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German Pages 354 Year 2015
Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hg.) Methoden der Tanzwissenschaft
TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 32
Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hg.)
Methoden der Tanzwissenschaft Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps/Das Frühlingsopfer« 2., überarbeitete und erweiterte Neuauflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Le Sacre du Printemps, Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, Tänzerin: Malou Airaudo, © 2014, Gert Weigelt, Köln Lektorat: Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein, Yvonne Hardt, Sandra Noeth, Ann-Kathrin Reimers Satz & Layout: Yvonne Hardt, Sandra Noeth, Ann-Kathrin Reimers Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2651-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2651-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort zur überarbeiteten Neuauflage
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GABRIELE BRANDSTETTER/GABRIELE KLEIN Bewegung in Übertragung. Methodische Überlegungen am Beispiel von Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer)
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Prolog RAIMUND HOGHE Pina Bausch über Sacre
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Tanz und Zeichen PETER M. BOENISCH Tanz als Körper-Zeichen: Zur Methodik der Theater-Tanz-Semiotik
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CHRISTINA THURNER Prekäre physische Zone: Reflexionen zur Aufführungsanalyse von Pina Bauschs Le Sacre du Printemps
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ANTJA KENNEDY Methoden der Bewegungsbeobachtung: Die Laban/Bartenieff Bewegungsstudien
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Intermezzo Die Performanz des Rituals. Gabriele Klein im Gespräch mit Gitta Barthel
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Produktion und Übersetzung GABRIELE BRANDSTETTER Pina Bauschs Das Frühlingsopfer. Signatur – Übertragung – Kontext
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GABRIELE KLEIN Die Logik der Praxis. Methodologische Aspekte einer praxeologischen Produktionsanalyse am Beispiel Das Frühlingsopfer von Pina Bausch
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STEPHAN BRINKMANN „Ihr seid die Musik!“ Zur Einstudierung von Sacre aus tänzerischer Perspektive
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Intermezzo Die Treue zur Form. Gabriele Klein im Gespräch mit Barbara Kaufmann
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Aktion und Dialog NICOLE HAITZINGER/CLAUDIA JESCHKE/CHRISTIANE KARL Die Tänze der Opfer. Tänzerische Aktionen, BewegungsTexte und Metatexte
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STEPHANIE JORDAN Machine Metaphors in Pina Bausch’s The Rite of Spring: A Choreomusical Approach
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Intermezzo BINA ELISABETH MOHN Kamera-Ethnografie: Vom Blickentwurf zur Denkbewegung
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Ritual und Symbol JÜRGEN RAAB/HANS-GEORG SOEFFNER Pina Bauschs Inszenierung Le Sacre du Printemps. Eine Fallanalyse zur Soziologie symbolischer Formen und ritueller Ordnungen
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MICHAEL DIERS Dis/tanzraum. Ein kunsthistorischer Versuch über die politische Ikonografie von Pina Bauschs Le Sacre du Printemps
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Intermezzo AMOS HETZ Listening to the Gesture. The Gap between the Spontaneous and the Formed
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Körper und Medium GERALD SIEGMUND Rot und Tot. Der Körper als Fragezeichen in Pina Bauschs Le Sacre du Printemps
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MARK FRANKO Bausch and The Symptom
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DIETER MERSCH Medien des Tanzes – Tanz der Medien. Unterwegs zu einer dance literacy
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Anhang Autorinnen, Autoren und Herausgeberinnen
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Bildnachweise
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Vorw ort zur übe rarbe itete n Ne ua ufla ge
Am 3. Dezember 1975 hatte der dreiteilige Abend Das Frühlingsopfer mit den Stücken Wind von West, Der Zweite Frühling und Le Sacre du Printemps im Opernhaus Wuppertal in der Choreografie von Pina Bausch Premiere. Anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums von Das Frühlingsopfer im Jahre 2015 haben wir uns entschieden, dieses Buch in einer überarbeiteten Neuauflage zu publizieren. Das Buch war seit längerer Zeit vergriffen. 2013, im Jahr des 100-jährigen Jubiläums der Uraufführung von Nijinskys Choreografie Le Sacre du Printemps wurde weltweit eine Vielzahl von zeitgenössischen Adaptionen und Auseinandersetzungen mit dem Vermächtnis dieses wegweisenden Tanzstücks der Moderne, mit seiner Rezeptionsgeschichte und den Herausforderungen der Opferthematik gezeigt. International wurde auch in der Forschung das Musik- und Tanzstück neu beleuchtet. Auch Pina Bauschs Choreografie Das Frühlingsopfer stand dabei erneut zur Debatte. In der Forschung über Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal ist aber nicht erst durch das Jubiläumsjahr 2013, sondern seit der Erstauflage des Sammelbandes 2007, und vor allem nach Pina Bauschs Tod 2009, vieles in Bewegung geraten. Fragen des Erbes, der Aufbau eines Archivs, die damit verbundenen Verfahren der Medialisierung und Digitalisierung des ‚Werkes’, der Oral History und der Weitergabe an eine jüngere Tänzergeneration und an Tänzer anderer Kompanien stellen eine Herausforderung dar, die auch methodologisch neue Akzente setzt. Dies korrespondiert mit einem Paradigmenwechsel in der tanzwissenschaftlichen Forschung, der sich seit der Erstauflage dieses Sammelbandes vollzieht: Tanzwissenschaftliche Forschung reflektiert die künstlerische Praxis im zeitgenössischen Tanz, die den Fokus nicht mehr ausschließlich auf das Herstellen eines künstlerischen Werkes richtet. Der Produktionsprozess und mit ihm die Probenprozesse und Arbeitsweisen sowie die Formen der Zusammenarbeit sind zunehmend zum Thema und Gegenstand der künstlerischen Praxis geworden. Mit dieser Perspektiverweiterung radikalisiert sich ein Ansatz, der 9
VORWORT ZUR ÜBERARBEITETEN NEUAUFLAGE
in Deutschland seit den 1970er Jahren vor allem auch durch das künstlerische Schaffen und den ästhetischen Ansatz von Pina Bausch und dem Tanztheater Wuppertal initiiert worden war: work in progress. Dieser erweiterten Perspektive auf das Verhältnis von Arbeitsprozess und ‚Werk’ oder ‚Aufführung’ will die Neuauflage dieses Sammelbandes Rechnung tragen. Dennoch haben wir entschieden, die Texte nicht grundlegend zu aktualisieren, jedoch einige Umstellungen und Ergänzungen vorzunehmen, die aktuelle Fragen der Debatte zu ‚Bewegung in Übertragung’ aufgreifen. Neben den bisherigen Beiträgen, die sich mit unterschiedlichen Verfahren der Bewegungs-, Aufführungs- und Inszenierungsanalyse auf das ‚Stück’ Das Frühlingsopfer konzentrieren, sind Texte hinzugekommen, die den Blick auf den Produktionsprozess lenken. Diese werden ergänzt durch ein Interview, das die Wiederaufnahmepraxis thematisiert und einen Prolog, der eine Lesart des ‚choreografischen Sehens’ von Pina Bausch vorstellt. Entsprechend wurden die Texte neu zueinander gruppiert. Gegenüber der ersten Auflage haben wir den Untertitel des Sammelbandes geändert und an die Titelgebung des Tanztheater Wuppertal angepasst. Das Stück, zunächst unter dem Titel Le Sacre du Printemps gespielt, wurde kurz nach der Premiere nicht mehr im Rahmen eines dreiteiligen Abends, betitelt Das Frühlingsopfer, gezeigt. Danach übertrug Pina Bausch den ehemaligen Hauptitel auf die Choreografie, die fortan bei Aufführungen in Deutschland Das Frühlingsopfer hieß. Bei Gastspielen im Ausland wurde das Stück Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer) genannt. Da dieses Buch deutsch- und englischssprachige Texte versammelt, haben wir diese Titelgebung für die Neuauflage gewählt. Seit der ersten Auflage hat sich auch die Zugänglichkeit des Bildmaterials zu der Choreografie entscheidend verbessert. Die DVD, die der ersten Auflage beigegeben wurde, konnte aus urheberrechtlichen Gründen nur Ausschnitte aus der ZDF-Fernsehproduktion von Das Frühlingsopfer zeigen, die 1978 in der Bildregie von Pit Weyrich erstellt und am 11.03.1979 erstmalig ausgestrahlt wurde. Mittlerweile ist diese Aufzeichnung veröffentlicht. Auf diese von der Pina Bausch-Foundation 2012 im Verlag L‘Arche, Paris herausgegebene Edition von Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer) beziehen sich die Bild- und Videozitate, die Referenzen sind unter Angabe des Timecodes für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar. Wir danken Melanie Haller und Heike Lüken für ihre Mithilfe bei der Gestaltung der Neuauflage und Ann-Kathrin Reimers für die Redaktion und die sorgfältige Aktualisierung und Bearbeitung der Druckvorlage. Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein Berlin und Hamburg, im Januar 2015 10
GABRIELE BRANDSTETTER/GABRIELE KLEIN
Bew egung in Übertra gung. Methodische Überle gunge n am Beis pie l von Le Sacre du Printe mps (Das Frühlings opfe r)
„Man schreibt im Hinblick auf eine Ausfahrt – die noch keine Sprache hat.“ Gilles Deleuze
Wie können wir Tanz denken, sprechen, schreiben oder lesen? Diese Frage nach der Übertragung von Bewegung, von körperlichen Interaktionen, choreografischen Ästhetiken und theatralen Formen in Sprache ist besonders virulent geworden, seitdem sich Tanz als Forschungsfeld auch in der akademischen Welt zu etablieren beginnt. Denn Tanz als wissenschaftlicher ‚Gegenstand‘ benötigt eine methodische und theoretische ‚Handwerkskiste‘, um die notwendigen Übertragungsleistungen von Bewegung in Sprache, von Choreografie in einen akademischen Diskurs, von Kunst in Wissenschaft vollziehen zu können. Hierbei kann Tanzwissenschaft, wie viele andere jüngere Wissenschaften auch, auf das bereits geschaffene breite und ausdifferenzierte Wissen über methodische Verfahren und Herangehensweisen zurückgreifen. Aber sie ist auch aufgefordert, die vorliegenden methodischen Instrumentarien ihrem ‚Gegenstand‘ entsprechend zu modifizieren und ein für die Tanzwissenschaft adäquates spezifisches Handwerkszeug zu entwickeln. Seitdem sich in den 1980er Jahren die tanzwissenschaftliche Forschung zu etablieren begann, sind verschiedene Methoden zur Anwendung gekommen. Die Spannbreite ist mittlerweile groß: Von Aufführungsanalysen1, Medienanalysen2 und Diskursanalysen3 über historisches Quellenstudium4, biogra1 2 3
Siehe dazu den Text von Christina Thurner in diesem Band. Vgl. z.B. Martina Leeker: Mime, Mimesis und Technologie, München: Fink 1995. Vgl. z.B. Susan L. Foster: Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, Berkeley: University of California Press 1986.
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GABRIELE BRANDSTETTER/GABRIELE KLEIN
fische Forschungszugänge5 bis zu qualitativen Methoden der Sozialforschung wie Interviewverfahren oder Ethnografien.6 Hinzu kommen jene Untersuchungen, die, teilweise in Verbindung mit empirischer Forschung, theoretische Modelle wie z.B. semiotische7, poststrukturalistische oder sozialtheoretische8 Ansätze auf den Tanz übertragen und so verschiedene analytische Lesarten des Tanzes vorführen und schließlich jene kultur- und kunsttheoretischen Ansätze, die Tanz als ‚lecture corporelle‘9 von Texten und Bildern zu beschreiben suchen. Neben diesen aus etablierten Wissenschaften entliehenen Verfahren liegen genuin aus der Tanzforschung hervorgegangene methodische Ansätze vor, wie beispielsweise die Laban-Bartenieff-Bewegungsanalyse10, die Kestenberg-Methode11 oder das Verfahren der Movement Evaluation Graphics (MEG) sowie das daraus hervorgegangene Konzept der Inventarisierung von Bewegung (IVB).12 Diese Verfahren verstehen Tanzanalyse zunächst als ‚reine Bewegungsanalyse‘ und untersuchen – sehr differenziert – die Bewegungen des Körpers in Raum und Zeit mit Hilfe unterschiedlicher Kategoriensysteme. In diesen Verfahren werden ‚Körper‘ und ‚Raum‘ gemeinhin als abstrakte Größen gedacht. Wie aber kann die Tanzforschung auch methodisch den jüngeren Erkenntnissen der Körper- und Raumtheorien Rechnung tragen, die z.B. Körper im Plural verstehen wollen? Demnach wäre auch der ‚tanzende Körper‘ als mehrere Körper lesbar: Als realer, symbolischer und imaginärer Körper13 oder 4 5 6
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Vgl. z.B. Susan Manning: Ecstasy and the Demon. Feminism and Nationalism in the Dances of Mary Wigman, Berkeley: University of California Press 1993. Vgl. z.B. Hedwig Müller: Mary Wigman. Leben und Werk einer großen Tänzerin, Weinheim/Berlin: Quadriga 1986. Vgl. Gabriele Klein/Melanie Haller: Bewegung, Bewegtheit und Beweglichkeit. Subjektivität im Tango Argentino, in: Bischoff, Margrit/Feest, Claude/Rosiny, Claudia (Hg.): e-motion. Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung, Bd. 16, Münster: Lit 2006, S. 157-172. Siehe dazu den Text von Peter M. Boenisch in diesem Band. Vgl. z.B. Gabriele Klein: FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes, München: Heyne 1994. Vgl. Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Fischer 1995. Siehe dazu den Text von Antja Kennedy in diesem Band. Vgl. Janet Kestenberg Amighi: The meaning by movement: developmental and clinical perspectives of the Kestenberg Movement Profile, Amsterdam: Gordon and Breach 1999. Vgl. Claudia Jeschke: Tanz als BewegungsText. Analysen zum Verhältnis von Tanztheater und Gesellschaftstanz (1910-1965), unter Mitwirkung von Cary Rick, Tübingen: Niemeyer 1999. Vgl. Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006.
BEWEGUNG IN ÜBERTRAGUNG
als geschlechts-, altersspezifisch, sozial und ethnisch differenzierter Körper.14 Hinzu kommen jene Befunde, die, wie Pierre Bourdieu, Körper als habitualisiertes Muster des Sozialen ansehen, oder den Körper nicht nur als Repräsentanten sozialer und kultureller Ordnungen, sondern zugleich als Agens der Wirklichkeitsproduktion verstehen. Diese Pluralisierung und Neudeutung der Körper stellt nicht nur die Entwicklung von Körper- und Bewegungstheorien, sondern vor allem auch von methodischen Verfahren vor neue Herausforderungen. Ähnlich ausdifferenziert wie der Körperbegriff ist auch das Raumkonzept: Die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumtheorie15 beschreibt Raum nicht mehr als eine geographisch fixierte oder materiell festgelegte Größe, als einen ‚Ort‘, an dem sich etwas ereignet, sondern als einen Herstellungsprozess, der in der Handlung, d.h. in der Bewegungspraxis als sozialer und symbolischer, als kinesphärischer, imaginärer und sozial angeeigneter Raum konkret wird. Demzufolge ist der ‚Tanzraum‘ als imaginärer, symbolischer und realer Raum selbst pluralisiert, dynamisch und variabel geworden, was in den theoretischen und methodischen Konzepten seinen Niederschlag finden müsste. Wie die Ausdifferenzierung der Körper- und Raumkonzepte eine große Herausforderung nicht nur für die Tanztheorie darstellt, sondern auch für die Methodik der Tanzforschung, ist auch Bewegung nicht nur als ein raumzeitliches Geschehen, als eine Ortsveränderung zu begreifen.16 Die Bewegtheit, verstanden als die – lebensgeschichtlich geprägte – subjektive Wahrnehmung und innere Haltung prägen gleichermaßen das raum-zeitliche Ereignis. Äußere Einflüsse, wie beispielsweise kultur-, gruppen- oder ortsspezifische Rahmenbedingungen treten hinzu. Hier wird deutlich, dass eine der zentralen Herausforderungen tanzwissenschaftlicher Verfahren darin besteht, Mikround Makroebenen miteinander in Beziehung zu setzen, d.h., entsprechend der jeweiligen Wissenschaftsperspektive: Ein Verhältnis herzustellen zwischen Bewegungstext und Kontext, Bewegung und sozialem und kulturellem Sinn, tänzerischer Ausführung und tänzerischer Grammatik, Bewegung und Motiv, tänzerischem Stil und gesellschaftlichem Kontext. Tanzanalyse unterliegt einer weiteren Herausforderung: Tanz ist ein ‚dynamischer Gegenstand‘, oder besser: Eine ‚Performance‘ oder ein ‚Prozess‘, impliziert doch der Begriff ‚Gegenstand‘ schon immer die durch die jeweiligen disziplinären Verfahren und Hypothesen konstituierte Zurichtung 14 Vgl. Markus Schroer: Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 15 Vgl. z.B. Henry Lefèbvre: The Production of Space (1991), reprint Malden u.a.: Blackwell 2004; Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. 16 Vgl. dazu ausführlicher Gabriele Klein/Melanie Haller: Präsenzeffekte. Zum Verhältnis von Bewegung und Sprache am Beispiel lateinamerikanischer Tänze, in: Robert Gugutzer (Hg.): body turn, Bielefeld: transcript 2006, S. 233-249.
