliefen und ringsumher Geräusche hörten, aber weil sie Angst hatten, weil man ihnen erzählt hatte, daß es hier Aluxes gäbe, schauten sie nicht nach. Und daß jemand vom Rancho kam und er fing zu schreien an: "Herr, Herr, schauen Sie nicht genauer hin, weil Sie sich verwandeln werden! Herr, Herr!" Und daß sein Papa von Mari, nicht hingeschaut hat, da er ein Kreuz hatte, es ergriff und es dem Alux zeigte und so machte dieser kehrt, und als er aufstand gab es keinen Alux, so daß er nur einen kleinen Hut im Schatten sah.

Weil die Kinder die Aluxes mit den Schliimpfen verbanden, erhielten diese die Eigenschaften der Aluxes. Dabei kamen sowohl ihre angenehmen Seiten als fröhliche und schelmische Wesen zum Vorschein als auch ihre aggressiveren Merkmale. So konnte es sein, daß etwa ein Fräulein in Yovain einen Schlumpfschlüsselbund hatte, dessen Schlümpfe tanzten und sangen, aber auch, daß die Schlümpfe Kinder in die Höhle brachten und ermordeten. Diese letztgenannte Eigenschaft der Schlümpfe wurde nicht nur mit den möglicherweise bösartigen Eigenschaften der Aluxes in Beziehung gebracht, sondern auch mit denjenigen der X-tabay.

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7.4.2.2 Die Version vom Schlumpf als X-tabay Die Kinder sprachen viel über die X-tabay, wobei die Schlümpfe dieser legendären Figur der Mythologie der Maya ähnliche Wesenszüge annahmen. Gemäß dem Wörterbuch Maya-Spanisch (Barrera Vásquez, 1980: 953) wird die X-tabay als eine "mujer duende" beschrieben, als ein Dämon oder böser Geist, der in Frauengestalt im Stamm des Kapokbaums lebt. Sie verfuhrt die Männer, macht sie verrückt oder bringt sie um. In der Gegend von Cobá, das etwa 60 km entfernt von Valladolid liegt, wird geglaubt, daß es neben der X-tabay als Frau auch einen X-tabay als Mann gibt, der die Frauen verfuhrt. Diese Figuren ähneln den Itakay in Guatemala. In seinem Buch über Mythen und Aberglauben der Maya betont Baqueiro López (1981), daß der mündlichen Tradition der Maya zufolge die X-tabay die Männer durch ihre Schönheit und ihre langen Haare verfuhrt. Neben dem Kapokbaum oder "Ya'axche"' pflegt sie sich die Haare zu kämmen. Bemerkt sie, daß sie einen Mann anzieht, entfernt sie sich und zieht sich aufs Feld zurück, wodurch sie ihn in die Irre fuhrt. In dem Augenblick, wenn dieser sie umarmen will, "se transforma de pronto en una terrible maraña de pelo, garras y espinas que a su vez lo envuelve y lo desgarra". Sollte der entsprechende Mann dies überleben, dann bleibt er "con la razón extraviada y sin alma, pues la X-tabay se la robó" (Baqueiro López, 1981). Die Fähigkeit der X-tabay zur Verwandlung in eine Schlange, andere Tiere, oder aber in Dornenpflanzen wie "Nopales" (Feigenkakteen) wird von mehreren Autoren hervorgehoben (Barrera Vásquez/Rendón, 1948: 176 f; Baqueiro López, 1981). In einer in Ticul 1983 gesammelten und aufgeschriebenen mündlichen Erzählung wird dargelegt, daß die X-tabay sich in ein am Wegesrand weinendes Baby verwandelt hatte, das von einigen Betrunkenen gefunden wurde. Auf diese Weise wollte die X-tabay die Betrunkenen vom Weg abbringen und in einen Graben ziehen (Ligorred, 1985: 151,209). Eine Beziehung zwischen der Figur der X-tabay und der alten prähispanischen Mayagöttin vom Galgen, genannt Ixtab oder Ix-Tab, "la de la cuerda" wird von Barrera Vásquez/Rendón (1948: 90, 176) hergestellt. Von der Göttin vom Galgen berichtet Fray Diego de Landa folgendes: Decían también y lo tenían por muy cierto (que) iban a esta su gloria los que se ahorcaban; así había muchos que con pequeñas ocasiones de tristeza, trabajos o enfermedades se ahorcaban para salir de ellas e ir a descansar a su gloria donde, decían, les venía a llevar la diosa de la horca que llamaban Mab (De Landa, 1574-1575: 60).

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Mit Bezug zur X-tabay fuhren Barrera und Rendón aus: en algunas versiones de sus hazañas las víctimas son ahorcadas, ahogadas por la doble punta de la cola de la serpiente, apuñaladas o simplemente se vuelven locas (Barrera Vásquez/Rendón, 1948: 177). Wahrscheinlich hat die Kennzeichnung der X-tabay als rachedürstig dazu gefuhrt, daß diese Legende mit der Legende von der Llorona verbunden wurde, obwohl die beiden Figuren im übrigen sehr unterschiedliche Charaktereigenschaften besitzen, wie es Vásquez (1978) und andere aufzeigten. In diesem Zusammenhang sollte eine Version der Legende von der X-tabay angesprochen werden, bei der Medina, der Sammler der Erzählungen, diese beiden Figuren gleichsetzt. Die X-tabay verfuhrt einen an einem Kapokbaum vorbeikommenden Bauern dazu, seine Seele dem Dämon zu überlassen. Der Bauer verwandelt sich in einen Ziegenbock, um sich vom Fleisch toter Männer ernähren zu können. Medina schreibt, daß der arme Verliebte nicht erkannt habe, "que había entablado relaciones con la X-tabay (Llorona)". Am Ende der Geschichte führt er aus, daß das Volk den Körper des Ziegenbocks, also des Bauern, verbrannte. Aus dem Feuer sah man das verliebte Paar aufsteigen und die X-tabay wie die Llorona schreien: AAAAYYYY... mi querido amorcito, te llevaré ante mi amo Satanás y allí, entre el fuego, viviremos felices como te prometí... AAAAYYYY tu alma ya nos pertenece... AAAAYYYY {Medina, 1982: 45-61). In der Befragung griffen die Kinder eine Vielzahl der soeben dargelegten Aspekte der Figur der X-tabay auf. Dabei herrschte in der Gruppe eine Stimmung reger Beteiligung, wobei sich die Kinder auch ins Wort fielen: Mädchen Nr. 1: También dicen que la X-tabay es una mujer así mestiza. 9 Man sagt auch, daß die X-tabay eine mestiza ist. Mädchen Nr. 2 (zugleich spricht ein anderes Mädchen): Que tiene el pelo largo. Daß sie sehr langes Haar hat. Mädchen Nr. 3: Y dicen que lleva a la cueva y que allá se pierden. Und man sagt, daß sie sie zu ihrer Höhle bringt und daß sie dort verloren sind. Junge Nr. 3: El X-tabay hombre sigue a las mujeres y la X-tabay a los hombres. Der X-tabay als Mann verfolgt die Frauen und die X-tabay die Männer. Mädchen Nr. 4: También dicen que la X-tabay se convierte en cualquier cosa.

In Yucatán bezeichnet das Wort "mestizo" die Maya sprechende und Maya-Kleidung tragende Bevölkerung. Eine "mestiza" trägt den "huipil", ein weißes Baumwollkleid mit Stickerei am Ausschnitt.

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Auch sagt man, daß die X-tabay sich in jede Sache verwandeln kann. Mädchen Nr. 5: En culebra. In eine Schlange.

Mädchen Nr. 1: Un borrachito estaba caminando y pasó por una mata donde vive la X-tabay y entonces le estaba, pero como estaba borracho pues no entendía y vino a ver y le estaba haciendo así Ein Saufboldchen war auf dem Weg und kam an einer Mata vorbei, in der die X-tabay wohnt, und dann machte sie, aber weil es betrunken war, verstand es das nicht, und ging, um nachzusehen, und sie machte ihm so

Das Mädchen machte ein Zeichen, wie man jemanden mit der Hand herbeiruft. Mädchen Nr. 1: y tenía su pelo largo, largo y entonces después el borrachito no entendía lo que decía y la siguió y lo llevó a una cueva y que a la mañana siguiente amaneció que el borrachito estaba sobre una mata de nopales. Estaba lleno de espinas. El borrachito estaba muerto. und sie hatte langes Haar, lang und dann danach verstand das Saufboldchen nicht, was sie sagte, und folgte ihr und sie brachte es in eine Höhle, und daß, als es am nächsten Morgen hell wurde, war das Saufboldchen in einer Mata von Nopales. Es war voller Domen. Das Saufboldchen war tot.

Interviewerin: Ahh. ¿Esto le pasa sobre todo a los borrachos? Ah. Geschieht das vor allem den Betrunkenen?

Mädchen Nr. 1: No a cualquier persona. Nein, jedermann.

An späterer Stelle griff ein Junge das Element der Legende auf, derzufolge die Xtabay im Kapokbaum wohnt, und verband es mit einer erhängten Person: Junge Nr. 4: Por allá por casa de mi tía y como ahí hacían su sembrado los frailes, ahí hay una mata así de ceiba que suena hueco cuando la golpean. Entonces dicen que es la casa de la X-tabay; pero cuando le amarran alguna soga así, a la madrugada, este, a la madrugada aparece un fraile ahorcado. Así lo vimos la otra vez yo y mis dos primos porque fuimos al baño así de madrugada... estábamos yendo al baño y ahí estaba el señor ahorcado. Dort, beim Hause meiner Tante und da die Mönche dort auf ihren Feldern arbeiteten, dort gibt es eine Mata, einen Kapokbaum, der hohl klingt, wenn man darauf klopft. Nun, man sagt, daß es das Haus der X-tabay ist; aber wenn man ein Seil so festmacht, morgens, äh, morgens erscheint ein aufgehängter Mönch. So haben wir es ein anderes Mal gesehen, ich und meine zwei Vettern, als wir morgens früh austraten... wir waren dabei, auszutreten und dort war der Mann aufgehängt.

Bei diesen Äußerungen fielen die Kenntnisse der Kinder über diese Legenden auf sowie das Vergnügen, das ihnen das Erzählen bereitete. Wenig später legte ein Junge eine weitere, mit der Figur der X-tabay verknüpfte Geschichte dar, die als

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ein selbst erlebtes Ereignis geschildert wurde. Dies weist darauf hin, daß diese Maya-Legende in Orten wie Valladolid weiterhin sehr gegenwärtig ist. Junge Nr. 4: Yo cuando estaba en Los Lobatos, este nos fuimos a acampar y vimos a una mestiza bien bonita, de pelo largo y como no había esquinas, habíamos caminado como tres kilómetros y no había esquinas, nada. Era calle cerrada y le preguntamos en dónde había agua y no nos contestó. N o nos contestó y de repente cuando viramos a ver, ya no estaba, ya no estaba y luego nos asustamos. Empezamos a seguir corriendo y luego en adelante, volvió a aparecer ella y viramos a ver ahí. Ya no estaba y allí al lado estaba una culebra. Als ich in Los Lobatos war, äh, da gingen wir zelten und wir sahen dort eine recht hübsche Mestiza, mit langen Haaren, und da es keine Ecken gab, wir waren etwa drei Kilometer gelaufen, und es gab keine Ecken, nichts. Es war eine Sackgasse und wir fragten sie, w o es Wasser gab, und sie antwortete uns nicht. Sie antwortete uns nicht, und plötzlich, als wir uns umdrehten, um sie zu sehen, war sie weg, sie war weg, und danach haben wir einen Schreck bekommen. Wir fingen an zu laufen, und dann weiter vorn erschien sie wieder und wir drehten uns um, um sie dort zu sehen. Da war sie w e g und dort an der Seite war eine Schlange.

Mädchen Nr. 4: Era la X-tabay que se convierte en cualquier cosa. Das war die X-tabay, die sich in jedwedes Ding verwandeln kann.

Mädchen Nr. 5: A veces se convierte en animal, en persona, en culebra, en cualquier cosa. Manchmal verwandelt sie sich in ein Tier, in eine Person, in eine Schlange, in irgendetwas.

Im weiteren Verlauf der Befragung erzählten die Kinder eine andere, von allen erlebte Geschichte. Sie bezog sich auf den Kapokbaum im Zentrum der Stadt Valladolid: Mädchen Nr. 1: Y también dicen que aquí en el parque del centro Und man sagt auch, daß hier im Park des Zentrums

Mädchen Nr. 2: N o se aparecía. Que estaba dando la forma de un Sie ist nicht erschienen. Das hatte nur die Gestalt einer

Junge Nr. 4: Un árbol que cortaron. Ein Baum, der gefällt wurde.

Mädchen Nr. 2: Que daba la forma de una mujer. Der die Gestalt einer Frau annahm.

Junge Nr. 5: ¿No ha visto el árbol de tronco grande, tronco grande? Haben Sie nicht den Baum mit dem dicken Stamm gesehen, dicken Stamm?

Interviewerin: Sí, sí lo he visto. Ja, ja, den habe ich gesehen.

Junge Nr. 4: Sí ese es. Estaba dando la forma de una mujer.

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316 Ja, der ist es. Der nahm die Gestalt einer Frau an. Mädchen Nr. 2: Por eso lo cortaron. Deshalb haben sie ihn gefällt.

Mädchen Nr. 3: También dicen que allá. Esa mata era de y que allá abajo aparecía una mujer y al lado había una cosa Auch sagt man, daß dort. Diese Mata war von und daß dort unten eine Frau erschien und an der Seite war etwas

Interviewerin: ¿En dónde? Wo?

Junge Nr. 3: Acá en el parque. Dort im Park.

Mädchen Nr. 3: Es una mujer. Entonces dicen que esa mujer cuando no hay nadie en el parque más que una persona o un señor o alguien que se va convirtiendo, que se va moviendo poco a poco y se va convirtiendo. Todas las ramas que están alrededor se van convirtiendo en culebras y ella se convierte en culebra y según son sus hijos, las ramas. Es ist eine Frau. Nun, es wird gesagt, daß diese Frau, wenn niemand mehr im Park ist als nur eine Person oder ein Mann oder irgendjemand, daß sie sich verwandelt, daß sie sich nach und nach bewegt und sich verwandelt. Alle Zweige, die dort sind, verwandeln sich in Schlangen, und sie verwandelt sich in eine Schlange, und das sind dann ihre Kinder, die Zweige.

Fast überall in Yucatán steht ein Kapokbaum im Zentrum der Ortschaft. Dem Glauben der prähispanischen Maya zufolge war, wie bereits erwähnt, der "Ya'axche"' ein heiliger Baum. In der Kunst der alten Maya wird er in der Form eines Kreuzes dargestellt. Es herrschte die Vorstellung, daß sich seine Wurzeln nach den vier Himmelsrichtungen ausbreiteten. Zudem sind es vier Götter, die die Erde in jeder ihrer vier Ecken tragen, und wiederum vier andere Götter, die den Himmel halten, die Bacabes, die zugleich auch Windgötter sind. Nach Ankunft der Spanier erhielten diese Götter den Namen von vier Heiligen: Santo Domingo im Osten, San Gabriel im Norden, San Diego im Westen und Maria Magdalena im Süden (Baqueiro López, 1981). Den Maya zufolge waren die Winde, j e nachdem aus welcher Richtung sie kamen, gut oder böse. In einer Version des Gerüchtes übertrugen die Kinder sowohl Aspekte der Legende von der X-tabay als auch der Aluxes auf die Schlümpfe. Der schelmische, kecke und verspielte Aspekt der Aluxes vermischte sich mit dem der Verfuhrung und des Mordens, welcher der X-tabay zu eigen ist. Das Ergebnis bestand in der folgenden Erzählung: Mädchen Nr. 5: También dicen que cuando un niño estaba allá pasando. Estaba pasando por su casa, entonces eh, que su mamá, así, vió que se estaba. Vió que se le aparecieron unos niflos y luego vió que eran los pitufos y que,

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¿cómo se llama? que fueron a jugar. Se fueron a jugar por allá lejos. Lo llevó lejos. Lo llevaron lejos los pitufos y que eran muy malos, pero el niño no lo sabía y que lo llevaron lejos allá... y ya en la noche, ya en la noche, no había llegado su hijo entonces ya. Así se acostó. Así lo mataron ya. Lo mataron, empezaron a jugar y lo mataron y luego lo dejaron donde la mamá vió que estaba jugando con los niños. Auch sagt man, daß als ein Junge dort vorbeikam. Er kam an seinem Haus vorbei, dann äh, daß seine Mama, so, sah, daß es da war. Sie sah, daß ihm einige Kinder erschienen, und danach sah sie, daß es die Schlümpfe waren und daß, wie heißt das? sie gingen spielen. Sie gingen spielen nach dort, weiter weg. Sie brachten ihn weiter weg. Sie brachten ihn weiter weg, die Schlümpfe, und daß sie sehr böse waren, aber der Junge wußte das nicht, und daß sie ihn weiter weg von dort brachten... und dann nachts, dann nachts, war ihr Kind noch nicht zurückgekommen. So legte sie sich schlafen. So brachten sie ihn um. Sie brachten ihn um, sie fingen zu spielen an und brachten ihn um, und danach ließen sie ihn dort, wo die Mama sah, daß er mit den Kindern spielte.

7.4.3 Die Assoziationswelt der Kinder Das Gerücht Uber die Schlümpfe wurde während der Befragung mit religiösen Vorstellungen sowohl der Maya als auch christlicher Herkunft sowie mit audiovisuellen Diskursen verknüpft. Außerdem führte es zu Assoziationen mit wichtigen historischen Ereignissen von Yucatán.

7.4.3.1 Die Erzählungen Uber die Figur des Yumbalam Im Verlauf der Befragung wurden auch Geschichten über andere wichtige Figuren der Mythologie der Maya wie den Yumbalam oder Balam erzählt. Sie gehören gemäß Villa Rojas (1978: 288-291) zur Gruppe der Yumtziloob oder Schutzgötter. "Yum" bedeutet in Maya Herr oder Beschützer. Die Balamoob im Plural der Maya-Sprache übernehmen den Schutz der Maisfelder und des Zugangs zu den Dörfern. Auch sie bilden wiederum eine Vierzahl und befinden sich an den vier Himmelsrichtungen des Dorfes. Sie werden als starke Männer von großer Statur dargestellt, mit langen Bärten, die bis zum Bauchnabel reichen. Ihre Arme sind stark behaart und ihre Augen aus Obsidian (Baqueiro López, 1981). Die Vorstellung von den Balam ist uneinheitlich. Villa Rojas legt dar: los nativos sólo tienen ideas vagas respecto a las cualidades que distinguen entre si a las diversas deidades que abarca el sector de los Yumtziloob (Villa Rojas, 1978: 290) Dagegen bestehen Villa Rojas zufolge einheitliche Vorstellungen über die speziellen Funktionen dieser Götter.

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Die Balamoob schützen die Maisfelder, bestrafen jedoch die Ungläubigen, die vergessen, ihnen Opfergaben darzubieten. In dieser Hinsicht gleichen die Aluxes den Balamoob. Ein bestimmter Pfiff dient den Balamoob als Zeichen der Warnung und des Hilferufs vor Gefahren, um sich untereinander zu verständigen. Sie schützen den Wanderer und übernehmen es, verirrte Personen wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Jedoch darf der Wanderer nicht versuchen, die Balamoob zu sehen. Die Kinder griffen auf diese Figuren in ihren Erzählungen zurück. In einer ersten Geschichte erzählt ein Mädchen, daß eine auf ihren Mann wartende Frau den Pfiff der Balamoob hörte: Mädchen Nr. 2: También dicen allá por Popolá, allá por Popolá que una señora estaba esperando a su esposo que se había ido a la cantina o no sé a dónde y no regresaba su esposo en la noche. Pero ella se había cansado de esperar. Entonces de pronto ya se iba a ir a acostar cuando empezó a oír así como chiflidos y dice ella que era el Yumbalam. También dicen otros que creo que era el chiflido del viento o algo así... Auch sagt man dort bei Popolá, dort bei Popolá, daß eine Frau gerade auf ihren Mann wartete, der in die Kneipe gegangen war, oder ich weiß nicht wohin, und ihr Mann kam nachts nicht zurück. Aber sie war des Wartens müde geworden. Dann plötzlich als sie dabei war, schlafen zu gehen, hörte sie etwas wie Pfiffe, und sie sagt, daß es der Yumbalam war. Auch sagen andere, glaube ich, daß es das Pfeifen des Windes war oder so etwas...

Junge Nr. 1: Dicen que cuando dan las doce de la noche en Campeche que se ponen en los árboles y cuando vas a pasar que te agarran y te suben. Man sagt, daß wenn es zwölf Uhr nachts schlägt in Campeche, daß sie auf die Bäume gehen, und wenn du vorbeikommst, greifen sie dich und heben dich hoch.

Junge Nr. 2: También dicen que el Yumbalam tiene horas especiales para chiflar que sólo a las doce del día y a las doce de la noche, este chifla. Man sagt auch, daß der Yumbalam zu besonderen Stunden pfeift, daß dieser nur um zwölf Uhr am Tag und zwölf Uhr nachts pfeift.

In einem anderen Teil des Interviews zeigten die Kinder, daß sie zwar die Namen dieser Figuren kannten, jedoch nichts über die prähispanische Maya-Geschichte der Balamoob wußten. So entstand etwa die folgende spezielle Variante: Junge Nr. 4: También dicen que el Yumbalam que en las noches se aparece en las matas de cedro. Auch sagt man, daß der Yumbalam nachts in den Matas der Zedern erscheint. Interviewerin: ¿Qué es el Yumbalam? Wer ist der Yumbalam?

Junge Nr. 4: El Yumbalam es papá de la X-tabay aquí en Chichén, pero es un enanito. Der Yumbalam ist der Papa der X-tabay hier in Chichén, aber er ist ein Zwerglein.

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Junge Nr. 2: Es un señor que tiene barba. Es ist ein Herr, der einen Bart hat.

Mädchen Nr. 3: Una barba negra. Einen schwarzen Bart.

Junge Nr. 4: Es un señor que era papá de la X-tabay, pero que entonces este un día así como era el jefe así de Chichén empezó a molestar al, al, al brujo del caracol. ¿Quién sabe qué hizo?, ¿qué hechizó? Pero entonces desaparecieron los dos. Es ist ein Herr, der der Papa der X-tabay war, der aber dann, äh, eines Tages, da er der Herr hier in Chichén war, anfing den, den, den Zauberer des "caracol" von Chichén zu ärgern. Wer weiß, was er tat? Was er zauberte? Aber dann verschwanden die beiden.

In keinem der mir zugänglichen Bücher oder Sammelwerke mündlicher Erzählungen wird eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Yumbalam und Xtabay angeführt. Aufgrund dieser Tatsache bleibt zu fragen, ob diese Variante nicht das Ergebnis einer Form kindlichen Denkens darstellt, aufgrund dessen die Beziehungen zwischen mythischen Personen im Einklang mit der Ordnung und den Beziehungen des Familienverbandes organisiert werden. Auch ließe sich vermuten, daß der Volksglauben im allgemeinen, dem abstraktere Formen der Religiosität intellektueller Gruppen fremd sind, dazu neigt, Gottheiten und übernatürliche Figuren in Übereinstimmung mit Schemata zu ordnen, die von einer konkreteren, materiellen, physischen oder gesellschaftlichen Ordnung abgeleitet werden.

