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German Pages 252 [261] Year 2023
Sabaica et Æthiopica 1
MIGRATION UND KULTURTRANSFER Zur kulturellen Interaktion im Vorderen Orient und Nordostafrika im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. HERAUSGEGEBEN VON NORBERT NEBES UND IRIS GERLACH
Harrassowitz Verlag © 2023, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-12029-6 - ISBN E-Book: 978-3-447-39391-1
Migration und Kulturtransfer
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Sabaica et Æthiopica Schriften der Forschungsstelle Antikes Südarabien und Nordostafrika an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Herausgegeben von Norbert Nebes und Peter Stein Beratendes Herausgebergremium: Mikhail Bukharin (Moskau), Iris Gerlach (Berlin), Giovanni Mazzini (Pisa) und Wolbert G.C. Smidt (Jena)
Band 1
2023
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
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Migration und Kulturtransfer Zur kulturellen Interaktion im Vorderen Orient und Nordostafrika im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr.
Herausgegeben von Norbert Nebes und Iris Gerlach
2023 Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
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Umschlagabbildung: Detail eines Weihrauchaltars aus dem Almaqah-Tempel von Sirwah mit den Symbolen Sichel und Scheibe. DAI, Orient-Abteilung, Iris Gerlach. Typographie: Tobias Gerbothe, Friedrich-Schiller-Universität Jena Schrift: Libertinus Serif, 10 pt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at http://dnb.de
Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter http://www.harrassowitz-verlag.de © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: docupoint, Magdeburg Printed in Germany ISSN 2940-4398 ISBN 978-3-447-12029-6 e ISSN 2940-4401 eISBN 978-3-447-39391-1
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Inhaltsverzeichnis
Norbert Nebes und Iris Gerlach Vorwort der Herausgeber
Peter Funke Die griechische Poliswelt und ihre Nachbarn in Nordwestgriechenland
VII
1
Iris Gerlach Zur Migration sabäischer Bevölkerungsgruppen zum nördlichen Horn von Afrika. Interaktionsprozesse und Kulturwandel
15
Felix Hagemeyer „Sie kamen, sahen, siegten …?“ Die Migration der Philister und die Herausbildung ihrer Kultur in der frühen Eisenzeit
45
Ingo Kottsieper Die Aramaisierung des Vorderen Orients Migration oder Infiltration?
77
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VI Christian Marek Der Vordere Orient und griechische Migrationen
115
Norbert Nebes Die Sabäer in Äthiopien und die Minäer in Nordwestarabien/Dedan. Zur Aussagekraft der epigraphischen Zeugnisse
135
Jacob J. de Ridder An early period of international trade: cultural interaction between Anatolians and Old Assyrian merchants
161
Wolbert G.C. Smidt Muster von Migrationen in historischen und kulturellen Überlieferungen der äthiopischen Region – eine ethnohistorische Diskussion
177
Cornelia Wunsch Judäer und die babylonische Rechtstradition
229
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Vorwort der Herausgeber Bei den Beiträgen des vorliegenden Bandes handelt es um die überarbeiteten Vorträge des im September 2019 an Friedrich-Schiller-Universität (FSU) Jena gehaltenen Symposions „Migration und Kulturtransfer in den Kulturen des Vorderen Orients in der Antike“. Hintergrund der Veranstaltung bildete das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Langfristvorhaben „Kulturelle Kontakte zwischen Südarabien und Äthiopien: Rekonstruktion des antiken Kulturraums von Yeha/Tigray (Äthiopien)“. Dieses gemeinsam von der Außenstelle Sanaa der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts und der Forschungsstelle Antikes Südarabien und Nordostafrika der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) Jena durchgeführte Projekt untersucht die vielfältigen Interaktionsprozesse zwischen den im frühen 1. Jahrtausend v. Chr. aus dem sabäischen Kernland in das äthiopische Hochland eingewanderten Sabäern und der ansässigen Bevölkerung. Die Diskussion über Migration und den durch sie ausgelösten Kulturwandel hat sich auch in den historischen Orientwissenschaften in den letzten Jahrzehnten, gerade was den Schwerpunkt der Fragestellungen betrifft, stark verändert. Waren vordem Migration und Kulturtransfer stark von der Idee der Dominanz geprägt, die nach Maßgabe der schriftlichen Quellen oft mit kriegerischen Mitteln durchgesetzt wurden, so sind doch immer mehr die vielfältigen Formen der Interaktion mit der lokalen Bevölkerung in den Blickpunkt gerückt. Dies ist zum einen einer angewachsenen Materialfülle, zum anderen aber vor allem neuen methodischen Ansätzen geschuldet, die neue Erklärungsmöglichkeiten für Interaktion von Gesellschaften auch unter Einschluß wechselnder gegenseitiger Beeinflussung eröffnen. Die hier versammelten Aufsätze nähern sich anhand ausgewählter Beispiele dieser Thematik aus verschiedenen Perspektiven, die sich wiederum aus den unterschiedlichen regionalen Zusammenhängen ergeben. Sie stammen in ihrer Mehrzahl aus altertumswissenschaftlichen Disziplinen mit starker Präferenz epigraphischer und archäologischer Herangehensweisen.
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VIII
Norbert Nebes und Iris Gerlach
Neben der sabäischen Einwanderung zum nördlichen Horn von Afrika werden innerhalb des altorientalischen Themenspektrums die assyrische Handelskolonie Karum Kaneš in Anatolien, das erste Auftreten von aramäischen Gruppen und deren Integration in regionale vorderasiatische Gesellschaften, die Immigration von Personenverbänden nach Südpalästina und die „Philisterfrage“ sowie die in babylonischer Tradition stehenden Rechtsurkunden von nach Babylonien deportierten Judäern behandelt. Von althistorischer Seite werden u. a. Ausmaß und Motivationen der griechischen Kolonisation vorgestellt, die nach dem Alexanderzug eine neue Dimension erreicht hat, sowie der Kulturtransfer zwischen Poliswelt und den überwiegend tribal strukturierten Regionen Mittel- und Nordwestgriechenlands thematisiert. Einen neuen Ansatz bietet ein ethno-historischer Beitrag, in dem aufgrund einer dichten Quellenlage mündlicher Traditionen und diese ergänzenden schriftlichen Überlieferungen eine Vielfalt von Modellen vorgestellt wird, mit denen sich vor-moderne Migrationen im nördlichen Horn von Afrika beschreiben lassen. Großen Dank schulden die Herausgeber Tobias Gerbothe, Jena, der die Manuskripte für den Druck eingerichtet hat, und Hanna Hamel, Berlin, die diese einer gründlichen Endkorrektur unterzogen hat, und nicht zuletzt Wolbert Smidt, Jena, von dessen themenbezogener Sachkenntnis der Herausgeber ungemein profitiert hat. Mit diesem Band wird die Reihe „Sabaica et Æthiopica. Schriften der Forschungsstelle Antikes Südarabien und Nordostafrika an der Friedrich-Schiller-Universität Jena“ eröffnet, die der epigraphischen, archäologischen und ethno-historischen Erforschung dieser Regionen gewidmet ist. Norbert Nebes
Iris Gerlach
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Die griechische Poliswelt und ihre Nachbarn in Nordwestgriechenland Peter Funke, Münster
Mit den folgenden Ausführungen wird der Blick auf eine Region gerichtet, die sehr fern von dem eigentlichen geographischen Raum liegt, der im Blickpunkt dieses Kolloquiumsbandes steht. Mit dieser ganz bewusst gesuchten räumlichen Distanz sollen ein Beitrag zu einer gewissen Ausweitung der zentralen Fragestellung geleistet und aus einer griechischen Perspektive heraus optionale Deutungsmuster für die avisierten Themenfelder vorgestellt werden. Allerdings wird die Frage von Migration nur bedingt eine Rolle spielen; im Zentrum steht vor allem der Kulturtransfer zwischen der Poliswelt und den weitestgehend tribal strukturierten Regionen in Mittel- und Nordwestgriechenland. Es geht vor allem um Kulturkontakte und (auch wechselseitigen) Kulturaustausch. Die Grenzräume zwischen der Poliswelt und der Welt der éthne (Stammesstaaten) werden als Kontaktzone betrachtet, in der sich ganz unterschiedliche Transferprozesse beobachten lassen, von denen zwei exemplarisch herausgegriffen werden, um vor allem auch die Dialektik des Transfers und die situativ bedingten Wechselbeziehungen zwischen den Akteuren erkennbar werden zu lassen. Der Fokus wird einerseits auf einen institutionellen Wandel (Föderalisierung) und andererseits auf einen urbanen Wandel (Urbanisierung) gerichtet.1 Die im Titel des Beitrages zum Ausdruck gebrachte Gegenüberstellung von griechischer Poliswelt und deren nordwestgriechischen Nachbarregionen impliziert differente Kulturräume, deren Distinktiv aber zunächst noch zu bestimmen ist, zumal hier nicht von einem Gegensatz von Griechen und Nicht-Griechen oder Hellenen und Barbaren die Rede ist, sondern Kulturräume in den Blick genommen werden 1
Die folgenden Ausführungen beruhen auf einer überarbeiteten Fassung eines Vortrages, den ich im Rahmen des internationalen Humboldt-Kollegs „Contact Zones of Europe from the the 3rd mill. BC to the 1st mill. AD“ im September 2017 in Moskau gehalten habe. Die Vortragsform ist weitestgehend beibehalten. Die bibliographischen Hinweise bleiben auf einige wenige, weiterführende Literaturhinweise beschränkt.
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Peter Funke
sollen, die unter einer ethnischen Perspektive durchaus aufs engste miteinander verbunden und eigentlich ununterscheidbar waren, hinsichtlich ihrer soziopolitischen Komplexität allerdings durchaus sehr stark differierten. Zunächst möchte ich daher in aller Kürze auf das Distinktiv von griechischer Poliswelt und Nicht-Poliswelt eingehen, das schon in der klassischen Antike von einer kulturräumlichen Perspektive entscheidend geprägt wurde. Bereits Herodot bediente sich des Begriffspaars póleis kai éthne (Hdt. 5.2.2; 7.8γ.3; 8.108.3), um die Gesamtheit der griechischen Welt, to hellenikón, umfassend zu beschreiben, das er – ähnlich wie dann auch Aristoteles (Aristot. pol. 1327b20–33) – inmitten zwischen Asien und Europa als eine eigene Entität verortete (Hdt. 1.4.4).2 Als gesamtgriechisches Merkmal dieses hellenikón galten für Herodot gleiches Blut, eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Heiligtümer und Opfer (Hdt. 8.144.2).3 Eine ganz wesentliche Differenz innerhalb des hellenikón sah Herodot allerdings in den unterschiedlichen politischen Organisationsstrukturen. Dabei zielte er nicht auf die verschiedenen Verfassungsformen der póleis, sondern auf die Gegensätzlichkeit von póleis einerseits und éthne, den Stammstaaten, andererseits. Hier taten sich im wahrsten Sinne des Wortes Welten auf, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Eine solche Differenzierung war keineswegs ein bloßes Konstrukt herodoteischer Denkweise, sondern prägte nachhaltig die alltägliche Wahrnehmung der antiken Griechen. Mit der Herausbildung der pólis als neuem gesellschaftlichen und politischen Handlungsrahmen vertiefte sich schon seit archaischer Zeit die Kluft zwischen der Poliswelt und der Welt der griechischen éthne. Die Zugehörigkeit zu einer pólis wurde zunehmend zum Erweis „echter“ Hellenizität. Die neue Poliswelt konstituierte sich – bei aller Verschiedenartigkeit – als eine panhellenische Welt und grenzte sich als solche gegenüber den „anderen Griechen“ immer deutlicher ab.4 So waren es vornehmlich die „Polisgriechen“, denen der Zugang zu den großen panhellenischen Spielen vorbehalten blieb, während die Teilnahme an den gemeinsamen Kulten und Festen, den ta hierá ta koiná, in der Regel für alle möglich war. Grundsätzlich lässt sich diese Kluft zwischen póleis und éthne an allen – nicht nur den äußeren, sondern auch den inneren – Randzonen der Poliswelt im griechischen Mutterland beobachten, besonders augenfällig aber in Mittel- und Nordwestgriechenland. 2 3 4
Siehe dazu B. Manuwald (2015). Siehe dazu R. Parker (1998); D. Konstan (2001); J. Hall (2002), 189–204; L.G. Mitchell (2015); K. Zacharia (2016). J. Hall (1997); J. Hall (2002); K. Freitag (2007).
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Die griechische Poliswelt und ihre Nachbarn in Nordwestgriechenland
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Hier sind es insbesondere die Aitoler, deren Charakterisierung in den historiographischen und literarischen Quellen der klassischen und hellenistischen Zeit quasi pars pro toto für die Wahrnehmung der éthne nördlich des Korinthischen Golfes durch die „Polisgriechen“ genommen werden kann. Die Aitoler standen aufgrund ihrer machtpolitischen Stellung stärker im Fokus antiker Betrachtungen als die übrigen éthne der Region, denen aber von den „anderen“ Griechen die gleichen Eigenarten zugeschrieben wurden.5 Die ältesten Zeugnisse einer ins Negative gewendeten Charakterisierung Aitoliens und seiner Bewohner stammen aber erst aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.6 Bei den zeitlich früheren Autoren findet sich hingegen noch kein abwertendes Urteil. In den homerischen Epen ist die aitolische Küstenregion einer der zentralen Plätze des mythologischen Geschehens und die Taten aitolischer Helden erscheinen häufig in glänzendem Licht. Ganz anders im 5. Jahrhundert: In den Hippeis des Aristophanes wird den Aitolern Verschlagenheit und Beutegier unterstellt (Aristoph. Equ. 79 mit Schol. Aristoph. Equ. 79a; 79b) und Antigone bezeichnet in den Phönikerinnen des Euripides den aitolischen Königssohn Tydeus als meixobarbaros (Eur. Phoen. 138 mit Schol. Eur. Phoen. 139). In die gleiche Richtung zielt Thukydides, wenn er den aitolischen Teilstamm der Eurytanen mit der Bemerkung charakterisiert, diese sprächen eine ganz und gar unverständliche Sprache und würden sich von rohem Fleisch ernähren (Thuk. 3.94.5; vgl. auch Thuk. 1.5.3–6.2). Aufs Ganze gesehen wird man feststellen dürfen: Das Bild eines halbbarbarischen und kulturell zurückgebliebenen Volkes entsprach ganz offensichtlich der damals geläufigen Vorstellung eines Polisgriechen über die Stammesstaaten Mittel- und Nordwestgriechenlands. Die wachsende sozio-kulturelle und sozio-politische Kluft zwischen den Polisstaaten und den alten Stammesstaaten dürfte die Ursache für diese zunehmend pejorative Einschätzung gewesen sein. Hier hatten sich im Verlaufe der Zeit Urteile – oder besser gesagt: Vorurteile – herausgebildet, die dann auch noch unter den gänzlich veränderten Bedingungen der hellenistischen Zeit Wirkungen zeitigen konnten. Ich möchte hier nicht näher auf das reiche Repertoire der Anwürfe eingehen, mit denen z. B. Polybios in seinem Werk die Aitoler immer wieder belegt. Angeborene Habsucht und Ungerechtigkeit, ungezügeltes Wüten und unermessli5 6
Vgl. zur Geschichte der Aitoler mit der weiterführenden Literatur: C. Antonetti (1990); J.D. Grainger (1999); J.B. Scholten (2000); P. Funke (2015); Ch. Lasagni (2019). Vgl. zum Folgenden auch P. Funke (1991a); P. Funke (1991b); C. Antonetti (1991); P. Funke (2010); J. Rzepka (2013).
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che Beutegier sind dabei stets wiederkehrende Versatzstücke, aus denen in vielfältigen Variationen die polybianischen Charakterskizzen der Aitoler zusammengesetzt sind.7 Bezeichnend sind die Auslassungen, mit denen der Stratege Aristainos im Jahre 195 v. Chr. den Flamininus vor dem „aitolischen Räuberpack“ (latrones Aetoli) warnte: „Nur der Sprache nach sind sie Griechen wie dem Aussehen nach Menschen; sie haben wildere Sitten und Gebräuche als die Barbaren, ja selbst als die wilden Tiere“ (Liv. [Polyb.] 34.24.3–4). Es ist ein tiefer Zwiespalt, der die Wahrnehmung Nordwestgriechenlands in der Antike kennzeichnete und der sich entsprechend auch in den Quellen widerspiegelt: Einerseits wurde der Nordwesten schon sehr früh als fester Bestandteil einer griechischen Oikumene angesehen. So gehörte im Bewusstsein der Griechen auch der Nordwesten mit dem Heiligtum von Dodona zur eigenen Hemisphäre.8 Andererseits – und das machte den Zwiespalt aus – waren die Bewohner Nordwestgriechenlands in den Augen eines „klassischen“ Polisbürgers Halbbarbaren (meixobarbaroi), denen daher nur bedingt eine Zugehörigkeit zur panhellenischen Gemeinschaft zugestanden wurde. Die Wahrnehmung Nordwestgriechenlands blieb in der Antike ambivalent. Das Eingeständnis einer Zugehörigkeit zur griechischen Oikoumene einerseits und der Vorwurf des Halbbarbarentums andererseits standen in einer permanenten Spannung und prägten den Blick auf diese Region. Die Wahrnehmung der Stammesstaaten war aber nicht nur durch den Blick auf die Sitten und Gebräuche bestimmt, sondern noch weitaus mehr durch die in Mittel- und Nordwestgriechenland vorherrschende Siedlungsweise und die stammesstaatlichen Strukturen der politischen Ordnung der éthne. Das Leben in Streusiedlungen – katá kómas oder komedón wie es in den Quellen heißt (z. B. Thuk. 3.94.4; Ps.-Skylax 30–32) – dürfte den Polisbürgern ebenso atavistisch und überkommen erschienen sein wie die tradierten tribalen Institutionen politischer Entscheidungsfindung. Diese Diskrepanzen sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Poliswelt und die Welt der éthne gleichwohl stets in einem engen Kontakt und Austausch standen, deren Funktionieren sich durch die an den neueren Konzepten von Kontaktzonen und deren Wirkungsweisen orientierten Deutungsmuster besser beschreiben und verstehen lassen. In Fortführung des von Mary Louise Pratt entwickelten Konzepts von Kontaktzonen9 hat Christoph Ulf ein Erklärungsmodell entworfenen, das 7 8 9
Vgl. dazu die in Anm. 5 genannten Beiträge. N. Moustakis (2006); P. Funke (2014); J. Piccinini (2017); P. Funke (2023). M.L. Pratt (2008).
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mir nicht nur besonders geeignet erscheint, die Transferprozesse innerhalb des hellenikón zwischen póleis und éthne zu analysieren, sondern das sich auch auf andere historische Konstellationen in anderen Räumen und Zeiten als Deutungsinstrument Anwendung finden kann. Die von Ulf geforderte stärkere Einbettung der an den Prozessen beteiligten Akteure und die Verlagerung der Perspektive der Produzenten zu der der Rezipienten erleichtert die Beschreibung und Bestimmung der situativen Rahmenbedingungen der Austauschbeziehungen, die häufig außer Betracht bleiben.10 Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden aus der Vielzahl der Transferobjekte aus der Kontaktzone von Poliswelt und Welt der éthne zwei Entwicklungsprozesse exemplarisch herausgreifen, an denen vor allem auch die mögliche Dialektik der Transfers und die situativ bedingten Wechselbeziehungen zwischen den Akteuren erkennbar werden. Die folgenden Darlegungen werden aber nicht mehr sein als nur eine holzschnittartige Skizze, mittels derer sich aber zumindest ansatzweise die Deutungsmuster und -optionen aufzeigen lassen. Ich möchte den Blick einerseits auf einen institutionellen Wandel und andererseits auf einen urbanen Wandel in den éthne und vice versa auch in den póleis richten. Beide Prozesse sind zunächst einmal getrennt zu betrachten, auch wenn sie – zumindest bedingt – aufeinander bezogen und miteinander verknüpft waren. Darüber hinaus handelte es sich auch nicht um gleichförmige, sondern regional zu differenzierende Entwicklungen. Beginnen möchte ich mit dem Wandel der tribalen Binnenstrukturen der éthne. Schon im 5. und 4. Jh. v. Chr. begann insbesondere in den Randbereichen der griechischen Poliswelt – so vor allem in Nordwest- und Mittelgriechenland – ein tiefgreifender politischer Wandlungsprozess. Auslöser für die Veränderungen waren die machtpolitischen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit, die im Peloponnesischen Krieg kulminierten und in die auch die Regionen zunehmend mit hineingezogen wurden, die zuvor lange Zeit eher im Windschatten des Geschehens gelegen hatten. Der Zwang zu einem vermehrten politischen Engagement nach außen führte zu einer fortschreitenden Auflösung der überkommenen stammesstaatlichen Binnenstrukturen, da diese den neuen Anforderungen für ein angemessenes Agieren im zwischenstaatlichen Bereich nicht mehr gewachsen waren. Dieser Prozess der Desintegration im Inneren korrelierte mit einem wachsenden politischen Selbstbewusstsein der einzelnen Teile des jeweils auseinanderbrechenden Stammesverbandes. 10 Chr. Ulf (2009); s. auch Chr. Ulf (2020).
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Man kann in diesem Zusammenhang durchaus von einer „Politisierung“ der einzelnen Teilstämme sprechen, die in der Regel zwar auf eine Auflösung des institutionellen Gefüges der tribalen Binnenstrukturen, nicht jedoch auf eine vollständige Zersplitterung hinauslief. Es blieb trotz aller Tendenzen zur Desintegration ein Bewusstsein landsmannschaftlicher Zusammengehörigkeit bestehen. Hier bot sich der Anknüpfungspunkt, um die verschiedenen Stammesteile und Unterstämme, die sich allmählich zu eigenständigen, den póleis gleichenden politischen Entitäten verselbstständigt hatten, in einen neuen, jetzt aber auf föderalstaatlichen Prinzipien basierenden Bundesstaat zu (re)integrieren, zumal zunehmender Druck von außen einen engeren Zusammenhalt im Inneren erzwang. Die sich so neu herausbildenden föderalen Formen entwickelten dabei eine starke Bindekraft, gerade weil sie den einzelnen Gliedstaaten jeweils einen außerordentlich großen politischen Freiraum beließen. Dieses Strukturprinzip erleichterte dann auch die Aufnahme stammesfremder politischer Einheiten in einen solchen Bund, so dass das ethnische Moment, das zuvor den Zusammenhalt der Stammesstaaten entscheidend bestimmt hatte, zunehmend in den Hintergrund trat und die Zugehörigkeit zu einem Bundesstaat vornehmlich politisch begründet und rechtlich konstituiert wurde. Dieser Wandel von einer sich ethnisch definierenden Einheit hin zu einer politisch-rechtlichen Einheit eröffnete auch ganz neue Möglichkeit einer stammesstaatliche Grenzen überschreitenden Integration weiterer politischer Verbände.11 Eine Grundlage für den hier nur sehr knapp beschriebenen Wandlungsprozess war fraglos die Vorbildfunktion der Verfasstheit der griechischen póleis, deren institutionelle Ausgestaltung und politische Strukturen bei der Verselbstständigung („Politisierung“) der Subeinheiten der alten Stammesstaaten in vielfacher Weise übernommen wurden. An der Wende vom 4. zum 3. Jh. v. Chr. war der Prozess der Föderalisierung in Mittelgriechenland weitgehend zum Abschluss gekommen. Von Akarnanien im Westen bis nach Boiotien im Osten hatten sich ganz neue Staatsformen etabliert, die sich nur in einem sehr engen und unmittelbaren Kontakt mit der Poliswelt hatten entwickeln können. Es war dies aber keineswegs nur ein einseitiger Transfer. Die neuen Föderalstaaten wurden zu einem wegweisenden Modell auch für die Poliswelt, um unter den veränderten machtpolitischen Verhältnissen der hellenistischen Zeit bestehen zu können. Am Ende des 3. Jh.s v. Chr. war Athen die einzige pólis in 11 Zu diesen tiefgreifenden politischen Wandlungsprozessen: P. Funke (2018); Ch. Lasagni (2019); vgl. auch die entsprechenden Beträge in H. Beck / P. Funke (Hg.) (2015).
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ganz Griechenland, die nicht in irgendeinem der Bundesstaaten integriert war. Wir können den beschriebenen politischen Wandel also durchaus als einen dialektischen Transferprozess zwischen Poliswelt und Welt der éthne begreifen, der sich längerfristig zum Vorteil beider auszahlte. Die neuen föderalen Formen – in den éthne aus der Konfrontation mit der Poliswelt heraus entwickelt – sicherten dann auch das Überleben eben dieser póleis. Auf einen weiteren signifikanten Aspekt für Austausch und Transfer zwischen den póleis kai éthne möchte ich hier nur noch sehr kurz eingehen. Er betrifft die urbane Entwicklung in den nördlichen Randzonen der Poliswelt. Eines der auffälligsten Merkmale in dieser Region ist die planvolle, quasi aus einem Guss heraus erfolgte Anlage zahlreicher befestigter Stadtanlagen in den zuvor wenig oder gar nicht urbanisierten Gebieten des gesamten mittel- und nordwestgriechischen Raumes. Auch diese Entwicklung setzte zwar schon in spätklassischer Zeit ein, gelangte aber dann in der hellenistischen Zeit zur vollen Entfaltung. Damals kam es hier zu einer überaus bemerkenswerten Blüte des Städtebaus, die auch einherging mit der Weiterentwicklung von Techniken im Festungsbau, wie man sie aus der Poliswelt kennengelernt und übernommen hatte.12 Die Datierung dieser befestigten Stadtanlagen war lange Zeit sehr umstritten. Unter dem Eindruck der pejorativen Urteile über die nordwestgriechische Bevölkerung in den antiken Quellen wurden den éthne nicht nur die sozialen Kompetenzen zur Gründung städtischer Lebensformen, sondern auch die technischen Fertigkeiten zu derartigen Bauvorhaben für die Zeit vor dem ausgehenden 3. Jh. v. Chr. ganz einfach abgesprochen. Mittlerweile steht aber die Genese urbaner Zentren bereits seit spätklassischer Zeit außer Frage.13 Somit ergibt sich eine bemerkenswerte zeitliche Koinzidenz zwischen der Veränderung der Siedlungsstrukturen und dem politisch-institutionellen Wandel. Die Entstehung städtisch geprägter Siedlungen verlief zeitlich parallel zur Ausbildung föderalstaatlicher Binnenstrukturen, die in ganz Mittelgriechenland wiederum mit der Auflösung der komplexen Gliederung der Stammesverbände zugunsten einer Zweiteilung in Zentralgewalt und Gliedstaaten einherging. Ursachen und Folgewirkungen der politischen wie auch der urbanistischen Entwicklungen sind hier allerdings kaum zu unterscheiden. Es deutet sogar Manches daraufhin, dass es sich bei dem Erstarken der einzelnen Untereinheiten innerhalb der Stammesverbände zu ei12 N. Ceka (1990). 13 P. Funke (1987); P. Funke (1991a).
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Peter Funke
genständigen politischen Entitäten um eine Entwicklung handelte, die zunächst einmal einen primär politischen Vorgang darstellte, der mit dem Urbanisierungsprozess zwar in einen zeitlichen, aber nicht unbedingt auch in einem kausalen Zusammenhang stand. Das soll nicht heißen, dass es nicht gewisse Wechselwirkungen gegeben hat; aber es bestand eben kein zwingender dialektischer Zusammenhang. So besehen lassen sich die urbanistischen Prozesse durchaus auch als ein eigenes Phänomen kulturellen Kontaktes zwischen den póleis kai éthne begreifen. Das lässt sich noch verdeutlichen durch einen abschließenden, nur sehr kurzen Ausblick auf die vergleichbaren Entwicklungen im äußersten Nordwesten Griechenlands, in Epirus. Gerade hier zeichnet sich sehr klar ab, dass sich politischer und urbanistischer Strukturwandel durchaus in unterschiedliche Richtungen entwickeln konnten. Auch in Epirus vollzog sich ein grundlegender Wandel hin zur Entstehung eines föderalstaatlich geprägten, stammesübergreifenden Staatswesens.14 Allerdings kam es hier nicht wie in den meisten anderen griechischen Bundesstaaten zur Ausbildung einer bipolaren Aufteilung in Zentralgewalt und Gliedstaaten; vielmehr erwies sich in Epirus das Beharrungsvermögen der vielschichtigen Stammesstrukturen als so stark, dass sie auch unter den neuen föderalstaatlichen Rahmenbedingungen ein konstitutives Element blieben. Selbst noch in hellenistischer Zeit hatten Stammesgliederungen überdauert, die weitaus kleinteiliger und differenzierter waren als in den meisten anderen ehemaligen éthne.15 Der politische Handlungsrahmen innerhalb des epirotischen Bundes war daher überaus komplex und seine Vielschichtigkeit dürfte langwierige und umständliche Entscheidungsprozesse zur Folge gehabt haben. Wie diese Entscheidungsprozesse – vor allem auf den unteren lokalen Ebenen – im Detail abgelaufen sind, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis.16 Das Festhalten der einzelnen Bundesmitglieder an ihren überkommenen Stammesstrukturen ist aber doch zumindest ein Indiz für gewisse Vorbehalte gegenüber einer allzu starken Orientierung an polismäßigen politischen Strukturen. Umso bemerkenswerter ist es, dass – wie im gesamten mittelgriechischen Raum – auch in Epirus 14 Zur historischen Entwicklung in Epirus siehe N.G.L. Hammond (1967); P. Cabanes (1976); H. Beck (1997); S. Funke (2000); P. Funke (2009); E. Meyer (2013); E. Meyer (2015); A.J. Domínguez (Hg.) (2018); vgl. darüber hinaus die einschlägigen Artikel (mit weiterer Literatur) in den Akten der internationalen Kolloquien „L’Illyrie meridionale et l’Epire dans L’Antiquité“ (I.–III. hrsg. von P. Cabanes, ClermontFerrand 1987; Paris 1993; Paris 1999; IV. hrsg. von P. Cabanes / J.-L. Lamboley, Paris 2004; V. hrsg. von J.-L. Lamboley / M.P. Castiglioni, Paris 2013; VI. hrsg. von J.-L. Lamboley / L. Perzhita / A. Skenderaj, Paris 2018). 15 P. Cabanes (1976), 357–396; P. Cabanes (1983); P. Cabanes (1985); P. Funke (2009), bes. 101–103. 16 P. Cabanes (1997), 104.
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Die griechische Poliswelt und ihre Nachbarn in Nordwestgriechenland
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zeitgleich im ausgehenden 5. und verstärkt dann im 4. Jh. v. Chr. ein Urbanisierungsprozess einsetzte, der dazu führte, dass im 3. Jh. v. Chr. Epirus bereits von einem Netz städtischer Siedlungszentren ganz unterschiedlicher Größe überzogen war.17 Wie dicht dieses Netz gewesen war, wird daran deutlich, dass Aemilius Paulus 168 v. Chr. im Rahmen einer Strafaktion gegen Epirus 70 Städte zerstören ließ (Strab. [Polyb.] 7.7.3; Liv. 45.34.1–6; Plut. Aemilius Paulus 29.1). Diesen Veränderungen in der Siedlungsweise entsprachen aber eben ganz offensichtlich keine grundlegenden Veränderungen der vielschichtigen Stammesgliederungen trotz der gegebenen Föderalisierung. Diese Entwicklung im spätklassischen und hellenistischen Epirus ist daher in der Forschung immer wieder als signifikante Abweichung und als „Sonderfall“18 bezeichnet worden, den J.A.O. Larsen als einen „curious state, which combined monarchy, federalism, and tribal organization“ bezeichnet hat.19 Es wäre allerdings angebrachter, statt von einem Sonderfall von einer Variante bundesstaatlicher Organisation zu sprechen, da sich angesichts des experimentellen Charakters, der auch den übrigen Bundesstaaten zu eigen war, kaum ein wirklicher Regelfall konstruieren lässt. Es sind gerade diese „Un-regelmäßigkeiten“ und Ungleichförmigkeiten, die die politischen und urbanistischen Entwicklungen an den nördlichen Randzonen der griechischen Poliswelt in besonderer Weise geeignet erscheinen lassen, um die Funktionalität und die hohe Dynamik von Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen Kulturräumen exemplarisch aufzuzeigen. Es ist ein permanentes und dialektisches Spannungsgefüge, aus dem heraus trotz gleicher Zielorientierung situativ bedingt ganz unterschiedliche Resultate hervorgegangen sind.
17 Neben und unabhängig von diesen neuen Siedlungszentren existierten aber weiterhin auch zahllose ländliche Streusiedlungen; zu den archäologischen Befunden vgl. u. a. S.I. Dakaris (1972); S.I. Dakaris (1987); N. Ceka (1990); J.-N. Corvisier (1991); G. Riginos (2004); P. Funke et al. (2004), 339; S. De Maria (2011); siehe darüber hinaus die Beiträge zu den archäologischen Forschungen (mit weiterer Literatur) in den Akten der internationalen Kolloquien „L’Illyrie meridionale et l’Epire dans L’Antiquité“ (s. Anm. 14) zu den Größendimensionen vgl. auch N.G.L. Hammond (1967), 657–671, der seine Datierungen allerdings tendenziell zu spät ansetzt. 18 A. Giovannini (1971), 67; H. Beck (1997), 135. 19 J.A.O. Larsen (1968), 273.
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Summary The space discussed in the following contribution – very far from the actual space of this colloquium volume – is meant to serve as a kind of contrasting foil for the central topic, even if the question of migration plays only a limited role and the focus is on the cultural transfer between the world of the ancient Greek póleis and the largely tribally structured regions in ancient central and northwestern Greece. The border areas between the world of the póleis and the world of the éthne (tribal states) are regarded as a contact zone in which quite different transfer processes can be observed, two of which are singled out as examples, in which above all the dialectic of transfer and the situationally conditioned interrelations between the actors become recognizable. The focus is on institutional change (federalization) on the one hand and urban change (urbanization) in the éthne on the other. Thus, it is less about migration than about cultural contacts and (also mutual) cultural exchange.
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Peter Funke
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Die griechische Poliswelt und ihre Nachbarn in Nordwestgriechenland
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Zur Migration sabäischer Bevölkerungsgruppen zum nördlichen Horn von Afrika. Interaktionsprozesse und Kulturwandel Iris Gerlach, Berlin
I Eine logistisch aufwändige und alles andere als gefahrlose Mobilität von Menschen zwischen zuweilen weit voneinander entfernten Regionen ist nicht nur in der Moderne, sondern war auch in der Vergangenheit ganz allgemein verbunden mit dem Wunsch nach Verbesserung der Lebenssituation.1 Dies betrifft die reine Überlebenssicherung wie etwa die Flucht vor Seuchen, kriegerischen Konflikten oder vor Verfolgung religiöser und ethnischer Minderheiten. Auch klimabedingte Umweltveränderungen, Naturkatastrophen, gesellschaftliche Umbrüche und ökonomische Krisen – sich oft wechselseitig bedingend – zwangen Menschen zu einem Ortswechsel. Triebfeder war neben der Wahrung der Existenz auch der Wunsch nach Vermehrung materieller Werte. Kriegszüge stellten dabei eine gängige Form von Mobilität dar, um machtpolitische Interessen auszubauen und ökonomische Gewinne zu erzielen. Bei den vielfältigen Formen der Mobilität ist zu unterscheiden, ob von vorneherein die Absicht bestand, wieder an den Ausgangsort zurückzukehren, wie dies u. a. bei Tausch- und Handelsbeziehungen, Tributzügen und Gesandtschaften, Pilgerreisen und partiell auch bei Kriegshandlungen2 der Fall war oder ob eine dauerhafte bzw. zumindest über einen längeren Zeitraum angelegte Sesshaftigkeit am Zielort angestrebt 1
Zu den unterschiedlichen Formen und Motiven der Migration sowie zu den teilweise kontrovers diskutierten methodischen Ansätzen in der Archäologie siehe S. Burmeister (2013) mit weiterer Literatur. 2 Nicht immer zogen alle Kriegsteilnehmer nach Beendigung der Kämpfe bzw. Eroberung eines Landes in ihre Heimat zurück. Die Gründe hierfür waren vielfältig und konnten etwa mit dem Ausbau von Machtstrukturen durch Etablierung eigener Eliten in den eroberten Gebieten oder der wirtschaftlichen Ausbeutung derselben zusammenhängen. Ein Beispiel bilden die in Ägypten siedelnden griechischen Söldner, vgl. S. Pasek (2018).
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wurde. Letzteres trifft bei Migration als spezieller Form der Mobilität über größere Distanzen und über verschiedene Territorien zu. Mit der Intention, neue Ressourcen zu erschließen, die Ausweitung und Kontrolle des Handels sowie die Sicherung der dafür notwendigen Verbindungsrouten zu garantieren, konnten einzelne Niederlassungen in den Zielgebieten etabliert oder ganze Kolonien gegründet werden.3 Meist migrierten nur ein Anteil oder eine soziale Gruppe der Bevölkerung und nicht eine Gesellschaft als Ganzes.4 Folge der Migration waren in der Regel vielfältige kulturelle Interaktionen zwischen der einwandernden und ansässigen Bevölkerung, die auch überregionale Kulturkontakte mit bestehenden Netzwerken einschließen konnten. Nicht selten gestalteten sich die wechselseitigen Transformationen und Interaktionen so umfassend, dass es zu einem kulturellen Wandel und zur Formierung einer sozio-kulturell neuen Gesellschaft kam. Ein vergleichbarer Prozess vollzog sich im frühen 1. Jt. v. Chr. am nördlichen Horn von Afrika, genauer in der in der neueren Zeitgeschichte äthiopisches Hochland genannten Region im heutigen Norden Äthiopiens und Südosten Eritreas. Auslöser war die Einwanderung von sabäischen Bevölkerungsgruppen aus ihrem südarabischen Kernland von Saba um die Oasen Mārib und Ṣirwāḥ im heutigen Jemen.5 Die Ausweitung und Kontrolle wirtschaftlicher Netzwerke gelten dabei als entscheidende Motive für die Migration.6 Um die Etablierung von politischen und religiösen Strukturen im äthiopischen Hochland zu garantieren, wurden zu Beginn des Migrationsprozesses (spätestens am Ende des 9. Jh. v. Chr.) mit enormem Aufwand und unter hohem Einsatz menschlicher wie materieller Ressourcen die ersten nach sabäischem Vorbild gestalteten Repräsentations- und Sakralbauten sowie Siedlungen an handelsstrategisch wichtigen Orten errichtet. Diese auf Dauer ausgerichtete Siedlungsstrategie lässt sich nur mit einem durch die Migration bedingten immensen ökonomischen und machtpolitischen Gewinn, ggf. verbunden mit einem sozialen Aufstieg einzel3 4 5
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Siehe zu den altassyrischen Handelsniederlassungen in Kārum Kaniš den Beitrag von J.J. de Ridder und zur griechischen Poliswelt den Beitrag von P. Funke, beide in diesem Band. S. Burmeister (1996), 19. Zur möglichen Anzahl griechischer Kolonisten bei der Gründung einer Polis (zwischen 100–300 Familien) siehe I. Gerlach (2014a), 117, Fn. 25 mit weiterer Literatur. Die Interaktionsprozesse zwischen Südarabien und dem nördlichen Horn von Afrika werden seit 2009 von der Außenstelle Sanaa der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts und der Forschungsstelle Antikes Südarabien und Nordostafrika der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit verschiedenen Kooperationspartnern in den Fundplätzen Yeha, Hawelti/Melazo und Wuqro (Tigray, Äthiopien) untersucht. Seit 2016 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) das mit der Ethiopian Heritage Authority und dem Tigrai Culture and Tourism Bureau durchgeführte äthiopischdeutsche Gemeinschaftsprojekt in Yeha im Rahmen eines Langfristvorhabens. Zum Migrationsverlauf und den möglichen Motiven siehe I. Gerlach (2014a) und I. Gerlach (2017b), 361.
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Migration sabäischer Bevölkerungsgruppen
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ner Personengruppen erklären. Durch vielfältige Interaktionsprozesse zwischen den eingewanderten sabäischen und den einheimischen Bevölkerungsgruppen formierte sich ein neues Gemeinwesen, dass etwa 300 Jahre bestand hatte und gegen Mitte des 1. Jt. v. Chr. mit der Zerstörung aller bislang bekannten administrativen wie sakralen Monumentalbauten durch Brand sein Ende findet.7 Die Ursache und der historische Hintergrund dieser gezielten Vernichtung sind bislang ungeklärt. II Blickt man zunächst auf die Migrationsroute der Sabäer in das äthiopische Hochland, so verlief eine mögliche Strecke vom etwa 700 km Luftlinie entfernten sabäischen Kernland um die Zentren Mārib und Ṣirwāḥ über das spätestens um 800 v. Chr. von den Sabäern kontrollierte jemenitische Hochland bis in die Küstenregion der Tihāma. Dort sind bisher im nördlicheren Küstenabschnitt zwischen al-Muḫāʾ und al-Hudaida zwei Orte bekannt, die als sabäische Zwischenstationen in Frage kommen:8 al-Hāmid mit Resten eines kleinen sabäischen Heiligtums9 sowie der Fundort al-Midamman,10 in dem Fragmente von Banāt ʿĀd-Reliefs11 ebenfalls von einem Sakralbau aus dem frühen 1. Jt. v. Chr. zeugen. Von einer nicht lokalisierten Bucht in der Tihama wird die Überfahrt über die Farasān-Inseln12 und den Dahlak-Archipel bis zum Anlandeplatz Adulis am Golf von Zula geführt haben.13 Für die Überquerung des Roten Meeres waren weitreichende Kenntnisse des Segelschiffbaus und der Nautik Voraussetzung. Ob die Sabäer selbst dieses Wissen besaßen oder andere mit dem Schiffsbau und der Navigation beauftragten, lässt sich bislang 7
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Neben den Bauten von Yeha weisen auch alle anderen bisher im Rahmen der äthiopisch-deutschen Kooperationsprojekte freigelegten Holz-Steinarchitekturen in Abune Gerima, Ziban ʿAddi (beide bei Wuqro) und Melazo nahe Aksum eine systematische Zerstörung durch Feuer auf, I. Gerlach (2017b), 363. Bei dem Verwaltungsbau von Yeha, dem Grat Beʿal Gibri, wurden mehrere Brandherde gleichzeitig gezündet. Die Untersuchungen durch den Geologen Christian Weiß ergaben, dass das in den Mauern, Decken und Türen verbaute Holz in Kombination mit der Mehrgeschossigkeit des Bauwerks eine Art Kamineffekt erzeugte und damit Temperaturen von bis zu 1300 Grad Celsius erreicht wurden. Siehe zuletzt I. Gerlach (2021), 150. Siehe I. Gerlach (2017b), 359. C.A. Phillips (1997), 292–293; C.A. Phillips (1998), 236. E. Keall (2005), 93. Siehe zur Kunstgattung der im frühen 1. Jt. v. Chr. in Heiligtümern verbauten Banāt ʿĀd-Reliefs S. Antonini (2004). Zu den dort gefundenen altsabäischen Inschriften siehe S.M. de Procé / C. Phillips (2010), 277–282. Über die prä-aksumitischen Siedlungsphasen von Adulis, das noch weitgehend unter aksumitischen Schichten begraben ist (R. Paribeni (1907); D. Peacock / C. Blue (2007); C. Zazzaro (2013); C. Zazzaro et al. (2014)), lassen sich bislang nur wenige Aussagen treffen, doch zeugen vereinzelte Keramikfunde
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nicht beantworten. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang jüngst entdeckte Inschriften aus der Region Bari südlich des Kap Guardafui an der Ostküste Somalias:14 Berichtet wird von einer Tempelgründung durch Sabäer und von einem Schiff bzw. Schiffen, die im Auftrag des sabäischen Herrschers Yiṯaʿʾamar Watar bin Yakrubmalik (um 715 v. Chr.)15 an diesem Küstenabschnitt anlandeten. Diese wurden von einem Kommandanten befehligt, der aus einer unter sabäischer Kontrolle stehenden Stadt im al-Jawf stammte. Die Inschriften bilden die ersten schriftlichen Zeugnisse dafür, dass in der Tat Schiffe im Auftrag der Sabäer entsandt wurden und diese offensichtlich nicht zwingend unter dem Kommando eines aus dem Kernland stammenden Sabäers stehen mussten. Ein derartiger Küstenstützpunkt mit Heiligtum wird sicherlich nicht nur der Verproviantierung, sondern auch der Kontrolle des Handels mit dem im Hinterland vorkommenden Weihrauch gedient haben. Das ökonomische Netzwerk von Saba erstreckte sich damit spätestens zum Ende des 8. Jh. v. Chr. über das südarabische Festland hinaus auf den Golf von Aden und das Horn von Afrika. Nach dem bisherigen Kenntnisstand war die wohl nur kurzzeitige Präsenz der Sabäer auf die Küstenregion begrenzt16 und ist damit mitnichten vergleichbar mit dem sabäischen Migrationsprozess im äthiopischen Hochland, der durch deutlich bessere naturräumliche Rahmenbedingungen begünstigt wurde.
sowie Relieffragmente eines Scheinfensters und eines mit Architekturdekor verzierten südarabischen Throns bzw. einer Altarverkleidungsplatte aus Kalzitsinter (sog. jemenitischer Alabaster) von einer sabäischen Präsenz (A. Manzo (2010), 36, Abb. 5; C. Zazzaro (2013) Abb. 16, Nr. 39–40). 14 A. Prioletta et al. (2021), 328–339. 15 Siehe zu den bei den Ausgrabungen der Außenstelle Sanaa im ʾAlmaqah-Tempel von Ṣirwāḥ freigelegten Tatenbericht dieses Herrschers und seiner historischen Einordnung N. Nebes (2016). 16 Zu weiteren möglichen südarabischen Buchstaben in Somaliland siehe S. Mire (2015), 126–127. Zudem fand Carl Philipps (freundliche Mitteilung) aus einem in diesem Gebiet durchgeführten Survey sabäische Keramikfragmente von Torpedo Shaped Jars, die in das 8.–6. Jh. v. Chr. datiert werden.
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Abb. 1: Karte der äthio-sabäischen Fundplätze des 1. Jt. v. Chr. in Äthiopien und Eritrea; DAI, Orient-Abteilung, Victoria Grünberg/Josephine Schoeneberg
Migration sabäischer Bevölkerungsgruppen
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Iris Gerlach
Im äthiopischen Hochland entsteht als Folge des sabäischen Einflusses ein überregionales Siedlungsnetz mit einem Dutzend bislang bekannter Fundplätze, deren materielle Hinterlassenschaften von der Einwanderung sabäischer Bevölkerungsgruppen zeugen (Abb. 1). Die Siedlungen reichen von Keskese und Metera im Norden bis nach ʿAddi ʾAkawiḥ bei Wuqro im Süden sowie über Yeha nach Aksum mit Hawelti/Melazo, Seglamen und Mai Adrasha/Shire im Westen.17 All diese Siedlungen zeichnet aus, dass sie an naturräumlich und handelsstrategisch günstigen Standorten entlang der Interaktionsrouten liegen.18 So standen Handelswaren wie Gold und Obsidian bei einigen der Siedlungen vor Ort an, auch Weihrauch konnte in unmittelbarer Nähe geerntet werden. Zudem waren verschiedene Holzarten (Wacholder, Wilde Olive und andere Laubgewächse) sowie qualitätvolle Steine wie Kalk-, Sandstein und Phonolith für die Baumaßnahmen und Tonlager für die Keramikproduktion vorhanden. Das Umland der Siedlungsplätze bot fruchtbare Böden, um ausgedehnte Feld- und Landwirtschaftsflächen anzulegen19 (Abb. 2). Dies alles spricht dafür, dass über die Art und den Umfang der Produktion nicht nur die ansässige Bevölkerung versorgt, sondern auch ein Überschuss für Handel und Tauschgeschäfte erzielt werden konnte. Anders als in Saba, deren Städte alle mit Stadtmauern umgeben sind,20 finden sich bei den Siedlungen im äthiopischen Hochland keine Fortifikationssysteme,21 was wiederum Aufschluss auf die Art der Formierung des neuen Gemeinwesens, der Interaktion zwischen sabäischen Migranten und einheimischen Bevölkerungsgruppen sowie auf
17 I. Gerlach (2017b), 360f. 18 Über die Auswertung historischer Karten und Reiseberichte sowie neuester Satellitenbilder und LeastCost-Path-Analysen konnte im Rahmen des DFG-Projektes (siehe Fn. 5) nachgewiesen werden, dass die Wegesysteme in der Yeha-Region über Jahrhunderte hinweg teilweise bis in die Neuzeit bestanden. Diese kontinuierliche Nutzung lässt sich teilweise bis ins frühe 1. Jt. v. Chr. zurückverfolgen. 19 Bei den Forschungen zur Paläoumwelt konnten in Yeha Sedimentprofile untersucht werden, die eine Rekonstruktion der Umweltverhältnisse der 1. Hälfte des 1. Jt. v. Chr. erlauben. Sie belegen für diesen Zeitabschnitt humidere Bedingungen als heute mit permanent wasserführenden Gewässern. Indikatoren bilden hierbei Fossilien wie Gastropoden und Ostrakoden (Information durch Christian Weiß). 20 Zu den Fortifikationssystemen in Südarabien siehe M. Schnelle (2016) mit weiterer Literatur. 21 I. Gerlach (2017b), 361.
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Migration sabäischer Bevölkerungsgruppen
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Abb. 2: Blick über das Tal von Yeha mit dem Kirchenareal und äthio-sabäischen ʾAlmaqah-Tempel in der Bildmitte; DAI, Orient-Abteilung/HCU Hamburg, Klaus Mechelke
die Form möglicher kriegerischer Auseinandersetzungen gibt: Offensichtlich war eine architektonisch gefasste Sicherung der Siedlungen gegen feindliche Angriffe nicht vorgesehen bzw. deren Schutz erfolgte durch Wachposten.22 Nach den Ergebnissen der archäologischen, bauhistorischen und geoarchäologischen Forschungen sowie den epigraphischen Untersuchungen erfüllt der Fundplatz Yeha innerhalb des sabäischen Siedlungsraums alle Funktionen eines überregional ausgerichteten Zentralorts.23 Die antike Siedlung24 weist dabei eine bemerkenswerte Dichte an Repräsentations- und Sakralbauten sowie mehreren Friedhöfen auf. Epigraphi22 Während der Surveys konnten 38 Fundstellen im Umland von Yeha identifiziert werden, von denen mindestens acht spezifische Keramik aus der 1. Hälfte des 1. Jt. v. Chr. aufweisen (DFG-Projekt, Sarah Japp). Die Lage einiger dieser Fundstellen in den Bergen gestattete eine Fernsicht nicht nur auf die Handelswege, sondern ggf. auch auf sich nähernde Feinde, die dann möglicherweise in Form einer offenen Feldschlacht bekämpft wurden. 23 I. Gerlach (2021), 148. Zur Definition eines Zentralortes und seinen Funktionen siehe E. GringmuthDallmer (1996), 8. 24 Diese erstreckt sich auf einer Fläche von bis zu 30 ha in nord-südlicher Ausrichtung um die zentral angeordneten Monumentalbauten des Sakralbezirks sowie den Verwaltungsbau Grat Beʿal Gibri. Die stratigrafische Analyse der Grabungen im Süden des Fundplatzes ergab, dass sich dort nur wenig unterhalb der heutigen Geländeoberfläche eine landwirtschaftlich geprägte Besiedlung aus mehrfach und in kurzen zeitlich aufeinander folgenden Abständen umgebauten Häusern der früh-aksumitischen Zeit (1.–3. Jh. n. Chr.) befand. Diese wurde vermutlich auf einer früheren Bebauung aus äthio-sabäischer Zeit errichtet, worauf bereits Funde in den unteren Schichten verweisen. Die Jahrhunderte zwischen diesen beiden Phasen können dagegen bislang nur partiell gefasst werden (DFG-Projekt Sarah Japp,
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sche Funde, wie die Altarinschrift aus dem ʾAlmaqah-Tempel von Meqabir Ga’iwa25 (siehe Abbildung 1 bei Nebes in diesem Band), verweisen zudem auf die Bedeutung von Yeha als regional übergeordnetem Kultort. Bereits um 800 v. Chr. erfolgte die Errichtung des mehrstöckigen palastartigen Verwaltungsbaus Grat Beʿal Gibri26 sowie eines Heiligtums im Sakralbezirk der Siedlung. Spätestens im 7. Jh. v. Chr. folgen weitere Tempelanlagen wie der dem sabäischen Hauptgott ʾAlmaqah geweihte Große Tempel.27 III Mit der sabäischen Migration wurden kulturelle Interaktionen in Gang gesetzt, die einen vor allem von Südarabien ausgehenden Technologie- und Wissenstransfer umfassen und zu wechselseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen mit der lokalen Bevölkerung, aber auch überregionalen Kontakten mit innerafrikanischen Regionen führten.28 Dieser Transkulturalität wird bereits seit den 1960er Jahren mit der Bezeichnung äthio-sabäische Kultur Rechnung getragen.29 Aussagen zu den Auswirkungen der Interaktionen können dabei nur für die Migrationsgebiete getroffen werden, eine rückläufige Wirkung der Migration auf die Herkunftsregion, das sabäische Kernland, lässt sich nicht nachweisen. So geben bisher weder Inschriften noch archäologische Quellen Auskunft darüber, ob und wie Saba von den Kontakten zur afrikanischen Seite des Roten Meeres politisch und wirt-
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Marlene Köster). In spät-aksumitischer Zeit (4.–8. Jh. n. Chr.) verkleinerte sich die Siedlung offenbar und konzentrierte sich vor allem um das Zentrum mit dem Kirchenareal. Dieser Prozess lässt sich mit dem Aufstieg von Aksum als Zentrum des aksumitischen Reichs und einer zunehmenden Zentralisierung dieses Gemeinwesens erklären. N. Nebes (2010) und N. Nebes in diesem Band; P. Wolf / U. Nowotnick (2010). C14-Daten des Holzbodens im Propylonbereich des Grat Beʿal Gibri belegen die Fertigstellung des Verwaltungsbaus um 800 v. Chr., I. Gerlach (2017b), 372; M. Schnelle (2019) und M. Schnelle (2021). Im heutigen Kirchengelände von Yeha können nach dem bisherigen Forschungsstand drei Heiligtümer nachgewiesen werden, womit auch die lange Kultkontinuität dieses Sakralbezirks belegt ist. Das möglicherweise der sabäischen Gottheit ʿAṯtar geweihte Heiligtum dürfte auf der höchsten Erhebung am Ort der heutigen Kirche gestanden haben und zeitgleich mit dem Verwaltungsbau um 800 v. Chr. errichtet worden sein. Direkt südlich daneben erbaute der in das 7. Jh. v. Chr. datierte König Waʿrān den Großen Tempel von Yeha (siehe N. Nebes (2021), 232 und in diesem Band) und weihte diesen dem sabäischen Hauptgott ʾAlmaqah. Am östlichen Hang unterhalb des Großen Tempels, umgeben von repräsentativen Bauten bislang unbestimmter Funktion, kamen bei den jüngsten Ausgrabungen Reste eines weiteren bislang als Heiligtum anzusprechenden Gebäudes zu Tage, siehe I. Gerlach (2021), 148. Die Transferprozesse verliefen in der Regel nicht linear oder kontinuierlich, sondern über verschiedene, oft schwer auszumachende Vermittlungsstufen, die „Endform“ kann sich also nicht nur in der Erscheinung, sondern auch in der Funktion und Bedeutung durchaus unterscheiden, vgl. auch J. Osterhammel (2003), 441. Diese Prozesse zu erkennen bzw. nachzuweisen, ist nach der jetzigen Befundlage im äthiopischen Hochland nicht einfach bzw. bleibt häufig hypothetisch. Dieser Terminus wurde von Françis Anfray eingeführt, F. Anfray (1964), 248.
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schaftlich profitierte oder inwiefern mögliche nach Saba zurückkehrende Gruppen wie Händler oder Handwerker wiederum Einfluss auf die sabäische Kultur nahmen. Ebenso schweigen die sabäischen wie die äthio-sabäischen Inschriften über die Motive der Migration, den Migrationsverlauf und die genaue soziale Zusammensetzung der migrierenden Bevölkerung. Lediglich die in den äthio-sabäischen Widmungsinschriften genannten Steinmetze heben sich als Gruppe ab, und einige benennen explizit ihre Herkunft aus der Region Mārib und Ṣirwāḥ.30 Bei einer Unterscheidung von lokalen und durch die Migration transferierten Elementen wird für den äthio-sabäischen Kulturraum in der Regel die nicht ganz unproblematische Schlussfolgerung gezogen, dass alles, was nicht als sabäisch oder durch sabäischen Einfluss transformiert definiert werden kann, als lokalen Traditionen folgend bzw. innerafrikanischen Ursprungs angesprochen wird. Hier müssten zunächst die jeweiligen lokalen bzw. regionalen Elemente vor der Einwanderung sabäischer Bevölkerungsgruppen definiert werden, um so das „Mischungsverhältnis“ von Autochthonem und Importiertem zu bestimmen und zu rekonstruieren, welche Elemente lokal oder transferiert sind bzw. transformiert oder gänzlich aufgegeben wurden. Nach dem bisherigen Forschungsstand existieren für die Zeit vor der sabäischen Migration allerdings nur wenige Informationen darüber, wie die Gesellschaften des äthiopischen Hochlandes politisch und wirtschaftlich organisiert waren, welche Religion sie ausübten und generell, wie sich ihre materielle Kultur gestaltete. So sind auch die Kultpraktiken und Bestattungssitten im äthiopischen Hochland vor dem frühen 1. Jt. v. Chr. bisher nicht rekonstruierbar, da weder Kultplätze noch Grabanlagen oder entsprechendes Fundmaterial dieser Zeit belegt sind. Lediglich die über Vergleiche zu sudanesischen Funden in das 2. Jt. v. Chr. datierten tönernen Rinderfigurinen, die während des Surveys im Rama-Tal nördlich von Adua unweit der eritreischen Grenze gefunden wurden,31 verweisen auf eine Art von Stierkult, doch in welchem Kontext dieser stand, bleibt völlig unklar. Aussagen zum Kunsthandwerk einschließlich bildlicher Darstellungen vor dem Zeitpunkt der sabäischen Migration sind ebenfalls nicht möglich.32
30 Siehe N. Nebes (2021) und in diesem Band. 31 K. Pfeiffer / I. Gerlach (2020), 18, Abb. 4; K. Pfeiffer et al. (im Druck). 32 I. Gerlach (2018), 232. Ausnahme bilden die meist zeitlich nur schwer einzuordnenden Petroglyphen.
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Keramikfunde, die mit Material des späten 2. Jts. v. Chr. aus dem sudanesischen GashDelta und Mittleren Niltal vergleichbar sind,33 zeugen davon, dass einige der später durch die Sabäer besiedelten Orte bereits eine längere Siedlungskontinuität aufweisen und in Interaktion – möglicherweise in Form von Tauschbeziehungen – mit dieser Region standen. Auch in Yeha fand sich in einer über C14-Daten ins späte 2. Jt. v. Chr. datierten Schicht eines Tiefschnitts auf dem Kirchenvorplatz mit dem sudanesischen Tiefland verwandte Keramik.34 Diese wurde lokal produziert, so dass man von zumindest teilsesshaften Bevölkerungsgruppen ausgehen kann. In welcher Interaktion die Bewohner regional und überregional verbunden und wie die Siedlungen vor der sabäischen Migration gestaltet waren, ist bislang noch unbekannt, auch wenn vereinzelte Architekturen über singuläre C14-Daten dieser Zeit zugeordnet werden.35 Dass das äthiopische Hochland nicht isoliert, sondern bereits vor der sabäischen Migration in ein Netzwerk wirtschaftlicher Interessen eingebunden war,36 belegt der Handel mit äthiopischem Obsidian. Obsidian aus dem äthiopischen Hochland gelangte bereits im 6. Jt. v. Chr. bis in die jemenitische Tihama,37 wurde spätestens im 4./3. Jt. v. Chr. auch nach Ägypten importiert und dort vor Ort verarbeitet.38 Folgt man der Hypothese, dass das Gebiet des späteren äthio-sabäischen Siedlungsraums einschließlich des Mittleren Niltals und Gash-Deltas dem in den ägyptischen Quellen genannten Land von Punt entspricht,39 welches über Tausch und Handel seit dem mittleren 3. Jt. bis in das späte 2. Jt. v. Chr. mit Ägypten in Verbindung stand, so wird man weitere Rohstoffe des äthiopischen Hochlandes zu den Handelswaren zählen dürfen: Über das Land von Punt wurde u. a. der immense Bedarf Ägyptens an Räucherwerk wie Weihrauch gedeckt.40 Dies spricht dafür, dass sich das Netzwerk 33 M. Köster (2021) mit weiterer Literatur. Zu Keramikfunden aus der Rama-Region im Norden in der äthiopisch-eritreischen Grenzregion (Tigray, Äthiopien) siehe D. Raue (2012), 172–173 und K. Pfeiffer et al. (im Druck); für Vergleiche zur Butana- and Gabal Mokram Gruppe (Ende des 2. und frühen 1. Jt. v. Chr.) siehe A. Manzo (2012); A. Manzo (2019). 34 S. Japp (2019); M. Köster (2021), 398–399. 35 Bislang noch nicht publizierte C14-Daten aus ʿAddi ʾAkawiḥ/Ziban ʿAddi bei Wuqro (P. Wolf) und Mezber nördlich von Adigrat (A. C. D’Andrea et al. (in review)) verweisen auf mögliche Architekturreste aus dem Ende des 2. Jt. v. Chr. 36 Hier wird man allerdings nicht von einer kontinuierlichen Interaktion ausgehen dürfen; sicherlich gab es im Laufe der Zeit immer wieder Brüche. 37 L. Khalidi (2007), L. Khalidi (2010); L. Khalidi / K. Lewis / B. Gratuze (2012). 38 G. Dreyer (2007), 65 Nr. 45; J. Roy (2011), 264. Zudem fand sich in Ausgrabungen im Gash-Delta in den Fundschichten des 3./2. Jts. v. Chr. äthiopischer Obsidian, K. Pfeiffer et al. (im Druck). 39 F. Breyer (2016); A. Manzo (2019). 40 N. Grimal (1992), 87; J. Roy (2011), 252; D. Raue (2019).
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zur Beschaffung dieser Ware bis zu den Weihrauchgebieten im Hochland Äthiopiens erstreckte. Ähnlich könnte auch die Versorgung Ägyptens mit Gold nicht nur über die nubischen Vorkommen, sondern auch über äthiopisches Gold erfolgt sein. Nach den ägyptischen Schriftquellen und bildlichen Darstellungen spielten Menschen41 und exotische Tiere, Elfenbein, Edelsteine und Felle42 als Tausch- und Handelsgüter aus dem Land Punt eine wichtige Rolle. Welche Güter in dieser Zeit allerdings im Gegenzug aus Ägypten oder dem Mittleren Niltal zum nördlichen Horn von Afrika gelangten, bleibt nach der jetzigen Befundlage ebenso unklar wie der detaillierte Ablauf dieser Interaktionen. Das äthiopische Hochland war somit bereits vor der sabäischen Migration in ein überregionales Netzwerk eingebunden. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Sabäer eben jenes Machtvakuum nutzten, das mit dem Ende der Punt-Expeditionen und damit des wirtschaftlichen Einflusses Ägyptens in dieser Region ab dem späten 2. Jt. v. Chr. herrschte, um ihrerseits den Handel mit den oben genannten Gütern vor Ort zu kontrollieren. Dies setzt voraus, dass die Sabäer Kenntnis über die wirtschaftlichen, politischen und naturräumlichen Rahmenbedingungen des äthiopischen Hochlandes besaßen, bevor sie dort dauerhaft siedelten und ihre rasante Siedlungs- und Bautätigkeit vorantrieben. Dass man vielerorts an der Stelle von Niederlassungen des 2. Jt. v. Chr. siedelte, spricht ebenfalls dafür, dass man an bestehende Netzwerke anknüpfte und damit auch günstige Voraussetzungen für Transfer- und Interaktionsprozesse sowie einen erfolgreichen Kulturwandel schuf. Zu den Transfer- und Interaktionsprozessen in Folge der sabäischen Einwanderung zählt die erstmalige Etablierung der Kulturtechnik Schrift in dieser Region. Dabei bestehen – wie Norbert Nebes ausführt43 – Unterschiede in Grammatik, Phonologie und Morphologie, im Wortschatz sowie der Königstitulatur zwischen den äthiosabäischen und den sabäischen Inschriften auf der südarabischen Seite, was wiederum für eine enge Vernetzung zwischen den lokalen und den migrierten sabäischen Bevölkerungsgruppen spricht.
41 Vor allem kleinwüchsige Menschen, siehe F. Breyer (2016), 53–54. 114–127. 382 Doc. 3. 42 Dass Raubtiere und deren Felle als Handelsware durchaus anzunehmen sind, belegen die in dem Tiefschnitt von Yeha gefundenen Skelettreste von zwei Löwenköpfen aus dem frühen 1. Jt. v. Chr. Raubtierfelle wurde in der Regel mit den Köpfen verhandelt, fehlt wie in Yeha der Rest des Skeletts, kann laut Joris Peters (mündliche Mitteilung) von Fellen ausgegangen werden. 43 N. Nebes (2021), 318; N. Nebes in diesem Band.
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Eine weitere wichtige technische Innovation bildete die Metallurgie und Bronzeverarbeitung, die im äthiopischen Hochland erst mit den Sabäern Verbreitung fand. Da in der Region kein Zinn vorkommt, wurden vermutlich die Rohmaterialien für die Legierung bzw. ganze Bronzebarren aus Südarabien importiert und vor Ort weiterverarbeitet.44 Mit der Herstellung von Bronzewerkzeugen konnte das Steinmaterial der Monumentalbauten wie auf der südarabischen Seite bearbeitet, Steininschriften gesetzt bzw. in Bronze gegossen und neue Techniken und Ausdrucksformen des künstlerischen Gestaltens umgesetzt werden (Abb. 3).45
Abb. 3: Bronzemeißel aus Yeha (8.–6. Jh. v. Chr.) aus einem äthio-sabäischen Grab in Yeha. Museum Yeha; DAI, Orient-Abteilung, Irmgard Wagner
Eine von den Sabäern ausgehende Neugestaltung der politisch-administrativen Strukturen wird an den mehrstöckigen palastartigen Verwaltungsbauten deutlich, die man in den zentralen äthio-sabäischen Fundplätzen errichtete.46 So folgt etwa der großflächig ausgegrabene und bauhistorisch umfassend untersuchte 44 Der Transport von Rohmaterialen über das Rote Meer war durchaus üblich, wie z. B. der Import von Kalzitsinter, dem jemenitischen Alabaster, aus dem sabäischen Kernland nach Yeha belegt (C. Weiß et al. (2015)). Dieses Material fand bei Dekorelementen wie Verkleidungsplatten von Altären Verwendung. 45 I. Gerlach (2018) mit weiterer Literatur. 46 Zu den bislang bekannten Verwaltungsbauten im äthio-sabäischen Kulturraum siehe Fn. 7.
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Verwaltungsbau Grat Beʿal Gibri von Yeha, wenn auch mit modifizierter Konstruktionsweise des Mauerwerks, seinem etwa 100 Jahre älteren sabäischen Vorbild, dem Fünf-Pfeiler-Bau in Ṣirwāḥ.47 Diese Monumentalbauten waren funktional Verwaltungseinrichtungen, worauf bereits die räumliche Gliederung der nur im Erdgeschoss erhaltenen Gebäude mit kleinteiligen Einheiten unterschiedlicher Aufgaben, u. a. auch für die Lagerung von Waren, hindeutet. Analog zu Südarabien können die oberen Stockwerke darüber hinaus als Wohnsitze der äthio-sabäischen Herrscher und ihrer Familie gedient haben (Abb. 4).
Abb. 4: Rekonstruktion des palastartigen Verwaltungsbaus Grat Beʿal Gibri von Yeha als 3D-Druck; DAI, Orient-Abteilung, Mike Schnelle
Ebenso wurde die Religion und ihre Kultpraktiken stark südarabisch geprägt. Analog etwa zur griechischen Kolonisation war bei der Neubesiedlung bzw. Gründung von äthio-sabäischen Siedlungen der Bau zumindest eines Heiligtums zwingend. Diese Sakralbauten folgten südarabischen Bautraditionen und waren dem sabäischen Pantheon, überwiegend dem sabäischen Hauptgott ʾAlmaqah48 geweiht. Tempelbauten
47 Siehe zuletzt M. Schnelle (2019) und M. Schnelle (2021). 48 Vgl. N. Nebes (2021), 322f. zu den ʾAlmaqah-Heiligtümern im äthiopischen Hochland.
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für lokale Gottheiten sind nach dem bisherigen Kenntnisstand nicht nachweisbar, doch wird man von der Fortführung lokaler Kulte etwa im häuslichen Kontext ausgehen können.49 Die Übernahme südarabischer Kulte spiegelt sich auch in der religiösen Ikonographie wider. So erscheinen auf den Weihrauchaltären häufig die sabäischen Göttersymbole wie Sichel und Scheibe (Abb. 5).50 In Form von Friesen ziert der Steinbock als Symboltier des ʾAlmaqah den inneren Mauerabschluss des Großen Tempels von Yeha51 und wird damit in Äthiopien ebenso wie beim zeitgleichen ʾAlmaqah-Tempel in Ṣirwāḥ als kultisch konnotiertes Dekorelement verwendet (Abb. 6).52 Die stilistische Ausführung des äthio-sabäischen Steinbockfrieses mit seinen gedrungenen Formen lässt vermuten, dass dieser von Steinmetzen gefertigt wurde, die zwar noch eine Vorstellung des eigentlichen Vorbildes hatten, diese aber nicht eins zu eins übertragen wollten oder konnten. Die religiöse Bedeutung des Göttersymbols wird aber trotz dieser stilistischen Unterschiede nicht in Frage gestellt. Neben diesen mehrheitlich von der sabäischen Kultur ausgehenden Transferprozessen lassen sich bei den Grabanlagen in Yeha lokale Einflüsse nachweisen, die wiederum mit südarabischen Traditionen verbunden werden: Bei den von Françis Anfray freigelegten South Tombs53 sowie der vom DAI erforschten Nekropole von Abiy Addi südlich der Siedlung54 handelt es sich um in den Felsen eingetiefte Schachtgräber, die Kollektivbestattungen in ein bis drei Kammern aufweisen. Die Eingänge der Kammern blockierten Steinplatten. Ebenso wurde der Schacht selbst mit Platten verschlossen und zudem mit einem Tumulus aus Bruchsteinen bedeckt. Mauerreste auf der Oberfläche neben und über einigen der Gräber könnten Bereiche für den Totenkult markieren (Abb. 7). Diese Art von Schachtgräbern besitzt in Ostafrika keine Vorläufer und ist auch auf südarabischer Seite nicht belegt. In Saba wurden die Toten zwar ebenfalls kollektiv bestattet, doch erfolgte dies wie im Friedhof des Awām-Tempels in Mārib in mehrgeschossigen Grabbauten.55 Auch wenn im äthio49 So weist auch ein nördlich von Yeha in Tegulat gefundener Weihrauchaltar mit südarabischen Motiven wie Steinböcken und Bukephalia einen im südarabischen Pantheon unbekannten Götternamen auf (Mitteilung Norbert Nebes), der von der parallelen Verehrung lokaler Gottheiten im äthio-sabäischen Gemeinwesen zeugt, I. Gerlach (2017b), 365, Abb. 8. 50 I. Gerlach (2018), 249, Abb. 4. 51 M. Schnelle (2014), 376, Abb. 7; I. Gerlach (2017b), 365, Abb. 9. 52 I. Gerlach / M. Schnelle (2013), 217. 53 F. Anfray (1963). 54 I. Gerlach (2017b), 376–380 mit weiterer Literatur. 55 I. Gerlach (2002).