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des ‚Objektes‘ der Forschung. Tanzwissenschaftliche Methoden sind also konfrontiert mit der erkenntnistheoretischen Problematik, eine dynamische Form zu analysieren. Das heißt auch immer: Das so genannte Flüchtige, Transitorische, Vergängliche, Abwesende festzuhalten, es still zu stellen und ‚auf den Begriff zu bringen‘. Mehr noch: Das, was sich dem fixierenden Zugriff entzieht – und auch in der Anschauung und in der Erinnerung keine verlässlichen Spuren hinterlässt – wird erst im Forschungsprozess der Untersuchung als ‚Gestalt‘ hergestellt. Hinzu kommt ein wahrnehmungstheoretisches Problem, beruhen doch die Methoden der Fixierung von Bewegung immer auf Fragmentierungen des Blicks, darauf, dass die raum-zeitlichen Aufführungen von Körpern, ihre Interaktionen und theatralen, kulturellen und sozialen Rahmungen aus einzelnen Perspektiven fokussiert werden. Übertragen wird demnach nicht ‚der Tanz‘ als eine Entität. Vielmehr wird Tanz in diesem Transfer als etwas ‚Anderes‘, als ‚Gestalt‘ – oder besser, da differenziert nach der jeweiligen Lesart als ‚Gestalten‘ – im Feld des diskursiven Wissens erst hervorgebracht. Erst in diesem Neuerscheinen in einem anderen Medium – dem Film, dem Bild, der Sprache, dem Text – wird Tanz als kulturelles Deutungs- und Verständigungskonstrukt produziert. Es wäre aber verkürzt anzunehmen, dass ‚das Flüchtige‘ eine spezifische Grundproblematik der Tanzforschung sei. Diese Annahme trägt eher zu einer Mythisierung des Tanzes bei. Denn das Flüchtige ist ein Phänomen, das nicht nur die Sport- oder Bewegungswissenschaften vor erkenntnistheoretische und methodische Probleme stellt. Es ist letztendlich auch für historische und soziale Ereignisse und damit für alle empirischen Sozialwissenschaften wie Soziologie, Ethnologie oder Geschichtswissenschaft relevant, insofern sie sich mit menschlichen Figurationen, also mit dynamischen Ordnungen beschäftigen und betrifft auch die Kunst- und Kulturwissenschaften, sofern sie sich – wie Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft oder PerformanceStudies – mit raum-zeitlichen Prozessen befassen. Diese Wissenschaften sind darauf angewiesen, sich Speichermedien zu bedienen, um den zu untersuchenden Gegenstand differenziert analysieren zu können. In der Medialisierung von Bewegung liegt denn auch eine Grundproblematik der Tanzforschung. Denn das, was übertragen wird, ist nicht ‚der Tanz‘, das Ereignis, sondern der in Aufzeichnungsystemen gespeicherte Tanz. Text und Bild sind das nach außen gelagerte Gedächtnis des Tanzes. Die älteste Aufzeichnungsform des Tanzes ist die graphische Notation, die sowohl die Ordnung der Bodenwege als auch die Bewegungen des Körpers oder einzelner Körperteile in Zeichen überträgt. Hier hat sich keine konventionalisierte ‚Schrift‘ mit einem fixierten Zeichencode etabliert, die der Sprache oder der Musik vergleichbar wäre. Vielmehr haben sich über Jahrhunderte hinweg die Notationsformen immer wieder, entsprechend der Transformation von Körper- und Bewegungskonzepten und Tanzästhetiken, modi-
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BEWEGUNG IN ÜBERTRAGUNG
fiziert.17 In der Moderne kamen mit Fotografie und Film weitere medientechnische Archive hinzu; mit ihnen wurde Bewegung im Bild darstellbar.18 Anders aber als die Tanzfotografie, die die Bewegung als Pose fixiert, produziert der Film Bewegung als bewegtes Bild. Deleuze zufolge lässt sich das Verhältnis zwischen Bewegung und Bild in zwei Phasen unterteilen: Das „Bewegungs-“ und das „Zeit-Bild“. Gilles Deleuze versteht unter Bewegungs-Bild weder ein in Bewegung versetztes Bild noch ein Bild, das, wie auch das unbewegte Bild, Bewegung abbildet oder repräsentiert. Im Bewegungs-Bild ist Bewegung unmittelbar gegeben; das Verhältnis von Bewegung und Bild ist jenseits der Wahrnehmbarkeit konzipiert: „Der Film gibt uns kein Bild, das er dann zusätzlich in Bewegung brächte – er gibt uns unmittelbar ein Bewegungs-Bild.“19 Das Zeit-Bild reflektiert das Moment der Zeit, indem es mit Montagetechniken operiert. Seit der technischen Einführung des Bewegungs-Bildes sind auch Tanzanalysen mit unterschiedlichen medientheoretischen Fragen konfrontiert, wie z.B. mit dem Problem des Transfers von der Dreidimensionalität des Raumes in die Zweidimensionalität des Bildes, sowie mit der medientechnischen Tatsache, dass z.B. Kameraführung, Bildausschnitte oder Schnitttechniken eine bestimmte Perspektive auf den Tanz werfen, dieser also über den Kamerablick vermittelt und nur über diesen ‚autoritären Blick‘ sichtbar wird. Es wäre aber verkürzt, diese Problematiken – die Übertragung des Flüchtigen und des Räumlichen ins Bildliche und damit den medialen Transfer und die Transformation von Präsenz, Liveness, Aura, Ausstrahlung oder Stimmigkeit – als spezifische Problematiken tanzwissenschaftlicher Methoden anzunehmen. Vielmehr veranschaulicht der Tanz auch hier eine Grundsituation sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung, ist doch ‚das Soziale‘ – als gesellschaftliche oder kulturelle Praxis, auf der Bühne, im Film oder im Alltag – immer flüchtig, vergangen und abwesend. Mit ihrem genuinen Gegenstand, der Erforschung des Dynamischen und Flüchtigen, kann Tanzforschung somit erkenntnisleitend sein für die Analyse von sozialen Interaktionen als Körper- und Bewegungsordnungen. Sie kann damit theoriegeleitete Verfahren auch für andere Disziplinen bereitstellen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wollen wir fragen, welcher etablierten Forschungsmethoden sich Tanzforschung bedienen kann, um ihrem Forschungsfeld gerecht zu werden und welche Übertragungen zu 17 Vgl. Claudia Jeschke: Tanzschriften. Ihre Geschichte und Methode. Die illustrierte Darstellung eines Phänomens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bad Reichenhall: Schubert 1983; Isa Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, Freiburg: Rombach 2006; Gabriele Brandstetter: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin: Theater der Zeit 2005. 18 Vgl. Gabriele Klein (Hg.): Tanz Bild Medien, 2. Aufl. Hamburg: Lit 2002. 19 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 15; ders.: Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990.
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leisten sind, die eine Annäherung der verschiedenen disziplinären Wissensfelder von Tanzforschung ermöglichen und diese miteinander in einen Dialog treten lassen. Dieses Buch zielt darauf ab, einen Diskurs über die Methoden der Tanzforschung zu initiieren. Um einer Methodendiskussion in der sich gerade etablierenden Tanzwissenschaft in Deutschland einen breiten Rahmen zu geben, versammelt der vorliegende Band Positionen, Perspektiven und Erkenntnisse von Vertretern und Vertreterinnen verschiedener Fachdisziplinen, die sich seit längerem intensiv mit Methoden der Bild- und Medienanalyse, der Aufführungsanalyse, der Bewegungs- und Körperanalyse, der Ethnografie oder der Videoanalyse befassen. Zum anderen präsentiert das Buch verschiedene methodische Zugangsweisen und Erkenntnisformen, die in Tanzforschung und Tanzwissenschaft bereits entwickelt wurden. Der Sammelband dokumentiert eine internationale Fachkonferenz, die im Januar 2006 im Aby-Warburg-Haus in Hamburg stattgefunden hat. Die Konferenz hatte zum Ziel, exemplarisch die Vielfalt von methodischen Zugangsweisen zu demonstrieren und diese in Widerstreit treten zu lassen. Als Bezugsmodell wählten wir eine Choreografie aus. Die Wahl fiel auf Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer) von Pina Bausch. Auf diese Weise sollte gewährleistet werden, dass sich die unterschiedlichen methodischen Zugänge aus interdisziplinären Kontexten auf einen gemeinsamen ‚Gegenstand‘ beziehen. Dieser Ansatz war ein Experiment, ein Pilotprojekt für eine Tanzwissenschaft, die sich in den letzten zehn Jahren formiert hat und sich zu etablieren beginnt.20 Die Idee ist ‚geborgt‘: Das Vorbild stammt aus dem von David Wellbery herausgegebenen Band mit acht Modell-Analysen zu Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili.21 Literaturwissenschaftler zeigen hier unterschiedliche Möglichkeiten der Herangehensweise an einen literarischen Text. Sie reflektieren dabei die theoretischen Voraussetzungen ihrer Methoden und ihrer Vorgehensweisen. Diese Selbstthematisierung des eigenen Standpunktes im Sinne jener Reflexivität, die Pierre Bourdieu22 als „objektive Reflexivität“ gekennzeichnet hat, als eine Selbst-Reflexivität, die nicht nur den eigenen gedanklichen Hintergrund, sondern auch den Ort der eigenen Fachdisziplin
20 Gabriele Brandstetter: Tanzwissenschaft im Aufwind. Beitrag zu einer zeitgenössischen Kulturwissenschaft, in: Theater der Zeit, H. 12, 2003, S. 4-12; Gabriele Klein: Tanz Wissenschaft. Annäherungen an ein Phantom, in: Tanzdrama, 1998, H. 41, S. 38-41. 21 David E. Wellbery (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modelanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erbeben in Chili“, München: Beck 1985. 22 Vgl. Pierre Bourdieu/Löic J.D. Wacquant: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996.
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berücksichtigt, stellt bislang noch ein Desiderat der Tanzwissenschaft dar und sollte bei der Konferenz erstmals geleistet werden.
Der ‚Gegenstand‘: Das Frühlingsopfer Das Frühlingsopfer von Pina Bausch ist ein ‚Stück‘, das zu den zeitgenössischen Choreografien zählt, zugleich aber auch als eine Ikone der Tanzmoderne gilt. Es bietet eine Reihe von historischen Bezugspunkten sowie verschiedene Möglichkeiten der wissenschaftlichen Kontextualisierung und theoretischen, aber auch erfahrungsgeleiteten Rahmung. Ausgehend von der Annahme, dass das ‚Stück‘ durch die Arbeit des Forschers und der Forscherin – in einer Art zweiter Konstruktion – de- und re-konstruiert wird, und dass es bereits Bestandteil der jeweiligen Methoden und Verfahren ist, wie dies geschieht und in welcher Weise der Entscheidungsprozess zum Thema theoretischer Reflexion wird, haben wir im Vorfeld der Konferenz unsere Auswahlkriterien nicht kommuniziert. Dies hätte bereits Einfluss auf den Prozess der Lektüre genommen. In diesem Buch hingegen wollen wir, als Nachtrag zur Konferenz, für die Leser und Leserinnen die historischen, thematischen und tanzästhetischen Rahmungen der Choreografie skizzieren: Der Journalist Jochen Schmidt behauptet, dass Sacre das „traditionellste“ aller Stücke Pina Bauschs sei, die in ihr Repertoire eingegangen sind. Es sei das „letzte ihrer frühen Stücke, in denen Tanz ungebrochen und ohne Vorbehalt stattfindet.“23 Zugleich ist Sacre auch die meist aufgeführte Choreografie von Pina Bausch, nunmehr getanzt von der zweiten und dritten Generation von Tänzern des Wuppertaler Ensembles. Das „traditionellste“ Stück? Was bedeutet in Bezug auf dieses Stück, einen ‚Evergreen‘ unter den zeitgenössischen Choreografien, überhaupt ‚traditionell’, was ‚zeitgenössisch‘? Diese Frage ist nicht nur aktuell im Hinblick auf tanzwissenschaftliche Debatten um ‚Zeitgenossenschaft‘ sondern auch, weil Bewegung in Übertragung sich mit dem Erbe von Pina Bausch als Archivierung von Materialien und performative Übertragung auf andere Tänzer und Probenleitungen neu stellt. Fest steht: Sacre, wie das Stück gern abkürzend auch im Tanztheater Wuppertal genannt wird, ist gegenwärtig. Denn von allen Choreografien der Moderne wurde dieses Tanzstück wohl am häufigsten in immer wieder neuen Versionen aufgeführt – über 200 eigenständige Choreografien sind gezählt worden.24 Kaum ein Choreograf oder eine Choreografin des 20. und 21. Jahrhunderts, der oder die sich nicht mit diesem chef d’œuvre der Moderne befasst 23 Vgl. Jochen Schmidt: Pina Bausch ‚Le Sacre du Printemps‘, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hg. Carl Dahlhaus/Institut f. Musiktheater d. Universität Bayreuth, Bd. 1, München: Piper 1986, S. 205. 24 Siehe den Beitrag von Stephanie Jordan in diesem Band.
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und damit die Herausforderung angenommen hätte, die Sacre darstellt. Eine Herausforderung an das eigene Verständnis von Tanz und Choreografie, an die eigene Positionierung zu diesem vielfach inszenierten und interpretierten Stück. Bauschs Sacre ist überall in der Welt bereits aufgeführt worden, und wie Bausch haben sich Choreografen und Choreografinnen aus aller Welt mit Strawinskys herausfordernder Partitur befasst und Antworten auf die durch das Stück aufgeworfenen anspruchsvollen Fragen gesucht: Wie interpretiert ein Choreograf heute das ‚Fremde‘ in der eigenen Kultur? Welchen Status hat der Vorgang der Erwählung oder das Opfer? Welche Perspektive wählt der Choreograf auf das Verhältnis der Geschlechter, die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Gruppe oder die soziale Funktion des Rituals? Schließlich: Welchen Raum eröffnet und nutzt die Choreografie, und wie setzt sie ihren Zeit-Rahmen als Anfang und Ende oder als unendliche Wiederholung? Dies sind Grundfragen eines choreografischen Arbeitens, die mit Sacre von Anfang an aufgeworfen wurden. Denn Sacre, uraufgeführt ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Mai 1913 in Paris, repräsentiert die Ambivalenzen der Moderne, die zwei Szenen jener Kultur- und Wahrnehmungskrise, die Harry Graf Kessler als ein Zugleich von ‚Ja‘ und ‚Nein‘, als eine Ambivalenz, die zwischen Primitivismus, verstanden als eine Konstruktion des Anderen, des „wilden Ursprungs“25 und dem Aufbruch der Avantgarde lag. Durch die langjährigen, minutiösen Quellen- und Rekonstruktionsrecherchen von Millicent Hodson26 und Kenneth Archer27 wissen wir, wie sehr das Archaische von Sacre, dessen Konzept weitgehend auf den Maler und Bühnenbildner Nicholas Roerich zurückgeht, eine durch die Autoren Roerich und Igor Strawinsky konstruierte Archaik28 ist: Der Mythos vom Sonnengott, zu dessen Ehren ein Frühjahrs-Fruchtbarkeitsritual begangen wird, indem ein Menschenopfer in Gestalt einer Jungfrau dargebracht wird. Die Idee eines solchen archaischen Rituals ist in der Literatur und Kunst der 25 Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin: Wagenbach 1990. 26 Vgl. Millicent Hodson: Puzzles choréographiques. Reconstitution du ‚Sacre’ de Nijinsky, in: Etienne Souriau u.a. (Hg.): Le Sacre du Printemps de Nijinsky, Paris: Editions Cicero 1990, S. 45-74. 27 Vgl. Kenneth Archer: Nicholas Roerich et la genèse du sacre, in: E. Souriau u.a. (Hg.): Le sacre du printemps de Nijinsky, S. 75–95; zu Roerichs ‚Konstruktion‘ eines slawischen Mythos und die Kooperation mit Strawinsky vgl. Nicholas Roerich: Sacre. Realm of Light, New York: o.V. 1931. 28 Zur Analyse von Nijinskys/Strawinskys Le Sacre du Printemps als Konstruktion eines (Opfer-)Rituals im historischen Kontext des beginnenden 20. Jahrhunderts vgl. Gabriele Brandstetter: Ritual als Szene und Diskurs. Kunst und Wissenschaft um 1900 – am Beispiel von ‚Le Sacre du printemps‘, in: Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne, Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, S. 367-388.