7.4.3.2 Die Erzählungen über die Zauberer und ihre Verwandlungen Im Verlauf dieser Befragung bezogen die Kinder sich auch oftmals auf Zauberer und auf Wesen, die halb Mensch, halb Tier waren, so wie es in der vierten Klasse der Uay-chivo gewesen war. Dies steht sicherlich in Zusammenhang mit einer von Thompson (1950: 247) vorgenommenen Beschreibung der alten Mayagötter. Diesem Autor zufolge hatten nur wenige dieser Götter eine menschliche Gestalt, die meisten bildeten eine Mischung aus menschlichen und animalischen Zügen. In diesem Zusammenhang fiel die Erzählung über eine Hexe auf, die sich in ein Schwein verwandelt hatte: Junge Nr. 2: También dicen que en la casa de mi tía se les apareció una marrana grande gorda. Que esa marrana estaba persiguiendo a un amigo de mi tía y que... al día siguiente se con, quizo desconvertirse en persona, pero no pudo: medio cuerpo tenía de marrana y medio de persona. Entonces la envolvieron bien y la llevaron y de pronto oyó un grito el señor esposo de la señora que sólo él sabía que era bruja... la enterraron y que allá siempre

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cuando en la tumba pasaba un zopilote grandote como un águila grande, grande, grande del tamaño de la marrana y que cuando bendicieron la tumba desapareció ese zopilote. Auch sagt man, daß im Hause meiner Tante eine große, fette Sau erschien. Daß diese Sau dabei war, einen Freund meiner Tante zu verfolgen und daß... am nächsten Tag sich ver, wollte sie sich zurückverwandeln in eine Person, konnte es aber nicht: der Körper war halb Sau und halb Mensch. Dann wickelten sie sie gut ein und schleppten sie fort, und plötzlich hörte der Herr Gemahl der Frau einen Schrei, da nur er wußte, daß sie eine Zauberin war... sie begruben sie, und daß dort immer als am Grab ein riesiger Aasgeier vorbeikam wie ein großer, großer Adler, so groß wie die Sau und daß, als man das Grab segnete verschwand dieser Geier.

Die Kinder bezogen sich mehrmals auf die magischen Verfilhrungskräfte, die Zauberwesen besitzen können, oder um, wie zuvor erwähnt, "para tener tratos sexuales con mujeres dormidas" (Villa Rojas, 1978: 390). Das Mädchen Nr. 4 erwähnte, daß die Zauberer Leute hypnotisierten, damit sie in ihrem Sinne handelten, auch gegen den Willen des Hypnotisierten. Mädchen Nr. 2 berichtete, daß sie "persiguen a sus enamoradas, a sus enamorados, les hacen maldades". Außerdem spielten die Kinder auch auf eine legendäre Mayafigur namens Cucalkin an, dessen Name "el sacerdote sin cuello" bedeutet. Er wird als ein enthaupteter Mann beschrieben, der nachts auf den Wegen erscheint, umgeht und die Leute erschreckt (Baqueiro López, 1981). Junge Nr. 1: Allá en la iglesia de mi barrio, decía así mi tatarabuelita que se les, que una vez se estaban yendo y que se les asomó un padre sin cabeza, pero que no podían avanzar. Corrían, pero no avanzaban. Dort in der Kirche in meinem Viertel, so sagte meine Ururoma, daß ihnen, daß als sie einmal weggingen und daß sich ein Pater ohne Kopf sehen ließ, aber sie konnten nicht vorwärtskommen. Sie rannten, aber kamen nicht voran.

Unmittelbar hiernach sprach das Mädchen Nr. 4 von einem "hombre sin cabeza". Das Mädchen Nr. 5 erwähnte: "hay hombres sin cabeza porque, porque se la quitaron". Diese Äußerung wurde von den Kindern sofort mit zwei Erzählungen über Stiere verknüpft. Ein Fall handelte von einem Mann, der sich in einen Stier verwandelt hatte, weil er entdecken wollte, was seine Frau auf dem Friedhof machte. Der Mann "se quitó su cabeza", rieb sich mit Fett ein, um sich einen Stierkopf aufzusetzen. In dieser Gestalt begab er sich zum Friedhof, konnte dort nichts entdekken und am Ende "se quedó sin cabeza", denn er konnte ihn nicht mehr ankleben. Der Junge Nr. 3 griff dieses Motiv auf: Junge Nr. 3: También me contó mi abuelito que allá en allá y vió a un toro, fue a cazar y vió a un toro negro grandote y que lo quizo matar y no moría el toro y le dió cinco balazos y cuando cornearon al señor ese, se murió el toro y el señor se convirtió en toro...

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Mein Opa hat mir auch erzählt, daß dort, dort irgendwo und er sah einen Stier, er ging zum Jagen und sah einen riesigen schwarzen Stier, und daß er ihn töten wollte, und der Stier starb nicht, und er gab ihm fünf Kugeln, und als sie diesen Mann mit den Hörnern stießen, starb der Stier und der Mann verwandelte sich in einen Stier...

Die erste Erzählung könnte auf Legenden über sich in Tiere verwandelnde Zauberer zurückgehen, in diesem Fall den Uay-toro oder Uay-uacax in der MayaSprache. Die zweite Geschichte spielte möglicherweise auf die Figur des X-Juan Thul an, von dem angenommen wird, er sei der Wächter der Rinder und stehe in Verbindung mit dem Stierkampf (Villa Rojas, 1978: 296). Neben diesen gab es weitere Bezügen auf legendäre Mayafiguren: Riesen, Zwerge, Riesenhunde, Leguane und Gorillas, die Betrunkenen und den Kindern nahestehenden Personen erschienen waren, um sie zu erschrecken.

7.4.3.3 Erzählungen über den Volksglauben der Christen und Maya und über den Krieg der Kasten Außer der Verknüpfung zu vielen Maya-Legenden wiesen die Geschichten der Kinder auch Verbindungen zu Vorstellungen christlichen Volksglaubens auf. Sie bezogen sich auf das Kreuz, das Weihwasser, den Teufel und die Legende vom "Niño de Atosha" und ließen eine spezielle Aneignung katholischer Figuren und Sinnbilder erkennen. Im Zusammenhang mit Erzählungen über Kobolde und Aluxes verwies eine Geschichte auf die Legende vom "Niño de Atosha". Beim Niño de Atosha handelt es sich um die auf einem Thron sitzende Figur eines wie ein Herr gekleideten Jungen mit einem Hut, im Stil zwischen "charro mexicano" 10 und Musketier. Auf einer Seite trägt er ein Körbchen am Arm, in der anderen Hand hält er einen Stock mit einem mexikanischen Flaschenkürbis. Der Legende zufolge ist diese Figur lustig, keck, heilkräftig und sehr wundertätig. Im Bergbaugebiet von Zacatepec wird sie sehr verehrt. Es ist naheliegend, daß die Kinder beim Erzählen über die Schlümpfe und Aluxes, die sie als Zwerge oder kleine Kinder ansahen, auch eine Verbindung herstellten zu dieser wundergläubigen Legende über einen Jungen, der lustig ist, der Gutes tut und heilt. Mädchen Nr. 5 erwähnte, daß der Niño de Atosha wundertätig war wie andere Heilige auch. Mädchen Nr. 2 trug eine Version vor, bei der er außerdem noch Geld zurückließ: Mädchen Nr. 2: También a mi abuelita se le apareció el Niño Atosha... entonces mi abuelita pues acechó en la ventana porque la atrajo, la atrajo un ruido 10

Dabei handelt es sich um einen Gutsbesitzer in typischer sonntäglicher Reitertracht.

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que estaba como dinero. Acechó y vió que era el Niño Atosha. Entonces que vió que se mete en un pozo. Entonces a la orilla dejó dinero y fue a agarrar mi abuelita para ver y vió que era mucho dinero. Y después salió otra vez el Niño y se metió adentro así entre unas matas de plátano y al día siguiente pues escarbaron allá... entre las matas de plátano encontraron un tesoro y entonces que según mi abuelita le estaban avisando que el tesoro era para ella. Auch meiner Oma erschien der Niño de Atosha... dann spähte meine Oma am Fenster, weil sie angezogen wurde, angezogen von einem Geräusch, das wie Geld klang. Sie spähte und sah, daß es der Niño de Atosha war. Dann sah sie, daß er in einen Brunnen sprang. Dann am Rand ließ er Geld und meine Oma ergriff es, um zu sehen, und sie sah, daß es viel Geld war. Und danach kam der Niño de Atosha noch einmal heraus, und ging in einige Matas der Bananen so hinein, und am nächsten Tag gruben sie dort den Boden auf... in den Matas der Bananen fanden sie einen Schatz und dann, meiner Oma zufolge, wurde ihr mitgeteilt, daß der Schatz für sie war.

Diese Geschichte glich derjenigen über die Aluxes, die ebenfalls der Großmutter Geld hinlegten. Anders war jedoch, daß in diesem Fall die Großmutter keine Gabe darbrachte, sondern lediglich Geld vorfand. Das Handlungsumfeld des Niño de Atosha erinnerte an das vieler Figuren der Maya-Legenden, nämlich die Matas, aus denen dann übernatürliche Wesen wie die X-tabay oder mythologische Tiere hervortraten. In einer weiteren Erzählung über den Niño de Atosha gab der Junge Nr. 5 zu verstehen, daß diese Figur ihren Gläubigen, die sie richtig zu behandeln wußten, Glück bringen konnte. Verschiedene Erzählungen bezogen sich auf die Figur des Teufels. Der Teufel nahm immer dann spezifische Mayazüge an, wenn er in lokalen Umfeldern auftauchte, wie etwa in Höhlen oder neben Matas oder wenn er mit der X-tabay und Zauberwesen verbunden wurde. Demzufolge war der Teufel ein Wesen, das sich in Tiere oder andere Gegenstände verwandeln konnte. Außerdem ermöglichte diese Figur, wie erwähnt, daß Zauberer mit ihm einen Pakt schlössen und sich in andere Wesen verwandeln konnten. In einer der Geschichten der Kinder wurde der Teufel mit einem Baby identifiziert, das durch einen Mann neben einer Mata gefunden wurde und dem später Reißzähne und Hörner wuchsen: Mädchen Nr. 1:... cuando lo destapó vió que era un nené feo con sus colmillos afuera, su cigarrote, su cara. Tenía cuernos. Según él que era el diablo... entonces arrancó a correr y se encontró a la Llorona y la Llorona luego lo agarró y entonces él le puso la cruz y vió que empezó a volar. ... als er die Decke wegnahm, sah er, daß es ein häßliches Baby war mit seinen herausstehenden Reißzähnen, seiner großen Zigarre, seinem Gesicht. Es hatte Hörner. Ihm zufolge war es der Teufel... dann begann er zu rennen und begegnete der Llorona, und die Llorona packte ihn, und dann hielt er ihr das Kreuz vor und sah, daß sie wegflog.

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Diese Erzählung erinnerte an eine von Ligorred (1983: 209-211) gesammelte und bereits im Zusammenhang mit der X-tabay erwähnte Geschichte. Einige betrunkene Männer fanden ein Baby am Wegesrand, das sich gleichfalls verwandelte. Nur erschien es in jenem Fall nicht als Teufel, sondern als X-tabay, von der erzählt wird, daß sie eine Art Teufel darstellt oder eine Beziehung mit ihm unterhält. Der Darlegung des Mädchens Nr. 1 zufolge weinte die Llorona ebensowenig wie die X-tabay, wie diese war sie aggressiv und griff den Mann an, jedoch fehlten ihr Züge der Verfuhrung. In dieser Geschichte konnte die Llorona fliegen, was üblicherweise weder als eine Fähigkeit der Llorona noch der X-tabay galt. Vielmehr ist dies für Hexen, Vampire usw. kennzeichnend. Was die Figur des Teufels anbelangt, so sind den Darlegungen eines Mädchens zufolge einigen Männern Kinder erschienen. Die Männer wurden dann von den Kindern in eine Höhle gebracht. Dort verwandelten die Kinder sich in riesige Figuren. Als die Männer in der Höhle erwachten, sahen sie "al diablo y a una mujer, una bruja". Wiederum war eine Beziehung zwischen Teufel und Zaubererwesen zu vermerken. Die Geschichte endete mit dem Versuch, diese riesigen Kinder zu weihen, der jedoch mißlang. Erst als eine Frau einen Pfahl in sie hineinstieß, als handele es sich um Vampire, verwandelten sie sich in Zwerge. Bei mehreren Geschichten stellte das Kreuz ein Objekt dar, das in verschiedenen Kontexten zur Vertreibung eines bösen Wesens herangezogen wurde. In einem Fall mochte es sich um den Teufel handeln, in einem anderen um die Llorona, in einem dritten schließlich um die Aluxes. Kreuze sind in den Gesellschaften der Maya von sehr großer Bedeutung. In prähispanischer Zeit wurde das Kreuz mit dem Kapokbaum, dem heiligen Baum der Maya, in Beziehung gebracht, wie bereits zuvor dargelegt. Deshalb wurde es assoziiert mit dem Überfluß, mit der Landwirtschaft und ihren Göttern. Nach Ankunft der Spanier, die das katholische Kreuz mitbrachten, wurde das Kreuz weiterhin von den Maya verehrt. Jedoch zeigen die diese Verehrung begleitenden Rituale sehr deutlich, daß eine Verschmelzung zwischen katholischem Glauben und Maya-Religion stattgefunden hat (Thompson, D., 1954). Hierzu trug die Tatsache bei, daß die christlichen Orden in ihren Klöstern vier Kreuze auf Steinhügeln aufstellten, und daß die Maya auch den Brauch hatten, in den vier Himmelsrichtungen der Dörfer Hügel zu errichten, von denen aus die Herrscher der Dörfer oder Yumbalamoob nach Maya-Glauben die Bewohner bewachten. Das Kreuz ist gemäß Villa Rojas (1978) das höchste Symbol des Heiligen. Es stellt den Vermittler zwischen Menschen und Gott dar. Nicht alle Kreuze sind gleich mächtig. Vielmehr hängt dies von ihrer Wundertätigkeit ab. Einige Kreuze haben bei gesellschaftlichen und politischen Prozessen indianischer Gemein-

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Schäften eine bedeutsame Rolle gespielt, wie z.B. das "Cruz Parlante". Dessen Verehrer, die "cruzoob", erhoben sich in der "Guerra de Castas" gegen "los blancos" und begehrten gegen die mehrere Jahrhunderte dauernde Unterdrückung auf. Der Krieg der Kasten begann 1847 und wurde erst 1900 durch den General Ignacio Bravo unter Kontrolle gebracht. In diesem Kampf bedienten sich die Maya des Kreuzsymbols und der religiösen Institution, um gegen die Weißen zu rebellieren, unter denen sich Priester und Repräsentanten der Zentralregierung befanden. Ein neues theokratisches Regime entstand im Südwesten von Yucatán (Reed, 1964). Der diesen Kampf begleitende Geist blieb in den Erzählungen der Maya-Bevölkerung erhalten, vor allem in Quintana Roo (Burns, 1983), jedoch auch in einigen yukatekischen Dörfern wie Xocén, das in der Nähe von Valladolid liegt (Terán und Rasmussen, 1992). Im Interview spielten die Kinder auf den Krieg der Kasten und seine Auswirkungen auf die Stadt Valladolid an, die 1848 von Maya-Truppen besetzt wurde. Der der Unterdrückung der Maya zugrundeliegende sozio-ökonomische Konflikt sowie die Rolle des Kreuzes wurden durch einen Jungen angesprochen: Junge Nr. 3: También allá desde cuando Tihosuco era parte de Yucatán, este, todos eran pobres allá... Eran esclavos los de allá y los de acá todos eran ricos. Eran ricos los de acá y Tihosuco Auch dort, seitdem Tihosuco ein Teil von Yucatán war, äh, alle dort waren arm... Die Leute von dort waren Sklaven und die von hier waren reich. Sie waren reich, die von hier und in Tihosuco

Interviewerin: Tihosuco, ¿por dónde está? Tihosuco, wo liegt es? Junge Nr. 3: Es parte de Quintana Roo ahora. De antes era de Yucatán y luego agarraron los de Tihosuco y vinieron a pelear acá, vinieron a pelear acá y entonc's 'hora aquí había una guerra y tiraron toda la iglesia y todo y luego empezaron allá y luego agarraron y, y luego los de Tihosuco, este, pusieron una cruz de piedras así como una albarrada, como cuatro cruz así y dos así y dos piedras hacia los lados y luego hasta ahorita va uno y la quiere tirar y no se puede tirar y no se puede tirar. Está bien pegada. No se puede tirar. Heute ist es ein Teil von Quintana Roo. Früher war es Yucatán, und dann haben sich die von Tihosuco zusammengeschlossen und kamen hierher um zu kämpfen, kamen hierher um zu kämpfen, und dann gab es hier einen Krieg und sie zerstörten die ganze Kirche und alles, und dann begannen sie dort, und dann schlössen sie sich zusammen und, und dann die von Tihosuco, äh, stellten ein Steinkreuz auf und machten eine Schutzmauer, wie vier Kreuze so und zwei so und zwei Steine an den Seiten und dann bis heute, wenn man da hingeht und sie umstürzen will, und sie läßt sich nicht umstürzen, und sie läßt sich nicht umstürzen. Sie sitzt ganz fest. Sie läßt sich nicht umstürzen.

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An anderer Stelle der Befragung spielte ein Junge nochmals auf den Krieg der Kasten an, auf die Vertreibung der katholischen Priester aus den reinen MayaDörfern während dieser Zeit und auf die Rolle des Kreuzes als Waffe. Junge Nr. 2: Este aquí en un pueblo, este dijeron que, que un, había un padre así que le caía mal a toda la gente y que los estaban sacando del pueblo. Le pegaban al padre. Entonces el padre se molestó y construyó una cruz de madera para que derrumbase el pueblo de Ticu... Äh, hier in einem Dorf, äh, sagt man, daß, daß ein, es gab einen Pater, der allen auf den Wecker ging, und die sie dabei waren, aus dem Dorf zu vertreiben. Sie schlugen den Pater. Dann war der Pater sauer und baute ein Kreuz aus Holz, damit das Dorf Ticu einstürzte... Interviewerin: ¿Por dónde dices que pasó eso? Wo, sagst du, ist das geschehen? Junge Nr. 2: Por Quintana Roo, por ahí. Ah, ya sé en donde, por donde ahorita queda Nuevo Xcan, más o menos por allá y que la cruz se estaba cayendo y entonc's no, no hicieron caso y que cuando se cayó la cruz empezó un viento muy fuerte y destruyó la ciudad. Um Quintana Roo, dort. Ach, ich weiß schon, wo, dort, wo heute Nuevo Xcan liegt, ungefähr dort, und daß das Kreuz umfiel und dann nicht, sie paßten nicht auf, und daß, als das Kreuz umfiel, erhob sich ein sehr starker Wind und zerstörte die Stadt. Im Hinblick auf die politisch so bedeutsame Rolle des "Cruz Parlante" mit seiner Verbreitung in vielen Maya-Dörfern, sowie auch im Zusammenhang mit agrarischen, rituellen Gebräuchen, die sich auf das Kreuz beziehen, ist Thompson (1954: 31) der Ansicht, daß das Kreuz in Yucatán christlich ist. Nicht christlich ist jedoch seine Art zu sprechen, zu essen, sich in alle Dörfer zu verbreiten, seine Denkweise und, ganz allgemein, seine Art zu handeln. Weil das Kreuz das Böse vertreibt, wird es nach Villa Rojas in allen gefährlichen Situationen verwendet. Sehr gebräuchlich sind Kreuze aus geweihten Palmen oder Kreuze mit Salz und Kräuterblättern auf den Boden gezeichnet. Los niños quedan inmunes al ataque de los malos vientos con sólo llevar en las muñecas o en el cuello una o más crucecitas de madera (Villa Rojas, 1978: 278). In diesem Zusammenhang ist eine Darlegung des Mädchens Nr. 1 zu erwähnen, das erzählte, daß der Alux verschwand, als der Mann ein Kreuz nahm. Bei dieser Äußerung fragte ich: Interviewerin: ¿Oye por qué puso lo de la cruz? Hör mal, weshalb nahm er ein Kreuz? Mädchen Nr. 1: Porque es viento. Weil es Wind ist. Interviewerin: ¿Cómo?

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Wie? Mädchen Nr. 1: Que porque es viento y los sopla. Daß, weil es Wind ist und es bläst sie. Die Kinder redeten weiter Uber die Aluxes und nahmen an, daß ich ihre Darlegungen verstanden hatte. Zum Verständnis des Hintergrundes der Ausführungen des Mädchens Nr. 1 ist hilfreich zu wissen, daß einige der wichtigsten Götter der Maya mit Landwirtschaft, Regen und Wind verbunden waren. Viele noch heute ausgeübte agrarische Zeremonien, die vom Schamanen des Dorfes, in der MayaSprache "H-Men", geleitet werden, sind darauf gerichtet, daß die Felder die guten Winde empfangen und die bösen Winde verscheucht werden. Den religiösen Vorstellungen der Maya zufolge können böse Lüfte und Winde auch den Personen schaden, sie können Krankheiten herbeiführen usw. (Villa Rojas, 1978: 278). Die Beziehung zwischen Kreuz und Wind, auf die das Mädchen Nr. 1 hinweist, ist auch Ausdruck einer Vermischung zwischen Figuren der katholischen Religion und der Kosmogonie der Maya, zwischen der Figur des Kreuzes und Jesus Christus und den in den vier Himmelsrichtungen aufgestellten Windgöttern sowie den Yumtziloob. Diese mit der Landwirtschaft verbundenen Götter sind heute noch für die Volksreligiosität der Maya bedeutsam (Villa Rojas, 1978:288). Ligorred zeichnete 1983 ein Gebet zur Darbietung eines Opfers an die Götter auf, das hier auszugsweise zitiert sei. Es zeigt einige der heutigen Formen des religiösen Synkretismus in dieser Region auf: La Comida de la Milpa... Grandes y Respetables Señores. Viento del Norte. Viento del Oriente. Viento del Sur. Viento del Poniente. Jesús. Esta santa promesa es la primicia que se hace. Os pedimos que la recitéis con alegría. Guardianes de los Montes. Guardianes de los Vientos. Guardianes de los Días. Guardianes de los Cerros. Guardianes de las Cuevas. Ayúdenos junto con nuestros compañeros y con el corazón os entregamos nuestra Santa Primicia que os hemos prometido, porque en donde residimos han sucedido varios incidentes que nos han afectado... A vosotros Grandes y Respetables Señores. Grandes Vientos. Jesús tú que eres entre nosotros el principal ayúdanos... (Ligorred, 1983: 174 f). Ähnliche Beispiele finden sich bei Burns (1983), Mondloch (1982), Thompson, D. (1954), Terán/Rasmussen (1992) oder Villa Rojas (1978).

7.4.3.4 Horrorfilme und die Sendungen über die Schliimpfe Unter den von den Kindern herangezogenen Figuren aus Horrorfilmen befand sich ein Vampir, der im Rahmen dieser Befragung Mayazüge von sehr lokaler Ausprägung annahm. So schickte der Vampir sich in dieser Geschichte an, wie jeder sich in ein Tier verwandelnde Mayazauberer, seine Geliebte durch die Stra-

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ßen des Zentrums zu verfolgen. Als er an der Kirche Valladolids vorbeikam, verschwand er: Junge Nr. 3: Por aquí a cinco calles, al lado de su casa de Anita, al lado de su casa de Anita, allá en las cinco calles había una casa así como abandonada. Entonces, cómo se llama, un hospital, entonces, allá este, salió un vampiro, así ¿no? un vampiro, como un señor alto así con sus colmillos, pero que no volaba alto, que apenas apenitas parecía que estaba arrastrando sus pies, pero que empezó a corretear a mi tía y que ella llegaron allí por el centro y que pasó un coche y que rápido la metió. Pero el vampiro seguía correteando al coche, hasta que el coche pasó por la iglesia y el vampiro desapareció. V o n hier aus fünf Straßen weiter, neben Anitas Haus, neben Anitas Haus, dort, in den fünf Straßen gab es ein Haus, das wie verlassen war. Dann, wie heißt es, ein Krankenhaus, dann, dort, äh, es kam ein Vampir heraus, so, nicht wahr?, ein Vampir, wie ein großer Herr so mit seinen Reißzähnen, aber der nicht hoch flog, der mühsam, ganz mühsam mit den Füßen schlurfte, der aber anfing, hinter meiner Tante herzulaufen und daß sie dort im Zentrum ankamen, und daß ein Auto vorbeikam, und daß sie es schnell nahm. Aber der Vampir verfolgte das Auto noch weiter, bis das Auto an der Kirche vorbeikam, und der Vampir verschwand.