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Abb. 5: Weihrauchbrenner aus Yeha mit den südarabischen Symbolen Sichel und Scheibe sowie äthiosabäischer Widmungsinschrift (7./6. Jh. v. Chr.). Museum Yeha; DAI, Orient-Abteilung, Irmgard Wagner
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Abb. 6: Steinbockfriese a. Fries vom ʾAlmaqah-Tempel in Ṣirwāḥ (Provinz Marib, Jemen); b. Fries sekundär verbaut in der Westfassade der Kirche von Yeha; DAI, Orient-Abteilung, Irmard Wagner
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pischen Hochland bislang keine Gräber des 2. Jt. v. Chr. bekannt sind, scheint man bei den Schachtgräbern eher lokalen Traditionen zu folgen, die sich bis in die aksumitische Zeit erhalten haben.56 Ein Großteil der Grabinventare spiegelt einen bereits vollzogenen Kulturwandel wider:57 Keramikgefäße und Weihrauchbrenner lokaler Produktion etwa adaptierten sabäische Formen, folgten aber auch regionalen Traditionen und imitierten vereinzelt die im Niltal übliche Brenntechnik der „black topped ware“ (Abb. 8). Daneben fand sich wertvoller Besitz der Bestatteten wie Schmuck, Metallgegenstände in Form von bronzenen Sicheln, Steinmetzwerkzeugen und Stempelsiegeln.58 Die Siegel sind in abweichender Gestalt auch in Südarabien belegt.59 Dort lässt sich eine Ausführung in Tierform, beispielsweise als Steinbock, dem Symboltier des sabäischen Gottes ʾAlmaqah, nicht nachweisen (Abb. 9). In Südarabien wurden mit derartigen Siegeln Gipsverschlüsse gestempelt,60 die den Deckel eines Gefäßes verschlossen. Man benannte damit nicht nur dessen Besitzer, sondern kennzeichnete zugleich auch die Unversehrtheit der Waren. Nachweise für derartige Gipsverschlüsse fehlen bislang aus äthio-sabäischen Fundorten, allerdings ist eine funktional ähnliche Nutzung im Verwaltungsbau von Yeha belegt, wo der Lehmverschluss eines zugemauerten Magazineingangs mit Stempeln gegen unbefugten Zugang gesichert wurde.61 Weitere Grabbeigaben bilden Aegyptiaka aus dem 8./7. Jh. v. Chr. wie Skarabäen62 , Fritteperlen63 und ein Alabastron64 . Diese Prestigeobjekte zeugen von einer Konnektivität zwischen dem Niltal und den Bewohnern des äthio-sabäischen Hochlandes. Wie Motive sabäischer Ikonographie aus Südarabien übernommen und mit lokalen Elementen wiederum zu etwas völlig Neuem kombiniert wurden, zeigt der bislang einzigartige Thron aus Hawelti65 (Abb. 10). Dieser wurde in den 1950er Jahren bei 56 Ähnliche Grabformen mit nur einer vom Schacht ausgehenden Grabkammer finden sich am Fundplatz Metera, hier vor allem mit Beigaben der aksumitischen Zeit und nur vereinzelten äthio-sabäischen Funden. F. Anfray (1967), Taf. IX–XVI. 57 Die Grabinventare der South Tombs werden im Rahmen des DFG-Projektes Yeha im Nationalmuseum Addis Abeba bearbeitet (Marlene Köster). 58 Zu den äthio-sabäischen Stempelsiegeln siehe zuletzt I. Gerlach (2018), 235f. mit weiterer Literatur. 59 Vgl. W. Seipel (1998), Kat.-Nr. 196–201. 60 W. Seipel (1998), Abb. S. 203: Zeichnung eines Krugverschlusses mit Stempelabdrücken aus dem Bar´ān-Tempel in Mārib. 61 I. Gerlach (2018), 236. 62 D. Raue (2012), 174, Abb. 5. 63 F. Anfray (1963), Taf. CLV–CLVIc. 64 F. Anfray (1973), Abb. S. 43. 65 Nationalmuseum Addis Abeba (JE 1658); zuletzt S. Wenig (2016) und I. Gerlach (2018), 237 mit weiterer Literatur.
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Abb. 7: Schachtgräber von Abiy Addi 400 m südlich des Großen Tempels in Yeha. Blick auf Grab 2 und 4, DAI, Orient-Abteilung, Irmard Wagner
Abb. 8: Keramikinventar aus dem Schacht von Grab 12 der South Tombs von Yeha. DAI, Orient-Abteilung, Johannes Kramer; Copyright: Ethiopian Heritage Authority
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Abb. 9: Bronzestempelsiegel mit Steinbockverzierung aus Yeha, Museum Yeha; DAI, Orient-Abteilung, Foto Irmgard Wagner; Zeichnung Marianne Manda
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Ausgrabungen des Ethiopian Archaeological Institute unter Leitung von Henri de Contenson an einem sakralen Platz mit Kultbauten und einem Stelenfeld gefunden.66 Throne mit zwei figürlich reliefierten Seitenflächen sowie einem baldachinartigen und zudem gewölbten, wohl eine Holzkonstruktion imitierenden Dach sind auf der südarabischen Seite des Roten Meeres völlig unbekannt.67 Jedoch ist das Motiv des Frieses aus lagernden Steinböcken,68 der die vorderen Schmalseiten und die Dachtraufe schmückt und dort mittig an einem stilisierten Lebensbaum endet, ebenso südarabisch wie die Darstellung der Thronbeine in Form von Stierhufen, die jeweils nach außen zeigen und analog zu südarabischen Altartischfüßen gestaltet sind. Beide Seiten des Throns werden von Flachreliefs verziert, die in Südarabien in dieser Art keine Parallelen haben. Figürliche Reliefs an Tempeleingängen kommen in einer anderen Stilistik in Südarabien nur im nordjemenitischen al-Jawf im 8./7. Jh. v. Chr. vor.69 Ansonsten finden sich Flachreliefs um die Mitte des 1. Jt. v. Chr. in geringer Menge auf Bronzeplatten70 und verbreiten sich dann erst mit dem mediterranen Einfluss ab dem Ende des 1. Jh. v. Chr. Links und rechts auf den reliefierten Seitenflächen des Throns wird jeweils eine stehende weibliche Figur in langem Gewand, vor sich einen Stock haltend, abgebildet, auf der linken Seite mit einem im südarabischen Wortschatz belegten Frauennamen überschrieben. Hinter der Frau steht jeweils eine wesentlich größere männliche Person mit spitzem Bart, kurzem Wickelrock und langem Umhang, rechts nur einen Fächer und links zusätzlich noch einen gekrümmten Gegenstand (Wedel?) haltend und mit einen Armreif geschmückt. Bei den abgebildeten Personen könnte es sich um den äthio-sabäischen Herrscher und um seine in den äthio-sabäischen Königsinschriften des 8./7. Jh. v. Chr. mit dem weder im nord- noch südarabischen belegten Terminus ‘rk-ytn71 bezeichnete einheimische Gefährtin handeln. Deren mit kurzen Locken gestaltete Frisur entspricht der Haarmode, die auch eine in der Nähe des Throns freigelegte Plastik einer sitzenden Frau72 ebenso wie die in Addi Gele66 H. de Contenson (1962), 68–73; H. de Contenson (1963), Taf. XXXII–XXXIII. Zu den neuen Forschungen in Hawelti siehe I. Gerlach (2014b), 42–46. 67 Zu Throndarstellungen in Südarabien siehe M. Jung (2019), wobei einige der dort angestellten Vergleiche keine Thronfragmente, sondern Verkleidungsplatten von Altären mit Architekturdekor darstellen. 68 Vgl. z. B. W. Seipel (1998), Kat.-Nr. 231–232. 69 S. Antonini (2004). 70 I. Gerlach (2017a), 355. 71 Der Terminus ‘rk-y-t-n „die Gefährtin“ findet sich im altäthiopischen Ge´ez noch heute im Tigrinya und anderen äthio-semitische Sprachen in seiner männlichen Form in der Bedeutung „Freund, Gefährte“ (siehe N. Nebes (2010), 218 mit weiteren Belegen sowie in diesem Band). 72 H. de Contenson (1963), Taf. XXXI.
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Abb. 10: Thron mit figürlichen Reliefdarstellungen aus Hawelti, National Museum Addis Abeba (JE 1658); DAI, Orient-Abteilung, Johannes Kramer; Copyright: Ethiopian Heritage Authoritiy
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mo gefundene weibliche Sitzstatuette aufweist, nicht jedoch der für Südarabien typischen Mode mit Langhaarfrisur.73 Der Herrscher mit dem spitzen Bart und kurzem Rock besitzt dagegen Ähnlichkeiten mit Männerdarstellungen auf den südarabischen Banāt ʿĀd-Reliefs aus dem 8./7. Jh. v. Chr. im Jawf.74 Folgen wir diesen Beobachtungen, könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass die äthio-sabäischen Herrscher nicht (oder nicht nur) mögliche mitgebrachte bzw. nachgeholte sabäischen Frauen heirateten, sondern auch indigene, vermutlich aus sozial hohem Stand stammende Frauen in ihre königlichen Linien aufnahmen. Als Hypothese wird hier formuliert, dass diese Frauen bei Einheirat in die sabäische Sippe einen südarabischen Namen erhielten wie dies bei der auf der rechten Seite des Thrones dargestellten Frau der Fall ist. Führen wir diese Überlegungen weiter, so könnte auf dem Thron das Aufnahme- bzw. Heiratsritual abgebildet und die zukünftige Gefährtin einmal ohne und nach Vollzug des Rituals mit südarabischen Namen dargestellt worden sein. Die hier angenommene Verbindung des sabäischen Herrschers mit einer einheimischen Frau wird dann ikonographisch als kulturelle Interaktion mit südarabischen und lokalen Attributen zum Ausdruck gebracht. IV Die sabäische Migration am nördlichen Horn von Afrika markiert einen Zeitpunkt dynamischer kultureller Interaktionen. Durch das Zusammentreffen verschiedener Kulturkreise erfolgt ein umfassender Kulturwandel mit wechselseitigen Verflechtungen. Auf der einen Seite werden im äthiopischen Hochland nicht nur die politischen und religiösen Strukturen der Sabäer übernommen, sondern auch die sabäische Schrift und Sprache sowie die in Saba verbreitete Bronzeverarbeitung eingeführt. Die administrativen wie sakralen Monumentalbauten folgen in ihrer Funktion und Raumgestaltung sabäischen Vorbildern, wenn auch mit Modifikationen in der Konstruktionsweise. Wichtige Symbole der sabäischen religiösen Ikonographie wie Steinbock, Sichel und Scheibe werden beibehalten, stilistisch allerdings teilweise anders umgesetzt. In dem gesellschaftlichen Spannungsfeld entstand aber auch völlig Neues: Dies zeigt sich bei der Gestaltung der Grabanlagen in Form von Schachtgräbern, des Beigabenrepertoires u. a. mit innerafrikanischen „Importen“ 73 Frauen mit langem Haar werden im frühen 1. Jt. v. Chr. z. B. auf den Banāt ʿĀd-Reliefs in asSawdāʾ/Naššān und Maʿīn/Qarnaw mit langem Haar dargestellt siehe S. Antonini (2004), Taf. 26 a. 32– 33. Vgl. I. Gerlach, 2018, 236. 74 S. Antonini (2004).
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wie den Aegyptiaca aber auch der Tradierung von lokalen Keramiktypen und Brenntechniken. Stempelsiegel werden mit einer neuen Formgebung verändert, auch wenn ihre Funktion grundsätzlich erhalten bleibt. Mit dem Thron von Hawelti wird im Kontakt und Austausch ein bislang einzigartiges Kultobjekt geschaffen, das nicht nur in seiner Gestalt, sondern auch in der Ikonographie der beidseitigen Reliefs die Interaktion zwischen den Kulturen aufzeigt. Mit der bildlichen Darstellung der Verbindung des äthio-sabäischen Herrschers mit einer einheimischen Frau – folgt man der vorgeschlagenen Interpretation – werden die Herrschaftsstrukturen des neuen Gemeinwesens manifestiert.
Summary Sabaean migration in the northern Horn of Africa marks a moment of dynamic cultural interaction. The encounter between different cultural spheres led to a comprehensive cultural change with mutual interdependencies. Not only the political and religious structures of the Sabaeans were adopted in the Ethiopian highlands, also the Sabaean script and language were introduced, as was bronze processing that was widespread in Saba. Function and spatial design of the administrative and sacral monumental buildings were modelled on Sabaean structures, albeit with modifications in the method of construction. Important symbols of Sabaean religious iconography, such as the ibex, sickle and disk, were retained, although stylistically different in part. Within the dynamic space of the community, something completely new also developed: this is evident in the design of the tombs that were constructed as shaft tombs, the repertoire of grave goods, including inner-African „imports“ such as the Aegyptiaca, and also the transmission of local ceramic types and firing techniques. Stamp seals changed in shape and design, even if their function remained basically the same. The throne of Hawelti is a hitherto unique cult object that was created through contact and cultural exchange: the shape reveals the interaction between the cultures, as does the iconography of the reliefs on both sides. With the pictorial representation of the union of the Ethio-Sabaean ruler with a local woman – if one follows the proposed interpretation – the power structures of the new polity were manifested.
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„Sie kamen, sahen, siegten […]?“ Die Migration der Philister nach Israel/Palästina und die Herausbildung ihrer Kultur in der frühen Eisenzeit Felix Hagemeyer, Leipzig
I. Einleitung Die historisch-politische Entwicklung auf der syro-palästinischen Landbrücke wurde im Verlauf der Antike immer wieder durch den Einfluss wechselnder Großreiche beziehungsweise Großmächte, aber auch durch stetigen Bevölkerungsaustausch (insbesondere mittels Immigration, Emigration, Flucht oder Deportationen durch fremde Imperien) geprägt. Umfassende Migrationsprozesse spielten dabei besonders für die Transitionsphase von der Spätbronzezeit III (ca. 1200/1150–1150/1100 v. Chr.) zur Eisenzeit I (ca. 1150/1100–1000/900 v. Chr.) eine bedeutsame Rolle.1 Diese Wanderungsbewegungen wurden durch vielschichtige und einschneidende Veränderungen ausgelöst, welche bereits ab dem 15. Jahrhundert v. Chr. einsetzten und den gesamten mediterranen Raum erfassten. 1
Die chronologischen Abgrenzungen der Metallzeiten für das Gebiet der Levante und insbesondere auch die Datierung der Übergangsphase von der Spätbronzezeit III zur Eisenzeit I stellen einen kontinuierlichen Gegenstand der Fachdiskussion dar. Dazu hat insbesondere der stetige Zuwachs an datierbaren Radiokarbonproben für einzelne Ortslagen aus der feldarchäologischen Tätigkeit beigetragen. In der aktuellen Forschungsdebatte steht dabei die Frage im Zentrum, ob für ganz Israel/Palästina überhaupt von einem chronologisch-einheitlichen Übergang von der Spätbronze- zur Eisenzeit ausgegangen werden kann. Wie E. Boaretto et al. (2018) jetzt in einer Metastudie auf Basis von Keramikfunden und Radiokohlenstoffproben aus Tell el-Mutesellim/Megiddo (Nordpalästina), Tell eṣ-Ṣāfī/Gat (Südpalästina) und Qubūr al-Walāyida (Südpalästina) gezeigt haben, ist eher von verschiedenen lokalen Zeitkorridoren auszugehen. Anders hingegen: I. Finkelstein (2016), 275–284. Für einen allgemeinen Überblick über die Chronologie der Stein- und Metallzeiten in der Levante vgl. I. Sharon (2014), 44–65. Eine systematische Auswertung neuerer und neuester Radiokarbondatensätze im Hinblick auf die Datierung des Auftretens der Philisterkultur bietet jetzt auch I. Finkelstein (2018), 221–231 (mit weiterer Literatur).
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Felix Hagemeyer
Zentral waren diesbezüglich der zunehmende Machtverlust Ägyptens, der Zerfall des Hethiterreichs sowie der Zusammenbruch der mykenischen Palastkultur.2 In Palästina ging die ägyptische Dominanz allmählich zurück und viele (aber nicht alle) der dortigen Stadtstaaten erlebten einen kontinuierlichen Niedergang hinsichtlich ihres ökonomischen Leistungsvermögens und ihrer Bevölkerungsentwicklung. Besonders in Südpalästina wurden einige Städte (zumindest teilweise) zerstört.3 In Teilen Nordpalästinas hingegen wie etwa in Tell el-Mutesellim/Megiddo, Tell el-Ḥöṣn/Bet-Schean und Ḫirbet el-Burǧ/Dor konnten die spätbronzezeitlichen Stadtstaatenkulturen bis in die Eisenzeit II hinein fortbestehen. Die Gründe für diese skizzierten Entwicklungen sind äußerst vielfältig und es ist ohne Zweifel von einem Zusammenspiel vieler Faktoren auszugehen. Neueste palynologische Studien zeigen, dass neben den politischen Faktoren eine weitere Ursache für die großen demographische Umwälzungen in einschneidenden klimatischen Veränderungen zu suchen ist.4 In der ausgehenden Bronzezeit kam es dabei im gesamten Mittelmeerraum zu einer langen Periode extremer Trockenheit, einem massiven Rückgang des Baumbestands sowie schwerwiegenden Ernteausfällen, was sich wiederum kritisch auf die ökonomische Lage und die Handelskreisläufe auswirkte. Der Beginn der Eisenzeit I ist im Gebiet der Küstenebene Südpalästinas in besonderem Maße durch das Auftreten einer neuen materiellen Kultur gekennzeichnet, die sich durch starke ägäische und zyprische Affinitäten auszeichnet. Besonders charakteristisch ist diesbezüglich das Aufkommen von lokal imitierter späthelladischer Keramik (Späthelladisch IIIC), die bereits in den frühesten eisenzeitlichen Strata auftritt.5 2
3 4
5
Zur Gesamtheit der historischen Rahmenbedingen und deren Auswirkungen auf Palästina vgl. unter den aktuellen Überblicksdarstellungen M.H. Wiener (2017), 43–74; C. Frevel (2018), 45–50 und A. Berlejung (2019), 89–92. Über die historischen und sozialen Entwicklungen im ägäischen Raum während des 12. Jahrhunderts informiert A. Yasur-Landau (2010), 34–96. Zur Situation im Hauptverbreitungsgebiet der Philisterkultur siehe unten, Abschnitt IV. Während in Palästina die Mittelbronzezeit IIB–C/III (ca. 1750–1550 v. Chr.) noch durch feuchtes Klima geprägt war, ist mittels umfassender palynologischer Studien (D. Kaniewski / J. Guiot / E. van Campo (2015), 369–382 und D. Langgut et al. (2015), 217–235) für die ausgehende Spätbronzezeit eine Periode extremer Trockenheit nachweisbar. Zu den ökonomischen Auswirkungen der spätbronzezeitlichen Paläoklimakrise auf das ägyptisch dominierte Palästina vgl. I. Finkelstein et al. (2017), 249–259. Weitere potentielle ökologische, ökonomische und soziale Faktoren, welche die Migrationsprozesse am Übergang von der Spätbronzezeit zur Eisenzeit induziert haben, diskutiert A. Yasur-Landau (2010), 58–96. Zur Bedeutung, Beschaffenheit und Distribution der lokal in Israel/Palästina imitierten späthelladischen Keramik des Typs IIIC (monochrome Mykene IIIC:1b-Keramik) vgl. A. Mazar (2007), 571–582. Über die philistäische Keramikkultur der frühen Eisenzeit insgesamt, die sich beispielsweise durch Bügelkannen und Kannen mit Siebausguss, Pyxiden sowie Amphoriskoi, glockenförmige Kratere und Schalen auszeichnet, informieren T. Dothan (1982), 94–218; T. Dothan / A. Zukerman (2015), 71–96 und P.A. Mountjoy (2018), 1095–1272 (mit weiterer Literatur).
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Die Migration der Philister
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Das Hauptverbreitungsgebiet dieser sogenannten „Philisterkultur“ lässt sich näherungsweise im Süden und Südwesten durch das Wādī l-ʿArīš begrenzen, im Norden durch den Naḥal HaYarkon (auf der Höhe des heutigen Tel Aviv) sowie im Osten durch die Schefela – die Übergangszone zwischen der Küste und dem judäischen Bergland. Im Westen bildet das Mittelmeer eine natürliche Grenze. Die allochthone Beeinflussung des neuartigen früheisenzeitlichen Keramikrepertoires (und weiterer Artefakte) wurde in älteren Forschungsansätzen mit Immigrationen aus dem ägäisch-zyprischen Raum beziehungsweise der Ankunft kriegerischer Kolonisatoren („Philister“; „Seevölkersturm“) verbunden.6 Die Bezeichnung als „philistäisch“ beziehungsweise „philistäische Kultur“ ergab sich einerseits durch die Korrelation mit den mehrfach in den Texten der Hebräischen Bibel erwähnten Philistern (hebr.: pelištîm), die dort in der Regel als den Israeliten gegenüber feindlich eingestelltes Nachbarvolk beschrieben sind. Andererseits durch die Gleichsetzung mit den in ägyptischen Quellen erwähnten Peleset (ägypt.: prst/pw-rꜢ-sꜢ-t), welche als das Ägyptische Reich bedrohende feindliche Krieger zu Lande und zu Wasser charakterisiert werden.7 Durch die vermehrte Ausgrabungstätigkeit der letzten 20 bis 30 Jahre insbesondere in Tell eṣ-Ṣāfī/Gat, Tel Miqnē/Ekron, ʿAsqalān/Aschkelon und ebenso in Nordsyrien konnten neue Daten gewonnen werden, in Anbetracht derer das traditionelle Narrativ hinsichtlich einer rein militärischen Kolonisation Palästinas durch die Philister zu relativieren ist. Neben der Dekonstruktion des klassischen Forschungsparadigmas widmet sich dieser Beitrag daher dem Aufkommen beziehungsweise der Entstehung der Philisterkultur anhand der Analyse archäologischer Funde sowie schriftlicher Quellen. Dabei wird zu untersuchen sein, inwieweit diese durch lokale und/oder allochthone Elemente respektive durch deren kulturelle Verflechtung geprägt wurde.
6 7
Vgl. dazu die weiteren Ausführungen unten, Abschnitt II. Für eine Zusammenschau der textlichen und ikonographischen Primärquellen, welche die Philister erwähnen beziehungsweise darstellen, vgl. E. Noort (1994), 27–112; C.S. Ehrlich (1996), 105–194; M.J. Adams / M.E. Cohen (2013), 645–664 (hier besonders: 662–664) und I. Koch (2017), 189–193. Eine pointierte historische Auswertung zentraler „Philistertexte“ der Hebräischen Bibel findet sich hingegen bei H.M. Niemann (2013), 243–264. Vgl. weiterhin auch G. Hölbl (1983), 121–142 und B. Cifola (1988), 275–306 für eine Tiefenanalyse der historischen ägyptischen Inschriften, die die Seevölker beziehungsweise Philister thematisieren. A. Yasur-Landau (2012), 549–567 untersucht die ägäischen und anatolischen Elemente in der Darstellung der Seevölker in den Reliefs von Medīnet Hābū. Für eine etymologische Herleitung des Ethnonyms „Philister“ vgl. wiederum T. Schneider (2012), 570–571, der für eine Abkunft von dem im Linear B belegten Terminus *πλώϝιστος („Seefahrer, Seemann“) plädiert.
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Felix Hagemeyer II. Das traditionelle Forschungsparadigma
Die traditionelle These zum Aufkommen der Philisterkultur ist untrennbar mit R.A.S. Macalister (1870–1950) und dessen archäologisch-historischer Forschungstätigkeit verbunden. Kurz vor dem Beginn des 1. Weltkriegs formulierte er in seiner Abhandlung The Philistines: Their History and Civilization8 das viele Jahrzehnte gültige „Philister-Paradigma“, nach welchem es im 12. Jahrhundert v. Chr. zu einer massiven Migration von Personenverbänden aus der Ägäis nach Ägypten und Israel/Palästina gekommen sei. Die Einwanderer hätten dabei das Ziel verfolgt, diese Gebiete mit kriegerischen Mitteln zu kolonisieren. Neben Macalister lieferten A. Alt (1883–1956) und W.F. Albright (1891–1971) weitere wichtige Impulse. Beide Forscher griffen dabei auf ägyptische Primärquellen wie den Papyrus Harris I sowie die Inschriften und Reliefdarstellungen aus dem ramessidischen Totentempel von Medīnet Hābū zurück.9 Albright und Alt rekonstruierten anhand des ägyptischen Quellenmaterials ägyptisch-philistäische Kriegshandlungen zu Lande und zu Wasser, in deren Ergebnis die Philister Ramses III. (ca. 1221–1156 v. Chr.) unterlagen. Später seien sie als ägyptische Söldner beziehungsweise Hilfstruppen in südpalästinischen Festungen stationiert worden, hätten dort aber nach einer gewissen Zeit selbst die vollständige Kontrollgewalt übernehmen können. Eine gewisse Modifikation dieser These wurde von R. Stadelmann (1933–2019) in der Gestalt vorgetragen, dass die Philister (als Teil der Seevölker insgesamt) zwar im Nildelta durch die Ägypter besiegt worden seien, sie sich aber während ihres Rückzugs in Südpalästina hätten festsetzen können – ohne zuvor in ramessidischen Diensten gestanden zu haben.10 Neuere Untersuchungen von D. Ussishkin (*1935) und anderen konnten zeigen, dass die lokal hergestellte späthelladische Keramik des Typs IIIC als Marker für das früheste Auftreten der philistäischen Kultur erst in Siedlungsschichten auftritt, die nach dem Ende der ägyptischen Herrschaft anzusetzen sind.11 8 9
R.A.S. Macalister (1914). Vgl. zum Folgenden A. Alt (1944), 1–20 (hier besonders: 18–20) und W.F. Albright (1975), 507–536 (hier: 507–516). 10 So: R. Stadelmann (1968), 156–171 (hier: 168–171) und ganz ähnlich auch M. Bietak (1991), 35–50. 11 Diesen Nachweis konnte erstmals D. Ussishkin ((1985), 213–230, hier besonders: 222–223) in der Mitte der 1980er Jahre bei seiner Untersuchung der Keramikdistribution in Tell ed-Duwēr/Lachisch (Strata VII und VI) erbringen. Im Zuge dessen konnte ebenso nachgewiesen werden, dass signifikante ägyptische oder ägyptisierende Funde nicht mehr in den jüngsten eisenzeitlichen Strata auftreten. Vgl. dazu auch I. Finkelstein (1995), 213–239.
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Die Migration der Philister
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Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der philistäischen Herrschaft nahm man meist eine Gründung unabhängiger Stadtstaaten im Gebiet der südpalästinischen Küstenebene mit Hauptzentren in Tell eṣ-Ṣāfī/Gat, Tel Miqnē/Ekron, ʿAsqalān/Aschkelon, Esdūd/Aschdod und Ġazze/Gaza an. Dabei wurde nach traditioneller Meinung von der Kooperation dieser Städte in einem Fünfstädtebund ausgegangen, der sogenannten philistäischen Pentapolis. Dies wurde einerseits mit Notizen in den Texten der Hebräischen Bibel begründet, wie sie beispielsweise im Gefüge der legendarischen Erzählung vom Raub der Bundeslade durch die Philister zu finden sind und die eine Kooperation der philistäischen Stadtfürsten andeuten.12 Anderseits wurde die Existenz eines Städtebundes darauf zurückgeführt, dass die Philister diese politische Organisationsform aus ihrer ägäischen Ursprungskultur übernommen hätten.13 III. Zur Frage der Existenz einer philistäischen Pentapolis Mit Blick auf das Konzept einer philistäischen Pentapolis muss aber die Frage gestellt werden, ob die Existenz einer solchen Institution tatsächlich die historischen Gegebenheiten der Eisenzeit I widerspiegelt. Dagegen lässt sich das Argument anführen, dass solche politischen Kooperationsformen im archaischen Griechenland beziehungsweise im westlichen Kleinasien frühestens für das 8. Jahrhundert v. Chr. nachweisbar sind.14 Eine Übernahme des Konzepts aus dem westlichen Mittelmeerraum bereits im ausgehenden 12. Jahrhundert v. Chr. – wie noch durch die ältere Forschung postuliert – ist also schlechthin unmöglich. Ein Vergleich der Siedlungsflächen der philistäischen Hauptorte in der Zeit des 13.–8. Jahrhunderts v. Chr. zeigt zudem, dass in wechselnder Folge immer nur eine der Städte demografisch und ökonomisch dominierte, während die anderen Siedlungen zeitgleich von geringerer Bedeutung waren.15 So verfügte beispielsweise das an der Grenze zur Schefela gelegene Tell eṣ-Ṣāfī/Gat in der Zeit des 13.–11. Jahrhunderts über eine Stadtfläche von ca. 23–27 Hektar, wuchs jedoch im 12 Vgl. 1 Sam 5,8.11. 13 Zur philistäischen Pentapolis insgesamt vgl. die Synopsen bei G.W. Ahlström (1993), 310–313; E. Noort (1994), 182–185; I. Finkelstein (2002), 137–142 und Ł. Niesiołowski-Spanó (2016), 31–34. 144–151. 14 So mit I. Finkelstein (2002), 141–142; H.M. Niemann (2003), 1088–1099 sowie C. Frevel (2018), 113. Kritisch hinsichtlich der Existenz einer philistäischen Pentapolis argumentieren jetzt auch Ł. Niesiołowski-Spanó (2016), 31–34 und I. Koch (2017), 193–196. 15 Vgl. zum siedlungsdemografischen Vergleich der philistäischen Hauptorte die Studien von I. Finkelstein (2002), 137–141 und H.M. Niemann (2013), 249–257.
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Felix Hagemeyer
10. Jahrhundert auf die Größe von 50 Hektar an.16 Damit stellt es in dieser Epoche die mit Abstand bedeutendste Siedlung in Südpalästina dar. Nach seiner Zerstörung durch König Hasael von Damaskus in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts blieb es bis zum ausgehenden 8. Jahrhundert weitestgehend unbesiedelt und war ökonomisch sowie politisch bedeutungslos.17 Das an der Mittelmeerküste nordwestlich von Tell eṣ-Ṣāfī/Gat zu lokalisierende Esdūd/Aschdod wies hingegen in der Zeit des 13.–11. Jahrhundert lediglich eine bewohnte Fläche von ca. 7 Hektar auf.18 Während es im 10. Jahrhundert (fast) gänzlich unbesiedelt war, konnte es nach einer Erneuerungsphase (9. Jahrhundert) schließlich im 8. Jahrhundert in eine demographische und ökonomischen Blütezeit eintreten. In dieser Epoche, der Eisenzeit IIB, verfügte es über eine Stadtfläche von mindestens 30 Hektar. Wieder anders präsentiert sich der Siedlungsbefund im östlich von Esdūd/Aschdod und nördlich von Tell eṣ-Ṣāfī/Gat gelegenen Tel Miqnē/Ekron.19 Diese Siedlung war im 13. und 12. Jahrhundert durch eine Größe von ca. 29 Hektar gekennzeichnet und schrumpfte im 11. Jahrhundert auf eine Fläche von nur 4 Hektar, was bis in das 8. Jahrhundert nahezu unverändert blieb. Tabelle 1: Vergleichende Übersicht über die Siedlungsflächen (in Hektar) ausgewählter Städte im Gebiet der Küstenebene Südpalästinas für die Zeit des 13.–8. Jahrhunderts v. Chr.20
Jahrhundert 13. 12. 11. 10. 9. 8.
Tell eṣ-Ṣāfī/Gat
Esdūd/Aschdod
Tel Miqnē/Ekron
2 23–27 23 50 24,5 0–1
7 7 7 0–1(?) 7 30
20 20 20 4 4 4(?)
16 Die angegebenen Siedlungsflächen für Tell eṣ-Ṣāfī/Gat beruhen auf den vorläufigen Daten der in den Jahren 1996 und 2001 im Rahmen des Tell es-Safi/Gath Archaeological Project durchgeführten Oberflächensurveys. Die Ausgrabungen vor Ort dauern seit 1995 an. Vgl. zum einstweiligen Datenstand J. Uziel / A.M. Maeir (2012), 174: Tabelle 8.1. 17 So mit A.M. Maeir (2012), 47–50. 18 Im Rahmen des Ashdod Excavation Project wurde Esdūd/Aschdod von 1962–1972 archäologisch untersucht. Die Ergebnisse konnten bis 2005 (weitestgehend) publiziert werden. Die hier verwendete Datengrundlage basiert auf H.M. Niemann (2013), 250: Tabelle 1. 19 Die archäologischen Ausgrabungen in Tel Miqnē/Ekron (Tel Miqne-Ekron Excavation Project) begannen 1981 und wurden 1996 abgeschlossen. Die Publikation der Grabungsergebnisse dauert noch an. Vgl. für eine vorläufige Übersicht über die Siedlungsflächen H.M. Niemann (2013), 250: Tabelle 1.
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Die Migration der Philister
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Ein Vergleich der Siedlungsflächen der philistäischen Hauptorte – so sie denn überhaupt kontemporär besiedelt waren – legt nahe, dass ihre Beziehungen offenbar von Konkurrenz, zeitweiliger Beherrschung beziehungsweise Abhängigkeit und allenfalls begrenzter Zusammenarbeit geprägt gewesen sein dürften. Für die Existenz eines umfänglichen Bündnissystems gleichberechtigter Partner im Sinne eines Städtebunds lassen sich keine Indizien finden.
IV. Die Philister: Kämpfer, Krieger und Kolonisatoren? In der Darstellung der Philister als äußerst kriegerisch stimmen sowohl die schriftlichen ägyptischen Quellen und ikonografischen Darstellungen als auch die biblischen Texte überein. Exemplarisch sei hier die legendarische David-undGoliat-Erzählung aus dem Textkorpus der Hebräischen Bibel angeführt. In dieser in 1 Sam 17 geschilderten Erzählung wird der Zweikampf des besonders groß gewachsenen und umfangreich bewaffneten Philisters Goliat mit dem jugendlichen und nur mit einer Steinschleuder ausgerüsteten Israeliten David beschrieben.21 Die angebliche militärische Überlegenheit der Philister kommt aber auch in solchen biblischen Notizen wie 1 Sam 13,19–22 zum Ausdruck. Nach dieser Erzählung sollen die Philister (im Gegensatz zu den Israeliten) bereits am Beginn der Eisenzeit I über Technologien zur Eisenverhüttung und Eisenverarbeitung verfügt haben. Damit wären sie besonders im Hinblick auf die Waffenproduktion dem judäischen Bergland überlegen gewesen. Archäologisch lassen sich allerdings metallurgische Installationen im Philistergebiet (zumindest bisher) frühestens für die Eisenzeit IIA nachweisen und damit erst deutlich nach dem Aufkommen der philistäischen Kultur in Palästina.22 20 Die hier verwendeten Datengrundlagen basieren auf J. Uziel / A.M. Maeir (2012), 174: Tabelle 8.1 (Tell eṣṢāfī/Gat) sowie H.M. Niemann (2013), 250: Tabelle 1 (Esdūd/Aschdod, Tel Miqnē/Ekron). Eine Analyse der eisenzeitlichen Siedlungsmuster und -hierarchien im jeweiligen Umland von Tel Miqnē/Ekron, Tell eṣ-Ṣāfī/Gat, Esdūd/Aschdod, ʿAsqalān/Aschkelon und Ġazze/Gaza findet sich bei A. Shavit (2008), 139– 153. 21 Vgl. A.J. Koller (2012), 191–197. 199 und jetzt auch S. Hasegawa (2017), 607–617 für eine philologische und exegetische Untersuchung von 1 Sam 17 im Hinblick auf die dort geschilderte Bewaffnung Goliats sowie eine archäologisch-historische Auswertung. 22 Die ältesten bisher in situ nachweisbaren Anlagen zur Eisenverarbeitung stammen aus Tell eṣ-Ṣāfī/Gat (Areal A) und können in die frühe Eisenzeit IIA (spätes 10.–9. Jahrhundert v. Chr.) datiert werden. Es handelt sich um zwei Installationen, die einerseits als Grube zum Schmelzen von Eisen und andererseits als Schmiedeherd angesprochen werden können (A. Eliyahu-Behar et al. (2012), 255–267).
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Überhaupt sind für die hier relevante Epoche in der südpalästinischen Küstenebene trotz der intensiven Ausgrabungstätigkeit kaum Waffen oder Rüstungsteile nachweisbar, was in scharfem Kontrast zu den Fundmengen aus der vorangehenden Spätbronzezeit steht.23 Als repräsentatives Beispiel für die Fundsituation in den früheisenzeitlichen Hauptsiedlungszentren an der Küste sei hier die kleine Gesamtheit der Waffenfunde aus Esdūd/Tel Aschdod angeführt. Für die gesamte Eisenzeit I–II konnten dort lediglich fünf Speerspitzen und vier Pfeilspitzen, ein bronzenes Schwert sowie zwei zusammengehörige Bruchstücke eines zweiten Bronzeschwerts ergraben werden. Weiterhin ist hier noch ein bronzenes (Kampf-)Messer zuzuordnen, bei dem es sich aber auch um ein Werkzeug handeln könnte.24 Zumindest partiell zu revidieren ist auch die These der älteren Forschung, nach der die Philister im Zuge ihrer Migration nach Israel/Palästina die spätbronzezeitlichen Städte (insbesondere im Süden des Landes) weitestgehend zerstörten.25 Bei den Ausgrabungen in ʿAsqalān/Aschkelon im Rahmen der Leon Levy Expedition ließen sich bisher überhaupt keine Zerstörungsspuren für die Zeit des Übergangs von der Spätbronzezeit zur Eisenzeit nachweisen.26 In Tel Miqnē/Ekron wiederum ist die jüngste spätbronzezeitliche Siedlungsphase (Stratum VIIIB) lediglich im Bereich der nordöstlichen Akropolis (Field INE) nachgewiesen worden, sodass es in dieser Zeit offenbar nur eine kleine Siedlung darstellte.27 Diese wurde zwar durch eine Feuersbrunst zerstört, jedoch schloss sich daran eine bescheidene Nachbesiedlung (Stratum VIIIA) an. Letztgenannte ist aufgrund des Keramikbefundes28 als spätbronzezeitlicheisenzeitliche Transitionsphase anzusprechen, welche aber noch keine materiellen Einflüsse der Philisterkultur zeigt. Daher dürfte die Destruktion der Phase VIIIIB 23 So mit A.M. Maeir (2018), 158–163. 24 Für Referenzen zu den Einzelobjekten und einen systematischen Gesamtüberblick über die geringe Zahl an eisenzeitlichen Waffen- und Rüstungsfunden aus den weiteren philistäischen Hauptsiedlungsorten vgl. A.M. Maeir (2018), 159–160. 25 Aufgrund der nur äußerst geringen archäologischen Erforschung Gazas liegen keine Daten vor, die hier berücksichtigt werden könnten. 26 Dazu L.E. Stager et al. (2008), 256–258. 304. 306. Zwischen 1920–1922 waren kleinere Bereiche Aschkelons bereits durch den britischen Palestine Exploration Fund (P.E.F.) unter Leitung von J. Garstang (1876–1956) und W.J. Phythian-Adams (1888–1967) archäologisch untersucht worden. Dabei konnte Phythian-Adams zwischen den spätbronzezeitlichen und eisenzeitlichen Strata eine Zerstörungsschicht lokalisieren, was allerdings bei den neuen Untersuchungen der Leon Levy Expedition nicht verifiziert werden konnte. Vgl. dazu J.D. Schloen (2008), 156 (mit Referenzen zur Altgrabung des P.E.F.). 27 Vgl. zum Folgenden A.E. Killebrew (2013), 80–81. 83. 85 und J. Millek (2017), 125. 28 Das keramische Fundgut ist bisher noch nicht final publiziert. Vgl. vorläufig den Kommentar bei A.E. Killebrew (2013), 83: „undecorated local coarse ware and utilitarian shapes“ und die weiteren Ausführungen ebendort.
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Die Migration der Philister
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wohl noch nicht auf philistäische Aktivitäten zurückzuführen sein. Der Übergang zum frühesten eisenzeitlichen Stratum VII (mit lokal hergestellter monochromer Philisterkeramik) gestaltete sich friedlich. In Tell eṣ-Ṣāfī/Gat konnten bis zum jetzigen Zeitpunkt die jüngsten spätbronzezeitlichen Siedlungsaktivitäten in den Arealen A, E, F und P nachgewiesen werden.29 Während es in Areal A keinerlei Hinweise auf Destruktionen gibt, hat man die Bebauung in den Arealen E und P am Ende der Spätbronzezeit zerstört. Differenzierter präsentiert sich der Befund in Areal F, wo in einigen Bereichen Zerstörungsspuren nachweisbar sind, in anderen aber nicht. Die Ausgräber gehen in ihrer vorläufigen Interpretation jedenfalls davon aus, dass es in Tell eṣ-Ṣāfī/Gat zu Teilzerstörungen durch die Philister gekommen ist, die sich vorrangig auf die in den Arealen E und F lokalisierten Wohnbereiche der Oberschicht konzentriert haben könnten.30 Ein nuanciertes Bild ergibt sich auch für Esdūd/Aschdod, welches in der relevanten Epoche (Stratum XIV) in den Arealen A, B, G und H besiedelt war. Während in Areal H keine Zerstörungspuren nachgewiesen werden konnten,31 ließ sich in den aneinander angrenzenden Arealen A und B eine umfangreiche Brandschicht lokalisieren.32 Ein Areal G dominierendes Gebäude, welches als Residenz des lokalen Herrschers anzusprechen ist, wurde um die Mitte des 12. Jahrhunderts v. Chr. partiell zerstört. Teile des Gebäudes nutzte man in der Eisenzeit IA (Stratum XIII) weiter.33 In der Gesamtschau ist also das Bild der „kriegerischen Philister“ und die Annahme einer ausschließlich militärischen Kolonisation Palästinas mindestens in Teilen zu revidieren. Zu militärischen Auseinandersetzungen ist es am Übergang von der Spätbronzezeit III zur Eisenzeit I – wenn überhaupt – nur in wenigen Städten gekommen. Dabei stellt sich die Frage, ob nicht einige der nachweisbaren Zerstörungen (wie etwa im Fall von Tel Miqnē/Ekron) auf lokale Konflikte zurückgehen, die sich aufgrund des zunehmenden Zerfalls der ägyptischen Oberherrschaft und dem damit einhergehenden instabilen politischen Klima entluden. 29 30 31 32
Zum Folgenden A.M. Maeir (2012), 18; A.M. Maeir et al. (2019), 13. So: A.M. Maeir et al. (2019), 13. Vgl. M. Dothan (1971), 155 sowie M. Dothan / D. Ben-Shlomo (2005), 3.13. Nach M. Dothan / D.N. Freedman (1967), 81 und M. Dothan (1971), 25 umfasste die Brandschicht in Areal A eine maximale Stärke von bis zu 85 cm. 33 So: M. Dothan / Y. Porath (1993), 42. 47. Vgl. zum Gesamtbefund jetzt auch J. Millek (2017), 122: „[…] there is little evidence to say that Ashdod underwent a complete destruction at the end of the Late Bronze Age nor does it appear to have been violently destroyed by an invading army.“
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V. Neuere Evidenzen für Migrationsereignisse während der frühen Eisenzeit I in Syro-Palästina An die vorangegangene Dekonstruktion der klassischen Forschungsparadigmen ist nunmehr die Suche nach einem alternativen Ansatz anzuschließen, welcher die Herausbildung der philistäischen Kultur erklären kann. Dabei ist mit Blick auf die Feststellung, dass es keinesfalls zu flächendeckenden Destruktionen der spätbronzezeitlichen Stadtstaaten in Südpalästina kam, zuvorderst zu fragen, ob das Aufkommen der Philisterkultur überhaupt mit größeren Migrationsereignissen zusammenhängt – oder nicht eher durch (weitestgehend) lokale Entwicklungen induziert wurde.34 In der Hebräischen Bibel wird eine Immigration der Philister nach Palästina zwar vorausgesetzt, aber thematisch kaum entfaltet. Für eine allochthone Provenienz finden sich letztlich nur drei knappe Notizen in den Texten: Einerseits werden die Philister in der sogenannten „Völkertafel“ von Gen 10,14 aufgezählt, wo sie als Nachkommen der Ägypter (in 2. Generation) erwähnt werden. Andererseits nennen Am 9,7 und Jer 47,4 die Insel Kaftor als ihre ursprüngliche Heimat und intendieren damit eine seegebundene Migration.35 Aufgrund der Lautähnlichkeit mit dem akkadischen Kaptāru/a beziehungsweise Kaptūru und dem ägyptischen Kftjw/K[a]-f-tú wird Kaftor in der Regel mit Kreta identifiziert.36 Einen möglichen Beleg für die Einwanderung von Seevölkern beziehungsweise Philistern nach Südanatolien und Nordsyrien könnte eine 2003 durch K. Kohlmeyer im Tempel des Wettergottes von Aleppo entdeckte luwisch-hieroglyphische Inschrift (ALEPPO 6) belegen.37 In dieser wird ein König Taita von Palistin (pa-lá/í-sà-ti-[ni]za-sa) erwähnt, welches in anderen Inschriften als Walistin bezeichnet wird.38 Ver34 Zuletzt hat I. Koch (2017), 188–205 die Bedeutung von Migrationsprozessen für die Entstehung der Philisterkultur bestritten. Seines Erachtens resultiere deren Herausbildung in der frühen Eisenzeit allein aus sozialen und ökonomischen Regionalisierungsphänomenen, die nach dem Zusammenbruch der ägyptischen Suprematie am Ende der Spätbronzezeit einsetzten. 35 Darüber hinaus werden Bewohner von Kaftor in der Hebräischen Bibel auch noch in Dtn 2,23 erwähnt – allerdings nicht im Zusammenhang mit den Philistern. 36 Vgl. M. Weippert (1980–1983), 225–330 und die dort angegebene Literatur; I. Finkelstein (2002), 148 mit weiteren Referenzen sowie C. Frevel (2018), 107. 37 Zu Baugeschichte, Bautypus, den räumlichen Bezügen, Inventar und der bildlichen Ausstattung des Wettergott-Tempels von Aleppo informieren K. Kohlmeyer (2012), 55–78 und K. Kohlmeyer (2013), 511–524. Zu den luwischen Inschriftenfunden vgl. J.D. Hawkins (2011), 35–54 sowie J.D. Hawkins (2013), 493–500. Fotos, Umschrift und Übersetzung von ALEPPO 6 finden sich bei J.D. Hawkins (2011), 40–44, Abb. 3–7. 38 Hinsichtlich neuerer diesbezüglich relevanter Inschriftenfunde ist auf die zwei im Jahr 2007 in Arsuz (Uluçınar) an der türkischen Küste südlich von İskenderun gefundenen Sturmgott-Stelen ARSUZ 1 und 2 (B. Dinçol et al. (2015)) hinzuweisen, welche die Lesung Walisitin (wa/i-lá/í-sà/si-ta/ti-ni-za)
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Die Migration der Philister
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schiedentlich wurde aufgrund der Namensähnlichkeit von Palistin mit dem hebräischen pelištîm beziehungsweise dem ägyptischen prst/pw-rꜢ-sꜢ-t ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Philistern und dem Reich des Taita hergestellt.39 Gegen eine direkte Verbindung wäre aber einzuwenden, dass die früheisenzeitliche materielle Kultur von Tell Taʿyīnāt, der mutmaßlichen Hauptstadt des Königreichs Palistin in der Amuq-Ebene (nordsyrisch-anatolisches Grenzgebiet), eher anatolischsyrisch und damit lokal geprägt war. Allochthon-ägäische Einflüsse hingegen lassen sich für diesen Zeitraum nur vereinzelt erkennen.40 Evidenzen für Migrationen aus dem Mittelmeerraum in das südliche Israel/Palästina bieten jetzt neueste DNA-Daten aus ʿAsqalān/Aschkelon.41 Im Rahmen einer im Jahr 2019 durchgeführten Studie des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte Jena (MPI-SHH) wurden 108 Proben untersucht, von denen zehn ausgewertet werden konnten, welche in die Bronzezeit sowie die Eisenzeit datieren. Im Ergebnis zeigte die DNA der früheisenzeitlichen (Eisenzeit I) Individuen – im Gegensatz zu der DNA der Individuen aus der Spätbronzezeit und der Eisenzeit II – eine hohe Affinität zu europäischen Genpools. Die größte Übereinstimmung innerhalb der europäischen Vergleichsgruppen ergab sich mit Datensätzen aus Südeuropa. Auch wenn die Probengröße dieser Untersuchung klein ist und in jedem Fall weitere Studien abzuwarten sind, kann es als erwiesen gelten, dass allermindestens ʿAsqalān/Aschkelon über einen länger andauernden Zeitraum Einwanderungen aus Europa durch kleinere Personenverbände erlebte.
bezeugen. M. Weeden (2015) bespricht zwei im Jahr 2012 in Tell Taʿyīnāt entdeckte Stelen-Fragmente mit der Aufschrift [w]a/i-la-s[à]-ti-ni-za. Eine Übersicht über ältere Inschriftenfunde bietet M. Hutter (2013), 55 (mit Literatur) und die Etymologie der Toponyme Palistin und Walistin diskutiert T. Schneider (2012), 571–572. 39 Vgl. etwa B. Sass (2010), 569–574 und M. Hutter (2013), 53–64 (hier besonders: 55–57). 40 G. Lehmann (2013), 265–328 konnte anhand einer eingehenden Analyse der materiellen Kultur des Libanon und des westlichen Syrien zeigen, dass sich am Übergang von der Spätbronzezeit zur Eisenzeit kein distinkter Bruch nachwiesen lässt. Stattdessen wurden offenbar lokale spätbronzezeitliche Traditionen und Entwicklungen insbesondere in den Bereichen von Architektur und Keramik sowie Sepulkralkultur in der Eisenzeit fortgeführt. Mit G. Lehmann (2013), 327 gilt dies auch für die Amuq-Ebene mit Tell Taʿyīnāt, wo Diskontinuitäten in der materiellen Kultur für den entsprechenden Zeitraum nur graduell verifizierbar seien. Anders hingegen: B. Janeway (2017), 44–123, der zumindest mit Blick auf das Keramikrepertoire des Amuq-Gebiets für eine Zurückdrängung von syro-anatolischen Elementen durch ägäische Einflüsse im späten 12 bis 11. Jahrhundert v. Chr. optiert. Diese Entwicklung sei seines Erachtens vorrangig auf Migrationsprozesse zurückzuführen. 41 Zum Folgenden M. Feldman et al. (2019), 1–10 (hier: 3. 6–7).
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Felix Hagemeyer VI. Die früheisenzeitliche Philisterkultur – lokal, allochthon, oder Ausdruck kultureller Verflechtung?
Da die Küstenebene im Untersuchungszeitraum nachweislich als Kontaktzone42 fungierte, in der verschiedenste multiethnische und multikulturelle Personenverbände auf diversen Ebenen interagierten, liegt es nahe zu fragen, wie genau die kontemporär auftretende philistäische Kultur durch lokale und/oder allochthone Elemente beziehungsweise deren Verflechtung (Entanglement)43 geprägt wurde. Dies soll im Folgenden erstens anhand solcher textlicher Quellen und materieller Überreste (wie Tempelarchitektur und -ausstattung sowie Figurinenrepertoire) untersucht werden, die mit Kult und Religion assoziiert sind. Zweitens wird unter dieser Fragestellung „die“ philistäische Schrift (beziehungsweise Sprache) mittels repräsentativer epigrafischer Quellen analysiert.
VI.I Kult und Religion Das Textspektrum der Hebräischen Bibel, welches an sich die Religion und den Kult des kleinkammerigen judäischen Berglands repräsentiert, kennt die Götter Dagon (hebr.: Dāgôn) und Baal-zebub (hebr.: Baʿal Zĕbûb), die im Philistergebiet verehrt worden sein sollen. Für Dagon existierte nach der Erzählung von 1 Sam 5,1–8 ein Tempel mit Standbild in Esdūd/Aschdod, der allerdings bisher archäologisch nicht nachgewiesen werden konnte.44 Ein weiteres kultisches Zentrum bestand zumindest nach der Notiz von Ri 16,23 in Ġazze/Gaza. Während Dagon insbesondere in der Spätantike und im Mittelalter aufgrund der Ableitung vom hebräischen Nomen dāg (Fisch) als 42 Zur Typologie von kulturellen Kontaktzonen allgemein vgl. C. Ulf (2014) und zur Anwendung dieses Konzepts auf die südpalästinische Küstenebene P.W. Stockhammer (2018). Vgl. ebenso A.M. Maeir / L.A. Hichcock (2017), 152. 154. 43 Die Bedeutung von kulturellen Verflechtungen beziehungsweise Transkulturalität für die durch Globalisierung geprägten modernen Gesellschaften wird in den Sozial- und Kulturwissenschaften spätestens seit den frühen 1990er Jahren umfassend untersucht. Zum Begriff der Transkulturalität und dessen Definition vgl. W. Welsch (2010) und für verschiedene ethnologische Zugänge die Aufsätze in B. Hauser-Schäublin / U. Braukämper (2002). 44 Ein weiteres Mal wird ein Dagon-Tempel in 1 Chr 10,10 erwähnt, der sich in Tell el-Ḥöṣn/Bet-Schean (1 Sam 31,10) befunden haben soll. Die griechische Septuaginta berichtet für die hellenistische Zeit, dass Jonathan Makkabäus (gestorben 143 v. Chr.) im Zuge der militärischen Auseinandersetzung zwischen Seleukiden und Hasmonäern den aschdodischen Dagon-Tempel (griech.: τὸ ἱερὸν Δαγων) anzünden ließ.
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Fischgottheit interpretiert wurde,45 dürfte es sich tatsächlich um eine lokale Variante des westsemitischen Gottes Dagān handeln. Letzterer wurde vorrangig in Syrien, aber auch in Mesopotamien verehrt.46 Die etymologische Deutung des Namens Dagān ist diffizil und konnte bisher nicht befriedigend gelöst werden.47 Einerseits wäre mit der Ableitung von dem im Ugaritischen, Phönizischen und Hebräischen belegten Nomen dagān („Korn“) an eine Fruchtbarkeits- beziehungsweise Korngottheit zu denken. Andererseits liegt vom indo-europäischen dh eĝh om („Erde“) ausgehend ein Funktionsspektrum als Erdgottheit nahe.48 Wenig wahrscheinlich dürfte hingegen die Herkunft von arabisch daǧana („bewölkt, finster, regnerisch“) sein, das semantisch sekundär und auch nur im Arabischen belegt ist.49 Als weitere Gottheit erwähnt die Hebräische Bibel in 2 Kön 1,2–3.6.16 Baal-zebub von Ekron, dessen Orakel durch den erkrankten König Ahas von Juda konsultiert worden sein soll. Etymologisch kann diese Gottesbezeichnung wahrscheinlich von hebräisch Baʿal Zĕbûb („Herr der Fliegen“) abgeleitet werden.50 Zweifelsohne handelt es sich um die lokale Ausprägung einer semitischen Baal-Gottheit, deren Funktionsspektrum Heilung umfasste und/oder möglicherweise den Schutz vor Ölfliegen.51 Wenn dem so war, dann könnte ihre Verehrung vielleicht mit der archäologisch gut bezeugten Olivenölproduktion in Tel Miqnē/Ekron während der Eisenzeit IIC (7. Jahrhundert 45 Vgl. für Referenzen zu spätantiken und mittelalterlichen Primärquellen I. Singer (1992), 443. 46 Mit L. Feliu (2013), 2–3 und J. Emanuel (2015), 32–33 (jeweils mit Übersicht über die Primärquellen) lässt sich das Hauptverbreitungsgebiet Dagāns in Syrien ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. im Bereich des mittleren Euphrat (mit Zentren in Tell Harīrī/Mari, Tell Bīʿa /Tuttul, Tell al-Ašāra/Terqa) festmachen, aber auch in westlicheren Gebieten wie in Tell Mardīḫ/Ebla. Die Verehrung dieses Gottes in Ugarit war nach I. Singer (1992), 437 und J.F. Healey (1999), 216–217 – aufgrund der nur geringen textlichen Bezeugung in den ugaritischen Mythen – hingegen von sekundärer Bedeutung. Für eine Verehrung im Israel/Palästina der vorchristlichen Zeit gibt es keinerlei außerbiblischen Belege. 47 Zur Problemanzeige vgl. schon J.F. Healey (1999), 217, sowie I. Kottsieper (2013). 48 Nach I. Singer (1992), 431–450 (hier besonders: 436–437. 439–441. 444–445. 450) sei die DagonVerehrung in Palästina überhaupt erst im Zuge der philistäischen Migration eingeführt worden. Dabei habe Dagon als Erd-, Fruchtbarkeits- und Korngottheit das Funktionsspektrum der ägäischanatolischen Muttergottheit ausgefüllt, welche die Philister ursprünglich verehrt hätten. Dazu auch M. Hutter (2013), 59 und für die Deutung Dagons als Korngottheit zuletzt C. Frevel (2018), 112. Kritisch hingegen I. Kottsieper (2013): „Auf jeden Fall abzulehnen ist eine etymologische Verbindung zu hebräisch ָד ָּגןdāgān „Getreide“, das auf *dagan mit kurzen Vokalen zurückgeht und damit auch nicht der kanaanäischen Vokalverschiebung zu o unterworfen war.“ 49 So mit J.F. Healey (1999), 218 und L. Feliu (2013), 3. 50 Zu Baal-zebub von Ekron vgl. W. Herrmann (²1999), 154–156 sowie H. Niehr (2011), 742 (mit weiterführender Literatur). 51 So zuletzt C. Frevel (2018), 112.
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v. Chr.) in Verbindung gestanden haben.52 Festzuhalten ist, dass die wenigen in der Hebräischen Bibel beschriebenen Elemente des philistäischen Kults eine weitestgehend lokalpalästinisch-semitische Prägung erkennen lassen. Dabei ist es fraglich – wie etwa im Fall des Baal-zebub von Ekron –, ob die Texte überhaupt ein gewisses Echo früheisenzeitlicher Realitäten spiegeln, oder deutlich spätere Gegebenheiten. Unter chronologischem Blickwinkel erheblich gesicherter präsentiert sich der archäologische Befund in der Küstenebene. Als Ausdruck des Offizialkults konnten dort bislang Tempelanlagen aus der (späteren) Eisenzeit I in Tell el-Qasīle (heute: Ramat Aviv), Naḥal Paṭṭiš/Wādī Zumēlī und Tell eṣ-Ṣāfī/Gat ergraben werden. In Tell el-Qasīle wurden in den Strata XII–X insgesamt drei Tempel übereinander errichtet, wobei sich das jüngste Heiligtum, Tempel 131 (Stratum X), als am repräsentativsten erweist.53 Das rechteckige Gebäude – bei dem es sich um einen vergrößerten Umbau des Vorgängergebäudes (Tempel 200, Stratum XI) handelt – kann als Langhaus mit Knickachszugang angesprochen werden. Die Haupthalle war entlang der zentralen Achse mit zwei Säulenbasen ausgestattet und verfügte über eine erhöhte Plattform (Locus 133) sowie an den Außenwänden umlaufende Depositbänke. Neben weiteren Artefakten zeugen zahlreiche anthropomorphe und zoomorphe Libationsgefäße mit für die südpalästinische Küstenkultur der späten Eisenzeit I typischem Dekor („Philisterdekor“) von umfangreichen kultischen Aktivitäten.54 Eine den Tempeln von Tell el-Qasīle (Strata XI–X) ähnliche Architektur weist der in das späte 11. bis frühe 10. Jahrhundert v. Chr. datierende Tempel von Naḥal Paṭṭiš/Wādī Zumēlī (Stratum II) auf, der zwischen 2006 und 2008 ergraben wurde.55 Die L-förmige Gesamtanlage bestand aus einem nordwestlich gelegenen Hof (Locus 249), einem Vorratsraum im Süden (Locus 261) und dem Tempelgebäude selbst 52 In Tel Miqnē/Ekron (Stratum IC–B, Eisenzeit IIC) konnten bisher 115 Installationen zur Olivenölproduktion nachgewiesen werden, die auf eine Produktion in industriellem Maßstab hindeuten. Die Funde von mehr als 600 Webgewichten implizieren, dass die Ölherstellung durch komplementäre Textilindustrie flankiert wurde. Insgesamt konnten in Ekron nach vorläufigen Berechnungen wohl jährlich bis zu 1000 Tonnen Olivenöl produziert werden. Vgl. zum archäologischen Befund S. Gittin (1997), 87– 91 und T. Dothan / S. Gittin (2008), 1955–1956. 53 Das nur sehr kleine aus Lehmziegeln errichtete Gebäude des Stratums XII (Tempel 319) kann als Einraumtempel angesprochen werden. Dieser verfügte über eine erhöhte Plattform im Zentrum und Depositbänke an den Außenwänden (A. Mazar (1980), 13–16, Abb. 4–5). An gleicher Stelle wurde in Stratum XI ein neues Tempelgebäude (Tempel 200) errichtet, dessen Außenmauern aus unbehauenem Kurkar-Stein (eine weiche Sandsteinart) bestanden (A. Mazar (1980) 21–24, Abb. 6–7). 54 Zur Architektur des Tempels 131 vgl. A. Mazar (1980), 33–40, Abb. 9–12 und zu den Libationsgefäßen A. Mazar (1980), 101–112, Abb. 34–41. Für die weiteren Keramik- und Kleinfunde siehe A. Mazar (1985). 55 So: P. Nashoni / I. Ziffer (2009), 543 und D. Ben-Shlomo (2019), 6. Vgl. zum Folgenden P. Nashoni (2009); D. Vieweger (2012), 461–464.
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(Locus 211). Zusätzlich verfügte sie über mehrere Nebengebäude. Das eigentliche Tempelhaus ist als Langraum mit Knickachszugang anzusprechen und war mit einem Podest an der Ostwand sowie mehreren Depositbänken entlang der äußeren Mauern ausgestattet. In Tell eṣ-Ṣāfī/Gat wiederum hat man im Bereich des Areal D zwei Tempelbauten nachgewiesen, die einerseits in der späten Eisenzeit I/frühen Eisenzeit IIA (Stratum D4) und andererseits in der Eisenzeit IIA (Stratum D3) errichtet wurden.56 Der Grundriss des älteren Gebäudes in Stratum D4 konnte bisher nicht vollständig rekonstruiert werden. Der aktuelle Grabungsbefund deutet jedoch auf ein Langhaus mit zwei von Nord nach Süd ausgerichteten Räumen hin, die durch drei Säulen gegliedert wurden. Östlich davon schloss sich ein dritter Raum an. Unter den im Gebäude bisher entdeckten Kleinfunden sind 17 Votivgefäße und das Gehäuse einer Tonna Galea (Große Tonnen- oder Fassschnecke) hervorzuheben, welches üblicherweise als Votivgabe in der spätbronzezeitlichen Ägäis Verwendung fand.57 In der Gesamtschau ist mit Blick auf Grundriss und Ausstattungen der hier besprochenen Tempelanlagen von Tell el-Qasīle, Naḥal Paṭṭiš/Wādī Zumēlī und Tell eṣ-Ṣāfī/Gat festzustellen, dass diese Bauten mit vielen ihrer Merkmale an die syro-palästinischen Traditionen der Bronzezeit anknüpfen. Vergleichbare Tempelgebäude aus der Spätbronzezeit sind beispielweise in Tell el-Ḥöṣn/Bet-Schean und Tell ed-Duwēr/Lachisch nachweisbar.58 Die mit den früheisenzeitlichen Anlagen assoziierte Keramik und andere Kleinfunde lassen hingegen gleichermaßen lokale und allochthone Einflüsse (etwa aus der Ägäis) erkennen. Aktivitäten des Privatkults lassen sich exemplarisch anhand von häuslichen Kultnischen rekonstruieren. Diesbezüglich konnte im Jahr 2009 in ʿAsqalān/Aschkelon mit Gebäude 572 (Grid 38, Phase 20) ein gut erhaltenes Lehmziegelhaus aus dem 12. Jahrhundert v. Chr. ausgegraben werden.59 Zentrales Charakteristikum der Ausstattung stellt eine mit Kalk verputzte Installation aus getrocknetem Lehm beziehungsweise Erde (Installation 539) an der Ostwand des Gebäudes dar. Die Installation wurde durch die Ausgräber als Hörneralter angesprochen, der zyprische Einflüsse wi56 Das Folgende nach A. Dagan / M. Eniukhina / A.M. Maeir (2018), 28–33 sowie D. Ben-Shlomo (2019), 6. 57 A. Dagan / M. Eniukhina / A.M. Maeir (2018), 31. 58 Hier M. Sala (2018), 354–357 und D. Ben-Shlomo (2019), 5–6. 19–20 folgend. Vgl. aber auch schon A. Mazar (1980), 68. Über die Tempelbauten von Troja, Mykene und Kreta in der ägäischen Bronzezeit (ca. 3200–1050 v. Chr.) informiert G. Gruben (2001), 12–24. 59 Vgl. zum Folgenden D.M. Master / A.J. Aja (2011), 136–140.
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derspiegele.60 In gleicher Weise verdeutlichen die Begleitfunde wie ein pyramidales Webgewicht (mit Parallelen aus dem zyprischen Kition) und ein Fayenceobjekt in der Form einer Weintraube mit zahlreichen Weinbeeren61 (mit Parallelen aus Ägypten: Tell el-Amarna und Medīnet Hābū), dass der Privatkult in ʿAsqalān/Aschkelon durch verschiedene multikulturelle (syro-palästinische, ägyptische, zyprische und ägäische) Einflüsse geprägt war. Allochthone Elemente im früheisenzeitlichen Privatkult lassen sich zudem anhand des Auftretens von sogenannten Aegean-Styled Figurines greifen.62 Charakteristisch sind (meist bichrom dekorierte) bovine Figurinen und stehende weibliche Idole des Psi-Typus, die lokale Imitationen späthelladischer Psi-Figurinen (Späthelladisch IIIC) darstellen. Von besonderer Bedeutung sind sitzende weibliche Idole, unter denen wiederum die sogenannten Aschdoda-Figurinen63 mit kleinem kalathosartigem Kopf sowie applizierten Augen, Nase und Ohren hervorzuheben sind. Diese Artefakte, welche neben einem verlängerten Hals über einen Torso verfügen, der mit einem stuhlartigen Möbelstück verschmolzen ist, zeichnen sich durch ein charakteristisches bichromes (schwarz-rotes) Dekor auf weißem Überzug aus. Somit lassen sich eine starke zypro-ägäische Prägung und zugleich Einflüsse aus Ägypten und Syro-Palästina erkennen. Lokale und allochthone Elemente wurden aber nicht nur überwiegend im Bereich des Privatkults verflochten, sondern solche Amalgamierungen waren auch im Bereich des Offizialkults keine Einzelfälle. Dies belegen neben den schon angesprochenen Weihegaben aus den Tempelanlagen von Tell el-Qasīle, Naḥal Paṭṭiš/Wādī Zumēlī und Tell eṣ-Ṣāfī/Gat auch die Kultständer aus der Favissa von Yavne (Eisenzeit IIA).64 Letztere diente dabei als Votivdeposit für einen nahegelegenen Tempel, der jedoch bisher nicht lokalisiert werden konnte. Die 119 identifizierten Kultstän60 Fotos bei D.M. Master / A.J. Aja (2011), Abb. 6–8. 61 Foto bei D.M. Master / A.J. Aja (2011), Abb. 9. 62 Vgl. zu den Aegean-Styled Figurines D. Ben-Shlomo / M.D. Press (2009), 39–74 und D. Ben-Shlomo (2010), 31–51. 100–103 mit Abb. 3. 1–11. 52–53. Vgl. ebenso M.D. Press (2014), 140–171 (hier besonders: 141–148.) 63 Die zentralen Charakteristika der sogenannten Aschdoda-Figurinen wurden anhand eines bei den Ausgrabungen in Esdūd/Aschdod gefundenen und nahezu vollständig erhaltenen Exemplars (M. Dothan (1971), Fig. 91:1; R. Schmitt (1999), 608. 650: Kat. Nr. 19) rekonstruiert. Vgl. zu den Eigenschaften dieses Figurinentypus auch D. Ben-Shlomo (2010), 45–51 und für umfangreiche Literaturangaben D. BenShlomo (2019), 13–14. 64 Die Grabungsergebnisse sind nun seit wenigen Jahren in zwei Bänden (R. Kletter / I. Ziffer / W. Zwickel (2010) und R. Kletter / I. Ziffer / W. Zwickel (2015)) final publiziert.
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der vereinen in einer Objektklasse spätbronzezeitliche syro-palästinische Charakteristika auf der Ebene des Motivspektrums mit ägäisch-zyprischen Elementen auf der Ebene des (bichromen) Dekors.65 In der Gesamtschau zeigt sich anhand des archäologischen Befunds, dass der früheisenzeitliche Kult an der Südküste Palästinas weder ausschließlich durch allochthone Elemente geprägt war, noch stellte er eine bloße Fortsetzung der spätbronzezeitlichen syro-palästinischen Traditionen dar.66 Vielmehr entstand im Zuge eines komplexen kulturellen Entanglement ein Neokult – unter der Aufgabe älterer Kultbestandteile bei gleichzeitiger Amalgamierung von lokal-palästinischen mit allochthonen (ägäischen, zyprischen etc.) Elementen. Dieser Neokult war dabei keineswegs uniform geprägt, sondern heterogen und durch Regionalismen, was sich etwa anhand der differierenden Dekorausführungen der Votivgaben aus den Tempeln im Gebiet der Küstenebene erkennen lässt.67
VI.II Sprache und Schrift Die in der Eisenzeit I im Hauptverbreitungsgebiet der Philisterkultur gesprochene(n) Sprache(n) lässt beziehungsweise lassen sich aufgrund des nur äußerst fragmentarisch überlieferten epigrafischen Korpus lediglich als „Trümmersprache[n]“ beziehungsweise „debris language[s]“ (T. Schneider68 ) rekonstruieren. Trotz dieser Ausgangsposition kann die Annahme der älteren Forschung, nach der die Philister eine Art des mykenischen Griechisch gesprochen und höchstwahrscheinlich ein Schriftsystem mit ägäischem Charakter verwendeten hätten, als unbegründet zurückgewiesen werden. Schließlich sind die überlieferten früheisenzeitlichen und mit der philistäischen Kultur assoziierten Inschriften größtenteils durch lokale 65 I. Ziffer (2010), 65–66; D. Ben-Shlomo (2019), 7. 19–20. 66 Weitere allochthone Einflüsse auf den früheisenzeitlichen Kult an der Küste Südpalästinas lassen sich beispielsweise anhand der Verwendung von zyprischen Kernoi, zyprisch beeinflussten Zeremonialmessern sowie Rinder-Scapulae mit Einritzungen greifen. Löwenkopfrhyta, die in der Regel bichrom dekoriert waren und als Libations- oder Trinkgefäße Verwendung fanden, könnten syrisch-anatolische Einflüsse repräsentieren. Für Referenzen zu Rhyta-Funden auf dem Gebiet des heutigen Staates Israel vgl. E. Mazar / M. Karlin (2015), 539–540. 67 Zu den regionalen Ausprägungen der philistäischen Kultur insgesamt informieren A.M. Maeir / L.A. Hitchcock / L.K. Horwitz (2013), 3–15. Vgl. jetzt auch A.M. Maeir / L.A. Hitchcock (2017), 152 (mit weiterer Literatur). 68 T. Schneider (2012), 570: Fußnote 1.
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semitische Dialekte und damit überwiegend afro-asiatisch geprägt.69 Eindeutige Bezüge zum spätbronzezeitlichen Schriftsystem der Ägäis sind hingegen kaum erkennbar. Unbeschadet dessen lassen sich vereinzelte indo-europäische Elemente der philistäischen Sprache(n) in der Überlieferung von Gottes- und Personennamen (wie etwa Dāwīd) in der Hebräischen Bibel sowie auch anhand einzelner Epigrafe nachweisen.70 Ein Beispiel für die Beeinflussung des philistäischen Inschriftenkorpus durch indoeuropäische Elemente stellt das sogenannte Aphek Tablet 71 dar. Die Tafel wurde in einem früheisenzeitlichen Fundkontext in Rās el-ʿĒn/Afek entdeckt, jedoch haben petrografische Untersuchungen gezeigt, dass das Objekt ursprünglich aus der Gegend von Tell eṣ-Ṣāfī/Gat stammt. Die verwendete Schrift lässt Beeinflussungen durch altorientalische Sprachen erkennen, aber ebenso durch ägäisch-zyprische Schriftsysteme wie insbesondere das Linear A.72 Trotz dieser Bezüge weist das Epigraf einen völlig singulären Charakter auf, sodass es bisher nicht vollständig dechiffriert werden konnte. Vielleicht handelt es sich um einen misslungenen Nachahmungsversuch einer ägäischen Schrift, oder es liegt möglicherweise eine Pseudoschrift vor, die für einen illiteraten Auftraggeber angefertigt wurde.73 Unter ganz ähnlichen Voraussetzungen entstand gegebenenfalls die sogenannte „kypro-minoische“ Inschrift aus ʿAsqalān/Aschkelon,74 die aus einem Fundkontext des 11. Jahrhunderts v. Chr. (Grid 38, Phase 17) stammt. Während vier der insgesamt sieben Buchstaben dem kypro-minoischen Schriftsystem zuzuordnen sind, konnten drei Buchstaben bisher nicht gedeutet werden.75 Auch wenn sich „die“ in der Eisenzeit I verwendete philistäische Schrift respektive Sprache nicht vollständig rekonstruieren lässt, dürfte es wahrscheinlich sein, dass sie sich im Zuge eines kulturellen und sozialen Entanglement zwischen lokaler Be69 Eine Zusammenstellung zentraler mit der philistäischen Kultur assoziierter Inschriften findet sich jetzt bei B. Davis / A.M. Maeir / L.A. Hitchcock (2015), 142–157. Zur späteisenzeitlichen Weihinschrift aus Ekron (7. Jahrhundert v. Chr.) vgl. jetzt A. Fantalkin (2017) und A. Berlejung (2019), 268–279. 70 So mit M. Hutter (2013), 58–59. Vgl. auch C. Frevel (2018), 112. Ł. Niesiołowski-Spanó (2016), 180–251 untersucht die im Textkorpus der Hebräischen Bibel überlieferten (potentiellen) indo-europäischen Personen- und Gottesnamen, die seines Erachtens mit den Philistern zu verbinden sind. Zum Personennamen Dāwīd vgl. T. Schneider (2012), 575–576. 71 Fotos und Umzeichnungen bei I. Singer (2009), Abb. 16:1–2. 72 So mit I. Singer (2009), 476–480. 73 Vgl. B. Davis / A.M. Maeir / L.A. Hitchcock (2015), 148. 74 Foto und Umzeichnung bei F.M. Cross / L. Stager (2006), Abb. 1. 75 Dazu B. Davis / A.M. Maeir / L.A. Hitchcock (2015), 148–149 (mit weiterführender Literatur).