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Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein zentraler Topos: Nicht nur in Friedrich Nietzsches breit rezipierter Abhandlung zur Geburt der Tragödie aus dem antiken Dionysos-Kult, sondern auch in literarischen Texten wie etwa in Hugo von Hofmannsthals als Gespräche der Tänzerinnen untertiteltem Hetärendialog Furcht (1907)29 oder in Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs (1900).30 In diesen Texten werden ekstatische Fruchtbarkeitsrituale als Tanz dargestellt. Es ist das als neue Kunst inszenierte Fremde im Eigenen: Der ‚ver sacrum‘ in der eigenen Kultur. Eine Festschreibung jenes kulturkritischen Befundes, den Nietzsche in der Geburt der Tragödie entwickelte: Die Thematisierung einer antiklassischen Archaik als eine Aitiologie des Dramas der Kultur.31 Entsprechend deutet Modris Eksteins32 Nijinskys ‚Frühlingsweihe‘ als emblematisches Werk am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Emblematisch für die Widersprüche und Emphasen der Kultur der Moderne. Der unbekannte Soldat, so seine These, nimmt die Rolle von Strawinskys/Nijinskys Opfer ein. Mit einer solchen allegorischen Lektüre war eine markante kulturhistorische und politische Lesart von Sacre vorgelegt. In die Tanzgeschichte eingegangen ist Nijinskys Sacre-Choreografie als „Crime against Grace“.33 Sein Sacre gilt als eine Choreografie der Grenzüberschreitungen, stellt das Stück doch in Frage, was bislang Tradition in Tanz und Theater repräsentierte: Das Körperbild des Tänzers und das Bewegungskonzept des künstlerischen Tanzes, den bis dahin unangefochtenen Code des klassischen Balletts, die Ordnung der theatralen Bühnenrepräsentation, das Verhältnis von Musik und Tanz – und schließlich auch das Männerbild des Tänzers. Nijinskys Choreografie setzt den Tanz als choreografiertes MetaRitual ein: Als eine Reflexion über die Möglichkeit, ein Opfer-Ritual zu choreografieren. Bereits seine Choreografie stellte die Frage nach dem Verhältnis von Ritual und Theater, von Präsenz und Repräsentation, von Aufführung und Inszenierung. 29 Hugo von Hofmannsthal: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, in: Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden, hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt a. M.: Fischer 1979, Bd. 7, S. 572 – 580. 30 Richard Beer-Hofmann: Der Tod Georgs, m. e. Nachwort v. Hartmut Scheible, Stuttgart: Reclam 1980. 31 Vgl. Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann: Opferfest. ‚Penthesilea‘ – ‚Sacre du Printemps‘, in: Jürgen Lehmann u.a. (Hg.): Konflikt, Grenze, Dialog. Kulturkontrastive und interdispziplinäre Textzugänge, Festschrift für Horst Turk zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. u. a.: Peter Lang 1997, S. 105-139. 32 Modris Eksteins: Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, aus dem Englischen von Bernhard Schmid, Hamburg: Rowohlt 1990. 33 Vgl. die Abhandlung, die noch vom Postulat der Grazie ausgeht: Françoise Reiss: Nijinsky ou la Grâce. Esthétique et Psychologie, Paris: Plon 1957; und demgegenüber die Interpretation von Millicent Hodson: Nijinsky’s Crime against Grace. Reconstruction Score of the Original Choreography for 'Le Sacre du Printemps‘, New York: Pendragon Press 1996.
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Nijinskys revolutionäre Choreografie machte in einer Zeit, in der sich die moderne Gesellschaft politisch, kulturell und ökonomisch zu etablieren begann, das ‚Werk‘, wenn man diesen Begriff trotz aller Uneindeutigkeit verwenden mag, zu einem unabgeschlossenen Projekt, zu einem Mythos der choreografischen Avantgarde. Die „Arbeit am Mythos“34, die seither in den unübersehbaren Sacre-Versionen geschieht, bedeutet auch und vor allem die Reflexion dieses Sachverhalts: Sacre kann als eine Meta-Choreografie verstanden werden, als eine Allegorie des modernen Tanzes und seines gebrochenen und einbrechenden Status in Kunst und Kultur.35 Zeitgenössische Choreografen und Choreografinnen setzen sich genau damit auseinander: Mit der fragmentarischen Geschichte des Tanzes, mit Paraphrasen oder Auslassungen der Topoi von Sacre, mit unterschiedlichen Verfahrensweisen, die auch das Verhältnis zu Strawinskys Musik definieren. So beispielsweise Jérôme Bel, der sein gleichnamiges Stück Jérôme Bel (Brüssel 1995) – ein Spiel über die Suche und Bezeichnung des Körpers als Identität – dadurch grundiert, dass ein einziger Darsteller im Bühnenhintergrund stehend, die Musik von Sacre singt. Auf diese Weise reduziert Bel Strawinkys komplexe Orchesterpartitur auf die Ein-Stimmigkeit einer menschlichen, durchaus unausgebildeten Stimme, so dass die Unmöglichkeit einer Gesamt-Inszenierung von Sacre als ‚opus summum‘ des modernen Tanzes aufscheinen kann. Leerstellen, die das schon allzu Bekannte durchbrechen, werden zudem sichtbar: als Fragment; als Zitat, das dem Betrachter schließlich als Segment für seine eigene Erinnerungs-Performance ‚offeriert‘, d.h. im Sinne des Wortes: als Opfer zugedacht wird. Eine andere Lesart präsentiert Martin Stiefermann (Oldenburg 2005), wenn er das Opfer nicht mehr als ein Solo interpretiert und als Seinsweise charakterisiert, sondern als einen Kollektivkörper beschreibt und als Wahrnehmungsweise vorstellt, indem er Sacre und Strawinskys Musik zweimal nutzt (im ersten Teil in der Klavierfassung, im zweiten Teil in der Orchesterfassung) – nicht als Wiederholung, vielmehr als Perspektivenwechsel. Denn Stiefermann choreografiert Strawinskys Musik auch räumlich in zwei Teilen: Zunächst von der Seite der Täter als eine Inszenierung, in der die Performer frontal zum Publikum agieren. Sodann von der Seite der Opfer, in einer Raum-Zeit-Licht-Phase der Inszenierung, in der die Performer immer wieder in Seitenansicht – und zuletzt entblößt im scharfen Lichtstrahl – seitlich die schmale Bühne queren. Es ist eine Interpretation einer komplexen OpferTäter-Beziehung, in der das Machtverhältnis von Täter und Opfer nicht eindeutig ist und die in beklemmender Weise eine Reflexion fordert, wie überhaupt Sacre nach 1945 nach dem Holocaust neu befragt werden müsste: 34 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. 35 Vgl. G. Brandstetter: Ritual als Szene und Diskurs, S. 373-378 und S. 380-386.
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Sacre als „Homo sacer“ im Sinne der politischen Philosophie Giorgio Agambens über das Verhältnis von „nacktem Leben“ und souveräner Macht.36 Eine völlig andere Deutung von Sacre liefert Maurice Béjart (Brüssel 1960).37 Sein Akzent liegt auf dem Fruchtbarkeitsritus. Er präsentiert eine positive Perspektive, in der nicht der Opfertod, sondern Sexualität und ihre in einem Batailleschen Sinn exzessive Kraft mit einem auserwählten Paar gefeiert wird. Marie Chouinard (Montreal 1993) wiederum fokussiert das ‚Fremde‘, das in ihrer Choreografie in vereinzelten, bizarren Mensch-Tierwesen Gestalt annimmt. Die Auswahl der hier aufgerufenen Sacre-Versionen ließe sich fortsetzen, auch durch die Interpretationen von Choreografen und Choreografinnen aus anderen Kontinenten und Kulturen: So zum Beispiel in Japan, wo Sacre in den Kontext des Butoh gestellt wurde, wie etwa in Tanaka Mins Performance Haru no Saiten (1995), das mit der Multiplikation des ‚Opfer-Körpers‘ arbeitet,38 oder schließlich jene vier Kurzversionen Mitsu-noHaru-no-Saiten (Tokio 1995), die im Japan Arts Forum gezeigt wurden. Hier aber soll einleitend nur das Diskussions-Terrain geöffnet werden. Gleichwohl ist auch eine Arrondierung und Kontextualisierung des Themas, noch in der Auslassung der in Texten behandelten Choreografie – nämlich Das Frühlingsopfer von Pina Bausch – bereits ein Akt der Perspektivierung.
Z u m Au f b a u d e s B u c h e s Das Buch versammelt verschiedene Textsorten: Interviews, Essays und wissenschaftliche Aufsätze. Sie repräsentieren unterschiedliche Möglichkeiten der schriftlichen Aufzeichnung von Tanzforschung und stellen zudem die Tanzforschung als eine wissenschaftliche Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft, Theorie und Empirie vor. Der Großteil der Beiträge ist thematisch nach methodischen Zugängen in fünf Sektionen gruppiert: Tanz und Zeichen, Produktion und Übersetzung, Aktion und Dialog, Ritual und Symbol sowie Körper und Medium lauten die Sektionstitel, die einen losen Rahmen bilden für die einzelnen Beiträge, die exemplarisch und zugleich individuell, ihre methodischen Verfahren und Interpretationen ‚am Gegenstand‘ vorführen. 36 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. 37 Zu Béjarts Version von Le Sacre du Printemps vgl. L’Avant scène/BalletDanse: Le Sacre du Printemps, Paris, Août-Oct. 1980, S. 68ff. Zu Choreografien von Sacre bis zur Mitte des 20. Jh. vgl. Shelley Berg: Le Sacre du Printemps: Seven Productions from Nijinsky to Martha Graham, Michigan: Ann Arbor 1980. 38 Vgl. G. Brandstetter/G. Neumann: Opferfest. ‚Penthesilea‘ – ‚Sacre du Printemps, in: Lehmann, Jürgen u.a. (Hg.): Konflikt, Grenze, Dialog. Kulturkontrastive und interdispziplinäre Textzugänge, Festschrift für Horst Turk zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. u. a.: Peter Lang 1997, S. 124-139.
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Die mit Intermezzo überschriebenen Sektionen versammeln Interviews, Analysen und Essays, die eine Verschränkung von praxisgeleiteten methodischen oder tanzpraktischen Perspektiven und ihre theoretische Reflexion gewährleisten: Die Perspektive performativer Zugänge ist mit den hier versammelten forschungspraktischen Verfahren und künstlerischen Erfahrungen in den Wissenschaftsdiskurs als gleichberechtigte und bereichernde Sichtweise einbezogen. Zwischen Vorwort, Einleitung und der ersten Sektion der Methodenaufsätze ist ein Prolog gestellt. Der Tänzer und Choreograf Raimund Hoghe, der zwischen 1980 und 1990 mit dem Tanztheater Wuppertal zusammengearbeitet hat, eröffnet eine Perspektive auf Sacre mit einem Wort der Erinnerung von und an Pina Bausch; und er rahmt seine Skizze mit Bildern, die Geschichte und Kontext von Bauschs Frühlingsopfer heraufbeschwören. Die Sektion Tanz und Zeichen versammelt verschiedene Modelle der Aufführungsanalyse, die das Verhältnis von Körper, Bewegung, Zeichen und (theatraler) Repräsentation beleuchten. Der Beitrag von Peter M. Boenisch zeigt und erläutert eine semiotische Analyse von Tanz im Feld von theatralen Signifikations-Strukturen. Dabei geht es nicht um einfache Bedeutungszuschreibungen von Zeichen; vielmehr verfolgt Boenisch die Verknüpfungen und Übertragungen innerhalb eines Zeichennetzes, was – in der Analyse von Sacre – mittels zentraler Signifikationsmarker sichtbar gemacht wird. Auch Christina Thurner definiert Aufführungsanalyse als einen unabgeschlossenen, unabschliessbaren Prozess; der (scheinbare) Mangel eines Zugriffs auf ein ‚Original’, der durch die (wiederholte) Betrachtung der VideoAufzeichnung von Sacre evident ist, wird produktiv gemacht, indem Thurner sich in ihren Ausführungen zwischen Analyse und Reflexion der Analyse bewegt. Als zentrales Motiv der Körperdarstellung in Bauschs Sacre hebt sie dabei die in die Körpermitte weisenden Bewegungen der Tänzerinnen hervor, und diskutiert die mögliche Deutungen dieses Bewegungsmotivs und seiner wechselnden Dynamik. Antja Kennedy veranschaulicht an ausgewählten Passagen von Sacre das Vorgehen der Laban/Bartenieff Bewegungsanalyse. Ausgehend von einer Kernfrage wird hier der Beobachtungsprozess durch sechs Bewegungsparameter strukturiert. Die Bewegungsanalyse selbst wird in verschiedene Teilanalysen aufgeteilt, die in diesem Text am Beispiel der Phasenanalyse, der Motivschriftanalyse und schließlich der Stilanalyse exemplarisch vorgeführt werden. Die Beiträge der Sektion Produktion und Übersetzung diskutieren in komplementären Sichtweisen Fragen der Produktion. Der Beitrag von Gabriele Brandstetter sucht einen Zugang zu Bauschs Sacre, indem ein doppeltes Verfahren vorgestellt wird: Vor dem Hintergrund von Jacques Derridas Theorie zu ‚Signatur’ und ‚Kontext’ wird Bauschs Frühlingsopfer von zwei
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Seiten betrachtet: der Übertragung des Solos der Auserwählten auf die Tänzerin Kyomi Ichida sowie der Interpretation des Kontextes, in dem Le Sacre du Printemps 1975 in einem dreiteiligen Tanzabend produziert worden war. Gabriele Klein veranschaulicht anhand von Pina Bauschs Frühlingsopfer das Verfahren einer praxeologischen Produktionsanalyse. Ihr Beitrag zeigt die Herausforderungen auf, die im Hinblick auf das Material und die Auswertungsverfahren an tanzwissenschaftliche Forschung gestellt werden, wenn sie über Aufführungsanalysen hinausgeht und den Produktionsprozess einerseits und die Publikumswahrnehmung andererseits mit einschließt. Während Gabriele Klein grundlegende methodologische Problemstellungen darlegt, eröffnet der Beitrag von Stephan Brinkmann einen methodischen Zugang, der eine Brücke schlägt zwischen dem immanenten Wissen, das er als langjähriger Tänzer des Tanztheater Wuppertal und Gasttänzer für Sacre gewonnen hat, und einer tanzwissenschaftlichen Analyse dieser Innenperspektive. Seine These ist, dass die erste Tanz-Analyse bereits im Probensaal beginnt. Im Kapitel Aktion und Dialog werden Methoden vorgestellt, die Tanz aus bewegungsanalytischer Sicht beziehungsweise aus dem Dialog von Körperaktion und musikalischer Partitur betrachten. Nicole Haitzinger, Claudia Jeschke und Christiane Karl begeben sich in einen Dialog, der sich zwischen der Darstellung eines bewegungsanalytischen Modells – der Inventarisierung von Bewegung und seiner Revision – in der Übertragung auf Sequenzen von Bauschs Sacre – hin- und herbewegt. Die Anwendung einzelner Kriterien des Systems wird durch historische Exkurse, in einem Vergleich zwischen Bauschs Sacre und Nijinskys Sacre-Choreografie, vorgeführt und kommentiert. So wird zugleich die Systematisierung von Bewegung bzw. Bewegungswahrnehmung und ihre Theoretisierbarkeit in Sprache und Schrift thematisiert. Aus einer Perspektive, die das Verhältnis von Raum, Körperbewegung und Zeit fokussiert, analysiert Stephanie Jordan in ihrem „choreomusical approach“ Bauschs Sacre. Inspiriert durch den Musiktheoretiker Pieter van den Toorn sucht sie nach der Bedeutung, die durch Energie und Kontinuität in der tänzerischen Übertragung von Musik erzeugt werden kann. Der Fokus ihrer immanent auf das Verhältnis von Tanz und Musik gerichteten Analyse liegt auf der Funktion der zentralen rhythmischen Elemente in Sacre: Auf dem Kontrast (tänzerischer) Freiheit im Verhältnis zum Rhythmus der Musik und einer am Beat orientierten Bewegung der Tänzer. In der Sektion Ritual und Symbol sind zwei Beiträge gruppiert, die sich Sacre aus soziologischer und kunsthistorischer Perspektive über verschiedene interpretative Verfahren nähern. Jürgen Raab und Hans-Georg Soeffner veranschaulichen exemplarisch das Verfahren einer wissenssoziologischen Hermeneutik, deren Inhalt die symbolischen und rituellen und damit die sinn23
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haften und über Zeichen repräsentierten sozialen Handlungen darstellen. Am Beispiel von drei ausgewählten Videosequenzen, an denen sie auch die Problematik der medialen Aufzeichnung thematisieren, gehen Raab und Soeffner den sinnkonstituierenden Figurationen nach. Sie entwickeln die These, dass Bauschs Sacre einen Bruch mit einem der ältesten Kollektivrituale der Menschheit vollzieht, indem das Stück den Akt der Opferung als eine gestörte rituelle Ordnung vorführt. Michael Diers überträgt den kunsthistorischen Ansatz einer durch Aby Warburg inspirierten politischen Ikonografie auf Bauschs Choreografie. Er stellt symbolische Elemente der Inszenierung von Sacre, wie z.B. das zwischen Opfer und Gemeinschaft getauschte rote Tuch, in den Kontext seiner Bild-Geschichte, deren Transformationen und Aufladungen. Zugleich rückt Diers Bauschs Sacre in den zeitgeschichtlichen Kontext der Entstehungszeit dieser Choreografie in den 1970er Jahren: Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Bundesrepublik Deutschland um die RAF wird eine politische Lesart der in Sacre aufgeworfenen Frage nach der Funktion des Opfers debattiert. Mit dieser von Diers in die Diskussion gebrachten politisch-ikonografischen Lektüre zeigt sich zugleich etwas von jenem lebendigen Prozess, der für Methodendebatten grundlegend und in einer jungen Disziplin wie der Tanzwissenschaft umso wünschenswerter ist: Der Ansatz und die Deutung von Diers wurden auf der Tagung lebhaft und kontrovers diskutiert, da das vorherrschende Bild von Bausch bislang eher das einer unpolitisch sich gebenden Choreografin war. In der schriftlichen Fassung der Beiträge hat sich daraufhin ein aus der Methodendebatte sich entfaltender Paradigmenwechsel ereignet, indem Diers Reflexion des RAF-Bezugs wiederkehrt und als ein Diskurselement manifestiert wird. Das Verhältnis zwischen Sacre-Ästhetik und politischem Kontext und die Frage des Umgangs mit Forschungsperspektiven und -ergebnissen sind Themen, deren Evidenz und methodische Plausibilität wiederum als Frage an die Leser und Leserinnen dieses Bandes weitergereicht werden. Im Abschnitt Körper und Medium sind abschließend drei Texte gebündelt, die psychoanalytisch und philosophisch inspirierte Lesarten von Sacre präsentieren. Gerald Siegmund fragt, in welcher Weise Sacre, als ästhetischer Text betrachtet, mit rituellen Funktionen von Tanz und Theater spielt. Psychoanalytisch betrachtet ist Bauschs Sacre eine Choreografie, die mit den Triebkräften in einer Gemeinschaft – Sexualität und Aggression – und mit der Frage nach ihrer möglichen Symbolisierung operiert und eben dadurch performativ die Möglichkeiten von Tanz und Choreografie reflektiert. Siegmund geht dabei von der Annahme aus, dass der Körper auf der Bühne durch den Blick des Zuschauers als Ort des Begehrens konstruiert wird.