Innerhalb der Gesamtheit von Assoziationen waren auch aus Film und Fernsehen stammende audiovisuelle Diskurse anzutreffen, die durch ihre Einbettung in einen mündlichen Kontext der Produktion von Erzählungen spezielle Färbungen erhielten. In dieser Hinsicht ist erwähnenswert, wie ein Mädchen eine aus einem Horrorfilm stammende Szene erzählte, in der eine Frau den Verstand verliert, als sie sieht, daß ihr Baby in der Wiege sich in einen Totenschädel verwandelt hat: Mädchen Nr. 2: También allá, también allá, por allá, decían que, allá, allá, por no sé dónde. Me lo contó una amiga que este, había una señora que estaba planchando, pero que tenía su nené en una cuna y al rato así cuando volteó a ver, vió que su hijo estaba como quemado, como calavera. Entonces ella como que se traumó y que cuando llegó su esposo del coche le empezó a gritar a su esposa: "¿dónde estás?" Que no sé qué. Entonces ella se escondió y cuando iba a pasar por donde estaba ella que lo mató. Le quitó su cabeza y lo acuchilló. Auch dort, auch dort, dort in dieser Gegend sagt man, daß dort, dort, ich weiß nicht wo. Eine Freundin hat es mir erzählt, daß, äh, es eine Frau gab, die beim Bügeln war, aber sie hatte ihr Baby in einer Wiege, und nach einer Weile, als sie sich umdrehte, um es zu sehen, sah sie, daß ihr Sohn wie verbrannt war, wie ein Totenschädel. Da bekam sie ein Trauma, und als ihr Mann mit dem Auto ankam, begann er, seine Frau zu rufen: "Wo bist du?" Ich weiß nicht, was. Dann versteckte sie sich, und als er dort vorbeiging, w o sie war, brachte sie ihn um. Sie hieb ihm den Kopf ab und stach ihn nieder.

Ein von einem Produzenten, einem Regisseur und verschiedenen Akteuren hergestellter Diskurs verwandelte sich wiederum in einen anonymen Diskurs. Es fällt die äußerst unbestimmte Angabe des Ortes auf, an dem die Erzählung gehört

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wurde: "Allá por", ein typischer Ausdruck, mittels dessen die Kinder ihre mündlichen Geschichten sowohl in diesem kulturellen Kontext als auch in der Schule Benito Juárez erzählten. Der Ausdruck "allá" war in diesem Gruppeninterview 25mal anzutreffen. Außerdem wurde der Ausdruck "decían que" häufig verwendet, der auf die anonyme und kollektive Stimme einer Gemeinschaft hinwies. Mit Hilfe eines weniger anonymen Ausdrucks suchte das Mädchen dagegen einen näheren Bezugspunkt: "Me lo contó una amiga". Diese Art des Wechsels diskursiver Strategien war auch in der Schule Benito Juárez zu beobachten. Diese Erzählung verdeutlichte, daß Filme und andere audiovisuelle Diskurse sich in lokale Legenden umwandelten, obwohl sie gewisse Formen des Erzählens in audiovisuellen Bildern oder in Filmeinstellungen beibehalten konnten wie in dieser Erzählung. In der vierten Klasse war dies noch stärker zu beobachten als in der sechsten Klasse. Während dieser Befragung erzählten die Kinder keine Episode aus der Sendung Los Pitufos. Jedoch griffen sie die Figuren auf, die etwas mit dem Gerücht zu tun haben könnten. Sie produzierten Versionen über sie, wobei der Bezug zur Sendung verschwand. Sie wählten die konfliktreichen Personen der Sendereihe aus wie den Grießgramschlumpf und den Überraschungsschlumpf. So erzählte ein Junge, daß ein Mädchen eine Puppe des Grießgramschlumpfs gekauft und mit nach Hause genommen hatte. Dieser ergriff sie dann und brachte sie um. Unmittelbar hierauf erzählte ein anderer Junge, daß ein Mädchen eine dem Überraschungsschlumpf ähnelnde Schlumpfpuppe gekauft hatte. Da der Überraschungsschlumpf stets Dinge verschenkt, die explodieren, führte der Junge aus: "estalló una bomba y toda su casa se derrumbó". Solche Erzählungen veranschaulichten den Prozeß der speziellen Aneignung, den die Fernsehsendungen und j e d e Art von Diskursen bei mündlicher diskursiver Produktion durchliefen.

7.4.4 Der Grad der Glaubwürdigkeit der Erzählungen Fast während des gesamten Interviews erzählten die Kinder voller Vergnügen alle Arten von Geschichten, ohne daß dabei eines der Kinder Zweifel äußerte. Erst gegen Ende der Befragung, als verschiedene Kinder lokale Geschichten erzählten, wurde nachdrücklich die Unglaubwürdigkeit verschiedener Behauptungen vertreten. Diese Passagen der Befragung zeigten Grenzen der Glaubwürdigkeit in dieser Gruppe auf sowie ihre Regeln erzählerischer Produktion. Mädchen Nr. 1: Dicen que la 48 es la calle de los locos porque están alocados. Man sagt, daß die 48 die Straße der Verrückten ist, weil sie spinnen.

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Junge Nr. 2: No es cierto, no es cierto. Es que en los juegos de béisbol, así en los campeonatos infantiles se ponen locos. Das stimmt nicht, das stimmt nicht. Das ist so, weil sie in den Baseballspielen, so in den Kinderwettkämpfen, sich verrückt gebärden.

Junge Nr. 3: No es por eso, no es por eso. Es que allá vive un señor, pero no está loco, pero le dicen Juan Loco, pero no está loco. Es que una vez hubo un tiempo en que se emborrachaba mucho. Entonces hacía mucho gesto y ya ahorita, ya, este ya dejó de tomar, pero se le quedó el vicio de hacer gestos, y, y, y a veces diario va a mi casa. Así se para enfrente y empieza a hacer gestos. A mi hermana, a todos así les empieza a hacer gestos. Y cuando lo ve la gente dicen que está loco, pero no está loco porque va a mi casa. Es plomero, va a mi casa y compone el baño, la regadera, va a arreglar allá. Nicht deshalb, nicht deshalb. Das ist so, weil dort ein Mann lebt, aber der ist nicht verrückt, aber man nennt ihn Juan Loco, aber er ist nicht verrückt. Das ist so, weil er sich früher oft stark betrank. Dann machte er viele Grimassen und jetzt heute, jetzt, äh, jetzt trinkt er nichts mehr, aber ihm ist die Sucht geblieben, Grimassen zu schneiden, und, und, und er kommt manchmal jeden Tag zu mir nach Hause. Er stellt sich so vor das Haus und beginnt, Grimassen zu schneiden. Meiner Schwester und allen gegenüber schneidet er Grimassen. Und wenn die Leute das sehen, sagen sie, er ist verrückt, aber er ist nicht verrückt, denn er kommt zu mir nach Hause. Er ist Klempner, er kommt zu mir nach Hause und repariert das Bad, die Dusche, er repariert dort.

Mädchen Nr. 2: A nosotros también. Bei uns auch.

Mädchen Nr. 3: También va a mi casa... Er kommt auch zu uns nach Hause...

Mädchen Nr. 4: Un día mi hermano y yo estábamos jugando busca-busca y nos subimos a una albarrada, albarrada de. Entonces ahí nos subimos. Estábamos jugando busca-busca y Juan Loco estaba pasando... Entonces después vimos que nos estaba viendo Juan Loco, cogió un montón de machetes en sus dos manos. Eines Tages waren mein Bruder und ich Verstecken spielen und wir stiegen auf eine Mauer, eine Mauer von. Dann stiegen wir hinauf. Wir spielten gerade Verstecken und Juan Loco kam vorbei... Dann, danach sahen wir, daß Juan Loco uns anschaute, er nahm eine Menge Buschmesser mit seinen Händen.

Junge Nr. 3: No es cierto. Das stimmt nicht.

Mädchen Nr. 4: Y nos empezó a seguir y nos empezó a hacer así Und er begann uns zu verfolgen, und er begann, so zu machen

Das Mädchen machte eine Drohgebärde und erhob die Hand, als hielte sie ein Buschmesser. Mädchen Nr. 4: Y entonces nosotros nos asustamos y a mí me dijo mi hermano que yo vaya corriendo a la casa. Cerré la puerta. Cuando me vió Juan Loco

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que yo había entrado a mi casa, empezó a golpear con el machete y entonces mis hermanos se asustaron y entonces le taparon los dos ojos y le vendaron y ya lo tenían agarrado... y cuando logró desatarse Juan Loco y como ya lo habíamos subido a un coche ya estaba bien alejado, estaba por la plaza... y cuando vimos ya estaba regresando... Und waren wir erschrocken, und mein Bruder sagte zu mir, daß ich nach Hause rennen sollte. Ich schloß die Tür. Als Juan Loco sah, daß ich in mein Hause hineingegangen war, fing er an, mit dem Buschmesser zu schlagen, und dann erschreckten sich meine Geschwister, und sie verdeckten ihm dann die Augen, und verbanden sie ihm und hielten ihn fest... und als es Juan Loco gelang, sich loszubinden, und weil wir ihn schon in ein Auto gebracht hatten, war er entfernt, er war am Platz... und als wir es sahen, ging er bereits zurück...

Vieles sprach dafür, daß Mädchen Nr. 4 und Junge Nr. 3 zu unterschiedlichen Arten von Erzählregeln griffen. Der Junge Nr. 3 kannte die Person der Handlung und versuchte, ein weniger phantastisches Erzählspiel durchzusetzen. Das Mädchen Nr. 4 möchte im Gegensatz hierzu ein Erzählspiel von Horrorgeschichten schaffen. Weil beide Kinder, soweit ersichtlich, in der Gruppe die gleiche Durchsetzungskraft besaßen, hatten beide Varianten nebeneinander Bestand. Der Junge Nr. 3 erzählte eine Variante, die mit den Regeln verbunden war, denen marginalisierte Personen in den einfachen Wohnvierteln unterliegen. Die Variante des Mädchens Nr. 4 war dagegen von den Regeln für Horrorgeschichten geleitet, wobei sie ihrer Erzählung einen gewissen lokalen Anstrich verlieh. Dieses Beispiel beleuchtete die Schwierigkeit, den Grad der Glaubwürdigkeit der verschiedenen Erzählungen der Kinder zu bestimmen. Da im Verlaufe der Befragung kaum konfliktbeladene Situationen entstanden, ließ sich feststellen, daß eine Grundstimmung allgemeiner Glaubwürdigkeit zu verzeichnen war. Gleichwohl wurde diese Grundstimmung mitunter durch Tonfalle sowie durch bestimmte Ausdrücke nuanciert, die andere Grade von Glaubwürdigkeit andeuteten. Dies wird unten ausgeführt. Die Versionen des Gerüchts, die sich mit Puppen und anderen Schlumpfgegenständen befaßten, erfreuten sich nicht der gleichen Glaubwürdigkeit wie mit den Aluxes oder der X-tabay verbundene. Dies veranschaulichte der Beginn der Erzählung des Mädchens Nr. 5 über die Version vom Schlumpf, der sich nicht verbrennen ließ: "Sí, una amiga que vió en sus sueños, que soñó". Gleichfalls traf dies für die Version zu, bei der das Fernsehgerät brannte und einige Schlümpfe heraustraten. In diesem Fall begann das Mädchen wie folgt: "También que, como se llama, que una ñifla soñ". Obgleich sie das Wort "soñó" nicht vollständig aussprach, so zeigte dies doch ihre Kennzeichnung der Geschichte auf, nämlich als Traum. Dagegen konnten Geschichten als in hohem Maße glaubwürdig eingestuft werden, wenn sie von den Kindern als eigenes Erlebnis sowie als allen bekannte

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Begebenheiten erzählt wurden, so wie die von den Aluxes, der X-tabay und anderen Mayafiguren handelnden. Kein Kind bestritt die Existenz dieser Figuren, obgleich sie hinsichtlich deren Eigenarten nicht immer übereinstimmten. Diese Geschichten nahmen etwa drei Viertel der Zeitdauer der Befragung in Anspruch. Die restliche Zeit sprachen die Kinder über Versionen des Gerüchts, bei denen der Terminus "pitufo" sich auf einen Gegenstand bezog. Keines der Kinder sprach offen aus, an das Gerücht über die Schlumpfpuppen nicht zu glauben. Um die Glaubwürdigkeit der Versionen des Gerüchtes über die Schlumpfpuppen genauer in Erfahrung zu bringen, stellte ich den Kindern die Frage, ob sie Schlumpfpuppen oder andere Schlumpfsachen hätten. Ein Junge berichtete, daß er nichts dergleichen besäße, und alle anderen erklärten, daß sie Schlümpfe als Schlüsselhänger, Bleistifte, Posters, Abziehbilder, Schreibmappen, Bälle und Plüschpuppen hatten. Alle Antworten wurden in ernstem und ruhigem Ton vorgetragen, der nicht den Eindruck vermittelte, die Kinder hätten Angst. Hiermit stimmt überein, daß Junge Nr. 6 schon am Anfang des Interviews behauptete, daß er eine Plüschpuppe besaß, die er auf dem Jahrmarkt in Valladolid gewonnen hatte, und daß ihm nichts geschehen sei. Auch gab der Junge Nr. 1 zu, daß er die Schlumpfpuppen gern hatte. Auf meine an die Kinder gerichtete Frage, ob ihre Eltern vom Gerücht wußten, äußerten die Kinder einhellig, daß ihre Eltern nicht daran glaubten. Das wurde durch Darlegungen wie "no lo creen" zum Ausdruck gebracht oder durch Wiedergabe der Meinung der Eltern, es handle sich dabei um "sólo cuentos" oder "puros cuentos". Mädchen Nr. 2 legte dar, daß seine Mutter äußerte, daß alles über die Schlümpfe den Kindern nur gesagt werde, um sie zu erschrecken, eine Auffassung, die auch in der sechsten Klasse der Schule Benito Juárez vertreten wurde. Das Mädchen Nr. 3, das sich etwas mehr ausließ, gab die folgende Meinung seiner Eltern wieder: Mädchen Nr. 3: Mis papás dicen que son puras imaginaciones, o sea los niños lo ven porque están desesperados y que, según, que hay algunos que están embrujados, entonces los niños embrujados al ver los pitufos se desembrujan y empiezan a contar. Entonces mi mamá, mi mamá me dice que son cuentos que no existen. Meine Eltern sagen, daß es lauter Einbildungen sind, d.h., die Kinder sehen das, weil sie verzweifelt sind, und daß, demnach, daß es einige gibt, die verzaubert sind, dann wenn die verzauberten Kinder die Schlümpfe sehen, werden sie wieder entzaubert und fangen zu erzählen an. Dann meine Mama, meine Mama sagt mir, daß es Geschichten sind, die nicht existieren.

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Nach dieser Darlegung muß als Grund für die Einbildung eines Kindes, daß Puppen und Schlumpfgegenstände existierten, auf ein "embrujamiento" und ein "desembrujamiento" zurückgegriffen werden, worüber während der Befragung viel gesprochen wurde. Dies deutete darauf hin, daß die Auffassung glaubwürdiger war, ein Kind sei verzaubert und sähe deshalb, daß die Schlumpfpuppen Kinder umbrächten, als die Meinung zu vertreten, daß die Puppen in Wirklichkeit mordeten. Dies sticht ab von den Erörterungen in der Schule Peterson, denen zufolge der Glaube an das Gerücht eher als Zeichen für eine Schädigung der Kinder durch das Fernsehen betrachtet wurde. In der Schule Peterson wurde dem Fernsehen die Macht zugesprochen, den Sinn der Kinder zu verwirren, in der Schule Hispanomexicano dagegen den Zauberern. Trotz dieser allgemeinen Distanz zum Gerücht über die Schlümpfe gab der Junge Nr. 5 am Ende der Befragung zu verstehen: "Yo si, yo si, yo si lo creo". Das Mädchen Nr. 4 äußerte mit mehr Distanz, daß "los nifios" es glaubten. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Ordnung der Glaubwürdigkeit der Geschichten schwankte zwischen dem ausdrücklich dargelegten Unglauben der Eltern und dem ausdrücklich geäußerten Glauben eines der Kinder.

7.4.5 Die unterschiedlichen Tonfälle während der Befragung Während der Befragung sprachen die Kinder oft in einem geheimnisvollen, dramatischen Ton. Er prägte alle Geschichten mit der Figur der X-tabay, die Erzählung über die aufgehängten Mönche und mit Zauberern, Tieren und Horrorfilmen verbundene Geschichten. Diese Ereignisse wurden von den Kindern langsam, mit eher leiser Stimme, mit Pausen und dramatisch vorgetragen. Außerdem trat ein heiterer Tonfall auf. Er prägte die mit den Aluxes und der Figur des Yumbalam verknüpften Erzählungen, die Geschichten über den Mann ohne Kopf und den lokalen Vampir, der die Tante durch das Zentrum der Stadt verfolgte. In diesen Fällen sprachen die Kinder begeistert, mit kräftiger Stimme und flüssig. Der Grad der Sprechgeschwindigkeit wechselte je nach Kind und angesprochener Thematik. Die zu Beginn des Interviews vorgetragenen Versionen des Gerüchtes wurden in ernstem Ton gesprochen, wobei die Kinder den Eindruck erweckten, sie wollten lediglich informieren. In dieser Form wurde die einfachste Version des Gerüchts, daß eine Puppe ein Kind umgebracht hätte, erzählt, ebenso die Version vom Roboterschlumpf und vom Schlumpf, der sich nicht verbrennen ließ. Dabei waren die Äußerungen knapp und flüssig und wurden mit eher lauter und tiefer Stimme gesprochen.

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Auch im weiteren Verlauf der Befragung wurden einige Darlegungen durch den ernsten Tonfall nuanciert. Dies galt filr zwei Erzählungen über den Niño de Atosha, die auf den Krieg der Kasten hindeutenden Geschichten und die lokalen Erzählungen über Personen aus den einfachen Wohnvierteln von Valladolid. Die Darlegungen waren ausführlich und wurden flüssig vorgetragen. Die Stimme war gemessen und laut. Die Ernsthaftigkeit des Tonfalls stimmte nicht überein mit der Distanz einer Person, die lediglich informieren wollte. Ausgehend vom geheimnisvollen, dramatischen Tonfall, der sich mit dem heiteren vermischte, und angesichts der regen Beteiligung der Gruppe läßt sich behaupten, daß die Kinder ein in diesem kulturellen Kontext übliches Treffen abhielten, in dem sie sich über Maya-Legenden und geheimnisvolle Geschichten unterhielten.

7.4.6 Die Gruppendynamik Insgesamt war eine rege Teilnahme aller Kinder am Interview zu verzeichnen. Das während der ersten Minuten aufrechterhaltene Schema von Frage und Antwort, als die einfachsten und kürzesten Versionen des Gerüchtes erzählt wurden, verschwand, als die Kinder begannen, die Versionen mit Maya-Legenden zu assoziieren. Dann unterhielten sich die Kinder intensiv untereinander und die Figur der Interviewerin wurde weitgehend ausgeblendet. Meine Äußerungen beschränkten sich auf die Bitte um Erläuterungen, was dazu beitrug, daß ich zur Zuhörerin wurde. Als ich die Fragen nach den Kenntnissen der Eltern Uber das Gerücht und nach dem Besitz von Schlumpfpuppen durch die Kinder stellen wollte, erzählten einige Kinder einfach weiter. Nachdem es mir schließlich gelang, diese Fragen zu stellen, wurde schnell darauf geantwortet, um unmittelbar darauf mit den Erzählungen fortfahren zu können. Dies zeigt die Begeisterung auf und den Gefallen, den die Kinder am Geschichtenerzählen fanden. Als ich an späterer Stelle durch andere Fragen die Dynamik des Erzählens der Kinder unterbrach und mich ins Zentrum der Aufmerksamkeit versetzte, nahm der Junge Nr. 4 die Gelegenheit wahr, um nach dem Grund des Interviews zu fragen. So wurden einen Augenblick lang die Rollen des Interviews vertauscht. Er wurde zum Interviewer, ich zur Befragten: Junge Nr. 4: Oye, ¿por qué hace entrevistas así de los pitufos? Hör mal, warum machen Sie denn Interviews über die Schlümpfe? Interviewerin: ¿Por qué? Pues para saber lo que se ha dicho aquí sobre ellos, así como en otras partes y después para saber si siguen teniendo muñecos.

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Warum? Nun, um zu wissen, was man hier über sie sagt, wie auch anderswo und danach, um zu wissen, ob ihr weiterhin Puppen habt.

Meine Antwort führte dazu, daß die Kinder wiederholten, sie hätten Puppen. Der Junge sprach mich also zuerst mit "Du" an ("oye") und wechselte dann zum "Sie" über ("por qué hace entrevistas"). Bei der Kritik am Mißbrauch von Almosen für eigene Zwecke wechselte das Mädchen Nr. 4 gleichfalls die Form der Anrede: Mädchen Nr. 4: Y sabe usted que hay unas señoras que pasan así con su santo y te piden dinero, que es para el santo, pero es para ellas. Und wissen Sie, das es einige Frauen gibt, die dort mit ihrer Heiligenfigur vorbeikommen und dich um Geld bitten, das für den Heiligen ist, aber es ist für sie.

Die Anrede mit "Du" mir gegenüber war nicht die Regel, denn im allgemeinen neigten die Kinder dazu, mich zu siezen, wie etwa als der Junge Nr. 5 mir die Frage stellte: "¿No ha visto el árbol de tronco grande, tronco grande?" Die Kinder benutzten häufig ein impersonelles "tú", wie anhand einiger oben wiedergegebener Zitate ersichtlich, in denen dieser Gebrauch unterstrichen wurde, wie z.B.: "También dicen que cuando tú compras, has de cuenta un peluche... te da mala suerte" und "También dicen que hay aluxes que... te llevan a la cueva". In diesen Fällen erfüllte das "tú" eine impersonelle Funktion, ähnlich dem "se", obwohl es damit nicht völlig gleichzusetzen ist. Es beinhaltete nicht das personelle "tú", schließt es aber ein; es stellt eine Zwischenform zwischen dem "se" und dem "tú" dar. Dieses unpersönliche "Du" wies auf eine Referenzeinheit hin, in der das "yo" enthalten war und unterstrich das Personalpronomen "tú". So unterstrich das unpersönliche "tú" der Kinder, daß ihre Erzählungen mich betrafen, aber auch die anderen Kinder sowie dritte Personen. In dieser Hinsicht besaß dieses "Du" eine kollektive Bedeutung. Das Impersonal der zweiten Person erfüllt außerdem un sentido de instrucción y consejo, de experiencia comunicativa, mación de un experto a otro que no lo es (Alonso, 1974: 120).

de infor-

Wahrscheinlich trug auch die Rolle der Informanten, in die ich die Kinder versetzte, dazu bei, daß sie mir gegenüber das Impersonal der zweiten Person benutzten und mich, wenn auch selten, in der Du-Form anredeten, was Ausdruck einer gewissen Nähe mir gegenüber ist. Sie faßten mich zugleich als eine Respekt verdienende Erwachsene auf, aber auch als eine Person, deren Informanten sie darstellten, eine Person, der sie ihr Wissen übermittelten. Meine Begegnung mit den Kindern wurde durch das Mädchen Nr. 4 explizit definiert als "entrevista de los pitufos". In Anbetracht der Erzählungen der Kinder und der dabei verwendeten Tonfälle wurde die Befragung implizit definiert

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als eine Zusammenkunft, um sich über geheimnisvolle Erzählungen und über lokale Geschichten zu unterhalten und diese einer Interessentin aus der Hauptstadt mitzuteilen. In der Gruppe herrschte wie in der vierten Klasse eine harmonische Stimmung. Im allgemeinen hörten die Kinder einander zu und vervollständigten sich gegenseitig ihre Geschichten. Nur mitunter unterbrachen sie einander. Wie bereits oben dargelegt, entstanden kaum Konflikte, und die Gruppenregeln ließen ein breites Feld von Meinungen zu, was auf ein Klima der Toleranz deutete. Ein Gruppenführer ließ sich nicht ausfindig machen. Jungen und Mädchen unterhielten sich auf die gleiche Weise.

