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German Pages 449 [452] Year 1997
Bräutigam · Mittelständische Unternehmer im Nationalsozialismus
Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland Herausgegeben von Dieter Langewiesche und Klaus Schönhoven
Band 6
R. Oldenbourg Verlag München 1997
Petra Bräutigam
Mittelständische Unternehmer im Nationalsozialismus Wirtschaftliche Entwicklungen und soziale Verhaltensweisen in der Schuh- und Lederindustrie Badens und Württembergs
R. Oldenbourg Verlag München 1997
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung durch Freudenberg & Co., Weinheim, Lederfabrik Louis Schweizer, Murrhardt, Stiftung Landesgirokasse, Stuttgart, Stadt Backnang, Stadt Murrhardt sowie durch Mittel aus dem Leibniz-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Bräutigam, Petra: Mittelständische Unternehmer im Nationalsozialismus : wirtschaftliche Entwicklung und soziale Verhaltensweisen in der Schuh- und Lederindustrie Badens und Württembergs / Petra Bräutigam. - München : Oldenbourg, 1997 (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland ; Bd. 6) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1995
ISBN 3-486-56256-8 NE: GT
© 1997 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Rosenheimer Str. 145, D - 81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-56256-8
Inhalt
Vorwort
11
Einleitung
13
I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie 1. Die deutsche Schuh- und Lederindustrie bis 1933
21
1.1. Vom Handwerk zum Industriebetrieb: Die Lederindustrie im Zeichen der Industrialisierung
21
1.2. Die Bedeutung des Welthandels für die Lederindustrie
29
1.3. Von Krise zu Krise: Die Entwicklung der Schuhindustrie
33
1.4. Die Bedeutung des Schuhaußenhandels
40
2. Die Zentren der deutschen Schuh- und Lederindustrie
43
3. Firmengeschichten
52
3.1. Der Weg durch die Krise: Die Firma Louis Schweizer, Backnang und Murrhardt
52
3.2. Keine Spur von Krise: Die Firmen Carl Kaess und Backnanger Lederwerke GmbH, Backnang
54
3.3. Vom Aufschwung der Lederfirma Carl Freudenberg in Weinheim/Bergstraße zur großen Krise in der Oberlederproduktion . . . .
55
3.4. Die Krise überwinden: Die Roßledergerberei Sigmund Hirsch in Weinheim/ Bergstraße
58
3.5. »... daß ein Schwabe immer mehr hält, als er verspricht!« Salamander: Die Geschichte eines Weltunternehmens
59
II. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft 1. Die Grundzüge der NS-Wirtschaftspolitik 1.1. Vom Neuen Plan zum Vierjahresplan .
65 66
6
Inhalt
1.2. Die Kriegswirtschaft
70
1.3. Die Neuorganisation der Wirtschaft
72
2. Staatliche Lenkung in der Schuh- und Lederindustrie
82
2.1. Den Mangel verteilen: Rohstofflenkung
82
2.2. Preisgestaltung im Bereich der Lederwirtschaft
86
2.3. Staatlich gefördertes »Preisdumping« zur Förderung des Exports: Das Zusatz- ausfuhrverfahren
89
2.4. »Deutsche Werkstoffe«: Die Ersatzstoffproduktion
90
2.5. Lenkung der Produktion
98
2.6. Firmenschließungen
101
2.7. Lenkung der Arbeitskräfte
107
ΠΙ. Auswirkungen - Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus 1. Aufschwung und Defizit
113
2. Schuh- und Lederfirmen im »Organisationsdschungel« der NS-Planungsbehörden
133
3. Die Entwicklung der einzelnen Firmen während des Nationalsozialismus
138
3.1. Lederfirmen im Zeichen der Autarkie
138
3.1.1. Wachstum und Rückgang: Die Firma Louis Schweizer, Backnang und Murrhardt
138
3.1.2. Expansion und Stagnation: Die Kaess'sehen Gerbereien
144
3.1.3.Firma Aufschwung durch Rüstungsaufträge: Die Christ. Breuninger, Schorndorf
147
3.1.4. Die Katastrophe auf dem Oberledermarkt setzt sich fort: Die »Lederfabrik« Carl Freudenberg
150
3.2. Die Entwicklung der Schuhfirmen Südwestdeutschlands
154
3.3. Zusammenfassung und Vergleich
167
4. Firmenschließungen im Bereich der württembergischen und badischen Lederindustrie
174
Inhalt
7
5. Ersatzstoffverwendung in der süddeutschen Schuh- und Lederindustrie
193
5.1. Schuhfabrikanten gegen Ersatzstoffe
193
5.2. Die Verwendung von Leder- und Gerbersatzstoffen in den Backnanger Lederfabriken
195
5.3. Von der Leder- zur Kunststoffherstellung
197
6. Konflikte mit Planungsstellen
207
6.1. Schuh- und Lederfirmen vor dem Reichswirtschaftsgericht
207
6.2. Einflußnahme von Parteistellen auf die Justiz: Die Firma Breuninger vor dem Reichswirtschaftsgericht
215
6.3. Konflikte der Firma Schweizer mit Behörden
220
6.4. Ein »nationalsozialistischer vor dem ReichswirtschaftsgerichtMusterbetrieb« 223 6.5. Fachliche Mängel bei den Planungsstellen: Die Firma Salamander vor dem Reichswirtschaftsgericht 226 7. Zwangsarbeiter in der Schuh- und Lederindustrie
231
IV. Die Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz der jüdischen Bevölkerung 1. Erste Boykottmaßnahmen im März/April 1933 bis Frühjahr 1935 1.1. Boykottmaßnahmen im März/April 1933
. . . 245 245
1.2. »Schleichende Judenverfolgung« von Sommer 1933 bis Frühjahr 1935
248
1.3. Die Situation der Juden in Württemberg und Baden
250
1.4. Die Auswirkungen der Boykotte auf die Juden in der Schuh- und Lederindustrie
255
2. Die Nürnberger Rassegesetze im Jahr 1935: Keine »Schonzeit« für jüdische Unternehmer
268
3. Der Boykott deutscher Waren im Ausland: Auswirkungen auf die deutsche Schuh- und Lederindustrie 4. »Schleichende Judenverfolgung« in der Schuh- und Lederindustrie? 5. Die Ausschaltung der Juden aus Wirtschaft und Gesellschaft von Herbst 1937 bis November 1938
272 . 276 281
8
Inhalt
6. Verschärfte Verdrängung im Bereich der Schuh- und Lederindustrie
. 284
7. Der Pogrom vom 9./10. November 1938 und die Folgen
289
7.1. Das Schicksal der jüdischen Schuh- und Lederunternehmer
291
7.2. Die Auswanderung jüdischer Schuh- und Lederuntemehmer aus Deutschland
293
V. »Arisierungen« 1. Die »Entjudung« der deutschen Wirtschaft
297
2. »Arisierungen« im Bereich der Schuh- und Lederindustrie in Württemberg und Baden
306
2.1. »Richard Freudenberg gab bekannt, daß sich die Firma die zweitgrößte Schuhfabrik Deutschlands angeeignet hat...«
306
2.2. Von der Gerberei zum Konzern: Die Erfolgsgeschichte der Firmengruppe Carl Kaess
309
2.2.1. Erwerb von Schuhfabriken und von Beteiligungen an Schuhfabriken
309
2.2.2. Überschreitung von Branchengrenzen: Kaess' Beteiligungen an Brauereien
314
2.2.3. Überschreitung der Landesgrenzen: Kaess' Erwerbungen in Mähren
323
2.2.4. Zusammenfassung der »Arisierungen« durch Carl Kaess
324
2.3. »Arisierung« von jüdischen Lederfirmen
326
2.3.1. Eine neue Form der »Arisierung«: Übernahme durch eine Firmengruppe
326
2.3.2. »Unrecht Gut gedeihet nicht!«: Die »Arisierung« der Firma Hirsch durch Carl Freudenberg
329
3. Zusammenfassung
332
VI. Dissens und Widerstand 1. Das Vorgehen gegen einen politisch unliebsamen Betriebsführer: Richard Freudenberg
338
Inhalt
9
2. Sippenhaftung: Die Familie Räuchle in den Mühlen der NS-Verfolgungsbehörden
348
3. Die Entwicklung zum Widerstand: Richard Schweizer
350
3.1. Ein unangepaßter Unternehmer in Backnang
350
3.2. »Der SD hat ein Verfahren gegen Sie eingeleitet.«
351
3.2.1. Die Vorgeschichte: Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten am Beispiel Litauens
351
3.2.2. Widerstand gegen die Verschleppung von Zwangsarbeitern
354
3.2.3. Die Rettung von Juden in Litauen
358
VII. Unternehmer vor der Spruchkammer 1. Mitläufer (Räuchle und Breuninger)
368
2. Entlastete (Freudenberg und Schweizer)
375
3. Der »Fall Kaess«
380
3.1. Entnazifizierung
380
3.2. Der »Entnazifizierungsskandal« in Württemberg-Baden
385
4. Zusammenfassung
388
Schluß
389
Anhang
397
Abkürzungen
402
Begriffserklärungen
405
Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder
407
Quellen- und Literaturverzeichnis
411
Personenregister
441
Ortsregister
445
Firmenregister
447
Vorwort »Unrecht Gut gedeiheit nicht.« Mit diesen Worten lehnte der Weinheimer Lederunternehmer Richard Freudenberg 1938 zunächst das Verkaufsangebot der Firma seines jüdischen Kollegen Max Hirsch ab. Wie kam Richard Freudenberg zu dieser Einstellung während sich doch andere mittelständische Unternehmer im Nationalsozialismus bedenkenlos an der Not und dem Elend der Juden bereicherten? Warum wagte ein anderer mittelständischer Unternehmer, der seit 1933 Mitglied der NSDAP war, in Litauen Hunderte von Juden unter dem Einsatz seines eigenen Lebens vor dem sicheren Tod zu retten? Inwieweit beeinflußte die wirtschaftliche Situation der Betriebe zwischen 1933 und 1945 die Haltung der Unternehmer gegenüber dem Nationalsozialismus und der antisemitischen Politik des Regimes? Diese Fragen werden an das Verhalten württembergischer und badischer Unternehmer gerichtet. Viele Personen und Institutionen wirken an der Entstehung einer solchen Arbeit mit. Stellvertretend für die persönlich nicht Genannten sei hier nur an die hilfsbereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Archive erinnert, denen an dieser Stelle zu danken ist. Die finanzielle Unterstützung der FriedrichEbert-Stiftung legte die materielle Basis dieser Arbeit. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dieter Langewiesche, der mich zu dieser Arbeit ermuntert hat. Er hat nicht nur die Entstehung dieses Projekts in jeder Hinsicht in herausragender Weise betreut, sondern hatte jederzeit auch ein offenes Ohr für die Sorgen der Autorin. Mit vielen guten Tips und kritischen Hinweisen hat Cornelia Rauh-Kühne diese Arbeit von Anfang an begleitet. Dank gilt auch meiner Familie, meinen Tübinger und Stuttgarter Freunden, die dieses Projekt verständnisvoll mittrugen und mich immer wieder ermutigten und aufmunterten. Besonders sei hier mein Bruder Michael genannt, dessen kritischer Geist meine Arbeit in zahlreichen nächtlichen Diskussionen engagiert begleitet hat. Meine Mitstreiterinnen Christine Arbogast, Gudrun Silberzahn-Jandt und Astrid Gehrig begleiteten diese Arbeit und halfen bei allen Schwierigkeiten. Erwähnt werden muß auch Anne Lipp, die mit großer Geduld dem Text die endgültige Ausformung gegeben hat, sowie Christiane Wolf und Tatjana Massa für das Layout. Zuletzt danke ich meinem Mann Klaus, ohne dessen liebevolle Geduld und Ermunterung diese Arbeit nie zustandegekommen wäre. Für das, was diese Arbeit trotz der Mühen der Genannten noch an Irrtümer und Fehlern enthält, bin nur ich verantwortlich. Stuttgart, im Dezember 1996
Petra Bräutigam
Einleitung Der Nationalsozialismus, seine Durchsetzungskraft und die Unterstützung, die er im deutschen Volk erfuhr, beschäftigt die Forschung auch noch ein halbes Jahrhundert nach dem militärischen Zusammenbruch des Deutschen Reiches. Obwohl die Publikationen über dieses Thema vielfältig sind wie zu keinem anderen Zeitabschnitt der deutschen Geschichte, wurden wichtige Fragen bis heute nicht ausreichend beantwortet. Das gilt etwa für die Fragen Karl Dietrich Brachers, warum eine scheinbar demokratische Staatsordnung wie die der Weimarer Republik innerhalb kurzer Zeit vor der Gewaltherrschaft Hitlers kapituliert hat, und vor allem, wie sich diese »primitive Diktatur«1 zwölf Jahre lang an der Macht halten konnte. Eine Antwort auf diese Fragen dürfte die Untersuchung der inneren Struktur des nationalsozialistischen Systems ergeben. Die umfangreiche Forschung hebt vor allem auf den Widerspruch zwischen der Heterogenität bzw. »Polykratie« des Systems auf der einen und dessen Stabilität trotz der militärischen Niederlagen auf der anderen Seite ab.2 Die Rolle der gesellschaftlichen Gruppen, die in diesem Spannungsfeld eine staatstragende und regimeerhaltende Funktion ausgeübt haben, ist dabei von besonderem Interesse. Dazu gehörten die gesellschaftlichen Eliten und die Fachleute in Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft. Die umfangreichste politische Entscheidungsfreiheit, um die »Formen der Kollaboration«3 abzumindern, hatten dabei die Unternehmer. Sie waren wirtschaftlich unabhängig und wiesen eine personelle Kontinuität auch über die politischen Brüche der deutschen Geschichte hinweg auf. Die Forschung über die deutsche Industrie in der Zeit von 1933 bis 1945 ist im großen und ganzen einhellig der Meinung, daß die Unternehmer vom Nationalsozialismus und vom Krieg profitiert haben. Nützte ihnen nicht die forcierte Aufrüstungspolitik der Nationalsozialisten,4 gesundeten nicht manche 1
Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1969, S. 1. 2 Dazu ausführlich mit Literaturangaben Michael Ruck: Führerabsolutismus und polykratisches Herrschaftsgefüge - Verfassungsstrukturen des NS-Staates, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 32-56. 3 Dieter Rebentisch: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwurf und Verwaltungspolitik 1939-1945, Stuttgart 1989, S. 543. "Vgl. Wolfgang Birkenfeld: Der synthetische Treibstoff 1933-1945. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Wirtschafts- und Rüstungspolitik, Diss., Göttingen 1964, Jürgen Stelzner: Arbeitsbeschaffung und Wiederaufrüstung 1933-1936. Nationalsozialistische Beschäftigungspolitik und Aufbau der Wehr- und Rüstungswirtschaft, Diss., Tübingen 1976, Fritz Blaich: Wirtschaft und Rüstung im »Dritten Reich«, Düsseldorf 1987, Ludolf Herbst: Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939-1945, Stuttgart 1982, Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, Theorie, Politik 1933-1945, Frankfurt/M.
14
Einleitung
Betriebe durch die Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz, beteiligten sich nicht zahlreiche Industrielle gewinnbringend an »Arisierungen«5 und der Ausplünderung des Ostens6, und profitierten nicht viele Unternehmen von der kostengünstigen Beschäftigung von Zwangsarbeitern oder KZ-Häftlingen?7 Dies traf - so das Resultat vieler wirtschaftshistorischer Arbeiten - für zahlreiche Unternehmen und Industriezweige zu. Für Unternehmer im nationalsozialistischen Deutschland schien das Streben nach Profit und Gewinnmaximierung die bestimmende Handlungsmaxime gewesen zu sein. Nicht erst seit Steven Spielbergs Film über Oskar Schindler rückte jedoch ein anderer - ambivalenter - Unternehmertyp in den Blickpunkt: einer, der sich zunächst lediglich von Bereicherlingsabsichten getrieben gegen seine eigenen wirtschaftlichen Interessen zu einem Menschenretter selbst unter Gefährdung seines eigenen Lebens entwickelte. Eine solche Entwicklung ist für das Gros der deutschen Wirtschaftsführer zwar keinesfalls repräsentativ, doch daß es sie gab, öffnet den Blick über den homo oeconomicus für einen sozialgeschichtlichen Zugang zum Verhalten der deutschen Unternehmerschaft im nationalsozialistischen Deutschland. Sozialgeschichtlich wurde diese wichtige und für die Erhaltung des Regimes bedeutsame Personengruppe von der Forschung bislang vernachlässigt. Schon 1966 verlangte daher Wilhelm Treue die Untersuchung des Verhaltens von Unternehmern, wobei ihm besonders ihre Einbeziehung in die Widerstandsforschung am Herzen lag.8 Ebenso wie Treue forderte Avraham Barkai die Beschäftigung mit Unternehmerverhalten im Nationalsozialismus; er bemängelte besonders die Lücken im Bereich der mittelständischen Unternehmerschaft.9 Anders als Treue stellte Barkai jedoch nicht die Entlastung von Unternehmern durch einen »privatkapitalistisch« motivierten Widerstand gegen die NS-Herrschaft in den Vordergrund, sondern deren Verstrickung in Unrechtsmaßnahmen des Regimes. Insgesamt ist festzuhalten, daß die bisherige 1988, Tilla Siegel/Thomas v. Freyberg: Industrielle Rationalisierung unter dem Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1991. s Vgl. Helmut Genschel: Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttingen 1966, Avraham Barkai: Vom Boykott zur »Entjudung«. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1945, Frankfurt/M. 1987, Johannes Ludwig: Boykott, Enteignung, Mord. Die »Entjudung« der deutschen Wirtschaft, München/Zürich 1992. 6 Vgl. Rolf-Dieter Müller: Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik, Frankfurt/M. 1991, v.a. S. 49-81. 7 Vgl. Maria Beimel: »Deutsche Wirtschaft«. Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen für Industrie und Behörden, Hamburg 1991, Ulrich Herbert (Hrsg.): Europa und der »Reichseinsatz«. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, »Deutsche Wirtschaft«. Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen für Industrie und Behörden, hrsg. v. der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Hamburg 1991, Bernd Boll: Zwangsalbeiter in Baden 1939-1945, in: GWU 43 (1992), S. 523-537, Barbara Hopmann u.a.: Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994. 8 Wilhelm Treue: Die Einstellung einiger deutscher Großindustrieller zu Hitlers Außenpolitik, in: GWU 17 (1966), S. 491-507. 9 Avraham Barkai: Die deutschen Unternehmer und die Judenpolitik im Dritten Reich, in: GG 15 (1989), S. 227-247.
Einleitung
15
Forschung sich auf die Bereiche der Großindustrie10 auf der einen und des »Mittelstands«11 auf der anderen Seite konzentriert hat. Dabei beschränken sich die Mittelstandsstudien von Adelheid v. Saldern und Heinrich August Winkler auf Handwerker, Einzelhändler und Bauern.12 Da Untersuchungen über die Unternehmer von mittelständischen Betrieben fast völlig fehlen, wurden die Ergebnisse der Forschung über den »alten« und »neuen« Mittelstand kurzerhand auf die gesamte Sozialgruppe übertragen. So herrschten lange Zeit nur Vorurteile über die politische Einstellungen von mittelständischen Unternehmern und deren Verhalten während des Nationalsozialismus. Besonders deutlich wird dies bei der Frage nach der Anfälligkeit gegenüber nationalsozialistischen Parolen auf der einen und dem Widerstand von Unternehmern auf der anderen Seite. Henry A. Tbrner vertritt beispielsweise die Ansicht, daß es die Unternehmer mittelständischer Betriebe gewesen seien, die 1933 »plötzlich als nationalsozialistische Aktivisten in Erscheinung traten.«13 Diese Personengruppe sei besonders von der NS-Ideologie durchdrungen gewesen, was der »Erfolg der NSDAP unter diesen Geschäftsleuten bereits vor Hitlers Machtergreifung« belege.14 Seymour Martin Lipset bezeichnet den Mittelstand als »williges Opfer der Versprechungen des Nationalsozialismus«15, und Adelheid v. Saldern kommt zu dem Ergebnis, daß »der 'alte Mittelstand' so gut wie gar nicht in den bisher bekannten politischen Widerstandsgruppen vertreten war und auch keine eigenen politischen Widerstandsformen und -Organisationen entwickelt hat.«16 Für sie war diese Sozialgruppe die »soziale Basis des deutschen Faschismus.«17 Jürgen W. Falter verwirft dagegen diese »Mittelstandsthese« und deutet die NSDAP als »moderne Integrationspartei«.'8 Harald Winkel meint, daß sich Unternehmer eher vom Nationalsozialismus fernhielten19, und Heinrich August Winkler erkennt ein »ursprüngliches Miß10
"freue, Einstellung einiger deutscher Großindustrieller, und Henry A. Himer: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985. " Eine schlüssige Definition darüber, was »Mittelstand« ist, bietet weder die historiographische noch die wirtschaftswissenschaftliche Literatur. Vgl. Klaus Megerle: Württemberg im Industrialisierungsprozeß Deutschlands. Ein Beitrag zur regionalen Differenzierung der Industrialisierung, Stuttgart 1982. 12 Adelheid v. Saldem: Mittelstand im »Dritten Reich«. Handwerker - Einzelhändler - Bauer, Frankfurt/M. 1979, Heinrich A. Winkler: Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972, und ders.: Der entbehrliche Stand. Zur Mittelstandspolitik im »Dritten Reich«, in: AfS 17 (1977), S. 1-40. 13 TUrner, Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, S. 254. 14 ebd., S. 256. 15 Seymour Martin Lipset: Nationalsozialismus - ein Faschismus der Mitte, in: ders.: Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962. "Adelheid v. Saldern: »Alter Mittelstand« im »Dritten Reich«, in: GG 2 (1986), S. 235-243, S. 240. Vgl. dazu auch Heinrich A. Winkler: Ein neuer Mythos vom alten Mittelstand, in: GG 2 (1986), S. 548-557, S. 554f. 17 Saldern, »Alter Mittelstand«, S. 240. "Jürgen W. Falter: Hitlers Wähler, München 1991. "Harald Winkel: Geschichte der Württembergischen Industrie und Handelskammern Heil-
16
Einleitung
trauen des Mittelstands gegenüber dem Nationalsozialismus.« 20 Wilhelm Treue vertritt sogar die Ansicht, daß es im Bereich der Wirtschaft, einschließlich des Mittelstands, viele Widerstandshandlungen gegeben hat.21 1986 stellte Adelheid v. Saldem bedauernd fest, daß in diesem Zusammenhang breite »branchen- und regionalgeschichtliche Untersuchungen«22 fehlen. Die neuere regionalhistorische Forschung zeigt jedoch vor allem eines: die Vieldeutigkeit des Begriffs »Mittelstand«. Gerade die Heterogenität dessen, was unter »Mittelstand« verstanden wird, macht es unmöglich, zu verläßlichen Gesamtaussagen zu gelangen. Ein Teil der widersprüchlichen Deutungen ist auf die unterschiedlichen Begriffsdefinitionen zurückzuführen. Dies belegen die Untersuchungen in dem von Cornelia Rauh-Kühne und Michael Ruck herausgegebenen Sammelband.23 Nicht nur die Entwicklung der verschiedenen Industriezweige im Nationalsozialismus hing davon ab, wieweit die Branche außenhandelsabhängig oder rüstungswichtig war, diese Tatsache prägte auch das Unternehmerverhalten.24 Am Beispiel der Widerstandsforschung über mittelständische Unternehmer weist Cornelia Rauh-Kühne eine vor allem interessensgebundene Motivation nach.25 Daß auch die individuelle Einstellung für das Verhalten von Unternehmern im Dritten Reich eine bedeutsame Rolle spielte, unterstreicht eine individualbiographische Studie im gleichen Band. 26 Um die skizzierten Widersprüche auflösen zu können, ist es erforderlich, bestimmte Mittelstandsgruppen zu erforschen. Diese Arbeit wendet sich Unternehmern mittlerer Industriebetriebe zu, da diese gewichtige Gruppe innerhalb des weiten Spektrums Mittelstand sowohl in der Mittelstandsforschung als auch in der Forschung über die Industrie bislang fast völlig unbeachtet blieb. Angesichts der unterschiedlichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik auf die einzelnen Industriezweige schien es sinnvoll zu sein, sich erstens auf einzelne Branchen zu konzentrieren und zweitens solche auszuwählen, deren Firmen durch ihre Struktur, Beteiligungsverhältnisse oder Firmengeschichte familiären Charakter trugen und somit der mittelständischen Industrie zugerechnet werden können. Die Firmen der Schuh- und der Leder-
20 21
22 23
24
25
26
bronn, Reutlingen, Stuttgart/Mittlerer Neckar und Ulm 1933-1980. Zum 125-jährigen Bestehen, Stuttgart 1981. Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, S. 165. Vgl. Wilhelm Treue: Widerstand von Unternehmern und Nationalökonomen, in: Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach (Hrsg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München/Zürich 1986, S. 917-937. Saldern, »Alter Mittelstand«, S . 243. Cornelia Rauh-Kühne/Michael Ruck (Hrsg.): Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930-1952, München 1993. Wolfgang Burth u.a.: Nationalsozialistische Wirtschaftslenkung und württembergische Wirtschaft, in: ebd., S . 195-220. Cornelia Rauh-Kühne: Mittelständische Unternehmer im Konflikt mit Partei und Staat, in: Formen des Widerstands im Südwesten 1933-1945: Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. d. Landeszentrale für politische Bildung, Ulm 1994, S. 105-113, S. 112. Petra Bräutigam/Andrea Schuster/Astrid Welck: Drei württembergische Unternehmer während des Nationalsozialismus: Rolf Boehringer, Emst Stütz, Richard Schweizer, in: RauhKühne/Ruck, Regionale Eliten, S. 221-246.
Einleitung
17
industrie erfüllten diese Voraussetzungen, denn sie wiesen in ihrer Gesamtheit bis 1933 mittelständische Strukturen auf. Dies gilt für ihre Produktionsmethoden ebenso wie für ihre Entwicklungsgeschichte und ihr geschäftliches Umfeld. Der Branche gehörten auch Großbetriebe an, von denen die bedeutendsten, die Firmen Salamander und Carl Freudenberg, in die Untersuchung einbezogen werden. Dies ermöglicht es, danach zu fragen, ob solche Großunternehmen die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik in anderer Weise zu spüren bekamen als die kleinen Betriebe, die das Gesamtbild der Branche bestimmt haben. Am Beispiel der mittelständischen Unternehmer kann deshalb die vermeintlich mittelstandsfreundliche Politik, welche die Inhaber solcher Firmen gegenüber dem Nationalsozialismus empfänglich gemacht haben soll,27 untersucht werden. Da sich die Zentren der Schuh- und der Lederindustrie seit Beginn dieses Jahrhunderts in den Ländern Baden und Württemberg befanden und diese generell stark von mittelständischer Industrie geprägt waren, bot sich eine Begrenzung auf diesen Raum an. Hinzu kommt, daß ein Teil der Forschung von einer spezifisch politischen Kultur des deutschen Südwestens ausgeht.28 Das ist für eine Studie, die nach Verhaltensformen fragt, von Bedeutung. Die Industriezweige Schuh und Leder waren eigenständige Branchen und zugleich eng miteinander verbunden. Zu den Gemeinsamkeiten gehörte, daß sie außerordentlich außenhandelsabhängig waren. Je nach Spezialisierung konzentrierten sich die verschiedenen Produktionszweige innerhalb dieser Branchen auf den Import oder auf den Export. An ihrer Entwicklung lassen sich die Wirkungen nationalsozialistischer Wirtschaftsprogramme vergleichend untersuchen. Die Studie unternimmt den Versuch, den Unternehmer nicht ausschließlich als rein betrieblich denkendes Wesen zu sehen. Gefragt wird vielmehr, ob in dieser Personengruppe nicht auch aus menschlichen Beweggründen gegen das eigene Geschäftsinteresse gehandelt wurde. Als Prüffeld dient u.a. die Art der Beteiligung an »Arisierungen«, also der Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz. Davon waren beide Branchen mit ihrem überdurchschnittlichen Anteil an jüdischen Besitzern und Mitarbeitern besonders stark betroffen. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen also badische und württembergische Schuhund Lederuntemehmer in ihrer Lebenswirklichkeit als »Wirtschaftsführer«, als Kollegen und Geschäftspartner sowie als gesellschaftliche Wesen. Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Die ersten drei Kapitel befassen sich mit den wirtschaftlichen Problemen, denen sich die Unternehmer zu stellen hatten und mit der Beschäftigung von Zwangsarbeitern, die nächsten zwei Teile mit den Folgen des »Rassismus«, der sogenannten »Entjudung« der Wirtschaft und der Verstrickung von Unternehmern in »Arisierungen«. Das folgende Kapitel thematisiert das Problem des Dissens und Widerstands von Unternehmern. Der 27 28
Saldem, »Alter Mittelstand«, S. 243. Vgl. Jürgen W. Falter/H. Bömermann: Die unterschiedlichen Wahlerfolge der NSDAP in Baden und Württemberg: Ergebnis differierender Sozialstruktur oder regionalspezifischer Faktoren? in: Dieter Oberndörfer/Karl Schmitt (Hrsg.): Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 283-298.
18
Einleitung
letzte Teil blickt über 1945 hinaus: Er beschäftigt sich mit den Spruchkammerverfahren, denen sich die Unternehmer zu unterziehen hatten. Dieser Grobskizze seien einige detailliertere Bemerkungen hinzugefügt. Nach einer kurzen Darstellung zur Geschichte der Schuh- und Lederindustrie sowie ihrer Zentren in Württemberg und Baden wird im Kapitel I die Geschichte einiger ausgewählter Betriebe näher beleuchtet. Diese Firmengeschichten aus allen Bereichen der Schuh- und der Lederindustrie zeigen die Herkunft auch der weltweit operierenden Unternehmen aus kleinen, oft handwerklichen Betrieben und deren fortdauernde Verbundenheit mit ihren mittelständischen Anfängen. Die Wurzeln der großen Firmen Salamander und Freudenberg in kleinen Familienbetrieben begründet die Einbeziehung auch dieser Konzerne in die Untersuchung - neben den kleineren mittelständischen Firmen Kaess, Schweizer oder Hirsch. Im Kapitel II werden die Grund züge der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik und die Neuordnung der Wirtschaftsorganisationen nach 1933 zu zeigen sein. Letzteres betraf gerade die Lederindustrie in besonderem Maße, weil ihre Rohstoffe seit 1934 durch die neugeschaffene Überwachungsstelle für Felle und Häute rationiert und kontingentiert wurden. Weiter geht es um die Eingriffe der Planungsstellen in die Schuh- und Lederindustrie. Dabei sollen vor allem die Zuteilungsmechanismen der knappen Rohstoffe, die Veränderungen im Außenhandel seit dem Neuen Plan und dem Vierjahresplan, die Förderung von »Deutschen Werkstoffen« als Ersatz für bisher importierte Rohwaren und die darausfolgenden Produktionsvorschriften, sowie die Firmenschließungen nach Kriegsbeginn und die Lenkung der knapper werdenden Arbeitskräfte untersucht werden. Kapitel III stellt die Folgen dieser Eingriffe in den Mittelpunkt. Was bedeutete es für die stark importabhängige Lederindustrie von ihren traditionellen Märkten abgeschnitten zu sein, was die Trennung von ihren ausländischen Abnehmern für die exportorientierte Schuhindustrie? Inwieweit konnten beide Industriezweige von der steigenden Nachfrage der inländischen Verbraucher und dem erhöhten Ausrüstungsbedarf der NS-Organisationen sowie der Wehrmacht profitieren? Wie wirkte sich das Dilemma der starken Nachfrage einerseits und des drastischen Rohstoff- und Ledermangels andererseits in der Kriegswillschaft aus? Am Beispiel von fünf Leder- und drei Schuhfirmen werden die Auswirkungen detailliert analysiert. An der Entwicklung der einzelnen Firmen nach 1933 lassen sich die wirtschaftlichen Vorteile für Betriebe mit unterschiedlichem Produktionsprogramm erkennen. Daß im Lederbereich gerade die Firmen, die Unterleder und schwere Oberleder produzierten, und im Schuhbereich jene, die sich auf schweres Schuhwerk spezialisiert hatten, früh von dem wirtschaftlichen Aufschwung profitierten, verweist auf die von Anfang an forcierte Aufrüstungspolitik der Nationalsozialisten. Im weiteren sollen in diesem Kapitel die konkreten Auswirkungen der intensivierten Ersatzstoffproduktion exemplarisch an einzelnen Firmen gezeigt werden. An der Entwicklung der Betriebe, die sich auf die Herstellung von Ersatzstoffen verlegt hatten, wird die außerordentlich starke Förderung und die
Einleitung
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Bedeutung dieser Produktion für die Nationalsozialisten deutlich. Untersucht werden auch die Möglichkeiten der einzelnen Unternehmer, gegen angeordnete betriebsschädigende Maßnahmen - ihre extremste Form war die Firmenschließung - vorzugehen. Ebenso interessieren die Handlungsweisen der mittelständischen Unternehmer, wenn sie - was häufig geschah - in die Mühlen der NS-Wirtschaftsjustiz gerieten. Zu klären ist, warum es in solchem Ausmaß gerade die Schuh- und Lederfirmen waren, die gegen Vorschriften und Anordnungen der Bewirtschaftungsstellen verstießen. Weiter befaßt sich dieses Kapitel mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen in der Schuh- und Lederindustrie. Der Anteil dieser Arbeitskräfte an der Gesamtbelegschaft der Betriebe zeigt den Grad der Mechanisierung der Firmen, der die Beschäftigung von Ungelernten ermöglichte, und verweist auf die Bedeutung beider Branchen für die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik. Soweit sich die konkrete Behandlung dieser Menschen in den Firmen anhand der dazu allerdings spärlichen Akten nachvollziehen läßt, gestattet dies Einblicke in die Humanität der »Betriebsführer oder in ihre Abstumpfung gegenüber dem Leiden derer, die nicht zur »Volksgemeinschaft« gehörten. Kapitel IV thematisiert die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Juden in diesen Industriezweigen. Nach einem allgemeinen Abriß über die antisemitischen Bestimmungen und Aktionen der Nationalsozialisten im Bereich der Wirtschaft werden weitgehend chronologisch die Folgen dieser Maßnahmen für die jüdischen Arbeitnehmer, Händler, Vertreter und Unternehmer in der Schuhund Lederindustrie betrachtet. Untersucht werden vor allem die Auswirkungen der Boykotte seit 1933, der Nürnberger Rassegesetze und der endgültigen Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft nach dem Novemberpogrom von 1938. Wie die antisemitischen Maßnahmen und Ausschreitungen individuell wahrgenommen wurden, läßt am eindringlichsten das Tagebuch des jüdischen Lederfabrikanten Max Hirsch erkennen. Den »Arisierungen« widmet sich Kapitel V. Dazu sind die Quellen in den Firmenarchiven und ebenso in den Spruchkammerakten sehr dürftig. Gleichwohl können einzelne »Arisierungen«, an denen württembergische und badische Unternehmer beteiligt waren, untersucht werden. So präzise wie möglich werden die Verkaufsverhandlungen, die zu einer »Arisierung« führten und die Kaufverträge dargestellt. Das persönliche Klima während der Verkaufsverhandlungen, der Verkaufsmodus und Verkaufspreis sind für die Beurteilung einer »Arisierung« von entscheidender Bedeutung. Wichtig ist dafür auch die Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Firmen vor und nach dem Verkauf. Verlief sie bei den »jüdischen« Firmen seit 1933 anders, schlechter als bei den »arischen«, läßt sich ein wirtschaftlicher Einbruch vor der »Arisierung« feststellen und entwickelten sich diese Firmen nach erfolgter »Arisierung« überdurchschnittlich gut? Diese Fragen müssen geklärt werden, um den Druck, dem die jüdischen Unternehmer ausgesetzt waren, nachzuzeichnen und sich ein Bild von der wirtschaftlichen Nutznießerschaft der »arischen« Käufer machen zu können.
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Einleitung
Im Kapitel VI »Dissens und Widerstand« werden keine »widerständigen« Handlungen von Schuh- und Lederunternehmern untersucht, die aus betrieblichen Differenzen mit den Nationalsozialisten herrührten, denn auf solche konnten sich fast alle in irgendeiner Phase zwischen 1933 und 1945 berufen. Vielmehr werden die Verhaltensweisen beleuchtet, die einen grundsätzlichen politischen oder humanitären Widerspruch von Unternehmern gegen die Politik der Nationalsozialisten erkennen lassen. Dies kann nur annäherungsweise geschehen, weil die meisten Quellen den Spruchkammerverhandlungen entstammen, in denen sich die Unternehmer in einer Verteidigungsposition befanden und reichlich mit sogenannten »Persilscheinen« ausgerüstet waren. Da jedoch auch einige Quellen aus der Zeit des Nationalsozialismus vorliegen, soll der Versuch einer solchen Annäherung gewagt werden. In einem Fall erlauben die Quellen, die »Widerstandskarriere« eines Parteigenossen aufzuhellen: vom unangepaßten Unternehmer zum Widerstand gegen die Ermordung von Juden in Litauen. Nach 1945 mußten sich die Unternehmer Spruchkammerverfahren unterziehen, die in Kapitel VII untersucht werden. Obwohl auch die Personengruppe der Unternehmer die »Mitläuferfabrik«2® der Entnazifizierung durchlief, ist dennoch von Interesse, im einzelnen zu prüfen, inwieweit es den Spruchkammern gelang, das unterschiedliche Verhalten der einzelnen plausibel zu bewerten und die Vielschichtigkeit einer Person und ihrer Verstrickung in die NSPolitik zu erkennen. Letzteres erwies sich gerade für die Unternehmer als ein besonders brisantes Problem, da sie sich zumeist persönlich vom NS-Parteiapparat femgehalten hatten, in Planungsgremien dagegen vertreten gewesen waren und am Nationalsozialismus verdient hatten. Die Hauptquellen für diese Studie stammen aus Firmenakten. Sie lagern entweder in firmen- oder gewerkschaftseigenen Archiven, sind im Wirtschaftsarchiv in Hohenheim gesammelt oder befinden sich in Privatbesitz. Als aussagekräftig erwiesen sich auch die Bestände der Reichsstellen, Wirtschaftsgruppen, der Gemeinschaft Schuhe und des Reichswirtschaftsgerichts in den Bundesarchiven Koblenz und Potsdam. Ferner wurden die relevanten Akten des Reichswirtschaftsministeriums, des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion, des Ministeriums für feindliche Vermögen, der Reichsbank, der Deutschen Bank und des Statistischen Reichsamts, die ebenfalls hier lagern, herangezogen. Als gleichermaßen wichtig erwiesen sich die Spruchkammerakten über die Verfahren der einzelnen Unternehmer, die sich im Staatsarchiv Ludwigsburg und im Generallandesarchiv Karlsruhe befinden. Ebenso war die Einsicht in Akten der Landeswirtschafts-, Landrats- und Oberämter sowie der Kreisleitungen geboten. Diese Bestände liegen in den Staatsarchiven Ludwigsburg und Sigmaringen. Kleinere, zumeist unverzeichnete, jedoch für diese Arbeit wichtige Bestände lagern in den Stadtarchiven Backnang, Burg und Reutlingen, im Wirtschaftsarchiv Hohenheim sowie im Archiv des Hauptvorstands der Gewerkschaft Leder in Stuttgart. 29
Lutz Niethammer: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin/Bonn 1982.
I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie 1. Die deutsche Schuh- und Lederindustrie bis 1933 1.1. Vom Handwerk zum Industriebetrieb: Die Lederindustrie im Zeichen der Industrialisierung Die Lederindustrie in Deutschland hat eine lange Tradition. Vor allem in den wald- und wasserreichen Gebieten des Harzes, des Thüringer und Schwäbischen Waldes oder am Rhein werden in Aufzeichnungen der frühen Neuzeit Gerber genannt.1 Wo die Grundstoffe für die Lederproduktion - Wasser und ausgedehnte Schälwälder - vorhanden waren, bildete sich eine Vielzahl von kleinen Gerbereibetrieben. So arbeiteten zum Beispiel in der »süddeutschen Gerberstadt« Backnang um 1860 über 100 selbständige Gerbermeister mit ebensovielen Lehrlingen und 450 Gehilfen.2 In Reutlingen, einem weiteren Zentrum der süddeutschen Lederindustrie, gab es um 1848 ebenfalls über 100 selbständige Gerbermeister.3 Die Lederindustrie Badens und Württembergs hatte sich schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem im Welthandel fest verankerten Faktor entwikkelt. Seit 1830 importierten württembergische Lederfirmen Häute aus Rußland,4 um 1850 wurden Gerbstoffe aus dem europäischen Ausland nach Deutschland eingeführt, ab 1865 dann auch aus Übersee.5 Auch der Export von gegerbtem Leder - der damaligen Mode entsprechend vor allem sogenanntes Lackleder - war um 1850 schon weit vorangeschritten.6 Der zunehmende Außenhandel führte zu einer verstärkten Mobilität der Lederfabrikanten: sie be' Vgl. Backnanger Stadtchronik, hrsg. v. Helmut Bomm u.a., Backnang 1991, S. 53, Eckhard Wandel: Die Industrialisierung Reutlingens im 19. Jahrhundert, dargestellt an den Griinderfamilien, in: Reutlinger Geschichtsblätter seit 1890, 22 (1983), S. 93-112, und StaR, Sammlung Dr. Keim. Dazu auch Otto Häfner: Die Lederindustrie, in: Die Wirtschaftswoche 17 (1938), S. 23-37, S. 24f. 2 Beschreibung des Oberamtes Backnang, hrsg. v. königlichen statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart 1871, S. 84, Peter Rheinländer: Der Kreis Backnang, Stuttgart 1969, S. 6, und »Erst die Arbeit...«. Die Geschichtswerkstatt Backnang über Leben und Arbeit und den industriellen Strukturwandel am Beispiel einer Region, Backnang 1987, Bd. 1 S. 9. 3 Reutlingen, hrsg. v. Schultheißenamt Reutlingen, Berlin Halensee 1929, S. 42ff. 4 Otto Meyer: Die Entwicklung der württembergischen Lederindustrie, Diss., Tübingen 1928, S. 47. 5 Fritz Stather: Gerbereichemie und Gerbereitechnologie, Berlin 1951, S. 3. 6 Die Weinheimer Firma Freudenberg exportierte um 1850 Lackleder nach Großbritannien, in die britischen Kolonien, nach USA, in die Schweiz, nach Frankreich, Skandinavien, Rußland, Polen, Rumänien, Holland, Belgien u.a. (vgl. Hermann Pinnow: 100 Jahre Carl Freudenberg 1849-1949, Frankfurt/M. 1949, S. 32.)
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reisten die Welt. Um die Rohware vor Ort zu begutachten, reiste zum Beispiel der Backnanger Lederfabrikant Fritz Schweizer um die Jahrhundertwende nach Rußland und China.7 Die badische Lederfirma Freudenberg schickte einen ihrer Teilhaber in die USA, 8 um dort neue Produktionsmethoden kennenzulernen. Die Tradition der Auslandsaufenthalte behielt auch bei den Lederunternehmern unseres Jahrhunderts große Bedeutung.9 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts war im Bereich der Gerbereitechnik begonnen worden, die Herstellung von Leder mit wissenschaftlichen Methoden zu verbessern. Dies war die Geburtsstunde der Gerbereiwissenschaft.10 Gerbstoffhaltigere überseeische Gerbmaterialien wie Quebracho, Valonea, Mimosa oder Dividivi" ersetzten zunehmend die traditionellen einheimischen Eichen- und Kastanienrinden.12 Die Lederindustrie wurde bei den Gerbstoffen weiter importabhängig. Dadurch veränderten sich die Standortfaktoren für die Lederindustrie, so daß sich neue Zentren in Deutschland entwickelten. Die Existenz ausgedehnter Schälwälder wurde überflüssig; Bedeutung erlangten dagegen die großen Wasserstraßen als Transportwege für die einfuhrabhängige Lederindustrie. Folgerichtig entstanden an der Elbe und an der Küste Schleswig-Holsteins große und moderne Lederfabriken. Noch einschneidendere Neuerungen als bei der pflanzlichen Gerbung gab es im 19. Jahrhundert bei der Mineralgerbung. Im Jahre 1858 erfand Friedrich Knapp die Chromgerbung,13 die sich zuerst in 7
1 0 0 Jahre Louis Schweizer Lederfabrik Murrhardt/Backnang 1867-1967. Zweiter Text und Gliederungsvorschlag zur Jubiläumsschrift, Darmstadt 1966, S. 6, WABW Y 120. ' D e r Sohn des Firmengründers, Hermann Emst Freudenberg, lebte um 1880 jahrelang in USA. (Vgl. Pinnow, Freudenberg, S. 33ff.) 9 So hielten sich die Teilhaber der Firma Freudenberg aus der nächsten Generation ebenfalls lange Zeit im Ausland auf. Walter Freudenberg reiste zu Studienzwecken in die USA, nach Kanada und Frankreich, Hermann Freudenberg jun. nach Großbritannien, Italien, Griechenland, Ägypten, die Schweiz und die Türkei, (ebd., S. 94ff.) Richard Schweizer verbrachte die Jahre 1927 bis 1929 in Belgien, Großbritannien und den USA (Fragebogen des Military Government of Germany v. 4.10.1945, WABW Y 120), sein Bruder Fritz bereiste 1928 Nordund Südamerika (Vgl. Stuttgarter Neues Tagblatt v. 21.5.1942). Otto Breuninger, Mitinhaber der Schorndorfer Firma Christ. Breuninger, lebte vor dem Ersten Weltkrieg viele Jahre in Frankreich, Großbritannien und den USA. (Vgl. StAL EL 50/49/7496.) 10 Vgl. Stather, Gerbereichemie, S. 3ff. 11 Bei diesen Gerbstoffen handelt es sich um Rinden, Hölzer oder Früchten von Bäumen oder Sträuchern, die sehr viel mehr Gerbsäure enthalten als einheimische Gerbstoffe, (ebd., S. 195ff.) Wurden zu Beginn dieser Entwicklung ganze Baumstämme aus Ubersee nach Europa verschifft, so entstanden bald Extraktionsfabriken vor Ort, z.B. in Argentinien. Zum Import von überseeischen Gerbstoffen in dieser frühen Phase vgl. Stefan Mayer: Die Rohstoffversorgung der deutschen Lederindustrie nach dem Kriege, Diss., Köln 1928, S. 87ff. 12 Die einheimische Eichenrinde hatte einen Gerbstoffgehalt von ca. 12%, Quebracho einen von 67%. (Vgl. Aufzeichnungen von Fritz Schweizer, Bestand Schweizer. Dieser Aktenbestand befindet sich im Privatbesitz der Familie Schweizer und ist nicht verzeichnet.) 13 Der deutsche Professor Friedrich Knapp setzte dies von ihm zuerst beschriebene Verfahren jedoch nicht in die Praxis um, weshalb der Amerikaner M. Dennis 1893 das Patent für die praktische Anwendung dieses neuen Gerbverfahrens erhielt. (Vgl. Stather, Gerbereichemie, S. 3f.) Die Chromgerbung verkürzte nicht nur die Gerbdauer erheblich, chromgegerbtes Leder war auch sehr viel geschmeidiger als das zuvor für Schuhe verwendete Wichsleder. Es war darüber hinaus leichter zu reinigen, so daß das tägliche Schuhewichsen fiir den Verbraucher wegfiel.
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den USA durchsetzte, um die Jahrhundertwende dann auch die deutschen Betriebe erreichte. Die Chromgerbung, die die Gerbzeit erheblich verkürzte, verdrängte die pflanzliche Gerbung der leichten Oberleder, vor allem der Schuhoberleder, zu Beginn dieses Jahrhunderts fast völlig. Lediglich starkes Oberleder, sogenanntes Fahlleder, und Unterleder, zum Beispiel für Sohlleder, wurden weiterhin auf pflanzlicher Grundlage gegerbt. Beim Unterleder wurde die zeitaufwendige Grubengerbung jedoch immer häufiger durch die schnellere Faßgerbung ersetzt.14 Die technischen Neuerungen und die zunehmende Verflechtung der deutschen Lederindustrie mit dem Weltmarkt änderten die Struktur der Branche um die Jahrhundertwende grundlegend.15 Die kleinen Handwerksbetriebe waren nicht in der Lage, die für die moderne Lederherstellung erforderlichen Maschinen zu kaufen. Sie verschwanden und wurden durch große industrialisierte Gerbereien ersetzt.16 Hinzu kam, daß der langandauernde Gerbprozeß viel Kapital band. Insofern stellte die kapitalstarke amerikanische Lederindustrie eine bedeutende Konkurrenz für die deutschen Betriebe dar.17 In den Jahren 1898/99 mußten viele Gerbereien in Deutschland Konkurs anmelden. Ihre Anzahl reduzierte sich von über 10.000 im Jahr 1880 auf 2700 im Jahr 1925. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich jedoch die Zahl der in der Lederindustrie Beschäftigten. Hatte eine Gerberei um 1880 durchschnittlich vier Personen beschäftigt, waren es im Jahre 1925 bereits 23.18 Lediglich in Mittel- und Ostdeutschland konnten die handwerklich geprägten Gerbereien überleben, da hier günstige Standortfaktoren für große Gerbereien fehlten.19 Die jungen Betriebe in den neuen Zentren im Norden und Nordosten Deutschlands waren dagegen in aller Regel stark mechanisiert. Diese erfolgreichen Lederfirmen übernahmen die moderne Chromgerbung für Oberleder, verwendeten stark gerbstoffhaltige ausländische 14
Vgl. ebd., S. 250f. Für die Herstellung von qualitativ hochwertigem Oberleder war die Schnellgerbung im Faß jedoch »umstritten, weil [...] die Qualität des erhaltenen Leders angezweifelt wird.« (ebd.) 15 Vgl. Willy A. Boelcke: Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs von den Römern bis heute, Stuttgart 1987, S. 281, Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 44 und Dieter Schuster: 1872-1972 »Schritt für Schritt«. Ein Jahrhundert Leder-Gewerkschaften, Stuttgart O.J., S. 87. 16 1925 arbeiteten 74% aller Beschäftigten der Lederindustrie in Betrieben mit über 50 Mitarbeitern. 26% von ihnen waren in Firmen mit über 200 Arbeitern tätig. (Vgl. Die Deutsche Lederindustrie. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für allgemeine Wirtschaftsstruktur, hrsg. v. Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Bd. 1, Berlin 1930, S. 4 und Harald Leisner: Deutschlands Lederproduktion und Versorgung mit Rohstoffen der Lederindustrie, Diss., Köln 1936, S. 21 f.) 17 Die USA hatten sich nach der Verbreitung der Chromgerbung zur führenden lederherstellenden Nation entwickelt und spielten auch in der Gerbereitechnik in Zukunft eine führende Rolle. Die deutsche Lederindustrie nahm auf dem Weltmarkt die zweite Position ein. (Vgl. Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 17.) 18 Deutsche Lederindustrie, S. 3f„ Häfner, Lederindustrie, S. 25 und Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 88. "Hans Hoffmann: Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, Diss., Leipzig 1938, S. 25.
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Gerbmaterialien für Unterleder, importierten Häute aus Übersee und betrieben eigene Versuchslaboratorien.20 Unternehmen, die die Krise zu Beginn dieses Jahrhunderts durch Modernisierung ihrer Produktion und Organisation gemeistert hatten, entwickelten sich bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges hervorragend.21 Nie zuvor wurden so viele repräsentative Fabrikneubauten erstellt wie in dieser Zeit, nie zuvor so viel Leder produziert. 1910 erzeugten deutsche Gerbereien 150.000 t Leder, eine Menge, die erst 1927 wieder erreicht wurde. Auch die Höhe des Lederexports der Vorkriegsjahre konnte lediglich 1926 erzielt werden.22 Um 1930 galt für die deutsche Lederindustrie allgemein, daß »praktisch [...] die gesamte Erzeugung in industriellen Betrieben vor sich geht, das alte Gerberhandwerk wird nur noch in vereinzelten Fällen auf dem platten Land betrieben.«23 Zu den erfolgreichen Betrieben zählten zu Beginn dieses Jahrhunderts zahlreiche Lederfirmen im Südwesten Deutschlands, die sich trotz schwieriger Transportbedingungen gut entwickelt hatten. Die Strukturkrise in der Lederindustrie bedeutete zwar auch hier für viele kleine Lederfirmen den Bankrott, doch die Lederindustrie in Südwestdeutschland insgesamt profitierte von dieser Entwicklung. Kleine unrentable Lederfirmen wurden von modernen konkurrenzfähigen Betrieben abgelöst. Diese großen Betriebe konnten im Gegensatz zu den neuen Firmen im Norden Deutschlands auf eine geschulte Arbeiterschaft zurückgreifen.24 Obwohl um die Jahrhundertwende auch in Südwestdeutschland die Zahl der lederproduzierenden Firmen rapide abnahm, erhöhte sich die Anzahl der in der Lederindustrie Beschäftigten.25 In den Gerbereien Württembergs und vor allem Badens arbeiteten pro Betrieb weit mehr Menschen als im Reichsdurchschnitt.26 Der Lederindustrie in Südwestdeutschland 20
1910 wurde 12,4% allen Leders chromgegerbt. 1913 wurden Häute im Wert von 538 Mill. RM, das entsprach 5% des Gesamtimports Deutschlands, und 318.951 t Gerbstoff im Wert von 46.510 Mill. RM eingeführt. Eine solche Menge wurde im weiteren Untersuchungszeitraum nie mehr erreicht. (Vgl. ebd., S. 13, 73, 77 und 108.) 21 Eine große Rolle spielte hierbei auch der steigende Militärbedarf in vielen Staaten Europas. (Vgl. Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 194.) 22 Deutsche Lederindustrie, S. 4f. und 36. 23 ebd., S. 4. 24 Eine gutausgebildete Facharbeiterschaft war für die Lederindustrie ein nicht zu unterschätzender Standortfaktor. Zur Bedeutung der Facharbeiter für die Lederindustrie vgl. Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 17 und Deutsche Lederindustrie, S. 12. 25 Beispielhaft dafür ist die Entwicklung in Backnang. Gab es im 19. Jahrhundert über 100 selbständige Gerbermeister mit 550 Beschäftigten (s.o.), so zählt die Statistik 1925 lediglich 21 große Gerbereien mit fast 1200 Mitarbeitern. Noch frappierender waren die Verhältnisse in Reutlingen. Arbeiteten 1848 noch über 100 selbständige Gerbermeister, so existierten um 1925 noch 6 Gerbereien mit 300 Arbeitern. (Vgl. Betriebsstatistik über die Loh- und Chromgerberei, Weißgerberei, Sämischgerberei und Lederfärberei, hrsg. v. Deutschen Lederarbeiter-Verband, Berlin 1925, S. 18, und Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 72.) 26 In Württemberg beschäftigte eine Loh- bzw. Chromgerberei 1925 durchschnittlich 50 Personen, in Baden über 250. (Vgl. Betriebsstatistik, S. 20, und Thomas Schnabel: »Warum geht es den Schwaben besser?« Württemberg in der Weltwirtschaftskrise 1928-1933, in: ders. (Hrsg.): Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928-1933, Stuttgart 1982, S. 184-218, S. 212.)
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gelang es also, ihre Bedeutung noch auszubauen.27 Hier wurde mit großem Abstand das meiste Leder hergestellt - 1930 etwa 60% der Gesamtlederproduktion Deutschlands,28 hier entwickelten sich die technisch modernsten Lederfirmen,29 hier herrschten die Firmen vor, die am produktivsten arbeiteten, nämlich die mit über 50 Mitarbeitern.30 Der Erste Weltkrieg unterbrach die Entwicklung der Lederindustrie zu einer industrialisierten, im Weltmarkt verankerten Branche. Mit Kriegsbeginn setzte eine staatliche Reglementierung der Wirtschaft ein, die auch für die Lederbetriebe bedeutende Änderungen nach sich zog. Die Produktion wurde fast völlig auf die Herstellung von schwerem Leder in pflanzlicher Gerbung umgestellt, also auf die Produktion von Leder für Soldatenschuhwerk. »Umfangreiche Heereslieferungen in Lohgerbung gaben der Lederindustrie während der ersten Phase des Ersten Weltkriegs Auftrieb.«31 Dies hatte für die Firmen, die rasch auf Kriegsbedarf umstellen konnten, bedeutende Gewinne zur Folge.32 Andererseits schnitt der Krieg die deutsche Lederindustrie von ihren Rohstoffmärkten ab. Zwar griff man anstelle von überseeischen Gerbmaterialien auf die ineffektiven einheimischen zurück, diese konnten den Bedarf jedoch bei weitem nicht decken.33 Experimente mit Ersatzstoffen waren wenig erfolgreich.34 Daher mußten, obwohl angesichts des steigenden Heeresbedarfs gerade in der Loh- und Chromgerberei eine starke Nachfrage herrschte, Betriebe stillgelegt werden.35 Da Heeresaufträge absolute Priorität genossen, litt die Zivilbevölkerung unter Schuhmangel.36 Das Verbot von Lederexporten am 31. Juli 191437 unterbrach die Geschäftsbeziehungen zum Ausland. Im August 1914 wurde der »Uberwachungsausschuß der Lederindustrie« gegründet, der die Versorgung der Bevölkerung und des Heeres mit Häuten und Leder sicherzustellen hatte. Für die Betriebe bedeutete dies die Kontingentierung von Rohwaren und Gerbstoffen, Eingriffe in die Produktion und Zwangsstillegungen.38 Lederfabrikanten kritisierten, daß die Uberbürokratisierung der Wirtschaft der »Initiative des Unternehmers auch nicht das Geringste übrigließ« und daß die Produktions27
Vgl. Walter Otto: Erfolgreiche Bekämpfung der Rohstofflücke in der Lederindustrie, in: DVW 1940, Nr. 32, S. 995-999, S. 995. 28 Deutsche Lederindustrie, S. 9 und DLW 3/19 v. 1.10.1951. 29 Vgl. Betriebsstatistik, S. lOff. 30 1930 hatten in Württemberg 74%, in Baden 90% aller Lederfirmen diese Größe. (Deutsche Lederindustrie, S. 9f.) Zur Betriebsgrößenverteilung in der Lederindustrie vgl. Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 20f., und Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 25. 31 Boelcke, Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs, S. 403. "Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 111 und 194f. und Ernst Kaufmann: Die deutsche Lederwirtschaft nach dem Krieg, Diss., Frankfurt/M. 1921, S. 17f. 33 Vgl. Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 114. 34 Vgl. Kaufmann, Die deutsche Lederwirtschaft, S. 32. 33 Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 117. 36 Im Laufe des Krieges konnten nur etwa 25% der Friedensproduktion an Schuhleder für den Zivilbedarf hergestellt werden. (Vgl. ebd.) 37 Vgl. Kaufmann, Die deutsche Lederwirtschaft, S. 18. 38 Zu den Zwangsmaßnahmen vgl. ebd., S. 19ff.
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Vorschriften »bei einem so verschiedenartigen Rohstoff, wie es Haut ist, [...] auf jeden Fall ein sehr gewagter Eingriff« seien.39 Von »großen Mißständen«, »Überorganisation« und »lästigen Fesseln« war die Rede. Nach dem Krieg bemühten sich die Firmen, die »fast restlose Autarkie« der deutschen Lederwirtschaft zu überwinden und die abgebrochenen Geschäftskontakte wieder herzustellen. Nachdem die Zwangsbewirtschaftung im August 1919 aufgehoben worden war,40 verhalf die Inflation in Deutschland dem Lederexport zunächst zu einer Scheinblüte.41 Der Beschäftigungsgrad stieg von etwa 25% auf durchschnittlich 75% der Vorkriegszeit,42 wieder wurden große Gewinne erzielt. Dennoch entwickelten sich in der Lederindustrie wie auch in der Schuhindustrie bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts keine eigentlichen Großbetriebe. Zwar arbeiteten in den größten Firmen Heyl, Adler & Oppenheimer, Freudenberg, Salamander oder Tack viele Tausend Menschen, doch blieb diese Branche immer vorherrschend mittelständisch geprägt.43 Die meisten Mitarbeiter waren in Betrieben mit unter 500 Beschäftigten tätig; überhaupt existierten nur vier Großbetriebe mit über 1000 Arbeitnehmern. Selbst diese großen Lederund Schuhfirmen waren in den meisten Fällen Familienunternehmen. Sie wurden von Angehörigen der Familie geleitet und hatten, wenn es sich um Aktiengesellschaften handelte, fast das gesamte Aktienkapital in der Hand von Familienmitgliedern vereinigt.44 Der Grund dürfte in dem notwendigen Fachwissen und der unersetzlichen Erfahrung liegen, die der Umgang mit dem individuellen Rohstoff Haut erforderlich machte.45 Nicht nur die Häute verschiedener Tiergattungen unterscheiden sich, auch »scheinbar gleichartige Tierhäute sind nicht nur in ihrer äußeren Beschaffenheit [...] voneinander verschieden, sondern weisen trotz eines ähnlichen Aufbaues auch recht beträchtliche Unterschiede [...] auf.«46 Daher hatte eine Vielzahl der Lederfabrikanten - auch die von großen Firmen - den Gerberberuf erlernt.
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Vgl. Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 117ff. Folgende Zitate ebd. Vgl. dazu Kaufmann, Die deutsche Lederwirtschaft, S. 46ff. und Hanspeter Sturm: Die Geschichte der Salamander AG, Komwestheim 1958, S. 51. 41 Boelcke, Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs, S. 403. 42 Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 196. 43 Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 17 und Deutsche Lederindustrie, S. 4. 44 Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 18. 1925 waren von den 73 Lederfirmen in Deutschland mit über 200 Mitarbeitern die meisten Aktiengesellschaften (36), Offene Handelsgesellschaften (16), Gesellschaften mit beschränkter Haftung (9) oder Kommanditgesellschaften (7). Von den ca. 38.000 Beschäftigten dieser Betriebe mit über 200 Mitarbeitern arbeiteten 93% in Betrieben der genannten Rechtsformen, (ebd., S. 20f.) 45 ebd., S. 23. Zum besonderen Unternehmenstyp, den die Lederindustrie hervorbrachte vgl. Häfner, Lederindustrie, S. 25. Häfner nennt naturwissenschaftliches und betriebswirtschaftliches Können an erster Stelle neben der Fähigkeit, »kaltblütig« zu handeln. Diese Eigenschaften sollten angesichts der Biographien der hier vorgestellten Unternehmer um Weltoffenheit und daraus folgender Unempfindlichkeit gegenüber ideologischen Phrasen erweitert werden. 46 Stather, Gerbereichemie, S. 25f. 40
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Die Lederindustrie als sogenannte Sekundärindustrie war völlig vom Umfang der Schlachtungen, das heißt vom Heischverbrauch, abhängig. Daneben gaben für den Anfall von Häuten und deren Qualität Faktoren wie jahreszeitlich schwankender Fleischverbrauch, Futterversorgung, Viehkrankheiten, Konservierungs- oder Treibschäden den Ausschlag.47 Die Vielzahl der Tierarten und -rassen48 und der Hautprovenienzen49 brachte für die Lederindustrie eine starke Spezialisierung der einzelnen Firmen sowohl bei den Rohstoffen als auch beim herzustellenden Produkt mit sich.50 Diese starke Spezialisierung, ein wichtiges Strukturmerkmal der Lederindustrie, hatte zur Folge, daß eine Vielzahl von Fachgruppen existierte.51 Auf der anderen Seite hieß dies, daß es weniger direkte Konkurrenz gab, da die Firmen meist nicht genau dasselbe Produktionsprogramm hatten. Die Weltwirtschaftskrise bedeutete für die Lederindustrie einen tiefen Einschnitt. Nun machte sich bemerkbar, daß während des Krieges technische Neuerungen verpaßt, wichtige Kontakte nicht geknüpft worden waren, die Branche gleichsam unter einer Art Schutzglocke gelebt hatte. Die positive wirtschaftliche Entwicklung und die steigenden Gewinne im Gefolge der Inflationszeit hatten innerbetriebliche und produktionstechnische Mängel der Firmen nur überdeckt. Als die Firmen der scharfe Wind der Rezession traf, erwiesen sich nur wenige Betriebe mit weitsichtigen Unternehmern als krisenfest. Wegen stark steigender Rohhaut- und Gerbstoffpreise auf der einen, rapide fallenden Lederpreisen und zurückgehenden Exportmöglichkeiten auf der anderen Seite52 überschuldeten sich viele Firmen hoffnungslos und mußten schließen. Die Folge war ein starker Rückgang der Lederbetriebe und der Beschäftigten.53 Ab 1928 besserte sich die Lage auf dem Rohhäutemarkt für die Un47
ebd., S. 33ff. und 45ff. und Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 65. 48 Es wurden in Deutschland nicht nur Rinds- oder Roßhäute verarbeitet, sondern auch so Exotisches wie Antilopenfelle, Kamelhäute oder Känguruhfelle. (Vgl. Stather, Gerbereichemie, S. 53f.) 49 Man unterscheidet bei der am häufigsten verarbeiteten Haut des Rindes zwischen sieben Arten (z.B. Kalbfell, Kalbinnen-, Kuh-, Ochse-, Büffelhaut u.a.), die je nach Gewichtsklasse unterteilt sind. Weiter unterscheidet man nach Herkunft und Schlachtort des Tieres abermals in ca. 20 Qualitäts-Kategorien. So sind z.B. »Country-Häute« weniger gute Häute von nordamerikanischen Stallrindem ohne Brandzeichen, welche auf dem Lande geschlachtet und salzkonserviert wurden. »Mataderos« dagegen sind recht gute Häute von z.B. kolumbianischen Rindern mit Brandzeichen, welche auf der Weide lebten, in einem städtischen Schlachthaus geschlachtet wurden und deren Haut entweder salzkonserviert oder getrocknet ist. (Vgl. ebd., S. 46.) 50 Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 10 und Häfner, Lederindustrie, S. 23f. 51 So war 1930 die Lederindustrie im Zentralverein der Deutschen Industrie in elf Fachgruppen eingeteilt: moderne Unterleder, alte Unterleder, Riemen und technische Leder, Blank- und Sattlerleder, Vachetten, Kips, Roßleder, Chromrindleder, Kalbleder, Ziegenleder, Schaf-, Lamm-, Zickel- und Wildleder. (Vgl. Deutsche Lederindustrie, S. 6.) " S o halbierte sich z.B. der Preis für argentinisches Frig.Ox von - , 8 6 RM im Jahr 1930 auf - , 4 4 RM 1931. (Vgl. Gutachten über den Gesellschafter Richard Schweizer der Firma Louis Schweizer Lederfabriken Backnang und Murrhardt von Prof. Dr. Wilhelm Rieger, WABW Y 120.) 53 Die Zahl der Lederbetriebe sank zwischen 1925 und 1932 von 1323 auf 925. Die Zahl der
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terlederfabrikation, ab 1930 dann auch für die Oberlederfirmen, da die Häutepreise zurück gingen.54 Jedoch fielen die Preise für Leder, vor allem für Unterleder nicht im selben Maße, was für einige Unterlederfirmen nun wieder große Gewinne mit sich brachte. Dies galt ab 1930 gerade für die Backnanger Unterlederfirmen. Das Risiko der Unterlederfabrikanten, sich infolge der langen Gerbzeiten für Leder zu verspekulieren, blieb jedoch erhalten, da die Rohstoffpreise zwar zurückgingen, aber nach wie vor stark schwankten.55 So war auf dem Arbeits- und Beschäftigungsmarkt der Lederindustrie weiterhin keine Besserung festzustellen.56 Die Betriebsschließungen hielten an,57 vor allen betrafen sie kleine Betriebe58 mit zu dünner Kapitaldecke und Oberlederfirmen. Diagramm 1: Arbeitslosigkeit unter Lederarbeitern im Jahr 1933 in Prozent59
Die Lederfirmen Württembergs waren ebenfalls von Entlassungen und Betriebsschließungen betroffen, »wenn auch die Elendszahlen nicht so stark in Erscheinung treten wie in manchen anderen Gauen der Lederindustrie.«60 DraBeschäftigten wurde im selben Zeitraum von 46.378 auf 31.307 reduziert. (Vgl. Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 6.) 54 Vgl. Paul Kallai: Die wirtschaftliche Lage und Entwicklungstendenzen der deutschen Schuhindustrie unter besonderer Berücksichtigung der Bata-Schuhwerke, Diss., Genf 1936, S. 45f. 55 Vgl. ebd., S. 45. S6 1931 betrug die Arbeitslosigkeit in der Loh- und Chromgerberei, also in Ober- und Unterlederfirmen, 21%, die Kurzarbeit 41%. (Vgl. Jahrbuch des Deutschen Lederarbeiter-Verbandes 1931, hrsg. v. Verband deutscher Lederarbeiter, Berlin 1932, S. 7.) Zur Arbeitslosigkeit von Lederarbeitern vgl. Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 128 und Matthias Holl: Zur Geschichte des Deutschen Lederarbeiter-Verbandes in der Weimarer Republik, hrsg. v. Hauptvorstand der Gewerkschaft LEDER, Stuttgart 1991 (Magisterarbeit). 57 1931 waren in der gesamten Lederindustrie 2000 Insolvenzen zu verzeichnen. Davon waren 52 Gerbereien, 129 Schuhfabriken und eine große Anzahl Lederwarenfabriken betroffen. (Vgl. Jahrbuch des Deutschen Lederarbeiter-Verbandes 1931, S. 7.) 58 Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 6. 59 Zahlen aus Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 156. 60 Jahrbuch des Deutschen Lederarbeiter-Verbandes 1931, S. 102. Die Arbeitslosigkeit unter den Arbeitern der Loh- und Chromgerbereien Württembergs betrug Ende 1931 9,1% - im Jahresdurchschnitt waren es weit weniger - , die Kurzarbeiterzahl betrug 40,1%. (Vgl. ebd.)