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Mark Franko legt seiner Lesart das Konzept der Hysterie zu Grunde. Seine aus der Psychoanalyse Freuds und Lacans, aber auch aus genderspezifischen Studien inspirierte Annäherung an Sacre fokussiert in Bauschs Choreografie Prozesse dessen, was er „Hystericization“ nennt, die Franko, in Anlehnung an Foucault, in der formalen Struktur der Choreografie auszumachen versucht. Mit Bezugnahme auf Nijinskys Choreografie und Adornos Musikanalyse unterstellt er in Bauschs Choreografie das Ende der Illusion von ‚Geschlecht‘. Dieter Mersch zielt in seiner Analyse auf eine „dance literacy“, die er als eine Analyse medialer Verfahrensweisen versteht. Dazu stellt Mersch Bauschs Choreografie in den Kontext einer „negativen Ästhetik des Medialen“. Bausch beherrsche eine „Ästhetik der Inversion“, eine Ästhetik, die mit paradoxaler Intervention, Fraktur und Widerspruch operiere. Merschs Analyse richtet sich auf die medienreflexiven Strategien der Aufzeichnung, die er systematisch an den vier Grundelementen Licht und Raum, Körper, Bewegung und Zeit sowie Musik vorführt. Die zwischen die einzelnen Abschnitte gestellten Intermezzi präsentieren verschiedene erfahrungsgeleitete, aus praktischer Erfahrung gewonnene Zugänge. In den ersten beiden Intermezzi sind zwei Gespräche dokumentiert, die Gabriele Klein mit Gitta Barthel geführt hat, die vor vielen Jahren Gasttänzerin bei Bauschs Sacre war und mit Barbara Kaufmann, die von 1985 bis 2004 die Choreografie mittanzte und 2014 die Probenleitung innehatte. Die Idee zur Durchführung von Interviews war erst bei der Konferenz entstanden: Die Gespräche hatten zum Ziel, die von den Referenten und Referentinnen vorgestellten Thesen nochmals aus der erfahrungsreichen Perspektive der Tänzer zu beleuchten. Da während der Konferenz vielfach die Frauen- und Männertänze, aber auch die Frage der Opferung der Frau zur Diskussion standen, thematisiert das für die erste Auflage geführte Interview mit Gitta Barthel die Differenz einer Vergangenheit und Gegenwärtigkeit von Erfahrung. Das in die Neuauflage eingefügte Gespräch mit Barbara Kaufmann zeigt eine erfahrungsgeleitete Sicht auf den Probenprozess der Wiedereinstudierung von Sacre nach dem Tod von Pina Bausch und damit auf die Übersetzungen des Bewegungsmaterials zwischen unterschiedlichen Tänzergenerationen. Im dritten Intermezzo präsentiert Bina Elisabeth Mohn das in den Sozialund Medienwissenschaften kaum angewendete, aber auch für die Tanzwissenschaft sehr bereichernde methodische Verfahren der ‚KameraEthnografie’. Ausgehend von Geertz‘ Konzept der ‚Dichten Beschreibung‘ handelt es sich hierbei um ein ‚Dichtes Zeigen‘, das die Kamera und den Film-Schnitt als einen konstitutiven und produktiven Bestandteil ethnografischen Arbeitens vorführt. Kamera-Ethnografie macht somit das von Sozialund Medientheorie aufgezeigte Problem der durch Kameraführung und 25
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Schnitttechnik erzeugten medientechnischen Produktion von Aufmerksamkeit zu einem hermeneutischen Verfahren. In einem vierten Intermezzo argumentiert Amos Hetz aus einer DoppelPerspektive, die sowohl künstlerisch von der Bewegungsproduktion her als auch vom Nachvollzug des Zuschauers her angelegt ist. Sein Essay ist ein Plädoyer dafür, „Gesten zu hören“; mehr noch: Den Gesten zu lauschen und damit sämtliche Sinne und ebenso die persönliche Bewegungserfahrung und Geschichte in die Analyse einzubringen. Ausgehend vom Einsatz der Wirbelsäule im Bewegungsrepertoire von Bauschs Sacre hebt er als tragende Bewegungsmuster der Choreografie die Spannung von klar geformten und von spontan eingesetzten Bewegungen hervor.
Unser Dank Ein Buch ist immer ein Gemeinschaftswerk. Wir möchten daher zunächst allen danken, die die Konferenz möglich gemacht haben: Den Referentinnen und Referenten, die sich auf das Unternehmen eingelassen haben, anhand einer Choreografie ihren methodischen Zugang zu veranschaulichen. Dann den Mitarbeiterinnen Pamela Pimpl, Christina Rann, Inka Paul. Vor allem danken wir Melanie Haller, deren Engagement und Organisationstalent bei der Vorarbeit und Durchführung der Konferenz wesentlich zum Gelingen beigetragen hat. Den Verantwortlichen und Mitarbeitern des Aby-WarburgHauses danken wir für die Gastfreundschaft in dem zu anregenden Gesprächen einladenden Gebäude. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Zentrum für Bewegungsforschung an der Freien Universität Berlin danken wir für den finanziellen Zuschuss zur Konferenz. Zudem danken wir denen, die an der Herstellung dieses Buches beteiligt waren: Den Autorinnen und Autoren für die gute und kollegiale Zusammenarbeit, ihre Geduld und für die Überlassung ihrer Texte. Einen besonderen Dank richten wir an Yvonne Hardt und Sandra Noeth, die mit außergewöhnlichem Engagement an der Produktion des Buches mitgewirkt haben. Holger Hartung danken wir für seine sorgfältige Mitarbeit in allen bildtechnischen Fragen.
Literatur Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.
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Archer, Kenneth: Nicolas Roerich et la genèse du sacre, in: Sourian, Etienne (Hg.): Le sacre du printemps de Nijinsky, Paris : Edition Cicero 1990, S. 7595. Beer-Hofmann, Richard: Der Tod Georgs, Nachwort v. Hartmut Scheible, Stuttgart: Reclam 1980. Berg, Shelley: Le Sacre du Printemps: Seven Productions from Nijinsky to Martha Graham, Ann Arbor, Michigan: UMI Research Press 1980. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loic J.D.: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Fischer 1995 Dies.: Ritual als Szene und Diskurs. Kunst und Wissenschaft um 1900 – am Beispiel von ‚Le Sacre du printemps‘, in: Graevenitz, Gerhart von (Hg.): Konzepte der Moderne, Stuttgart, Weimar: Metzler 1999, S. 367-388. Dies.: Tanzwissenschaft im Aufwind, in: Theater der Zeit 12, 2003, S. 4-11. Dies./Neumann, Gerhard: Opferfest. ‚Penthesilea‘ – ‚Sacre du Printemps, in: Lehmann, Jürgen u.a. (Hg.): Konflikt, Grenze, Dialog. Kulturkontrastive und interdispziplinäre Textzugänge, Festschrift für Horst Turk zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. u. a.: Peter Lang 1997, S. 105-139. Burkert, Walter: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin: Wagenbach 1990. Deleuze, Gilles: Das Bewegungsbild. Kino I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Ders.: Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Eksteins, Modris: Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, aus dem Englischen von Bernhard Schmid, Hamburg: Rowohlt 1990. Foster, Susan L.: Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, Berkeley u.a.: University of California Press 1986. Hodson, Millicent: Puzzles chorégraphique. Reconstitution du ‚Sacre‘ de Nijinsky, in: Souriau, Etienne (Hg.) : Le sacre du printemps de Nijinsky, Paris: Editions Cicero 1990, S. 45-74. Ders.: Nijinsky’s crime against grace: reconstruction score of the original choreography for Le sacre du printemps, Stuyvesant, NY: Pendragon Press, 1996. Hofmannsthal, Hugo von: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, in: Schoeller, Bernd: Gesammelte Werke in 10 Bänden, Frankfurt a. M: Fischer-Taschenbuch-Verl. 1979, Bd. 7, S. 572-580. Jeschke, Claudia: Tanzschriften. Ihre Geschichte und Methode. Die illustrierte Darstellung eines Phänomens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bad Reichenhall: Schubert, 1983.
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Prolog
RAIMUND HOGHE
Pina Bausc h übe r Sac re
Aufgefordert, etwas über ihre Choreografie zu sagen, erklärte Pina Bausch einem Reporter: „Ich kann über den ‚Sacre’ nicht sprechen. Er ist so gewaltig. Ich habe keine Worte dafür. Alle meine Aussagen, alle meine Absichten sind auf der Bühne zu sehen, in meinen Bewegungen.“1 Diese Aussage von Pina, die ich in einem 1994 erschienenen Bildband über ihre Arbeit zitierte, hat sich festgesetzt – nicht nur in meinem Kopf. Schon Jahre zuvor, als wir 1981 für ihre Wiederaufnahme von Sacre zusammen an einem Programmheft für den Abend Café Müller und Frühlingsopfer arbeiteten, war klar, dass darin keine Texte stehen würden. Statt der Worte sollten die Bilder von Rolf Borzik und Ulli Weiss sprechen, Aufnahmen der Tänzerinnen, die das Opfer getanzt hatten: Beatrice Libonati, Monika Sagon, Malou Airaudo und nicht zuletzt Marlis Alt, die im Dezember 1975 in der Uraufführung das erste Frühlingsopfer war. Mehr als dreißig Jahre nach dem Erscheinen des Programmhefts für die beiden Stücke fällt mir auf, dass Pina die Bilder und damit auch die Geschichte einrahmt: auf der Frontseite ist sie mit geschlossenen Augen in Café Müller zu sehen und auch das letzte Foto zeigt sie im selben Stück, wiederum mit geschlossenen Augen. Zwischen der Entstehung der beiden Stücke liegen knapp drei Jahre und scheinbar zwei verschiedene Universen, doch wenn man in das Gesicht mit den geschlossenen Augen sieht, werden Verbindungen sichtbar und eine Haltung: nach innen zu sehen und eine Welt zu entdecken. Pina tat das. Nicht nur bei ihrem Frühlingsopfer. 1
Erler, Detlef: Pina Bausch. Fotografien von Detlef Erler. Mit Texten von Heiner Müller, Raimund Hoghe, Norbert Servos und Jochen Schmidt, Zürich: Edition Stemmle 1994, S. 12/13.
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Tanz und Zeichen
PETER M. BOENISCH
Tanz als Körpe r-Zeic he n: Zur Methodik de r The a ter-Ta nz -Se miotik
Mit Faszination gehen auch Barrieren einher. Dem Bühnentanz klassischer wie zeitgenössischer Prägung weht weithin der Ruf eines Spezialistentheaters nach, über das, wer nicht selbst vom Windelalter an im Tanzstudio unterwiesen wurde oder aber seinen Theorieapparat rund um Körperdisziplinen aufgesogen hat, zu staunen, genießen und schweigen hat. Dieser Beitrag stellt eine Perspektive auf Tanz vor, deren Absicht nicht zuletzt darin liegt, gerade im (theaterwissenschaftlichen) pädagogischen Kontext solche Klischees und Vorurteile zu überwinden, indem ein klar strukturierter, nachvollziehbarer und nachprüfbarer Zugang zu Theatertanz-Inszenierungen und Choreografien eröffnet wird. Überdies vermag dieses an Grundprinzipien der Theatersemiotik orientierte Modell einer Analyse von Körperzeichen auch dem fortgeschrittenen Benutzer dienlich sein, indem es analytische Reflexe zu neutralisieren vermag, die jedes wahrgenommene Phänomen in eine vorgeformte Theorieschablone einzupassen trachten. Die Zielsetzung der hier vorgeschlagenen ‚semiotischen Navigationsanalyse‘ von Körperzeichen1 besteht darin, dem Betrachter eine systematische verbale Deskription, Analyse und Argumentation jenseits bloß impressionistischer Allerwelts-Metaphorik zu ermöglichen. Der Horizont dieses analytischen Ansatzes ist dabei die theatrale Inszenierungsanalyse, keine strikt tanz- und bewegungswissenschaftliche mo1
Die Grundlagen dieses Analysemodells für Tanz und Körperaktion mit dezidiert theaterwissenschaftlichem Anwendungspotenzial sind ausführlich entwickelt in: Peter M. Boenisch: körPERformance 1.0. Theorie und Analyse von Körper- und Bewegungsdarstellungen im zeitgenössischen Theater, München: ePodium 2002, v.a. Kapitel 01-03.
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torisch-somatische Bewegungsanalyse, und auch keine Notation, die eine spätere physische Rekonstruktion der Körperaktionen ermöglichte. Im Folgenden wird im speziellen Kontext dieses Projekts zu Bewegung in Übertragung nicht dem Unterfangen nachgegangen, anhand eines solchen Analyseansatzes Forschungsprodukte und Analyseergebnisse zu generieren; die semiotische Lesart von Pina Bauschs Le Sacre du Printemps wird man hier vergeblich erwarten. Vielmehr soll gerade jene Grundlagenarbeit beleuchtet werden, die sonst im vorbereitenden Hintergrund inszenierungsanalytischer Lektüren abläuft.
T h e a t e r s e m i o t i k a l s a n a l yt i s c h e s I n t e r f a c e Es bedarf wohl klärender Worte, dass der hier vorgestellte Ansatz dezidiert semiotisches Handwerkszeug auspackt und explizit von Körper- und anderen Zeichen spricht. Schließlich wurde die klassische Theatersemiotik, wie sie sich ab den 1970er Jahren profilierte, vielfach totgesagt. Oftmals ist ihr Ansatz als eindimensionales, informationstheoretisches Verfahren karikiert worden, das Theater als lineare Bedeutungsvermittlungsmaschinerie zwischen einem zeichenproduzierenden und -autorisierenden Absender (der Bühne, dem Regisseur oder Choreografen) und einem diese Zeichen konsumierenden Empfänger (dem Publikum im Saale) auffasste. Somit schriebe sie jedem einzelnen Zeichen seine finite, kontextunabhängige und eindeutige Bedeutungsidentität zu, welche die Analyse nurmehr abzulesen brauche wie die Temperatur vom Fieberthermometer. Sollte dies überhaupt jemals semiotischen Prinzipien entsprochen haben, so hat spätestens die zeitgenössische Theatersemiotik auch poststrukturalistische und dekonstruktivistische Denkansätze vergangener Jahrzehnte offensiv und produktiv absorbiert, etwa in Patrice Pavis energetischem Vektorenmodell einer „(é)mise-en-scène.“2 Dennoch durchdringt der schlechte Ruf der Semiotik noch 2005 einen Lexikoneintrag, verfasst von der deutschsprachigen Pionierin der Theatersemiotik, Erika Fischer-Lichte, wo diese ausdrücklich gegen derlei Vorurteile angeht und betont, die Semiotik gehe „stets von der Voraussetzung der Vieldeutigkeit aus und zielt weder auf eine einheitliche Deutung noch auf eine Vereinheitlichung der Deutungen. Sie ist vielmehr für die unterschiedlichsten Prozesse der Bedeutungsgenerierung offen.“3 Die bei Pavis wie Fischer-Lichte akzentuierte Dynamik und Pluridimensionalität (theater-)semiotischer Zeichenproduktion ist nicht allein das Resultat immer stets individueller Rezeption, sondern ist theatralen Zeichen 2 3
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Vgl. Patrice Pavis: L’Analyse des Spectacles, Paris: Nathan 1996, v.a. Kap. 1, L’état de la recherche. Erika Fischer-Lichte: Semiotik, in: Dies./Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 298-302, hier S. 301.