7.4.7 Die angeführten Informationsquellen und Autorität vermittelnden Elemente Von den Kindern wurden ausschließlich mündliche Quellen erwähnt, und auch diese angesichts der langen Zeitdauer des Interviews in relativ geringem Umfang. Die auf die kollektive und anonyme Stimme einer Gemeinschaft zurückgehenden Ausdrücke fanden sich insgesamt 60mal, und zwar der Ausdruck "dicen que" 45mal, "a mí me dijeron que" zehnmal und "a mí me contaron que" fünfmal. Hinzu kam noch die Verwendung der impersonellen Form des "tú". Bei der Unterhaltung der Kinder verschmolzen ihre Stimmen zu einem kollektiven Gemurmel, bei dem weder die Nennung von Namen noch die genaue Angabe des Ortes, an dem die Geschichten gehört worden waren, erforderlich waren. Der auch in der Schule Benito Juárez vorkommende und eine ungenaue Ortsangabe beinhaltende Ausdruck "Allá, por allá" tauchte in der Schule Hispanomexicano in fast allen Erzählungen auf: "allá en", "allá por", "por allá" und viele weitere Varianten. Mit dem Satz "También allá, también allá, por allá, decían que, allá, allá, por no sé dónde. Me lo contó una amiga" begann das Mädchen Nr. 2 seine bereits wiedergegebene Erzählung eines Horrorfilms, deren audiovisuelle Referenz sich in dieser heterogenen Mischung mündlicher Erzählungen und anonymer Stimmen zu verlieren schien. Nur manchmal waren Referenzen auf etwas genauere Ortsangaben für die Information zu verzeichnen, wie z.B. Yovaín, Popolá, Cancún, Puerto Morelos und Veracruz. Sowohl die Stimmen anonymer Personen als auch von Verwandten wurden als mündliche Informationsquellen angeführt. Von den insgesamt zwölf Nennungen erfolgten sieben auf meine Bitte hin: eine Cousine, drei "amigos" und drei nicht näher bezeichnete "niños". Bei den aus eigenem Antrieb genannten Personen wurden viermal die Großeltern und einmal die Ururgroßmutter erwähnt. Letztere

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tauchten nicht zufällig auf, befaßten sich doch die meisten Erzählungen der Kinder mit traditionellen Maya-Legenden und alten religiösen Geschichten katholischen Zuschnitts. Eine schriftliche Quelle wurde niemals erwähnt. Nur ein einziges Mal erfolgte eine Randbemerkung über den Fernsehapparat, obwohl die Diskurse der Kinder an zwei Stellen der Befragung sich auf die Sendung über Los Pitufos bezogen. Hiervon abgesehen wurde nicht auf die Sendung oder auf das Femsehen als Informationsquelle verwiesen. Daher konnten auch die Erzählungen, in denen die Schlümpfe genannt wurden, als Teil dieser heterogenen Menge mündlicher Erzählungen betrachtet werden.

7.4.8 Zur diskursiven Einordnung Die Kinder unterschieden während des gesamten Interviews nicht explizit zwischen einem Kinofilm, einer Fernsehsendung, einer Maya-Legende oder einer religiösen Erzählung. Jedoch ließ sich aus der Art der Einführung bzw. Kennzeichnung bestimmter Geschichten eine gewisse implizite Form der Ordnung ihrer Diskurse ersehen. So betrachtet unterschieden die Kinder zwischen einem "que se dice que" und einem "nosotros vimos". Unter diese Einordnung fielen auch von den Kindern als eigenes Erlebnis geschilderte Geschichten, die sich auf die X-tabay und auf aufgehängte Männer bezogen: "Yo cuando estaba en Los Lobatos, este nos fuirnos a acampar y vimos a una mestiza bien bonita de pelo largo..." sowie "Asi lo vimos la otra vez yo y mis dos primos... y ahi estaba el sefior ahorcado". Eine weitere Einteilung tauchte zum ersten Mal bei einer Erzählung des Mädchens Nr. 5 auf. Bei der Geschichte vom Schlumpf, der sich nicht verbrennen ließ, sagte das Mädchen, es habe dies Ereignis geträumt oder sich in der Phantasie vorgestellt. Damit wurde implizit begrifflich unterschieden zwischen Tatbeständen, die Produkt eines Traums bzw. der Phantasie darstellten, und der Idee der realen Welt. Diese Einteilung stand im Einklang mit den bereits dargelegten Äußerungen der Kinder über den Unglauben der Eltern dem Gerücht gegenüber. Eine wiederum andere diskursive Einordnung ließ sich angesichts der Äußerung "no es cierto" des Jungen Nr. 3 feststellen, die er den Darlegungen der Kinder über Juan Loco entgegenhielt. Immerhin war die Tatsache der Existenz der Kategorie des "lo no cierto" beachtenswert in einer Befragung, in der Grenzen der Ordnung der Glaubwürdigkeit sehr breit gezogen schienen und fast keine Mißverständnisse über die Interpretation auftauchten. Diese Kategorie fand in lokalen Diskursen Anwendung, weil die Kinder die Figuren der Geschichten kannten und sich von den Ereignissen betroffen fühlten.

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7.4.9 Verbindungspunkte zwischen Erzählungen und Alltagsleben der Kinder In den Erzählungen kamen viele den Kindern bekannte Personen mit ihren Alltagsgewohnheiten zum Vorschein. Weil die überwiegende Mehrzahl der Geschichten außerhalb des Hauses stattfand, wurden nur wenige Merkmale des Hauses hervorgehoben. Dabei handelte es sich häufig um Häuser auf dem Land mit Matas, Bäumen, Sträuchern und Brunnen in ihrer näheren Umgebung. Zudem war in einigen Fällen, in denen sich die Geschehnisse innerhalb des Hauses abspielten, die Bewegung der Personen nach draußen gerichtet. Die Großmutter spähte mehrmals durch das Fenster, stellte dabei den Aluxes Atole aus Mais hin und erhielt von ihnen und - in einem anderen Fall - vom Niflo de Atosha Geld. Die Fenster wurden dabei mehr als fünfmal genannt. Die für diese Gegend so traditionelle Hängematte, die zum Schlafen und für die Siesta dient, wurde zweimal, das Fernsehgerät dagegen nur einmal erwähnt. Innerhalb des Hauses spielte sich ab, daß in einem Fall eine Frau auf die Rückkehr ihres Ehemanns aus der Kneipe wartete, und in einem anderen Fall, daß ihr Mann ihr das Haushaltsgeld gab: Junge Nr. 5: A veces mi mamá guarda dinero así, mi papá a veces cuando llega borracho no le da dinero a mi mamá. Sólo le da los billetes así a mi mamá de su gasto y todo así le da pa' que pague tandas y así, y agarra su sencillo y todo se lo pone al Niflo de Atosha. No más los veintecitos, agarra y lo pone en una cosita roja y le pone ajos, le pone. Porque mi mamá es de Veracruz de los que creen en todo, 'tone' le pone ajo, le pone veintecitos, cinco centavos. De todo le pone así, y, y, y se lo guarda mi mamá en una bolsita roja y mi papá siempre que así juega poker, baraja, nunca pierde. Así de todo, juega de todo, dados, así volados. Manchmal bewahrt meine Mama Geld auf so, wenn mein Papa betrunken zurückkommt gibt er ihr manchmal kein Geld. Er gibt meiner Mama nur so die Scheine für den Haushalt und all das gibt er ihr, um die tandas" zu zahlen, und nimmt das Kleingeld und legt das alles für den Niflo de Atosha hin. Nur die Zwanziger, sie nimmt sie und steckt sie in ein rotes Ding und legt, und legt Knoblauch dazu. Weil meine Mutter aus Veracruz kommt, w o sie an alles glauben, dann legt sie Knoblauch, Zwanziger, fünf Centavos hin. V o n allem legt sie hin und, und, und meine Mutter steckt es in ein rotes Täschchen und immer wenn mein Vater so Poker spielt, Karten, er verliert nie. So von allem, er spielt alles, Würfel, volados. 1 2

" 12

Der Ausdruck "tandas" bezeichnet eine gebräuchliche Form der Kreditvergabe und des Sparens unter Bekannten. Bei "volados" handelt es sich um ein in den einfacheren Wohnvierteln beliebtes Wettspiel mit Münzen.

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Dieser Ausschnitt aus dem Interview vermittelt recht anschaulich verschiedene familiäre Gebräuche wie das Haushaltsgeld geben, die "tandas" zahlen, das Kleingeld nehmen, und illustriert einfache Formen der Verehrung am Beispiel des Niño de Atosha. Auch wirft er ein Licht auf Konflikte zwischen Ehepartnern, wenn die Männer soviel trinken, daß das Geld ausgeht. Der trinkende Vater spielte die in Kleinstädten üblichen Spiele: verschiedene Kartenspiele, darunter Poker, Würfelspiele und "volados". Die Mutter paßte auf das Geld auf und verwaltete es für die Raten, für die "tandas". Sie glaubte an den Niño de Atosha und verehrte ihn bei sich zu Hause gemäß lokalem Brauch, indem sie Knoblauch und etwas Kleingeld nahm und in eine kleine Tasche legte, was für den Ehemann bei seinen Wetten glückbringend sein sollte. Eine weitere auf dem Schauplatz der Erzählungen auftretende väterliche Figur war der Heilpraktiker des Wohnviertels, von dem Junge Nr. 1 folgendes erzählte: Junge Nr. 1: M i papá como cree todo. Mi papá como es muy creyente. V e todo así los del Maleficio y todo así. Curaba así a las personas y todo. Las curaba así con albahaca, huevo de gallina. Mein Papa, da er alles glaubt. Mein Papa, da er sehr gläubig ist. Er sieht so alles von der Sendung Maleficio und alles so. Er heilte so die Leute und alle. Er heilte sie so mit Basilikum und Hühnereiern.

Daraus ließ sich die Existenz traditioneller Heilpraktiken erkennen, die der Vertreibung böser Geister dienen sollten. Außerdem zeigte die Nennung

der

"telenovela" El Maleficio, in der jemand einen Pakt mit den Teufel eingeht, ihre für diesen Kontext spezielle Interpretation als Diskurs der Heilpraktiker. Im Gegensatz zu diesen Eltern standen Eltern mit eher rationalistischer A u f f a s sung, die an das Gerücht über die Schlümpfe nicht glaubten, es als lauter Märchen einstuften, die nur erzählt würden, um die Kinder zu erschrecken. Jedoch zweifelten, den Kindern zufolge, dieselben Eltern nicht an der Wirksamkeit von "embrujamientos", denen die Kinder ausgesetzt sein könnten mit der Folge, daß sie den Gerüchten über die Schlümpfe Glauben schenkten. Aussagen über konkrete Aktivitäten dieser Eltern fehlten. Möglicherweise trug der erzählerische Kontext des Gerüchts über die Schlümpfe und der Legenden hierzu nichts bei. Die Erzählungen der Kinder skizzierten auch bestimmte, wichtige Bezugspunkte des

Lebens

in den

Stadtvierteln

Valladolids,

wie

die

"cantina"

und

die

"tortilleria", den Laden, in dem die Maisfladen hergestellt und verkauft werden. Mädchen Nr. 3: También dicen que mi abue, que a mi mamá se le apareció que estaba chica un duende de oro y que empezaron a llamar a Don Dencio, el de por mi casa, el de la tortilleria... Auch sagt man, daß meine Oma, daß meiner Mama, als sie klein war, ein Kobold aus Gold erschien, und daß sie Don Dencio zu rufen begannen, der neben uns wohnt, der von der Tortilleria ist...

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Der Terminus "Don" oder "Doña" vermittelte einen Eindruck von der das Leben in den Stadtvierteln von Valladolid prägenden Art zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Beziehung zu den Verkäufern war eine Mischung von Respekt und Nähe. Die Logik unpersönlichen Einkaufs im Supermarkt war noch nicht durchgedrungen. In einer anderen Geschichte tauchte "Dofla Candi" auf. Sie war nicht damit einverstanden, daß manche Leute von anderen einen bestimmten Betrag als Almosen für den Niño de Atosha forderten. Ihrer Meinung nach sollte dem Spendenden der Betrag freigestellt sein. Im übrigen bevorzugte sie "hacerle el rosario al Niño de Atosha y prenderle la veladora". Zugleich wurde hierdurch erneut die Bedeutung des Kults um diese Figur mit auf kleinen Hausaltären aufzustellenden Kerzen ersichtlich. Innerhalb der Stadtviertel erschienen auch bestimmte Straßen und lokale Personen als Bezugspunkte. Es bestanden unterschiedliche Auffassungen nicht nur gegenüber Juan Loco, sondern auch einer Person namens Herodes: Mädchen Nr. 4: Hay un hombre que se llama Herodes. Es gibt einen Mann, der Herodes heißt. Junge Nr. 1: Es como Juan Loco. Er ist wie Juan Loco. Mädchen Nr. 1: No es cierto. Le gusta el agua. Le gusta el agua. Das stimmt nicht. Er mag Wasser. Er mag Wasser. Junge Nr. 2: No es cierto. Dicen que come trapo... Das stimmt nicht. Man sagt, daß er Lappen ißt... Mädchen Nr. 3: Es un hombre loco, pero es mi primo. Er ist verrückt, aber er ist mein Vetter. Junge Nr. 3: No es cierto, no está loco, no está loco. Das stimmt nicht, er ist nicht verrückt, er ist nicht verrückt. Mädchen Nr. 3: Bueno. Está mal de la cabeza. Gut. Er ist wirr im Kopf. Junge Nr. 3: Dicen que así en Cancún sus papás, pero como hacía mucho con Resistol 5000 vivía al lado de mi tía y así se envició, pero como así. Ya le nacía así. Entonces una vez empezó a robar y entonces así, ya le hacía con cemento. Si no tenía cemento, con resistol y cuando pasamos a vivir al lado de la casa de mi tía, entonces en todos lados había resistol. Apestaba ahí donde le daban cuarto a Herodes porque su papá ya no lo quería aceptar porque, porque ya lo había sacado varias veces de la cárcel. Man sagt, daß seine Eltern in Cancún, aber weil er viel mit Resistol 5000 machte, lebte er neben meiner Tante und so bekam er die Sucht, aber so. Das kam aus ihm heraus. Dann fing er einmal zu stehlen an, und dann so, dann machte er es mit Ze-

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ment. Wenn er keinen Zement hatte, mit Resistol und als wir dann neben das Haus meiner Tante umgezogen sind, dann gab es überall Resistol. Das stank dort, wo Heredes ein Zimmer bekam, denn sein Papa wollte ihn nicht mehr annehmen, weil, weil er ihn schon mehrere Male aus dem Gefängnis geholt hatte. Mädchen Nr. 3: Es mi primo. Er ist mein Vetter. Junge Nr. 4: También dicen que Herodes come Fab. Auch sagt man, daß Herodes Fab-Seife ißt. Junge Nr. 5: Es su primo de ésta. Das ist der Vetter von der da. Mädchen Nr. 3: ¡Es mi primo! Mis tíos viven en Cancún, pero... Er ist mein Vetter! Mein Onkel und Tante leben in Cancún, aber... Mittels dieses Ausschnitts aus der Befragung wurde die jugendliche Drogenabhängigkeit aufgezeigt. Das Verhalten marginalisierter Personen kam zum Ausdruck, wie "hacerle al resistol 5000", "enviciarse" und mehrmals im Gefängnis gesessen zu haben. Das Lösungsmittel Resistol 5000 stellt die Droge für nicht integrierte Kinder und arme Jugendliche der kleinen und großen Städte dar. Dreimal versicherte das Mädchen Nr. 3, daß sie Herodes' Cousine war. Obgleich mit einer gewissen Unsicherheit, so bekannte sie sich doch zur verwandtschaftlichen Beziehung mit dieser von ihren Klassenkameraden kritisierten Person. Dies zeigte, daß die Ausgrenzung Herodes' noch nicht so weit gediehen war, daß ihn seine Cousine verleugnet hätte. Jedoch war es vielleicht gerade dieses Betonen der verwandtschaftlichen Beziehung, die den Jungen Nr. 5 dazu bewog, sich dem Mädchen in verächtlicher Weise zuzuwenden: "Es su primo de ésta". Die Erzählungen machen deutlich, daß das Benehmen dieser marginalisierten Figur die Phantasie der Kinder anregte. So behaupteten die Kinder, daß er "Fab"Seife oder Lappen aß. Der Junge Nr. 3 benutzte in Verbindung mit Herodes das Wort "enviciarse", ein Wort, das von den Kindern im Zusammenhang mit den in ihren Erzählungen häufig vorkommenden Betrunkenen nie verwendet wurde. Eine deutlich gezogene Grenze schien den sich auf einem Fest Betrinkenden und den die Kneipe Aufsuchenden zu trennen von einem Mann, der "le hace al resistol". Dies stellte ein Beispiel dar, wie in diesem kulturellen Kontext die unterschiedliche Drogenabhängigkeit von Personen eingeordnet und beurteilt wurde. Die Figur des Betrunkenen wurde als allseits bekannte, vertraute Person geschildert, die bis zu einem gewissen Punkt auch respektiert wurde. Dies zeigte sich an der gelegentlichen Verwendung des Diminutivs "borrachito" oder "viejito borracho", welcher im Zusammenhang mit Betrunkenen auch in der Schule Benito

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Juárez gebraucht wurde. Jedoch war diese Figur dort stärker gefürchtet, was insbesondere die Mädchen zum Ausdruck brachten. Bei dem Betrunkenen handelte es sich in der Befragung meist um eine bekannte Person wie Onkel, Vater oder Ehemann, deren Erscheinung in den Erzählungen mit der Nacht verbunden wurde. Unbeschadet der obigen Darlegungen stellte sie jedoch keinesfalls eine Figur dar, die idealisiert wurde. Die Folgen der Trunkenheit schienen übernatürliche Strafen zu sein. Deshalb endete nach der Begegnung eines Betrunkenen mit der X-tabay bzw. einem großen Gorilla die Geschichte in mehreren Fällen mit dem Tod des Zechers. Außerdem wurden in den Erzählungen die Probleme des Zusammenlebens mit Betrunkenen geschildert. So mußte z.B. der Onkel eines Jungens, als er betrunken nach Hause kam, die Nacht draußen in einer Hängematte verbringen, allen Erscheinungen übernatürlicher Wesen ausgesetzt. Unter den übrigen bedeutsamen Bezugspunkten Valladolids erschien die Kirche mit dem Hauptplatz oder das Zentrum mit seinem Park und dem Kapokbaum. Auch wurden einige gesellschaftliche Gewohnheiten der Einwohner Valladolids erwähnt wie tanzen gehen, das Kino besuchen, in die Kirche gehen. Von mehreren Kindern besonders hervorgehoben wurde der Besuch des Jahrmarkts. Da die überwiegende Mehrzahl der Maya-Erzählungen auf dem Land stattfanden, schilderten die Kinder dies eingehender und sprachen von Feldern, Höhlen, dem Wald, von Matas von Bananen, von Zedem, von Guayas und Nopales. Nicht zuletzt werden die Maisfelder erwähnt, schließlich ist diese Gegend bis heute ein Maisgebiet. Der Rancho wurde mehrmals angeführt, ebenso die Feldarbeiter und die Tätigkeit des Säens. Gemäß einer Erzählung ergriff auf einem Rancho ein Grundbesitzer ein Kreuz, nachdem seine Knechte ihn vor Aluxes gewarnt hatten, und schreckte sie dadurch ab, worauf sie verschwanden. In einer anderen Erzählung war dagegen von einem rationalistisch denkenden Grundbesitzer die Rede, der sich erst davon überzeugen wollte, ob es sich wirklich um Aluxes handle. Er stellte schließlich fest, daß es Ratten waren: Mädchen Nr. 3: Y dijo el sefior: "Yo no tengo miedo. Tenemos que verlos hoy." Y entonces dijeron: "No porque te pueden matar y no sé qué." Y entonces un día dijo: "Váyanse todos por allá." Y se estaban muriendo de miedo y cuando vieron que quién estaba comiendo. Lo vió el señor y vió que eran unos ratonzotes grandotes que se estaban llevando sus mazorcas. Und dann sagte der Herr: "Ich habe keine Angst. Wir müssen sie heute sehen." Und dann sagten sie: "Nein, denn sie können dich umbringen und ich weiß nicht was." Und dann sagte er eines Tages: "Geht alle dorthin." Und sie starben fast vor Angst und dann sahen sie, wer dabei war, zu essen. Das sah der Herr und er sah, daß es einige große Ratten waren, die seine Maiskolben wegnahmen.

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Mädchen Nr. 4: ¿Y a eso le llamaban aluxes? Und das nannten sie Aluxes? Zu den in den Erzählungen erwähnten alltäglichen Aktivitäten der Kinder gehörten in die Schule gehen, Fernsehen anschauen, zelten und Versteck spielen. Außerdem führten die Kinder einige Orte an wie Mérida, Cancún, Puerto Morelos und andere Orte in Mexiko, an denen sie manchmal ihre Ferien verbrachten bzw. Verwandte hatten. Schließlich war auch die Nähe der Ruinen von Chichén-Itzá gegenwärtig, wobei die Kinder als Ausdruck der Vertrautheit mit diesem Ort die Abkürzung "Chichén" verwendeten. Der Junge Nr. 1 wies auf die bedeutsamen Zeremonien hin, die dort zur Tagundnachtgleiche am 21./22. März und 22.122. September nach wie vor gefeiert werden: Junge Nr. 1: También allá en Chichén, dicen que había una culebra bien grande y que un brujo Maya que la hechizó y 'orita es la cabeza, así donde baja todo lo del castillo. Es entonces cuando aparece en septiembre, en octubre, ¿quién sabe en qué mes? Cada seis meses. Cada seis meses. Alumbra y se vé y se vé na'más. Está la cabeza así de piedra. Entonces está para subir al castillo así y, y, y Auch dort in Chichén, sagt man, daß es eine ziemlich große Schlange gab und daß ein Mayazauberer sie verzauberte und jetzt ist der Kopf, so, wo alles hinabsteigt am Palast. Sie erscheint dann im September, im Oktober. Wer weiß, in welchem Monat? Alle sechs Monate. Alle sechs Monate. Sie wird beleuchtet und man sieht sie und man sieht sie, weiter nichts. Da ist der Kopf aus Stein. Dann steigt er am Palast hinauf so und, und

Er bewegte die Hände, um die Gestalt der Schlange anzudeuten. Junge Nr. 2: Y está la forma de la culebra. Y aquí está la cabeza y na'más alumbra el cuerpo. Und da ist die Gestalt der Schlange. Und hier ist der Kopf und nichts mehr beleuchtet den Körper.