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matischer als in Württemberg war die Situation in der Lederindustrie Badens.61 Dies hatte verschiedene Ursachen. Zum einen waren in Baden die Oberlederfirmen überrepräsentiert, zum anderen die Unterlederfirmen im Verhältnis zu den Württembergern recht klein. Während über die Jahre die Beschäftigungszahlen zurückgingen, verhielt sich dies bei der Lederproduktion etwas anders. Die Menge an produziertem Leder erreichte 1927 mit über 150.000 t den höchsten Stand und fiel bis 1932 auf 104.000 t. Der Wert des produzierten Leders dagegen stieg zunächst an. In den Jahren 1925 bis 1927 betrug der Wert des hergestellten Leders pro kg etwa 6 RM. Dieser Preis erhöhte sich 1928 und 1929 auf etwa 7 RM und fiel erst in den folgenden Jahren rapide ab. 1932 betrug der Wert für 1 kg Leder durchschnittlich noch 3,50 RM.62 Daraus ausschließlich eine Krise der Branche abzuleiten, wäre zu kurz gegriffen, vielmehr erklärt sich der Preisverfall zum Teil auch daraus, daß viele Firmen auf die Produktion von Billigleder umstiegen. 1.2. Die Bedeutung des Welthandels für die Lederindustrie Wie oben angedeutet, verarbeitete die deutsche Lederindustrie seit langem Häute aus dem Ausland mit Hilfe ausländischer Gerbstoffe. Bei Eichenrinden waren die Lederfirmen schon seit 1850 fast ausschließlich von Importen abhängig gewesen.63 Auch der Import von Häuten wurde immer wichtiger. Vor dem Ersten Weltkrieg waren zwei Drittel der verarbeiteten Häute Importe, in erster Linie aus Europa; etwa ein Drittel des in Deutschland produzierten Leders wurde exportiert.64 Der Erste Weltkrieg stellte das vorläufige Ende jeglichen Außenhandels der deutschen Lederindustrie dar. Nach dem Krieg gelang es den deutschen Lederuntemehmern nur unzureichend, die alten Beziehungen zum Ausland wieder zu knüpfen. Die Importquote der Vorkriegszeit wurde ebensowenig wieder erreicht wie die Exportquote.65 Um 1929 wurden jedoch wieder etwa 60% aller in Deutschland verarbeiteten Häute aus dem Ausland importiert, bei den Rindshäuten lag der Anteil sogar bei 70%.66 Dabei ist eine deutliche Verschiebung zugunsten von Wildhäuten zu beobachten, Zahmhäute wurden nicht mehr so zahlreich wie vor dem Krieg angeboten.67 Die Hauptimportländer für Rindshäute und Kalbfelle, wie sie für 61
In Baden waren 1931 durchschnittlich 7,8% der Lederarbeiter in Loh- und Chromgerbereien arbeitslos, 75,8% arbeiteten kurz. (Vgl. ebd., S. 115.) Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 7 und Rieger-Gutachten (Schweizer), WABW Y 120. 63 Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 23. "ebd., S. 41, Deutsche Lederindustrie, S. 49 und Kaufmann, Die deutsche Lederwirtschaft, S. 130. " D i e höchste Einfuhrquote bei Rindshäuten wurde 1927 mit 80,6% der Quote von 1913 erreicht. (Vgl. Deutsche Lederindustrie, S. 48 und Kaufmann, Die deutsche Lederwirtschaft, S. 130.) 66 Ernst Ammer in der Besprechung im Reichswirtschaftsministerium am 3.4.1935, BAP 31.07 Bü 15. Vgl. auch BAP 31.02 Bü 3024. 67 Unter Wildhäuten versteht man die Häute ehemals »wilder«, d.h. auf der Weide lebender 62
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
die Unterlederindustrie benötigt wurden, waren Argentinien, Brasilien und Indien. Europäische und nordamerikanische Häuteimporte machten bei Rindsund Kalbshäuten nur etwa ein Viertel aus.68 Die Experten waren sich im Jahre 1930 einig, daß »die Haut [...] aus Argentinien und Uruguay das beste Material [bildet], das der Unterlederindustrie überhaupt zur Verfügung steht.«69 Wegen der Preissteigerungen für Rohhäute bei gleichzeitigem Preisverfall für Leder während der Weltwirtschaftskrise waren die Unterlederfirmen nicht mehr in der Lage, das benötigte Rohmaterial in ausreichender Menge einzukaufen.70 So sank der Import von Rindshäuten und Kalbfellen von 324,5 Mill. RM im Jahr 1928, dem erfolgreichsten Jahr für die deutschen Lederbetriebe vor der Herrschaft des Nationalsozialismus, auf 74,4 Mill. RM im Jahr 1932. Diagramm 2: Import von Rohhäuten und Gesamtimport aller Waren bis 1932 in Prozent71
Die Abhängigkeit vom Import war bei den Gerbstoffen noch ausgeprägter als bei den Häuten. Während der Weimarer Republik nahm zwar der Anteil der synthetisch, das heißt im Inland chemisch produzierten Gerbstoffe stetig zu,72 Rinder. Solche Rinder gab es in großer Anzahl nur im außereuropäischen Ausland, in Südamerika, Afrika und Asien. Zahmhäute sind dagegen die Häute von »zahmen« Tieren, von Stallrindern aus Deutschland, Europa oder Nordamerika. 68 Deutsche Lederindustrie, S. 51 und Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 100. "Deutsche Lederindustrie, S. 61. 70 Vgl. Statistisches Handbuch von Deutschland 1928-1944, hrsg. v. Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebiets, München 1949, S. 459ff. Zur größeren Abhängigkeit der Unterlederfirmen von der Weltwirtschaft infolge der längeren Gerbzeiten im Vergleich zur Oberlederindustrie vgl. Kaufmann, Die deutsche Lederwirtschaft, S. 149. 71 Zahlen aus Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 77, Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 48, Häfner, Lederindustrie, S. 33, Deutsche Lederindustrie, S. 6f. und 47, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1935, S. 202f. und Denkschrift der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 26.5.1933, BAP 25.01 Bü 6601. 72 Vgl. Deutsche Lederindustrie, S. 102.
Die deutsche Schuh- und Lederindustrie bis 1933
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diese konnten jedoch nur im Bereich der Oberlederproduktion die traditionelle Gerbung ersetzen. Unterleder wurde weiterhin ausschließlich mit pflanzlichen Gerbstoffen gegerbt.73 Bei der Versorgung mit diesen Gerbstoffen war die Lederindustrie daher fast völlig auf das Ausland angewiesen. Die Importe kamen im Jahr 1928 vor allem aus Argentinien, Südafrika, Italien und Indien.74 Argentinien führte den für die deutsche Lederindustrie wichtigsten Gerbstoff Quebracho nach Deutschland ein. Durchschnittlich nahm die deutsche Unterlederindustrie 25% der gesamten Welt-Quebrachoerzeugung auf.75 Die Preise für die ausländischen vegetabilischen Gerbstoffe stiegen ebenso wie die für Rohhäute während der Weimarer Republik stark an. Dafür war unter anderem eine Exportabgabe in den meisten tropischen Ausfuhrländern verantwortlich. Argentinien erhob zum Beispiel seit November 1923 auf Quebracho und Quebrachoextrakt einen Ausfuhrzoll in Höhe von 12% des Marktwertes.76 Deshalb erhöhte sich der Verbrauch der billigeren, wenn auch weniger effektiven einheimischen vegetabilischen Gerbstoffe. Der Anteil dieser Gerbstoffe am Gesamtgerbstoffverbrauch stieg von 1927 bis 1931 von 18% auf 30%.77 Die Situation auf dem Häute- und Gerbstoffmarkt beruhigte sich wegen der rückläufigen Preise ab 1930 wieder. So sank der Preis für Rindshäute aus Buenos Aires von 346 RM je dz im Jahr 1928 auf 80 RM im Jahr 1932. Dieselbe Entwicklung ist für inländische Häute zu beobachten; der Preis für deutsche Kalbfelle reduzierte sich im selben Zeitraum von 258 RM je dz auf 52 RM.78 Die Firmen der deutschen Unterlederindustrie konnten ihre dringend benötigten Rohstoffe wieder in ausreichender Menge einkaufen, die Rohstoffkrise schien überwunden. Der Import von Rohhäuten und Gerbstoffen stabilisierte sich ab 1930, wenn auch auf niedrigem Niveau. Die deutschen Oberlederfirmen arbeiteten im allgemeinen mit chemischen Gerbstoffen, die in Deutschland produziert wurden, waren insofern also vom Import unabhängig. Für die Herkunft der in der Oberlederindustrie verarbeiteten Häute galt ähnliches. Oberleder wurde aus Zahmhäuten hergestellt. Damit waren die Oberlederfirmen auch im Bereich des Häuteeinkaufs, im Gegensatz zu den Unterlederfirmen, von Importen verhältnismäßig autark. Auf der anderen Seite hatte jedoch der Export für Oberlederfirmen eine zentrale Bedeutung. Deutschland war lange Zeit der bedeutendste Lederexporteur, gerade im Bereich Oberleder. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden fast 75% des deutschen Oberleders exportiert, zwischen 1925 und 1927 mehr als die Hälfte, dagegen nur 3,5% des Unterleders. Ein Viertel des Gesamtlederexports der 73
Etwa 75% allen Oberleders wurde zu Beginn der dreißiger Jahre mittels chemischer Gerbstoffe produziert. Der Anteil der chemisch gegerbten Unterleder betrug zu der Zeit etwa 1%. Ahnliches galt für technische Leder, wie Treibriemenleder. (Vgl. Aufzeichnungen, WABW Y 11.)
74
Deutsche Lederindustrie, S. 102f. "Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 111. 76 Deutsche Lederindustrie, S. 122f. 77 Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 73. 78 Vgl. Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 465. Dazu auch Jahrbuch 1931, S. 7 und Gutachten der Reichsbank v. 13.3.1933, BAP 25.01 Bü 6610.
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
Welt wurde in Deutschland produziert.79 Als die Hauptabnehmerländer der deutschen Oberleder, Großbritannien und die USA, zu Beginn der dreißiger Jahre zum Schutz der heimischen Lederindustrie hohe Zollschranken errichteten, erlitten die deutschen Oberlederfirmen schwere Einbußen.80 Während sich die Situation der deutschen Unterlederfirmen in diesen Jahren wieder konsolidierte, begann die große Krise der Oberlederindustrie. Die Preise für ihre Produkte stiegen übermäßig stark an, so daß die deutschen Firmen für den Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig produzieren konnten und der Export von Oberleder rapide absank. Der Wert des deutschen Ausfuhrleders ging zwischen 1929 und 1932 von 270 Mill. RM auf 96 RM zurück. Diagramm 3: Lederexport bis 1932 in Mill. RM81
Weil es den deutschen Schuhfirmen wirtschaftlich ebenfalls sehr schlecht ging, konnte der heimische Markt kein zusätzliches Oberleder aufnehmen. So blieb vielen Firmen nur die Schließung. Manche suchten ihr Heil in der Umstellung ihrer Produktion auf Unterleder, wie zum Beispiel die Backnanger 79
Vgl. Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 52f. Der Anteil von Lederexporten am Gesamtexport Deutschlands betrug 1913 2,4%, 1925 2,2% und 1931 bzw. 1932 nur noch 1,8 bzw. 1,6%. (Vgl. Hoffmann, Das Roh Stoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 180, Häfner, Lederindustrie, S. 33, Deutsche Lederindustrie, S. 238ff., Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1935, S. 202f. Denkschrift der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 26.5.1933, BAP 25.01 Bü 6601 und Richard Fleudenberg auf der Sitzung der Wirtschaftgruppe Lederindustrie am 2.4.1935, BAP 31.07 Bü 12.) 80 Die Zollschranken für deutsches Oberleder betrugen 1932 in Großbritannien 15%, in den USA 30%. Insgesamt ging der deutsche Export nach Großbritannien nach der Einführung der Zollschranken um 60% zurück. Ahnlich hoch waren die Einbußen beim Export in die USA. (Vgl. Leisner, Deutschlands Ledeiproduktion, S. 55, NS-Kurier v. 18.1.1934 und Denkschrift der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 26.5.1933, BAP 25.01 Bü 6601.) 81 Zahlen aus Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 180, Häfner, Lederindustrie, S. 33f., Deutsche Lederindustrie, S. 238ff., Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1935, S. 202f. und Denkschrift der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 26.5.1933, BAP 25.01 Bü 6601.
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Firma Fritz Häuser,82 andere, wie die Weinheimer Firma Freudenberg, in der Herstellung von Kunststoffen. Dennoch mußte der Gauleiter des Deutschen Lederarbeiterverbandes für Baden im Jahr 1931 melden: »Von den 17 Betrieben der badischen Oberlederindustrie arbeitet [...] nur ein Betrieb voll, alle anderen arbeiten verkürzt, eine noch nie dagewesene Situation.«83 1.3. Von Krise zu Krise: Die Entwicklung der Schuhindustrie Die Schuhindustrie in Deutschland entstand zunächst bevorzugt an solchen Orten, an denen der Rohstoff Leder nicht fern war. Die Nähe von Gerbereien spielte für die Schuhindustrie des 20. Jahrhunderts jedoch keine Rolle mehr, da sie ihr Leder aus allen Teilen Deutschlands bezog.84 Die Schuhfirmen waren mit Abstand der wichtigste Abnehmer der Lederindustrie. 75% des in Deutschland produzierten Leders dienten der Schuhherstellung.85 Während die kleinen Schuhhandwerker das Leder von Lederhändlern bezogen, kauften die Betriebe der Industrie direkt bei den Gerbereien ein.86 Die großen Zentren der Schuhindustrie entstanden an jenen Orten, »an denen die Schuhfabrikation sich einmal angesiedelt hatte, [dort] agglomerierte sie sich stark.«87 Ein Grund dafür war der hohe Facharbeiterbedarf. Die Industrialisierung der Schuhindustrie begann in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die in erster Linie aus den USA kommenden neuen Maschinen setzten sich rasch in Deutschland durch.88 Firmen, die solche Maschinen aufstellten, verschafften sich einen deutlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber den handwerklich geprägten Betrieben. Diese wurden - wie auch bei den Gerbereien - ab dem Ende des letzten Jahrhunderts sukzessiv von Fabriken verdrängt. Betrug die Anzahl der Beschäftigten pro Betrieb 1905 im Reichsdurchschnitt etwa 3,8 Personen, waren es 1925 bereits 77, in Württemberg sogar 121.89 82
Vgl. BAP 31.18 Bü 151. Jahrbuch 1931, S. 115. 84 Die Deutsche Schuhindustrie. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für allgemeine Wirtschaftsstruktur, hrsg. v. Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Berlin 1930, S. 16. 85 ebd., S. 26, Häfner, Lederindustrie, S. 23 und Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 91f. 86 So kaufte die Firma Salamander direkt bei der Lederfirma Schweizer ihr Leder ein. (Vgl. Eidesstattliche Erklärung eines Einkäufers v. 27.1.1947, StAL EL 902/3 Bü 4/1/5607.) 87 Die Deutsche Schuhindustrie, S. 15. 88 ebd., S. 29. Zur Bedeutung der amerikanischen Maschinen in der Schuhproduktion vgl. Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 67ff. 1895 arbeiteten 365 Schuhfirmen mit 3252 PS, 1907 waren es bereits 1487 Betriebe mit insgesamt 13313 PS. (Vgl. Dieter Schuster: 1948-1989. Vierzig Jahre Gewerkschaft LEDER, Stuttgart 1989, S. 23.) Die für die Industrialisierung der Schuhindustrie wichtigsten Maschinen waren die Durchnähmaschinen, mit denen die Sohlen an den Schaft angenäht werden konnten, und die Zwickmaschine, die das lederverbrauchende Reißen des Schaftes verhinderte. (Vgl. Günther Siegel: Die Entwicklung der deutschen Schuhindustrie während der letzten zwei Jahrzehnte, Diss., Berlin 1927, S. l l f . Dazu auch Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 5.) Eine ausführliche Funktionsbeschreibung der neuen Maschinen liefert Hanspeter Sturm: Salamander, in: Tradition. Zeitschrift für Firmengeschichte und Untemehmerbiographie 12 (1967), S. 309-333, S. 315ff. 89 Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 58 und Die Deutsche Schuhindustrie, S. 14. 83
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Während des Ersten Weltkriegs entstand für die deutsche Schuhindustrie eine prekäre wirtschaftliche Situation.90 Da die Heeresverwaltung alles Leder beschlagnahmte, annullierten die Gerbereien die Lieferverträge mit den Schuhfabriken, denen somit keine Rohstoffe mehr zur Verfügung standen. Mehr als die Hälfte aller Schuhfirmen wurde daraufhin geschlossen.91 Die Verbleibenden waren zumeist mit Heeresaufträgen beschäftigt, so daß, wie dann auch während des Zweiten Weltkriegs, die Zivilbevölkerung unter starkem Schuhmangel litt. Nach dem Krieg befand sich die Schuhindustrie, von wenigen erfolgreichen Jahren abgesehen, in einer ständigen Krise.92 Dabei gelang der Branche die Umstellung auf die Friedensproduktion im Gegensatz zu anderen Industriezweigen zunächst problemlos. Technische Veränderungen waren hierzu kaum notwendig, und in der Bevölkerung herrschte nach dem Schuhmangel vergangener Jahre eine so starke Nachfrage, daß die Entwicklungsbedingungen der Schuhfirmen im Schutze der allgemeinen Zwangswirtschaft, die erst am 27. August 1919 aufgehoben wurde,93 anfangs recht positiv waren.94 So lag auch die Arbeitslosigkeit unter Schuharbeitern 1919 mit 5,3% weit unter dem Durchschnitt.95 Nach der Aufhebung der Zwangswirtschaft stiegen jedoch die Rohstoffpreise stark an, während die Produktion zurückging. Die Branche war überbesetzt, und die Kapitaldecke der Firmen erwies sich für die Modernisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen, die infolge des Stillstands während des Krieges notwendig geworden waren, oft als zu gering.96 Auch das erneute Schuhexportverbot aus dem Jahre 1920 - zu Beginn des Krieges war das erste Verbot ergangen - , machte sich äußerst negativ bemerkbar.97 Zahlreiche Firmen mußten schließen, die Arbeitslosigkeit stieg an. Nach einer kurzen Phase der Stabilität bis etwa 1922 verschärfte sich abermals die wirtschaftliche Situation vieler Schuhfirmen aufgrund der weiter enorm ansteigenden Rohstoffpreise.98 Bis zur Konsolidierung der Währung im Jahr 1923 hatten 40% aller Schuhfirmen Konkurs anmelden müssen.99 Das Auf und Ab in der Schuhindustrie be90
Dazu ausführlich Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 42ff. Von den 1913 1446 Schuhfabrikationsbetrieben wurden im Verlaufe des Krieges 881 geschlossen, von den ehemals über 100.000 Beschäftigten der Schuhindustrie arbeiteten 1918 lediglich noch 52.537, darunter viele Frauen und Kriegsgefangene. (Vgl. Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 110, Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 49 und Kaufmann, Die deutsche Lederwirtschaft, S. 31.) 92 Vgl. Die Deutsche Schuhindustrie, S. 109 und Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 125. 93 Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 51 und Kaufmann, Die deutsche Lederwirtschaft, S. 95. Ausführlich zur Zwangsbewirtschaftung des »Zwangssyndikats« vgl. Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 47ff. 94 Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 52. 95 Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 127. 96 Vgl. Jahrbuch 1931, S. 43. 97 Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 78f. 98 Die Preise für Leder verdoppelten sich z.T. innerhalb eines Monats. (Vgl. Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 127 und Schuh und Leder Nr. 22 v. 26.1.1929.) 99 Dadurch nahm auch die Arbeitslosigkeit der Schuharbeiter, die bis zum Oktober 1922 unter dem Reichsdurchschnitt gelegen hatte, dramatisch zu. Lediglich 55% aller Lederarbeiter arbeiteten im Oktober 1923 voll. (Vgl. Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 81 f.) 91
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stimmte auch die Situation der folgenden Jahre. Im Juni 1924 arbeiteten beispielsweise 75% aller organisierten Schuharbeiterinnen und -arbeiter kurz, im Dezember 1925 nur 17% voll. Die Krise erreichte Anfang 1926 zunächst ihren Höhepunkt. In der Schuhindustrie waren 40% aller Arbeitnehmer arbeitslos, soviel wie in keinem anderen Industriezweig in Deutschland. Von den über 1300 Schuhfirmen des Jahres 1925 blieben nach diesem Krisenjahr lediglich 600 übrig.100 Deutlich sind dabei jedoch regionale Unterschiede auszumachen. Diagramm 4: Vollbeschäftigte in der Schuh- und Lederindustrie bis 1932 in Prozent101
So stieg die Arbeitslosigkeit in den großen Schuhzentren Pirmasens und Weißenfels weitaus stärker als zum Beispiel in Kornwestheim.102 Nach einem allgemein relativ positiven Geschäftsgang im Jahr 1927 verschlechterte sich die Lage in den folgenden Jahren wieder drastisch. Verursacht wurde diese neuerliche Krise durch eine Sättigung des Marktes und das scharfe Anziehen der Lederpreise.103 Die »außerordentlich schlimme Lage der Schuhindustrie« wurde 1931 als »einfach trostlos« bezeichnet.104 In diesem Jahr waren abermals 40% l00
Vgl. ebd., S. 107, Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 127 und AGL, 4.3. Zahlen aus ebd. Kurzarbeiter sind anteilmäßig in Vollarbeiter umgerechnet. In Pirmasens sank die Zahl der Beschäftigten in der Schuhindustrie von Januar bis April 1926 um 10.000, das entsprach ca. 56%, in Weißenfels sank sie von Januar bis November 1926 um über 1430, das entsprach fast 80% des Personals. (Vgl. Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 108f., Adolf Mirkes: 1892-1992. Hundert Jahre Ledergewerkschaften, Kornwestheim 1992, S. 12.) 103 Vgl. Schuh und Leder Nr. 22 v. 26.1.1929 und Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 59. 104 Jahrbuch 1931, S. 43. Vgl. dazu die finanziell schwierige Situation der Schuhfirmen Haueisen und Cie. AG, W. Spiess GmbH oder der Vereinigten Schuhfabriken Bemeis-Wessels AG. (Dazu Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 82f„ Nachtrag zum Gutachten über die wirtschaftlichen Verhältnisse von Herrn Fabrikant Carl Kaess, im Hinblick auf das Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus von Prof. Dr. Wilhelm Rieger, StAL EL 902/3 Bü 4/1/7640 und Geschäftsbericht v. 16.4.1931, WABW Y 110 und Entwurf des Gutachtens über Herrn Fabrikant Carl Kaess, Backnang, von Prof. Dr. Wilhelm Rieger, Bestand Kaess.) 101
102
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aller Beschäftigten arbeitslos, in Berlin hatte sogar mehr als die Hälfte aller Mitglieder im Schuhmacherverband keinen Arbeitsplatz. Im Zuge dieser schweren Krise von 1927 bis 1931 reduzierte sich die Anzahl der Schuhfirmen abermals um fast 300 auf 869.105 Im Vergleich zur Lederindustrie, die ebenfalls über Beschäftigungsmangel klagte, gegenüber den übrigen Industriezweigen jedoch besser abschnitt,106 muß die Situation der Schuhindustrie als außerordentlich dramatisch bezeichnet werden. Durch die regional unterschiedliche Intensität der Rezession - Pirmasens war mit am härtesten betroffen107 - verschoben sich die Schwerpunkte der deutschen Schuhindustrie. In den traditionellen Zentren im Osten Deutschlands, in Frankfurt/Offenbach und vor allem in Erfurt nahm die Zahl der Betriebe stark ab, eine gegenteilige Entwicklung war im Südwesten Deutschlands zu beobachten. Tabelle 1: Anzahl der Beschäftigten in der Schuhindustrie nach den einzelnen Bezirken in Prozent108
Nürnberg Stuttgart Offenbach Köln Hamburg Berlin Dresden Erfurt Pirmasens
1914
1927
1928
1929
1930
1931
3,4 14,6 8,1 1,9
9,2 13,1 7,4 7,8 1,6 7,5 11,5 15,0 26,9
8,6 16,6 8,4 8,1 1,4 9,0 11,0 14,0 22,9
9,7 15,7 7,5 9,1 1,5 8,8 21,1 14,6 21,0
9,8 16,8 6,6 9,3 1,6 7,0 10,5 13,1 25,3
9,4 17,4 6,1 8,7 1,2 6,6 10,1 12,1 28,4
-
15,5 13,4 12,8 30,1
An diesen Zahlen wird deutlich, daß der Bezirk Stuttgart das traditionelle Zentrum Erfurt vom zweiten Platz hinter Pirmasens verdrängt hatte. Jedoch büßten auch hier zahlreiche Beschäftigte der Schuhindustrie ihren Arbeitsplatz ein,109 so zum Beispiel bei der Stuttgarter Schuhfirma W. Spiess GmbH. Die 105
Vgl. Jahrbuch 1931, S. 41f. Die Arbeitslosigkeit in der übrigen Industrie lag bis 1927 stets über der der Lederindustrie. Betrug die Anzahl der vollbeschäftigten Arbeiter 1925 in der Lederindustrie fast 93%, so waren dies in den übrigen Industrien 91%. Zwei Jahre später war das Verhältnis 91% in der Lederindustrie zu 90% in den übrigen Industrien. (Vgl. Deutsche Lederindustrie, S. 202 und Jahrbuch 1931, S. 42.) ""Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 127. Deutlich wird diese Entwicklung an der Zahl der Schuhfabriken in Pirmasens. Existierten 1920 hier noch etwa 1000 Schuhfabriken, waren es zwei Jahre später nur noch 600, weitere zwei Jahre danach noch 350. (Vgl. Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 91.) 108 Zahlen aus ebd., S. 13, Die Deutsche Schuhindustrie, S. 14 und Jahrbuch 1931, S. 62. 109 Die Anzahl der in der Schuhindustrie Beschäftigten im Bezirk Stuttgart sank von 1927 bis 1931 um 2500. In den 1927 noch ähnlich großen Zentren Erfurt und Dresden sank sie dagegen um 8500 bzw. um 6000. (Vgl. Jahrbuch 1931, S. 62.) 106
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Firma reduzierte infolge der rapide zurückgehenden Produktion von 1928 bis 1933 ihre Mitarbeiterzahl um fast 35%, von 340 auf 222."° Anders war die Situation bei der Firma Salamander in Kornwestheim, die die Anzahl ihrer Beschäftigten trotz der Krise erhöhen konnte.111 Die Rückgänge waren in der südwestdeutschen Schuhindustrie indes häufig »mehr eine Folge der Rationalisierung als des Mangels an Absatz für Schuhwaren. Einzelbetriebe haben sogar die Zahl der Arbeiter zu steigern vermocht.«112 Der Grund für die hohe Arbeitslosigkeit unter den Schuhfacharbeitern ist also nicht ausschließlich in der schlechten wirtschaftlichen Lage der Betriebe zu suchen. Vor allem große Betriebe wie Salamander oder Tack nützten die Krise zu umfangreichen Rationalisierungsmaßnahmen, um durch Produktivitätssteigerung auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben. Die Fließbandarbeit, die Mitte der zwanziger Jahre in deutschen Schuhfirmen eingefühlt worden war, ermöglichte beträchtliche Rationalisierungsgewinne.1'3 Während sich die Produktion von Lederschuhen in Deutschland von 1927 bis 1931 nur um etwa 10% verringerte, reduzierte sich die Zahl der vollbeschäftigten Lederarbeiter in diesem Zeitraum um zwei Drittel. Die Produktivität stieg also erheblich.114 Der Standortvorteil einer gutausgebildeten Facharbeiterschaft fiel im Zuge der Modernisierungsmaßnahmen zunehmend weg: Die Leistungsfähigkeit der Arbeiter hing nicht mehr von ihrer fachlichen Qualifikation ab. Daher sank der Anteil der Facharbeiter und die Betriebe stellten immer mehr ungelernte Arbeiter und vor allem Frauen zu Billiglöhnen ein.115 110
Rieger-Gutachten (Kaess 1), Bestand Kaess. '"Die Firma Salamander beschäftigte sogar 1100 Mitarbeiter mehr als 1927. 500 mußte die Firma ein Jahr später wieder entlassen. (Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 156ff.) Zur Firma Tack in Burg bei Magdeburg vgl. Geschichte der VEB »Roter Stern«, StaB Β 26e Nr. 106. 112 Jahrbuch 1931, S. 60. So stieg die Mitarbeiterzahl der Nürnberger Schuhfirma BemeisWessels von 1928 bis 1932 um 45% von 962 auf 1400 an. Dies ist insofern bemerkenswert, als im gleichen Zeitraum die Umsätze und die Produktionszahlen sanken. Der Grund war eine Verschiebung im Produktionsprogramm. Die Firma stellte als einzige größere Schuhfirma sowohl Haus- als auch Straßenschuhe her. 1928 umfaßten noch 78% der Gesamtproduktion die Herstellung von Hausschuhen, 1932 war dieser Anteil auf 50% gesunken. Die Produktion von Straßenschuhen erforderte jedoch eine größere Anzahl von Arbeitern als die von Hausschuhen. (Vgl. Rieger-Gutachten (Kaess 1), Bestand Kaess.) " 3 Die Deutsche Schuhindustrie, S. 43ff. ""Vgl. Jahrbuch 1931, S. 44, AGL, 1.3a, Holl, Geschichte des Lederarbeiter-Verbandes, S. 112, Die Deutsche Schuhindustrie, S. 64, Jahrbuch 1931, S. 45, Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 128, Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 31 und Hans-Erich Volkmann: Die NS-Wirtschaft in Vorbereitung des Krieges, in: Wilhelm Deist u.a. (Hrsg.): Ursachen und Voraussetzungen des Zweiten Weltkrieges, Frankfurt 1989, S. 211-435, S. 219. " 5 Vgl. Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 17, Die Deutsche Schuhindustrie, S. 74ff. und Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 148. Weibliche Schuhfacharbeiterinnen verdienten weit weniger als ihre männlichen Kollegen. (Vgl. dazu Reichs-Lohntarifverträge für die Schuhindustrie 1923-1932, AGL. 1.3a.) Der Frauenanteil an den Beschäftigten stieg bis 1931 auf 51,6% und überschritt damit erstmals den der Männer. (Vgl. Jahrbuch 1931, S. 63 und Die Deutsche Schuhindustrie, S. 3f.) Bei der Firma Tack arbeiteten bereits im Jahr 1927 über 50% Frauen (Vgl. StaB Β 26e Nr. 106.), bei Salamander war dieser Prozentsatz im Jahr 1932 erreicht. (Vgl. AGL. 4.2.)
38
I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde Kaufkraft, schränkten die finanziellen Möglichkeiten der deutschen Verbraucher ein. Daher galt in der Schuhbranche »der Unterkonsum auf dem Binnenmarkt [als] der hauptsächlichste und bedeutendste Faktor der schweren Krise.«"6 Der jährliche Schuhverbrauch pro Kopf der Bevölkerung betrug in Deutschland etwa 1 Paar, in England dagegen das Doppelte und in den USA sogar das Dreifache.117 Darüber hinaus änderte sich das Kaufverhalten der Verbraucher. Nicht mehr nur die Qualität der Ware stand im Vordergrund der Kaufentscheidung, sondern auch das modische Bedürfnis der Konsumenten. Diese kauften »anstelle eines hochwertigen Paares Schuhe deren mehrere in niedriger Preislage.«118 Vor allem Damenschuhe waren zunehmend ein Modeartikel geworden. So forderte zum Beispiel die Mode der kürzeren Röcke neue Schuhmodelle.119 Das zwang die Schuhfirmen zu erhöhter Flexibilität bei reduzierten Preisen. In der Folge entbrannte auf dem deutschen Schuhmarkt ein »Preiskrieg«; »wilde Konkurrenz«'20 ließ die Schuhpreise verhältnismäßig stark sinken. Lediglich leistungsfähige und kapitalstarke Firmen konnten bei diesem ruinösen Wettbewerb mithalten. »Nur ganz wenige Betriebe haben sich in dieser schweren Krise gut gehalten; am besten [...] die Firma Sigle & Co. (Salamander) in Kornwestheim und die Firma Tack & Co. in Burg bei Magdeburg [...], die ihre Betriebe in gleichem Umfang weiterführen konnten.«121 Als nicht unbedeutend für die wirtschaftliche Entwicklung der Schuhfirmen erwies sich der Grad ihrer Produktdifferenzierung, die in der Schuhindustrie regional unterschiedlich ausgeprägt war. Die Firmen in Berlin stellten vor allem Luxusschuhe her, jene in Pirmasens dagegen Stapelschuhwerk. In Süddeutschland fand keine so ausgeprägte Spezialisierung statt.122 Gerade die großen Schuhfirmen wie Salamander deckten das gesamte Produktionsspektrum ab, stellten also Schuhe in allen Preisklassen für Männer, Frauen und Kinder ebenso her wie Stiefel, Sandalen oder Pumps. Deshalb konnten sie im Gegensatz zu produktspezialisierten Firmen auf Marktänderungen flexibel reagieren. Von großem Vorteil erwies sich darüber hinaus ein funktionierendes Filialsystem. Die großen Schuhfirmen übernahmen selbst die Funktion des Han116
Jahrbuch 1931, S. 46. Vgl dazu Schuh und Leder Nr. 23 v. 27.1.1929 und Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 59. ll7 Vgl. Aussage von Josef Simon, Vorsitzender des Zentralverbandes der Schuhmacher, Nürnberg, in: Die Deutsche Schuhindustrie, S. 110, Jahrbuch 1931, S. 46f. und Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 50. Dazu auch Aussage von Richard Freudenberg, BAP Nürnberger Prozesse Fall XI, Nr. 622/Keppler, Dok. 89/41 und Miscellaneos Report No. 2. An Investigation of the Geman Leather Industry Appendix No. 46, S. 137, ALM. '"Die Deutsche Schuhindustrie, S. 109. Vgl. auch Jahrbuch 1931, S. 46. '"Zum zunehmenden Einfluß der Mode auf die Schuhproduktion vgl. Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 52ff. Jahrbuch 1931, S. 50. ebd., S. 41. Dazu auch Geschichte des VEB »Roter Stern«, StaB und Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 58. Bei der Firma Tack wurde jedoch im Krisenjahr 1928 auch kurzgearbeitet. (Vgl. Tageblatt für die Jerichowschen und benachbarten Kreise - Burgsclie Zeitung, Nr. 22 v. 26.1.1929.) l22 Vgl. Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 25. 120 121
Die deutsche Schuh- und Lederindustrie bis 1933
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dels und versuchten, die selbständigen Schuhhandelsfirmen zu verdrängen. Salamander beispielsweise unterhielt zu Beginn der dreißiger Jahre 124 Verkaufsfilialen, die nur eigene Fabrikate anboten. Die 143 Verkaufsfilialen der Firma Tack vertrieben dagegen auch Erzeugnisse anderer Schuhfirmen, zum Beispiel der tschechischen Firma Bata. Diese errichtete ab 1930 jedoch in Deutschland selbst Verkaufsfilialen; 1935 waren es rund 140.123 Die anderen Schuhfirmen erreichten keine solche Verbreitung.124 Insgesamt zeigte die neue Vertriebsstrategie der Schuhfabriken beachtliche Erfolge. 1930 erzielten ihre Filialen 15-20% des gesamten Schuhabsatzes in Deutschland.125 Die größere Attraktivität dieser Verkaufsstellen als »Schuhpaläste« trug zu diesem schnellen Erfolg ebenso bei wie die günstigeren Preise. Die Einbußen des Handels durch das Filialsystem waren daher bedeutend.126 Die Kornwestheimer Firma Salamander führte sowohl sogenannte Filialbetriebe als auch Alleinverkaufsfilialen, also selbständige Einzelhändler, die das Alleinverkaufsrecht übernahmen. Darüber hinaus verfügte Salamander noch über einen großen Vertriebsapparat im Ausland. Jene Firmen, die das kapitalintensive Filialsystem in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit erst einführten, unterschätzten häufig die erheblichen Investitionen und stießen damit an ihre finanziellen Grenzen. Das galt etwa für die Firma Haueisen & Cie., Bad-Cannstatt, die durch den zu raschen Ausbau ihres Filialnetzes um 1930 in Zahlungsschwierigkeiten geriet und einen Teil der Firma verkaufen mußte.127 Der scharfe Verdrängungswettbewerb fand indes nicht nur zwischen Handel und Industrie, sondern auch zwischen Handwerk und Industrie statt. Die Handwerksbetriebe, die in der Schuhproduktion während der Weimarer Republik kaum mehr eine Rolle spielten, verloren nun auch beim orthopädischen Schuhwerk zunehmend an Boden. Immer mehr große Unternehmen spezialisierten sich auch auf die Herstellung von solchen Schuhen, so die Firma Leisner oder Salamander.128 Diese Entwicklung führte zu einem Konzentrationsprozeß, der die großen, kapitalstarken Firmen begünstigte. 1925 beschäftigte eine Schuhfirma im Reichsdurchschnitt 77 Mitarbeiter, 1927 bereits über 100.129 Obwohl die Schuhfirmen in der Regel größer waren als die Lederfirmen,130 blieben selbst 123
Vgl. Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 92ff. Zu diesen Firmen gehörte neben zwei weiteren auch Haueisen & Co (Mercedes). (Vgl. Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 36.) 125 Kallai, Wirtschaftliche Lage, S 94 und Die Deutsche Schuhindustrie, S. 136. 126 Vgl. Aussagen von Alex Haffner, Max Auerbach und verschiedener Schuhhändler, in: Die Deutsche Schuhindustrie, S. 141ff. Die aufwendige Ausstattung der Verkaufsgeschäfte diente zusätzlich als Werbung. Beim Filialsystem wurden Umsatzsteuer und Vertreterprovisionen gespart, und im Herstellungsprozeß der Schuhe ließen sich Kosten durch eine gleichmäßige und rationelle Produktion sparen. 127 Vgl. Jahrbuch 1931, S. 43, Die Deutsche Schuhindustrie, S. 51, Sturm, Geschichte der Firma Salamander, S. 82f. und Rieger-Gutachten (Kaess 2), StAL EL 902 Bü 4/1/7640. 128 Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 80ff. und Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 81. 129 Die Deutsche Schuhindustrie, S. 14, Jahrbuch 1931, S. 60 und Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 93. '"Während 77% aller Lederbetriebe unter 11 Personen beschäftigten, waren dies nur 31% aller 124
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
die ganz großen Betriebe Familienunternehmen. Sogar bei der größten deutschen Schuhfirma, der Salamander AG, wurden die Aktien nicht frei gehandelt, sondern waren bis 1938 im Familienbesitz.131 »Der individualistische Charakter der Schuhindustrie kommt auch darin zum Ausdruck, daß es zu nennenswerten Konzernbildungen nicht gekommen ist.«132 Insofern unterscheidet sich der Konzentrationsprozeß in der Schuhindustrie von dem anderer Branchen, wie der Chemischen Industrie oder der Schwerindustrie, bei denen Fusionen häufiger waren.133 1.4. Die Bedeutung des Schuhaußenhandels Die deutsche Schuhindustrie exportierte schon im 19. Jahrhundert ihre Produkte in alle Welt. Deutschland war zu dieser Zeit die bedeutendste Schuhexportnation, ein Drittel aller Schuhe wurde ausgeführt.134 Der Beginn des Ersten Weltkriegs schnitt die deutsche Schuhindustrie von ihren Auslandsmärkten ab, der Export wurde bereits am 31. Juli 1914 verboten.135 Nach dem Krieg erlangte der deutsche Schuhexport seine frühere Bedeutung nicht wieder.'36 Der deutschen Industrie gelang es nicht, am gestiegenen Weltverbrauch zu partizipieren, der Export stagnierte mengenmäßig. Von dem weltweit steigenden Exportaufkommen profitierte in erster Linie die neuentstandene tschechische Schuhindustrie und die Schweizer Konkurrenz.137 Verglichen mit 1913 verlor die deutsche Schuhindustrie absolut kaum an Gewicht, ihr Anteil am Gesamtweltexport ging jedoch stark zurück. Er lag nach dem Krieg bei nur etwa 3%.138 Nicht so sehr die Erhebung von Einfuhrzöllen in wichtigen Abnehmerländern Deutschlands139 spielte also zunächst die entscheidende Rolle für relativ zurückgehende Exporte, sondern die während des Krieges erstarkte ausländische Konkurrenz, die auf diesen Märkten trotz Zöllen wettbewerbsfähig blieb. Außerdem sank der Export in Länder, die bis 1929 keine Zölle auf Schuhwaren erhoben, zum Teil beträchtlich. So ging der Export nach Großbritannien von 1913 bis 1926 um 40% zurück, der Export in die USA sank von 1925 bis 1928 von 32 auf 3%.140 Schuhbetriebe. Dagegen arbeiteten in 35% aller Schuhbetriebe über 50 Beschäftigte, während es bei den Lederbetrieben nur 6,5% waren. (Vgl. Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 28 und Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 21.) 131 Salamander-Aktien wurden erst 1938 an der Börse gehandelt. (Vgl. BAP 31.18 Bü 861. Dazu auch Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 96 und Die Deutsche Schuhindustrie, S. 100.) 132 Die Deutsche Schuhindustrie, S. 100. I33 0b diese Tatsache mit dem »ausgesprochenen Selbständigkeitsgefühl« der Schuhfabrikanten zu tun hat, dürfte schwer zu klären sein. (Vgl. Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 96f.) '"Kaufmann, Die deutsche Lederwirtschaft, S. 130. 135 Vgl. Siegel, Entwicklung der deutschen Schuhindustrie, S. 40ff. 136 Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 66. '"Vgl. Diagramm G, in: Die Deutsche Schuhindustrie, S. 152, S. 158ff. und Tageblatt für die Jerichowschen und benachbarten Kreise - Burgsche Zeitung, Nr. 23 v. 27.1.1929. 138 Die Deutsche Schuhindustrie, S. 325. "'Einfuhrzölle wurden 1928 in Irland, Belgien, den Niederlanden, den skandinavischen Ländern und Frankreich erhoben. (Vgl. ebd., S. 237ff.)
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Die deutsche Schuh- und Lederindustrie bis 1933
Tabelle 2: Außenhandel mit Lederschuhen bis 1932 in 1000 Paar und 1000 RM141 Ausfuhr
1913 1925 1927 1928 1929 1930 1931 1932
Einfuhr
Überschuß
Gesamtdt. Außenhdl.
Paar
Wert
Paar
Wert
Paar
Wert
Wert
4217 3 575 2 300 2 061 2 795 3 915 4 245 1 300
28 30 24 25 30 39 32 9
1 194 1 340 3 000 4 257 2 177 847 669 200
10 606 14 721 30 500 41 100 21400 9 453 6 582 2 200
+3 023 +2 235 -700 - 2 196 +618 +3 068 +3 600 +1 100
+17 987 +15 633 - 6 500 -16 000 +8 900 +30 300 +26 100 +6 800
-673 000 - 3 072 000 - 3 427 000 - 2 021 000 +36 000 +1 642 000 +2 872 000 +1 073 000
593 354 000 100 000 726 667 100
Im Unterschied zum Export stieg die Einfuhr von Schuhen nach Deutschland bis 1928 stark an. Die größten Steigerungen gelangen dabei den tschechischen Schuhfirmen, die ihre Importe nach Deutschland zwischen 1927 und 1928 um 62% zu erhöhen vermochten. Die Tschechoslowakei, deren Anteil an Importschuhen in Deutschland 1928 73% ausmachte, wurde zum Hauptexporteur, gefolgt von der Schweiz und Großbritannien.142 Das Jahr 1928 verlief für die deutsche Schuhindustrie sehr ungünstig, vor allem wegen der immer stärker werdenden Konkurrenz des »tschechischen Schuhkönigs Bata«, der sehr preisgünstige Schuhe produzierte.143 Daher forderte und erhielt auch die deutsche Schuhindustrie hohe Zölle als Schutz gegen billige Importe. Auf tschechische Damenschuhe wurde seit 1929 ein Zoll von 21% auf den Wert des Schuhes erhoben, bei anderen Schuhen betrug der Satz zwischen 19,1 und 8,4%.144 Die Außenhandelsbilanz bei Schuhen erholte sich daraufhin in den folgenden Jahren wieder. Ab 1930 verschärfte sich die Situation der deutschen Schuhindustrie durch die Pfundabwertung und die Einführung von hohen Schutzzöllen unter anderem in Großbritannien und den USA abermals.145 Der deutsche Export von Schuhen 140
ebd., S. 234ff. ""Zahlen aus Jahrbuch 1931, S. 52ff„ Die Deutsche Schuhindustrie, S. 150ff., Tageblatt für die Jerichowschen und benachbarten Kreise - Burgsche Zeitung, Nr. 23 v. 27.1.1929, NS-Kurier v. 28.1.1933, S. 6 und Denkschrift der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 26.5.1933, BAP 25.01 Bü 6601. 142 Vgl. Schuh und Leder Nr. 23 v. 27.1.1929, Jahrbuch 1931, S. 55 und Die Deutsche Schuhindustrie, S. 161f. 143 Die Deutsche Schuhindustrie, S. 50. Zum Erfolgsrezept von Bata vgl. ebd., S. 169f. Sehr ausführlich dazu das Referat von I. Blasse, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Schuhindustrie, Berlin, in: Die Deutsche Schuhindustrie, S. 167ff. und Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 76ff. Zur Lage der tschechischen Schuhindustrie allgemein vgl. Die Deutsche Schuhindustrie, S. 162ff. 144 ebd., S. 311. 145 Die Schutzzölle dienten dem Schutz der eigenen Schuhindustrie, die unter der Weltwirt-
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
reduzierte sich bis 1932 um über 70%.146 Firmen, die ausschließlich vom Export lebten, überwanden diese Krise nicht. Die Firma ROMIKA beispielsweise exportierte 1931 fast 70% der Produktion, vor allem nach Großbritannien. Bis zu diesem Zeitpunkt machte die Firma gute Umsätze, baute die Fabrikation laufend aus und steigerte die Zahl ihrer Mitarbeiter von 1927 bis 1931 von 200 auf über 1000. 1932 verlor die Firma infolge der protektionistischen Wirtschaftspolitik vieler Länder über 60% ihres Exports, in den folgenden Jahren über 90%. Die Firma beschäftigte 1933 nur noch 200 Mitarbeiter und meldete, trotz zahlreicher Entlassungen und Kurzarbeit, am 16. Dezember 1935 Konkurs
schaftskrise ebenfalls litt. In den amerikanischen Schuhfirmen wurde 1930 beispielsweise nur 4 Tage pro Woche gearbeitet. (Vgl. BAP Nürnberger Prozesse Fall XI, Nr. 622/Keppler, Dok. 89/41 und Betriebsratsprotokoll v. 29.8.1930, FFA, Kladden II.) 146 NS-Kurier v. 28.1.1933, S. 6. '•"Walter Franke: Die Vor- und Frühgeschichte der »ROMIKA«. Zur Wirtschaftsgeschichte des Hundsrück- und Eifelgebietes, in: Tradition 6 (1961), S. 189-210.
Zentren der deutschen Schuh- und Lederindustrie
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2. Die Zentren der deutschen Schuh- und Lederindustrie Die Zentren der deutschen Schuh- und Lederindustrie lagen in Württemberg und Baden.148 Die württembergische Stadt Backnang hatte im Verlauf des letzten Jahrhunderts das bis dahin wichtigste Zentrum der Lederindustrie, Reutlingen, überflügelt und trug den Titel »Süddeutsche Gerberstadt«.149 25 große und kleine Gerbereien mit weit über 1000 Beschäftigten beherrschten ab der Jahrhundertwende das Bild Backnangs.150 Trotz beträchtlicher Größenunterschiede zwischen den einzelnen Betrieben sind einige Gemeinsamkeiten festzustellen. In erster Linie waren die Betriebe auf Unterleder und schweres Oberleder spezialisiert, teils chromgegerbt, teils vegetablilisch gegerbt, sowohl in Faß- als auch in Grubengerbung. Alle Firmen waren Familienuntemehmen, häufig wurden sie von Brüdern geleitet. Dies gilt zum Beispiel für die Firma Louis Schweizer, die Fritz und Richard Schweizer führten, oder für die Firma Gebr. Räuchle, die Max und Otto Räuchle leiteten. Auch in den Lederfirmen Jacob Ruoff und Gottlieb Häuser-Vogt hatten je zwei Brüder die Firmenleitung inné.151 Die Firma Schweizer war eine Generation zuvor zwischen zwei Brüdern in die Firmen Louis und Robert Schweizer geteilt worden, die Firma Carl Kaess aus den Firmen zweier Brüder, Carl und Robert Kaess, hervorgegangen. Eine »Backnanger Besonderheit« war, daß einige Unternehmer jeweils zwei Lederfirmen mit zum Teil demselben Produktionsprogramm besaßen. So bestand die Firma Schweizer aus zwei Betriebsteilen, einem in Backnang und einem in Murrhardt; Carl Kaess war Inhaber der Firmen Carl Kaess und der Backnanger Lederwerke. Da die Backnanger Gerbereigroßbetriebe, wie Schweizer oder Kaess, die Krise um die Jahrhundertwende gut überstanden hatten und in der Folgezeit zu einer wirtschaftlichen Blüte gelangten, verdienten nicht nur die Firmeninhaber reichlich, auch die Stadt Backnang entwickelte sich zu einer wohlhabenden Stadt.152 Völlig anders dagegen stellte sich die Situation der Lederarbeiter dar. 148
Vgl. dazu WABW A 7 Bü 91. DLW 4/23 v. 2.12.1951, Boelcke, Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs, S. 403, Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 54 und Jörg und Klaus Dieckhoff/Volker Roth: Lederwirtschaft im Wandel, Marburg/Lahn 1985, S. 48. 150 Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 72. 151 Bei Ruoff, Carl und Emil Ruoff, bei Häuser-Vogt, Eugen und Robert Vogt. (Vgl. BÄK R 123 Bü 141, 7. Sen. XL 177 (1935) und Bü 152, 7. Sen. XL 316 (1936.) 152 Der Rems-Murr-Kreis, hrsg. vom Landrat Horst Lässing, Stuttgart 1980, S. 260 und Backnanger Stadtchronik, S. 125ff. Wie recht häufig in solchen Chroniken ist die Zeit des Mittelalters und der frühen Neuzeit recht gut und ausführlich beschrieben. Für die neuere Zeit sind die Einträge dann chronologisch und nicht mehr, wie für die Zeit davor, thematisch geordnet. (Vgl. z.B. ebenso in der Chronik der Stadt Stuttgart: Kurt Leipnen Chronik der Stadt Stuttgart 1933-1945, Stuttgart 1982.) Außerdem werden die Beiträge, je mehr man sich der Zeit des Nationalsozialismus nähert, immer kürzer. Der Beitrag »Zweiter Weltkrieg« umfaßt lediglich vier Seiten, davon beansprucht die Zeit der Besetzung durch alliierte Truppen vom 19.-22. April 1945 mehr als eine Seite. Für das Jahr 1939 ist lediglich vermerkt: »3. September: Großbritannien und Frankreich erklären Deutschland den Krieg. 11601 Einwohner«. (Vgl. Backnanger Stadtchronik, S. 182.) 149
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
Sie arbeiteten nach wie vor zu sehr geringen Löhnen, unter miserablen Arbeitsbedingungen und über 10 Stunden täglich. Daher fanden regelmäßig Streiks der Lederarbeiter statt, die für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen kämpften.153 Die Revolution von 1918 ging auch an den Backnanger Lederarbeitern nicht spurlos vorüber, unter ihnen ist ein starker Linksruck und eine zunehmende Radikalisierung zu beobachten. Im Jahre 1920 riefen Backnanger Kommunisten die »Backnanger Sowjetrepublik« aus, die aber nach einer Woche wieder das Feld räumen mußte. Von Oktober bis Dezember 1923 fanden schwere T\imulte wegen hoher Lebensmittelpreise statt, die Reichswehr beendete den Aufruhr.154 Diese Radikalität in der einzigen nennenswerten Industriestadt im ländlich geprägten Oberamt155 zeigte sich auch bei den Reichstagswahlen. In Backnang schnitt die KPD im Vergleich zum Reichsdurchschnitt recht gut ab, die SPD blieb dagegen relativ schwach. Bürgerliche, liberale, nationalliberale Parteien und die NSDAP lagen mit ihren Ergebnissen in Backnang etwa im Reichsdurchschnitt.156 In der kleinen ländlichen Nachbargemeinde Backnangs, in Murrhardt,157 errichtete die Backnanger Firma Louis Schweizer 1915 ein Gerbstoffwerk. Murrhardt bot durch das reichliche Vorkommen von Wald, der Basis für pflanzliche Gerbstoffe, und dem sauberen Wasser der Murr dafür die idealen Voraussetzungen.158 1922 nahm Schweizer in Murrhardt auch die Lederproduktion auf und erbaute ein großes, repräsentatives Firmengebäude an der Murr. Die Stadt verfügte außer über einige kleine Werkstätten und einer kleinen Textilfirma, die 1923 schließen mußte, über keine andere Industrie, so daß die Firma Schweizer zum wichtigsten industriellen Arbeitgeber avancierte. Insgesamt blieb in Murrhardt jedoch die Landwirtschaft vorherrschend.159 Die Bevölkerung der Stadt der Handwerker, Landwirte und Gewerbetreibenden wählte zunächst eher gemäßigt. Kommunisten existierten hier praktisch nicht. Die Wähler gaben ihre Stimme der DDP, die in der Tradition des Paulskirchenabgeordneten und Murrhardter Bürgers Ferdinand Nägele stand.160 Als '"ebd., S. 125ff. und »Erst die Arbeit...«, Bd. 3, S. 5ff. ""Vgl. Backnanger Stadtchronik, S. 150ff. '"Die Anzahl der Einwohner Backnangs hatte im Jahr 1933 die 10.000-Marke überschritten. (Vgl. Württemberg in Wort und Zahl, hrsg. v. Württembergischen Statistischen Landesamt, Stuttgart 1937, S. 21.) l56 Vgl. Einst und jetzt. Heimatkundliche Blätter der Murrhardter Zeitung 2. Jg. Juni 1983, Nr. 6, S. 81. 157 Murrhardt hatte rd. 4500 Einwohner. (Vgl. ebd., S. 78.) 158 Von großem Vorteil war die Tatsache, daß Murrhardt, am Oberlauf der Murr gelegen, noch über völlig sauberes Wasser verfügte. Da die Gerbereien das Wasser stark verschmutzten, was wiederum die Lederherstellung am Unterlauf der Murr beeinträchtigte, gingen bei Schweizer zahlreiche Klagen über verschmutztes Wasser von Backnanger Betrieben ein. (Vgl. WABW Y 120.) '"Darüber hinaus verfügte die Stadt Murrhardt noch über einige Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich der Kureinrichtungen. (Vgl. Einst und jetzt, S. 78.) 160 Die DDP lag bei Wahlen in Murrhardt immer über dem Reichsdurchschnitt. (Vgl. ebd., S. 80.)
Zentren der deutschen Schuh- und Lederindustrie
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stärkste politische Kraft während der Weimarer Republik konsolidierte sich jedoch zunächst der Bauern- und Weingärtnerbund. Diese Partei war zwar nicht im Reichstag vertreten, gewann in Murrhardt bei der Reichstags wähl 1928 dennoch über 30% der Stimmen. Die NSDAP blieb in Murrhardt anfangs, wie in ganz Württemberg, deutlich unter dem Reichsdurchschnitt.161 Das änderte sich, als Nationalsozialisten 1930 einen Marsch durch das Oberamt Backnang veranstalteten und auf dem Murrhardter Marktplatz die Abschlußkundgebung abhielten. Hinzu kam, daß ein evangelischer Pfarrer die HJ-Jugendarbeit übernahm.162 Bei der Reichstagswahl im Juli 1932 gelang der NSDAP in Murrhardt ein Erdrutschsieg, die Partei erreichte 47,2% aller Wählerstimmen. Neben der NSDAP erzielten, außer SPD und DDP, fortan keine anderen Parteien mehr nennenswerte Ergebnisse.163 Ein weiteres Zentrum der Lederindustrie in Württemberg war Reutlingen.164 Hier nahm die Anzahl der Lederbetriebe bis 1914 jedoch noch stärker ab als in Backnang. Von der einstmals großen Ledermetropole waren sechs Betriebe, davon drei Großbetriebe Übriggeblieben.165 Weitere große Lederfirmen hatten ihren Sitz in Schorndorf,166 in Feuerbach167 und in Zuffenhausen168. Das Zentrum der Lederindustrie in Baden war Weinheim an der Bergstraße. Anders als in Backnang beherrschte in Weinheim ein Großbetrieb, die Firma 161
Bei der Reichstagswahl im Jahr 1930 erzielte die NSDAP in Murrhardt lediglich 6,6%. (Vgl. ebd.) Zur Entwicklung der NSDAP in Württemberg vgl. Thomas Schnabel: Die NSDAP in Württemberg 1928-1933. Die Schwäche einer regionalen Parteiorganisation, in: ders, Machtergreifung, S. 49-81, Eberhard Schanbacher: Das Wählervotum und die »Machtergreifung« im deutschen Südwesten, in: ebd. S. 295-317 und Thomas Schnabel: Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928-1945/46, Stuttgart u.a. 1986. l62 Vgl. Murrhardt unterm Hakenkreuz, hrsg. vom Arbeitskreis »Alltag im Nationalsozialismus«, O.O., o.J. 163 Bei der Reichstagswahl im November 1932 erzielte die NSDAP in Murrhardt 43,5%, am 5.3.1933 63,7%. Zu beobachten ist, daß die NSDAP noch bessere Ergebnisse als in der Stadt Murrhardt in den umliegenden Dörfchen erzielte; in Steinberg z.B. am 5.3.1933 77%. Diese Tendenz läßt sich fürs gesamte Oberamt Backnang zeigen. Je kleiner und ländlicher die Gemeinden waren, desto größer war der Erfolg für die NSDAP. Im kleinen Sulzbach wurde die NSDAP im Juli 1932 mit 60,2% aller Stimmen gewählt, im März 1933 gar mit 77,8%. (Vgl. Einst und jetzt, S. 80f. und Murrhardt unterm Hakenkreuz.) ' " Z u r Entwicklung der Reutlinger Lederindustrie vgl. Wandel, Die Industrialisierung Reutlingens. '"Meyer, Württembergische Lederindustrie, S. 72 und Wandel, Die Industrialisierung Reutlingens, S. 98. Diese Betriebe waren u.a. J.J. Schlayer, Knapps & Schwandner, Paul Bantlin und Ernst Ammer, dessen Inhaber Leiter der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie war. (Vgl. Gliederung der Reichsgruppe Industrie, hrsg. von der Geschäftsführung, Leipzig 1939, S. 123.) ' " D i e größte Gerberei in Schorndorf war die Firma Christian Breuninger mit 270 Mitarbeitern im Jahr 1937. Inhaber waren die Brüder Paul und Otto Breuninger. (Vgl. BÄK R 123 Bü 164, 5. Sen. XL 10-11 (1938), StAL EL Bü 50/49/5650 und Bü 50/49/7496.) Zur Geschichte der Firma Breuninger, ausgenommen die Jahre 1933-1945 vgl. Christ. Breuninger Lederfabrik Schorndorf 1843-1968, hrsg. v. der Firma Christ. Breuninger, Stuttgart 1968. 167 In Feuerbach arbeitete die große Lederfirma Roser. Ein Mitinhaber von Roser, Fritz Roser, war Leiter der Bezirksgruppe Südwest der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie. (Vgl. Gliederung der Reichsgruppe Industrie, S. 124.) '^Zuffenhausen ist ein Nachbarort von Feuerbach, hier war die Lederfirma Sihler ansässig.
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
Carl Freudenberg, das Bild. Während also in Backnang eine Agglomeration von Gerbereien stattfand, vollzog sich in Weinheim eine Konzentration. Die Firma Freudenberg war, nach den Beschäftigungszahlen, der einzige wirkliche Großbetrieb der Lederindustrie in Südwestdeutschland. Die zweite Weinheimer Lederfirma, die Roßledergerberei Sigmund Hirsch, fällt, obwohl in dieselbe Größenkategorie wie die Backnanger »Großbetriebe« einzuordnen, neben Freudenberg kaum ins Gewicht. Außer einer Nudelfirma existierten keine weiteren nennenswerte Industriebetriebe in Weinheim und der ländlichen Umgebung. Wie die Backnanger Firmen wurden auch die Weinheimer von Brüdern geleitet, so daß selbst die große Firma Freudenberg immer den Charakter eines Familienbetriebes trug. Die Betriebsleiter der Firma Hirsch waren bis 1938 das jüdische Brüderpaar Julius und Max Hirsch, die Firma Freudenberg leiteten der Größe entsprechend mehrere Angehörige der Familie: Brüder, Cousins und Söhne. Die Arbeiter der Firmen Freudenberg und Hirsch waren im Vergleich zu den Backnanger Lederarbeitern sehr betriebstreu.169 Das starke Betriebszugehörigkeitsgefühl und die hohe Generationenfolge sind durch die Weinheimer Industriestruktur zu erklären. Ein Weinheimer Lederarbeiter konnte nur zwischen Freudenberg und Hirsch wählen. Während die Backnanger Lederarbeiter in einer Krise den Betrieb verlassen und in einer anderen Lederfirma ihr Auskommen finden konnten, waren die Mitarbeiter von Freudenberg besonders abhängig vom Wohlergehen ihres »Monopolarbeitgebers«. Für die Firma Freudenberg hatte die Firmentreue den Vorteil, daß sie, wenn krisenbedingt Mitarbeiter entlassen worden waren, im Fall einer wirtschaftlichen Besserung wieder auf diese zurückgreifen konnte. Eine weitere Besonderheit der Weinheimer Lederarbeiter, vor allem bei Freudenberg, war die große Zahl der Pendler und Arbeiterbauern aus den umliegenden Dörfern der Rheinebene und des Odenwalds.170 Die Stadt Weinheim bot mehr Arbeitsplätze als sie Einwohner hatte.171 Dennoch bestand die Bevölkerung dieser ländlichen Industriegemeinde zu 50% aus Arbeitern.172 Weinheim ist also trotz seiner geringen Größe von etwa 16.000 Einwohnern im Jahr 1925173 als Arbeiterstadt zu bezeichnen. Untypisch für eine Arbeiterstadt ist indes die Tatsache, daß die Weinheimer Industriearbeiterschaft überwiegend aus Männern bestand.174 Dies ist darauf zurückzufüh169
Sibylla Schuster Lebensarbeitszeit bei Carl Freudenberg in Weinheim, ZUG Beiheft 75, S. 48-64, S. 58. 170 Fast die Hälfte aller Fabrikarbeiter in Weinheim stammte aus den umliegenden Dörfern. Von den Freudenbergarbeitern kamen 1928 lediglich 33% aus Weinheim selbst. (Vgl. ebd., S. 53, Konrad Dussel/Matthias Frese: Freizeit in Weinheim. Studie zur Geschichte der Freizeit, Weinheim 1989, S. 18 und Ingeborg Wiemann-Stöhr: Die Stadt Weinheim 1925-1933, Weinheim 1991, S. 58.) 171 Vgl. Wiemann-Stöhr, Weinheim, S. 11, Dussel/Frese, Freizeit in Weinheim, S. 12f. und Hans Schmitt: Die Industriegebiete des nördlichen Baden, Stuttgart 1933, S. 90. 172 Wiemann-Stöhr, Weinheim, S. 2 und Dussel/Frese, Freizeit in Weinheim, S. 17. Zum Vergleich: in Mannheim rechneten sich 45,3% der Bevölkerung zur Arbeiterschaft. 173 Die Stadt Weinheim hatte 1925 15.700 Einwohner, 1939 18.500. (Vgl. Wiemann-Stöhr, Weinheim, S. 11 und Dussel/Frese, Freizeit in Weinheim, S. 12f.) ,74 Nur 19,7% aller berufstätigen Frauen Weinheims waren Arbeiterinnen. Bei Freudenberg
Zentren der deutschen Schuh- und Lederindustrie
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ren, »daß der Hauptarbeitgeber, [...] die Firma Freudenberg, keine Frauen beschäftigte.«175 Richard Freudenberg war der Meinung, daß Frauenarbeit unmoralisch sei. Bei einem Streik im Jahre 1931 drohte er den männlichen Arbeitern aber, sie durch Frauen zu ersetzen. Auch in der Roßledergerberei Hirsch arbeiteten verhältnismäßig wenig Frauen, hier dienten sie jedoch tatsächlich als Streikbrecherinnen. Max Hirsch entließ anläßlich eines Streiks 1930 zahlreiche männliche Arbeiter und stellte dafür Frauen ein. Angesichts dieser Sozialstruktur verwundert es nicht, daß die politische Radikalität in Weinheim die der anderen hier vorgestellten Städte bei weitem überschritt. Die KPD war eine wichtige politische Kraft. Eine große Anzahl von kommunistischen Arbeitern sammelte sich im Betrieb Hirsch. Hier gewann die RGO viele Mitglieder, bei Freudenberg dagegen, wo anteilmäßig mehr Pendler, also Landbevölkerung, arbeiteten, stellten die christlichen und sozialdemokratischen Gewerkschaften die meisten Betriebsräte.176 Die andere Seite der politischen Extreme, nämlich die Nationalsozialisten, war in Weinheim ebenfalls - wie in Baden allgemein177 - sehr stark. Schon früh traten sie hier lautstark auf178 und gewannen bei den Wahlen viele Stimmen. Bereits 1926 zogen vier NSDAP-Abgeordnete in die Weinheimer Stadtverordnetenversammlung ein, 1930 stellte die NSDAP bereits die stärkste Fraktion im Rathaus.179 Auch bei den Landtagswahlen war die NSDAP seit 1925 in Weinheim überdurchschnittlich erfolgreich.180 Ob dies das Resultat einer spezifisch nationalsozialistischen Einstellung der Weinheimer Bevölkerung oder des politischen »Talents« des Weinheimers und späteren badischen Ministerpräsidenten Walter Köhler181 war, kann hier nicht geklärt werden. Bemerkenswert ist jedoch, daß in dieser politisch radikalen Stadt sich auch die Unternehmer im machte die Anzahl der beschäftigten Frauen an der Gesamtbelegschaft nur etwa 3 bis 4% aus, bei Hirsch um 7%. Insgesamt waren in Baden relativ wenig Frauen berufstätig. Ihr Anteil an der gesamten berufstätigen Bevölkerung betrug 1930 lediglich 3,3%, in Württemberg lag sie bei 12,6%. (Vgl. Wiemann-Stöhr, Weinheim, S. 179f. und Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 129.) 175 Dussel/Frese, Freizeit in Weinheim, S. 17f. 176 Der Großteil der 14 Betriebsräte bei Freudenberg gehörte dem ADGB an, bei Hirsch stellte die RGO bis 1930 vier der sieben Betriebsräte. (Vgl. Wiemann-Stöhr, Weinheim, S. 193.) 177 Zur Entwicklung der NSDAP in Baden vgl. Ernst Otto Bräuchle: Die NSDAP in Baden 1928-1933. Der Weg zur Macht, in: Schnabel, Machtergreifung, S. 15-48 und Hans-Willi Schondelmaier: Die NSDAP im badischen Landtag 1929-1933, in: ebd., S. 82-112. Zu den unterschiedlichen Wahlergebnissen der NSDAP im Vergleich zu Württemberg vgl. Jürgen W. Falter/Hartmut Bömermann: Die unterschiedlichen Wahlerfolge der NSDAP in Baden und Württemberg: Ergebnis differierender Sozialstruktur oder regionalspezifischer Faktoren, in: Dieter Obemdörfer/Karl Schmitt (Hrsg.): Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 283-298. " ' D i e Weinheimer NSDAP-Ortsgruppe wurde im Juni 1925 von Walter Köhler gegründet. (Vgl. Wiemann-Stöhr, Weinheim, S. 83.) 179 ebd., 51 und Dussel/Frese, Freizeit in Weinheim, S. 21. ,80 Bei den Landtagswahlen in den Jahren 1925 und 1929 erhielt die NSDAP in Baden 1,2 und 7%, dagegen errang sie in Weinheim 5,2 und 26,7%. (Vgl. Wiemann-Stöhr, Weinheim, S. 198.) 181 Zur Karriere Köhlers in der NSDAP auch schon in der Frühphase vgl. Bräuchle, Die NSDAP in Baden, S. 20.