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systemisch eingeschrieben. Gerade weil (und nicht etwa: obwohl) diese im Unterschied zu Zeichenstrukturen der Alltagswelt (insbesondere medialer Repräsentation) allenfalls in den schlechtesten Theaterproduktionen rein funktionale Zwecke erfüllen und sich nicht in Bedeutungsvermittlung erschöpfen, entwickelt die semiotische Perspektive besondere Relevanz und analytische Schlagkraft.4 Der Absage an geradlinige kommunikative (und/oder ästhetische) Effizienz, die im Zentrum nahezu sämtlicher Theaterexperimente und -innovationen des 20. Jahrhunderts stand, ist im semiotischen Ansatz einer Zeichen-Lektüre von (Theater-)Kunstwerken auf adäquate Weise nachvollzogen. Schließlich handelt es sich in jeder theatralen Kommunikationssituation stets um ‚Intention‘ – nicht verstanden als vermeintlich autorisierte Bedeutungsabsicht, sondern als Resultat von Setzungen, Entscheidungen und Konstruktionen, die üblicherweise als Inszenierung oder mise-en-scène bezeichnet sind und somit zweckdienlicherweise als ‚Zeichen‘ aufgefasst werden können.5 Diese ‚Intention‘ findet sich auch dort, wo improvisatorische Techniken, spontane Reaktionen oder Zufallsprinzipien eingesetzt sind, oder wo das repräsentierende dramatische ‚als-ob‘ reduziert und vielleicht gar der Anschein einer puren Präsenz des Performers evoziert ist. Am Ende sind die Zuschauer in jeder Theatersituation mit intendierten und organisierten Zeichennetzen konfrontiert, und es ist belanglos, wer diese Entscheidungen wann, wie und warum getroffen hat. Ohne eine bestimmte, definierte Bedeutung zu übertragen und vorzuschreiben, stimuliert und kanalisiert die Aufführung dieser Zeichennetze die Perzeption und Rezeption.6 Was den Zeichencharakter also ausmacht, ist gerade nicht der referenzielle, in der funktionalen Zeichenökonomie des Alltags privilegierte, eine bestimmte Botschaft hervorhebende Aspekt eines bedeutenden Zeichens von
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Entsprechend betont Andreas Kotte: „Bedeutungsgenerierung ist nicht mit Theater gleich zu setzen, sonst wäre es nichts als Information, Kommunikation ohne Besonderheiten, ersetzbar.“ Vgl. Andreas Kotte: Theaterwissenschaft, Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2005, S. 127. Dies ist in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft etablierten Differenzierung zwischen ‚Inszenierung‘ und ‚Aufführung‘ hilfreich hervorgehoben, die etwa das Streiken einer Tonbandeinspielung, den Stolperer eines Schauspielers ebenso wie den Hustenanfall im Auditorium aus dem analysierten Inszenierungstext filtert. Vgl. auch P. Pavis: L’Analyse des Spectacles, S. 10f. und E. Fischer-Lichte u.a. (Hg.): Theatertheorie, S. 146-153. Dies hat in Bezug auf Körperzeichen bereits Rudolf von Laban prägnant hervorgehoben: „Even though only a few of the artist’s movements have acquired a conventional meaning, it does not alter the fact that meaning is conveyed by movement.“ Vgl. Rudolf von Laban: The Mastery of Movement, 4. überarb. Aufl. von Lisa Ullmann, Plymouth: Northcote House 1988, S. 88.
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etwas, sondern der kommunikative Aspekt als zu erfahrendes Zeichen für jemanden: Für das Publikum, dem diese Zeichen präsentiert werden.7 Die Bedeutung eines Zeichens stellt sich somit nicht als fertig verpackte message zum Auspacken und Mitnehmen dar, sondern ergibt sich aus den komplexen Relationen, die jedes einzelne Zeichen (d.h. jede getroffene Entscheidung) in seinem unmittelbaren Kontext, dem Inszenierungstext, der Choreografie oder mise-en-scène, mit den anderen darin intendierten Zeichen eingeht: Statt um ‚die‘ Bedeutung geht es um einen semiotischen Informations- und semantischen Bedeutungswert, um das Schalten von unerschöpflichen Links – nicht nur innerhalb der Inszenierungstextur, sondern auch in den weiteren individuellen sozio-kulturellen Erfahrungskontext der Rezipienten. Statt um meaning geht es um significance, statt um ‚die‘ Interpretation um je individuelle Pfade durch ein niemals abgeschlossenes Zeichennetz. Dies bedeutet keineswegs Beliebigkeit: Wo die mise-en-scène semiotische Pfade, zentrale Plätze, Autobahnen und Einbahnstraßen angelegt hat, müssen nun auch die Zuschauer Entscheidungen treffen, um nicht am Ausgangspunkt stehen zu bleiben; wo ihnen dabei jeder beliebige (Um-)Weg offensteht, kann die Interpretation doch keinen Weg einschlagen, der in der Zeichenarchitektur der Inszenierung nicht als Signifikationspotenzial angelegt wäre. Das genuine Potenzial der semiotischen Analyse liegt nicht in der (illusorischen) Kartographie dieses Inszenierungstextes, sondern im Abgleichen, Überprüfen und Bestätigen der je eingeschlagenen interpretatorischen Pfade, in der Navigation durch das Zeichennetz.8 Indem sie Orientierung schafft und Richtungen eröffnet, stellt die semiotische Analyse weniger eine Alternative zu anderen interpretatorischen Ansätzen dar, wie sie in diesem Band vorgestellt werden, sondern funktioniert als produktives analytisches Interface, deren Funktionsweise Erik Davis trefflich beschreibt: „[G]ood interfaces mediate the hyperspace of information in ways familiar enough to keep us from getting lost but not so familiar that we remain rooted in the baits associated with other media or with the everyday world.“9
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Entsprechend hebt auch Richard Sennett hervor: „The experiencing of a sign – vociferously, silently, etc. – defines what a sign is.“ Vgl. Richard Sennett: The Fall of Public Man, Cambridge: Cambridge University Press 1977, S. 86f. „Nous pouvons ainsi, grâce à Saussure, saisir le sens comme la construction d’une signification et non pas naïvement comme la communication d’une signification déjà existante dans le monde.“ Vgl. P. Pavis: L’Analyse des Spectacles, S. 15. Erik Davis: TechGnosis. Myth, Magic, and Mysticism in the Age of Information, New York: Harmony 1998, S. 214.
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Le Sacre du Printemps: Ein semiotisches Profil Bauschs halbstündiger Sacre generiert entsprechend einen unerschöpflichen Signifikationsraum potenzieller Bedeutungen, in dem die Betrachter niemals an einem endgültigen Ziel oder Zentrum ankommen. Für jedes konkrete Analyseprojekt gibt das je individuelle Forschungs- und Erkenntnisinteresse vor, welche Aspekte, Segmente und Etappen der Inszenierung für die jeweilige interpretatorische und diskursivierende Auseinandersetzung ausgesucht werden. Der hier vorgestellte Analyseansatz versteht sich als Grundlage für eine solche detaillierte analytische Diskussion, die einer bestimmten möglichen Lesart der Inszenierung nachgehen wird. Es ist eine vorgeschaltete, orientierende Lektüre des noch offenen Signifikationspotenzials, wobei zentrale Signifikationsmarker identifiziert werden, die Pavis als „Vektoren“ bezeichnet und damit die in ihnen kumulierte Bedeutungs-Energie hervorhebt: „La vectorisation est un moyen à la fois méthodologique, mnémotechnique et dramaturgique de relier des réseaux de signes. Elle consiste à associer et à connecter des signes qui sont pris dans des réseaux à l’intérieur desquels chaque signe n’a de sens que dans la dynamique qui le relie aux autres.“10
Um die signifikantesten Vektoren jeder Inszenierung zu ermitteln, ist nach den zentralen von der Inszenierung eingesetzten Zeichensystemen sowie nach den struktur- und kohärenzgebenden Basisprinzipien, dem Präsentationsmodus und nach leitenden Isotopien zu fahnden. Ein segmentierender Aufriss der syntagmatischen (man könnte auch sagen: dramaturgischen) Gliederung verschafft dabei zusätzlichen Überblick. Im semiotisch-semantischen Profil von Bauschs Sacre spielen als zentrale Zeichensysteme zuvorderst, für ein Tanzstück wenig überraschend, Körperzeichen und Musik, sowie ferner der Bühnenraum – der nicht nur hinsichtlich der Szenographie mit Rolf Borziks veritablem Erdboden auffällt, sondern auch wegen einer besonderen Nutzung von Raumwegen – und die Kostüme eine besondere, die dramaturgische Kohärenz des Stückes garantierende Rolle. Nimmt man den diachronen Verlauf und die syntagmatische Gliederung des Stückes in den Blick, so erweist sich unter den vier genannten Zeichensystemen die Musik als strukturgebende und stets hierarchisch übergeordnete Dominante. Das Basisprinzip der konkatenativen Organisation des Inszenierungstextes ist somit als hypotaktische Mimesis zu beschreiben.11 Die gesamte syntagmatische Textur folgt mimetisch Strawinskys Partitur; entlang des zeitlichen Ablaufs entsprechen einzelne identifizierbare dramaturgische Sequenzen Abschnitten der Komposition. Aber auch auf mikroskopischer 10 P. Pavis: L’Analyse des Spectacles, S. 18f. 11 Vgl. P. M. Boenisch: KörPERformance, S. 110ff.
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Betrachtungsebene ist die hierarchische Dominanz der Musik nachzuweisen, wo einzelne Körperaktionen Impulse und Dynamik der Musik aufgreifen und umsetzen. Dabei ist die Musik nicht im strikten neoklassischen Sinne, dem Extremfall solch mimetischer Hypotaxe von Körperzeichen, visualisiert und durch die Körper illustriert. In Bauschs weniger rigiden Umsetzung einer strukturell mimetischen Zeichenverknüpfung ist aber nicht weniger auffällig, dass etwa fokussierte und retardierende Momente, kumulierende Crescendi und Höhepunkte der Choreografie stets mit Elementen aus Strawinskys Komposition korrespondieren.12 Diese choreografische Verfahrensweise der Entwicklung einer dramaturgischen Struktur entlang der musikalischen Vorlage ist für den Theatertanz die geradezu klassische Option. Im Zusammenhang mit einem Werk Bauschs ist dies umso bemerkenswerter, da sich bereits diese erste Beobachtung nicht mit dem Erwartungshorizont des (heutigen) Zuschauers deckt. Das prototypische Bausch’sche Tanztheater zeichnet sich schließlich gerade nicht durch die hypotaktische Unterordnung anderer Zeichensysteme unter einen dominierenden Aspekt (ob Musik oder Narration) aus, sondern nutzt alternative Prinzipien der Konkatenation wie die figurale Perspektivik und den parataktischen Montage-Schnitt.13 Der im Dezember 1975 uraufgeführte (und auch 2006 noch im Wuppertaler Repertoire stehende) Sacre lässt sich somit im Kontext von Bauschs Werken klar lokalisieren und wird oft entsprechend als ihr „letztes reines Tanzstück“ beschrieben. Spätere Stücke, wie der 1977 folgende Blaubart mit dem berühmten Abspielen von Bartoks Musik von einem Tonband, das gestoppt und gespult wird, nutzen Musik nicht länger als Ausgangs- und hierarchischen Bezugspunkt, sondern als ‚Soundtrack‘, d.h. als ein weiteres, parataktisch in das collagierte Zeichennetz integrierte Zeichensystem. Die festgestellte Kongruenz der dramaturgischen Struktur mit der musikalischen Vorlage resultiert zudem in einer ebenfalls für das spätere Tanztheater Bauschs untypischen Fokussierung auf eine lineare, kohärente und geschlossene Narration. Diese folgt nicht nur der klimaktischen Dynamik der Musik, sondern hinsichtlich der Körperzeichen ist dabei vor allem die progressive Variation dynamischer Aktionsqualitäten festzustellen. Es sind bestimmte, immer wieder aufgenommene und wiederholte Basisqualitäten der Körperaktion (einschließlich genau bestimmter Basisaktionen) etabliert, die allesamt auf den finalen Höhepunkt ausgerichtet sind und diesen gewissermaßen vorbereiten. Darüber hinaus bleibt aber auch die Thematik des Originallibrettos weitgehend bestimmend; wie 1913 bilden ein Opferritual und die Selektion einer weiblichen Opferfigur den narrativen Rahmen der Inszenierung. 12 Vgl. dazu auch Stephanie Jordans Beitrag in diesem Band. 13 Vgl. P. M. Boenisch: KörPERformance, S. 113f.
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Der Präsentationsmodus, in dem diese lineare narrative Struktur umgesetzt wird, differiert jedoch; sie ist keineswegs imitativ umgesetzt. Die für das spätere Tanztheater charakteristische (durchaus isolierende und verfremdende) Imitation von Alltagsaktion und Gestik ist hier nicht festzustellen. Die eingesetzten Körperzeichen und ihre räumlichen wie dynamischen Qualitäten spannen aber auch keine alternative, kohärent ausgeführte und geschlossene Metaphorik auf; eine Beobachtung, die für anzumeldende Zweifel an einer geradlinigen feministischen Lesart vom ‚weiblichen Opfer männlicher Gewalt‘ besonders relevant erscheint. Vielmehr zeichnet sich Bauschs Choreografie durch so genannte topikalisierende Präsentation aus.14 Es werden, nicht unähnlich dem rhetorischen Tropos der Synekdoche, einzelne Attribute und Qualitäten eines Aktionsschemas herausgegriffen und prominent in den Vordergrund gerückt. Im Detail sind dies vor allem dynamische Aktionsqualitäten sowie jene signifikant betonten expressiven Aktionen und schließlich die ebenfalls vor allem expressiven gestischen Körperfigurationen. Diese Variation des topikalisierenden Präsentationsmodus, die physische Expressivität sowie dynamische und atmosphärische Spannungen in den Vordergrund stellt, ist besonders dominant in der Tanzentwicklung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem in Stücken des europäischen Ausdruckstanzes sowie des amerikanischen Modern Dance. Auch weitere konstitutive Details der von Bausch hier präsentierten Körperaktionen stützen diese klare Zuordnung und entsprechen hinsichtlich ihrer spezifischen kinesphärischen wie dynamischen Qualitäten diesem stilistischen Spektrum: Der plötzliche Aktionsimpuls; die konvulsive, im Körper zentrierte und an die Atmung gekoppelte Aktionsinitialisierung; die markant an den Ellenbogen gewinkelten Arme; das Abrollen des Oberkörpers und überhaupt der betonte Einsatz des Rumpfes wie der Arme über den entsprechend erdenden Beinen; die gestenartigen, oft standbildhaften Körperfigurationen, in denen die Körperaktionen münden; ferner der Einsatz expressiver mimischer und gestischer Aktionen, und die signifikante Nutzung dynamischer Bewegungsqualitäten und deren Variation. Bauschs direkte Verbindung sowohl zu Kurt Jooss und Folkwang wie auch zu Martha Graham wird an diesen Details überdeutlich. Das ist ein Aspekt, der in keinem anderen der heute noch aufgeführten Bausch-Stücke derart deutlich nachzuvollziehen ist. Schließlich ist auch der zentrale isotopische Vektor, der diverse Zeichensysteme verbindet und damit einen wichtigen Beitrag zur signifikatorischen Rahmung der Inszenierung leistet, aus dem Original von Strawinsky, Nijinsky und Roerich entwickelt: Le Sacre du Printemps bot 1913 wie 1975 einen reichen Fundus an Assoziationen und einhergehenden Isotopien entlang heidnisch-volkstümlicher Ritualtraditionen an, der bei der Gestaltung diverser 14 Vgl. ebd., S. 128f.