7.4.10 Produktion und Austausch verschiedener Arten des Wissens während der Befragung Im Rahmen des Interviews der sechsten Klasse tauschten die Kinder Wissenselemente unterschiedlicher Natur aus, die oftmals widersprüchlich waren, ohne daß hieraus jedoch Konflikte entstanden oder genauere Überlegungen angestellt worden wären. Daraus ergaben sich auch implizit widersprüchliche Empfehlungen. Im Zusammenhang mit den verschiedenen Versionen des Gerüchtes wurde stillschweigend zum Ausdruck gebracht, man solle mit den Puppen und anderen

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Schlumpfgegenständen vorsichtig umgehen. Weder war es ratsam, sie zu kaufen, noch mit ihnen zu schlafen. In Bezug auf die Schlümpfe in ihrer Version als bösartige Kobolde oder Aluxes sollte man Vorsicht walten lassen, denn sie könnten die Kinder zur Höhle bringen und töten. Obgleich sie sympatisch erscheinen mochten, aussahen wie Kinder und wie diese spielten, so könnten diese Schlumpf-Aluxes doch bösartig sein. Im Gegensatz zu dieser Art von Empfehlungen sprach Junge Nr. 6 davon, daß er eine Schlumpfpuppe auf dem Jahrmarkt gewonnen hatte und ihm nichts geschehen war. Daraus wurde folgerichtig abgeleitet, Vorsicht wäre unnötig. Die von den Kindern dargelegte Ungläubigkeit vieler Eltern dem Gerücht gegenüber führte zur analogen Schlußfolgerung. In diesem Zusammenhang wurde, wie auch in der Schule Benito Juárez, Kritik an einigen Erwachsenen geübt, die mit dem Gerücht die Kinder nur erschrecken wollten. Entsprechend dieser eher rationalistischen Tendenz ist auch die Erzählung vom Grundbesitzer einzuordnen, der, statt an die Aluxes zu glauben, Nachforschungen anstellte. Daraus resultierte die Empfehlung, solche Aussagen einer Prüfung zu unterziehen. In ähnlicher Weise appellierte Mädchen Nr. 5, vorsichtig mit der eigenen Phantasie und mit Träumen umzugehen, als es die Geschichte vom Schlumpf, der sich nicht verbrennen ließ, erzählte. Als der Junge Nr. 3 die Bitte aussprach, nur wahre Geschichten zu erzählen, disqualifizierte er die des Mädchens Nr. 4 über Juan Loco. In diesem Fall bestanden gleichfalls zwei unterschiedliche Empfehlungen nebeneinander. Aus der Darstellung des Mädchens Nr. 4 ließ sich ableiten, daß man sich vor einem Verrückten und Mörder wie Juan Loco hüten müßte. Im Gegensatz hierzu führte die Aussage des Jungen Nr. 3, die von anderen Kindern bestätigt wurde, Juan Loco sei ein normaler Klempner, zu dem Schluß, vor ihm brauchte man keine Angst zu haben. Angesichts vieler Geschichten über Figuren der Maya-Legenden entstand eine Sammlung impliziter Empfehlungen, über die große Übereinstimmung in der Gruppe herrschte. So sei es etwa geboten, in Matas von Zedern, Guayas oder Bananen vorsichtig zu sein, weil hier ein Tier oder eine gefährliche Figur wie die X-tabay versteckt sein könnte. Vor allem aber müßte man sich vor dem Kapokbaum im Park in acht nehmen, man sollte sich deshalb dort nicht nachts aufhalten, denn dieser Baum verwandele sich in ein Schlangenweib. Vielen Tieren sollte man mißtrauen, könnten es doch Zauberer sein, vor denen man sich stets hüten müsse. Diese Mischung von Vorsichtsmaßnahmen ließ sich - wie bereits beim Interview der vierten Klasse der Schule Benito Juárez - mit dem Sprichwort "der Schein trügt" zusammenfassen.

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Im Hinblick auf X-tabay und Aluxes wurden die Schutzmaßnahmen eingehender dargelegt. Verboten war, sich umzudrehen, um sie zu sehen, ein Ausdruck, der achtmal verwendet wurde. Sollte man diese Figuren doch sehen, so durfte man sich keinesfalls durch die Schönheit der X-tabay verfuhren oder durch die Sympathie der Aluxes verleiten lassen. Was die Aluxes anbelangt, so wurde mehrmals der Ratschlag ausgesprochen, ihnen Mais-Atole zu geben, um sie sich wohlgesonnen zu machen. Die generelle Möglichkeit des Schutzes vor Erscheinungen jedweder Art, seien es bösartige Aluxes oder aggressive, übernatürliche Figuren, bestand darin, sich des Kreuzes und des Weihwassers zu bedienen. Mittels verschiedener Erzählungen über den Niflo de Atosha teilten sich die Kinder die Regeln dieses Kultes mit und gaben zu erkennen, daß sie über seine Wundertätigkeit und seine Großzügigkeit Bescheid wußten. Zu seiner Verehrung sollte man den Rosenkranz beten und ihm Kerzen aufstellen. Um durch ihn begünstigt zu werden, war eine Gabe von Knoblauch und einigen Centavos vonnöten. Bei der Bitte um Almosen für den Nino de Atosha wurde empfohlen, dem Spender den Betrag nicht vorzuschreiben. Der Mißbrauch von Almosen für eigene Zwecke wurde kritisiert, was die Aussage des Mädchen Nr. 4 erkennen ließ. Neben der offen ausgesprochenen Kritik wurde eine etwas versteckte Kritik an Betrunkenen ausgeübt, weil Trunkenheit dazu führte, daß sie allerlei Erscheinungen durchstehen mußten mit gelegentlich verhängnisvollen Konsequenzen.

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Das Gerücht über die Schlümpfe im Lichte von Formen übernatürlichen Maya-katholischen Denkens und bestimmter rationalistischer Prinzipien: einige Schlußfolgerungen

Im Anschluß an die Darlegung der Untersuchung der beiden an der Schule Hispanomexicano durchgeführten Interviews werden die Regelmäßigkeiten erörtert, aufgrund derer von einer gemeinsamen mündlichen Kultur gesprochen werden kann. Außerdem werden die zwischen der Befragung der vierten und sechsten Klasse bestehenden Unterschiede herausgearbeitet.

7.5.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Befragungen Das Gerücht über die Schlümpfe fand in beiden Gruppen Anklang. Dies führte dazu, daß die Kinder eine große Sammlung von Erzählungen vortrugen, die vor allem mit der Welt der Maya-Erzählungen in ihrer zeitgenössischen Ausprägung verknüpft waren. Beide Befragungen bildeten einen Rahmen, um einer Interviewerin oder an ihren Geschichten interessierten Person aus der Hauptstadt Legenden und geheimnisvolle Geschichten zu erzählen. Der von den Kindern der sechsten Klasse in ihren schriftlichen Texten hervorgehobene Herkunftsort der Interviewerin war in beiden Befragungen gegenwärtig. Die Welt der Maya-Erzählungen, die von den Kindern der vierten Klasse definiert wurde als "lo que se dicen acá", verbarg implizit den Gegensatz zwischen hier und dort, zwischen der Welt von Valladolid oder Yucatán und der Welt der Hauptstadt oder der Interviewerin. Dieser Gegensatz markierte den Rahmen des Interviews und die Entstehung der Erzählungen. Das Vergnügen, 30 Minuten lang in der vierten Klasse und 45 Minuten lang in der sechsten Klasse Maya-Legenden und lokale Geschichten zu erzählen, war ein Zeichen des Stolzes der Kinder auf diese mündliche Tradition. Dies steht im Gegensatz zu dem am Anfang dieses Kapitels aufgezeigten Ansehensverlust der Maya-Sprache. Diese Tendenz ist wohl nicht bis zu einem Punkt gelangt, an dem die Kinder es ablehnten, Geschichten aus dieser Tradition zu erzählen. Das Frage-Antwort-Schema des Interviews verschwand nach den ersten Minuten in beiden Klassen, so daß die Interviewerin während beider Erzählungssitzungen recht bald zu einer Geschichtenzuhörerin wurde. Die Stimmung in der Gruppe während der Sitzungen war durch Harmonie und Toleranz geprägt. In beiden Gruppen war erlaubt, sowohl den Glauben als auch den Zweifel an Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe oder an anderen Erzählungen auszudrücken.

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Obschon beide Befragungen auf ähnliche Weise aufgefaßt wurden und in die Welt der Maya-Legenden einführten, so waren doch einige Unterschiede zu verzeichnen. Die erzählerische Produktion der sechsten Klasse bekam in hohem Maße einen kollektiven Charakter, wobei die Kinder dazu neigten, die innerhalb ihrer Gemeinschaft kursierenden Erzählungen aufzugreifen. Außerdem schienen sie mit der Welt der Maya-Erzählungen und lokaler religiöser Erzählungen vertrauter zu sein. Die Kinder der vierten Klasse erzählten im Gegensatz hierzu nicht nur Maya-Geschichten, sondern auch in ganz Mexiko verbreitete Legenden wie diejenige von der Llorona. Sie erwähnten europäische Märchen, eine griechische Sage und an Horrorfilme erinnernde Geschichten. Sie brachten jedoch keine religiöse Erzählungen ein. Deutliche auf Alter oder der kognitiven Entwicklung basierende Unterschiede, wie im Fall der Kinder der Schule Benito Juárez oder der Schule Peterson, konnten nicht festgestellt werden. Gleichwohl mochte der Umstand, daß die Kinder der sechsten Klasse sich bei der Erzählung von Maya-Geschichten umfassender ausdrücken konnten und einen homogeneren Rahmen der Erzählproduktion aufgebaut hatten, mit ihrem Alter zusammenhängen. Sie besaßen eingehendere Kenntnisse über Maya-Erzählungen und ein breiteres Wissen um die in diesem kulturellen Umfeld typischen Regeln erzählerischer Produktion und Assoziation. Die Aussage, das Gerücht habe allgemein Anklang gefunden, bedeutet allerdings nicht, daß jede Version mit gleichem Interesse erzählt worden wäre. Die mit den Schlumpfpuppen verbundenen Versionen, die für die Kinder der Schule Benito Juárez so wichtig waren, galten in der Schule Hispanomexicano der vierten Klasse als wenig glaubwürdig und in der sechsten Klasse stießen sie nur auf geringes Interesse. Hinzu kam, daß die für die Kinder der Schule Benito Juárez so bedeutsame Version vom erscheinenden Schlumpf sich bei den Kindern der Schule Hispanomexicano nicht der gleichen Glaubwürdigkeit erfreute wie die Versionen vom Schlumpf als Alux.

7.5.2 Simultane Prozesse der Herstellung von Glaubwürdigkeit im Sinne der Maya und der Transformation der mündlichen Tradition der Maya Die Versionen des Gerüchtes vom Schlumpf als Alux oder als X-tabay fanden große Resonanz und riefen viele Assoziationen mit anderen traditionellen MayaErzählungen hervor. Es waren diese Welt der Maya-Erzählungen und ihre Regeln der Produktion von Genres, die fast den gesamten Komplex der Erzählungen in beiden Interviews gestalteten.

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Die große Mehrheit der Figuren der in beiden Interviews erzählten Geschichten - a u c h solche ohne Mayaherkunft- nahmen den Figuren der Maya-Legenden ähnliche Eigenschaften an bzw. handelten diesen ähnlich. Manchmal wurden sie in physische Umgebungen eingefügt, in denen sich üblicherweise Aktionen der Figuren aus Maya-Legenden abspielten. Zum Beispiel bekamen in der vierten Klasse die Schlümpfe den Aluxes oder der X-tabay ähnliche Eigenschaften. Ähnliches geschah dem Werwolf und den Feen aus europäischen Märchen. In der sechsten Klasse erschienen religiöse Figuren wie der Nifto de Atosha oder der Teufel in der Umgebung typischer Erscheinungen ländlicher Mayafiguren: neben Matas, auf Wegen und Straßen. Auch die Figur des im Interview der sechsten Klasse vorkommenden Vampirs handelte den Mayazauberern ähnlich. In diesem Zusammenhang ist zu vermerken, daß sich bei einigen Figuren der Maya-Mythologie mündliche Erzählungen und schriftliche Texte der Kinder über dieselben Figuren unterschieden. Wenn in den schriftlichen Texten die Figuren präziser definierte Kennzeichen oder klarer umrissene Züge aufwiesen, die sie deutlich voneinander unterschieden, verwischten sich diese Kennzeichen in den mündlichen Erzählungen, wodurch sie bis zu einem gewissen Grad zu auswechselbaren Wesen wurden. Zum Beispiel wurde in der Befragung der vierten Klasse der Uay-chivo mit dem Uay-toro gleichgesetzt. Auch wurde der Uay-chivo mit der Äußerung eines Jungen, er pfiffe, insofern mit dem Yumbalam gleichgesetzt, da Pfeifen, laut den in dieser Arbeit verwendeten schriftlichen Quellen über Maya-Legenden, eine Eigenschaft der Figur des Yumbalam darstellte. Auch die Aluxes mit ihrer so vielseitigen Natur wurden anderen Figuren gleichgesetzt. Entsprachen sie mehr der X-tabay, dann waren sie nicht mehr die kecken, schelmischen Zwerge, sondern verführten Leute, vor allem Kinder, und brachten sie in ihre Höhle. Die Aluxes wurden ebenfalls mit dem Nifio de Atosha gleichgesetzt, wobei dann ihre gütigen Eigenschaften hervorgehoben wurden. Daß sie den Leuten Geld hinlegen, z.B. der Großmutter eines Jungen der sechsten Klasse, wird in keinem der schriftlichen Texte über Maya-Legenden als diese Kobolde kennzeichnende Handlung geschildert. Umgekehrt nahm der Nifio de Atosha auch Eigenheiten der Aluxes an, wenn er in deren physischer Umgebung, neben Matas, auftrat. Die vorstehenden Darlegungen bedeuten keinesfalls, alle Figuren seien zu allen Zeiten untereinander austauschbar. So ließ sich sicherlich keinerlei Assoziation zwischen der X-tabay und einer gütigen Figur herstellen. Die negativen Eigenschaften dieser Figur sind eindeutiger festgelegt als bei Figuren, die durch eine Dualität des Verhaltens gekennzeichnet sind, wie der Balam oder der Alux, welche sowohl gut als auch böse sein können.

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Wenn gewisse Diskurse Mayaztlge annahmen, so konnten doch auch MayaErzählungen Eigenschaften anderer Diskursarten übernehmen. In einer Sammlung von Maya-Legenden ließ sich beobachten, wie die Figur der X-tabay Eigenschaften der Llorona angenommen hatte, als sie ihrem Geliebten zurief: "AAAAYYYY... mi querido amorcito..." (Medina, 1982: 45-61). Erzählungen über Zauberei wurden mit Diskursen über die Technik zusammengebracht, indem die Wirksamkeit von Zauberei und Technik gleichgesetzt wurde. Dies geschah anhand der Version vom Roboterschlumpf. Der Prozeß der Herstellung von Glaubwürdigkeit im Sinne der Maya, dem einige Diskurse der Gruppeninterviews unterzogen wurden, zeigt - aus anderer Perspektive betrachtet - zugleich den Prozeß der Transformation auf, den die mündliche Maya-Tradition erfuhr, als sie in Berührung kam mit anderen Traditionen und Diskursen unterschiedlicher Materialität. Dieser Prozeß erzählerischer Gleichsetzung oder Assoziation erlaubt es, auf einige Prozesse der Herstellung von Glaubwürdigkeit und allgemeiner diskursiver Transformation ein Licht zu werfen. Diese Prozesse finden grundsätzlich in jedem kulturellen Umfeld statt, obgleich sie im Einzelnen verschiedene Eigenheiten annehmen, in Übereinstimmung mit den jeweils vorherrschenden Erzählmustern und -formen. Genau diese Art von Prozessen ermöglicht die Behauptung, daß die mündliche Tradition der Maya, wie jede mündliche Tradition, nicht als eine geschlossene Gesamtheit unbeweglicher Geschichten aufgefaßt werden kann, die bloß darauf wartet, daß ein Folkloreforscher sie erfaßt und in schriftlicher Form aufzeichnet. Die dieser Analyse zugrundeliegende Vorstellung wurde im Verlauf der Untersuchung bestätigt. Jede mündliche Tradition ist als offenes und fragmentarisches Gemisch erzählerischer Elemente und sich mehr oder weniger ändernder Regeln erzählerischer Produktion zu betrachten. Diese Regeln bestimmen, welche erzählerischen Elemente miteinander assoziiert werden können. Zu diesen erzählerischen Elementen gehören die Figuren mit bestimmten Eigenschaften, die Gesamtheit der Aktionen und Ereignisse, in die diese Figuren einbezogen sind, und unterschiedliche physisch-geografische und gesellschaftliche Kontexte, innerhalb derer die Figuren agieren oder sich die Aktionen abspielen. Die Offenheit dieses bruchstückhaften Gemisches erzählerischer Elemente hängt von seinem Zusammenleben mit anderen mündlichen, schriftlichen und audiovisuellen Traditionen ab, d.h. seinem Zusammenleben mit einer anderen Art von Diskursen, die anderen kulturellen Umfeldern angehören. Was die mündliche Maya-Tradition anbelangt, so hatte sie immer mit anderen mündlichen Traditionen zusammengelebt, wie etwa der Nahuatl-Tradition vor und nach der Conquista.

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Wahrscheinlich wäre bei Kindern der reinen Maya-Bevölkerung der Typ der zwischen den Erzählelementen der Maya-Tradition hergestellten Assoziationen ein anderer gewesen, als dies bei den Kindern der Schule Hispanoamericano in Valladolid der Fall war. Die eine Tradition bildenden Regeln der Kombination von Figuren, Aktionen, Szenarien und übrigen Erzählelementen wechseln in Abhängigkeit vom Kontext der Erzählproduktion in der Gruppe. Hätte ich die Kinder nicht nach dem Gerücht über die Schlümpfe gefragt, sondern nach anderen Arten von Geschichten, dann hätten die Kinder gewiß andere MayaLegenden, andere lokale Märchen erzählt und andere Assoziationen zu anderen Filmen hergestellt. Gleichwohl stützen die in dieser Arbeit untersuchten Befragungen die Behauptung, daß 1983 in semi-urbanen Gegenden Yucatáns und bei nicht der MayaBevölkerung angehörenden Kindern die mündliche Maya-Tradition weiterhin gegenwärtig war und zudem hohes Ansehen genoß. Diese Tradition lebte mit mexikanischen Legenden aus dem zentralen Hochland zusammen, mit griechischer Mythologie, mit europäischen Märchen sowie mit audiovisuellen Diskursen aus den USA. Das Fernsehen begann bereits seine Spuren in den Geschichten der Kinder zu hinterlassen, und zwar in stärkerem Maße als schriftliche Texte. Bereits von Morley wurde 1946 sehr deutlich beschrieben, daß während der lange anhaltenden Unterwerfung der Mayakultur ihre Mythen und Legenden starke Transformationen erfahren hatten. Er zeigte auf, daß die generelle und strukturelle Vision der Mythen und Rituale dieser prähispanischen Kultur nur der Priesterkaste zur Kenntnis gelangt war und mit dem Verschwinden dieser Kaste zugleich verloren ging, so daß nur bruchstückhafte Visionen dem Mayavolk erhalten blieben. Einige der erwähnten Legenden, wie diejenige vom Yumbalam, begleiteten früher die mit der Landwirtschaft verbundenen Rituale und werden in einigen indianischen Gemeinschaften auch weiterhin gepflegt, wie z.B. in Xocén in der Nähe von Valladolid (Terän/Rasmussen, 1992). Dies traf jedoch für die Familien der befragten, die Schule Hispanomexicano besuchenden Kinder nicht zu. Sie wiesen keine Bindung an diese Rituale auf und gehörten nicht der MayaBevölkerung an. Angesichts des Verlustes des die Mythen und Legenden der Maya begleitenden gesellschaftlichen und rituellen Rahmens haben diese sicherlich im Laufe der Zeit weniger strenge Formen angenommen, was mit den neuen Mythen und zeitgenössischen Ritualen zusammenhängt, mit denen sie zusammenleben.

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7.5.3 Unterschiedliche Strategien des Verwischens des individuellen Subjektes und des Auftauchens des kollektiven Subjektes Weder in der vierten noch in der sechsten Klasse unterstrichen die Kinder ihre Person als individuelle Sprecher. Auch entwickelten sie keine Differenzierungsstrategie zwischen den verschiedenen Gruppenmitgliedern, so wie in der Schule Peterson. Die Namen der Kinder wurden in den Interviews nicht genannt. Weder stellten die Kinder sich vor, noch redeten sie sich untereinander mit Vornamen an. Deshalb erschienen sie im Text dieser Arbeit nur mit einer Referenznummer. In der sechsten Klasse verschmolzen die Stimmen der Kinder, wie bereits dargelegt, während eines großen Teils der Befragung zu einem kollektiven Gemurmel. Von den sich auf die kollektive und anonyme Stimme einer Gemeinschaft berufenden Ausdrücken des "se dice" und des impersonellen "tu" wurde reichlich Gebrauch gemacht. In diesem Gemurmel tauchten als autorisierte Stimmen diejenigen der Großeltern und der "tatarabuelita" auf, die Stimmen der Tradition. Nur an wenigen Stellen, an denen lokale Erzählungen wie die über Juan Loco eine Mißbilligung durch einen der zuhörenden Jungen hervorriefen, machte sich das sprechende Subjekt deutlich bemerkbar, das seine individuelle Meinung darlegte. Gleiches erfolgte, sobald die Kinder eine Geschichte als eine von ihnen selbst erlebte Begebenheit erzählten, was in bezug auf die Aluxes und die X tabay geschah. Die Kinder legten selten ihre eigene Meinung dar. Auch als ich ihnen schließlich einige Fragen zum Besitz von Schlumpfgegenständen stellte und damit ihre erzählerische Dynamik unterbrach, äußerten sie nicht sofort ihre eigene Meinung, sondern diejenige ihrer Eltern, die nicht an das Gerücht glaubten. Nur ein Junge behauptete, daß er an das Gerücht über die Schlümpfe glaubte. Für das Interview der vierten Klasse waren andere Strategien kennzeichnend, um das individuell sprechende Subjekt zu verwischen und ein kollektives Subjekt zu konstruieren. Wie bereits erwähnt, benutzten die Kinder der vierten Klasse das "se dice" nicht. Außerdem legten sie zu Beginn des Interviews mehrmals ihre persönliche Meinung dar und stellten das Gerücht über die Schlümpfe in seiner Version als Puppen in Zweifel. Jedoch von dem Augenblick an, als die Version vom Schlumpf als Alux entstand, neigten die Kinder dazu, das sprechende Subjekt in ihren Erzählungen zu eliminieren. Sie erzählten einen großen Teil ihrer Geschichten, ohne einen einleitenden oder verbindenden Satz zu verwenden. Die Kinder erzählten einfach, was sie gehört hatten und während der Befragung rekonstruierten, ohne die Notwendigkeit zu verspüren, Distanz zu ihren Äußerungen zu wahren und ohne den Ort anzugeben, an dem die erzählte Begebenheit stattfand. Sie erzählten so, als hätten sie das Ereignis selbst gesehen oder erlebt oder als ob diejenigen durch sie sprächen, die das Ereignis erlebt hatten. Die

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erste Person Singular, das sprechende Ich und die Aktion des Erzählens verschwanden. Alles geschah, als spräche für die Kinder ein kollektives Subjekt und als würde die Erzählung zeitlos. Das Interview der vierten Klasse war durch den geringen Gebrauch von Informationsquellen gekennzeichnet, die in der Regel zur Untermauerung dafür dienen, daß die Äußerungen keine eigene Erfindung darstellen. Diese diskursive Regel schien in dieser Gruppe von geringer Bedeutung zu sein, und zwar vor allem, als die Maya-Erzählungen angesprochen wurden, und bei den damit in Verbindung stehenden Versionen der Schlümpfe. Auf diese Weise wurde diese Art von Geschichten in einen nicht in Frage zu stellenden kollektiven Diskurs eingefiigt. Den Ursprung dieser Diskurses zu kennen, war unwichtig. Der Eindruck entstand, daß die Erzählungen durch die Kinder unvermittelt sprachen. Die Kinder der sechsten Klasse stellten sich bei der Beschreibung der Versionen des Gerüchts auf etwas andere Weise dar als bei der Erzählung der Versionen und der damit verbundenen Assoziationen. In der mündlichen Befragung neigte das sprechende Subjekt als individualisiertes Wesen dazu, zu verschwinden, wogegen dieses Subjekt in den schriftlichen Texten als das Ich auftauchte, das etwas über die Schlümpfe gehört hatte und eine bestimmte Geschichte aufschrieb. Obschon die Kinder in den schriftlichen Texten sich des "se dice" bedienten, gelangten einige Kinder dazu, wie in der Schule Peterson ihre persönliche Meinung zu äußern. Außerdem bezweifelten sie das Gerücht über die Schlümpfe und erzählten über sich selbst, ihre bevorzugten Fernsehsendungen und ein Mädchen auch Uber seine Träume. Der Schriftraum als Rahmen individueller Schöpfungen mit seinen Regeln trug dazu bei, daß mit dem Eigennamen der Kinder das Subjekt der Äußerung als Autor der Texte auftauchte sowie die persönlichen Meinungen der Kinder. Das mündliche Interview bildete dagegen fiir beide Gruppen einen geeigneteren Rahmen fiir das Auftauchen des kollektiven Subjektes, wobei die anonymen Stimmen und die Diskurse der Gemeinschaft das sprechende Subjekt zurückdrängten, und zwar in der sechsten Klasse in stärkerem Maße als in der vierten. Dies hing mit der Definition des Interviews und dem Inhalt der Befragung in der sechsten Klasse zusammen, in der mehr Uber Themen gesprochen wurde, die mit ihrer näheren Umgebung verbunden waren. Diese Tendenz hatte sich auch in der sechsten Klasse der Schule Benito Juárez gezeigt.