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
Gegensatz zu ihren Kollegen in Backnang oder Kornwestheim in politischen Parteien engagierten. So saß Richard Freudenberg, der Inhaber der Firma Freudenberg, Mitbegründer der DDP in Baden, von 1919 bis 1924 im badischen Landtag, war von 1924 bis 1933 geschäftsftihrender Vorsitzender der DDP in Baden und ab 1949 als unabhängiger Abgeordneter im ersten deutschen Bundestag.182 Auch Max Hirsch war Mitglied der DDP und seit 1912 im Weinheimer Gemeinderat.183 Diesem Engagement ist es wohl zu verdanken, daß die DDP in Weinheim bei allen Wahlen, vor allem aber bei Landtagswahlen, sehr erfolgreich abschnitt.184 Richard Freudenberg und Max Hirsch waren ebenfalls Mitglieder im Reichsbanner, das sich in Weinheim »unbeugsam und unbedingt gegen die NSDAP [stellte], mehr als jede andere Organisation oder Partei.«185 Das zweitgrößte Zentrum der deutschen Schuhproduktion lag in Kornwestheim.186 Hier beschäftigte die Firma Salamander viele tausend Menschen und dominierte das gesamte Wirtschaftsleben dieser Kleinstadt.187 Wie eng die Stadt mit der Firma verbunden war, zeigt die Tatsache, daß das vierzigjährige Firmenjubiläum zusammen mit der Stadterhebung am 1. April 1931 gefeiert wurde.188 Neben Salamander stellten weitere kleinere Firmen Arbeitsplätze, so daß sich das Dorf Kornwestheim zu Beginn dieses Jahrhunderts zu einem der »bedeutendsten Industriearbeitsplätze des Landes«189 entwickelt hatte. So wurde l82
Vgl. Richard Freudenberg, 80 Jahre, hrsg. v. der Firma Carl Freudenberg, Weinheim o.J. und Stefan Wilderotter: Richard Freudenberg. Liberaler Politiker und unabhängiger Bundestagsabgeordneter, Weinheim 1992, (Magisterarbeit) S. 20ff. 183 Arthur Hirsch (Hrsg.): Lederwerke Sigmund Hirsch GmbH 1868-1938. Erinnerungen von Max Hirsch, Chevy Chase, Maryland 1991 (Original in Lissabon 1940), S. 99f. Diese Erinnerungen sind sehr erschütternd, da sie Max Hirsch 1940 in Lissabon, einer Zwischenstation auf seinem Emigrationsweg nach USA, unter dem noch frischen Eindruck der Zwangsvertreibung aus Deutschland und der Zwangsenteignung durch die Nazis aufgeschrieben hat. 184 Die DDP war in Weinheim immer stärker als im Durchschnitt Badens, der schon über dem Ergebnis des Reiches lag. Ein besonders gutes Ergebnis erzielte die DDP bei der Landtagswahl 1925, bei der Richard Freudenberg kandidierte, im Wahlbezirk Müllheimer Tal, in dem sich die Werkswohnsiedlung von Freudenberg befand. Daß die Freudenberg-Arbeiter in großem Umfang ihren Chef wählten, unterstreicht die oben angedeutete Identifizierung der Arbeiter mit ihrem Betrieb. Auch die anderen Liberalen und nationalliberalen Parteien schnitten in Weinheim gut ab, dagegen konnte das Zentrum im evangelischen Weinheim, anders als in Baden, nur sehr wenig Stimmen für sich verbuchen. (Vgl. Wiemann-Stöhr, Weinheim, S. 198.) 185 ebd., S. 90. 186 Im bedeutendsten Zentrum der deutschen Schuhproduktion, in Pirmasens, arbeiteten 1927 24.479 Personen in dieser Branche. An zweiter Stelle mit 7449 Beschäftigten kam schon Komwestheim, noch vor Erfurt und Frankfurt/Offenbach. (Vgl. Die deutsche Schuhindustrie, S. 15, Tab. 7.) 1,7 In Kornwestheim lebten 1925 8000 Einwohner, 1931 9800 und 1933 10.230. In den folgenden Jahren stieg die Einwohnerzahl kontinuierlich an und erreichte 1941 15.340. Die prosperierende Stadt wuchs u.a. auch durch Eingemeindungen im Jahr 1941. (Vgl. 1200 Jahre Komwestheim, hrsg. v. der Stadtverwaltung, Kornwestheim 1981, S. 272, Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 80 und Württemberg in Wort und Zahl, S. 21.) '""Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 80. 189 1200 Jahre Kornwestheim, S. 23. Von den ca. 2000 Einwohnern Kornwestheims Ende des 19. Jahrhunderts lebten 98% von der Landwirtschaft. Ab etwa 1890 bis 1950 war eine regelrechte »Bevölkerungsexplosion« im Zuge der zunehmenden Industrialisierung der Stadt
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auch die Beschäftigungsstruktur vom produzierenden Gewerbe geprägt, waren 1933 über 60% aller Erwerbstätigen in diesem Bereich tätig.190. Doch anders als in Weinheim arbeiteten in Komwestheim zahlreiche Frauen. Die Schuhproduktion bot viele »typische Frauenarbeitsplätze«, zum Beispiel den der Näherin oder Stepperin. Dies unterscheidet die Firma Salamander von den Lederfirmen. Doch während die Unterlederbetriebe Backnangs Frauen im allgemeinen deswegen nicht beschäftigten, weil es hier in der Produktion kaum »Frauenarbeitsplätze«, zum Beispiel beim Entfetten der Häute, gab, stellte die Oberlederfirma Freudenberg Frauen aus ideologischen Gründen nicht ein.191 Bei Salamander waren hingegen 1932 über 50% aller Beschäftigten weiblich.192 Ähnlich wie Weinheim hatte die kleine Industriestadt Komwestheim zeitweise mehr Arbeitsplätze als Einwohner.193 Die günstige Verkehrslage der Stadt ermöglichte vielen Pendlern mit Nebenerwerbslandwirtschaft aus den umliegenden Dörfern, in Komwestheim zu arbeiten.194 Von den 5400 Salamander-Arbeitern im Jahre 1929 wohnten lediglich 30% in Kornwestheim, die restlichen 70% kamen von außerhalb.195 Die Arbeitslosigkeit in Kornwestheim war bedingt durch die positive Entwicklung bei Salamander während der Weimarer Republik verhältnismäßig niedrig. Sie betrug auch während der Zeit der schlimmsten Rezession nur um 10%.196 Die Betriebstreue der Salamander-Arbeiter war ähnlich groß wie jene der Freudenberg-Arbeiter. Noch in den sechziger Jahren arbeiteten 12% der Belegschaft länger als 25 Jahre bei Salamander.197 Der hohe Arbeiteranteil in Kornwestheim und die wirtschaftlich relativ stabile Situation bewirkten hier auch eine politisch stabile Lage. Eindeutig dominierten bei den Reichstagswahlen während der Weimarer Republik die beiden Arbeiterparteien, wobei die SPD die KPD immer weit hinter sich ließ. Da in Kornwestheim auch die DDP verhältnismäßig stark war,198 erhielten die zu beobachten, (vgl. Willy A. Boelcke: Komwestheim. Vom Alemannendorf zur Industriestadt, Komwestheim 1972, S. 132 und Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 80.) "°Vgl. Stadt Komwestheim. Verzeichnis der Gewerbetreibenden der Stadt, Kornwestheim, O.O., O.J. "'Zum unterschiedlichen Anteil von Frauenarbeitsplätzen in der Ober- bzw. Unterlederindustrie vgl. Deutsche Lederindustrie, S. 154f. und Schuster, »Schritt für Schritt«, S. 129 und 156. 192 Von 5208 Arbeitskräften bei Salamander waren 2668 Frauen. (Vgl. AGL. 4.2. Dazu auch Boelcke, Komwestheim, S. 137.) "'Dies galt bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts. (Vgl. Gabriela Rüffel: Der Faschismus in Komwestheim bis 1935, o.O. 1989 Zulassungsarbeit (masch.), S. 53f. und Boelcke, Komwestheim, S. 141.) "••im Jahre 1925 pendelten 3800 Menschen aus den umliegenden Ortschaften nach Komwestheim zur Arbeit. Die Stadt selbst hatte zu diesem Zeitpunkt 7960 Einwohner, Salamander beschäftigte insgesamt 3200 Personen. (Vgl. 1200 Jahre Komwestheim, S. 31 u. S. 271 und AGL. 4.3.) l95 Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 60. '"Vgl. Rechnung von Rüffel, Faschismus in Komwestheim, S. 57 und Boelcke, Kornwestheim, S. 170. Dagegen lag die Arbeitslosigkeit unter den badischen Lederarbeitern noch 1935 bei über 49%. (Vgl SJB (1938), Anhang 20, Tabelle 8.) 197 Sturm, Salamander, S. 326, Anm. 13. "'Boelcke, Komwestheim, S. 162.
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
demokratischen Parteien der »Weimarer Koalition« selbst bei der »Wahl« am 5. März 1933 noch über 40% der Stimmen.199 Die NSDAP spielte in der Stadt kaum eine politische Rolle. Zwar war am 21. Januar 1931 eine NSDAP-Ortsgruppe gegründet worden, die zahlreiche Veranstaltungen abhielt und an mehreren Schlägereien und Ausschreitungen beteiligt war,200 doch blieb der Stimmenanteil der NSDAP bei Wahlen immer weit unter dem Reichsdurchschnitt. Tabelle 3: Wahlergebnisse bei Reichstagswahlen in Prozent201 Backnang
Weinheim
Komwestheim
Reich
SPD KPD NSDAP SPD KPD NSDAP SPD KPD NSDAP SPD KPD NSDAP 20.05.28
16,0 21,5
-
25,4 16,2 12,7
47,0
7,8
0,7
29,8 10,6
14.09.30
13,2 22,0 16,2
21,4 17,2 29,9
44,2 10,9
4,5
24,5 13,1 18,3
2,6
31.07.32
11,9 24,0 37,6
19,3 19,5 40,5
36,9 11,3 26,1
21,6 14,3 37,3
06.11.32
10,5 26,7 32,1
15,7 22,9 40,1
29,3 20,2 21,3
20,4 16,9 33,1
05.03.33
11,2 19,6 47,7
15,6 19,1 46,2
32,3 11,4 32,6
18,3 12,3 43,9
Alle drei hier vorgestellten Städte sind für die Industriestruktur Württembergs und Badens typisch. Die Industrialisierung war in diesen Ländern, bedingt durch das Fehlen von Bodenschätzen und Schwerindustrie, nur langsam vorangeschritten. Es bildeten sich keine großen Industriezentren, sondern viele kleine dezentrale Industrieansiedlungen.202 Dazu gehörten auch die Zentren der Schuh- und Lederindustrie. Daß sie sich in Gemeinden mit etwa 10.000 Einwohnern entwickelten, ist ebenfalls typisch für den deutschen Südwesten.203 In der Lederindustrie Württembergs herrschten nicht nur in Backnang eher kleinere Betriebe vor. Im Gegensatz zu Baden beschäftigte eine württembergische Lederfabrik durchschnittlich weniger Mitarbeiter als eine Lederfabrik in Baden.204 Der für Württemberg und Baden beachtlich erscheinende Anteil von Arbeitern an der Bevölkerung in den Städten Komwestheim oder Weinheim erweist sich bei genauerem Hinsehen als durchaus normal. Er lag in diesen Ländern zwar niedriger als im übrigen Reichsgebiet, weil hier Landarbeiter '"Vgl. 1200 Jahre Komwestheim, S. 296f. und Kornwestheimer Zeitung v. 5.3.1933. Der Redner war der Reichstagsabgeordnete Dreher. Bereits im Anschluß an diese Veranstaltung kam es zu verbalen Auseinandersetzungen mit der SPD und deren Reichstagsabgeordneten Fritz Ulrich, die aber noch in der Zeitung ausgetragen wurde. (Vgl. Kornwestheimer Zeitung v. 20.1.1931 und 30.1.1931.) Zu den Prügeleien zwischen der Eisernen Front und der Polizei, die oft mit Verlezten endete, vgl. Rüffel, Kornwestheim im Faschismus, S. 69ff. und Boelcke, Komwestheim, S. 170. 301 Zahlen aus Einst und jetzt, S. 81, Wiemann-Stöhr, Weinheim, S. 198, Boelcke, Komwestheim, S. 168f., 1200 Jahre Komwestheim, S. 296f. und Kornwestheimer Zeitung v. 7.11.1932 und 5.3.1933. 202 Vgl. Schnabel, »Warum geht es den Schwaben besser?«, S. 184ff. 200
^"Hildegard Hoffmann: Landwirtschaft und Industrie in Württemberg, insbesondere in Industriegebiet der Schwäbischen Alb, Berlin 1935, S. 148f. 204 Vgl. Schnabel, »Warum geht es den Schwaben besser?«, S. 212, Betriebsstatistik, S. 20 und SJB (1938), S. 127f.
Firmengeschichten: Louis Schweizer
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oder Arbeiter in Handel und Verkehr sehr schwach vertreten waren, doch Arbeiter in der Industrie gab es ebenso häufig wie im Reichsdurchschnitt.205 Die Besonderheit der württembergischen und badischen Wirtschafts- und Sozialstruktur, nämlich »der hohe Anteil von Personen [...], die nebenberuflich in der Landwirtschaft tätig waren«206 und als Pendler in den Städten arbeiteten, läßt sich für die hochindustrialisierte Mittelstadt Kornwestheim ebenso deutlich nachweisen wie für die ähnlich strukturierte badische Stadt Weinheim.207
205
Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1934, S. 21ff. und Schnabel, Machtergreifung, S. 318. ^Schnabel, »Warum geht es den Schwaben besser?«, S. 190. 207 Für Backnang fehlen Zahlen.
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
3. Firmengeschichten 3.1. Der Weg durch die Krise: Die Firma Louis Schweizer, Backnang und Murrhardt208 Die Ursprünge der Backnanger Lederfirma Louis Schweizer gehen auf das Jahr 1867 zurück, als der Gerber Louis Schweizer in Backnang eine kleine Lohgerberei kaufte. Dieser kleine Betrieb entwickelte sich unter Schweizers Führung hervorragend, und da die Produktionsmethoden laufend modernisiert und mechanisiert wurden, konnte sich die Firma, allen wirtschaftlichen Problemen der Zeit zum Trotz, einen immer größeren Kundenstamm sichern. Die Söhne von Louis Schweizer, Fritz und Robert, trennten sich nach dem Tod des Firmengründers 1914. Robert übernahm die Oberlederfabrik, Fritz, der seinen Teil unter dem väterlichen Namen fortführte, spezialisierte sich auf Vache- und Fahlleder, also pflanzlich gegerbtes Unter- und schweres Oberleder. In der Zeit des kriegsbedingten Mangels an Gerbstoffen errichtete Fritz Schweizer 1915 ein Gerbstoffwerk im benachbarten Murrhardt. Hier produzierte die Firma nicht nur Gerbstoffe für den Eigenbedarf, sondern belieferte auch andere Gerbereien. Grundlage für die Produktion waren die heimischen Eichenund Kastanienhölzer. Darüber hinaus stellte die Lederfirma während des Krieges von der modernen Faßgerbung wieder auf die traditionelle Grubengerbung um.209 1916 vergrößerte Schweizer das Backnanger Werk um einen dreistökkigen Fabrikneubau, 1920 wurde in Murrhardt eine neuerbaute Lederfabrik in Betrieb genommen, die auf die Herstellung von Bodenleder, ebenfalls pflanzlich gegerbtem Rindsleder, spezialisiert war. In den Jahren 1922 bis 1924 wurde die Murrhardter Fabrik noch ausgebaut. Die Firma Schweizer lieferte ihr grubengegerbtes Leder an Schuhfirmen und den Lederkleinhandel. Hauptabnehmer waren die Schuhfirmen Salamander, Kornwestheim, und Haueisen & Cie., Stuttgart-Bad Cannstatt.210 Im August 1927 starb Fritz Schweizer mit erst 54 Jahren, und seine Frau Klara übernahm mit Unterstützung ihres ältesten Sohnes Fritz, gerade 21 Jahre alt, die Firma als Alleininhaberin. Zwei Jahre später trat auch der Zweitälteste neunzehnjährige Sohn Richard als Prokurist in die Firma ein. Fritz Schweizer jun. hatte wie sein Vater den Gerberberuf gelernt, Richard eine kaufmännische Ausbildung absolviert.211 Klara Schweizer wandelte die Einzelfirma Louis 208
Zur Firmengeschichte vgl. 100 Jahre Louis Schweizer, WABW Y 120 und Klara Schweizer: Fritz Schweizer. Ein Lebensbild für unsere Kinder, Tübingen 1929. 209 Grubengerbung, auf die die Firma Schweizer gerade im Murrhardt spezialisiert war, bedeutet nicht grundsätzlich eine veraltete Form der Gerbmethode. Qualitativ sehr hochwertiges Unterleder wurde in jedem Fall nach der Methode »alte Grubengerbung« hergestellt. Für das häufigere weniger teure Unterleder jedoch wurde seit Beginn dieses Jahrhunderts die schnellere Faßgerbung bevorzugt. Dazu benötigt man aber hochkonzentrierte Gerbstoffe, also die überseeischen. Die heimischen Gerbstoffe waren zu wenig konzentriert. I,0 Rieger-Gutachten (Schweizer), WABW Y 120. 211 Richard Schweizer wurde 1909 in Backnang geboren. Er besuchte eine Höhere Handelsschule in Stuttgart und machte 1930 in Frankfurt Abitur. Sein Bruder Fritz war drei Jahre älter. (Vgl. Fragebogen des Military Government of Germany, WABW Y 120.)
Firmengeschichten: Louis Schweizer
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Schweizer im Januar 1933 in eine Kommanditgesellschaft um. Sie und ihre beiden ältesten Söhne waren persönlich haftende Gesellschafter, der jüngste Sohn Rudolf wurde Kommanditist.212 Nach dem Tod von Frau Schweizer im März 1935 wurden die fünf Schwestern oder deren Erben ebenfalls Kommanditisten. Zum 31. Dezember 1936 jedoch kündigten Fritz und Richard Schweizer allen Kommanditisten - außer Rudolf - , »denn nach dem Willen unserer Eltern sollen einmal wir 3 Brüder die Firma Louis Schweizer allein übernehmen [...].«213 Alle drei Gesellschafter waren mit einer Einlage von je 1,5 Mill. RM an der Firma beteiligt.214 Klara Schweizer und ihre Söhne mußten das Unternehmen in einer wirtschaftlich schweren Zeit übernehmen. Stark schwankende Rohstoff- und Lederpreise führten bei der Firma, deren Anteil an Importhäuten zwischen 70 und 80% der Gesamtlederverarbeitung betrug,215 zu einer hohen Verschuldung bei Banken und Häutehändlern. Die unternehmerischen Gestaltungsmöglichkeiten waren angesichts eines bald drückenden Schuldenberges stark eingeschränkt. Um die Rentabilität des Betriebs zu erhalten und Entlassungen zu vermeiden, wurden das Rohstofflager abgebaut und Neuinvestitionen zurückgestellt. Einsparungen bei der Rohware erhoffte man sich durch ein eigenes Einkaufsbüro in Hamburg, über das direkte Verkaufsverhandlungen mit den Erzeugern in Uruguay und Argentinien geführt wurden.216 Weiter stellte Schweizer sein Produktionsprogramm von hochwertigem auf billiges Schuhfabrikationsleder um. Dies kam den Lederabnehmern, den Schuhfabriken, entgegen, da sie teures Schuhwerk bei der ebenfalls unter der Krise leidenden Kundschaft nicht mehr verkaufen konnten. Dank verschiedener Studienaufenthalte von Richard Schweizer, der in den USA die neuesten Fabrikationsmethoden erlernt hatte, gelang es der Firma, trotz schlechter Rohware ausgezeichnetes Leder zu gerben. So verlor die Firma Schweizer in dieser Zeit auch ihre anspruchsvolle Kundschaft im Ausland, zum Beispiel Bally in der Schweiz, nicht.217 Das Krisenmanagement bewirkte bei Schweizer eine völlige Modernisierung von Fabrikation und Organisation. 1931 war die Firma wieder kapitalstark, frei im Einkauf, mit bewährter Verkaufsorganisation, modernen und rationellen Gerbmethoden ausgestattet und mit einem bewährten Facharbeiterstamm versehen.218 Solchermaßen gestärkt, begann für die Firma Schweizer eine Zeit des 212
Aus dem Bericht der Schwäbischen Treuhand-Aktiengesellschaft, Stuttgart, über die Prüfung des Jahresabschlusses zum 31.12.1936, WABW Y 120. 213 Vgl. Gesellschafter an die Kommanditisten v. 13.5.1936, WABW Y 120. 2l4 Vgl. Rieger-Gutachten (Schweizer), WABW Y 120. 2,s Vgl. Miscellaneos Report No. 2. An Investigation of the German Leather Industry, S. 48, ALM. 216 Fritz Schweizer war 1928 in Nord- und Südamerika, um Kontakte zu einheimischen Verkäufern herzustellen. (Vgl. Stuttgarter Neues Tagblatt v. 21.5.1942.) 2,7 Vgl Rieger-Gutachten (Schweizer), WABW Y 120. 2l8 Die Unterlagen über die Anzahl der Mitarbeiter, die während dieser Zeit bei der Firma Schweizer beschäftigt waren, sind lückenhaft. Dennoch ist ihnen zu entnehmen, daß die Firma auch während der wirtschaftlich problematischen Jahre keine Entlassungen vorgenommen hat. Ende 1927 arbeiteten in Backnang 102 Mitarbeiter, Ende 1930 104, Ende 1933 145.
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustire
Aufschwungs. Die Firma konnte 1932 die Produktion gegenüber dem Vorjahr verdoppeln und den Gewinn sogar verdreifachen.219 3.2. Keine Spur von Krise: Die Firmen Carl Kaess und Backnanger Lederwerke GmbH, Backnang Eine der ältesten Gerbereien Württembergs ist die Firma Carl Kaess, die 1790 von Johann Gottlieb Kaess in Backnang gegründet wurde.220 Nach laufenden Um- und Erweiterungsbauten zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde 1871 in der Firma die erste Dampfmaschine Backnangs aufgestellt.221 Der Nachfolger des Firmengründers, Gottlieb Kaess, fusionierte seine Fabrik, durch die Krise in der Lederindustrie veranlaßt, mit der hochmodernen Gerberei seines Verwandten Robert Kaess zur Carl Kaess OHG. Am 1. Januar 1919 übernahm Carl Kaess,222 der Sohn von Robert Kaess, die Firma. Sein Vater gründete im gleichen Jahr gemeinsam mit August Wessels von den Vereinigten Schuhfabriken Berneis-Wessels in Augsburg-Nürnberg die Firma Lederwerke Backnang GmbH. Als Geschäftsführer wurde Carl Kaess bestellt.223 1929 wurde die Einzelfirma Carl Kaess in eine GmbH mit einem Kapital von 500.000 RM umgewandelt, wovon auf Carl Kaess 480.000 RM (96%), auf seine Schwester 20.000 RM (4%) entfielen.224 Beide Firmen, die Firma Carl Kaess und die Lederwerke, waren auf leichtes Sohlenleder, sogenanntes Vacheleder, spezialisiert, welches an Schuhfirmen verkauft wurde. Die Firma Carl Kaess hatte darüber hinaus in geringem Umfang schweres Oberleder, sogenanntes Fahlleder, im Produktionsprogramm.225 Für Vacheleder wurden Wildhäute verwendet, die im Ausland gekauft wurden, vor allem in Südamerika. Beide Lederarten wurden in den Betrieben Kaess pflanzlich gegerbt. Die Abhängigkeit vom Import war also sowohl bei den Rohhäuten als auch bei den Gerbstoffe ähnlich hoch wie bei der Firma Schweizer. Den Betrieben von Carl Kaess, die sich in der Zwischenzeit zu »weltbekannten Großunternehmen«226 entwickelt hatten, gelang es, die Weltwirtschaftskrise In Murrhardt arbeiteten 1927 82 Arbeiter, ein Jahr später 106 und Ende 1932 175 Arbeiter und 5 Angestellte. (Vgl. div. Unterlagen, WABW Y 120.) Vgl. Rieger-Gutachten (Schweizer), WABW Y 120. ""Vgl. Stuttgarter Neues Tagblatt v. 14.10.40, Nr. 283. Folgende Angaben aus: Zur Geschichte des Hauses Kaess zum 70. Geburtstag von Carl Kaess am 23. Juli 1959, zusammengestellt auf Grund von Unterlagen von Studienrat Karl Bruder sowie auf Grund von Archiv-Unterlagen der Firma Kaess und persönlicher Berichte, o.O., o.J. 221 Der Rems-Murr-Kreis, S. 437 und Backnanger Stadtchronik. 222 Carl Kaess, Jahrgang 1889, absolvierte eine dreijährige Lehrzeit als Gerber sowie die Gerberschule in Freiberg/Sachsen. Im Ersten Weltkrieg diente er als Leutnant. (Vgl. Schreiben von Carl Kaess v. 26.3.1946, Bestand Kaess.) 223 Rieger-Gutachten (Kaess 1), Bestand Kaess. 224 ebd. 1938 wurde das Stammkapital auf 4 Mill. RM erhöht, wobei die Verteilung zwischen Kaess und seiner Schwester die gleiche blieb. 225 Vgl. Final Report No. 150. ITEM No. 22. Some Aspects of the German Leather Industrie, Section ΧΠ, S. 115, ALM. 226 Der Rems-Murr-Kreis, S. 148. 219
Firmengeschichten: Lederfirma Carl Freudenberg
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unbeschadet zu überstehen. Zwar gingen in beiden Betrieben die Umsätze ebenso wie die Produktion leicht zurück, doch stiegen die Gewinne jeweils kräftig an. Anders als die meisten Lederfirmen mußte Kaess in dieser Zeit keine Mitarbeiter entlassen, es wurden im Gegenteil Neueinstellungen vorgenommen.227 Als daraufhin der Arbeitsraum für die erweiterte Belegschaft nicht mehr ausreichte, wurde sogar in zwei Schichten gearbeitet.228 Beiden Firmen gelang es, in den Jahren nach 1929 Lederproduktion und Umsätze zu steigern und die Gewinne zu vervielfachen.229 3.3. Vom Aufschwung der Lederfirma Carl Freudenberg in Weinheim/Bergstraße zur großen Krise in der Oberlederproduktion Die Firma Carl Freudenberg entsproß einer kleinen Gerberei im Müllheimer Tal in Weinheim/Bergstraße, die 1829 gegründet wurde.230 In diese Firma trat 1833 Carl Johann Freudenberg231 ein und wurde 1844 stiller Teilhaber. Die Lederfirma, die 1848 wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage für ein Jahr schließen mußte, hatte sich auf Kalbsleder spezialisiert. Die Rohware bezog sie von den örtlichen Metzgern. Mit der Neuentwicklung des Lackleders im letzten Jahrhundert erlebte die Firma einen Aufschwung. Sie baute den Export nach Rußland, Frankreich und vor allem England in den folgenden Jahren aus und modernisierte die Produktion. Als die Lackledermode auch in Deutschland Verbreitung fand, schnellte die Produktion in die Höhe. Die Firma beschäftigte 1855 bereits 300 Mitarbeiter und zählte damit zu den größten Gerbereien in Deutschland.232 Um die Jahrhundertwende entwickelte sie sich dann von einer handwerklich geprägten Gerberei zu einer der modernsten Oberlederfirmen Deutschlands. Wichtig war in diesem Zusammenhang, daß Freudenberg 1900 als erstes europäisches Unternehmen die in den USA neuentwickelte Chromgerbung einführte,233 wobei die ausgedehnten Studienaufenthalte der Inhaber in Übersee von großem Nutzen waren. Schon kurz darauf hatte chromgegerbtes Boxcalf von Freudenberg auf dem europäischen Markt sehr gute Verkaufschancen. Die Firma exportierte etwa 70% ihres Leders,234 unter anderem wurde die englische Marine mit Leder beliefert.235 Die Abnehmer in Deutschland waren vor allem Schuhfirmen.
227
So wurden z.B. in der Firma Carl Kaess 1932 90 Personen eingestellt. (Vgl. Bestand Kaess.) "'Rieger-Gutachten (Kaess 1), Bestand Kaess. "'Vgl. ebd. 230 Vgl. Pinnow, Freudenberg, S. 32. 231 Zu Carl Freudenberg vgl. Fr. v. Weeck/A. Krieger (Hrsg.): Badische Biographien, Heidelberg 1906, S. 172ff. 232 Pinnow, Freudenberg, S. 32 und Boelcke, Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs, S. 280. 233 Boelcke, Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs, S. 280. 234 DLW 1/11 v. 1.6.1949, S. 4. 235 Pinnow, Freudenberg, S. 104.
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Der Beginn des Krieges bedeutete für die Firma Carl Freudenberg in mehrfacher Hinsicht einen tiefen Einschnitt: Zum einen personell, denn die jungen Firmenteilhaber wurden eingezogen. Das hatte für Richard Freudenberg, den einzigen Sproß dieser Generation, der »nicht felddiensttauglich«236 war, zur Folge, daß er sein Botanikstudium abbrechen und die Betriebsführung übernehmen mußte.237 Darüber hinaus wurde ein großer Teil der - bei Freudenberg überwiegend männlichen - Beschäftigten eingezogen, ihre Arbeit in weitem Umfang von Frauen übernommen.238 Die gravierendste kriegsbedingte Folge war die völlige Einstellung des Exports bis 1921, als die Bewirtschaftung von Leder wieder aufgehoben wurde, und die Umstellung von Chrom- auf Lohgerbung. Die Folgen des Krieges stellten das Land Baden und damit auch die Firma Freudenberg vor eine veränderte Situation.239 Durch den Verlust Lothringens und des Elsaß hatte Freudenberg bedeutende Absatzmärkte verloren. Bald war die Rede von einer »Grenzlandnot«.240 Da durch die Inflation das deutsche Leder jedoch zunächst im Ausland konkurrenzfähig blieb, konnte Freudenberg die Vorkriegskontakte wieder aufbauen und die ehemaligen Märkte neu erobern. 1924 hatte sich die Firma endgültig von den Kriegsfolgen erholt. In diesem Jahr wurden 3300 Mitarbeiter beschäftigt und 14.000 t Häute verarbeitetet. Bereits 67% des Gesamtversandes ging wieder in das Ausland.241 Man begann bei Freudenberg, die produktionstechnischen Einrichtungen auf den neuesten Stand zu bringen und neue Fabrikationsstätten zu bauen.242 In den folgenden Jahren war die Entwicklung der Firma im allgemeinen positiv. Zwar mußten im April 1926 250 Arbeiter mangels Aufträgen entlassen werden, sie konnten jedoch im folgenden Jahr, als die Auftragslage sich verbessert hatte, 236
Karl Johann Freudenberg, Schriften der Familie Freudenberg in Weinheim, 3 Bde., Heidelberg 1969-1976, Bd. 3, S. 249. Richard Freudenberg, Jahrgang 1892, hatte nach dem Abitur im Jahre 1911 in Bonn das Studium der Botanik aufgenommen. Sein Vater Hermann Ernst hätte es zwar lieber gesehen, daß Richard in die Firma eingetreten wäre, zumal der älteste Sohn, Hermann jun., schwer krank war, doch er entsprach dem dringenden Wunsch seines Sohnes, der ihn gebeten hatte, »mich Botanik und Gartenbau studieren zu lassen. Da das auch seine stille Leidenschaft war, hat er nicht nein gesagt.« Doch der Vater knüpfte seine Erlaubnis an die Bedingung, »daß ich im Falle eines Krieges [...] nach Weinheim kommen müsse.« 1914 hatte Richard Freudenberg bereits mit einer Dissertation, welche Kreuzungsversuche diverser Gartenkohlarten zum Thema hatte, in Berlin begonnen und eine Assistentenstelle in Potsdam in Aussicht. (Vgl. Pinnow, Freudenberg, S. 104 und Wilderotter, Richard Freudenberg, S. 14.) 238 Pinnow, Freudenberg, S. 110. Nach dem Krieg wurden alle Frauen zugunsten von Männern wieder entlassen. Während des Zweiten Weltkrieges übernahmen dann abermals Frauen die »unsoziale« Farbikarbeit. 239 Zur wirtschaftlichen Situation Badens nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Rudi Allgeier: Grenzland in der Krise. Badische Wirtschaft 1928-1933, in: Schnabel, Machtergreifung, S. 150-183 und Hermann Schäfer: Wirtschaftliche und soziale Probleme des Grenzlandes, in: Badische Geschichte. Vom Großherzogtum bis zur Gegenwart, herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung, Stuttgart 1982, S. 150-183. 240 Allgeier, Grenzland in der Krise, S. 150. 241 Pinnow, Freudenberg, S. 124. 237
242
So kaufte Freudenberg 1924 ein Fabrikgebäude in Neckarsteinach. (Vgl. Betriebsratsprotokoll v. 7.7.1924, FFA, Kladden II.)
Firmengeschichten: Lederfiima Carl Freudenberg
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wieder eingestellt werden.243 1929/30 wurden bereits 22.500 t Häute verarbeitet, bei einem Exportanteil von 66%.244 Von der Weltwirtschaftskrise wurde die Firma Freudenberg schwer getroffen. Die Schutzzollpolitik der bedeutendsten Abnahmerländer, Großbritannien und USA, zu Beginn der dreißiger Jahre ließ den Export bis auf 30-40% schrumpfen, was noch dadurch verschlimmert wurde, daß sich der russische Markt für Produkte aus Weinheim endgültig verschloß.245 Betrug der Umsatz aus Auslandsgeschäften 1931 noch über 28 Mill. RM, war er 1932 auf 15 Mill. RM gefallen.246 Auch die große Abhängigkeit von der jeweiligen Schuhmode machte sich nun, da das einstmals begehrte Lackleder mehr und mehr verdrängt wurde, äußerst negativ bemerkbar.247 Am stärksten traf Freudenberg jedoch der Rückgang des Exportes, denn bis 1929 waren 2/3 der 3000 Mitarbeiter für den ausländischen Markt tätig gewesen.248 Um den Exportverlust auszugleichen, bemühte man sich, das Inlandsgeschäft zu erweitern, indem neue Lederarten hergestellt wurden.249 Sehr erfolgversprechend war diese Inlandsorientierung jedoch nicht, weil auch die Konkurrenz diesen Weg ging.250 Außerdem reduzierten die inländischen Schuhfabriken, die von Freudenberg beliefert wurden, krisenbedingt ihre Produktion.2" So mußte in Weinheim kurzgearbeitet und die Löhne in beträchtlichem Umfang gekürzt werden.252 In diesen »wirtschaftlich schwierigsten [Jahren] in ihrer über hundertjährigen Firmengeschichte«253 schlug die Firma Freudenberg einen anderen, erfolgreicheren Weg ein als die inländische Konkurrenz.254 Unter der Federführung von Hans Freudenberg wurden ab 1930 Versuche unternommen, um aus Lederabfällen, die beim Spalten und Falzen von Leder in großer Menge anfielen, Kunstleder herzustellen. Bisher wurden diese Abfälle lediglich zu Leimleder verarbeitet. Hochwertige Produkte ließen sich dagegen aus Lederabfällen nicht herstellen. Dies änderte sich mit der Erzeugung des auf den Versuchen von Hans Freudenberg basierenden Lederfaserwerkstoff, dem sogenannten »Ledergon«. Zudem strengte der Freudenberg-Ingenieur Walter Simmer Versuche mit Lederabfällen in eine andere Richtung an. Er wollte aus Abfällen von dicken chromgegerbten Lederdecken Dichtungen herstellen.255 Diese Lederdichtungs243
Betriebsratsprotokolle v. 16.4.1926 und v. 15.3.1927, FFA, Kladden Π. Pinnow, Freudenberg, S. 140. 245 Vgl. Betriebsratsprotokoll v. 29.12.1931, FFA, Kladden Π und Schuster, Lebensarbeitszeit, S. 49. 24i Richard Freudenberg to Military Government, Weinheim im Oktober 1945, FFA 1/273. 247 Vgl. Aussage von Richard Freudenberg bei der Betriebsratsversammlung am 4.9.1929, FFA, Kladden II. 248 Rede von Richard Freudenberg auf der Betriebsversammlung am 4.4.1937, AGL, 4,12. 249 ebd. und Pinnow, Freudenberg, S. 145. ^Richard Freudenberg to Military Government, Weinheim im Oktober 1945, FFA 1/273. "'Vgl. Schuster, Lebensarbeitszeit, S. 49 und das Kapitel I. 3.5. dieser Arbeit. 232 Die wöchentliche Arbeitszeit, die 1927 noch 57 Stunden betragen hatte, reduzierte sich bis 1933 auf 32 Stunden. (Vgl. Betriebsratsprotokolle aus dieser Zeit, FFA, Kladden II.) 253 Wilderotter, Richard Freudenberg, S. 17. 254 Zur Lage der Lederindustrie in Baden vgl. LZ Nr. 12 v. 9.3.1932, S. 47. "'Vgl. Freudenberg und seine Produkte, S. 5. 244
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
ringe, die sogenannten »Simmerringe«, wurden ein großer Erfolg: »bald konnte man ein bisher aus Amerika eingeführtes Erzeugnis vollwertig ersetzen und die bei dieser Fabrikation gewonnenen Erfahrungen für den Automobilbau, später für den allgemeinen Maschinenbau nutzbar machen.«256 Zwar entstanden mit der Umstellung der Produktion anfangs gewisse personelle Probleme, denn die qualifizierten Gerber wurden in einen völlig anderen Arbeitsgang eingewiesen. Doch die positiven Folgen überwogen und der Mitarbeiterstamm konnte auch während der Krise gehalten werden. Dem Umstieg auf Ersatzprodukte war es zu verdanken, daß die Firma Freudenberg auch während des Nationalsozialismus einen anderen Weg ging als die anderen hier vorgestellten Lederfabriken. 3.4. Die Krise überwinden: Die Roßledergerberei Sigmund Hirsch in Weinheim/Bergstraße Die Roßledergerberei Sigmund Hirsch wurde 1867 von dem jüdischen Gerber Sigmund Hirsch gegründet. Sie entwickelte sich rasch, weil Hirsch sich auf das gefragte Roßleder spezialisiert hatte. 1894 traten die Söhne des Firmengründers, Max und Julius, in die Firma ein und wurden 1901 Teilhaber,257 wobei Max für den technischen, Julius für den kaufmännischen Bereich zuständig war. Als Sigmund Hirsch im August 1908 starb, beschäftigte die Firma bereits 150 Arbeiter und Angestellte und hatte sich »an die Spitze der Roßledergerbereien in Deutschland hochgearbeitet.« Die Roßledergerberei Hirsch exportierte zwar nicht in dem Maße wie zum Beispiel die Oberlederfabrik Carl Freudenberg, doch hatte sich das Hirsch'sche Roßleder auf dem Weltmarkt einen »angesehenen Namen erworben.« Während des Ersten Weltkriegs erlebte die Firma Hirsch im Gegensatz zu Ober- und Unterlederfabriken keinen Einbruch, da Roßhäute vor allem aus dem französischen Kriegsgebiet in großer Zahl anfielen. Nach einem starken Geschäftsrückgang in den Nachkriegs- und Inflationsjahren erzielte Hirsch ab 1925 wieder hohe Umsätze, da die Nachfrage nach Roßleder stieg. Der Betrieb arbeitete mit voller Kapazität, es konnten zahlreiche Neu- und Umbauten vorgenommen werden.258 Die positive Entwicklung der Firma hielt bis 1928 an. Sie hing ganz wesentlich mit dem hohen Preis für Roßleder zusammen.259 Zu dieser Zeit beschäftigte die Firma Hirsch zwischen 350 und 400 Arbeiter und Angestellte.260 1928 begann durch den Preisverfall von Roßleder ein rapider wirtschaftlicher Absturz der Firma, der über vier Jahre anhielt.261 Wie drama256 Pinnow, Freudenberg, S. 147. ^'Richard Freudenberg: Leistung und Bedeutung der Familie Hirsch in Weinheim, in: Daniel Horsch: Sie waren unsere Bürger. Die jüdische Gemeinde in Weinheim an der Bergstraße, Weinheim 1964, S. 29-34. Folgende Zitate ebd. M8 So z.B. eine neue Wasserwerkstatt. (Vgl. Hirsch, Lederwerke, S. 140.) 259 Im Jahr 1927 wurde für ein Roßleder 20 RM verlangt, Anfang 1928 zwischen 35 und 42 RM. (ebd.) 260 Wiemann-Stöhr, Weinheim, S. 50. 261 Ein Roßleder konnte 1931 lediglich noch für 8 RM verkauft werden. (Vgl. Hirsch, Lederwerke, S. 140.)
Firmengeschichten: Salamander
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tisch die Lage war, beweist die Entlassung von 150 Arbeitern im Jahr 1931, der Hälfte aller Beschäftigten.262 Ab 1932 profitierte auch die Firma Hirsch von dem allgemein einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung.263 Zur Zeit der nationalsozialistischen »Machtergreifung« im Januar 1933 arbeiteten bei der Firma Hirsch wieder 400 Beschäftigte.264 3.5. »...daß ein Schwabe immer mehr hält, als er verspricht!«265 Salamander: Die Geschichte eines Weltunternehmens Die Entwicklung der Firma Salamander von einer EinmannWerkstatt zum Weltunternehmen innerhalb einer Generation ist eine der faszinierendsten Firmengeschichten. Der junge Schuhmacher Jacob Sigle266 gründete 1885 in seiner Vaterstadt Kornwestheim eine Schuhmacherwerkstatt in seinem Wohnhaus. Komwestheimer Spötter bescheinigten dem jungen Mann Größenwahn, schienen Haus und die dazugehörende Werkstatt doch viel zu groß. Doch Sigles Schuhmacherei entwickelte sich so gut, daß er bald einige Gesellen und Lehrlinge beschäftigen konnte.267 Die Umstellung zur industrialisierten Schuhherstellung vollzog Sigle, indem er die in den USA erfundenen Maschinen in seinem kleinen Betrieb aufstellte. Der Komwestheimer Schuhmacher erfand sogar selbst eine Stanzmaschine,268 mit der Schuhsohlen in vorher festgelegten Maßen serienmäßig aus dem Leder herausgeschnitten werden konnten. Dies bedeutete die Abkehr von individuellen Größenmaßen hin zu einer Normierung der Schuhgrößen und damit zu Lagerware. Als Folge wurden das Leder rationeller verwertet und die Mitarbeiter über das Jahr gleichmäßig beschäftigt. Sigles Firma hatte sich zu einem kleinen, aber innovativen Fabrikbetrieb gewandelt. Aus alten Militärmänteln und »Knobelbechern« fertigte Sigle Hausschuhe, sogenannte »Läpples-Schuhe«, die seine Frau und sein Bruder Ernst als fliegende Händler mit dem Handwagen in den umliegenden Ortschaften verkauften.269 Die Idee des Filialverkaufs war geboren. Um 1890 stieg der junge jüdische Lederreisende und Kaufmann Max Levi270 als gleichberechtigter Teilhaber in die Firma ein und brachte neben einem an262
Freudenberg, Leistung und Bedeutung der Familie Hirsch, S. 33. Vgl. LZ Nr. 12, 9.3.1932, S. 47. 264 Freudenberg, Leistung und Bedeutung der Familie Hirsch, S. 33. 265 Aussage von Jacob Sigle mit Blick auf sein Lebenswerk, in: Sturm, Salamander, S. 333. 266 Jacob Sigle, geboren am 17.11.1861 in Komwestheim, war ältester Sohn eines Bauern. Nach dem Besuch der Volksschule sollte er nach dem Willen seines Vaters den Bäckerberuf erlernen. Jacob riß jedoch am ersten Tag bei seinem Lehrherrn in Ludwigsburg aus, statt dessen trat er als Lehrling in eine Schuhmacherei ein. Gestorben ist Jacob Sigle am 5.7.1935. (Vgl. Schuh und Leder, Nr. 2 (1926), S. 21 und Sturm, Salamander, S. 310. Ausführlich dazu Hanspeter Sturm: Jacob Sigle, Gründer einer Weltfirma, in: Lebensbildern aus Schwaben und Franken, 7. Bd., Stuttgart 1960.) 267 Sturm, Salamander, S. 312. 268 Dazu Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 6. 269 Vgl. Franziska Schneider/Georg Schmelzer: Industriearchitektur im Wandel der Zeit. Schuhfabrik Salamander, Komwestheim, o.O., o.J., S. 8. und Sturm, Salamander, S. 312. 270 Max Levi * 5.2.1868 t 24.4.1925. (Vgl. Sturm, Salamander, S. 309.) 263
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sehnlichen Kapital wichtige Kontakte zu Kunden mit. Die Finna, die nun schon 25 Mitarbeiter beschäftigte, hieß ab dem 1. April 1891 »J. Sigle & Cie., Kornwestheim, OHG«.271 Der jungen Firma gelang es, durch die Anschaffung immer besserer Maschinen den neuesten technischen Stand zu erreichen. Bald wurde das alte Fabrikationsgebäude zu klein, und der Betrieb zog 1904 in ein größeres Gebäude am Stadtrand von Kornwestheim um.272 Um die Erfahrungen mit den neuen Maschinen zu vertiefen, reiste Ernst Sigle 1896 in das Land der Schuhmaschinen, die USA.273 Gegen Ende des Jahrhunderts änderte sich die Firmenstruktur, als neue Teilhaber, Schuh- und Lederfachleute der Familien Sigle und Levi, in das Geschäft aufgenommen wurden. Jacob Sigle blieb für die Fabrikation und den Ledereinkauf zuständig, Max Levi für den Verkauf. Levis Schwager, Isidor Rothschild, übernahm die kaufmännische Leitung, Ernst Sigle die technische.274 Um die Jahrhundertwende schrieb ein Berliner Schuhhändler, Rudolf Moos, einen Wettbewerb für deutsche Schuhfirmen aus, mit dem Zweck, einen Produzenten für solide Herrenschuhe zu finden. Bedingung war, die Schuhe zu einem einheitlichen Preis von 12,50 Mark anzubieten, während sie sonst durchschnittlich etwa 20 Mark kosteten. Die Firma Sigle erhielt diesen Großauftrag,275 und Moos verkaufte die Schuhe in einem geräumigen Laden in der Berliner Königstraße mit beträchtlichem Erfolg.276 Diese neue Verkaufsidee von Moos, die der Firma laufende und regelmäßige Aufträge bescherte, veranlaßte Max Levi zu dem Wagnis, eigene Verkaufsgeschäfte zu gründen.277 Die Firma Sigle gründete 1905 zunächst gemeinsam mit Rudolf Moos278 in Berlin die Salamander-Schuhverkaufsgesellschaft m.b.H. mit einem Kapital von 300.000 Mark.279 Dieser Verkaufspraxis, Schuhe in recht guter Qualität zu Einheitspreisen anzubieten, war ein sensationeller Erfolg beschieden. Noch im selben Jahr unterhielt die neugegründete Gesellschaft fünf 271
AGL., 4.3. und Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 8. ebd., S. 19. Der Firmenneubau, der parallel zur Bahnstrecke errichtet und seiner Größe wegen auch »Hundertmeterbau« genannt wurde, gehört, trotz zahlreicher Umbauten in jüngerer Zeit, zu den schönsten und eindrucksvollsten Werken der damaligen Industriearchitektur. (Vgl. Schneider/Schmelzer, Industriearchitektur, S. lOff.) 273 ebd., S. 8 und Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 11. 274 Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 13. Nicht von Nachteil dürfte weiterhin gewesen sein, daß der Bruder von Isidor Rothschild, Samuel, und Max Levi Mitinhaber der Lederfabrik Sihler in Zuffenhausen waren, (ebd., S. 19.) 275 Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 16. 276 Das neue Geschäft in Berlin verursachte einen solchen Aufruhr, daß es bisweilen wegen »Überfüllung und Käuferstauung« polizeilich geschlossen werden mußte. (Vgl. Sturm, Salamander, S. 319.) 277 Die Schuhfirma Tack in Burg bei Magdeburg unterhielt bereits seit 1890 ein Filialsystem. (Vgl. ebd., S. 320, Anm. 6.) 278 Moos übertrug am 31.12.1909 gegen eine Abfindung von 1 Mill. Goldmark alle Rechte an die Firma Sigle & Cie. Danach wurde die Salamandergesellschaft von Levis Bruder, Sam, geleitet. (Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 20 und Geschichte eines Unternehmens, S. 6.) 279 Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 19. 272
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Verkaufsfilialen in deutschen Großstädten, 1909 waren es 26 und 1916 schließlich 50.280 Diese Geschäftsidee war so erfolgreich, daß der Anteil von Salamander-Schuhen am Umsatz aller im Deutschen Reich verkauften Lederschuhe um 1907 14% betrug.281 1908 eröffnete die Firma Sigle Filialgeschäfte auch im Ausland.282 Da sich die Einrichtung eigener Geschäftshäuser in kleineren Städten als zu teuer herausstellte,283 richtete das »Verkaufsgenie«284 Max Levi eine zweite Verkaufsorganisation ein. Er vergab ab 1908 in Städten mit unter 80.000 Einwohnern »Alleinverkaufsrechte« von Salamander-Schuhen an selbständige Schuheinzelhändler. Das »Alleinverkaufsrecht« garantierte dem Schuhhändler, daß die Firma ihre Schuhe nur in seinem Geschäft anbot. Darüber hinaus profitierte der Händler von der einheitlichen Werbung, die die Firma betrieb. Dieser verpflichtete sich auf der anderen Seite, in der von Salamander beanspruchten Preisspanne nur Salamander-Schuhe zu verkaufen, eine Mindestmenge an Schuhen abzunehmen und die Schuhe nur zum vorgegebenen Preis anzubieten.285 Bis 1913 wuchs die Zahl der Alleinverkäufer in Deutschland auf 832 und im Ausland auf 56. 286 Nun war das Unternehmen von Jacob Sigle und Max Levi die größte deutsche Schuhfabrik. Sie produzierte auf einer Fläche von 30.000 m 2 , beschäftigte 3500 Mitarbeiter, die mit Hilfe von 2000 Maschinen 2,1 Mill. Paar Schuhe jährlich herstellten.287 Die erfolgreiche Firmenpolitik der Kornwestheimer Firma forderte jedoch »heftige Gegenreaktionen« heraus. Die Filialgeschäfte und das umfangreiche Alleinverkäufersystem sah der gewerbliche Mittelstand als Gefahr für den selbständigen Handel an. Daher rief der »Zentralverband deutscher Schuhhändler« zu Sanktionen gegen die Marke Salamander auf. »Dieser Verband begann in seinen Verhandlungen und in der Fachpresse gegen das System der sogenannten Fabrikfilialen zu agitieren und faßte schließlich den formellen Beschluß, diejenigen Schuhfabriken zu boykottieren, die eigene Schuhläden gründeten oder unterhielten. Die Mitglieder des Verbandes sollten weder als Alleinverkäufer für diese Fabriken fungieren, noch überhaupt Ware von ihr beziehen.«288 ebd., Die Geschichte eines Unternehmens im Zeitraffer, Salamander, hrsg. v. der Salamander AG, O.O., O.J., S. 6f. und Sturm, Salamander, S. 320. 281 Sturm, Salamander, S. 320. 282 Vgl. Protokoll der Aufsichtsratssitzung v. 6.1.1931, AS. Salamander baute in den folgenden Jahren Verkaufsfilialen in neun europäischen Ländern auf. (Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 21f„ ders., Salamander, S. 322, Anm. 12 und WABW Y 110.) 283 Vgl. Aussage von Alex Haffner, in: Die deutsche Schuhindustrie, S. 141. "'Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 17. 285 Vgl. Protokoll des Verfahrens zwischen der Firma Salamander und einem Scluihhändler aus Gronau vor dem Württembergischen Landgericht Stuttgart, 6. Zivilkammer, v. 14.1.1936, WABW Y 110, § 2 und 5 des Alleinvertretervertrages, ebd. und Sturm Salamander, S. 323f. Dazu auch Aussagen von Paul Schröder, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schuhwarengroßhändler, Berlin, und Alex Haffner, in: Die Deutsche Schuhindustrie, S. 142. 286 Alleinverkäufer gab es in Österreich-Ungarn und in der Schweiz. (Vgl. Die Geschichte eines Unternehmens, S. 6, Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 20 und ders., Salamander, S. 321.) 287 Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 47, ders., Salamander, S. 318, Schneider/Schmelzer, Industriearchitektur, S. 10, Schuh und Leder Nr. 2 (1926), S. 21 und AGL, 4.3. 288 Sturm, Salamander, S. 322. 280
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
Solche Boykottversuche gegen die Firma Sigle & Cie. blieben jedoch ohne Erfolg. Der Beginn des Ersten Weltkriegs hatte für die Kornwestheimer Firma tiefe Einschnitte und umfangreiche Veränderungen zur Folge. Zahlreiche Mitarbeiter wurden zum Kriegsdienst an die Front eingezogen, die Firma beschäftigte 1916 nur noch 1500 Arbeitskräfte, davon fast 750 Frauen.289 Die Produktion sank von 1913 bis 1917 von über 2,1 Mill. Paar Schuhen auf 480.000.290 Darüber hinaus erhielt Sigle & Cie. keine Aufträge für Zivilschuhwerk mehr, sondern produzierte ausschließlich Militärschuhe und später auch Holzschuhe.291 Aus Mangel an Rohstoffen begann die Firma in einem 1917 in Türkheim/Bayern erworbenen Firmengebäude mit der Produktion von Kunstleder für Schuhabsätze, dem sogenannten »Melvo«, einer Verbindung von fasrigen Lederabfällen mit Zellulose und Harzleim.292 1916 änderte die Firma Sigle & Cie. schließlich ihre Rechtsform. Die OHG wurde in die Aktiengesellschaft »Firma J. Sigle & Cie. Schuhfabriken Kornwestheim« umgewandelt und mit einein Grundkapital von 10,5 Mill. Mark ausgestattet, je zur Hälfte von den Familien Sigle und Levi/Rothschild gehalten. Max Levi wurde Aufsichtsratsvorsitzender, Jacob Sigle sein Stellvertreter. Dem Vorstand gehörten Isidor Rothschild und Alex Haffner als kaufmännische Direktoren und die Brüder Ernst und Christoph Sigle als technische Direktoren an.293 Nach dem Ende des Krieges stellte die Firma ihre Produktion wieder auf Lederschuhwerk um. Durch übermäßige Preissteigerungen für Rohware und die Inflation konnten die Salamander-Einheitspreise von 12,50, 14,50 und 16,50 RM nicht mehr gehalten werden. Wegen der desolaten deutschen Währung mußte das Einheitspreissystem im Jahre 1923 kurzzeitig ganz aufgegeben werden.294 Diese Entwicklung schlug sich auch in den Beschäftigungs- und Produktionszahlen der Firma Sigle nieder. Im Sommer 1920 stellten die Kornwestheimer wegen Auftragsmangel monatelang die Produktion ein und schlossen die Werkstore. Die Zahl der Beschäftigten schwankte bis 1923 zwischen 2000 und 3000, die Jahresproduktion sank von 1922 auf 1923 um fast 500.000 Paar Schuhe.295 1924 jedoch war diese Krise für Sigle & Cie. AG überwunden, der Beschäftigungs- und Produktionsindex zeigte wieder steil nach oben. Auch konnte der Salamander-Standardpreis von 12,50 RM von neuem eingeführt werden. Die Kornwestheimer Firma war voll ausgelastet, und dies, obwohl der Export nach dem Krieg stark abgenommen hatte.296 289
Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 156. AGL, 4.3. 291 Schneider/Schmelzer, Industriearchitektur, S. 10. 292 S türm, Geschichte der Salamander AG, S. 47ff. und Geschichte eines Unternehmens, S. 7. In Türkheim wurde ab 1923 zusätzlich noch die Fabrikation von Schuhkartons aufgenommen. Diese Produktion und der erfolgreiche Export von »Melvo« sicherte ein schnelles Wachstum der Firma. 1923 beschäftigte Türkheim bereits 140 Mitarbeiter. (Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 89.) »'ebd., S. 47ff. ^Schneider/Schmelzer, Industriearchitektur, S. 20. 295 Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 66 und 157. 296 Der Export von Salamander-Schuhen erreichte nach dem Krieg, wie der gesamte deutsche 290
Firmengeschichten: Salamander
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Trotz wirtschaftlich schwierigen Zeiten begann die Firma Sigle in Kornwestheim mit einer regen Bautätigkeit,297 die deutlich die günstige Situation der Firma in einer wirtschaftlich problematischen Phase zeigt. Von einem kleinen Einbruch im Jahr 1924 abgesehen, stiegen die Beschäftigtenzahlen und die Produktion kontinuierlich an. 1926 war das Niveau der Vorkriegsproduktion wieder erreicht und die Firma Sigle mit weitem Abstand die größte Schuhfirma Deutschlands.298 Als 1925 Max Levi starb, wurde dessen Assistent, Alex Haffner, zum Generaldirektor des Kornwestheimer Unternehmens berufen.299 Erst 1928 begann sich auch bei der Firma Sigle die einsetzende Schuhkrise bemerkbar zu machen. Erstmals in der Geschichte der Firma arbeiteten die Kornwestheimer Arbeiterinnen und Arbeiter kurz.300 Von den 1928 über 1000 neueingestellten Mitarbeitern mußten bereits im nächsten Jahr 500 wieder entlassen werden. Dennoch blieb die Produktion stabil. Ab 1929 waren die wirtschaftlichen Verhältnisse der Firma wieder positiv. Sigle gelang es in jenen Jahren, wie der gesamten inländischen Konkurrenz, den Export zu steigern. Der Anteil von Salamander-Schuhen am Gesamtschuhexport lag 1928 bei 13,2%, 1930 stammte jeder zehnte aus Deutschland exportierte Schuh aus Kornwestheim. Die Firma war sogar in der Lage, die Preise für ihre Salamander-Schuhe der gesunkenen Kaufkraft der Verbraucher entsprechend zu reduzieren. Das Jahr 1930 war von schweren konjunkturellen Krisen gekennzeichnet, nicht jedoch in der Kornwestheimer Schuhfirma.301 Sigle mußte im Gegensatz zu seiner Konkurrenz keine Mitarbeiter entlassen, obwohl die Arbeitszeit nur wenig eingeschränkt wurde.302 In diesem Jahr gab es abermals strukturelle ÄnSchuhexport, nie mehr die Vorkriegszahlen. Die Firma Sigle hatte jedoch bessere Voraussetzungen auf dem Weltmarkt als die Konkurrenz, weil sie zahlreiche ausländische Tochtergesellschaften unterhielt. Insgesamt wurden im erfolgreichsten Jahr 1930 nur etwa 10% der Gesamtproduktion ausgeführt. (Vgl. ebd., S. 58ff.) 297 1921 wurde das Fabrikgebäude um einen 80 m langen Neubau erweitert, ab 1922 entstanden zahlreich Werkswohnhäuser und 1925 ein expressionistischer Verwaltungsturm, auf dessen Dach ein großer Salamander prangte. Ein Jahr später kam ein neues Stockwerk dazu. Weitere Lagergebäude und Wohnhäuser folgten. Das gesamte Fabrikgelände der Firma stand nun in imposanter Länge von 200 m direkt an der wichtigen Bahnstrecke zwischen Ludwigsburg und Stuttgart, und jeder Reisende konnte am Firmengebäude in großen Buchstaben »SALAMANDER« lesen. (Vgl. Schneider/Schmelzer, Industriearchitektur, S. 21ff.) Eine Besichtigung des Firmengebäudes läßt den Besucher noch heute die Größe der Firma und das Selbstbewußtsein der Inhaber nachempfinden. Dies gilt v.a. für die eindrucksvolle Vorderfront und den Lichthof im Inneren des Verwaltungsbaus. 298 Die nächstgrößere Schuhfirma Deutschlands, die Firma Conrad Tack in Burg war etwa nur halb so groß. 1920 beschäftigte Sigle 2000 Personen und Tack 1600, 1928 5000 bzw. 2300. Während die Jahresproduktion in diesem Jahr bei Sigle auf 3,8 Mill. Paar Schuhe anstieg, erzeugte Tack 1,65 Mill. Paar Schuhe. (Vgl. Tageblatt für die Jerichowschen und benachbarten Kreise - Burgsche Zeitung, Nr. 22 v. 26.1.1929, Chronik der Schuhfabrik Roter Stern, S. 16 und Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 57 und ders., Salamander, S. 327, Anm. 14.) 299 Geschichte eines Unternehmens, S. 8. ""Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 60. 301 Vgl. zur divergierenden wirtschaftlichen Entwicklung bei Salamander Bericht des Vorstands v. 16.4.1931, WABW Y 110. ^ V g l . Bericht über die Aufsichtsratssitzung am 12.10.1931, AS.
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I. Die Entwicklung der deutschen Schuh- und Lederindustrie
derungen innerhalb der Firma. Bisher bestand sie aus drei selbständigen Unternehmungen, nämlich der Kornwestheimer Schuhfabrik, der SalamanderSchuhvertriebsgesellschaft und dem Werk in Türkheim. Zum 1. Januar 1930 schlossen sich diese drei Firmenteile zu einem Unternehmen zusammen, der »Salamander AG«.303 Die neue Firma war mit einem Aktienkapital von 32 Mill. RM ausgestattet, paritätisch zwischen den Familien Sigle und Levi/Rothschild geteilt. Den Aufsichtsratsvorsitz übernahm Jacob Sigle, als dessen Stellvertreter wurde Arthur Levi gewählt, Vorsitzender der Geschäftsleitung war Alex Haffner.304 Der Schuhmacher und Firmengründer Jacob Sigle konnte im Jahre 1930 auf eine der wohl erfolgreichsten Karrieren der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte zurückblicken: Aus der Einmannwerkstatt von 1885 war in 45 Jahren ein Weltunternehmen mit fast 5000 Mitarbeitern, einer Jahresproduktion von 4,1 Mill. Paar Schuhen und einem Gewinn von über 4 Mill. RM geworden. Die Firma unterhielt 108 eigene Verkaufsgeschäfte in Deutschland und 25 im Ausland.305 Die Aussichten, unter denen die neue Firma Salamander ihre Tätigkeit begann, waren alles andere als rosig. Die wirtschaftliche Situation der deutschen Schuhindustrie kann ab 1931 nur als katastrophal bezeichnet werden. Produktionsrückgänge, hohe Arbeitslosigkeit und zahlreiche Insolvenzen kennzeichneten die Lage. Salamander jedoch überstand diese problematischen Jahre sehr gut. Die Mitarbeiterzahl stieg weiter von 4700 im Jahr der Gründung auf 5200 1933. Im gleichen Zeitraum expandierte die Jahresproduktion von 4,1 Mill, auf 4,4 Mill. Paar Schuhe.306 Als andere deutsche Schuhfirmen schließen mußten, weitete Salamander das Produktionsprogramm auf Kinder- und Jugendschuhe aus.307 Sehr erfolgreich gestaltete sich auch die Produktion von Kunstleder, mit der schon 1917 in Türkheim begonnen worden war. Das Kunstleder »Melvo« entwickelte sich zum Exportschlager. Seit 1926 wurde an einem neuen Kunstleder aus Faserleder und Naturkautschuk für Hinterkappen experimentiert. Die Herstellung des Stoffes gelang bald, Probleme bereitete jedoch die industrielle Produktion in großen Mengen. Eine befriedigende Lösung dafür wurde erst 1935 gefunden.308 Die von der allgemeinen Konjunktur abweichenden Umsatzsteigerungen und die Erhöhung der Beschäftigtenzahl309 setzten Salamander immer wieder zahlreichen Angriffen der Konkurrenz aus. In großformatigen Anzeigen in der Tagespresse versuchte die Firma, dem entgegenzuwirken.310 303
Sturm, Salamander, S. 330 und Bericht des Vorstands v. 16.4.1931, WABW Y 110. ^Vgl. Protokoll der Aufsichtsratssitzung v. 6.1.1931, AS. Arthur Levi war zugleich Mitbesitzer der Lederfabrik Sihler, Zuffenhausen. (Vgl. diesbezügliche Unterlagen, WABW Y 120.) 305 Vgl. Bericht des Vorstands v. 16.4.1931, WABW Y 110. "'Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 81. 307 Als Werbeträger für dieser Schuhe wurde die bis heute bekannte Salamanderfigur »Lurchi« kreiert. 308 Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 89f. 309 Vgl. Bericht des Vorstands aus dem Jahr 1932 und Bericht v. 29.5.1933, WABW Y 110. Salamander beschäftigte 1931 im gesamten deutschen Reich (in Berlin, Türkheim und den Verkaufsfilialen) 6436 Menschen. Diese Zahl erhöhte sich im darauffolgenden Jahr auf 7254. (Vgl. Bericht des Vorstands v. 29.5.1933, WABW Y 110.) 310 Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 82.
II. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft 1. Die Grundzüge der NS-Wirtschaftspolitik Der Blick auf die NS-Wirtschaftspolitik zeigt ein zwiespältiges Bild. Einerseits schien die NSDAP bei ihrer Machtübernahme kein geschlossenes und realistisches Wirtschaftskonzept vorweisen zu können,1 andererseits lassen die Neubildung von Gremien und Organisationen im Bereich der Wirtschaft und die zahlreichen lenkenden Eingriffe klare wirtschaftliche Zielsetzungen vermuten. Einerseits erscheint das »Dritte Reich« zu Beginn des Krieges als hochgerüstetc Nation, die alle Wirtschaftsbereiche unter die Erfordernisse des Krieges stellte,2 andererseits wirkte die Wirtschaftsorganisation anfangs wenig auf den Krieg ausgerichtet,3 blieb bis fast zum Ende des »Dritten Reichs« völlig undurchschaubar und deshalb kaum für die Führung eines »totalen Kriegs« geeignet.4 1
Vgl. Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, Theorie, Politik, Frankfurt/M. 1988. 2 Vgl. bes. René Erbe: Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik 1933-1939 im Lichte der modernen Theorie, Zürich 1958, Arthur Schweitzer: Die Nazifizierung des Mittelstands, Stuttgart 1970, Dietmar Petzina: Autarkiepolitik im »Dritten Reich«, Stuttgart 1968, Wolfram Fischer: Deutsche Wirtschaftspolitik 1918-1945, Opladen 1968, Karl-Heinz Ludwig: Strukturmerkmale nationalsozialistischer Aufrüstung bis 1935, in: Friedrich Forstmeier/Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Wirtschaft und Rüstung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Düsseldorf 1975, S. 39-64, Broszat, Der Staat Hitlers, S. 178ff„ Fritz Blaich: Wirtschaft und Rüstung in Deutschland 1933-1939, in: Bracher/Funke/Jacobsen, Nationalsozialistische Diktatur, S. 285-316, Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 211-435 und Willy A. Boelcke: Die Finanzpolitik des Dritten Reiches. Eine Darstellung in Grundzügen, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 95-117. 3 Z.B. Wolfgang Birkenfeld: Der synthetische "Reibstoff 1933-1945. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Wirtschafts- und Rüstungspolitik, Göttingen 1964, Anja E. Bargel-Bohlan: Hitlers industrielle Kriegsvorbereitung 1936-1939, Koblenz 1975, Jürgen Stelzner: Arbeitsbeschaffung und Wiederaufrüstung 1933-1936. Nationalsozialistische Beschäftigungspolitik und Aufbau der Wehr- und Rüstungswirtschaft, Tübingen 1976. Noch schärfer, nämlich den Kriegsbeginn als Versuch zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme, sieht dies Timothy W. Mason: Sozialpolitik im Dritten Reich: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977, S. 208f. und ders.: Innere Krise und Angriffskrieg 1938/39, in: Forstmeier/Volkmann, Wirtschaft und Rüstung, S. 158-188. Dagegen Ludolf Herbst: Die Krise des nationalsozialistischen Regimes am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und die forcierte Aufrüstung. Eine Kritik, in: VfZ 26 (1978), S. 357-392. 4 Vgl. Rolf Wagenführ: Die deutsche Industrie im Kriege 1939-1945, Berlin 1954, Burton H. Klein: Germany's Economic Preparations for War, Cambridge/Mass. 1959, Alan S. Milward: Die deutsche Kriegswirtschaft, Stuttgart 1966, ders.: Der Zweite Weltkrieg. Krieg, Wirtschaft und Gesellschaft 1939-1945, München 1977 und Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 211-435.
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Π. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
Allgemein ist festzuhalten, daß die Nationalsozialisten die Organisationen der Wirtschaft, wie alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, umgestalteten und gleichschalteten. Dabei versuchten der Staat und zahlreiche Parteiorganisationen auf vielfältige Weise, Einfluß auf die Wirtschaft zu nehmen. Die wirtschaftlichen Ziele, die die Nationalsozialisten verfolgten, wie Wiederherstellung der Vollbeschäftigung, Aufrüstung oder Autarkie, waren ohne eine weitreichende Lenkung der Wirtschaft nicht zu erreichen. 1.1. Vom Neuen Plan zum Vierjahresplan Die erhöhte Inlandsnachfrage und die industrielle Belebung, kurz der wirtschaftliche Aufschwung ab 1932, intensivierten die Einfuhr ausländischer Rohstoffe nach Deutschland. In der Folge zogen die Rohstoffpreise kräftig an. Auf der anderen Seite verhinderten die immer noch bestehende Krise der Weltwirtschaft, sinkende Fertigwarenpreise, einsetzende Boykotte gegen deutsche Waren ab 1933, aber auch das Primat der Binnennachfrage eine stärkere Ausfuhr.5 Dies führte im Januar 1934 in der deutschen Handelsbilanz zu einem Negativsaldo von 22 Mill. RM.6 Um Devisen einzusparen, versuchte das nationalsozialistische Regime den Import der am meisten einfuhrabhängigen Waren durch die Einrichtung von Uberwachungsstellen zu reduzieren. Dahinter stand neben der Idee, durch die Konzentration auf die Binnennachfrage die Auftragslage der deutschen Firmen zu verbessern, auch der Gedanke der Autarkie Deutschlands bei wichtigen Produkten.7 Warnende Stimmen mahnten vor solchen Eingriffen in die Wirtschaft, denn »ein großer Teil der deutschen Industrie ist von den Rohstoffmärkten des Auslands abhängig. Es braucht nur an die [...] große Abhängigkeit der [...] Leder- und Pelzwarenindustrie [...] vom Bezug ausländischer Rohstoffe« erinnert werden. Eine Sperrung der Rohstoffeinfuhr würde »Deutschland als Verarbeitungsland schweren Schaden zufügen.«8 Das Uberwachungssystem erreichte dann auch keine bedeutende Deviseneinsparung durch die Reduzierung der Importe einiger wenigen Waren, doch fügte es »nicht allein der Aufrüstung, sondern auch der Arbeitsbeschaffung Schaden zu.«9 5
Der Außenhandelsüberschuß ging in den ersten Monaten nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« »in bedrohlichem Umfang« (NS-Kurier v. 7.6.1933), nämlich um 60% gegenüber dem Vorjahr zurück. Hatte der Außenhandelsüberschuß in den Monaten Januar bis April 1932 noch +416 Mill. RM betragen, so sank er im gleichen Zeitraum 1933 auf + 174 Mill. RM. Dies lag in erster Linie an der reduzierten Exportquote um 25% gegenüber einer geminderten Importquote um nur 38%. (Vgl. Denkschriften der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 11.4.1933 und v. 26.5.1933, BAP 25.01 Bü 6601.) 6 Vgl. Sören Dengg: Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund und Schachts »Neuer Plan«. Zum Verhältnis von Außen- und Außenwirtschaftspolitik in der Übergangsphase von der Weimarer Republik zum Dritten Reich (1929-1934), Frankfurt/M. u.a. 1989, S. 362. 7 Rundfunkrede Hjalmar Schachts v. 18.3.1933, zitiert in: Denkschrift der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 11.4.1933, BAP 25.01 Bü 6601. Vgl. dazu Wilhelm Treue: Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in: VfZ 3 (1955), S. 184-203 und Denkschrift Hitlers zum Vierjahresplan, ebd., S. 204-210. 8 Denkschrift der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 11.4.1933, BAP 25.01 Bü 6601.
Grundzüge der NS-Wiitschaftspolitik
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Nach Ablösung von Reichswirtschaftsminister Schmitt wurde der Reichsbankpräsident und neue Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht durch das »Gesetz über wirtschaftliche Maßnahmen« vom 3. Juli 193410 mit wirtschaftsdiktatorischen Vollmachten ausgestattet. Er war ermächtigt, »alle Maßnahmen zu treffen, die er zur Förderung der deutschen Wirtschaft sowie zur Verhütung und Beseitigung wirtschaftlicher Schädigungen für notwendig« hielt, auch wenn diese »von bestehenden Gesetzen« abwichen. Auf der Basis dieses Gesetzes entwickelte Schacht sein neues Wirtschaftskonzept, den »Neuen Plan«." »Die Verflechtung Deutschlands mit der Weltwirtschaft«, so erkannten die Verantwortlichen, war »nicht mehr zu lösen.«12 Daher sah der »Neue Plan«, der im September 1934 in Kraft trat, die Verstärkung von Austausch- und Kompensationsgeschäften auf der Grundlage der Bilateralität mit den rohstoffliefernden Ländern vor. Die Rohstoffeinfuhr sollte auf solche Länder verlagert werden, die im Gegenzug Waren in Deutschland kauften. Man wollte also auf das »uralte System des Tauschhandels«13 umstellen. Als Ersatz für ausländische Rohstoffe setzte der »Neue Plan« auf die Förderung der einheimischen Rohstoffbasis und stellte erste Weichen für die Ersatzstoffproduktion.'4 Darüber hinaus sollte die Einfuhr von Fertigwaren begrenzt werden, um mit derselben Devisenmenge mehr Rohstoffe einführen zu können.15 Dies hatte den Nebeneffekt der Entlastung des deutschen Arbeitsmarktes. Insgesamt sollten alle Importe mittels Devisenbescheinigungen überwacht und gelenkt werden. Dazu erhielten die bestehenden und neugegründeten Überwachungsstellen, die die gesamte Warenfertigung abdeckten, »nunmehr die Möglichkeit, ganz nach den Erfordernissen der jeweiligen wirtschaftlichen Lage und auch der politischen 9
Fritz Blaich: Wirtschaft und Rüstung im »Dritten Reich«, Düsseldorf 1987, S. 26. Ein großer Teil der Beschäftigten Deutschlands (12%) arbeiteten für den Export, 25% des gesamten Güternettoprodukts fiel auf den Export, im Bereich der Industrie betrug dieser Anteil sogar 38%. (Vgl. Denkschrift der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 11.4.1933, BAP 25.01 Bü 6601. 10 RGBl. I, S. 565. Folgende Zitate ebd. 11 Vgl. Hjalmar Schacht: Notwendigkeit der deutschen Außenwirtschaft. Erklärung des mit der Führung der Geschäfte des Wirtschaftsministeriums beauftragten Reichsbankpräsidenten Dr. Hjalmar Schacht auf dem Presseabend der Leipziger Herbstmesse, 26.8.1934, Berlin 1934. Zur Entstehung des »Neuen Plans« ausführlich Dengg, Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund, S. 362ff. 12 Denkschrift der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 11.4.1933, BAP 25.01 Bü 6601. 13 Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 304. Getauscht wurden z.B. belgische Trauben gegen deutsche Kohle oder ungarischer Weizen gegen deutsche Textilien. (Vgl. NS-Kurier v. 29.9.1936 und v. 11.12.1936.) Dazu: Max Barczeswki: Kompensationsgeschäfte im Rahmen der Kontingentierungspolitik, Berlin 1936. 14 Schacht unterstützte die Herstellung von Ersatzstoffen nur dann, wenn er es aus wirtschaftlichen Gründen für vertretbar hielt. (Vgl. Petzina, Autarkiepolitik, S. 25 und Denkschrift der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Reichsbank v. 11.4.1933, BAP 25.01 Bü 6601.) 15 Eine »Änderungsverordnung zum Gesetz über den Verkehr mit industriellen Rohstoffen und Halbfabrikaten« v. 13.7.1934 erweiterte die Möglichkeit der Kontrolle auf alle industriellen Erzeugnisse, also auch auf Fertigfabrikate. (RGBl. I, S. 709.) Zahlen über den Import, in: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1941/42.
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Prämissen sowohl die Einfuhr als auch die regionale Herkunft bestimmter Importwaren zu steuern.«16 Auch im Bereich des Exports wurden umfangreiche Änderungen vorgenommen. Zur Gewinnung von Devisen wurde ihm der »unbedingte Vorrang gegenüber allen inländischen Aufträgen«17 eingeräumt, und die Exporteure wurden im Rahmen des sogenannten Zusatzausfuhrverfahrens mit Subventionen unterstützt.18 Die Folgen des »Neuen Plans« waren weitreichend. Zunächst wurde der deutsche Außenhandel auf Südosteuropa umgelenkt, da diese Länder mit einer weichen Währung sich auf die deutschen Forderungen nach Tauschgeschäften einließen. Handelskontakte mit Westeuropa oder den USA gingen zurück.19 Da die Einfuhr direkt an die Bedingung des Kaufs deutscher Waren gekoppelt war, konnte dies im Einzelfall zu einer Verteuerung einzelner Rohstoffe führen. Hauptgesichtspunkt beim Einkauf war ja nicht mehr der niedrigste Preis, sondern die Möglichkeit des Absatzes deutscher Fertigwaren. Aus demselben Grund waren häufig Qualitätseinbußen hinzunehmen. Das System der Tauschgeschäfte führte bisweilen zu solchen Absurditäten, daß zwar ab 1937 für die Bevölkerung Fett rationiert wurde, das Luxusprodukt Kaffee jedoch in ausreichenden Mengen angeboten wurde, wenn eines der zahlreichen Verrechungsgeschäfte mit Brasilien abgewickelt war.20 Schachts »Neuer Plan« konnte jedoch die Probleme der deutschen Wirtschaft, den akuten Devisenmangel und die daraus folgende Rohstoffknappheit, nicht lösen.21 Ende 1935 galt das staatliche Rüstungsprogramm als stark gefährdet, denn die Vorräte an rüstungswichtigen Rohstoffen gingen stark zurück und reichten nur mehr für ein bis zwei Monate.22 Im Frühjahr 1936 steuerte die deutsche Wirtschaft abermals in eine »Devisenkrise«. Daher ernannte Hitler 16
Dengg, Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund, S. 366. Rundschreiben Nr. 41 der Fachgruppe ledererzeugende Industrie v. 28.11.1935, WABW Y 11. 18 Vgl. Kap. Π.2.3. dieser Arbeit. 19 Vgl. dazu Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 304ff. und Eckart Teichert: Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930-1939. Außenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen Wirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, München 1984, S. 7ff. Ritsehl führt den starken Rückgang von Exporten in erster Linie auf die »Austrocknung des Handels mit den USA und der Staaten des britischen Empires« zurück. (Vgl. Albrecht Ritsehl: Wirtschaftspolitik im Dritten Reich - Ein Überblick, in: Bracher/ Funke/Jacobsen, Deutschland 1933-1945, S. 118-134, S. 124. Dazu auch ders.: NS-Devisenbewirtschaftung und Bilateralismus in Zahlen: Eine Auswertung der bilateralen Devisenbilanzen Deutschlands aus den Jahren 1938-1940, in: Eckart Schremmer (Hrsg.): Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1993, S. 289-314.) 17
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Vgl. »Kaffeetantenrede« von Goebbels in: Blaich, Wirtschaft und Rüstung im »Dritten Reich«, S. 96f. In den ersten acht Monaten des Jahres 1934 betrug der Außenhandelsüberschuß - 2 6 4 Mill. RM, im selben Zeitraum 1935 - 8 6 Mill. RM und 1936 +246 Mill. RM. (Vgl. NS-Kurier ν. 29.9.1936.) 22 Vgl. Dietmar Petzina: Vierjahresplan und Rüstungswirtschaft, S. 68 und Volkmann, NSWirtschaft, Ursachen und Voraussetzungen, S. 263. Der Vorrat an Fellen und Häufen sank im Zeitraum von März bis September 1935 um fast die Hälfte. Die Lagerbestände reichten 1936 noch für 2,6 Monate aus. (Vgl. Sitzung des Gutachter-Ausschusses über Rohstoff-Fragen am 26.5.1936, in: Tradition 14 (1969), S. 314-333.) 21
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nach scharfer Kritik an Schacht am 6. April 1936 Hermann Göring zum »Rohstoff- und Devisenkommissar«. »Das bedeutete sachlich wie zeitlich die unmittelbare Vorstufe zum Vierjahresplan.«23 Hitler räumte in seiner Denkschrift zum Vierjahresplan »dem wirtschaftlichen Handlungsfeld erste Bedeutung ein«24 und verlangte darüber hinaus die forcierte Aufrüstung durch die deutsche Wirtschaft, die in »4 Jahren kriegsfähig sein« sollte.25 Folgerichtig wurde der am 9. September 1936 der deutschen Öffentlichkeit verkündete »zweite« Vierjahresplan als »krisenfester Autarkieplan«2® bezeichnet. Mit der Durchführung des Vierjahresplans wurde abermals Göring beauftragt. Im Mittelpunkt dieses Programms standen, stärker noch als dies von Schachts »Neuem Plan« verfolgt wurde, der intensive Aus- und Aufbau einer deutschen Roh- und Grundstoffindustrie zur Erzeugung synthetischer Ersatzstoffe, die vermehrte Erzeugung kriegswichtiger Produkte und die Verbesserung der Devisenlage. Ferner wurde der Arbeitskräfteeinsatz ebenso streng überwacht und kontrolliert wie die Preisbildung. Als Ziel stand die Unabhängigkeit Deutschlands von Rohstoffimporten, also industrielle Autarkie in jeder Beziehung, fest.27 Auch Wehrmachtsstellen befaßten sich nun ausführlicher mit wirtschaftspolitischen Fragen, wie dem Kapazitätsaufbau und der Erweiterung der Rüstungsbetriebe. Sie leisteten damit eine nicht zu unterschätzende Vorarbeit für den Vierjahresplan. Ihnen ist es zuzuschreiben, daß Pläne für KL- und R-Betriebe28 erstellt wurden, bereits 23
Petzina, Autarkiepolitik, S. 40. Zum Zusammenhang zwischen »Neuem Plan« und Vierjahresplan und zu dessen Vorgeschichte ausführlich ebd., S. 13-56 und ders., Vierjahresplan und Rüstungspolitik, S. 65-80. 24 Gerhard Th. Mollin: Der Strukturwandel der Montanindustrie in der NS-Wirtschaft, in: Michalka, Der Zweite Weltkrieg, S. 363-381, S. 364. 25 Denkschrift Hitlers zum Vierjahresplan, S. 210. 24 Eine völlige Autarkie der deutschen Ernährungs- und Produktionsindustrie, wie dies der Vierjahresplan vorspiegelte, war indes nicht zu erreichen. Dies war auch den Wirtschaftsexperten und Führern des NS-Regimes klar. (Vgl. Blaich, Wirtschaft und Rüstung in Deutschland, in: Bracher/Funke/Jacobsen, Nationalsozialistische Diktatur, S. 316 und Ludolf Herbst: Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939-1945, Stuttgart 1982, S. 65f.) 27 Herbst vertritt die Ansicht, daß die Anordnungen im Rahmen des Vierjahresplans »nur zu einem Teil aus dem akuten Devisenmangel zu erklären« seien, »alle Punkte des Programms waren vielmehr in der Lehre des totalen Krieges vorgezeichnet.« (Vgl. Herbst: Der Totale Krieg, S. 64.) Petzina sieht die Autarkiepolitik weniger als zweckgebunden an, sondern gewichtet sie als Teil einer »neue[n] volks- und nationsgebundenen Ordnung«, die die Nationalsozialisten aufstellen wollten. (Vgl. Petzina, Autarkiepolitik, S. 10.) 28 Rüstungs- und kriegs- und lebenswichtige Betriebe. Dazu ausführlich Rolf-Dieter Müller: Die Mobilisierung der Wirtschaft für den Krieg - eine Aufgabe der Armee? Wehrmacht und Wirtschaft 1933-1942, in: Michalka, Der Zweite Weltkrieg, S. 349-362, S. 353f. Zur Aufteilung der verschiedenen Industriezweige in KL-, R- und sonstige Betriebe vgl. Β AP 31.02 Bü 5683. 1936 waren bereits 33% aller Betriebe R- oder KL-Betriebe, von den Beschäftigten arbeiteten fast 22% in R-Betrieben, 55% in KL-Betrieben und nur 23% in sonstigen Betrieben. Den höchsten Anteil an Arbeitern in Rüstungs-, bzw. kriegs- und lebenswichtigen Betrieben verzeichnete der Bergbau (98,2%), gefolgt vom Fahrzeugbau (95,7%). Im Bereich der Lederindustrie arbeiteten rd. 73,5% der Beschäftigten in solchen Betrieben, dabei in Lederfabriken und Gerbereien 17% in R-Betrieben und 39% in KL-Betrieben. In der Schuhindustrie lag der Anteil der in KL-Betrieben Beschäftigten bei 29%, während es praktisch keine R-Betriebe gab. (ebd.) Im Juli 1937 war der Anteil der Gerbereien unter den R-Be-
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1938 eine intensive Konzentration auf kriegswirtschaftliche Produkte begann und die Mobilmachung im Rahmen des Vierjahresplans stattfand. 1.2. Die Kriegswirtschaft Der Beginn der »Kriegswirtschaft« ist nicht exakt zu datieren, denn bereits vor dem Krieg arbeitete die Wirtschaft auf den Krieg zu, während sie in den ersten Kriegsjahren wirtschaftspolitisch nicht alle Kräfte mobilisierte.29 »Orientiert an einer klaren Trennung der Begriffe Friedens- und Kriegswirtschaft erschien die nationalsozialistische Politik vor wie nach dem Ausbruch des Krieges als Normabweichung.«30 Begriffe wie »Kriegswirtschaft in Friedenszeiten« für die Vorkriegswirtschaft und »friedensähnliche Kriegswirtschaft«31 für die Wirtschaft im Krieg machen dieses Dilemma deutlich. Bereits 1938 war die deutsche Außenhandelsbilanz durch die umfangreichen Rüstungsaufträge wieder »deutlich rückläufig«,32 so daß nach einer Anordnung Görings der Export intensiviert werden sollte. »Der deutschen Ausfuhr wird Vorrang vor allen inländischen, sowohl privaten als auch öffentlichen Aufträgen gegeben. Die notwendigen Wehrmachtsaufträge und die öffentlichen Exportaufträge werden gegeneinander abgegrenzt.«33 Um das Außenhandelsdefizit trieben auf 30% gestiegen, der der Lederwarenfirmen betrug 21%. (Vgl. Volkmann, NSWirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 314.) Vgl. z.B. den Bereich der Frauenarbeit im Deutschen Reich im Vergleich zu Großbritannien und den USA, in Dörte Winkler: Frauenarbeit im Dritten Reich, Hamburg 1977, S. 176ff„ Dietmar Petzina: Die Mobilisierung der deutschen Arbeitskräfte vor und während des Zweiten Weltkriegs, in: VfZ 18 (1970), S. 443-455 und Alan S. Milward: Arbeitspolitik und Produktivität in der deutschen Kriegswirtschaft unter vergleichendem Aspekt, in: Friedrich Forstmeier/Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Kriegswirtschaft und Rüstung 1939-1945, Düsseldorf 1977, S. 73-91. 30 Herbst, Der Totale Krieg, S. 95. 31 Erbe, Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik, S. 4 und 177, Wagenführ: Die deutsche Industrie, S. 25 und Gregor Janssen, Das Ministerium Speer. Deutschlands Rüstung im Krieg, Frankfurt/M. 1968, S. 136. 32 Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 312. Zu den Auswirkungen der Rüstungspolitik auf die Außenhandelsbilanz der Jahre 1938 und 1939 vgl. Heinz Boberach (Hrsg.): Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938-1945,17 Bde., Herrsching 1984, Jahreslagebericht 1938, Bd. 3, S. 157 und Boelcke, Die Finanzpolitik im Dritten Reich, in: Bracher/Funke/Jacobsen, Deutschland 1933-1945, S. 95-177, S. 105. Zusätzlichen Schaden erlitt die Bilanz dadurch, daß ab 1938 die deutschen und österreichischen Juden aus dem Außenhandelsgeschäft gedrängt wurden. (Vgl. Meldungen aus dem Reich, Jahreslagebericht 1938, Bd. 3, S. 165. Dazu auch Norbert Schausberger: Die Auswirkungen der Rüstungs- und Kriegswirtschaft 1938-1945 auf die soziale und ökonomische Struktur Österreichs, in: Forstmeier/Volkmann, Kriegswirtschaft und Rüstung, S. 219-255.) Meldungen aus dem Reich, Jahreslagebericht 1938, Bd. 3, S. 164. Der Export erhielt eine höhere Priorität als die Rüstung. (Vgl. Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 311.) Auch Parteistellen wurde mitgeteilt, daß die Möglichkeit bestehe, »daß Aufträge der nationalsozialistischen Bewegung zurückgestellt werden.« (Anordnung der NSDAP-Reichsleitung an sämtliche Dienststellen der Reichsleitung der NSDAP, an sämtliche Schatzmeister, Reichskassenverwalter und angeschlossene Verbände der NSDAP v. 14.2.1939, in: MBlWi. 1939, S. 251. Vgl. auch NS-Kurier v. 10.12.1938 und v. 5./6.8.1939.) 29
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auszugleichen, behalf sich die Regierung sogar mit dem verstärkten Export von Rüstungsgütern.34 Mit Kriegsbeginn kam es anders als von der Wehrmacht erhofft nicht zu einer Unterordnung ziviler Wirtschaftsprojekte unter militärische Erfordernisse,35 statt dessen gab Wirtschaftsminister Funk im Oktober 1939 die Parole aus, daß von einer wirtschaftlichen Mobilisierung abzusehen sei. Die offizielle Sprachregelung bezeichnete diese Phase als »Ubergangswirtschaft«.36 Wenn man den Kriegsbeginn dennoch in gewisser Hinsicht als wirtschaftlichen Einschnitt betrachten kann, so deshalb, weil sich die wirtschaftspolitischen Ziele des NS-Regimes erweiterten. In den Mittelpunkt der Wirtschaftsplanung rückten nun Fragen des »Einbau[s] der eingegliederten und besetzten Gebiete in die Großdeutsche Wirtschaft« und des »Neuaufbau[s] der von Deutschland geführten kontinentalen Wirtschaft.«37 Görings Ziel als Vierjahresplanbeauftragter war es, die »wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands in Europa« zu festigen, die Rohstoffversorgung des »großdeutschen Wirtschaftsgebiets« zu sichern und Deutschlands wirtschaftlichen Einfluß »in der Welt« auszubauen.38 Verwaltungstechnisch wurde so verfahren wie vor dem Krieg: Göring wurde 1940 abermals zum Beauftragten des Vierjahresplans ernannt. Darüber hinaus erreichte er durch die Ausdehnung des Wirtschaftssystems auf die annektierten Länder und durch exzessive »Arisierungen« in der Rüstungs- und Montanindustrie einen immensen Machtzuwachs. Das Problem der lebensnotwendigen Importe für die deutsche Wirtschaft konnte zunächst durch die Eroberung neuer Rohstoffbasen, also der Ausräuberung der eroberten Gebiete gemildert werden. Grundsätzlich war Görings Vierjahresplan jedoch nicht geeignet, das Problem der Außenhandelsabhängigkeit der deutschen Wirtschaft zu bewältigeil.39 Nach dem Stillstand der Front im Osten im Winter 1941/42 mußte die in der Hoffnung auf ein schnelles Kriegsende zurückgeschraubte Rüstungsfertigung wieder vermehrt produzieren. Auch damit war Görings Apparat letztlich überfordert. Daher ernannte Hitler im Februar 1942 Albert Speer zum »GeneralbevollFirmen, die den Export zugunsten des ertragreicheren Imports vernachlässigten, wurden öffentliche Aufträge entzogen. (Vgl. Leiter der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, Emst Ammer, an die Geschäftsführer der Fachgruppen v. 23.5.1935, BAP 31.07, Bü 14, Reichsgruppe Industrie an die Wirtschaftsgruppen v. 26.7.1936, ebd. und Meldungen aus dem Reich, Jahreslagebericht 1938, Bd. 3, S. 164.) 34 Vgl. dazu Rede Görings in der ersten Sitzung des Reichsverteidigungsrates am J 8.11.1938, in: Timothy W. Mason: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975, S. 908-933, S. 915. Vgl. auch Hans-Erich Volkmann: Außenhandel und Aufrüstung 1933-1939, in: Forstmeier/ders., Wirtschaft und Rüstung, S. 81-131, S. 94ff. und Anhang. 33 Vgl. Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 432f. 36 Müller, Die Mobilisierung der Wirtschaft, in: Michalka, Der Zweite Weltkrieg, S. 349-362, S. 356. 31 Göring an den Reichswirtschaftsminister Funk am 22.6.1940, in: Herbst, Der Totale Krieg, S. 127. 38 Vgl. Göring an den Reichswirtschaftsminister Funk am 1.8.1940, ebd. 39 Vgl. Blaich, Wirtschaft und Rüstung im »Dritten Reich«, S. 34f.
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mächtigten für Rüstungsaufgaben im Vierjahresplan« und damit zum obersten Wirtschaftsführer.40 Speers System der Selbstverwaltung der Wirtschaft in Verbindung mit einer Bündelung der zentralen rüstungswichtigen und wirtschaftspolitischen Aufgaben41 führte zu einer drastischen Steigerung des Rüstungsgüterausstoßes. Dies ging allerdings eindeutig zu Lasten der Verbrauchsgüterindustrie.42 In diesem Bereich fanden zahlreiche Firmenschließungen43 oder Produktionsverschiebungen44 statt. Die Zivilbevölkerung spürte die Auswirkungen in der mangelnden Versorgung mit solchen Gütern, vor allem nach der Verkündigung des »totalen Kriegs« durch Goebbels im Februar 1943. Die noch im Frühjahr 1942 propagierte »friedensähnliche Kriegswirtschaft« war spätestens seit diesem Zeitpunkt beendet.45 1.3. Die Neuorganisation der Wirtschaft Die Organisation der Wirtschaft unter den Nationalsozialisten war gekennzeichnet von einer Anhäufung institutioneller Neugründungen, Umstrukturierungen und Kompetenzverlagerungen. Alle bisher freien Wirtschaftsverbände und Interessengemeinschaften wurden zwangsaufgelöst oder in neugegründete NS-Verbände überführt. Diese NS-Verbände unterlagen dem Grundsatz des Führerprinzips, des Ausschließlichkeitsprinzips und der Pflichtgemeinschaft.'16 Die nationalsozialistischen Verantwortlichen für die Wirtschaft neigten in zu40
Zum Wirken Speers ausführlich Wagenführ, Die deutsche Industrie, Janssen, Das Ministerium Speer und Hans-Joachim Weyres-v. Levetzow: Die deutsche Rüstungswirtschaft von 1942 bis zum Ende des Krieges, Diss., München 1975. 41 Speer gelang es, Göring die Aufgaben der Rüstungsproduktion und der Rohstoffverteilung im Bereich des Vierjahresplans zu entreißen, das Rüstungsamt ging vom OKW auf sein Ressort über, ebenso übernahm er die Verantwortlichkeit für den Schiffs- und den Flugzeugbau. In Fragen des Arbeitseinsatzes blieb er dagegen ohne Einfluß. 42 Vgl. Janssen, Das Ministerium Speer, S. 136. 43 Janssen bescheinigt Speer im Bereich der Firmenschließungen einen gewissen Erfolg. Speer habe »systematisch die Schließung zahlreicher Betriebe des zivilen Sektors« vernnlaßt, »mit dem Ziel seine Rüstungskapazitäten zu erweitern.« (ebd., S. 133.) Auch Herbst konstatiert, daß die Ergebnisse der Stillegungsaktionen 1943 »nominell gar nicht so weit hinter den Anforderungen der Rüstungswirtschaft« zurückblieben. (Herbst, Der Totale Krieg, S. 213.) Marie-Luise Recker gesteht diesen sogenannten »Auskämmaktionen« dagegen einen nur geringen Erfolg zu, da mit Rücksicht auf die Stimmung an der »Heimatfront« zahlreiche Ausnahmen und Härtefälle zugelassen wurden. (Vgl. Marie-Luise Recker: Zwischen sozialer Befriedung und materieller Ausbeutung. Lohn- und Arbeitsbedingungen im Zweiten Weltkrieg, in: Michalka, Der Zweite Weltkrieg, S. 430-444, S. 434.) 44
So wurde beispielsweise die Pforzheimer Uhren- und Schmuckindustrie zur Herstellung von Zeitzündern von Granaten verpflichtet. (Vgl. Blaich, Wirtschaft und Rüstung im »Dritten Reich«, S. 53f.) 45 Vgl. Janssen, Das Ministerium Speer, S. 136. 46 Vgl. Wirtschaftsaufbaugesetz v. 27.2.1934, RGBl. I, S. 185. Dieses Gesetz wird von Puppo als »Ermächtigungsgesetz auf organisatorischem Gebiet« bezeichnet. (Vgl. Rolf Puppo: Die wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung des Dritten Reiches, Konstanz 1987, S.9ff.) Ausführlich zur »Verformung des Interessenverbandsystems« Hans-Peter Ullmann: Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 183ff.
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nehmenden Maße zur ständigen Neugründung von Wirtschaftsbehörden, die mit Kompetenzen ausgestattet wurden, die bereits andere Organisationen innehatten. Dieses »weitgehend improvisierte« »polykratische Regime«, das die »staatliche Wirtschaftslenkung« erfaßte,47 führte zu einem »Wirrwarr der Zuständigkeiten überstürzt eingerichteter Planungs- und Lenkungsstellen.«48 »Entgegen den Behauptungen der eigenen Propaganda verfügte das Dritte Reich weder vor dem Krieg noch in den ersten Kriegsjahren über eine zentrale Planungs- und Koordinierungsinstanz für die Kriegswirtschaft.«49 Da eine Lenkungsinstanz fehlte, die die Tätigkeiten und Ziele der verschiedenen Institutionen koordinierte und die Zuständigkeiten völlig verschwommen blieben, ist in der Organisation der Wirtschaft bis Kriegsbeginn ein regelrechter »Organisationsdschungel«50 zu konstatieren. Dies machte sich besonders negativ bei der Rüstungsproduktion bemerkbar. »Bei der Umstellung der industriellen Produktion auf Kriegsmaterial wetteiferten das Reichswirtschaftsministerium, das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt beim OKW und die Organisationen des Vierjahresplans als oberster Entscheidungsträger.« Dadurch stockte die Rüstungsproduktion, und der deutsche Vorsprung »ging quantitativ wie qualitativ verloren.«51 Dies änderte sich im Februar 1942 als Albert Speer zum »Generalbevollmächtigten für Rüstungsaufgaben im Vierjahresplan« und damit zum obersten Wirtschaftsführer ernannt wurde.52 Begründet auf dem bereits von Fritz Todt entworfenen technischindustriellen Apparat, baute Speer das »System der Selbstverwaltung der Wirtschaft« auf, das die Unternehmer in das Funktionssystem der Wirtschaft miteinbezog. Bis zum Sommer 1944 entstanden so 21 Hauptausschüsse und 12 Hauptringe, untergliedert in zahlreiche Sonderausschüsse und -ringe, die von Fachleuten, Ingenieuren oder Technikern geleitet wurden. Parallel dazu entflocht Speer die Kompetenzen der zahlreichen Ämter und organisierte die Zuständigkeiten neu. Der Erfolg dieser Entflechtung und Umstrukturierung zeigte sich in steigenden Produktionszahlen für Rüstungsprodukte. Die Lederindustrie wurde neben der Textilindustrie53 schon vor Inkrafttreten des »Neuen Plans« im September 1934 einer strengen Überwachung und Bewirtschaftung von Rohstoffen unterworfen.54 Bereits das »Gesetz über den Ver47
Ulimann, Interessenverbände, S. 183. Blaich, Wirtschaft und Rüstung im »Dritten Reich«, S. 51. Volkmann bezeichnet dieses Durcheinander als »gelenktes Chaos«. (Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzurgen, S. 290.) 49 Herbst, Der Totale Krieg, S. 111. 50 Blaich, Wirtschaft und Rüstung im »Dritten Reich«, S. 34. Folgendes Zitat ebd., S. 44. 51 Müller, Die Mobilisierung der Wirtschaft, in: Michalka, Der Zweite Weltkrieg, S. 349-363, S. 349. 52 Ausführlich dazu Janssen, Das Ministerium Speer. 53 Zur Rohstoffkontingentierung in der südwestdeutschen Textilindustrie vgl. Wolfgang Burlh u.a., Nationalsozialistische Wirtschaftslenkung, in: Rauh-Kühne/Ruck, Regionale Eliten, S. 202ff. und Fritz Blaich: Die bayrische Industrie 1933-1939. Elemente der Gleichschaltung, Konformismus und Selbstbehauptung, in: Martin Broszat/Elke Fröhlich (Hrsg.): Bayern in der NS-Zeit, Bd. 2, S. 237-280, S. 252ff. 54 Die Überwachungsstellen für Wolle und andere Tierhaare, für Baumwolle, für Bastfasern 48
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kehr mit industriellen Rohstoffen und Halbfabrikaten«55 vom 22. März 1934 und zahlreiche Durchführungsverordnungen56 ermöglichten die Bildung von Überwachungsstellen. Am 9. April 1934 rief der Reichswirtschaftsminister die Überwachungsstelle für Häute und Felle in Berlin ins Leben,57 die ihm weisungsgemäß unterstand und Ende Mai 1934 ihre Arbeit aufnahm. Der Zweck dieser Überwachungsstelle war es - dem Vorbild der Überwachungsstellen der Textilindustrie entsprechend - die Versorgung der Lederindustrie mit Fellen und Häuten »in einer wirtschaftlich möglichst günstigen Weise sicherzustellen.«58 Sie hatte die Aufgabe, »Absatz, Lagerung und Verbrauch zu regeln und zu überwachen«, um ein »Ungleichgewicht in der Devisenzuteilung und übergroße Vorräte« zu verhindern.59 Insgesamt übte die Überwachungsstelle also eine Doppelfunktion aus: Einfuhrüberwachung und Schaffung von Rahmenbedingungen für den Erzeugungs- und Verteilungsprozeß. Mit dieser umfassenden Machtbefugnis der Überwachungsstelle war »der freien Einfuhr ein Ende gesetzt.«60 Da zugleich strenge Preisvorschriften für Leder aus einheimischen Häuten erlassen wurden, bestand die Gefahr, daß die Lederfirmen verstärkt auf ausländische Häute auswichen. Dies wurde jedoch unterbunden, indem nur die Lederfirmen eine Erlaubnis zum Kauf ausländischer Häute erhielten, die solche auch schon vor der Bewirtschaftung verarbeitet hatten.61 Mit dieser Maßnahme wollten die Nationalsozialisten den deutschen Handel schützen, beschränkten damit jedoch das Recht der unternehmerischen Selbstbestimmung. Im Zuge des »Neuen Plans« wurden gemäß der »2. Verordnung über den Warenverkehr« und der »Verordnung über die Errichtung von Überwachungsstellen« vom 4. September 193462 weitere Überwachungsstellen für industrielle Güter errichtet. Damit existierten ab September 1934 25 Überwachungsstellcn für verschiedene Produkte.63 Sie waren vom Reichswirtschaftsminister mit der Überwachung des gesamten »Verkehr[s] mit Waren«64 beauftragt. Zugleich ging und für unedle Metalle wurden bereits am 26.3.1934 gegründet. (Vgl. DRA Nr. 73 v. 27.3.1934.) "RGBl. I, S. 212. 56 Vgl. RGBl. I, S. 228, 248f., 303, 340, 372, 396, 469, 528 und 801. 57 Lt. »Verordnung über Häute und Felle« v. 9.4.1934, DRA Nr. 83 v. 10.4.1934. 58 NS-Kurier v. 10.4.1934. 59 Vgl. NS-Kurier v. 27.3.1934. 60 Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 126. 61 Vgl. Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 71. 62 RGBl. I, S. 816 und DRA Nr. 209 v. 7.9.1934. 63 Dies waren die Überwachungsstelle für Tabak, für industrielle Fettversorgung, für Wolle und andere Tierhaare, für Baumwolle, für Baumwollgarne und Gewebe, für Bastfasern, für Lederwirtschaft, für Kautschuk und Asbest, für Ruß, für unedle Metalle, für Eisen und Stahl, für Holz, für Gartenbauerzeugnisse, Getränke und Lebensmittel, für Kohle und Salz, für Mineralöl, für Chemie, für Seide, Kunstseide und Kleidung, für Rauchwaren, für Papier, für technische Erzeugnisse, für Waren verschiedener Art und vier Überwachungsstellen für landwirtschaftliche Produkte. 64 Vgl. § 1 der »2. Verordnung über den Warenverkehr«. Die Überwachungsstellen wurden von den vom Reichswirtschaftsminister ernannten und an dessen Weisungen gebundenen Reichsbeauftragten geleitet. Beratend konnte der Reichswirtschaftsminister dem Reichsbeauftragten
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durch die »Änderungsverordnung zur Verordnung über die Devisenbewirtschaftung« vom 11. September 193465 auch die Devisenbewirtschaftung, soweit sie den Warenverkehr betraf, vom Zuständigkeitsbereich der Devisen- in den der Überwachungsstellen über. »Damit war der deutsche Warenverkehr in seiner Totalität erfaßt, und die Rohstoffbewirtschaftung war mit der Devisenbewirtschaftung gekoppelt. [...] In den Überwachungsstellen hat die Reichsregicrung gewissermaßen ein Mittel zur Verfügung, die Einfuhr monopolartig zu beherrschen und das verfügbare Devisenaufkommen dem jeweiligen Bedarf anzupassen. [...] Damit steht die Devisenbewirtschaftung im Dienst der Einfuhrdrosselung.«66 Die Auswirkungen der »öffentlichen Bewirtschaftung [...] durch 25 Überwachungsstellen«67 bewertete das Wirtschaftsministerium im Juni 1936 ungünstig, denn sie bringe »gewisse bürokratische Hemmungen und Verzögerungen« mit sich. Für die Lederindustrie befürchteten Fachleute negative Folgen, weil »keine Bewirtschaftung, so klug sie auch ausgedacht sei und so elastisch sie gehandhabt werden mag, spurlos an einer Industrie vorüber[geht], die, auf weltweite Beziehungen angewiesen, ihre ganze Entwicklung freier Initiative, freien Entschlüssen und freiem Untemehmergeist«68 verdanke. Denn auch die eben erst gegründete Überwachungsstelle für Felle und Häute war von den Veränderungen betroffen: Sie wurde umstrukturiert, erhielt einen neuen Namen und wurde mit neuen Kompetenzen ausgestattet.69 Aus der »Überwachungsstelle für Felle und Häute« wurde die »Überwachungsstelle für Lederwirtschaft«. Neben der Bewirtschaftung von Fellen und Häuten fiel nun die Bewirtschaftung allen Leders, aller Lederwaren und Gerbmaterialien in ihre Verantwortlichkeit.70 Die Lederfirmen hatten monatliche Meldungen über Lagerbestände, Beschäftigte, Verarbeitungsmenge und Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Ausland bei der Überwachungsstelle anzugeben.71 Darüber hineinen Beirat zur Seite stellen. Anfallende Kosten der Uberwachungsstelle waren von den ihr zugehörenden Unternehmen in Form von Abgaben oder Umlagen zu entrichten. Uber eventuelle Überschüsse bestimmte der Reichswirtschaftsminister. (Vgl. Gebührenordnung der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 22.8.1934, DRA Nr. 207 v. 5.9.1934.) 65 RGBl. I, S. 829. "Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 126. 67 Blaich, Die bayrische Industrie, in: Bayern in der NS-Zeit, Bd. II, S. 256f. Folgendes Zitat ebd. 68 Häfner, Die Lederindustrie, S. 30. 69 Vgl. Verordnung über die Errichtung von Überwachungsstellen und Bekanntmachung über die Zuständigkeit der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 14.9.1934, DRA Nr. 218 v. 15.9.1934. Die Grundlage der Überwachungsstelle für Häute und Felle, das »Gesetz über den Verkehr mit industriellen Rohstoffen und Halbfabrikaten« v. 22.5.1934, und zahlreiche Durchführungsverordnungen wurden durch die »2. Verordnung über den Warenverkehr« außer Kraft gesetzt. (Vgl. § 20 dieser Verordnung.) 70 Die Überwachungsstelle für Lederwirtschaft regulierte den Verkehr mit 75 verschiedenen Waren der Lederindustrie, wie Nadelholzrinden, Maultierhäute, Filzpantoffel oder Lederabfälle. (Vgl. ebd. 71 Vgl. § 9 der Anordnung 6 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 22.10.1934, in: Die Anordnungen der Überwachungsstellen für Leder-, Kautschuk-, Asbest-, Rußindustrie, Fettversorgung, Tabakindustrie und Vorschriften zur industriellen Rohstoffbewirtschaftschaf-
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aus griff die Überwachungsstelle, die bisher auf den Außenhandel und Devisenfragen beschränkt gewesen war, nun auch massiv in den Binnenmarkt ein. Dies geschah in erster Linie durch den Erlaß zahlreicher Produktions- und Preisvorschriften.72 Zu den anfangs nur »devisentechnischen Kontrollfunktionen«73 der Reichsstelle waren Aufgaben der Rohstoffbewirtschaftung gekommen. Diese wurden durch die Vergabe von Einkaufs- oder Verarbeitungsgenehmigungen erfüllt. Bis 1936 erfolgte jedoch keine »direkte Bewirtschaftung«, denn die Überwachungsstelle schloß nur unerwünschte Einkäufe oder Verarbeitungsmöglichkeiten aus, schrieb jedoch keine direkt vor. Um den 1936 in Kraft getretenen Vierjahresplan »gegenüber der gewerblichen Wirtschaft durchsetzen zu können,«74 wurden die Kompetenzen der Überwachungsstellen weiter ausgebaut. Sie hatten nun die planmäßige Lenkung des gesamten Warenverkehrs vorzunehmen, also den Erwerb und die Verwendung von Rohstoffen sowie Halbwaren seitens der Industrie und des Handwerks zu reglementieren.75 Mit der zunehmenden Verknappung von Rohstoffen änderte sich deren Verteilung grundsätzlich. Die im Rahmen der Bildung der Vierjahresplanbehörden geschaffene »Geschäftsstelle Rohstoffverteilung« unter der Federführung des badischen Ministerpräsidenten Köhler übernahm die Aufgabe der direkten Rohstoffverteilung auf große Bedarfsbereiche, während die Überwachungsstellen die Feinverteilung auf die Betriebe organisierten. Die Überwachungsstelle für Lederwirtschaft erlebte im Rahmen des Vierjahresplans weitere Veränderungen.76 Zunächst änderte sie abermals ihren Namen, ab 1936 hieß sie »Reichsstelle für Lederwirtschaft«.77 Zwar hatte sie bisher offiziell der Dienstaufsicht des Wirtschaftsministeriums unterstanden, doch war sie bis 1936 »faktisch unabhängig«.78 Bis zu diesem Zeitpunkt wurden ihre Kompetenzen auch laufend ausgeweitet. Mit der Errichtung der Vierjahresplanorganisationen entstanden dann Konkurrenzbehörden, an die die Reichsstelle für Lederwirtschaft ihre Selbständigkeit und Kompetenzen teilweise vertung. Zusammengestellt und herausgegeben von Heinrich Troeger, Frankfurt/M. 1935, S. 19ff. 72 Die Grundlage der folgenden weitreichenden Eingriffe in den Wirtschaftsmarkt war die »4. Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung der Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens« v. 8. Dezember 1931. (RGBl. I, S. 699 und 747.) 73 Petzina, Autarkiepolitik, S. 153. Folgendes Zitat ebd. 74 Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 290. 75 Vgl. Petzina, Autarkiepolitik, S. 58ff. 76 Zur Organisation der Reichsstelle für Lederwirtschaft zu diesem Zeitpunkt vgl. BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 61. 77 Vgl. Walter Otto: Die deutsche Lederwirtschaft im Kriege, in: DVW 1940, Nr. 14, S. 444-447, S. 444. Personell änderte sich jedoch nichts. Der Reichsbeauftragte fiir Felle und Häute, Legationsrat Steinbeck, wurde zum Reichsbeauftragten für die Lederwirtschaft. Ab 1938 jedoch ist ein schneller Wechsel der jeweiligen Reichsbeauftragten zu beobachten. Von Juni 1938 bis April 1940 wurde dieses Amt von Legationsrat von der Decken ausgeübt, danach bis Januar 1942 von Heimer. Dessen Nachfolger war von 1942 bis Frühjahr 1943 Prof. Dr. Fritz Stather, Leiter der Gerberschule in Freiberg/Sachsen. Danach übernahm Di. Walter Mohr dieses Amt. 78 Petzina, Autarkiepolitik, S. 153.
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lor. Im August 1939 wurden die Reichsstellen dann wieder dem Reichswirtschaftsministerium unterstellt.79 Einen schwerwiegenden Eingriff in die Kompetenzen der Reichsstelle für Lederwirtschaft bedeutete die Gründung der Gemeinschaft Schuhe im November 1942.80 Diese übernahm »die kriegsökonomische Bewirtschaftung, indem sie die bereits vorhandenen Institutionen von Handwerk, Handel und Gewerbe einheitlich lenkend« zusammenfaßte »und für deren straffen kriegswirtschaftlichen Einsatz Sorge« trug.81 Mitglied in der Gemeinschaft Schuhe waren »alle Unternehmungen, Betriebe und Einzelpersonen im Großdeutschen Reich,« die »Schuhe aller Art gewerblich herstellen, ausbessern, einführen oder verteilen.«82 Die Gemeinschaft unterstand ebenfalls der Aufsicht des Reichswirtschaftsministers.83 Sie übernahm die Aufgaben, die bisher im Kompetenzbereich der Reichsstelle für Lederwirtschaft gelegen hatten. So war sie jetzt für die Beschaffung der Rohstoffe zuständig, wies den Firmen »Erzeugungsaufgaben« zu, schrieb die Produktion vor, betrieb die Rationalisierung der Produktionsabläufe, die Typisierung und Normierung des Schuhwerks und verfügte Betriebsschließungen und -Zusammenlegungen. Ebenso fielen nun die Bemühungen, Schuhe mit Ersatzstoffen herzustellen, in den Kompetenzbereich der Gemeinschaft Schuhe.84 Nach der Übernahme des Rüstungsministeriums durch Albert Speer verloren die Reichsstellen weiter an Einfluß. Ihre Kompetenzen wurden von den neugegründeten Organisationen, den Hauptausschüssen und -ringen, übernommen. Bis Ende 1943 war die Reichsstelle für Lederwirtschaft wieder lediglich für die Zuteilung von Rohstoffen zuständig, Einfluß auf die Produktion nahm sie nicht mehr.85 Im September 1943 ging die Zuständigkeit des Reichswirtschaftsministeriums für die Reichsstellen endgültig in die Verantwortlichkeit Speers über.86 Nach der Errichtung eines Produktionsausschusses auch im Bereich der Lederwirtschaft Anfang 194487 wurde die Reichsstelle von den Aufgaben der 79
Janssen, Das Ministerium Speer, S. 174. Vgl. Anordnung v. 15.10.1942, DRA Nr. 242 v. 15.10.1942. Zur Vorgeschichte vgl. BAP 25.01 Bü 6621. Zur Geschäftsordnung der Gemeinschaft Schuhe vgl. BÄK R lü VI Bü 1. 81 Hans-Erich Volkmann: Zum Verhältnis von Großwirtschaft und NS-Regime im Zweiten Weltkrieg, in: Bracher/Funke/Jacobsen, Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, S. 480-508, S. 488. 82 §2.1. der Anordnung v. 15.10.1942, DRA Nr. 242 v. 15.10.1942. Vgl. BAP 31.01 Bü 11804. 83 Vgl. § 1.3. dieser Anordnung. 84 Vgl. Satzung der Gemeinschaft Schuhe, BAP 25.01 Bü 6621 und BÄK R 3 Bü 306. Zum inneren Aufbau der Gemeinschaft Schuhe vgl. Gemeinschaft Schuhe an das Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion v. 10.11.1944, BÄK R 10 VI Bü 1. 85 Janssen, Das Ministerium Speer, S. 133f. 86 Vgl. Erlaß über die Konzentration der Kriegswirtschaft v. 6.9.1943, RGBl. I, S. 531. 87 Der Produktionsausschuß Lederwirtschaft des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion bestand aus insgesamt sieben Produktionsausschüssen (Lederaustausch stoffe, Ledererzeugung, Ledertreibriemen, Ledei waren und Koffer, Heeresausriister, Lederhandschuhe und Lederschuhe) mit zahlreichen Unterausschüssen und Technischen Ausschüssen. Zur Organisation vgl. BÄK R 10 VI Bü 66 und R 13 VIH Bü 274. Produktionsausschüsse entsprachen den Hauptausschüssen bzw. den Hauptringen im Speer'schen System. (Vgl. BÄK R 3 Bü 303 H. 2.) 80
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Π. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
Planung, der Belegung und der Durchführung der Erzeugungslenkung entbunden.88 Insgesamt führte der Kompetenzverlust der Reichsstelle für Lederwirtschaft nicht zur Klärung der Verantwortlichkeiten, im Gegenteil, die verbliebenen Befugnisse der Reichsstelle waren nach der Umstrukturierung nie genau definiert worden. So beklagte sich der Reichsbeauftragte für die Lederwirtschaft, Dr. Mohr, im Oktober 1944 beim Reichswirtschaftsministerium, daß »sowohl der Produktionsausschuß als auch die Reichsstelle für Lederwirtschaft fast täglich gezwungen« seien, »ihre Kompetenzen gegenseitig abzugrenzen.«89 Die Umstrukturierung der Wirtschaft fand ihren Niederschlag indes nicht nur in den neugeschaffenen Überwachungsstellen, sondern auch in einer Neuorganisation der Selbstverwaltung der Wirtschaft. Im März 1934 verkündete der damalige Reichswirtschaftsminister Schmitt vor den versammelten Vertretern der wirtschaftlichen Spitzenverbände das »Gesetz zur Vorbereitung des organischen Aufbaues der deutschen Wirtschaft« vom 27. Februar 1934.90 Zugleich teilte er die Neugliederung der Organisation der deutschen Wirtschaft mit." Als Vorläufer der späteren Reichsgruppe Industrie entstanden zunächst 13 Hauptgruppen, deren vom Reichswirtschaftsminister ernannten Leiter gemeinsam mit dem Ministerium die »1. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Vorbereitung des organischen Aufbaues der deutschen Wirtschaft« vom 27. November 1934 vorbereiteten, die die Errichtung der Reichswirtschaftskammer vorsah.92 Die Reichswirtschaftskammer verstand sich als »gemeinsame Vertretung der fachlichen und bezirklichen Organisationen der gewerblichen Wirtschaft, der Industrie- und Handelskammern und der Handwerkskammern.«93 Mitglied in der Reichswirtschaftskammer waren die Wirtschafts-, Handwerks-, Industrie- und Handelskammern, Organisationen des Verkehrsgewerbes und die Reichsgruppen der gewerblichen Wirtschaft. »Die Reichswirtschaftskammer bearbeitet als Organ der Selbstverwaltung die gemeinsamen Angelegenheiten ihrer Mitglieder sowie Aufgaben, die der Reichswirtschaftsminister ihr überträgt. Der Leiter der Reichswirtschaftskammer und seine Stellvertreter werden vom Reichswirtschaftsminister berufen.« Auch die Leiter der Haupt- und Reichsgruppen wurden vom Reichswirtschaftsminister eingesetzt. Sie hatten als »Transmissionsstellen«94 die Belange ihrer Gruppe innerhalb der Wirtschaft zu vertreten, bei gleichzeitiger Wahrung der staatlichen Interessen.95 88
Vgl. Schreiben des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion v. 7.1.1944, BÄK R 3 Bü 174. Schreiben an den Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, Dr. Hayler, v. 4.10.1944, BÄK R 3 Bü 174. 90 RGBl. I, S. 185. " Bericht der Hauptgruppe VI der deutschen Industrie über das Rechnungsjahr 1934/35, BAP 31.07 Bü 16. 92 RGBl. I, S. 131 und Bericht der Hauptgruppe VI der deutschen Industrie über das Rechnungsjahr 1934/35, BAP 31.07 Bü 16. 93 BAP 31.01 Bü 9062. Folgendes Zitat ebd. 94 Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 253. 55 Vgl. »1. Verordnung zur Durchführung des Gesetztes zur Vorbereitung des organischen Aufbaues der deutschen Wirtschaft« v. 27.11.1934, RGBl. I, S. 1194. 89
Grundzüge der NS-Wirtschaftspolitik
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Die Reichsgruppe der gewerblichen Wirtschaft war in fünf Reichsgruppen gegliedert, deren größte die Reichsgruppe Industrie war.96 Diese setzte sich aus sieben Hauptgruppen zusammen, die wiederum in diverse Wirtschaftsgruppen unterteilt waren. In der Hauptgruppe IV, der sogenannten »VerbrauchsgüterIndustriegruppe«, befand sich als »Wirtschaftsgruppe A« die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie mit Sitz in Berlin.97 Zum Leiter wurde Ernst Ammer, ein Lederfabrikant aus Reutlingen ernannt, Geschäftsführer war Alfred Sauer.98 Die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie teilte sich ihrerseits in sechs Fachgruppen.''9 Diesen waren wiederum zahlreiche Fachabteilungen untergeordnet, der Fachgruppe ledererzeugende Industrie zum Beispiel 15 Abteilungen.100 Die Betreuung der jeweiligen Fachabteilungen übernahmen Lederexperten ehrenamtlich für die Dauer von zwei Jahren. Obmann der Fachabteilung Kalboberleder war 1935 Walter Freudenberg, Mitinhaber der Weinheimer Lederfirma Carl Freudenberg. Die Fachabteilung Lackleder beaufsichtigte Cornelius Heyl, Inhaber der Wormser Konkurrenzfirma von Freudenberg, die Fachabteilung Blankleder Fritz Roser, ein Feuerbacher Lederfabrikant.101 Im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsgruppen war die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie »stufenförmig, vertikal« aufgebaut. »Es besteht nämlich nicht die Regel, die Rohstofferzeugung in Verbindung mit der Herstellung des Halbfabrikates und des Fertigfabrikates zu bringen, so, wie es in der Lederwirtschaft der Fall ist. Diese bewußte Abweichung vom allgemeinen Organisationsschema«102 führte in der Folgezeit zu zahlreichen Konflikten zwischen diesen Stellen und den Lederfirmen. Bis 1935 hatten sich alle freien Verbände der Lederunternehmer aufgelöst, sie wurden aufgrund einer Verfügung der Fachgruppe ledererzeugende Industrie vom 26. und 30. März 1935 in die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie überführt. Die Organisationsstruktur der sogenannten »industriellen Selbstverwaltung« unterlag im Lauf der Zeit institutionellen Veränderungen.103 Im Oktober 1938 96
Die fünf Reichsgruppen waren: Industrie, Energiewirtschaft, Versicherungen, Banken und Handel. (Vgl. BAP 31.01 Bü 9062.) Zum Aufbau und den Aufgaben der Reichsgruppe Industrie ausführlich Puppo, Die wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung, S. 12ff. 97 Bericht der Hauptgruppe VI der deutschen Industrie über das Rechnungsjahr 1934/35, BAP 31.07 Bü 16 und BAP 31.01 Bü 9062. Zur Gliederung der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie vgl. Walter Otto: Erfolgreiche Bekämpfung der Rohstofflücke in der Ledererzeugung, in: DVW 1943, Nr. 32, S. 995-999, Gliederung der Reichsgruppe Industrie, S. 123ff. und Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 36. 98 Gliederung der Reichsgruppe Industrie, herausgegeben von der Geschäftsführung, Leipzig 1939, S. 123. 99 Dies waren die Fachgruppen ledererzeugende Industrie; Ledertreibriemen- und technische Lederwarenartikelindustrie; Lederwaren- und Kofferindustrie; Lederhandschuhindustrie; Schuhindustrie sowie Hausschuhindustrie. (Vgl. Bericht der Hauptgruppe VI der deutschen Industrie über das Rechnungsjahr 1934/35, BAP 31.07 Bü 16.) 100 Dies waren die Fachabteilungen Unterleder, Riemen- und technische Leder, Rindoberleder, Kalboberleder, Lackleder, Roßoberleder, Ziegenleder, Schafleder, Fahlleder, Vachetten, Blankleder, Handschuhleder, Bekleidungsleder, Handschuhleder, Bekleidungsleder, Farbige Feinleder- und Reptilienleder und Sämischleder. ""Vgl. Schreiben der Fachgruppe Lederherstellung v. 22.11.1934, WABW Y 11. 102 Otto, Erfolgreiche Bekämpfung der Rohstofflücke, S. 995. 103 Zur Organisation der Reichsgruppe Industrie vgl. Gliederung der Reichsgruppe Industrie, S. 5ff.
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II. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
und im April 1939 kam es zu einer organisatorischen Vereinfachung durch den Wegfall der sieben Hauptgruppen. Damit waren die einzelnen Wirtschaftsgruppen der Reichsgruppe Industrie direkt nachgeschaltet. Dieser Vereinfachung stand auf der anderen Seite eine immer stärker wachsende Komplexität gegenüber. Zahlreiche Wirtschaftsgruppen wurden geteilt, weitere Fachgruppen, Fachuntergruppen oder Fachabteilungen geschaffen. Bis 1939 hatte sich die Reichsgruppe zu einem riesigen Verwaltungsapparat entwickelt, dessen Strukturen für die Industriellen kaum mehr zu durchschauen waren. Die Reichsgruppe bestand zu Beginn des Krieges aus 31 Wirtschaftsgruppen, 162 Fachgruppen und 143 Fachuntergruppen. Hinzu kamen bei einigen Fachuntergruppen noch verschiedene Fachabteilungen. Außerdem war die Reichsgruppe noch in sogenannte bezirkliche Gliederungen aufgeteilt.104 Dabei handelte es sich um insgesamt 74 Stellen und Institutionen. Die sich davon unterscheidenden bezirklichen Gliederungen der Wirtschaftsgruppen wurden nach der Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich mit neben- und untergeordneten Stellen auf 417 erhöht. Die Neuorganisation auf insgesamt 827 Gruppen und Abteilungen wurde von den Verantwortlichen dennoch als Vereinfachung empfunden, hatten vor 1938/39 doch noch über 1000 Gliederungen bestanden. Die Kompetenzen wurden zwischen der Überwachungsstelle und den Organisationen der Lederwirtschaft aufgeteilt. Die Planung und Lenkung oblag der Überwachungsstelle, für die praktische Durchführung bediente sie sich der Organisationen der Lederwirtschaft. Zur Ausübung der Bewirtschaftungsfunktion wurde als »verbindende Brücke« zwischen Reichsstelle und Betrieben die Fachgruppe ledererzeugende Industrie eingeschaltet, um »so den betriebsnäheren Kontakt zu den Unternehmungen bei der Durchführung der Bewirtschaftungsmaßnahmen zu finden.«105 Die Fachgruppe war somit nicht nur für die Ledererzeugung zuständig, sondern auch für die Zuteilung von Produktionsaufgaben auf die einzelnen Betriebe und die Verteilung von Häuten. Bei Betriebsstillegungen hatte sie beratende Funktion. Die Wirtschaftsgruppe war allein zuständig für die Zuteilung von Hilfsstoffen, die unmittelbare Betreuung und vor allem für die Lenkung der Lederfaserwerkstofferzeugung. Bis zur Übernahme des Rüstungsministeriums durch Speer war diese Organisation nur kleineren Eingriffen, Änderungen und Kompetenzverlagerungen 104
Nach der »1. Durchführungsverordnung v. 27. November 1934 zum Wirtschaftsaufbaugeselz v. 27. Februar 1934« wurde die Reichsgruppe Industrie ermächtigt, Bezirksgruppen innerhalb ihrer Organisation einzurichten. Diese Bezirksgruppen waren den bestehenden bezirklich-fachlichen Gruppen in den Fachgruppen korporativ angeschlossen. Während sich die Kompetenzen der bezirklich-fachlichen Gruppen ausschließlich auf die fachlichen Angelegenheiten innerhalb eines Bezirks beschränkten, umfaßte das Aufgabenfeld der Bezirksgruppen Belange, die alle Industriezweige innerhalb eines Bezirks betrafen, z.B. Werksluftschutz, Sozialpolitik u.a. Für die Betriebe bestand eine Zwangsmitgliedschaft in diesen Bezirksgruppen. (Vgl. Schreiben der Fachgruppe ledererzeugende Industrie v. Dezember 1935, WABW Y 11 und Reichsgruppe Industrie an die Wirtschaftsgruppen v. 25.2.1937, Β AP 31.07 Bü 16.
105
Otto, Erfolgreiche Bekämpfung der Rohstofflücke, S. 995. Zur Kompetenzverteilung ebd., S. 995-999.