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Zeichensysteme angezapft wird. Strawinsky etwa komponierte einen archaischen Rhythmus und kombinierte diesen mit auf Volksmusik basierenden Melodiefragmenten. Rolf Borzik greift das isotopische Angebot in seinem Bühnenbild auf: Dem Erdboden, passend zum traditionellen Fruchtbarkeitsritus eines Frühlingsopfers. Bei Nijinsky wie Bausch führt auch die Choreografie eine assoziierte Semantik fort: Hier ist sie dominiert von klaren geometrischen Formen, die sowohl für die Strukturierung des Bühnenraumes als auch für die Ausrichtung und Nutzung der Kinesphären der Tänzerkörper zentrale Muster vorgeben – vor allem sind dies Linie, Diagonale und Kreis. Auch der augenfälligste Vektor von Bauschs Choreografie – jene beiden Gruppenformationen, die Männer- und die Frauengruppe – sind mit der leitenden Isotopie archaischer Grundformen vernetzt: Als dem basalen geometrischen Raummuster entsprechende einfache binäre Opposition sind die beiden präsentierten Gruppen selbst vornehmlich durch das vierte Kernzeichensystem konstituiert, die Kostüme. Die Frauen, ungeschminkt und alles andere als spektakulär attraktiv zurecht gemacht, tragen lange, hautfarbene, dünne, semi-transparente Kleider; die Männer, bei bloßem Oberkörper, schwarze Hosen. Allein diese Farben und die präsentierte nackte Haut eröffnen in die Leitisotopie integrierte Assoziationsfelder wie Unschuld, ungezähmte Naturkraft, Elemente des Dunklen. Die einzelnen Mitglieder der jeweiligen Gruppen – eine weitere Dissonanz mit Tanztheater-typischen Modi – weisen keine individualisierenden Rollenmuster auf, die sich etwa gar aus privaten Inputs der Tänzer speisten. Im Sacre sind die Individuen primär und nahezu ausschließlich über ihre Relation zur jeweiligen Gruppe charakterisiert. Im Kontext der narrativen Dramaturgie wie auch der Interaktion der beiden Gruppen ist zu diesem ersten Überblick über die Inszenierung abschließend als weiteres visuelles Signal sowie einziges szenografisches Objekt noch jenes rote Tuch hinzuzufügen, das sich erst im weiteren Verlauf als Kleid erkennbar macht.
Die Gruppenformationen als zentraler dramaturgischer Vektor Ergänzen wir den bisher vorgenommenen Überblick über die zentralen signifikatorischen Aspekte und Elemente nun mit einer detaillierteren Untersuchung des syntagmatischen Verlaufs. Es wurde bereits festgestellt, dass Bauschs Sacre eine geschlossene, auf eine finale Klimax zulaufende narrative Struktur zugrunde liegt, die sich mimetisch am Verlauf der Musik orientiert. Dabei korrespondieren die Sequenzen der dramaturgisch-narrativen Entwicklung mit Abschnitten in der Partitur. In der folgenden Tabelle sind derart
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identifizierte Episoden jeweils mit einer knappen Beschreibung versehen, und mit den Sätzen der Komposition verbunden:15 Sequenz Zeit 1
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Kurzbeschreibung Exposition: a) Solo-Prolog b) Auftritt der Frauen (einzeln/in Paaren); Konstitution der Basisaktionen und -figurationen Konstitution der Frauengruppe
Auftritt der Männergruppe und Integration der Gruppen; Interaktion der Gruppen bei Isolation zweier Frauenfiguren: Tuch, ‚Dolchstoß‘ 7' Erster Klimax: Herumreichen des Tuches unter den Frauen; Solo der weibl. Hauptfigur und erster Kontakt mit männl. Hauptfigur 9' Kreis: Fusion der Gruppen, synchrone Aktionen; Herausbildung von Paaren; Fall; Ausbruch eines Paares und Isolation einer Frauenfigur 13' Kontrastierung der beiden Gruppen; Heraustreten der zentralen Männerfigur: liegt auf rotem Tuch; Auflösung der Gruppen, ‚Umarmungen‘ 17'15 Zwischenspiel: Männergruppe hinten-rechts; Frauen: Variation von Elementen der Exposition; Heraustreten einzelner Frauen
Satz in Partitur Lento
„Die Vorboten des Frühlings“ „Entführungsspiel“
„Frühlingsreigen“; „Spiele der feindlichen Stämme“ „Prozession des weisen Alten“, „Der Weise“, „Tanz der Erde“ Largo
15 Diese Übersicht ist aus einer Seminarübung zu Bauschs Choreografie gewonnen und greift die von der Mehrzahl der Studierenden identifizierten Abschnitte auf; es wurde nicht danach gestrebt, numerisch den 14 Abschnitten der Partitur (die auf den mir vorliegenden drei CD-Einspielungen von Strawinskys Komposition jeweils in 14 CD-Takes abgebildet sind) zu entsprechen. Die im Vergleich ‚fehlenden‘ Abschnitte sind aber leicht als Unterabschnitte dieser elfstufigen narrativen Gliederung auszumachen. Die angegebenen Zeiten sind vom Timer des Videogerätes abgelesen und als ungefähre Angaben zur Orientierung zu verstehen (00'00 bei Aufblenden des Titeldias „Das internationale Tanztheater“).
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Männl. Hauptfigur erhebt sich, Männer treten allmählich wieder nach vorne; Frauen-Kreis bei Heraustreten Einzelner; schließlich Selektion des Opfers 25' Fusion der Gruppen zu Paaren vs. Opfer in rotem Kleid und zentraler Männerfigur; dynamische Aktion nun dominant 27' Amalgamation der Gruppen zu Masse vs. Hauptfiguren: Herausführen des Opfers nach vorne; ‚Opferer‘: Figuration am Boden; erster Zusammenbruch des Opfers 30'30 Finale: Solo des Opfers vs. Masse (Halbkreis); Kollaps
„Geheimnisvolle Kreise junger Mädchen“
„Verherrlichung der Auserwählten“; „Anrufung der Ahnen“ „Weihevolle Handlung der Ältesten“
„Opfertanz“
Während die musikalische Vorlage als zentrales strukturgebendes Moment dient, ist es somit das Zusammenspiel der beiden Gruppenformationen, das als dominanter dramaturgischer Vektor den energetischen Rhythmus der Partitur in der narrativen Entwicklung abbildet. Auf der Grundlage dieser semiotisch basierten Übersicht kann eine Analyse von Bauschs Sacre nun abhängig vom jeweiligen Erkenntnisinteresse stattfinden. Individuelle Fragestellungen können entwickelt und verfolgt werden, wobei die analytische Diskussion im seltensten Falle auf eine rein stückinterne Auseinandersetzung beschränkt bliebe. Unter den bisher angesprochen möglichen Analyserouten, etwa der Rolle des Stückes in Bauschs Werkregister hinsichtlich der (fehlenden) typischen Tanztheater-Merkmale und der Echos von Verfahrensweisen des Ausdruckstanzes und Modern Dance, oder der Übersetzung vom imitativen in topikalisierenden Präsentationsmodus, soll im weiteren Verlauf als entscheidender Faktor der theatralen Aspekte der Choreografie exemplarisch die Rolle von Gruppe und Individuum, von ‚Gesellschaft‘, ‚Opferer‘ und ‚Opfer‘ weiterverfolgt werden. Es geht in dieser Phase der Analyse nun darum herauszuarbeiten, wie sich Details der Zeichenstruktur zu dem identifizierten, zentralen Vektor verhalten und einer möglichen Interpretation stützende Argumente liefern. Da sich wie in jedem narrativen Text auch die Expositionsphase einer Bühnentanz-Inszenierung durch besondere Zeichendichte auszeichnet, bietet es sich an, gerade auf diese initialen Momente der Gruppenkonstitution eingehender zu achten.
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Im ersten kurzen Abschnitt der Prologsequenz ist der Fokus der Zuschauer zunächst auf eine einzelne weibliche Figur16 gerichtet, die in der Bühnenmitte mit ausgebreiteten Armen auf ihrem Bauch auf einem roten Tuch auf der Erde liegt.17 Dieser bildhafte Moment vermittelt über den liegenden Körper, die ruhende Nicht-Bewegung wie auch die Tiefebene des Raumes erste signifikante Eindrücke. Dabei wird im Besonderen der rote Stoff mit Signifikationspotenzial aufgeladen: Stille, Absenz von Bewegung, ein liegender Körper, geschlossene Augen – Elemente, welche die Isotopie ‚Tod‘ vom ersten Augenblick an einführen. Die folgenden Körperaktionen dieser liegenden Figur sind allein zarte und allmähliche Bewegungen des Kopfes, wenn sie mit der Wange über jenes rote Tuch gleitet. Dazu gesellen sich Bewegungen der Schultern und des Oberkörpers. Es ist bemerkenswert, dass diese kurze Episode nicht restlos mit dem folgenden Zeichenangebot verschnürt ist. Dies macht die breite Vielfalt interpretatorischer Pfade deutlich, welche allein knapp zwanzig Übungsanalysen einer einzigen Seminargruppe anbieten: Da wurde beispielsweise dieser Prolog als externer Rahmen der präsentierten Narration aufgefasst und das gesamte folgende Opferritual als Traum dieser schlafenden Figur gelesen. Andererseits ist signifikant (aber keineswegs ein Widerspruch), dass in einer späteren Sequenz (Nr. 6) die männliche Hauptfigur in gleicher Ausrichtung des Körpers und (das hier allein zur Verfügung stehende Video lässt nur die Vermutung zu) wohl auch an der gleichen Stelle im Bühnenraum ebenfalls auf dem Tuch liegen wird. Diese bereits im Kontext des Prologs festzustellende signifikatorische Offenheit und Vieldeutigkeit, welche die Perzeption und interpretierende Rezeption der Zuschauer weit weniger leitet und fokussiert als dies möglich 16 Im hier angewendeten stark strukturalistisch geprägten Begriffsverständnis bezeichnet der Terminus ‚Figur‘ eine paradigmatische Funktion der jeweiligen mise-en-scène, die konkrete körperliche, räumliche und visuelle Präsentation dramaturgischer Rollenmuster, die im hier eingeführten Sinne stets intendiert und zeichenhaft ist. Diese Begriffsverwendung verbindet das in verschiedensten ästhetischen Kontexten theoretisierte Konzept der Figur als geformter Körperlichkeit (man denke im gegebenen Kontext etwa an formalisierte ‚Tanzfiguren’) mit der zentralen Rolle der ‚Figur‘ als kognitiv konstituierter Perzeptionseinheit. Zur Figur als interpretativ-analytischer Strategie vgl. insbesondere Jean-François Lyotard: Discours, figure, Paris: Klincksieck 2002 [1971] und Nicole Brenez: De la figure en général et du corps en particulier, Paris/Brüssel: De Boeck 1998. 17 In privaten Gesprächen haben mir Besucher von Aufführungen des Stückes berichtet, dass bereits vor dem eigentlichen Beginn die Ausbreitung des Torfbodens auf der Bühne, bei der sich allmählich der erdige Geruch im Theatersaal verbreitet, signifikante Wirkung auf die Zuschauer hat, welche mit der ersten, in die Liminalität überführenden Phase eines Übergangsritus durchaus vergleichbar erscheint. Die Perzeption der Zuschauer ist somit zu Beginn der Aufführung bereits ausgerichtet, mit Sinneseindrücken und individuellen Assoziationen und Reaktionen aufgeladen.
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wäre, ist ein wichtiges durchgängiges Moment dieser Inszenierung und sollte von jeder analytischen Diskussion beachtet und aufgegriffen werden. Bei aller Orientierung an der Musik und der geschlossenen linearen Narration ist Bauschs Version des Sacre eben gerade nicht restlos auf eine effiziente Repräsentation weder der Musik noch des Plots abgestellt. Das passt zum festgestellten topikalisierenden Präsentationsmodus, der mehr andeutet als ausbuchstabiert: Es öffnen sich Risse von Möglichkeiten und Unsicherheiten. Wo wir in diesen ersten Augenblicken allein einer einzigen Figur begegnen, bestätigt sich dennoch, dass die Dramaturgie der Inszenierung die beiden Gruppenformationen nicht als bloßen Hintergrund hervorgehobener Einzelschicksale auffasst, sondern dass diese Gruppen die tatsächlichen Hauptrollen in der sich entfaltenden Narration spielen. Die an dieser Stelle so prominent herausgestellte Figur ist durch kein Körper- oder anderes Zeichen (wie etwa Kostüm) derart individualisiert, dass sie hier als ‚Hauptfigur‘ oder gar ‚späteres Opfer‘ zu identifizieren wäre. Die in der folgenden Sequenz auftretende Frauengruppe erscheint als Multiplikation dieser Figur, die ihrerseits schließlich ununterscheidbar in der Gruppe aufgehen wird. Dies wird durch die identischen Kostüme, aber auch durch die zentralen Körperzeichen unterstrichen, welche der nun folgende Abschnitt der Exposition einführt. Wenn an dieser Stelle, allein oder in bald aufgelösten Paaren, die weiteren Frauenfiguren auftreten, halten diese bei ihren Auftritten und den folgenden Körperund Bewegungsaktionen exakt diagonale Raumwege ein. Jeder einzelne Auftritt mündet in je einer Basisaktion, die allesamt durchgängig im weiteren Verlauf des Stückes variierend (aber stets erkennbar) wieder aufgenommen werden. Zu diesen elementaren Bausteinen der Choreografie gehört beispielsweise ein sich einrundendes Abrollen des Oberkörpers über die Oberschenkel, wobei der Kopf die Knie berührt. Schließlich fassen die Hände den Saum des knielangen Kleides und ziehen es beim sich folgenden Aufrichten des Rumpfes hoch über das Gesicht am nun nach hinten gekippten Kopf, wobei die Hände mit dem nach oben gefalteten Kleid das Gesicht bedecken. Eine zweite wiederkehrende Figuration geht mit überkreuzt aufs Knie gelegten Armen und seitwärts gewendetem Kopf in die Hocke, rollt den Oberkörper über den rechten Oberschenkel und berührt mit der rechten Wange die rechte Schulter, die auf dem rechten Knie abgelegt ist, während die rechte Hand in Richtung linkes Knie fasst. Ferner wird jene Signalgeste eingeführt, in der die gefalteten Hände in der oberen Raumhöhe über dem Kopf gehalten sind und dann mit plötzlichem Aktionsimpuls wie ein Dolchstoß auf den Unterkörper zugeführt werden, oder in einer späteren Variation auch zwischen die Beine geschwungen sind. In Durchbrechung der in dieser Szene dominant zarten und allmählichen Aktionsqualität ist auch der finale konvulsive ‚Todestanz‘ bereits apostrophiert, wenn dessen konträre Aktionsmerkmale hier hereinbrechen. All diese markanten Aktionen und Figurationen kehren, wie be-
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merkt, im weiteren Verlauf refrainartig wieder und stellen somit Basisaktionen und -figurationen im Körperzeichen-Inventar dieses Stückes dar. Auch der Raum wird in der Exposition klar strukturiert: Über ihre exakten Raumwege und die Ausrichtung ihrer Körper konstituieren die auftretenden Frauenfiguren ein diagonales Bühnenkreuz, wobei die auf dem roten Tuch liegende Figur nicht in dieses Diagonalensystem integriert ist. Stets auf zu den Diagonalen in Bezug stehenden direkten Wegen laufend erkunden die Frauenfiguren den Raum und führen wechselseitig die verschiedenen eingeführten Figurationen aus. In der Mitte erhebt sich nun auch die ‚Träumerin‘, deren Aktionen zunächst ganz auf das rote Tuch gerichtet sind, das sie vom Boden aufhob, in ihren Händen hält und mit einem alle Aktionen stoppenden Musikakzent zu Boden fallen lässt. Ab hier sind die Blicke aller Figuren auf diesen Ort und roten Stoff gerichtet, während sie sich dahinter zu einer Gruppe zusammenfinden, welche sodann zum berühmten energetischen zweiten Satz der Komposition „Die Vorboten des Frühlings“ (und somit wieder initiiert von der Musik) gewissermaßen zusammengeschweißt wird, wenn erstmals absolut synchrone Aktionen ausgeführt werden. Einzelne Figuren treten auf weiterhin geraden oder nun erstmals auch kreisförmigen Raumwegen, die aber exakt um die etablierten Diagonalachsen gezirkelt sind, aus der Gruppe heraus, um sich jedoch als Zielpunkt solcher Fortbewegungsaktion stets sogleich wieder zu integrieren. Diese kurzen Ausbrüche führen auf der Ebene der Körperzeichen jene zuvor am Prolog herausgearbeiteten entscheidenden Momente von Befragung und Ambiguität fort. Solch spannungsgenerierende Unentscheidbarkeit, die sich der Restlosigkeit der Repräsentation entgegensetzt, durchzieht schließlich auch den gesamten zentralen Vektor der Inszenierung, und zwar die beiden Gruppenformationen und ihr Verhältnis zueinander. Dies manifestiert sich vor allem in zwei signifikanten Kontrastrelationen, die beide angelegt, jedoch nie eindeutig belegt und entschieden sind: Zum einen die Setzung von Opposition zwischen Männer- und Frauengruppe, zum anderen die Positionierung der einzelnen individuellen Rolle zur Gruppe. Entscheidende Hinweise liefert in diesem Kontext die folgende dritte Sequenz, in der sich die Gruppen erstmals begegnen. Zwar geht der Auftritt der Männer mit einem Paukenschlag in der Musik (im Satz „Entführungsspiel“) einher, doch kann wirklich überzeugend argumentiert werden, dass die Männergruppe in die etablierte Frauenwelt einbricht, dass es zu einer Konfrontation der Gruppen kommt?18 In der Tat stehen sich einzelne Mitglieder der Gruppen gegenüber, und der Auftritt der Männer wird umgehend mit dem zentralen Fokusobjekt, dem roten Tuch verknüpft, das eine Frauenfigur nun wieder von der Erde aufhebt. Doch die 18 Vgl. DVD in Pina Bausch: Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer), Buch mit DVD, Paris: L'Arche Éditeur 2012, TC 5:32-6:27.