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völkerung und Migrantengruppen herausbildete. Im Vergleich mit der Genese des früheisenzeitlichen Kults76 kam dabei allochthonen (indo-europäischen) Elementen gegenüber lokal-semitischen Einflüssen ein vermindertes Gewicht zu.77 VII. Ergebnisse Ab der ausgehenden Spätbronzezeit kam es ausgelöst durch eine größere Zahl an Faktoren (wie etwa den Zusammenbruch der mykenischen Palastkultur und Klimaveränderungen) zur Immigration von Personenverbänden nach Südpalästina. Dies belegen neueste DNA-Daten, Hinweise in ägyptischen Quellen und der Hebräischen Bibel sowie das Aufkommen einer neuen materiellen Kultur in der Küstenebene, die traditionell als Philisterkultur bezeichnet wird. Die Zuwanderungen vor allem aus Zypern, der Ägäis und Anatolien vollzogen sich dabei konträr zu den Ansätzen der älteren Forschung (R.A.S. Macalister, W.F. Albright, A. Alt und andere) weder als punktuelle Masseneinwanderungen über das Mittelmeer noch ausschließlich als kriegerischer Kolonisationsprozess. Die vorangegangene Analyse hat vielmehr ergeben, dass die südpalästinische Küstenebene durch kontinuierliche (nicht nur see-, sondern auch landgebundene) Zuwanderungen eher kleinerer Personenverbände über einen längeren Zeitraum geprägt wurde. Die Region fungierte dabei als Kontaktzone, was die gewaltlose Interaktion und Verflechtung verschiedenster ethnisch, sozial und kulturell inhomogener Migrantengruppen mit der lokalen semitischen Bevölkerung ermöglichte.78 Dabei bildete sich erst im Verlauf der frühen Eisenzeit die Philisterkultur unter partiellem Verlust beziehungsweise der Aufgabe von früheren „eigenen“ Kulturelementen bei gleichzeitiger Annahme neuer „fremder“ Kulturbestandteile heraus. Diese Neokultur war – selbst in dem nur kleinen Gebiet der südpalästinischen Küstenebene – keineswegs uniform gestaltet, sondern zeichnete sich teils durch beachtliche Regionalismen (beispielsweise im Bereich des Kults) aus. Berücksichtigt man diese Diversität müssen historische Rekonstruktionsansätze zurückgewiesen werden, die im Sinne einer ethnogenetischen Theorie die Herausbildung „der Philister“ als neue, festgefügte, kulturell und genetisch abgrenzbare Volks76 Siehe oben, Abschnitt VI.I. 77 Die Gründe für diese Entwicklung lassen sich historisch nicht sicher erheben. Für mögliche Erklärungsansätze vgl. jetzt A. Berlejung (2019), 259. 78 Unbeschadet dessen kann es im Zuge des Einwanderungsprozesses aber auch zu militärischkriegerischen Auseinandersetzungen gekommen sein, worauf die Teilzerstörungen in Tell eṣ-Ṣāfī/Gat (Areale E und F) hindeuten könnten. Siehe dazu oben, Abschnitt IV.
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gruppe mit geschlossener Identität postulieren.79 Stattdessen sollten „die Philister“ als ein stark durch Migration geprägtes und dynamisches Kulturphänomen verstanden werden, welches durch kontinuierliches Entanglement ständigem Wandel unterworfen war.
Summary Immigration to the coast of Israel/Palestine during the Late Bronze and Early Iron Ages has preoccupied researchers since the early 20th century. While for decades it was assumed Sea Peoples or Philistines migrated to the Levant in larger waves accompanied by warlike confrontations, the results of more recent excavations point to far more complex and longer-lasting processes. Therefore, this chapter is dedicated to the importance of the Levantine coastal plain as a contact zone during the Early Iron Age. Here, the indigenous population mixed with ethnically, socially and culturally inhomogeneous migrant groups, thus, leading through constant entanglement, to the emergence of the Philistine culture.
Literatur Adams, M.J. / Cohen, M.E., The “Sea Peoples” in Primary Sources, in: A.E. Killebrew / G. Lehmann (Hg.), The Philistines and other “Sea Peoples” in Text and Archaeology, Archaeology and Biblical Studies 15, Atlanta, GA 2013, 645–664. Ahlström, G.W., The History of Ancient Palestine, Minneapolis, MN 1993. Albright, W.F., Art. „Syria, the Philistines and Phoenicia“, in: I.E.S. Edwards / C.J. Gadd / N.G.L. Hammond / E. Sollberger (Hg.), Cambridge Ancient History II/2, Cambridge ³1975, 507–536. Alt, A., Ägyptische Tempel in Palästina und die Landnahme der Philister, in: Zeitschrift des Deutschen Palästinavereins 67, 1944, 1–20. Ben-Shlomo, D., Philistine Iconography: A Wealth of Style and Symbolism, Orbis Biblicus et Orientalis 241, Fribourg/Göttingen 2010. 79 In jüngerer Zeit wurden solche Ansätze besonders durch A. Faust und J. Lev-Tov (vgl. etwa A. Faust (2013) und A. Faust / J. Lev-Tov (2014)) vorgetragen. Zu den für das eisenzeitliche Israel/Palästina in der aktuellen Forschung stark diskutierten Identitätskonzepten beziehungsweise -konstruktionen wie „philistäisch“, „judäisch“, „israelitisch“, „kananäisch“ und deren Verhältnis zueinander siehe jetzt A.M. Maeir (2019) (mit weiterer Literatur).
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Die Migration der Philister
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Die Aramaisierung des Vorderen Orients Migration oder Infiltration? Ingo Kottsieper, Göttingen/Münster
Nachdem im 12. Jh. v. Chr. die syrische Stadtstaatenwelt kollabiert war,1 entwickelten sich im Übergang zum 1. Jtsd. v. Chr. in Syrien, Palästina und Transjordanien neue politische Strukturen, die durch lokale Königreiche geprägt wurden. Im Rahmen dieser Neuorganisation der syrischen Staatenwelt tritt mit den Aramäern eine in den erhaltenen Quellen zuvor niemals erwähnte Gruppe auf, deren Sprache dann aber ab dem Ende des 9. Jh.s v. Chr. als Inschriftensprache an verschiedenen Orten des Vorderen Orients belegt ist und zu einer Lingua franca des Orients wurde. Dies führt natürlich zu der Frage, wer diese Aramäer waren, die einen solch nachhaltigen Einfluss auf die Sprachwelt des Alten Orients im 1. Jtsd. v. Chr. hatten. So fand gerade in den letzten 25 Jahren die Geschichte der Aramäer das Interesse mancher Forscher.2 Dabei lässt sich ein gewisser Pan-Aramaismus beobachten, der dazu geführt hat, dass – unbeschadet des Gebrauchs des Aramäischen als Lingua franca und damit als überregionaler und transethnischer Sprache – für alle Gegenden, in denen Inschriften aus den ersten Jahrhunderten des 1. Jtsd. v. Chr. gefunden wurden, unkritisch davon ausgegangen wird, dass man es dort mit aramäischen Politien oder Bevölkerungsgruppen zu tun hat.
1 2
Vgl. E.H. Cline (2015). Dies zeigt die folgende Auswahl großer Monografien und Sammelbände aus den letzten Jahren: P.E. Dion (1997); E. Lipiński (2000); A. Berlejung / M.P. Streck (2013); H. Niehr (2014); K.L. Younger (2016); O. Sermi / M. Oeming / I.J. de Hulster (2016); A. Berlejung / A.M. Maeir / A. Schüle (2017); J. Dušek / J. Mynářová (2019).
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e Qawa/
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Ḥaḏrak
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Ḥamā
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78 Ingo Kottsieper
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© Ingo Kottsieper
Radān u
Die Aramaisierung des Vorderen Orients
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Als Beispiel hierfür sei Ḥamā gewählt. Das Gebiet stand im 10.–9. Jh. v. Chr. unter luwischer Herrschaft und bediente sich zu dieser Zeit auch für die internationale Korrespondenz noch des Babylonischen.3 Erst um 800 v. Chr. übernahm mit Zak(k)ūr ein Träger eines semitischen Namens die Herrschaft über Ḥamā, die er dann auch auf Luġaṯ ausdehnte. Die Namensbildung nach /qat(t)ūl/ spricht dabei primär für einen kanaanäischen Hintergrund, in dem dieser Bildungstyp weit verbreitet ist. Diesen Hintergrund spiegeln auch die Namen anderer semitischer Würdenträger aus Ḥamā und Luġaṯ im 8. Jh. v. Chr. wie ʾdnlrm (ʾAdōn-la-rōm),4 ʿbdbʿlt (ʿAbdBaʿlat)5 und bʿlḥww (Baʿl-ḥawwīw)6 wider, die die kanaanäischen Götterbezeichnungen Adōn, Baʿlat und Baʿl enthalten, wobei Baʿlat als Göttin von Ḥamā auch in luwischen Texten bezeugt ist.7 Darüber hinaus weist der dritte Name mit ḥww „er hat ihn aufleben lassen“ die ugaritisch und phönizisch gut belegte, aramäisch aber ungebräuchliche Wurzel ḤWW „leben“ auf.8 Auch der in KAI 202 genannte Gott El-Wēr, vor dem Zak(k)ūr seine Stele in Ḥaḏrak errichtet hat, ist kein aramäischer Gott. Das Element Wēr begegnet schon im alt-babylonischen Gilgamesch-Epos neben Adad in Verbindung mit dem Zedernwald im Westen9 und das Element El bezeichnet hier nicht den Gottesnamen El, sondern das nicht-aramäische, aber im kanaanäischen Raum weitverbreitete Wort für „Gott“.10 Auf der anderen Seite lässt sich in den in Ḥamā gefundenen Inschriften kein einziger sicherer aramäischer Name belegen.11 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Vgl. den von S. Parpola (1990) editierten Brief des Marduk-apla-uṣur an Rudamu, der um 840 v. Chr. geschrieben wurde. AramGraf 1–3; AramSig 1. AramGraf 4. M.G. Amadasi Guzzo (2014), 56. Vgl. HAMA 4, eine Bauinschrift für den Tempel der Baʿlat, und HAMA 8, eine Weihinschrift für dieselbe Göttin. Auch die Suffixform -[w] nach [ī] passt zum Kanaanäischen, nicht aber zum Aramäischen, für das man [ḥayyiyeh] = ḥyyh erwarten würde. Yale Tafel 131–135; vgl. D. Schwemer (2001), 207. Aramäisch würde man ʾelāh erwarten. Solche Verbundnamen für Götter mit ʾe/il sind im Ugaritischen gut belegt, vgl. G. del Olmo Lete / J. Sanmartin (2015), 47–48. Die Interpretation des am ehesten in Frage kommenden Namens ʾḥbr (AramGraf 14) im Sinne von „der Vater ist der Sohn“ als „perhaps … a petname signifying that the child is the brother of a son born earlier” (B. Otzen [1990], 289), kann inhaltlich nicht überzeugen. Darüberhinaus wäre das Element br an der Schlussposition eines Namens ungewöhnlich, vgl. M. Maraqten (1988), 119. Diese Deutung ist zudem in keiner Weise zwingend; so läßt sich der Name besser als /ʾaḥ-ḥabr/ „der (göttliche) Bruder ist der Genosse“ oder mit ʾ als Kurzform für /ʾab/ (R. Zadok [1984], 212; A. Frank / H. Rechenmacher [2020], § 0143) im Sinne von „der (göttliche) Vater ist der Genosse“ interpretieren. Eine weitere Möglichkeit wäre, br als Kurzform für brʾ zu deuten („der [göttliche] Vater hat geschaffen“). Die Interpretation der zerstörten Phrase ]brṣ °[ (AramOstr1; mit Lücke nach ṣ!) als brṣr (B. Otzen [1990], 290) ist reine Spekulation.
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Ingo Kottsieper
Mithin verbleibt als einziges aramäisches Element in dieser westsyrischen Gegend die Tatsache, dass für Inschriften aus dem Bereich des Königshauses12 im 8. Jh. v. Chr. Aramäisch als Inschriftensprache genutzt wurde. Dass das sogenannte Altaramäische spätestens im 8. Jh. v. Chr. im Vorderen Orient den Status einer prestigeträchtigen Inschriftensprache erlangt hat, lässt sich an weiteren Orten zeigen. Besonders eindrücklich zeigt dies eine Inschrift aus Tapeh Qalâychi nahe des südöstlich des Urmiasees gelegenen Bukān, die um 700 v. Chr. verfasst wurde (KAI 320).13 Mit ihr befinden wir uns auf mannäischem Gebiet, das von nichtsemitischen Ethnien bewohnt wurde, die in kleineren föderativen Politien organisiert waren.14 Erhalten ist nur der Fluchteil dieser aus der Herrschaftsschicht stammenden Weihinschrift, der aber deutlich zeigt, dass auch der Schreiber selbst muttersprachlich kein Aramäer war, sondern einen wahrscheinlich urartäisch-hurritischen Sprachhintergrund hatte. Dies erweist sich an seiner auffälligen Unsicherheit beim Gebrauch der Genera, die für Sprecher einer Sprache ohne Unterscheidung von Maskulinum und Femininum immer eine große Schwierigkeit darstellt.15 Offenkundig war das Prestige des Aramäischen mittlerweile soweit global anerkannt, dass selbst Eliten des mannäischen Gebietes diese Sprache, die wahrscheinlich in ihrem Gebiet 12 Es handelt sich neben der schon genannten Zak(k)ūr-Inschrift KAI 202 um die Inschriften des königlichen Hausverwalters ʾAdōn-la-rōm (AramGraf 1–2; vgl. auch AramGraf 3 und AramSig 1), die eindeutig aramäisch verfasst sind. Alle anderen Inschriften, die in der Forschung automatisch auf Grund der Annahme, dass Ḥamā und Luġaṯ aramäisch gewesen wären, ebenfalls als aramäisch klassifiziert wurden, weisen keinerlei eindeutig aramäische Formen auf. Dies gilt auch für die Graffiti, die das rätselhafte ṣbh beinhalten, dessen aramäische Deutung als Ptz. Gp der Wurzel ṢBY im Sinne von „möge er akzeptabel sein“ (vgl. B. Otzen [1990], 271) nicht überzeugen kann. Die Wurzel bedeutet „begehren“ und nicht „akzeptieren“ und mit der Konnotation „etwas vorziehen, Gefallen finden an“ wird das Objekt des Gefallens mit b markiert (wörtlich „begehren Haben in Bezug auf“). Selbst die Schrift der übrigen, meist recht einfach ausgeführten Graffiti lässt sich nicht eindeutig als Aramäisch klassifizieren. Die Weiterentwicklung der aus dem phönizischen übernommenen aramäischen Schrift war im 8. Jh. v. Chr. noch nicht weit vorangeschritten und gerade die schlecht geschriebenen Graffiti könnten auch als in phönizischer Schrift verfasst gedeutet werden, wie etwa ein Vergleich mit den gleichzeitigen phönizischen Schriftzeichen (vgl. J.B. Peckham [1968], 104–105) zeigt. 13 Vgl. I. Kottsieper (2005), 312–314. 14 Vgl. I.M. Diakonoff (1985), 70–74; H. Klengel et al. (1989), 483–486; R. Zadok (2002), 140. 15 Vgl. bes. Z. 6’–8’: wšb|ʿ . nšn . yʾpw . btnr . ḥd [.] wʾl. ymlʾ|why „und sieben Frauen sollen in einem einzigen Ofen backen, ohne ihn zu füllen“, wo yʾpw und ymlʾwhy maskuline Verbalformen sind, während in Z. 5’–6’ in šbʿ . šwrh .| yḥynqn . „sieben Kühe sollen säugen“ die zu erwartende feminine Form direkt zuvor belegt ist. Der Fehler lässt sich hier schnell erklären. Die äußere morphologische Form von nšn „Frauen“ entspricht einem maskulinem Plural, auch wenn natürlich jedem aramäischen (oder semitischem) Sprecher klar ist, dass das Wort „Frauen“ feminin ist. Für einen Sprecher einer Sprache, die diesen grammatikalischen Unterschied zwischen feminin und maskulin nicht kennt, ist es natürlich naheliegend, einfach aus der morphologischen Oberflächenform auf das grammatikalische Geschlecht zu schließen und entsprechend hier die Frauen (nšn) als grammatikalisch maskulin zu behandeln.
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Die Aramaisierung des Vorderen Orients
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nur von wenigen geschulten Schreibern verstanden wurde,16 als adäquat für eine Weihinschrift hielten. Zudem zeigt der Text, dass Aramäisch zur Schreiberausbildung auch außerhalb aramäischer Kreise gehörte, was wiederum die transregionale Bedeutung des Aramäischen unterstreicht. Diese transregionale Bedeutung des Aramäischen wird auch daran deutlich, dass die meisten altaramäischen Texte kaum sprachliche Unterschiede aufweisen, obwohl sie aus den unterschiedlichsten Gegenden von Śamʾal im Grenzbereich zwischen Syrien und Anatolien, Palästina im Südwesten bis hin zum Gebiet südöstlich des Urmiasees und zeitlich aus dem 9. bis zum Ende des 8. Jhs. v. Chr. stammen. Dass dies auf eine überregionale Schreibertradition zurückgeht, macht auch die Beobachtung deutlich, dass in Texten aus völlig unterschiedlichen Gebieten sich einander beinahe wörtlich entsprechende Fluchformeln begegnen. So finden sich die Androhungen, dass sieben Frauen ergebnislos backen und sieben Kühe noch nicht mal ein Kalb säugen können sollen, nicht nur in der eben erwähnten späten Inschrift aus dem mannäischen Gebiet,17 sondern schon in einer der ältesten Inschriften aus der Mitte des 9. Jh.s v. Chr. vom T. al-Faḫīrīya und dann noch einmal in den Sfiretexten aus der Mitte des 8. Jh.s v. Chr.18 Dass die Wahl einer solchen Inschriftensprache auch ein politisches Statement sein konnte, mit dem man sich bewusst als Teil der neu entstandenen, überregional vernetzten und von Assur dominierten Staatenwelt darstellen konnte, machen die In16 Vgl. I. Kottsieper (2009), 400; I. Kottsieper (2014), 42f.; ähnlich H. Gzella (2017), 23. Mithin ist die Aussage bei E. Lipiński (2000), 484, dass die Inschrift „confirms the use of Aramaic in this area“ nur insoweit zutreffend ist, als dass sie den Gebrauch des Aramäischen als transregionale Schriftsprache im Bereich der politischen Eliten belegt, nicht aber als gesprochene Sprache – eine Unterscheidung, die nicht nur von E. Lipiński (2000) oder K.L. Younger (2016) weitgehend ignoriert wird. Auch die Erwähnung eines nasīku namens ia-di-iʾ sowie andere nasīkātu aus dem Stamm/Gebiet von Jaqīmanu in SAA 10, 113 r 7–10 ist kein Beweis für die Existenz aramäischer Bevölkerungsteile im mannäischen Gebiet (vgl. K.L. Younger [2016], 738). Der Terminus nasīku stammt wohl aus dem Arabischen und wird allgemein für Scheichs von Halbnomaden gebraucht (E. Lipiński [2000], 495) und Jaqimānu, das wohl mit Jaqimūna im Gebiet des chaldäischen (!) Bīt–Dakkūri zu identifizieren ist (R. Zadok [2013], 312), verweist eher auf einen chaldäischen Hintergrund (E. Lipiński [2000], 419), in dem aramäische Namensformen keine Seltenheit sind. Das in SAA 10, 113 beschriebene Ereignis spielt offenkundig in einem von Assyrien kontrollierten mannäischen Gebiet und die Funktion, in der die genannten Scheichs, die vor einem assyrischen Offiziellen dort aussagen, sich dort befinden, ist völlig unklar. Entsprechend dürfte R. Zadok [2013], 312, zuzustimmen sein, dass Jaqimānu „is associated with Mannea in the Zagros (adjacent to Zamua), but is not explicitly Mannean“. Der Text belegt also nur die (temporäre) Anwesenheit chaldäisch(-aramäisch)er Scheichs (und ihrer Truppen?) im Bereich südlich des eigentlichen mannäischen Gebiets und kann sicherlich nicht die Beweislast tragen, dass in Mannea sich Aramäer allgemein angesiedelt hatten. 17 Vgl. Anm. 15. 18 Vgl. KAI 309, 19–22; KAI 222 A 21–24. Zur Datierung von KAI 309, vgl. K.L. Younger (2017), 261–262; zu diesen Parallelen vgl. auch I. Kottsieper (2009), 399–400.
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schriften aus Śamʾal/Zincirli deutlich. Hier begegnen gleich vier Sprachen: neben dem Luwischen auch das Phönizische, das Śamʾalische und schließlich die altaramäische Schriftsprache.19 Kaum zufällig stehen im Mittelpunkt der phönizischen Inschrift KAI 24 (ca. 825 v. Chr.) und der späteren altaramäischen Inschriften KAI 216– 220 (2. Hälfte 8. Jh. v. Chr.) keine religiösen Aussagen, sondern diese sind politische Texte mit Bezug auf die politische Umwelt. So beschreibt KAI 24 die politischen Erfolge Kilamuwas auch im Konflikt mit den umliegenden Mächten (Z. 5–8) und Götter werden nur in der abschließenden Verfluchung derjenigen, die die Inschrift vernichten könnten, erwähnt (Z. 15–16). Die dabei genannten Dynastiegötter Baʿl ṢMD und Baʿl Ḥammā/ōn weisen auf einen levantinisch-phönizischen Hintergrund und stellen allein damit die verbreitete Ansicht, dass Zincirli im 9./8. Jh. v. Chr. von einem aramäisch geprägten Königshaus beherrscht worden sei, in Frage.20 In den altaramäischen Inschriften KAI 216–217 und 219 steht besonders die Legitimität Bar-Rākibs im Mittelpunkt, die auf seiner Loyalität zum assyrischen König beruht. Dass in KAI 218, einem Orthostat, auf dem der König selbst dargestellt wird, der Mondgott, der als „Herr“ (mrʾ) Bar-Rākibs auftritt, nicht mit seinem aramäischen Namen Śahar genannt wird, sondern als Baʿl Ḫarrān und somit als Herr des in Assyrien, gut 201 km entfernt liegenden Kultortes Ḫarrān erscheint, dürfte in diesem Zusammenhang nicht
19 Vgl. H. Niehr (2016). 20 ṣmd begegnet als Bezeichnung der Waffe Baals in Ugarit und Baʿl Ḥammā/ōn ist der Herr des Amanusgebirges, vgl. H. Niehr (2014), 157–158. Auch die semitischen Namen dieser frühen Herrscher sind nicht eindeutig aramäisch. Die Wurzel gbr des Namens Gabbār begegnet u. a. in ugaritischen, hebräischen und edomitischen Namen (F. Gröndahl [1967], 126; A. Frank / H. Rechenmacher [2020], § 0298) und ist allgemein westsemitisch. Ḥayā(n) (zur Namensform vgl. C. Ambos / A. Fuchs [2000], 440) ist sicher nicht typisch aramäisch, vgl. ugaritisch ḥyn (F. Gröndahl [1967], 137) und amoritisch ḫa-ia-nuum/a-a-nu-um (M.P. Streck [2000], 244; V. Golinets [2018], 343, dort auch Formen ohne n-Endung). Zu Šaʾīl vgl. ugaritisch šil (KTU 4.841,13). Es dürfte kein Zufall sein, dass neben dem Verweis auf den Amanus alle Personennamen ihre Parallelen in Texten aus dem nordsyrischen Ugarit finden, dessen Sprache auch manche Gemeinsamkeit mit dem Śamʾalischen aufweist (vgl. Anm. 26), was dafür spricht, dass das Herrscherhaus wohl aus der nördlichen Levante stammte.
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zufällig sein, sondern mit der „assurfreundlichen Politik des Königs“ zusammenhängen.21 Mithin teilen alle sicheren altaramäischen Inschriften22 aus Śamʾal/Zincirli einen überregionalen, assyrischen Fokus. Dagegen sind die im sogenannten Śamʾalischen abgefassten Texte alle dem kultischen Bereich zuzuordnen. So ist KAI 25 eine Widmungsinschrift Kilamuwas an seinen Gott Rākib-El und KAI 214 die Widmungsinschrift für die Hadadstatue, die er für seine Grabstätte aufrichten ließ, die zwar auch sein politisches Vermächtnis enthält, aber in den Kontext des śamʾalischen Totenkults gehört. Auch die Inschrift BarRākibs für seinen Vater Panamuwa (KAI 215) gehört trotz eines langen Tatenberichts über das Leben des in der Statue abgebildeten Verstorbenen in den Rahmen des königlichen Totenkults, wie ihr Ende mit den Angaben zu Opfern im Rahmen dieses Kultes zeigt (Z. 20–22). Schließlich ist die vor einigen Jahren publizierte Totenkultstele für den königlichen Beamten KTMW zu nennen.23 Diese Beobachtungen zeigen für Śamʾal/Zincirli, dass das Altaramäische offenkundig bewusst als „internationale“ Sprache für „politische“ Texte gewählt wurde, die dezidiert die Einbindung Śamʾals in das neu-assyrische Vasallensystem in den Blick nehmen. Dagegen wurde für „interne“ Texte mit kultischem Fokus das Śamʾalische vorgezogen. Eine diachrone Erklärung für den Sprachwechsel in Śamʾal ist somit im Wesentlichen nur für den Wechsel vom Phönizischen zum Altaramäischen als transregionale Sprachen mit hoher Reputation zu notieren, während die Entscheidung für das Śamʾalische auf der einen und das Phönizische oder Altaramäische auf der anderen Seite wohl eher inhaltlich begründet ist.24 Aber auch wenn diese auffällige Verteilung nur auf Zufall beruhen würde, wäre angesichts der Tatsache, dass unter 21 H. Donner / W. Röllig (1968), 237; vgl. H. Niehr (2016), 323–325; dass „die Einführung des spezifischen Mondkultes von Ḥarrān in Samʾal erst unter Barrākib anzusetzen ist“, hat auch J. Tropper (1993), 22 vermutet, der aber auf S. 146 ohne echte Gründe bezweifelt, dass dies mit der assurfreundlichen Politik des Königs in Verbindung stehe. Tropper ist zwar zuzustimmen, dass diese Vermutung nicht zwingend ist (welche historische Rekonstruktion ist dies schon), er kann aber seinerseits keine bessere Erklärung bieten. Nimmt man ernst, dass der Baʿl Ḫarrān in Zincirli nur in dieser altaramäischen Inschrift begegnet, die allein dazu dient, den abgebildeten König als Bar-Rākib („Ich bin Bar-Rākib, der Sohn des Panamuwa“) und das Göttersymbol als Mondgott von Ḫarrān („Mein Herr (ist) Baʿl-Ḫarrān“) zu identifizieren, so scheint die Vermutung einer politischen Motivation, die den König von Samʾal als Teilhaber am assyrischen Macht- und Kulturbereich darstellen will, durchaus naheliegend – zumal Assyrien auch in den übrigen sicher altaramäischen Texten dieses Königs eine zentrale Rolle spielt. 22 Weitere kleinere Inschriften wie die Eigentumsvermerke Bar-Rakībs auf drei Silberbarren (J. Tropper [1993], 151–152) sind zu kurz, um sicher dem Śamʾalischen oder dem Aramäischen zugeordnet werden zu können. 23 Vgl. I. Kottsieper (2011), 321–323. 24 Anders H. Niehr (2016), der an der eindimensionalen diachronen Interpretation des Gebrauchs unterschiedlicher Sprachen in Zincirli festhält.
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Bar-Rākib sowohl der dann letzte śamʾalische als auch der erste altaramäische Text publiziert wurde und jegliche Zwischenform fehlt, deutlich, dass der Gebrauch des Altaramäischen als Inschriftensprache eine bewusste Entscheidung war, die nicht einen dann doch sehr abrupten Sprachwechsel innerhalb der gesprochenen Sprache widerspiegelt. Dass mithin der Gebrauch des Altaramäischen als offizielle Inschriftensprache nicht hinreichend belegt, dass von einem aramäischen Hintergrund des oder der Auftraggeber auszugehen oder allgemein eine aramäisch-sprachige Gesellschaft vorauszusetzen ist, ist für antike Gesellschaften nicht überraschend. Einerseits muss gerade im Bereich der Eliten mit Mehrsprachigkeit gerechnet werden, wobei neben der Muttersprache auch Sprachen treten, die für transregionale oder gruppenübergreifende Kommunikation gebraucht wurden. Andererseits besteht in Gesellschaften, in denen Lesen und Schreiben in den Bereich ausgebildeter Schreiber gehören und Schrift primär nicht dem direkten Austausch innerhalb der eigenen, lokal präsenten sozialen Gruppe dient, sondern Informationen über Gruppen- und Zeitgrenzen hinaus vermitteln oder sichern soll, zwischen standardisierten Schriftsprachen wie dem Altaramäischen, deren Standardisierung eine Voraussetzung für eine transregionale Kommunikation ist, und den gesprochenen Sprachen ein kategorialer Unterschied. Der Gebrauch des Mittelbabylonischen im 2. Jtsd. v. Chr. (und vereinzelt auch noch zu Beginn des 1. Jtsd. v. Chr., wie Ḥamā zeigt) als transregionale Kommunikationssprache selbst zwischen kanaanäischen Fürsten Palästinas und Ägypten, der durch die in El Amarna gefundenen Texte belegt ist, illustriert dies auf das Trefflichste. Und als Sprachen transregional agierender Schreibereliten kommt solchen Schriftsprachen auch ein hohes Prestige und „internationales“ Flair zu, was sie auch als Sprachen für (politische) Inschriften prädestiniert. Auf diese Weise konnten Herrscher ihre Bedeutung oder Zugehörigkeit zur internationalen Welt zum Ausdruck bringen. Dass solche Inschriften von der lokalen Bevölkerung nicht gelesen werden konnten, war dabei schon allein deswegen nicht von Belang, da wohl außerhalb der Schreiberkreise wohl kaum jemand lesen konnte. Und ausgebildete Schreiber, die sie vorlesen konnten, waren dann auch in der Lage, sie in die jeweilige Ortssprache zu übersetzen. Wie oben aufgezeigt, können mithin die Bereiche von Ḥamā und Luġaṯ nicht als „aramäisch“ angesprochen werden. Auch für Śamʾal/Zincirli ist es angesichts des levantinisch-kanaanäischen Hintergrunds der Dynastiegötter und dem Fehlen eindeutig aramäischer Namen für die frühe Zeit unwahrscheinlich, dass die semitischen
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Bevölkerungsteile zu den Aramäern gehörten. Auch das sogenannte Śamʾalische kann hier nicht die Beweislast tragen. Abgesehen davon, dass es auch eine im Bereich der Eliten gebrauchte Schriftsprache ist, die z. B. auch von KTMW, dem Träger eines anatolischen Namens, für seine Grabinschrift ausgewählt wurde, und daher immer noch die Frage offenlässt, inwieweit und von wem sie in Śamʾal gesprochen wurde, weist das Śamʾalische25 einige grundlegende, insbesondere grammatikalische Differenzen zum zeitgenössischen Aramäischen auf,26 die einer Einordnung in diese Sprachgruppe entgegenstehen. Auf der anderen Seite halten viele der bei Tropper genannten Isoglossen und besonderen Berührungspunkte des Śamʾalischen mit dem Aramäischen einer kritischen Analyse nicht stand, sondern lassen sich insbesondere auch im Ugaritischen, daneben auch im Phönizischen aus Byblos und dem Amurritischen nachweisen.27 Die verbleibenden Phänomene, die das Śamʾalische in die Nähe des Aramäischen rücken sollen, sind recht schwache phonetisch/orthographische 25 Dass ich mich im Folgenden auf eine Auseinandersetzung mit der von Josef Tropper 1993 vorgelegten Analyse des Śamʾalischen beschränke, hat seinen Grund darin, dass damit die maßgebliche und bis heute unübertroffene Bearbeitung der Texte und ihrer Sprachen vorliegt, der ich hinsichtlich der synchronen Beschreibung des Śamʾalischen durchweg nur zustimmen kann. Dissens besteht nur in der Frage, wie der Befund diachron bzw. hinsichtlich der Zuordnung zu einzelnen Sprachgruppen zu deuten ist, was angesichts unserer nur lückenhaften Kenntnis der antiken Sprachwelt Syriens und der Levante nicht verwundern kann. Dabei teile ich nicht die von Tropper 1993 offenbar stillschweigend vorausgesetzte (vgl. etwa die Diskussion bei J. Tropper [1993], 291–293), 2001 (vgl. J. Tropper [2001], 212) dann deutlich ausgesprochene Grundannahme einer simplen Dichotomie zwischen kanaanäischen und aramäischen Sprachen. Aus dem Urteil, dass sich eine semitische Sprache aus dieser Gegend und zur fraglichen Zeit nicht als kanaanäisch erweisen läßt, kann somit nicht ex negativo geschlossen werden, dass sie aramäisch sein muss. Ein solcher Ansatz verstellt m. E. von vornherein den Blick auf eine wahrscheinlich doch differenziertere Sprachwelt von zumeist nur gesprochenen Sprachen, deren Elemente dem heutigen Forscher dementsprechend verborgen sind, und ist daher methodisch a priori fragwürdig. 26 Nicht zum Aramäischen passen insbesondere das Pronomen 1. c. sg. ʾnk, der Gebrauch des N-Stamms, die Synkope des Kausativmorphems /h/ in den präfigierten Formen des H-Stamms, der Erhalt der Flexionsendungen bei Nomina im Plural sowie das Fehlen des postponierten Artikels und der aramäischen Suffixform -[hī] nach vokalisch oder auf Diphtong auslautenden Formen. Da das Śamʾalische auslautendes -[ī] mit y anzeigt, das entsprechende Suffix an diesen Formen aber nur als h erscheint, ist die Lesung -[hī] hier ausgeschlossen; zu den Belegen vgl. J. Tropper (1993), 290. 27 Vgl. die Aufzählung bei J. Tropper (1993), 291–292. Die phonetischen Beobachtungen wie der Lautwandel -[at] zu -[ā] und -[m] zu -[n] betreffen Phänomene, die phonetisch naheliegen und entsprechend in den unterschiedlichsten (nicht nur) semitischen Sprachen jederzeit auftreten können. Der Erhalt der Diphtonge ist auch im Amurritischen zu beobachten, vgl. M.P. Streck (2000), 158. 174f.; -/at/ für die Suffixkonjugation 3. f. sg., appositionelles kl mit rückbezüglichem Suffix, mn „wer“ und Infinitiv G der Wurzeln III w/y nach qty/qtʾ und nicht nach qtwt finden sich auch im Ugaritischen, vgl. J. Tropper (2012), 239. 245. 464. 666f.; zn(h) als Demonstrativpronomen ist in Byblos bis in das 4. Jh. v. Chr. belegt; vgl. DNWSI 333. Da auch für das Ugaritische -/ā/ als Morphem der 3. f. pl. der Suffixkonjugation durchaus möglich ist (vgl. J. Tropper [2012], 466), fallen auch die sowieso fraglichen Belege für diese Form im Śamʾalischen (vgl. J. Tropper [1993], 217) als Belege aus. Damit sind mindestens fünf, wenn nicht sechs der bei J. Tropper (1993), 292 genannten acht morphologischen oder syntaktischen Phänomene, die besondere Berührungspunkte des Śamʾalischen mit dem Aramäischen belegen sollen,
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Argumente oder betreffen nur einzelne, spezielle Wortformen wie etwa [ʾabū] vor Suffix. Wie schon Tropper selbst einräumt, muss durchaus auch beim Śamʾalischen mit Entlehnungen aus dem „Standardaramäischen“ gerechnet werden.28 Angesichts der oben gemachten Beobachtungen, die darauf hinweisen, dass das Altaramäische zu dieser Zeit schon eine hohe transregionale Bedeutung hatte und insbesondere Schreiber an Königshöfen es beherrschten, lassen sich diese einzelnen Übereinstimmungen durchaus mit aramäischen Einflüssen auf die śamʾalische Schriftsprache erklären. Dabei können solche Aramaismen durchaus bewusst gewählt worden sein, um die Texte in einer abgehobenen Elitesprache zu verfassen.29 Da man für diese Texte (auswärtige) Schreiber anstellte, die sonst eher im Aramäischen als Schriftsprache zuhause waren, können diese aber auch aramäische Standardformen unbewußt oder aus der Unsicherheit heraus gewählt haben, was für die eigentliche Textsprache angebracht wäre.30 Mithin wird man das Śamʾalische grundsätzlich als einen typologisch31 altertümlichen Dialekt32 aus dem Bereich der nördlichen Levante anzusehen haben, auf den auch die in den Texten genannten Dynastiegötter verweisen. Ob dieser Dialekt kanaanäisch war, sei dahingestellt.33
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auch in anderen, zum Teil früheren Sprachen des syrisch-levantinischen Raums belegt. Dass J. Tropper (1993), 291, die Partizipbildung Gp nach qatīl als Isoglosse (!) mit dem Aramäischen aufführt, ist natürlich sicher angesichts des Phönizischen (vgl. J. Friedrich / W. Röllig [1999], 86) und der Möglichkeit, dass diese Form auch im Ugaritischen (vgl. J. Tropper [2012], 474–475) vorliegt, ein Fehler. Zum scheinbaren aramäischen wt vgl. I. Kottsieper (1990), 132; K. Beyer (2004), 413. Vgl. J. Tropper (1993), 291. Dies könnte z. B. die Vorliebe für Nomina auf -[ū(t)] erklären, die als aramäisch, möglicherweise aber auch assyrisch klingende, „moderne“ Neologismen verstanden werden können. Ähnlich ließe sich [ʾabū]- „Vater“ und [bar] „Sohn“ erklären. Dies könnte z. B. die Schreibung von /ḍ/ mit q erklären. Einen entsprechenden Einfluss des Aramäischen auf die Schriftsprache an der Peripherie lässt sich auch im transjordanischen Deir ʿAlla um 800 v. Chr. beobachten, vgl. H. Gzella (2014), 73; H. Gzella (2015) 87–91. Eine der ersten Lektionen, die ich bei meinem Lehrer Otto Rössler gelernt habe, war, dass der beliebte Rückschluss vom typologischen „Alter“ verschiedener Sprachen und Dialekte auf eine eindimensionale chronologische Abfolge derselben methodisch nicht haltbar und damit irreführend ist. Sprachen und Dialekte entwicklen sich nicht nach einem vorgegebenen Schema oder im Gleichtakt, und Dialekte können archaische Formen über lange Zeit bewahren, auch wenn verwandte Dialekte andernorts in der Entwicklung weit fortgeschritten sind. Die Prekativform 3. f. pl. lktšnh, die auf l-yktšn-h zurückzuführen ist, kann als weiterer Hinweis auf eine typologisch frühe Stufe des Śamʾalischen gesehen werden, da die Form mit t-Präfix, wie sie z. B. im Hebräischen begegnet, sich einer späteren Analogiebildung zum Singular verdankt, die in verschiedenen semitischen Sprachen begegnet, vgl. schon J. Blau (1978), 37: „Nothing must be inferred from the t prefix of the third person feminine plural of the prefix tense“; W.R. Garr (1985), 128. Zudem ist die Form sehr selten, so dass z. B. Daten zum Phönizischen oder Amurritischen fehlen. Zur Annahme, dass das Śamʾalische eine typologisch ältere nordwestsemitische Sprachstufe widerspiegelt, vgl. jetzt auch H. Gzella (2015), 75. Siehe oben, Anm. 25.
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Nimmt man ernst, dass der Gebrauch des Altaramäischen in (politischen) Inschriften nicht als Indiz für einen lokalen aramäischen Hintergrund dienen kann und dass Ḥamā, Luġaṯ und Śamʾal ausweislich anderer Kriterien einen luwisch/kanaanäisch/levantinischen Hintergrund aufweisen, der nicht kulturell aramäisch überformt wurde, so reduziert sich das Gebiet, für das man in Syrien westlich des Euphrats mit einem stärkeren aramäischen Einfluss zu rechnen hat, auf das südlich von Ḥamā gelegene Gebiet von Damaskus und das nord-westlich an Luġaṯ sich anschließende Gebiet der Benē Gūš. Beide Gebiete werden – im Gegensatz zu den übrigen Gebieten – auch in den antiken Quellen vereinzelt als Aram bezeichnet. So erscheint in der schon erwähnten Inschrift Zak(k)ūrs als dessen Gegner der damaszenische König Barhadad, der Sohn Hazaʾels, als „König von Aram“ neben den namenlosen Königen von Qawa (= Que), Umqi (= Pattina), Gurgum, Śamʾal, und Melid sowie Bar-Gūš bzw. „dem Gūšiten“ (KAI 202 A 4–7). Zak(k)ūr unterscheidet also am Ende des 9. Jh. v. Chr. das von ihm aus im Süden gelegene Aram von den im nordwestlichen Syrien bzw. ost-anatolischen Raum gelegenen Kleinstaaten. Mit der Erwähnung Bar-Gūš’ bzw. des Gūšiten verweist Zak(k)ūr auf einen „König“ aus dem sich nordöstlich an Lūġaṯ anschließenden Gebiet, auf das in anderen Texten auch als Benē Gūš „Gūšiten“ oder Bēt (A)Gūš „‚Haus‘ des (A)Gūš“ rekurriert wird und das erst ca. 50 Jahre später in den Verträgen von Sfire als „Unter- und Oberaram“ (KAI 222 A 6) bzw. „ganz Aram“ (KAI 222 A 5. B 3–4) erscheint.34 Die Bezeichnung „Bar-Gūš/Gūšiter“ hebt sich in der Inschrift Zakkūrs deutlich von der der übrigen an der gegnerischen Koalition Beteiligten ab, die sonst alle ausdrücklich als Könige eines Gebiets bezeichnet werden.35 Auch die Sfire-Verträge nennen als Vertragspartner neben Bēt Gūš (KAI 222 B 16. 223 B 10) noch die Benē Gūš (KAI 222 B 3), was darauf hinweist, dass dieser Bereich noch im 8. Jh. v. Chr. in besonderem Maße von Stammesstrukturen geprägt war, wobei neben den Benē/Bēt Gūš mit Bēt Ṣll eine weitere Gruppe auftritt.36 34 Zur Diskussion und Deutung vgl. K.L. Younger (2016), 505–508. 35 Zwar wird Bar-Gūš in der Gruppe der Könige genannt, die gegen Zakkūr vorgingen, aber er ist der einzige, der nicht das Epitheton „König von“ bekommt. 36 Vgl. die Aufzählung der Vertragspartner Bar-Gaʾyās in KAI 222 B 3–4: „und mit den Benē Gūš und mit Bēt ṢLL und mit [ganz] Ara[m]“ und in unklarem Kontext in 223 B 10: „…] und Bēt Gūš und Bēt ṢLL und […“. Dass Bēt ṢLL nicht mit dem Arpaditen Matiʿ-ʾEl, sondern mit seinem Vertragspartner Bar-Gaʾyā zu verbinden wäre (so A. Lemaire / J.-M. Durand [1984], 59–60; E. Lipiński [2000], 230), ist angesichts der Formulierungen nicht überzeugend.
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Dem entspricht, dass sich die Benē Gūš wohl von einem Ahnherr namens Gūš herleiten, der Aššurnāṣirapli II. um 870 v. Chr. in Kunulua, der Königsstadt des Lubarna, des Königs von Umq/Pattina, Tribut zahlt.37 Dieser Gūš wird dabei als Yaḫānäer bezeichnet (m gu-ú-si kur ia-ḫa-na-a-a). Wo diese Yaḫānäer ihr Einflussgebiet hatten, ist nicht ganz klar, aber man wird sie im Gebiet südöstlich von Umq/Pattina zu suchen haben. So zerstört etwa zwanzig Jahre später Salmanassar III. mit Arnē die königliche Stadt des A(bā)-rām,38 den Salmanasser III. auch DUMU m (a-)gu-(-ú-)si „(A-)Gūšiter/Sohn des (A-)Gūš“ nennt.39 Diese Stadt ist 20 km südöstlich von Aleppo zu lokalisieren. Nach der Zerstörung von Arnē wurde diese nicht wieder als königliche Stadt aufgebaut, sondern die Dynastie zog in das etwa 5 km südöstlich gelegene Arpad/T. Sfire.40 Dies läßt auf zweierlei schließen: a) Arnē hatte keine lange Tradition als Königsstadt der Gūšiten, so dass es leicht aufgegeben werden konnte, und b) das Zentrum des gūšitischen Machtbereiches ist im Gebiet südlich Aleppos zu suchen. Aleppo selbst gelangte erst um 800 v. Chr. unter die Herrschaft der Gūšiten.41 Ferner scheint ein weiterer Jaḫānäer namens Adāna noch um 858 v.Chr. als Alliierter des Pattinäers Sapalulme in der Schlacht gegen Salmanasser III. bei Alimuš (RIMA 3, A.0.102.1:69’. A.0.102.2 i 54–ii 1) unabhängig von dem Gūšiten A(bā)-rām agiert zu haben. Dass aus solchen Clans weitere Verbände entstehen konnten, zeigt die Erwähnung des Bēt Ṣll neben Benē/Bēt Gūš in den etwa hundert Jahre später zu datierenden Sfire-Verträgen.42 Dieser Befund läßt darauf schließen, dass wohl zu Beginn des 9. Jh.s v. Chr. jaḫānäische Warlords im Gebiet westlich des mittleren Euphrats und südlich Aleppos auftraten,43 von denen Nachfahren des Gūš dann eine Herrscherdynastie im Gebiet süd37 Vgl. RIMA 2, A.0.101.1 iii 77–79. 38 Vgl. RIMA 3, A.0.102.6 ii 58; zum Namen Arām als Kurzform von Abā-rām vgl. I. Kottsieper (im Druck), Anm. 21. 39 Vgl. z. B. RIMA 3, A.0.102.1:94’. 2 ii 12.27. 14:130. 40 Zur Identifikation von Arpad, das traditionell meist mit dem 30 km nördlich von Aleppo gelegenen T. Rifaʿat gleichgesetzt wurde, mit Sfire vgl. jetzt J. Dušek (2019), 184–188. 41 Vgl. Z. Simon (2019), 140f.; J. Dušek (2019), 192f. 42 S. oben zu Anm. 36. Ob diese Gruppe auch zu den Jaḫāniten zu zählen ist, kann auf Grund der Quellenlage nicht entschieden werden, ist aber durchaus möglich. Dieses Nebeneinander unterschiedlicher jaḫānäischer oder auch anderer Gruppen wird aber problematisch, wenn man a priori davon ausgeht, dass Bēt Gūš im 9. Jh. v. Chr. ein gefestigtes Königtum mit einem Gūšiten an der Spitze war, vgl. die Diskussion bei K.L. Younger (2016), 517f. 43 Es sei hier betont, dass wir über die ethnische Zusammensetzung der Truppen dieser Warlords nichts erfahren. So können wir lediglich annehmen, dass diese unter jaḫānäischer Führung standen. Noch die Aufstiegsgeschichte Davids weiß davon zu berichten, dass solche Warlords ihre Macht auf eine buntgewürfelte Gruppe von Outcasts (vgl. 1 Sam 22,2) aufbauen konnten.
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lich von Aleppo etablieren konnten, die schließlich weite Teile des Gebietes zwischen Umq/Pattina und dem Euphrat kontrollieren konnte. Die Nennung von Bēt Ṣll und die Unterscheidung von Ober- und Unter-Aram in den Sfire-Verträgen im 8. Jh. v. Chr. sowie möglicherweise auch Aleppos neben Arpad44 läßt die Möglichkeit offen, dass die in diesem Gebiet lebenden Stämme und traditionellen Städte dennoch eine gewisse Selbständigkeit bewahren konnten.45 Dass die Entstehung dieser aramäischen Politie sich über einen längeren Zeitraum erstreckte, zeigt auch, dass Zakkūr um 800 v. Chr. nur ein Aram kennt – nämlich das von Damaskus – und mit der Nennung des BarGūš oder Gūšiten hinsichtlich der politischen Situation im Bereich der Gūšiten auffällig unbestimmt bleibt und die Bezeichnung auch dieser Politie als Aram erst ein halbes Jahrhundert später begegnet. Dass es sich letztlich wohl um eine allmähliche Machtübernahme durch kleinere aramäische Elitegruppen oder Warlords verdankt, zeigt sich auch darin, dass sich, wie überall in Syrien,46 eine ethnische Neuorientierung archäologisch nicht nachweisen läßt. Im Gegenteil, die berühmte Melqart-Stele des Bar-Hadad aus dem 2. Viertel des 8. Jh.s v. Chr. (KAI 201) zeigt einen ungebrochenen levantinisch-luwischen Hintergrund.47 Fraglich bleibt die Beziehung der Jaḫānäer zu einer aramäischen Gruppe, die zur Zeit des Aššurrābi II. (1012–972) östlich des Tigris und südlich von Assur ein Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht hatte und von dessen Rückeroberung Aššurdān II. (934–912) berichtet. Der Text (RIMA 2, A.0.98.1:23–32) ist leider ziemlich zerstört und die weitreichenden Deutungen, die er erfahren hat, stehen dementsprechend auf schwachen Füßen. Der Abschnitt beginnt mit ]X-ḫa-a-nu KUR a-ru-mu ša ku-tal KUR pi-[ „…ḫānu, Aram(äer), das hinter dem Land Pi[… liegt“ (Z. 23). Weidner ergänzte das Zeichen am Anfang zu ia, „da das Land Jaḫanu (= Bît Agusi) gerade in der Gegend liegt, von der in den Zeilen 23ff. die Rede ist“, wobei er ausdrücklich auf die Erwähnung der Jaḫānäer bei Salmanassar III. verweist.48 Aber schon Forrer49 führte dagegen zu Recht an, dass der Kontext, in dem wohl auch von einer Flucht der Aramäer nach Ḫalḫal44 Wenn die Lesung mlk ʾrpd w ḥlb “König von Arpad und Aleppo“ in der Warikkus-Inschrift korrekt ist (vgl. S.A. Kaufman [2007], 12, Z. 14), dann erscheint Aleppo sogar noch zur Zeit des Matiʿ-ʾEl, d. h. in der Mitte des 8. Jh. v. Chr., als eigenständige Einheit neben Arpad. 45 Vgl. ähnlich G. Bunnens (2015), der auf S. 46 zu dem Ergebnis kommt, dass „‘All Aram’, with the specification ‘above and below’, would … emphasize the internal complexity of the kingdom of Arpad“, worauf auch die Erwähnung des Bēt Ṣll verweisen würde. 46 Vgl. bes. das Urteil von G. Bunnens [1999], 605: „no regional survey has identified changes in the site distribution and settlement patterns that could reflect the irruption of new social groups“. 47 Vgl. I. Kottsieper (im Druck), Abschnitt 2.2. 48 Vgl. E.F. Weidner (1926), 156f., das Zitat 156. 49 Vgl. E. Forrer (1928b), 291.
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auš, das östlich des Tigris zu suchen ist, die Rede ist (Z. 28f.), dafür spricht, dass das Geschehen wohl östlich des Tigris zu verorten sei. Dabei schlägt er für „Pi[…“ die Ergänzung zu Pilazqi (= Pilasqi) vor, was eine Lokalisierung des Gebietes „hinter“ diesem Ort südlich des Ǧabal Ḥamrīn etwa im Bereich des Buḥairat Šārī erlaubt. Entsprechend setzt er hinter der Ergänzung des ia durch Weidner ein Fragezeichen, da der entscheidende Grund für diese Ergänzung – die Lokalisierung des Geschehens im Bereich des späteren Bēt (A)Gūš – hinfällig ist. Diese durchaus überzeugendere Lokalisierung wurde von Lipiński übernommen,50 dem dann Younger folgt.51 Beide übersehen aber dabei, dass damit der Identifizierung des ]X-ḫa-a-nu mit den Jaḫanäern bei Salmanassar III. der Boden entzogen ist und Forrer die Ergänzung des ersten erhaltenen Zeichens in Z. 23 zu ia durchaus zu Recht – und eher zu zurückhaltend – mit einem Fragezeichen versehen hat. So übernehmen sie diese auf der westlichen Lokalisierung beruhende Ergänzung kommentarlos als gesichert und gehen davon aus, dass die in den späteren Texten genannten Jahānäer zu einem aramäischen Stamm Jaḫān gehörten, der nach den Ereignissen zur Zeit Aššurdāns I. in das Gebiet westlich des Euphrats gewandert wäre. Wenn auch sicherlich nicht a priori auszuschließen ist, dass wenige Jahrzehnte später Gruppen unter der Führung von Warlords, die zu der von Aššurdān II. genannten Aramäergruppe gehörten, westlich des Euphrats auftraten, nachdem diese Gruppe vom assyrischen König in Assyrien angesiedelt worden war (Z. 31f.), so ist dies nur eine sehr hypothetische Möglichkeit, die auf einer fragwürdigen Textergänzung beruht. Und dass der gesamte Stamm Jaḫān kurz nach seiner offiziellen Ansiedlung in Assyrien dann aus diesem Territorium heraus weiter nach Nordsyrien gezogen sei, geben die späteren Texte, die nur von einzelnen Jaḫānäern sprechen, zudem nicht her. Näher liegt es folglich, mit Hawkins die Identifikation des ]X-ḫa-a-nu mit den westlichen Jaḫānäern zu bezweifeln.52 50 Vgl. E. Lipiński (2000), 195. 51 Vgl. K.L. Younger (2016), 228–230. 501. Der Verweis auf „Weissbach 1928“ dort, S. 229, ist in „Forrer 1928“ zu korrigieren; Weissbach hat lediglich die §§ 49–57 des Artikels „Assyrien“ im Reallexikon der Assyriologie verfasst. 52 Vgl. J.D. Hawkins (1976–1980), 238. Ebenfalls fragwürdig ist die Identifizierung des Berg- oder Gebietsnamens a-ḫa-a-nu, den Aššurnāṣirapli II. erwähnt (RIMA 2, A.0.101.1:71. 2:46) und der im Gebiet nördlich von T. Rifaʿat zu lokalisieren ist, mit dem Namen Yaḫān (K. Kessler [1980], 217; vgl. E. Lipiński [2000] 196; K.L. Younger [2016] 503). Abgesehen davon, dass der Ausfall des [y] am Anfang des Namens zu erklären wäre, beruht diese Identifikation auf der wohl nicht zutreffenden Gleichsetzung von Arpad mit T. Rifaʿat. Da Arpad deutlich weiter im Süden jenseits Aleppos zu lokalisieren ist (vgl. Anm. 40), fällt auch dieser Grund weg. Auf jeden Fall würde diese Identifikation schlecht zur Identifikation der Jaḫānäer mit den bei Aššurdān II. genannten Aramäern passen, da diese, wenn überhaupt, erst eine Generation vorher westlich des Euphrats aufgetaucht sein können und ihre politische Macht westlich des Euphrats erst im Laufe des späteren 9. Jh.s v. Chr. etablieren konnten. Da sie zur
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Wie dem auch sei, der Bericht des Aššurdān II. macht deutlich, dass spätestens zu Anfang des 10. Jh.s v. Chr. Aramäergruppen sich im Gebiet südlich von Assur festgesetzt hatten. So berichtet er in Z. 6–15 ferner von einem Feldzug gegen jausäische Truppen, die in seinem Akzessionsjahr von Süden her entlang des Tigris in das assyrische Kerngebiet eindrangen. Die Jausäer lebten offensichtlich am mittleren Tigris als Halbnomaden mit Viehbesitz in kleineren Ortschaften (Z. 12–13). In diesem Zusammenhang werden auch Aramäer genannt, die der König ebenfalls plünderte (Z. 15). Ob der Feldzug dementsprechend auch auf andere Aramäer ausgedehnt wurde und mithin diese abschließende Aussage impliziert, dass die Jausäer Aramäer waren, oder aber sie nur besagt, dass neben den (nicht-aramäischen) Jausäern auch aramäische Gruppen dort in Mitleidenschaft gezogen wurden, ist schwer zu entscheiden.53 Sicher ist jedoch, dass wir im Bereich südlich des Kleinen Zabs schon zu dieser Zeit mit der Anwesenheit von aramäischen Gruppen zu rechnen haben. Schon zwei Generationen vor dem Auftreten von Aramäern südlich des assyrischen Kerngebietes geht Aššurbēlkala (1073–1056) gegen Aramäergruppen vor (RIMA 2, A.0.89.7 iii), die, soweit die genannten Namen identifizierbar sind, entlang eines Bogens zu finden sind, der vom nördlich an das assyrische Kernland angrenzenden Muṣri (Z. 4) in nordöstlicher Richtung bis in das Gebiet von Šubria (Z. 18) verläuft und von dort in südlicher Richtung über den Ṭūr ʿAbdīn54 hinaus entlang des Ḫabūr55 bis hinab nach San/ggāritu und jenseits des Euphrats (Z. 23f.) reicht. Darüber hinaus plündert er Aramäer im östlichen Quellgebiet des Balīḫ.56 Eindeutige Belege von Kampagnen gegen Aramäer im Bereich westlich des Balīḫs lassen sich nicht finden.57 Bezeichnend bei diesem umfangreichen Bericht, der auch von Auseinandersetzungen mit anderen Gegnern berichtet, ist, dass bei Auseinandersetzungen mit Aramäern in Muṣri, Šubria und im Bereich des Ḫabūr Ortsnamen nur zur Lokalisierung der ein-
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Zeit des Aššurnāṣirapli II. noch nicht die Macht in diesem Gebiet innehatten, kann es schwerlich nach ihnen benannt sein und eine entsprechende Änderung eines Bergnamens wird man wohl auch kaum als wahrscheinlich annehmen dürfen. Traditionell wird, obwohl im Gegensatz zu den ]X-ḫa-a-nu die Jausäer nicht direkt als Aramäer bezeichnet werden, das erstere angenommen, was aber die Frage aufwirft, warum Aššurdān II. dann in einer Art resümierendem Nachsatz diesen Stamm allgemein als Aramäer bezeichnet. Šinamu (Z. 14), das zwischen Diyarbakir und dem Ṭūr ʿAbdīn zu lokalisieren ist; „Paʾuza am Fuß des Kašiaru“ (= Ṭūr ʿAbdīn, Z. 8f.). Vgl. Nabula (Z. 10) nördlich des heutigen Nusaybin (vgl. Tr. Bryce [2009], 492); Magrīsu (Z. 21); Dūr Katlimmu (Z. 22). „Vom Land Maḫirānu bis nach Š/Ruppu des Landes von Ḫarrān“ (Z. 19f.). ii 19–24 spricht zwar summarisch von Plünderungen im Bereich Ḫabūr bis nach Karkemiš am Euphrat, aber für diese Kampagne sind keine Einzelheiten erhalten und die Notiz ist vielleicht auch ein wenig propagandistisch übertreibend. Zum Bericht Aššurbēlkalas vgl. jetzt auch G. Bunnens (2016), 256–260.
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zelnen Kämpfe, in deren Nähe sie stattfinden, genannt werden. Von einer Eroberung oder Kampf gegen einen von Aramäern bewohnten oder beherrschten Ort ist dort nicht die Rede. Im Gegenteil, wenn der Bericht von einem militärischem Vorgehen gegen Ortschaften spricht (Z. 3b–8a + 15–17a), werden die Gegner nie als Aramäer bezeichnet. Mithin begegnen die „Aramäer“ hier nicht als Stadtbewohner, sondern als Gegner des assyrischen Königs, die als Kampfgruppen außerhalb der Städte im ruralen Bereich auftreten und gegen die der König Feldzüge durchführt, bei denen er Schlachten schlägt, ohne dass Beute oder Plünderungen erwähnt würden.58 Das Bild ändert sich bei seinem Vorgehen gegen die weiter westlich lebenden Aramäer im Quellgebiet des Balīḫ: hier ist nicht mehr die Rede von einem Feldzug oder Schlachten, sondern von Plünderungen (Z. 19f; iḫtabat), was wohl auch der Fall im Gebiet jenseits des Euphrat war (Z. 23–24). Von Plünderungen ist auch in der kurzen Notiz ii 19–24 für das Gebiet zwischen dem Ḫabūr und dem oberen Euphrat die Rede, was das Gebiet westlich des Balīḫ umfasst, ohne dass dabei ausdrücklich Aramäer genannt werden (ii 19–24).59 Mithin sind hier drei Formen der Auseinandersetzungen im Bericht des Aššurbēlkala zu unterscheiden: a) Vorgehen gegen Städte, die nicht mit den Aramäern verbunden sind, b) militärische Aktionen gegen aramäische Milizen/Gruppen außerhalb der Städte, bei denen es nichts zu plündern gab, d. h., die offenkundig nur eine militärische Bedrohung in dem an Assyrien angrenzenden Bereich darstellten, der bis hinab zur Ḫabūr-Mündung reichte, und c) Plünderungen in Gebieten, in denen Aramäer wohl schon ansässig waren, die neben ihren Gebieten jenseits des mittleren Euphrats auch weiter westlich im Bereich des Balīḫ Besitztümer hatten. Dass im Gebiet zwischen dem oberen Balīḫ und dem oberen Euphrat Aramäer schon früh auch Ortschaften erobern konnten, zeigt eine Notiz von Salmanassar III. (858–824), nach der die Städte Pitru und Mutkīnu im Bereich des Zusammenflusses des Saǧūr mit dem Euphrat zur Zeit Aššurrābis II. (1012–972) in ihre Hände fielen.60 Die Existenz marodierender Aramäergruppen im am Kernland von Assyrien nord (-östlich) angrenzenden Gebiet setzt auch ein Fragment einer assyrischen Chronik für die letzten Jahre Tiglatpilesers I. voraus. Sie berichtet davon, dass „aramäische Häuser“ (É.MEŠ KUR ar-ma-a-ia.M[EŠ]) die Schwächung Assyriens durch eine mehr58 KASKAL (= ḫarrānu) šá KUR a-ri-me … im-ta-ḫa-aṣ/ SÌG-aṣ „Feldzug gegen die Aramäer … er schlug eine Schlacht“ (Z. 1–2, 2–3, 8–9, 10, 12–13, 13–14, 18–19, 20–21, 21–22, [30]). 59 Vgl. Anm. 57. 60 RIMA 2, A.0.102.2 ii 35–38; zur Lesung vgl. K.L. Younger (2016), 138, Anm. 92.
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jährige Hungersnot (wohl 1082/81 v. Chr.) nutzten, um plündernd in das nördliche Kernland Assyriens einzufallen.61 Offenkundig als Reaktion darauf führt Tiglatpileser I. eine Kampagne nach Katmuḫu im östlichen Ṭūr ʿAbdīn durch (Z. 13’). Mithin kamen die hier genannten Aramäer aus dem Norden,62 d. h. aus demselben Gebiet, in dem Aššurbēlkala II. wenige Jahre später gegen außerhalb der Städte befindliche aramäische Kampfgruppen vorging. Man kann also davon ausgehen, dass im ersten Viertel des 11. Jh.s v. Chr. Aramäer sich schon am Balīḫ und möglicherweise auch im Gebiet zwischen diesem Fluss und oberen Euphrat so wie südwestlich des mittleren Euphrats etabliert hatten, während gleichzeitig aramäische Gruppen das Gebiet des Ḫabūrs und die sich daran anschließenden Gebiete nordöstlich vom assyrischen Kernland außerhalb der Ortschaften unsicher machten und auf Gelegenheiten hofften, plündernd in das assyrische Kernland einzufallen. Die ersten akkadischen Berichte über das Auftreten der Aramäer am Ende des 12. Jh.s v. Chr. schließen sich hier nahtlos an. So berichtet Tiglatpileser I., dass er in seinem 4. Regierungsjahr (1109 v. Chr.) gegen Aḫlamū-Aramäer zog, die entlang des mittleren und oberen Euphrats aufgetaucht waren und aus dem Gebiet südwestlich des mittleren Euphrats kamen, in dem Aramäer aber schon Wohnorte hatten. So überschreitet Tiglatpileser I. bei der Verfolgung dieser Aḫlamū-Aramäer den Euphrat und zerstört „sechs ihrer Städte am Fuss des Berges Bišrī“ (RIMA 2, A.0.87.1 v 44–63. A.0.87.2.28–29). In einem späteren Text spricht der assyrische König davon, dass er „achtundzwanzigmal jeweils zweimal im Jahr“ den Euphrat überschritt, um Aḫlamū-Aramäer zu verfolgen, wobei er sie im Gebiet vom Libanon im Südwesten, Tadmor im Norden und westlich des Euphrat über Ānat/ʿĀna bis hinab nach Rapiqu/ar-Ramādī bekämpft (A.0.87.3,29–35; A.0.87.4,34–36). Die Aramäer, von denen Tiglatpileser I. spricht, haben also ihr Rückzugsgebiet in der südsyrischen Steppe südlich des Bogens der von Damaskus über Tadmor und dem Ǧabal Bišri bis nach Ānat/ʿĀna und ar-Ramādī reicht. Von Aramäern im syrischen Kulturland nördlich des Massiv des Ǧabal Abū Ruǧmayn und im Gebiet des Balīḫ oder Ḫabūr, geschweige denn darüber hinaus weiß Tiglatpileser I. noch nichts zu berichten. 61 Der Text des Fragments Nr. 4 ist sehr fragmentarisch (vgl. bes. die unterschiedlichen Lesungen bei A.K. Grayson [1975], 189, und N. Naʾaman [1994]), sicher ist aber, dass in Z. 12’ der Bereich um Ninive als von Aramäern geplündertes Gebiet genannt wird. 62 Dazu passt auch die Flucht der Assyrer nach Kirriuri, d. h. in das nordöstlich von Erbil gelegene Bergland (Z. 6); vgl. auch E. Lipiński (2000), 36.
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Bedeutsam ist die Bezeichnung „Aḫlamū-Aramäer“ für die Aramäer, die offenkundig das mesopotamische Kulturland am mittleren und oberen Euphrat unsicher machen, die damit als Bestandteil der sogenannten Aḫlamū charakterisiert werden. Aḫlamū ist kein ethnischer Begriff, sondern bezeichnet kleinere marodierende Gruppen, die schon im 2. Jt. v. Chr. immer wieder den syrisch-mesopotamischen Raum unsicher machten und wohl vornehmlich aus jungen, wehrfähigen Männern bestand.63 Daraus ergibt sich das Bild, dass im 12. Jh. v. Chr. am Rande der syrischen Wüste aramäische Gruppen erscheinen, die dort als Halbnomaden leben, wobei sie Wohngebiete im Gebiet des Ǧabal al-Bišrī besitzen. Aus diesen rekrutierten sich Aḫlamū-Gruppen, die in das euphratische Gebiet drängten und zunächst zurückgeschlagen wurden. Die Herkunft der in den assyrischen Quellen genannten Aramäer aus der syrischen Wüste südwestlich des Euphrats passt auch gut zu ihrem Auftreten am Ende des 11. Jh.s v. Chr. südlich des Kernlandes von Assyrien. Schon unter Tiglatpileser I. begegneten die Aramäer entlang des Euphrats bis hinab in das Gebiet von Rapiqu/arRamādī. Südlich dieses Ortes nähern sich Euphrat und Tigris bis auf gut 30 km, d. h. auf einen Tagesmarsch, aneinander an und es war wohl sicher nur eine Frage der Zeit, dass die nach Mesopotamien eindringenden Verbände dies ausnutzten, um dann auch den Tigris zu erreichen und entlang des Stromes nach Norden Richtung Assur vorzudringen und sich südlich des Kerngebietes von Assyrien festzusetzen. Dass natürlich im Gefolge solcher Aḫlamū-Gruppen auch größere Gruppen insbesondere in die nördlichen mesopotamischen Gebiete nachdrängen konnten, in denen die Assyrer noch keine umfassende Kontrolle hatten, zeigen nicht nur die Notizen über Aramäer am Balīh und oberen Euphrat im 1. Viertel des 11. Jh.s v. Chr., sondern auch das Gebiet von Laqē am unteren Ḫābūr, in dem sich im Lauf des 10. Jh.s v. Chr. offenkundig eine aramäisch-arabische Stammeskonföderation etablieren konnte.64 Dies weist zudem erneut auf die enge Verbindung der Aramäer mit dem syrisch/nordarabischen Raum hin. Bezeichnend ist aber auch, dass sich eine solche Konföderation am Übergang zum syrischen Steppengebiet bilden konnte, 63 Vgl. E. Lipiński (2000), 38; vgl. schon E. Forrer (1928a), 131, der zu Recht auf die Belege für das Auftreten von Aḫlamū vor den Aramäern hinweist; zurückhaltender K.L. Younger (2016), 81; anders R. Zadok (2012), 570, der an einer ethnischen Deutung festhält und die Aramäer recht unbestimmt als „originally formed from certain groups of Suteans/Ahlamites (or at least had a special relationship to them)“ bezeichnet, deren Sprache „are in a way a continuation of late Amorite“. Gegen letzteres sprechen schon sprachgeschichtliche Beobachtungen, vgl. unten Anm. 93 und D.O. Edzard (1964) gegen frühere Versuche, das Aramäische mit dem Amurritischen zu verbinden. 64 Vgl. E. Lipiński (2000), 77–108.
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während es z. B. im weiter nördlich gelegenen Gebiet der Bīt Zammāni und der Tēmanäer wohl zu einer Integration der aramäisch geprägten Aḫlamū-Gruppen in die bestehende Gesellschaft kam, die durchaus nicht frei von Konflikten und Versuchen war, letztlich die Macht in solchen Gebieten zu erlangen. Wie oben angeführt, begegnete Aššurbēlkala im Bereich der Bīt Zammāni, die im nördlichen Ṭūr ʿAbdīn und dem nördlich angrenzenden Gebiet zu lokalisieren sind, schon im 11. Jh. v. Chr. kriegerischen Aḫlamū-Aramäern. Im 9. Jh. v. Chr. berichtet dann Aššurnāṣirapli II. davon, dass die Großen des ʿAmm-baʿl, des Mannes von Bīt Zammāni, gegen diesen rebelliert und ihn getötet hätten, worauf im Jahr 879 v. Chr. der assyrische König gegen die Aufständigen zog (RIMA 2, A.0.101.19:85–9065 ). Offenkundig sah Aššurnāṣirapli II. in einem gewissen Bur-Ramānu den Hauptschuldigen, so dass er ihn tötete und Ilānu als „Scheich“ (nasīku) einsetzte (Z. 90f.). In diesem Zusammenhang wird auch erwähnt, dass Aramäer die assyrischen Festungen Sinabu und Tidu niedergeworfen hätten (kabāsu), die Aššurnāṣirapli II. zurückeroberte und in deren Gebiet er wieder Assyrer ansiedelte (Z. 92–95). Das Vorgehen endet mit der Deporation von aramäischen Aḫlamū-Truppen, die zu ʿAmm-baʿl gehörten, nach Assyrien. Traditionell wird diese Episode als das Vorgehen gegen eine aramäische Politie gedeutet, die entsprechend am Anfang des 9. Jh.s v. Chr. schon vollständig etabliert gewesen wäre. Dies gibt der Text aber nicht her, sondern diese Annahme beruht auf der Vorentscheidung, dass Aramäer das Gebiet der Ǧazīra schon um diese Zeit besiedelt hätten. De facto spricht aber der Text gegen diese Annahme: Der Name ʿAmm-baʿl „der Vatersbruder ist Baʿl“ weist ebenso auf einen west-semitischen, aber nicht aramäischen Hintergrund hin,66 wie der Stammesname Zammāni, der wohl mit dem amurritisch belegten Personennamen Zammānu zu verbinden ist.67 Hierzu passt auch der Na65 Vgl. auch RIMA 2, A.0.101 ii 118–125. 66 Der Name wird m am-me-ba-aʾ-la (RIMA 2, A.0.101.1 ii 119; KAL 3, 24 Rs. 3‘), m am-ma-ba-aʾ-li (RIMA 2, A.0.101.19:85) und m am-mi-pa-aʾ-li (RIMA 2, A.0.101.19:86.96) geschrieben, was die Deutung als ʿAmmī-baʿl „Mein Ahne ist Herr“ (so E. Lipiński [2000] 153) ausschließt, wogegen auch spricht, dass ʿamm in der Bedeutung „Ahne, Großvater“ nur vereinzelt im Nabatäischen zu belegen ist. Der Wechsel zwischen me und ma verbietet es, nach ʿamm ein langes [ī] anzusetzen, und spiegelt die Schwierigkeit wider, keilschriftlich eine Doppelkonsonanz am Wortende zu schreiben. Dies erklärt auch den Wechsel bei la/li am Ende des zweiten Elements, so dass als Grundform ʿAmm-baʿl = „der Vatersbruder ist Baʿl“ anzusetzen ist (ähnlich K. Åkerman / K. Radner [1998], 103). ʿamm ist vielfach in Namen aus amurritischen oder anderen westsemitischen Gruppen schon lange vor dem Auftreten der Aramäer belegt (vgl. z. B. M.P. Streck [2000], 248; F. Gröndahl [1967], 109), die Gottesbezeichnung Baʿl ist im aramäischen Onomastikon unüblich. 67 Vgl. E. Lipiński (2000), 135; M.P. Streck (2000), § 2.5.