Staatliche Lenkung in der Schuh- und Lederindustrie
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unterworfen. Im Verlaufe des Jahres 1942 trat jedoch die »Neuordnung der Bewirtschaftung« in Kraft.106 Der »Erlaß über die Aufgabenverteilung in der Kriegswirtschaft« vom 29. Oktober 1943 reformierte die bestehende Wirtschaftsorganisation weiter.107 Der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie wurde ein Produktionsausschuß Lederindustrie beigeordnet und auf Kosten der bestehenden Institutionen mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet.108 Speers Plan war es, Doppelzuständigkeiten aufzuheben. Für die Produktion schuf Speer sechs verschiedene Produktions-Hauptbereiche. Die Wirtschaftsbeieiche Schuh und Leder wurden in das Produktionsamt für Verbrauchsgüter eingegliedert. Diesem Amt waren die Gemeinschaft Schuhe und die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie nachgeschaltet. Neben den Ämtern, die sich mit den Produktionsaufgaben befaßten, errichtete Speer Amter zur Wahrnehmung sogenannter »Querschnittsaufgaben«, die die gesamte Industrie betrafen, wie Arbeitseinsatz, Devisen oder Preisgestaltung. Insgesamt waren den Wirtschaftsgruppen nach der Umorganisation Kompetenzen genommen worden. Speer hatte mit dem Ausschuß- und Ringsysteni Parallelorganisationen geschaffen, die zahlreiche Aufgaben, die zuvor in der Verantwortlichkeit der Wirtschaftsgruppen oder Reichsstellen gelegen hatten, an sich zogen. Die Ringe und Ausschüsse waren für die gesamte Fertigung zuständig, für Typisierung und Normung, für Produktionsverfahren und Rohstoffeinsparung.109 Den Wirtschaftsgruppen fielen in diesem System lediglich »Hilfsfunktionen für die Aufgaben der Ausschüsse und Ringe«110 zu. Die Fachgruppen bestanden zwar auch nach der Bildung des Ring- und Ausschußsystems weiter, »ihre Kompetenzen erstreckten sich seit April 1943 jedoch lediglich auf die Aufstellung von Belegplänen und Materialzuteilungen.« Eigene Tätigkeiten durften die Wirtschaftsgruppen nur auf statistischem Gebiet oder bei der Mithilfe der Kontingentsverteilung entfalten.
106
Vgl. Volkmann, Großwirtschaft und NS-Regime, in: Bracher/Funke/Jacobsen, Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, S. 488ff. ""Ausführlich dazu Erlaß über die Aufgabenverteilung in der Kriegswirtschaft v. 29.10.1943, StAL EL 540 Bü 2665. 108 Vgl. Leiter des Produktionsausschusses der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie. Heinrich Krumm, an den Leiter des Produktionsausschusses ledererzeugende Industrie, Wilhelm Möhlenbeck, v. 25.1.1944, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 296. 109 Zum Speer'schen Ring- und Ausschußsystem Janssen, Das Ministerium Speer, Günther Brehmer: Grundzüge der staatlichen Lenkung der Industrieproduktion in der deutschen Kriegswirtschaft von 1939-1945, Bonn 1968, S. 34ff„ Herbst, Der Totale Krieg, S. 253ff., Willy A. Boelcke: Die deutsche Wirtschaft 1930-1945. Interna des Reichswirtschaftsministeriums, Düsseldorf 1983, S. 280ff., Dietrich Eichholz: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bd. Π: 1941-1943, Berlin 1985, S. 146ff., Müller, Die Mobilisierung der Wirtschaft, in: Michalka, Der Zweite Weltkrieg, S. 349-363, ders.: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/1, Stuttgart 1988, S. 347-689. ""Gemeinschaft Schuhe an die Fachgruppen Schuh- und Hausschuhindustrie v. 4.2.1943, BÄK R 13 Xffl Bü 85. Folgendes Zitat ebd.
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Π. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
2. Staatliche Lenkung in der Schuh- und Lederindustrie Der nationalsozialistische Staat versuchte sofort nach der »Machtergreifung«, durch Eingriffe in die Wirtschaft seine Macht zu stabilisieren. Dazu gehörten neben der Beseitigung der Arbeitslosigkeit zunächst die Verbesserung der katastrophalen Devisenlage. Diese Eingriffe wirkten sich auf die einzelnen Branchen unterschiedlich aus. Die größten Wachstumsraten nach 1933 verzeichnete die Investitionsgüterindustrie und hier vor allem die Bau-, Eisen- und Metallindustrie. Sie waren die wesentlichen Nutznießer der staatlichen Aufrüstungsprogramme. Ähnlich wie dies Mason für die Textil- und Bekleidungsindustrie konstatiert, war auch die Schuh- und Lederindustrie von den positiven Folgen des wirtschaftlichen Aufschwungs zunächst »fast völlig ausgeschlossen, vornehmlich durch die Beschränkung der Rohstoffeinfuhr.«111 2.1. Den Mangel verteilen: Rohstofflenkung »Träger der Rohstofflenkung waren die [...] Überwachungsstellen,«112 die seit Frühjahr 1934 die Importe und die Verteilung der Rohstoffe im Rahmen der Kontingentierung kontrollierten. Die Grundlage für die Kontingentierung war der individuelle »Normalbedarf« einer jeden Firma. Um diesen festzustellen, mußten die Betriebe ihre Lagerbestände und ihre Verarbeitungsquote des Jahres 1933 und des ersten Vierteljahres 1934 bis zum 10. Mai 1934 der Überwachungsstelle für Felle und Häute nach Berlin melden.113 Zur Schaffung einer einheitlichen Berechnungsbasis hatte diese ab dem 13. April 1934 den Einkauf von Fellen und Häuten aus dem Ausland bis zum 31. Mai verboten.114 In einer ersten Anordnung wies die Überwachungsstelle dann jeder Firma ihren Normalbedarf an Fellen und Häuten unter Berücksichtigung der Lagerbestände zu.115 Den Firmen wurde ein Vorratslager im Umfang eines zweimonatigen "'Mason, Sozialpolitik, S. 130, Anm. 14. I12 Petzina, Autarkiepolitik im Dritten Reich, S. 153. 113 DRA Nr. 103 v. 4.5.1934, NS-Kurier v. 30.5.1934 und WABW A 8, Bü 551 M 5e. " 4 RGB1.1, S. 303. und »7. Durchführungsverordnung über den Verkehr mit industriellen Rohstoffen und Halbfabrikaten« v. 18. Mai 1934, RGBl. I, S. 396. ' " D i e Errechnung des Normalbedarfs erfolgte lt. Anordnung 13 der Überwachungsstelle für Felle und Häute v. 28.5 1934 (DRA Nr. 122 v. 29.5.1934) folgendermaßen: »Die Menge der im ersten Vierteljahr 1934 verarbeiteten Felle und Häute wird mit vier vervielfacht. Ist die so errechnete Menge größer als die im Jahr 1933 verarbeitete Menge, so wird sie um ein Viertel des Unterschiedsbetrags vermindert; ist sie kleiner als die im Jahre 1933 verarbeitete Menge, so wird sie um die Hälfte des Unterschiedsbetrags vermehrt.« (Vgl. § 2 dieser Verordnung und NS-Kurier v. 1.4.1935.) Ab 1.10.1934 wurde eine andere Lösung zur Errechnung des Normalbedarfs gültig: Der Normalbedarf im Halbjahr Oktober 1934 bis März 1935 entsprach nun der doppelten Menge, die im ersten Vierteljahr 1934 verarbeitet wurde. Unterschied sich diese Menge vom halben normalen Jahresbedarf des Jahres 1933, so wurde er gesondert errechnet. (Vgl. WABW A 8, Bü 551, M 5e.) Diese Berechnung bevorzugte solche Betriebe, die 1933 eine hohe Verarbeitungsquote gehabt hatten, übermäßig gegenüber denen, die 1933 ein schlechtes Jahr hatten. (Vgl. dazu Klagen des Lederfabrikanten Gerecke, BÄK R 123 Bü 164, 5. Sen. XL 24-25 (1938).) Eine Umrechnungstabelle, aus der ersichtlich wurde, welche Menge Rohware welcher Menge in Salzgewicht entsprach, wurde jedem
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Verbrauchs zugestanden. Unter Zugrundelegung des jeweiligen Normalbedarfs erteilte die Überwachungsstelle Einkaufsgenehmigungen für jeweils ein halbes Jahr. Vor- und Rückgriffe waren bis zu einer Höhe von 10% der genehmigten Menge erlaubt.116 Sie durften jedoch nur der vorübergehenden Erhöhung der Lagerhaltung dienen, da die Lederabnehmer mit gleichbleibenden Mengen beliefert werden mußten.117 Konnte eine Firma einen Exportvertrag vorweisen, erhielt sie eine zusätzliche Einkaufsgenehmigung.118 Innerhalb der Einkaufsgenehmigung war es möglich, Häute aus dem Ausland zu kaufen. Dies komplizierte den Vorgang jedoch zusätzlich. Die Firmen, die für den Kauf importierter Häute in Frage kamen, erhielten zu Beginn eines jeden Monats eine Bescheinigung von der Überwachungsstelle über die Höhe des zu zahlenden Devisenbetrags. Mit diesem Beleg hatte der Betrieb bei der Devisenstelle eine Devisenbescheinigung zu beantragen.119 Lag diese vor, war die Lederfirma ermächtigt, Häute in ausgewählten europäischen Ländern einzukaufen.120 Für den Häuteeinkauf in den klassischen Einfuhrländern Südamerikas, Afrikas oder Indien mußten gesonderte Genehmigungen der Überwachungsstelle eingeholt werden.121 Bald zeigten sich angesichts dieses umständlichen Verfahrens Abstimmungsprobleme zwischen Devisen- und Überwachungsstelle. Die Überwachungsstelle konnte nämlich nur Importe aus bestimmten Ländern verbieten, devisenrechtliche Aufgaben blieben ihr vorenthalten. Daher übertrug Reichswirtschaftsminister Schacht den Überwachungsstellen über die im Rahmen des »Neuen Plans« erlassene »Änderungsverordnung zur Verordnung über die Devisenbewirtschaftung« vom 11. September 1934122 die Devisenbewirtschaftung, soweit sie den Warenverkehr betraf. Die Lederindustrie stand gegenüber anderen Industrien, die für die Rüstung oder andere staatspolitisch wichtige Ziele bedeutend waren, bei der Versorgung Betrieb zugeschickt. Bei Rindshäuten der Häutegruppe A2 (Zahmhäute) bedeutete 1 kg frische oder grüne Rohware 0,9 kg Salzgewicht, 1 kg trockene Rohware kam 2,25 kg Salzgewicht gleich. Bei den Kalbfellen (Häutegruppe A l ) waren die Umrechnungsgrößen ähnlich. Bei Rindshäuten der Häutegruppe Β (Wildhäute) entsprach 1 kg trockengesalzene Rolihaut 1,7 kg Salzgewicht. (Vgl. Häutegruppenübersicht der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft, WABW Y 120.) ll6 § 5 und 7 der Anordnung 13 der Überwachungsstelle für Häute und Leder, DRA Nr. 122 v. 29.5.1934. "'Vgl. Häfner, Die Lederindustrie, S. 29. "'Exportaufträge wurden nicht auf die allgemeinen Einkaufsgenehmigungen angerechnet. (Vgl. Rieger-Gutachten (Kaess 1), Bestand Kaess, § 6 der Anordnung 13 der Überwachungsstelle für Häute und Felle, DRA Nr. 122 v. 29.5.1934, Rundschreiben Nr. 41 der Fachgruppe ledererzeugende Industrie v. 28.11.1935, WABW Y 11 und Fachgruppe Lederindustrie an die Wirtschaftgruppe Lederindustrie v. 12.5.1938, BAP 31.07 Bü 15.) '"Vgl. Schreiben der Fachgruppe Lederherstellung v. 8.3.1935, WABW Y 11. 120 Dies waren Ungarn, Bulgarien, Estland, Griechenland, Jugoslawien, Lettland, Rumänien, Tschechoslowakei und die Türkei, also solche Länder, mit denen Deutschland eine aktive Lederhandelsbilanz hatte. (Vgl. § 9 und 10 der Anordnung 13 der Überwachungsstelle für Häute und Felle, Runderlaß Nr. 63/34 der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung und Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 73.) 121 § 10 der Anordnung 13 der Überwachungsstelle für Häute und Felle. 122 RGB1. I, S. 829.
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mit R o h s t o f f e n j e d o c h erst an zweiter Stelle. Z w a r fielen auch der Leder- und Schuhindustrie » i m R a h m e n der Wehrkraftverstärkung w i c h t i g e A u f g a b e n zu, deren Erledigung vordringlich behandelt« 1 2 3 werden sollten, z u m größten Teil arbeiteten diese Industrien j e d o c h für den K o n s u m . D e r Wehrmachtsbedarf galt zunächst s o w o h l in B e z u g auf die benötigten Rohhäute als auch bei d e n Gerbstoffen als gesichert, 1 2 4 während der zivile Bedarf als »nicht i m g a n z e n U m fange lebensnotwendig« 1 2 3 betrachtet wurde. Er sei - s o die Experten - vielmehr »einschränkbar, ohne daß davon die Lebenshaltung der breiten M a s s e allzusehr betroffen würde.« A n g e s i c h t s dieser Vorgabe und der angespannten D e v i s e n l a g e war e s den Lederfirmen daher nur bis z u m 1. Oktober 1935 m ö g l i c h , Leder entsprechend ihrem Normalbedarf einzukaufen. 1 2 6 A b d i e s e m Zeitpunkt bis Ende März 1936 erteilte die Überwachungsstelle für Lederwirtschaft E i n k a u f s g e n e h m i g u n g e n für Kalbfelle, Z a h m - und Wildhäute nur n o c h in H ö h e v o n 8 0 % des Normalbedarfs. 1 2 7 I m April 1 9 3 6 wurden die Kontingente der Firmen für die genannten Häutegruppen u m weitere 2 0 % herabgesetzt. 1 2 8 D e r Häutemangel führte in zahlreichen Lederfirmen zu Kurzarbeit und Entlassungen. 1 2 9 V o n Oktober 1 9 3 7 bis 1. Juli 1 9 3 9 konnten die E i n k a u f s g e n e h m i g u n g e n für Rinderhäute u m 10% erhöht werden und betrugen 7 0 % des Normalbedarfs. 1 3 0 D i e s e Zuteilungsquote galt bis Kriegsbeginn. 1 3 1 D i e reduzierten Verarbeitungsmengen führten erstmals seit d e m Ersten Weltkrieg zu Leder- und S c h u h m a n g e l in der Bevölkerung. 1 3 2 '"Vgl. Häfner, Die Lederindustrie, S. 28f. Vgl. Sitzung des Gutachter-Ausschusses am 26.5.1935, S. 323. '"Vgl. Häfner, Die Lederindustrie, S. 28f. Folgendes Zitat ebd. 126 Anordnung Nr. 14 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 28.3.1935, DRA Nr. 76 v. 30.5.1937. '"Anordnung Nr. 18 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 28.9.1935, DRA Nr. 228 v. 28.9.1935 und WABW A 8, Bü 551 M 5e. 128 Anordnung Nr. 24 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 30.3.1936, DRA Nr. 77 v. 31.3.1936. Vgl. Sitzung des Gutachter-Ausschusses am 26.5.1935, S. 323. Darüber hinaus bestimmte diese Anordnung, daß ab diesem Zeitpunkt die Einkaufsgenehmigungen nicht mehr halbjährlich, sondern vierteljährlich erteilt wurden. Dies wurde durch die Anordnung 26 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 30.6.1936 jedoch wieder aufgehoben. (Vgl. DRA Nr. 150 v. 1.7.1936.) Die Anordnung 29 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 22. Dezember 1936 verfügte die Einkaufsgenehmigungen von 1. Januar 1937 bis 30. Juni 1937. Diese sahen zwar offiziell weiterhin Einkaufsgenehmigungen für 60% vom Normalbedarf vor, jedoch erhielten alle Firmen ab Februar 1937 die Sondergenehmigung, ihr Rinderhäutekontingent um 10% zu erhöhen. 129 DAF-Reichsbetriebsgemeinschaft Leder an die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie v. 20.10.1937, BAP 31.07 Bü 14. Vgl. auch Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934-1940, hrsg. v. Klaus Behnken, Nördlingen 19897, 3. Jg. (1936) Nr. 6 v. Juni, S. 701, 4. Jg (1937) Nr. 1 v. Jan., S. 67ff. und Firma Breuninger an die Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 8.4.1939, BÄK R 123 Bü 164 5. Sen. XL 10-11 (1938). 130 Vgl. Anordnung Nr. 35 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 16.6.1937 (DRA Nr. 135 v. 17.6.1937), Bekanntmachungen der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 20.12.1937 (DRA Nr. 294 v. 21.12.1937), v. 14.6.1938 (DRA Nr. 136), v. 29.12.1938 (DRA Nr. 305 v. 31.12.1938) und v. 21.6.1939 (DRA Nr. 140 v. 22.6.1939). Vgl. auch Wehrwirtschaftsstelle Bez. Stuttgart der Wehl wirtschaftsinspektion V v. 31.3.1937 und Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 10.8.1937, v. 7.2.1938, v. 26.7.1938 und v. 1.1.1939 un die Firma Louis Schweizer, WABW Y 120. 131 Vgl. cliv. Aufzeichnungen und Schreiben der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 20.7.1939 an die Firma Louis Schweizer, WABW Y 120. 124
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Das System der Kontingentierung bedeutete jedoch keineswegs eine angemessene Verteilung der Rohstoffe. Es kam im Gegenteil zu umfangreichen Versorgungsverzerrungen. Gerade die sogenannten Bedarfsträger, also die Firmen, die wichtige Wehrmachtsaufträge ausführten, bestellten Rohware in oft weit über ihren tatsächlichen Bedarf hinausgehenden Mengen, um wenigstens das Nötigste zu erhalten. Da solche bevorzugten Firmen vorrangig mit Sondergenehmigungen ausgestattet wurden, erhielten sie oft Kontingente, die sie gar nicht verarbeiten konnten.133 Bei verderblichen Rohstoffen wie Rohhäuten führte dies bisweilen zur Vernichtung dieser knappen Güter. Auch im Bereich des Häute- und Gerbstoffexports griff die Uberwachungsstelle restriktiv ein. Generell verbot die Reichsregierung die Ausfuhr dieser Produkte durch die »Verordnung über die Ausfuhr wichtiger Lebensmittel und industrieller Rohstoffe«134 vom 12. November 1935. Lederexperten wiesen darauf hin, daß diese Regelung volkswirtschaftlich unsinnig sei, weil die deutschen Häute zum Teil mehr Devisen einbrächten als ausländische Häute kosteten. Man erhalte teilweise - so Richard Freudenberg - für den Verkauf einer deutschen Kuhhaut 1,5 argentinische Wildhäute.135 Dennoch wurde diese Regelung beibehalten, das Ausfuhrverbot ein Jahr später sogar noch auf Lederstücke und -abfälle ausgedehnt. Hier machte sich der Beginn des Vierjahresplans bemerkbar, der verstärkt die Produktion von Ersatzstoffen förderte. Für die Herstellung von Lederersatzstoffen benötigte man nämlich solche Lederabfälle. Im Rahmen des Vierjahresplans wurde die Rohwarenverteilung weiter geändert136 und reglementiert. Für die Lederbetriebe hatte dies erhebliche Umstellungen zur Folge. Den Firmen wurde nun nicht mehr nur die Menge der Rohware zugeteilt, sondern im Rahmen ihrer Kontingente ganz bestimmte Rohhäute für eine festgelegte Verarbeitung vorgeschrieben. Zwar war die Rohstoffverteilung im Bereich der Lederindustrie schon seit 1934 strenger als in anderen Branchen gehandhabt worden,137 doch waren die Rohwarenkäufe für eine Anzahl von Ländern bisher mit einer einfachen Devisenbescheinigung frei gewesen.138 Den Firmen stand es also frei, ob sie Kalbfelle in Ungarn oder in 132
Vgl. Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 279. '"Beispiele in Blaich, Wirtschaft und Rüstung im »Dritten Reich«, S. 44. Im Fall der Lederfirma Karl Häuser war das Gegenteil der Fall. Aus Mangel an Rohware mußte diese Firma Wehrmachtsaufträge ablehnen. (Vgl. Karl Häuser an das Reichswirtschaftsgericht v. 5.2.1937, BÄK R 123 Bü 157 7. Sen. XL 466 (1936).) 134 DRA Nr. 265 v. 13.11.1935. 135 Sitzung des Gutachter-Ausschusses am 26.5.1935, S. 323. 136 Der badische Ministerpräsident Köhler übernahm innerhalb der Vierjahresplanbehörde das Amt des Leiters der Geschäftsgruppe Rohstoffverteilung. Dieses Amt wurde 1937 wieder aufgelöst, die Kompetenzen gingen auf andere, neugeschaffene Instanzen über. '"Andere Branchen führten die Rohwarenkontingentierung deutlich später als die Lederindustrie ein, bei Eisen und Stahl erfolgte eine Kontingentierung z.B. erst 1937. (Vgl. Petzina, Autarkiepolitik, S. 154f.) 138 Vgl. Anordnung Nr. 13 der Überwachungsstelle für Felle und Häute v. 28.5.1934. DRA Nr. 122 v. 29.5.1934. Diese Länder waren lt. § 9 und 10 dieser Anordnung Ungarn, Bulgarien, Estland, Griechenland, Jugoslawien, Lettland, Rumänien, Tschechoslowakei und Türkei.
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Estland kauften. Dies änderte sich nun: Hatte eine Firma etwa Schuhoberleder im Produktionsprogramm, so wurde ihr nun zur Herstellung beispielsweise lettisches Kalbfell zugeteilt. Mit Kriegsbeginn wurde die Grundlage der Häutekontingentierung geändert. Statt eines einheitlichen Prozentsatzes des individuellen Normalbedarfs erhielt jede Firma für jede Ledersorte eine sogenannte »Grundziffer« zugeteilt. Die »Zuteilung und die Einarbeitung [durfte] in einem Rohhautgewicht erfolgen [...], welches durch Vervielfältigung dieser Grundziffer mit den von der Reichsstelle monatlich festgelegten Multiplikatoren errechnet wurde.«139 Der Normalbedarf hatte es den Firmen noch erlaubt, die Höhe der Einarbeitungsmenge im Rahmen der Einkaufsgenehmigungen und die aus diesen Häuten hergestellten Ledersorten selbst zu bestimmen.1"0 Das Grundziffernsystem schrieb verbindlich vor, wieviel und welche Rohware eingearbeitet werden mußte. Dies diente offensichtlich der Sicherung des Wehrmachtsbedarfs. Bisher hatten die Lederunternehmer auch noch selbst entscheiden können, bei welchen Lieferanten sie welche Häutesorte im Rahmen ihrer Einkaufsgenehmigung erwarben. Dies war nun nicht mehr möglich. Insgesamt ist festzuhalten, daß die Reichsstelle für Lederwirtschaft im Bereich der Häuteversorgung der Lederfirmen und daran anknüpfend der Lederversorgung der Schuhfirmen in erster Linie mit der Verwaltung des permanenten Mangels beschäftigt war. Egal nach welchem System die Rohstoffe verteilt wurden, keines von ihnen konnte das Defizit nachhaltig beheben. Zwar konstatiert Rolf Wagenführ, daß »in der deutschen Wirtschaft« »bis Mitte 1944 [...] keine allgemeine Schwierigkeit in der Rohstoffversorgung«141 bestanden habe, dies gilt jedoch nicht für die Schuh- und noch weniger für die Lederindustrie. Diese importabhängigen Industrien hatten seit 1934 mit der Reglementierung von Rohstoffen und seit 1935 mit einer völlig unzureichenden Versorgung zu leben. 2.2. Preisgestaltung im Bereich der Lederwirtschaft142 Mit Eingriffen im Bereich der Preisgestaltung hielten sich die Nationalsozialisten bis 1936 weitgehend zurück. Dies galt nicht für die Lederwirtschaft. Hier war es infolge der erhöhten Nachfrage nach Leder ab 1933 zu starken Preiserhöhungen gekommen.143 Anders als in anderen Industriezweigen wurde der 1934 ernannte Preiskommissar, dessen Existenz im allgemeinen nur mit Propagandazwecken begründet wird,144 in der Lederbranche aktiv. Die »Verord139
Jahresbericht der Firma Louis Schweizer über das Jahr 1940, S. 1, WABW Y 120. Vgl. Rieger-Gutachten (Kaess 1), Bestand Kaess. 141 Wagenführ, Die deutsche Industrie im Kriege, S. 52. 142 Zu allgemeinen Eingriffen in die Wirtschaft zur Preisgestaltung vgl. Hoffmann: Preisüberwachung, RVerwBl. 1936, S. 49ff. und Puppo, Die wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung, S. 9 Iff. H3 Vgl. Aussage von Richard Freudenberg, in: Sitzung der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie am 2.4.1935, Β AP 31.07 Bü 11. l44 Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 269f. 140
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nung zur Verhinderung von Preissteigerungen auf dem Gebiet der Lederwirtschaft«145 vom 20. April 1934 fror den Preis für inländische Häute auf dem Stand vom März/April 1934 ein, die »3. Verordnung über Preise für ausländische Waren«146 auch den für ausländische Häute. Nachdem der Reichswirtschaftsminister am 5. November 1934 die Bestellung eines Reichskommissars für die Preisüberwachung für die gesamte deutsche Industrie angeordnet hatte,147 ermächtigte dieser die Uberwachungsstelle für Lederwirtschaft am 14. November 1934 durch die »2. Verordnung zur Verhinderung von Preissteigerungen auf dem Gebiete der Lederwirtschaft«148 zur Höchstpreisfestsetzung auch für Häute, die im freien Handelsverkehr verkauft wurden. Weitere Verordnungen modifizierten zwar die Preisfestsetzungen,149 nachdem sich herausgestellt hatte, daß eine strikte Preisplanung mit einem Naturprodukt, wie es Felle, Häute und vegetabilische Gerbstoffe sind, nicht durchführbar war.150 Dennoch wurde die Lederindustrie durch diese Verordnungen ihres Wesens als saisonabhängige, konjunkturempfindliche und damit spekulative Branche beraubt. Die Flexibilität der Häutepreise infolge großer qualitativer Unterschiede der Häute war mit dem Preisstopp aufgehoben. Langfristige Planungen sind in der Lederbranche jedoch nur zu realisieren, wenn große Lager und bewegliche Geldmittel zur Verfügung stehen. Große Lagerbestände wurden den Lederunternehmen jedoch von der nationalsozialistischen Planungspolitik untersagt, Devisen nicht genehmigt. »Während sich früher für den Häuteimport die Frage stellte, wo, wann und was in welcher Qualität gekauft werden sollte, muß heute kurzfristig und in kleinen Mengen in dem Land gekauft werden, für das im Augenblick Devisen zur Verfügung stehen.«, so schildert ein Lederunternehmer die Auswirkungen.151 Eine solche Strategie verhinderte den kurzfristigen, preisgünstigen Häuteeinkauf. »So kann es vorkommen, daß die Notwendigkeit, in einem bestimmten Augenblick auf Grund knapper Lager und zugeteilter Devisen verfügen zu müssen, in die Zwangslage führt, im ungünstigsten Moment zu kaufen.« Die daraus folgende Umlenkung und Zersplitterung des Häuteimports führte zu Qualitätseinbußen. Anstatt die Standardware in einigen wenigen Ländern wie Argentinien oder Brasilien zu erwerben, wurden Häute zweifelhafter Güte meist in kleinen Partien aus vielen verschiedenen Ländern bezogen. ,45
RGB1.1, S. 318. Zu den Auswirkungen vgl. Puppo Die wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung, S. 99f. I46 RGB1. I, S. 843. ,47 RGB1. I, S. 1085. I48 RGB1.1, S. 1162. ,49 So wurden die Preise lt. Anordnung 9 der Überwachungsstelle v. 18.1.1935 (DRA Nr. 16 v. 19.1.1935) neu berechnet. Die Verordnung v. 4.4.1935 (RGBl. 1, S. 305) ermöglichte eine »angemessene Lederpreiserhöhung« infolge gestiegener Preise für Gerbstoffe und für ausländische Häute. Weitere Verordnungen zur Preisangleichung DRA Nr. 179 v. 3.8.1935, Nr. 269 v. 16.11.1935, Nr. 62 v. 13.5.1936, Nr. 150 v. 1.7.1936 und Nr. 219 v. 19.9.1935. ""Vgl. Aussage von Ernst Ammer, in: Sitzung der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie am 2.4.1935, BAP 31.07 Bü 11. 151 Häfner, Die Lederindustrie, S. 30. Folgendes Zitat ebd.
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Im Rahmen des Vierjahresplans übernahm der schlesische Gauleiter Wagner den Posten des Reichskommissars der Geschäftsgruppe Preisbildung. Er erließ am 26. November 1936 eine allgemeine Preisstoppverordnung,152 von der auch die Lederindustrie betroffen war. Die bisherigen zahlreichen Anpassungsverordnungen waren damit aufgehoben. Für jene Lederfirmen, die Importhäute verarbeiteten, bedeutete dies jedoch, daß sie für die aus den teuren ausländischen Häuten hergestellten Leder keine höheren Preise verlangen konnten. Gleichzeitig mußten in immer stärkerem Maße die hochwertigen überseeischen Gerbstoffe durch wenig gerbstoffhaltige einheimische eingesetzt werden. Dies verteuerte die Kosten für die Lederherstellung. Da ein solcher Fall in anderen Industrien nicht oder nur selten auftrat, führte dies zu einer Sonderregelung für die Lederindustrie. Die »Neue Lederpreisverordnung«153 vom 5. Mai 1937 hob die Preisstoppverordnung wieder auf und regelte die Bedingungen, unter denen hier Preiserhöhungen vorgenommen werden durften. In der Schuhindustrie wurde die Preisbildung erst mit Inkrafttreten der Preisstoppverordnung vom 26. November 1936 an staatliche Vorschriften gebunden. Ebenso wie in der Lederindustrie stellte sich jedoch schnell heraus, daß die festgesetzten Höchstpreise für Schuhe angesichts der steigenden Rohstoffpreise nicht zu halten waren, so daß eine gesonderte Preisvorschrift im Rahmen der Lederpreisverordnung vom 29. April 1937 auch die Höchstpreise für Schuhe regelte.154 Die Preise, die für Wehrmachtsschuhe verlangt werden durften, wurden nach speziellen Richtlinien, den sogenannte LSO-Bestimmungen155, festgesetzt. Nach Kriegsbeginn wurden die Preise für Leder, das nun in der Hauptsache über die Gerbervereinigungen an die Wehrmacht abzugeben war, nach den Bestimmungen der Lederpreisverordnung durch sogenannte Preiserrechnungsvorschriften (P.V.) alle vier Monate neu bestimmt.156 Trotz Preisverschiebungen bei den Rohhäuten und Gerbstoffen blieben die Lederpreise in der Kriegszeit nahezu stabil.157 Ahnliches galt für die Schuhindustrie. Die im Krieg vorangetriebe Normierung und Typisierung der Schuharten158 machte es möglich, 1943 die Höchstpreise für Herstellung und Vertrieb festzusetzen, die Göring bereits im Jahr 1936 vorgeschlagen hatte.159 152
RGB1. I, S. 955.
I53
154
D R A Nr. 5 7 v. 4.5.1937.
Vgl. Preisverordnung P.V. ΙΠ/1, Bestand Kaess. '"Leitsätze für die Preisermittlung auf Grund der Selbstkosten bei Leistungen für öffentliche Auftraggeber v. 15.11.1938, RGBl. I, S. 1624. '"Vgl. Jahresbericht der Firma Louis Schweizer aus dem Jahr 1940, WABW Y 120. 157 Vgl. Rundschreiben Nr. 24 der Fachgruppe ledererzeugende Industrie v. 30.6.1941 und Jahresbericht der Firma Louis Schweizer aus dem Jahr 1943, WABW Y 120. Mitentscheidend dafür war die Tatsache, daß sich zwar Gerbstoffe zu Beginn des Krieges verteuerten, jedoch in großer Menge billige sogenannte »Beutehäute« aus dem Osten zur Verfügung standen. (Vgl. Jahresbericht der Firma Schweizer aus dem Jahr 1943, WABW Y 120.) 158 Zur Normung von Schuhmodellen vgl. div. Anordnungen der Gemeinschaft Schuhe, BÄK R 13 XIII Bü 85. 159 Vgl. Preisverordnung P.V. ΙΠ/Ι/43, Bestand Kaess.
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2.3. Staatlich gefördertes »Preisdumping« zur Steigerung des Exports: Das Zusatzausfuhrverfahren Zur Steigerung des Exports wurde 1935 das sogenannte Zusatzausfuhrverfahren eingeführt.160 Das Reichswirtschaftsministerium begründete es gegenüber den Betrieben mit der Notwendigkeit, den »Weiterbestand der günstigen Inlandskonjunktur«161 zu sichern. Deshalb sei es erforderlich, »daß die lebensnotwendigen Bedarfsgüter aus dem Ausland in ausreichender Menge bezogen werden können. Die Sicherstellung dieser Einfuhr muß durch eine angemessene Ausfuhr deutscher Erzeugnisse erfolgen. Unter den Schwierigkeiten, welche gegenwärtig der deutschen Ausfuhr erwachsen, spielt eine besondere Rolle der Wettbewerb von Ländern mit abgewerteten Währungen, durch den die Preise auf den Auslandsmärkten außerordentlich stark gesunken sind, so daß die inländischen Kosten vielfach nicht voll gedeckt werden. Das Zusatzausfuhrverfahren soll dem deutschen Ausführer eine Beihilfe zur Uberbrückung der bei dieser Sachlage entstandenen Verluste bieten.« Um einer Klage der ausländischen Konkurrenz wegen Wettbewerbsverzerrung aus dem Wege zu gehen, wurde auf strikte Geheimhaltung Wert gelegt.162 Die Finanzierung dieses Verfahrens erfolgte nach dem »Gesetz über die Erhebung von Umlagen in der gewerblichen Wirtschaft«163 vom 28. Juli 1935, das die »Erhebung und Verwendung von Umlagen [...] von Unternehmungen der gewerblichen Wirtschaft« erlaubte. Die einzelnen Betriebe hatten einen Betrag von 2,47% ihres Monatsumsatzes an die jeweilige Fachgruppe zu entrichten.164 Mit diesen Beiträgen wurden dann die unrentablen Exporte subventioniert, also eine Art staatliches »Exportdumping« betrieben.165 Für die Lederindustrie wurde zu diesem ""Gesetz, über die Erhebung von Umlagen in der gewerblichen Wirtschaft v. 28.6.1935, RGBl. I, S. 812. Zur Entstehung des Zusatzausfuhrverfahrens vgl. Aktennotiz über die Sitzung der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie am 2.4.1935, BAP 31.07 Bü 12 und Leiter der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, Emst Ammer, an das Reichswirtschaftsministerium v. 14.5.1935, BAP 31.07 Bü 15. 161 Bestimmungen des Reichswirtschaftsministeriums über die Förderung zusätzlicher Ausfuhr v. 1.7.1935, WABW Y 11. Folgendes Zitat ebd. l62 Vgl. Rundschreiben Nr. 9 der Fachgruppe Ledertreibriemen und technische LederartikclIndustrie v. 6.7.1935 und Schreiben der Fachgruppe ledererzeugende Industrie, Rundschreiben Nr. 28 v. 7.7.1935, WABW Y 11. '"RGBl. I, S. 812. '"Vgl. Schreiben des Leiters der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, Ernst Ammer, v. 13.6.1935, in: Deutschland-Berichte 2. Jg. (1935), Nr. 6 v. Juni, S. 772f und Rundschreiben Nr. 11 der Fachgruppe Ledertreibriemen und technische Lederartikel-Industrie v. 3.8.1935, WABW Y 11. l63 Zu Konflikten, die sich aus unterschiedlich hohen Beträgen für Industrie- und Handwerksbetriebe ergaben, vgl. Fachgruppe Ledertreibriemen und technische Lederartikel-Industrie an die Reichswirtschaftskammer v. 5.6.1936, BAP 31.07 Bü 17, Schreiben der Reichsgruppe Industrie v. 26.4.1935, ebd., Leiter der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, Ernst Ammer, an das Reichswirtschaftsministerium v. 14.5.1935, BAP 31.07 Bü 15, Fachgruppe Lederwaren und Kofferindustrie an die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie v. 22.8.1935, ebd. und Schriftwechsel zwischen der Reichswirtschaftskammer und der Berliner Zurichterei Pichmann aus dem Jahr 1936, BAP 31.07 Bü 14.
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Zweck ein »Geheimer Exportschlüssel« erlassen, aus dem zu ersehen war, welche Höhe die Zuschüsse nach dem Zusatzausfuhrverfahren für bestimmte Lederarten betrugen.166 Lederfirmen, die Exporte nach dem Zusatzausfuhrverfahren bezuschußt haben wollten, mußten bis zum 1. Juli 1935 einen Antrag bei der »Devisenstelle der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie« stellen, danach waren diese Anträge bei der jeweiligen Fachgruppe und der »Prüfstelle der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie«167 in Berlin einzureichen.168 Die Fachgruppe führte eine Vorprüfung durch und leitete ihr Ergebnis an die Prüfstelle weiter.169 Hier wurden sowohl die Preise genehmigt als auch die Anträge auf Förderung geprüft und im Falle der Genehmigung an die Golddiskontbank zwecks Auszahlung weitergeleitet.170 Bewilligt wurden Exportvorhaben wie das der Reutlinger Treibriemenfabrik Bantlin, die im Oktober 1935 Rundriemen nach Chile ausführen wollte. Allein der Transport der Ware kostete die Firma 862,35 RM, während der von der Prüfstelle genehmigte Preis, der aus Wettbewerbsgründen in Chile verlangt werden konnte, nur 852,60 RM betrug.171 Um Verluste bei diesem Geschäft zu verhindern, fiel die Firma unter die Förderung der Ausgleichsabgabe und erhielt 30% des Ausfuhrwertes ersetzt.172 Die Steigerungen, die im Ausfuhrbereich zum Beispiel im Jahr 1937 erreicht wurden, waren nicht zuletzt ein Erfolg des »Zusatzsausfuhrverfahrens«.173 2.4. »Deutsche Werkstoffe«: Die Ersatzstoffproduktion Der Devisenmangel des NS-Staates hatte äußerst negative Auswirkungen auf die Rohstoffversorgung in der Schuh- und Lederindustrie. Die Überwachungsstelle für Felle und Häute bemühte sich angesichts der großen Importabhängigkeit der Lederindustrie daher sofort nach ihrer Gründung um die Förderung von Ersatzstoffen für das ausländische Leder. Dabei griff sie verstärkt auf einheimische Häute zurück, während gleichzeitig Lederimporte beschränkt wurden. Dies war infolge eines zunächst erhöhten Anfalls von inländischem Häuten möglich. Im Bereich der Ersatzstoffe für ausländische Gerbstoffe ging die 166
Für Treibriemen betrug der Normalsatz 30% des Exportwertes. (Vgl. Geheimer Exportförderungsschlüssel der Fachgruppe Ledertreibriemen- und technische Lederartikel-Industrie nach dem Stande v. 1.7.1935, in: Anlage zum Rundschreiben Nr. 9 der Fachgruppe Ledertreibriemen und technische Lederartikel-Industrie v. 6.7.1935, WABW Y 11.) 167 Zum Aufbau der Prüfstelle vgl. Fachgruppe ledererzeugende Industrie, Rundschreiben Nr. 28 v. 7.7.1935, WABW Y 11. '^Bestimmungen des Reichswirtschaftsministeriums über die Förderung zusätzlicher Ausfuhr v. 1.7.1935, WABW Y 11. l69 Fachgruppe Ledertreibriemen- und technische Lederwarenartikel-Industrie, Rundschreiben Nr. 10 v. 20.7.1935, WABW Y 11. ""Fachgruppe ledererzeugende Industrie, Rundschreiben Nr. 28 v. 7.7.1935, WABW Y 11. 171 Vgl. Schriftwechsel aus dem Jahr 1935, WABW Y 11. 172 Zu den Exportförderschlüsseln der einzelnen Produkte vgl. Anlage zum Rundschreiben Nr. 9 der Fachgruppe Ledertreibriemen und technische Lederartikel-Industrie v. 6.7.1935, WABW
Y 11. l73
Vgl. Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 311.
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Überwachungsstelle den gleichen Weg: Die Verwendung heimischer Gerbstoffe, zunächst nur der vegetabilischen, wurde durch Propaganda und preisregelnde Maßnahmen unterstützt.174 So wurde behauptet, »deutsche« Gerbstoffe verbesserten die Lederqualität.175 Außerdem durften trotz des Preisstopps für Leder, die mit einheimischen Gerbstoffen gegerbt waren, höhere Preise verlangt werden.176 Die weiter steigende Ledernachfrage war jedoch allein mit der Vergrößerung der heimischen Rohstoffbasis, also der Viehbestände und Schälwälder, nicht zu befriedigen.177 Obwohl bereits der »Neue Plan« die Verwendung von Ersatzstoffen für Leder und Gerbstoffe vorsah, blieb die Ersatzstoffproduktion in Ansätzen stecken. Erst nachdem sich die Hoffnung auf Autarkie im Bereich der Häute und Gerbstoffe zerschlagen hatte, setzte mit dem Beginn des Vierjahresplans verstärkt die Suche nach geeigneten Lederersatzstoffen und künstlichen Gerbstoffen ein. Görings Vierjahresplanbehörde ging 1936 zunächst daran, die Ausgangslage zu ermitteln. Der Reichswirtschaftsminister und der Beauftragte für den Vierjahresplan veranlaßten die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, von anderen Wivtschaftsgruppen Vorschläge für Lederersatzstoffe einzuholen.178 Die Wirtschaftsgruppe wandte sich an die benachbarten Gruppen der Industriezweige Holz, Stoff, Papier, Vulkanfiber, Wachstuch, Linoleum, Kunstleder, Gummi und an die Chemische Industrie. Diese Befragungsaktion erbrachte zahlreiche konservative und wenig innovative Vorschläge, die auf die altbekannten Ersatzstoffe aus dem Ersten Weltkrieg zurückgriffen. Diese Lederersatzstoffe waren dem Leder jedoch in keiner Weise gleichwertig und weckten daher in den Reihen der Käufer und des Handels »lebhaftes Mißtrauen.«179 Ersatzstoffe wie Holz, Preßspan, Pappe oder Stoff konnten in Bezug auf Haltbarkeit, Zähigkeit und Widerstandskraft das Leder nicht wirklich ersetzen.180 Manche Firmen aus den benachbarten Wirtschaftsgruppen witterten im Bereich der Lederersatzstoffe große Verdienstmöglichkeiten, weshalb nun Verteilungskämpfe ausbrachen. Besonders der Verband der Feinpappeerzeuger versuchte sein Produkt, wie bereits im Ersten Weltkrieg, als Lederersatz zu propagieren. Schon Anfang 1936 boten Pappehersteller der Fachgruppe Schuhindustrie Feinpappe als Ersatzstoff für Leder an. Sie stellten dabei eine völlig illusorische Deviseneinsparung bis zu 80% in Aussicht, wenn Schuhe statt aus Leder aus Pappe hergestellt würden.181 Die Schuhfirmen waren jedoch nicht nn ""Vgl. Otto, Lederwirtschaft im Kriege, S. 444. 175 Vgl. NS-Kurier v. 7.5.1934. 176 Vgl. NS-Kurier v. 1.6.1934, v. 31.8.1934 und Schreiben der Fachgruppe Ledertreibriemen und technische Lederartikel-Industrie v. Dezember 1935, WABW Y 11. 177 Vgl. Untersuchungen zu dieser Frage in Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 136ff. und Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 74ff. ,78 Vgl. Schreiben der Wirtschaftgruppe Lederindustrie v. 8.12.1936, BAP 31.01 Bü 17. 17 ®Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 167. 180 Vgl. IG-Farben an die Wirtschaftgruppe chemische Industrie v. 16.1.1937, BAP 31.07 Bü 17. 181 Vgl. Verband der Deutschen Feinpappeerzeuger e.V. an die Fachgruppe Schuhindustrie v. 7.2.1936 und 14.1.1937, BAP 31.07 Bü 17. Folgendes Zitat ebd.
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Pappe als Lederersatz interessiert, sondern versuchten eigene, bessere Produkte herzustellen. In der Suche nach modernen Lederersatzstoffen sahen die Pappehersteller jedoch ihre Existenz bedroht. Sie beklagten, daß »zuerst die vorhandenen Erzeugungsmöglichkeiten unserer Industrie ausgenützt« werden müßten, »ehe weitere Erzeugungsstätten neu eingerichtet werden.« Es müsse »verhütet [werden], dass unzweckmässigerweise neue Einrichtungen geschaffen werden, und unsere Mitglieder von der Erzeugung von Lederaustauschstoffen ausgeschlossen werden, nur weil bestimmte Interessenten (Leder- und Schuhfabriken) aus ihrem privaten Interesse heraus es so hinstellten, als ob sie etwas absolut Neues brächten, was noch nicht da war, und als ob es nötig wäre, zusätzliche Einrichtungen zu schaffen.« Daneben erbrachte die Befragungsaktion der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie einige sehr ungewöhnliche, utopische oder auch nicht ganz ernstgemeinte Vorschläge, wie die Verwendung von »Netzleder« - Leder aus Mägen von Wiederkäuern - und Fischhäuten des Kabeljaus, Schellfisches oder Seelachses.182 Die Mehrzahl der angeschriebenen Betriebe jedoch bemühte sich um ernsthafte, realisierbare Lösungen und hilfreiche Hinweise. Die IG-Farben diskutierte ausführlich die Möglichkeiten einer Lederersatzstoffherstellung. Als Ergebnis konnte festgehalten werden, daß im Bereich der Lederwarenproduktion, z.B. bei Möbel- und Täschnerleder, noch ein großes Einsparungspotential vorhanden sei. Für diese Produkte ließe sich - so die IG-Farben - wohl auch recht problemlos Lederersatz aus Cellulosederivaten in Verbindung mit Weichmachern und Füllstoffen wie Buna herstellen. Auch bei Leder mit großer mechanischer Festigkeit, also Treibriemenleder oder Blankleder, sah der Konzern eine Chance für Ersatzstoffe. Keinen äquivalenten Lederersatz konnte die IGFarben jedoch dem größten Lederverbraucher, der Schuhindustrie anbieten. »Ob Sohlleder ersetzbar ist und in welchem Ausmaß ist noch nicht entschieden. [...] Ein Ersatz von Schuhoberleder in größerem Ausmaß erscheint nach unseren bis jetzt gemachten Erfahrungen sehr unwahrscheinlich.«183 Die Kornwestheimer Firma Salamander verfaßte ebenfalls ein ausführliches Exposé, das sich mit dem Einsatz von Ersatzstoffen in der Schuhproduktion auseinandersetzte. Salamander beschrieb zwar vielfältige Einsatzmöglichkeiten von Lederersatzstoffen im Bereich der Schuhproduktion, jedoch beschränkt auf Absätze, »Brandsohlen, Gelenke, Fersenflecken, Zwischensohlen, Sohlenanschlägen und Hinterkappen.«184 Die Frage nach Ersatz von Sohlen- und Schuhoberleder konnte Salamander jedoch auch nicht beantworten. 182
Div. Schreiben, BAP 31.07 BU 17. Einige dieser eher irrealen Vorschläge wurden bald von der Wirklichkeit eingeholt. So wurden Schlachthöfe 1944 aufgefordert, die Herzbeutel von Rindern pfleglich zu behandeln, da diese zur Herstellung von Leder verwendet werden könnten. (Vgl. BAP 31.07 Bü 11821.) 183 IG-Farben an die Wirtschaftgruppe chemische Industrie v. 16.1.1938, BAP 31.07 Bü 17. Vgl. dazu auch die Diskussion in Die Deutsche Lederwarenindustrie. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für allgemeine Wirtschaftsstruktur, hrsg. v. Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Berlin 1930, S. 22f. '"Exposé der Firma Salamander v. 17.6.1937 für die Wirtschaftgruppe Lederindustrie, BAP 31.07 Bü 17.
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Auch wenn keine Finna eine Lösung für das Ersatzstoffproblem beim Schuhleder parat hatte, wiesen einige auf Versuche bei der Firma Carl Freudenberg hin, die mit Kunstleder und Kunststoffen experimentierte.185 Die Wirtschaftsgruppe versuchte, mit der Weinheimer Firma Kontakt aufzunehmen und näheres über die Ersatzstoffversuche zu erfahren - allerdings erfolglos.186 Das Ergebnis der Befragungsaktion zeigte, »daß sowohl bei der Textil-, der Chemischen· und der Feinpappenindustrie als auch bei der Lederindustrie auf allen Gebieten, wo Leder gebraucht wird, Erzeugnisse hervorgebracht wurden, die [...] sich schon seit längerer Zeit den Markt der lederverarbeitenden Industrie erobert haben.«187 Auf dem Gebiet der Schuhherstellung galt dies für die von dem Salamander-Exposé beschriebenen Fabrikate, nämlich Vorder- und Hinterkappen, Brand- und Zwischensohlen, Absätze und Schuhfutter. »Über alle Behelfsmittel, Empfehlungen, Sparvorschriften hinweg ist jedoch die Schaffung von geeigneten neuen Werkstoffen an Stelle von Bodenleder das wichtigste Problem [...] Die Tatsache, daß neue Werkstoffe [...] nicht in jeder Hinsicht den physikalischen und chemischen Eigenschaften des Naturleders entsprechen, gestaltet hier die Situation weitaus schwieriger als bei den übrigen Sparten der lederverarbeitenden Industrie.« Die bisherigen Ersatzwerkstoffe für Bodenleder waren Gummi und Kunststoffe, zusammengesetzt aus Lederfasem und Latex. Gummisohlen könnten jedoch - so die Experten der Wirtschaftsgruppe - »keinesfalls als vollwertiger Lederersatz« gelten. Bei Kunststoffen, die auf Latex basierten, verhinderte der Mangel an Naturlatex eine Produktion in größerem Umfang. Man sah in der Wirtschaftsgruppe jedoch mittelfristig eine Lösung für dieses Problem, da die Chemische Industrie zu jener Zeit an Ersatzstoffen für das Bindemittel Latex arbeitete. Die zweite Komponente des Sohlenlederersatzes, nämlich Lederabfälle, in ausreichender Menge zu beschaffen, ohne wieder auf Importe zurückgreifen zu müssen, erwies sich ebenfalls als Problem. Da die Leim-, Gelatine-, Kunstdünger- und Futtermittelindustrie diese Produkte ebenfalls für sich beanspruchte, entbrannte ein Kampf der verschiedenen Wirtschaftsgruppen um das früher nahezu wertlose Produkt »Lederabfall«.188 "'Vgl. Lederwaren- und Kofferindustrie an die Wirtschaftgruppe Lederindustrie v. 23.9.1937, Fachgruppe Sportartikel- und T\irngeräte-Industrie v. 24.9.1934 an die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie und IG-Farben an die Wirtschaftgruppe chemische Industrie v. 16.1.1938, Β AP 31.07 Bü 17. Als Kunstleder wurde »jeder lederähnliche Eigenschaften aufweisende oder nachahmende Werkstoff bezeichnet, der nicht aus gewachsener tierischer Haut gewonnen ist, oder bei dessen Herstellung die tierischen Hautfasem aus ihrer natürlichen Verflechtung gelöst sind.« Als Kunststoff wird im Unterschied zum Kunstleder, das als Erzeugungsgrundlage von der gewebten Faser ausging, derjenige Stoff bezeichnet, der auf nichtgewebten, regellos gelagerten Lederfasem, eingebettet in Bindemittelmasse, beruht. Beim Kunststoff werden also die Lederfasem aufgebrochen. (Vgl. Hoffmann, Das Rohstoffproblem dor deutschen Lederwirtschaft, S. 167ff.) 186 Vgl. Briefwechsel, BAP 31.07 Bü 17. '"Zusammenfassung der Ergebnisse, BAP 31.07 Bü 15. Folgende Zitate ebd. ' " U m die Lederabfälle zu sichern, mußten die Firmen diese regelmäßig bei der Reichsstelle für Lederwirtschaft melden. (Vgl. Schreiben der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 5.1.1940, WABW Y 11, Anordnung 98 der Reichsstelle für Lederwirtschaft, Rundschreiben 7 der
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In ähnlicher Weise wie im Fall der Lederersatzstoffe ging Görings Vierjahresplanbehörde im Rahmen der Durchführung des Vierjahrsplanprogramms daran, auf breiter Basis Versuche über die Wirkung von synthetischen Gerbstoffen bei verschiedenen Ledersorten vorzunehmen.189 Die Schwierigkeiten, Ersatzstoffe für die vegetabilischen Gerbstoffimporte zu finden, schätzte die Expertenkommission der Wirtschaftsgruppe noch größer ein als für die Schuhober- und -Unterleder.190 Zur Lösung der Misere auf dem Gebiet der Gerbstoffe setzte die Wirtschaftsgruppe auf erste Versuche der Chemischen Industrie. Obwohl die Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse in den Jahren 1936/1937 noch in vollem Gange war, wurden die Verwendung von Leder- und Gerbstoffersatz bereits angeordnet. Eindringlich hatte Schacht vor einer solchen rapiden Umstellung auf Ersatzstoffe gewarnt, weil »die Werkstoffherstellung noch in ihren Anfängen stecke.«191 Dennoch war im Dezember 1936 »der von der Firma Carl Freudenberg, Weinheim, hergestellte Werkstoff »Nora« [...] gemäss Anordnung 31 der Uberwachungsstelle« als Sohlenmaterial zugelassen worden.192 Ebenfalls 1936 schrieb die Überwachungsstelle die Vermengung der Gerbstoffe mit 10% Sulfitzellulose vor.193 Dieses Gerbverfahren war jedoch noch vollkommen unausgereift. Ob es einen Einfluß auf die Lederqualität hatte, konnten die Experten der Wirtschaftsgruppe nicht vorhersagen.194 Im Januar 1938 trug eine Expertenkommission der Schuhindustrie die Ergebnisse ihrer eigenen Versuche und der Trageversuche im KZ Sachsenhausen195 mit den vorliegenden Ersatzstoffen zusammen, um die Eignung dieser Stoffe für die Praxis zu bewerten. Generell stellte diese Kommission fest, daß die Verwendung von Ersatzstoffen die Schuhe wesentlich schneller gebrauchsunfähig machte. Daher schlug sie vor, diese Produkte nur für Schuhreparaturen zu verwenden, sie schoben den »Schwarzen Peter« also denen zu, die in dieser Kommission nicht vertreten waren, dem Handwerk.196 Die Schuhfabrikanten beklagten ihrerseits, daß sie von den Schuhhändlern unter Druck gesetzt wurden, weil diese sich weigerten, Schuhe aus Ersatzstoffen abzunehmen.197 Fachabteilung Lederfaserwerkstoffe in der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie v. 21.9.1940 und Wirtschaftsgruppe Lederindustrie an die Mitglieder der Fachabteilung Lederfaserwerkstoffe v. 19.7.1940, BÄK R 13 Xffl Bü 66.) '"Vgl. dazu ausführlich Otto, Lederwirtschaft im Kriege, S. 444ff. 150 Vgl. Bericht der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, BAP 31.07 Bü 17. 191 Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 337. 192 Vgl. Anordnung 31 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 30.12.1936, Überwachungsstelle für Lederwirtschaft an die Wirtschaftgruppe Lederindustrie v. 6.10.1937 und v. Januar 1938, BAP 31.07 Bü 17. 193 Anordnung 28 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft, BAP 31.07 Bü 17. ,94 Vgl. Bericht der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, BAP 31.07 Bü 17. 155 Vgl. Prüfbericht v. 16.12.1940, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 66 und Protokoll v. 26.11.1942, BÄK 8 VI Bü 38. 196 Diese Taktik hatte Erfolg. Die Verwendung von Lederersatz wurde tatsächlich zunächst in erster Linie für die Schuhreparatur vorgesehen. (Vgl. Schuh im Kriege, in: DVW 1940, Nr. 6, S. 205.) 197 So weigerten sich z.B. 1937 zahlreiche Schuhfachhändler, Hausschuhe aus Ersatzstoffen zu verkaufen. In einer Fachversammlung der Wirtschaftgruppe Einzelhandel »wurde beschlossen, dass keiner irgendwelche Sendungen mit Beigaben von Ersatzartikeln annehmen dürfte.«
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Bei der Beurteilung der einzelnen Sohlenlederersatzstoffe kam die Kommission zu folgendem Ergebnis: Die meisten Ersatzstoffe konnten noch nicht ausreichend getestet werden, da die Produktion erst Ende 1937 begonnen habe. Dies galt für den neuen Werkstoff der Lederfirmen Adler & Oppenheimer AG, Berlin, Gebr. Bader, Göppingen oder Doerr & Reinhart, Worms. Bei einigen Firmen scheiterte der Produktionsbeginn am vorherrschenden Latexmangel. Die getesteten Ersatzstoffe wurden allgemein sehr negativ beurteilt. Das Material nütze sich schon nach wenigen Wochen ab, sei sehr hart, spröde und breche folglich schnell, andere Sohlen seien zu weich und schon nach 3 Wochen durchgelaufen, wieder andere dehnten sich bei Wärme aus. Die wenigen Ersatzstoffe, die einigermaßen zufriedenstellend beurteilt wurden, enthielten einen großen Anteil an dem raren Werkstoff Latex. Die einzige Ersatzsohle, die die Kommission günstig bewertete, war die »Nora-Sohle« der Firma Carl Freudenberg/Weinheim. Diese war bis Anfang 1938 auch die einzige von der Uberwachungsstelle zugelassene Ersatzsohle. Die »Nora-Sohle« - so der Expertenkreis - sei sogar haltbarer als Leder und verwende als Bindemittel nicht Latex, sondern Buna. Allerdings sei das Sohlenmaterial bedeutend teurer als Leder und die Sohle »für Schnee [...] nicht geeignet, da sie sehr stark gleitet.«198 Nach Aufforderung des Beauftragten für den Vierjahresplan, Göring, prüfte der Gutachterausschuß in Abständen weitere Ersatzstoffe. 1 " Auch 1940 stellte sich die Lage auf dem Lederersatzstoffmarkt keinesfalls günstiger dar. Die Reichsstelle für Lederwirtschaft beklagte, daß »die Besohlung von Schuhwerk mit Lederaustauschstoffen (Gummimaterial oder Faserwerkstoff) [...] verschiedentlich zu berechtigten Beanstandungen Anlaß gegeben«200 habe. Sie befürchtete, daß »unzureichende Schuhbesohlungen, die schon nach wenigen Tagen eine erneute Schuhausbesserimg notwendig machen, [...] zu erheblichen Mißstimmungen in der Bevölkerung führen« könnten. Die Reichsstelle für Kautschuk und Asbest legte daher der Firma Salamander nahe, die Gummisohlen nicht zu verarbeiten, da sie »den Anforderungen nicht genügen.«201 Falls sich der Einsatz gar nicht vermeiden lasse, empfahl die Reichsstelle, »diese Platten bei solchem Schuhwerk zu verwenden, das seiner Art nach nicht allzusehr strapaziert wird.« Dennoch wurden durch Anordnungen der Reichsstelle für Lederwirtschaft Herstellungsvorschriften für Zivilschuhwerk erlassen, die die Verwertung von Leder nur noch in begrenztem (Vgl. Schriftwechsel zwischen der Fachgruppe Hausschuhindustrie, Fachgruppe Leder- und Schuhbedarf, der Wirtschaftgruppe Lederindustrie und einer Einzelhandelsfirmen im Mai/Juli 1937, BAP 31.07 Bü 17. "'Sitzung des Sachverständigenausschusses für deutsche Werkstoffe der Fachgruppe Schuhindustrie am 14.1.1938, BAP 31.07 Bü 17.) '"Vgl. Höring an die Wirtschaftgruppe Lederindustrie v. 17.2.1938, BAP 31.07 Bü 17 und Protokolle des Güteausschusses I der Fachabteilung Lederfaserwerkstoffe aus dem Jahr 1940 und Rundschreiben 14 der Fachabteilung Lederfaserwerkstoffe in der Wirtschaftsgruppe Uderindustrie v. 19.12.1940, BÄK 13 ΧΙΠ Bü 66. 200 Reichsstelle für Lederwirtschaft - Abteilung Austauschstoffe - an alle Kreishandwerkerschaften v. 19.11.1940, BÄK R 8 VI Bü 38 und R 13 ΧΠΙ Bü 66. Folgendes Zitat ebd. 201 Schreiben v. 23.4.1940, BÄK 123 Bü 187, 3. Sen. XL 324. Folgendes Zitat ebd.
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Π. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
Umfang zuließen.202 So wurde Fischleder für bestimmtes Schuhoberleder eingesetzt,203 und »als Laufsohlen wurde ausdrücklich die Verwertung von Gummisohlen vorgeschrieben.«204 Generell ist festzuhalten, daß die Bemühungen um die Ersatzstoffproduktion bei Leder und Gerbstoffen, wie auch in der deutschen Wirtschaft allgemein, im Rahmen des Vierjahresplans einigen Erfolg zeigte. Wenn auch weder die Erwartungen noch das Plansoll der nationalsozialistischen Behörden voll erfüllt werden konnten, sind doch umfangreiche Produktionssteigerungen erreicht worden. Tabelle 4:
Erzeugung von Lederersatzstoffen und synthetischen Gerbstoffen in 1000 Tonnen205
Lederersatzstoffe Synth. Gerbstoffe
1936
1938
1942
Steigerung
14,5 1,8
23,0
61,0 14,0
421 % 778 %
Auch ein Vergleich mit der Produktion anderer chemischer Syntheseprodukte zeigt ein relativ gutes Abschneiden der Lederersatz- und synthetischen Gerbstoffe. »Bei Lederersatzstoffen erhöhte sich die Erzeugung im Jahresmittel um 27% [...] bei Gerbstoffen um 41%.« Die Steigerung bei der synthetischen Mineralölproduktion lag im Vergleich dazu bei 23%, bei Kunststoffen bei 29%, bei Zellwolle bei 38% und bei Buna bei 123%. Bei der Herstellung industrieller Öle und Fette, der chemischen Grundstoffindustrie oder bei Leichtmetallen fiel die Steigerungsrate dagegen weit geringer aus; sie betrug nur zwischen 4,5 und 19%. Allerdings verengt die Betrachtung der Steigerungsraten allein den Blick auf die generellen Probleme der Ersatzstoffproduktion. Denn die bloße Steigerung im Bereich der Lederersatz- und der synthetischen Gerbstoffe sagt nichts über deren Qualität und Verwendungsfähigkeit aus. Bedenkt man die großen Schwierigkeiten, die den Firmen beim Einsatz dieser Stoffe erwuchsen, und die zahlreichen Fehlschläge, die durch die fehlende Versuchszeit in der laufenden Produktion auftraten, relativiert das die Erfolge bei der Produktionssteigerung doch wesentlich. Außerdem gilt es, diese Steigerungsraten am tatsächlichen Bedarf zu messen. Nachdem die Lederindustrie nahezu vollständig von ihren traditionellen Rohstoffressourcen abgeschnitten und die Produktion von Leder stark zurückgegangen war, stieg der Bedarf an Ersatzstoffen sprunghaft an. ^ V g l . Anordnung Nr. 55 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 3.9.1939, DRA Nr. 204 v. 3.9.1939 und Anordnung Nr. 75 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 6.5.1940, DRA Nr. 104 v. 6.5.1940. 203 § 3 der Anordnung 55 der Reichsstelle für Lederwirtschaft. 204 Vgl. Beschluß des Reichswirtschaftsgerichts v. 5.9.1941, BÄK 123 Bü 187, 3. Sen. XL 324 (1940). ^Zahlen aus Petzina, Autarkiepolitik im Dritten Reich, S. 182, Tab. 16. Folgende Zahlen und Zitate, S. 181.
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Jedoch gelang es der expandierenden Lederersatzstoffindustrie unter anderem wegen der Kürzung der Bunazuteilungen nicht, diesen steigenden Bedarf zu befriedigen.206 Der Einsatz von Ersatzstoffen war innerhalb der Schuh- und Lederindustrie umstritten. Die Fraktion, die die Ersatzstoffverwendung ablehnte, bestand aus dem Reichsinnungsmeister des Schuhmacherhandwerks, SA-Obergruppenleiter Hess, und dem Reichsfachschaftsleiter für Textil, Leder und Bekleidung, Pg. Neumann. Diese Gruppe wurde in den Jahren 1940/41 von dem Reichsbeauftragten für die Lederwirtschaft, SS-Obergruppenführer Heimer, und dem Präsidenten im Reichswirtschaftsministerium, Kehrl, unterstützt.207 Ersatzstoffproduzenten um Richard Freudenberg kritisierten hingegen die Führung der Lederindustrie heftig wegen ihres zu schwachen Engagements in Sachen Ersatzstoffe.208 Nach der Bildung des »Ministeriums Speer« verloren die Bremser jedoch an Einfluß, die Gruppe um Heinrich Krumm, Leiter des Produktionsausschusses der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie,209 und Walter Mohr, Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, die den Einsatz von Ersatzstoffen nachdrücklich forderten,210 erhielten Schützenhilfe von Speer. Denn stärker noch als Görings Vierjahresplan setzte das Rüstungsministerium unter Albert Speer ab Februar 1942 auf den Einsatz von Ersatzstoffen. Die Produktion von Lederwarenartikeln für die Zivilbevölkerung wurde nun praktisch eingestellt - Lederschuhe oder andere Lederartikel waren nicht mehr zu erhalten.2" Die Schuhfirmen müßten Schuhe für den Zivilbedarf vollständig aus Ersatzstoffen herstellen,212 mit dem bekannten Ergebnis einer massiven Qualitätseinbuße. Doch auch die von Lederersatzstoffprodukten bisher verschonte Wehrmacht und der Export213 hatte nun zunehmend mit dubiosem Er206
Vgl. Reichsstelle für Lederwirtschaft an die Reichsstelle für Kautschuk und Asbest v. 9.12.1940, BÄK R 10 VI Bü 31 und Fachabteilung Lederfaserwerkstoffe in der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie an den Leiter des Technischen Ausschusses beim Produktionsausschuß Lederaustauschstoffe, Richard Freudenberg, v. 25.5.1944, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 280. w V g L Eidesstattliche Erklärung Richard Freudenbergs v. 5.4.1948, FFA 1/00453. 208 Vgl. Stellungnahme der Deutschen Versuchsanstalt und Fachschule Lederindustrie v. Juni 1944 und Richard Freudenberg an den Beauftragten für Lederwirtschaft, Mohr v. 7.6.1944, BÄK R 3 Bü 320. ^Heinrich Krumm, Leiter der Fachgruppe Lederwarenindustrie und später der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, wurde im Januar 1944 zum Leiter des Produktionsausschusses der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie beim Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion ernannt. Nach Bildung des Produktionsausschusses Ersatzstoffe wurde er auch Leiter dieses Ausschusses. (Vgl. Krumm an den Leiter des Produktionsausschusses ledererzeugende Industrie, Wilhelm Möhlenbeck, v. 25.1.1944, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 296 und Organisation, BÄK R 3 Bü 312 H.l.) 2,0 Vgl. Krumm-Berichte, BÄK R 3 Bü 311. 211 Vgl. Aktenvermerk v. 21.1.1944, BÄK R 8 VI Bü 38, Meldungen aus dem Reich (Nr. 318) 17. September 1942, S. 4217ff. und SD-Berichte zu Inlandsfragen v. 24. Januar 1944, S. 628 Iff. 2l2 Vgl. Herstellungsvorschriften lt. Protokoll v. 26.11.1942, BÄK R 8 VI Bü 38 und Verfahren gegen die Firma Salamander vor dem Reichswirtschaftsgericht, BÄK R 123 Bü 187, 3. Sen. XL 324. 2I3 NS-Kurier v. 30.5.1939.