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Blicke stellen auch einen ersten vorsichtig tastenden, unsicheren Kontakt zwischen den Gruppen her. Auf der etablierten Diagonalachse kommt es zur Begegnung eines Paares, das sich – einander ansehend – nach rechts-hinten bewegt; in den Soli und Gruppenaktionen greifen die Männer jene von der Frauengruppe etablierten Basisaktionen auf. Die Männer sind kaum eine Minute auf der Bühne, schon sind sämtliche Mitglieder beider Gruppen in gemeinsame synchrone Gruppenaktionen involviert – mit Ausnahme von zwei Frauenfiguren im vorderen Bühnenbereich: Eine hatte beim Auftreten der Männer das rote Tuch aufgehoben und kehrt nun mit allmählichen Schritten auf der schon bekannten Diagonale langsam, das Tuch haltend an den markierten ‚Heimat-Bühnenort‘ des Traumprologs zurück und kniet dort nieder. Links daneben führt eine zweite Frauenfigur stakkatohaft jene ebenfalls bereits bekannten konvulsiven Basisaktionen aus, vor allem den Signal-‚Dolchstoß‘. Dabei kommt es immer wieder kurz zu synchronen Berührungspunkten der Aktionen mit der großen Gesellschaftsgruppe im Hintergrund, die sich aber umgehend wieder auflösen. Beide Zeichen, das Tuch und jene konvulsiven Körperbewegungen, werden hier explizit miteinander assoziiert. Das wird im weiteren Verlauf dieser Sequenz betont, wenn die erste, das Tuch haltende Frauenfigur schließlich ebenfalls gesteigert plötzliche und feste Aktionen ohne Fluss ausführt und ziellos flexibel über die Bühne rennt – ein Aktionsmotiv, das ebenfalls im weiteren Verlauf wiederkehrt und derart das Finale vorbereitet. Nachdem in der vierten Sequenz das Tuch zwischen den Frauen herumgereicht wurde, kommt es zum ersten Kontakt der (noch nicht aus der Gruppe isolierten) zentralen Männerfigur mit der (ebenfalls noch nicht selektierten) späteren Opferfigur, wobei er diese hier vom roten Tuch wegreißt, das daraufhin zu Boden fällt.19 Die Sequenz kulminiert in einem ersten, von der sich über die Bühne bewegenden Männergruppe umrahmten und beobachteten ekstatischeren Solo dieser weiblichen Hauptfigur. Die Männer halten sie schließlich fest und werfen ihren Körper auf die zentrale männliche Figur – wieder an jenem besonders markierten Bühnenort, an dem zu Anfang die ‚Träumerin‘ auf dem Erdboden lag. Dieser erste klimaktische Fokuspunkt wird sodann in einem wieder betont integrativen Kreis mit allmählicheren und zarteren Aktionen und Bewegungen aufgelöst (Sequenz 5), in den erneut die gesamte Gesellschaftsgruppe integriert ist, und aus dem sich bald Paare herausschälen. Derlei Interaktionen beider Gruppen, die diese bereits zu einer beinahe homogenen Gesellschaftsgruppe verschmelzen lassen, die sich allein durch die Kostüme unterscheidet, wird noch einmal in der sechsten Sequenz der betonte Kontrast beider Gruppenformationen entgegengesetzt, der dabei stets 19 Vgl. DVD Le Sacre du Printemps, TC 8:27-8:52.
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gerade durch das Körperzeichenrepertoire immer auch unterlaufen wird. Im zweiten Teil, spätestens mit der Selektion des Opfers am Ende der achten Sequenz, tritt jedoch endgültig der Kontrast von Einzelnem und Gruppe in den Vordergrund, der ebenfalls bereits frühzeitig als signifikatorisches Element etabliert und derart vorbereitet war. Nicht mehr das Heraustreten aus einer bestimmten, geschlechtermarkierten Gruppe ist nun akzentuiert, sondern der Kontrast des Einzelnen, vor allem des durch das rote Kleid optisch ausgesonderten Opfers, zur übrigen, bei aller Geschlechterdifferenz doch homogenen Gruppengesellschaft anonymer Mitläufer. Der ‚Opfertanz‘ wie das finale Bild der Inszenierung untermauern diesen Eindruck: Kein unüberwindbarer Antagonismus zweier Gruppen, sondern Aspekte des Ausgeschlossenwerdens, der Ausgrenzung und Vereinzelung, und eine die Geschlechterdifferenz überwindende, schweigende, schulterzuckende Komplizenschaft, das nicht eingreifende, handlungslose Zusehen grundieren den endgültigen Kollaps der Opferfigur.
P i n a B a u s c h u n d d e r K o l l a p s d e r An a l ys e Der hier vorgeschlagene semiotische Blick auf Bauschs Sacre nahm die zentralen Vektoren und signifikanten Kerntexturen der Inszenierung als Ausgangspunkt. Es wurde gezeigt, dass neben den strukturellen Formprinzipien der hypotaktischen Mimesis und topikalisierenden Präsentation vor allem der in der Exposition etablierte und graduell weiter geführte Aufbau eines variierend repetierten Registers an Körperzeichen, das auf die finale Solosequenz ausgerichtet ist, sowie die Gruppenformationen und die damit relationierten Oppositionsvektoren die entscheidende signifikatorische Rahmung des Stückes ausmachen, das sich an einer linearen dramaturgischen Struktur orientiert. Deren tatsächliche Geschlossenheit steht am Ende allerdings ebenso zur Debatte wie auch andere eröffnete Ambiguitäten; stets scheint sich ein signifikatorischer Rest zu ergeben, der sich der fugenlosen Interpretation entzieht und neue Fragen aufwirft. Mit Hinblick auf die formalen Elemente von Verkettung und Distribution der Körperzeichen ließen sich so Zweifel an geradlinigen, etwa auf der Opposition zweier Geschlechtergruppen basierenden Lesarten des Stückes formulieren. Im Zeichennetz der Inszenierung ist gerade kein privilegierter und stringent durchformulierter Interpretationspfad vorgegeben, nie gibt es klare Wegweiser für die ‚semiotische Navigation‘. Keiner der vielfach konträren und widersprüchlichen Wege durch diese Inszenierung führt direkt zu einem Ziel; keiner kommt je an – jeder interpretatorische Pfad erscheint als komplizierte Umleitung, die stets auf neue Engpässe und weitere irritierende Weggabelungen trifft. Widerstände, Widersprüche, Risse und die ständig hinterfragende Problematisierung möglicher Orientierungen fordern das interpretatorische Unternehmen gewaltig heraus – 49
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und führen auch die Analyse in einen schwindelerregenden Sog, der allein im Kollaps münden kann. Das Schicksal des Frühlingsopfers ist somit auch das Schicksal der Analyse. Bauschs Choreografie markiert aus tanz- wie kulturhistorischer Perspektive eine Scharnierposition, was nicht zuletzt auch an den hier diskutierten tänzerischen Zeichen nachzuvollziehen ist. Sie verwendet formale und narrative Strukturen aus dem Repertoire des Modern Dance und Ausdruckstanzes, überschreibt diese jedoch mit ihrer typischen reflektierend tastenden, skeptischen Geste. Die abgezirkelte Geometrie visueller Bewegungsbilder fügt sich entsprechend nicht mehr bruchlos in eine Repräsentationsordnung; ebenso wenig gehen die präsentierten Körper als Organe psychologisch-expressiver Körpersprache auf. In Andeutung ist sogar jener Riss zwischen den Körpern und der vermeintlich durch sie garantierten Identität bereits konturiert, der zum zentralen Thema von Tanztheater und Tanzperformance im späten 20. Jahrhundert werden sollte. Identität, Sinn und Bedeutung sind nur um den Preis von Opfern und anderer Kollateralschäden zu haben, welche die Masse stumm und tumb hinnimmt und begafft. Bauschs Revision dieses Signaturstücks der Tanzmoderne artikuliert mit deren eigenen Mitteln das düstere Ende moderner Utopien. Wo die dabei präsentierten Körperzeichen dennoch als semiotisch zu fassende Bedeutungseinheiten einer choreografischen mise-en-scène fungieren, ist die doppelköpfige Scharnierstellung dieser Inszenierung besonders prägnant. Es stellt sich eine irritierende Reibung zwischen einer zu begreifenden wie zu genießenden identischen Einheit einer affirmierten unity, und der brüchigen, ambigen, fraktalen unit ein, die Spuren von Auf- und Verschiebung, von Differenz- und Supplementierungsprozessen legt. Signifikationsstrukturen des modernen Tanzes werden somit von Text- und Zeichenkonzeptionen überformt, wie sie von poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Ansätzen theoretisiert wurden. Diese dadurch nicht länger affirmativ repräsentierenden Zeichen erforderten schließlich jene Neuorientierung der semiotischen Interpretationsmethodologie, wie sie sich – wie eingangs angedeutet – in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen hat. Der analysierende Zuseher ist dabei nicht länger als distanzierter, neutraler und objektiver Betrachter legitimiert, sondern als Teil jenes anonymen Kollektivs enttarnt, das brutale Ausschlussmechanismen praktiziert und kein Opfer scheut, um in die signifikatorische Unübersichtlichkeit geradlinige Bedeutung zu schlagen. Im Schlussbild von Bauschs Choreografie wird die Masse konsequenterweise zu Zuschauern des Opfers – und die Zuschauer im Theater sehen sich in diesen stummen Mittätern gespiegelt. Die von dieser semiotischen Analyse auf der Zeichenebene freigelegten Aspekte sind somit keineswegs bloß formal-ästhetische Phänomene, sondern machen deutlich, wie sich selbst auf dieser mikroskopischen Ebene die
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Befindlichkeit einer Zeit übertragen hat, in der weit weniger der in vielen Lektüren des Stückes in den Vordergrund gerückte Geschlechter-, sondern ein viel grundlegenderer, radikaler Gesellschaftskampf stattfand, der anno 1975 in den militanten Aktionen der Roten Armee Fraktion und der resultierenden staatlichen Repression die gesamte bundesdeutsche Gesellschaft spaltete, allen voran die politische ‚1968er Generation‘ selbst. Dennoch ist der Sacre (im bemerkenswerten Unterschied zu manch späterer Tanztheater-Produktion) alles andere als ein Zeitstück, sondern eine choreografische Reflexion dieser nach wie vor aktuellen psychischen und physischen Gesellschaftsspannungen zwischen Integration und Ausschluss, individueller Freiheit und Vereinzelung, Kollektiv und Kollaboration, Sehnsucht nach klarer Botschaft und undurchschaubarer Komplexität.
Literatur Boenisch, Peter M.: körPERformance 1.0. Theorie und Analyse von Körperund Bewegungsdarstellungen im zeitgenössischen Theater, München: ePodium 2002. Brenez, Nicole: De la figure en général et du corps en particulier. L’invention figurative au cinéma, Paris/Brüssel: De Boeck 1998. Davis, Erik: TechGnosis. Myth, Magic, and Mysticism in the Age of Information, New York: Harmony 1998. Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005. Kotte, Andreas: Theaterwissenschaft, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2005. Laban, Rudolf von: The Mastery of Movement, 4. Aufl., überarbeitet von Lisa Ullmann, Plymouth: Northcote House 1988. Lyotard, Jean-François: Discours, figure, Paris: Klincksieck 2002 [1971]. Pavis, Patrice: L’Analyse des Spectacles, Paris: Nathan 1996. Sennett, Richard: The Fall of Public Man, Cambridge: Cambridge University Press 1977.
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Prekäre ph ys i sc he Zone : Reflexionen zur Aufführungsa nal ys e von Pina Ba usc hs Le Sacre du Printe mps
Am Beginn dieses Beitrags steht ein Bekenntnis. Ich sehe im Jahresschnitt etwa zwei bis drei Tanzstücke pro Woche auf der Bühne; doch Le Sacre du Printemps von Pina Bausch habe ich leider nie live gesehen. Damit wäre der Text eigentlich bereits zu Ende, denn alle meine Aufführungsanalysen beginnen immer mit einem Theaterbesuch. Freilich folgen dann vertiefende Videoanalysen usw., aber die Live-Aufführung bildet den Ausgangspunkt, weil sie buchstäblich jenen Eindruck hinterlässt, den ich in der Folge jeweils mit meinen Überlegungen, Reflexionen und Recherchen fülle. Der erste Eindruck ist dabei nicht etwa sakrosankt. Manchmal kommen beim Bearbeiten durchaus ganz andere Ergebnisse heraus als der erste Eindruck ahnen ließ. Die Wichtigkeit jedoch des Aufführungserlebnisses für die Analyse beruht dabei einerseits auf der Erfahrung der Kopräsenz von Bühnendarstellern und Publikum und auf dem Aspekt des Transitorischen des Theaters, das seit Lessing1 hervorgehoben wird. Allerdings teile ich die extreme Variante dieser 1
„Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer: so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken läßt. Alle Erscheinungen, [...] sie mögen angenehm oder schrecklich sein, erhalten durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches Ansehen, daß mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck schwächer wird, und uns endlich vor dem ganzen Gegenstande ekelt oder grauet.“ Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder: über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Wilfried Barner (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Werke 1766-1769. Bd. 5/2, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 32f.
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Ansicht nicht, wonach jede Aufführung einmalig, d.h. der Effekt eines Stücks nicht wiederholbar sei. Andererseits drängen sich bei einer ausschließlichen Videoanalyse ganz praktische Probleme quellenkritischer Art auf wie die räumliche Verzerrung, die Undeutlichkeit des Bildes, die begrenzten Wahrnehmungsperspektiven aufgrund von Kameraführung und Schnitttechnik.2 In Bezug auf Bauschs Sacre bringt dieses Fehlen der räumlichen Kopräsenz ganz spezifische Wahrnehmungsmängel mit sich, etwa erstens dass die Bodenmaterialität – Torf – mitsamt des Geruchs am Bildschirm nicht rezipierbar und nicht erfahrbar wird, obwohl sie Bedeutungsträgerin ist, und dass zweitens die Räumlichkeit der hier bei diesem Stück so wichtigen, die Tänzer und Zuschauer verbindenden Musik bei einer durchschnittlichen DVDAnlage nicht annähernd erfahrbar ist, und schließlich drittens dass die Dreidimensionalität der und die physische Nähe zu den intensiven Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer in der Aufzeichnung wegfallen. Die Analyse ohne Live-Eindruck muss sich diese Parameter dazukonstruieren, während eine Analyse mit anfänglichem Live-Eindruck diese Parameter nachträglich aus der Erinnerung wieder abrufen und vergegenwärtigen kann. Für den vorliegenden Beitrag mache ich also eine Ausnahme in meiner Arbeitsweise. Ich werde und kann allerdings deshalb keine kohärente, geschlossene Aufführungsanalyse präsentieren, indem ich einfach so tue, als hätte ich das Stück im Theater gesehen, vielmehr werde ich im Wissen und aus dem Mangel heraus, dass ich dies nicht getan habe, immer wieder zwischen den Ebenen springen – zwischen der Analyse und der Reflexion der Analyse. Zunächst gilt es, den ersten Eindruck, den ein Stück hinterlassen hat, im Nachhinein zu vermessen, dabei kristallisieren sich bestimmte Auffälligkeiten heraus. Bei der wiederholten Betrachtung der Aufzeichnung von Bauschs Sacre ist mir vor allem die signifikante Betonung des proximalen also gegen die Mitte weisenden Körperbereiches aufgefallen, der auf die Zone zwischen Plexus coeliacus, dem Solarplexus, und dem Unterleib verweist.3 Ich stelle also bei der Analyse zunächst die Frage, wie dieser physische Akzent in der Choreografie gesetzt beziehungsweise variiert wird, um dann nach einem Zusammenhang zwischen diesem physischen Akzent in Bauschs Sacre und der Funktion respektive der Semantik dieses anatomischen beziehungsweise physiologischen Bereichs zu suchen. Die Fokussierung auf diesen proximalen Körperakzent und seine choreografischen Variationen kommt dabei einem nachträglichen, subjektiv rezeptiven Auswahl- und somit auch Ausschlussverfahren meinerseits gleich. Vor allem beim zweiten Teil der Frage, jener 2 3
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Vgl. Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, 2. überarb. Aufl., Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 84. Vgl. DVD in Pina Bausch: Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer), Buch mit DVD, Paris: L'Arche Éditeur 2012, TC 4:05-4:36 und TC 14:25-15:34.