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7.5.4 Vielfältige Formen übernatürlichen Denkens Übernatürliche Argumente prägten einen großen Teil der mündlichen erzählerischen Produktion beider Kindergruppen der Schule Hispanomexicano. Diese Argumentationen waren vor allem verbunden mit der Maya-Mythologie, aber auch mit Diskursen der katholischen Volksreligion, wenn sie sich mit dem Teufel, dem Niño de Atosha, den Kreuzen und dem Weihwasser befaßten. Nicht zuletzt waren sie auch mit Mythen über ruhelose Seelen verknüpft wie der Llorona, mit Horrorgeschichten, wie sie in filmischen Diskursen vorkamen, mit europäischen Märchen über Feen und Zwerge, mit griechischen Sagen wie der der Medusa. In all diesen Diskursen tauchten übernatürliche Wesen auf oder Personen, die übernatürliche Gestalt oder entsprechende Verhaltensweisen annehmen konnten. Unter den Diskursen der Volksreligiosität waren sowohl einige Elemente eines prähispanischen und Maya-Diskurses zu erkennen als auch eines Diskurses katholischen Volksglaubens, die, wie zuvor vermerkt, gewisse Mayazüge erhielten. In der sechsten Klasse wurde der Teufel mit der X-tabay und den Zauberern verbunden und tauchte in lokalen physischen Umgebungen auf, wie in Höhlen und neben Matas. Die Figur des Teufels nahm dagegen in der vierten Klasse Merkmale an, die eher mit US-amerikanischen Filmen verknüpft waren, in denen der Teufel von einer Person Besitz ergriffen hatte. Hinter diesen Diskursen stand implizit die Konzeption, der Mensch werde durch Kräfte und übernatürliche Wesen unterschiedlicher Art beherrscht, vor denen er sich in acht nehmen sollte, non denen er aber auch Schutz und Begünstigungen empfangen könnte. Der Dualismus vieler übernatürlicher Figuren, wie der Aluxes oder der Yumbalam, erlaubte beide Interpretationen.

7.5.5 Rationalistische Prinzipien im Denken der Kinder Neben übernatürlichen Denkweisen prägten auch rationalistische Prinzipien die Äußerungen der Kinder. Einige für wenig glaubwürdig befundene Versionen des Gerüchtes und andere Erzählungen führten dazu, daß in beiden Interviews die Kinder sich gegen irrationales Denken aussprachen, gegen Produkte der Einbildung. Deshalb empfahlen sie, sich nicht von Vorstellungen, die das bloße Produkt von Träumen, Einbildungen und Phantastereien seien, leiten zu lassen. Diese rationalistischen Tendenzen stammten möglicherweise aus der engeren Umgebung der Familie und der Erwachsenen, denen einige Kinder zuschrieben, daß sie das Gerücht über die Schlümpfe für völlig unglaubwürdig hielten.

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Für die Kinder der vierten Klasse waren die ersten Versionen des Gerüchtes, die von Schlumpfpuppen handelten, "puros cuentos". Sie bezweifelten die Geschichte des Mädchens Nr. 2 über die Geräusche verursachenden Geister. Diese Geschichte, zusammen mit einer Erzählung über die Erscheinung der Llorona, fiihrte dazu, daß die Kinder gemeinsam diskutierten über die Grenzen zwischen Phantasie und realer Welt, zwischen Traum und Wirklichkeit. Gerade weil diese Grenzen nicht deutlich waren, bildeten sie einen Gegenstand der Überlegung in diesem Interview. In der sechsten Klasse wurde die Version vom Schlumpf, der sich nicht verbrennen ließ, als ein Produkt der bloßen Einbildung oder als Traum betrachtet. Der Ausdruck "puros cuentos" wurde im Zusammenhang mit dem Gerücht über die Schlümpfe in Gestalt von Puppen verwandt. Auf meine Frage, was die Eltern über das Gerücht der Schlümpfe wußten und glaubten, nannten die Kinder die rationalistischen Prinzipien einiger Eltern, nach denen das Gerücht nur "puras imaginaciones" darstellte. Diese Prinzipien bestanden Seite an Seite neben den bereits dargelegten Elementen übernatürlichen Denkens, die nicht angezweifelt wurden. Als das Mädchen Nr. 3 der sechsten Klasse das Argument der Verzauberung der an das Gerücht glaubenden Kinder vorbrachte, bezog es sich zugleich auf die unbestrittenenen übernatürlichen Kräfte der Zauberer. Ein anderes Beispiel des Zusammenlebens zwischen rationalistischen Tendenzen und übernatürlichem Denken der Maya-Tradition bildete die Version vom Roboterschlumpf, die in der Schule Peterson als spezielle Version auftrat. In der Schule Hispanomexicano wurden dagegen bei dieser Version die Schlümpfe durch Fernbedienung gesteuert, durch Zwerge, die hineingesetzt wurden, oder durch Zauberei. Die nebeneinander bestehenden Argumentationsarten stellten unterschiedliche Erklärungen dar, die weder als miteinander unverträglich betrachtet wurden, noch irgendwelche Polemik hervorriefen. Die Welt der Technologie wurde mit der Welt der Zauberei verbunden, ganz anders als bei den Kindern der Schule Peterson. Bei den Kindern der Schule Hispanomexicano überwog das übernatürliche Denken bei der für glaubwürdig gehaltenen Erzählproduktion. In den als nicht glaubwürdig angesehenen Erzählungen konnten rationalistische Prinzipien auftauchen. Zusammenfassend läßt sich darlegen, daß die Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe und die Assoziationen in diesem kulturellen Kontext einen Bezug herstellten zur Welt der gegenwärtigen mündlichen Maya-Erzählungen, so wie Kinder eines semi-urbanen Umfeldes in Yucatán es aufnahmen und in ihre Erzählproduktion einbezogen. Die Maya-Erzählungen leben heute zusammen mit

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anderen Arten schriftlicher und audiovisueller Diskurse anderer kultureller Umfelder. Im abschließenden Kapitel werden einige gemeinsame Elemente dargelegt, die sich anhand der Analyse der drei kulturellen Kontexte aufzeigen ließen. Dies wird ermöglichen, die Faktoren der Konvergenz und Logik der kulturellen Divergenz dieser Kontexte zu analysieren.

Kapitel 8

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KULTURELLE KONVERGENZ UND KULTURELLE DIVERGENZ

8.1

E l e m e n t e kultureller K o n v e r g e n z

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In den Kapiteln 5 bis 7 wurden die Analysen der verschiedenen Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe vorgestellt, die sich aus drei schriftlichen und sechs mündlichen Befragungen mit Schulkindern aus drei verschiedenen kulturellen Kontexten Mexikos ergaben. In jedem kulturellen Kontext wurden die für diesen Kontext speziellen Versionen des Gerüchts und die jeweiligen besonderen diskursiven Assoziationen herausgearbeitet. Es wurde gezeigt, wie die Logiken der kulturellen Divergenz die diskursive Produktion der Kinder prägten. Diese Logiken - siehe Kapitel 1 - beruhen auf zwei Bestimmungsgründen: den unterschiedlichen sozio-ökonomischen und politischen Ebenen und den lokalen Regeln kultureller Produktion. Wichtige Teile dieser Regel sind die alltägliche Praxis der Kinder, ihre gesellschaftlichen Verhaltensnormen, ihre Beherrschung des Schreibens, ihr Konsum der Massenmedien und das lokale Gedächtnis der Gemeinschaft. Über die Analyse der Befragungen und der schriftlichen Texte der Kinder ergab sich ein Ausschnitt des diskursiven Gewebes, in das die Kinder eingebunden waren. Auf diese Weise konnten die besonderen Elemente ihres jeweiligen kulturellen Kontextes herausgeschält werden. In diesem Kapitel sind die diskursiven Elemente der kulturellen Konvergenz zu erarbeiten, Elemente, die unterschiedliche kulturelle Kontexte durchziehen. Einige der Punkte, in denen sich die untersuchten mündlichen Kulturen treffen und verbinden, werden herausgearbeitet. Es sei daran erinnert, daß Elemente der Konvergenz nicht in allen kulturellen Kontexten die gleiche Bedeutung besitzen. Kulturelle Konvergenz bedeutet noch lange nicht eine gemeinsame Perspektive oder die gleiche Interpretation. Bei einem geringen Grad kultureller Konvergenz werden sich nur einige wenige diskursive Elemente finden lassen, die den verschiedenen kulturellen Kontexten gemeinsam sind. Ein höherer Grad kultureller Konvergenz bedeutet, daß verschiedene kulturelle Kontexte mehrere diskursive Elemente und ähnliche Interpretationen dieser Elemente teilen. Daß die meisten Kinder ungeachtet der unterschiedlichen untersuchten kulturellen Kontexte das Gerücht über die Schlümpfe kannten, ist ein Hinweis darauf, daß Punkte kultureller Konvergenz zwischen den kulturellen Kontexten bestanden. In der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl kannten 92,5 % der Kinder der Gruppen das Gerücht, in der Schule Hispanomexicano in Valladolid waren es dagegen 77 % der Kinder und in der Schule Peterson in El Pedregal 64 %. Die unterschiedlichen Prozentsätze zeigen die unterschiedliche Verwurzelung und Bedeutung des Gerüchts in diesen drei Kontexten auf.

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8.1.1 Elemente der kulturellen Konvergenz in den drei kulturellen Kontexten Unter den diskursiven Elementen aller untersuchten kulturellen Kontexte befanden sich die kürzeren Versionen des Gerüchts, die Erzählungen über lebendig werdende Puppen, über die Figur des Teufels, über die Mutter, die abwesend war oder dem Kind nicht glaubte, und Geschichten über die Fernsehsendung der Schlümpfe. Die unterschiedliche Verwurzelung und Interpretation dieser Erzählungen erlaubt, die Tendenzen der Struktur des Denkens zu vergleichen, die in den Schlußteilen der Kapitel 5 bis 7 für jeden der drei kulturellen Kontexte dargestellt wurden.

8.1.1.1 Erzählungen über lebendig werdende Puppen und über Verbrennungen von Schlümpfen Alle kurzen Versionen des Gerüchts, die in allen Interviews auftauchten, waren mit Erzählungen über Puppen verbunden, die sich bewegten oder die töteten. Die Art, diese Versionen zu erzählen und sie einzuordnen, war jedoch in jedem kulturellen Kontext verschieden. In der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl - Kapitel 5 - waren diese Erzählungen mit fast allen speziellen Versionen verbunden: der Version vom erscheinenden Schlumpf, vom sich rächenden Schlumpf und vom dämonischen Schlumpf. Daß die Erzählung von der Verbrennung der Schlümpfe in Nezahualcoyotl auftritt, war nicht verwunderlich, da in diesem Stadtteil auch solche Verbrennungen stattfanden. Tatsächlich war diese Geschichte eine spezielle Assoziation dieses kulturellen Kontextes, bei der die Kinder sich überlegten, ob man Schlümpfe verbrennen kann oder verbrennen soll. Alle diese Erzählungen der Kinder zeigten die animistische Denkweise, die in der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl herrschte. Puppen konnten zum Leben erwachen und wie menschliche Wesen fühlen, wenn sie schlecht behandelt wurden. Die Kinder der Schule Peterson in El Pedregal - Kapitel 6 - erfreuten sich ebenfalls an den Geschichten über Puppen, die lebendig wurden und sich bewegten, wie sie ihnen die Dienstmädchen erzählten. Die Glaubwürdigkeit solcher Geschichten wurde aber sofort bezweifelt. Sie kannten die Version des Schlumpfes, der sich nicht verbrennen ließ, benutzten aber ihre schulischen Kenntnisse, um sie für unglaubwürdig zu erklären. Es war vor allem in diesem Kontext, in dem die Schlumpfpuppen verteidigt wurden. Die Kinder identifizierten sich mit den

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Schlumpfpuppen, als handle es sich um schwache Personen, denen man Hilfe gewähren muß, und sahen sich in der Rolle von Detektiven, um die wahren Mörder zu finden. Es war für sie unmöglich, vor Schlümpfen Angst zu haben. Angst konnte man haben vor möglichen Dieben und Mördern, die falsche Anschuldigungen erhoben und die Schlümpfe als Alibi ihrer Untaten benutzten. Auch konnte man vor Leuten aus ärmeren Schichten Angst haben, den Hausangestellten und den Dieben. All dies verbanden die Kinder der Schule Peterson in El Pedregal mit bestimmten rationalistischen Prinzipien, einer anti-animistischen Haltung und der Logik der sozialer Differenzierung. Die Kinder in Valladolid - Kapitel 7 - verknüpften ebenfalls Erzählungen über lebendig werdende Puppen mit den Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe. Sie erzählten auch die Geschichte der Schlumpfpuppe, die sich nicht verbrennen ließ. Diese Geschichten wurden aber nicht immer als glaubwürdig betrachtet. Obwohl ihr Denken gleichfalls Elemente eines Animismus zeigte, waren diese doch nicht so gegenwärtig wie in der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl. Hier waren die zahlreichen Maya-Legenden von großer Bedeutung. Diese Legenden handelten von Wesen, die im Wald und auf dem Feld wohnten, von Tieren und nicht von Dingen oder Spielzeugen. Es war mehr ein anthropomorphes Denken, das ihre Erzählungen über Kobolde und Tiere gestaltete.

8.1.1.2 Erzählungen über die Figur des Teufels und die Version vom dämonischen Schlumpf Die Figur des Teufels war das zweite diskursive Element, das die Erzählungen aller kulturellen Kontexte durchzog. In jeder Erzählung erhielt diese Figur andere Formen und Bedeutungen. Die Kinder der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl - Kapitel 5 - assoziierten den Teufel mit den Schlümpfen. Nach den Schlümpfen war in der vierten Klasse der Teufel die meist genannte Figur. Er konnte sich in Gegenstände, Personen und Tiere verwandeln. Eine Hauptrolle war die eines bösen Superhelden, der die Schlümpfe versklavte und ihnen befahl, Kinder zu töten. Die audiovisuellen Diskurse über den Kampf zwischen guten und bösen Superhelden und zwischen Engeln und Dämonen in den biblischen Texten prägten das Schema der Verfolgung in vielen Erzählungen in der vierten Klasse. Dies verlieh auch dem Teufel seine Rolle als böser Superheld. Auch in der sechsten Klasse der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl war der Teufel mit einer der speziellen Versionen dieses Interviews verknüpft: mit dem dämonischen Schlumpf, d.h. mit Puppen und Gegenstände, die durch den Satan gesteuert wurden. In diesem Zusammenhang erschien ein Teufel, der mit Toten

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wie mit lebenden Menschen Pakte schloß nach dem Muster der "telenovela" El Maleficio. So erzählten die Kinder, der Teufel habe einen Pakt mit Vader Abraham, dem Autor der Schlumpflieder, geschlossen, um Kinder zu töten. Ein Junge, der Mitglied der Zeugen Jehovas war, legte dar, daß schon die Bibel diese Missetaten des Teufels vorhersagte; es trat somit eine prophetische Version dieses bösen Wesens auf. In der Schule Peterson in El Pedregal - Kapitel 6 - trat die Figur des Teufels vor allem in der Version des dämonischen Schlumpfes auf, in der Form einer besessenen Puppe, wie sie aus Horrorfilmen US-amerikanischer Herkunft bekannt war. Diese Version wurde sofort als unglaubwürdig betrachtet. Die Kinder bezweifelten aber nicht die Existenz des Teufels und behaupteten, daß in irgendeiner Sprache "Schlumpf' soviel wie "Teufel" bedeutete. Auch in der Schule Hispanomexicano in Valladolid - Kapitel 7 - war die Figur des Teufels sehr wichtig. Dort trat er in den Erzählungen ebenfalls als Dämon auf nach dem Muster US-amerikanischer Horrorfilme. Wichtiger war in diesem Kontext aber die Figur des Teufels in seiner Verbindung zur Legendenwelt der Maya. So rückte er in die Nähe der X-tabay und einiger mythologischer Tiere, in die er sich verwandelte. Die verschiedenen Formen, die die Figur des Teufels in den drei untersuchten kulturellen Kontexten annahm, zeigen beispielhaft, wie lokale Legenden, schriftliche und audiovisuelle Texte das volkstümliche religiöse Wissen in einem Lande wie Mexiko gestalten. Andere Beispiele der Umformung religiöser Mythen durch die Sprache der neuen audiovisuellen Technologien wurden in Untersuchungen über den Mythus der "Virgen de Guadalupe" vorgelegt (Zires, 1992a; 1992b).

8.1.1.3 Erzählungen über die Sendung der Schlümpfe Als weiteres diskursives Element kultureller Konvergenz stellte diese Untersuchung die Sendung Los Pitufos fest. Diese Sendung wurde in den verschiedenen Interviews der drei kulturellen Kontexte gemäß der jeweiligen diskursiven Strategie und den jeweiligen speziellen Versionen des Gerüchts aufgenommen. Die Versionen des Gerüchtes über die Schlümpfe besaßen in der vierten Klasse der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl - Kapitel 5 - eine große Glaubwürdigkeit. Die Fernsehsendung über die Schlümpfe wurde aus der Perspektive des Gerüchts betrachtet. Obwohl in den Sendungen die Schlümpfe als gutmütige Wesen erscheinen, übernahmen die Kinder die einzige böse Figur der Sendung und die mit Magie und Zauberei verbundenen Aspekte, um dem Gerücht über die

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mordenden Schlümpfe Glaubwürdigkeit zu verleihen. In dieser Klasse wurde diese Sendung am häufigsten erwähnt. Da in der sechsten Klasse der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl die Kinder das Interview in einen Rahmen gemeinsamer Überlegungen über die Folgen des Gerüchts verwandelten, was zu machen sei, wenn das Gerücht wahr wäre, äußerten sich diese Kinder dahingehend, daß sie selbst und andere die Sendung vermieden. Auch in der vierten Klasse der Schule Peterson in El Pedregal wurde diese Sendung abgelehnt, jedoch aus völlig anderen Gründen. Diese Kinder kannten die Sendung bereits aus der Zeit, als sie zum ersten Mal über das Kabelfernsehen ausgestrahlt wurde. Nun bedeutete diese Sendung keine Neuigkeit mehr, und über sie zu sprechen, verschaffte kein soziales Prestige. Ihre Ablehnung der Sendung war nur eine ihrer Strategien, sich von denen abzusondern, die nicht zu ihrer sozialen Gruppe gehörten und noch kein Kabelfernsehen besaßen. Sie versetzten sich in die Rolle der Erwachsenen und verspotteten aus dieser Sicht Kinder, die diese Sendungen sahen, an ihnen Spaß hatten und Schlümpfe spielten. Ihre Form, sich diese Sendungen anzueignen, war, sie als "kindisch" abzuqualifizieren, was gleichzeitig hieß, daß sie sich selbst nicht mehr als Kinder betrachteten. In der sechsten Klasse der Schule Peterson in El Pedregal ignorierten die Kinder diese Sendung und versetzten sich in die Rolle von Detektiven, die die Kindermörder suchten. Ihre Versionen des Gerüchts waren daher der Diebesschlumpf und das mordende Dienstmädchen. Da die Fernsehsendung zur Glaubwürdigkeit dieser Versionen keinen Beitrag leistete, wurde sie von den Kindern nicht erwähnt. Die Kinder der vierten Klasse der Schule Hispanomexicano in Valladolid - Kapitel 7 - erwähnten die Sendung Los Pitufos nur einmal und benötigten die Figuren der Schlümpfe nur, um mir zu erklären, wer die Maya-Kobolde der Aluxes sind. Die Figuren der Schlümpfe dienten somit nur als Bezugspunkt zwischen ihnen und mir, der Interviewerin. Die Erzählungen der Kinder der sechsten Klasse der Schule Hispanomexicano in Valladolid zeigten, daß ihnen die Sendung gefiel. Ihre speziellen Versionen des Gerüchts bauten jedoch auf den Maya-Legenden auf, so daß sie nicht auf die Sendung zurückgriffen. Als Spiel und ohne ihm viel Glaubwürdigkeit zuzusprechen, übernahmen sie Figuren der Sendung, um mit ihnen zwei Versionen des Gerüchts zu produzieren. Diese Strategie, sich die Sendung über die Schlümpfe anzueignen, war ähnlich der in der vierten Klasse der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl.