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II. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
satz vorliebzunehmen. Jetzt wurden auch Soldatenstiefel teilweise aus Lederersatz hergestellt, ebenso wie vormals lederne Ausrüstungsgegenstände, wie Tornister, Etuis oder Gewehrriemen.214 Der endgültige Durchbruch in der Ersatzstoffproduktion gelang jedoch erst im Jahre 1944,215 als Heinrich Krumm zum Leiter der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie ernannt wurde und die Bremser in Sachen Ersatzstoffproduktion endgültig verdrängt waren. Die starke Konzentration auf Ersatzstoffe führte jedoch zur Vernachlässigung der nationalsozialistischen Klientel im Bereich der Wirtschaft, der kleinen mittelständischen Firmen. Denn wie die Auseinandersetzung zwischen dem Vertreter des Schuhmacherhandwerks und den Repräsentanten der großen Lederfirmen zeigt, waren es die Großbetriebe, die durch den Einsatz der Ersatzstoffe an Einfluß gewannen. Nur sie waren in der Lage, die Labors zu unterhalten, in denen die neuen Ersatzstoffe entwickelt und getestet werden konnten. 2.5. Lenkung der Produktion Schon vor Kriegsbeginn beschränkten die NS-Machthaber den Verbrauch knapper Güter und forcierten die Umlenkung auf Ersatzstoffe. Dies erfolgte auf der Verbraucherseite indirekt durch Propaganda und direkt durch Rationierung. Diese Strategie schlug das Regime auch im Bereich der Schuhversorgung ein. So verkündeten Presseorgane, einheimische Gerbstoffe verbesserten die Lederqualität und Schuhe aus Ersatzstoffen seien länger haltbar.216 Die Ersatzstoffe wurden euphemistisch als »deutsche Werkstoffe« bezeichnet, um keine schlechten Erinnerungen an die Ersatzstoffverwendung im Ersten Weltkrieg aufkommen zu lassen. Zusätzlich wurde der Schuh- und Lederverbrauch für die Bevölkerung ab 1939 rationiert. Auf der Herstellerseite führten die Bemühungen der nationalsozialistischen Wirtschaftsplanung um Ersatzstoffe für Leder und Gerbstoffe zu zahlreichen Produktionsvorschriften, die die Verwendung von Leder einschränkten, bestimmte Gerbstoffe vorschrieben oder Gerbzeiten festsetzten. Erste Eingriffe in die industrielle Produktion erfolgten bei Schuhfirmen. Ihnen wurde bereits 1936 verbindlich die ausschließliche Verwendung von Pappe und Gummi für die Herstellung von Brandsohlen und Absätzen auferlegt.217 Die Anordnung Nr. 31 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft verpflichtete die Schuhfirmen Anfang 1937 zum Einsatz von Kunststoffsohlen für bestimmte Schuharten.2'8 Eine der »umstrittensten Anordnungen«219, welche die Schuhindustrie betrafen, 214
Vgl. Bericht Richard Freudenbergs v. 3.6.1943 und div. Schriftwechsel der Firma Carl Frendenberg mit dem OKW aus den Jahren 1940-1944, FFA 3/02330. Vgl. Berichte des Produktionsausschusses Lederaustauschstoffe in der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie aus dem Jahr 1944, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 273 und Bü 280. 216 Vgl. NS-Kurier v. 7.5.1934. 2,7 Vgl. Deutschland-Bericht 4. Jg (1937) Nr. 1 v. Jan., S. 67f. 2,8 Vgl. Anordnung 31 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 30.12.1936, Überwachungsstelle für Lederwirtschaft an die Wirtschaftgruppe Lederindustrie v. 6.10.1937 und v. Januar 1938 , BAP 31.07 Bü 17. 2,9 BAP 31.07 Bü 17. 2,5
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war die Anordnung 33 der Überwachungsstelle vom 14. Mai 1937. Mit ihr wurde die Verwendung von Leder als Hauptstoff bei folgenden Produkten ab dem 1. Juni 1937 verboten: Koffer, Einkaufstaschen, Aktentaschen, Schulranzen, Behälter für fotografische Apparate, Rucksäcke, Frauenkleidung, Hausschuhe, Einlegesohlen und Damenstraßenstiefel. Bei Verstößen gegen diese Vorschrift drohten den Firmen Strafen bis 300.000 RM.220 Da mit Kriegsbeginn der Ledermangel noch zunahm, sah sich die Reichsstelle für Lederwirtschaft zu immer neuen Vorschriften veranlaßt, die die Produktion von Lederwaren beschränkten.221 Im Mai 1940 war die Schuhherstellung nur noch gegen eine Genehmigung der Reichsstelle erlaubt. Bestimmte Arten von Lederschuhen, wie Schuhe aus Lackleder, Damen- und Kinderstiefel mit langem Schaft, Hüttenschuhe oder Lammfellhausschuhe, durften überhaupt nicht mehr produziert werden.222 Mit Hilfe dieser Herstellungsvorschriften versuchte die Reichsstelle, den Schuhbedarf zu lenken. In verschiedenen weitergehenden Verordnungen und Durchführungsverordnungen wurde den Schuhherstellern darüber hinaus die Verwendung von Holz- oder Gummisohlen vorgeschrieben.223 Außerdem war es der Reichsstelle laut Anordnung 107 vom 18. April 1942 erlaubt, »Vorschriften über Art und Menge des zu verbrauchenden Materials und über die Art der Herstellung von Schuhwerk« zu erlassen.224 Das bedeutete eine Typenbeschränkung in der Schuhherstellung auf einige wichtige Schuharten wie Kinder- oder Arbeitsschuhe.225 Ab 1. Januar 1944 war die Herstellung von Lederwaren auf nur mehr 24 Produkte beschränkt. Darunter fielen technische Leder, Geschirrleder, Ausrüstungsgegenstände für Feuerwehr und Luftschutz wie Lederkoppeln oder auch Arbeitsschutzartikel. Die Herstellung aller »überflüssigen« Lederartikel, wie Fahrradsättel, Lederfußbälle oder Mappen, wurde nach und nach verboten.226 Die Vorschriften, die die Arbeit von Lederfirmen reglementierten, bezogen sich vor allem auf die Verwendung von Gerbstoffen. Wie oben beschrieben bestimmte die Anordnung 28 der Reichsstelle für Lederwirtschaft bereits Ende 1936 für alle Lederfirmen, die vegetabilischen Gerbstoffe zu 10% mit Sulfitzellulose zu vermischen.227 Im Rahmen des Vierjahresplans waren zahlreiche 220
DRA Nr. 108 v. 14.5.1937. Ebenso Anordnung 36 der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 10.8.1937, DRA Nr. 182 v. 10.8.1937. 221 Vgl. Otto, Erfolgreiche Bekämpfung der Rohstofflücke, in: DVW 1943 Nr. 32, S. 997. 222 Anordnung Nr. 75 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 6.5.1940, DRA Nr. 104 v. 6.5.1940. 223 Vgl. ebd., Verordnung über die Verbrauchsregelung für Schuhe und Sohlenmaterial v. 28.3.1940, RGBl. I, S. 537 oder 1. Durchführungsverordnung zur Anordnung 107 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 18.4.1942, DRA Nr. 91 ν 20.4.1942. Ausführlicher dazu Otto, Lederwirtschaft im Kriege, in: DVW 1940, Nr. 14, S. 446. 224 Anordnung Nr. 107 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 18.4.1942, DRA Nr. 91 v. 20.4.1942. 225 Anweisung 2/43 der Gemeinschaft Schuhe v. 22.2.1943, BÄK R 13 ΧΠΙ Bii 85. Vgl. da/u Otto, Lederwirtschaft im Kriege, in: DVW 1940, Nr. 14, S. 445f. und Die Lederindustrie auf neuen Wegen, in: DVW 1944, Nr. 2, S. 57. 226 Vgl. Otto, Erfolgreiche Bekämpfung der Rohstofflücke, in: DVW 1943 Nr. 32, S. 997. 227 BAP 31.07 Bü 17.
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»Versuche unternommen worden, um die Wirkung der Verwendung synthetischer Gerbstoffe bei den verschiedenen Ledersorten zu beobachten.«228 Anfang 1939 ergingen daraufhin neue Vorschriften der Reichsstelle, die zur Anwendung von chemischen Austauschgerbstoffen für bestimmte Lederarten verpflichteten.229 Mit Kriegsbeginn nahm der Gerbstoffmangel drastisch zu, so daß die Reichsstelle nun noch mehr auf den Einsatz von Austausch- und einheimischen Gerbstoffen insistierte.230 Für bestimmte Lederarten wurde eine detaillierte Zusammensetzung der Gerbstoffe festgelegt. Dieser massive Eingriff in die Produktion bestimmte zum Beispiel, daß für pflanzlich gegerbtes Oberleder 15% Eichen-, 30% Fichtenrinden und höchstens 30% Quebracho- oder Mimosaextrakt verwendet werden durften. Beim Bodenleder setzte sich der Gerbstoff aus 25% Fichtenrinde, 25% chemischem Austauschgerbstoff, 17% Quebracho- oder Mimosaextrakt und 33% sonstigen Gerbstoffen zusammen.231 Im Dezember 1939 wurde das gesamte herzustellende Leder in sogenannte Lederklassen eingeteilt, für die dann auch die zu verwendenden chemischen Gerbstoffe exakt festgelegt wurden. Für Bodenleder mußten beispielsweise die Gerbstoffe »Tanigan extra A« der IG-Farben und »Irgatan AG« der Firma Geigy verarbeitet werden.232 Mit zunehmender Dauer des Krieges entwickelte sich die Situation auf dem Gerbstoffmarkt für überseeische pflanzliche Gerbstoffe zusehends schlechter, so daß immer neue Anweisungen den Anteil dieser Gerbstoffe reduzierten und statt dessen den Einsatz chemischer Gerbmittel diktierten. So wurde laut Anordnung 102 vom 29. Juli 1941 die Verwendung von Quebrachound Mimosaextrakten bei der Gerbung von Ober- und Bodenleder von 18% bzw. 17% auf 12% reduziert, ein Jahr später auf 5% bis 10%.233 Fieberhaft arbeitete die Chemische Industrie an weiteren Ersatzstoffen für die überseeischen pflanzlichen Gerbstoffe. Immer neue chemischen Gerbstoffe wurden entwickelt und von der Reichsstelle für Lederwirtschaft für den Gebrauch zugelassen.234 Die Reichsstelle für Lederwirtschaft gab sich jedoch nicht mit diesen Eingriffen in die Lederproduktion zufrieden. Der steigende Lederbedarf im Krieg veranlaßte die Reichsstelle ab 1940 auch die Gerbzeiten für die einzelnen Lederarten festzusetzen. So durfte ab März 1940 die Gerbzeit für vegetabilisches 228
Otto, Lederwirtschaft im Kriege, in: D V W 1940, Nr. 14, S. 444. Anordnung Nr. 47 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 21.2.1939, BAP 25.01 Bü 6621. Vgl. dazu Handbuch der Leder-Industrie, Bd. 1, Lederfabriken und Gerbereien, Berlin 1942, S.2. 231 Anordnung 61 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 27.10.1939, DRA Nr. 253 v. 28.10.1940. ^ V g l . 1. Bekanntmachung der Reichsstelle für Lederwirtschaft zur Anordnung 61, DRA Nr. 294 v. 15.12.1939. 233 Vgl. Anordnungen 102 und 108 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 29.7.1941 und v. 15.6.1942, D R A Nr. 175 v. 30.7.1941 und Nr. 144 v. 23.6.1942. 234 Vgl. 5. Bekanntmachung zur Anordnung 103 der Reichsstelle für Ledcrwirtschaft v . 8.4.1942, in: RWMB1. 1942, S. 406 und 4. Bekanntmachung zur Anordnung Π/43 v. 8.3.1944, in: RWMB1. 1944, S. 141. 229
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Bodenleder 6 bis 12 Monate nicht überschreiten, für Oberleder 4 und 6 Monate.233 Diese Gerbzeiten wurden in der Folge ständig verkürzt.236 Da außer der Art der Produktion zugleich die Häuteeinkäufe und die Verkäufe von der Reichsstelle für jeden Lederbetrieb genau reglementiert waren, hatten die Lederunternehmer ihre unternehmerische Selbstbestimmung im Verlaufe des Krieges letztlich verloren. 2.6. Firmenschließungen Die weitestreichenden Eingriffe in die Selbstbestimmung der Finnen bestanden in der Schließung einzelner Betriebe und damit im Entzug der unternehmerischen Existenzgrundlage. Neben der Textil-, Papier oder Metallwarenindustrie war davon in besonderem Maße die Lederindustrie betroffen.237 Uber das Mittel der Rohstoffkontingentierung war es dem Staat möglich geworden, Betriebe zu ruinieren. Zu Beginn des Krieges verfügten die nationalsozialistischen Machthaber diese extremste Form der Reglementierung, um in der Rüstungsindustrie oder der Wehrmacht benötigte Kräfte freizusetzen. Dies betraf zunächst in erster Linie Unternehmen der Konsumgüterindustrie im Handwerk und Gewerbe,239 der Handel oder die Behörden blieben zunächst weitgehend verschont. In der Mehrzahl wurden dabei die männlichen Arbeiter oder Inhaber zur Wehrmacht eingezogen. Es fanden also kaum Umschichtungen von Arbeitern zugunsten der Rüstungsindustrie statt.240 Da jedoch die NS-Führung bestrebt war, die Zivilbevölkerung von den negativen Auswirkungen des Krieges fernzuhalten, stellten die Verantwortlichen den Erfolg dieser Schließungsaktion zu Beginn des Krieges in Frage. Der SD meldete 1940, »daß in einzelnen Gegenden und bestimmten Wirtschaftszwei235
Anordnung Nr. 70 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 28.3.1940, BAP 25.01 Bü 6621. Vgl. Anordnung 108 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 15.6.1942, DRA Nr. 144 v. 23.6.1942, Anordnung Nr. 2 zur Durchführung der Anordnung ΙΠ/43 der Reichsstelle für Uderwirtschaft v. 18.2.1943, BAP 25.01 Bü 6621 und NS-Kurier v. 27.2.1943. 237 Vgl. Bericht der Reichswirtschaftskammer v. 24.3.1943, BAP 31.01 Bü 12941. 238 Außer der Kontingentierung hatte der nationalsozialistische Staat auch noch andere Möglichkeiten, Betrieben zu schaden. Von den Wehrwirtschaftsinspektionen wurden geheime »Warnungen« verschickt mit folgendem Inhalt: »Vor einer Geschäftsverbindung mit Dr. R. B. wird gewarnt« oder »der Firma S., Uhrenfabrik, St. Georgen (Schwarzwald) gegenüber ist Vorsicht geboten. Es wird insbesondere auch vor der Heranziehung der Firma zu Unterlieferungen« gewarnt.« (Schreiben der Wehrwirtschaftsinspektion V v. 5.11.1937 und 10.3.1938, WABW Y 120.) 239 S o wurden in den ersten beiden Kriegsmonaten etwa 100.000 kleine Handwerksbetriebe geschlossen. Die meisten Stillegungen betrafen jedoch die kleinen Industriebetriebe im Konsumbereich. 1935 bis 1938 hatte sich die Zahl der Handwerksbetriebe jedoch auch schon um über 150.000 verringert. (Herbst, Der Totale Krieg, S. 120. Vgl. Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 259 und Bericht zur Lage in der Schuh- und Lederindustrie im Dezember 1939, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 115.) 240 Vgl. Herbst, Der Totale Krieg, S. 121. Zu den Problemen, die bei der Umsetzung von Rüstungsarbeitern entstanden, vgl. Meldungen aus dem Reich (Nr. 269) v. 19.3.1942, S. 3498ff. 2M
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gen kein allzu großer Erfolg hinsichtlich der Freistellung von Arbeitskräften zu erwarten sei,«241 und im Juli 1942 konstatierte der Leiter des Rüstungslieferungsamtes im Reichsministerium für Bewaffnung und Munition, daß »die Stillegung von Betrieben [...] arbeitseinsatzmäßig bisher keine nennenswerte Ergebnisse gebracht« hat.242 Beklagt wurden die zahlreichen Ausnahmen aufgrund einschränkender Erlasse, die einzelne Wirtschaftszweige und -gebiete mit Rücksicht auf die Stimmung an der »Heimatfront« aus der Stillegungsliste strichen. Durch das komplizierte Verfahren und Einsprüche der Unternehmer wurde die Bearbeitungsdauer einer beabsichtigten Schließung so lang, daß es in der Zwischenzeit mancher Firma gelang, sich unbemerkt mit Wehrmachtsaufträgen zu versorgen. Damit wurde eine Schließung unmöglich. So erhielt eine Schuhfirma in Weißenfels, obwohl ein Schließungsantrag gegen sie lief, einen kleinen Wehrmachtsauftrag. Zusätzlich verkürzte die Firma die Gesamtarbeitszeit ihrer Mitarbeiter, so daß praktisch alle an diesem Auftrag beteiligt waren und der Firma nicht entzogen werden konnten.243 Die von der Schließung Betroffenen zeigten meist Unverständnis und beklagten Ungerechtigkeiten bei der Auswahl der zu schließenden Betriebe.244 Oft wurde vermutet, daß »maßgebliche Persönlichkeiten ihren Einfluß [...] geltend machten« zur Unterstützung bestimmter Firmen.245 In der Lederwirtschaft kam es in den ersten Jahren des Krieges nur begrenzt zu Betriebsstillegungen. Von den 3650 Mitgliedsfirmen der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie vor Beginn des Krieges waren bis Ende 1940 244, also 6,7%, geschlossen worden.246 Bei den Schuh- und Lederfirmen war die Bilanz ähnlich bescheiden: nur 90, knapp 8%, bzw. 36, etwa 5%, waren stillgelegt.247 Diese erste Schließungswelle verlief also auch in diesen Branchen »schon nach wenigen Wochen im Sande.«248 Mit der Totalisierung des Krieges wurden die Stillegungsaktionen erneut aufgenommen. Reichswirtschaftsminister Funk argumentierte mit Rationalisierungen, die durch Firmenschließungen und -Zusammenlegungen eintreten wür241
Meldungen aus dem Reich (Nr. 719) v. 1. April 1940, S. 946. Schreiben an die Reichsgruppe Industrie v. 2.7.1942, StAL EL 540 Bü 2665. Meldungen aus dem Reich (Nr. 99) v. 24.6.1940, S. 1304f. Dazu auch ebd. (Nr. 272) v. 30.3.1942, S. 3563 und (Nr. 277) v. 20.4.1942, S. 3659. 244 Vgl. dazu die Kritik an dieser Einstellung der Betroffenen durch den Stadtpräsidenten für Berlin, Dr. Schaar, in: Wirtschaftlicher Lagebericht des Stadtpräsidenten für das Gebiet Berlin für das 4. Vierteljahr 1939, in: Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, S. 878-908, S. 881. 245 Vgl. Meldungen aus dem Reich (Nr. 272) v. 30.3.1942, S. 3564. 246 Vgl. Bericht zur Lage in der Schuh- und Lederindustrie im Dezember 1939, BÄK R 13 XIII Bü 115 und Betriebe der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 258 und 320. 247 Vgl. Betriebsstillegungen, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 266 und Bü 377. 248 Rolf-Dieter Müller: Grundzüge der deutschen Kriegswirtschaft 1939 bis 1945, in: Bracher/Funke/Jacobsen, Deutschland 1933-1945, S. 357-376, S. 362. Vgl. dazu auch Recker, Zwischen sozialer Befriedung und materieller Ausbeutung, in: Michalka, Der Zweite Weltkrieg, S. 430-444, S. 432 und Gerhard Kratzsch: Der Gauwirtschaftsapparat der NSDAP. Menschenführung - »Arisierung« - Wehrwirtschaft im Gau Westfalen-Süd, Münster 1989, S. 362f. 242
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den, mit Gründen des Arbeitseinsatzes und der Energieersparnis.249 Die »Verordnung zur Freimachung von Arbeitskräften für den kriegswichtigen Einsatz« vom 29. Januar 1943250 erlaubte dem Reichswirtschaftsminister und den nachgeordneten Stellen, Betriebe zu schließen, um Arbeitskräfte »unmittelbar oder mittelbar« für Aufgaben der Reichsverteidigung freizusetzen. Davon waren nun nicht mehr nur Betriebe der Konsumgüterproduktion betroffen, sondern auch »unrentable« Rüstungsbetriebe. Die Vorlaufzeit für die Stillegungen war zum Teil beträchtlich, so daß erst im Juni 1943 eine Schätzung der durch die Stillegung industrieller Betriebe freigesetzten Arbeitskräfte vorlag: etwa 70.000.251 Unternehmer, deren Betriebe geschlossen wurden, erhielten eine sogenannte »Stillegungsbeihilfe«, die den Fortbestand ihres Betriebes sichern sollte. Sie umfaßte neben den Lebenshaltungskosten für den Betroffenen und seine Familie auch die Miete oder Pacht für Firmengebäude.252 Die vorrätigen Waren und Kontingente wurden von den zuständigen fachlichen Gliederungen der Organisation der gewerblichen Wirtschaft an andere Firmen verteilt. Waren, die als entbehrlich galten, wurden exportiert, so zum Beispiel Ledertaschen, -mappen und -koffer, Gegenstände aus Reptilleder und andere Luxuswaren.253 Die Schließungen im zivilen Sektor254 erfolgten auf Vorschlag der für die Firmen zuständigen bezirklichen Selbstverwaltungsorgane. Dies waren für die Schuh- und Lederfirmen die bezirklichen Gliederungen in der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie. Deren Vorschläge wurden an die Landeswirtschaftsämter, Parteidienststellen und die Arbeitsämter weitergeleitet. Diese entschieden - so vermutet Herbst - aufgrund einer dem Vorschlag von den Selbstverwaltungsorganen beigelegten Liste, der die Anzahl der freiwerdenden Arbeitskräfte zu entnehmen war. Die letzte Entscheidung lag beim Reichsverteidigungskommissar,255 die Stillegungsbescheide stellte dann die jeweilige Reichsstelle aus. Uber die Kriterien, die zu einer Schließung führten, waren sich die verantwortlichen Stellen nicht immer einig, vielmehr bildete sich ein Bündel von Stillegungsgründen heraus.256 Zwar vermuteten die Unternehmer der Leder249
Reichswirtschaftsminister Funk über die Stillegungen im Zusammenhang mit dem totalen Kriegseinsatz v. 15.2.1943, in: Archiv 1943, Nr. 107, S. 972ff. ""RGBl. I, S. 75. Vgl. Herbst, Der Totale Krieg, S. 208 und verschiedene Anordnungen des Reichswirtschaftsministers aus dem Jahre 1944, BAP 31.01 Bii 11824. 251 Herbst, Der Totale Krieg, S. 212. 252 Die Auszahlung erfolgte durch die Gauwirtschaftskammer oder die Wirtschaftskammer. (Vgl. Erlaß des Reichswirtschaftsministers v. 10.6.1943, BAP 31.01 Bü 12944.) Die Stillegungsbeihilfe wurde von einer »Umlage« beglichen, die alle Firmen zu zahlen hatten. (Vgl. Anordnung Π/4 der Reichswirtschaftskammer v. 31.8.1943, DRA Nr. 220 v. 21.9.1943.) 253 Anordnung über die Verteilung von Waren geschlossener Betriebe v. 23.1.1943, DRA Nr. 25 v. 1.2.1943 und Schnellbriefe sowie Runderlasse des Reichswirtschaftsministers v. 20.2.1943, 25.3.1943 sowie 5.5.1943, StAL EL 450 Bü 2665. 254 Zum Ablauf der Schließungen im Rüstungssektor vgl. Kratzsch, Gauwirtschaftsapparat, S. 372f. 255 Vgl. ausführlich dazu Herbst, Der Totale Krieg, S. 216f. 256 Vgl. Erlaß des Reichswirtschaftsministers v. 17.2.1944, Durchführungsverordnung zur Anordnung 25/34, RWMB1. 1944, S. 32. Dazu auch Kratzsch, Gauwirtschaftsapparat, S. 394f. Stillegungsgründe waren u.a.: Beschwerden von Kunden wegen schlechter Ware, Konzembetriebe, also wenn mehrere Betriebe in einer Hand waren, arisierte Betriebe und Betriebe in
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Π. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
branche, daß »bei Stilllegungen in erster Linie arbeitseinsatzmässige Gesichtspunkte massgebend«257 seien, bisweilen bestimmten jedoch auch andere Gründe eine Schließung. So gehörten zwar Schuhverkaufsstellen in die Kategorie der für »die kriegsnotwendige und verbrauchsnahe Versorgung der Bevölkerung« notwendigen Läden,258 dennoch wurde eine große Anzahl von ihnen geschlossen. 149 Tack-Verkaufsgeschäfte, über die Hälfte der bestehenden Läden, fielen der Schließungsaktion des Jahres 1943 zum Opfer.259 Im Bereich der Schuh- und Lederproduktion erhielten 1942 58 Leder- und 24 Schuhfabriken von der Reichsstelle für Lederwirtschaft einen Stillegungsbescheid, der aus Gründen der Rohstoffeinsparung ergangen war.260 Auch der Firma Paul Bantlin, Reutlingen wurde 1942 von der Fachgruppe Ledertreibriemen und technische Lederartikel-Industrie mitgeteilt, daß »vor allem Rohstoffgründe [...] zu einer solchen Massnahme zwingen.«261 Die Donzdorfer Sämischlederfabrik und die Reutlinger Firma Knapps & Schwandner wurden »wegen Verstößen gegen die Anordnungen [der Reichsstelle für Lederwirtschaft] geschlossen,«262 die Gerberei des Biberachers Hermann Kolesch, weil der Inhaber schon älter war und »kein Geschäftsnachfolger da war«.263 Der Betrieb beschäftigte 1940 lediglich drei Mann.264 sogenannten Engpaßgebieten, z.B. Backnang oder Reutlingen. Auch technische Gesichtspunkte, die Qualität des Leders und Transportprobleme spielten eine Rolle. Betriebe von Frontkämpfern, Gaudiplom- und Musterbetriebe wurden bevorzugt. (Vgl. Grundsätze für die Rationalisierung in der Schuhindustrie v. 5.2.1942, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 324, Produktionsausschuß Ledererzeugung an das Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion v. 16.3.1944, Mohr an die Gauwirtschaftskammer Stuttgart v. 8.7.1944, BÄK R 3 Bü 310, Protokoll der Besprechung zur Durchführung des Rationalsierungserlasses auf dem Gebiet der Hauptabteilung Α ν. 10.1.1942, BÄK 13 R X m Bü 320.) 257 Paul Bantlin an den Württembergischen Wirtschaftsminister v. 12.9.1942, WABW Y 11. 258 Herbst, Der Totale Krieg, S. 215. "'Vgl. Unterlagen zur Entnazifizierung von Richard Freudenberg, FFA 1/273. Freudenberg selbst und Veröffentlichungen des Firmenarchivs sind der Überzeugung, daß es politische Motive waren, die für die Schließung der Tack-Läden verantwortlich waren, denn »die TackFilialen [waren] [...] geradezu zu einem Sammelbecken von Gegnern des Nazi-Systems geworden.« (Urteil gegen Richard Freudenberg v. 5.11.1947, ebd.) So war der Prokurist der Firma Tack, Ludwig Schwamb, ein Mitwisser des Attentats vom 20.7.1944 und wurde als solcher im Januar 1945 zum Tode verurteilt. Publikationen des Firmenarchivs verweisen außerdem darauf, daß auch Wilhelm Leuschner bei Tack gearbeitet habe. (Vgl. Wilderotter, Richard Freudenberg, S. 31.) In den Filialbüchern der Firma Tack taucht für die Zeit von 1935 bis 1938 als Leiter der Berliner Filiale Steglitz ein Wilhelm Leuschner auf. (FFA 3/02039) Ob dieser jedoch mit dem Widerstandskämpfer Leuschner identisch ist, ist ungewiß, zumal genauere Abgaben über das Personal der Firma Tack sowohl im Firmenarchiv in Weinheim als auch in den Akten der Firma Tack in Burg fehlen und auch die biographische Literatur über Leuschner nichts über eine Beschäftigung bei Tack verlauten läßt. 260 Darunter die Finnen J. Ruolf, Gebr. Räuchle, Carl Pommer und Wilhelm Schneider, alle Backnang, und die Lederfabrik Zuffenhausen Sihler & Co. (Vgl. StAL EL 540 Bü 2665.) 261 Fachgruppe Ledertreibriemen und technische Lederartikel-Industrie an Bantlin v. 10.9.1942, WABW Y 11. 262 Schreiben Otto Schmids, Beirat der Zentrale für Lederwirtschaft, v. 18.5.1946, StAS Wü 13 10/f/1001, Mohr an die Gauwirtschaftskammer Stuttgart v. 8.7.1944, BÄK R 3 Bü 310 und Protokoll einer Sitzung württembergischer Lederexperten v. 15.6.1944, BÄK 13 R ΧΠΙ Bü 304. 263 Kolesch war 1942 66 Jahre alt. (Vgl. Hermann Kolesch an das Reichswirtschaftsgericht v. 11.7.1936, BÄK 123 Bü 147, 7. Sen. XL 148 (1936) und Schreiben Otto Schmids, Beirat der Zentrale für Lederwirtschaft, v. 18.5.1946, StAS Wü 13 10/f/1001.)
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Der Reichsminister für Bewaffnung und Munition favorisierte für eine Schließung zunächst nicht die sehr kleinen und unrentabel arbeitenden Finnen, sondern Industriebetriebe mit über 100 und Handwerksbetriebe mit über 50 Mann.265 Dies waren Firmen, bei denen sich eine Schließung unter dem Gesichtspunkt des Arbeitseinsatzes lohnte.266 Der Leiter der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie, Ludwig Heyl, kritisierte jedoch diesen Erlaß Speers, denn in der Lederindustrie sei »eine Weiterführung [...] der kleinen und kleinsten Betriebe allein aus Transportgründen nicht mehr zu verantworten«. Dagegen seien die Firmen mit über 100 Beschäftigten technisch am besten ausgerüstet und erzeugten »qualitätsmäßig das beste Leder.«267 In der Lederindustrie setzte sich Speers Erlaß dann auch nur bedingt durch. Heyls Argumentation schien für die Verantwortlichen einleuchtend gewesen zu sein, denn ab Sommer 1943 wurden die Firmenschließungen immer häufiger mit der mangelnden Leistungsfähigkeit eines Betriebes begründet.268 Von den über 800 Handwerks- und Kleinstbetrieben der ledererzeugenden Industrie, die 1936 in Deutschland bestanden, waren bis 1942 schon mehr als die Hälfte geschlossen worden. Die Zahl der Lederfirmen bis 100 Beschäftigte stieg im selben Zeitraum von 215 auf 245 Betriebe an. Auch der Anteil der Großbetriebe nahm um sechs Firmen zu, so daß von einer Verschonung der Klein- und Mittelbetriebe nicht gesprochen werden kann.269 Die Beteiligung zahlreicher Stellen und Ämter an einer Schließungsentscheidung270 führte zu Reibungsverlusten durch Zuständigkeitsprobleme. So beklagte der SD, »daß zwischen LWA und den Wirtschafts- bzw. Fachgruppen infolge Kompetenzschwierigkeiten des öfteren Streitigkeiten entstünden.«271 Dennoch war die zweite Schließungswelle 1942 im Bereich der Schuh- und Lederindustrie erfolgreicher als die erste.272 Von den Mitgliedsfirmen der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie wurden in diesem Jahr 420 stillgelegt, davon 245 Schuh- und 47 Lederfirmen.273 '"Vgl. Hermann Kolesch an das Reichswirtschaftsgericht v. 22.10.1940, BÄK 123 Bü 186, 5. Sen. XL 311 (1940). 265 Erlasse v. 1.9.1943, StAL EL 540 Bü 2665, v. 17.2.1944 und Durchführungsverordnung zur Anordnung 25/43, in: RWMB1. 1944, S. 32. "'Gegen die Schließung von Kleinstbetrieben wandten sich auch Stimmen aus der Wirtschaft. (Vgl. Meldungen aus dem Reich (Nr. 719) v. 1. April 1940, S. 946, (Nr. 272) v. 30.3.1942, S. 3563.) 267 Vgl. Ludwig Heyl an die Fachgruppe ledererzeugende Industrie v. 7.2.43, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 321 und Protokoll der Besprechung zur Durchführung des Rationalisierungserlasses auf dem Gebiet der Hauptabteilung Α ν. 10.1.1942, BÄK 13 R ΧΙΠ Bü 320. 268 Vgl. SD-Berichte zu Inlandfragen v. 21.6.1943, S. 5385. 269 Vgl. Statistik der Betriebsgrößen der ledererzeugenden Industrie, R 13 ΧΙΠ Bü 266, Protokoll der Besprechung zur Durchführung des Rationalisierungserlasses auf dem Gebiet der Hauptabteilung Α ν. 10.1.1942, BÄK 13 R ΧΙΠ Bü 320 und Wirtschaftsgruppe Uderindustrie an den Hauptausschuß Wehrmachts- und Allgemeines Gerät beim Reichsministerium für Bewaffnung und Munition v. 9.7.1942, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 324. 270 Vgl. Herbst, Der Totale Krieg, S. 217. "'Meldungen aus dem Reich (Nr. 277) v. 20.4.1942, S. 3658. 272 Vgl. Kratzsch, Gauwirtschaftsapparat, S. 363ff. 273 Vgl. Betriebsstillegungen, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 266. Für Württemberg vgl. Zahlen aus BAP 31.01 Bü 5683 und StAL EL 540 Bü 2665.
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Π. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
Ab Mitte 1943 geriet die Lederindustrie abermals ins Blickfeld der Verantwortlichen. Wieder waren es gerade Klein- und Kleinstbetriebe, die geschlossen werden sollten. Gegen die Schließung dieser Unternehmen wehrten sich die offiziellen Presseorgane der deutschen Wirtschaft, da es »zu den fundamentalsten Grundsätzen nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik [gehöre], den Mittelstand nach Kräften zu fördern.«274 Wie die Realität aussah, zeigen die Verhältnisse in der Backnanger Lederindustrie. 1942 plante man die Schließung einer großen Lederfirma, um eine Anzahl kleinerer Firmen im Gebäude der großen zusammenzulegen. Von diesem Plan rückte man jedoch bald wieder ab, geschlossen wurden letztlich die kleinen Firmen, die große blieb in Gang.275 Meist siegte nun der Pragmatismus über die Ideen der Nationalsozialisten vom gesunden Mittelstand. Die Großunternehmen und Markenfirmen erfreuten sich zunehmend der intensiven Förderung durch die Nationalsozialisten auf Kosten der Kleinbetriebe. Denn gerade die großen Firmen galten rüstungswirtschaftlich als besonders leistungsfähig.276 Die Folge war, daß die Zahl der Kleinstbetriebe in der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie weiter von 391 im Jahr 1941 auf 299 im Mai 1944 sank. Der Prozentsatz der Kleinbetriebe ging im selben Zeitraum um fast 23% zurück, während der Anteil der Mittelbetriebe mit über 100 Beschäftigten um nur 18,5% sank. Die Großgerbereien mit über 500 Beschäftigten konnten ihren Anteil nahezu halten.277 Insgesamt erwarteten die Verantwortlichen von diesen Schließungsmaßnahmen im Bereich der Lederindustrie keinen Erfolg mehr. Der Großteil der bestehenden Betriebe produzierte sowieso für die Rüstung, die übrigen waren mehrheitlich Kleinstbetriebe. Eine Schließung dieser Firmen rentierte sich jedoch kaum, denn »die stillzulegenden Betriebe hätten meist nur ganz wenige Gefolgschaftsmitglieder, von denen überhaupt nur ein gewisser Teil den an voll einsatzfähige Arbeitskräfte zu stellenden Anforderungen entsprechen würde. Wegen hohen Alters, Ortsgebundenheit, der bestehenden Verkehrsschwierigkeiten usw. sei eine Umsetzung dieser Arbeitskräfte vielfach nicht möglich.«278 Dennoch wurden diese kleinen Firmen nun in großem Maßstab stillgelegt.279 Als die Schliessungsmaßnahmen in Speers Verantwortungsbereich übergingen, zeigte sich, daß er es mit der Verschonung des Mittelstandes doch nicht ernst gemeint hatte. Er forcierte letztlich die Konzentration der Produktion auf Großbetriebe.280 Der Widerstand des Reichswirtschaftsministers und der Vertreter 274
DVW 13 (1944), S. 296. Vgl. Carl Kaess an den Oberbereichsleiter der NSDAP und den Leiter des Fachamts Bekleidung und Leder in Berlin v. 30.6.1942, Bestand Kaess. Die kleinen Firmen waren Gebr. Räuchle, Carl Pommer, F.G. Schneider und Gotthold Rieker. (Vgl. Jahresbericht der Firma Schweizer über das Jahr 1942, WABW Y 120 und StAL EL 540 Bü 2665.) 276 Vgl. Meldungen aus dem Reich (Nr. 387) v. 31.5.1943, S. 5321, Aktennotiz der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 12.4.40, BÄK R 8 VI Bü 36 und Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 269. 277 Vgl. Betriebsgrößen der ledererzeugenden Industrie, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 266. "'Meldungen aus dem Reich (Nr. 387) v. 31.5.1943, S. 5321f. 279 SD-Berichte zu Inlandfragen v. 21.6.1943, S. 5385ff. Anders als bisher ließ die Speer'sche Behörde keinen Widerspruch der zu schließenden Firmen zu. 280 Vgl. Volkmann, NS-Wirtschaft, Ursachen und Voraussetzungen, S. 269 und Kratzsch, Der Gauwirtschaftsapparat, S. 369. 275
Staatliche Lenkung in der Schuh- und Lederindustrie
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des Handwerks dagegen blieb folgenlos.281 In allen Bereichen der Schuh- und Lederindustrie, besonders aber in der Handschuhindustrie ist eine Konzentration auf große Industriebetriebe zu Lasten des Handwerks auszumachen.282 Die von der Firmenschließung Betroffenen vermuteten egoistische Motive der Vorsitzenden der verantwortlichen Stellen, die zugleich Unternehmer von Großbetrieben waren.283 Das Ergebnis dieser Schließungsaktion in Bezug auf Arbeitskräftefreisetzung blieb noch hinter den ohnehin geringen Erwartungen zurück. Zwar konnten bis 1943 in der ledererzeugenden Industrie und in der Schuhindustrie noch über 48.600 Beschäftigte »freigesetzt« werden, der Anteil der geschlossenen Betriebe übertraf den der freigesetzten Beschäftigten jedoch bei weitem.284 Im folgenden Jahr mußte die Mitarbeiterzahl in der Schuh- und Lederindustrie jedoch wieder erhöht werden, um ein Zusammenbrechen der Produktion zu verhindern. Die Schuhindustrie beschäftigte 1944 1300 Arbeitskräfte mehr als 1942, die Lederindustrie 2250.285 Insgesamt wurden zu diesem Zeitpunkt im deutschen Wirtschaftsleben vor allem Läden und Verkaufsgeschäfte geschlossen,286 jedoch nur 3000 Betriebe der Industrie. Dies erbrachte die »Freisetzung« von lediglich 150.000 Arbeitskräften.287 Offensichtlich war die Grenze der Umstellung auf die Kriegswirtschaft erreicht worden. 2.7. Lenkung der Arbeitskräfte Bald nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten erfolgte die grundlegende Umgestaltung des institutionellen Rahmens des Arbeitsmarktes. Schon 1933/34 wurden Lenkungssysteme installiert, die die Verteilung von Arbeitskräften regulieren sollten. Durch die Beschränkung der Freiheit, den Arbeitsplatz zu wechseln, durch Kontrollmechanismen, wie dem Arbeitsbuch, wurde der Einsatz der Arbeitnehmer zunehmend durch den Staat diktiert. Die Reglementierung der Arbeitnehmer erreichte nach der Ernennung Görings zum 281
Vgl. Janssen, Das Ministerium Speer, S, 120 und Reichsgruppenleiter des Gerberhandwerks an den Produktionsausschuß Ledererzeugung v. 4.7.1944, BÄK 13 R ΧΙΠ Bü 304. 2,2 Vgl. StAS Wü 15 Bü 321. 283 Kratzsch, Gauwirtschaftsapparat, S. 375. 284 Wirtschaftsgruppe Lederindustrie an den Sonderausschuß G XVIII Wehrmachtsschuhwerk v. 11.8.1942, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 194. 285 Zahlen aus BÄK R 8 VI Bü 67, Bü 68 und Bü 71, R 10 VI Bü 42 und Bü 54 und R 13 XIII Bü 124, Bü 264, Bü 266 und Bü 320. Die Steigerung der Beschäftigtenzahl in der Lederindustrie erfolgte jedoch nicht, wie zu vermuten wäre, durch die verstärkte Beschäftigung von Frauen. Im Gegenteil! Der Anteil der Frauen in der Lederindustrie stieg zwar von 1939 bis 1944 prozentual durch den Abzug von Männern zur Wehrmacht von 17,4 auf 28%, absolut ging die Zahl der beschäftigten Frauen in diesem Zeitraum jedoch um 130 zurück. Diese Tendenz ist in anderen Bereichen der Wirtschaftsgruppen Lederindustrie so nicht festzustellen. (Vgl. Statistiken, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 266.) 286 Reichswirtschaftsminister Funk über die Stillegungen im Zusammenhang mit dem totalen Kriegseinsatz v. 15.2.1943, in: Archiv 1943, Nr. 107, S. 972ff. 287 Müller, Grundzüge der deutschen Kriegswirtschaft, S. 370. Dazu Speer an die Vorsitzenden der Rüstungskommissionen v. August 1944, BÄK 13 R ΧΙΠ Bü 302.
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Π. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
Beauftragten des Vierjahresplans einen vorläufigen Höhepunkt. Diese Phase ist geprägt von einem sich verschärfenden Arbeitskräftemangel. Als 1942 der thüringische Gauleiter Fritz Sauckel zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz ernannt wurde, verstärkte sich der Druck auf die Arbeitnehmer weiter. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hatten die Freiheit auf Selbstbestimmung des Arbeitsplatzes verloren, ihre Arbeitsleistung wurde im Zuge des »Totalen Krieges« mit brutalen Methoden zu steigern versucht. In der nationalsozialistischen Arbeitsmarktpolitik änderten sich die politischen Vorgaben im Laufe der Zeit grundlegend. Stand direkt nach der »Machtergreifung« die Arbeitsbeschaffung im Vordergrund, war ab 1934/35 die Sicherung von Arbeitskräften für bestimmte Branchen, vor allem für die Landwirtschaft ausschlaggebend. Mit der Erreichung der Vollbeschäftigung 1936/37 bemühten sich die Machthaber um eine kriegsrelevante Lenkung der knapper werdenden Arbeitskräfte. Nach Kriegsbeginn fehlten Arbeitskräfte in allen Industriezweigen. Eine besondere Rolle in der Arbeitsmarktpolitik nach 1933 kam den berufstätigen Frauen zu. Zunächst versuchten die Nationalsozialisten, sie durch Propaganda und Verweigerung von Ehestandsdarlehen bei Erwerbstätigkeit der Frau aus dem Berufsleben zu drängen.288 So ging die Zahl der erwerbstätigen Frauen während des Nationalsozialismus stark zurück. Waren in den zwanziger Jahren durchschnittlich etwa 17,7 Mill. Frauen berufstätig, reduzierte sich deren Zahl auf 5,5 Mill, im Jahr 1936.289 Weiter versuchte das Regime, die zunehmende Landflucht einzudämmen. Um zu verhindern, daß Landarbeiterinnen und -arbeiter ihre angestammten Arbeitsgebiete verließen und in lukrativere Branchen abwanderten, wurde am 15. Mai 1935 das »Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes«290 erlassen, das Zuzugssperren für die von Arbeitslosigkeit stark betroffenen Städte und Gebiete verhängte. Weiter bedurfte die Einstellung von Landarbeitern der Zustimmung der Arbeitsämter, und ehemalige Landarbeiter wurden zwangsweise an ihre alten Arbeitsplätze zurückgeführt.291 Darüber hinaus versuchte der nationalsozialistische Staat ledige Jugendliche unter 25 Jahren durch verheiratete Familienväter zu ersetzen.292 Mit der Einführung des Arbeitsbuches am 26. Februar 1935293 und der »Lohngestaltungsordnung« 288
Durch das »Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit« v. 1.6.1933, RGBl. I, S. 323. Mason, Sozialpolitik, S. 133. 290 RGB1. I, S. 318. Zum Arbeitseinsatzgesetz vgl. Petzina, Mobilisierung deutscher Arbeitskräfte, S. 443ff. und Puppo, Wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung, S. 162ff. 291 Vgl. »Anordnung über die Verteilung von Arbeitskräften« v. 28.8.1934, (DRA Nr. 202 v. 28.8.1934), Durchführungsverordnung zum »Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes« v. 17.5.1934 (DRA Nr. 114 v. 17.5.1934), »Gesetz zur Befriedigung des Bedarfs der Landwirtschaft an Arbeitskräften« v. 26.2.1935 (RGBl. I, S. 310) und Durchführungsverordnung v. 29.3.1935 (DRA Nr. 76 v. 29.3.1935). 292 V.a. »Anordnung über die Verteilung von Arbeitskräften« v. 28.8.1934, DRA Nr. 202 v. 28.8.1934. 293 »Gesetz über die Einführung eines Arbeitsbuches« v. 26.2.1935, RGBl. I, S. 311. Vgl dazu Puppo, Wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung, S. 170f. und Willy A. Boelcke: Wirtschaft und Sozialsituation, in: Otto Borst: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, Stuttgart 1988, S. 29-45, S. 33. 289
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vom 25. Juni 1938294 erfolgte schließlich die durchgreifende Kontrolle der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Mit Erreichen der Vollbeschäftigung, der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und des Reichsarbeitsdienstes wurde der Mangel an gutausgebildeten Fachkräften offensichtlich. Nach der Verkündung des Vierjahresplans erließ das Regime weitere, die Freiheit der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber einschränkende Gesetze und Verordnungen. So wurden Betriebe der Metallindustrie verpflichtet, in ausreichender Zahl Lehrlinge auszubilden,295 oder Arbeitgeber ermächtigt, das Arbeitsbuch eines Vertragsbrüchigen Arbeitnehmers einzubehalten.296 Da nun der »Bedarf an Arbeitskräften für staats- und wirtschaftspolitisch bedeutsame Aufgaben«297 Vorrang hatte, konnten Betrieben mit weniger dringlichen Aufgaben mit Hilfe von Dienstverpflichtungen Arbeitskräfte entzogen werden.298 Bis Kriegsbeginn verstärkte sich diese Tendenz durch staatliche Großprojekte wie den Bau des Westwalls. Der Arbeitskräftemangel hatte Ende 1938 ein solches Ausmaß angenommen, daß der Berliner Stadtpräsident die Kriegsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in Frage stellte. Er bezweifelte, daß »es im Ernstfall überhaupt noch möglich sein wird, die Leistungsfähigkeit von Betrieben und Gefolgschaft zu steigern, und zwar zu steigern unter mit Sicherheit erschwerten Verhältnissen mit voraussichtlich verringerter Gefolgschaft und geringerer Rohstoffzuteilung.«299 Nach Kriegsbeginn wurden verstärkt Arbeitnehmer gerade der weniger rüstungswichtigen Firmen zur Wehrmacht eingezogen. Der daraus entstehende Arbeitskräftemangel nach dem Scheitern des »Rußlandfeldzugs« 1941/42 gefährdete nun nicht mehr nur die Versorgung der Zivilbevölkerung mit den Gütern des täglichen Bedarfs, sondern auch den Ausstoß von Rüstungsgütem. Dem versuchte der zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz ernannte Fritz Sauckel einerseits durch den verstärkten Einsatz von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern zu begegnen. Andererseits führte Sauckel eine Meldepflicht für alle vom Arbeitseinsatz bisher nicht betroffenen Personen ein.300 Damit wollte man vor allem nicht berufstätige Frauen in den Arbeitsprozeß überführen - mit mäßigem Erfolg.
^ R G B l . I, S. 691. Vgl. Puppo, Wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung, S. 250. 295 Anordnung über den Arbeitseinsatz von Metallarbeitern v. 11.2.1937, RABI. I, S. 38. ^Siebte Anordnung des Beauftragten für den Vierjahresplan v. 22.12.1936, DRA Nr. 299 v. 25.12.1936. 297 Petzina, Autarkiepolitik, S. 158. 298 Vgl. »Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung« v. 22.6.1938 (RGBl. I, S. 652), Dienstpflicht-Durchführungsanordnung v. 29.6.1938 (RABI. I, S. 210), »2. Dienstpflichtverordnung« ν. 13.2.1939 (RGBl. I, S. 206). In der Folge häuften sich die Klagen von Firmen, denen Arbeitskräfte entzogen worden waren, und die dadurch Exportaufträge gefährdet sahen. (Vgl. BAP 31.01 Bü 10410.) 299 Wirtschaftlicher Lagebericht des Stadtpräsidenten für das Gebiet Berlin für das 4. Vierteljahr 1938, in: Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, S. 878-906, S. 879. 300 1. Meldepflicht-Verordnung v. 27.1.1943 (RGBl. I, S. 393), 2. Meldepflicht-Verordnung v. 10.6.1944 (RGBl. I, S. 133), 3. Meldepflicht-Verordnung v. 28.7.1944 (RGBl. I, S. 167) und 4. Meldepflicht-Verordnung v. 29.8.1944 (RGBl. I, S. 190).
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Π. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
In der Schuh- und Lederindustrie bedeutete diese Arbeitsmarktpolitik einen Wechsel von Unterbeschäftigung, Kurzarbeit und Entlassungen bis etwa 1937 hin zu einem massiven Arbeitskräftemangel. Die Firmen der Schuh- und Lederbranche kämpften in den ersten Jahren des Nationalsozialismus verzweifelt um Aufträge, um ihre Belegschaft halten zu können.301 Der Esslinger Lederfabrikant Gerecke hatte 1933 seine zwölf Mann starke Belegschaft wegen Auftragsmangel auf sieben reduzieren müssen.302 1934 konnte er die fünf Entlassenen zwar wieder einstellen, bat jedoch bei der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft um die Erhöhung seines Lederkontingents, »um den [...] Stand meiner Gefolgschaft aufrecht [zu] erhalten.«303 Die kleine Biberacher Gerberei Hermann Kolesch konnte 1934 lediglich zwei der ehemals sieben Arbeiter beschäftigen.304 Die Lederfabrik Carl J. Hieber, Bopfingen, die »bei normalem Geschäftsgang durchschnittlich 14-15 Mann beschäftigt[e],«305 mußte noch Anfang 1935 alle Arbeitnehmer entlassen, weil keine Aufträge vorlagen. Ab April 1935 produzierte die Firma dann mit nur vier Arbeitern weiter. Auch die Durlacher Lederfirma Hermann & Ettlinger arbeitete 1935 mit nur 136 von ehemals 400 Arbeitskräften.306 Erkennbar ist die Unterbeschäftigung in diesem Industriezweig auch an der Entwicklung der wöchentlichen Arbeitszeit von Lederarbeitern. Betrug diese 1929 durchschnittlich 45,3 Stunden, sank sie, nach einer kurzen Erholung im Jahr 1934, stetig auf 44,1 Stunden im Jahr 1937.307 In anderen Industriezweigen wurde dagegen durchschnittlich rund 2 Stunden mehr gearbeitet.308 Nur einigen wenigen Lederfirmen gelang es, ohne Entlassungen und »nennenswerte Betriebseinschränkungen in wirtschaftlich schwerster Zeit durchzuhalten.«309 Dazu gehörte die Lederfirma Christ. Breuninger in Schorndorf, die anders als die meisten Lederfirmen nach der »Machtergreifung« in das Rüstungsprogramm der Nationalsozialisten fiel.310 Für die Schuh- und Leder301
Vgl. dazu Meldungen aus dem Reich 1. Jg. (Nr. 3) v. Juni/Juli 1934, S. 228, 2. Jg. (Nr. 10) v. Okt. 1935, S. 1151, (Nr. 12) v. Dez. 1935, S. 1416, Jg. 3 (Nr. 3) v. März 1936, S. 335 und S. 338, (Nr. 6) v. Juni 1936, S. 704, (Nr. 9) v. Sept. 1936, S. 1120f. und (Nr. 11) v. Nov. 1936, S. 1427. ^ G e r e c k e an die Überwachungsstelle für Felle und Häute v. 5.6.1934, BÄK 123 Bü 142, 7. Sen. XL 20 (1936). 303 Gerecke an das Reichswirtschaftsgericht v. 21.2.1936, BÄK 123 Bü 142, 7. Sen. XL 20 (1936). 304 Hermann Kolesch an das Reichswirtschaftsgericht v. 11.7.1936, BÄK 123 Bü 147, 7. Sen. XL 148 (1936). 305 Georg Hieber an das Reichswirtschaftsgericht v. 25.4.1935, BÄK 123 Bü 136, 7. Sen. XL 45 (1935). 306 Durlacher Lederfinna an die Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 3.5.1935, BÄK R 123 Bü 143 7. Sen. XL 31 (1936). "'Vgl. dazu Meldungen aus dem Reich 4. Jg (Nr. 1) v. Jan. 1937, S. 68. 308 Vgl. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, S. 1243. 309 Devisenberater Wilhelm Keding an das Reichswirtschaftsgericht v. 5.3.1938, BÄK 123 Bü 164, 5. Sen. XL 10-11 (1938). 310 Weitere Beispiele in Meldungen aus dem Reich 1. Jg. (Nr. 1) v. April/Mai 1934, S. 62, (Nr. 4) v. Juli/Aug. 1934, S. 335, (Nr. 6) v. Sept./Okt. 1934, S. 508, (Nr. 8) v. Nov./Dcz. 1934, S. 793f. und 2. Jg. (Nr. 1) v. Jan. 1935, S. 64.
Staatliche Lenkung in der Schuh- und Lederindustrie
111
industrie insgesamt gilt jedoch, daß die Arbeitslosigkeit seit 1933 zwar abnahm, die Beschäftigungsrate 1936 jedoch noch weit unter der von 1929 lag. 3 " Verantwortlich war dafür unter anderem die Abwanderung von Arbeitskräften aus diesen Branchen.312 Die meisten Schuh- und Lederunternehmen waren, nachdem sich der Aufschwung auch auf dem Arbeitsmarkt auszuwirken begann, mit diesem Problem konfrontiert. Die Metzinger Lederfabrik Braco berichtete dem Reichswirtschaftsgericht über die Schwierigkeit, ihre Fachkräfte zu halten. Man gebe sich die größte Mühe, den »aufgezogenen Arbeiterstamm unbedingt zu halten [...], da er uns sonst in grössere Betriebe abwandert, die vielleicht besser gestellt sind als wir, so z.B. sind uns zwei gute junge Arbeiter [...] in einen benachbarten grösseren Betrieb abgewandert.«3'3 Verantwortlich für die Abwanderung von Arbeitskräften war die geringe Lohnsteigerung im Bereich Schuh und Leder gegenüber der übrigen Industrie, vor allem der Investitionsgüterindustrie. Während die Reallöhne von Schuh- und Lederfacharbeitern von 1933 bis 1938 um 2,8% sanken, betrug das Reallohnwachstum in der übrigen Industrie 8,7%.314 In der Schuh- und Lederindustrie entstand ab 1936 die paradoxe Situation, daß auf der einen Seite infolge des Rohstoffmangels immer noch Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit herrschte,315 auf der anderen Seite diese Branche wie die gesamte Wirtschaft mit Facharbeitermangel konfrontiert war.316 Mit Kriegsbeginn wurden vorzugsweise Firmen, die weder rüstungs- noch kriegs- und lebenswichtig waren, Arbeitskräfte entzogen und zur Wehrmacht eingezogen. Die nur in Teilbereichen rüstungs-, kriegs- und lebenswichtigen Betriebe der Schuh- und Lederindustrie waren davon besonders betroffen. Von der Lederwarenfabrik Johann Saup in Jungingen wurden schon im September 1939 »alle Arbeitskräfte zum Militär eingezogen.«317 Bei der Backnanger Firma 311
Die Beschäftigungsrate in der Lederindustrie lag 1929 um fast 25% über der des Jahres 1936. (Vgl. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, S. 1242f.) 312 Vgl. dazu Mason, Sozialpolitik S. 144ff. und Bericht des Statistischen Reichsamts über die Entwicklung der tatsächlichen Arbeitsverdienste im Jahre 1936, in: ders., Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, S. 238-246, besonders S. 245. 313 Lederfabrik Braco an das Reichswirtschaftsgericht v. 19.2.1938, BÄK 123 Bü 164, 5. Sen. XL 24-25 (1938).) 3l4 Vgl. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, S. 1253ff. 315 Vgl. Mason, Sozialpolitik, S. 145 und Reichs- und Preußischer Arbeitsminister an den Chef der Reichskanzlei v. 26.6.1937, in: ders., Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, S. 355ff. Von 110.000 Kurzarbeitern im Jahr 1937 entfielen 20.000, also nahezu 20%, auf die Schuhindustrie. (Vgl. Meldungen aus dem Reich 3. Jg. (Nr. 3) v. März 1936, S. 335 und 338, (Nr. 6) v. Juni 1936, S. 704, (Nr. 9) v. Sept. 1936, S. 1120f„ 4. Jg. (Nr. 1) v. Jan. 1937, S. 68 und 5. Jg. (Nr. 1) v. Jan. 1938, S. 59.) Die Schorndorfer Lederfirma Breuninger mußte 1936 infolge Rohwarenmangels kurzarbeiten und einiger Mitarbeiter entlassen. (Vgl. Firma Breuninger an die Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 8.4.1936, BÄK R 123 Bü 164 5. Sen. XL 10-11 (1938). 3,6 Vgl. Auszug aus den Monatsberichten der Reichstreuhänder der Arbeit für August und September 1937, in: Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, S. 389-398, besonders S. 393. 3i7 Johann Saup an das Reichswirtschaftsgericht v. 19.9.1939, BÄK 123 Bü 170, 5. Sen. XL 71 (1939).
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Π. Eingriffe der nationalsozialistischen Planungsbehörden in die Wirtschaft
Räuchle war einer von beiden Inhabern, Christian Räuchle, seit August 1939 bei der Wehrmacht und ebenfalls einer der beiden kaufmännischen Angestellten. Die »übrige Gefolgschaft wurde bis auf 15 Mann eingezogen.«318 Die Reutlinger Treibriemenfirma Paul Bantlin, die vor dem Krieg 17 Mitarbeiter hatte, beschäftigte im November 1941 noch acht Arbeiter und drei weibliche kaufmännische Angestellte. Im Mai 1942 arbeiteten bei Bantlin nur mehr neun »Gefolgschaftsmitglieder«. 1944 wurde ein weiterer Bantlin-Arbeiter zu einem Bauvorhaben nach Balingen dienstverpflichtet.319 Bei der Mühlacker Schuhfirma Rempp waren alle »12 männlichen Gefolgschaftsmitglieder [...] zum Heerdienst eingezogen.«320 Allgemein läßt sich die Entwicklung der Arbeitskräftesituation bei Schuhund Lederfirmen anhand der Firma Kolesch verdeutlichen. Kolesch hatte in den dreißiger Jahren sieben Arbeiter und einige Lehrlinge beschäftigt, 1934 war die Belegschaft aus Gründen mangelnder Aufträge auf zwei gesunken. In den folgenden Jahren des Aufschwungs konnte Kolesch seine Arbeiter-zahl wieder auf sieben steigern. 1940 wurde vier davon zur Wehrmacht eingezogen, 1942 wurde der Betrieb geschlossen.321
3
"Firma Räuchle an die Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 7.3.1941, BÄK 123 Bü 194, 5. Sen. XL 120 (1941). Vgl dazu auch StAL EL 902/3 Bü 1/6572 und Unterlagen im Bestand Räuchle. 319 Vgl. WABW Y 11. 320 Firma Rempp an das Reichsverwaltungsgericht v. 22.1.1942, BÄK 123 Bü 120, 6. Sen. XL 4 (1942). 321 Vgl. Hermann Kolesch an das Reichswirtschaftsgericht v. 11.7.1936 und 22.10.1940, BÄK 123 Bü 147, 7. Sen. XL 148 (1936) und Bü 186, 5. Sen. XL 311 (1940) und Schreiben Otto Schmids, Beirat der Zentrale für Lederwirtschaft, v. 18.5.1946, StAS Wü 13 10/f/1001.
III. Auswirkungen - Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus 1. Aufschwung und Defizit Die einseitige Förderung der rüstungswichtigen Grund- und Investitionsgüterindustrien durch den »Neuen Plan« und den Vierjahresplan auf Kosten der Konsumgüter- und Exportindustrie rief in den Kreisen der Schuh- und Lederunternehmer Unmut hervor. Doch die Ergebnisse der nationalisozialistischen Wirtschaftspolitik wirkten sich auf die einzelnen Bereiche beider Branchen durchaus uneinheitlich aus. Von Bedeutung waren die unterschiedliche Exporttätigkeit und Importabhängigkeit der einzelnen Zweige der Lederindustrie und der Schuhindustrie, aber auch deren unterschiedliches Gewicht für die Militarisierung der Gesellschaft durch die Nationalsozialisten. Allen Bereichen dieser außenhandelsabhängigen Industriezweige gemeinsam war, daß vor allem die Änderungen in der Außenhandelspolitik durch die Nationalsozialisten bedeutende Auswirkungen nach sich zogen. Die Schuhindustrie profitierte zunächst von dem allgemein einsetzenden Konjunkturaufschwung ab 1932. Der Schuheinzelhandel meldete ab 1933 eine große Nachfrage, die Umsätze der Fachgeschäfte stiegen stark an, so zum Beispiel von Dezember 1932 bis Dezember 1933 um 56% oder von Mai 1933 bis Mai 1934 um 21%. In einzelnen Monaten des Jahres 1934 erhöhten sich die Umsätze des Schuheinzelhandels um 87% gegenüber dem Vergleichsmonat des Vorjahres.1 Diese enormen Steigerungsraten können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Schuhhandel schon früh ein Opfer der nationalsozialistischen Eingriffe in die Wirtschaft geworden war. Mit der »Förderung des Mittelstandes« begründeten die Nationalsozialisten das Verbot von Schuhverkaufsund Schuhreparaturabteilungen in Kaufhäusern ebenso wie das der Neuerrichtung von Fabrikfilialen und Einzelhandelsgeschäften. Den bestehenden Fachgeschäften gelang es so, einen Teil des Umsatzes der geschlossenen Schuhabteilungen in Warenhäusern oder der zunächst boykottierten Fabrikfilialgeschäfte zu übernehmen.2 Auch die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft trug zu einer vermehrten Inlandsnachfrage an Schuhen bei. In erster Linie stieg der »Ausrüstungsbedarf der Parteiorganisationen, des Arbeitsdienstes und der Wehrmacht.«3 Folgerichtig wurden in Deutschland ab 1933 wieder mehr Schu1 2 3
NS-Ktirier v. 7.5., 1.9., 16.12.1933, 17.1., 16.2., 24.4. und v. 28.6.1934. Vgl. Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 88. Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 8. Zum Versuch der Nationalsozialisten, Produktionsausweitungen der notleidenden Schuhindustrie infolge von Parteiaufträgen propagandistisch auszuschlachten vgl. Bericht aus Pirmasens, in: Deutschland-Berichte, 2. Jg (1935) Nr. 10 v. Okt., S. 1151.