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me Ilānu für die Person, die anstelle des Anführers der Aufständigen schließlich als neuer Scheich eingesetzt wurde. Auch dieser Name ist offenkundig nicht aramäisch, hat aber wiederum seine Parallele im amurritischen Onomastikon.68 Will man nicht davon ausgehen, dass mit diesem Ilānu der Bruder des aufständischen Bur-Ramānu von Aššurnāṣirapli II. für ʿAmm-baʿl eingesetzt wurde,69 dessen Tod ja der assyrische König rächen wollte, so wird man doch wohl die Bezeichnung „seinen Bruder“ auf ʿAmm-baʿl beziehen müssen.70 Nimmt man all diese Beobachtungen zusammen, so ist davon auszugehen, dass die Bīt-Zammāni sich aus einer älteren, westsemitischen Bevölkerungsschicht der Ǧazīra rekrutierten und ethnisch keine Aramäer waren. Dem entspricht die Beobachtung, dass der assyrische König die Aramäer gesondert nennt, wobei diese nur im militärischen Kontext auftreten: Es sind nicht die BītZammāni, die die ehemals assyrischen Garnisonsstädte niedergeworfen haben, sondern Aramäer (Z. 93). Und unter ʿAmm-baʿl dienten Truppen, die sich aus den aramäischen Aḫlamū rekrutierten und die dann von Aššurnāṣirapli II. deportiert wurden. Damit ergibt sich ein schlüssiges Bild: Die Bīt-Zammāni waren wohl schon vor dem Auftreten der Aramäer im 11. Jh. v. Chr. in der Ǧazīra ansässig. Die später in dieses Gebiet eindringenden Aḫlamū-Aramäer wurden offensichtlich in das soziale Gefüge als militärische Einheiten eingebunden, womit ihre Führer zugleich Teil der Elite, der „Großen“ wurden. Zu Beginn des 9. Jh.s v. Chr. kam es dann zu einem Aufstand dieser Großen gegen den mit Assyrien in Vasallität verbundenen ʿAmm-baʿl, die von dem einen aramäischen Namen tragenden Bur-Rammāni angeführt wurden. In ihm darf man eine führende Persönlichkeit dieser unter der Herrschaft ʿAmm-baʿls stehenden aramäischen Aḫlamū sehen. Als Aufständischer gegen den assyrischen Vasallen wird er dann vom assyrischen König auf grausame Weise hingerichtet und die aramäischen Aḫlamū deportiert. Ob die von den Aramäern niedergeworfenen assyrischen Garnisonsstädte bei diesem „Aramäeraufstand“ von den Aramäern erobert wurden oder schon früher, lässt der Text nicht erkennen. Da aber nicht von einer Vertreibung von Aramäern, sondern von einer Wiederansiedlung von Assyrern in diesen „verlassenen Städten und Häusern“ die Rede ist, handelt es sich offenbar nicht um eine Eroberung im klassischen Sinn durch einen eindringenden Feind, sondern um
68 Vgl. M.P. Streck (2000), § 2.5. 69 Dazu tendiert K.L. Younger (2016), 304; vgl. auch H.D. Baker (2000b), 512. 70 Vgl. K. Åkerman / K. Radner (1998), 103; ähnlich E. Lipiński (2000), 158.
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die militärische Auslöschung assyrischer Standorte mit dem Ziel, die assyrische Kontrolle zu zerstören, was gut in den Kontext des Aufstands gegen den Vasallen der Assyrer passen würde. Ein ähnliches Bild ergibt sich hinsichtlich der Tēmanäer, mit denen es Adadnarāri II. am Anfang des 9. Jh.s v. Chr. südlich des Ṭūr ʿAbdīn zu tun hatte. Wie aus dem Bericht über sechs Kampagnen in dieses Gebiet hervorgeht,71 begegnen hier drei, offenkundig voneinander unabhängige Gruppen von Tēmanäern:72 a) Nūr-Adad und seine Truppen, die der assyrische König in der ersten Kampagne im Gebiet von Pauza bis Naṣībīna auf offenem Feld bekämpft und dabei seine Streitwagen zerstörte (Z. 39–41). Für die zweite Kampagne reklamiert er für sich einen blutigen Sieg in einer ebenfalls auf offenem Feld stattfindenden Schlacht (Z. 42–44); in diesem Zusammenhang bringt er zwei Städte in seine Gewalt, wobei das Verhältnis dieser Städte zu Nūr-Adad offen bleibt.73 Naṣībīna, in der Nūr-Adad residiert, wird erst in der sechsten Kampagne erobert und Nūr-Adad unterwirft sich den Assyrern und wird mit seinen Truppen nach Assyrien deportiert (Z. 62–81). b) In der dritten Kampagne (Z. 45–48) unterwerfen sich dem assyrischen König die Ortschaften am Fuß des Ṭūr ʿAbdīn, die der Tēmanäer Mamlī zuvor in Besitz genommen hatte und der in diesem Gebiet Paläste besitzt. c) In der vierten Kampagne (Z. 49–60) begegnet er dem Tēmanäer Mūquru, der einen zuvor geschworenen Eid gebrochen und sich gegen Adadnarāri II. gestellt hat. Mūquru verläßt sich auf seine befestigte Stadt, seine Waffen, seine Truppen und die Aramäer (Z. 51). Die Aramäer hätten auch eine Stadt, die sie nun Raq/dammatu nennen, zur Zeit des Tiglatpileser II (966–935) erobert, die nun Adadnarāri II. zurückerobert und in der Mūquru zu residieren scheint. Adadnarāri II. unterscheidet also drei tēmanäische Politien, die offenkundig schon eigene Residenzstädte hatten. Auffällig ist die Nennung der Aramäer als nur eine besondere militärische Gruppe des Tēmanäers Mūquru, was nicht dafür spricht, dass Mūquru selbst Aramäer war. 71 Vgl. RIMA 2, A.0.99.2:39–81. Die erste Kampagne datiert wohl auf das Jahr 901 v. Chr. Zu diesem Text vgl. auch Fales (2012), 106–110. Die fünfte Kampagne nennt keinen Gegner und wird daher im Folgenden nicht beachtet. 72 Vgl. R. Zadok (2012), 579; K.L. Younger (2016), 230. 73 Sie werden nicht als Städte Nūr-Adads bezeichnet; auch fehlt jeder Hinweis, dass sie zuvor von ihm oder anderen erobert wurden.
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Der Versuch Lipińskis, den mu-qu-ru geschriebenen Namen aramäisch als Partizip Hp von WQR zu deuten, kann sprachlich nicht überzeugen. Zu dieser Zeit war im Aramäischen das formative /h/ des H(p)-Stamms ebenso noch vollkommen erhalten wie auch der Diphtong [aw], so dass dieser Name aramäisch [mahawqar] lauten sollte. Auf der anderen Seite passt der Name gut zum Amurritischen oder Kanaanäischen, wo Namensbildungen nach maqtal und die Monophtongisierung von [aw] gut belegt sind,74 während der Übergang des [a] zu [u] sich aus der assyrischen Vokalharmonie mit dem folgenden Schluss-[u] erklärt.75 In Mamlī (ma-am-li) liegt dagegen die mit maqtal verwandte und im Amurritischen auch für Namen verbreitete Bildung nach maqtil 76 von der Wurzel MLʾ vor, wobei auch diese im amurritischen (und hebräischen) Onomastikon begegnet.77 Schließlich ist Nūr-Adad ein keilschriftlich gut belegter Name, der seine Parallele in amurritisch na-wa-ar-d IM hat, wobei die Wurzel NWR im amurritisch-kanaanäischen Onomastikon häufiger zu finden ist, im aramäischen aber eher nur am Rand begegnet.78 Mithin sprechen die Namen aller genannter Tēmanäer nicht dafür, dass diese einen aramäischen Hintergrund hatten,79 was mit der besonderen Nennung der Aramäer als eigenständige Kämpfer im Dienst der Tēmanäer korrespondiert.80 Jedoch wird man die Aramäer hier nicht als einfache Söldner verstehen dürfen, sondern als eigenständig agierende kämpferische Verbände, was aber nicht ausschließt, dass sie mit anderen Gruppen kooperierten und ihnen militärisch beistanden. An74 Vgl. zum Amurritischen M.P. Streck (2000), § 5.43, wo von WQR sogar ein maqtil-ān in der Form mugi-ra-nu-um zu finden ist (§ 2.52), wobei im Amurritischen ma/e/iqtil mit maqtal wechselt (§ 5.45); zum Kanaanäischen vgl. Namen wie Moab (Yadin bei R.D. Barnett [1967], 6*, Anm. 29); zu anderen Deutungen des Namens vgl. Brinkman (2001), 770. 75 Vgl. GAG, § 10e; darauf hat auch schon E. Lipiński (2000), 116 hingewiesen. Mithin wird der Name als [mū/ōquru] < /mawqaru/ zu deuten sein. 76 Vgl. M.P. Streck (2000), § 5.44-48. 77 Vgl. V. Golinets (2018), 176. 404. 78 Vgl. V. Golinets (2018), 304. 422. 79 Man wird in ihnen Nachkommen der älteren westsemitischen Bevölkerungsgruppen in der Ǧazīra sehen müssen, die wahrscheinlich amurritische Wurzeln hatten. 80 Schon Schwartz (1989), 282, hat darauf hingewiesen, dass die Formulierung bei Adadnārāri II. „may signify a nomadic Arameaean group employed militarily, analogous to the nomads in the Mari military“, wobei er aber an dem aramäischen Hintergrund von Mūquru festhält und ein Nebeneinander von solchen nomadischen Aramäern und „urban based Aramaic states“ (ebd.) postuliert. Wenn die Politie des Mūquru eine aramäische Politie war, so ist die Nennung nur eines Bevölkerungsteils – der Nomaden – als Aramäer nicht überzeugend, wie E. Lipiński (2000), 115, zu Recht einwendet, um dann doch wieder dieselbe soziale Unterscheidung zwischen aramäischen Stadtbewohnern und (halb-)nomadischen Stämmen einzuführen. Wenn die Tēmanäer aber eben keine Aramäer waren, sondern zur früher dort ansässigen Bevölkerung gehörten, ist die Unterscheidung, die Adadnarāri macht, vollkommen korrekt und unproblematisch.
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ders wäre auch ein Zusammenleben solcher Gruppen mit den älteren Bevölkerungsteilen nicht zu denken. Für ihre grundsätzliche Selbständigkeit spricht neben dem negativen Befund, dass sie im Gegensatz zu den Truppen Mūqurus nicht als „seine“ Aramäer bezeichnet werden (Z. 51), auch, dass die Aramäer in der Vergangenheit bei der Eroberung von Ortschaften eigenständig vorgegangen sind und diesen eigene Namen gegeben haben (Z. 52). Dass nun Mūquru in dieser Stadt einen Palast hatte (Z. 57) und diese wohl als seine Stadt (Z. 50) Gidara hieß (Z. 52), weist auf eine komplexere Geschichte zwischen den Tēmanäern und den Aramäern hin. Die beste Lösung scheint dabei zu sein, dass in der Mitte des 10. Jh.s v. Chr. die Aramäer in der Lage waren, einzelne Ortschaften „mit Gewalt wegzunehmen“ (Z. 53), was natürlich eine Bedrohung der dort ansässigen Bevölkerung war. Offenkundig kam es dann aber zu einem Ausgleich zwischen beiden Seiten, bei dem die Tēmanäer die nominelle Oberhoheit in ihren Gebieten behielten und auch die Ortschaften, die die Aramäer weggenommen hatten, weiter nutzen konnten, und die Aramäer sich als Militärs in die Gesellschaft integrierten. Dem entspricht, dass die Aramäer eben nicht als große Gruppen oder (halb-)nomadische Stämme in diesem Gebiet auftauchten, sondern als Aḫlamū, die sicher einzelnen Ortschaften gefährlich werden, aber schon auf Grund ihrer geringen Menge kein Gebiet nachhaltig bevölkern konnten und somit auf die Etablierung eines modus vivendi angewiesen waren.81 Die Integration solcher kämpferischer Gruppen in bestehende Gesellschaftsstrukturen ist im Alten Orient ein durchaus bekannter Vorgang. Schwartz hat in diesem Zusammenhang auf die Integration von Nomaden oder nicht lokalen ethnischen Gruppen in die Militärorganisation von Mari hingewiesen,82 hier sei nur exemplarisch noch an die Kooperationen der Ḫab/piru mit einzelnen Stadtstaaten in der Levante83 und die Marijannu als eine militärische Elite in Syrien und Mittanni84 erinnert. Dass von solchen Gruppen aber immer die Gefahr ausging, die Macht in einer Politie an sich zu reißen, liegt auf der Hand und wird sowohl durch die Vorgänge im Bereich der Tēmanäer als auch durch die Geschichte Bēt (A)Gūš’ illustriert.
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Vgl. ähnlich G. Bunnens (2016), 264. Vgl. Anm. 80. Vgl. z. B. D. Jericke (2012), 3. Abschnitt; Tr. Bryce (2009), 269. Vgl. G. Wilhelm (1987–1990).
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Auch das Auftauchen von Aramäern als herrschende Schicht im südsyrischlibanesischen Gebiet85 am Ende des 11. und zu Beginn des 10. Jh. v. Chr. ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Angesichts der aus den assyrischen Quellen wahrscheinlich zu machenden Vorgänge in Mesopotamien und Bēt (A)Gūš bekommt die Schilderung der Etablierung einer aramäischen Oberschicht in Damaskus, die 1 Kön 11,23–25 bietet, durchaus Plausibilität. Demnach geht die aramäische Herrschaft in Damaskus auf einen aramäischen Warlord namens Reson zurück, der ursprünglich im Dienst des Königs von Ṣōbā stand und nach Davids Sieg über Ṣōbā mit einer (Aḫlamū-)Truppe nach Damaskus zog, um sich dort niederzulassen und schließlich die Herrschaft zu übernehmen. Ob dabei alle Mitglieder seiner „Bande“ ( )גדודAramäer waren, ist nicht gesagt. Das Beispiel Davids, der seinen politischen Aufstieg auch als ein solcher Bandenchef begann (1 Sam 22,2), zeigt, dass die, die auf diese Weise ihr Glück zu machen suchten, durchaus unterschiedliche Herkunft haben konnten. Bezeichnend ist die Formulierung „und sie gingen nach Damaskus und wohnten darin und herrschten in Damaskus ( “)וימלכו בדמשקin V. 24. Folgt man dieser Angabe, so wäre Reson selbst noch kein König gewesen, auch wenn seine Kriegstruppe Damaskus kontrolliert hätte. Erst V. 25 spricht davon, dass Reson über „Aram“ herrschte ()וימלך על ארם, was aber in der Septuaginta auf (H)Ader (= masoretisch Hadad) von Edom bezogen wird. Nicht zuletzt auf Grund des Namens Hadad86 wurde vorgeschlagen, Edom ( )אדםin V. 14–22 auf ein ursprüngliches Aram ( )ארםzurückzuführen, so dass mit Hadad und Reson zwei Könige von Damaskus belegt wären.87 Jedoch bleibt dann das Verhältnis dieser beiden Herrscher in Damaskus im Text unklar,88 während der Name Hadad/Hader in der Königsliste Edoms (Gen 36,35f.39 || 1 Chron 1,46f.50) fest verankert ist. Mithin scheint die Version der Septuaginta, in der in V. 25 der aus Ägypten zurückgekehrte edomitische Prinz (H)Ader König in Edom wurde, wohl die ältere Version zu sein, die in der späteren Texttradition des masoretischen Textes auf Grund der graphischen Ähnlichkeit zwischen הדר/ הדדund אדם/ ארםund der zentralen Rolle, die Aram für Israel spielte, missverstanden wurde. Somit bleibt die Aussage
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Zur viel diskutierten Lokalisierung von Bēt Reḥōb und Ṣōbā vgl. jetzt W. Zwickel (2016). Z. B. E. Lipiński (2000), 369. Vgl. z. B. A. Lemaire (1988); E. Lipiński (2000), 368–370; A. Lemaire (2001), 130–132. Dass Hadad vor Reson geherrscht habe (so z. B. E. Lipiński [2000], 369), gibt der Text nicht her.
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von V. 23f., die wohl ebenfalls in einer ursprünglich knapperen Form in der Septuaginta in V. 14 begegnet, dass Reson der Anführer einer Art Aḫlamū-Gruppe war, die die Macht in Damaskus übernahm.89 Dies wirft auch ein interessantes Licht auf die Formulierungen in 2 Sam 10. Die Ammoniter heuern für den Kampf gegen David einerseits den König von Maʿakā und den Mann von Tōb an – hier werden offenkundig die Herrscherpersonen genannt –, andererseits aber „Aram“ von Bēt Reḥōb und Ṣōbā (V. 6). Auch bei der folgenden Schlacht werden die einzelnen entsprechend als Aram, König von Maaka und Mann von Tob bezeichnet (V. 8). Entsprechend läßt auch Hadadezer von Ṣōbā „Aram“ gegen David ausziehen (V. 16.18). Wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese beiden Berichte mit der Nennung „Aram“ nichts anderes ausdrücken wollten, als dass es sich um die Aramäer des jeweils genannten Gebiets im Gegensatz zu anderswo wohnenden Aramäern handelte, so lässt sich im Licht der bisherigen Ergebnisse und auf Grund der Frage, warum hier nicht einfach von Hadadezer oder dem König von Ṣōbā die Rede ist, der Text auch dahingehend verstehen, dass mit „Aram“ ursprünglich militärische Kampfgruppen aramäischer Provenienz gemeint waren, die in unterschiedlichen Gebieten lebten und denen dienten, denen sie sich verpflichtet fühlten oder die entsprechend zahlten.90 Dem widerspricht nicht V. 19, wo offenkundig die Führer dieser Aramäer als „Könige“ ( )מלכיםbezeichnet werden,91 die nach ihrer Niederlage nun nicht mehr Knechte Hadadezers waren, sondern sich Israel unterstellten. Da „ מלךKönig“ durchaus auch Scheichs und Heerführer bezeichnen kann,92 dürften in der V. 19 zugrundeliegenden Quelle solche Heerführer gemeint worden sein und die Deutung einer Unterwerfung aramäischer Staaten unter der Führung Hadadezers und somit die schon frühe Annahme der Etablierung eines weit bis nach Syrien hineinreichenden Großreichs Davids sich einer Fehlinterpretation solcher Quellen verdanken. Wie dem auch sei, dass Aramäer schon am Ende des 11. und spätestens zu Beginn des 10. Jh. v. Chr. im südsyrisch-libanesischen Gebiet als politisch-militärisch Machtfaktor belegt sind, passt wiederum gut zu den assyrischen Berichten, die die Herkunft der Aramäer in Bereich des südsyrischen Steppengebietes lokalisieren. Gerade die 89 90 91 92
Vgl. auch die Kritik bei K.L. Younger (2016), 567–570. Vgl. auch G. Bunnens (2016), 264. Vgl. auch 2 Sam 8,5. Vgl. bes. die Inschrift vom T. Dan, KAI 310, wo Hadadezer sich rühmt, bei seinem Vorgehen gegen Israel „siebzig Könige“ getötet zu haben, womit er wohl ebenso Heerführer meint, wie auch 1 Kön 20,1.16.32 die zweiunddreissig Heerführer Barhadads von Damaskus (vgl. 22,31) „Könige“ nennt.
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Berichte über die Verfolgung der Aramäer über Tadmor hinaus bis an den Libanon zeigt, dass schon am Ende des 12. Jh. v. Chr. auch mit Aramäern im Bereich des Libanon und von Damaskus zu rechnen ist. Insgesamt wird man also davon auszugehen haben, dass die Aramäer von Süden her in den syrisch-mesopotamischen Raum kamen, wozu schließlich auch die linguistische Beobachtung passt, dass das Aramäische die nächsten Verbindungen zum Sabäischen aufweist.93 Dabei hat es sich im Wesentlichen um das Eindringen von kleineren Aḫlamū-Gruppen gehandelt, die sich durch große Mobilität und militärische Bedeutung auszeichneten und zunächst sowohl im Westen im Bereich des Libanon und Damaskus’ als auch in Mesopotamien festsetzten. Damit bereiteten sie einerseits in den Randgebieten Mesopotamiens, die nicht direkt an das Kern- und damit Machtgebiet des mittelassyrischen Reiches angrenzten, den Weg für die Immigration größerer aramäischer und arabischer Stammesverbände aus dem syrischen Steppengebiet vor, andererseits konnten sie sich in anderen Politien zumindest als militärische Eliten integrieren, wo sie bald eine wichtige machtpolitische Rolle spielten und auch zum Teil schließlich die Macht übernehmen konnten.94 Interessanterweise scheint das eigentliche nordsyrische Kerngebiet nördlich des Ǧabal Abū Ruǧmayn zunächst weitgehend davon verschont geblieben zu sein, was auf eine noch weitgehend intakte Macht der dort noch bestehenden luwisch-kanaanäischen Politien schließen lässt. Erst relativ spät konnten aramäische Gruppen im Bereich von Bēt (A)Gūš eine aramäische Politie etablieren, wobei die Gūšiten möglicherweise aus dem Gebiet zwischen dem oberen Euphrat und dem Balīḫ kamen, in denen sich aramäische Gruppen schon deutlich früher festsetzen konnten. Auf Grund dieses Bilds, dass sich aus den zeitgenössischen Quellen ergibt, wird auch die Etablierung des Aramäischen als transregionale Schriftsprache in Syrien und Mesopotamien verständlich. Dass diese Sprache auf die sich im 10. Jh. v. Chr. etablieren93 Vgl. I. Kottsieper (2009), 405–407; I. Kottsieper (2014), 38–41; I. Kottsieper / P. Stein (2014), 82f. Vom Amurritischen, das z. B. von R. Zadok (2012), 570, noch als möglicher Vorgänger des Aramäischen angesehen wird, unterscheidet sich das Aramäische insbesondere dadurch, dass in diesem im Gegensatz zum Aramäischen /ḍ/ nicht erhalten und /ẓ/ als eigenständiges Pänomen nur sehr unsicher ist (vgl. M.P. Streck [2000], § 2.138) und der Kausativstamm wohl im Amurritischen auf ein Šafʿel zurückgeht (vgl. V. Golinets [2018], 204–205), bzw., wenn man einige umstrittenen Belege für yaqtil als Präformativformen eines Hafʿel deuten will (vgl. V. Golinets [2018], 59–695), das formative /h/, das im Altaramäischen in allen Präformativformen des Kausativs erhalten ist, schon völlig ausgestoßen wäre. Mithin kann das Aramäische nicht auf das Amurritische zurückgeführt werden. 94 Vgl. ähnlich G. Bunnens (2016), bes. 274f., der aber eher davon ausgeht, dass umgekehrt lokale Gruppen von den Aramäern als erfolgreiche Gruppen vereinnahmt wurden: „Groups, such as Hirana, Hasmi or Bīt Zamani, who at some stage, will be Aramaean, have probably been ‚Aramaized‘ in the course of
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den aramäischen Politien in der Beqaʿa und in Damaskus entwickelnde Schriftsprache zurückgeht, ist evident. Allein schon die Wahl der phönizischen Schrift trotz ihres Mangels, den deutlich größeren Phonembestand des Aramäischen abzubilden,95 weist in diese Richtung. So gehört die Entwicklung dieser Schriftsprache zunächst in den Kontext der Entwicklung lokaler Schriftsprachen im 10. Jh. v. Chr. der südlichen Levante wie des Hebräischen, Moabitischen oder Ammonitischen, die alle die phönizische Schrift übernahmen. Für den diplomatischen Verkehr der syrisch-mesopotamischen Politien und Machteliten außerhalb des assyrischen Kernlandes bot sich nun diese Schriftsprache von selbst an, da sie auf einer Sprache beruhte, die von meist militärischen und weitgehend mobilen Eliten in Südsyrien und im nordwestlichen Mesopotamien geteilt wurde. Da diese Gebiete auch über die bekannten Handels- und Heeresrouten vom Libanon über Tadmor bis an den mittleren Euphrat miteinander verbunden waren, bestanden hier auch ausreichende Kontaktmöglichkeiten und auch der Bedarf einer transregionalen Sprache für den Handel und diplomatische Kontakte, wobei der wachsende politische Einfluss Damaskus’ im 9. Jh. v. Chr. im Westen sicher dazu beigetragen hat. Mithin sind hier – wie in einem guten Kriminalfall – sowohl Motiv, Werkzeug als auch Gelegenheit gegeben. Das entstehende neuassyrische Imperium war pragmatisch genug, diese sprachliche Entwicklung für sich zu nutzen und entsprechend Aramäisch, dessen Schriftsystem zudem deutlich weniger komplex als die akkadische Keilschrift war, als transregionale Verkehrssprache neben dem Assyrischen zu nutzen. Wie selbstverständlich der Gebrauch des Aramäischen in der Kommunikation mit den westlichen Vasallen und Nachbarn wurde, zeigt exemplarisch die Szene 2 Kön 18,26 und ein offenkundig als Brief in den Westen versandter assyrischer Erlass aus dem 3. Viertel des 7. Jh. v. Chr.96 War somit das Aramäische als transregionale Verkehrssprache durch das neuassyrische Imperium etabliert worden, so lag es für die Achäemeniden nahe, diese auch als reichsweite Verkehrs- und Verwaltungssprache gerade außerhalb Persiens zu nutzen, the Aramaean expansion. It is not unusual that a successful group incorporates smaller communities.“ (274). Die Frage ist aber, ob solche Gruppen wirklich „aramaisiert“ wurden bzw. ob diese „Aramaisierung“ über den späteren (s. u.) Siegeszug des Aramäischen als Sprache hinausgeht. Die „close lecture“ der assyrischen Quellen, die oben versucht wurde, spricht eher dafür, dass die Aramäer nur eine zusätzliche neue Gruppe in dem sozial und ethnisch komplexen Gefüge des syrisch-mesopotamischen Raums des ausgehenden 2. und beginnenden 1. Jtsd. v. Chr. waren. 95 Vgl. I. Kottsieper (1990), §§ 1–7. 96 KAI 317; vgl. I. Kottsieper (2000), 388–392.
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was zur Folge hatte, dass das Aramäische das gesamte öffentliche Leben durchdrang und mehr und mehr zur allgemeinen dann auch in breiten Kreisen Bevölkerung gesprochenen Sprache wurde, die schließlich die lokalen Sprachen verdrängten.97 Es bedarf also weder der obsoleten Vorstellung einer Völkerwanderung aus dem Süden, noch einer in den Quellen nicht nachweisbaren alten eingesessenen aramäischen Bevölkerungsschicht von aramäischen Halbnomaden. Die erhaltenen Quellen selbst führen – zusammen mit der sprachgeschichtlichen Einsicht, dass eine transregionale Schriftsprache wenig über die ethnische Situation in den Gebieten, in denen sie gebraucht wird, aussagt – zu einem Bild, dass die scheinbare Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Aramäischen als einer solchen Schriftsprache, dem späten Auftreten doch wohl zahlenmäßig eher kleiner aramäischer Gruppen, dem Fehlen von Belegen einer kulturellen oder religiösen Aramaisierung der sogenannten aramäischen Gebiete98 – ganz zu schweigen von einer aramäischen Großmacht – hinreichend erklären und plausibel machen kann. Hier liegt keine Völkerwanderung vor, bei der eine neue Ethnie sich in einem Gebiet festsetzt und dieses nun kulturell prägt. Dieses klassische Modell, das auch die Frühzeit der Aramäerforschung prägte, ist zu Recht aufgegeben worden und würde auch nicht auf die Herkunft der Aramäer aus dem südsyrischen Steppengebiet passen. Woher sollten dort die entsprechenden Massen an Menschen kommen? 97 Exemplarisch kann hier auf Judäa verwiesen werden, wo im 4. Jh. v. Chr. das Aramäische das Hebräische als gesprochene Volkssprache Schritt für Schritt verdrängte, so dass das Hebräische dann als religiöse Kult- und Literatursprache übrigblieb, vgl. I. Kottsieper (2007). 98 So fehlen archäologische Hinweise auf die Etablierung einer neuen Kultur im Kontext des Auftretens des Aramäer; vgl. G. Bunnens (1999), 605. Auch hinsichtlich der religiösen Zeugnisse lassen sich selbst im Kontext der sogenannten aramäischen Herrscherhäuser keine gravierenden Innovationen feststellen, vgl. I. Kottsieper (im Druck). Dies gilt besonders für den gerne als „aramäischen“ Gott apostrophierten Wettergott Hadad, der vielfach für Syrien/Mesopotamien seit dem 3. Jtsd. v. Chr. bezeugt ist (vgl. D. Schwemer [2001], bes. 37f.45) und dessen lokale Erscheinungsformen als Herr einzelner Stadtstaaten für den syrischen Bereich sicher keine Innovation des 1. Jtsd. v. Chr. ist. Die Namensform Hadad ist der akkadische status absolutus zu Hadd- als status rectus (vgl. D. Schwemer [2001], 56) und wurde wohl in das Aramäische unter Einfluss des Assyrischen übernommen (vgl. D. Schwemer [2016], 72). Wenn also in aramäischen Texten von Hadad die Rede ist, liegt hier nicht ein aramäischer Gott, sondern eben die assyrisch-aramäische Bezeichnung des traditionellen Wettergottes vor. Auch hier ist die Inschrift von Bukān (KAI 320) bezeichnend, die wie selbstverständlich Hadad als Wettergott nennt (Z. 11‘–12‘). Dass damit der „Hadad of Guzana, the Aramaean weather god“, gemeint sei (so H. Niehr [2014], 132), ist abwegig, bedenkt man, dass zwischen Gūzāna und Bukān 550 km liegen. Warum sollte man im mannäischen Gebiet eine Gottheit einer anderen Kultur, die über 500 km entfernt war, verehren? Und dass der Hadad von Gūzāna ein aramäischer Gott war, läßt sich schon wegen der großen Bedeutung (H)Adads im älteren Assyrien mit Recht bezweifeln. Auch wenn „es um unser Wissen über den Adad-Kult in Gūzāna und Sikkāni in vorneuassyrischer Zeit denkbar schlecht bestellt [ist, kann] … der Kult des Wettergottes in der Gegend vom Tall Ḥalaf gewiß ein hohes Alter für sich beanspruchen“ (D. Schwemer [2001], 618).
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Die Annahme, dass Aramäer aber schon vorher in Syrien als halbnomadische Stämme existierten, ist auch nicht befriedigend, da wir in den Quellen des 2. Jtsd. v. Chr. zwar viel von solchen Gruppen amurritsch-sutäischer Herkunft hören, die Aramäer aber nicht erwähnt werden.99 Und die frühen Quellen zum Auftreten der Aramäer sprechen eindeutig für das Eindringen von Aramäern aus dem südsyrischen Steppenland, wobei offenkundig der syrische Raum nördlich des Massivs des Ǧabal Abū Ruǧmayn zunächst nicht betroffen war.100
Summary The Arameans first appeared on the scene in Mesopotamia and Syria at the end of the 2nd millennium BCE, but only several centuries later their language had become the lingua franca of the Ancient Near East. The question of their origin is still disputed. Indeed, early research had interpreted this as a migration of a people group. But since the concept of mass migrations of people was rightly questioned later, modern scholars tend to view the Arameans as descendants of indigenous groups of semi-nomads, who seized upon the opportunity provided by the political vacuum at the end of the 2nd millennium BCE to establish local polities throughout Syria and North-Mesopotamia. But the question remains, why do the older sources of the 2nd millennium BCE never mention Arameans even though they provide information about many other local semi-nomadic groups? And why do the earliest sources for the appearance of the first Arameans not envisage them as indigenous? Additionally, most modern scholars uncritically take for granted the old but nevertheless questionable linguistic hypothesis that the use of a certain language in an official inscription can be taken as argument that this language was also the native language of the (main) ethnic group of the polity in which the inscription had been published. This paper will demonstrate by means of several examples that this conclusion is not an inevitable one. Consequently, some polities are erroneously labelled “Aramaic” solely on the basis of the inscriptions found in them. Additionally, a meticulous analysis of 99 Vgl. G. Bunnens (2016), 253. Dass es nach dem Auftreten der aramäischen Aḫlamū durchaus auch zu vielfältigen Verbindungen zwischen schon in den neuen Gebieten lebenden Nachfahren der Amurriter und der Sutäer kam, zeigen nicht nur die oben gemachten Beobachtungen zu den Tēmanäern, sondern auch die Tatsache, dass in der akkadischen Terminlogie es zu Überlappungen zwischen den Begriffen Aramäer, Aḫlamū und Sutäer kommt bzw. auch manche Quellen eindeutig von einer Kooperation zwischen Sutäern und Aramäern sprechen, vgl. I. Kottsieper (2009), 397; K.L. Younger (2016), 80–94. 100 Dies schließt natürlich nicht das Auftreten einzelner kleiner Gruppen aus, die aber offenkundig keine Rolle spielten.
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the early accounts concerning the appearance of the Arameans shows that those first Arameans formed only small marauding units which intruded into Mesopotamia and North-Syria within the framework of the multi-ethnic Aḫlamū groups. As martial units, they could not only dominate some smaller areas but were also integrated into existing polities as a new contingent of (military) elites. As the language of such a trans-regional and militarily active stratum, Aramaic presented itself as useful for trans-regional communication, especially since an Aramaic written language had already been developed under the influence of Phoenician as part of the political and economic ascendant Aramaic polities of Damascus and the Beqaʿa. This development probably served as the starting point for the rise of Aramaic as a lingua franca used also in areas where Arameans as a people group never took root, but which nevertheless took part in the diplomatic and economic networks of the Ancient Near East.
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Die Aramaisierung des Vorderen Orients
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Die Aramaisierung des Vorderen Orients
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Der Vordere Orient und griechische Migrationen Christian Marek, Zürich
Dem weitgespannten Vortragsthema unter dem Titel des Kolloquiums entsprechend kann im Folgenden nicht mehr als der Versuch einer groben Skizze ausgeführt werden. Der Fokus liegt auf dem kulturellen Aspekt. Migrationen von Menschen griechischer Sprache in Territorien mit Bewohnern überwiegend nichtgriechischer Sprache und Kultur im Zeitalter der Antike erstrecken sich über einen Zeitraum von mindestens eineinhalb Jahrtausenden. Quellen und Forschungsliteratur sind unüberschaubar, methodische Prinzipien ausdifferenziert und thematische Kontexte komplex und vielschichtig. Und doch ist eine faszinierende Kohärenz des im allgemeinen als Hellenisierung bezeichneten kulturgeschichtlichen Vorgangs auszumachen, dem in nicht unbeträchtlichem Ausmass erwiesenermassen Migrationen zugrundeliegen. Wenn wir dabei von „Griechen“ und „Griechischem“ sprechen, so versteht sich von selbst, dass damit über die Jahrhunderte hinweg keine essentiell ethnische, sondern eine sprachlich-kulturelle Definition zur Anwendung kommt, die, was Migranten betrifft, gleichermassen auf einen Milesier des 7. Jh.s v. Chr. wie auf einen Alexandriner oder Palmyrener des 2. Jh.s n. Chr. passt. I Das älteste bekannte Land der Griechen ist die Balkanhalbinsel mit der Peloponnes. Griechen waren nicht immer dort. Manche Forscher sprechen von einer Einwanderung aus dem Orient.1 Die wissenschaftlichen Grundlagen der Diskussion dieser Problematik haben die Entdeckungen der indogermanischen Sprachverwandtschaften im 18. und der mykenischen Schachtgräberkultur im 19. Jh. gelegt.2 1 2
R. Drews (1988). K.-W. Welwei (2011). Zusammenfassung mit neuerer Literatur: S. Deger-Jalkotzy / D. Hertel (2018).
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Humangenetik, Linguistik und Archäologie setzen Migrationen indogermanischer Sprachträger in Südosteuropa heute bereits zwischen dem 5. und frühen 4. Jahrtausend an.3 Die Goldfunde der Umgebung von Varna, darunter der als „Szepter“ gedeutete und als ältester Fund eines Herrschaftssymbols auf dem Globus interpretierte Gegenstand aus einem Fürstengrab um 3800 gelten als Beleg einer „Helladischen Landnahme“, die der Herausbildung eines Protogriechischen Idioms vorausging.4 Dieses Idiom hat sich über einen längeren Zeitraum allmählich zu dem entwickelt, was wir aus unseren ältesten schriftlichen Quellen als „Griechisch“ kennen. Die Archäologie rechnet mit dem Aufstieg einer neuen Kriegerelite zur Macht in Südgriechenland spätestens in Mittelhelladisch III, d. h. zwischen 1700 und 1600. Skelette von deren Nachkommen fanden sich in den Schachtgräbern Mykenes des älteren Kreises B aus dem 17. und des jüngeren Kreises A aus dem 16.–15. Jh., beigesetzt mit Schwertern, Lanzen, Schilden, Masken aus Goldblech und Elektron, Diademen und sonstigem Schmuck aus Gold, Fayence, Bernstein und Bergkristall. Erbauer „kyklopischer“ Burgmauern, von Palästen, Schacht-, Kammer- und Kuppelgräbern nahmen nicht nur von ganz Mittelgriechenland und der Peloponnes Besitz, sondern expandierten nach etwa 1430 auf das höher entwickelte Kreta im Süden, von wo bereits zuvor Impulse auf ihre materielle Kultur ausgingen. Amerikanische Ausgrabungen fanden 2015 in einem Kriegergrab in Pylos ein Achatsiegel, dessen atemberaubende künstlerische Qualität in der Glyptik dieser Zeit ihresgleichen sucht.5 Auf die Tontafeln der mykenischen Palastzeit wurde in einer von der kretischen Linearschrift A abgeleiteten Schrift (Linear B) Griechisch geschrieben, die frühesten Zeugnisse in dieser Sprache.6 Doch enthält das heute bekannte mykenische Griechisch auch viel Fremdes.7 In den Hypothesen von der asiatischen Herkunft der Migranten spielen das Pferd8 und der Streitwagen9 eine Rolle. Die Domestizierung des Pferdes und seine Verwendung als Zug- und Reittier fand zwischen dem 7. und 4. Jahrtausend in der Ukraine statt, in Anatolien und Griechenland ist es archäologisch erst im 2. Jahrtausend nach3 4 5 6 7 8 9
K.-W. Welwei (2011). A. Fol / J. Lichardus (1988); H. Parzinger (2014), 207; H. Haarmann (2016), 131f. J.L. Davis / S.R. Stocker (2016). A. Bartonek (2003); Y. Duhoux / A. Morpurgo Davies (2008–2014). Dazu H. Haarmann (2016), 155–157; K.-W. Welwei (2011), 11 mit Verweis auf C. Renfrew (1987), 9–41; 263–289. Zur Religion W. Burkert (2011), 74–80. Rätselhaft sind Götternamen Manasa oder Drimios: Ebenda 75. H. Haarmann (2016), 33–37. 87f. H. Haarmann (2016), 102–106; D.W. Anthony (2007).
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Der Vordere Orient und griechische Migrationen
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gewiesen. Streitwagen sind in mehreren hethitischen Texten erwähnt.10 Sie kommen in Linear-B Inventaren von Knossos vor und sind auf Grabstelen der Schachtgräberzeit Mykenes abgebildet.11 Die Forschung hat die Frage aufgeworfen, ob diese Kampfestechnik aus Steppen- und Hügelgebieten Asiens mitgebracht wurde. In den Landschaften Griechenlands ist sie ungeeignet, von Wettspielen oder Paraden abgesehen. Bekannt ist die Debatte, welche Funktion die Streitwagen in den Schlachtszenen der Ilias haben: An der einzigen Stelle, wo vom rossegezogenen Wagen aus gekämpft wird (Ilias VIII 118), zielt Diomedes’ Lanzenwurf auf den heranrollenden Hektor, trifft und tötet aber statt diesen nur seinen lenkenden Knappen.12 In der Mykenischen Epoche Griechenlands produzierten die gleichzeitigen östlichen Großreiche der Hethiter, Assyrer und Ägypter ein reichhaltiges Schrifttum. Mögliche Bezugnahmen auf Griechisches sind uneindeutig und umstritten. Der Schweizer Sprachforscher Emil Forrer hat 1924 den Namen des in hethitischen Quellen Aḫḫiyawa genannten Gebietes mit dem der homerischen Achaier gleichgesetzt.13 Aus den Kontexten der keilschriftlichen Berichte ergibt sich indes keine präzise Verortung dieses Gebietes, nicht einmal, ob es in Griechenland, der Ägäis oder auf dem asiatischen Festland lag. Dass der Name Aḫḫiyawa überhaupt auf Griechen zu beziehen sei, wird bezweifelt.14 Gegen die oft behauptete Gleichsetzung Milets und Ephesos’ mit den hethitischen Milawanda und Apasa werden seitens der Sprachwissenschaft gute Gründe ins Feld geführt.15 Archäologisch ist, mit Ausnahme eines kleineren Abschnitts der Westküste um Milet, eine bronzezeitliche Besiedelung des asiatischen Festlandes durch Griechen nicht nachgewiesen.16 II Wann und wie wanderten dann erstmals Griechen vom Balkan, der Peloponnes, und den Inseln in grösserer Zahl dauerhaft nach Asien? Auch in dieser Frage stösst historische Wissenschaft an Grenzen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass eine zeitnahe schriftliche Überlieferung nicht existiert. Archäologische Relikte vermögen diese Lücke nicht annähernd zu schliessen. Der Klassische Archäologe Frank Rumscheid 10 11 12 13 14
P.H. Houwink ten Cate (1984); H. Schmökel (1973). S. Deger-Jalkotzy / D. Hertel (2018), 37 Abb. 3 c. P. Greenhalgh (1973). E. Forrer (1924). Forschungsüberblick: R. Fischer (2010); R. Fischer (2011); dazu M. Gander (2015). Einen nichtgriechischen Namen erwägen in Aḫḫiyawa: G. Steiner (1990); I. Hajnal (2003), 24–27. 15 D. Schürr (2019a) und (2019b). 16 C. Marek (3 2017), 131–132.
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hat jüngst am Beispiel der materiellen Kultur einer südwestanatolischen Kleinstadt die Problematik in einem Gedankenexperiment wie folgt dargelegt: „Was würden Archäologen in gut zweieinhalbtausend Jahren von der materiellen Kultur des jetzigen Milas vorfinden? Die Dinge aus empfindlichen organischen Materialien wären kaum noch erhalten, doch würde man wohl Reste von Autos der Marken Fiat, Renault, Opel und Mercedes, Getränkedosen von Coca Cola, Sprite und Fanta, Digitalkameras aus Japan, Reste chinesischer Schuhe, Besteck mit der deutschen Aufschrift ‚rostfrei‘ usw. entdecken. Dazu kämen Beobachtungen wie die, daß der Mercedes-Stern mit dem Namen ‚Otomarsan‘ verknüpft ist, daß es auch Dosen und Flaschen gibt, in denen sich Labranda Suyu und Cola Turka befunden haben, daß manchem Besteck der Hinweis ‚paslanmaz‘ eingeprägt ist und sich auf Schuhresten auch der Name einer türkischen Firma finden kann. Man würde sehen, daß öffentliche Bauten, Straßenschilder und Denkmäler ausschließlich türkische, ältere Grabsteine aber auch hebräische Inschriften getragen haben und es religiöse Bauten fast nur in Form von Kuppelmoscheen gab, in und an denen regelmäßig arabische Schriftzeichen festzustellen sind.“17 Auf Grundlage der Archäologie wird eine dauerhafte Landnahme nicht viel früher als am Beginn des ersten Jahrtausends angesetzt.18 Die sogenannte protogeometrische Keramik (11.–9. Jh.) an zahlreichen Fundplätzen Westkleinasiens bietet wertvolle Indizien, gibt für sich allein jedoch keinen Aufschluss über historische Prozesse. Eine Schlüsselrolle für die Chronologie spielt die relativ ungestörte Stratigraphie von Bayraklı (Alt-Smynra) mit neun Siedlungsschichten zwischen dem 11. und 4. Jh. Ovale Hausformen und protogeometrische Keramik zeugen von griechischer Besiedelung mindestens ab etwa 925.19 Im Ergebnis haben wir drei grosse, jeweils um eine gemeinsame Kultstätte angesiedelte und organisierte Gruppen; ihre verschiedenen Dialekte, vereinzelt auch Kulte, Feste, Institutionen, Monats-, Personen- und Ortsnamen weisen alte Verbindungen mit mutterländischen Gemeinschaften auf.20 Die wohl frühesten Immigranten, die Aioler, besetzten den Norden und die Mitte der Westküste bis hinab nach Smyrna (dem heutigen Izmir), von wo sie die Gruppe der Ionier verdrängte, deren Städtebund 17 F. Rumscheid (2019), 310. Das Problem wird am Beispiel der ionischen Migration gründlich diskutiert von A. Herda (2009). 18 C. Marek (2017), 165–170 mit Literatur 702–703; A.M. Greaves (2011). Zu Ionien: A. Herda (2009); zur Aiolis D. Hertel (2007); B.C. Rose (2008); zur dorischen Landnahme A. Bresson (2009). 19 E. Akurgal (1993); M. Akurgal (2007). 20 C. Marek (2017), 167; A. Herda (2009), bes. 28–31.
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sich von Phokaia im Norden bis Milet im Süden erstreckte, während oder bevor eine dorische Stammesorganisation sich im Südwesten um ein Heiligtum an der Spitze der karischen Chersonnesos bildete. Mit der griechischen Dichtung im Archaikum beginnt das Filigran von Geschichten über die Abkunft der Gründer aus dem Mutterland, ihre Beweggründe zum Verlassen der alten und ihre Schicksale in der neuen Heimat.21 Der Mythos schwärmt in Hellenismus und Kaiserzeit aus zu den mehrheitlich nichtgriechischen Gemeinden des Landesinneren, deren Eliten ihre Zugehörigkeit zur hellenischen Universalkultur mit eugeneia – guter Abkunft, untermauern wollten.22 Ich gebe aus dem dichten Netz von Erzählsträngen nur wenige Beispiele: Einer der prominentesten Mythen bezieht sich auf die Stadt Pergamon. Vereinfacht lässt sich folgende Version herausschälen: Ihr Gründer Telephos verdankt seine Geburt einem der zahlreichen Sexabenteuer des Herakles, der die Priesterin Auge im arkadischen Tegea schwängerte. Deren Vater liess das Enkelkind aussetzen und die Tochter nach Asien verkaufen. Auf wunderbare Weise gerettet und nach Asien verschlagen, trifft der herangewachsene Telephos die Mutter als Gattin des Lokalherrschers Teuthras wieder, und folgt diesem als König von Mysien nach. Noch bei den Dichtern der Kaiserzeit sind die Pergamener Telephidai und bewohnen teuthranisches Land.23 Die nur fragmentarisch bekannte Gründungsgeschichte des ursprünglich aiolischen Magnesia am Maiandros setzt bei der Zerstörung Troias an. Das Kontingent der Griechen aus der Magnesia in Thessalien (Ilias II 756–759) habe auf der Heimfahrt Schiffbruch erlitten. Den Überlebenden befahl ein delphisches Orakel, nach Kreta zu fahren und dort auf das Zeichen weisser Raben zu warten. So sei es zur Gründung der kretischen Stadt Magnesia gekommen. Nach 80 Jahren erschienen die Raben, und ein neues Orakel hiess die Versprengten nach Asien an den Fluss Maiandros zu ziehen und wählte zum Anführer Leukippos aus. Die Vorgänge in Asien sind unklar. Nach einer Version (Parthenios 5) habe Leukophryene – „die mit den weissen Augenbrauen“ nach dem griechischen Beinamen der am Ort verehrten Göttin Artemis –, Tochter des lokalen Fürsten Mandrolytos, sich in Leukippos verliebt und den Magneten ihre Heimatstadt verraten.24 21 Grundlegend: F. Prinz (1979). 22 C. Marek (2017), 590f. 23 M.A. Zagdoun (2008); H.-J. Gehrke (2005). Telephidai: R. Merkelbach / J. Stauber (1998), 575 Nr. 06/02/01 Verse 1–2. 24 Die Quellen sind zusammengestellt und kommentiert in R. Merkelbach / J. Stauber I (1998), 180–186.
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Am meisten hat die Schriftsteller die Herkunft der ionischen Städte beschäftigt. Neben einer Tradition, die Achaia als Ursprungsland der ionischen Aussiedler bestimmt, beanspruchte in historischer Zeit Athen Ioniens Mutterschaft: Im Streit der Söhne des Königs Kodros um die Nachfolge habe Medon obsiegt, Stammvater der Medontiden, während der unterlegene Neileos mitsamt Gefolge nach Ionien ausgewandert sei und Städte gegründet habe, darunter Milet. Bei den Kolonisten sei auch eine Gruppe von Flüchtlingen aus Pylos gewesen.25 Lykien, ein Gebiet ausserhalb der drei griechischen Stammesgruppen, erscheint im Mythos als eine unzivilisierte, gefährliche Welt. Von drei verschiedenen Stammvätern wird erzählt. Bellerophontes stammt aus dem Königshaus von Korinth. Die Avancen einer Königsgattin ablehnend, zieht er deren Hass auf sich; mit dem versiegelten Schreiben, das sein eigenes Todesurteil enthält, wird er zu einem Iobates nach Lykien geschickt. Als Bellerophontes nacheinander alle Kämpfe besteht, die ihm dieser zu seiner Vernichtung auftrug: gegen das Monster Chimaira, einen rasenden Eber, wilde Solymer und Amazonen, schliesslich die ihm auflauernden ἄριστοι des Fürsten erschlägt, erhält er die Tochter zur Frau und Anteil an der Königswürde (Ilias VI 152– 193). Ein Sarpedon führt in der Ilias zusammen mit Glaukos die Lykier an. Denselben Namen gibt Herodot (1, 173) einem früheren Helden, der, von seinem Bruder König Minos aus Kreta vertrieben, mit kretischen Aussiedlern nach Lykien einwandert. Ein dritter Stammvater, Lykos, scheint eine spätere Erfindung aus Athen zu sein.26 Das hohe Alter der Auswanderung aus Griechenland verbürgten den Rezipienten des Mythos die heroischen Akteure der Generationen vor, im und unmittelbar nach dem trojanischen Krieg. Von historischen Personen dürfte man nichts gewusst, von der tatsächlichen Zusammensetzung der Migrantengruppen nur Vermutungen gehabt haben. Nach Herodot (1, 146) hatten sich die meisten Ionier mit allen möglichen anderen Stämmen vermischt. Auffälligerweise verlinkt der Mythos die attischen Aussiedler mit Pyliern, Abkömmlingen jener ehrwürdigen Palastherren, die auch der archaische Elegiker Mimnermos in Asien an Land gehen lässt.27 Nicht verwunderlich, dass neben der Peloponnes das uralte minoische Kreta den Griechen als Ursprungsort besonders geeignet schien. Ein Miletos und ein Sarpedon flohen aus Kreta, und der Umweg der von Leukippos geführten Thessaler über Kreta ist unvermeidlich. 25 A. Herda (2009), 31–37; J. Vanschoonwinkel (2006), zu Ionien bes. 115–119. 26 Gründliche Diskussion der griechischen Mythologie zum frühen Lykien in F. Kolb (2018), 56–76. 27 Zitiert bei Strabon 14, 1, 4. A. Herda (2009), 33 mit Anm. 33.
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Urgriechische Abkunft auf der einen, zugleich aber auch Verwurzelung in der neuen Heimat durch Heiraten sind konstitutiv bei der Erfindung von Gründern (κτίσται) der Städte auf dem asiatischen Festland. Was waren die Motive der Aussiedler? Die angebotenen Reminiszenzen müssen auf Grund des zeitlichen Abstandes auch hier als Rückprojektionen gelten, die kaum Historizität beanspruchen können. Ihrer ältesten Entstehung im 7. und 6. Jh. zufolge könnten sie Erfahrungen aus dem Zeitalter der grossen griechischen Kolonisation widerspiegeln. Der ausführlichste Bericht, der uns aus diesem mehr als 400 Jahre späteren Kontext überliefert ist, betrifft die Gründung von Kyrene in Nordafrika.28 Herodot erzählt eine Version der Mutterstadt Thera und eine abweichende der Tochterstadt Kyrene (4, 150–155). In den Ruinen letzterer wurde 1924 die Inschrift mit einem Dekret des 4. Jh.s und dem Zitat eines Beschlusses aus der Gründungszeit gefunden, der freilich, was die Zeitstellung betrifft, für unecht gehalten wird.29 Die ἐκκλησία der Theraier beauftragt darin gemäss einem Orakelspruch, einen gewissen Battos als ἀρχηγέτας und βασιλεύς in Begleitung von Theraiern als ἕταιροι nach Libyen auszusenden (Zeilen 26f.), die Clan für Clan (κατὰ τὸν οἶκον) mit jeweils einem Sohn (υἱὸν δὲ ἕνα) zu gleichem Anteil (ἐπὶ τᾶι ἴσαι καὶ τᾶι ὁμοίαι) auszulesen seien (Zeilen 27–29). Das Projekt erscheint als eine staatliche Zwangsmassnahme. Widerstand wird mit dem Tod bedroht. In einer Frist von 5 Jahren ist Rückkehr statthaft, wenn das Unternehmen scheitern sollte. Die kyrenaische Version bei Herodot berichtet von einem Rückkehrversuch, der in Thera gewaltsam abgewiesen wurde. Es fällt auf, dass der Mythos bei der älteren Besiedelung Asiens die Migranten immer wieder von Gescheiterten anführen lässt:30 Frustrierte Thronfolger, wegen eines Frevels Versprengte, von Herrschern verstossene oder gar ausgesetzte Kinder. Die Verlierer gehörten zu Hause herrschenden Familien oder ihren Hofzirkeln an. Die archaische Lyrik der Griechen zeichnet ein Bild andauernder innerstädtischer Machtkämpfe zwischen Häuptern führender Clans, die Unterlegene mitsamt ihrem bürgerlichen Gefolge in Verbannung, Flucht oder zum Entschluss trieb, auszuwandern. Eine Minderzahl der direkt von Athen herübergekommenen „adligsten“ der Ionier, so Herodot, brachte keine Frauen mit, sondern heiratete Karerinnen, deren Männer sie erschlugen (1, 146). Verdrängte Söhne, von Königinnen begehrte und 28 M. Austin (2006); Th. Miller (1997), 32–34; A.J. Graham (1983), 224–226. 29 R. Meiggs / D. Lewis (1969), 5; A.J. Graham (1960). 30 Allgemein: F. Bernstein (2004).
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sonstige ledige Jünglinge scheinen dem Bild neuzeitlicher Migrationsforschung zu entsprechen, der gemäss der Überschuss an Söhnen Gruppen von zornigen jungen Männern dazu treibt, ihr Heil oder Glück in der Ferne zu suchen.31 In der Inschrift von Kyrene geht der erzwungenen Auswanderung aus Thera eine organisierte Selektion von Söhnen voraus. Diesen Anhaltspunkten aus der schriftlichen Überlieferung lässt sich kaum profunde archäologische Evidenz über Bevölkerungswachstum und Landnot an die Seite stellen. Der Historiker des 5. Jh.s Thukydides stellt bemerkenswerte Überlegungen an (1, 2): Ohne starke städtische Siedlungen, Handel und gefahrlosem Verkehr seien die alten Bewohner von Hellas ständigem Druck feindlicher Zuwanderer ausgesetzt und selbst zur Auswanderung gezwungen gewesen, umso mehr, je besser und attraktiver das Land. Deshalb sei Attika, wegen seines kargen Bodens relativ unattraktiv, von Angriffen verschont und die längste Zeit immer von denselben Menschen besiedelt gewesen, habe jedoch die von überall sonst Verdrängten und Verbannten aufgenommen. Immer volkreicher geworden, habe Attika nicht ausgereicht und schliesslich Aussiedler nach Ionien entsandt. Die frühe Phase der Besiedelung Asiens dürfte nicht überall friedlich verlaufen sein. „Waffengewalt, bitteres Unrecht verschuldend“ schreibt der Dichter Mimnermos in seltener Offenheit den eigenen, das Küstengebiet in Besitz nehmenden Vorfahren zu.32 Die megarischen Oikisten von Herakleia an der Südküste des Schwarzen Meeres unterwarfen sich die einheimischen Mariandyner zu Ackerbausklaven nach dem Modell der spartanischen Heiloten.33 Kämpfe gegen die Chimaira, Amazonen, Gorgo, Polyphem bringen die griechischen Phantasien des Kolonisationszeitalters über die aus griechischer Sicht unzivilisierten Ränder der Welt zum Ausdruck.34 Vor der eigenen Haustür an der West- und Südküste lebten barbarophone Lyder, Leleger, Kaunier, Karer und Lykier. Befragt, woher sie stammten, waren die Auskünfte nicht immer klar: schon ewig anwesend? Oder aus Kreta? Die Lykier nannten sich selber Termilen. Wie der bronzezeitliche LukkaName ins Griechische kam, bleibt dunkel.35 Der Name der Karer wird immer wieder auf den in hethitischen Quellen der Bronzezeit bezeugten Ländernamen Karkiša bzw. Karkiya zurückgeführt. Doch hat der Sprachwissenschaftler Diether Schürr schlüs31 32 33 34 35
G. Heinsohn (2006). S. Anm. 27. C. Marek (1993), 14–20. T. Hölscher (2000), 101. F. Kolb (2018), 25–44.
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sig nachgewiesen, dass eine Fremdbezeichnung seitens der Perser vorliegt: kárka = Gockel, womit auf die bei den Karern charakteristischen Helmbüsche angespielt wird.36 Die Karer der archaischen Epoche erscheinen weder als provinziell noch als rückständig. Sie besitzen Schriftlichkeit und reisen ins Ausland. Um 700 v. Chr. sind viele in Ägypten heimisch, Söldner, Schiffseigner, auch Übersetzer und Berater im Dienst der Könige. Neben technischen und künstlerischen Fähigkeiten war ihre Mehrsprachigkeit in diplomatischen Missionen gefragt.37 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Aiolis, Ionien und die Doris sowie bestimmte Regionen der lykischen Halbinsel schon vor Ankunft der Perser eine Mischkultur aus den Nachkommen griechischsprachiger Zuwanderer und indigenen Bewohnern gebildet haben. Und doch repräsentieren unsere mythologischen Beispiele eine ausschliesslich griechische Perspektive. Spuren etwa einer karischen, lykischen oder sonstigen nichtgriechisch kleinasiatischen Erzähltradition aus der unmittelbaren Nachbarschaft finden sich kaum. Für den Sarpedonmythos haben Forscher als Vorlage der Ilias zwar ein auf Griechisch verfasstes lykisches Epos reklamiert und für den Namen Sarpedon eine anatolische Etymologie nachzuweisen versucht. Beides ist jedoch umstritten.38 III Die Griechen als die Westlichsten der Östlichen sind in der von Walter Burkert so genannten „Orientalisierenden Epoche“ zwischen dem 9. und 5. Jahrhundert im wesentlichen Rezipienten der semitischen und ägyptischen Hochkulturen Vorderasiens und des Nillandes bei kulturellen Techniken wie Schrift, Erzählgut, Handwerk, Bilderund Formensprache.39 Die Mischkultur Ioniens, vornehmlich Milets, bringt eine welthistorisch bedeutende Avantgarde auf geistigem Gebiet hervor. Milet ist der Geburtsort der europäischen Wissenschaft der Physik. Anregung ging von Gedanken über den Anfang der Welt in der altorientalischen Keilschriftliteratur aus. Zuerst war, dann kam, dann kam ..., oder: Da war noch nicht. Enūma eliš beginnt mit: „Als oben der Himmel noch nicht war und auch nicht unten die Erde“. Varianten des Narrativs setzen vor dem Anfang, dem Noch-nicht, etwas Personelles, etwas Stoffliches oder Nicht-Stoffliches an: Gott, Nacht, oder einen gähnenden Schlund (griechisch: Chaos), Süss- und Salzwasser. Andere teilen ursprünglich Zusammenhängendes, Himmel 36 37 38 39
D. Schürr (2019b). I. Benda-Weber (2005). Dazu F. Kolb (2018), 64. W. Burkert (1992).
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und Erde, Licht und Finsternis. Allen gemeinsam ist die Konstruktion, dass als Personen gedachte Götter und Göttinnen handelnd eintreten, bis die Welt fertig wird, entweder als intelligente Konstrukteure, oder als Erzeuger durch einen Sexualakt, oft gefolgt von Kampf und Gewalt. Das Werden ist eng mit Töten verbunden.40 Doch erstmals bei den Ioniern haben Götter oder Tiere, Riesen und Ungeheuer in der Struktur der Realität keinen Platz. Der Kosmos setzt sich zusammen aus erfahrbaren Stoffen, die Prinzipien gehorchen: Freundschaft und Zwietracht, Werden und Vergehen. Bei Anaximandros von Milet finden wir den Gedanken, dass die Natur von Gesetzen regiert wird.41 Damit steht der Grundpfeiler der gesamten Naturwissenschaft einschliesslich der heutigen. Einzelne von diesen Kosmologen aufgestellte Theoreme haben eine verblüffende Nähe zur modernen Physik, nicht allein hinsichtlich der Elementen- und Urstoffanalysen, sondern vor allem hinsichtlich dieser Idee der dem Kosmos selbst innewohnenden Gesetzmässigkeit. Von hier nimmt der Antagonismus zwischen Wissenschaft und Theologie seinen Ausgang, der ins europäische und islamische Mittelalter, die Renaissance und die Aufklärung bis in die Moderne führt. Die Stadt Milet und ihre ionischen Nachbarinnen müssen eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich kosmopolitische Atmosphäre besessen haben, die Ionien zu einer Hochblüte griechischer Literatur verhalf. Das hat insofern wenig mit „Multikulti“ gemein, als die heterogenen Elemente der ionischen Kultur schon lange zu einer einheitlichen koine verschmolzen waren. Die etwa gleichzeitige Kolonisation des 7. Jh.s mit beinahe fünfzig Tochterstädten in Übersee verband alte mit neuen Welten, aus denen Waren eintrafen und Seefahrer Kunde von unbekannten Ländern, Völkern, Sitten mitbrachten, die neugierige Schriftsteller aufnahmen. Herodot könnte manches über Skythen und Massageten von Griechen in ionischen Häfen gehört haben.42 Als Athen im 5. Jh. die Küsten Asiens beherrschte, begann es, als kultureller Mittelpunkt Ionien den Rang abzulaufen. Beim Bau des Parthenon siedelten Griechen an den asiatischen Ägäis- und Mittelmeerküsten, den Küsten Südfrankreichs, Italiens und Siziliens, Libyens, Ägyptens und an allen Küsten des Schwarzen Meeres. 40 W. Burkert (2003). 41 Simpl. In Phys. 24, 13: ἀλλ᾿ ἑτέραν τινὰ φύσιν ἄπειρον, ἐξ ἧς ἅπαντας γίνεσθαι τοὺς οὐρανοὺς καὶ τοὺς ἐν αὐτοῖς κόσμους· ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν … 42 C. Marek (2017), 176.
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Fast den gesamten Ostmittelmeer- und Schwarzmeerraum kann man bereits zu dieser Zeit als eine kohärente „Griechische Welt“ bezeichnen, wenn sich diese in den meisten Regionen auch nicht tief ins Binnenland erstreckte. So vorerst auch in Asien. Doch nach der Restauration des persischen Grossreiches im 4. Jh. begann sich im überwiegend von Karern und Lykiern besetzten Binnenland etwas zu entfalten, das wir als Hellenisierung bezeichnen.43 Damals regierte eine karische Familie: die Hekatomniden ganz Karien und Lykien. Die nichtgriechischen Eliten dieser Länder pflegten einen ostentativen Philhellenismus, der sich feierlich präsentierte, als im Jahr 353 Maussollos von seiner Witwe und Schwester Artemisia in einem prachtvollen Grabhaus auf der Agora der neuen Residenz Halikarnassos beigesetzt wurde: Der Bau des Mausoleums setzte eine Neugestaltung des Stadtzentrums nach griechischem Plan voraus. Am Bauwerk selbst wirkten Koryphäen griechischer Plastik und Architektur, Teile der erhaltenen Marmorskulptur sind von einer Qualität „as good as anything at the Parthenon“.44 Der Kult am Grab sollte des Fürsten als Stadtgründer, ktistes, gedenken, nach griechischer Art. Ein thymelischer Agon brachte griechische Musik und Kunstsprache vor das gemischte Publikum im neu gebauten Theater.45 „The Hekatomnids“, resümiert der britische Althistoriker Simon Hornblower, „bridge the classical and hellenistic worlds.“46 IV Binnen zweier Jahrhunderte setzten sich Wellen der Hellenisierung nach Osten fort bis ins heutige Afghanistan. Die von Alexander d. Gr. selbst im extremen Orient mit Soldaten aufgefüllten Siedlungen scheiterten,47 nicht jedoch die unter seinen Nachfolgern, insbesondere den Seleukiden, gegründeten Städte. In den Binnenlandschaften Anatoliens, der Levante und Vorderasiens liessen sich Griechen und Makedonen ansiedeln und bildeten alsbald mit den Einheimischen zusammen nach griechischem Polis-Muster organisierte Gemeinschaften.48 Wie einst der Stadtname Milets von 43 44 45 46 47 48
C. Marek (2015); C. Marek (2020). S. Hornblower (1982), 236. S. Hornblower (1982), 333. S. Hornblower (1982), 353. P.M. Fraser (1996). Exemplarisch für eine solche Polisgründung ist in Anatolien der Fall von Toriaion unter Eumenes II. von Pergamon: C. Marek (2017), 321–322. Zu den Gründungen der Seleukiden W. Widmer (2015), 63– 64; G.M. Cohen (1978).
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Aussiedlern aus dem kretischen Milatos mitgebracht sein mag,49 so wurden Stadtnamen wie Edessa,50 Pella, Berhoia,51 Europos,52 aus der makedonischen Heimat nach Vorderasien verpflanzt. Die unumkehrbare Ausstrahlung der kulturellen koine aus den Zellen der griechischsprachigen Immigranten ist umso bemerkenswerter, als etwa das hellenistische Anatolien Migrationen grossen Stils auch anderer Völker kennt: Die Ansiedelung keltischer Stämme um Pessinus, Ankyra und Tavion,53 und die von Antiochos III. durchgeführte Ansiedelung babylonischer Juden in Phrygien und Lydien.54 Inseln griechischer Migranten überlebten tausende Kilometer von der Ägäis entfernt in einer Weltgegend, die wir heute mit Taliban, Drohnenkrieg und Flüchtlingsströmen assoziieren, an einer frontier von Sesshaftigkeit und Nomadentum im Umfeld sich überschneidender iranischer, indischer und chinesischer Kulturen.55 Die Ausgrabungen von Ai Khanoum im nördlichen Afghanistan haben eine Stadt mit Tempel, Theater, Gymnasium, griechische Steininschriften – darunter ein Epigramm mit elegischen Distichen – ans Licht gebracht. Tintenspuren von einem Papyrus im Lehmboden bewahrten Textfragmente aus Homer, Sophokles, Euripides und der Schule des Aristoteles.56 Es sind, neben den Griechisch verfassten Fels- und Säulenedikten des Buddhisten Aśoka, die östlichsten griechischen Inschriften überhaupt.57 Indien dringt in die griechische Literatur ein; Augenzeugen beschreiben nie Gehörtes: Ozeanwasser senkrecht nach oben ausspeiende Riesenfische, aus deren Skeletten Eingeborene das Gerüst ihrer Hütten bauen, gewaltige Tiger, Affen und Papageien, Witwenverbrennungen, nackte Asketen.58 Die landfremden Gräkobaktrier, unter ihnen auch Frauen, richteten Reiche auf. Eigentümliche Mischformen in Architektur, Plastik und Reliefkunst in Stein, Holz, Metall und Elfenbein in unzähligen Einzelfunden und Fundkomplexen zeugen von reli49 50 51 52 53 54 55 56
D. Schürr (2019b), 3. A. Harrak (1992); C. Marek (2004), 272. Th. Leisten, DNP s. v. Beroia; Pella. Th. Leisten, DNP s. v. Dura-Europos. K. Strobel (1996). Ios. ant. Iud. 12, 147–153. R. Stoneman (2019); W. Widmer (2015). Ebenda 111–119. Die Inschriften: F. Canali de Rossi (2004), Nr. 322–386 (Epigramm des Klearchos: 382); Papyri: Ebenda Nr. 457–458. 57 F. Canali de Rossi (2004), Nr. 290–292. 58 Arrian, Ind. 29, 16; 30, 2–9 (Riesenfische); 15, 1 und Strabon 15, 1, 37 (Tiger); Arrian, Ind. 15, 9 und Strabon 15, 1, 29.37 (Affen); Arrian, Ind. 15, 8 (Papageien); Strabon 15, 1, 30.62 (Witwenverbrennung); Arrian, An. 7, 1, 5; 7, 2 (nackte Sophisten).
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giösen Synkretismen zwischen olympischem Zeus und Ahura Mazda, der vierarmigen Mondgöttin Manaobago und Selene, zwischen Artemis und Nana, die Verehrung von Feuer, Wind und Flüssen, Gottmenschentum, Zoroastrismus, Hinduismus und Buddhismus.59 Weder die griechisch-orientalische Kulturbegegnung noch die Migrationen aus dem Westen verschwinden unter der Weltherrschaft des lateinischen Rom. Roms Begegnung mit Asien hatte sich anfangs auf jeder Ebene, politisch und kulturell, mittels der Griechen vollzogen. Die Provinzen des Oriens Romanus in seiner grössten Ausdehnung bewahrten, verbreiteten und vertieften das hellenistische Erbe der sprachlichkulturellen griechischen koine. Im 2. Jh. n. Chr. stand römisches Militär am Südrand des Kaukasus und am Tigris, eine task force der ägyptischen Legionen besetzte die Farasan Insel unweit des Bāb al-Mandab am Ausgang des Roten Meeres.60 In Friedenszeiten blühte Fernhandel, und auf gut frequentierten und wenig gefährdeten Handelswegen gelangten neue Migrantengruppen in Territorien weit ausserhalb der Reichsgrenzen. Von den Häfen an der ägyptischen Rotmeerküste brachen Jahr für Jahr Indienfahrer mit weit über hundert Frachtschiffen auf. Sie fuhren über den Indischen Ozean an die Malabarküste, brachten fremde Erzeugnisse und fremde Kunde schneller und öfter ins Römische Reich zurück als jemals zuvor.61 Im Mittelpunkt der Quellen, die das dokumentieren, steht ein im ganzen antiken Schrifttum einzigartiges Buch, das zwischen 40 und 60 nach Christus von einem anonymen Autor verfasst wurde, selbstverständlich in Griechisch: der Periplus Maris Erythraei. Handelsfirmen in Alexandria unterhielten Aussenposten mit Personal auf der Insel Sokotra.62 Eine Kolonie von Geschäftsleuten hatte sich im südindischen Muziris angesiedelt und pflegte hier den Kaiserkult. Griechischsprachige Händler sassen vermutlich auch in der himyaritischen Hauptstadt Ẓafār.63
59 60 61 62
W. Widmer (2015), bes. Kapitel V 79–119. M.A. Speidel (2015), zu Farasan bes. 89–94. C. Marek (2013b), bes. 191–194. Periplus Maris Erythraei 30. Inschriftenfunde aus einer als Heiligtum besuchten Höhle haben neben indischen, südarabischen und griechischen Graffiti auch die Weihinschrift eines Händlers (naukleros) mit Namen Septimius Paniskos. Der Name lässt eindeutig auf einen hellenisierten Ägypter schließen, also sozusagen einen Landsmann und Kollegen des Autors des Periplus: M.D. Bukharin (2012); I. Strauch (2012), 142; M.A. Speidel (2015), 110f. Ẓafār: C. Marek (2013a). 63 M.A. Speidel (2016), 103–110.