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8.1.1.4 Erzählungen über die Abwesenheit der Mutter In allen kulturellen Kontexten erzählten die Kinder Versionen des Gerüchts, in denen die Schlümpfe ihr Opfer angriffen, weil die Mutter abwesend war oder ihrem Kind wenig Aufmerksamkeit zollte. Die Furcht, von der Mutter verlassen zu werden und allein dazustehen, ist ein allgemeines Gefühl der Kinder. Die Art und Weise, diese Abwesenheit oder fehlende Aufmerksamkeit der Mutter zu begreifen, hatte in den drei kulturellen Kontexten eine jeweils andere Bedeutung und dies war bei den Kindern mit unterschiedlichen Ängsten verbunden. Die Kinder der vierten Klasse der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl übten an Müttern Kritik, die "ihre kürzlich geborenen Babys" auf den Müll gaben. Die Kinder der sechsten Klasse der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl warfen der Mutter sowohl ihre physische Abwesenheit vor als auch ihre Ungläubigkeit und fehlende Aufmerksamkeit den Kindern gegenüber, aber auch die Strafen, die sie den Kindern erteilten und die dazu führten, daß diese von den Schlümpfen ermordet wurden. Sehr verschiedene Ängste fanden in den beiden Interviews ihren Ausdruck: Furcht vor dem Teufel, vor Gegenständen, die lebendig werden können, vor den Toten, vor dem Gang auf die Straße, vor den Betrunkenen, den Drogensüchtigen, aber auch Furcht vor den Eltern, die ihre Kinder durch Gerüchte wie die über die Schlümpfe einschüchtern wollen. Diese Interviews ergaben einen sozialen Kontext voller Ängste und Gefahren. Die Ängste der Kinder der Schule Peterson in El Pedregal, die sich in den speziellen Versionen des Gerüchts niederschlugen, waren anders: Furcht vor den Hausangestellten, den Dieben und vor Personen, die solch unwahrscheinliche Geschichten wie die von den Schlümpfen erzählten. Alle ihre Ängste bezogen sich auf Personen, nicht auf Gegenstände oder übernatürliche Wesen. Eine ihrer Hauptängste richtete sich an ihre Mütter: daß die Mutter ihnen nicht genug Aufmerksamkeit widmet oder ihnen nicht glaubt. In diesem kulturellen Kontext erzählten die Kinder mehrere Male Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe, in denen Mütter auftraten, die den Kindern nicht glaubten oder sich ihnen nicht genügend widmeten. Diese Ungläubigkeit der Mutter führte in der sechsten Klasse zu verschiedenen Reaktionen: In einem Fall identifizierte sich das Kind mit der Reaktion der Mutter, in anderen Fällen warfen die Kinder der Mutter diese Haltung vor und meinten, sie verdiene, daß ihr Kind sterbe, wenn sie sich ihm nicht genug widme. Die letztgenannte Reaktion entspricht der häufigen Phantasie - nicht nur von Kindern - das geliebte Objekt, von dem man sich verlassen fühlt, durch den eigenen Tod zu bestrafen (Caruso, 1968; Winnicott, 1971). Diese Phantasie formte sicherlich in allen kulturellen Kontexten die Versionen des Gerüchtes, in denen Mütter abwesend waren oder dem Kind nicht glaubten.

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Wie in der Schule Benito Juárez in Nezahualcoyotl warfen auch die Kinder der Schule Hispanomexicano in Valladolid - Kapitel 7 - in ihren Erzählungen den Eltern vor, sie mit Geschichten über die Schlümpfe und Ähnlichem zu verängstigen, um sie so zum Gehorsam zu bringen. Diese Ängste der Kinder projizierten sich in übernatürlichen Wesen wie dem Teufel, den Toten, der X-tabay, den Aluxes und mythologischen Tieren der Maya-Legenden. Es waren die Zauberer und in geringerem Maße die Diebe, die ihnen Angst einjagten. Verschiedene Male wurde in der Schule Hispanomexicano in Valladolid die Version des Gerüchtes über die Schlümpfe erzählt, in denen die Mutter außer Haus war. In all diesen Fällen gaben die Kinder eine Erklärung für ihre Abwesenheit. Verschiedene Male wurde die Mutter als eine anerkannte Autorität erwähnt und einmal wurde sie als eine Person beschrieben, die fähig war, die Klagen ihrer Tochter zu verstehen. Diese Darstellungen der Mutter in Valladolid beruhten möglicherweise darauf, daß die Kinder in einem physischen und geographischen Umfeld lebten, das durch sie besser gemeistert werden konnte und das eine höhere soziale Sicherheit bot als Nezahualcoyotl. In Valladolid war es die Großfamilie zusammen mit der Hausangestellten und der Nachbarschaft, die gemeinsam gegenüber dem Kind mütterliche Funktionen wahrnahmen, während in Nezahualcoyotl diese Funktion nur von einer Mutter erfüllt werden konnte, die nebenbei noch arbeiten mußte. In El Pedregal standen dem Kind zwar die Mutter und die Hausangestellte zur Verfugung, der Hausangestellten wurde aber großes Mißtrauen entgegengebracht. Der Vater wurde nur einmal als jemand erwähnt, der sich dem Kind nicht widmete oder ihm nicht glaubte. Dies zeigt die Gültigkeit des traditionellen und weiterhin dominanten Schemas der Rollenverteilung in einer mexikanischen Familie, unabhängig von den sozialen Kontexten. Der "abwesende Vater" ist auch Thema verschiedener mexikanischer Romane und Essays (Paz, 1950; Rulfo, 1955) und psychologischer Untersuchungen (Ramírez, 1977; Femández/Rahman/Vargas, 1995).

8.1.2 Punkte der Konvergenz zwischen Nezahualcoyotl und Valladolid In dieser Untersuchung teilten die Kinder von Nezahualcoyotl mit denen aus Valladolid mehr diskursive Elemente als mit den Kindern von El Pedregal. Die schon erwähnten Erzählungen über die Verbrennung der Schlümpfe und die Version vom erscheinenden Schlumpf, die eine spezielle Version von Nezahualcoyotl war, traten auch in Valladolid auf. Diese letzte Version und die mit ihr verbundenen Assoziationen waren die wichtigste Brücke zwischen diesen beiden kulturellen Geweben. In Kapitel 5 wie auch in Kapitel 7 war zu bemerken, daß

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die Kinder beider Kontexte ihren Versionen des Gerüchtes und ihren besonderen Erzählungen ähnliche Mythen und Geschichten einwebten: Es handelte sich um ruhelose Seelen, um prähispanische und spanische Vorstellungen über die Toten und einige Glaubenselemente der katholischen Volksreligiosität. Als die Kinder der beiden kulturellen Kontexte in den insgesamt vier Interviews die Versionen der Gerüchte über die Schlümpfe und die lokalen Geschichten erzählten, wurden viele Formen übernatürlichen Denkens hervorgerufen und verwoben. Sowohl in Kapitel 5 als auch in Kapitel 7 zeigte sich, wie die Kinder in ihre Erzählproduktion übernatürliche Wesen sowie Gegenstände mit übernatürlichen Kräften einfügten, die den von ihnen vorgetragenen Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe Glaubwürdigkeit verleihen sollten. In Nezahualcoyotl traten unter diesen Wesen vor allem Gott, der Teufel und die "Virgen" hervor, in Valladolid waren es Jesus und der Teufel. In allen Interviews wurde das Kreuz und das Weihwasser erwähnt, welche in Nezahualcoyotl die bösen Schlümpfe und in Valladolid die Aluxes, die X-tabay und alle übrigen Inkarnationen des Teufels verscheuchten. In Nezahualcoyotl wie in Valladolid verband man das Gerücht über die Schlümpfe mit Zauberei. Dazu trug vor allem die "telenovela" El Maleficio bei, damals der einzige Fernsehroman, der vom Spiritismus und einem Pakt mit dem Teufel lebte. In beiden Kontexten wurde daher auch Vader Abraham, der Autor der Lieder über die Schlümpfe, als möglicher Schöpfer der teuflischen Schlümpfe genannt. Ein weiteres Element der furchterregenden und geheimnisvollen Geschichten, das in den Erzählungen der Kindern von Nezahualcoyotl und Valladolid seine Spuren hinterließ, war die Figur des Vampirs. Die Erzählungen über Kobolde, die in beiden Kontexten auftraten, waren in Nezahualcoyotl mit den Legenden Oaxacas und in Valladolid mit der Maya-Tradition verbunden. Auch die Legende von der Llorona war ein Punkt der Konvergenz zwischen Nezahualcoyotl und Valladolid. In Kapitel 5 wurde die Bedeutung dieser Legende unter den bekannteren mexikanischen Mythen erwähnt; wahrscheinlich beruht sie auf dem Mythos der aztekischen Göttin Cihuacoatl. Unter den Kindern der vierten Klasse in Nezahualcoyotl erhielt diese Legende die besondere Form der "Andalona", einer Frau, die nachts umgeht ("anda") und umherschweift. In den Interviews in Valladolid - Kapitel 7 - erwähnten die Kinder der sechsten Klasse die Llorona. Auch für die Kinder der vierten Klasse war diese Figur ein wichtiger Teil ihrer Assoziationen: In einem Fall erhielt die Llorona eine Maya-Prägung; in einem anderen Fall zeigte die Erzählung über die Llorona noch deutlich die audiovisuellen Spuren des Films über diese Figur.

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In Kapitel 7 wurde auch die Verbindung zwischen den Legenden der Llorona und der X-tabay besprochen. Dies erlaubte die Frage zu stellen, bis zu welchem Grade die Legende der X-tabay sich verändert hatte. Aufgrund eines Vergleichs der mündlichen Erzählungen der Kinder mit anderen schriftlichen Texten wurde in dem Schlußteil des Kapitels behandelt, wie diese und andere Wesen der MayaLegenden ihre früheren Kennzeichen verloren und sich teilweise zu austauschbaren Figuren verwandelt hatten. Sie werden einem Prozeß der erzählerischen Gleichsetzung unterworfen, der ihre Bedeutung ständig verändert.

5.1.3 Punkte der Konvergenz zwischen Nezahualcoyotl und El Pedregal Die kulturellen Kontexte Nezahualcoyotl und El Pedregal teilten nur die diskursiven Elemente, die alle drei untersuchten kulturellen Kontexte durchzogen. Keine der speziellen Versionen der Kinder in Nezahualcoyotl trat in den Interviews der Kinder von El Pedregal auf und umgekehrt. Die Analyse der Interviews erlaubt jedoch, bestimmte Konvergenzpunkte zu benennen, die auf Fernsehdiskursen beruhen. Die spezielle Version vom Roboterschlumpf der Kinder von El Pedregal, aber auch die Erzählungen der vierten Klasse in Nezahualcoyotl über den Kampf zwischen den Superhelden und Gott gegen die Schlümpfe und den Teufel griffen auf Elemente von Fernsehsendungen zurück; sie erinnerten einerseits an die Sendungen mit Superhelden und andererseits an Fernsehserien über eine technologisierte Welt. Während die Kinder aus Nezahualcoyotl sich auf die phantastischen Figuren des Fernsehens bezogen, um ihre Versionen des Gerüchts über die Schlümpfe zu schaffen, benutzten die Kinder von El Pedregal andere Elemente wie die des Roboters, die ebenso phantastisch sind, um den Mythos der Wissenschaft und der Technologie zu feiern.

8.1.4 Punkte der Konvergenz zwischen Valladolid und EI Pedregal Die US-amerikanischen Horrorfilme bildeten einen Punkt der Konvergenz zwischen Valladolid und El Pedregal. In beiden Kontexten bezogen sich die Kinder auf einen Horrorfilm, der das kindliche Publikum sehr beeindruckte, dessen Namen die Kinder aber nicht erwähnten. Das Mädchen Nr. 3 aus Valladolid, das die Handlung erzählte - Kapitel 7 - , legte zwar dar, daß es ein Film gewesen sei, konnte aber weder den Titel noch andere genaue Angaben nennen. In der vierten Klasse von El Pedregal wurde eine Szene dieses Films als Teil einer Version des Gerüchts über die Schlümpfe benutzt. Hier ließ der erzählende Junge nicht durchscheinen, daß es sich um einen Film handelte. Der Vergleich dieser Erzählungen - Kapitel 7 - erlaubte zwei Phasen im Prozeß der Anonymisierung und

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des Verlusts der Autorschaft zu beschreiben, dem die audiovisuellen Diskurse unterliegen, wenn sie in eine Produktion mündlicher Erzählungen eingegliedert werden. Ein weiteres gemeinsames erzählerisches Element der kulturellen Kontexte Valladolid und El Pedregal ist die Version des Diebesschlumpfs, der in El Pedregal die spezielle Version des Gerüchts darstellte. Dort war er mit den Geschichten über Diebe und mordende Hausangestellte verbunden, mit der latenten Bedrohung der privilegierten Gruppen der mexikanischen Gesellschaft durch die unterprivilegierten und ungeschützten Bevölkerungsteile. Auch in Valladolid gab es Erzählungen über die Gefahren durch mögliche Diebe. Diese Versionen besaßen aber eine weit geringere Bedeutung als in El Pedregal. Obwohl die in Valladolid interviewten Kinder innerhalb ihrer lokalen Gesellschaft ebenfalls privilegiert waren, so waren ihre Privilegien ohne jeden Zweifel weit geringer als die der interviewten Kinder in El Pedregal, wie sich aus einem Vergleich der beiden Kontexte in Kapitel 6 und 7 ergab. Die in Valladolid erzählte Version des Diebesschlumpfs besaß zudem einige Eigenschaften der Legendenwelt der Maya und der Diebesschlumpf ähnelte den Kobolden der Maya, den Aluxes. In Valladolid und in El Pedregal traf das Gerücht, in dem der angreifende Schlumpf eine Puppe ist, auf Widerstand. In beiden Kontexten wurde dies als "Produkt der Phantasie" empfunden. Die erzählerische Produktion der Kinder erhielt somit Elemente eines rationalistischen Denkens. Während in El Pedregal diese Tendenz vorherrschte, war ihre Bedeutung auf die Erzählungen in Valladolid nur abgeschwächt. In beiden kulturellen Kontexten trat auch die Version des Roboterschlumpfes auf. In El Pedregal war diese Erzählung Teil der Vision einer vollständig technologisch bestimmten Welt. In Valladolid dagegen wurde diese Version so erzählt, als sei die technologische Welt gleichgesetzt mit einer Welt der Zauberei und den Figuren aus Märchen und Maya-Legenden. In diesem Kontext beobachtete man somit eine Koexistenz von übernatürlichem und rationalistischem Denken.

8.1.5 Einige Überlegungen zu den Punkten der kulturellen Konvergenz Die Nezahualcoyotl und Valladolid gemeinsamen Punkte der Konvergenz bezogen sich mehr auf das Geflecht der Assoziationen in Nezahualcoyotl als auf das in Valladolid. Die speziellen Versionen in Valladolid und ihre Beziehung zu den Legenden der Maya traten in den Erzählungen in Nezahualcoyotl nicht auf. Das Gleiche ist der Fall im Verhältnis von Valladolid und El Pedregal. Keine der

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speziellen Versionen und Assoziationen aus Valladolid fanden sich in den Erzählungen der Kinder von El Pedregal. Dem Wissen der Provinz über das, was man in der Hauptstadt sagt und was dort geschieht, entspricht in der Hauptstadt kein Wissen über das, was in der Provinz geschieht. Das Schema der Verteilung der speziellen Versionen des Gerüchts in den untersuchten kulturellen Kontexten ergibt ein getreues Abbild der Prozesse der kulturellen Zentralisation, die ihrerseits an die Prozesse der politischen und wirtschaftlichen Zentralisierung gebunden sind, denen das Land unterliegt. Der Umstand, daß sich Nezahualcoyotl und Valladolid mehr diskursive Elemente teilten, bedeutet nicht, daß generell zwischen diesen kulturellen Kontexten in allen Aspekten mehr Ähnlichkeiten bestehen als zwischen El Pedregal und Nezahualcoyotl oder zwischen El Pedregal und Valladolid. Das Bild, das man aus Punkten der Konvergenz von zwei kulturellen Kontexten ableiten kann, hängt vom Gegenstand der Untersuchung ab. Hätte meine Untersuchung ein anderes Thema gehabt, wie z.B. das Erdbeben von 1985 in Mexiko-Stadt, würde sich wahrscheinlich ergeben, daß Nezahualcoyotl und El Pedregal mehr gemeinsame diskursive Elemente haben, da beide Teil der gleichen Megalopolis sind.

8.2

Faktoren kultureller Konvergenz in Wechselbeziehung mit Tendenzen kultureller Divergenz

Die Faktoren der kulturellen Konvergenz wurden in Kapitel 1 definiert als solche, die zur Verknüpfung von verschiedenen kulturellen Kontexten fuhren und dazu beitragen, Diskurse mit verschiedener Materialität, tägliche Praktiken und Rituale zu verbreiten. Zu den bedeutendsten Faktoren kultureller Konvergenz dieser Untersuchung gehören die Katholische Kirche, das Schulwesen und die Kulturindustrien mit dem Fernsehen als strukturierendem Zentrum. Für jeden kulturellen Kontext wird hier die besondere Bedeutung dieser Faktoren behandelt. Schon in Kapitel 1 wurde besprochen, daß sowohl das Kulturen Verbindende als auch das sie Trennende gleichzeitig wirksam ist, jedoch mit unterschiedlicher Intensität und im Einklang mit bestimmten historischen Bedingungen.

8.2.1 Die Katholische Kirche Die spanische Sprache, die katholische Religion und andere Institutionen der gesellschaftlichen Ordnung Spaniens förderten schon in der Kolonialzeit eine Tendenz der kulturellen Homogenisierung des ganzen Landes und ganz Latein-

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amerikas. Sie trugen daher dazu bei, daß Brücken und Verbindungen entstanden zwischen den verschiedenen vorkolonialen Kulturen Mittelamerikas, so wie zuvor das Aztekenreich und das Nahuatl als Lingua Franca diese Wirkung hatten. In dieser Untersuchung wurde die katholische Religion als ein bedeutender Konvergenzfaktor herausgestellt, vor allem in Nezahualcoyotl und Valladolid. In diesen kulturellen Kontexten wurden nicht nur Erzählungen und Legenden aus dem Umfeld der katholischen Religion erwähnt, sondern auch alltägliche Gewohnheiten, die die Bedeutung der katholischen Religion aufzeigten, und religiöse Riten wie die Taufe. In El Pedregal fanden sich nur Erzählungen, die sich auf den Teufel bezogen. Daß die katholische Religion in dieser Untersuchung als Faktor kultureller Konvergenz auftrat, bedeutet nicht, daß sie in den verschiedenen untersuchten kulturellen Kontexten die gleiche Bedeutung besaß. Eine Volksreligiosität pflegt sich auf konkrete Formen zu stützen, die sichtbar und berührbar sind, wie diejenigen, die sowohl in Nezahualcoyotl als auch in Valladolid erwähnt wurden: Hausaltäre, viele Figuren und Bilder von Christus, der Jungfrau Maria und Heiligen wie des Niflo de Atosha, die alle Wohnungen und Häuser schmückten. Diese Symbole fanden sich auch auf den Medaillons, die Gläubige begleiten und vor den Gefahren des täglichen Lebens beschützen. Im kulturellen Kontext von El Pedregal herrscht ein anderer Katholizismus vor, der sich auf mehr abstrakte, rituelle Formen stützt, eine andere Ästhetik besitzt und durch Strategien sozialer Differenzierung geprägt ist. Auch in diesem Umfeld ist es üblich, ein religiöses Bild in der Tasche oder eine stilisierte Figur auf dem Medaillon um den Hals zu tragen, aber natürlich keine, die man in jeder Kirche kaufen kann, sondern etwas, das als "verschieden" vom "Gewöhnlichen" erkennbar ist. Die Kirche des Stadtviertels El Pedregal ist nicht mit bluttriefenden Christusfiguren geschmückt oder mit vielen Heiligen, wie die Kirchen der einfacheren

Stadtviertel.

Es gibt kaum

Kerzenständer

und

keine

Wände

mit

"Exvotos" 1 , um sichtbar die Wundertätigkeit des Heiligenbildes der Gemeinde zu beweisen. Ein Christus und eine Madonna aus Stein, ein Holzkreuz, ca. 5 Meter hoch, dies ist der ganze Schmuck dieser Kirche. Sowohl in Nezahualcoyotl als auch in Valladolid ließen sich Formen eines religiösen Synkretismus finden. In Nezahualcoyotl waren sie mit prähispanischen Kulten des Gedenkens an die Verstorbenen verbunden oder mit Formen, die den erst kürzlich sich etablierenden religiösen Sekten wie den Zeugen Jehovas entlehnt sind. In Valladolid waren es vor allem die Formen eines Maya-katholischen Synkretismus. Dies bezeichnet eine Bildtafel, welche die Wundertat eines Heiligen darstellt. Diese Tafel aus Metall oder Holz wird in Kirchen aufgehängt.

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Das Zeichen des Kreuzes war sowohl in Nezahualcoyotl als auch in Valladoiid von großer Bedeutung. In allen Interviews, in denen es vorkam, wurde seine Fähigkeit erwähnt, böse Geister und vielerlei übernatürliche Wesen zu verscheuchen wie Teufel, Aluxes, Schlümpfe oder dämonisierte Puppen. Es war aber auch offensichtlich, daß in Valladoiid das Kreuz noch weitere Merkmale hatte aufgrund seiner Bedeutung in der alten Maya-Religion und seiner politischen Rolle als "Cruz Parlante" während des 50jährigen Krieges der Kasten. Die Analyse der Interviews dieser Untersuchung deutete auf zwei religiöse Prozesse innerhalb der mexikanischen Gesellschaft hin, die die Bedeutung der Katholischen Kirche in Mexiko verringern: ein Prozeß der Säkularisierung und ein Prozeß der De-Säkularisierung über das Wachstum neuer Sekten. In Kapitel 6 wurde erwähnt, daß die religiöse Praxis der interviewten Kinder in El Pedregal durchdrungen war von der Tendenz zur Säkularisierung der industrialisierten, Urbanen und am Konsum orientierten Gesellschaften. Für die sozialen Gruppen, die sich in den letzten Jahrzehnten am Rande der mexikanischen Großstädte angesiedelt haben, lassen sich jedoch diese Tendenzen nicht verallgemeinern. In diesen Gruppen wächst die Anhängerschaft fundamentalistischer Sekten. In Kapitel 5 wurde beschrieben, wie die Auffassungen der Mitglieder der Zeugen Jehovas und der Mormonen die erzählerische Produktion in Nezahualcoyotl formten. Es wurde auch dargelegt, daß der Einfluß dieser religiösen Gruppen in den ärmeren Stadtteilen von Mexiko-Stadt und im Südosten des Landes wächst (Giménez, 1988). Neue religiöse Synkretismen entstehen mit der "American Christianity": Las nuevas sectas religiosas que han funcionado en México, bajo la fachada del fundamentalismo bíblico parecen conservar todos los códigos de la religión popular oral (Giménez, 1993). So wurde - wie diese Untersuchung zeigte - von den Zeugen Jehovas die Existenz der Schlümpfe in die Bibel hineingelesen. Die sich in der heutigen mexikanischen Gesellschaft abspielenden Prozesse des Wandels der religiösen Identität sind höchst chaotisch (Bonfil, 1993). Das Monopol der Katholische Kirche ist zu Ende. Neben den Sekten aus den USA entstehen millenaristische religiöse Gruppen, die auf Symbole der prähispanischen Welt zurückgreifen, wie die "espiritualistas trinitarios" (Ortiz, 1993), die Tanzgruppen der "concheros" 2 , die Anhänger von Antonio Velasco Pifia, die sich

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Die Concheros sind traditionelle Gruppen, die rituelle Tänze aufführen. Seit dem 18. Jahrhundert wird über sie berichtet, obwohl sie sicherlich ältere Wurzeln haben. Früher waren die Mitglieder dieser Gruppen Bauern und marginale Urbane Gruppen.

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"reginos" nennen, und andere (Bonfil 1993). Das Zusammenleben zwischen katholischen Gruppen und verschiedenen Sekten war in der letzten Zeit alles andere als harmonisch. In vielen Gebieten gab es in bäuerlichen oder indigenen Gemeinschaften schwere Zusammenstöße religiösen und politischen Charakters (Bonfil, 1991).