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ΠΙ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
he für den deutschen Markt hergestellt. Betrug die Schuhproduktion 1932 noch 85% der des Jahres 1928, stieg sie 1933 auf 92% an und erreichte 1934 schon 104%.4 Die Zunahme hielt bis 1938 an. Mit Kriegsbeginn erfolgte ein massiver Einbruch in den Produktionszahlen, die lediglich in den Jahren 1941 bis 1943 eine leichte Steigerung erfuhren. Diagramm 5: Schuhproduktion in Deutschland von 1932-1944 in Mill. Paar5
Zu bedenken gilt jedoch, daß neben Lederschuhen mit zunehmender Dauer des Krieges auch Schuhe aus Ersatzstoffen angeboten wurden. Die Produktion von Holzschuhen, Stoffschuhen und anderen Schuhen aus Lederersatz stieg, nach einer Reduzierung im Jahr 1939 um etwa 18 Mill. Paar, ab 1940 steil an. 1943 wurden erstmals mehr Lederersatzschuhe hergestellt als Lederschuhe. Die steigende Schuhproduktion nach 1933 kam zunächst auch den zivilen Konsumenten zugute.6 Als sich ab 1936 jedoch der Ledermangel immer mehr zuspitzte, reduzierte sich das Angebot für den privaten Verbrauch wieder.7 Die Menschen klagten zunehmend über Schuhmangel und über die nachlassende Qualität der Schuhe infolge des vermehrten Ersatzstoffeinsatzes. 8 Kurz vor Be4
Vgl. Kallai, Wirtschaftliche Lage, S. 31. Zahlen aus StAL EL 540 Bü 3038, Statistik, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 19, NS-Kurier v. 23.7.1934, Aufzeichnungen, WABW Y 11 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 319. 6 Vgl. Statistik, BAP 31.07 Bü 35 und Schreiben des Reichswirtschaftsministers v. 3.7.1943, StAL EL 540 Bü 2665. 7 Vgl. Häfner, Die Lederindustrie, S. 32. 8 Vgl. Deutschland-Berichte 4. Jg (1937) Nr. 1 v. Jan., S. 69, Nr. 7 v. Juli, S. 985. Während des Krieges wurden qualitativ so schlechte Schuhe produziert, daß man emste Schäden fiir die »Volksgesundheit« befürchtete. (Vgl. Deutschland-Berichte 7. Jg. (1940) Nr. 1 v. Jan., S. 62, Meldungen aus dem Reich (Nr. 11) 3. November 1939, S. 420, (Nr. 159) 3. Februar 1941, S. 1967, (Nr. 173) 25. März 1941, S. 2148, (Nr. 185) 12. Mai 1941, S 2301, (Nr. 194) 16. Juni 1941, S. 2437, (Nr. 245) 11. Dezember 1941, S. 3087f„ (Nr. 259) 12. Februar 1942, S. 3309ff„ (Nr. 285) 18. Mai 1942, S.3750, (Nr. 318) 17. September 1942, S. 4217f. und Gemeinschaft Schuhe an den Beauftragten für den Vierjahresplan aus dem Jahr 1945, BÄK R 8 VI Bü 36.) 5
Aufschwung und Defizit
115
ginn des Krieges wurde gemäß der »Verordnung über die Wirtschaftsverwaltung«9 vom 27. August 1939 mittels eines ausgeklügelten Kartensystems die Kriegsrationierung für bestimmte Lebensmittel und Verbrauchsgüter eingeführt. Während bezugsscheinpflichtige Lebensmittel oder Brennstoffe jedem Bürger entsprechend der ihm zustehenden Ration zugeteilt wurden, mußten für Kleidung und Schuhe zunächst auf besondere Anträge Bedarfsprüfungen vorgenommen werden.10 Jeder Verbraucher erhielt dazu einen »äußerst knapp bemessenen«11 Normalbestand zugeteilt. Unterschritt der tatsächliche Schuhbestand den Normalbestand, so konnte ein Zivilist Schuhe beantragen. Dieses aufwendige Bezugskartensystem hatte ein kompliziertes Bewilligungsverfahren zur Folge, das häufig Ungerechtigkeiten provozierte. Kinderfüße wuchsen meist schneller als vom Normalbestand vorgesehen, so daß bei Kindern während der gesamten Kriegszeit starker Schuhmangel herrschte.12 Hausschuhe wurden in den Sommermonaten generell nur alten Menschen zugeteilt, Lederschuhe nur Männern, Jungen und im Freien Arbeitenden. SS- und SA-Männer wurden gegenüber der übrigen Bevölkerung durch vermehrte Schuhzuteilung bevorzugt.13 Ab April 1943 wurde dieses System in Anlehnung an das Lederscheck-Verfahren durch das Schuhscheck-Verfahren abgelöst.14 Dieses Verfahren sah die Zuteilung von Schuhschecks, ähnlich der Lebensmittel- oder Kleiderkarten, vor. Mit diesen Schecks konnten dann Schuhe gekauft werden. In der Realität diente dieses System jedoch nur der Verschleierung des Ledermangels, denn die Zivilbevölkerung erhielt solche Schecks kaum, was zur Folge hatte, daß die Bezieher der Schecks, wie Parteistellen, Schuhe erhielten, die übrige Bevölkerung aber nicht. Dies provozierte Streiks und Arbeitsniederlegungen wegen fehlender Arbeitsschuhe.15 Trotz der Produktionssteigerung bei diesen Schuhe in den folgenden Jahren, meldete die Gemeinschaft Schuhe Anfang 1945 den völligen Zusammenbruch der Versorgung der Bevölkerung.16 Da zugleich die Reparatur von Schuhen rationiert wurde, die Schuhmacher für diese Reparaturen zu wenig und unzureichendes Leder erhielten,17 und neue 'RGBl. I, S. 1495 und S. 1519. Ab dem 20. November 1939 erhielt jeder Bürger eine Reichskleiderkarte, der ein Punktesystem zugrunde lag. Der Bezug von Schuhen war für die Zivilbevölkerung weiterhin nur mit Bezugsscheinen möglich. 11 Deutschland-Berichte 7. Jg. (1940) Nr. 1 v. Jan., S. 57. 12 Vgl. Deutschland-Berichte 7. Jg. (1940) Nr. 1 v. Jan., S. 62, Meldungen aus dem Reich (Nr. 11)3. November 1939, S. 420, (Nr. 159) 3. Februar 1941, S. 1967, (Nr. 173) 25. März 1941, S. 2148, (Nr. 185) 12. Mai 1941, S 2301, (Nr. 194) 16. Juni 1941, S. 2437, (Nr. 245) 11. Dezember 1941, S. 3087f., (Nr. 259) 12. Februar 1942, S. 3309ff„ (Nr. 285) 18. Mai 1942, S.3750, (Nr. 318) 17. September 1942, S. 4217f. und Gemeinschaft Schuhe an den Beauftragten für den Vierjahresplan aus dem Jahr 1945, BÄK R 8 VI Bü 36. 13 Bestimmungen über die Erteilung von Schuhbezugsscheinen ab 1. April 1941, WABW Y 110 und Abriß über die Gesamtlage auf dem Gebiet der Schuhwirtschaft v. 22.5.1941, BÄK R 8 VI Bü 36. ,4 Anordnung Nr. 4 der Gemeinschaft Schuhe v. 31.3.1943, BAP 25.01 Bü 6621. " So im Kreis Ingolstadt. (Vgl. Bericht des Reichswirtschaftsministeriums an die Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 4.9.1940, BÄK R 8 VI Bü 36.) 16 Bericht an den Beauftragten für den Vierjahresplan v. Anfang 1945, BÄK R 8 VI Bü 36. 17 Die Reparaturwerkstätten erhielten je nach Beschäftigtenzahl eine Grundmenge an Leder 10
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ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
Schuhe immer mangelhafter wurden,18 war Schuhmangel bald eines der drükkendsten Versorgungsprobleme der deutschen Zivilbevölkerung während des Krieges.19 Diagramm 6: Schuhproduktion von 1938-1944 in 1000 Paar20
Auch die Versorgung der Wehrmacht mit Schuhen schien trotz Produktionssteigerungen ab 1942 nicht mehr ausreichend gesichert; es kam zu einer Unterversorgung der Soldaten mit Schuhwerk.21 Nach der Bildung der Produkbzw. Lederersatzstoff für einen bestimmten Zeitraum zugeteilt. War diese Grundmenge verbraucht, mußten die Verbraucher oft sechs bis acht Wochen auf die Reparatur ihrer Schuhe warten. (Vgl. Otto, Die Deutsche Lederwirtschaft im Kriege, S. 446.) Vgl. zur mangelhafter Versorgung der Reparaturbetriebe Deutschland-Berichte 7. Jg. (1940) Nr. 1 v. Jan., S. 62, Meldungen aus dem Reich (Nr. 6) 20. Oktober 1939, S. 378, (Nr. 14) 10. November 1939, S. 447f„ (Nr. 33) 27. Dezember 1939, S. 608, (Nr. 41) 17. Januar 1940, S. 660f., (Nr. 45) 26 Januar 1940, S. 694, (Nr. 91) 27. Mai 1940, S 1185f., (Nr. 127) 26. September 1940, S. 1618, (Nr. 206) 28. Juli 1941, S. 2591 und SD-Berichte zu Inlandsfragen v. 24. Januar 1944 (Weiße Serie); S. 628 Iff. 18 Vgl. Meldungen aus dem Reich (Nr. 253) 22. Januar 1942, S. 3217, " Vgl. Meldungen aus dem Reich (Nr. 12) 6. November 1939, S. 426, (Nr. 42) 19. Januar 1940, S. 676, (Nr. 69) 27. März 1940, S. 926, (Nr. 83) 29. April 1940, S, 1082, (Nr. 88) 16. Mai 1940, S. 1147, (Nr. 119) 29. August 1940, S. 1522f„ (Nr. 129) 3. Oktober 1940, S. 1642, (Nr. 173) 25. März 1941, S. 2147f., (Nr. 226) 6. Oktober 1941, S. 2845f„ (Nr. 245) 11. Dezember 1941, S. 3087f„ (Nr. 259) 12. Februar 1942, S. 3309ff., (Nr. 318) 17. September 1942, S. 4217ff„ SD-Berichte zu Inlandsfragen v. 24. Januar 1944 (Weiße Serie), S. 628Iff. und Bericht des Reichsverteidigungskommissars für den Wehrkreis ΙΠ (Berlin) an den Generalbevollmächtigten für die Wirtschaft v. 27.10.1939, in: Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, S. 1173-1177, S. 1174. Während des Krieges war der Schuhverbrauch pro Person auf etwa 0,8 Paar gesunken. Dagegen verfügten SAund SS-Männer allein über 2 Paar »Dienstschuhe«. (Vgl. Miscellaneos Report No. 2. An Investigation of the German Leather Industry. App. No. 46, S. 137, ALM und Bestimmungen über die Erteilung von Schuhbezugsscheinen ab 1.4.1941, WABW Y 110.) 20 Zahlen aus Statistik, BÄK R 10 VI Bü 53 und R 13 ΧΙΠ Bü 264. 21 Die Produktion von Wehrmachtsschuhen stieg von 1940 bis 1943 massiv, war dann jedoch wieder stark rückläufig. Wurden 1943 noch über 18 Mill. Paar Wehnnachtsstiefel hergestellt, so sank deren Zahl 1944 um über 5 Mill. Paar. (Vgl. Statistik, BÄK R 13 ΧΠΙ Bfl 264. Siehe auch Miscellaneos Report No. 2. An Investigation of the German Leather Industry. App. Ko. 47, S. 140, ALM.)
Aufschwung und Defizit
117
tionsausschüsse im Oktober 1943 wurde der Leiter des Produktionsausschusses Lederindustrie, Heinrich Krumm, vom Reichswirtschaftsministerium beauftragt, in Anbetracht des drückenden Leder- und Gerbstoffmangels weitere Möglichkeiten zur Einsparung dieser wertvollen Rohstoffe auszuloten.22 Krumms Vorschläge konnten jedoch infolge der immer ungeregelter werdenden Produktionsverhältnisse aufgrund fortschreitender Zerstörungen nicht mehr umgesetzt werden. Denn als gegen Ende des Krieges auch noch die Verwüstung von Produktionsstätten und der Infrastruktur hinzukam,23 verlief die Verteilung der Schuhe zunehmend chaotisch. So hatte der »Kreisbeauftragte für den totalen Kriegseinsatz« des Landkreises Bergheim, der Kreisleiter der NSDAP, im Oktober 1944 1000 Paar Wehrmachtsstiefel aus einer dortigen Schuhfirma entwendet. Er hatte sich mit einem »Zettel« gegenüber der Firmenleitung als autorisiert ausgewiesen, die Schuhe beschlagnahmt und sofort abtransportieren lassen. Die Stiefel, die in der Schuhfirma repariert worden waren, gehörten jedoch der Wehrmacht. Das Heeresbekleidungsamt Frankfurt hatte sogar das Reparaturmaterial selbst gestellt. Der Kreisleiter sollte zu diesem Zeitpunkt eine Anzahl HJ-Jungen zum »Westwalleinsatz« führen, diese - so begründete er sein Vorgehen - hätten jedoch keine brauchbaren Schuhe. Zwar verlangte das Reichswirtschaftsministerium, bei dem sich das Heeresbekleidungsamt ob dieses Husarenstücks beschwert hatte, von der Reichskanzlei ein »strenges Vorgehen« gegen den diebischen Kreisleiter, der weigerte sich jedoch strikt, die Stiefel wieder abzugeben - sie blieben an den Füßen der HJ.24 Ein entsprechender Vorfall hatte sich bereits im September 1944 im badischen Gengenbach abgespielt. Dort hatte ebenfalls ein nicht autorisierter Kreisleiter 1000 Paar Schuhe für die Wehrmacht in einer Schuhgroßhandlung requiriert. Er habe - so Gauleiter Wagner an das Wirtschaftsministerium - die Schuhe für den Volkssturm benötigt.25 Die anfängliche Produktionsausweitung in der Schuhindustrie führte 1933 zu zahlreichen Neueinstellungen. Die Anzahl der Beschäftigten stieg von 1932 bis 1933 um etwa 17.500 auf 94.000, davon fast 50% Frauen.26 Auch zahlreiche 22
Vgl. Krumm-Berichte, BÄK R 3 Bü 311. So meldet z.B. die Reichsstelle für Lederwirtschaft am 9.1.1945, daß in zahlreichen Finnen Lederkoffer lagerten, die wegen »Fliegerschäden« nicht abtransportiert werden könnten. (Reichsstelle für Lederwirtschaft an das Reichswirtschaftsministerium v. 9.1.1945, BAP 31.01 Bü 11804. Vgl. dazu Wochenberichte der Reichsstelle für Lederwirtschaft aus dem Jahr 1944, BÄK 8 VI Bü 1 und Rundschreiben Nr. 20 des Produktionsausschusses Lederaustauschstoffe in der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie v. 18.12.1944, BÄK 13 ΧΠΙ Bü 68.) 24 Vgl. Briefwechsel zwischen dem Reichswirtschaftsministerium und dem Leiter der Reichskanzlei v. Februar 1945, BAP 31.01 Bü 11804. 25 Vgl. Briefwechsel zwischen dem Reichswirtschaftsministerium und den badischen Gauleiter Wagner v. September 1944, BAP 31.01 Bü 11804. Für den Volkssturm waren keine besonderen Leder- und Austauschstoffkontingente vorgesehen. Womit Volkssturmmänner marschieren sollten, interessierte die Verantwortlichen offensichtlich wenig. (Vgl. Rundschreiben Nr. 21 des Produktionsausschusses Lederaustauschstoffe v. 17.1.1945, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 68.) 26 In den Lederfirmen betrug der Anteil von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten dagegen nur 15%. (Vgl. Aufzeichnungen, WABW Y 11.) 23
118
ΠΙ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
stilliegende Betriebe nahmen die Produktion wieder auf. Arbeiteten 1932 noch 966 Schuhfirmen, waren es ein Jahr später bereits 1237. Obwohl die Anzahl der Betriebe und der Beschäftigten in den folgenden Jahren nahezu konstant blieb, zwang der Ledermangel ab 1936 zahlreiche Betriebe zur Kurzarbeit.27 Tabelle 5: Zahl der Schuhfirmen und der dort Beschäftigten von 1933-194428
1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1943 1944
Betriebe 1237 1310 1317 1376 1357 1385 1041 1063 794 600 708
Beschäftigte 93 764 100 679 94 971 102 250 103 715 117 240 112 089 84 028 74 468 67 177 68 497
Nach Kriegsbeginn führte drastischer Ledermangel und Einberufungen von Schuhfacharbeitern zur Wehrmacht zu umfangreichen Betriebsschließungen. Ein Teil der Schließungen des Jahres 1943 mußte im Folgejahr wieder zurückgenommen werden, da es zu ernsthaften Versorgungsengpässen der Wehrmacht gekommen war. Der Anstieg der Beschäftigten im Jahr 1944 war ausschließlich auf den verstärkten Einsatz von Frauen und Zwangsarbeitern zurückzuführen.29 Der gleichzeitige Rückgang der Facharbeiterschaft verstärkte den schon vor dem Krieg und auch schon vor der nationalsozialistischen Herrschaft eingeleiteten Prozeß der Automatisierung und Rationalisierung in der Schuhindustrie bis hin zur Einführung des Fließbandsystems.30 Vor 1933 lag es jedoch im Ermessensspielraum des einzelnen Unternehmers, wie er mit der Einführung moderner, rationeller Arbeitsmethoden auf das Marktgeschehen reagierte. Die nationalsozialistischen Zwangsvorschriften, motiviert durch kriegsbedingten Rohstoff- und Arbeitskräftemangel, setzten hingegen die unternehmerische Entscheidungsfreiheit außer Kraft. Dennoch hatte die zunehmende Verwendung von Fließbändern, die laufend verbesserte Standardisierung und Typisicrung für die Schuhfirmen, einen Modernisierungsschub zur Folge. 27
DAF-Reichsbetriebsgemeinschaft Leder an die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie v. 20.10.1937, BAP 31.07 Bü 14. Vgl. auch Deutschland-Berichte 3. Jg. (1936) Nr. 3 v. März, S. 335ff„ Nr. 6 v. Juni, S. 704, Nr. 9 v. Sept., S. 1121, 4. Jg. (1937) Nr. 1 v. Jan., S. 68, 5. Jg. (1939) Nr. 1 v. Jan., S. 59. 28 Vgl. Statistik, BÄK R 8 VI Bü 71, R 10 VI Bü 53 und Bü 54, R 13 ΧΙΠ Bü 119, Bü 124 und Bü 264, BAP 31.02 Bü 5683, Aufzeichnungen, WABW Y 11, Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 26f. und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 319. 29 Vgl. dazu Statistik, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 119. 50 Vgl. dazu auch Die Lederindustrie auf neuen Wegen, in: DVW 1944 Nr. 2, S. 57.
Aufschwung und Defizit
119
Dies führte, nach anfänglichen Umsatzverlusten, während des Krieges zu Umsatzsteigerungen der Schuhfirmen. Jedoch bleibt festzuhalten, daß der Umsatz in keiner Phase des Krieges den Vorkriegsstand erreichen konnten. Der Anteil von Wehrmachtsschuhen stieg im Verlaufe des Krieges an, er überschritt jedoch nie mehr als 17% des Gesamtumsatzes. 31 Von der günstigen Entwicklung der Branche profitierten jedoch nur die Schuhfirmen, die sich auf die Herstellung schwerer Arbeitsschuhe und Stiefel spezialisiert hatten, denn die Produktion leichter Straßenschuhe ging nach 1933 zurück.32 Davon waren die süddeutschen Schuhfabriken weniger betroffen, denn sie hatten neben leichtem Schuhwerk auch Arbeitsschuhe und Stiefel im Produktionsprogramm. Die Pirmasenser und die sächsische Schuhindustrie dagegen war »auf dieses schwere Schuhwerk nicht eingestellt, es sind immer nur die leichten Straßenschuhe hergestellt worden.«33 Die Absatzsteigerungen bei Schuhen wurden zunächst in erster Linie im Inlandshandel erzielt, der Rückgang des Schuhexports setzte sich dagegen auch nach 1933 weiter fort. Von 1932 bis 1933 sank der Export von Lederschuhen um 24% von 5,5 Mill, auf 4,2 Mill. Paar. 1934 fiel er um weitere 45% auf 2,2 Mill. Paar.34 Da die Einfuhr von Schuhen demgegenüber zunächst etwa konstant blieb, sank die Außenhandelsbilanz bei den Schuhen ebenso wie bei den übrigen deutschen Waren. Obwohl Schachts »Neuer Plan« den Export forcierte, erfolgten im deutschen Schuhexport Einbrüche. Zwar stieg die Ausfuhr von Schuhen 1935 um etwa 500.000 Paar, in einigen traditionellen Abnehmerländern reduzierte sie sich jedoch, so in Frankreich vom 1. Quartal zum 2. Quartal 1935 um nahezu 80%. 35 Trotz des leichten Anstiegs der Exportzahlen in den Jahren 1935 und 1937 ist insgesamt festzuhalten, daß die Ausfuhrförderung des »Neuen Plans« in der Schuhindustrie nicht erfolgreich war. Dem starken Schuhmangel während des Krieges, hervorgerufen durch Ledermangel und Produktionsrückgang, versuchte das NS-Regime mit Schuhimporten entgegenzuwirken. Von 1939 bis 1940 stieg die Einfuhr von Schuhen um mehr als das Doppelte, von 1940 bis 1941 über 500%. 1942 wurden mehr als 15 Mill. Paar Schuhe nach Deutschland importiert, fast 40 mal soviel wie 1939 - der höchste Schuhimport in der bisherigen Geschichte der deutschen Schuhindustrie. Zugleich bemühten sich die nationalsozialistischen Machthaber, durch den Export hochwertiger Schuhe an Devisen zu gelangen. Nach 17% wurden 1943 erreicht. (Vgl. Statistik, BÄK R 8 VI Bü 68, Statistik, BÄK R 10 VI Bü 45 und Bü 46.) 32 Von 1933 bis 1935 von 66 auf 54 Mill. Paar. (Vgl. Statistik, BÄK R 10 VI Bü 53.) 33 Deutschland-Berichte Jg. 2 (1935) Nr. 12 v. Dez., S. 1416 und Jg. 3 (1936) Nr. 3 v. Märe, S. 335. Vgl. dagegen Bericht aus einer Hamburger Schuhfabrik, ebd. Jg. 2 (1935) Nr. 1 v. Jan., S. 64. 34 Vgl. Alex Haffner auf der Sitzung der Wirtschaftgruppe Lederindustrie am 2.4.1935, BAP 31.07 Bü 12, Aufzeichnungen, WABW Y 11, NS-Kurier v. 1.9., 24.10.1933, 26.6., 25.6.1934 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 319. 35 Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 56f. Zur Rolle der tschechischen Konkurrenz vgl. Fachgruppe Schuhindustrie an die Wirtschaftsgruppe Lederindustrie v. 7.11.1938, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 235. 31
120
ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
einer Stagnation bis etwa 1940 stieg der Schuhexport in den folgenden Jahren daher wieder an und erreichte 1942 den höchsten Wert seit 1934, lag damit aber immer noch um 1,4 Mill, unter der Anzahl der exportierten Schuhe des Jahres 1933. Ab 1943 wurde der Schuhexport jedoch wieder spürbar reduziert, die Zahl der exportierten Schuhe hatte sich 1944 gegenüber dem Vorjahr halbiert. Diagramm 7: Schuhimport und -export von 1933-1944 in 1000 Paar36
Die Herstellerseite, die Schuhfirmen, unterlag erst mit Beginn der Kriegswirtschaft einschneidenden Wandlungen.37 Um die gesteigerten Anforderungen der Wehrmacht zu befriedigen, wurde nach Kriegsbeginn zunächst alles verfügbare Leder beschlagnahmt, und jede Schuhfirma bekam, ähnlich wie bisher die Lederfirmen, eine bestimmte Produktionsaufgabe zugewiesen.38 Das zur Erfüllung der Produktionsanweisung notwendige Leder konnten die Schuhfirmen mit Hilfe von Lederschecks bei den Gerbereien kaufen.39 War die Belieferung der Schuhfabriken mit Leder bisher an keinerlei Vorschriften gebunden gewesen und in Anpassung an die verfügbare Ledermenge und die Marktbedingungen im freien Ermessen der beteiligten Firmen erfolgt, so beschnitten nun die Produktionsauflagen für die Schuhfirmen deren Entscheidungsspielräume.40 Von den Produktionssteigerungen der deutschen Schuhindustrie profitierten zunächst auch die Lederfirmen. Infolge des gesteigerten Schuh- und Lederbedarfs41 erhöhte sich die Lederproduktion von 1932 bis 1933 um 18% und hatte 36
Zahlen aus Aufzeichnungen, WABW Y 11, NS-Kurier v. 16.6., 1.9., 24.10.1933, 26.6., 25.6.1934 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 319. 1944 von Januar bis Juli. Vgl. Der Schuh im Kriege, in: DVW 1940, Nr. 8, S. 205. 38 Vgl. Anordnung Nr. 55 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 3.9.1939, DRA Nr. 204 v. 3.9.1939. 39 Lt. Anordnung Nr. 74 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 30.4.1940, DRA Nr. 103 v. 4.5.1940. Zum Lederscheckverfahren vgl. Das Lederscheckverfahren, in: DVW 1940 Nr. 15, S. 480f. Vgl. auch Schreiben der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 29.6.1940, WABW I I . 40 Vgl. Rieger-Gutachten (Kaess 1), Bestand Kaess. 41 Die Auswirkungen des gestiegenen Bedarfs von Leder für Parteiorganisationen oder Wehr37
Aufschwung und Defizit
121
damit fast den Stand von 1928 erreicht. 1933 wurden 126.363 t Leder im Wert von etwa 421 Mill. RM erzeugt, gegenüber 103.992 t im Wert von 368 Mill. RM im Jahr 1932. Diese Zunahme setzte sich 1934 weiter fort. Sie begünstigte jedoch in erster Linie die Unterlederindustrie und die Firmen, die auf schweres Oberleder spezialisiert waren. Ab 1935 machte sich eine Stagnation bemerkbar, die auf Eingriffe des Staates in die Lederwirtschaft zurückzuführen ist. Einer weiteren »Produktionssteigerung dürfte die im Jahre 1934 einsetzende Bewirtschaftung der in- und ausländischen Häute und Felle entgegengewirkt haben.«42 Diagramm 8: Lederproduktion in Deutschland von 1932-1944 in Tonnen43
Ab 1936 sank die Lederherstellung wieder. Zu diesem Zeitpunkt gingen die inländischen Schlachtungen zurück, wurden die Rohhautimporte eingeschränkt und mußten die Rohhäutelager in den Firmen abgebaut werden.44 Gleichzeitig benötigte jedoch die Schuhindustrie wegen der Zunahme des Heeresbedarfs eine größere Menge an Leder. Der Ledermangel spitzte sich drastisch zu.45 macht für die Lederindustrie läßt sich deutlich am geänderten Produktionsprogramm nach 1933 ablesen. Da für diese Organisationen in erster Linie vegetabilisch gegerbtes Leder verwendet wurde, paßten sich die Lederfirmen dieser Nachfrage an. Der Anteil an vegetabilisch gegerbten Oberleder stieg 1933 gegenüber 1931 um 30%, bis 1934 um weitere 25% und 1935 abermals um 10%. Dagegen sank der Anteil an chromgegerbten Oberleder um etwa 8%. Ahnliches ist beim Unterleder zu beobachten. (Vgl. Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, Tab. 4.) Von Bedeutung war für die gesteigerte Nachfrage im Bereich der Lederindustrie nicht nur der erhöhte Schuhbedarf der Bevölkerung, der militärischen und Parteiorganisationen, gerade diese Gruppen mußten auch mit anderen ledernen Ausstattungsgegenständen versorgt werden. So benötigten z.B. Wehrmacht, SS oder SA Patronentaschen, Tornister, Riemen, Geschirr u.v.a. aus Leder. (Vgl. Rundschreiben Nr. 22 der Fachgruppe ledererzeugende Industrie v. 23.5.1935, WABW Y 11.) 42 Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 8. 43 Vgl. Statistik, BÄK R 8 VI Bü 64, Aufzeichnungen, WABW Y 11, StAL EL 540 Bü 3032, Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 7, Häfner, Die Lederindustrie, S. 24 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 318f. 44 Sitzung des Gutachter-Ausschusses am 26.5.1936, S. 323. 45 Vgl. Aufzeichnungen aus dem Jahr 1937, BAP 31.07 Bü 15 und Deutschland-Berichte Jg. 3 (1936) Nr. 3 v. März, S. 338.
122
ΠΙ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
Den Richtlinien des »Neuen Plans« zur strikten Deviseneinsparung entsprechend konnte die Produktionssteigerung 1933 in erster Linie durch einheimische Häute gedeckt werden.46 So nahm die Verarbeitung von deutschen Rindshäuten in diesem Zeitraum um etwa 25.000 t zu, die von ausländischen um 6000 t. Bei den Kalbfellen betrug der Anstieg der einheimischen Häute 4.000 t, der der ausländischen 1.000 t. Ein ähnliches Bild bot die Situation bei den Gerbstoffen. Hier erhöhte sich der Verbrauch von heimischen Gerbrinden um etwa 15 Mill, kg, während der Einsatz von Quebrachoholz um 1,7 Mill, kg zurückging. Dagegen stieg der Verbrauch an chemischen Gerbstoffen um 1,3 Mill, kg, der von Chromgerbmitteln um 2 Mill, kg an.47 1934 wurde die Produktionssteigerung abermals vor allem durch die erhöhte Verarbeitung von Inlandshäuten erreicht. Ihr Anteil erhöhte sich um 12%, die Häuteimporte dagegen nur um 9%.48 Diese Tendenz setzte sich auch 1935 weiter fort.49 Die Importhäute stammten zum größten Teil aus Verrechnungsabkommen mit osteuropäischen Ländern oder - zu diesem Zeitpunkt noch - mit Argentinien.50 In den folgenden Jahren trat ein starker Rückgang des einheimischen Gefälles ein, was in Verbindung mit ebenfalls zurückgehenden Häuteimporten den Ledermangel verschärfte. Erst 1938 kam es durch den Ausbruch der Maul- und Klauenseuche wieder zu einem vermehrten Anfall von Binnenhäuten.51 Mit der Durchsetzung von Schachts »Neuem Plan« ging die Anzahl der Importhäute zwar zurück,52 dennoch war die Lederindustrie auch 1938 noch zu fast 50% importabhängig.53 Die Umstellung auf die Kriegsproduktion hatte für die Rohhäute und Gerbstoffversorgung der Lederindustrie gravierende Folgen. Einerseits benötigte der nationalsozialistische Staat das Leder für Schuhwerk und Ausrüstungsgegenstände der Wehrmacht, andererseits wurden bei der Verteilung der knappen Devisen Rüstungsprogramme, wie der Bau von Waffen und Verteidigungsanlagen, bevorzugt.54 Insgesamt ging die Gesamtversorgung mit Fellen und Häuten mit Kriegsbeginn stark zurück. War die Versorgung mit Rohhäuten bis 1938 46
Vgl. Häute- und Fellstatistik der Fachgruppe Lederindustrie im vierten Vierteljahr 1933 und im Jahre 1934, WABW Y 11 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 317. 47 Vgl. Aufzeichnungen, WABW Y 11 und Statistik, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 120. 48 Häute- und Fellstatistik der Fachgruppe Lederindustrie im vierten Vierteljahr 1933 und im Jahre 1934, WABW Y 11 und Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 48. Vgl. auch Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 257ff. 49 Vgl. Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 317 und Häute- und Fellstatistik der Fachgruppe Lederindustrie im zweiten Vierteljahr 1935, WABW Y 11. 50 Die Handelsbilanz zwischen Argentinien und Deutschland war jedoch passiv, daher wurden die Lederimporte aus diesem Land in den folgenden Jahren gekürzt. (Vgl. Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 72f.) 51 Meldungen aus dem Reich, Jahreslagebericht 1938 Bd. 3, S. 166 und BÄK R 8 VI Bü 50. 52 Vgl. Aufzeichnungen, WABW Y 11, StAL EL 540 Bü 3032 und Statistik, BÄK R 8 VI Bü 57. 53 Der Abhängigkeitsgrad war bei den verschiedenen Häute- und Gerbstoffgattungen jedoch verschieden. (Vgl. Otto, Erfolgreiche Bekämpfung der Rohstofflücke, in: DVW 1943 Nr. 32, S. 996.) 54 Vgl. Rieger-Gutachten (Schweizer), StAL EL 902/3 Bü 5607.
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- mit Ausnahme der Jahre 1935 und 1936 - entsprechend dem gestiegenen Bedarf kontinuierlich angestiegen, so erlebte sie nach Kriegsbeginn, als die deutsche Lederindustrie von ihren bisherigen Hauptlieferländern für Rohstoffe, Südamerika, Indien und Afrika, abgeschnitten war, einen starken Einbruch. 1938 wurden von deutschen Lederfirmen noch 3,3 Mill, t Sg Häute verarbeitet, im Folgejahr hatte sich diese Menge auf 2,5 Mill, t Sg reduziert und 1940 auf 2 Mill, t Sg. Die kurzfristige Verbesserung der Häuteversorgung 1941 war in erster Linie auf die zusätzliche Lieferung sogenannter »Beutehäute«55, also Rohhäute, die aus den besetzten Gebieten nach Deutschland abtransportiert wurden, zurückzuführen. Nach der relativen Stabilisierung der Rohhäuteversorgung in den ersten drei Kriegsjahren sank die Rohhäutemenge ab 1943 abermals stark. In diesem Jahr standen der deutschen Lederindustrie nur 1,3 Mill, t Sg, also 2 Mill, t weniger als 1938, zur Verfügung. Dieser Rückgang setzte sich in den beiden folgenden Jahren weiter fort.56 Diagramm 9: Versorgung der deutschen Lederindustrie mit Rohhäuten ab 1933 in Mill, t Sg57
Die reduzierte Lederproduktion wirkte sich in Form von Ledermangel unmittelbar auf die Schuhindustrie aus, die ihrerseits eine nicht ausreichende Menge an Schuhen herstellen konnte. Gegen Ende des Krieges war Ledermangel ein so großes Problem auch für die Wehrmacht geworden, daß 1944 eine »Heeressammeistelle« errichtet wurde, die Rohhäute von Kaninchen oder Katzen von der Zivilbevölkerung erfaßte und aus den frontnahen Gebieten abtransportierte.58
55
Vgl. Jahresbericht der Firma Louis Schweizer über das Jahr 1940, WABW Y 120. Die Finnen äußerten dezidiert ihre Hoffnung auf eine gesteigerte Rohhäuteversorgung durch die Zuteilung dieser »Beutehäute«. (Vgl. Protokoll über die Vertrauensratssitzung am 30.10.1940, StAL EL 50/49/5650.) 56 Vgl. Jahresbericht der Firma Louis Schweizer über das Jahr 1943, WABW Y 120. 57 Zahlen aus Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 317. 58 Vgl. BAP 31.01 Bü 11821.
124
ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
Von Bedeutung ist bei der Versorgung mit Häuten auch deren Zusammensetzung. Stammten 1934 nur 45% aller verarbeiteten Häuten aus dem Inland, waren es 1938 bereits 54%. Zudem bewirkten die Vorgaben des »Neuen Plans« eine Umlenkung des Häuteimports. Bevorzugt wurden Länder mit einer aktiven Handelsbilanz. Dies waren in erster Linie südosteuropäische und baltische59 Länder, während westeuropäische und außereuropäische als Importeure in den Hintergrund traten. Damit änderte sich die Art der Häute, die zur Verfügung standen. Während zunehmend mehr Zahmhäute angeboten wurden, reduzierte sich die Einfuhr der für die Unterlederproduktion notwendigen Wildhäute aus Argentinien, Uruguay oder Indien ab 1935 deutlich.60 Mit Kriegsbeginn wurde der Überseehandel massiv gestört, so daß der Anteil des Inlandsgefälles bis 1941 auf fast 80% stieg. Nach einer leichten Steigerung der Importe auf fast 34% bewirkte der »totale Kriegseinsatz«, daß die ab 1943 ohnehin stark verminderte Rohhäuteversorgung nun fast ausschließlich aus dem Inland gedeckt wurde. Diagramm 10: Versorgung der deutschen Lederindustrie mit Rohhäuten aus dem In- undAusland ab 1933 in 1000 t Sg61
Der Import von Rindshäuten, die für die Unterlederproduktion benötigt wurden, sank noch deutlicher als der Import der Häute insgesamt. Stammten 1934 noch 60% aller Rindshäute aus dem Ausland - sie stellten 87% des gesamten Häuteimports - , war ihr Importanteil 1938 auf 70% und an der gesamten 59
Für Kalbfelle waren nach Inkrafttreten des »Neuen Plans« als Importeur besonders Estland und Lettland von Bedeutung, (Vgl. Volkmann, NS-Wirtschaft, in: Ursachen und Voraussetzungen, S. 260.) 60 Vgl. Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 100 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 214ff. 61 Zahlen aus Statistik, BÄK 8 VI Bü 32 und Bü 57 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 317.
Aufschwung und Defizit
125
Rindshäuteversorgung auf 45% zurückgegangen. 1940 betrug der Anteil der Importhäute an allen verarbeiteten Rindshäuten nur mehr 22%, 1943 lediglich 15%.62 Die Verlagerung auf inländische Häute wirkte sich negativ auf die Lederqualität aus. Unterleder für Schuhsohlen war der Stabilität der Wildhäute wegen immer aus ausländischen Rindshäuten hergestellt worden. Die Reduzierung dieser Häute bewirkte einen drastischen Mangel an Bodenleder.63 Denn »ganz Europa [vermag] keinen Ersatz für die Übersee-Häute zu bieten [...], sämtliche europäische Länder [sind] für kräftigen Vaches-Unterlederhäute selbst einfuhrabhängig [...] und ihre leichten Häute [stellen] keinen Ersatz für fehlende Überseehäute dar.«64 Da deshalb bei der Herstellung des Sohlenleders auf Zahmhäute ausgewichen wurde, sank die Qualität dieser Sohlen merklich. Der Lederexport, ein wichtiges Standbein der Oberlederindustrie, reduzierte sich nach 1933 alarmierend. Während 1932 noch 27% der deutschen Oberlederund 48% der Lacklederproduktion ausgeführt wurden, sank der Exportanteil ein Jahr später auf 21% bzw. 37%.65 Auch im folgenden Jahr setzten sich die Einbrüche auf dem ausländischen Markt fort. Umfaßte der Export 1933 noch 9,8 Mill, kg Leder im Wert von 87 Mill. RM, hatte er sich 1934 auf 6,4 Mill, kg im Wert von 57 Mill. RM verringert.66 1935 zeigte die Exportquote bei Leder zwar wieder nach oben,67 die Entlastung der Devisenbilanz war jedoch nur vorübergehend, denn in den folgenden Jahren fiel die Lederausfuhr weiter. Zugleich stiegen, den Vorgaben des »Neuen Plans« zum Trotz, die Importe von Leder ab 1935 zunächst wieder an. Nur weil relativ billiges Leder eingeführt wurde, während die deutschen Lederfirmen hochwertiges und teures Leder exportierten, blieb die Devisenbilanz beim Leder im Wert positiv, obwohl sie mengenmäßig seit 1937 negativ war.68 Die verstärkte Aufrüstungspolitik hatte auf den Lederaußenhandel unmittelbare negative Auswirkungen. Konnte Schachts »Neuer Plan« die Außenhandelsbilanz nur 1935 unwesentlich verbessern, bewirkte Görings »Vierjahresplan« mit sinkenden Lederexporten bei gleichzeitigen steigenden -importen eine Negativbilanz ab 1937.69 Die vermehrt 62
Vgl. Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 317. Vgl. Aufzeichnungen aus dem Jahr 1937, BAP 31.07 Bü 15, Deutschland-Berichte 3. Jg. (1936) Nr. 11 v. Nov., S. 1427, 4. Jg. (1937) Nr. 1 v. Jan., S. 68 und Bericht des Vorstands v. 5.4.1937, WABW Y 110. " F i r m a Schweizer an das Finanzamt für Körperschaften, Stuttgart, v. 26.8.1940, WABW Y 120. 65 Zahlen aus Statistik, BÄK R 13 ΧΠΙ Bü 120, Aufzeichnungen, WABW Y 120 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 202f. und 318. 66 Richard Freudenberg in der Sitzung der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie am 2.3.1935, BAP 31.07 Bü 12 und Aktennotiz über die Besprechung im Reichswirtschaftsministerium am 3.4.1935, BAP 31.01 Bü 15. Vgl. dazu auch Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 80f. 67 Der Lederexport stieg bis 1935 mengenmäßig um 27% und wertmäßig um 12%. (Vgl. Häuteund Fellstatistik der Fachgruppe Lederindustrie im 4. Vierteljahr 1933, im Jahre 1934 und 1935, WABW Y 11, Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 53 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 318.) 68 Vgl. Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 318, Häfner, Die Lederindustrie, S. 28 und Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 180. 69 Vgl. Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 317 und NS-Kurier v. 17./18.7.1937. 63
126
ΠΙ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
für die Wehrmacht hergestellten Leder wurden nicht ins Ausland verkauft, so daß der Lederexport ab 1938 stark zurückging. Der sinkende Import ab 1939 hatte direkte Auswirkungen auf den herrschenden Schuhmangel. Diagramm 11: Lederimporte und -exporte von 1933-1939 in Mill, kg70
Die Maßnahmen des »Neuen Plans« hatten auch auf die Gerbstoffversorgung der Lederindustrie weitreichende Auswirkungen. Seit 1933 war der Import von pflanzlichen Gerbstoffen leicht angestiegen,71 so daß er 1934 nahezu 90% der Gesamtversorgung ausmachte.72 Nach der Einführung des »Neuen Plans« reduzierte sich die ausländische Gerbstoffversorgung um etwa 37% zugunsten der einheimischen und synthetischen Gerbmittel. Deren Verwendung stieg von 1933 bis 1939 um fast das Dreifache von etwa 7000 t auf über 19.000 t.73 Der erhöhte Bedarf an Wehrmachtsleder führte zusätzlich zu einer Erhöhung der einheimischen pflanzlichen Gerbstoffe. Denn dieses Leder mußte nach den Vorschriften der Heeresverwaltung ausschließlich mit pflanzlichen Gerbstoffen gegerbt werden.74 Außerdem veränderten die Vorgaben des »Neuen Plans« die Rangfolge der Importländer für Gerbstoffe. Sie wurden ab 1935 verstärkt aus europäischen Ländern, aus Italien, Österreich oder der Türkei, importiert, während außereuropäische Importe aus Paraguay reduziert wurden, andere, aus Indien, sogar völlig ausfielen.75 Nur Argentinien und Südafrika konnten als 70
Zahlen aus Statistik, BÄK R 8 VI Bü 65 und R 13 Xffl Bü 120, BAP 31.01 Bü 11822, Häute und Fellstatistik der Fachgruppe Lederindustrie im vierten Vierteljahr 1933 und im Jahre 1934, Häute und Fellstatistik im zweiten Vierteljahr 1934 und im Jahre 1935, Aufzeichnungen, WABW Y 11, Fachgruppe ledererzeugende Industrie an die Wirtschaftgruppe Lederindustrie v. 12.5.1938 , BAP 31.07 Bü 15, Leisner, Deutschlands Lederproduktion, S. 53 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 318. 71 Vgl. Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederindustrie, S. 108 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 398ff. 72 Vgl. NS-Kurier v. 7.5. und 31.8.1934. 73 Vgl. Zahlen aus StAL EL 540 Bü 3032. 74 Vgl. Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 13. 75 Vgl. ebd., S. 11 Of. und Statistischen Handbuch von Deutschland, S. 214ff.
Aufschwung und Defizit
127
einzige außereuropäische Gerbstoffimporteure ihre Bedeutung leicht ausbauen. Die ab 1936 zurückgehende Lederproduktion schlug sich jedoch auch im verminderten Gerbstoffbedarf nieder. Da die Importabhängigkeit bei Gerbstoffen noch größer war als bei Leder, stellte sich die Situation nach 1939 recht betrüblich dar. Waren 1939 noch 150.000 t Gerbstoffe importiert worden, sank diese Menge 1941 auf 42.400 t und bis 1943 sogar auf 31.0001. Noch schlimmer war die Lage bei der Einfuhr der sogenannten »Edelgerbstoffe« Mimosa und Quebracho, denn gerade von den überseeischen Ländern wurde der Gerbstoffexport nahezu völlig eingestellt.76 So sank die Einfuhr dieser Gerbstoffe mit Kriegsbeginn um 98,8% bei Mimosa und 99,6% bei Quebracho. 1941 setzte sich dieser dramatische Rückgang weiter fort, so daß in diesem Jahr lediglich 44 t Quebracho importiert wurden, statt 50.000 t im Jahr 1938. Der Import von Mimosa sank im selben Zeitraum von 83.000 t auf 590 t.77 Daher standen den Lederfirmen zu wenig Gerbstoffe zur Verfügung, um die vorhandenen Häute in gewohnter Weise gerben zu können. Dieser bedrohliche Mangel machte eine stärkere Verwendung der synthetischen Produkte notwendig. Während die Verwendung von »Edelgerbstoffen« nach Kriegsbeginn stark zurückging, verdreifachte sich der Einsatz von synthetischen Gerbstoffen im Zeitraum von 1939 bis 1943 nahezu. Diagramm 12: Verwendung von vegetabilischen und synthetischen Gerbstoffen ab 1939 in Tonnen78
Die steigende Lederproduktion nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« bewirkte in der Lederindustrie zunächst einen Anstieg der Betriebe und der dort Beschäftigten.79 76
77 78
79
Vgl. Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 398ff. Vgl. auch Jahresbericht der Firma Schweizer für das Jahr 1941, WABW Y 120. Vgl. Statistik, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 119. Statistik, BÄK R 10 VI Bü 42 und Otto, Erfolgreiche Bekämpfung der Rohstofflücke, S. 997. Vgl. dazu zahlreiche Beispiele in: Deutschland-Berichte 1. Jg. (1934) Nr. 1 v. Apr./Mai, S. 62 und Nr. 4 v. Juli/Aug., S. 335.
128
ΠΙ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
Tabelle 6: Zahl der Lederbetriebe und der dort Beschäftigten von 1933-194480
1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944
Betriebe 950 1004 1093 1096 1102 1226 1200
727 557
Beschäftigte 35 000 38 410 42 715 42 634 45 063 44930 47 635 36 296 30 723 28 669 27 586 34 276 29 015
Dabei wurden in erster Linie kleine Lederbetriebe neu- oder wieder gegründet. Denn die Anzahl der Beschäftigten pro Betrieb ging von 1933 bis 1937 von 38 auf 36 zurück und bis 1938 sogar auf 32. Dadurch sank die Produktivität der Lederbetriebe insgesamt. Verarbeitete 1933 ein Lederarbeiter im Durchschnitt 6,2 t Häute, waren es 1937 nur noch 5,1 t. Entsprechend sank der Wert der verarbeiteten Häute pro Mitarbeiter zwischen 1933 und 1937 von 91,2 Mill. RM auf 73,4 Mill. RM.81 Nach Kriegsbeginn machten sich die steigenden Einberufungen von Lederarbeitern an die Front insofern bemerkbar, als die Zahl der in der Lederindustrie Beschäftigten von 1938 bis 1942 um über 40% zurückging. Ebenso halbierte sich die Anzahl der ledererzeugenden Betriebe in Deutschland. Die Facharbeiter konnten jedoch, anders als in der Schuhindustrie, nicht ohne weiteres durch ungelernte Arbeitskräfte ersetzt werden. In der Lederindustrie hatte sich die in vielen anderen Industrien bereits erfolgte Technisierung und Automatisierung der Arbeitsabläufe noch nicht durchgesetzt. Das aus dem Naturprodukt Haut hergestellte Leder benötigte bei vielen Fertigungsschritten das geschulte Auge und die Entscheidung eines gelernten Gerbers. Obwohl sich seit Beginn dieses Jahrhunderts die Gerbereien zu Fabrikbetrieben entwickelt hatten, waren die Arbeitsgänge oft noch handwerklich geprägt. Auch die Me80
Zahlen aus StAL EL 540 Bü 3032, BAP 31.02 Bü 5683, BÄK R 3 Bü 303 H. 2, R 8 VI Bü 67, Bü 68 und Bü 71, R 10 VI Bü 42, R. 13 ΧΙΠ Bü 119, Bü 124, Bü 226 und Bü 320, NS-Kurier v. 18.1.1934, diverse Aufzeichnungen, WABW Y 11, Hoffmann, Das Rohstoffproblem der deutschen Lederwirtschaft, S. 6, Häfner, Lederindustrie, S. 25 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 318. Die Jahre 1938 und 1939 mit Österreich. Im Altreich bestanden 1938 ca. 1400 Gerbereien mit 43.200 Beschäftigten. (Vgl. Die Lederindustrie auf neuen Wegen, in: DVW Nr. 13 (1944), S. 56-57, S. 57.) " Vgl. StAL EL 540 Bü 3032, Statistik, BÄK R 8 VI Bü 65 und Statistisches Handbuch von Deutschland, S. 318f.
Aufschwung und Defizit
129
chanisierung hatte noch nicht alle Bereiche der Häuteverarbeitung erfaßt. Das Gerberhandwerk war zudem eine körperlich sehr schwere Tätigkeit. Daher arbeiteten in Gerbereien, anders als in der Schuhproduktion, auch während des Krieges wenige Frauen und Zwangsarbeiter.82 Dennoch konnten die Umsätze in der Lederindustrie auch während des Krieges relativ stabil gehalten werden. Zwar erreichte der Wert der Umsätze während des gesamten Krieges nie mehr den Stand des Jahres 1938, er sank jedoch auch nicht wesentlich unter den der Jahre 1935 bis 1937.83 Diagramm 13: Umsätze in der Lederindustrie ab 1938 in Mill. RM84
Dabei wurden die höchsten Umsatzsteigerungen auf dem Gebiet des Wehrmachtsleders erreicht. Dessen Umsatzanteil stieg von 1941 bis 1943 von 47% auf fast 57%, während der Umsatz bei Leder für den Zivilbedarf von 47% um 10% sank.85 Der NS-Staat versuchte, trotz der verminderten Produktion von Leder, dieses für sein Aufrüstungsprogramm zu sichern,86 was - wie oben dargestellt - zur Folge hatte, daß die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Lederwaren völlig unzureichend war. Die Wehrmachtsstellen erhielten gegenüber allen anderen Käufern ein Vorkaufsrecht. Im Zuge der »Verordnung über den Warenverkehr« vom 18. August 193987 mußten zahlreiche Lederarten den Gerbervereinigungen für Heeres- und Marinebedarf,88 die die Ausstattung der Wehrmacht mit Le82
Vgl. Statistik, BÄK R 10 VI Bü 42 und R 3 Bü 303 H.2. In diesen Jahren betrugen die Gesamtumsätze in der Lederindustrie zwischen 395 Mill, und 565 Mill. RM. (Vgl. Statistik, BÄK R 13 ΧΙΠ Bü 120.) 84 Zahlen aus Statistik, BÄK R 8 VI Bü 68 und R 13 XIII Bü 120. 85 Vgl. Statistik, BÄK R 8 VI Bü 68. 86 Sitzung des Gutacher-Ausschusses am 26.5.1936, S. 323. 87 RGBl. I, S. 1430. 88 Insgesamt existierten im Großdeutschen Reich vier Gerbervereinigungen für Heeres- und 83
130
ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
derwaren und Schuhen organisierten, angeboten werden. 89 Dazu wurden den Finnen für die Wehrmacht geeignete Häute direkt zugewiesen. 9 0 Etwa 45% allen in Deutschland produzierten Leders, und hier vor allem schweres Leder, wurde von der Wehrmacht beansprucht. 91 In weiteren Anordnungen wurden die Liefervorschriften an die Wehrmacht noch ausgeweitet, so daß bis Kriegsende alles vegetabilisch gegerbte Unterleder, alle schweren Oberleder und zahlreiche leichteren Unterleder an die Gerbervereinigungen abgeliefert werden mußten. 92 Diagramm
14: Fertigung von Faserleder 1 9 3 6 - 1 9 4 4 in t 93
und
Gummisohlenmaterial
von
D i e Lederfaserindustrie nahm i m Rahmen der Förderung von Ersatzstoffen durch die nationalsozialistischen Machthaber eine besondere Rolle ein. Obwohl Faserleder i m Gegensatz zu Leder zu über 80% i m zivilen Bereich eingesetzt wurde, 94 erfuhr dieser Produktionszweig den für die weitere Geschichte der Marinebedarf, nämlich in Berlin, Hannover, Würzburg und Linz. (Vgl. Rundschreiben B/133/40 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 31.10.1940, BAP 25.01 Bü 6621.) 89 Dies war pflanzlich gegerbtes Boden- und Brandsohlenleder, Unterleder ab 4 mm Stärke, Fahlleder, Kalbs- und Rindoberleder ab einer Stärke von 1,3 bzw. 1,5 mm. Das Angebot an die Gerbervereinigungen hatte »für die in der Zeit vom 1. bis 15. jeden Monats erzeugten Leder bis zum 15. des Monats, für die in der Zeit vom 16. bis 30. oder 31. jeden Monats erzeugten Leder bis zum 30. oder 31. des Monats zu erfolgen. Macht die Gerbervereinigung von dem in der ersten Monatshälfte erfolgten Angebot bis zum Monatsschluß keinen oder nur teilweisen Gebrauch, so können die Ledermengen [...] ohne besondere schriftliche Freigabe der Reichsstelle für Lederwirtschaft verkauft werden.« Entsprechendes galt für die Angebote der zweiten Monatshälfte. (Ebd., Rundschreiben B/84/40 und B/133/40 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 28.6. und 31.10.1940, ebd.) 90 Vgl. BAP 31.01 Bü 11822. 51 Miscellaneos Report No. 2. An Investigation of the German Leather Industry. App. No. 46, S. 137f„ ALM. 92 Vgl. div. Schreiben und Anordnungen der Reichsstelle für Lederwirtschaft aus den Jahren 1940-1944, WABW Y 11. 93 Zahlen aus Hauptstatistik der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 1.11.1944 (Hauptstatistik Tab. 5-7), BÄK R 8 VI Bü 86. Vgl. dazu Statistik, BÄK R 8 VI Bü 32. 94 1941 wurde 95% allen Faserleders für die zivile Produktion eingesetzt, 1942 waren es 87,7%
131
A u f s c h w u n g und D e f i z i t
Kunststoffindustrie bedeutsamen Modernisierungsschub während des Nationalsozialismus. Der starke Ledermangel und die Entscheidung, Leder nur für kriegswichtige Zwecke einzusetzen,95 machten zur Versorgung der Zivilbevölkerung eine massive Produktionssteigerung von Lederersatzstoffen notwendig. So verdoppelte sich die Herstellung von Gummisohlen im Rahmen des Vierjahresplans von 1936 bis Kriegsbeginn von 61 auf 121. Die Wachstumsrate von Faserleder betrug in diesem Zeitraum sogar 800%. Dieser Anstieg setzte sich nach Kriegsbeginn fort. Bis 1944 stieg die Produktion von Faserleder abermals um 150%, die von Gummisohlen um fast 300%. Infolge dieser starken Förderung der Ersatzstoffproduktion gelang den Firmen dieser Branche im Gegensatz zu den traditionellen Lederfirmen ein Ausbau ihrer Produktion selbst im Krieg. So nahm die Zahl der lederfaserstofferzeugenden Betriebe ebenso zu96 wie die Zahl der hier Beschäftigten. Tabelle 7: Beschäftigtenzahl in der Lederfaserindustrie ab 194097
Beschäftigte
1940 1007
1941 1312
1942 1527
1943 1820
1944 1846
Während alle Bereiche in der Wirtschaftsgruppe Lederindustrie während des Krieges immer wieder von Stillegungsaktionen und Umsetzungen der Mitarbeiter bedroht waren, galt dies nicht für die Lederfaserindustrie. Als wegen der verstärkten Einziehungen zur Wehrmacht ab 1940 nicht mehr genügend einheimische Arbeitskräfte zur Verfügung standen, erhielten die Ersatzstoffproduzenten in großer Zahl ausländische Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter zugewiesen. Hier waren prozentual deutlich mehr ausländische Arbeitskräfte als in der traditionellen Lederindustrie beschäftigt. So arbeiteten in der Lederfaserindustrie 1943 fast 20% zivile Ausländerinnen und Ausländer, in der ledererzeugenden Industrie lag dieser Anteil nur bei etwa 15%, in der gesamten Wirtschaftsgruppe Lederindustrie bei 16%.98 Daher verzeichnete die Lederfaserindustrie nach Kriegsbeginn auch erhöhte Umsätze. Von 1941 bis 1942 stiegen sie um 11,3% und im folgenden Jahr um weitere 10,8%." Zwar verbuchte auch die Lederindustrie Umsatzsteigerungen, doch die Zunahme war im Bereich Lederfasererzeugung bedeutend höher. So betrugen die Umsätze in der Lederfaserindustrie 1941 5,2% der Umsätze der Lederindustrie, ein Jahr später war das Verhältnis auf 5,8% gestiegen.
95 96 97
98 99
und 1943 80,8%. Im Vergleich dazu die Ledererzeugung: Leder wurde 1939 zu fast 7 0 % für zivile Z w e c k e produziert, 1941 zu 47,3%, 1942 zu 4 0 % und 1943 nur noch zu 37%. (Vgl. Statistik, B Ä K R V I B ü 6 7 und B ü 68 und R 13 ΧΙΠ B ü 2 6 6 . ) Vgl. Aktenvermerk der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 2 1 . 1 . 1 9 4 4 , B Ä K R 8 V I B ü 38. Statistik, B Ä K R 13 ΧΙΠ B ü 266. Zahlen aus Statistik, B Ä K R 8 V I B ü 71, R 10 V I B ü 4 2 und R 13 ΧΠΙ B ü 119, B ü 1 2 4 und Bü 266. Vgl. Statistik, B Ä K R 10 V I B ü 4 2 . Statistik, ebd. und R 13 Χ Π Ι B ü 2 6 6 .
132
ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
Am 15. Februar 1945 wurde die Erzeugung von Leder für die Wehrmacht, die Erzeugung von Treibriemen, die Lederfaserproduktion und das »SchuhNotprogramm« durch eine Verfügung Speers in die »Notprogrammliste« aufgenommen.100 Die Betriebe, die dem Notprogramm zugeordnet waren, wie das Simmerwerk der Firma Carl Freudenberg in Weinheim oder die Reutlinger Treibriemenfirma Paul Bantlin,101 wurden bevorzugt mit Rohstoffen beliefert. Die dramatische Rohstoffknappheit, Arbeitskräftemangel, Transportprobleme und zunehmendes Chaos am Ende des Krieges waren dafür verantwortlich, daß die Produktion in allen Bereichen der Schuh- und Lederwirtschaft dennoch deutlich zurückging.
l00
Vgl. Produktionsbeauftragte für Lederwirtschaft an Richard Freudenberg ν 15.2.1945, BÄK R 3 Bü 321. 101 Vgl. Aktenvermerk des Produktionsausschusses Lederwirtschaft v. 20.2.1945, BÄK R 3 Bü 303 H. 2.
Schuh- und Lederfirmen im »Organisationsdschungel« der NS-Planungsbehörden
133
2. Schuh- und Lederfirmen im »Organisationsdschungel«102 der NS-Planungsbehörden Die Ausweitung der Wirtschaftsbürokratie seit 1934 und daraus folgende Planungsfehler bereiteten den Betrieben große Schwierigkeiten. Diese wurden noch verstärkt, weil das wirtschaftspolitische Engagement des maßgeblichen Wirtschaftslenkers und »starken Mannes« in der Wirtschaft, Göring, sich häufig auf die Bildung neuer Gremien beschränkte.103 Es gab weder vor dem Krieg noch in den ersten Kriegsjahren eine zentrale Planungs- und Koordinierungsinstanz. So konnten sich zum Beispiel der Preiskommissar und Stellen des OKW im Jahr 1940 nicht darüber einigen, welche Preise für Fahl- und Bodenleder zu zahlen seien. Der Jahresbericht der Firma Schweizer hält fest, daß trotz umfangreicher Verhandlungen »keine Einigung erzielt [werden konnte]. Es wurden vielmehr durch den Preiskommissar und durch das OKW zwei voneinander unabhängige Preisprüfungen vorgenommen.«104 Unter den Koordinierungsproblemen zwischen der Reichsstelle für Lederwirtschaft und der Devisenstelle hatten die Firmen zu leiden. So war der Schorndorfer Firma Breuninger »seitens der Überwachungsstelle ein größeres Reptilienkontingent«105 eingeräumt worden, sie konnte aber »bis dato deshalb nicht einkaufen, weil zu derartigen Einkaufsgenehmigungen gleichzeitig auch eine entsprechende Zuteilung von Devisen notwendig ist.« Dasselbe Problem beschrieb die Lederfabrik Gebr. Bader aus Göppingen. »Wir erhalten zwar unser Kontingent wie andere Lederfirmen halbjährlich zugeteilt. Da jedoch der überwiegende Teil von Roßhäuten im Ausland gekauft werden muß, so sind wir hier auf Devisen-Genehmigungen für die verschiedenen Länder angewiesen, die uns nur von Monat zu Monat in einer im voraus gar nie übersehbaren Höhe zugeteilt werden. [...] Es hängt nun ganz von der Devisenzuteilung ab, ob und wo wir einkaufen können, so daß dadurch eine klare und übersichtliche Disposition geradezu unmöglich ist. Wir können immer erst gegen Ende einer Kontingents-Periode einigermaßen übersehen, wie wir mit unseren Einkäufen daran sind.«106 Die Firma Louis Schweizer geriet in einen »Organisationsdschungel« anderer Art. Der Backnanger Firma waren im Sommer 1938 sechs Arbeitskräfte durch das Arbeitsamt zu Befestigungsbauten an den Westwall entzogen worden. Darüber beklagte sich Schweizer, eine Lieferfirma des Beschaffungsamtes für Heer und Marine, über die Gerbervereinigung für Heeres- und Marinebedarf, Würzburg, beim Beschaffungsamt in Berlin. Schweizer wurde »von dort [...] mitgeteilt, daß zwischen dem Beschaffungsamt bzw. dem Oberkommando der l02
Blaich, Wirtschaft und Rüstung, S. 34. Herbst, Der Totale Krieg, S. 115. '"Jahresbericht der Firma Schweizer im Jahr 1940, WABW Y 120. 105 Devisenberater Wilhelm Kehring an das Reichswirtschaftsgericht v. 5.3.1938, BÄK R 123 Bü 164, 5. Sen. XL 10-11 (1938). Folgendes Zitat ebd. 106 Firma Bader an das Reichswirtschaftsgericht v. 9.3.1938, BÄK R 123 Bü 165, 5. Sen. XL 34 (1938). 103
134
ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
Wehrmacht und dem Leiter der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung, Präsident Syrup, Vereinbarungen getroffen wurden, nach denen Lieferfirmen des Beschaffungsamts keine Arbeitskräfte durch die Arbeitsämter entzogen werden dürften.«107 Da das Arbeitsamt sich nicht an die Vereinbarungen gehalten hatte, bat die Firma Schweizer die Wehrwirtschaftsinspektion, diese Maßnahme rückgängig zu machen. Die Arbeiter wurden nach Backnang zurückgeschickt. Dieses Beispiel macht die Ineffektivität der Planungsbehörden deutlich. Mit dem verhältnismäßig kleinen Problem der sechs Arbeiter waren nämlich mit der Gerbervereinigung, dem Beschaffungsamt, dem OKW, dem Arbeitsamt und der Wehrwirtschaftsinspektion insgesamt fünf Behörden beschäftigt. Wenn die Planung eines Betriebes nachweislich durch Fehler einer Behörde gestört wurde, wie im Fall der Esslinger Glacélederfabrik Martin Gerecke jun., beriefen sich alle damit befaßten Stellen auf verschiedene Kompetenzen. Gerecke war mündlich von der Reichsstelle für Lederwirtschaft eine 100%-ige Sondereinkaufsgenehmigung zugesagt worden, worauf er Häute in dieser Größenordnung einkaufte. Schriftlich erhielt er dann jedoch lediglich eine 20%-ige Sondereinkaufsgenehmigung. Daraufhin wurde er von derselben Reichsstelle für Lederwirtschaft wegen der Kontingentsüberschreitung zu einer Ordnungsstrafe verurteilt.108 Das Meldewesen, dem die Betriebe unterworfen waren, zeigt ebenfalls deutlich die verworrene Kompetenzlage zwischen den einzelnen Behörden und Stellen. An die Reichsstelle für Lederwirtschaft mußten die Lederfirmen an jedem 8. eines Monats folgendes melden: Verkauf von Lederschecks, Rohwarenbestand, Rohwarenzuteilung, Einarbeitung, Bestand in Verarbeitung, Fertigwarenbestand, Anfall und Verkauf von Lederabfällen und Rinderhaaren.109 An Gebühren mußte an diese Stelle am 10. eines jeden Monats entrichtet werden: Ledergebühren, Übernahmegebühren für Häutekäufe und Schweinshäutegebühren.110 Außerdem hatten die Betriebe jeden Monat die Einkäufe und Zuteilungen an Rohhäuten, die Einarbeitung, den Bestand Ende des Monats in kg Grüngewicht, die Ledererzeugung, den Verkauf im Monat, den Bestand Ende des Monats in kg, die voraussichtliche Ledererzeugung, Stückzahl und Ledergewicht der lohgar ausgetrockneten Leder sowie Stückzahl und Gewicht der voraussichtlichen Ledererzeugung im kommenden Monat an die Fachgruppe ledererzeugende Industrie zu melden. Halbjährlich waren darüber hinaus Gerbstoff· und Fettmeldungen abzugeben.111 Ebenfalls am 10. jeden Monats waren weiter die Ausfuhrförderabgabe an die Wirtschaftsgruppe, Beiträge für die Wirtschaftsgruppe, die Industrie- und Handelskammer und die Gemeinschaftshilfe der deutschen Wirtschaft zu entrichten. Hinzu kamen die Adolf-HitlerSpende und Spenden für das Winterhilfswerk.112 Zugleich waren noch Gebüh107
Die Firma Schweizer an die Wehrwirtschaftsinspektion V v. 27.8.1938, in: WABW Y 120. Urteil des Reichswirtschaftsgerichts v. 23.4.1936, BÄK R 123 Bü 142, 7. Sen. XL 20 (1936). '""Jahresbericht der Firma Schweizer von 1940, WABW Y 120. ""Jahresbericht der Firma Schweizer von 1941, WABW Y 120. '"Jahresbericht der Firma Schweizer von 1942, WABW Y 120. 112 Jahresbericht der Firma Schweizer von 1940, WABW Y 120. 108
Schuh- und Lederfirmen im »Organisationsdschungel« der NS-Planungsbehfirden
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ren an die Lederindustrie-Berufsgenossenschaft, an die Gauwirtschaftskammer und die Ausgleichsumlage zu bezahlen.113 Die Firma Schweizer berichtete im Jahr 1942 erleichtert, daß »das Meldewesen [...] im Laufe des Jahres gemäß Anordnungen des Führers wesentlich vereinfacht worden« sei, dennoch beklagte sich ein Lederfabrikant aus Backnang, daß er zur Erledigung der schriftlichen Arbeit eine eigene Sekretärin brauche.114 Die Lederfirmen litten unter den Auswirkungen dieses Durcheinanders, vor allem der unpünktlichen Materialzuteilung und der fehlerhaften Kontingentierung. Gerade die Verteilung der Rohstoffe wurde für die Betriebe unkalkulierbar und bot immer wieder Konfliktstoff für Auseinandersetzungen zwischen der Reichsstelle und den Lederfirmen. So beklagte sich die Schuhfirma Rempp, Mühlacker, »Einkaufsgenehmigungen erst nach mehrmaligem Reklamieren«115 erhalten zu haben, obwohl die »Materialanforderungen pünktlich eingereicht« worden seien. Da aber nach einer vorhergehenden Anordnung der Reichsstelle kein Materialvorrat mehr vorhanden sei, »bin ich durch die unpünktliche Materialzuteilung nicht in der Lage mit meiner Belegschaft rationell zu arbeiten.« Die Weiterverarbeiter pflegten deshalb häufig viel zu große Kontingente an Rohstoffen zu beantragen, um sicher zu sein, daß sie wenigstens das dringend Benötigte in ausreichender Qualität erhielten. Die Firmen berichteten, daß sie, als »bessere Provinienzen angeboten wurden, [...] davon verschiedene Partien eingekauft [hätten], um vorzusorgen, da wir ja nicht wissen konnten, wie lange und ob später von diesen besseren Häuten noch zu haben ist.«116 Falls die Firmen dann jedoch wider Erwarten das volle bestellte Lederkontingent zugeteilt erhielten, tauchten abermals Probleme auf, wie der Fall der Firma Hermann Kolesch zeigt. Kolesch mußte einen Teil der ihm zugeteilten Rohhäute in einer anderen Gerberei lohngerben lassen, weil er gar nicht genügend Arbeitskräfte hatte, um die große Zahl von Häuten zu verarbeiten. Diese wären aber bei zu langer Lagerung verdorben.117 Die meisten Firmen beklagten jedoch zu geringe Häutekontingente. Diese bezogen sich auf den errechneten Normalbedarf. Der wiederum setzte sich aus dem Verbrauch des Jahres 1933 und des ersten Vierteljahres 1934 zusammen. Der Esslinger Glacélederfabrikant Gerecke beklagte nun, daß gerade die Jahre 1933 und 1934 »wegen der Boykotte des Auslands [...] die Allerschlechtesten seit Bestehen meines Betriebs« gewesen seien.118 Daher betrug das Lederkontingent von Gerecke für 1935 lediglich 30.900 Stück Rohware, während in den Jahren vor 1933 jährlich bis zu 600.000 Stück Rohware verarbeitet worden 113
Jahresbericht der Firma Schweizer von 1943, WABW Y 120. Folgendes Zitat ebd. ""Firma Schneider an das Reichswirtschaftsgericht v. 24.2.1936, BÄK R 123 Bü 141, 7. Sen. XL 169 (1935). "'Firma Rempp an die Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 4.12.1941, BÄK R 123 Bü 210, 6. Sen. XL 4 (1942). Folgende Zitate ebd. " 6 BAK R 123 Bü 164, 5. Sen. XL 24-25 (1938). "'Vgl. BÄK R 123 Bü 186, 5. Sen. XL 311 (1940) '"Martin Gerecke an die Überwachungsstelle für Lederwirtschaft v. 5.6.1934, BÄK R 123 Bii 142, 7. Sen. XL 20 (1936).