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Der sieben Jahrhunderte älteren orientalisierenden Epoche in der griechischen Ägäiswelt haben Alexander- und Diadochenreiche, schließlich das gräko-römische Weltreich eine okzidentalisierende Epoche des Orients folgen lassen, die bis in die mittelbyzantinische Epoche andauerte und die Islamische Welt mitgeprägt hat.
Summary Greek migrations to Asia extend from the early first millennium to the Roman imperial period. Acculturation processes, which we call Hellenization, go hand in hand with migration and conquest of land. This paper analyzes the earliest immigration from the Greek mainland to the coasts of Asia Minor on the basis of archaeological evidence and mythology. Using the example of the foundation of Cyrene in North Africa, the motives of the emigrants as well as those of their home communities are discussed. A new dimension of migratory movements also into the inland areas of the Near East as far as Afghanistan is opened by the Alexander campaign, the colonization of the Seleucids and other Hellenistic dynasties. Finally, new settlements of Greek-speaking inhabitants of the Oriens Romanus in areas far beyond the borders of the empire are found at important transhipment points of the Indian trade in the imperial period.
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Der Vordere Orient und griechische Migrationen
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Die Sabäer in Äthiopien und die Minäer in Nordwestarabien/Dedan. Zur Aussagekraft der epigraphischen Zeugnisse Norbert Nebes, Jena
I
Das im altsüdarabischen Alphabet abgefaßte Inschriftenkorpus aus dem äthiopischeritreischen Raum umfaßt rund 190 Nummern,1 die sich auf ein relativ überschaubares Gebiet und auf Orte konzentrieren, die alle wegemäßig auf der inneräthiopischen Hochlandroute miteinander verbunden sind, mit Yeha als politischem und religiösem Zentrum (Karte auf der folgenden Seite).2 Die Inschriften sind von ganz unterschiedlicher Länge und unterschiedlicher paläographischer Qualität und haben demzufolge auch ganz unterschiedliche Aussagekraft. In unserem Zusammenhang sind die Königsinschriften von besonderer Bedeutung, von denen insgesamt 36 Nummern bekannt sind, wenn wir die wenigen, noch unveröffentlichten Fragmente mitrechnen. Insgesamt kennen wir eine Handvoll Inschriften setzende Könige, die in ihren Zeugnissen, sofern es sich nicht nur um reine Siegel oder Felskartuschen mit dem Königsnamen handelt, die Errichtung von Altären und - damit verbunden - den Bau von Heiligtümern sowie in einem Fall den Ausbau eines Königssitzes dokumentieren.
1 2
Aufstellung bei N. Nebes (2021), 317 Fn. 2. Im Wesentlichen verteilen sie sich auf ʿAddi Kramatin, Mäṭära und Käskäse im Gebiet Akkele Guzay im südlichen Eritrea, in Tigray auf Yeha und unweit westlich davon auf Ḥawelti/Melazo und Umgebung sowie im Süden auf die Gegend um Wuqro, nördlich der heutigen Hauptstadt Mekkele.
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Norbert Nebes
Karte der wichtigsten Fundplätze (FSU Jena, Forschungsstelle Antikes Südarabien / Helen Wiegleb, Jena)
Ein derartiges Beispiel stellt die auf vier Seiten auf den Decksteinen eines Libationsaltars umlaufende, im Relief herausgearbeitete Inschrift, DAI ʿAddi ʾAkawəḥ 20081=MG 3 (Tafel 1 auf S. 158), aus dem kleinen, in den 2000er Jahren ausgegrabenen ʾAlmaqah-Heiligtum Meqaber Gaʿiwa aus ʿAddi ʾAkawiḥ dar (Tafel 2 auf S. 158),3 die sich aus folgenden Textbausteinen zusammensetzt:4 A Name, Titulaturen und Filiation • wʿrn mlkn ṣrʿn bn rdʾm w-šḫtm ʿrk[yt]n - Waʿrān, der König, der (die Feinde) niederwirft, der Sohn des Rādiʾum und der Šaḫḫatum, der „Gefährtin“,
3 4
Zur Grabung und den Befunden siehe P. Wolf / U. Nowotnick (2010), zu den Inschriften N. Nebes (2010a) und I. Gajda et al. (2009). Zur Bearbeitung i. e. siehe N. Nebes (2010a), 216–226 und I. Gajda et al. (2009), 37–39.
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Die Sabäer in Äthiopien und die Minäer in Nordwestarabien/Dedan
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B Aussage (Textgattung) • hḥds l-ʾlmqh - hat dem ʾAlmaqah (Altar und Bau) (neu) errichtet, C Temporaler ywm-Satz • ywm tbʿl byt ʾlmqh b-yḥʾ - als ihm das Heiligtum des ʾAlmaqah in Yeḥa übergeben wurde, D Schlussinvokation • b-nḫy ʿṯtr w-ʾlmqh w-ḏt-ḥmym w-ḏt-bʿdn - auf Weisung des ʿAṯtar, des ʾAlmaqah, der ḏāt Ḥamyim und der ḏāt Baʿdān. Wie unschwer zu erkennen ist, liegt unserer Inschrift die altsabäische Formularstruktur zugrunde. Nach der einleitenden Passage mit dem Namen des dedizierenden Königs, der Titulatur und Filiation folgt die Kernaussage in Form der Bauwidmung bestehend aus dem verbalen Prädikat haḥdasa (hḥds) mit dem anschließenden, durch li- (l-) eingeführten Götternamen ʾAlmaqah, dem die Stiftung zugedacht ist, wobei – wie in vielen anderen vergleichbaren Fällen auch – bei nicht explizit genanntem Widmungsobjekt mit diesem der Inschriftenträger selbst und in unserem Fall der Altar als zentraler Bauteil des kleinen Heiligtums gemeint ist. Der temporale Yawm-Satz gibt Aufschluß über den genaueren Hintergrund, in dem die Bauwidmung erfolgt. Und die Schlußinvokation nennt nach der gemeinaltsüdarabischen Gottheit ʿAṯtar die altsabäische Göttertrias mit ʾAlmaqah sowie den weiblichen Gottheiten ḏāt Ḥamyim und ḏāt Baʿdān, hinter denen Erscheinungen der Sönnengöttin vermutet werden. Gleichfalls in bester sabäischer Tradition stehen die sorgfältig aus dem Stein im Relief herausgeschnittenen Buchstabenformen, die durchweg jenen der klassischaltsabäischen Zeit des 7. Jh. v. Chr. zugeordnet werden können.
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Norbert Nebes
Auch wenn der für das Heiligtum zuständige Steinmetz Ḫayrhumū (ḫyrhmw) nicht wie seine anderen Kollegen aus Yeha oder Gobošila explizit aus Mārib oder aus einer Ṣirwāḥer Sippe stammend ausgewiesen ist,5 so wird die bislang nicht bezeugte Sippe ḫḍʿn, der dieser Steinmetz entstammt, sicherlich auch im sabäischen Kernland von Mārib, Ṣirwāḥ oder im nördlichen zentraljemenitischen Hochland zu verorten sein.6 Unter den äthio-sabäischen Königsinschriften ist unser Text derjenige, der sich am engsten an die sabäische Vorlage anlehnt.7 Doch zeigt er bereits wesentliche signifikante Merkmale, die auch die übrigen Exemplare seines Genres ausweisen und in denen diese sich von jenen auf südarabischer Seite unterscheiden. Die Abweichungen beschränken sich nicht nur auf die Grammatik, wie die Phonologie und Morphologie, sowie in begrenztem Maße auf den Wortschatz,8 sondern lassen sich auch – in Verbindung mit Letzterem – insbesondere bei den Königstitulaturen und den inhaltlich anders formulierten temporalen Yawm-Sätzen beobachten. Diese beiden Phänomene zusammengenommen erlauben zu einem gewissen Grade einen Einblick in die Konstitution von Diʿamat, wie die äthio-sabäischen Könige ihr Gemeinwesen benennen, und letztendlich in die Verflechtung der eingewanderten Sabäer mit der einheimischen Bevölkerung.
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Siehe N. Nebes (2021), 320–322. 324. Zu DAI ʿAddi ʾAkawəḥ 2008-2=MG 4 siehe N. Nebes (2010a), 226f. und I. Gajda et al. (2009), 40f. Siehe i. E. N. Nebes (2010a), 233f. mit Fn. 125. Für die stark sabäische Grundierung der Altarinschrift spricht auch, daß im Unterschied zu den übrigen Königsinschriften die apotropäische Schlußklausel mit der Gottheit Wadd fehlt. Abweichend vom sabäischen Protokoll weisen diese die apotropäische formelhafte Wendung wa-ʾabūka Waddum (w-ʾb-k wdm) auf – so in der einfachen Form wie in RIÉ 1 oder in einer erweiterten Fassung wie in RIÉ 5, RIÉ 9 und RIÉ 10. Näheres dazu bei N. Nebes (2010b). Eine Zusammenstellung der wichtigsten grammatikalischen Besonderheiten gibt C.J. Robin (1998), 783–787.
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[wʿrn] ḥywt [wʿrn] ḥywt rdʾm Rādiʾum
rdʾm wʿrn Waʿrān
[ʾqny] [ ... ]
[rb]ḥ [Rab]āḥ
lmn Lāmān
[lm]n [lmn]
RIÉ 7 RIÉ 11 RIÉ 9
AA 1* DAI AA 1**
RIÉ 37 RIÉ 36
RIÉ 8
RIÉ 5
RIÉ 13 RIÉ 10
mlkn ṣrʿn der (die Feinde) niederwerfende König mlkn ṣrʿn der (die Feinde) niederwerfende König mlkn [mlkn ṣrʿn]
ygʿḏyn aus (der Sippe) Yagʿaḏ ygʿḏyn aus (der Sippe) Yagʿaḏ — [y]gʿḏ[y]n
— —
— — sryt [aus der Sippe?] SRYT s[ryt] — —
— —
mlkn ṣrʿn der (die Feinde) niederwerfende König mlkn mlkn [mlkn ṣ]rʿn [der (die Feinde)] niederwerfende [König] mlkn [ṣ]rʿn mlkn ṣrʿn der (die Feinde) niederwerfende König [ ... ] [mlkn ṣr]ʿn
Gentilicium
Königstitulatur
AA 1 = Addi Akaweh 1 ** DAI AA 1 = DAI ʿAddi ʾAkawəḥ 2008-1=MG 3
wʿrn ḥywt Waʿrān Ḥaywat
RIÉ 1
*
Königsname
Siglum
mkrb dʿmt w-sbʾ der Mukarrib von Diʿamat und Sabaʾ mkrb dʿmt w-sbʾ der Mukarrib von Diʿamat und Sabaʾ — mkrb dʿmt w-sbʾ
— —
— — m[krb] dʿmt der Mu[karrib] von Diʿamat mkrb dʿmt — —
— —
Mukarrib–Titel
bn bn wʿrn rydn der Sohn des Sohnes des Waʿrān Raydān bn rbḥ mlkn der Sohn des Rabāḥ, des Königs bn rbḥ bn rbḥ
[bn w]ʿrn bn ʾqny bn wʿrn
bn bn slmm fṭrn bn b[n sl]mm fṭrn bn bn slmm fṭrn der Sohn des Sohnes des Sālimum Faṭrān [bn bn s]lmm fṭ[rn] bn rdʾm der Sohn des Rādiʾum
bn bn slmm fṭrn der Sohn des Sohnes des Sālimum Faṭrān
Väterliche Linie
Tabelle 1: Die Titulatur der äthio-sabäischen Könige
— —
— —
— —
w-smʿtm ʿrktn bnt ṣbḥn und der Samīʿatum, der „Gefährtin“, der Tochter von Ṣubḥān w-[.]m[..]t ʿ[r]kytn — w-ṣrʿt ʿr[ktn] und der ṢRʿT, der „Gefä[hrtin]“ w-ṣrʿt ʿrktn w-šḫtm ʿrk[yt]n und der Šaḫḫatum, der „Gefährt[in]“ w-bšmt w-bšmt w-ʿḏtm ʿrkytn
Mütterliche Linie
Die Sabäer in Äthiopien und die Minäer in Nordwestarabien/Dedan 139
140
Norbert Nebes II
Neben Waʿrān und dem mit Beinamen versehenen Waʿrān Ḥaywat, der von ersterem nach bisherigem Kenntnisstand zu trennen ist, sind Rādiʾum, Rabāḥ und Lāmān an Inschriften setzenden Königen bezeugt.9 Mit Ausnahme von Lāmān lassen sich die Namen auch im altsüdarabischen Onomastikon nachweisen.10 Im Unterschied zu den altsabäischen Herrschernamen sind sie eingliedrig und führen bis auf Waʿrān Ḥaywat keinen Beinamen.11 Komplexer als ihre südarabischen Entsprechungen ist dagegen die auf den Namen folgende Königstitulatur aufgebaut. Ungewöhnlich ist die Filiation. Wesentlich häufiger als mit bin „der Sohn“, wie in obigem Beispiel, das der sabäischen Vorlage folgt, wird die Filiation mit bin bin „der Sohn des Sohnes“ eingeleitet, womit vermutlich die zweite dynastische Vorfahrengeneration und möglicherweise genealogisch der Stammvater gemeint ist.12 Was aber eindeutig nicht südarabisch und auch für die gesamte arabische Halbinsel in vorislamischer Zeit ungewöhnlich ist, ist die Erweiterung der Filiation um die matrilineare Linie. Die Namen, also entweder, wie in obigem Beispiel, der der Mutter, oder – so in der Regel – jener der Großmutter, lassen sich ohne weiteres ins südarabische bzw. arabische Onomastikon einbinden.13 Man könnte nun daraus schließen, daß die eingewanderten Sabäer ihre mitgebrachten bzw. nachgeholten Frauen aus Mārib und dem zentraljemenitischen Hochland geheiratet haben. Gegen diese zunächst naheliegende Annahme spricht allerdings der Terminus ʿarkītān (ʿrkytn bzw. ʿrktn), der diesen Frauennamen beigegeben ist. Der Begriff ist weder nord- noch süd9
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11 12
13
Siehe die Tabelle 1 auf der vorigen Seite. Ferner kann aus den unvollständig erhaltenen Reliefinschriften RIÉ 36 und RIÉ 37 auf den Altardecksteinen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Großen ʾAlmaqah-Tempel in Yeha stammen, als weiterer Inschriften setzender König ʾAqnay, der Sohn des Waʿrān, sowie dessen namentlich unbekannter Sohn erschlossen werden. Die obigen Vokalisationen verstehen sich selbstredend als tentativ. Zu WʿR, RDʾ und RBḤ vgl. die entsprechenden Einträge in Sabaweb. Die Wurzeln sind auch im Geʿez, Tigre und/oder Tigrinya vertreten, können dort jedoch nicht im Onomastikon belegt werden. Lāmān ist versuchsweise nach dem arabischen Personennamen Lām von LWM mit suffigiertem Komplement /-ān/ abgeleitet. Im Gegensatz zu den „Stammvätern“ Sālimum Faṭrān und Waʿrān Raydān in den Filiationen, siehe Tabelle 1 auf der vorhergehenden Seite. Daß auf den Großvater und nicht auf eine weiter zurückliegende Stammvätergeneration Bezug genommen wird, ist in der fragmentarisch erhaltenen Königsinschrift, RIÉ 36, auf dem Altardeckstein aus dem Großen Tempel des ʾAlmaqah in Yeha der Fall (siehe Fn. 9 und Tabelle 1), wo die erste und zweite Väter- und Müttergeneration namentlich genannt sind: [ ... mlkn ṣr]ʿn bn ʾqny bn wʿrn w-bšmt w-ʿḏtm ʿrkytn „[Königsname, der König, der (die Feinde) nieder]wirft, der Sohn des ʾAqnay, des Sohnes des Waʿrān und der Bašāmat und der ʿAḏḏatum, der ‘Gefährtinnen´“. Vgl. z. B. Samīʿatum (smʾtm), Šaḫḫatum (šḫtm) oder Bašāmat (bšmt) und die entsprechenden Wurzeleinträge in Sabaweb.
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Die Sabäer in Äthiopien und die Minäer in Nordwestarabien/Dedan
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arabisch, er ist viele Jahrhunderte später im altäthiopischen Gəʿəz in seiner maskulinen Form ʿark bzw. ʿārk, fem. ʿarəkt, in der Bedeutung „Freund, Gefährte“ bezeugt und als ʿarki in leicht modifizierter Bedeutung auch heute noch im Tigrinya14 zu finden. Es sieht also so aus, als hätten die eingewanderten Sabäer einheimische äthiopische Frauen in ihre königlichen Linien aufgenommen,15 womit die Herrschaftskonstruktion ein stark indigenes Moment erhält.16 III Besonders aufschlußreich, da tieferen Einblick in die Herrschaftskonstruktion gewährend, sind die Herrscherdenominationen in Verbindung mit den Yawm-Sätzen. Alle äthio-sabäischen Könige tragen den Titel des Malik, zumeist gefolgt von der Spezifikation ṣrʿn, die sich wiederum an das sabäische Lexikon anschließen läßt und mit „der (die Feinde) niederwirft“ wiedergegeben werden kann.17 Doch nicht alle Könige bezeichnen sich als Mukarrib. Den Königs- und Mukarrib-Titel tragen Rādiʾum, der sich als Mukarrib von Diʿamat bezeichnet sowie Rabāḥ und Lāmān, die als Mukarrib von Diʿamat und Sabaʾ ausgewiesen sind.18 Man hat diesem Umstand bislang keine besondere Bedeutung beigemessen. Ohne die begrenzte Zahl an Beispielen überinterpretieren zu wollen, ist der Mukarrib-Titel doch nicht ohne Grund gesetzt. Er erscheint auffälligerweise bei den Königsinschriften nur in Verbindung mit der sogenannten Herrschaftsformel, die folgenden Wortlaut hat: ywm mlkw dʿmt mšrq-hy w-mʿrb-hy sbʾ-hy w-ʿbr-hy ʾdm-hy w-ṣlm-hy als er (sc. der Mukarrib) über Diʿamat herrschte, über dessen Osten und dessen Westen, über dessen Sabäer und dessen einheimische Bevölkerung, über dessen Bevölkerung von roter und schwarzer Hautfarbe.19 14 Zur Diskussion siehe N. Nebes (2010a), 218. 15 Daß die Frauen durchweg altsüdarabische Namen oder zumindest solche Namen tragen, die sich in den gemeinarabischen Wortschatz einfügen, spricht nicht gegen diese These, wenn wir davon ausgehen, daß die Frauen bei Aufnahme in die sabäische Sippe einen südarabischen Namen angenommen haben. 16 Dieser schriftliche Befund hat einen möglichen Bezug zur Ikonographie. In einer rituellen Szene auf einer Seite des sogenannten Throns von Ḥawelti ist eine derartige Frauengestalt abgebildet, die im Gegensatz zu der männlichen, wesentlich größer dargestellten Figur auch namentlich (rfš, RIÉ 14) ausgewiesen ist. Die Formgebung dieser Gestalt ist definitiv nicht südarabisch, wozu man I. Gerlach (2018), 236f. und ihren Beitrag in diesem Band vergleiche, so daß es sich bei ihr um eine solche einheimische „Königsgefährtin“ gehandelt haben dürfte. 17 Näheres bei N. Nebes (2010a), 216f. mit weiterer Literatur. 18 Siehe Tabelle 1. 19 Mit diesem Wortlaut in RIÉ 9, vgl. die Zusammenstellung und Diskussion bei N. Nebes (2010a), 230f.
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Norbert Nebes
Mit dieser Formel wird der Anspruch auf das gesellschaftspolitische Gebilde von Diʿamat formuliert, wobei mit Diʿamat das eigentliche Herrschafts- und Einflußgebiet20 und mit Sabaʾ die Sabäer im Lande gemeint sind. Diʿamat wird dabei definiert, einmal territorial, von Ost nach West, sodann politisch mit den Sabäern und der einheimischen Bevölkerung und schließlich ethnisch als die Menschen von roter und schwarzer Hautfarbe, über die der Mukarrib seine Herrschaft ausübt. Diese Kombination von Mukarrib-Titel und Herrschaftsformel hat eine frappierende Parallele im südarabisch-sabäischen Raum des 8. und 7. Jh. v. Chr. Auch hier finden wir eine derartige Formulierung in Gestalt der Bundesschließungsformel, in der der sabäische Mukarrib seinen Herrschaftsanspruch über die tribalen Gemeinschaften Südarabiens formuliert: ywm hwṣt kl gwm ḏ-ʾlm w-šymm w-ḏ-ḥblm w-ḥmrm als er (sc. der Mukarrib [im pl. maiestatis]) über jegliche Gemeinschaft eines Gottes und eines göttlichen Patrons und eines Bündnisses und eines Paktes gebot.21 Trotz des völlig anderen Wortlauts liegt in dieser Kombination von MukarribTitel und Herrschaftsformel das gleiche Phänomen wie in den Inschriften der äthio-sabäischen Könige zugrunde. Diese Formel, in der ein höherwertiger Herrschaftsanspruch als der des Königs formuliert wird, erscheint nur dann, wenn der Herrscher als Mukarrib, also als „Vereiniger“22 – und nicht als Malik ausgewiesen ist.23 Das bedeutet aber nichts anderes, als daß die eingewanderten Sabäer mit dem sabäischen Herrschaftsmodell des 8. und 7. Jh. v. Chr. eng vertraut sind, dieses – zumindest in ihrer schriftlichen Außendarstellung – auch übernehmen und es in modifizierter Form auf die Gegebenheiten in ihrem Gebiet von Tigray und Akkele Guzay übertragen. 20 Dabei handelt es wohl weniger um ein Flächenterritorium mit definierten Grenzen, sondern wohl vielmehr um ein Netzwerk von handelsstrategisch wichtigen Siedlungsplätzen, die sich von der Hafenstadt Adulis über das eritreisch-äthiopische Hochland bis in den Süden nach ʿAddi ʾAkawiḥ erstrecken, mit Yeha als Haupt- und einigen Nebenzentren; siehe I. Gerlach (2018), 231 und hier Fn. 2. C.J. Robin (1998), 793 vermutet hinter der Bezeichnung einen früh ausgewanderten südarabischen Stamm. 21 Siehe N. Nebes (2016), 37f. mit Belegen und weiterer Literatur. 22 So die bislang plausibelste Deutung dieses Begriffs – statt „der Gesegnete“; zur erstgenannten Auffassung s. N. Nebes (2016), 71 Fn. 264; Zur Diskussion zuletzt G. Mazzini (2020), 107 mit Fn. 100, wo die einschlägige Literatur zusammengestellt ist. 23 Keinen Mukarrib-Titel – und damit auch keine Herrschaftsformel – führen die Könige Waʿrān und Waʿrān Ḥaywat in den bislang bezeugten Inschriften.
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Die Sabäer in Äthiopien und die Minäer in Nordwestarabien/Dedan
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IV
Wie unschwer zu sehen ist, haben Herrschertitulatur und Herrschaftsformel der äthio-sabäischen Könige wie schon ihre sabäischen Entsprechungen stark säkularen Charakter. Jedoch gibt es auf äthio-sabäischer Seite durchaus einen konkreten Hinweis auf die sakrale Legitimation des Königtums. So heißt es in dem Yawm-Satz der Inschrift des Waʿrān Ḥaywat, in der von der Errichtung des Tempels der sabäischen Gottheit Hōbas unweit von Aksum die Rede ist (RIÉ 1):
ywm hmlk-hmw ʿstr w-hbs w-ʾlmqh w-ḏt ḥmym w-ḏt bʿdn als ihm (sc. dem Waʿrān Ḥaywat [im pl. maiestatis]) ʿAstar, Hōbas, ʾAlmaqah, ḏāt Ḥamyim und ḏāt Baʿdān die Königsherrschaft verliehen.
Einen entsprechenden Passus, wonach die Königsherrschaft durch bestimmte Gottheiten verliehen und in dieser Weise legitimiert wird, finden wir bislang im sabäischen Textkorpus weder in dieser Form noch in dieser Deutlichkeit.24 Wenn wir allerdings einen Blick auf die beiden Tatenberichte des Yiṯaʿʾamar25 und Karibʾil26 werfen, so werden in den den Feldzugsberichten vorausgehenden Passagen neben ʾAlmaqah, dem der Tatenbericht jeweils übereignet wird, die Kult- und Opferhandlungen lediglich für zwei weitere Göttergestalten genannt, nämlich für ʿAṯtar und Hawbas, die zum offiziellen sabäischen Pantheon gehören27 und auch in der Inschrift des Waʿrān Ḥaywat an vorderer Stelle erscheinen. Von einer expliziten, inschriftlich dokumentierten Legitimierung, wonach der Mukarrib von ʾAlmaqah und den anderen Gottheiten als Herrscher eingesetzt wird, ist zwar in diesen Passagen nicht die Rede, doch kann auf eine „indirekte“ Herrschaftslegitimation seitens dieser drei Gottheiten ge24 Siehe schon N. Nebes (2017), 360 Fn. 16. Eine ausdrücklich sakrale Legitimierung des Königs kennt allerdings das Qatabānische, wo diese aber nicht durch die Einsetzung des Königs durch die Hauptgottheiten, sondern genealogisch über das fiktive Geburtsrecht erfolgt. So führt der qatabānische König bzw. Mukarrib u. a. den Titel eines „Erstgeborenen des ʾAnbay und der Ḥawkam“ (bkr ʾnby w-ḥwkm) Eine entsprechende Bezeichnung wie z. B. „Erstgeborener des ʾAlmaqah“ ist aber für die sabäischen Herrscher bislang nicht nachgewiesen; siehe auch unten Fn. 31. 25 N. Nebes (1996). 26 Zuletzt A. Avanzini (2016), 261–304 mit weiterer Literatur. 27 Näheres bei C.J. Robin (1996), 1156f.
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schlossen werden, wenn sowohl Yiṯaʿʾamar als auch Karibʾil in ihren Tatenberichten eben diese drei Gottheiten aufführen, gegenüber denen sie ihren kultischen Pflichten nachkommen.28 Dieses Konzept, wonach der König die Herrschaft und damit seine Legitimität direkt von den Göttern bezieht, ist aller Voraussicht nach nicht genuin auf äthiopischem Boden und da erst aufgrund des besonderen Verhältnisses von zugewanderten Sabäern und lokaler Bevölkerung entstanden, sondern gehört vermutlich zum ursprünglichen Herrschaftsnarrativ der Sabäer in Südarabien, welches in dieser Form schriftlich bislang nur (noch) nicht nachgewiesen ist, möglicherweise aus einer Zeit vor den großen Tatenberichten stammt und von den Sabäern nach Äthiopien mitgebracht worden ist. Einen weiteren Hinweis für eine besondere kultisch-religiöse Stellung der äthiosabäischen Könige, die wir in dieser Form auf sabäischer Seite nicht kennen, liefert die eingangs vorgestellte Altarinschrift des Waʿrān, wonach die Errichtung des kleinen Heiligtums mit der Übergabe des Großen Tempel des ʾAlmaqah in Yeha (Taf. 3 auf S. 159) an den König erfolgt ist. Was sich hinter dieser Aussage letztlich verbirgt, können wir nur vermuten, da sie bislang ohne Parallele im altsüdarabischen Kulturkreis ist. Wenn wir einmal bei der wörtlichen Übersetzung bleiben,29 so ist damit zunächst einmal die säkulare Verfügungsgewalt über den Tempel gemeint, was ja durchaus auch seine südarabische Entsprechung hat, wenn man bedenkt, daß im südarabischen Tempel sakrale und säkulare Ämter voneinander getrennt sind. So steht dem turnusmäßig wechselnden Amt des Priesters (sab. ršw) jenes des Tempelverwalters (sab. qyn) gegenüber.30 Im Falle der Tempelübergabe an Waʿrān ist es allerdings nicht auszuschließen, daß damit nicht nur die administrative 28 Als klassisch altorientalisches Beispiel, wonach der Herrscher von den Göttern erschaffen und eingesetzt wird, sei auf den assyrischen König verwiesen, nur ist dessen Selbstverständnis um ein Vielfaches komplexer. S.M. Maul (1998) zufolge besteht seine wesentliche Aufgabe darin, „den ständig in Frage gestellten Einklang zwischen der Welt der Götter und dem Diesseits immer wieder herzustellen“ und letztlich „die Weltordnung zu erhalten und zu erweitern“ (S.M. Maul (1998), 68f. bzw. 77.). Im Unterschied zu den Assyrern ist allerdings für die siegreiche Durchführung der Feldzüge nicht die Gottheit verantwortlich – wie z. B. der Gott Assur, durch den der assyrische König den Sieg über die Feinde erringt –, sondern, wie Yiṯaʿʾamars und Karibʾils Tatenberichte zeigen, allein der Mukarrib, der die Feinde besiegt, die Gebiete erobert und die Erfolge und Früchte seiner Feldzüge der Gottheit ʾAlmaqah und dem Volk von Sabaʾ „übereignet“ (sab. hfṭn). Anders verhält es sich viele Jahrhunderte später mit den Feldzügen der mittelsabäischen Könige und deren Stammesführer, wo die Rede davon ist, daß die Gottheit die siegreichen Unternehmungen den Stiftern „gewährt“ (sab. ḫmr). 29 Zu tbʿl siehe N. Nebes (2010a), 222f. und N. Nebes (2017), wo tbʿl, in einen größeren Kontext gestellt ist, ferner bʿl 02 in Sabaweb. Möglicher Hintergrund der Tempelübergabe kann z. B. sein, daß diese Teil der Herrscherinauguration darstellt, vgl. N. Nebes (2017), 360 Fn. 16. 30 Siehe zuletzt N. Nebes (2022), 26f.
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Die Sabäer in Äthiopien und die Minäer in Nordwestarabien/Dedan
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Verfügungsgewalt über den Tempel, sondern auch sakrale Aufgaben und Ämter verbunden sind, auch wenn die betreffenden Bezeichnungen in obiger Inschrift und in den anderen äthio-sabäischen Texten bislang nicht weiter genannt sind.31 V Zusammenfassend können wir an dieser Stelle festhalten, daß mit der Einwanderung sabäischer Bevölkerungsgruppen ein tiefgreifender kultureller Wandel in der Region einhergeht. Dieser ist nicht nur an materiellen Hinterlassenschaften wie der Monumentalarchitektur und einzelnen technischen Innovationen32 sichtbar, sondern läßt sich detailliert am epigraphischen Befund ablesen. So bringen die Sabäer nicht nur Schrift und Sprache, sondern auch ihre Gottheiten, ihr Herrschaftsmodell des Malik und Mukarrib aus Südarabien mit. Darauf, daß die eingewanderten Sabäer in engem Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung gestanden haben, deutet eine Reihe von Interferenzerscheinungen in der Phonologie, Morphologie sowie im Wortschatz hin, die der lokalen Sprache zugeschrieben werden können, welche aller Voraussicht nach eng mit dem Gəʿəz verwandt ist, das viele Jahrhunderte später mit den aksumitischen Inschriften gegen Ende des 2. nachchristlichen Jahrhunderts einsetzt. Daß darüber hinaus mit engen gesellschaftlichen Verflechtungen zu rechnen ist, wird durch die Einbindung der lokalen Bevölkerung in die Herrschaftsstrukturen über die Mutterlinie offenkundig, in welchem Zusammenhang auch eines der wenigen äthiopischen Wörter innerhalb des äthio-sabäischen Korpus, nämlich die Bezeichnung für die Königsgefährtin (ʿrk(y)tn), verwendet wird. Schließlich liefern die Texte selbst auch indirekte Hinweise darauf, daß die äthio-sabäische nicht nach demselben Muster wie die südarabische Gesellschaft durchorganisiert ist. Neben den Titeln des Malik und Mukarrib sowie den ethnischen Differenzierungen in der Herrschaftsformel33 begegnen lediglich die Berufsbezeichnungen für den Steinmetzen, grbyn und nhmyn, der für die Errichtung der Heiligtümer in der Region zuständig ist. Begriffe, die auf gleiche oder ähnliche sozio-politische und kultisch-religiöse Organisationsformen wie 31 Weder der sabäische Mukarrib noch die späteren sabäischen Könige führen in ihrer Titular sakrale Funktionsbezeichnungen, noch gibt es derzeit in den Inschriften Anhaltspunkte, daß sie als ršw Priesterämter ausüben. Ganz anders verhält es sich dagegen im Falle des qatabānischen Königs, dessen Titulatur sowohl säkulare (qyn) als auch sakrale Funktionen (ršw) in sich vereinigt und dem in Verbindung mit dem Kult bestimmter Gottheiten die Rolle eines „High Priest“ zukommt. Näheres bei G. Mazzini (2020), 103–107. 32 Näheres bei I. Gerlach (2018), 233 und in diesem Band. 33 Siehe oben Abschnitt III.
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in Südarabien schließen lassen und die wir aus der zeitgleichen altsabäischen Periode kennen,34 sucht man im äthio-sabäischen Textkorpus vergebens35 . Auch wenn wir in Rechnung stellen müssen, daß im Unterschied zu den vergleichbaren altsabäischen Texten das äthio-sabäische Korpus nur eine begrenzte Zahl an aussagekräftigen Beispielen zur Verfügung stellt,36 so ist das Fehlen von derartigen Funktionstiteln auffällig. Eine mögliche Antwort könnte darin liegen, daß zwar die eingewanderten Sabäer unter Einbeziehung lokaler Eliten die Führungsschicht bilden, was sich dann auch in der epigraphischen Außendarstellung in den Titeln des Malik und Mukarrib niederschlägt, daß aber die soziale Infrastruktur der Sabäer nicht oder – wenn überhaupt – nur ansatzweise übernommen wurde, eine epigraphisch sichtbare, spezifisch äthio-sabäische soziale Stratigraphie sich nicht entwickelt hat und die vorhandenen Strukturen und Organisationsformen der lokalen Bevölkerung, die voraussichtlich auch mit der Konstituierung des äthio-sabäischen Gemeinwesens bestehen bleiben, in die schriftliche Dokumentation keinen Eingang finden.37 34 So z. B. ʿbd „Diener (des Mukarribs)“, mwd „Vertrauter (des Mukarribs)“, qyn „Verwalter (eines Mukarribs, einer Stadt oder eines Heiligtums)“ oder ršw „Priester (einer Gottheit)“, um nur einige signifikante Beispiele zu nennen. 35 Ob es sich bei dem nicht näher bestimmten šwʿn in RIÉ 62/1 um einen kultischen Funktionstitel wie im Minäischen (z. B. M 401/1=Maʿīn 6/1, MAFRAY-aš-Šaqab 2/4) und selten im Sabäischen (AM 380/2=NAM 303/2) oder lediglich um einen „Begleiter“ handelt, läßt sich nicht sagen. 36 An halbwegs vollständigen Widmungen – zumeist von kleinen Altären – die aus dem standardsabäischen Sprach- und/oder Schriftduktus herausfallen und weder von Königen noch sabäischen Steinmetzen gesetzt sind, vgl. z. B. RIÉ 33. 34. 35. 38. 47. 51. 63. 69. 70. 72. 37 Beide Kulturlandschaften sind in unterschiedliche naturgeographische Gegebenheiten eingebettet, woraus sich wiederum verschiedene Raumorganisationen ableiten. Die Stadt Mārib liegt inmitten einer 10.000 ha großen landwirtschaftlich genutzten Bewässerungsoase, in der neben den Wasserwirtschaftsbauten die großen Tempel wie der ʾAwām, der Barʾān und andere Heiligtümer situiert sind. Sie ist von einer 4 km langen, bis zu 14 Meter dicken Stadtmauer umgeben, innerhalb der neben dem Palast und einzelnen sakralen Gebäuden auch eine umfangreiche Wohnbebauung nachgewiesen ist (siehe zuletzt N. Nebes (2023), 316 mit Fn. 46). Die Flutbewässerung durch den zweimal im Jahr eintreffenden Sayl erfordert besondere bauliche und administrative Maßnahmen für die Wasserorganisation, die sich ihrerseits wiederum auf die Situierung von Stadt und Tempel auswirken. Dagegen bildet in Yeha eine Reihe von Monumentalbauten auf engem Raum den sakralen und administrativen Mittelpunkt, unter ihnen der Große ʾAlmaqah-Tempel sowie das administrative palastartige Gebäude Grat Beʿal Gibri, um die sich – wenn wir dies als Arbeitshypothese formulieren – aufgrund der fehlenden Stadtmauern und einer gänzlich anderen Bewässerungssituation dörfliche Streusiedelungen in unregelmäßiger Entfernung gruppieren. Deren soziale Infrastruktur entspricht offenbar einer weitgehend auf lokaler bäuerlicher Autonomie beruhenden räumlichen Organisation, wie wir sie auch heute in der Region vorfinden, wozu man W. Smidt (2011), 36f. vergleiche, sowie W. Smidt (2008), 281, der an einem Beispiel eine räumlich dezentral organisierte Dorfgesellschaft beschreibt. Mit einer derartigen Raumorganisation – und weniger mit einer a priori nicht-bellizistischen dauerhaften Gesamtsituation, wie von N. Nebes (2014), 31 noch angenommen – mag es auch zusammenhängen, daß Yeha und auch die anderen Zentralorte nicht wie die Städte in Südarabien ummauert sind, ein Gedanke, der zuletzt von Iris Gerlach in diesem Band aufgenommen ist.
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Daß auf der anderen Seite gerade aber die Profession des Steinmetzen in den Inschriften aus den drei Zentren Yeha, ʿAddi ʾAkawiḥ und Ḥawelti/Melazo so prominent vertreten ist,38 ist sicherlich nicht dem Zufall geschuldet. Denn sichtbarer Ausdruck der Herrscherrepräsentation durch den Mukarrib und Malik in einer zunächst fremden Umwelt sind sakrale und profane Monumentalbauten, wie sie in den genannten Orten errichtet worden sind, und für deren Bau bedarf es der sabäischen Steinmetze.39 Darauf, daß diese Steinmetze aber außerhalb des äthio-sabäischen „Sozialgefüges“ stehen, weist nicht nur ihre explizite Sippen- und Herkunftsbezeichnung als aus dem sabäischen Kernland stammend, sondern auch die Sprache ihrer Dokumente hin, die in bestem altsabäischen Standard und frei von jeglichen Interferenzerscheinungen abgefaßt sind.40 VI Nun sind die Sabäer nicht die einzige Bevölkerungsgruppe innerhalb Südarabiens, deren epigraphische Zeugnisse eine dauerhafte Besiedelung bzw. Präsenz weit außerhalb Südarabiens dokumentieren. Einige Jahrhunderte später haben die Minäer ihre Handelsniederlassungen auf der Arabischen Halbinsel gegründet, aus denen wir zahlreiche Inschriften besitzen. Ein Vergleich mit dem äthio-sabäischen Befund bietet sich an und ist insofern aufschlußreich, als sich an ihm der unterschiedliche Grad gesellschaftlicher Verflechtung zwischen der eingewanderten und lokalen Bevölkerung deutlich ablesen läßt.41 Im Laufe des 6. und 5. Jh. v. Chr. kommt es in Südarabien zu großen politischen Veränderungen. Es ist dies die Zeit, als die Sabäer ihre Vorherrschaft zu verlieren beginnen, und interessanterweise dieselbe Zeit, als auf afrikanischer Seite im äthio-sabäischen Raum die epigraphischen Zeugnisse versiegen.42 Die Sabäer bleiben noch eine Weile ein Machtfaktor, ihr Herrschafts- und Einflußbereich reduziert sich aber immer 38 Siehe i. E. N. Nebes (2022). 39 Daß die Steinmetze eine sehr mobile „Berufsgruppe“ sind, kennen wir auch aus anderem Kontext. In einer – noch unveröffentlichten – altsabäischen, nicht bustrophedon ausgeführten Widmung eines Steinmetzen aus Maʿīn führt dieser Arbeiten an der Mauer des ʾAlmaqah-Tempels in Ṣirwāḥ aus. 40 Zu den beiden sprachlich zu unterscheidenden Gruppen siehe zuletzt N. Nebes (2021), 318f. mit Literatur. 41 Siehe bereits C.J. Robin (1998), 793, der auf die unterschiedliche Verfaßtheit der beiden Gesellschaften hinweist. 42 Das Ende der äthio-sabäischen Periode läßt sich nicht exakt datieren. Sicher ist, daß um die Mitte des 1. Jt. v. Chr. archäologisch ein breiter Zerstörungshorizont festzustellen ist, von dem nicht nur die Monumentalbauten in Yeha, sondern auch andere Orte in der Region erfaßt sind (siehe I. Gerlach (2017), 230 mit Fn. 6), und in dieser Zeit auch die epigraphische Dokumentation versiegt.
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mehr auf ihr Kerngebiet Mārib-Ṣirwāḥ und auf das westliche zentraljemenitische Hochland sowie einige Orte im Norden. Qatabān mit seiner Hauptstadt Timnaʿ im Südosten wird zur dominierenden Größe im südarabischen Kräftespiel, das seine Einflußsphäre über das gesamte südliche Hochland bis zum Bāb al-Mandab ausweitet. Im Norden im großen Wadi al-Ǧawf kommt es durch den Zusammenschluß von Qarnawu und Yaṯill zur Gründung des minäischen Königreichs.43 Bereits zur Hochzeit der Sabäer im 8. und 7. Jh. spielen beide Städte, Qarnawu mit dem Stadtstamm Maʿīn, und das keine, 15 km südlich davon gelegene Yaṯill, das heutige Barāqiš, unter den frühen Städten im Ǧawf44 eine wichtige Rolle. In den epigraphischen Dokumenten der Minäer ist aber nicht von kriegerischen Unternehmungen die Rede, auf deren Darstellung die Sabäer so besonderen Wert legen, sondern ganz im Gegensatz zu diesen räumen jene auch ihren merkantilen Aktivitäten den gebührenden Platz in ihren Inschriften ein. Ab der 2. Hälfte des 1. Jt. v. Chr. übernehmen sie die handelspolitische Initiative auf den nördlichen Abschnitten der Weihrauchstrasse und verbünden sich aus sicherheitspolitischen Interessen immer wieder mit Sabaʾs Gegnern, Qatabān und Ḥaḍramawt, in deren Hauptstädten sie Handelskontore unterhalten. Außerhalb Südarabiens finden wir sie auf dem Weg nach Ostarabien in Qaryat al-Faʾw, auf verschiedenen Stationen der Nordwestroute bis nach Gaza, in den phönizischen Städten in der Levante, in Sidon und Tyrus, und schließlich auch in Ägypten und weit im Westen, im östlichen Mittelmeer auf der Insel Delos, wo sie mit einer Altarinschrift vertreten sind.45 An vielen dieser Orte gründen sie Handelsniederlassungen, und aus einem dieser Orte, aus dem antiken Dedan, dem heutigen al-ʿUlā, besitzen wir die reichhaltigste Textdokumentation minäischer Inschriften außerhalb Südarabiens.46 Die über 40 zumeist fragmentarischen, mehrzeiligen Texte, die sich zudem allesamt nicht in situ befinden,47 zeigen, daß sich minäische Sippen in dieser nordwestarabischen Oase, also ca. 1800 km von ihren Heimatstädten Qarnawu und Yaṯill entfernt,
43 Einen Überblick über die Minäer vom 6. bis zu ihrem Ende im 2./1. Jh. v. Chr. gibt A. Avanzini (2016), 155–170. 44 Siehe zuletzt N. Nebes (2023), Kap. 49.7 mit dort angegebener Literatur. 45 Siehe zuletzt S. L. Sørensen / K. Geus (2023). 46 Jüngst ausgewertet in einem Beitrag von I. Rossi (2014), auf den im Folgenden Bezug genommen wird. 47 Zugänglich und ausgewiesen als MMIN in http://dasi.cnr.it/index.php?id=50&prjId=1&corId=13& colId=0&navId=0 [06.09.2022]. Der Wortschatz ist – nicht zuletzt auch aufgrund des stark fragmentarischen Zustands der Inschriften – mitunter schwer verständlich. Einige zentrale Begriffe, die sich auf Handel, Eigentumsrecht u. Ä. beziehen, erörtert I. Rossi (2014), 114f.
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niedergelassen haben. Mitgebracht haben sie ihre Schrift und Sprache, ihre Götter sowie ihre sozialen und religiösen Organisationsformen. Doch hier ist die Situation eine ganz andere als jene, die die Sabäer in Tigray vorfinden. Die Minäer treffen in der Oase auf eine komplexe Gesellschaft mit Monumentalarchitektur,48 eigener Schrift und Sprache, eigenen Gottheiten49 und einer entwickelten sozialen Stratigraphie.50 Über die institutionellen Rahmenbedingungen und insbesondere darüber, wie die aufnehmende Gesellschaft mit der bei ihr ansässigen minäischen Gemeinde verfahren ist, geben die bislang bekannt gewordenen Texte auf beiden Seiten keine Auskunft. Wir können allerdings davon ausgehen, daß beide Seiten an geschäftsmäßig förderlichen Beziehungen interessiert gewesen sind und daher die dafür notwendigen Kontakte unterhalten haben, wofür es eine Reihe von Hinweisen gibt. So richtet ein Priester der minäischen Hauptgottheit Wadd dem einheimischen ḏū Ġābat eine Widmung aus, die nicht nur in dedanischer Reliefschrift, sondern auch in gutem Dedanisch verfaßt ist.51 Minäer gehen Ehen mit dedanischen Frauen ein, die sie nach Maʿīn mitgebracht und in ihre Sippe aufgenommen haben, was protokollartig auf den Pfeilern des ʿAṯtar-Tempels in Qarnawu festgehalten ist.52 Umgekehrt heiraten auch minäische Frauen in lokale Sippen in der Oase ein, wie wir aus einem fragmentarischen, auf Minäisch abfaßten Text erfahren.53 Einen engen Kontakt beider Gemeinschaften setzt auch die Verwendung der Schrift im Fall
48 Vgl. die Grabungsberichte der ersten sieben Kampagnen in Dedan bei S. F. as-Saʿīd / ʿA. S. al-Ġazzī (2013–2014). 49 Zum Hauptgott ḏū Ġābat und weiteren Gottheiten vgl. die Zusammenstellung und Diskussion bei M. C. Hidalgo-Chacón Díez (2016), 125–130. 50 Neben den aus dem Altsüdarabischen bekannten Titeln des Königs (mlk) und des Vorstehers (kbr) finden wir in den dedanischen Inschriften eine ganze Reihe von weiteren lokalen säkularen wie sakralen Funktionsbezeichnungen. Man vergleiche z. B. qym „Verwalter“, wkl „Beauftragter“, qn und qnt „Diener bzw. Dienerin,“ neben ʿbd und ʾmt. Verschiedene sakrale Funktionen bzw. Priesterämter geben die Termini slḥ, fem. slḥt, bzw. ʾfkl „Tempelpriester“ und qsm „Orakelpriester“ wieder. Ebenso sind Berufsbezeichnungen vertreten wie rʿy „Hirte“, ṣyġ „Schmied“ oder ṣnʿ „Handwerker“. Die Stellennachweise und Inschriften mit Übersetzungen sind zugänglich über http://krc.orient.ox.ac.uk/resources/ociana/ corpora/ociana_dadanitic.pdf [06.09.2022]. 51 JSLih 49 in http://krc.orient.ox.ac.uk/resources/ociana/corpora/ociana_dadanitic.pdf [06.09.2022]. 52 Siehe zuletzt A. Avanzini (2016), 162–164 mit Literatur. 53 Siehe M 360=R 3699 und F. Koostra (2018), 23, die auf diese Inschrift aufmerksam macht, bei der es u.a. um die rechtliche Stellung des Nachwuchses aus dieser Verbindung geht.
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eines längeren Fragments voraus, in dem die Teilnahme einer vermutlich weiblichen Person an der Pilgerfahrt zu ḏū Ġābat auf Dedanisch, jedoch in minäischem Schriftduktus festgehalten ist.54 Wenn wir zu den zumeist fragmentarischen, auf Steinquadern niedergelegten Texten aus der Oase zurückkehren, die durch Schrift, sprachliche Charakteristika und durch Sippenherkunft eindeutig als Minäisch ausgewiesen sind, so ist in ihnen weder in Grammatik noch im Vokabular dedanischer Einfluß erkennbar.55 Daß hier in der Diaspora in engem Kontakt mit einer anderen komplexen Gesellschaft auf die sprachliche Identität so großer Wert gelegt wird, gilt mutatis mutandis auch für die politische Organisation der minäischen Gemeinde. So ist auf vier minäische Könige Bezug genommen,56 jedoch kein einziger dedanischer König genannt. Auch erfolgt die Datierung nach einem Eponym aus bekannter minäischer Sippe, der in guter minäischer Diktion als Vorsteher von Maʿīn in Dedan angesprochen wird,57 was aber nichts anderes bedeutet, als daß dieser auch de facto dem König in Maʿīn unterstellt und weisungsgebunden ist. Wenn wir dies vom anderen, vom südlichen geographischen Ende aus betrachten, so scheint die Gründung derartiger Handelsniederlassungen oder – besser – Handelsgemeinden ein bewußt eingesetztes, aktiv genutztes handelspolitisches Instrument der minäischen Könige gewesen zu sein.58 Dedan, wegemäßig strategisch günstig auf der Route nach Gaza und Ägypten sowie nach Mesopotamien via Tayma gelegen, ist ohne Zweifel die bedeutendste Gründung, von der wir bislang wissen. Sicherlich hat es derartige Gründungen in einiger Größenordnung auch in Ägypten sowie in Qaryat al-Faʾw gegeben, wo Minäer einen Tempel für ihren Hauptgott Wadd errichtet haben.59 Diese Gemeinden, die in ständiger
54 Siehe F. Koostra (2018), 22 sowie den Kommentar zu AHUD 1 in http://krc.orient.ox.ac.uk/resources/ ociana/corpora/ociana_dadanitic.pdf [06.09.2022]. Lokalen Einschlag des in der Oase gesprochenen Dialektes sieht F. Koostra (2018), 24–27 in den beiden in minäischer Schrift gehaltenen Felsgraffiti JSMin 145 und JSMin 166. 55 So auch I. Rossi (2014), 117. 56 Siehe ʾlyfʿ / yšr (M 316/4=R 3341/4), wqhʾl / ṣdq und ʾbkrb / yṯʿ (M 321/7=R 3346/7, M 358/11=R 3697/11), wqhʾl / nbṭ (M 367/2f.=R 3707/2f.). 57 So in J 2288/6: y]ʾwsʾl / ḏ-yfʿn / kbrh / mʿn / b-ddn; vgl. auch I. Rossi (2014), 113. 58 In diesem Sinne auch I. Rossi (2014), 118. Offizielle diesbezügliche Verlautbarungen fehlen allerdings bislang. Ein Vergleich mit der viele Jahrhunderte früheren assyrischen Handelskolonie Karum Kaniš in Anatolien fördert viele strukturelle Parallelen zu Tage, die eine „independent society“ (J.J. de Ridder) innerhalb der aufnehmenden anatolischen Gesellschaft bildete, enge Beziehungen nach Assur unterhielt und für deren ethnische Mitglieder auch assyrisches Recht galt; siehe dazu i. e. J.J. de Ridder in diesem Band. 59 Zum inschriftlichen Befund siehe I. Rossi (2014), 115f.
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wechselseitiger Kommunikation mit Maʿīn standen, haben einen bedeutenden Beitrag zur wirtschaftlichen Blüte des – im Vergleich mit seinen anderen südarabischen Nachbarn – territorial doch recht kleinen Königreichs geleistet.60 VII Im Unterschied zur minäischen Gemeinde in Dedan und obwohl die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen sabäisch geprägt sind, präsentiert sich das Gemeinwesen von Diʿamat in der Außendarstellung seiner Herrscher als politisch eigenständiges, unabhängiges Gebilde. Von offizieller Seite finden wir bislang keine Hinweise auf Verbindungen nach Mārib, etwa in der Form, daß die Könige in ihren Schlußanrufungen den sabäischen Mukarrib nennen, wie wir es beispielsweise von Königen aus dem Ǧawf und anderen Orts kennen, die mit den Sabäern verbündet sind. Auch berufen sich die sabäischen Steinmetze, die nach inschriftlichem Befund die ʾAlmaqahHeiligtümer errichten, allein auf den äthio-sabäischen König als ihren Auftraggeber, ohne sich zugleich als Untertanen des sabäischen Herrschers auszuweisen.61 Desgleichen kann unserem bisherigen Kenntnisstand zufolge ausgeschlossen werden, daß ein mit den Sabäern verbündeter oder von ihnen eingesetzter König den MukarribTitel führt, sei es nun den von Diʿamat oder gar den von Diʿamat und Sabaʾ, auch wenn unter letzterem lediglich die Sabäer im Lande gemeint sind.62 Eine Erklärung für diese politische Eigenständigkeit, wenn wir darunter die Abkoppelung vom sabäischen Herrschaftsanspruch unter gleichzeitiger Beibehaltung der politischen und kulturellen Rahmenbedingungen verstehen, könnte in der engen Verflechtung der eingewanderten sabäischen Sippen mit der lokalen Elite zu suchen sein, die der Konstituierung des äthio-sabäischen Gemeinwesens zeitlich vorausgegangen sein muß, 60 Sichtbar ist diese nicht zuletzt an den zahlreichen Inschriften an der Stadtmauer von Yaṯill/Barāqiš, deren Errichtung und Ausbau von den führenden Sippen der Stadt finanziert worden ist. 61 Die Ausnahme stellt bislang ein Altarfragment aus Mäṭära mit einer nur teilweise erhaltenen, zweizeiligen, bustrophedon verfaßten sabäischen Inschrift (RIÉ 61) dar, in dem die Stifter neben dem zuerst genannten sabäischen (Mukarrib) Sumuhūʿalī auch den (mehrmals bezeugten) äthio-sabäischen König Lāmān als „ihre Herren“ (ʾmrʾ-hm[w]) anrufen. 62 Den exklusiven Alleinanspruch, der bereits diese politische Eigenständigkeit betont, intendiert bereits der Königstitel malikān ṣāriʿān (mlkn ṣrʿn). Gemeint ist damit ja nicht „der siegreiche König von irgendetwas“, wie wir es aus dem altsüdarabischen Kulturkreis, z. B. in „der König von Naššān“ (mlk nšn), „der König von Haram“ (mlk hrmm) usw. kennen, sondern es ist der König schlechthin, andere existierende Könige in dem geographischen Raum sind damit ausgeschlossen bzw. als gar nicht existent mitgedacht. Ebenso ist in der eingliedrigen Namensgebung der äthio-sabäischen Könige bereits eine bewußte Abgrenzung zu den sabäischen Mukarriben vorgenommen, insofern als deren zweigliedriges Namensmodel (Karib-ʾil, Yiṯaʿ-ʾamar, Ḏamar-ʿalī etc.) weder in der einen noch in anderer Form übernommen wird.
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wie es uns in den ersten Königsinschriften gegenübertritt. Wann und wie i. e. dieser Prozeß von statten gegangen ist, ist unklar. Vorstellbar sind Heiratsbündnisse der eingewanderten sabäischen Gruppen mit den lokalen Eliten, die dann ihren Niederschlag in der späteren Aufnahme der matrilinearen Linie in den Königsinschriften gefunden haben. Als terminus ante quem für diese Bündnisse können wir den Bau des administrativen Palastgebäudes Grat Beʿal Gibri annehmen, der dem derzeitigen archäologischen Befund zufolge um 800 v. Chr. errichtet worden ist.63 Die Einwanderung und der Prozeß der gesellschaftlichen Verflechtung der beiden Bevölkerungsgruppen wird damit zeitlich deutlich vor den großen Tatenberichten anzusetzen sein.64 Befeuert wird die politische Konstituierung des äthio-sabäischen Gemeinwesens65 durch den Technologietransfer der eingewanderten sabäischen Sippen und durch eine Reihe günstiger naturräumlicher und ökonomischer Faktoren wie den Abbau von und den Handel mit einheimischen Produkten, wie z. B. Weihrauch und Gold, was wiederum in der Errichtung der Monumentalbauten und den sie begleitenden Inschriften ihren sichtbaren Ausdruck findet. Dabei orientieren sich, wie bereits gesagt, die politischen Rahmenbedingungen des äthio-sabäischen Gemeinwesens an dem südarabisch-sabäischen Modell des Malik und Mukarrib. Jedoch lassen sich der derzeitigen Befundlage zufolge jenseits der ethnischen Differenzierungen in der Herrschaftsformel weder den Königsinschriften noch den anderen Zeugnissen irgendwelche Funktionsbezeichnungen entnehmen, die auf eine entwickelte soziale Infrastruktur analog dem sabäischen oder einem anderen südarabischen Gesellschaftsmodell schließen lassen. Dies deutet darauf hin, daß die sozialen Organisationsformen der einheimischen Bevölkerung weiterbestehen, jedoch in der schriftlichen Dokumentation nicht abgebildet werden. Auffällig ist dagegen – im Unterschied zur gut dokumentierten Präsenz von Sabäern im Herrschaftsbereich der äthio-sabäischen Könige –, daß wir aus dem sabäischen Kernland bislang keinerlei epigraphische Hinweise auf das äthio-sabäische Gemeinwesen besitzen. Weder findet sich in den großen Tatenberichten des Yiṯaʿʾamar oder
63 Siehe M. Schnelle (2013), 91. 64 Siehe dagegen M. Arbach (2022), 43 Fn. 3, der die sabäische Einwanderung zur Zeit des Yiṯaʿʾamar vermutet. 65 Dem inschriftlichen Befund zufolge könnte diese unter Sālimum Faṭrān erfolgt sein, auf den sich Waʿrān Ḥaywat (z. B. RIÉ 1) und Rādiʾum (z. B. RIÉ 9) als ihren „Großvater“ (bn bn) berufen. Eine andere, spätere Herrscherlinie mit Rabāḥ und Sohn Lāmān, führt sich auf Waʿrān Raydān (RIÉ 8) zurück.
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des Karibʾil irgendein Bezug zu ihren äthio-sabäischen Nachbarn von Diʿamat66 noch kennen wir aus dem südarabischen Raum Inschriften, sei es von zurückgekehrten Steinmetzen oder anderen Personen, aus denen sich nur kleinste Indizien auf die Existenz des äthio-sabäischen Gemeinwesens am Nördlichen Horn herauslesen lassen. Hier gilt es weitere Funde abzuwarten.
Summary With the immigration of Sabaean population groups and the accompanying formation of a complex society in the early 1st millennium BC, a fundamental cultural change took place in northern Ethiopia and southern Eritrea, which finds its visible expression in numerous archaeological and epigraphic remains. It manifests itself most impressively in the monumental buildings at Yeha, the religious and administrative centre of the Sabaeans in the Ethiopian highlands. However, the Sabaeans bring with them not only South Arabian architectural concepts and their craftsmanship, but also their language and their religious and political institutions, in addition to other cultural techniques such as writing in the form of the Old South Arabian alphabet. Although the local population is less tangible, it has left significant traces in the epigraphic documents. These traces are not only limited to isolated linguistic phenomena, which are evaluated as substrate phenomena, but can be found especially in the titles of the royal inscriptions, which significantly differ from the Old Sabaean model. This suggests a close intertwining of the Sabaeans with the local population, which is why the term Ethio-Sabaic is appropriate for the language and the population of the inscriptions with a local substrate. The Sabaeans are not the only population group within southern Arabia whose epigraphic evidence documents a permanent settlement or presence far outside southern Arabia. A few centuries later, the Minaeans established their trading settlements in northwestern Arabia, from the most important of which at Dedan we possess numerous Minaean inscriptions. A comparison of the texts in question is revealing in 66 Die Frage ist dabei, welche Ereignisse dem sabäischen Selbstverständnis zufolge in den Tatenberichten festgehalten werden. So erwartet man eigentlich, daß Yiṯaʿʾamar und Karibʾil ihre diplomatischen Missionen nach Assyrien zu Sargon II. und Sanherib, die ja handelspolitisch für die Sabäer von eminenter Bedeutung sind, in ihren Tatenberichten erwähnen, was aber nicht der Fall ist. Ebenso von Yiṯaʿʾamar unerwähnt ist die Expedition und Gründung eines sabäischen Heiligtums in der Region Bari an der östlichen Küste von Somalia, 50 km süd-südwestlich vom Kap Guardafui und 20 km nördlich der Ortschaft Bargal. Die erst kürzlich bekannt gewordenen Inschriften sprechen von einem (oder mehreren) Schiff(en) des Yiṯaʿʾamar (Bari 2021-4/3) bzw. von Sabaʾ (Bari 2021-6/3), wozu man ausführlich A. Prio-
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that it allows us to determine the degree of interdependence between the immigrant group and the local population and thus not only the particular socio-political constitution of the individual communities, but above all the political relationship to the respective heartland, to the Sabaeans in Mārib and Ṣirwāḥ and to the Minaeans in Qarnawu and Yaṯill. Siglen Addi Akaweh 1: Gajda, I. / Yohannes Gebre Selassie, Pre-Aksumite Inscribed Incense Burner and Some Architectural Ornaments from Addi Akaweh (Tigrai, Ethiopia), in: Annales d’Éthiopie 24, 2009, 51–52. AM 380=NAM 303: Beeston, A.F.L., in Corpus des inscriptions et antiquites sudarabes. II. Le Muśee d’Aden. Fascicule 1. Inscriptions, Louvain 1986, 219–220. M: Garbini, G., Iscrizioni sudarabiche. Vol. I. Iscrizioni minee, Pubblicazioni del Seminario di Semitistica. Ricerche X, Napoli 1974. Maʿīn 6: Bron, F., Inventaire des inscriptions sudarabiques. Tome 3. Maʿīn, Académie des Inscriptions et Belles-Lettres; Istituto Italiano per l’Africa e l’Oriente, Paris / Rome 1998, 43–44. MAFRAY-aš-Šaqab 2: Gnoli, Gh., Inventario delle iscrizioni sudarabiche. Tomo 2. Shaqab al–Manaṣṣa, Académie des Inscriptions et Belles–Lettres; Istituto Italiano per il Medio ed Estremo Oriente, Paris / Roma 1993, 72–74. R: Répertoire d’Épigraphie Sémitique publié par la Commission du Corpus Inscriptionum Semiticarum. Tome V-VIII, Paris 1929–1968. Zitierte Literatur Arbach, M., Une caravane du roi de Sabaʾ à Ḥimā Najrān. Le commerce des aromates en Arabie du Sud au vie siècle av. J.-C., in: S.L. Sørensen (Hg.), Sine fine. Studies in honour of Klaus Geus on the occasion of his sixtieth birthday, Wiesbaden 2022, 43–54. Avanzini, A., By land and by sea: a history of South Arabia before Islam recounted from inscriptions, Arabia Antica 10, Rom 2016. letta et al. (2021), 328–339 vergleiche. Ein Grund, warum diese weit über Südarabien hinausgehenden und für die gesamte Region bedeutenden Unternehmungen von beiden Herrschern nicht genannt werden, könnte darin zu suchen sein, daß die schriftliche Präsentation von handelspolitischen Aktivitäten dem sabäischen Selbstverständnis zuwiderlaufen – ganz im Gegensatz zur elaborierten Darstellung von Feldzügen, die jene absichern bzw. erst ermöglichen.
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Die Sabäer in Äthiopien und die Minäer in Nordwestarabien/Dedan
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Die Sabäer in Äthiopien und die Minäer in Nordwestarabien/Dedan
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Tafeln
Tafel 1: Altar des ʾAlmaqah-Tempels in ʿAddi ʾAkawiḥ (DAI Orient-Abteilung / Pawel Wolf)
Tafel 2: ʾAlmaqah-Tempel in ʿAddi ʾAkawiḥ (DAI Orient-Abteilung / Pawel Wolf)
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Die Sabäer in Äthiopien und die Minäer in Nordwestarabien/Dedan
Tafel 3: Der Große Tempel des ʾAlmaqah in Yeha (DAI Orient-Abteilung / Johannes Kramer)
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An early period of international trade: cultural interaction between Anatolians and Old Assyrian merchants Jacob J. de Ridder, Marburg
Chronology and geography The era of Old Assyrian trading activities in Anatolia can be accurately dated as having taken place between 1931‒1718 BCE (REL 42‒255), although the documentation (and probably the brunt of the activity) was most abundant between the years 1893‒1863 BCE (KEL 80‒110).1 Following the apex of activity there is a gap in the record, caused by an unknown disaster ca. 1835 BCE which is also evidenced by the discontinuity seen between archaeological levels II and Ib. The first period (level II) was followed by a period of decreased scribal activity (level Ib) during which the local population began to be more visible in the (limited) documentation.2 Unfortunately, despite the fact that a comparatively small number of documents derive from level Ib (perhaps 500 tablets), these texts have been only sporadically published so that few were available for this study.3 Over 23,000 tablets in total have been unearthed from 1
Assyrians dated their years according to eponyms. This information is based on the Revised Eponym List (REL) as discussed in G. Barjamovic et al. (2012). The last eponym found on eponym lists from Anatolia is REL 255 (1718 BCE), although this system of dating is not limited to texts from Anatolia. The text dating to REL 42 (1931 BCE) is regarded as the first point in time at which we can be certain of Assyrian presence in the region. 2 A difference of as much as 5% (II) ~25% (Ib) following C. Michel (2011), 105. This was partly caused by the decreased participation of Assyrians in trade, following W. Waal (2012), 289. 3 The situation of a scarcity of material in Kültepe level Ib is best summarized in G. Barjamovic et al. (2012), 73‒80. Trade continued on a decreased scale with a general impoverishment of the Assyrian population who in this period became more and more often the victims of debt-slavery. Despite the absence of any letters to or from Aššur, contact with the motherland must have continued and we still find the occasional reference to a large caravan from Assyria. References to other Assyrian colonies (kārum) continue; it appears that the local trade network was still intact. Nevertheless, the tin trade
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Kültepe,4 3730 of which come from illegal excavations prior to 1948, another 1034 were found there by the Czech team led by Bedřich Hrozný, and the vast majority of tablets (ca. 18,500) derive from official Turkish excavations at the site.5 Kültepe has since been identified by its ancient name, Kaneš, once the main centre of Assyrian trade in the region, as well as one of the largest towns in Anatolia, with an estimated 25,000 inhabitants and a large market frequented by merchants.6 Many merchants also lived semi-permanently in the lower town, co-existing with the local population.7 While Assyrian trading posts are known to have existed in other cities (internal evidence from the texts is very clear on this point), archaeological work has not brought forth much philological evidence from other cities. The two other main locations from which tablets have been recovered are the sites of Alişar, ancient Amkuwa8 and Bögazkale, ancient Ḫattuš.9 These two groups of tablets are more or less contemporary with level Ib at Kültepe. Traders and the palace The initial phase of trading activity between Anatolia and Assyria remains unknown. The documentation provided by the main archives already mentioned begins at a point when trade had been established for some time. As such, we have no starting phase from which we can establish concrete developments within this formative period.10 Instead, from the onset of textual records we find Assyrian investors in Aššur (modern Qalat Shirqat) sending caravans of goods to be sold at the market of Kaneš. The actual acts of selling and the corresponding interactions with the local population are not described in detail. For the most part the texts are extensive accounts of the types of merchandise sent and the taxes paid upon them. is only rarely mentioned in this period. The Assyrian population became permanent inhabitants of Anatolia (wašbūtum) and began to integrate into the local population; intermarriage became more common. 4 M. T. Larsen (2015), i. 5 C. Michel (2003), VI‒VII. 6 G. Barjamovic (2014), 66. 7 The most recent description of this neighbourhood and its demographics is found in T. K. Hertel (2004). 8 63 tablets, I. J. Gelb (1935). 9 72 tablets, C. Michel (2003), 125. 10 An often repeated theory is that trade first began in the Syrian region, with the early colony of Ḫaḫḫum as an starting point for traders selling their merchandise in Anatolia before the foundation of a new trading centre in Kaneš. See M. T. Larsen (2010), 8; G. Barjamovicet al. (2012), 62; E. Stratford (2017), 232.
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Cultural interaction between Anatolians and Old Assyrian merchants
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Caravans arriving in Kaneš were required to enter the palace complex where they were registered and taxes were paid.11 The main types of taxes levied on textiles were the 5% nisḫātum tax and the išrātum “tithe”. The latter term refers to the right of the authorities to pre-emptively purchase textiles at a reduced price before they could enter the market. It seems that some type of cooperation took place between the palace and the local Assyrian institution called the bēt kārem in the execution of this right. The percentage of tax required could fluctuate and the local Assyrian institution could impose payment on Assyrian merchants in name of the palace.12 As a perhaps natural inclination to avoid taxes, some merchants would avoid presenting their wares at the palace of Kaneš by travelling an alternate route. This tax evasion was especially lucrative if the merchandise were headed to markets further into the Anatolian heartland, the road used to circumvent Kaneš was known as “the narrow track” (ḫarrān sūqinnnem).13 Two problems came with using the narrow track. The first disadvantage concerned safety, as (in return for paying taxes) the Assyrian merchants were granted special rights of protection by the local king. By proceeding without paying taxes these rights were forfeited and goods lost through robbery were impossible to reclaim. Dangerous situations upon the road were possible, in the tablet Kayseri 183014 we read how certain Assyrians were found killed on the road with their merchandise stolen. Those who found them went to the local palace to inform the authorities and an investigation was undertaken to identify the slain men. Transporting one’s goods via the narrow track was therefore a question of personal risk versus reward, but it was also in actuality smuggling and therefore an offense punishable by the local Anatolian authorities. This is illustrated by the following example: “Errāya sent his smuggled goods to Pūšu-kēn, but his smuggled goods were seized. The palace threw Pūšu-kēn in jail. The guard posts are strong”.15
11 12 13 14 15
M. T. Larsen (1967), 155‒156. J. G. Dercksen (2004), 173‒175. See G. Barjamovic (2011), 169ff. See K. Hecker (1996), 150‒151. ATHE 62:30‒33.
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In order to more effectively smuggle goods, some Assyrians relied upon local merchants, the nuwā’ū, who will be discussed below. In one letter (BIN 4 48) Assyrians discuss the possibility of dividing their merchandise (tin in this case) into smaller packets of 1 talent each, in order that various native traders may bring it into the city and thus avoid taxation by the authorities. In terms of the palace and its personnel, we have quite a large amount of information. Here it should be noted that the terminology used in the documentation was exclusively Assyrian, with no Anatolian word entering the lexicon. The monarch was called rubā’um, traditionally translated “prince”, although “local king” is a better interpretation in the context of Old Assyrian.16 As kings in this period usually ruled over a limited territory, they were more approachable than one may expect them to have been, compared to the situation in later times. Assyrian traders referred to themselves and were referred to as “father” in correspondence with local rulers. An instance of this appears in AKT 6c 524:7, where a group of traders call themselves abba’ūka “your fathers” to the king, within the larger context of a conflict regarding blood money. The ruler of Tawiniya likewise called the envoys of the Kaneš colony “my fathers”.17 This situation is also seen in the few letters sent by local rulers to Assyrians. In Kt h/k 31718 a local king writes to the Assyrian community of the Kaneš colony concerning a new treaty, stating “I am your son, you are my fathers.” In another letter, Kt n/k 1024,19 the ruler of Ḫurama refers to the Assyrian Mannum-kī-Aššur as “my father”. It is noteworthy that Assyrian traders could be granted the respected title “father”, which implies that they were higher in rank than the local monarchs. This would of course suggest that the social status of the foreign traders in Anatolia was estimable. Yet in the so-called waklum-letters written by the Assyrian king, one ruler referred to a letter of his father (i.e., the previous king) who used to call the trader Pūšu-kēn “his son”.20
16 In this period the king of Aššur was also referred to as rubā’um, or alternatively as waklum “steward”. The Akkadian word ‘king’ (šarrum) was applied only to the eponymous city god. This changed when Aššur was conquered by Šamši-Adad I who founded a large empire in Northern Mesopotamia. He then introduced šarrum as a royal epithet for the first time in Assyria, a tradition that would stick. 17 Kt f/k 183:13, see C. Michel (2001), 106‒107 no. 53. 18 G. Albayrak (2008). 19 G. Barjamovic (2011), 184 no. 642. 20 POAT 18:5.