8.2.2 Die Institution der Schule Die Alphabetisierungskampagnen und die Ausdehnung des staatlichen Schulwesens führte in den letzten Jahrzehnten dazu, daß fast im ganzen Land bestimmte Kenntnisse des Lesens und Schreibens vorhanden sind. Der Geist der mexikanischen Revolution förderte seit den 20er Jahren den Glauben an die "educación popular", die Vorstellung, daß es der gesamten Bevölkerung ermöglicht werden muß, in die Schule zu gehen, als Teil des Projektes, eine "nationale Kultur" zu errichten (Monsiváis, 1976). So wurde 1921 die Secretaría de Educación Pública gegründet, und die "Exposición de motivos del proyecto de Ley para crear la Secretaría de Educación Pública" vom 6. Oktober 1920 formuliert als zentralen Gedanken:

Salvar a los niños, educar a los jóvenes, redimir a los indios, ilustrar a todos y difundir una cultura generosa y enaltecedora, ya no de una casta, sino de todos los hombres (Aguilar Camín, 1976: 97). Gemäß der Volkszählung von 1980 waren 83 % der mexikanischen Bevölkerung alphabetisiert und gemäß der Volkszählung von 1990 war dieser Prozentsatz auf 88 % gestiegen. Dies scheint eine Verbreitung der Schriftkenntnisse zu bedeuten. Es ist aber unklar, was in den Volkszählungen unter einer alphabetisierten Bevölkerung verstanden wird. Nirgends wird definiert, ob Alphabetisierte nur gerade eben lesen und schreiben und kleine Nachrichten verfassen können, wie viele Eltern in Nezahualcoyotl, oder ob sie sichere Fähigkeiten des Lesens und Schreibens besitzen müssen. Die Kinder der drei untersuchten kulturellen Kontexte waren Schüler und besaßen ein gemeinsames Minimum schulischer Kenntnisse, die sie unter Beweis stellten, indem sie Versionen der Gerüchte aufschrieben. Anhand der Texte kann gezeigt werden, daß eine unterschiedliche Definition des Schreibens bestand darüber, was und wie man schreiben solle, sowie eine unterschiedliche Fähigkeit, die Regeln der Schriftsprache anzuwenden. Die Kinder der Schule Benito Juárez gaben schriftlich wieder, was sie über das Gerücht gehört hatten. Nur ein Kind schrieb seine Meinung dazu. In der Schule Peterson gaben 50 % eine Meinung ab In der letzten Zeit nahmen sie Mitglieder aus mittleren und höheren sozialen Schichten mit Hochschulbildung auf (Bonfil, 1993).

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oder machten deutlich, aus welchem Gesichtspunkt heraus sie berichteten. In der Schule Hispanomexicano gab es Meinungsäußerungen über das Gerücht bei 13 % der Kinder und 26 % gaben verschiedene persönliche Vorlieben zu Papier. In der Schule Benito Juárez fanden sich in 37 % der Wörter Fehler in Texten, die durchschnittlich 58 Wörter umfaßten. Die Texte der Kinder zu lesen und zu verstehen war sehr schwierig; 90 % der Kinder konnten weder den Namen der Schule noch ihren Familiennamen korrekt schreiben. In der Schule Hispanomexicano fanden sich nur in 15 % der Wörter Fehler bei Texten mit einem Umfang von durchschnittlich 63 Wörtern. Diese Texte zu lesen war weniger schwierig als diejenigen der Schule Benito Juárez. Auch hier konnten einige Kinder den Namen der Schule und den ihrer Heimatstadt nicht richtig schreiben. In der Schule Peterson fanden sich in 7 % der Wörter Fehler bei Texten mit durchschnittlich 74 Wörtern. Die Kinder konnten ihre Ablehnung des Gerüchts über die Schlümpfe schriftlich gut ausdrücken. Ihre Texte waren gut lesbar und verstehbar. Die Kinder hatten keine Probleme, den englischen Namen der Schule und ihre eigenen Namen zu schreiben. Es schien mir bemerkenswert, daß in allen kulturellen Kontexten die Kinder schriftliche Quellen erfanden. Dies unterstreicht die empfundene Notwendigkeit, mündliche oder schriftliche Darlegungen mit schriftlichen Texten zu belegen. In allen kulturellen Kontexten hatten die Kinder somit die Bewertungskriterien der Schreibproduktion internalisiert. Für alle hatte die soziale Norm Gültigkeit, daß der Aussage desjenigen, der lesen und zitieren kann, eine größere soziale Anerkennung zukommt. Im Falle der Kinder aus Nezahualcoyotl bedeutete dies wohl, daß ihnen bewußt war, daß ihnen diese Anerkennung versagt blieb. Dieses soziale Kriterium besaß in der Schule Peterson mehr Bedeutung als in der Schule Benito Juárez oder in der Schule Hispanomexicano. In Kapitel 6 wurde gezeigt, daß die Kinder der Schule Peterson schriftlichen Texten mehr Gewicht zumaßen als mündlichen und audiovisuellen Diskursen. Sie setzten sich ab von der anonymen Stimme des kollektiven "se dice", die solch unglaubwürdige Geschichten wie die über Schlümpfe berichtete. Sie führten mit der Schreibproduktion verbundene Kriterien und Normen ein, um anonyme Diskurse abzuwerten. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Kinder der Schule Peterson eine größere Anzahl schriftlicher Quellen nannten als die Kinder der anderen kulturellen Kontexte. Das lag sicherlich daran, daß das Thema "Gerüchte über Schlümpfe" wenig geeignet war, um Geschichten aus Büchern und Zeitschriften anzugeben. Trotzdem war die Art der genannten Quellen und die Weise, wie dies in die Erzählungen eingefügt wurde, höchst aufschlußreich für die Bedeutung schriftlicher Texte in diesen kulturellen Kontexten.

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Unter den schriftlichen Quellen fanden sich dreimal anonym "eine Zeitschrift", ein Schulbuch der zweiten Klasse, die Bibel und vier Zeitschriften, nämlich El Consumidor, Times, TVnovelas und El Teleguía. Die Zeitschriften El Consumidor und Times wurden von Kindern der Schule Peterson genannt. Die Erwähnung des El Consumidor rechtfertigte die Kritik am Fernsehen und den drogenhaften Genuß seiner Sendungen. Die Erwähnung der Times bedeutete, daß man dieses und andere US-amerikanische Produkte kannte, zu denen andere Gruppen keinen Zugang hatten; hier lag eine Strategie sozialer Abgrenzung vor. Die Bibel wurde in Nezahualcoyotl und das Schulbuch in Valladolid zitiert. Dies waren die einzigen in dieser Untersuchung erwähnten Bücher. Aufgrund einer von Corona (1993) durchgeführten Untersuchung an einer öffentlichen Schule in der ländlichen Umgebung der Stadt Mexiko läßt sich vermuten, daß für viele Kinder die Bibel der einzige schriftliche Text ist neben Schulbüchern, Comics und Fotoromanen, die sie zu Hause sehen. Für diese Kinder dienten Bücher nur zum Lesenlernen und sie waren nur für Kinder gedacht, denn die "Erwachsenen brauchten sie nicht und können lesen" (Corona, 1993: 63). Diese Kinder konnten manchmal nicht zwischen einem Buch, einem Comic und einer Zeitschrift unterscheiden. Ihre Art, schriftliche Texte einzuordnen, zeigt, wie wenig es für sie notwendig war, die Welt des Lesens zu begreifen, zu der sie keinen Zugang hatten. Die Mehrheit der Bevölkerung Mexikos liest keine Bücher. Sie beschränkt ihre Lektüre auf Sportpresse, Regenbogenpresse und Comics. Nach Monsiváis wurden in Mexiko mehr Comics verkauft als in jedem anderen Land der Welt, nämlich "mehr als 100 Millionen im Monat" (Monsiváis, 1986: 140). Bücher waren und sind für die Einwohner Mexikos Luxusobjekte. Die öffentliche und einheitliche Schulpflicht, die das Land vereinigen und eine "nationale Kultur" schaffen sollte, diente letztlich nur dazu, die Ungleichheit und die Ausgrenzung zu unterstreichen (Bonfil, 1991). Die Zeitschrift El Teleguía wurde sowohl in der Schule Peterson als auch in der Schule Hispanomexicano erwähnt, die Zeitschrift TVnovelas nur in der Schule Hispanomexicano. Es ist aufschlußreich, daß die Fernsehzeitschrift El Teleguía und eine Zeitschrift wie TVnovelas, die Fernsehromane kommentiert und ihren Konsum fördert, in diesen kulturellen Kontexten erwähnt wurden; beide Zeitschriften gehören dem Konsortium Televisa. Ohne Zweifel waren diese Zeitschriften keine Quelle des Gerüchts über die Schlümpfe oder eine Vorlage der Assoziationen der Kinder. Sie waren aber für das kindliche Fernsehpublikum wichtige Bezugspunkte und ein überall bekanntes Lesematerial. Dies zeigt, daß der Zugang zu schriftlichen Texten in den verschiedenen kulturellen Kontexten

Kapitel 8

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Mexikos oft über das Fernsehen vermittelt wird, das für viele eine unmittelbare und kostenlose Informationsquelle darstellt. Dies unterstreicht die Wichtigkeit der mit dem Fernsehen verbundenen Verlage und erlaubt zu erkennen, welche Verbreitung kulturelle Produkte erfahren, die mit diesem Medium verknüpft sind. Auch bezüglich des Verkaufs vieler Bestseller läßt sich dies beobachten. Diese Bücher werden gekauft, nachdem ihre Handlung im Fernsehen vorgestellt oder sie dort kommentiert wurden.

8.2.3 Die Kulturindustrien Seit den 30er Jahren hatte sich das Radio zu einem Medium entwickelt, das in Mexiko alle kulturellen Grenzen überschritt und alle Regionen erreichte. Im Jahre 1983 bestanden 900 Radiosender, die von 39 Millionen Haushalten gehört wurden und von denen nur 36 Sender kulturelle Programme ausstrahlten (Monsiväis, 1986). Stimmen, Lieder, Melodien und Redewendungen verbreiteten sich im ganzen Land. Radioerzählungen, die nach in den USA ausprobierten kommerziellen Modellen konstruiert waren, wurden vom mexikanischen Publikum angenommen. In den 50er Jahren wurde das Fernsehen eingeführt und in den 60er Jahren erweiterte sich die Zahl seiner Zuschauer. Es fand derselbe Prozeß der Anpassung der erfolgreichsten kommerziellen Fernsehsendungen der USA an den mexikanischen Volksgeschmack statt wie zuvor im Zusammenhang mit dem Radio. Zusammen mit den Stimmen des Radios durchdringen seitdem Bilder das ganze Land und bilden mit dem Radio und dem Kino das Stereotyp der "Nation" und die Klischees der "Modernität" nach dem Vorbild des Nachbarn im Norden. Für die Konstruktion der nationalen Symbole und Bezugspunkte, die die Grenzen der verschiedenen sozialen Gruppen und der verschiedenen Kulturen Mexikos überschreiten, waren Radio, Kino und Fernsehen von zentraler Bedeutung (Monsiväis, 1986). Das Kino und vor allem das Radio ermöglichten den Bewohnern der unterschiedlichen Regionen Lateinamerikas "ein erstes tägliches Zusammenleben der Nation" (Martin-Barbero, 1988: 88). Auch diese Untersuchung zeigte deutlich, daß in Mexiko das Fernsehen einen Faktor kultureller Konvergenz ersten Ranges darstellt. In allen untersuchten kulturellen Kontexten wurde die Tätigkeit Fernzusehen als eine der täglichen Gewohnheiten genannt, als ein Faktor, der die Zeit der Kinder und der Familien strukturierte. Die Kinder aller untersuchten kulturellen Kontexte kannten die Fernsehsendungen wie 24 horas und Hoy mismo, Kinderprogramme wie Los Pitufos,

Cometa,

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372 Los Superheroes,

"telenovelas" wie El Malefìcio und nationale Filme über Hel-

den des Freistilringens und US-amerikanische Horrorfilme. Diese Untersuchung konnte nachweisen, daß in jedem kulturellen Kontext eine unterschiedliche und besondere Aneignung des Fernsehens vorlag: eine jeweils andere Durchdringung des täglichen Lebens, ein unterschiedlicher Zugang zu den Fernsehkanälen, ein unterschiedlicher Konsum der Fernsehsendungen, eine jeweils andere Interpretation der gleichen Sendungen und ein anderes Prestige, das mit dem Konsum des Fernsehens und seinem Programmangebot verbunden war. Die unterschiedliche Aneignung der Sendung Los Pitufos in den drei kulturellen Kontexten wurde besprochen. Für die Kinder in Nezahualcoyotl war das Fernsehen ein Element, das an Nachmittagen, Wochenenden und in den Ferien ihre Freizeit strukturierte. Nur die privaten oder staatlichen Kanäle mit allgemeiner Ausstrahlung waren ihnen zugänglich. Fernsehen wurde zusammen mit der Familie angeschaut, es besaß ein hohes Prestige. Im Interview der vierten Klasse wurde deutlich, daß diejenigen, die keinen Zugang zum Fernsehen hatten, disqualifiziert wurden und keine Meinung äußern sollten. In dieser Klasse wurden selbst die Fernsehspots der Werbung in den Erzählungen wiedergeben. Die Kinder zitierten aus dem Gedächtnis den Werbespruch der Sendung Los Pitufos. Viele Kindersendungen wurden erwähnt, aber auch "telenovelas" und Filme über Helden des Freistilringens, die in Kanal 4 für die einfacheren Bevölkerungsschichten gesendet wurden. Auch die Kinder von El Pedregal sahen fern an Nachmittagen, Wochenenden und in den Ferien; dies war aber eine unter anderen Tätigkeiten, wie Kapitel 6 zeigte. In diesem kulturellen Kontext besaßen die Kinder aber auch Videogeräte, für die Videofilme gekauft wurden, sie hatten Computerspiele und Zugriff auf das Kabelfernsehen. Wenn sie Fernsehen sahen, taten sie es meist allein. Nur das Kabelfernsehen besaß Prestige, nicht aber die üblichen Fernsehsendungen, welche die Phantasie der Kinder verkümmern ("atrofiaba") ließen. In Valladolid war der Fernsehkonsum der Kinder geringer, wie in Kapitel 7 ausgeführt. Die Kinder verließen oft das Haus, um auf der Straße oder bei Freunden zu spielen. Wenn ferngesehen wurde, dann geschah das in der Familie oder in der Gemeinschaft. Da hier neben der Televisión Rural Mexicana mit ihren kulturellen und Schulsendungen nur Wiedergabestationen der Sender der Hauptstadt zu empfangen waren, konnte man eine Mischung von Sendungen der verschiedenen Kanäle der Hauptstadt sehen. Ungeachtet der zeitlichen Dauer der Interviews erwähnten die Kinder wenig Fernsehsendungen. Außer den Sendungen Los Pitufos nannten sie einen mexikanischen Film über die Legende der Llorona, die "telenovela" El Malefìcio und einen Horrorfilm. Es zeigte sich, daß das Fernse-

Kapitel 8

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hen in den Erzählungen der Kinder bereits Spuren hinterließ, sowohl im Inhalt als auch in der Form der Erzählungen. Die Kapitel 5 bis 7 zeigen durch Beispiele, in welcher Weise die Regeln des Erzählens in audiovisuellen Diskursen im Fernsehen und im Kino die Geschichten der Kinder der drei kulturellen Kontexte prägten. Die Figur des Teufels in seiner Rolle als böser Superheld oder die Rolle Gottes mit einem Zauberstab sind dafür bezeichnende Beispiele. Das mexikanische Konsortium Televisa ist innerhalb der Kulturindustrien Lateinamerikas eines der bedeutendsten Unternehmen, wie in Kapitel 4 ausgeführt wurde. Dieses Unternehmen steht vor allem auf dem Markt der "telenovelas" im Wettbewerb mit anderen Unternehmen wie dem brasilianischen Rede Globo, der Venevisión aus Caracas, Coral Pictures und Capital-Vision in Miami, Reytel in Buenos Aires und Caracol in Kolumbien (González, 1994: 258).

8.3

Unterschiedliche Subjekte und ungleiche soziale Chancen

Die Gruppenbefragungen und die schriftlichen Texte der Kinder in den drei verschiedenen kulturellen Kontexten erlaubten herauszustellen, daß diese Kindergruppen sich in ihrer Art des Sprechens und Schreibens unterschieden sowie in Hinblick auf ihre Art der Aneignung von Fernsehdiskursen. Die Analyse der mündlichen Kultur dieser Kinder ermöglichte, verschiedene Subjekte zu definieren als Ergebnis unterschiedlicher Arten mündlicher Kultur. Im Schlußteil des Kapitels 5 wurde erwähnt, daß die Kinder in Nezahualcoyotl nur selten ihre Figur als ein sprechendes, individualisiertes Subjekt unterstrichen und auch keine Strategie entwickelten, sich innerhalb ihrer Gruppe zu differenzieren. Alfonso als informeller Führer der Gruppe bildete eine Ausnahme. Selbst wenn die Kinder schrieben und das Papier als Raum individueller Entfaltung benutzen konnten, war es ihnen nicht möglich, das "Ich" (yo) mit seinen Meinungen und persönlichen Gesichtspunkten hervortreten zu lassen. Über Ausdrücke wie "se dice", die eine anonyme und kollektive Stimme der Gemeinschaft ausdrücken, wurde aus den Stimmen der Kinder in den schriftlichen wie in den mündlichen Texten ein kollektives Gemurmel. Das sprechende Subjekt ließ sich selbst als Individuum verblassen und entstand neu als nicht trennbarer Teil einer kleinen, lokalen Gemeinschaft mit ihrem Netz familiärer und nachbarschaftlicher Verbindungen. Das "Wir" (nosotros), vor allem in der sechsten Klasse, bezog sich in Nezahualcoyotl auf eine Großfamilie. In der vierten Klasse hatte die Großmutter im Zusammenhang mit der mündlichen Tradition einen anerkannten Platz. Diese Tradition, aber auch das dem Femsehen entstammende Wissen wurden geschätzt. So traten rhetorische Formen mündlicher Erzählung auf, auch

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wenn über Fernsehsendungen gesprochen wurde, und Elemente audiovisueller Diskurse wurden in der Erzählstruktur traditioneller mündlicher Legenden verwendet. Es entstanden auf diese Weise Geschichten von Großmüttern, die wie im Fernsehen erzählten, und Fernsehsendungen, die wie Großmütter erzählten. In den Interviews trat eine Art von Kind auf, das dankbar war, daß man seiner Erzählung zuhört und sie auf Band aufnimmt, und das beantworten wollte, was ich nach seiner Meinung hören wollte. In den schriftlichen Texten erschien ein Kind, das Gehörtes reproduzierte. Diese Ergebnisse der Untersuchung stützten die Aussage des Informanten, daß durch diesen Sozialisationsprozeß die Kinder lernten, aufmerksam zuzuhören und zu wiederholen, daß ihnen aber nicht zugehört wurde und nicht erwartet wurde, daß sie eine Meinung hatten. Eine eigene Meinung zu entwickeln, aber auch Zweifel zu äußern und Kritik zu akzeptieren, wurde durch diese Erziehung nicht gefördert. Die Kinder von El Pedregal zeichneten sich vor allem aus durch ihre vielfaltigen Strategien, sich von ihren Klassenkameraden zu unterscheiden, wie Kapitel 6 aufzeigte. Ihre Art zu sprechen betonte ihre Figur als sprechendes Subjekt und den eigenen Standpunkt. Sowohl in ihren schriftlichen wie in ihren mündlichen Texten trat das Wort "ich" (yo) immer wieder auf; 50 % der Kinder gaben ihrer ablehnende Meinung zum Gerücht über die Schlümpfe Ausdruck. Dieses aus der Untersuchung ablesbare Verhalten und die zusätzlichen Auskünfte der Informantin zeigten eine tiefverwurzelte Kultur des "eigenen Namens", wie sie in den anderen kulturellen Kontexten nicht zu finden war. Es war eine höchst personalisierte Erziehung, die die Kinder dazu bringen sollte, nicht nur zu gehorchen und Regeln einzuhalten, sondern auch dazu, Entscheidungen zu fallen und zu befehlen. Die Ablehnung des Gerüchtes über die Schlümpfe war Teil einer Strategie der sozialen Abgrenzung, des sich Unterscheidenwollens von jenen, die nicht ihrer sozialen Gruppe angehörten und dem Gerücht glaubten. Dem was "man sagt" und den kollektiven Stimmen schrieben sie einen geringen Wert zu; davon sollte man sich fernhalten. Ein paar gegensätzliche Begriffe traten auf: "nosotros", diejenigen, die der eigenen Gruppe angehören durften, und "los otros", die Abergläubischen, an Gerüchte Glaubenden und sonstigen Personen wie die Hausangestellten. Dies soll nicht den Eindruck erwecken, daß diese Kinder selbständig und frei wären. Durch ihre Erzählungen sprach ein standardisierter Erwachsener ihrer eigenen sozialen Gruppe, der nicht erlaubte, daß sie zugaben, daß ihnen gewisse Fernsehsendungen gefielen, auch wenn sie kein soziales Prestige vermittelten. Die Interviews in El Pedregal ließen eine mündliche Kultur ans Licht treten, die bisher von Anthropologen und Soziologen wenig untersucht wurde. Die Ge-

Kapitel 8

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schichten über die mordenden Dienstmädchen, von den Kindern in El Pedregal erzählt, verweisen auf alte Legenden der "höheren" Klassen, daß Eingeborene, Bauern, Tagelöhner usw. nur die "Großzügigkeit" ihrer Herren ausnutzen und oft zu Dieben und Mördern werden. Solche Geschichten und Vorstellungen gehören zur Tradition der privilegierten Gruppen, die sich bedroht fühlen - oft zu Recht durch diejenigen, die nicht das besitzen, was sie besitzen. Im Schlußteil des Kapitels 7 wurde ausgeführt, daß die Kinder in Valladolid, so wie die Kinder in Nezahualcoyotl, in der mündlichen Befragung ihre eigene Figur als sprechendes Subjekt nicht herausstellten und auch keine Strategien entwickelten, sich von anderen Mitgliedern ihrer Gruppe zu unterscheiden. Sie griffen auf Ausdrücke wie "man sagt" oder auf das unpersönliche "Du" zurück und vermieden in ihren Erzählungen die 1. Person Singular, das sprechende "Ich" (yo). Durch ihre Stimmen hindurch sprach ein kollektives Subjekt, wurden Legenden wiedergegeben, die sich in der Zeit verloren. In den schriftlichen Texten erschienen die Kinder aus Valladolid jedoch als individuelle Subjekte mit Meinungen und persönlichen Vorlieben. Diese Kinder waren eine Erziehung gewohnt, in der man ihnen zuhörte und die eigene Meinung forderte, zumindest wenn die Ausfuhrungen die eigene Gemeinschaft betrafen. Die Untersuchung der schriftlichen und mündlichen Erzählungen der Kinder zeigte ihren Stolz auf die mündlichen Traditionen der Maya-Legenden; sie wollten, daß der Besucher sie auch kennenlernte. Sie ftihlten sich einer Gemeinschaft zugehörig, der schon ihre Großmutter und Urgroßmutter angehörten. Die Analyse der Erzählungen der Kinder zeigte, wie die mündliche Tradition der Maya sich veränderte. Die Maya-Tradition lebte in ihren Erzählungen weiter, aber Seite an Seite zusammen mit Legenden aus anderen Teilen des Landes, mit griechischen Sagen und audiovisuellen Diskursen. Anhand der Untersuchung ließen sich unterschiedliche mündliche Kulturen und verschiedene sprechende Subjekte aufzeigen. Die Unterschiede der besonderen Kulturen verschiedener sozialer Gruppen und Regionen in Mexiko zeigen nicht nur den Reichtum der kulturellen Heterogenität dieses Landes, sie beruhen auch auf der Armut seines politischen System, dem es nicht gelingt, den Abgrund der sozio-ökonomischen Unterschiede zu verringern.

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