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ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
waren. Auch die Firma Kolesch monierte, daß 1934, das Jahr »des größten Tiefstandes meines Betriebes«,119 als Grundlage zur Lederkontingentierung herangezogen worden war. Die Reichsstellen waren als Organisationen mit umfassenden Eingriffsmöglichkeiten in die Betriebe ein beliebtes Ziel für Klagen und Kritik. In besonderem Maße traf dies für die Reichsstelle für Lederwirtschaft zu. Über die Gründe läßt sich nur spekulieren. Von Bedeutung war sicherlich der Mangel an Rohstoffen, der mit zunehmender Autarkisierung und Aufrüstung der Wirtschaft wuchs, der Mangel an Arbeitskräften und die Tatsache, daß die Behandlung der Betriebe sehr unterschiedlich war, je nach dem ob sie Wehrmachtsleder herstellten oder nicht. Vielleicht lag es auch daran, daß mit Leder und Häuten nicht so exakt geplant werden kann, wie mit Schrauben oder Maschinenteilen.120 Denn »der Anfall von rohen Häuten ist abhängig vom Viehbestand und von den Schlachtungen, also eindeutig eine Funktion des Fleischverbrauchs und völlig unabhängig von einem größeren oder geringeren Lederbedarf. Er variiert jahreszeitlich durch größere Schlachtungen von Jungtieren in den Frühjahrsmonaten und ausgewachsenen Tieren in den Herbst- und Wintermonaten, ebenso wie Seuchen unter dem Vieh oder Futterknappheit infolge Trockenheit regelmäßig erhöhte Schlachtungen und erhöhten Häuteanfall bedingen.«121 Die Probleme, die sich aus den starren Häuteverarbeitungszahlen für die Betriebe ergaben, beschreibt der Backnanger Lederfabrikant Karl Häuser. Die Firma Häuser verarbeitete ausschließlich inländische Häute, die sie vom Erzeuger direkt bezog. »Es ist vollkommen unmöglich, in jedem Vierteljahr die gleichen Menge zu kaufen, da hierfür die Schlachtungen der einzelnen Metzger, die an mich liefern, maßgebend sind, und es kommt vor, daß einmal mehr und das andere Mal wieder weniger angeliefert wird.«122 Die Firmen beklagten ebenfalls systemimmanente Fehler, die aus Planung und Eingriffen in die Betriebe resultierten. So kritisierte der Inhaber der Firma Rempp aus Mühlacker die Reichsstelle für Lederwirtschaft, die ein Strafverfahren vor dem Reichswirtschaftsgericht gegen ihn anstrengte, in scharfer Weise. »Macht denn die Reichsstelle für Lederwirtschaft keine Fehler? Ich bitte mir die Strafe zu erlassen, denn die Reichsstelle für Lederwirtschaft hat meinen Betrieb schon genug geschädigt. [...] Bringen Sie die Strafen dort an, wo die'"Hermann Kolesch an das Reichswirtschaftsgericht v. 11.7.1936, BÄK R 123 Bü 147, 7. Sen. XL 148 (1936). l20 So beklagten sich z.B. die Gebrüder Räuchle in einem Schreiben an die Reiclisstelle für Lederwirtschaft am 7.3.1941 über die schlechte Rohware. »In unserem Schreiben vom 5. Nov. v.Js. haben wir ihnen schon dargelegt, was für schlecht Sonderpartien [...] wir hereingenommen haben. Bei einer solchen Rohware kann man die Fabrikation ja gar nicht so einrichten, wie Sie sich das anscheinend vorstellen. Die eine Partie wird schon nach 2 Tagen wässern weich, die andere vielleicht in sechs Tagen und die nächste vielleicht auch erst nach 8-10 Tagen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß ein großer Teil [...] überhaupt nicht in die eigentliche Gerbung kommt, sondern nur als Leimleder zu verwerten ist.« (BÄK R 123 Bü 194.) 121 Stather, Gerbereichemie, S. 45. 122 Hermann Kolesch an das Reichswirtschaftsgericht v. 5.2.1937, BÄK R 123 Bü 157, 7. Sen. XL 466 (1936).
Schuh- und Lederfirmen im »Organisationsdschungel« der NS-Planungsbehörden
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selben auch angebracht sind. [...] Uns Schwaben kann man ja leicht verdummen, aber mit solchen Sachen kann man ja keinen Krieg gewinnen, denn das ist lauter unproduktive Arbeit, wir sind mehr gewohnt produktive Arbeit zu leisten und weniger Papierkrieg zu führen.«123 Ähnlich deutlich drückte der Biberacher Lederfabrikant Hermann Kolesch seinen Unmut über die Anordnungen der Reichsstelle aus, die »dazu geeignet [sind], tiefste Verbitterung über eine Institution auszulösen, die mit bedauerlicher Verständnislosigkeit für die Praxis glaubt, ihre Paragraphen durchsetzen zu müssen.«124 Auch Inkompetenz der Verantwortlichen war ursächlich für Planungsfehler mitverantwortlich. Sogar das Reichswirtschaftsgericht kritisierte den Geschäftsführer der Fachgruppe Schuhindustrie und den Leiter der Reichsstelle für Lederwirtschaft, weil sie den Unterschied zwischen »Produktionsaufgaben« und »Erzeugungsgenehmigung« nicht kannten und nur aus Unkenntnis ein Verfahren gegen die Firma Salamander angestrengt hatten.125 Außerdem unterliefen den verantwortlichen Stellen häufig schlichte Rechenfehler, die dann zu Verwirrung führten.126
123
Rempp an das Reichsverwaltungsgericht v. 22.1.1942, BÄK R 123 Bü 210, 6. Sen. XL 4 (1942). '"Hermann Kolesch an das Reichswirtschaftsgericht v. 8.8.1936, BÄK R 123 Bü 147, 7. Sen. XL 148 (1936). 123 Vgl. Urteil gegen die Firma Salamander v. 5.9.1941, BÄK R 123 Bü 187 3. Sen. XL 324 (1940). 126 Vgl. ebd.
138
ΠΙ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
3. Die Entwicklung der einzelnen Firmen während des Nationalsozialismus 3.1. Lederfirmen im Zeichen der Autarkie 3.1.1. Wachstum und Rückgang: Die Firma Louis Schweizer, Backnang und Murrhardt Die Firma Louis Schweizer hatte seit ihrer Gründung ständig expandiert. Dies hielt auch nach der »Machtergreifung« zunächst an. »Anfang 1933 waren die Schulden, welche die Firma als Folge der Inflationszeit (1920/23) aufnehmen mußte, zum größten Teil getilgt, und die Warenvorräte waren in beiden Betrieben stark angewachsen.«127 So konnte die Firma »sofort nach der Machtergreifung der NSDAP im Januar 1933 [...] zur späteren Ausnützung des zu erwartenden Wirtschaftsaufschwungs an Fabrikvergrößerung und Geschäftsausweitungen gehen.« Ende 1933 baute Schweizer in Murrhardt einen Grubenhof mit 120 Gruben, der 1934/35 um weitere 395 Gruben erweitert wurde. Damit hatte der Murrhardter Betrieb insgesamt 655 Gerbgruben und stellte nur noch grubengegerbte Vache-Croupons, Hälse, Seiten und Sohlleder her. Zur gleichen Zeit legte die Firma in Backnang ebenfalls einen neuen Grubenhof mit 66 Gruben an. 1933 bis 1935 wurde »veranlasst durch steuerliche Vergünstigungen für Ersatzbeschaffung und kurzlebige Wirtschaftsgüter«128 in beiden Werken der Maschinenpark aufgefrischt und die elektrischen Einrichtungen, Schaltanlagen, Motoren und Transformatoren für insgesamt über 1 Mill. RM erneuert. Danach entwarf die Firma Pläne, die vorsahen, die alte »Postgerberei« in Backnang abzureißen und stattdessen eine neue, modernere Fabrik aufzubauen. Noch bevor jedoch die Pläne realisiert werden konnten, brannte das alte Fabrikgebäude am 5. Oktober 1935 ab. »Der Wiederaufbau wurde leider durch Einwendungen der Stadt Backnang und die in der Folge von der Regierung vorgeschriebenen Baubeschränkungen lange verzögert. [...] Der Wiederaufbau des abgebrannten Teils konnte erst 1937 begonnen werden und ist 1939 bei Ausbruch des Krieges [...] fertiggestellt worden.«129 Der Firma Schweizer, die unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise relativ stark gelitten hatte, gelang es, 1932 ihre Produktion gegenüber dem Vorjahr zu verdoppeln und auch nach 1933 weiter zu steigern. Daher hatte Schweizer 1934 einen relativ hohen Normalbedarf zugeteilt bekommen. Daß die Produktion 1935 jedoch mit 6.262 1 114% über dem Durchschnittswert von 1933 lag, ist zahlreichen Sondergenehmigungen aufgrund der zunehmenden l27 ,28 l29
Stgt. Tgbl. v. 21.5.1942. Folgendes Zitat ebd. Vgl. div. Unterlagen, WABW Y 120. Stgt. Tgbl. v. 21.5.1942.
Entwicklung der einzelnen Firmen: Firma Louis Schweizer
139
Militarisierung zuzuschreiben. Die Wehrmacht benötigte gerade schwere Boden- und Fahlleder, wie sie die Firma Schweizer herstellte.130 Diagramm 15: Produktionsentwicklung der Firma Louis Schweizer von 1932-1944 in Prozent (1933 - 100)131
Da aber im Rahmen des Vierjahresplans die Kontingente für Leder und Häute aus dem Ausland drastisch reduziert wurden, fürchtete die Firma Schweizer, die vor 1933 zwischen 70 und 80% der Häute aus dem Ausland bezogen hatte, davon besonders betroffen zu werden. Doch auch in den folgenden Jahren bis Kriegsbeginn lag die Produktion bei Schweizer jedes Jahr über dem offiziellen Normalbedarf von 60 bis 80%, denn die Firma hatte auf inländische, vor allem süddeutsche Häute umgestellt.132 Als nach Kriegsbeginn die Grundlage der Kontingentierung nach dem »Grundziffernsystem« erfolgte, reduzierten sich die Kontingente der Firma Ende 1939 auf nur noch 45% des Normalbedarfs. Sie lagen damit jedoch im Vergleich zu anderen württembergischen Lederfirmen im Durchschnitt.133 Der Jahresbericht der Firma hielt fest, daß »nach Umstellung der Fabrikation auf die Kriegswirtschaft durch immer neue Anordnungen der Reichsstelle für Lederwirtschaft im Jahre 1939 [...] die Produktion stark eingeschränkt werden« mußte.134 1940 betrug die Zuteilung an Rohhäuten bei Schweizer lediglich noch 5 % des Normalbedarfs von 1933.135 Doch konnte sich die Rohwarenversorgung nach 1941 auf niedrigem Niveau stabilisieren, denn der deutschen Wirtl30
In welchem Umfang die Firma Schweizer die Wehrmacht belieferte, ließ sich für die Jahre bis 1940 nicht ermitteln. "'Zahlen aus Rieger-Gutachten (Schweizer), StAL EL 902/3 Bü 4/1/5607. 132 1945 kamen 58% aller bei Schweizer verarbeiteten Häute aus Süddeutschland. (Vgl. Miscellaneos Report No. 2. An Investigation of the German Leather Industry, S. 48, ALM.) 133 Vgl. Rohhäuteverteilung des Jahres 1939, BÄK R 8 VI Bü 28. 134 Jahresbericht der Firma Schweizer für das Jahr 1940, WABW Y 120. ,35 Vgl. Rohhäuteverteilung aus den Jahren 1940-1944, BÄK R 8 VI Bü 29-30.
140
III. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
schaft standen durch militärische Erfolge in Osteuropa und auf dem Balkan die Rohstoffreserven dieser Länder zur Verfügung, die rücksichtslos ausgebeutet wurden. Den Akten der Firma Schweizer ist zu entnehmen, daß Rohhautlieferungen gerade aus den besetzten und annektierten Ländern kamen: Frankreich, Protektorat Böhmen und Mähren, Sudetenland, Ostmark und Ukraine. Diagramm 16: Umsatzentwicklung der Firma Louis Schweizer von 1932-1944 in 1000 RM136
Die Stabilisierung der Rohwarenversorgung bei der Firma Schweizer ab 1941 ist sicherlich auch mit dem großen Anteil an Wehrmachtsleder, das Schweizer nachweislich ab 1940 produzierte, zu erklären. Denn ab diesem Jahr durfte die Firma »die in langen Friedensjahren erworbene Zivilkundschaft von Schuhfabriken und Lederhandel [...] nur noch in ganz geringem Umfange«137 beliefern. Statt dessen mußte fast die gesamte Produktion an Boden-, Unter- und Fahlleder laut Anordnungen der Reichsstelle für Lederwirtschaft »der Deutschen Gerbervereinigung für Heeres- & Marinebedarf,138 Würzburg, zur Verfügung gestellt werden.« Schweizer lieferte 1940 bereits 41% allen Leders an die Gerbervereinigung. Im folgenden Jahr stieg der Anteil von Wehrmachtsleder auf 60% und 1942 sogar auf 72% an. 1943 war der Anteil an Wehrmachtsleder etwas gesunken und betrug noch 70%.139 136
Zahlen aus Rieger-Gutachten (Schweizer) StAL EL 902/3 Bü 4/1/5607. "'Jahresbericht der Firma Schweizer für das Jahr 1940, WABW Y 120. Folgendes Zitat ebd. 13B Fiir ihre Verteilertätigkeit erhob die Gerbervereinigung Gebühren bei den Lederfirmen. Vorsitzender bei der Gerbervereinigung war seit dem 1.4.1937 Fritz Schweizer. In den Spruchkammerverfahren gegen Fritz und Richard Schweizer war nach 1945 der Verdacht laut geworden, daß Fritz Schweizer die Tätigkeit bei der Gerbervereinigung zur Erteilung eines höheren Kontingents an seine Firma mißbraucht haben könnte. Die Aufgabe von Schweizer bei der Gerbervereinigung hatte jedoch nichts mit der Vergabe von Kontingenten zu tun. (Vgl. Rechtsanwälte Schaefer und Höring an die Spruchkammer Backnang v. 2.7.1947, WABW Y 120.) '"Zahlen aus den Jahresberichten der Firma Schweizer der Jahre 1940 bis 1943, WABW Y 120.
Entwicklung der einzelnen Firmen: Firma Louis Schweizer
141
1942 erreichte Rohhäuteversorgung der Firma während des Krieges ihren Höhepunkt. Als noch im selben Jahr die militärischen Rückzüge im Osten begannen, stellte sich jedoch wieder ein starker Häutemangel ein, der »1944 zu weiteren größeren Betriebs-Einschränkungen in der Lederwirtschaft führen sollte.«140 Die Situation verschärfte sich 1944/45 durch die Zerstörung der Verkehrswege und der Betriebe drastisch. Der Umsatz der Firma Schweizer folgte mit der branchentypischen Zeitverzögerung der Entwicklung der Produktion. Denn aus produktionstechnischen Gründen betrug der Zeitraum zwischen der Einarbeitung der Rohhäute und ihrem Verkauf als Leder je nach Sorte zwei Monate bis drei Jahre. Die hohen Umsatzsteigerungen ab 1937 lassen sich auf die Änderung des Produktionsprogramms der Firma von billigeren Ledersorten, die während der Weltwirtschaftskrise vermehrt verkauft wurden, zugunsten von teureren, wie sich die Wehrmacht anforderte, zurückführen.141 Für die Wehrmacht produzierte Schweizer spätestens ab 1940 in großem Umfang Leder. Dieses war jedoch offensichtlich teurer als das Leder für die Zivilkundschaft. Denn mit den 41 % Wehrmachtsleder deckte Schweizer 1940 44% des Gesamtumsatzes. 1941 betrug das Verhältnis 60% Militäileder zu 66% Umsatz, 1942 72% zu 74% und 1943 70% zu 72%.142 Dieser Sachverhalt ist für die Gewinnentwicklung entscheidend. Diagramm 17: Gewinnentwicklung der Firma Louis Schweizer von 1932-1944 in 1000 RM143
Die Gewinnkurve verläuft im großen und ganzen parallel zur Umsatzentwicklung, Abweichungen ergeben sich aus den zum Teil erheblichen Zeitspan140
Jahresbericht der Firma Schweizer für das Jahr 1943, WABW Y 120. Der Anteil von Vacheleder mit beschleunigter Gerbung fiel zwischen 1932 und 1936 von 63% auf 32%, betrug 1940 nur noch 8% und verschwand ab 1943 schließlich ganz. Die Herstellung von hochwertigem, langsam gegerbtem Vacheleder stieg dagegen nach dem Bau zahlreicher Gerbgruben in Murrhardt von 1933/34 und 1945 von 39,5% auf 75,5%. 142 Zahlen aus den Jahresberichten der Firma Schweizer der Jahre 1940 bis 1943, WABW Y 120. 143 Zahlen aus Rieger-Gutachten (Schweizer), StAL EL 902/3 Bü 4/1/5607. 141
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ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
nen zwischen Rohhäuteeinkauf und Lederverkauf. Der starke Anstieg in den Jahren 1937 bis 1939 ist in einer veränderten Bewertung der Vorräte begründet. Die Berechnungsgrundlage der Rohhäute veranschlagte das Finanzamt bis 1937 mit 2,40 RM pro kg. Sg., ab 1937 mit 4,80 RM. Im folgenden Jahr stieg der Wert auf 10,- RM.144 Nicht mit Verschiebungen oder geänderten Berechnungen können jedoch die verhältnismäßig hohen Gewinne der Jahre ab 1941 erklärt werden. Hier gilt wohl dasselbe wie für die Umsatzentwicklung: Es machte sich die Umstellung auf teureres Leder und Wehrmachtsleder bemerkbar. Diagramm 18: Beschäftigte der Firma Louis Schweizer von 1933-1944 145
Die Änderung des Produktionsprogramms erfolgte jedoch nicht aus eigenem Antrieb, sondern aufgrund staatlicher Reglementierung. Schweizer wurde von der Reichsstelle für Lederwirtschaft die Herstellung eines bestimmten Produkts und die Produktionsart für den jeweiligen Betriebsteil vorgeschrieben. Das führte zur Reduzierung der Produktionspalette. Umfaßte sie 1940 noch sechs verschiedene Lederarten und eine Art von Kunstleder, so stellte Schweizer 1944 nur noch zwei Lederarten her.146 l44
Vgl. ebd. '•"Zahlen aus Stgt. Tgbl. v. 21.5.1942, div. Aufzeichnungen und Jahresberichte der Firma Schweizer der Jahre 1940 bis 1944, WABW Y 120. . 140 Jahresberichte der Firma Schweizer für die Jahre 1940 und 1944, WABW Y 120 und Rohhäuteverteilung der Jahre 1939-1944, BÄK R 8 VI Bü 28-30. 1940 waren dies Bodenleder, Unterleder, Geschirrleder, Fahlleder, Oberleder, Schweinsoberleder und als Kunstleder das sogenannte Faserleder, 1944 produzierte Schweizer nur noch Fahl- und Bodenlcder. Dagegen stieg die Anzahl der abzuliefernden Abfallprodukte von zwei auf zehn an. Lieferte Schweizer 1940 nur Rinderhaare und Leimleder ab, so waren dies 1944 Falz- und Blanchierspäne, Leimleder, Haare, Ohrenränder, Rinderschweife, Schweinsborsten, leere Fässer und Oberleder- bzw. Unterlederabfälle. Der Aufwand, diese Abfälle zu sammeln, entsprach keineswegs dem Ertrag. So wurden 1944 z.B. 35 kg Schweineborsten für 26,25 RM verkauft oder 1.920 Rinderschweife für 96,- RM. Die Ablieferung von 66 leeren Fässern erbrachte 298,40 RM, die von 12.250 Ohrenrändern 372,- RM. Der Umsatz mit diesen Abfallprodukten betrug jeweils lediglich 1% am Gesamtumsatz.
Entwicklung der einzelnen Firmen: Firma Louis Schweizer
143
Ein Grund für die Produktionseinschränkung war neben dem Rohhäuteauch der Arbeitskräftemangel, der sich in der Lederindustrie seit 1937 stetig verschlimmerte. Die Firma Schweizer mußte deshalb 1941 die Produktion von Geschirrleder einstellen, denn »wenn im Laufe der Zeit nicht größerer Mangel an Arbeitskräften aufgetreten wäre, so wäre die Herstellung von Geschirrleder ein gutes Geschäft geblieben.«147 Von der Anzahl der Arbeitskräfte hing jedoch auch der Produktionsumfang ab. 1935, als Schweizer das meiste Leder während des Nationalsozialismus produzierte, war auch die Mitarbeiterzahl mit 422 am höchsten. In den folgenden Jahren sank die Lederproduktion dann wieder. Trotz eines starken Rückgangs an Arbeitskräften zu Beginn des Krieges148 gelang es der Firma, die Zahl ihrer Arbeitskräfte in den Jahren 1940 bis 1942 relativ stabil zu halten. Dies wurde in erster Linie über uk-Stellungen erreicht. 1940 betrugen sie im Werk Backnang 52, im Werk Murrhardt 79.149 Bis 1942 erhöhten sie sich auf 112 in Backnang und auf 158 in Murrhardt.150 In der Endphase des Krieges ab 1943 konnte die Firma ihren Mitarbeiteistamm nicht mehr halten. Die Zahl der einberufenen Arbeiter stieg von 1941 bis 1944 von 71 auf 133.151 Am 1. Januar 1945 hatte die Firma Schweizer noch 198 Beschäftigte, weniger als die Hälfte der Belegschaft des Jahres 1935. Die Möglichkeit durch Frauenarbeit dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken, stand der Firma Schweizer nicht offen, da in einer Gerberei Frauen in erster Linie zum manuellen Einfetten der Häute eingesetzt wurden. Dies ist bei Bodenleder, worauf die Firma Schweizer spezialisiert war, überflüssig. Hinzu kommt, daß die Arbeit in Gerbereien gleich an welchem Platz immer sehr unangenehm ist. Darum suchten sich die Frauen lieber Arbeit in der Verwaltung.152 So ist es zu erklären, daß die Zahl der beschäftigten Frauen bei Schweizer von 1940 bis 1944 von 28 auf 17 sank, wobei die meisten in der Verwaltung und in der Kantine arbeiteten.153 Alliierte Luftangriffe in Backnang und Artilleriebeschuß in Murrhardt beschädigten die Gebäude und Lagerstätten in den letzten Kriegstagen schwer. Die Kriegsschäden der Firma Schweizer beliefen sich insgesamt auf 1.284.140,30 RM.154
147 Aus dem Jahresbericht der Firma Schweizer für das Jahr 1941, WABW Y 120. '•"Unmittelbar vor Kriegsbeginn betrug die »Gefolgschaftsstärke« der Fa. Schweizer 354 Beschäftigte, im Dezember 1939 281. ""Jahresbericht der Firma Schweizer für das Jahr 1940, WABW Y 120. '"Jahresbericht der Firma Schweizer für das Jahr 1943, WABW Y 120. '"Vgl. Jahresberichte der Firma Schweizer für die Jahre 1941 und 1944, WABW Y 120. '"Winkler, Frauenarbeit im Dritten Reich, S.123. '"Gleiches ist in der gesamten ledererzeugenden Industrie zu beobachten, vgl. ebd., S.200. Dazu auch Jahresberichte der Firma Schweizer für die Jahre 1940 bis 1944, WABW Y 120. . ""Bericht über die bei der Firma Louis Schweizer, Kommanditgesellschaft, Backnang, vorgenommenen Prüfung des Jahresabschlusses zum 31.12.45 durch die Schwäbische TreuhandAg, Stuttgart, S.6, WABW Y 120.
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ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
3.1.2. Expansion und Stagnation: Die Kaess'schen Gerbereien
Die günstige Entwicklung der Lederfabriken von Carl Kaess hielt auch nach 1933 zunächst an. In beiden Firmen stieg die Produktion von Fertigleder weiter und erreichte 1934 den höchsten Stand im Zeitraum von 1928 bis 1945. Kaess' Lederfirmen hatten nach der Kontingentierung der Rohhäute ab 1934 einen im Verhältais zu anderen, zum Beispiel der Firma Schweizer, relativ hohen Normalbedarf zugeteilt bekommen,155 was die positive Entwicklung in den Jahren 1933 und Anfang 1934 bestätigt.156 Trotz der Reduzierung des Normalbedarfs in den folgenden Jahren blieb die Produktion bei den Kaess'schen Gerbereien immer verhältnismäßig hoch. Dies wurde durch zahlreiche Sonderzuteilungen bis Kriegsbeginn noch unterstützt. Dann sank jedoch die Zuteilung an Rohware bei den Kaess'schen Gerbereien überdurchschnittlich. Während die Zuteilungsquote bei den anderen württembergischen Gerbereien, wie Ernst Ammer in Reutlingen oder C.F. Roser in Stuttgart-Feuerbach, 1940 um 67% des Normalbedarfs betrug, erreichte sie bei der Firma Carl Kaess lediglich 37%, bei den Lederwerken sogar nur 33%.157 Diagramm 19: Lederproduktion der Firmen Carl Kaess und Lederwerke 1933-1945 in Tonnen158
• Carl Kaess 6000
DI Lederwerke
5000 4000
2000
1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945
In den folgenden Jahren ging die Lederproduktion bedingt durch den Mangel an Rohhäuten und Gerbstoffen weiter zurück. Da jedoch die Rohwarenzutei' ss 5.224.589 kg Sg; Firma Schweizer 5.484.680 kg Sg. Bei Schweizer waren jedoch fast 100 Mitarbeiter mehr beschäftigt als bei Carl Kaess. Ein Mitarbeiter bei Schweizer verarbeitete also ca. 15.670 kg Sg pro Jahr, ein Mitarbeiter bei Kaess über 25% mehr, nämlich 20.329 kg Sg,56 Wurde der Normalbedarf doch aus dem Umsatz des Jahres 1933 und dem des ersten Vierteljahres 1934 errechnet. '"Vgl. Rohhäuteverteilung des Jahres 1939, BÄK R 8 VI Bü 28. '"Zahlen aus Rieger-Gutachten (Kaess 1) und nicht näher bezeichneten Unterlagen, Bestand Kaess.
Entwicklung der einzelnen Firmen: Kaess'sehen Gerbereien
145
lung bei den anderen württembergischen Lederfirmen dramatisch abnahm, lagen die Kaess'schen Firmen ab 1941 bei der Rohhäutezuteilung und der Lederproduktion durchaus wieder im Durchschnitt.159 Die Steigerung der Lederproduktion bei der Firma Carl Kaess ab 1943 spiegelt nicht die allgemeine Lage in der Lederindustrie wider. Vielmehr gelang dem Firmeninhaber Carl Kaess nach der Schließung der Backnanger Lederwerke im Jahr 1942, das Rohhäutekontingent der geschlossenen Firma auf die Schwesterfirma zu übertragen, so daß die Zuteilung an Rohhäuten mit 12% des Normalbedarfs weit über dem württembergischen Durchschnitt lag.160 Diagramm 20: Beschäftigte der Firmen Carl Kaess und Lederwerke von 1933-1945161
Da die Firmen von Carl Kaess schon vor 1933 eine verhältnismäßig positive Entwicklung genommen hatten, wurde im Unterschied zu anderen Lederfirmen, die bis 1935 zahlreiche Neueinstellungen vornahmen,162 der Mitarbeiterstamm nach 1933 lediglich gehalten. Ab 1935 machten sich bei den Beschäftigtenzahlen die Einführung des Reichsarbeitsdienstes, der Wehrpflicht und schließlich auch der Rückgang der Arbeitslosigkeit bemerkbar. Waren bis 1935 in beiden '"Die Rohhäutezuteilung lag 1940 bei der Firma Carl Kaess bei 6,3%, bei den Lederwerken bei 7,3% des Normalbedarfs. Die Reutlinger Gerbereien im Vergleich: Firma Emst Ammer 8,5%, Knapps & Schwandner 6,2% und J.J. Schlayer 6,6%. (Vgl. Rohhäuteverteilung des Jahres 1940, BÄK R 8 VI Bü 29.) 160 Die einzige württembergische Unterlederfirma, deren Zuteilungsquote höher lag als die von Kaess, war die Firma Roser in Stuttgart-Feuerbach (12,2%). Die Quoten der anderen Firmen lagen etwa bei 6 bis 9%. (Vgl. Rohhäuteverteilung des Jahres 1944, BÄK R 8 VI Bü 30.) '"Zahlen aus Rieger-Gutachten (Kaess 1), nicht näher bezeichneten Unterlagen, Bestand Kaess und Lederwerke Backnang andas Reichsverwaltungsgericht v. 4.8.1941, BÄK R 123 Bü 198 3. Sen. XL 238 (1941). l62 So stiegen die Mitarbeiterzahlen von 1933 bis 1934 z.B. bei der Schomdorfer Lederfirma Hermann Röhm um 30% und bei C.F. Roser in Stuttgart-Feuerbach sogar um 36%. (Vgl. BÄK R 8 VI Bü 36.)
146
ΠΙ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
Werken zusammen etwa 500 Mitarbeiter beschäftigt, sank deren durchschnittliche Anzahl in den Jahren 1936 bis 1939 auf ca. 400. Die Einberufungen zur Wehrmacht wirkten sich auf den Mitarbeiterstamm der Kaess'schen Lederfirmen erst ab 1940 aus. Beide Firmen, die Carl Kaess GmbH und die Lederwerke GmbH, produzierten in hohem Maße Leder, vor allem Sohl- und Vacheleder, für die Wehrmacht. Dies geht aus einem Brief der Wehrwirtschaftsinspektion V vom 5. September 1939 an die Firma Kaess hervor, wonach diese Firma von 230.000 kg insgesamt hergestelltem Leder pro Monat 150.000 kg (65%) an die Wehrmacht abzuliefern hatte.163 Auch das Produktionsprogramm beider Firmen läßt auf einen hohen Anteil an Wehrmachtsleder -schließen. So stellten die Lederwerke das fast vollständig von der Wehrmacht beschlagnahmte Fahl- und Blankleder her, Carl Kaess das ebenso wichtige Bodenleder.164 Darüber hinaus waren beide Betriebe seit 1937 »W-Betriebe«.165 Die ungefähre Höhe der Wehrmachtslieferungen läßt sich aus den Bilanzbüchern erschließen.166 Die Lederwerke lieferten ab 1935 Leder an die Wehrmacht. In den folgenden Jahren ist eine stetige Umsatzsteigerung bei Fahl- und Blankleder, also den für die Wehrmacht tauglichen Sorten, auszumachen, während der Umsatzanteil von anderem Oberleder zurückging. Erzielten die Wehrmachtsleder 1937 einen Umsatzanteil von lediglich 2%, waren es 1940 bereits 65%. Dagegen reduzierte die Firma die Herstellung von Unterleder derart, daß der Umsatzanteil von 1937 bis 1940 von 89% auf 35,5 % sank. Die Produktion von Oberledersorten, die die Wehrmacht nicht abnahm, stellte die Firma völlig ein.167 Die Carl Kaess GmbH belieferte die Wehrmacht erst ab 1937 mit Leder und erzielte den höchsten Umsatzanteil mit Wehrmachtsleder 1940 mit 38%.168 Ein weiterer Anhaltspunkt für die Steigerung der Wehrmachtsproduktion ist die Verschiebung der Produktpalette. Die Lederwerke hatten 1939 einen Antrag bei der Reichsstelle für Lederwirtschaft gestellt, mehr Fahlleder produzieren zu können, da dieses von der Wehrmacht besonders dringend gebraucht werde.169 In den Vorkriegsjahren war Fahlleder nur mit 0,5-1,1% am Umsatz beteiligt, waren die Lederwerke doch im Prinzip auf Unterleder spezialisiert. Bis 1940 stieg der Fahllederanteil am Umsatz auf 42,6%.170 Die Einarbeitung betrug monatlich 7500 kg Frischgewicht (40% der Gesamteinarbeitung) gegenüber 4000 kg Frischgewicht in Jahr 1939. Während 163
Bestand Kaess und Rieger-Gutachten (Kaess 1), ebd. Vgl. Schreiben der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 5.9. und 23.9.1939, BÄK R 8 VI Bü 80 und Rohhäuteverteilung der Jahre 1939-1944, ebd. Bü 28-30. 165 Vgl. Reichsbetriebskartei, BÄK R 3 Bü 2015. l66 Dies ist durchaus problematisch, denn es ist nicht gesagt, daß die Höhe des Umsatzes der der Lederlieferungen an die Wehrmacht entspricht, doch gibt es einen ungefähren Überblick über die Entwicklung der Wehrmachtslieferungen. '"Zahlen aus Lederwerke an das Reichsverwaltungsgericht v. 4.8.1941, BÄK R 123 Bü 198 3. Sen. XL 238 (1941). ,68 Zahlen aus Rieger-Gutachten (Kaess 1) und nicht näher bezeichneten Unterlagen, Bestand Kaess. ,69 Reichsstelle für Lederwirtschaft an das Reichsverwaltungsgericht am 10.9.1941, Bestand Kaess. l70 Vgl. Carl Kaess an das Reichsverwaltungsgericht am 4.8.1941, Bestand Kaess. 164
Entwicklung der einzelnen Finnen: Firma Christ. Breuninger
147
sie bei den Lederwerken von 1941 bis 1942 von monatlich 19.500 kg auf 15.900 kg sank, blieb die Einarbeitung in Fahlleder mit 7500 kg stabil. Das bedeutet, daß der Anteil an Fahlleder 1942 auf über 47% gestiegen war.171 Der Aufschwung beider Firmen zeigt sich auch in der Gewinnentwicklung. Diagramm 21: Gewinnentwicklung der Firmen Carl Kaess und Lederwerke von 1933-1945 in 1000 RM172
Ihr positiver Verlauf versetzte Kaess in die Lage, zahlreiche Neubauten vorzunehmen. 1934 wurde ein vierstöckiges Lagerhaus in der Gartenstraße gebaut, 1935 wurden ein neues Kesselhaus errichtet und einige Modernisierungsmaßnahmen durchgeführt. Weitere geplante Neubauten, für die Kaess bereits Grundstücke erworben hatte, konnten ab 1937 wegen der Baustoppverordnung für private Bauten nicht mehr durchgeführt werden.173 Dagegen ermöglichten ihm steigende Gewinne den Kauf neuer Betriebe, darunter eine Anzahl aus dem Besitz jüdischer Unternehmer.174 3.1.3. Aufschwung durch Rüstungsaufträge: Die Firma Christ. Breuninger, Schorndorf Sehr ungewöhnlich verlief die Geschichte der Schorndorfer Lederfirma Christ. Breuninger. Diese Firma änderte in Laufe der Zeit mehrmals ihr Produktionsprogramm. War sie bis zum Beginn dieses Jahrhunderts auf die Herstellung von Portefeuille-Leder spezialisiert, stellte sie ab etwa 1900 bis zum Ende des Ei Reichsstelle für Lederwirtschaft an das Reichsverwaltungsgericht am 10.9.1941, Bestand Kaess. Zahlen aus Rieger-Gutachten (Kaess 1), nicht näher bezeichneten Unterlagen, Bestand Kaess und Lederwerke Backnang an das Reichsverwaltungsgericht v. 4.8.1941, BÄK R 123 Bü 198 3. Sen. XL 238 (1941). ,73 Zur Geschichte des Hauses Kaess, S. 10. l74 Vgl. dazu Kap. V.2.2. dieser Arbeit. 172
148
ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
sten Weltkriegs Militärblankleder her. Während der Weimarer Republik begann die Firma mit der Produktion von Treibriemenleder, stieg ab 1926 jedoch auf die Produktion von farbigem Spaltleder um. Seit etwa 1930 produzierte Breuninger dann ausschließlich Reptilleder. Ab 1933 erlebte die Schoradorfer Firma einen herausragenden Aufschwung. Ihn hatte sie in erster Linie der Produktionsumstellung auf Blankleder für Militärzwecke sofort nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten zu verdanken.175 Schon »1933 hat Herr Oberstleutnant Collin vom Heeresbeschaffungsamt in Berlin die Firma B[reuninger] in Schorndorf aufgesucht, um sie als alte und hinsichtlich der Güte ihrer Fabrikate an der Spitze marschierende Blanklederfirma wieder für den kommenden Bedarf an Blankleder heranzuholen. [...] Im Herbst 1933 hat das Reichswehrministerium die [...] bekannten Blankledergerber, insgesamt 7 Firmen, darunter auch die Firma B[reuninger], zu einer Besprechung nach Berlin bestellt. Hierbei wurde eröffnet, dass die Beschaffung von 300.000 kg Blankleder vergeben werde. Das war ein Auftrag, wie er so gross noch nie, auch später nicht mehr vergeben worden ist.« Die Firma Breuninger war daran mit »einem sehr grossen Auftrag« beteiligt. Diagramm 22: Beschäftigte der Firma Christ. Breuninger von 1932-1945 176
Deutlich wird die ungewöhnlich günstige Entwicklung der Schomdorfer Firma an den Mitarbeiter- und Umsatzzahlen. Die Mitarbeiterzahl der Firma Breuninger stieg von 1932 bis 1934 von 160 auf 250. Diese außerordentliche Steigerung um 56% setzte sich in den folgenden Jahren fort. Bis 1936, als die anderen Lederfirmen aus Rohstoffmangel Mitarbeiter entlassen mußten oder 175
Vgl. Devisenberater Wilhelm Keding an das Reichswirtschaftsgericht v. 5.3.1938, BÄK 123 Bü 164, 5. Sen. XL 10-11 (1938). Folgende Zitate ebd. "'Zahlen aus Spruchkammerverfahren gegen Otto Breuninger, StAL EL 50/49/7494, Spruchkammerverfahren gegen Paul Breuninger, StAL EL 50/49/5650, Verfahren der Firma Breuninger vor dem Reichswirtschaftsgericht, BÄK 123 Bü 164, 5. Sen. XL 10-11 (1938), Reichsbetriebskartei, BÄK R 3 Bü 2015 und Christ. Breuninger. Lederfabrik Schorndorf 1843-1958, Schorndorf 1968, S. 41.
Entwicklung der einzelnen Firmen: Firma Christ. Breuninger
149
kurz arbeiteten, betrug die Anzahl der Beschäftigten bei Breuninger 278. In den folgenden Jahren bis Kriegsbeginn konnte Breuninger diesen Mitarbeiterstamm weitgehend halten. Auch in den ersten Kriegsjahren unterschritt die Mitarbeiterzahl nie die von 1932, erst mit Beginn des »Totalen Krieges« 1942 sank sie auf 120 und damit 40 weniger als 1932. Ein Blick auf die Umsätze in den ersten Jahren des Nationalsozialismus unterstreicht das Bild eines Unternehmens, das sich sofort nach der »Machtergreifung« durch Rüstungsaufträge wirtschaftlich saniert hat. So stiegen die Umsätze vom Krisenjahr 1931 bis 1936 um mehr als das Doppelte, und die Gewinne erhöhten sich seit 1932 bis 1938 sogar um das Sechsfache.177 Diagramm 23: Umsatzentwicklung der Firma Christ Breuninger ab 1930 in Mill. RM178 4.5^1
1930
1931
1934
1935
1936
Diese Erfolge stehen eindeutig mit dem frühzeitigen Einstieg in die Militärlederherstellung im Zusammenhang. Warum die Firma, die vor 1933 in erster Linie Reptilleder produzierte, so früh auf die Herstellung von Militärleder umstieg, begründeten die damals Verantwortlichen mit den bevorstehenden Verdienstmöglichkeiten aufgrund des »steigenden Bedarfs an Ausrüstungsstücken der nationalen Verbände,«179 und sie hofften, »dass auch in der Zukunft mit einem sehr grossen Bedarf an Militärleder zu rechnen sein würde.« Daß die Firma von den Stellen der Wehrmacht und der Partei als Lieferant ausgesucht wurde, hing - so die Breuningers - mit der Qualität ihrer Blankleder zusammen. Da jedoch seit 1918 gar kein Blankleder mehr produziert wurde, die Heeresstellen sich also auf die Qualität der Leder von vor 20 Jahren verlassen mußten, erscheint diese Begründung nicht überzeugend. Vielleicht entschieden sich die Verantwortlichen deshalb für Breuninger, weil die Inhaber '"Zahlen aus StAL EL 50/49/5650 und StAL EL 50/49/7496. '"Zahlen aus Verfahren der Firma Breuninger vor dem Reichswirtschaftsgericht, BÄK 123, Bü 164, 5. Sen. XL 10-11 (1938). "'Devisenberater Wilhelm Keding an das Reichswirtschaftsgericht v. 5.3.1938, BÄK 123 Bii 164, 5. Sen. XL 10-11 (1938). Folgendes Zitat ebd.
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ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
sich schon früh für Nationalsozialisten eingesetzt hatten. Denn die Firma hatte anläßlich eines Streiks aller württembergischen Lederbetriebe im November 1931 28 Arbeitslose als Streikbrecher eingesetzt. Der Großteil dieser Arbeiter, bei denen es sich zumeist nicht um Lederarbeiter handelte,180 waren SA-Männer oder NSDAP-Mitglieder. Schon vor diesem Streik waren im September 1931 14 Nationalsozialisten eingestellt worden.181 Nach dem Streik entließ Breuninger 28 eigene Arbeiter und beschäftigte dafür die nationalsozialistischen Streikbrecher weiter.182 3.1.4. Die Katastrophe auf dem Oberledermarkt setzt sich fort: Die »Lederfabrik« Carl Freudenberg Die schlechte Lage der Lederfabrik Freudenberg vor 1933 schien sich nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten durch die steigende Inlandsnachfrage zunächst zu verbessern. Zurückgehende Auslandsaufträge konnten durch »die starke Zubereitung von SA- und SS-Stiefeln um 15%«183 ab etwa Mai 1933 zunächst ausgeglichen werden.184 Die Kontingentierung von Fellen, Häuten und Gerbstoffen ab Anfang 1934, die Devisenknappheit, die den Einkauf ausländischer Rohhäute bald in ausreichender Menge nicht mehr zuließ, beendeten rasch die leichte Erholung der Lederfabrik Freudenberg.185 Bald nach der Erhöhung der Lederproduktion mußten die Einweichziffern wieder gesenkt werden,186 weil das Kontingent für die Firma Freudenberg im Laufe des Jahres 1935 auf 60% reduziert wurde. Dies hatte Kurzarbeit, aber auch Entlassungen von Lederarbeitern zu Folge.187 Ab 1937 kam es zu einer weiteren Kürzung des Rohwarenkontingents, so daß die Lederproduktion von diesem Zeitpunkt ab weiter zurückging. Wenn die Lederproduktion bei Freudenberg 1939 wieder anstieg, so hatte dies seinen Grund in dem Kauf und der folgenden Eingliederung der Roßledergerberei Sigmund Hirsch in das Freudenberg'sehe Werk. Nach Kriegsbeginn sank die Rohhäuteversorgung der Firma Freudenberg ebenso wie die der württembergischen Gerbereien. In den Kriegsmonaten des l80
Die Männer waren z.B. Tischler von Beruf oder Kaufmann. (Vgl. Protokoll der öffentlichen Sitzung v. 23.1.1948, StAL EL 50/49/5650.) "'Breuninger beschäftigte im Jahre 1931 29 Nationalsozialisten. Dies entsprach bei einer Belegschaft von 157 Mitarbeitern 18,5%, einem außerordentlich hohen Anteil. (Vgl. Aufstellung, StAL EL 50/49/5650.) 182 Protokolle der öffentlichen Sitzungen v. 23.1. und 24.3.1948, StAL EL 50/49/5650. 183 Betriebsratsprotokoll v. 20.1.1934, FFA, Kladden Π. '"Protokoll der Sitzung des Arbeiterrates bei Carl Freudenberg v. 9.5.1933, AGL 4.12. Im Febru:ir 1933 wurden in der Lederfabrik Carl Freudenberg konjunkturbedingt noch 125 Mitarbeiter entlassen, im März weitere 130. (Vgl. Protokoll der Sitzung des Arbeiterrates bei Carl Freudenberg v. 13.3.1933, ebd. und Betriebsratsprotokoll v. 28.2.1933, FFA, Kladden II.) 185 Vgl. Protokoll der Vertrauensratssitzung v. 8.6. und 6.11.1934, FFA, Kladden ΙΠ. 186 Protokoll der Vertrauensratssitzung v. 15.8., 27.9., 11.12.1935 und 13.2.1936, FFA, Kladden III. ""Protokoll der Vertrauensratssitzung v. 9.4., 18.4., 6.6. und 1.8.1936, FFA, Kladden ΠΙ.
Entwicklung der einzelnen Firmen: »Lederfabrik« Carl Freudenberg
151
Jahres 1939 erhielt die Weinheimer Lederfabrik lediglich 57% des Normalbedarfs des Jahres 1933 zugeteilt, in den folgenden Jahren zwischen 16 und 18%.188 Diagramm 24: Lederproduktion der Firma Carl Freudenberg von 1933-1939 in 1000 Tonnen Sg'89
Die Mitarbeiterzahl der gesamten Firma stieg zwar stetig an, dies verdeckt jedoch die Entlassungen im Bereich der Lederproduktion und die Mitarbeiterverlegung vom Leder- zum Nichtlederbereich. In den neuen Abteilungen der Kunststoffproduktion wurden ab 1933 laufend mehr Personen beschäftigt, während im Lederbereich noch bis 1938 Entlassungen vorgenommen wurden. Erst die mit Beginn des Krieges zunehmenden Einberufungen von Lederarbeitern der Firma Freudenberg änderten die Situation. Nun kam es langsam zu einem Arbeitermangel. Im Nichtlederbereich machte er sich schon früher bemerkbar, so daß Freudenberg trotz ideologischer Vorbehalte Frauen einstellte.190 Deutlich wird die schlechte Auftragslage in der Lederfabrik Freudenberg beim Vergleich der wöchentlichen Arbeitszeit von Lederarbeitern und Arbeitern der neuen Abteilungen. Während im Simmerwerk, der Marena-Abteilung und im Naturinwerk seit deren Bestehen nie unter 42, oft jedoch über 48 Stunden gearbeitet wurde, mußten zahlreiche Lederarbeiter bis 1938 kurzarbeiten.
'"Damit lag die Zuteilungsquote bei Freudenberg deutlich über dem Durchschnitt der württembergischen Unterlederfirmen. Die Ursache war jedoch nicht eine bevorzugte Behandlung der Firma Freudenberg, sondern ein verhältnismäßig niedriger Normalbedarf im Vergleich zu den Unterlederfirmen. (Vgl. Rohhäuteversorgung der Jahre 1939-1944, BÄK R VI Bii 28-30.) 189 Zahlen aus Bilanzbücher, FFA. 190 Protokoll der Vertrauensratssitzung v. 31.10.1938, FFA, Kladden III.
152
ΠΙ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
Diagramm 25: Beschäftigte der Firma Carl Freudenberg ab 1936191
1936
1937
1938
1939
1940
1943
1944
1945
Im schlechtesten Jahr 1936 sank die wöchentliche Arbeitszeit für 1000 Lederarbeiter auf nur 24 Stunden, 500 waren sogar nur 12 Stunden pro Woche zu beschäftigen. Diagramm 26: Wöchentliche Arbeitszeit der Freudenbergbeschäftigten im Leder- bzw.Nichtlederbereich ab 1933 in Std.192
Der Export von Leder der Weinheimer Lederfirma war - so Richard Freudenberg - »wegen der [...] Greuelhetze gegen Deutschland«193 seit 1933 rückläufig. Diese Probleme beim Export waren - so Freudenberg weiter - jedoch Angaben aus verschiedenen Unterlagen, FFA. Festzuhalten ist, daß über manche Jahre keine Angaben, über manche Jahre unterschiedliche oder unwahrscheinliche Angaben vorliegen. So wird die Zahl der Mitarbeiter für 1942 mit 2650 angegeben, was offensichtlich falsch ist. Möglicherweise bezeichnet diese Angabe nur die deutschen Mitarbeiter. Zählt man zu dieser Zahl noch die ca. 1800 Zwangsarbeiter hinzu, so wäre die Angabe mit ca. 4400 Mitarbeitern wahrscheinlicher. Da dies jedoch auf Spekulationen beruht, werden die Jahre 1941, für keine Angaben vorliegen, und 1942 in diesem Diagramm nicht erwähnt. 192 Vgl. Protokolle des Betriebsrats und des Vertrauensrats aus den Jahren 1933 bis 1941, FFA, Kladden II u. ΠΙ. '"Protokoll der Sitzung des ArbeiterTates der Firma Carl Freudenberg v. 18.8.1933, AGL 4.12.
Entwicklung der einzelnen Firmen: »Lederfabrik« Carl Freudenberg
153
nicht nur auf die Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten zurückzuführen,194 sie bestanden schon vor 1933. Die Autarkiebestrebungen der Nationalsozialisten verstärkten hier nur einen Trend. Anfang 1934 ging der Lederexport bei Freudenberg um 15% zurück, und auch nach Einsetzen des »Neuen Plans« 1935 betrug er lediglich 38% der Gesamtlederproduktion.195 Görings Bemühungen um die Exportföderung im Rahmen des Vierjahresplans machten sich bei der Firma Freudenberg nicht bemerkbar, im Gegenteil, der Exportanteil reduzierte sich bis 1937 weiter auf etwa 6% der Lederproduktion. In den Jahren 1938 und 1939 erhöhte er sich wieder leicht, ohne jedoch die Werte der Vorjahre zu erreichen. Diagramm 27: Lieferung von Leder der Firma Carl Freudenberg in das Inbzw. Ausland ab 1936 in 1000 t Sg196
Die Firma nützte die Möglichkeit der Rüstungsproduktion, um die weitere Erzeugung von Leder sicherzustellen.197 Inwieweit das bei Freudenberg produzierte Schuh- oder Handschuhleder für die Wehrmacht verwendet wurde, läßt sich aufgrund der vorliegenden Akten nicht feststellen. Die Firma Freudenberg bemühte sich jedoch intensiv im Bereich der direkt sichtbaren Rüstungsgüterproduktion um Wehrmachtsaufträge, zum Beispiel 1939 um die Herstellung von Tornistern aus Kalbfell.198 Dazu ließ die Firma Kalbfell-Proben in der Deutschen Versuchsanstalt und Fachschule für Lederindustrie in Freiberg/Sachsen untersuchen, die zusagte, daß »die Untersuchungsergebnisse an das Wehrl94
Freudenberg auf der Betriebsratsversammlung am 4.4.1937, AGL, 4.12. Mitverantwortlich für den Rückgang des Exports bei Freudenberg war auch die Tatsache, daß das von Freudenberg in großer Menge exportierte Lackleder aus der Mode kam. (Vgl. Betriebsratsprotokoll v. 20.1.1934, FFA, Kladden Π.) 195 Vgl. Betriebsratsprotokoll v. 20.1.1934, FFA, Kladden Π und Protokoll der Vertrauenssratssitzung v. 12.3.1935, FFA, Kladden ΠΙ. 196 Zahlen aus Bilanzbücher, FFA. " 7 Vgl. die Bemühungen der Firma Freudenberg, Anfang 1938 einige der 500.000 spanischen Lammfelle abzubekommen, welche im Hafen von Hamburg lagen. (FFA 3/00893.) l98 Vgl. Schriftwechsel mit der Deutschen Versuchsanstalt und Fachschule für Lederindustrie, Freiberg/Sachsen, FFA 3/00893. .
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ΙΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
machts-Beschaffungsamt - Bekleidung und Ausrüstung - [...] weitergeleitet [werden], das [...] über die Abnahme bzw. Verwerfung entscheidet.«199 Das Beschaffungsamt wählte das Produkt der Firma Freudenberg aus, die dieses ab 1940 im Produktionsprogramm hatte.200 Mit zunehmender Relevanz der Ersatzstoffproduktion verlor die eigentliche »Lederfabrik« Freudenberg immer mehr an Bedeutung. Während für die Ersatzstoffproduktion steigende Umsätze und Mitarbeiterzahlen zu vermelden waren, sank der Umsatz im Lederbereich zunehmend. Betrug der Anteil des Leders am Gesamtumsatz der Firma 1939 noch über 80%, so war er bis 1944 auf lediglich 30% gesunken.201 Im Verlaufe des Krieges wurde die Lederproduktion mehr und mehr reduziert. So verarbeitete das Fahllederwerk der Firma in Schönau/Baden nach 1939 nur noch 20.000 kg Leder monatlich, die Normalkapazität lag bei 50.000 kg.202 Die Lederfabrik in Weinheim erreichte während des Krieges lediglich eine Auslastung von 20-25%.203 Die Betriebs- und Vertrauensratsprotokolle meldeten laufend »weniger Einarbeitung«. 3.2. Die Entwicklung der Schuhfirmen Südwestdeutschlands Die »gesteigerte Kapazitätsauslastung in der Schuhindustrie«204 nach 1933 wirkte sich - anders als in der Pfälzer Schuhindustrie205 - auf die süddeutschen Schuhfirmen zunächst sehr günstig aus. Das machte sich nach anfänglicher Zurückhaltung, »die mit der Politik zusammenhängt«,206 auch bei die Firma Salamander positiv bemerkbar. Noch 1933 war der Geschäftsgang lediglich als »befriedigend« beschrieben worden, der Umsatz ging mengenmäßig um 12% zurück. Dafür war die schlechte Auftragslage zu Beginn des Jahres 1933 verantwortlich. Ab April 1933 war das Geschäft für Salamander »lebhaft«. So konnte im Mai ein Reingewinn für das Geschäftsjahr 1932/33 von über 3,7 Mill. RM verbucht und eine Dividende von 7% ausgeschüttet werden.207 Die Jahre 1934 bis 1936 verliefen noch günstiger. In den Geschäftsberichten ist von hohen Produktions- und Umsatzsteigerungen die Rede.208 Von 1933 bis 1934 '"Deutsche Versuchsanstalt und Fachschule für Lederindustrie, Freiberg/Sachsen an die Firma Carl Freudenberg v. 12.12.1939, FFA 3/00893. ^ V g l . Bücher der Durchschnittserlöse von 1940ff., FFA. 201 Vgl. Bücher der Durchschnittserlöse, FFA. 202 Misc. No. 2 »An Investigation of the German Leather Industry« App. No. 8, ALM. 203 Final Report No. 150. ITEM No. 22. »Some Aspects of the German Leather Industry«, S. 97, ALM. 204 NS-Kurier v. 23.7.1934. 205 In der Pfälzer Schuhindustrie waren 1936 nur die wenigsten Firmen voll beschäftigt. Von den 27.000 Schuharbeitem im Arbeitsamtsbezirk Pirmasens waren 16.000 arbeitslos, die restlichen arbeiteten kurz. (Vgl. Deutschland-Berichte Jg. 3 (1936) Nr. 3 v. März, S. 335.) ^ B e r i c h t des Vorstands v. 29.5.1933, WABW Y 110. Hier sind die Boykotte der SalamanderFilialen durch die SA gemeint. Vgl. Kap. IV. 1.4. dieser Arbeit. ""NS-Kurier v. 22.6.1933. Mengenmäßig stieg der Umsatz bei Salamander jedoch um 3,5%. (Vgl. Bericht des Vorstands v. 29.5.1933, WABW Y 110.) 208 Vgl. Geschäftsberichte des Vorstands v. 29.3.1933, 2.4.1935, 5.4.1937, 2.4.1938 und 18.3.1939, WABW Y 110. Bericht zur Bilanz v. 5.4.1937, BAP 31.18 Bü 861. NS-Kurier v. 22.6.1933, 30.4.1935 und 28.4 1937.
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Die Entwicklung der einzelnen Firmen
berichtete der Vorstand von einer mengenmäßigen Umsatzsteigerung von 7,5% und einem wertmäßigen Zuwachs von 4,5 %.209 Die Produktion von Schuhen erhöhte sich von 1933 bis 1935 um fast 1 Mill. Paar, von 4,4 Mill, auf 5,39 Mill. Paar. Von 1935 bis 1938 nahm die Schuhproduktion abermals um 600.000 Paar auf über 5,9 Mill. Paar zu.210 Der Gesamtumsatz stieg von 1935 bis 1937 von 67,5 Mill. RM auf fast 80 Mill. RM. 211 Die Mitarbeiterzahl wuchs in den Jahren 1933 bis 1936 um etwa 1300 auf über 7000. Ein ähnlicher Anstieg ist bei den Gewinnen zu beobachten, sie betrugen in diesen Jahren etwa 4,7 Mill. RM. Diagramm 28: Gewinnentwicklung der Firma Salamander ab 1932 in Mill. RM 212
Diagramm 29: Beschäftigte der Firma Salamander ab 19322'3
8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000
0 1932 1933 1934 1935 1936 1937
1938
Ein wesentlicher Grund für das positive Geschäftsergebnis bei Salamander war, so die Berichte der Sopade, die Umstellung auf die Kriegsproduktion, also auf Schuhwerk für die Wehrmacht und für Gliederungen der NSDAP. 214 Die hohen Gewinne versetzten die Firma nach 1933 in die Lage, weitere Um- und Neubauten der Firma vorzunehmen. Ab 1933 wurde das Fabrikgebäude den wachsenden Raumbedürfnissen durch weitere Neueinstellungen angepaßt und erweitert.215 Im selben Jahr wurden neue Geschäftshäuser in Königsberg und in ^ N S - K u r i e r v. 4.5.1934. 2 l 0 S t u r m , Geschichte der Salamander A G , NS-Kurier v. 4.10.1938, Bericht zur Aktieneinführung, B A P 31.18 B ü 861 und Zusammenstellung v. 1.4.1946, W A B W Y 110. 211 NS-Kurier v. 4.10.1938 und Bericht zur Aktieneinführung, B A P 31.18 B ü 861. 2 l 2 Zahlen aus Geschäftsberichte des Vorstands v. 29.3.1933, 2.4.1935, 5.4.1937, 2.4.1938 und 18.3.1939, NS-Kurier v. 22.6.1933, 30.4.1935 und 28.4 1937. Diverse Unterlagen, W A B W Y 110 und Beschluß des Reichswirtschaftsgerichts v. 5.9.1941, B Ä K R 123 B ü 187, 3. Seil. X L (1940). 2 , 3 Zahlen aus Sturm, Geschichte der Salamander A G . ""Deutschland-Berichte J g . 1 (1934) Nr. 8 v. Nov ./Dez., S . 794. 2 , 5 V g l . Sturm, Geschichte der Salamander A G , S . 85 und Berichte des Vorstands v. 29.5.1933 und 5.4.1937, W A B W Y 110.
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ΠΙ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
Essen gekauft, 1936 in Frankfurt/Main, Krefeld und Ludwigshafen. 1937 erwarb die Firma sieben weitere Geschäftshäuser, ein Jahr später abermals vier.2'6 Ab 1936 stagnierte jedoch der Aufschwung bei Salamander, der Rohstoffmangel machte sich bemerkbar. Die Firma mußte deshalb 1936 sogar Kurzarbeit anmelden.217 Auch die Schuhfirma Spiess GmbH in Stuttgart verzeichnete nach 1933 positive Ergebnisse. Hatte die allgemeine Krise der Schuhindustrie bis 1932 die Firma noch schwer getroffen - sie schrieb 1932 Verluste in Höhe von 41.000 RM und hatte gegenüber ihrem erfolgreichsten Jahr 1928 die Anzahl ihrer Beschäftigten um über 100 reduziert - , so stieg 1933 die Menge der produzierten Schuhe erstmals seit Jahren wieder. 50 neue Mitarbeiter konnten eingestellt werden. Noch waren jedoch Verluste zu verbuchen. Erst 1934 wurden die Ergebnisse des Jahres 1928 in allen Bereichen übertroffen, »das Unternehmen konnte an der allgemeinen Wirtschaftsbelebung voll teilnehmen.«218 Die Firma Spiess erhöhte die Schuhproduktion und somit auch den Umsatz beträchtlich. Stellte die Firma 1932 111.000 Paar Schuhe her, hatte sich diese Zahl bis 1938 auf 278.000 Paar mehr als verdoppelt. Ebenso entwickelte sich der Umsatz von 1932 mit 1,5 Mill. RM bis 1938 auf 3,2 Mill. RM. Diagramm 30: Gewinnentwicklung der Firma Spiess ab 1932 in 1000 RM
Diagramm 31: Beschäftigte der Firma Spiess ab 1932
Im Unterschied zu den oben beschriebenen Schuhfirmen verlief die Entwicklung der Vereinigten Schuhfabriken Bemeis-Wessels AG, Nürnberg, (ab 1936 Vereinigte Fränkische Schuhfabriken) nach 1933 nicht uneingeschränkt positiv. 216
Neue Geschäftshäuser 1937: Berlin, Hamburg, Köln, München, Plauen und zwei in Wuppertal; 1938: Dortmund, Hannover, Stettin und Wien. (Vgl. Geschäftsberichte des Vorstands v. 2.4.1937 und 18.3.1939, WABW Y 110 und Bericht zur Bilanz 1937, BAP 31.18 Bü 861.) 217 Gert v. Klass: Salamander. Die Geschichte einer Marke, Wiesbaden o.J., S. 108. 2l8 Rieger-Gutachten (Kaess 1), Bestand Kaess. Folgende Zahlen und Zahlen folgender Diagramme ebd.
Die Entwicklung der einzelnen Finnen
157
Bei Berneis-Wessels wurden große Produktionssteigerungen erst ab 1936 erreicht. In diesem Jahr verzeichnete die Firma auch erstmals keine Verluste mehr. 1936 wurden zum erstenmal seit 1932 in großem Umfang Mitarbeiter eingestellt. Die Mitarbeiterzahl erhöhte sich von 1450 auf fast 1900, und in diesem Jahr stieg der Umsatz um 3 Mill. RM an, von 7,4 Mill. RM im Jahr 1935 auf 10,4 Mill. RM im Jahr 1936. Diagramm 32: Gewinnentwicklung der Firma BerneisWessels ab 1932 in 1000 RM
Diagramm 33: Schuhproduktion der Firma Berneis-Wessels ab 1932 in 1000 Paar
Ob die im Vergleich zu den anderen Schuhfirmen verspätete Produktionssteigerung mit dem Ausscheiden der jüdischen Teilhaber im Jahr 1936 zusammenhängt, läßt sich nicht beweisen. Auffallend bleibt jedoch die Tatsache des Zuwachses in allen Bereichen ab diesem Jahr. Ab 1936 machte sich in den größeren deutschen Schuhfirmen der Ledermangel deutlich bemerkbar, der kleine Schuhfabriken schon seit 1934 betraf.219 So kam es bei der Firma Salamander trotz der leichten Produktionsausweitung zu Lieferschwierigkeiten.220 Die Firma konnte »die Nachfrage nach unseren Erzeugnissen [...] nicht immer voll befriedigen, namentlich als seit September erhebliche Vorratskäufe des Publikums zu verzeichnen waren.«221 Die Lieferprobleme begründete sie mit dem erheblichen »Rohstoffmangel«, der 1936 zwar noch nicht die Fabrikation in dem Maße ergriffen hatte, daß die Produk219
Vgl. Deutschland-Berichte 1. Jg. (1934) Nr. 5 v. AugVSept., S. 411, Jg. 2 (1935) Nr. 1 v. Jan., S. 32, Nr. 12 v. Dez., S. 1419 und 3. Jg. (1936) Nr. 3 v. März, S. 338. 220 Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 85. 221 Bericht des Vorstands v. 5.4.1937, WABW Y 110. Folgendes Zitat ebd. Vgl. dazu auch Deutschland-Berichte Jg. 3 (1936) Nr. 11 v. Nov., S.1427. Vgl. Beispiele anderer Firmen ebd., Nr. 9 v. Sept., S. 1121.
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ΓΠ. Die Schuh- und Lederindustrie während des Nationalsozialismus
tionszahlen zurückgingen, der sich »aber in einem erheblichen Zusammenschrumpfen der Bestände, insbesondere an Bodenleder ausfwirkte].« Standen doch für den Zivilschuhbedarf 1937 nur 45-50% des tatsächlich benötigten Bodenleders zur Verfügung.222 Ähnliche Konsequenzen wie bei Salamander hatte der Rohstoffmangel bei der Schuhfirma Berneis-Wessels. Die Firma beklagte sich bei der Fachgruppe Hausschuhindustrie, daß sie trotz zahlreicher Anfragen keine Rohstoffe zugeteilt bekommen habe.223 Daher stagnierte auch bei dieser Firma die Schuhproduktion ab 1936. Der Schuhfirma Spiess gelang es dagegen, ihre Schuhproduktion nach 1936 noch erheblich auszuweiten. Diagramm 34: Schuhproduktion der Firmen Salamander, Spiess und BerneisWessels ab 1932 in% (1933 - 100)224
Bei der Firma Salamander konnte, wie bei anderen süddeutschen Schuhfirmen auch, im Jahr 1936 »wegen der Rohstoffknappheit nicht voll gearbeitet werden.«225 Die Rohstoffsorgen der Firma verschlimmerten sich 1937. Auch in diesem Jahr mußte zeitweise kurzgearbeitet werden.226 Der Rohstoffmangel führte bisweilen dazu, daß die Abnehmer der Gerbereien anstatt der bestellten Ledersorten andere vorrätige, jedoch nicht bestellte erhielten.227 Obwohl die 222
Vgl. Aufzeichnungen aus dem Jahr 1937, BAP 31.07 Bü 15 . Bemeis-Wessels v. 18.10.1937 an die Fachgruppe Hausschuhindustrie, BAP 31.07 Bü 14. Zahlen aus AGL, 4.3, Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 157, div. Unterlagen, WABW Y 110, Beschluß des Reichswirtschaftsgerichts v. 5.9.1941, BÄK R 123 Bü 187, 3. Sen. XL (1940) und Rieger-Gutachten (Kaess 1), Bestand Kaess. ^ B e r i c h t des Vorstands v. 5.4.1937, WABW Y 110, Bericht zur Bilanz 1936 v. 5.4.1937, BAP 31.18 Bü 861 und Deutschland-Berichte Jg. 3 (1936) Nr. 6 v. Juni, S. 704f„ Nr. 9 v. Sept., S. 1121, Jg. 4 (1937) Nr. 1 v. Jan., S. 68f und Nr. 7 v. Juli, S. 988. Vgl. auch Klass, Salamander, S. 108. 226 Vgl. Sturm, Geschichte der Salamander AG, S. 85, 227 Vgl. Firma C.F. Roser an Paul Bantlin v. 31.8.1939, WABW Y 11. Hier teilt die Gerberei ihrem Lederabnehmer mit: »Leider fallen z.Zt. keine 4 mm starken Kernstücke an. Wir haben Ihnen deshalb 4 1/2 mm starke Kernstücke zugeteilt.«
223
22