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Cultural interaction between Anatolians and Old Assyrian merchants
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However, the current Assyrian king was in the habit of addressing Pūšu-kēn as “my father”, in a fashion similar to that of the Anatolian courts. Another related practice was that of setting the title of the author above that of the recipient (in the Old Assyrian correspondence this is a sign of higher status), which was commonly done in the few letters written by Anatolian monarchs to Assyrian traders or their institutions,21 e.g., umma rubā’um an[a] kārim Kaneš qibima anāku mera’kunu attūnu abbā’ū’a “Thus the king, speak to the Kaneš colony: I am your son and you are my fathers” Kt h/k 317.22 While the traders may have had cordial relations with the local ruling elite, this did not at all prevent the local palace from exercising its power upon the trading community. In one characteristic case, the king and queen of either Kaneš23 or Wašḫaniya24 had arrested the trader Aššur-taklāku in a case of espionage incited by the city of Tawiniya (Kt 93/k 145, partly duplicated in Kt n/k 504). At the time the documents were written, he had already been imprisoned for two months. In this conflict Aššurtaklāku functioned as a hostage, he was perhaps innocent, but was kept in custody as the perpetrating power was out of the reach of the palace. The Assyrian merchant colony appealed to the palace, pleading Aššur-taklāku’s loyalty to the city and its rulers. The king and queen pressured the colony to extradite the perpetrator or pay one mina of the expensive amūtum-iron for the release of the merchant. The gravity of the situation is further stressed by the warning given to the Assyrian envoy if he failed to meet these terms: he didn’t need to return to the palace as his “brother” would be dead. A further indication of the power exercised by the palace over the colony is the fact that the colony suggested that Aššur-taklāku swear to his innocence on the dagger of Aššur or by “going to the river”. The latter is a legal procedure typical of Anatolian society.25 Trade could only be conducted following the signing of treaties concluded between the local Anatolian monarchs and the union of Assyrian traders.26 The king of Aššur played no role in this matter and the treaties were not conducted on his behalf as 21 22 23 24 25
M.T. Larsen (1976), 125. I. Albayrak (2008), 113. G. Barjamovic (2011), 304‒305. C. Michel (2008a), 241. The river ordeal was also known in contemporary Babylonia. However, R. Westbrook (2003), 375 § 3.3.4.1 notes that it was most explicitly mentioned in Mari texts. W. Heimpel (1996) believes that the ordeal took place in one of the bitumen springs of nearby Hit, rather than in an actual river. 26 K. R. Veenhof (2013).
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they concerned only commerce. Transitions of power within the Anatolian royal courts palace resulted in the need for new treaties between various local kings and traders.27 This is evident from KTP 14, where the new king of Waḫšušana writes to the local Assyrian colony for the renewal of their treaty. The colony then refers the matter to its counterpart in Kaneš, as only the latter had the authority to establish treaties. Anatolian society and the Assyrians The social interaction between the two main groups in Anatolia can be characterized via the concept of a “middle ground”.28 This was the approach of the study by R. White (1991) on the fur trade between the Algonquian Indians and the French, during a period when both parties acted as heterogeneous groups within a balance of power, such that neither group could use their authority to force trade upon each other. At the same time, this model of interaction leads to social heterogeneity and hybridization, of compromise and accommodation.29 The concept of a “middle ground” has been applied to the hybridization of glyptic30 as well as the practice of intermarriage between two groups.31 The Assyrian population in Anatolia formed an independent society; they were semigoverned by the local union of traders (bēt kārim), which in its turn was in contact with the government in Aššur. As previously mentioned, other Assyrian colonies did exist in Anatolia but these were usually dependent on the authority of the bēt kārim in Kaneš. This local Assyrian trade union released decrees that affected all Assyrian traders, regardless of the colony in which they were currently residing. As such, messengers were dispatched carrying tablets containing these decrees and were obliged to oversee their implementation. In fact, the archive of one of these messengers, named Kuliya, has recently been published. Assyrian law remained valid for the merchants, and all Assyrians in Anatolia remained subject to Assyrian legal procedures as long as conflicts involved parties of their own ethnicity. Decrees were written down on multiple stelae in Aššur, where 27 G. Barjamovic (2011), 325. 28 S. Lumsden (2008), 29‒32. Another approach, the World System/Centre-Periphery perspective (as discussed in M. Allen (1992)) has found less acceptance (see S. Lumsden (2008), 29). One of the problems with this model is that it requires a ‘periphery,’ which is a description unfitted to either Aššur or the Anatolian kingdoms. It is better in this case to speak of multiple centres, see also M. T. Larsen (1987). 29 S. Lumsden (2008), 32. 30 M.T. Larsen / A.W. Lassen (2014). 31 Y. Heffron (2017).
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they were accessible for consultation by the population.32 The separate system of Anatolian law is poorly known to us as there exist few documents concerning legal issues between Anatolian parties. The legal stipulations in Anatolian sale documents, particularly as regards slavery, are not significantly different from those in Assyrian documents and both were written in the Assyrian colloquial language. This may be a false impression however, as the standardized Akkadian legal formula must have been a major influence on Anatolian practice.33 At least in terms of oath-taking, there is an observable difference between the two cultures. The Assyrians took their oaths upon sacred objects, commonly upon the dagger of the deity Aššur.34 In judicial texts concerning the Anatolian population, a river ordeal is mentioned instead. This ordeal could also be forced upon Assyrians when the local Anatolian government was involved as a party in conflicts with merchants.35 Within this mixed society, different social classes can be distinguished. Best attested is the tamkārum or “merchant(-class)”, probably reserved for the Assyrian population (at least in texts dating to level II). Anatolian businessmen were referred to as nuwā’um and as such they are mentioned in opposition to the tamkārum in legal documents.36 There is no specific word for ‘commoners’ within the local Anatolian population and one wonders whether Assyrians were in direct contact with regular people, other than when they bought them as slaves. Transgressing one’s social class was not permitted. We find complaints recorded of Assyrians “behaving as Anatolian businessmen (nuwā’um) in the palace” as well as threats by certain intoxicated Anatolians that they would “become merchants (tamkārum) and beat the Assyrians at their own trade”.37 Even after marriage people appear to be considered as members of their original social class, and certain Anatolian husbands of Assyrian women continued to be referred to as nuwā’um. Marriage Assyrians staying for a long period in Anatolia were allowed to marry a local wife, which was of secondary status to the wife in Aššur (aššutum). The local wife was called an amtum, which translates to “maid” or “slave-girl”. This institution was de32 33 34 35 36 37
K. R. Veenhof (1995). B. Kienast (1984), 49‒50. patrum ša Aššur, see T. Hertel (2013), 185‒219. M.T. Larsen (2007); T. Hertel (2013), 384‒385. J.J. De Ridder (2021). M.T. Larsen / A.W. Lassen (2014), 177.
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veloped to offset the potential for a woman to be infertile, in which case the husband had the right to beget children with a slave girl.38 This may also explain a man’s limitation to one aššutum-wife and one amtum-wife only. While in the Old Assyrian period the concept developed a different function, it is notable that both Assyrian as well as Anatolian girls could become amtum-wives.39 As mentioned above, we do have some evidence for Assyrian ladies marrying a local Anatolian husband. In at least two cases, the daughter of an Assyrian merchant married a native businessman (nuwā’um) after her first husband had died.40 In a late Old Assyrian tablet (Kt 2001/k 325), we see the result of the intermingling of both ethnicities; the text deals with interference by the king of Kaneš in the estate of a family in which the father and sons bear Assyrian names (e.g., the father’s name is Šalim-Aššur) but which also includes a daughter with the Anatolian name Ḫaršumelka, who has married an Anatolian man named Ḫamala.41 We know less regarding the activities of the women of Anatolia than we do about the Assyrian women who remained in Aššur. There is a lively correspondence between the latter group and their husbands who were constantly travelling to Anatolia; there was of course much less need for the women living in Anatolia with their husbands to write them letters.42 Scribal culture Prior to the arrival of Assyrian traders, Anatolian society is believed to have been illiterate. Cuneiform script was introduced to the area (and subsequently forgotten) on two different occasions; the first time during the Old Assyrian period and again by the Hittite empire in the mid-second millennium BCE. Anatolians learned the art of writing cuneiform, and as such some small Anatolian archives are known, usually 38 B. Kienast (2015), 94 § 45.6. 39 B. Kienast (2015), 95 § 45.9. 40 K. R. Veenhof (2018), XXXIII. For the marriage of Zizzi daughter of Imdīlum see G. Kryszat (2007); for that of Ištar-lamassī daughter of Elamma to the nuwā’um Lullu, see K. R. Veenhof (2018), XXXIII. The high status of Lullu can be deduced from the fact that he is mentioned at the top of a letter (AKT 8 170:1) before any of his Assyrian colleagues. Other cases are Šāt-Anna, daughter of Šalim-Aššur, married to Šuppi-numan (see AKT 6a, 11; following unpublished AKT 6 1605); Ummī-Išḫara (perhaps also a daughter of Elamma) to (another) Šuppi-numan (AKT 6d 735:2‒3). 41 I. Albayrak (2004). 42 See C. Michel (2006), 172. An exception is offered by the case of Kunnaniya, an Anatolian woman, who was married to the trader Aššur-mūtappil son of Pūšu-kēn. She manages her husband’s affairs while he travelled to Aššur, and following his death her letters to her sister deal with the financial problems stemming from her abandonment by her in-laws. See C. Michel (1998); C. Michel (2001), 493‒499.
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containing debt notes and purchases. Hardly any documents are known from the Anatolian palaces, however.43 In certain witnessed documents one Assyrian may appear among a group of Anatolian people, and it is usually surmised that this person served as the scribe. Otherwise, it is often impossible to ascertain the ethnicity of the scribes who wrote the documents found in “native” contexts, as “scribal mistakes” are very difficult-to-use indicators of the linguistic backgrounds of individual scribes.44 Nevertheless, it is true that during this period of contact a few Anatolian loanwords entered the Assyrian language; these are usually seen in texts from native contexts.45 Cylinder seals were introduced into Anatolia by Assyrians, where they almost completely replaced the native stamp seals. In terms of glyptic style however, the Classic Old Assyrian style was quickly supplemented with locally-produced seals bearing more abstract Old Assyrian motifs as well as with a radically different local style which included indigenous motifs. Seals featuring these new glyptic styles were used by Anatolians and Assyrians alike.46 An alternative view on the question of Anatolian literacy is expressed by W. Waal (2012) who argues that the Anatolians used their own script, a type of hieroglyphs, throughout the second millennium BCE and into in first millennium, when this script formed the basis for the Luwian royal inscriptions of the Neo-Hittite kingdoms. Traces of this script are found in the Old Assyrian period, and the lack of a substantial text corpus can be explained due to its having been used on perishable materials, most likely on wooden tablets called iṣurtum. Hieroglyphs (or any non-cuneiform scripts) are unsuited to being written on clay tablets, as is clear from the Neo-Assyrian (c. 7th century BCE) clay dockets which bear awkwardly written Aramaic. If it is true that most local administrative documents were written on perishable materials, the absence of administrative documents involving local people is thus explained. (It should also be considered here that the Old Assyrian corpus skews unusually toward the epistolary genre). It is also worthwhile to bear in mind that the recovered documents show that cuneiform script was mastered 43 For Anatolian archives, see C. Michel (2011). The best-known archives come from Peruwa and Šarabunuwa and are published in C. Günbattı (2016). Documents dealing with Anatolian family members in-law were discussed by K. R. Veenhof (1997), 145‒160. For tablets found at the palace mound, see C. Michel (2001), 115‒117. Note the exceptional letter by king Anum-Ḫirbi of Mamma to king Waršamma of Kaneš. 44 See G. Kryszat (2008); A. Kloekhorst (2019), 46‒53. 45 See J. G. Dercksen (2007). 46 M. T. Larsen / A. W. Lassen (2014).
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and used by some members of the local population on a regular basis. This is different from the situation in the Late Babylonian period from which are found some ‘experiments’ in using cuneiform script to write Aramaic (most notably in incantations), although this method never came into regular use.47 Slaves One of the aspects of interaction between the Assyrian and native ethnic groups of Anatolia, one which mostly eludes us, is slavery. Assyrian households employed a number of slaves, whether located in Anatolia or in Aššur. Slaves commonly appear in the inventories of the estates of deceased traders.48 One must distinguish between two main types of slaves; debt slaves and chattel slaves. Debt slavery was in theory a temporary affair, with the possibility of redemption, whereas chattel slaves had forfeited any right to become free persons again.49 The latter category includes individuals born into slavery and those taken as prisoners of war. Usually there is little information regarding chattel slaves within the known documents, although evidence remains of a rather cruel trick that was sometimes deployed by slave traders, namely the sale of debt-slaves in Syria in order to rob them of any practical possibility of being redeemed by their kin.50 At the same time, there are a handful of references to ‘Kilarite’ slaves.51 As no other information on this toponym exists, it was likely located far from Kaneš. The small archive of the native businessman Enišarum52 gives evidence for the common practice of providing loans to the local population, who would be sold into slavery if they defaulted. Assyrians could also become slaves; however, it is unclear how often we find them as chattel slaves in Anatolia.53 It never was an economically profitable measure to turn a merchant with large debts into a slave, as the sale of 47 Pace W. Waal, I would suspect that the hieroglyphic script of this period was used mostly for lists of commodities. Legal documents and epistolary texts are likely to have been written in Akkadian cuneiform, and we do have such tablets pertaining to individuals from the local population. The idea that the local hieroglyphic script was more developed and more widely applied is attractive, however one may still suspect that as it was in its infancy, its application would have been rather ‘clumsy,’ making it unsuitable for long and complicated documents. See M. Geller (1997‒2000) for Aramaic written in cuneiform script. 48 J. J. de Ridder (2017b), 72‒73. 49 See also J. J. de Ridder (2019). 50 K. R. Veenhof (2008b), 18‒21. 51 J. J. de Ridder (2017a), 51. 52 K. R. Veenhof (1978). 53 J. J. de Ridder (2017a), 56‒57.
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his assets would leave large parts of his debts unrecovered. For the local population, information on slavery is more straightforward. B. Kienast (1984) gathered a number of sale documents regarding slaves, usually with Anatolians acting as buyers, sellers and objects of sale. Assyrians could also act as slave buyers or sellers. Conclusion The archives of Kültepe give us a detailed impression of a period of international trade with Assyrian merchants living among the local population. Much information is available regarding contact between the different groups on the official level (i.e., between the palace and the Assyrian colonies) on matters of taxation, as well as on the general conditions of trade. However, our information regarding contacts between Assyrians and members of the local population is of a more limited character. Chronologically, the sources deal with a period of thirty years. While trade continued afterward for almost two centuries, the documents remaining from after this ‘peak’ time are only sporadically published and not available for consultation. Nevertheless, we may observe, that following an initial period of social segregation, intermarriage became more common in the later period, resulting in a population of increasingly mixed ethnicity. The end of record-keeping in Kültepe is the end of our information on this multi-ethnic society. What happened to this population following the end of the Ib-period remains unclear. The houses of level Ib were destroyed by fire, after which a period of new settlement occurred (level Ia), but this was without textual material. Certain Assyrians may have returned to Aššur, but it is likely that the majority integrated without a trace into the local population.
Summary The first considerable amount of philological evidence regarding Assyrian culture consists of large archives from Old Assyrian merchants who had set up enterprises in Anatolia. The documentation stemming from their activities provides us much information on this early period of international trade, which concerned tin, copper, other rare metals, textiles and wool. This paper describes the social interaction and cross-cultural influences shared between the two ethnic groups involved in this early trade.
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Muster von Migrationen in historischen und kulturellen Überlieferungen der äthiopischen Region – eine ethnohistorische Diskussion Wolbert G.C. Smidt, Jena/Mekelle
I. Vorbemerkung In der kulturell orientierten Geschichtsforschung zu Nordostafrika werden oftmals alte Muster internationaler und regionaler Migrationsbeziehungen sichtbar, in historischen Quellen sowie in verschiedenen Formen von Überlieferungen, die sich vielfach auf ältere oder gar antike Migrationserinnerungen beziehen (vor allem in Form von Gründungslegenden und Rechtserzählungen.)1 Vorweg ist zu sagen: Migrationen sollten in der Regel nicht verstanden werden als rein spontane, durch momentane und isolierte Ereignisse ausgelöste und insofern ungeplante, lediglich individuelle, musterlose historische Ereignisse. Migration sollte insbesondere nicht gelöst betrachtet werden von den vielfältigen Formen internationaler bzw. überregionaler Beziehungen, die Migration und Re-Migration erst bedingen und gestalten und auf Handelsbeziehungen, der Suche nach fruchtbaren Landschaften und auch auf Pilger1
Der folgende Aufsatz profitiert von den langjährigen Diskussionen mit Norbert Nebes im Rahmen des Yeha-Projektes, dem ich hiermit sehr für den Austausch konzeptioneller Ideen danke. Da ich zur Zeit des Workshops 2019 auf Feldforschung in Äthiopien war, war eine persönliche Teilnahme daran leider nicht möglich. Zuletzt habe ich einen Teil meiner historischen Beobachtungen auf der Tagung „Migration in a Broader Context — The Horn of Africa and its Asymmetric Global Relations“ an der LudwigMaximilians-Universität (Centre of Advanced Studies / Institut für Ethnologie) vom 19. Juni 2020, organisiert von Magnus Treiber in Zusammenarbeit mit Tricia Hepner, University of Tennessee, USA, und mir, vorgestellt (Vortragstitel: „International Relations of the Horn of Africa between Socio-political Systems of Migration and Cultural Diplomacy in History — Why International Relations are not a Modern and not a European Phenomenon“). Aus diesem Vortrag und der anschließenden Diskussion sind ebenfalls einige Aspekte in diesen Aufsatz eingeflossen. Außerdem fußt der Aufsatz auf zahlreichen eigenen Forschungen zu einzelnen Gruppen, zu denen in der Literatur ansonsten nur verstreute Hinweise existieren, was dazu führt, dass besonders häufig auf eigene Aufsätze zu verweisen ist, da diese oft die letzten Zusammenfassungen des vorhandenen Wissens sind; die Ergebnisse dieser Veröffentlichungen wurden bisher nie in der Gesamtschau im Hinblick auf Migrationen zusammengefasst.
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reisen beruhen. Beispiel Äthiopien: Dieser ursprünglich nur im sogenannten „abessinischen Hochland“ verankerte Staat interagierte bereits früh mit Regionen und teilweise recht alten Staatswesen sowohl des inneren Afrika (z. B. in Richtung der bis zum 19. Jahrhundert unabhängigen Gonga-Reiche wie Kafa,2 in dem zugewanderte Clane aus Äthiopien in die politische Führung integriert wurden) als auch jenseits des Roten Meeres (wie beispielsweise über Fernpilgerreisen zu religiösen Zentren wie Jerusalem oder über Händler- und Soldatenmigration). Gerade der Handel machte in der Regel familiär und kulturell untereinander verbundene Händlergruppen notwendig, die auf über Generationen gepflegte Beziehungsnetzwerke zurückgreifen konnten, nicht bloße vereinzelte, individuell agierende Spezialisten. Damit ist der Handel in älterer Zeit ebenfalls notwendig mit Migration verbunden. In diesem Aufsatz liegt das Augenmerk auf Überlieferungen zu verschiedenen Migrationen in nordäthiopischen Regionen im Sinne von auf eine gewisse Dauer angelegten kleineren oder größeren Bevölkerungsbewegungen, die regelmäßig zu dauerhaften Interaktionen – friedlich ebenso wie konfliktuell – mit Bevölkerungen in einem bestimmten bereits von Siedlungen geprägten Gebiet führt und ein Verhandeln von Ressourcen und sozio-kulturellen Formen der Verbindung notwendig macht. Damit haben wir hier auch schon die Arbeitsdefinition, die die Auswahl von Beispielen in diesem Beitrag leitete. Migrationen in menschenleere Gebiete (die ohnehin in dieser meist dichtbesiedelten Region wenig relevant sind) interessieren in diesem Zusammenhang nicht, da in der Analyse von Migrationen nach den Formen von Interaktion von Gesellschaften und Gruppen gefragt werden soll. Neben größeren Gruppenmigrationen spielten Bewegungen interregionaler Handelsgruppen über mehrere Königreiche des Horns von Afrika und der Anrainer des Roten Meeres hinweg eine große Rolle. Die verschiedenen seit Antike bzw. Mittelalter bestehenden Königreiche der Region waren über gegenseitige Migration, interethnische Beziehungen und Religionszentren miteinander vernetzt, was Wissensaus2
Die in diesem Beitrag verwendete Umschrift beruht auf der im Rahmen des Äthiopien-Engagements des Deutschen Archäologischen Instituts eingeführten vereinfachten, linguistisch aber dennoch exakten Form. Zunächst gilt als verbindlich immer die eigentliche Schreibung bzw. Aussprache eines Topooder Ethnonyms in der Ursprungssprache (daher Kafa statt der in Europa bekannteren Schreibung Kaffa; aber in wenigen Fällen wird die in europäischen Rechtsschreibungen etablierte Form gewählt, wie Mekelle anstatt des richtigen Meqele, oder Massawa anstatt Mɨtsɨwwaʿ; da international eingeführt, wird der Name des Herrschers Menilek II. geschrieben, auch wenn es in tatsächlicher Aussprache und Umschrift Mɨnilɨk II. wäre). Jedes Phonem wird einem Zeichen / Sets von Zeichen zugeordnet, womit diese unterscheidbar bleiben, aber trotz weitgehender Vermeidung von Diakritika Eindeutigkeit ermöglicht (wie beispielsweise tʾ / q / ts / ḥ in tʾabiya, qebele, Gɨbtsi, Yeḥa); die sieben Vokale der äthiosemitischen Sprachen werden entsprechend durch sieben Vokalzeichen dargestellt (e - u - i - a - é - ɨ - o).
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tausch und Handel ermöglichte. Beispielsweise gab es, wie es vor allem zwischen dem ʿAfar-Tiefland und Tigray und in südäthiopischen Regionen zu beobachten ist, gleichnamige Clans, die Beziehungen untereinander pflegten, über ethnische und sprachliche Grenzen hinweg, und so ihre Regionen in Handel und Wissensaustausch miteinander verbinden konnten.3 Jede Region (und im Süden: jedes Königreich) besaß eine gewisse Mischung solcher Clans oder sozialer Gruppen, die für verschiedene Aktivitäten und verschiedene Beziehungen nach außen zuständig waren. Diese Vernetzung ist ein Faktor zum Verständnis alter Migrationen, die in diesem Aufsatz diskutiert werden. Dieses Modell wurde durch moderne Expansion und die politische Zentralisierung von Hegemonie und Macht geschwächt, prägt aber im Hintergrund mittels bewusst weitertradierter Überlieferungen und lokaler Praxis weiter die Region und ihre Beziehungen in entfernte Länder, und ist sogar noch ein Faktor heutiger Migration, in der mehrere Generationen zurückreichende genealogische und Heiratsbeziehungen gezielt für in andere Länder reichende Verbindungen genutzt werden. Prozesse miteinander kommunizierender Gesellschaften sind sicherlich als Bestandteil und Ergebnis langfristiger Entwicklungen und gesellschaftlich gestützter Lernprozesse zu sehen. Neben neuen Modellen und Antworten auf gesellschaftliche Herausforderung wird in jeder bekannten Gesellschaft auf schon praktizierte und auf verschiedensten Wegen überlieferte Modelle, das heißt also auf Denk- und Aktionsgewohnheiten, zurückgegriffen: Da ein Rückgriff auf bereits bekannte, erprobte Modelle den sonst nötigen besonderen diskursiven und kommunikativen Aufwand für Neuerungen unnötig macht, ist die Wahrscheinlichkeit der Übernahme vorgefundener Muster jeweils sehr wahrscheinlich. Auch Neuerungen kommen selbstverständlich vor, doch sollte man die Tendenz zum (oft neu interpretierenden) Zugriff auf Bekanntes als historischen Faktor nicht unterschätzen. Dadurch kommt bei politischen Handlungen von Gesellschaften ein aus ethnohistorischer Sicht überaus bunter Mix verschiedenster Zeitebenen zustande: Neben Ideen des 21. Jahrhunderts werden, üb3
Miteinander über die ethnischen Grenzen hinweg verbundene Clans mussten dabei nicht unbedingt die gleichen Namen haben; vielfach wird aber nur formelhaft auf eine gemeinsame Herkunft verwiesen. Siehe dazu der grundlegende Artikel von G. Schlee (2007), 173–175. Weiteres zu einem Beispiel aus den Gruppen der ʿAfar und Somali siehe weiter unten. – In der laufenden ethnohistorischen Dissertation von Zegeye Woldemariam Ambo zum Königreich Kafa (siehe im Detail dazu unten) geht dieser auch auf die Vielfalt der Clans ein, die teilweise verschiedenen Verantwortungsbereichen zugeteilt sind, wobei diese Clans wiederum mit Clans in Nachbarregionen zusammenhängen. Ein Beispiel dafür ist der „Königsclan“ Bushasho, der aus Kafa nach Anfillo / Fillawi (und gleichermaßen in andere politisch alliierte Gebiete) migriert war und dort die Herrschaft übernahm; W. Smidt (2003d), 262–264 (vgl. dazu die ersten Berichte aus der Region: A. Cecchi (1888), 485ff.; F. Bieber (1920), 69. 128. 149. 153. 158).
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rigens egal in welcher Gesellschaft, ältere Gewohnheiten weiterpraktiziert, was dann in ganz verschiedene Zeitalter zurückreichen kann, solange eine Gesellschaft keine vollständige Disruption des gesamten sozialen Gedächtnisses erleidet. Im besonderen Fall Nordostafrikas kommt insbesondere bei den seit mindestens dem 2. Jahrtausend v. Chr. landwirtschaftlich geprägten Hochlandbevölkerungen die Tendenz einer hochgradigen Konservativität in Bezug auf kulturelle und soziopolitische Traditionen hinzu. Diese Konservativität der Überlieferung, die Gegenstand laufender Forschungen ist, führt zu regelrechten „Erinnerungslandschaften“, in der historische Überlieferungen unter den verschiedenen bäuerlichen Siedlergruppen die wichtige Funktion der Identitätsdefinition in Verbindung mit rechtlich gefasstem historisch begründeten Landeigentum übernimmt – was der Grund für die starke Bewahrungstendenz vieler Gruppen in der Region ist. Dazu wird in den folgenden Abschnitten zum „ethnohistorischen Blick“ mehr ausgeführt.4 Im Rahmen des langfristigen Engagements der FSU Jena in Kooperation mit dem Deutschen Archäologischen Institut in der Erforschung antiker Gesellschaften rund um das Rote Meer sollen nicht nur frühe Gemeinwesen und Kulturen besser zugänglich gemacht werden, sondern es sollen auch langfristige Entwicklungen von Gesellschaften über die Dokumentation ihrer Überlieferungen und Kulturpraxis verständlicher gemacht werden. Diesem Ziel dienen die in diesem Artikel zusammengetragenen Fallbeispiele. Diese sollen dabei helfen, Modelle zu liefern, wie Migrationen in der Region verstanden werden können, aber sie zeigen auch auf, dass hier noch ein enormer Forschungsbedarf besteht und wir vielfach noch am Anfang der Forschungen stehen. Dieser Beitrag zielt daher nicht auf die Vorstellung eines endgültigen, autoritativen Modells, sondern auf eine erste Erfassung und Beschreibung von Grundmustern, um so Instrumente in die Hand zu bekommen, um erste Hypothesen über frühere Migrationen in vergleichbaren Landschaften anzudenken.
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Zum Konzept der Erinnerungslandschaften, in denen Überlieferungen und ritualisierte Praxis über lange Zeit konservativ erhalten bleiben: W. Smidt (2011b), 35–63. – In einer anderen Region hat Dirk Bustorf grundlegende Arbeiten vorgelegt zur mündlichen Überlieferung der Siltʾé, die ebenfalls ihre Erinnerungen in „die Landschaft einschreiben“, wie man es nennen könnte: D. Bustorf (2011).
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II. Der ethnohistorische Blick auf das Thema In ethnohistorischen Forschungen stehen nicht nur primäre schriftliche Geschichtsquellen im Fokus der Aufmerksamkeit, sondern auch kulturelle Praktiken, von denen einige auf alte Vorbilder zurückgehen. Dazu gehören auch Narrativen über die Vergangenheit – mit denen nicht unbedingt ein konkretes historisches Ereignis eingefangen werden kann, allerdings sehr wohl historisch verankerte Denk- und Erklärungsweisen. Das macht diese Narrativen zu zentralen kulturwissenschaftlichen Quellen, aber zusätzlich oft auch zu Hilfsquellen für historische Forschung, da einige Elemente – sowohl formal als auch inhaltlich – auf historische Ereignisse und Praktiken zurückgehen. Entscheidend bei in lokalen Bevölkerungen verbreiteter historischer Überlieferung ist die Tatsache, dass es sich in der großen Mehrheit nicht um willkürliche, individuell erfundene Geschichtsmärchen handelt, sondern um Narrativen zur Bewahrung der historischen Selbstvorstellungen der ruralen Gesellschaft, von alten Landrechten bis hin zu Statusfragen von Bevölkerungsgruppen. Es besteht in diesen traditionelleren Kontexten eine Nachfrage nach einem von lokalen Kulturspezialisten kontrollierten mündlichen Wissensdepositum, bei dem jede kreative Erfindung als fehlerhaft, manipulativ und lügnerisch wahrgenommen wird, oder im besten Fall als stümperhaft. Im Gegensatz dazu gibt es im modernen städtischen Kontext und in Tourismuszentren immer häufiger kreative Narrationskunst ohne echte Rückgriffe auf einen strikt kontrollierten Kanon von Überlieferungen, was kulturwissenschaftlich ebenfalls interessant ist, im Rahmen von an älteren Traditionen interessierter ethnohistorischer Forschung aber weniger berücksichtigt wird (die Nachfrage in den modernen von politischen Debatten und deren hochgradigen Manipulationsbedürfnissen geprägten Städten bzw. im Kontext des modernen Tourismus ist eine andere, Erfindungsgabe wird anders als in früheren Perioden wirtschaftlich oder/und politisch belohnt, da sowohl im Interesse politischer Einzelgruppen, die von historischer Erfindung leben, als auch im Interesse zahlender Touristen). Die Beobachtung der in meist ruralem Kontext oft auftauchenden Kritik an besonders „gut“ erzählten Geschichten der Überlieferung ist gerade im Sinne des letzten Punktes von großer Bedeutung. Wer kreativ und spannend formuliert, mag vielleicht kurzfristig ein jüngeres Publikum fesseln, wird aber in der Gruppe der um die korrekte kulturelle Überlieferung besorgten „Kulturspezialisten“ einer jeweiligen Teilregion nach einer gewissen Zeit massive Kritik erfahren. Er (oder sie) wird dann in der Regel nicht beigezogen bei Diskussionen um lokale Rechtsfragen, zur Klärung
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von Fragen historischen Landbesitzes, genealogischer Fragen oder Fragen der lokalen Kultur. Seine „Kreativität“, die im modern-urbanen Bereich für Touristen und eine erwachende Literaturindustrie von großem Interesse wäre, wird als charakterlicher Mangel erscheinen. Diese Beobachtung am Beispiel der gesungenen Überlieferungen kuschitisch-sprachiger Gesellschaften in Nordostafrika hat vor einigen Jahren zu einer – allerdings unveröffentlichten – massiven wissenschaftlichen Kontroverse um den französischen Linguisten und Ethnohistoriker Didier Morin geführt, die allerdings sehr wichtig ist zum Verständnis eines ethnohistorisch bedeutsamen Phänomens. Auf diese sei deshalb hier zu Beginn verwiesen, da sie auf einen ganz typischen Aspekt des ruralen Erzählens von Überlieferungen, von Rechtsgeschichten bis hin zu historischen Gesängen und Genealogien, verweist, der auch im nordäthiopischen Hochland unter Tɨgrɨñña-Sprechern ähnlich zu beobachten ist. Morin berichtete aus seinen sehr detaillierten Feldforschungen zur oralen Poesie der ʿAfar und benachbarter kuschitisch-sprachiger Gruppen wie den Saho im TɨgrɨññaGrenzgebiet. Sein bedeutendstes Werk ist seine Diskussion der traditionellen Poetik dieser Gruppen, ergänzt um die Edition der sehr reichhaltige Sammlung von Gesängen eines modernen ʿAfar-Poeten.5 Morin stieß auf die wiederholten Aussagen von traditionellen ʿAfar-„Kulturexperten“, dass dieser oder jener moderne Poet ein „Lügner“ sei, die Lieder völlig falsch sänge, Geschichten erzähle, die nicht „wahr“ sind, und dass solche Poeten lokale Diskussionen auslösten. Er beobachtete dies besonders in Djibouti, das modernen Einflüssen wie europäischer Literatur und französischer Schulbildung stärker ausgesetzt ist. Morin spitzte diese Beobachtung so zu, dass die Kulturtradition kuschitisch-sprachiger Völker eine in der europäischen Tradition als positive Kreativität wahrgenommene individuelle Erfindungskunst nicht akzeptabel war, kurz: eine solche Kreativität im europäischen Sinne werde abgelehnt. Diese „Kreativität“ ist nämlich offenbar ein Zeichen der Unfähigkeit oder Unwilligkeit, kulturelle Traditionen und deren erzählten Inhalte getreu wiederzugeben. Das führte zu teilweise empörten Entgegnungen während der „International Conference of Ethiopian Studies“ in Addis Abeba 2000, er wolle also den Nordostafrikanern die Fähigkeit zur Kreativität, vom Romanschreiben bis hin zu neuer Musik, absprechen. Morin al5
Morins hier vorgestellte Analyse steht im Zentrum seines Werkes zur „Legitimität“ oraler Texte in der Tradition der Afar: D. Morin (1999). Seine wichtigsten Sammlungen von ʿAfar-Poesie sind: D. Morin (1997); D. Morin (1995); D. Morin (1991). – Vgl. die exzellente Übersicht zu Morins Werk, in der aber auf die Kontroverse nicht eingegangen wird: G. Banti (2017), 245–255, hier besonders 247 („He argues convincingly that major genres of poetry in the four Cushitic communities that he studies form a sort of discours tendu, where public discourse is the object of political control“).
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lerdings beschrieb in Wirklichkeit andere Räume der Kreativität, da die Überlieferung immer auch Spielräume der Interpretation eröffnete – ein besonders vokabelreicher, stimmlich gut ausgeführter Vortrag, der als besonders getreue Wiedergabe der Tradition wahrgenommen werden konnte, ebenso wie die Auswahl und Modulierung der Themen, machte Kreativität durchaus notwendig. Allerdings stand nach Morin im Zentrum des Vortrags eine sprachlich, inhaltlich und poetologisch möglichst konservative „kopierende“ Wiedergabe alter Vorlagen. Kreativität ist wiederum in anderen Bereichen, die die Bewahrung der Tradition nicht betreffen, ein ganz wichtiger Bestandteil lokaler Kultur. Auf die von Morin beobachtete Trennung der Überlieferungsbewahrung von erfindungsreicher Kreativität in anderen Bereichen kam es aber an, was die Kontroverse eigentlich unnötig machte – was die Diskutanten allerdings nicht bemerkten: Das „Verbot“ der Kreativität war erstens nicht allumfassend und zweitens bezog es sich nur auf bestimmte Bereiche der Überlieferung, während spielerischer Umgang im „Scherzbereich“ der Kultur, wozu z. B. Freundesbeziehungen gehören, nicht nur toleriert wird, sondern ganz notwendig ist. Nicht die Kultur ist „unkreativ“, aber das von einem modern und literarisch gebildeten Publikum erwartete Sprudeln des Kreativen – nämlich im Erzählen und Singen alter Überlieferungen – wurde an falscher Stelle gesucht. Die Diskussion dieser damals ungelösten Kontroverse führt direkt in eines der auch methodisch wichtigen Aspekte, mit der die Ethnohistorie arbeitet: Es gibt Bereiche des kulturell geprägten mündlichen Überlieferns, die zahlreichen gesellschaftlichen Kontrollmechanismen unterliegen, während in anderen eine Mischung aus Vermuten, Fabulieren, Scherzen, fehlerhafter Erinnerung und neuen Ideen nicht nur toleriert wird, sondern sogar eine willkommene Beigabe sind – wie Abendplaudereien in Freundesgruppen, auf zweiten und dritten Tagen von Hochzeiten, oder Jahresfesten oder Graduierungsfeiern. Eine rezente Beigabe sind Abende mit Touristen, die verkürzt erzählte Überlieferungen hören wollen: Diese werden ihnen von jungen meist modern städtisch geprägten Guides erzählt, die in der Regel keinerlei „traditionelle Ausbildung“ in diesen Überlieferungen besitzen, das heißt nur selten über Jahre von den Ältesten ihres Herkunftsdorfes in diese eingeführt worden waren. Meist sind diese beiden Bereiche deutlich trennbar. Meist hilft auch die lokale Nachfrage bei „Kulturspezialisten“, die, sofern überhaupt noch vorhanden, meist deutlich zwischen einer quasi ritualisiert erzählten Überlieferung und ungenauer moderner Fabuliererei unterscheiden. Der Unterschied ist auch
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recht leicht an Situationen erkennbar, die jeweils verschiedene Register des Sprechen verlangen. Dies bedeutet, dass ein und die selbe Person je nach Situation (und damit nach einer Art unausgesprochener Erzählvorgabe) ganz Unterschiedliches erzählen kann. Daraus ergeben sich methodische Regeln, aber auch Herausforderungen, die hier mit diesem Beispiel angedeutet werden sollen, aber nicht im Detail ausgeführt werden können. Sie verdienen eine längere systematische Abhandlung, für die hier nicht der Ort ist. Allerdings sind diese Ausführungen notwendig, um zu zeigen, dass Überlieferungen zu Migrationen oft wichtige Informationen zur Selbstdefinition einer spezifischen Gruppe oder Gesellschaft bewahren und daher ein älteres Wissen enthalten. Das ist es, worauf es an dieser Stelle ankommt.
III. Fallstudien zu Mustern der Migration
In den folgenden Passagen werden nun Beispiele von Migrationen und verschiedene Muster von Migrationen erläutert, die in der jeweiligen lokalen Tradition erinnert werden und zum Teil auch aus anderen Quellen bekannt und teilweise verifizierbar bzw. rekonstruierbar sind. Dabei kommt es im Zusammenhang dieses Aufsatzes nicht primär (nur: auch!) auf das exakte historische Detail an, obwohl dieses von Bedeutung ist, sondern um das jeweils durch die Überlieferung bekannte, also erinnerte Modell der Migration. Gerade dadurch wird klar, welche „Modelle“ gemäß der Erinnerung in der Gesellschaft zur Verfügung stehen. Obwohl die historischen Fakten oft gut einzuordnen sind (wie im Fall der osmanischen Militärsiedlungen im nördlichen Grenzgebiet des historischen äthiopischen Staates), ist ein Zweck der Analyse gerade auch die der Rekonstruktion lokaler Erinnerung: Die Art der Erinnerung und deren Inhalt ist selbst eine wichtige Quelle, die zeigt, wie Gesellschaft von Migration sprachen und sprechen, wie sie diese einordnen und wie sie somit Modelle liefern für tatsächlich ablaufende Migrationen, die automatisch auf vorhandene Denkmodelle zugreifen werden. Dies ermöglicht auch – mit aller Vorsicht – einen Blick zurück in eine entferntere Vergangenheit, die durch Überlieferung und historische Forschung nur teilweise nachvollziehbar ist. Denn in den Überlieferungen werden verschiedene Grundmodelle des Migrierens, und das heißt der Interaktion verschiedener Gesellschaftsgruppen untereinander, immer wieder erzählt, die einen gewissen Set an Handelsmodellen bilden, der in den alten Gesellschaften vorhanden ist bzw. war.
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Niemals ist dabei natürlich wie oben bereits gesagt das Hinzukommen neuer Modelle des Handelns auszuschließen, insbesondere bei massiven internationalen Machtverschiebungen und ökologischem bzw. ökonomischem Wandel, was einen zur Vorsicht anmahnen muss bei der zu direkten Anwendung der überlieferten Beispiele auf analoge Situationen. Dennoch: Wenn ein bestimmtes Migrationsmodell in Jahrhunderte zurückreichender Überlieferung und Praxis nachweisbar ist, bleibt das ein interessantes, als Grundlage für weitere Forschung nützliches Faktum. Es bietet eine Interpretationshilfe, um überhaupt erst Arbeitshypothesen über Migrationen in älterer Zeit formulieren zu können. Die diesem Aufsatz zugrundeliegende Formel lautet kurz: Gesellschaften rekurrieren auf Sets von „Templates“, Handlungsmustern, für gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse, was auch die Organisation von Migration und Interaktion von verschiedenen Gruppen umfasst. Das ist der Grund, warum Muster der Migration sich in verschiedenen historischen Perioden wiederholen können und sich dann auch aufeinander beziehen. III. (A) Übersicht: Typische Fälle von Migration in nordostafrikanischen Gesellschaften In vorherrschenden Diskursen in der äthiopischen Historiographie und öffentlicher Publizistik – ähnlich wie in Europa – wird viel von Massenmigrationen, Unterwerfung, kultureller Verdrängung und Fremdheit migrierter Gruppen gesprochen. Dies ähnelt also frappant modernen Diskursen zu Migration in Europa und hat auch ähnliche Gründe: Angesichts von Ängsten in Bezug auf Schwächen und Bedrohungen der eigenen Gesellschaft wird die historische Erinnerung (und zum Teil die historische Erfindung) solcher Ereignisse ins Zentrum gerückt. Ein besonders bekanntes Beispiel im äthiopischen Kontext ist die sogenannte „Oromo-Migration“, die, da stark politisiert und auch noch nicht befriedigend erforscht, hier nicht im Detail abgehandelt wird.6 Nur folgendes sei zum Hintergrund gesagt: Diese Episode spielte im 16. Jahrhundert, die von großen zwischenstaatlichen Konflikten – Hauptakteure waren der christliche Staat Äthiopien im Hochland (Ityopʾya) und das expandierende muslimische Sultanat von Adal – geprägt waren, gefolgt von Bevölkerungsbewegungen, Machtverschiebungen und regionalen Konflikten. In jener Zeit verloren Gebiete vor allem 6
Vgl. zur Diskussion zur Geschichte der Oromo-Migration, die von ihm als „population movement“ und „Oromo expansion“ bezeichnet wird (mit Karte): Ezekiel Gebissa (2010), 61–64.
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im Süden, die bis dahin in einem Vasallenstatus mit Äthiopien verbunden waren oder als Gouvernorate zum äthiopischen Staat gehörten, ihre Anbindung an den Staat. Aufgrund des teilweisen Zusammenbruchs des äthiopischen Staates wurden sie mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich politisch neu zu sortieren. In der selben Zeit gab es weitgreifende Bewegungen von stark militärisch, unter autonomen quasi-demokratischen Führerschaften organisierten Oromo-Gruppen entlang der alten Routen in landwirtschaftlich und wirtschaftlich interessante Gebiete. Dies wurde begleitet von kriegerischen Zusammenstößen, aber auch neuen Bündnissen und vielfach einfach friedlichen Neuansiedlungen in Kooperation mit lokalen Bevölkerungen mit dem Ergebnis des Wechsels ethnischer Identitäten. Es fand somit, kurz gesagt, in Teilgebieten eine starke Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung statt, in anderen wechselte aber vor allem die Dominanz: Lokale Gruppen wurden „adoptiert“, mit der Folge bis heute andauernder Prozesse eines vorwiegend friedlichen bzw. jeweils nur kurzzeitig konfliktuellen Wechsels ethnischer Identitäten.7 In der äthiopischen Geschichtsschreibung – aus Staatsperspektive – wird dies bis heute als eine umfassende, kriegerische Migration dargestellt. In der OromoGeschichtsschreibung wird dagegen die historische Präsenz lokaler Oromo-Gruppen und (wohl verbündeter) kuschitischer Gruppen in den betreffenden Regionen betont. Wahrscheinlich kommen beide Perspektiven in Kombination der historischen Wahrheit näher, denn Detailforschungen zeigen deutlich, dass es auch in der Periode Bewegungen vieler Gruppen oft nicht-kriegerischer Art gab, Kooperationen und Integration von Gruppen in die jeweils andere, manchmal über Generationen hinweg mit mehreren sprachlichen und ethnischen Wechseln, wie es bei den oben bereits erwähnten Anfillo der Fall ist.8 Vor allem die Idee einer massenhaften, ethnisch einheitlichen, unterwerfenden Migration kriegerischer Gruppen ist somit nicht haltbar, während es keinen Zweifel am schnellen Umbau politischer Allianzen und von demographischen Verhältnissen gibt, die aber je nach Teilregion ganz verschiedenen Modellen folgten. 7
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Vgl. zum Vorgang der „Adoption“ (guddifachaa und moggaasa) von Gruppen in die OromoGesellschaft: G. Gragg (1982), 184; H. Blackhurst (2010), 982–983. – Im Detail zur soziopolitischen Wirkung des guddifachaa, zum Beispiel durch die integrativ wirkenden Erfindung einer gemeinsamen Herkunft der adoptierten und adoptierenden Gruppen: W. Smidt (2005b), 741–745; Bekele Nadi (1958), 83–91. Die ursprünglich wohl auf einer nilo-saharanisch geprägten Gesellschaft aufbauenden omotisch sprechenden Anfillo befinden sich aufgrund ihrer engen Bündnisse mit der ihre Region seit dem 19. Jahrhundert dominierenden Oromo inzwischen in einem Identitätswechsel mit der Folge des schnellen Aussterbens der Anfillo-Sprache; vgl. Moges Yigezu (1995), 67–95.
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Diese kurze Darstellung soll auf die Notwendigkeit verweisen, etwas genauer, in jeweils lokalen Kontexten, die Vielfalt dieser Modelle zu betrachten und Migration eher als einen vagen Oberbegriff anzusehen, mit denen die politische, ökonomische und kulturelle Interaktion sich bewegender großer und kleinerer Gruppen nur unzulänglich beschrieben wird. Vor allem das Modell einer plötzlichen und vollständigen Übernahme ganzer Gebiete durch eine neue Gruppe ist in der Gesamtschau besonders selten und im Detail aufgrund der auch dann stattfindenden Interaktion und gegenseitigen Integration und Kooperation verschiedener Gruppen nicht einmal haltbar. Aus historischen und ethnohistorischen Forschungen sind (die Liste ist nicht abschließend) die folgenden Kategorien – mit diversen Untergliederungen – fassbar. Dabei wird aus der Fülle der Empirie vor allem Material herangezogen, das aus eigenen Feldforschungen und Archivstudien stammt bzw. aus solchen, an denen ich über Forschungszusammenarbeit beteiligt war – auch das ergibt bereits einen großen Detailreichtum, ein Chaos der höchst diversen Fälle, aus dem sich allerdings erste Folgerungen und Arbeitshypothesen ableiten lassen. Vorgestellt werden Fälle aus den Jahrhunderten ab der Zeit, die der in der europäischen Historiographie „Hochmittelalter“ genannten Periode entspricht, bis zum Beginn der äthiopischen Moderne, der Expansion des alten äthiopischen Staates in afrikanische Nachbarstaaten und gebiete im späten 19. Jahrhundert. Es existieren in den Überlieferungen außerdem in wesentlich frühere, sogar antike, Zeiträume zurückreichende Erinnerungen, die oft schematischer sind und darum weniger Details zum Ablauf und zur Organisation von Migrationen bieten. Diese bilden eine besondere Gruppe der mündlichen Überlieferungen und sind aufgrund eigener methodologischer Herausforderungen und anderer Sets von Quellen gesondert zu behandeln, was bereits mehrfach in Konferenzen vorgestellt wurde.9 Auf der Grundlage der gesammelten Beispiele folgt eine systematische Übersicht nach sechs Fallgruppen verschiedener Migrationsformen, teilweise – wo besonders aussagekräftig – aufgliedert in weitere Unterfälle. Dabei bleibt festzuhalten, wie oben schon unterstrichen, dass dies eine vorläufige Bestandsaufnahme auf der Grundlage der gesammelten Fälle ist und eine andere Aufgliederung möglich bleibt sowie insbesondere eine Erweiterung der Liste.
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Vgl. der noch unveröffentlichte Vortrag W. Smidt (2014a).
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(1) Staatlich organisierte Migration kleinerer, geschlossener Gruppen: In den ethnohistorisch erfassbaren Überlieferungen des äthiopischen Hochlandes und direkter Nachbargebiete kommen regelmäßig verschiedene Formen einer von Staaten bzw. Feudalführern alter Staatswesen organisierten Migration vor, wie (a) die Ansiedlung von Soldatengruppen in Grenzgebieten, verbunden mit eigenen Landrechten, wobei Heiraten mit Nachbargruppen über Generationen hinweg zu deren sprachlichen, aber nicht unbedingt sozio-politischen Assimilation führte, wie es der Fall war bei der Ansiedlung von Oromo-Soldaten im von Ägypten angegriffenen und beanspruchten Grenzgebiet des eritreischen Hochlandes im damals von Tigray abhängigen Akkele-Guzay in den 1870er Jahren10 (vgl. auch der Fall der assimilierten osmanischen Gruppe der ʿAd Bushnaq an der eritreischen Küste, deren Fall weiter unten behandelt wird), oder (b) wie die Verdrängung, Vertreibung und staatlich organisierten Neuansiedlung unterworfener Gruppen im Zuge von Konflikten. Es scheint, wie dies bereits in aksumitischen Inschriften erwähnt wurde,11 dass in mehreren historischen Perioden die Verschleppung und Ansiedlung unterworfener Bevölkerungen als ein besonderes Königsprivileg galt, mit dem – aufgrund erfolgreicher Gewalt – die Legitimität von Machtausübung hergestellt wurde. Der Aspekt der Legitimität wird im Fall der erwähnten Inschriften dadurch besonders sichtbar, dass die betroffenen Gruppen nach erfolgreicher Unterwerfung und Massentötungen durch Lebensmittel versorgt werden und damit der Fürsorge des Königs unterstellt wurden, was als ein auf Legitimität abstellendes Herrschaftshandeln zu lesen ist. Dabei sind sowohl die exzessive Gewalt wie die folgende Versorgung Instrumente der Herstellung von Legitimität. (c) Eine Umkehrung des letzteren Falls ist die Migration von neu eingesetzten Fürsten zusammen mit loyalen Gefolgsleuten in ein neu eingerichtetes Gouvernorat, was neue Opportunitäten eröffnet und darum Migration befördert. Auch hier findet eine Neuansiedlung statt. Dazu gehört beispielsweise die aus der eritreischen mündli10 Vgl. zu dieser bisher nicht erforschten Oromo-Ansiedlung an nördlichen Gebieten der Provinz AkkeleGuzay im eritreischen Hochland im weiteren Umland von Deqqemḥare-Ɨggela: W. Smidt (2003c), 166– 168. 11 Inschriften nennen z. B. die Unterwerfung, Verschleppung und Neuansiedlung der „Bega“ (= Beja) durch aksumitische Könige in der Spätantike, s. G. Fiaccadori (2007), 1010–1012 (Auszug aus der griechischen Inschrift in neuerer Übersetzung: „Having subdued Atalmô and Begá, and all the tribes of the Tangaïtai with [i.e. allied to] them, who dwell as far as [méchri] the bounds of Egypt, I had them walk on the road [leading] from the territories of my kingdom as far as [méchri] Egypt)“); vgl. die ältere Übersetzung des Monumentum Adulitanum in: W. Wolska-Conus (1968). Vgl. die Kampagne des späteren aksumitischen Königs ʿEzana gegen die ”Bega”, der diese gewaltsam umsiedelte: S. Uhlig (2001), 7–31; zur Lokalisierung der Umsiedlung einer Gruppe der Beja siehe die wichtige Studie M. Rodinson
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chen Überlieferung bekannte Ankunft zahlreicher Bauernsiedler aus der tigrayischen Provinz Tembén in Ḥamasén im heutigen Eritrea in den 1880er Jahren. Diese siedelten dort zusammen mit dem aus Tembén stammenden eingesetzten Gouverneur des neu unterworfenen Ḥamasén, ras Alula Qubbi, Schwager des äthiopischen Herrschers atsé Yohannes IV.: Im Zuge der Etablierung seiner Herrschaft in diesem bisher unter einer eigenen autonomen Dynastie stehenden Gebiet verteilte ras Alula einige der Landrechte neu und siedelte ihm loyale Siedler insbesondere aus seiner Heimatregion Tembén an, sowie Muslime, die für die Stützung seiner Herrschaft durch Stärkung des Handels wichtig waren,12 Deshalb ist ein Teil der eritreischen Hochlandbevölkerung gerade im Bereich der Hauptstadt Asmera heute tigrayischer Herkunft. Diese sind aber – trotz der allgemeinen Auffassung der Landaneignung dieser Siedler als willkürlich und illegal aus Sicht des lokalen Landrechts – letztlich in der eritreischen Bevölkerung aufgegangen, da zwischen ihnen nach wenigen Generationen des Ererbens von Land nach den selben Regeln wie die umliegende Bevölkerung keine soziopolitischen Unterschiede mehr gibt.13 (2) Interaktion benachbarter Gruppen durch Schaffung von Beziehungen über Grenzen hinweg: Einige besondere Fälle von Migration sind verbunden mit Bündnissen und der Organisation von Interaktion zwischen benachbarten staatlichen bzw. politischen Führungen. (a) Belegt ist beispielsweise der Fall der gegenseitigen Widmung von Landrechten durch Fürsten bzw. benachbarte Mächte, verbunden mit dem Recht der Ansiedlung von Vertretern des jeweiligen Nachbargebietes – ein interessanter Fall eines lokalen Diplomatie-Instruments der Exterritorialität, die Handel und Kommunikati(1981), 97–116, hier 105ff. (er verweist auf die noch belegbare Untergruppe der Beja, die Miccʾ, deren Name mit den „Matlia“ der griechischen Inschrift zusammenzubringen und deren Name in einer Region im eritreischen Hochland, also dem wahrscheinlichen antiken Umsiedlungsgebiet, erhalten ist). 12 Vgl. H. Erlich (2003), 211–213 („He terminated the local autonomy of leading families in Säraye and Akkälä Guzay and especially Ḥamasen, …He then, in 1884, moved his headquarters to the little village of Asmära at the border of the highlands, establishing it as his capital. He went on administering the Märäb Mällaš, centralizing its economy and developing its commerce, also with the help of local Muslims.“) - Siehe auch H. Erlich (1983). 13 Dazu gehört auch der derzeitige eritreische Präsident Isayas Afewerqi, dessen Vater Afewerqi Abreham Sohn eines aus Tembén stammenden Einwanderers war, der in italienischen Kolonialdiensten gestanden hatte (diese Herkunft war wiederholt Thema inner-eritreischer Debatten seit den 1990er Jahren; genealogische Beziehungen dieser Art werden wiederum auch von Mitgliedern des weiteren Familiennetzwerkes des Präsidenten oral überliefert; vgl. Interviews in Yeḥa 2011 mit Vertretern des Verwandtschaftsnetzwerkes der „Medhɨn Berad“, der Großmutter des Präsidenten, die ebenfalls aus Tigray stammte, in diesem Fall aus Yeḥa).
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on sichert (ein solcher Fall in der Region des alten Hauptortes Asmera, die rechtlich gesehen im Grenzgebiet der von den Osmanen abhängigen Küstengebiete lag, wird unten vorgestellt). Ein Sonderfall hiervon ist die Schaffung von sich gegenseitig gewährten Doppelexklaven in Grenzgebieten, in der eine Bevölkerung lokal autonom ist, sich aus Migranten aus größeren Nachbargebieten zusammensetzt, und gleichzeitig mehreren Nachbarn tributär ist und im Gegenzug lokal autonom bleibt. Das typischste Beispiel hierfür ist der im Lauf des 19. Jahrhunderts mehrfach umstrittene Grenzort Metemma und die dazugehörige Gallabat-Region (Sultanat Qallabat), heute direkt an der äthiopisch-sudanesischen Grenze gelegen. In den Quellen des 19. Jahrhunderts und in lokaler Überlieferung ist es fassbar als autonomes Gebiet, das in den 1860er Jahren gleichzeitig zum (ägyptischen) Sudan gehörte und dem äthiopischen König gegenüber tributär war. Die Bevölkerung setzte sich seit dem frühen 19. Jahrhundert aus der lokalen Gumuz-Bevölkerung zusammen, die ursprünglich gegenüber dem sudanesischen Funj-Staat tributär war, aus dem äthiopischen Hochland migrierten amharisch-sprachigen Händlern, und – politisch und ökonomisch dominierend – aus sudanesischen Staaten zugewanderten Gruppen.14 Letztere gründeten diese Exklave und sicherten deren Autonomie durch Tributsverpflichtungen an die jeweiligen Nachbarn. Damit gab es einerseits überlappende Territorialansprüche, die aber andererseits zeitweise in eine produktive Lösung überführt wurden. Trotz wechselnder Konflikte und Besatzungen, gelang die Bildung eines auf Migrationen und überlappenden Verbindungen in Nachbargebiete beruhenden autonomen Gemeinwesens, das seinen Scheikh in Ältesten-Versammlungen selbst wählte und insbesondere auf der sudanesischen Seite bis weit in die britische Kolonialzeit hinein einen gesonderten ethnischen – und damit politischen – Status bewahren konnte.15 (b) Für das Verständnis alter nordostafrikanischer Gesellschaften noch wesentlich potentialreicher wird wahrscheinlich die vertiefte Erforschung von Clanstrukturen alter Politien in der Region sein: In der Ethnologie sind vielfach die eingangs schon genannten „interethnischen Clanbeziehungen“ beschrieben, die gerade in Regionen mit wenig dominanten staatlichen Strukturen die Beziehungen zwischen Nachbargruppen unterstützen. Dabei leiten sich, wie bei den ʿAfar und Somali, über Migrationen verbundene Clans in benachbarten Gesellschaften auf 14 Dies waren zunächst die nubischen Jaʿaliyyin aus al-Matamma nahe dem Königssitz Shendi; später übernahmen aus Dar Fur migrierten Gruppen die politische Führung, die sogenannten „Takruri“ (vor allem Furi, aber auch Migranten aus Bornu und dem Sultanat Wadai). 15 A. Robinson (1926/27), 47–53; zu Qallābāt W. Smidt (2010a), 253f.
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gemeinsame Vorfahren zurück, mit der Folge, dass die jeweiligen, sich als „Brüder“ empfindenden, Clanangehörigen sowohl in Friedens- als auch Konfliktzeiten eine starke Rolle beim Aufrechterhalten von Verbindungen spielen können.16 Dieses System scheint sogar beim Aufbau mehrerer kleiner nordostafrikanischer Staaten eine Rolle gespielt zu haben: Das omotische Königreich von Dawuro, im Gebiet mehrerer größerer und kleinerer Gonga-Reiche, die im späten 19. Jahrhundert von Äthiopien erobert worden waren, kennt beispielsweise zahlreiche Clan-Namen, die Verbindungen in kuschitische, omotische und äthio-semitische Nachbarregionen aufweisen. Darunter sind die Tigriya (nach eigener Überlieferung aus Tigray, was etwa dem heutigen zentralen Tigray entspricht17 ), die Gafatiya (aus dem kuschitischen Gemeinwesen von Gafat im heutigen westlichen Amhara, das in Abhängigkeit vom äthiopischen Reich stand) und die Angotiya (benannt nach einem mittelalterlichen Gemeinwesen ʿAngot innerhalb des heutigen Tigray), sowie im benachbarten und mit Dawuro wiederholt eng verbundenen Staat von Kafa Handelsclans muslimischer Herkunft, die Nagadoo.18 Diese unterhielten Verbindungen in den Norden, nach dem Stand der bisherigen Forschungen vor allem im Bereich von Handel, religiösem Austausch bzw. Informationsaustausch und Heiratsbeziehungen; ökonomisch ähnelten sie sich alle, da sie landbesitzende Bauern waren und bis heute sind.19 Dawuro war einerseits von einer Vielzahl von Clans mit verschiedenen Migrationsüberliefe16 Dem aus dem äthiopischen Regionalstaat ʿAfar stammenden politische Analysten Yasin Mohammed Yasin verdanke ich den Hinweis auf eine besondere Wirkungskraft solcher historischen Überlieferung von aus Migrationen resultierenden gemeinsamen Clanherkünften unter den Somali und ʿAfar. Da ʿAfar- und Somali-Gruppen vielfach in massive bewaffnete Konflikte verwickelt sind, können solche Beziehungen zeitweise nutzbar gemacht werden – ein ʿAfar aus dem selben Clan wie der entsprechende Clan der Somali wird von letzteren nicht angegriffen werden und kann darum unterhandeln. 17 Dieser Clan entspricht zahlreichen Clans ähnlicher Namen im benachbarten Reich von Kafa und anderen Gebieten des Südens des heutigen Äthiopien (freundliche Auskunft von Admasu Abebe). 18 Die Nagadoo waren einer der zahlreichen Clans der Kaficho-Bevölkerung, deren Name abgeleitet ist vom äthiosemitischen Begriff nigdi (Handel) / neggadi (Händler). Der Clan leitet sich aus migrierten muslimischen Händlern im Norden (Tigray) her, war also verbunden mit Gruppen, die die Fernhandelswege zum Roten Meer bedienten. Diese waren eine der Gruppen, die den Handelskontakt von außen mit dem ansonsten starken Grenz- und Abschottungsregelungen unterworfenen Kafa aufrechterhielten. Vgl. die in Arbeit befindliche PhD-Dissertation Zegeye Woldemariam Ambo (2022); Zegeye Woldemariam Ambo (in Vorbereitung). – Shiferaw Bekele (2007), 324–326; W. Lange (1982); A. Orent (1969). 19 Freundliche Auskunft des Ethnologen Admasu Abebe aus Dawuro, 2022. Die politischen Heiratsbeziehungen zum benachbarten Kafa, seinerzeit jeweils verbunden mit kleineren Migrationen in das benachbarte Gebiet, stellen in der Erinnerung ein soziales Kapital dar, da deren Evozierung spätere politische Bündnisse legitimieren, bis hin in die Gegenwart. Dies war der Fall bei der kürzlich erfolgten Gründung des äthiopischen Südwest-Regionalstaates (in Abspaltung vom Südvölker-Regionalstaat), der Kafa und Dawuro neben mehreren Nachbarregionen umfasst. Dies entspricht der Tatsache, dass Überlieferungen zu Migrationen und gegenseitiger Beziehungen auch noch im Kontext moderner politischer und soziopolitischer Entwicklungen sehr produktiv sind.
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rungen geprägt, andererseits wurden diese in ein strenges Repräsentationssystem eingefügt: Alle Clans waren wiederum Mitglieder von drei Obergruppen, die gemeinsam Anteile am Land und an den Aufgaben im Königreich hatten, den Malla (zu dieser Gruppe gehört unter anderem der Königsclan und andere landbesitzende Clans, darunter auch Einwanderer aus Limmo in Gonder), Amaara (zu denen z. B. der Clan der Wolika gehört, der sich auf die kuschitisch-sprachigen Kemant bei Gonder zurückführen, die in enger Beziehung zu den Amhara standen und teilweise von diesen unterworfen und verdrängt worden waren)20 und Dogolla.21 Die auf Einwanderung zurückgegangenen Clans waren nicht nur beteiligt an der politischen Organisation ihres Königreiches, gleichzeitig aber, z. B. als Händler oder als Gatekeeper an den Reichsgrenzen, verantwortlich für Verbindungen nach außen. (3) Die Schaffung separater, migrierender ökonomischer Spezialistengruppen: Trotz einer weitgehenden ökonomischen Homogenität der auf Landwirtschaft beruhenden Hochlandbevölkerungen, mit einer wenig entwickelten Arbeitsteilung und beruflichen Spezialisierung, haben sich vielfach verschiedene Untergruppen herausgebildet, die sogenannten „occupational groups“, von denen einige typischerweise eng mit verschiedenen Formen der Migration verbunden sind, die zu deren Herausbildung und Festigung beitragen. Dazu gehört die Migration entlang Handelsrouten mit der Herausbildung von Händlergruppen sowie die Ansiedlung von Handwerkergruppen. (a) Nur untereinander heiratende Handwerkergruppen wie Schmiede, Töpfer, aber auch Kunsthandwerker wie Teppichknüpfer und andere (zu denen im weiteren Sinne auch die in der Regel genealogisch organisierten Musikergruppen gehören) sind besonders in den Gesellschaften des äthiopischen Hochlandes, aber auch in südlich davon gelegenen Gebieten wie den früheren kleineren Königreichen Kafa, Dawuro, Kambaataa und vielen anderen, durch Sets von Heirats- und Reinheitsregeln vom Rest der Mehrheitsbevölkerung getrennt. Diese „occupational groups“ gehen nicht 20 Die Präsenz der Clane mit amharischen Verbindungen (und das heißt: ins vom Staat Äthiopien und amharisch-sprachigen Eliten dominierte Hochland, also nicht amharisch in einem streng ethnischen Sinne) war ein wichtiger Faktor bei der äthiopischen militärischen Expansion unter dem König der Könige Menilek II. in diese Staaten im späten 19. Jahrhundert, da damit eine alte interregionale Beziehung umgedeutet werden konnte in eine Jahrhunderte zurückreichende Einheit eines alten Reiches. 21 Freundliche Auskunft von Admasu Abebe während meiner kurzen Feldforschung und Konferenzbesuch in Dawuro im November 2016 („Enhancing Community Participation to Safeguard Endangered Heritages, Dawuro, Upper Omo Valley, Ethiopia“, organised by the Dawuro Development Association in collaboration with Dawuro Zone Culture & Tourism Office, Dawuro Culture and Research Centre, Tarcha, Dawuro Zone, Southern Peoples, Nations and Nationalities Regional State – SPNNR, 25.– 27.11.2016). – Siehe auch: Admasu Abebe Haile (2022).
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immer, aber immer wieder aus historischen Migrationen hervor, entweder als unterworfene lokale Bevölkerung, die sich durch Schaffung „ökonomischer Enklaven“ Nischen geschaffen haben, oder als Gruppen, die je nach ökonomischer Lage und Nachfrage mehrfach migrieren und Gebiete wechseln, manchmal auch gezwungen. Ein Beispiel für letzteres sind die Teppichknüpfer von Segli südlich von Aksum, die als Handwerker (tʾebiban) von der Mehrheitsgesellschaft getrennt blieben, auch aufgrund von restriktiven Heiratsregeln, aber wiederum für diese aufgrund ihrer Spezialkenntnisse von großer Wichtigkeit waren, insbesondere zur Ausstattung religiöser Zentren durch Schmuckteppiche.22 In Segli siedelten außerdem weitere Handwerker, die unter dem Gesamtbegriff Kayla bekannt waren und für Elitebauten herangezogen wurden. Diese Gruppe in Segli wurde durch eine zwangsweise Umsiedlung bzw. Massenverschleppung nach neuen politischen Zentren verbracht, als ein Fürst deren Dienste für Palastbauten benötigte. Es ist zu vermuten, dass die mehrfache, sich über Generationen sich immer wiederholende Umsiedlung von Handwerkergruppen in Zusammenhang mit dem Wechsel von Machtzentren und von ökonomischen Bedingungen der Normalfall war, was eine jahrhundertlange Anwesenheit von Handwerkergruppen an stabilen Zentren – wie dem Pilgerzentrum Aksum – nicht ausschließt. (b) Ein Sonderfall, der aber auch dieser Kategorie zuzurechnen ist, ist die der religiös spezialisierten Gruppen von religiösen Würdenträgern und Lehrern (insbesondere in islamischen Gruppen), die Lehren über große Distanzen transportieren, sich von Migrationen von Religionsgelehrten bzw. deren Familien ableiten, und immer auch ökonomische Gruppen sind, die sich langfristig als Clans stabilisieren können. Ein Beispiel hierfür die ʿAd Shek, eine Tigre-Untergruppe innerhalb des heutigen Eritrea, die unter den Tigre insbesondere im frühen 19. Jahrhundert muslimische Schulen und Lehrzentren begründet hat und die langsame Konversion dieser Gruppen von lokalen christlich-orthodoxen Traditionen hin zum Islam begleitete und beförderte.23 Diese Konversion hatte ihre Grundlage in der Umlagerung ökonomischer und politischer Allianzen weg vom äthiopischen Reich hin zu Verbindungen mit dem Roten Meer. In der genealogischen Tradition dieses Clans wird die Herkunft von arabischen islamischen Lehrern aus Mecca betont, die sich lokal verheirateten, damit mit den vorgefundenen Teilgruppen verbanden und von diesen ökonomisch gestützt wurden, wobei die Gruppe sich auf Kamelzucht und die Verbreitung islamischer Leh22 Muluwork Kidanemariam / W. Smidt (2010), 458f. 23 J. Miran (2003), 68–69; E. Littmann (1911), 342; M. Höfner (1961), 181–203; W. Smidt (2004b), 8–9.
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ren spezialisierte. Damit war sie eine „Schaltgruppe“, die in einem internationalen Wissenstransfer tätig war.24 Eine Untergruppe im östlich des tigrayischen Hochlandes gelegenen ʿAfar-Tiefland sind die Sheḵat, die sich ebenfalls von eingewanderten arabischen Shaykhs aus dem Gebiet der frühen Gefolgsleute des Propheten Muḥammad herleiten.25 (c) Ein typischerer Fall für ökonomische Interaktion, die mit Migration einhergeht, ist die Bewegung von Händler-Clans und -Familien entlang alter Handelsrouten. Diese führen in der Regel zur Gründung von Handelssiedlungen (im Sinne von Handelsstationen, die auch im Interesse der lokalen Bevölkerung bzw. derer politischen Führer sind). Ein Beispiel hierfür sind die zahlreichen muslimischen Gruppen im äthiopischen Hochland, die wie Forschungen zeigen, genealogisch aus der Interaktion verschiedener regionaler Handelsgruppen, lokaler Bevölkerung und Fernhändler-Familien hervorgegangen sind – womit Muslime Erben alter Handelsnetzwerke sind und Nachfahren von lokalen Händlern ebenso wie von verbündeten Handelspartnern aus dem Ausland. Dieses Beispiel zeigt ein typisches Muster für Migrationen auf: Nämlich das der Hin-und-Her-Migration entlang von Routen, an der verschiedene Gruppen teilnehmen, im Rahmen internationaler und lokaler ökonomischer Möglichkeiten. Muslimische Gruppen sind hierbei nur ein Beispiel. Entlang solcher Routen können sich dann im Lauf der Jahrhunderte eigene Gruppen mit eigenen Landrechten, einer separaten politischen Selbstorganisation und sprachlichen Besonderheiten herausbilden, die die Verbindung zwischen großen Nachbargebieten als im Handel und Vielsprachigkeit erfahrenen „Spezialisten“ organisieren, als Händler und Routenspezialisten. Dazu gehören insbesondere zahlreiche Gruppen entlang des Abfalls des äthiopischen Hochlandes zu klimatisch und kultu24 Ein detaillierter Blick auf die wachsende Rolle dieser ursprünglich arabischen Migrantengruppe im Umbau ihrer „host society“ ist hilfreich, da dieser zeigt, wie ein solcher Prozess ablaufen kann: Shaykh al-Amin bin Hamid bin Nafʾutay im späten 18. Jahrhundert war die Schlüsselfigur in der Geschichte des Clans; ihre Geschichte beginnt praktisch mit ihm. Durch seine Lehren und Wunder erlangte er großes Ansehen. Aufgrund seiner Heirat mit der Tochter des Hauptes der einflussreichsten Tigre-Gruppe der Bét Asgedé legte er den Grundstein für wiederholte und komplexe genealogische Verbindungen mit den führenden Clans der Küstengebiete im frühen 19. Jahrhundert zunächst in die Konversion der Bét Asgedé mündete. Al-Amins Gruppe, die sich nun in der Sahelzone im heutigen Norderitrea niederließ, wuchs schnell durch die „Adoption“ entlaufener Sklaven und Tigre-Vasallen in die Familie, Vasallen, die ihre früheren Herren verließen. So stellte die Verwurzelung des Islams eine echte soziale Revolution dar (s. J. Miran (2003), 68), da durch die Konversion neue Allianzen geschlossen wurden und das über Jahrhunderte unangefochtene feudale Leibeigenschaftssystem geschwächt wurde (W. Smidt (2004b), 8–9). 25 Freundliche Auskunft des aus ʿAfar stammenden Historikers Aramis Houmed Soulé, Djibouti.
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rell überaus verschiedenartigem Tiefland. Die lokale Geschichte Äthiopiens (nicht die in der Öffentlichkeit vorherrschende Königsnarrative) definiert sich gerade über die Vielzahl solcher vermittelnder Gruppen. (4) Bewegung von Bevölkerungsgruppen aufgrund von Sklaverei: Daneben stehen weitere ökonomisch induzierte Migrationen wie der Sonderfall der Sklaverei bzw. die Verschleppung von Gruppen zum Zweck der dauerhaften ökonomischen Ausbeutung. Bevölkerungsverschiebungen aufgrund von Sklaverei sind in der Region nicht selten:26 (a) Dies betrifft zunächst ganze Gruppen von in Abhängigkeit von „Herren“ neuangesiedelten verschleppten Personen, die wiederum mit lokalen, ebenfalls abhängigen, Gruppen interagieren (unten wird ein solcher Fall, der der Chʾaré und der Shiro in West-Tigray, genauer vorgestellt). Dies betrifft zahlreiche Einzelschicksale, aber in solchem Umfang, dass daraus wiederum Gruppen entstehen. (b) Ein anderes Beispiel hierfür ist die freiwillige und doch aufgrund der Umstände erzwungene Migration kleinerer, im Sinne einer mangelnden Verteidigungsfähigkeit schwacher Gruppen in schwer zugängliche Grenzgebiete. Dies ist einer der Gründe für die Vielfalt verstreut siedelnder ethnischer Gruppen, die meist nilo-saharanische Sprachen sprechen, im Grenzgebiet zwischen dem Sudan und dem äthiopischen Hochland. Aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Dominanz von Hochlandbevölkerungen und verstärkt durch Sklavenjagden war ein Ausweichen in Randgebiete eine Überlebensstrategie, wie es offenbar im Fall der aus verstreuten Teilgruppen bestehenden Mao27 und Gumuz28 der Fall war.
26 Für einen genaueren Einblick die umfassende historische Darstellung zur Sklaverei in der äthiopischen Region seit der Antike: R. Pankhurst et al. (2010), 673–681. Siehe auch: G. Bonacci / A. Meckelburg (2017), 5–30 (und die dazugehörige Sondernummer). 27 W. Smidt (2007b), 756–760. Zum weiteren Kontext von Südwest-Äthiopien als eine von Migrationen geprägte Grenzregion: J. Abbink (2010), 175–177. 28 Hierzu siehe weiter unten der Fall der gesonderten, in das Gumuz-Cluster gehörenden Gruppe der Chʾaré in West-Tigray, die generationenlang einem Sklaverei-System ausgesetzt war.
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(5) Ethnischer Wandel durch Massenmigration aufgrund einer Schwächung von Gemeinwesen: Die politische und ökonomische Schwächung von Gemeinwesen, wie im Fall der oben genannten Oromo, die im 16. Jahrhundert Territorien des mittelalterlichen Äthiopien politisch übernahmen, ist ein weiterer wichtiger Faktor für Migration, im Sinne der politischen Neuordnung von Beziehungen und demographischen Verhältnissen. (a) Pendelmigration in Krisenzeiten: Hungerperioden werden in historischen Quellen immer wieder genannt – diese führen zur Schwächung und zum zeitweisen Verschwinden von Gemeinwesen. Dies führt zu Pendelmigration, da diese Gemeinwesen nach Änderung der Lage wieder hergestellt werden – es handelt sich um zeitweise Entvölkerungen. Ein aus den Quellen des 19. Jahrhunderts bekanntes Beispiel hierfür ist die Bevölkerung des alten autonomen tigrinophonen Fürstentums Ḥamasén (im heutigen Zentral-Eritrea) in den 1870er Jahren, inmitten einer Hungersnot und politischen Zusammenstößen zwischen Ḥamasén-Fürsten und tigrayischen Fürsten aufgrund ihrer Konkurrenz um die Kontrolle nördlicher Handelswege zum Roten Meer und um politische Abhängigkeiten.29 Nach Ende der Hungersnot wurden die verlassenen Gebiete, auf der Grundlage der in der Gesellschaft über mündliche Überlieferung exakt erinnerten und kontrollierten Landrechte, wieder besiedelt. Ganz ähnlich gehen auch wesentlich ältere Überlieferungen zu Migrationen in das eritreische Hochland von einer teilweisen Entvölkerung aus: Im Lauf des Mittelalters etablierte sich ein neues Gemeinwesen von Tɨgrɨñña-Sprechern in der alten Provinz Bur (die spätere konföderationsähnlich organisierte Region von Akkele-Guzay), die sich Ɨggela nannten, eine Wahl-Führerschaft von Ältesten (die shum Ɨggela30 ) besaßen sowie einen eigenen, zunächst mündlich überlieferten Rechtskodex31 und bis heute in getrennten Gruppen, die sich weiterhin als Ɨggela bezeichnen, auch in Tigray – insbesondere im Gebiet von Ɨnticcʾo und Bizet – fortbestehen.32 Aufgrund überlieferter 29 W. Smidt (2005d), 987–990 (darin insbesondere zur Migration von Bauern und Viehhirten aus dieser Region, den ”Ḥamasénay”, in Grenzgebiete am Rand des Kunama-Gebietes und in West-Tigray im 19. Jahrhundert); R. Perini / Gäbrä Nəgus (1905). 30 Die älteste Erwähnung eines Ɨggela-Fürsten, der offenbar über ein wesentlich größeres Gebiet gebot als das der heutigen Ɨggela, das „hagere Ɨggela“, datiert aus dem 15. Jahrhundert; vgl. A. Bausi (2003), 58. 181. 31 I. Capomazza (1909), 93–127 (darin Bezug auf das später schriftlich festgehaltene Rechtsbuch der Ɨggela: „Legge detta di Mai-Adghi“); F. Ostini (1956), 5. 32 Tsegay Berhe / W. Smidt (2005), 238–239; W. Smidt (2003c), 166–168, mit detaillierter Schilderung der Gründung der Gemeinschaften in der Provinz Akkele-Guzay vor allem aus zwei größeren Migrationsbewegungen von Tɨgrɨñña-Sprechern, den Nachkommen des Akkele und Guzay und jene eines in der
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Genealogien wird diese Bevölkerungsbewegung etwa auf Ende des 13. Jahrhunderts geschätzt, einer Zeit umfassender Migrationsbewegungen im Hochland in weitgehend entvölkerte Gebiete33 . (b) Migrationen zersplitterter Einzelgruppen nach Schwächung von politischer Macht: Im Fall der Schwächung politischer Zentren und der Rückstufung politischer Zentren, die in der Geschichte in größeren Abständen, aber regelmäßig folgen, wird ein Territorium auch in seinem inneren ethnischen Zusammenhalt bzw. in der Zuschreibung ethnischer Identitäten verändert. Eine Folge ist das Ausbrechen von neuen Konflikten bzw. die Veränderung von Allianzen und Abhängigkeiten, die zum Abwandern von Bevölkerungsgruppen führen. Ein Beispiel aus neuen ethnohistorischen Forschungen ist eine in der lokalen Überlieferung von „Königslinien“ einer Agew-Gruppe, aus denen sich die Tɨgrɨñña-Sprecher von Siḥéta34 in einer Bergen umgebenen geschützten Senke bei ʿAddigrat ableiten. Diese stammte aus der in Konflikten unterlegenen Zagwe-Dynastie des Mittelalters. Die Überlieferungen sind in diesen Kontext einzuordnen: Als die Zagwe-Dynastie ihre zentrale Rolle im Staatswesen verlor und damit den inneren Zusammenhalt ihrer Kernregionen, folgte offenbar aufgrund der inneren Schwächung eine Serie von Migrationen von Agew-Gruppen aus dem Kerngebiet der Zagwe-Dynastiue. Ein anderes Beispiel sind die zahlreichen
lokalen Überlieferung als zentrale Figur erinnerten Tɨgrɨñña-Fürsten namens „nɨgus“ Meroni (dessen Nachkommen vor allen in Ḥamasén siedelten sowie in Akkele-Guzay in der Gegend von Segeneyti), und dazu den von diesen zwei Hauptgruppen getrennten Ɨggela, die aus Gebieten direkt westlich von ʿAgame in Tigray zu stammen scheinen, unter anderem im Gebiet des Klosters von Debre Dammo, wo Ɨggela-Gruppen bis heute siedeln. In diesem Zusammenhang ist die Überlieferung der LandRechtsakten relevant, dass das Siedlungsgebiet der Ɨggela im heutigen Eritrea („with its valley and high plateau from the (river) Marab to Guerguer“) in Abhängigkeit vom Kloster Debre Dammo stand, dem Abgaben zu leisten waren (G. Huntingford (1965), 30. 98). Dies zeigt, dass es hier – wie in vielen Fällen der Migration – eine verrechtlichte Beziehung der Siedler mit einem entfernteren Gebiet gab, offenbar in diesem Fall dem Ursprungsgebiet, in Form einer Schaffung oder Aufrechterhaltung einer Abgabepflicht. Diese Abgabepflichten werden in den Landakten auf eine Landstiftung durch den aksumitischen Herrscher Gebre Mesqel zurückgeführt, wie häufig bei älteren Landrechten von bedeutenden aus der Spätantike stammenden Klöstern zu beobachten, was weder plausibel zu belegen noch zu widerlegen ist, aber in jedem Fall der Legitimierung und Auf-Dauer-Stellung dieser Landrechte diente. 33 Merid Wolde Aregay (1974), 274. 34 Noch nicht publizierte Ergebnisse von Feldforschungen des Autors in Siḥéta, 2018/19, vorgestellt in zwei Vorträgen: „The socio-political self-organisation in Tigray: Local institutions from lineage-groups (‚ḥawɨnnet‘) to cultural-religious (‚mahber‘) / genealogy and onomastics“, Vortragsreihe im Programm „Ethiopia and the Arab World“, Institute for Oriental and Classical Studies, Moskau, 15. 10. 2021; „Cultural patterns in historiographical oral traditions – experiences from recent field research“, öffentliches PhD Research Colloquium, Department of History and Heritage Management, 11. 1. 2018 (mit Fokus auf Migration-Genealogien aus Tseraʾ und Siḥéta).
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Abwanderungen von Agew-Gruppen aus dem Kerngebiet der Zagwe-Dynastie im Zuge der Machtergreifung von neuen Amhara-Führungsschichten im äthiopischen Hochmittelalter.35 (c) Gewaltsame Übernahmen, Ausrottungen und Unterwerfungen: Nicht fehlen sollte ein Hinweis auf den in der historischen Gesamtschau seltenen Sonderfall der gewaltsamen Unterwerfung, Vertreibung und teilweisen Ausrottung von Völkern und Gruppen durch andere Gruppen, gefolgt von Landnahme und auf Waffenüberlegenheit gegründeter Migration. Aufgrund ihrer dramatischen Auswirkungen oft über zahlreiche Generationen hinweg, sowohl im Sinne eines massiven ökonomischen und politischen Vorteils für die unterwerfende Gruppe als auch im Sinne einer extremen Schlechterstellung der Unterworfenen, spielen solche Ereignisse in der historischen Erinnerung eine überproportionale Rolle. Die Aufgeladenheit der Diskurse wird oft verstärkt durch Theorien einer „gottgegebenen“ Unterlegenheit (oder ähnlichen Ideen, die zum Teil deckungsgleich mit moderneren rassistischen Theorien sind). Aufgrund der starken Politisierung der Debatten rund um solche historischen Ereignisse hat sich populär der Eindruck festgesetzt, dass solche Migrationen häufiger und umfassender waren als es die empirische Datenlage hergibt – auch wenn diese immer noch zu dramatischen Diagnosen führt. Solche historischen Übernahmen, verbunden mit einer teilweisen Beseitigung der eingesessenen Bevölkerung, sind daher selten, da es im Vergleich relativ wenige historische Momente gibt, in denen eine Gruppe eine solche technologische (insbesondere waffentechnische) Überlegenheit besitzt, dass sie in der Lage ist, genozidäre Feldzüge zu führen. Und selbst, wo dies geschah, setzte jeweils ein historischer Prozess gegenseitiger wirtschaftlicher und teilweise kultureller Integration ein, der das Muster totaler Dominanz meist teilweise schwächte. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die durch europäische Waffenexporte möglich gewordene massive und rapide Expansion des Königreiches Shewa unter König Menilek II., von diesem als Kaiser Äthiopiens fortgeführt. Dabei wurden zahlreiche Nachbarstaaten wie Kafa, Oromo-Königreiche und muslimische Sultanate der ʿAfar und zahlreiche andere Gemeinwesen in blutigen Kriegen unterworfen; diesen Kriegen folgten in – teilweise unter veränderter Labellisierung bis heute an35 Dazu gehören die aus Agew-Gebieten zugewanderten Adkeme-Mɨlga’, heute Tɨgrɨñña-Sprecher in Serayé (in älteren Quellen meist Serawé) im eritreischen Hochland sowie die aus mehreren mittelalterlichen Migrationswellen aus Lasta hervorgegangenen Bilin in der Region von Keren, Eritrea, am äußersten Rand des alten äthiopischen Reiches im Grenzgebiet zu den sudanesischen Tiefländern. Vgl. zu den Adkeme-Mɨlga’ W. Smidt (2003b), 96f.; und zur Migration der Bilin W. Smidt (2003e), 586–588; C. Conti Rossini (1912), 599–651.
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dauernd – Migranten aus dem äthiopischen Hochland, die Land und neu etablierte Tributpflichten in großem Umfang in Anspruch nehmen konnten. Diese wurden treffend „neft’eña“, d. h. Gewehrsleute, genannt. Dieser Fall ist historisch in der Wirkung zwar weitreichend, doch in historischer Hinsicht extrem selten, da gebunden an einen ungewöhnlichen technologischen Sprung nach vorne. Ein anderer, im Rahmen der politisierten Debatten, vielfach genannter Fall ist die oben schon genannte Oromo-Migration des 16. bis 17. Jahrhunderts, bei der trotz massiver Zusammenstöße mit Bevölkerungsverschiebung doch eher ein allmählicher Verschmelzungsprozess zu beobachten ist, verbunden mit soziopolitischen Verschiebungen der Machtzentren, und keine genozidäre Ausrottung. Diese ist erst der technologisch fortschrittlichen Moderne vorbehalten. Dieses Migrationsmodell ist damit lediglich als extrem seltener Sonderfall in diese Liste aufzunehmen.36 (6) Individualmigration als Pionierphänomen für Folgemigrationen: Dazu kommen – vielleicht in ihren historischen Auswirkungen am wichtigsten – unzählige Formen von Individualmigration, von Einzelpersonen, Familien und deren Haushalten innerhalb einer Region, in Nachbargebiete und teilweise über weite Distanzen hinweg. Diese sind einerseits quantitativ wichtig, was sich an genealogischen Daten über längere Forschungsperioden gut erkennen lässt: Da genealogische Erinnerung zur Bewahrung von Landrechten bzw. zur Legitimierung von Landnahmen in den meisten nordostafrikanischen Gesellschaften sehr wichtig ist, gibt es sehr viel nicht-schriftliches Material, das von Familienältesten bewahrt und weitergegeben wird. Familien, die von Zuwanderern abstammen, behalten in der Regel diese Erinnerung, auch wenn diese wenig nach außen kommuniziert wird; diese ist vielfach für Landrechte „unschädlich“, da in den eher pragmatisch organisierten Bauerngesellschaften Landrechte auch über Heiraten und Mütterlinien vergeben werden und es für Zugewanderte im Interesse der gegenseitigen Verpflichtungen und Unterstützung oft viele Möglichkeiten der Assimilierung bzw. „Adoption“ gibt. Dieses Phänomen geht weit über Individualgeschichte hinaus: Vielmehr verspricht eine auswärtige Herkunft im Sinne oben geschilderter Modelle Anknüpfungspunkte für Beziehungen nach außen. Dies kann zu interethnischen Clanbeziehungen führen oder
36 D. Donham / W. James (1986); U. Braukämper (2010), 172–175. – Siehe auch der Zeugenbericht besonders blutiger Episoden der Expansion: A. Bulatovich (2000).
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auch zu anderen Vermittlerrollen37 und gelegentlich zur Schaffung neuer Siedlungsmöglichkeiten für von außen kommende Gruppen, die an vor ihnen eingewanderten Einzelpersonen oder Einzelgruppen anknüpfen können. Darum ist Individualmigration als potentiell überaus geschichtsmächtig anzusehen. Diese sechs Modelle mit Unterfällen zeigen zunächst vor allem eine Gemeinsamkeit: Trotz chaotischer, spontaner Elemente – wie die Zufälle ökologischer Veränderungen, Hungersnöte bzw. kriegerische Auseinandersetzungen – ist ein sichtbarer Faktor bei allen Migrationen eine systematisch-organisatorische Dynamik. Von Einzelmigrationen von Personen oder kleinsten Gruppen angefangen, über größere Migrationen von außen kommender Gruppen bis hin zur verrechtlichten Exklavenbildung bildet sich immer mit der Zeit eine Stabilisierung im Sinne einer systematischen Interaktion der beteiligten Personen und Bevölkerungen heraus. Wie Assimilation dabei abläuft, ist eine interessante Frage: Wenn es auch Dominanz-Umbrüche gibt im Sinne des Wechsels einflussreicher Eliten, bleibt eine lokale Bevölkerung erhalten, die sich mit eingewanderten Gruppen regelhaft arrangiert. Dabei kann es Assimilation in beide Richtungen geben: Eine einwandernde, kriegerische Gruppe beginnt beispielsweise mit einer gewissen Dominanz, übernimmt aber (über Heiratssysteme) die lokale Sprache und wichtige Elemente der lokalen Kultur. Eine eingewanderte dominante Gruppe kann wiederum auch ihre Sprache durchsetzen, wie im Fall der anfangs erwähnten Oromo, doch auch dies nicht ohne Integration politischer, kultureller oder kultischer Elemente der dominierten Gruppe. Doch Dominanz ist sicherlich nicht das wichtigste Phänomen bei den beobachteten Migrationen, sondern Interaktion mit dem Ergebnis der Herausbildung soziopolitischer und teilweiser ver37 Ein Beispiel aus der modernen Geschichte sind hierbei die aus Familien von europäischen Einwanderern des 19. Jahrhunderts hervorgegangenen äthiopischen Übersetzer, Vermittler und Gesandten, die Verbindungen in europäische Länder organisierten – diese entsprechen diesem alten Modell, wenn auch neu definiert im Zuge der Entwicklungen der Moderne. Dazu siehe u. a., mit weiteren Verweisen W. Smidt (2006), 145–157. – Ein in eine andere Richtung weisendes Beispiel ist die Einzeleinwanderung ägyptischer koptisch-orthodoxer Christen in Äthiopien, die im 19. Jahrhundert mehrfach vorkam. Während einer kurzen Feldforschung in Mekelle und ʿAddigrat 2001 (gefördert von der DFG) dokumentierte ich die Überlieferung einer tigrayischen Familie, die sich in nichts von der äthiopischorthodoxen Umwelt unterschied, mit der Besonderheit, dass sie sich von einem eingewanderten ägyptischen Priester herleitete. Dieser war offenbar als Begleiter während einer der Delegationsreisen aus Ägypten, die einen neuen Metropoliten nach Äthiopien brachten, gekommen. Aufgrund der religiösen Zusammengehörigkeit wurde nach außen hin diese Familie innerhalb nur zwei Generationen assimiliert, während die Verbindung zu den ägyptischen Christen bei der Interaktion mit den neu angekommenen koptischen Priestern helfen konnte. In diesem Fall bedeutet eine solche Individualmigration die Stärkung einer historischen Verbindung zwischen verschiedenen Regionen, über die institutionalisierte kirchliche Interaktion, aber verbunden mit einer vollständigen Assimilation der Beteiligten.
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rechtlichter Regelwerke, teilweise unter einem ethnischen Label oder im Rahmen der Schaffung von Clan-Identitäten, oder im Rahmen einer religiösen Identität wie im Fall muslimischer Händlergruppen. Es folgen drei ausgewählte Fallstudien, die die Komplexität der vielen verschiedenen Migrationsmodelle aufzeigen, bei denen verschiedene Formen von Interaktion mit viele Facetten zwischen Dominanz und Assimilation vorkommen. III. (B) Detailstudien zu Fallbeispielen (1) Verzahnung von Gesellschaften durch die Schaffung von Exklaven: Bét Makha und Dɨgsa An den Anfang der Reihe der Beispiele ist hier ein originelles Modell zu stellen, das die Verzahnung von benachbarten sozio-politischen Gemeinschaften organisiert, verbunden mit Migrationen kleineren Umfangs: Wir kennen im äthiopisch-eritreischen Hochland mehrere Fälle, in denen benachbarte, in politischer Konkurrenz stehende Gemeinwesen bzw. deren Herrschaftseliten Landrechte innerhalb des jeweils anderen Gemeinwesens zugesprochen bekommen, und zwar gegenseitig. Das führt zu einem rechtlich begrenzten und definierten Territorialzugang beider Seiten zueinander sowie einer gegenseitigen Verzahnung der jeweiligen Territorien durch Schaffung von Exklaven, und damit zur Schaffung eines Sets an Regeln des Austausches. Diese sind dann jeweils Stützpunkte für Reisende (wie beispielsweise Händler), die aus dem jeweils anderen Gemeinwesen kommen, Anlaufpunkte für kleinere Migration mit dauerhafter Ansiedlung, und im politischen Sinne werden diese zu Räumen außerhalb der eigenen Gewalt, die Begegnung und Verhandeln ermöglichen. Die Schaffung von Territorien innerhalb des eigenen Gebietes, die unter rechtliche Kontrolle oder Mit-Kontrolle eine Nachbargemeinwesens gestellt werden, bedeutet keine Anerkennung von möglichen Gebietsansprüchen, aber die freiwillige Schaffung von lokal begrenzten, rechtlich verfassten Friedensräumen und eine interessante Teilaufgabe von Souveränität im Interesse gegenseitiger Verzahnung. Aus der lokalen Überlieferung in der historischen Region Ḥamasén im heutigen Zentral-Eritrea (zon meʾakel) ist bereits bekannt, dass das heute zu Asmera gehörende Dorf Bét Makha, das im Hochland oberhalb der alten Handelsstadt Asmera liegt, „von Muslimen besiedelt“ war, zusammen mit einer christlichen Bauernschaft. Allerdings gibt es hier eine Be38 Interview mit Einwohnern in Bét Makha während eines Besuches von Bét Makha und Asmera, Dezember 1997.
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sonderheit: Die muslimischen Einwohner von Bét Makha unterstanden dem Naʾib, dem osmanischen Gouverneur der Rotmeerküste, und damit nicht den christlichen Fürsten des Hochlandes, die dem äthiopischen Herrscher gegenüber tributär waren.38 Sie bildeten somit eine Exklave des osmanischen Naʾib, auch wenn sie gleichzeitig innerhalb des Territoriums des christlichen Staates Äthiopien lebten. Die Überlieferung berichtet im Detail dazu, dass der Fürst von Ḥamasén dem Naʾib ein sogenanntes gult (Lehnsland) in Bét Makha einräumte. Damit war die vertragliche Vereinbarung verbunden, dass christliche Händlerkarawanen unter dem Schutz des Naʾib zur Hafenstadt Massawa reisen konnten.39 Im formellen Sinne stellte diese Regelung einen mündlich geschlossenen Vertrag zwischen Teilgebieten von Staaten dar und ist damit ein bemerkenswertes Zeugnis für ein nicht-europäisches, regionales Völkerrecht. Es ist nicht ungewöhnlich, allerdings selten so genau fassbar, dass Migration wie hier in einem rechtlich verfassten Rahmen geschah. Das Dorf Dɨgsa40 im Distrikt von Deqqi Dɨgna des nördlichen Akkele-Guzay im eritreischen Hochland ist ein weiterer interessanter Fall gegenseitiger territorialer Überlappung im Zuge politischer und wirtschaftlicher Kooperation von Nachbargruppen. Auch hier ist diese Überlappung mit Wanderbewegungen verschiedener Gruppen – in diesem Fall Hochländern und mit dem Rotmeerhandel verbundenen Tiefländern – entlang von seit dem Altertum genutzten Routen verbunden. Verstreute Erwähnungen in historischen Quellen bestätigen eine lokale Überlieferung41 über eine politisch-rechtlich gestaltete territoriale Aufteilung zwischen Muslimen und Christen, die jeweils verschiedenen politischen Entitäten zugehörten. Die Bedeutung von Dɨgsa – zusammen mit der benachbarten alten Siedlung Ḥalay – liegt darin, dass es am „Eingang“ des Hochlandes, also im politischen Sinne an der Grenze des äthiopischen Reiches, liegt: Dorthin führen vom Roten Meer aus die nahe beim osmanisch kontrollierten Hafen Massawa und bei Zula (dem antiken Adulis) beginnenden langgestreckten in die Hochebene führenden Bergtäler, die von Karawanen und anderen Reisenden genutzt werden. Deswegen werden die Orte „Ḥalayn Dɨgsan“ (Tɨgrɨñña für „Ḥalay und Dɨgsa“) unter anderem in europäischer Reiseliteratur erwähnt, in der 39 Vgl. H. Elliesie / W. Smidt (2014), 537–542: „aiming at protecting each other’s interest spheres and the ongoing cross-boundary trade to Massawa, the Christian governor of Ḥamasen gave Bet Maḵa situated in the hills above Asmära as a gw əlt to the Muslim naʾib of Ḥərgigo, which strongly supported the T[reaty] of friendship concluded between them“. 40 W. Smidt (2005a), 125f. Vgl. auch die Karte H. Salt (1814a), basierend auf seiner diplomatischen Reise 1809/10. 41 Feldforschung in Akkele-Guzay, Eritrea, Juli 1999.
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Verballhornung „Dixan“, da auch europäische Reisende, geführt von lokalen Händlern, vielfach über diesen Weg in das Hochland kamen (vgl. die Illustration von Henry Salt).42 Aus der Reiseliteratur geht auch hervor, dass diese beiden Orte als erste Rastorte im Gebiet des äthiopischen Herrschers dienten, da die lokale Bevölkerung gegenüber dem christlichen Äthiopien tributpflichtig war. An dieser Stelle verließen Reisende aus dem Küstengebiet die vom Osmanischen Reich, insbesondere unter dem osmanischen Erb-Gouverneur, dem Naʾib, abhängige Ḥabes eyaleti (die osmanische Küstenprovinz) und überschritten die Grenze zum christlichen Reich des äthiopischen Herrschers. Ein genauerer Blick in die politisch-territoriale Gemengelage des Grenzortes Dɨgsa zeigt ein komplexes „interaktives“ Grenzregime auf, das über einen unbekannten Zeitraum hinweg wohl bis zum Beginn der Kolonisierung fortgeführt wurde (und in Form von Familien-Landrechten bis nahe an die Gegenwart). Bereits im 18. Jahrhundert berichtete der schottische Reisende James Bruce, dass der Hügel von Dɨgsa von einer muslimischen Bevölkerung bewohnt sei, die dem osmanischen Naʾib tributpflichtig waren, während die in den landwirtschaftlich bedeutenden am Fuß des Hügels gelegenen Arealen lebenden Bauern als Christen dem äthiopischen Reich zugehörten, allerdings mit einem hohen Grad von Autonomie mit eigenständiger Gesetzgebung.43 Dies bedeutet, dass die ansässige Bevölkerung je nach religiöser Anbindung – die gleichzeitig eine wirtschaftliche Implikation hatte – einem anderen Staatswesen zugehörten. Damit gibt es hier eine weitere Variante des „Exklavenmodells“, das auch in diesem Fall mit Migration verbunden ist: Die christlichen Siedler sind verbunden mit anderen tigrinophonen Hochländern, die zur Landnutzung in diese Gebiete seit dem Mittelalter einwanderten, während Muslime genealogisch mit zugewanderten Tiefländern verbunden waren. Die Muslime waren aufgrund ihrer Stellung als Exklave des Küstenlandes besonders aktiv im Sklavenhandel und belieferten von hier aus den autonom verwalteten osmanischen Sklavenexport-Hafen Massawa,44 wohin über diese „Exklaven“-Drehscheibe von christlichen Hochländern 42 Siehe auch: H. Salt (1814b), 239ff. 43 Akkele-Guzay hatte eine komplexe eigenständige Rechtsgeschichte. Wie es auch in anderen Regionen des Hochlandes überliefert ist, bildeten Regionalgruppen autonome Rechtsverbände, in denen die Bewahrung des mündlich überlieferten Rechts, das Erb-, Straf- und Vermögensrecht umfasste, Aufgabe lokaler „Experten“ und Ältestenräten war. Diese komplexen, mündlich überlieferten Rechtsbücher wurden in manchen Fällen schon im 17. Jahrhundert schriftlich kodifiziert, zum Teil auf Initiative lokaler Fürsten, die dazu die Ältestenräte zu befragen hatten. In Akkele-Guzay hatte die Bauernbevölkerung einen besonders hohen Grad an Autonomie erlangt, der sich auch in ihren eigenen Rechtsbüchern ausdrückte, vgl. zu deren Rechtsbuch Adgɨna-Tegeleba: W. Smidt (2003a), 94f., und W. Smidt (2007a), 516–518; F. Kemink (1991); I. Capomazza (1909); W. Smidt (2003c), 166–168. 44 J. Bruce (1791), 196–199.
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meist in Kriegen gefangene und verschleppte Personen in den arabischen Sklavenhandel geliefert wurden. Diese Doppelstaatlichkeit war damit auch ein Modell politischer und wirtschaftlicher Kooperation. Allerdings war es nicht konfliktfrei: Das im Lauf des 18. Jahrhunderts zeitweise um Dominanz des Handels kämpfende Äthiopien führte in den 1760er Jahren einen Krieg gegen den Naʾib, bei dem auch Dɨgsa gebrandschatzt wurde,45 Abgesehen aber von solchen kriegerischen Momenten blieb Dɨgsa als ein „auf Dauer gestelltes“ Modell der Kooperation über das Zusammenleben von aus verschiedenen Migrationen stammenden Bevölkerungen. Allerdings wurde im Lauf des 19. Jahrhundert im Zuge einer allmählichen Schwächung des Naʾib ganz Dɨgsa christlichen Lokalfürsten unterstellt, was aber die Brückenfunktion der lokalen muslimischen Händler nicht beendete.46
Abb. 1: Darstellung von Dɨgsa („Dixan“) aus dem frühen 19. Jahrhundert, die die Zweiteilung in eine erhöht gelegene Siedlung und verstreut gelegenen Gehöfte im Umland erkennbar macht, aus: H. Salt (1814b), Separatabdruck 45 Vgl. die Sammlung mündlicher historiographischer Überlieferungen J. Kolmodin (1915), 67. 46 Eine Feldforschung zu den lokalen Überlieferungen im eritreischen Hochland zur Klärung der genauen Entwicklung dieses generationenlangen Kooperationsmodells ist ein Desiderat, aber derzeit nicht durchführbar.
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Eine andere Ausformung desselben Prinzips findet sich bei ethnisch-politischen Exklaven, wie z. B. ethnisch-basierten Militäransiedlungen. Anders als beim vorigen Fall handelt sich nicht um rechtlich organisierte territoriale Exklaven eines anderen Gemeinwesens, aber doch um einen politisch-rechtlichen Rahmen, in dem von außen kommende Gruppen unter der Autorität einer Staatsführung bzw. von Machteliten in einem ihnen ethnisch (und damit auch sozio-politisch) fremden Territorium angesiedelt werden, auch wenn dieses im formellen Sinne zum selben Herrschaftsterritorium gehört. Es gibt mehrere, in der Geschichtsforschung fast völlig übersehene, Ansiedlungen dieser Art in historischen Grenzgebieten. Es handelt sich um kleine Gruppen von außen und deren Integration und die Schaffung neuer ethnischer Subgruppen aufgrund einer solchen speziellen Migration: Zu nennen ist hier das Beispiel einer aus Migration hervorgegangenen ethnischen Subgruppe, den ʿAd Bushnaq in der Region von Massawa im heutigen Eritrea. Dieser Begriff wird heute nur noch innerhalb von aus dieser Gruppe stammenden Tigre-Familien verwendet, bezeichnete aber noch bis ins 20. Jahrhundert eine separate Gruppe, die nahe Massawa siedelte und Tigre sprach. Deren Ursprung bzw. exakte Zeit der Zuwanderung ist mangels Forschungen noch nicht exakt benennbar, aber gemäß ihrer eigenen Überlieferung verbunden mit der seit dem 16. Jahrhundert etablierten osmanischen Herrschaft über die afrikanische Rotmeer-Küste und insbesondere Massawa.47 Während sie sich den Tigre zurechnen, die aus zahlreichen, vielfach aus anderen Regionen zugewanderten Subgruppen bestehen und die Region von Massawa bis Nord-Eritrea dominieren, haben sie bis in die Frühzeit der Kolonisierung Eritreas eine eigene osmanische Identität behalten: Sie sind „Bushnaq“, das heißt Bosniaken, die als Soldaten aus den bosnischen Gebieten des osmanischen Reiches in diesem Grenzgebiet angesiedelt wurden. Als Soldatensiedler im Gebiet des Küstenortes Ḥɨrgigo vor Massawa erhielten sie eigene Landrechte und Privilegien, die sie für Heiratsbeziehungen interessant machte. Aufgrund dieser wurden Nachfahren, die allerdings weder bosnisch noch osmanisch sprachen, sprachlich assimiliert, unter Beibehalten ihrer an Abstammung geknüpfte Aufgaben als Bewaffnete, die die osmanischen Grenzgebiete zu schützen hatten, was 47 Vgl. dazu mit den bisher bekannten Quellen zu den ʿAd Bushnaq W. Smidt (2007c), 849–854, hier 854: „Until the 19th cent. Ḥərgigo received a rent from the M.[assawa] authorities for the protection of M. This gave them a position, through which they could exercise some influence on M. Local tradition reports that a part of the population of Ḥərgigo also descends from a 16th /17th cent. Albanese and Bosniak contingent of the Ottoman army (Leuenberger 1955:188; Schimper 1852:238), which was stationed here for the protection of the Ottoman province (eyaleti) of Ḥabeš; the local Təgre group ʿAd Bušnaq has Bosniak origins“.
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bis mindestens in die 1860er Jahre, als der Küstenstreifen als osmanische Provinz des „Ḥabes eyaleti“48 verwaltet wurde, zur Aufrechterhaltung einer gesonderten rechtlichen Stellung führte, wozu bis ins 19. Jahrhundert auch die Zahlung osmanischer Renten an diese Gruppe gehörte. Diese Beispiele von organisierter Migration im Rahmen verrechtlichter Beziehungen ist interessant, da es zeigt, wie komplex nur auf den ersten Blick kleinteilige Migration in einem größeren politisch-rechtlichen Rahmen zu sehen ist, als Ergebnis von Verhandlungen bzw. militär-politischen Überlegungen in einem potentiell konfliktuellen Rahmen.
Abb. 2: Die frühere Exklave Bet Makha oberhalb von Asmara, 1889 (Foto von Luigi Naretti)
(2) Migrationen alter Händlergruppen: Religiöse Anbindung mobiler Gruppen als Beispiel Ein wahrscheinlich für das Verständnis von Migrationen in Nordostafrika besonders wichtiges, da in vielen Varianten weit verbreitetes, Modell ist das der Besiedlung von Handelszentren entlang von überregionalen Handelsrouten, oder anders gesagt: die Herausbildung eigener Gruppen mit separaten ethnischen, religiösen oder ökonomischen Identitäten entlang dieser Routen, mit eigenen Rechten. Solche Gruppen zeichnen sich generell dadurch aus, dass sie je nach ökonomischer und politischer Lage in bestimmten Zentren zuwandern bzw. wieder abwandern, aber gleichzeitig entlang dieser Routen feste Siedlungszentren haben. Außerdem sind sie durch Hei48 W. Smidt (2005c), 950–952.
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ratsbeziehungen ebenso wie sprachlich und kulturell eng mit umliegenden Gesellschaften verbunden, aber gleichzeitig geprägt von Vielsprachigkeit und Verbindungen mit zugewanderten Gruppen. Solche Gruppen unterhalten familiäre Beziehungen entlang der Routen und in neuen und alten ökonomischen Zentren, was die Migration über weite Strecken erleichtert – und zwar eine über Generationen gepflegte Hin-und-Her-Migration. Aufgrund der Fernhandelsbeziehungen bzw. Kulturbeziehungen über Fernrouten bietet sich für solche Gruppen eine religiöse Anbindung an die Religion von Partnerregionen an, was beispielsweise in einer vom Islam geprägten Großregion den Islam für Händlergruppen attraktiv machen kann. Ein gutes Beispiel für solche Gruppen sind die tigrinophonen Muslime in Tigray, die dort maximal 7% in einer mehrheitlich orthodox-christlichen Gesellschaft ausmachen. In der Narrative der Mehrheitsgesellschaft werden sie trotz ihrer gemeinsamen Sprache als Migranten dargestellt, was in manchen modernen Diskussionen sogar soweit geht, dass sie als nicht zur äthiopischen Gesellschaft zugehörig angesehen werden. Diese modernen Diskurse gingen sogar soweit, dass Muslime in Äthiopien bis in die Kaiserzeit Schwierigkeiten hatten, für eventuelle internationale Reisen einen Pass zu bekommen. In der muslimischen Tradition wiederum dominiert deren nicht-religiöse, aber ethnische Identifikation als Tigrayer. Man sieht allerdings, dass Muslime in allen historischen Zentren Tigrays zumindest als kleine Minderheit ansässig sind, auch in längst aufgegebenen früheren kulturellen und politischen Zentren – im Gegensatz zu den reinen Bauerngebieten Tigrays, die rein christlich geprägt sind. In lokaler Tradition werden teilweise alte Stätten mit der früheren Anwesenheit von Muslimen in Verbindung gebracht. Dies legt zunächst den Gedanken nahe, dass die muslimischen Gruppen Tigrays einerseits mit internationalem bzw. inter-regionalem Austausch über Handel in Beziehung stehen, andererseits aufgrund ihrer Anwesenheit auch an besonders alten Stätten als Gruppe schon lange im Hochland anwesend sind, vielleicht als separate Handelsclans, aber dennoch als Teil der sozio-politischen Makeups der Hochlandgruppen – wobei auch die Überlieferungen über „Migration“ als Ursache für ihre Anwesenheit weiterhin ernst zu nehmen sind, dann aber eine viel ältere Migration. Nun fällt auf, dass die tigrayischen Muslime eine Gruppe sind, von denen jeder in der Region weiß, mit ihnen interagiert, die auch in Publikationen regelmäßig erwähnt werden, diese aber in Bezug auf ihren ethnischen Makeup, ihre Ursprungsüberlieferungen, ihre Verbindungen zu migrierten Gruppen oder alten lokalen Bevölkerun-
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gen bisher praktisch kein Gegenstand von Forschungen waren, mit Ausnahme von epigraphisch-historischen Forschungen zu den ältesten arabischen Inschriften in Tigray ab etwa dem 10. Jahrhundert,49 die mit dieser Gruppe in Verbindung stehen. Wenn man vom Gedanken ausgeht, dass die christlich-orthodoxe Mehrheit des Hochlandes sich als die einzigen authentischen Einwohner der Region betrachten, was erklärt dann die kontinuierliche und offenbar weit über tausendjährige Präsenz dieser Gruppe? Sie muss eine Rolle innerhalb der Mehrheitsgesellschaft gespielt haben, die für deren sozio-politische Struktur von Wichtigkeit war. Dies führt uns direkt in die Frage der Interaktion von Minderheitsgruppen mit einer Mehrheitsgesellschaft, deren Fortbestand offenbar gegenseitig befördert wird – was auch relevant sein wird für das Verständnis von aus Migration hervorgegangene Gruppen mit bestimmten Funktionen innerhalb der Gesellschaft, wie im Fall der oben genannten „occupational groups“, aber auch im Fall von aus Migrationen hervorgegangenen Clans. Es gibt hier offenbar ein interessantes strukturelles Element. Feldforschungen wurden durchgeführt unter muslimischen Gruppen insbesondere in Mekelle (einschließlich mündlicher Überlieferungen im früheren muslimischen Zentrum von Kwiḥa, das heute zu Mekelle gehört), wesentlich weiter südlich entlang der nach Inner-Äthiopien führenden Route des östlichen Hochlandes in Ḥashenge im Dobaʿa-Gebiet und Maryam Nazret, tiefer innerhalb Tigrays in ʿAdwa, Nebelet und Inticchʾo, sowie nördlich von Mekelle in Agulaʿ, Wuqro und dem der Überlieferung nach ältesten muslimischen Zentrum von Negash, wo die ersten Gefolgsleute des Propheten Muhammad während der „ersten Ḥijra“ zur Zeit der Verfolgung des Islam beim aksumitischen König Zuflucht fanden und die erste islamische Gemeinschaft gründeten. Diese Überlieferung ist der Kern der auch in der christlichen Bevölkerung verbreiteten Auffassung, dass die Muslime aus einer Migration von jenseits des Roten Meeres hervorgegangen waren. Dies entspricht auch den Befunden aus den ältesten bekannten arabischen Grabstelen-Inschriften, die teilweise datiert sind und Namen detailliert erfassen, woraus sich Genealogien ergeben, die mit Genealogien des Sultanats der Dahlak-Inseln im Roten Meer – im heutigen Eritrea – übereinstimmen.50 49 G. Lusini (2004); A. Gori (2007a), 165–167; W. Smidt (2010b), 179–191; J. Loiseau (2020). 50 F.-X. Fauvelle-Aymar / B. Hirsch (2011), 25–54; W. Smidt (2004a), 259–268; M. Schneider (1967), 107– 118; M. Schneider (1969), 339–343. Neue Forschungsergebnisse eines französischen Teams, das während unserer laufenden Forschungen parallel dieselben Stätten besuchte, bestätigen den Befund der Verbindungen ins Rote Meer mit weiteren Details: J. Loiseau (2020), 59–96 (dort weitere Verweise). – Die 2013 begonnenen Forschungen dazu an der Mekelle University wurden in Vorträgen und ersten Pu-
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Die Forschungen zu den muslimischen Gruppen lassen sich im Ergebnis trotz ihrer Komplexität auf eine Formel bringen: Erstens fällt auf, dass muslimische Gruppen im tigrayischen Hochland besonders entlang seit der Antike genutzten Routen und insbesondere an Siedlungen, die auf aksumitische Zeit zurückgehen, anzutreffen sind (Agulaʿ, Kwiḥa; neuere Forschung bestätigte auch den aksumitischen Ursprung des muslimischen Pilgerzentrums Negash51 ). Besonders auffällig ist, dass an mehreren antiken Stätten, wie auf den Tempelresten des äthio-sabäischen Tempels von ʿAddi Akawɨḥ, islamische religiöse Rituale vollzogen wurden. Die Interpretation liegt nahe: Wahrscheinlich sind die dortigen Muslime, die immer als genealogisch untereinander verbundene Händlergruppen tätig sind, Nachfahren alter genealogisch organisierter Händlergruppen, die eben deshalb ausgerechnet an diesen ältesten Stätten siedeln, da sie altansässig waren, aber als mit dem internationalen Handel verbundene Gruppen zur Zeit des Aufstiegs des Islam übertraten und so den Anschluss an den nun islamischen internationalen Händlernetzwerke behielten. Somit sind sie also wohl Nachfahren nicht-migrierter, altansässiger spezialisierter Gruppen, deren Konversion zum Islam mit ihrer besonderen international ausgerichteten Beschäftigung zu erklären ist; dabei behielten sie sogar die Erinnerung an Kultstätten aus vorchristlicher Zeit. Also sind sie doch typische „Indigene“? Andererseits konnte in der Forschung an verschiedenen Stätten eine starke Betonung genealogischer Beziehungen zu migrierten Gruppen festgestellt werden: Dies waren detaillierte genealogische Erzählungen von über das Rote Meer gekommenen arabischen Familien, die sich im 16. Jahrhundert mit lokalen Familien verbanden (Nebelet, oder bereits in der Zeit des Propheten: Negash52 ), und von aus dem Tiefland bis in das 19. Jahrhundert eingewanderten Ḥazo, die insbesondere entlang der östlichen Handelsroute Tigrays siedelten (Negash, Wuqro, Mekelle). Die Ḥazo sind eine bedeutende muslimische Untergruppe der kuschitisch-sprachigen Saho in den Berggebieten am Rand des ʿAfar-Gebietes53 bzw. eine Gruppe der ʿAfar unter dem Namen Ḥasoba. Bemerkenswert ist daran, dass beide genannten Gruppen für zwei wichtiblikationen dargestellt, u. a.: J.-F. Breton (im Erscheinen), 1–13; J.-F. Breton / Yohannes Aytenew (2017), 46–49; J.-F. Breton / Yohannes Aytenew Ayele (2019), 53–66; Tekle Hagos / W. Smidt / Mahmoud M. Haggag Rashidy (2013), 150–153; s. auch der bisher nicht veröffentlichte Vortrag W. Smidt (2016). 51 Im Detail ausgeführt im bisher nicht veröffentlichten Forschungsbericht: W. Smidt (2018). Vgl. zum früheren Kenntnisstand: A. Gori (2007b), 1107–1109. 52 Die durch arabische Grabinschriften in Kwiḥa belegten Verbindungen zu Familien des arabisch dominierten Sultanats von Dahlak unterstreicht die Tatsächlichkeit der von der Überlieferung erinnerten arabischen Verbindungen. 53 Über die Ḥazo s. D. Morin (2007), 1078; D. Morin (2004), 188ff.
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ge Aspekte dieser für das nördliche Hochland wichtigen Handelsroute stehen: Erstens die arabischen Muslime, die den Rotmeerhandel dominierten und daher wichtig für die Aufrechterhaltung des internationalen Handels des äthiopischen Hochlandes waren, und zweitens die Ḥazo / Ḥasoba, die für die Handelsrouten in die östlichen Tiefebenen stehen, mit denen insbesondere der für das Hochland über Jahrhunderte sehr wichtige Salzhandel betrieben wurde. Dazu kommen in der Überlieferung noch weitere muslimische Gruppen wie die Dobaʿa im Grenzgebiet des südlichen Tigray und ʿAfar, auf die auch mehrere muslimische Genealogien verweisen. In den Überlieferungen der befragten muslimischen Familien wurde mehrfach darauf verwiesen, dass sie sowohl Tigrayer als auch Ḥazo seien und darum jederzeit mit den Ḥazo im direkt benachbarten ʿAfar-Gebiet54 „als Brüder“ interagieren könnten – womit hier ein weiterer Fall der eingangs erwähnten „inter-ethnic clan relations“ vorliegt, der in diesem Fall durch gegenseitige Migration den Handel stabilisiert.
Abb. 3: Die Kupferkanne der alten Moschee von Negash; 4. Juni 2018 (Foto von W. Smidt) 54 Diese heißen im ʿAfar-Gebiet Ḥasoba, aber allen Mitgliedern des Clans ist, nach Interviews mit Nachkommen sowohl in Tigray, Irob als auch ʿAfar, die Identität mit dem Clan der Ḥazo Allgemeingut (siehe dazu auch: D. Morin (2004), 188ff.). Dabei ist die übliche Erklärung, dass das -z- des Hochlandes sich in der ʿAfar-Aussprache in ein -s- wandelt, wobei die Endung -ba die Herkunft bezeichnen soll. Unter den Saho-sprachigen Irob, die sprachlich und ethnisch den ʿAfar besonders nahe stehen, heißt der Clan auch Ḥado.
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In der Überlieferung von Negash wird auf einen besonders alten Gegenstand verwiesen, der aus dem internationalen Rotmeerhandel stammt und die Fernbeziehungen der Muslime so symbolisch darstellt: Eine wohl aus dem Osmanischen Reich stammende einfache Kaffeekanne (siehe Abb. 3), die seit Generationen eine rituelle Rolle zu spielen hat. Jeden Freitag wandert diese Kanne von einer Familie in Negash zu einer anderen, die damit den Auftrag erhält, für die Muslime des Ortes den ganzen Tag Kaffee zuzubereiten. Mit jedem Weiterwandern dieser Kanne wird eine andere Familie einbezogen, womit dieser wandernde Gegenstand symbolisch die Gemeinschaft der muslimischen Gemeinde herstellt. Dabei spielt die Kanne nicht nur als ritueller Gegenstand eine Rolle. Die symbolische Bedeutung ist hinzuzufügen: einerseits ist ihre Beziehung mit dem aus Äthiopien stammenden Kaffee evident (also ein indigenes Element), andererseits weist sie als Importgegenstand eine Verbindung in die arabische Welt auf (sie steht so für die Migrationsgeschichte der Gruppe). Damit passt dieser aufgrund der rituellen Bedeutung kulturell stark aufgeladene Gegenstand gut auf die Identität der ansässigen Muslime, die sich selbst zwar als altansässig beschreiben, gleichzeitig aber auch als Erben umfassender, über das Rote Meer und in die ʿAfarTiefebenen reichenden Migrationsnetzwerke. Dabei geht aus der Familiengeschichte befragter Familien hervor, dass diese je nach wirtschaftlichen und politischen Opportunitäten mehrfach – entlang der Routen – ihren Hauptstandort wechselten, wobei ihre Erinnerung weiter auf einen ursprünglichen Siedlungsort verwies. Damit ist hier im Detail ein Fall einer typischen „Hin-und-Her-Migration“ fassbar, die uns im Rahmen unserer Frage nach alten Mustern von Migration interessiert: Eine lokale Gruppe, in diesem Fall eine genealogisch organisiertes Händlernetzwerk, verbindet sich mit migrierten Gruppen von außen und sichert sich damit langfristige eine netzwerkende Stellung. Eine solche Gruppe ist somit gleichzeitig indigen und Teil einer überregionalen Migrationsgeschichte, die durch systematische Integration produktiv gemacht wird und in der Folge Migration und die Neuverbindung mit migrierten Gruppen je nach Situation als Lebens- und Lösungsmodell jederzeit wiederaufleben lässt.
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(3) Versklavung als Migrationsfaktor: Die „schwarzen“ Chʾaré und Shiro in einem dichotomischen Gesellschaftsmodell Der folgende Abschnitt stellt den spezifischen Fall einer dichotomischen Aufteilung einer Gesellschaft in zwei Gruppen vor, in dem die Dichotomie eine gesellschaftliche Hierarchie ausdrückt und in der beide Gruppen von einem Zusammenspiel von Migration und Altansässigkeit geprägt sind – wobei sich migrierende Personen jeweils in ein lokales dichotomisches Modell einfügen. Dieses Beispiel beruht auf 200855 und 201256 in Kooperation mit der Mekelle University ausgeführten Feldforschungen im Tieflandgebiet von Mezega in Westtigray, bei denen es um die Dokumentation von Siedlungsgeschichte der Region, Migrationen und kulturellem Erbe ging. In unserem Zusammenhang interessieren uns besonders die ethnischen Minoritäten in der Region und deren Beziehungen mit der tigrayischen Mehrheitsgesellschaft. Die westtigrayische Region ist von einer vielfältigen Geographie und als Grenzland zwischen sudanesischen Völkern im Westen, tigrayischen Hochländern und seit dem 17. Jahrhundert expandierenden amharischen Machtzentren im Süden von zahlreichen recht unterschiedlichen Gruppen geprägt. Besonders auffällig in der Region ist der häufige Verweis von tigrayischen Gesprächspartnern und Kulturspezialisten auf eine in der Region lebende „schwarze“ Minderheit, die von den tigrayischen Hochländern die „Tsellim Bét“ genannt werden, das „Haus der Schwarzen“ (im Sinne eines „Stammes“ der Schwarzen.)57 Da diese in Kontrast zu der sich selbst als „rot“ bezeichnenden 55 Dazu der Forschungsbericht: W. Smidt (2011a), 102–125. 56 Siehe der Bericht Mitiku Gabrehiwot (2012), 150–153. 57 Diese Übersetzung ist zutreffender als die wortwörtliche Übersetzung „Schwarzes Haus“ (W. Smidt (2011a)). Dieser Begriff zeigt ein dichotomisches, holzschnittartiges Verständnis der Gesellschaft, die sich also in „Schwarze“ und „Rote“ unterteilt. Das neutral gedachte Exonym „Tsellim Bét“ verdeckt eine andere holzschnittartige Begrifflichkeit, die allerdings pejorativ und rassistisch aufgeladen ist. In informeller Sprache nannten Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft diese Gruppe einfach „Barya“, der im Tɨgrɨñña etablierte Begriff für „schwarze Sklaven“ (H. Salamon (2003), 489–490). Mehrere Gesprächspartner unterstrichen, dass diese immer in einem Herr-Sklaven-Verhältnis standen, solange die im Hochland ansässigen Tɨgrɨñña-sprachigen „Herren“ vor den Landreformen der TPLF über weite Ländereien im Tiefland verfügten, auf denen die „Schwarzen“ bzw. „Barya“ zu arbeiten hatten. Diese seien grundsätzlich unfrei, es gebe aber auch Barya ohne Herren, die „nay seʿari Barya“ genannt wurden, „die Sklaven des Grases“, da sie nur „dem Gras“ dienten. Diese Begrifflichkeit zeigt, dass sie schlechterdings nicht als wirklich frei gedacht wurden, sondern auch in dieser „wilden“ Freiheit eigentlich Sklaven blieben. Sie seien ohne Kultur und könnten daher jederzeit eingefangen und dem Dienst unterworfen werden. Diese Erläuterungen entsprachen nicht dem öffentlich üblichen Diskurs, der der Anordnung der Regierung folgte, diese zu integrieren und als gleichberechtigt zu behandeln. Aufgrund der Landpolitik der TPLF erhielten sie eigenes Land bei der Verteilung der großen Ländereien der „Herren“ des Hochlandes. Aber diese Ausführungen zeigen, dass hinter der dichotomischen Beschreibung der Gesellschaft eine massive Abhängigkeits- und Ausbeutungsstruktur stand, innerhalb derer diese Gruppe zu den Abhängigen bzw. Unterworfenen gehörte. Vgl. Habtom Gebremedhin / W. Smidt (2010), 496–498.
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Mehrheitsgesellschaft, den tigrayischen Ḥabesha58 , stehen, sind diese für uns von besonderem Interesse. Während sie von manchen Informanten als Einheimische angesehen wurden, bezeichnete sie ein besonders in lokalen Überlieferungen versierter Gesprächspartner als verschleppte Sklaven „aus Metemma“.59 In welchem Verhältnis stehen diese „Roten“ und „Schwarzen“ miteinander? Wer wird als Migrationsgruppe angesehen? Was sagen die eigenen Überlieferungen dieser „Schwarzen“, und wie definieren sie sich, kommunizieren oder verbergen sie ihre Identität oder akzeptieren sie die ihnen aufgedrückten Labels der Mehrheitsgesellschaft? Wie gerieten sie in ihre Minderheitsposition und was besagen ihre Überlieferungen? Die Feldforschung konnte nur erfolgreich sein aufgrund der bald schon vertrauensvollen Unterstützung mehrerer untereinander verwandter und befreundeter Mitglieder der sogenannten „Tsellim Bét“ im Städtchen May Gaba in Tiefland von Mezega. Die von tropischem Klima geprägte, wenig besiedelte Region Mezega ist westlich des am Abbruch des tigrayischen Hochlandes gelegenen Gebietes des Waldɨbba-Klosters gelegen und direkt östlich des von Tɨgrɨñña-Sprechern geprägten Welqayt, eines bereits in älteren Quellen auftauchenden traditionell überaus autonomen Gebietes. Mezega als fruchtbares, von Flüssen durchzogenes Tiefland ist insbesondere für das im Hochland liegende Welqayt und dessen regelmäßig das Tiefland mitnutzende Bauernbevölkerung wichtig. Der „Stamm der Schwarzen“, wie die tigrinnische Bezeichnung lautet, ist deswegen nur in Anführungszeichen zu lesen, da die Nachfrage vor Ort eigene Ethnonyme ergab, die intern benutzt werden, der Mehrheitsbevölkerung aber völlig unbekannt sind: Überliefert sind die Gruppen der Chʾaré und der Shiro. Deren Geheimhaltung ihrer Identität und Überlieferungen deuten auf ein schwieriges Machtverhältnis hin, was die weiteren Forschungen bestätigten. Wichtig ist hier der Kontrast zwischen Innenansicht und Außenansicht. Von außen anders bezeichnet als von innen, werden sie von außen auch durchaus anders beschrieben, als es ihren Überlieferungen entspricht. Dies betrifft zunächst ihre Spra58 Dieser Begriff, der in etwa dem alten europäischen Begriff „Habessinier“ (später: Abessinier) entspricht, ist ein altes Ethnonym, das in älterer Zeit ausschließlich äthio-semitische Sprachen sprechende Hochländer für sich verwendeten. Da diese Träger des alten christlichen Staates Äthiopien waren, wurde Äthiopien von Außenstehenden oft „Abessinien“ genannt, das eigentlich ein ethnisch-geographischer Begriff, kein Staatsbegriff ist. Zur Geschichte des Begriffes Ḥabeša siehe: E. Ficquet / W. Smidt (2014), 339–340; W. Smidt (2014b), 37–69. 59 Diese oben schon erwähnte äthiopische Grenzstadt war bis ins frühe 20. Jahrhundert eines der wichtigsten Zentren des Sklavenhandels mit dem Sudan, in das verschleppte Personen meist aus südlich und südwestlich von Äthiopien gelegenen Regionen gebracht wurden. Im Umland von Metemma und südlich davon lagen außerdem die alten Siedlungsgebiete der Gumuz, die ebenfalls vielfach in die Sklaverei gezwungen wurden.
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che: Die befragten Mitglieder der tigrayischen Mehrheitsbevölkerung berichteten – zunächst vermeintlich zu Recht –, dass diese „Schwarzen“ lediglich Nachfahren verstreuter Sklaven ohne eigene Sprache und eigene Tradition seien. Sie seien aber vertraut mit dem Tiefland und seinen gesundheitlichen Gefahren sowie mit Heilmethoden, anders als die – meist seit dem 17. Jahrhundert zugewanderten – tigrayischen Hochländer, die ihre übernatürlich scheinenden Kräfte in Anspruch nähmen. Damit wird hier, wenn auch in Form einer magisch aufgeladenen Projektion, ein besonderes Gruppenwissen dieser Bevölkerung vorausgesetzt. Damit ergeben sich hier interessante Fragen: Ist die offenbar vorausgesetzte niedrige Stellung dieser Gruppe vor allem ein Zeichen einer beidseitig aktiven kulturellen Abgrenzung, die dazu dient, Gruppenidentitäten aufrechtzuerhalten?
Abb. 4: Ein ehemaliger Tɨgrɨñña-sprachiger Sklave, Sohn eines Oromo-Sklaven, in Mezega, West-Tigray, berichtet von seiner Herkunft zwangsverschleppter Gruppen, 2012 (Foto von W. Smidt)
Zunächst ein Blick auf die Sprache: Tatsächlich sprechen die während der Forschungen interviewten Personen oft nur noch ausschließlich Tɨgrɨñña im Alltag, erinnerten sich aber an Elemente ihrer eigenen Sprache. Die Gesprächspartner waren praktisch ausnahmslos Chʾaré, mit Ausnahme einer Familie aus der Gruppe der Shiro, mit der nur eine kurze Begegnung gelang, und einem hochbetagten ehemaligen Skla-
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ven, dessen Vater Oromo war, und ebenfalls von den „roten“ Tigrayern unter den „Stamm der Schwarzen“ subsumiert wurde. Letzterer hatte erst im Zuge der Landumverteilung durch die in dieser sudanesisch-äthiopischen Randregion operierende Tigrayische Volksbefreiungsfront (TPLF), die später an die Regierung kam, in den späten 1980er Jahren Land erhalten und erst hierdurch die Anerkennung als äthiopischer Bürger mit gleichen Rechten erhalten. Seine Lage ist insofern typisch für solche verschleppten Gruppen, die trotz ihrer großen Zahl in ihrer Siedlungsregion aufgrund ihrer „Nicht-Zugehörigkeit“ zur Herrschaftsgruppe eine politische Minderheit bilden. Die Chʾaré-Sprache war den interviewten Personen noch in Fragmenten bekannt, die wenige Sätze und Einzelvokabular aus ihrer Kindheit erinnerten, die aber aufgrund ihrer prekären Stellung als von einer von an Sklaven interessierten mächtigeren Mehrheitsgesellschaft bedrohten, wiederholt versprengten Minderheit nicht bewahrt werden konnte. Die Sprachreste waren allerdings genug, um sie dem Gumuz-Cluster zuzuordnen, einer Gruppe von nah verwandten nilo-saharanischen Sprachen, die vor allem in der viel weiter südlich gelegenen Region Metemma und südlich davon im Regionalstaat Benishangul-Gumuz vorkommen. Die Chʾaré betonten allerdings, noch nie von den Gumuz gehört zu haben und betrachteten sich als separate Gruppe und den Namen Chʾaré, der auf eine Waffenbezeichnung zurückgeht, als ihren eigentlichen Gruppennamen. Ein typischer Satz, den man von gastfreundlichen Chʾaré hört, ist „kiiya forgummo!“ – „Trink Bier!“ oder „Möchtest Du Bier?“ Bier wird gelobt als „megahamma kiiya“ – „gutes Bier“. Bei Festen werden noch Gesänge in Chʾaré und Shiro gesungen, aber die Sprachen sind aus der Alltagssprache verschwunden. In der Shiro-Sprache wurde nur ein einzelner Satz erinnert: „ɨnta durchʾa“ – „gutes Bier“,60 auch dies aus dem Bereich der Gastfreundschaft und des Gruppenlebens. Die erhaltenen Sprachüberreste, das sei hier kurz zusammengefasst, gehören vor allem in den Bereich von Landwirtschaft, Ernährung und Gastlichkeit bzw. des Zusammenlebens der Gruppe. Wenn wir in Hinblick der Disparität dieser beiden Gruppen und deren erkennbaren Trennung von der Mehrheitsgesellschaft auf die Geschichte ihrer Migrationen sehen, kommt ein vielfältiges Bild heraus. Dieses ist noch nicht endgültig und bedarf weiterer Forschungen, die seinerzeit aufgrund einer ansteigenden Krisenhaftigkeit der 60 Versuche, den hier (erstmals publizierten) Rest aus der Shiro-Sprache einer der bekannten Sprachen der weiteren äthiopischen Region zuzuordnen, sind bisher gescheitert.
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Abb. 5: Ein „schwarzer“ Tsellim Bét (r.) mit einem „roten“ Ḥabesha (Mitte) in Meguʾ, Mezega, 2008 (Foto von W. Smidt)
Region unterbrochen werden mussten und derzeit aufgrund Krieges nicht möglich sind. Aber aus den vorhandenen Berichten von alteingesessenen tigrayischen Siedlern und Angehörigen der Gruppen der Chʾaré und Shiro lässt sich folgendes zum Verständnis der Interaktion dieser Gesellschaftsgruppen und zur Rolle von Migration herausdestillieren: Am auffälligsten ist die dichotomische Aufteilung in „Rote“ und „Schwarze“, die uns hilft, ein zugrundeliegendes Gesellschaftsmodell zu erkennen. Die Berichte zeigen außerdem, dass beide Gruppen von verschiedenen Gesprächspartnern als migriert bzw. altansässig angesehen werden; dazu kommen Berichte von sehr rezenten Migrationen. Beide Gruppen, die „Roten“ und die „Schwarzen“, haben jeweils Migrationsgeschichten aufzuweisen, jedoch fügen sie sich ein offenbar älteres lokales dichotomisches Gesellschaftsmodell ein, das in dieser Grenzregion zum Sudan reproduziert wurde.
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IV. Zusammenfassung Die hier vorgestellten Modelle sehr verschiedener Formen von Migration und migratorischer Interaktion zwischen Staatswesen bzw. sozio-politischen Gruppen sind vielfältig in ihrer Erscheinungsform, aber bei weitem nicht vollständig. Es wäre vermessen, aus dieser Fülle der Empirie bereits endgültige Folgerungen ableiten zu wollen. Es bleibt die Herausforderung der weiteren empirischen Forschung mit größerer Zeittiefe und räumlicher Weite in der Gesamtregion, die zu weiterer Differenzierung verhelfen wird und zu noch klarerer Herausarbeitung von sich wiederholenden Mustern. Die sechs vorgeschlagenen Hauptphänomene stellen im jetzigen Stadium ein vorläufiges Modell dar, um gewisse typische Grundzüge bzw. Muster in der Empirie erkennen zu können. In allen Fällen zeigen sie einen hohen Grad organisierter Interaktion, die rein vertraglich ablaufen kann wie im Fall von gegenseitiger Zubilligung von Exklaven in benachbarten Territorien, oder mittels regelunterworfener Gewalt wie im Fall von Militäransiedlungen, oder auf der Basis ökonomischer Kooperation wie im Fall von Handelsgruppen, die entlang bekannter Wege siedeln und migrieren – und dies mehrfach in die jeweils gegengesetzte Richtung je nach Situation, Chance und Druck. Um die Relationen noch deutlicher zu machen, kann versucht werden, die genannten Grundmuster noch knapper gefasst in nur drei Hauptmodelle herunterzubrechen: 1. „Hin-und-Her-Migration“ – eine perpendikulare Migrationsform, in der kleinste und größere Gruppen aufgrund ökonomischer Chancen oder Drucks bestimmte Routen entlang wandern, über Generationen hinweg in wechselnde Richtungen, und dabei Verbindungen mit lokalen Gruppen zum Teil dauerhaft aufnehmen und eine gewisse Zeit lang Verbindungen zwischen den verschiedenen Stationen der Wanderung aufrechterhalten. 2. Eine integrative Migration – bei der Gruppen verschiedenster Größe im Rahmen ökonomischer oder politischer Umbrüche in neuen Gebieten siedeln und einen Kulturwechsel durchlaufen, entweder durch Schaffung hybrider Identitäten, durch vollständige Assimilierung, oder je nach ökonomischem und politischem Anreiz Anstoß eines Kultur- und Sprachwechsels der aufnehmenden Bevölkerung. 3. Migration mit der Folge eines Bevölkerungsaustauschs – bei der Gewalt im Zentrum steht und große Zahlen von Menschen bewegt werden, entweder als Vertriebene oder als bewaffnete Neusiedler, gefolgt von Kultur- und Sprachwechseln und möglicher Hybridisierung.
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Die eine typische Migration gibt es also nicht. Alle drei Grundformen können dabei wechselweise ineinander übergehen, mit der Tendenz integrativer Organisationsformen, in manchen Fällen unter Bewahrung von an ökonomischer Arbeitsteilung orientierten Gruppengrenzen. Festzuhalten bleibt, dass die dritte Form besonders selten ist. Es gilt in jedem Fall, dass jeder der vielfältigen Fälle von Migration immer in erster Linie Varianten der Interaktion von Gesellschaften und ihren Gesellschaftsmodellen sind, von Handel, Wissensaustausch (wie religiöser Lehre) bis hin zu Neuverteilung von Land und anderen Ressourcen. Migration ist also nicht als getrennt fassbares Phänomen zu begreifen, sondern ist selbst als integrativer Teil umfassenderer Gesellschaftsmodelle anzusehen, in der eine in permanenten Migrationen und ökonomischen Differenzierungen entstandene Vielfalt von Gruppen und die Nutzung von Fernwegen bereits grundsätzlich vorauszusetzen sind. In diesem Sinne besonders aussagekräftig scheint der oben an letzter Stelle vorgestellte Fall der offenkundig von älteren Vorgänger-Gesellschaften ererbten dichotomischen Strukturierung in Schwarze / Rote zu sein, wobei keine der beiden die migrierte Gruppe im Gegensatz zur indigenen ist, sondern beide jeweils aus Interaktionen von Migration und älterer Ansässigkeit hervorgingen. Mit diesem Beispiel wird das auch in anderen Fällen beobachtbare Modell gut illustriert, in dem ein lokales sozio-kulturelles gesellschaftliches Organisationsmodell existiert, das als Rahmen für vielfältige Interaktionen und Migrationen dient und diese so organisiert, dass eine bestimmte rechtliche und ökonomische Strukturierung gewährleistet wird. Es mag den Leser überraschen, dass die hauptsächlich erwartete Form von Migration, nämlich die einer massiven, gewaltsamen, unterwerfenden Invasion durch große Bevölkerungen, hier kaum behandelt wurde. Dies liegt wie geschildert daran, dass die bisher im Detail untersuchten Migrationen diesem vereinfachten und aus modernen „Völkerwanderungs-Narrativen“ stammenden Modell nicht entsprachen. Damit sei nicht gesagt, dass solche Invasionen mit massiven Folgen nicht existierten bzw. nicht vorkommen können. Doch sei darauf verwiesen, dass diese offenkundig im vorhandenen Set an Überlieferungen und historischen Quellen nur sehr selten vorkommen. In Narrativen mit stark politischem Hintergrund kommen sie allerdings desto häufiger vor, da durch das Bild wandernder Menschenmassen, die womöglich einer „zerstörerischen Kultur“ (oder im Gegenteil einer „zivilisatorischen Macht“) angehören, nutzbare politische Emotionen kreiert werden können. Auch die in der Erwartung sehr prominent vorkommenden Fälle einer gewaltsamen politisch-wirtschaftlichen
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Kolonisation, wie wir sie besonders aus der Geschichte des späten 19. Jahrhunderts kennen, kommen in den vorhandenen Quellen wesentlich weniger prominent vor, im Vergleich zur Vielzahl anderer Formen von Migration. Eine im Sinne dauerhafter Unterwerfungen kolonisierende Migration kam vor allem im Zusammenhang mit erheblichen Vorsprüngen in der Waffentechnik zustande, im Zusammenspiel mit einer staatlichen Logistik wie erfahrenen Verwaltungen, die Eroberungserfolge auch halten konnte. Häufiger waren sicherlich kleinteiligere Unterwerfungen, gefolgt von komplexen Interaktionen und Vereinbarungen aufgrund neu etablierter gegenseitiger Abhängigkeiten. Vorläufig soll hier also, angesichts der Fülle an Formen von Migration, die auf zum Teil überraschenden Formen der Regelung von Interaktionen verschiedener Gruppen und sozio-politischer Gemeinwesen beruhen, der Vorschlag gemacht werden, kleinteiligen und polyzentrischen Modellen bei der Interpretation von Migrationsüberlieferungen den Vorzug zu geben vor den dramatischeren und sehr plastisch erzählbaren Annahmen von spontanen, flutartigen Masseneinwanderungen bzw. von gewaltsamen und restlosen Unterwerfungen durch starke Zentren oder große, mächtige Bevölkerungen. Als Arbeitshypothese sei formuliert, dass Migration oft mit Neudefinition von Dominanz-Schwerpunkten (nicht: ausschließlicher Dominanz) einhergeht, das heißt mit der Neuverhandlung ökonomischer und politischer Zuständigkeiten, aber immer begleitet von regelhafter bzw. neu geregelter teilweise konfliktueller, teilweise diplomatisch-pragmatischer Interaktion mit dem Ergebnis eines neuen Gleichgewichts von Bevölkerungsgruppen im Sinne von gegenseitiger Integration und Interessensausgleich. Kurz: Statt Etablierung von Dominanz als Hauptmuster findet man verschiedene Formen von Teil-Dominanz verbunden mit massiver Interaktion und oft auch eine Hin-und-Her-Migration entlang von Wegen, mit der politisch und/oder ökonomisch vorteilhafte Verbindungen entfernter Gruppen organisiert und aufrechterhalten werden.61 61 Nota bene: Moderne politische Diskurse sind vielfach im Irrtum verfangen, globale und internationale Beziehungen seien ein ganz modernes und obendrein ein rein europäisches Phänomen. Außereuropäische Länder werden als „Neuankömmlinge“ im internationalen Geschäft angesehen, was zu Naivität in der Beurteilung ihrer oft komplexen und alten internationalen Verflechtungen führt. Gerade aber der internationale Aspekt in der Geschichte alter nicht-europäischer Staaten hilft uns, einen vielfach übersehenen Faktor bei Migrationen zu sehen: Eine bedeutende Wirkung von Migration kann deren Katalyse-Effekt zur Förderung internationaler Beziehungen sein, von Handel bis hin zu Bündnissen bestimmter Gruppen bei Konflikten, und gleichzeitig kann Migration durch diese ausgelöst und gefördert werden; des weiteren kann eine auf Migration zurückgehende Gruppe eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung von Beziehungen über größere Distanzen einnehmen.
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Summary Culturally oriented historical research on Northeast Africa regularly makes old patterns of international and regional migratory relations visible. Migrations of different forms appear in historical sources as well as in various forms of local traditions, many of which refer to older or even ancient memories (especially in the form of founding legends and legal narratives). As a rule, migrations should not be understood as purely spontaneous historical events triggered by momentary and isolated events and thus unplanned and pattern-less. Likewise, migration should not be considered detached from the manifold forms of trans-regional relations ranging from migration and re-migration to trade relations and pilgrimages. The Ethiopian highland state linked itself early on with regions and states both in inner Africa (as in the direction of the Gonga empires such as Kafa) and beyond the Red Sea (as via longdistance pilgrimages to Jerusalem or migration of traders and soldiers). This paper describes selected traditions of various migrations mainly in northern Ethiopian regions in the sense of smaller or larger population movements designed to last for a certain period of time, which regularly lead to permanent interactions – peaceful and conflictual – with populations in a specific area already marked by settlements and thus necessitating the negotiation of resources and socio-cultural forms of interconnection.
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Wolbert G.C. Smidt
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Smidt, W., Legends and Tales on the early history of Yeha in today’s oral tradition of Tigray, IVth International Enno Littmann Conference (ELKIV), 3. April 2014 (unveröffentlichter Vortrag). (= W. Smidt 2014a) Smidt, W., The Term Ḥabäša: An Ancient Ethnonym of the „Abyssinian“ Highlanders, in: Hatem Elliesie (Hg.): Multidisciplinary Views on the Horn of Africa, Studien zum Horn von Afrika 1, Köln 2014 , 37–69. (= W. Smidt 2014b) Smidt, W., Preliminary Report on an Ethnohistorical Research Among the Chʾaré People, a Hidden Ethnic Splinter Group in Western Tigray, ITYOP̣ IS – ኢትዮጲስ, Northeast African Journal of Social Sciences and Humanities, Bd. I/2011, 102– 125 (= W. Smidt 2011a) Smidt, W., Tigray – eine Erinnerungslandschaft als Netzwerk von Bauern, Fürsten und Kriegsherren: Die äthiopischen Nordprovinzen in der lokalen Tradition, in: St. Wenig (hrsg.), In kaiserlichem Auftrag: Die Deutsche Aksum-Expedition 1906 unter Enno Littmann, Bd. 2: Altertumskundliche Untersuchungen der DAE in Tigray/Äthiopien, Forschungen zur Archäologie Außereuropäischer Kulturen 3.2, Wiesbaden 2011, 35–63. (= W. Smidt 2011b) Smidt, W., Qallābāt, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 4 (O–X), Wiesbaden 2010, 253f. (= W. Smidt 2010a) Smidt, W., Another unknown Arabic inscription from the eastern Tigrayan trade route: Indication for a Muslim cult site during the „Dark Age“?, in: W. Raunig / Prinz Asfa-Wossen Asserate (Hg.), Orbis Aethiopicus Beiträge zur Geschichte, Religion und Kunst Äthiopiens. In memoriam Peter Roenpage. Juden, Christen und Muslime in Äthiopien – ein Beispiel für abrahamische Ökumene, Band XIII, Dettelbach 2010, 179–191. (= W. Smidt 2010b) Smidt, W., Law: Traditional Law Books, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 3 (He-N), Wiesbaden 2007, 516–518. (= W. Smidt 2007a) Smidt, W., Mao, ethnography, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 3 (He–N), Wiesbaden 2007, 756–760. (= W. Smidt 2007b) Smidt, W., Massawa, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 3 (HeN), Wiesbaden 2007, 849–854. (= Smidt 2007c) Smidt, W., Die äthiopischen und eritreischen Mittler, in: St. Wenig (hrsg. in Zusammenarbeit mit W. Smidt, K. Volker-Saad und B. Vogt): In kaiserlichem Auftrag: Die Deutsche Aksum-Expedition 1906 unter Enno Littmann, Bd. 1, Forschungen zur Archäologie Außereuropäischer Kulturen 3.1, Aichwald 2006, 145–157.
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Wolbert G.C. Smidt
Smidt, W., Dəgsa, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 2 (D–Ha), Wiesbaden 2005, 125–126. (= W. Smidt 2005a) Smidt, W., Genealogy: socio-cultural role, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 2 (D–Ha), Wiesbaden 2005, 741–745. (= W. Smidt 2005b) Smidt, W., Ḥabeş, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 2 (D–Ha), Wiesbaden 2005, 950–952. (= W. Smidt 2005c) Smidt, W., Ḥamasen, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 2 (D– Ha), Wiesbaden 2005, 987–990. (= W. Smidt 2005d) Smidt, W., Eine arabische Inschrift in Kwiḥa, Tigray, in: V. Böll et al. (Hg.): Studia Aethiopica in Honour of S. Uhlig on the Occasion of his 65th Birthday. Wiesbaden 2004, 259–268. (= W. Smidt 2004a) Smidt, W., ʿAd Sheykh „Holy Family“, in: Ph. Jestice (Hg.): Holy People of the World. A Cross-Cultural Encyclopedia, Santa Barbara / Denver / Oxford 2004, 8–9. (= W. Smidt 2004b) Smidt, W., Adgəna Tägäläba, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 1 (A – C), Wiesbaden 2003, 94f. (= W. Smidt 2003a) Smidt, W., Adkämä Məlgaʾ, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 1 (A – C), Wiesbaden 2003, 96f. (= W. Smidt 2003b) Smidt, W., Akkälä Guzay, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 1 (A – C), Wiesbaden 2003, 166–168. (= W. Smidt 2003c) Smidt, W., Anfillo ethnohistory, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 1 (A – C), Wiesbaden: Harrassowitz 2003, 262–264. (= W. Smidt 2003d) Smidt, W., Bilin history, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 1 (A – C), Wiesbaden 2003, 586–588. (= W. Smidt 2003e) Tekle Hagos / Smidt, W. / Mahmoud M. Haggag Rashidy, The two Arabic inscriptions of Mekelle Museum: A further contribution to the history of the eastern Tigrayan trade route (IV), in: ITYOP̣ IS - ኢትዮጲስ, Northeast African Journal of Social Sciences and Humanities 3, 2013, 150–153. Tsegay Berhe / Smidt, W., Ǝggäla, in: S. Uhlig et al. (Hg.): Encyclopaedia Aethiopica, Bd. 2 (D–Ha), Wiesbaden 2005, 238–239. Uhlig, S., Eine trilinguale ʿEzana-Inschrift, in: Aethiopica 4, 2001, 7–31. Wolska-Conus, W., (Hg.), Cosmas Indicopleustès, Topographie chrétienne, Bd. 1, Sources chrétiennes 141, Paris 1968.
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Zegeye Woldemariam Ambo, From African Kingdom to Ethiopian Province: Society, Ecology, and Politics — an ethnohistorical study of the Kingdom of Kafa, South-West Ethiopia, ca. 1600–1900 (PhD Dissertation in Vorbereitung, vorgestellt 21. Oktober 2022 im Workshop „First Annual Meeting of the GermanEthiopian Fellowship Initiative of the Gerda Henkel Foundation“, Forschungskolleg Gotha der Universität Erfurt), [unveröffentlicht]. Zegeye Woldemariam Ambo, Local Knowledge of Borders and Territoriality of the Kingdom of Kafa: Historical insights on the Kelloo system appearing on Bieber’s Map, Welcome Workshop for Gerda Henkel Fellows, Forschungskolleg Gotha der Universität Erfurt, 21. April 2022 (unveröffentlichter Vortrag).
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Judäer und die babylonische Rechtstradition1 Cornelia Wunsch, Dresden
Seit eine Gruppe von babylonischen Keilschrifttexten bekannt geworden ist,2 die aus der Zeit des neubabylonischen Reiches und der ersten Achämenidenherrscher (d.h. der Exilszeit und frühen nachexilischen Zeit) stammen und deren Hauptpersonen sich durch ihre Namen mit dem theophoren Element Jāḫû oder Jāma3 als Nachkommen der exilierten Bewohner Judas ausweisen, gibt es erstmals die Möglichkeit, die Auswirkungen der erzwungenen Migration auf der Basis von zeitnahen extrabiblischen Originalquellen zu studieren. Bei den Tafeln handelt es sich überwiegend um Schuldscheine oder Quittungen, die mit Geschäften oder administrativen Vorgängen verbunden sind.4 Aus ihnen ergibt sich, daß die deportierten Judäer in „babylonischer Gefangenschaft“ keine Sklaven waren, sondern einen Status besaßen, der ausdrücklich den Verkauf dieser Personen von und an private Besitzer ausschloß.5 Die deportierten Judäer wurden in ethnisch homogenen Gruppen im Hinterland von Babylon, abseits der großen Zentren, an neuen Kanalläufen entlang auf potentiell fruchtbarem Land angesiedelt. Dort erhielten Familien Parzellen innerhalb von grö1
2 3 4 5
Mein herzlicher Dank gilt Martin Schøyen für sein großzügiges Angebot, die neubabylonischen Tafeln der Schøyen-Sammlung zu studieren und editieren, Elizabeth Sørensen für ihre Gastfreundschaft, Andrew George für seine Ratschläge und Unterstützung, sowie all jenen Kollegen, die mir im Rahmen von Konferenzen und Seminaren ermöglichten, meine Gedanken zu diesen Texten zur Diskussion zu stellen und zu präzisieren. Die bislang publizierten Texte (ohne Berücksichtigung derer von Bīt-Abī-rām, die einem königlichen Beamten zuzuordnen sind und Judäer nur am Rande erwähnen) sind F. Joannès / A. Lemaire (1999); K. Abraham (2005); K. Abraham (2007), L.E. Pearce / C. Wunsch (2014) sowie C. Wunsch (2022). In der neubabylonischen Orthographie wird /w/ durch /m/-haltige Zeichen wiedergegeben (anders als in früheren Perioden, in denen u. a. PI bevorzugt wurde). Die Schreibungen -ia/iá-a-ma oder -a-a-ma etc. bedeuten also nicht, daß ein /m/ für die Aussprache des Gottesnamens anzusetzen ist. Eine inhaltliche Zusammenfassung und Diskussion bietet T. Alstola (2019), 102–163. In Sklavenkaufverträgen der Achämenidenzeit bürgt regulär der Verkäufer oder eine dritte Person, daß der verkaufte Sklave keine freie Person (mār-banê), kein Tempelabhängiger (širku), kein königlicher Sklave (arad-šarri) und kein šušānû ist. Letzterer Terminus trifft auf die Judäer zu (im Einzelnen
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Cornelia Wunsch
ßeren Einheiten, die per Los zugeteilt wurden.6 Die Ortschaften im Fokus der überlieferten Texte lassen sich nicht genau lokalisieren, da kein archäologischer Kontext der Tafeln bei ihrer Auffindung bekannt ist. Innere Kriterien (Personen- und Ortsnamen, die in ihnen vorkommen) weisen auf die Gegend südlich und östlich von Babylon hin, im babylonischen Kernland, aber von den städtischen Zentren weit entfernt. Sie heißen Al-Jaḫūdāia bzw. Al-Jaḫūdu (d.h. Ortschaft der Judäer bzw. JudahStadt) und (Bīt)-Našar (Haus Adler). In ihrem Umfeld müssen weitere Ortschaften bestanden haben, in denen Exilierte anderer Herkunft (z.B. Edomiter, Araber und Ägypter) lebten, die gelegentlich in den Urkunden erscheinen. In welchem Grade ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt war, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.7 Zumindest scheinen einige Personen innerhalb der Region und bis Babylon gereist zu sein und hielten Kontakt zu Mitgliedern anderer Gemeinschaften. Ansonsten mag die Abgeschiedenheit der Gegend verhindert haben, daß sich große Menschengruppen heimlich entfernten. Aus den Texten ist nicht ersichtlich, ob mit Beginn der Perserherrschaft tatsächlich eine „Freiheit“ begann, die manche Nachfahren der Exilierten zur Rückkehr in das Land ihrer Vorväter bewog.8 Wenn es eine solche Bewegung gab, dann haben wir die Texte derjenigen vor uns, die sich ihr nicht angeschlossen haben, sondern es vorzogen zu bleiben. siehe Y. Bloch (2017) mit früherer Literatur). šušānû sind auf königlichem Terrain angesiedelt, zahlen Pacht und werden zu Arbeits- bzw. Militärdienst herangezogen, gehören also zum „land-for-service sector“. Dieses Land-mit-Dienst-System läßt sich zwar zur Achämenidenzeit besonders gut durch Urkunden belegen, geht aber auf Vorläufer in neuassyrischer und neubabylonischer Zeit zurück. So entspricht dem aus dem Murašû-Archiv in diesem Zusammenhang bekannten Begriff ḫad/tru in neubabylonischer Zeit der Terminus kiṣru (M. Jursa (2011), 435). Es sind durchaus Exiljudäer bekannt, die selbst Sklaven besaßen (F.R. Magdalene / C. Wunsch (2012)). Auch der biblische Bericht über die Rückkehrer führt ausdrücklich die Zahl der (Privat-)Sklaven auf. Ezra 2,64f. spricht von 42.360 Personen nebst 7.337 Sklaven beiderlei Geschlechts; von diesen sind netinîm (Tempelabhängige, V. 43–54) und „Knechte Salomos“ (V. 55–57) ausdrücklich unterschieden. 6 Die Landzuweisungen an die städtische babylonische Oberschicht im 7. Jh. v. Chr. handhabte das in 50er und 1000er Einheiten (J.P. Nielsen / C. Waerzeggers (2016)), später wurden für Ansiedlungen von Gruppen, die nach ethnischer Herkunft, Berufen oder militärischem Rang geordnet waren (darunter Deportierte), die Begriffe kiṣru und ḫad/ṭru gebraucht (siehe die vorige Fußnote). 7 Dazu ist anzumerken, daß die gesamte freie Bevölkerung einschließlich der städtischen Oberschicht und der Tempelangehörigen bald nach der Geburt in verschiedenen Listen erfaßt und in Kategorien eingeteilt wurde: 0–2 Jahre alte „Milchkinder“; Drei- bis Fünfjährige; Erwachsene (LÚ); voll einsatzfähige Personen (itbāru) und Greise (šību). Zweck dieser Listen war nicht nur die Besteuerung, sondern auch das Ausheben zum Arbeits- und Militärdienst (C. Wunsch (2021)). Da das Wegenetz kontrolliert wurde und kleine Täfelchen, die eine Art Passierschein darstellen, überliefert sind, kann man annehmen, daß Reisende entsprechend observiert wurden. Dieses System der Überwachung kann auch und besonders zur frühen Achämenidenzeit beobachtet werden. 8 Die Texte aus dem syrischen Neirab beweisen zumindest, daß Bewohner dieser Stadt ebenfalls deportiert wurden, aber einige Individuen zurückkehrten und mit den in Babylonien verbliebenen Kontakt hielten; siehe G. Tolini (2014); G. Tolini (2015) mit früherer Literatur.
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Judäer und die babylonische Rechtstradition
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Die überlieferten Texte sind größtenteils unspektakulär, da sie ausschließlich von babylonischen Schreibern in Keilschrift abgefaßt wurden und bekannten Mustern folgen, die Gegenstand der allgemeinen Schreiberausbildung waren.9 Die Schreiber hatten Zeichen, Wortformen, juristische Klauseln und babylonische Namen (die Appellative oder bis zu vierteilige Sätze waren) jahrelang zu üben, bevor sie als Schreiber praktizieren durften. Diejenigen Schreiber, die letztlich in Al-Jaḫūdu arbeiteten, waren sicherlich weder Gelehrte noch von allerhöchster Qualifikation, man kann jedoch das notwendige Maß an Professionalität bei Routineaufgaben erwarten. Es gibt gelegentlich alphabetische Beischriften (mit Tinte geschrieben oder in den noch feuchten Ton geritzt), aber deren Urheber, Anlaß und Zweck lassen sich nicht recht erschließen. Manchmal gibt es Vorgänge, die in kein vorhandenes Schema passen und der Improvisation und Kreativität des Schreibers bedürfen. Sie benutzen dann bekannte Formulierungen als Versatzstücke in Kombination mit wörtlicher Rede für die ungewöhnlichen Passagen. An diesen Stellen scheint gelegentlich statt antiquierter Floskeln die tatsächlich gesprochene Sprache auf. Außerdem bereiteten die westsemitischen, iranischen, ägyptischen und sonstigen fremden Namen Probleme, da ihre Schreibung nicht normiert war. Die Schreiber mögen viele westsemitische Namen verstanden haben, hielten sich aber mit der logographischen Schreibung von verbalen und sonstigen Elementen zurück. Außer AD = abu (Vater), ŠEŠ = aḫu (Bruder), DU10 .GA = ṭāb/ṭūb (gut) und DINGIR = ilu (Gottheit) wurden kaum Logogramme verwendet, sondern fremdsprachige Namen wurden syllabisch geschrieben. Da bei einer Silbenschrift viele orthographische Möglichkeiten zur Verfügung stehen, muß es nicht verwundern, neunzehn Varianten für den Namen Rapā-Jāma und fünfzehn für Šamā-Jāma anzutreffen, je nach Platzbedarf, Aussprache durch den Muttersprachler, Kenntnis des Namens und Verständnis seiner Bedeutung durch den Schreiber. Während die Urkunden, die sich auf Aḫīqar in Bīt-Našar konzentrieren, überwiegend von einem einzelnen Schreiber ausgestellt wurden,10 scheint es in Al-Jaḫūdu keinen dauerhaft ansässigen Schreiber gegeben zu haben. Vermutlich kamen Schreiber mit den Ernteschätzern in die Ortschaften, also mindestens zweimal im Jahr (etwa einen Monat vor der Gerste- und Dattelernte) über mehrere Tage, um die auf dem Baum bzw. Halm geschätzten Mengen an Naturalien festzuhalten, die nach der Ernte abzu9
Zu den Stufen und Inhalten des Schulunterrichts in Babylonien siehe P.D. Gesche (2000), vgl. unten Anm. 33. 10 Arad-Gula/Nabû-šum-ukīn//Amēl-Ea mit 44 Belegen.
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liefern waren. Auch während Ernte, Abtransport und Einlagerung der Erträge kann man mit ihrer Präsenz rechnen. War die Zusammensetzung der Schätzkommission bekannt, wurden die betreffenden Verpflichtungsscheine über Pachtabgaben häufig schon im voraus geschrieben und die Tafeln feucht gehalten, so daß nur noch der Betrag am Anfang (links oben) und in der Wiederholungszeile eingefügt werden mußte.11 Dadurch wurde die Zeit, die hochgestellte Mitglieder der Schätzkommission auf den Feldern verbringen mußten, nicht durch den Schreiber über Gebühr in die Länge gezogen. Wenn sich ein lokaler Verantwortlicher gefunden hatte, der für die Erträge mehrerer Familien oder Einzelpersonen eines Ortes bürgte und den Abtransport organisierte, konnte man die einzelnen Beträge in Listen zusammenfassen, wie die Beispiele C14 und C15 nahelegen. Gelegentlich kam es zu geschäftlichen oder privaten Streitigkeiten und nicht alle konnten auf lokaler Ebene entschieden werden. Dies führte zur Ausstellung von Urkunden, die einen Blick auf das Gerichtswesen und die Art der Streitbeendigung erlauben.12 Das babylonische System der Rechtsprechung, das von Nebukadnezar geprägt und von Nabonid ausgebaut wurde, behielt auch in der Achämenidenzeit seine Geltung.13 Die Judäer machten davon offensichtlich aktiv Gebrauch, wie aus mehreren Urkunden hervorgeht. So hält C16 fest, daß sich Aḫīqam (auf den sich die meisten aus Al-Jahûdu stammenden Texte beziehen) mit einer Klage gegen einen gewissen Nadab-Jāma gewandt hat. Es geht um die Frage, wer von beiden den Ernteertrag an Datteln vom neunten Jahr des Darius, den die auf Königsland angesiedelten Judäer der königlichen Verwaltung schuldeten, eintreiben durfte. Die Aussagen bzw. Anschuldigungen beider wurden vor fünf Zeugen von einem Schreiber protokolliert und sollten als Basis einer gerichtlichen Auseinandersetzung dienen. Die Urkunde, die in zwei Exemplaren vorliegt, enthält die explizite Angabe, daß die Parteien den Rechtsstreit anstrebten.14 Sie wurde von einem ansonsten unbekannten Schreiber aufgesetzt. Auch der Ausstellungsort, die Ortschaft des Amurru-šarru-uṣur am Kanal Zabinā, wird sonst nicht erwähnt. Der Name der Person, nach der der Ort benannt ist, „Amurru schütze den 11 Erkennbar an Urkunden aus dem Egibi-Archiv (C. Wunsch (2000a), Band A: 53f. mit Anm. 136). 12 Die Urkunden C16 und C27 werden von S.E. Holtz (2020) diskutiert. 13 M. Sandowicz (2012); (2018), M. Sandowicz und P. Tarasewicz (2014), C. Wunsch (1997); (2000b), S.E. Holtz (2009). 14 A u B ana muḫḫi suluppē annā idabbub „Aḫīqam und Nadab-Jāma werden! (Text: wird) wegen dieser Datteln klagen.“
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Judäer und die babylonische Rechtstradition
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König“, deutet auf eine Zugehörigkeit zur königlichen Verwaltung in einem überwiegend von Aramäern bewohnten Gebiet.15 Es ist möglich, daß der Streit über die Pachtauflage dort entbrannte, am Rande oder außerhalb des von Aḫīqam in Pachtangelegenheiten dominierten Gebietes, und dieses Dokument ad hoc zustande kam. Unter den Zeugen ist ein gewisser Il-lindar, der selbst in einen anderen Streit mit Nadab-Jāma verwickelt ist, sowie dessen Bruder.16 Ein weiterer Zeuge, Šalam-Jāma, Sohn des Malēšu, läßt sich über seinen Vater ebenfalls indirekt mit Aḫīqam verbinden. Die beiden übrigen Zeugen sind sonst nicht belegt. Das Dokument ist auch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Es stehen sich zwei Nicht-Babylonier gegenüber, deren Aussagen von einem Mann protokolliert werden, bei dem man mindestens Zweisprachigkeit mit Kenntnis des Aramäischen vermuten darf. Die Syntax des Protokolls weist einige Besonderheiten auf, die es erschweren, den genauen Inhalt der Beschuldigung und Gegendarstellung zu erfassen. Welche Sprache wurden dabei von den Parteien eigentlich gesprochen? In welcher Sprache hat der Schreiber gedacht? Durfte er Aussagen ins Babylonische übersetzen, konnte er sprachliche Fehler korrigieren oder mußte er alles so wie gesprochen wiedergeben? Wie hat der mit dem Fall konfrontierte Beamte (der nicht unbedingt babylonischer Herkunft sein mußte) die Aussagen verstanden? Der Ausgang der Angelegenheit ist unbekannt, da aus den Quellen nicht hervorgeht, ob man wirklich die Rechtsprechung eines lokalen Beamten gesucht hat. Es ist möglich, daß sich die Parteien doch am Ende außergerichtlich geeinigt haben. Nadab-Jāma erscheint, wie schon angedeutet, auch in B1117 im Rahmen eines Rechtsstreits, der C16 um vier Jahre vorausgeht. Es entzündete sich um die widerrechtliche „Entführung“ eines Zuchtbockes zur Begattung von Schafen einer anderen Herde. Nadab-Jāma beschuldigt Il-lindar, dies getan zu haben, da er es einem Dritten gegenüber zugegeben habe.18 Il-lindar streitet offenbar alles ab, und die Beweislage erlaubt 15 Mit …-šarru-uṣur gebildete Namen sind typischer Beamtennamen, die in vielen Fällen wohl erst später im Leben zur Förderung der Karriere angenommen wurden. Allein in dem hier betrachteten Korpus kommen fünfzehn Gottheiten als theophores Element vor. Dabei darf ein starker Bezug zur Herkunft und religiösen Identität des Trägers vermutet werden. Für die steigende Bedeutung von Amurru für die aramäische Bevölkerung des 2. und 1. Jahrtausends siehe P.-A. Beaulieu (2005). 16 Il-lindar erscheint in B11, siehe im folgenden; bei der in C42 genannten Person Natīnā/Raḫī-il könnte es sich um seinen Neffen handeln. Alle drei haben am Rande mit Aḫīqam zu tun. 17 MS2835 (Schøyen Collection), 64 × 46 × 26 mm. 18 Auch dieses Dokument bietet sprachliche Schwierigkeiten, da der Sachverhalt unvollständig ausgedrückt wird. Eine direkte Aussage wird zitiert, aber es ist unklar, welchem Sprecher sie zuzuordnen ist. Es heißt, er (wer?) habe den Bock ana muḫḫi nidinti weggeführt. Da nidinti kein Personenkeil vorausgeht, könnte man es in Sinne von „Geschenk“ oder eine Form von Steuer (nidinti šarri) verstehen.
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Cornelia Wunsch
keine Entscheidung zugunsten Nadab-Jāmas, da der genannte Dritte nicht gegen Illindar ausgesagt hat. Der Fall endet vorerst mit einem sogenannten Beweisurteil19 : bis zum Beweis des Gegenteils bleibt Il-lindar unschuldig. Sollte aber der angebliche Zeuge auftauchen und gegen ihn aussagen, muß er den Bock, Wolle und alle gezeugten Nachkommen herausgeben. Laut der Urkunde B27 hat ein gewisser Nabû-bēl-ilī gegen Aḫīqar (die Zentralfigur in Našar) und dessen Sohn geklagt und wurde vom örtlichen Beamten20 aufgefordert, bis zu einem bestimmtem Termin Beweise vorlegen. Es geht um Rinder, die der Sohn des Aḫīqar gehütet hatte. Ihm wird vorgeworfen, davon „gegessen“ zu haben. Dies könnte, wörtlich genommen, bedeuten, daß er sie geschlachtet hat. Da aber das Verb akālu, „essen“, sich auch auf Nießbrauch und Aneignung von Gewinnen beziehen kann, impliziert der Terminus hier wohl eher Veruntreuung oder unberechtigten Verkauf. Nabû-bēl-ilī konnte allerdings keinerlei Beweise für seine Beschuldigung beibringen.21 Nachdem auch die Ältesten des Ortes bestätigten, nichts über besagten Fall in Erfahrung gebracht zu haben, entscheidet der Beamte, die Klage abzuweisen. Es ist bemerkenswert, daß dem Kläger auch verboten wird, in dieser Sache noch einmal vor Gericht zu gehen. Der Sohn des Aḫīqar erscheint auch in C27 im Kontext eines Rechtsstreits über ein Grundstück, dessen Details wegen Beschädigung der Tafel nicht ganz ersichtlich sind. In diesem Fall kommt es zu einer Einigung der Parteien, indem er sich Aḫīqars Sohn geschlagen gibt. Die Tafel B322 , die im folgenden ausführlicher besprochen werden soll, betrifft einen Fall in einer bisher einzigartigen Konstellation. Sie erlaubt einen kleinen Einblick in das gerichtliche Prozedere, insbesondere die Suche nach Beweismaterial und die Rol-
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Der Personenkeil mag aber auch nur zufällig fehlen und die Klausel bedeutet, er habe im Auftrag eines gewissen Nidintu gehandelt. Dessen Identität ist unklar, da Nidintu ein Allerweltsname ist. In C19, C20 und B7 (alle aus dem 11. Jahr des Darius) erscheint ein Schreiber Nidintu/Bēlšunu//Dābibī im Zusammenhang mit dem Umschlag von großen Mengen an Naturalien in Anwesenheit hoher Beamter, bei denen auch Aḫīqam beteiligt ist. Man könnte sich vorstellen, daß dieser Schreiber für eine Reihe von Transaktionen weisungsberechtigt war, auch im Hinblick auf die Bewirtschaftung von Viehherden und Steuerleistungen. Das Urteil ist nicht endgültig, sondern hängt davon ab, ob weitere Beweise oder Aussagen, meist bis zu einem festgesetzten Zeitpunkt, vorgebracht werden. Solche Urteile gibt es dann, wenn die Richter mit unzureichenden oder widersprüchlichen Beweisen konfrontiert sind; siehe B. Wells (2004), 110 mit früherer Literatur. 2-ú šá lú zak-ka, ein ursprünglich wohl militärischer Rang, siehe M. Fales (2010), 93. Es ist ausdrücklich von Schriftstücken, Indizien für Diebstahl oder Zeugenaussagen die Rede. Gegenüber diesen rationalen Beweisen tritt in neubabylonischer Zeit der Beweiseid in den Hintergrund. MS2449/2 (Schøyen Collection), 75 × 57 × 28 mm.
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le von Schreibern. Die Tafel ist von ganz normalem Aussehen, handtellergroß und im Querformat beschrieben. Hinsichtlich des Textes ist sie aber außergewöhnlich und bislang die einzige ihrer Art. Sie gibt weder den Schreiber an, noch Ausstellungsort oder Datum. Auch die Frage, welche Seite Vorder- und Rückseite ist, läßt sich nicht sofort beantworten, da beide Seiten recht ebenmäßig gewölbt sind. Die eine Seite bietet eine Liste von Zeugen, die normalerweise auf der Rückseite zu finden sind. Auf der anderen Seite der Tafel beginnen die Zeilen zwei bis sieben mit dem Zeichen UL, das „nicht“ bedeutet, und das auch in der Mitte von den Zeilen drei, sechs und acht anzutreffen ist. Des weiteren sind eingeschobene kurze Phrasen wie ul īde, „weiß nicht“ erkennbar (Zeilen vier und fünf) sowie eine falsch angefangene Verbform, die ohne Korrektur zwar in richtiger Form wiederholt wurde, allerdings an der betreffenden Stelle trotzdem zu früh gesetzt und überflüssig ist. Keine der Negationen ergibt syntaktisch irgendeinen Sinn und die anderen Einschübe lassen sich dem sonstigen Text nicht zuordnen. Allein die Menge dieser Bemerkungen bzw. Markierungen deutet jedoch darauf hin, daß die Negationen und Einschübe intendiert waren und die Textelemente irgendwie auszeichnen sollten. Entfernt man sie, so kommt der Vertragstext einer Eigentumsvergabe zum Vorschein, der dem üblichen neubabylonischen Formular folgt: PN ina ḫūd libbišu (Objekte) iknuk-ma pān PN2 ušadgil PN hat freiwillig (die folgenden Objekte) unter Ausstellung (einer offiziellen Urkunde) an PN2 (als Eigentum) übertragen.
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Voller Wortlaut der Tafel, Seite 1 ᵐma-li-šú A-šú šá ᵐmi-ki-iá-a-ma ul ina ḫu-ud lìb-bi-šú ᶠḫu-ṭu-a-ta-ʾ ul GEMÉ-su ul a-ḫi šá GU4 bu-uš-tum ul i-di i-ba-šá! -ʾ ina IGI ᵐa-mu-uš-a-ma ul ik-nu-uk-ʾ ul i-di { ul te gil il ul ú-šad-gil } u pa-ni ᶠᵈiá-a-ḫu-ú-ḫi-in DUMU.SAL-šú ul ú-šad-gil ul lú mu-kin-numeš šu-nu Rasur: an-na-ʾ
unter Weglassung der Einschübe ᵐma-li-šú A-šú šá ᵐmi-ki-iá-a-ma × ina ḫu-ud lìb-bi-šú ᶠḫu-ṭu-a-ta-ʾ × GEMÉ-su × a-ḫi šá GU4 bu-uš-tum × × × ina IGI ᵐa-mu-uš-a-ma × ik-nu-uk-ʾ { Zeile ganz zu tilgen } u pa-ni ᶠᵈiá-a-ḫu-ú-ḫi-in DUMU.SAL-šú × ú-šad-gil × lú mu-kin-numeš šu-nu
Wenn man die Negationen im Sinne von „(ist es) nicht (wahr)“ als fragend oder zweifelnd interpretiert, ergibt sich folgende Übersetzung:
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Malēšu, der Sohn des Mī-kī-Jāma, 2 NICHT (WAHR)? hat freiwillig ᶠḪuṭuatā, 3 NICHT (WAHR)? seine Sklavin, (und) NICHT (WAHR) ? einen halben (Anteil an einer) Kuh 4 WEIẞ NICHT — SICHERLICH bei AmušJāma 5 NICHT (WAHR)? (unter Ausstellung eines offiziellen Dokumentes) WEIẞ NICHT 6 {NICHT (WAHR)? te gil il } NICHT (WAHR)? {übertragen} 7 an ᶠJāḫû-ḫinnī, 8 seine Tochter, (als Eigentum) übertragen. Darauf folgt die Zeugenliste und ein Abschnitt mit mehreren Imperativen. Ohne auf die Einschübe und ihre Bedeutung zu achten, soll hier zunächst der zugrunde liegende Text – eine Vermögensübertragung vom Vater an die Tochter – behandelt werden. Vater und Tochter sowie die fünf Zeugen tragen alle mindestens einen hebräischen oder jahwistischen Vor- oder Vatersnamen. Somit gehören sie ohne Zweifel zu den Nachkommen der exilierten Judäer. Bemerkenswert ist der Umstand, daß ihre familieninterne Angelegenheit in Keilschrift festgehalten wird, nicht auf Hebräisch oder Aramäisch. Der Schreiber wird nicht genannt, dürfte aber, wie bei den anderen Texten dieses Korpus üblich, ein Babylonier gewesen sein. Die Verfügung macht der Vater Malēšu zugunsten seiner Tochter Jāḫû-ḫinnī, ohne daß der Begriff „Mitgift“ (nudunnû) oder ein künftiger Ehemann erwähnt werden. Es handelt sich demnach nicht um ein Mitgiftversprechen zur Anbahnung einer Ehe, denn dieses bedient sich der aus Sicht des Brautvaters formulierten Formel: (Objekte) ana nudunnê itti (Braut) ana (Bräutigam) iddin „(Objekte) als Mitgift gab23 er mit (der Braut) an (den Bräutigam)“ Auch um eine Kompensation von Mitgiftgut durch den Ehemann (bzw. dessen Vater) an die Ehefrau kann es sich nicht handeln. Dies würde zwar mit dem Formular einer Vermögensübertragung ausgedrückt, allerdings mit einem Zusatz (Objekte) kūm nudunnê iknuk-ma pānišu ušadgil „(Objekte) als Kompensation für die Mitgift(bestandteile) übertrug er ihr“ unter Ausstellung (eines offiziellen Dokumentes.) 23 Die Verbform ist Präteritum, obwohl die tatsächliche Übergabe der Mitgift wesentlich später erfolgen kann. Es liegt daher ein verbindliches Versprechen vor, für die Übergabe von Mitgiftgut werden in der Regel Quittungen ausgestellt; siehe M.T. Roth (1989), 8 mit Anm. 40.
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Obwohl dieselben Verbalformen wie in unserem Dokument B3 benutzt werden, handelt es sich bei Vermögensübertragungen mit dem Zusatz kūm nudunnê um eine andere Art von Transaktion. Solche Mitgift„umwandlungen“24 wurden nötig, wenn der Ehemann (oder sein Vater, falls dieser noch lebte und als Haushaltsoberhaupt agierte) Mitgiftsilber in seine Geschäfte investiert oder zur Mitgift gehörige Sklaven verkauft hatte, so daß die Mitgift nicht mehr gegenständlich greifbar war. Dem Ehemann ist die Mitgift zwar zum Gebrauch übergeben, sie gehört aber seinen zukünftigen Kindern und muß (zumindest theoretisch) in der Substanz erhalten bleiben. Daher ist es in solchen Fällen üblich, daß der Ehemann seiner Frau äquivalente Vermögenswerte aus eigenem Besitz überschreibt. Meist geschieht dies erst, wenn Angehörige der Ehefrau den Verlust von Ressourcen befürchten und intervenieren. In dem vorliegenden Dokument B3 kann es sich nicht um eine Mitgiftangelegenheit handeln, da das Formular die für eine Mitgift typischen Termini vermissen läßt und Hinweise auf einen Ehemann oder Kinder fehlen. Wir nehmen vielmehr an, daß diese Verfügung dazu dienen sollte, der Tochter einen direkten Zugriff auf Vermögenswerte zu geben, die sie eigenständig bewirtschaften durfte – unter Ausschluß des gegenwärtigen oder künftigen Ehemannes. Derartige Schenkungen unter Lebenden oder auf den Todesfall zugunsten von Frauen befinden sich im Einklang mit dem babylonischen Besitzrecht. Frauen waren geschäftsfähig und konnten Eigentum besitzen, vererben und veräußern, wenngleich das Erbrecht Töchter und Ehefrauen vom Erbe ausschließt. Es sind einige Vermögensübertragungen zugunsten von Frauen der wohlhabenden städtischen Elite belegt.25 Gerade weil sie den Regeln des Intestaterbrechts zuwider laufen, sollten sie schriftlich und vor Zeugen verfügt werden, um spätere Anfechtungen durch die Erben zu verhindern. Wurde ein vertrauenswürdiger Schreiber damit beauftragt, hatten solche Fälle vor Gericht Bestand. Die Wertobjekte, die in der Tafel B3 erwähnt werden, sind eine Sklavin sowie eine „halbe Kuh“. Letzteres ist nicht wörtlich zu nehmen, sondern als Anteil an einem Tier in gemeinschaftlichem Besitz zu verstehen. Im Textkorpus sind eine Reihe solcher Tierverstellungen von Rinden oder Eseln bezeugt, bei denen Geschäftspartner in ein Tier investieren, einer von beiden sich um Pflege, Bewachung und Futter kümmert und beide Gewinn und Verlust teilen.26 Malēšu besaß offensichtlich einen solchen 24 M.T. Roth (1989–1990), 11 identifiziert und erklärt diese Art von Transaktion. 25 Zur Egibi-Familie siehe C. Wunsch (1995–1996). 26 B10, B26.
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Anteil, die Kuh befand sich bei seinem Partner Amuš-Jāma, der in Z. 4 genannt ist, und seine Tochter sollte diesen Anteil bekommen. Da dieser ganze Abschnitt einen gleichsam versteckten und zerstückelten Vertragstext bildet, wird man ihn als Beginn des Schriftstückes betrachten können, dem die Liste der Zeugen, wie üblich, folgt. 10
Zakar-Jāma, Sohn des Jāḫû-šarru-uṣur27
11
Šilim-Jāma, Sohn des Il(u)-aqir-IM
12
Azrīqam, Sohn des Kunnu-Jāma
13
Qadam-Jāma, Sohn des Padā-Jāma
14
Ṣidqī-Jāma, Sohn des Natīn28
Die Einleitung 9 ul mukinnū šunu (plus radiertem annā) weist wie der Vertragsstext eine Negation auf: „dies sind nicht die Zeugen“ oder „sie sind Nicht-Zeugen“. Eine solche Aussage ergibt keinen Sinn, denn Nicht-Zeugen aufzulisten ist müßig. Auch handelt es sich nicht um einfaches lú mukinnū, sondern um eine erweiterte Form. Der Wortlaut erinnert an Beurkundungen einer vor Zeugen gemachten Aussage oder Handlung, welche die Aussage (bzw. Beschreibung eines Vorgangs) wiedergeben und die Zeugen auflisten, vor denen dies geschehen ist. Solche Dokumente sind als Beweismittel bei späteren Rechtsstreitigkeiten gedacht. Im Text klingen also Elemente juristischer Dispute an. Das Formular lautet eigentlich: (dies sind) die Zeugen vor denen (jemand etwas) gesagt / getan hat (Liste der Namen)
lú
mukinnū oder lú mār-banê ša ina pānišunu … iqbû umma … / … īpušu
oder (Liste der Namen) dies sind die Zeugen / Bürger vor denen (jemand etwas) gesagt / getan hat
annūti lú mukinnū oder lú mār-banê ša ina pānišunu … iqbû umma … / … īpušu
27 Möglicherweise handelt es sich um den Sohn des Jāḫû-šarru-uṣur, Sohn des Nubaia aus C4, sowie C2 und C3, wo der Vater als Bēl-šarru-uṣur, Sohn des Nubaia, erscheint (L.E. Pearce / C. Wunsch (2014), 29). 28 Dieser Zeuge erscheint auch in A1: 33, einer in Al-Jaḫūdu ausgestellten Eheurkunde.
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Im Normalfall wird bei solchen Dokumenten der Name des Schreibers nicht genannt bzw. gekennzeichnet. Ausstellungsort und ‑datum sind dann obligatorisch, im vorliegenden Text aber ausgelassen. In B3 folgt allerdings direkt nach den Zeugennamen noch ein einzigartiger Abschnitt, der direkte Rede mit Imperativen enthält und als gerichtlich relevante Aussage verstanden werden könnte. Es fehlt jedoch die Angabe des Sprechers und er beginnt mit zwei Worten, die an eine Fluchformel erinnern. 15 man-na at-ta lú UMBISAG šá ú-ìl-tì 16 an-ni-tum ta-sa! -su-ú ki-i 17 pa-liḫ ᵈPA at-ta ina UKKIN lú DUMU.meš u.e. 18 ši-i si-si-ʾ u ina pa-ni-šú-nu 19 qí-bi um-ma LÚ an-na-ʾ 20 li-piš-šá-an-ni šu-ú Der Abschnitt könnte etwa so übersetzt werden: 15
Wer immer du bist, Schreiber, der du 16 dieses 15a Dokument 16a (laut) gelesen hast, (und) wenn 17 du (wirklich) ein treuer Diener des Nabû bist: In der Versammlung der Männer 18 lies (es noch einmal laut) vor, und vor ihnen 19 sprich, folgendermaßen: 19 ‘Möge dieser Mann 20 (Zeugnis) für mich tun!’
Dies klingt zunächst verwirrend und Rasuren in den ersten beiden Zeilen lassen vermuten, daß dem Schreiber kein für den Vorgang passendes Formular zur Verfügung stand und er die Formulierung umarbeiten mußte. Er hat versucht, verschiedene Versatzstücke zu kombinieren und beweist einiges Improvisationsvermögen. „Wer immer du bist“ (mannu attā) ist aus Kudurruinschriften bekannt, kommt aber auch gelegentlich noch in neubabylonischen Erwerbsurkunden vor.29 Es leitet eine Fluchformel ein, die Tod und Verderben demjenigen droht, der den Vertrag bricht, die Stele bzw. Urkunde zerstört oder verschwinden läßt, und sich die Vermögensobjekte, um die es geht, selbst aneignet. Wiederum gibt es also einen Anklang an juristische Termini. 29 Siehe beispielsweise BM 117723 (M. Sandowicz (2012), C[urse] 129): mannu attā lū lú rubû lū lú šaknu lū lú šāpiru lū lú daiānu lū … ᵈmarduk ᵈzarpanītu … ḫalāqšu liqbû, „Wer immer du bist, Prinz, Gouverneur, Aufseher, Richter …: Marduk und Zarpanītu mögen seinen Untergang befehlen.“
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Dieselben beiden Worte mannu attā finden sich aber zum Beispiel auch in einer Petition des Nabû-zēr-ketti-lēšir an König Asarhaddon, die in zwei Versionen überliefert ist.30 Die zweite, zweifelsohne ausgesandt, nachdem die erste nicht das gewünschte Resultat gebracht hatte, hängt eine dringende Bitte an einen unbekannten Schreiber an, in der Hoffnung, daß dieser die Nachricht an den König weiterleitet: man-nu atta lú AB.BA ša ta-sa-su-u-ni TA IGI LUGAL EN-ka la tu-pa-zar: „Wer immer du bist, Schreiber, der du (diesen Brief) liest, verbirg ihn nicht vor dem König, deinem Herrn.“ Obwohl unser Text B3 einem anderen Zweck dient, fügen diese zwei Worte auch dort eine flehentliche Note hinzu. Nach dem Appell an die berufliche Ehre des Schreibers „wenn du wirklich ein Verehrer Nabûs (des Gottes der Schreibkunst) bist“31 , wird der Schreiber gebeten, die Tafel „in der Versammlung der Leute“ zu rezitieren oder auszurufen. Dies spielt auf die puḫur mār-banê, die „Versammlung“ der freien und emanzipierten Männer an, eine Versammlung der freien Oberhäupter der Haushalte (mār-banê) in einer Stadt oder anderen Örtlichkeit zum Zwecke der Rechtsprechung. Vor diesen Versammlungen wurden Anklagen und Gegendarstellungen gehört und Fälle entschieden. Gelegentlich wurden auch Gruppen von mār-banê zusammengerufen, um ad hoc Aussagen oder Anklagen zu bezeugen. Der Akt des Tafellesens (ṭuppu šasû) hat ebenfalls eine juristische Konnotation, da dieses Verb gebraucht wird, wenn bei Rechtsstreitigkeiten Urkunden, die als Beweis dienen sollen, vor die Richter gebracht und von jenen verlesen und damit geprüft werden. Dieser Abschnitt hat damit einen deutlichen Anklang an die Sphäre des Rechtsstreits. Der angesprochene Schreiber soll sich an die Leute wenden und denjenigen finden, „der es für mich macht.“ Das Verb ist einfaches epēšu „machen, tun“, das hier offensichtlich elliptisch gebraucht wird.32 Von den möglichen lexikalisierten Kombi30 SAA 16 32 und 33 (Zitat in SAA 16 32 rev. 17–22). Den Hinweis auf den Text verdanke ich Karen Radner. Er ist in K. Radner (2014), 69 ausführlich besprochen. 31 Nabû, der Sohn des Marduk und „Schreiber von Esagil“, ist der Schutzgott der Schreiber. Er wird normalerweise durch sein Attribut, den Doppelstilus, qān ṭuppi, auf bildlichen Darstellungen repräsentiert (z.B. auf den Siegelabbildungen von B9 und B27). 32 Die Verbform li-piš-šá-an-ni ist mit epēšu zu verbinden. In neubabylonischen Rechts- und Verwaltungsurkunden findet man maḫīru epēšu, „kaufen“, nadānu u maḫāru epēšu, „Geschäfte tätigen“, dullu epēšu, „Arbeit verrichten“, oder dīnu epēšu, „Recht sprechen“. Im vorliegenden Fall fehlt das Objekt, aber der Kontext mit seinen Anklängen suggeriert mukinnūtu epēšu „Zeugnis ablegen, als Zeuge auftreten“. Die Verbform weist für einen G-Stamm einen falschen Vokal auf, aber es gibt im Neubabylonischen ohnehin die Tendenz KvK-Zeichen ohne Rücksicht auf die Vokalqualität zu verwenden; /piš/ könnte /puš/ darstellen. Bedenklicher ist das Pronomen šū nach dem Verb, da es syntaktisch überflüssig ist. Es sei aber auf BM 55452 (J.D. MacGinnis (1996), no. 36) verwiesen. J. Hackl et al. (2014), 337–338, no. 228 in ihrer Neuedition lesen EN lu-še-bi-lu ⸢x⸣* {šu-ú} und übersetzen „der Herr möge … bringen lassen“. Auch
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nationen paßt inhaltlich nur mukinnūtu epēšu, „Zeugnis ablegen, als Zeuge auftreten“. Es ist demnach sehr wahrscheinlich, daß sich epēšu im letzten Satz auf eine Zeugenaussage bezieht. Diese letzten Zeilen geben einen Hinweis darauf, zu welchem Zweck das Schriftstück B3 aufgesetzt wurde. Es handelt sich nicht um den Vertrag selbst, sondern um einen Appell an einen ungenannten Schreiber, der die Tafel vorlesen soll, um jemanden zu finden, der den ursprünglichen Text der Vermögensübertragung wiedererkennt, damit sich dieser als Zeuge meldet. Da die Parteien und Zeugen des Vorgangs benannt werden konnten, sucht man offensichtlich den babylonischen Schreiber, der die Tafel ausgestellt hat. Dieser Hintergrund erklärt die Anomalien und das ungewöhnliche Formular des Textes: Nicht die originale Urkunde über die Vermögensübertragung liegt vor, sondern eine Rekonstruktion ihres Inhalts, einschließlich Parteien, Vertragsgegenstand und Zeugen. Um ihren Inhalt als vorläufig und möglicherweise nicht ganz exakt zu markieren, hat der Schreiber die Negation UL eingefügt, als eine Art rhetorische Frage „ist es nicht so?“ In ähnlicher Weise sind die Einschübe „weiß nicht“ zu verstehen, während sich „sicherlich“ auf den Umstand bezieht, daß eine dritte Person einen Anteil an einer Kuh zusammen mit dem Erblasser besitzt – offenbar ein bekannter Fakt. Durch diese Einschübe und die Auslassung seines eigenen Namens, des Datums und des Ausstellungsortes will der Schreiber dieses Dokument deutlich von einer gültigen Rechtsurkunde unterscheiden, um sicher zu gehen, daß es sich nicht um einen Besitztitel handelt, auf dessen Basis etwas eingeklagt werden könnte. Damit können wir nun erahnen, wie es zur Ausstellung der Tafel B3 gekommen ist und welchem Zweck sie dient. Malēšu hat eine Verfügung auf den Todesfall zugunsten seiner Tochter Jāḫû-ḫinnī gemacht, die eine Sklavin und einen Anteil an einer Kuh umfaßte. Da er voraussah, daß ein solcher Akt angezweifelt würde, ließ er ihn wohlweislich in der nötigen Formalität beurkunden. Des weiteren ergibt sich, daß ein babylonischer Schreiber mit der Ausstellung des ursprünglichen Dokuments beauftragt worden war, obwohl es sich zunächst um eine Familienangelegenheit ohne sie weisen auf das überflüssige Pronomen hin und nehmen an, es sei der Rest einer anderen Klausel (⸢x⸣ šū, „er/es ist …“), die der Schreiber tilgen wollte. Allerdings ist es schwierig, ein Komplement aus einem einzigen Zeichen zu finden, das in den Kontext paßt. Man fragt sich, ob šū nicht in beiden Fällen (und šī in B3: 18) benutzt wird, um der Aussage Nachdruck zu verleihen. Die Form li-piš-šá-an-ni könnte allerdings auch als Partizip + -ān verstanden werden, dem die Partikel lū vorangeht, aber durch Kontraktion gekürzt ist (GAG §127d): lū epišānī šū „möge er derjenige sein, der (es) für mich macht“ (vorgeschlagen von M. Jursa, persönliche Mitteilung). Beide Interpretationen haben etwa dieselbe Aussage.
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Auswirkungen für Außenstehende gehandelt hatte – mithin um einen Vorgang, den man am ehesten mit traditionellem Gewohnheitsrecht verbindet und den man eigentlich in der Muttersprache abfassen würde. Wie bereits angedeutet, gibt es in den Texten aus Al-Jāḫūdu keinen ortsansässigen bevorzugten Schreiber, anders als in den Textgruppen aus Našar and Bīt-Abī-râm. Es ist unwahrscheinlich, daß jede kleine Ortschaft oder jeder Beamte von niedrigem Rang einen eigenen Schreiber beschäftigte. Es ist eher zu erwarten, daß Schreiber regelmäßig das Gebiet besuchten, gemeinsam mit königlichen Verwaltern und anderen Autoritäten, um Ernteschätzungen und Steuern zu erheben (C14, C15) und Personal für Arbeitsdienste zu rekrutieren (J9, B4). Man kann sich vorstellen, wie die Schreiber nach getaner Arbeit auch dieses und jenes private Dokument ausstellten. Bei solch einer Gelegenheit hat Malēšu wohl auch die Eigentumsübertragung zugunsten seiner Tochter anfertigen lassen. Während man sich an die Namen der Zeugen auch nach seinem Tod noch erinnern konnte, war der Name des Schreibers nicht mehr gegenwärtig. Wie wir aus den beschriebenen Umständen vermuten dürfen, war das Originaldokument nicht mehr zur Hand und auch keine Kopie, weder in Keilschrift noch auf Aramäisch, verfügbar. Wie bereits gesagt, bedurften Vermögensübertragungen, die dem Intestatrecht zuwider liefen, der Schriftform. Im Gegensatz zu Mitgifturkunden, die sich bei der Familie des Ehemannes befinden, wäre eine Verfügung zugunsten einer noch nicht verheirateten Tochter beim Tod ihres Vaters in dessen Nachlaß zu erwarten, in demselben Haus, in dem auch seine Söhne und regulären Erben lebten. Mit Hilfe der Urkunde über die Vermögensübertragung hätte Jāḫû-ḫinnī ihren Besitz einklagen können, aber die entsprechende Tafel war offensichtlich verschwunden. Auch ohne Urkunde hätten die Erben des Vaters nach den Wünschen des Vaters handeln und die Sklavin und den Anteil an der Kuh herausgeben können. Offenbar wollten sie aber die damit verbundene Schmälerung ihres eigenen Anteils verhindern. Entweder nahmen sie die Unauffindbarkeit des Dokuments als willkommenen Anlaß, dessen Existenz zu leugnen, oder sie selbst ließen es verschwinden. Die einzige Möglichkeit für Jāḫû-ḫinnī, ihre Vermögenswerte für sich zu reklamieren, bestand nun darin, jemanden zu finden, der sich an die Ausfertigung der Urkunde erinnern konnte und bereit war, dies vor Gericht auszusagen. Da man sich an die Namen der ursprünglichen Zeugen erinnern konnte, müssen wir annehmen, sie waren entweder zu dem späteren Zeitpunkt nicht mehr am Leben, oder ihr Zeugnis genügte nicht, den
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Fall zu lösen, oder sie waren nicht bereit auszusagen, etwa weil die Haupterben sie eingeschüchtert hatten. Die Suche nach dem Schreiber zeigt an, daß der Fall nicht auf lokaler Ebene, wo Verwandte, Älteste oder Ortsvorsteher als Mediatoren eingreifen konnten, zu lösen war. Dies führt zu der Frage, ob die Auskunft eines Schreibers in einem solchen Fall überhaupt etwas bewirken konnte und ob man erwarten durfte, daß dieser sich an den Wortlaut der Originaltafel erinnerte. Um dies zu beantworten sind einige Erklärungen zur Schreiberausbildung und der Rolle von Schreibern in der neubabylonischen Gesellschaft angebracht. Die Kunst des Schreibens erlernten die Jungen der städtischen Oberschicht entweder in Tempelschulen oder sie wurde von Vater zu Sohn weitergegeben.33 Die Ausbildung erforderte im wesentlichen das Auswendiglernen von festen Formeln, die in Rechtsurkunden vorkommen und das Kopieren von Musterurkunden. Das Archiv des Bēlrēmanni enthält beispielsweise eine Reihe von Dubletten für Lehrzwecke.34 Wir wissen nicht, ob Schreiber eine Art Lizenz benötigten, um Rechtsurkunden auszustellen. Einerseits wurden bestimmte Textgattungen wie Haus- und Grundstückskaufverträge nur von einer kleinen Zahl speziell ausgebildeter Schreiber niedergeschrieben und mit Siegeln autorisiert.35 Andererseits kann man auch von Geschäftsleuten, die nicht offiziell als Schreiber erscheinen, Grundkenntnisse im Lesen und Schreiben erwarten, die sie befähigten, schnell etwas zu notieren und Schriftstücke zu prüfen.36 Wenn ein Schreiber seine Funktion und das damit verbundene Vertrauen zur Fälschung von Urkunden mißbrauchte, so hatte dies, wie eine Prozeßurkunde zeigt, harte Konsequenzen.37 Als zwei Brüder ein Grundstück verkauft hatten, präsentierten 33 Übungs- und Examenstexte wurden z.B. im Nabû-ša-ḫarê-Tempel von Babylon, in Sippar und anderswo entdeckt. Auf elementarem Niveau lernten die Schüler die einzelnen Zeichen, Syllabare, Listen von Personennamen, Berufen und Ortsnamen, Verbformen, das komplizierte System von Flächen- und Hohlmaßberechnungen und auch erste Formulare von Rechtsurkunden (z.B. BM 53829 in P.D. Gesche (2000), 373 mit einem Teil des Formulars für den Grundstückskauf). Die Mittelstufe an den Tempeln konzentrierte sich auf literarische, wissenschaftliche und esoterische Texte, während solche Kinder, die vornehmlich Geschäfte führen sollten, ihre Spezialkenntnisse bei der Verwaltung oder beim Vater erlernten. Beispielsweise sagt die Adoptionsurkunde CTMMA 3 53 aus, der Adoptivvater habe den Sohn seit frühester Kindheit im Schreiben unterrichtet. 34 M. Jursa (1999), 13–31. 35 H.D. Baker / C. Wunsch (1997); C. Wunsch (2000a), Band A: 34–39. 36 Dies ist z.B. bei Ṭābia aus der Sîn-ilī Familie der Fall, dessen gelegentliche Notizen oder Abmachungen mit seinen eigenen Sklaven erhalten sind. Sie weisen einige ungewöhnliche Schreibungen bei zentralen Rechtstermini auf, während die Personennamen nach Standard geschrieben sind (C. Wunsch (1988), 369). Offensichtlich hatte er die Grundstufe absolviert. 37 Es handelt sich um Nbn 720 (mit zusätzlichem Textfragment in C. Wunsch (2000a), no. 90A ediert).
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sie dem neuen Eigentümer eine Schuldurkunde, die suggerieren sollte, das Grundstück sei bereits vor dem Verkauf verpfändet gewesen und die Forderung noch anhängig. Sie seien willens, dem neuen Eigentümer die Urkunde für einen kleinen Teil des ursprünglichen Schuldbetrages auszuhändigen. Der neue Eigentümer (der Sohn eines ehemaligen königlichen Richters) stellte fest, daß ihm weder der angebliche Gläubiger noch der Schreiber des Schuldscheines bekannt waren. Dies ließ ihn den Betrug ahnen und er kündigte an, vor Gericht gehen zu wollen. Von den Richtern befragt und in die Enge getrieben, zerstörte einer der Beschuldigten das Beweisstück, die gefälschte Schuldurkunde, indem er sie mit seinen Zähnen zerbiß. Daraufhin verhängten die Richter als Strafe den zehnfachen Wert der ursprünglichen Forderung und ließen die beiden Brüder in Fesseln abführen, damit diese die wirkliche Identität des Schreibers der gefälschten Urkunde preisgaben. Wir dürfen annehmen, daß diesen eine schwere Strafe und der Verlust der „Lizenz“ erwarteten. Dieser Fall macht deutlich, daß von Schreibern eine zuverlässige und ehrliche Haltung vorausgesetzt werden konnte und sie daher hohes Ansehen genossen.38 Ihr gelegentliches Auftreten als Experte bei Gericht und das Gewicht ihrer Aussage stützt diese Annahme, wie aus einer weiteren Urkunde hervorgeht. Diese Tafel39 ähnelt dem vorliegenden Text B3 insofern, als daß der Aussage eines Schreibers über den Inhalt einer vor einiger Zeit ausgestellten Urkunde eine wichtige Rolle zukommt. Daher soll der Fall hier ausführlich dargestellt werden. Ein Mann fordert nach dem Tod seines Adoptivvaters die Herausgabe des Nachlasses. Er kann allerdings die Adoptionsurkunde nicht vorlegen, und es gibt keine Augenzeugen für die Adoption. Darüber hinaus hatte der Verstorbene eine Vermögensübertragung zugunsten seiner Mutter und seiner Schwester gemacht, womit diese als legale Erben seines gesamten Vermögens gelten. Der angebliche Adoptivsohn fordert trotzdem den Nachlaß für sich, und zwar mit folgender Begründung: Als des Adoptivvaters Schwester eine Tochter adoptierte, ließ sie den angeblichen Adoptivsohn als Zeugen in die Adoptionsurkunde für die Tochter eintragen, wodurch er ein Negativ-
38 Dies gilt nicht nur für Babylonien. R. Shaham (2010), 1 beschreibt die Rolle des Experten in der islamischen Gerichtsbarkeit wie folgt: „One leg of the expert witness is planted in the field of his craft or science, the other in the legal field. On the one hand, he has to represent his trade or craft in a reliable way that will maintain the professional prestige of his field and his personal reputation; on the other, he has to apply his expertise to the language, the categories, and the procedures of the law—in other words, mediate his knowledge to the court.“ 39 BaAr 2 44.
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zeuge wurde.40 Auf diese Weise sollten jegliche Anfechtungen oder Ansprüche von seiner Seite auf ihre Person und ihr Vermögen vermieden werden. Der angebliche Adoptivsohn weist nun darauf hin, daß man bei diesem Anlaß den Namen des Adoptivvaters als sein Patronym eingetragen hatte, was einer indirekten Anerkennung seiner Ansprüche gleich kam: Er gelte nicht nur als sei er adoptiert, sondern – und noch wichtiger – die Schwester des Adoptivvaters betrachte ihn offensichtlich als dessen Sohn und damit eine Gefahr für ihre Adoptivtochter und deren Erbe. Anders wäre es nicht zu erklären, warum er Zeuge hätte sein sollen; seine Anwesenheit wäre sonst nicht erforderlich gewesen. Dies ist das winzige Stück Beweis, das er für seine eigene Adoption anführen kann. Die Frauen sind offenbar nicht bereit, die Adoptionsurkunde für die Tochter, die seine Forderung untermauern würde, vorzulegen. Für die Richter gab es nun nur noch eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden. Sie mußten einen unvoreingenommenen Zeugen finden, der bei der Transaktion anwesend war und sich erinnern konnte. Im Prinzip ist dies von positiven Zeugen zu erwarten, sonst bräuchte man sie nicht. Die Richter waren tatsächlich in der Lage, einen Zeugen und den Schreiber aufzuspüren, und deren Aussage entschied am Ende den Fall. Der Schreiber sagt unter Eid aus, er erinnere sich, die Filiation nach dem Adoptivvater verwendet zu haben, wonach der Klage stattgegeben wurde.41 Aus diesem Beispiel geht hervor, daß man sehr wohl erwarten darf, daß sich Schreiber an den Inhalt der von ihnen ausgestellten Urkunden erinnern konnten, auch dann, wenn gewisse Zeit verstrichen war, und sie in dieser Hinsicht als extrem vertrauenswürdig galten. Dies alles hilft, den Fall der Jāḫû-ḫinnī zu erklären. Es ist denkbar, daß der Verlust einer Besitzurkunde die Suche nach deren Schreiber ausgelöst hat, um dessen Aussage in einem antizipierten Gerichtsverfahren verwenden zu können. Zu diesem Zweck sollte offensichtlich die Tafel B3 überall herumgereicht werden, um den Schreiber des Originaldokumentes ausfindig zu machen und zur Aussage zu bewegen. 40 R. Westbrook (2006), 145 erklärt die unterschiedliche Rolle von „positiven“ und „negativen“ Zeugen. „Positive witnesses to a transaction are outsiders whose function is purely to observe the event, so that they may testify to it later if called upon to do so. Where witnesses have an interest in the transaction, their presence may be not so much to observe the transaction as to signal acquiescence in it. By being present and not objecting, they impliedly forego any rights that they may have had in the property being transferred.“ 41 Da eine Verfügung des Erblassers zugunsten von Mutter und Schwester bestand und diese unanfechtbar war und nicht geändert werden durfte, fällten die Richter ein salomonisches Urteil, indem sie den Adoptivsohn bezüglich des väterlichen Erbes zum Nacherben nach Mutter und Schwester einsetzten. Die von der Schwester adoptierte Tochter konnte damit nicht als Nacherbin dieses Vermögensanteils eingesetzt werden, bezüglich der Mitgiften der Frauen galt dies aber nicht.
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Wie ist dieses Schriftstück in die Tafelgruppe um Aḫīqam hinein geraten? Die Protagonisten erscheinen nicht in direktem Kontakt zu Aḫīqam und seiner Familie. Es gibt aber dennoch ein paar Indizien, die sie zu verorten helfen können. Zum einen sind auf dem Rand von B3 die Zeichen MU und 5 zu erkennen. MU bedeutet „Jahr“ oder „Name“ oder „Zeile“; es könnte sich also auf das Ausstellungsdatum im fünften Jahr beziehen oder bedeuten: fünf Zeugen, fünf Zeilen oder sonstiges. Einer der Zeugen, der zuletzt genannte Ṣidqī-Jāma, Sohn des Natīn, ist auch aus der Eheurkunde A1 aus Al-Jaḫūdu bekannt, die aus dem fünften Jahr des Cyrus stammt. Falls das Gekritzel „MU 5“ auf B3 sich wirklich auf das Jahr der Ausstellung beziehen sollte, dann suggeriert die prosopographische Verbindung zu A1, daß die Urkunde aus dem fünften Jahr des Cyrus stammen könnte (alternativ wären Nabonid oder Cambyses denkbar.) Malēšu, der Name von Jāḫû-ḫinnīs Vater, ist westsemitischen Ursprunges mit der Bedeutung „Kahl(kopf)“, sein Vatersname enthält das jahwistische Element.42 Bislang kann diese Person nirgendwo sonst nachgewiesen werden. Es gibt allerdings zwei Individuen mit dem Patronym Malēšu, die seine Söhne sein dürften: Matan-Jāma43 und Šalam/Šilim-Jāma44 . Beide erscheinen im Kontakt mit Aḫīqam, wenn es um das Einziehen größerer Mengen an Naturalien geht. Jāḫu-ḫinnī könnte also ihre Schwester sein, vorausgesetzt, es handelt sich bei ihrem Vater um denselben Malēšu. Der Vater des Malēšu, Mī-kī-Jāma, kann ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit identifiziert werden. Er erscheint als Zeuge im Dokument C2 aus der späten Regierungszeit Nebukadnezars, in dem es um Gersteeinkommen von königlichem Land geht, das zum Land-für-Dienst-Sektor gehört (als bīt azanni, „Köcher“land, analog zum besser bekannten bīt qašti, „Bogen“land bezeichnet). Als Schuldner erscheint Ṣidqī-Jāma, Sohn des Šellimu, der in Verbindung mit Aḫīqams Vater Rapā-Jāma in C6 auftritt und des42 Eine Analyse der Personennamen findet sich in L.E. Pearce / C. Wunsch (2014), zu Malēšu siehe S. 64. 43 C35: 12 Zeuge eines Verpflichtungsscheins über Datteln, die auf dem Baum geschätzt wurden und Aḫīqam, der Zentralfigur dieser Textgruppe, geschuldet sind; aus dem 14. Jahr des Darius, sowie C44: 16 Zeuge eines Verpflichtungsscheins über eine große Menge Gerste, die Aḫīqam liefern soll, aus dem 15. Jahr des Darius. 44 C16: 19: Zeuge im oben behandelten Rechtsstreit des Aḫīqam mit Nadab-Jāma über das Eintreiben der Dattelernte im 9. Jahr des Darius; C30: 16: Zeuge einer Viehverstellung, an der zwei Söhne Aḫīqams beteiligt sind, 15. Jahr des Darius. Die Belege für Šalam-Jāma und Šilim-Jāma beziehen sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf dieselbe Person und können daher vereinigt werden. Es gibt auch Šalam- bzw Šilim-Jāma, Sohn des Nadab-Jāma, in C10: 4 und A1: 30. Dies dürfte kein Zufall sein und es ist anzunehmen, daß šalam und šilim orthographische Varianten repräsentieren, nicht unterschiedliche Namenelemente. Möglicherweise könnte auch Ṭūb-Jāma, Sohn des Mukkēa, in C8 ein weiterer Bruder sein. Für die Argumente, in Mukkēa eine verballhornte Form von Mī-kī-Jāma zu sehen, siehe C. Wunsch (in Vorbereitung).
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sen Rückzahlung einer Silberschuld bezeugt. Beide Individuen, Rapā-Jāma und Mī-kīJāma, tragen das Patronym Samak-Jāma.45 Der Name Samak-Jāma ist in den Texten nur als Vatersname belegt.46 Wenn mehrere Individuen derselben Generation in einem abgegrenzten Textkorpus denselben Vatersnamen haben, der in ihrer und der folgenden Generation sonst nicht als Personenname erscheint, und sich darüber hinaus ihre geschäftlichen Aktivitäten verbinden lassen, kann man erwarten, daß sie Brüder sind.47 Die Datierung der Tafeln legt nahe, daß Mī-kī-Jāma der ältere Bruder von Rapā-Jāma war. Jāḫu-ḫinnī wäre damit eine Großnichte des Aḫīqam.48 Für Aḫīqam könnte die Tafel B3 aus mindestens drei Gründen wichtig sein. Erstens könnte er die strittigen Vermögenswerte übernehmen wollen haben und B3 gehört als Retroacta zur Dokumentation ihrer Herkunft. Zweitens könnte einer von Aḫīqams Söhnen mit Jāḫû-ḫinnī oder deren Tochter liiert gewesen sein und Interesse gehabt haben, das seiner Frau Zustehende gerichtlich einzuklagen. Verschiedene Varianten dieses Szenarios wären denkbar. Es gibt aber drittens auch die Möglichkeit, daß sich die Tafel bei Aḫīqam befand, weil er sie bei seinen geschäftlichen Reisen an vielen Orten herumzeigen und damit den Schreiber identifizieren helfen konnte. Es ergibt sich aus den dargestellten Kontext- und Hintergrundinformationen für die Interpretation des Textes B3 folgendes Bild: Das Schriftstück rekonstruiert die Details einer extra-dotalen Vermögensübertragung des Vaters Malēšu an seine Tochter Jāḫûḫinnī. Sowohl die Parteien als auch die Zeugen gehören zu den Nachkommen der exilierten Judäer, wie deren Namen und Patronyme anzeigen. Der Text folgt einem gut belegten babylonischen Vorbild und wurde von einem babylonischen Schreiber verfaßt. Das Originaldokument ist nicht vorhanden und es gibt offenbar keine Kopie, weder in Keilschrift noch in Aramäisch. Die Haupterben Malēšus, seine Söhne, streiten vermutlich die Verfügung ab, und es gibt nur die Hoffnung, vor Gericht zu gehen, um die Herausgabe der Vermögenswerte zu erzwingen. Dafür benötigt Jāḫû-ḫinnī Beweise: entweder Schriftstücke oder Zeugen, die beim Ausstellen des Originaldokumentes anwesend waren oder beobachtet haben, wie es abhanden kam. Mit Hilfe 45 Es kommt zwar in C39 ein Mī-kī-Jāma, Sohn des Padā-Jāma, vor, aber der Text datiert aus der Regierungszeit des Darius. Auch Rapā-Jāma, Sohn des Išê-il, in C50 ist zu jung. 46 Abgesehen von C52, einem Text aus der Zeit des Xerxes (also drei Generationen später), in dem ein Samak-Jāma, Sohn des Jāḫû-[…], als Zeuge erscheint. Darüber hinaus gibt es den Namen als Eigentumsmarke in Gravur auf dem Horn eines Rindes (C77, B29; es handelt sich beide Male um dasselbe Tier). 47 Dies trifft im Rahmen des Korpus z.B. auch auf die Söhne des Šalti-il zu. 48 FBSD nach anthropologischer Terminologie, siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Kinship_terminology.
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eines ungenannten Schreibers werden die Details der Transaktion und der Inhalt des Originaldokumentes einschließlich Zeugennamen rekonstruiert. Der Schreiber kennzeichnet die Elemente des Textes in einer Art und Weise, die deutlich macht, daß es sich nicht um einen gültigen Besitztitel handelt. Dies erreicht er mit Einschüben des Zeichens UL, „nicht“, in jeder Zeile und Floskeln wie „weiß nicht“ oder „sicherlich“. Dem rekonstruierten Urkundentext fügt er einen dringlichen Appell an, der an den Schreiber des Originaldokuments gerichtet ist. Er solle sich melden, um als Zeuge bei Gericht auszusagen. Der Text zeigt, daß der unbekannte Schreiber von B3 keineswegs von drittklassiger Qualifikation war. Er war in der Lage, die komplexe Situation zu erfassen und darzustellen, die entsprechenden Formulierungen zu gebrauchen und einen Weg zu finden, die Urkunde als vorläufig und als Besitztitel ungeeignet zu kennzeichnen. Ausgestattet mit einer gründlichen Ausbildung, die zu großen Teilen aus dem Erlernen von Formularbestandteilen bestand, reagierte er flexibel auf eine ungewöhnliche Situation. Die Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit eines babylonischen Schreibers wird von den Nachkommen der exilierte Judäern vorausgesetzt und im Rahmen innerfamiliärer Auseinandersetzungen, die auf lokalem Niveau nicht lösbar waren, eingefordert, um vor Gericht zu gehen. Die Urkunde zeigt, daß die normative babylonische Rechtstradition bis in die Ebene des konservativen Familien- und Erbrechts ausgestrahlt hat, und zwar bereits nach zwei bis drei Generationen im Exil, als das Reich Nebukadnezars schon nicht mehr bestand.
Summary The group of documents from the Babylonian hinterland presented here allows insights into the lives of descendants of deported Judeans from the time of the NeoBabylonian Empire and the first Achaemenid rulers. They were assigned land that was under royal administration and burdened with rent and tax payments as well as service obligations. They lived in ethnically relatively homogeneous settlements in the neighbourhood of other exiled populations with whom contacts existed. The administration was predominantly staffed by Babylonians. The documents presented here concern legal disputes for which either evidence was sought or which, after appropriate examination, were decided or dismissed for lack of it at the local level. These examples are of great legal historical interest, primarily for the Babylonian tra-
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dition. However, they also show that exiles of all origins came into contact with this legal system, and that it may have had a great influence on further developments (e.g., also the Jewish tradition). The current great progress in the publication and evaluation of cuneiform sources from the late period contributes to this understanding.
Texteditionen (mit Textnummer zitiert) A1, A2 siehe K. Abraham (2005); K. Abraham (2007) B siehe C. Wunsch (2022) C siehe L.E. Pearce / C. Wunsch (2014) J8, J9 siehe F. Joannès / A. Lemaire (1999) SAA 16 siehe K. Radner (2014) BaAr 2 siehe C. Wunsch (2003) CTMMA 3 siehe E. von Dassow / I. Spar (2000)
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