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nach der betonten Körperzone, beginnt die Interpretation. Als Analysierende bin ich dabei die Instanz der Bedeutungssynthese, wobei eine solche Synthese am Material wiederum für andere nachvollziehbar und nachprüfbar sein muss. Ich reagiere also auf das vielfältige Bedeutungsangebot,4 das mir das Stück entgegenhält, ich wähle davon im Rahmen meines eigenen Wahrnehmungskontextes Signifikantes aus und richte darauf in der wiederholten, vertiefenden Betrachtung mein Augenmerk. Das Vorgehen ist dabei folgendes: Zunächst unterziehe ich das Stück einer diachronen Analyse. Ich beschreibe – quasi als Vorarbeit – den chronologischen Ablauf der Inszenierung, rastere und gliedere sie; ich gehe dann in einer synchronen Analyse auf signifikante Szenen noch genauer ein, um meine Sichtweise und Deutung zu begründen. Die folgenden Ausführungen verbinden auf der Basis dieser Vorarbeit diachron und synchron gewonnene Erkenntnisse und sind also bereits ein Zusammenzug von Beschreibung, Gliederung und Deutung. Zu Beginn des Stücks liegt eine Frau bäuchlings im Torf auf einem roten Tuch. Es macht den Anschein, als ströme Blut aus ihrem vorderen, oberen Körperbereich. Auf diese Körperregion weisen auch die nachfolgend auftretenden Frauen hin, indem sie ihr helles Kleid bis unter die Brust hochheben. Damit markieren sie gleich am Anfang der Choreografie – zunächst statisch durch ein Ausstellen – einen Bereich des Körpers, der im Laufe des Stücks gewissermaßen zu einem Zentrum der Bewegung der einzelnen Tanzenden wird. Von diesem Punkt gehen ein Großteil der Bewegungen aus beziehungsweise sie zielen auf ihn hin, umkreisen ihn, stellen ihn heraus oder versuchen ihn zu bergen. Eine der Frauen hebt zunächst langsam die Arme hoch, holt Schwung und biegt dann in einem jähen Impuls die Wirbelsäule zurück und die Schultern nach vorne, so dass der Eindruck eines plötzlichen ruckartigen Einklappens entsteht.5 Diese Bewegung wird von immer mehr Akteurinnen wiederholt und variiert. Der Schwung geht dabei einmal von den Armen aus, dann vom Kopf, vom Becken oder von den Beinen, immer wieder biegen sich die Tanzenden – vor allem die Frauen, darauf komme ich noch zurück – an diesem Punkt des Oberkörpers ein oder aber eine Kraft aus diesem Bereich heraus bemächtigt sich ihrer ganzen Gestalt. Dieser physische Akzent – nach innen oder nach außen gerichtet – zieht sich leitmotivisch an den einzelnen Tanzenden in verschiedenen Raum- und Gruppenformationen und in den Soli durch die Choreografie. Er bestimmt auch den Rhythmus des Tanzes, meist analog zur Musik. In musikalisch ruhigeren, harmonischeren oder reduzierter instrumen4 5
Vgl. zum Verhältnis von Bedeutungssynthese und -angebot auch Guido Hiß: Zur Aufführungsanalyse, in: Renate Möhrmann (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Berlin: Dietrich Reimer 1990, S. 65-80, hier S. 70. Die Analyse dieser Bewegungsfolge verdanke ich u.a. Sabine Huschka.
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tierten Passagen wird die besagte Zone des Oberkörpers mit weicheren, runderen Bewegungen umspielt, in musikalisch temperamentvolleren, schnelleren, instrumental wuchtigeren oder polyphoneren Sequenzen sind auch die Impulse des ruckartigen Einbiegens heftiger, abrupter oder werden durch mehrere Akteure gleichzeitig ausgeführt und wiederholt, was die Ausdrucksintensität dieser Geste ebenfalls verstärkt. Ein erster Höhepunkt dieses proximalen Körperakzents ist erreicht, als sich die Frauen ihren Arm wie einen Dolch mit dem Ellbogen voraus scheinbar in den Oberleib stoßen.6 Wohl nicht zufällig ziemlich genau in der Mitte des Stücks gibt es eine Szene, in der diese Geste von der ganzen Gruppe Tänzerinnen, die eng beieinander stehen, als Auftakt einer dreitaktigen Sequenz synchron 19 mal wiederholt wird.7 Es ist dies jener Moment vor dem großen Aufbäumen, in dem dann Frauen und Männer wild durcheinander rennen und anschließend die erste kollektive Erstarrung der Frauen einsetzt. Diese autoaggressive Bewegung des Armes der Tänzerinnen gegen den eigenen Oberkörper löst in der rhythmischen und personellen Verdichtung einen dramaturgischen Wendepunkt der Choreografie aus. Ab jenem Moment wird deutlich, dass es ein weibliches Opfer geben wird. An dieser Stelle springe ich nun wieder auf die Metaebene: Bis dahin habe ich versucht, ein zentrales, im Tanzstück wiederholtes und variiertes Bewegungselement in der physischen Gestalt und seiner choreografischen Positionierung zu beschreiben. Damit bin ich – vor allem mit Formulierungen wie ‚autoaggressiv‘ – bereits zur Bestimmung der Wirkungsqualität und zu einer semantischen Auslegung übergegangen. Diese möchte ich im Folgenden weiter vertiefen und um eine assoziative Interpretation erweitern. Ich komme also vom Bedeutungsangebot des Stücks, auf das ich bereits einen bestimmten Fokus angelegt habe, zur Bedeutungssynthese. Dabei scheint mir interessant, dass die zentrale Zone des Oberkörpers anatomisch zwischen dem Unterbauch und dem Plexus coeliacus, auch Plexus solaris, Solarplexus oder Sonnengeflecht genannt, lokalisiert werden kann. Es handelt sich bei beiden Bereichen um semantisch oder gar symbolisch besetzte Körperzonen. Der Plexus coeliacus ist ein autonomes Geflecht sympathischer Nervenfasern, liegt zwischen dem zwölften Brust- und dem ersten Lendenwirbel am Abgang des Truncus coeliacus aus der Aorta.8 Er kontrolliert bestimmte Funktionen von inneren Organen (u.a. des Magens und Darms). Als Teil des vegetativen Nervensystems erfolgt die Regulation weitgehend ohne bewusste Wahrnehmung und kann kaum willentlich beeinflusst werden. Die sympathischen Nerven versetzen den Körper außerdem bei Bedarf in hohe Leistungsbe6 7 8
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Vgl. DVD Le Sacre du Printemps, TC 14:25-15:34. Die Geste wird vorher bereits einmal wie vorbereitend ausgeführt. Vgl. Willibald Pschyrembel (Hg.): Klinisches Wörterbuch, Berlin: Walter de Gruyter 2004, S. 1441.
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reitschaft, und bereiten ihn auf Angriff, Flucht oder andere außergewöhnliche Anstrengungen vor. Soweit zur Physiologie – in eher esoterischen Quellen wird dem Solarplexus auch eine wichtige Rolle in der Steuerung der Emotionen zugeschrieben. Wichtig zu wissen ist in unserem Zusammenhang noch, dass ein Schlag auf den Plexus solaris zur Bewusstlosigkeit führen kann. Der Bauch und Unterleib steht vor allem bei der Frau für die Fruchtbarkeit und für das Leben, außerdem galt er auch historisch und gilt im allgemeinen Sprachgebrauch bis heute als Sitz der Triebe und der Gefühle.9 Was hat die Beschreibung dieser Körperzonen und ihrer Funktionen beziehungsweise Semantiken nun mit Bauschs Sacre zu tun? Damit lässt sich – wie ich meine – nicht nur den Bewegungen, die ich beschrieben habe, Bedeutung zuordnen, vielmehr werden auch kontextuelle Bezüge erkenn- und erklärbar. Zunächst zur Semantik der Bewegungen: Mit dem anfänglichen Entblößen und Ausstellen der proximalen Zone durch die Frauen wird ihre Verletzbarkeit, aber auch ihre vom Bewusstsein losgelöste physische (Reaktions-)Kraft markiert. Der Titel des Stücks und unser Kontextwissen – unter anderem auch mit Referenz auf die Nijinsky-Choreografie – besagen, dass es sich bei den Frauen um potentielle Opfer handelt. Die Anfangsszenen bei Bausch lassen mehrere Arten und Qualitäten der Opferung als Möglichkeiten offen. Indem ihre Körpermitte markiert wird, könnten diese Frauen einen das Bewusstsein auslöschenden Schlag in diese empfindliche Körperzone erwarten, um dann, bei dessen Eintreten, Opfer zu sein, oder aber sie demonstrieren durch diese Markierung, dass ihr physisches Tun von diesem Körperpunkt ausgehend ohne ihre bewusste Kontrolle gesteuert wird – dass sie also auch ihrem eigenen Körper ausgeliefert sind, ein Ausgeliefertsein, das sich im schlechten Fall ebenfalls als Opferung erweisen kann. Der Akt der Opferung kann also von außen oder von innen erfolgen. Dass das Ganze in Bauschs Sacre nicht gut ausgehen wird, darauf deutet bereits das erste, voraus weisende Bild hin, in dem die Frau reglos auf der Erde in einer roten Tuchlache liegt, die wie Blut aussieht, das aus der Körpermitte strömt. Neben dem Bewusstsein sind hier – vorläufig – auch alle anderen lebendigen Funktionen ausgeschaltet. Die auf dieses Anfangsbild folgenden Szenen und Bewegungen lassen sich als ein Abwehren, ein Abhalten dieser letzten Konsequenz lesen. Bis dahin ist der proximale Körperbereich also statisch markiert, er wird vorgezeigt, auf ihn und sein prekäres Potential wird verwiesen. Der bewegte physische Akzent auf diese Körperzone wird dann zunächst noch behutsam gesetzt durch ein langsameres Einbiegen des Oberkörpers, durch ein Vorbeugen und ein Vorhalten der Arme; es 9
Vgl. dazu Philine Helas: Madensack und Mutterschoß. Zur Bildgeschichte des Bauches in der Renaissance, in: Claudia Benthien/Christoph Wulf (Hg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek: Rowohlt 2001, S. 173-193, hier S. 173ff.
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scheint, als ob es eine verletzliche Zone zu schützen gelte. Dieser physische Bereich ist denn am Anfang auch noch stabil. Es folgen Bewegungen, die sich buchstäblich um den Bereich vom Unterbauch zum Plexus solaris herum drehen. Erst nachdem das Bluttuch vom Leib weg gehalten und hingeworfen ist, und die sensible Zone wechselweise ausgestellt und verborgen worden ist, fängt diese an, sich zu flexibilisieren und zu regen. Hier kommt wiederum die Assoziation der autonomen Nervenschaltzentren und -fasern im Plexus solaris zum Zuge. Physische Vorgänge werden da am Bewusstsein vorbei gesteuert. In extremen Lebenssituationen lässt sich ja auch beobachten, wie das vegetative Nervensystem Störungen und unkontrollierte (Über-)Reaktionen auslöst, die den gesunden, lebenswichtigen Vorgängen zuweilen entgegen laufen. Im Sacre werden die Tänzerinnen von Impulsen aus dem Unterbauch bis zum Sonnengeflecht durchgeschüttelt; sie biegen nicht nur ruckartig nach vorne ein, sondern erzittern und erbeben konvulsiv förmlich aus der Körpermitte heraus. Die exzessive Mobilisierung dieser physischen Zone verweist darauf, dass die Bereitschaft für außergewöhnliche Anstrengungen aktiviert ist. Auf jenen Augenblick des proximalen Durchschüttelns folgt im Ablauf des Stücks der Auftritt der Männer. Diese nehmen mit kräftigen Bewegungen und mit Sprüngen das Territorium ein. Dabei krümmen und beugen sie sich zwar auch – vor allem in den Synchronszenen mit den Frauen – jeweils gegen vorne. Ihre Oberkörpermitte bleibt dabei allerdings fester und stabiler. Ihr Sympathicus ist also mit ihrer muskulären Physis weitgehend im Einklang. Den Männern droht auch nicht die Opferung, die die auf Lebenserhaltung gepolten Nerven und Körperzonen so in Aufruhr versetzt. Der rote Stoff, der sich ja erst am Ende als Kleid für die Auserwählte erweist, wird als Zeichen für die bevorstehende Opferung von den Frauen gegen die Körpermitte geschlagen, bevor er weiter gereicht wird – von Frau zu Frau. Die mit dem Tuch in Berührung gekommenen Frauen winden sich um den markierten Körperbereich, drücken ihn in konvulsiven Bewegungen nach vorne, holen ihn wieder ein und schützen ihn mit vorgehaltenen Armen. Prekäre, bedrohliche und lebenserhaltende Kräfte ringen in der Körpermitte bis zur Erstarrung oder Erschlaffung. Es folgt eine kurze Szene, in der eine Frau, von Männern gehalten, wie am Kreuz hängt, während einer der Männer den Kopf an ihren Bauch hält. Es scheint, als höre er ihren Körpermittelpunkt, ihr Zentrum ab. Da nichts sich regt, lässt er wieder von ihr ab und tanzt in seiner nach Geschlechtern getrennten Gruppe. An dieser Stelle drängt sich die Assoziation an das von Slavoj Žižek formulierte christliche Paradigma des leeren Opfers auf.10 Danach stehen 10 Slavoj Žižek: Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 37. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Jörg Wiesel.
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männliche Opfer für eine zentrale Sache wie Heimat, Freiheit, Ehre, doch nur Frauen seien „imstande, sich für nichts zu opfern. (Beziehungsweise: Männer sind moralisch, während Frauen im eigentlichen Sinne ethisch sind).“11 Das leere Opfer – so Žižek –, also demnach das weibliche Opfer, sei die christliche Geste schlechthin, denn auch das Opfer Christi sei „[…] in einem radikalen Sinne sinnlos: kein Tauschakt, sondern eine überflüssige, exzessive, ungerechtfertigte Geste, die Seine Liebe zu uns, zur sündigen Menschheit beweisen soll. Es ist so, wie wenn wir in unserem Alltagsleben jemandem ‚beweisen‘ wollen, daß wir ihn/sie wirklich lieben, und dies nur mittels einer überflüssigen Geste der Verausgabung tun können.“12
Das Opfer – hier im doppelten Wortsinn von Person und Handlung – ist auch in Bauschs Version des Sacre eine weibliche Angelegenheit der Verausgabung, einer Verausgabung, die von der proximalen Körperregion ausgeht und auf jene Zone zielt, die für das Gefühl, für die Emotionen steht. Gewissermaßen ‚aus dem Bauch heraus‘ machen die Frauen das Opfer unter sich aus, während die Männer in der entscheidenden Phase außen vor bleiben. Dies zeigt sich in einer Szene, in der die Tänzerinnen einen engen Kreis bilden, aus dem immer wieder eine ausschert, um mit dem Tuch in der Hand den Arm auszustrecken, ihn wieder einzuziehen, das Tuch vor den Oberkörper zu halten, so zum Mann hinzugehen, wieder umzudrehen und in den Kreis der Frauen zurückzukehren. Das Opfer der Frau wird dem Mann also angeboten, hingehalten, es wird nicht mit ihm geteilt, sondern ihm mitgeteilt. Es findet auch da kein Tauschakt statt. Interessant ist, dass dieser Kreis der Opfererwählung – im Gegensatz zu Nijinskys Version – leer ist. Niemand steht als Opfer in der Mitte des Kreises. Das potentielle Opfer liegt im einzelnen Frauenkörper, der geopfert wird. Die Opferung trifft dabei nicht eine vorbestimmte Auserwählte, sondern ist eine soziale Aushandlung. Exakt auf diese Sequenz der Aushandlung folgt bei Bausch – analog zur plötzlich einsetzenden Vehemenz der Musik – die Verausgabung. Die Frauen drehen sich um ihre eigene Achse, springen heftig gegen die Männer an.13 Für einmal weist die Bewegungsrichtung und -energie nicht auf ihr Körperzentrum, sondern über dieses hinaus in die Höhe und gegen das männliche Gegenüber. Eine Frau, nun im roten Kleid, und ein Mann stehen in dieser bewegten Dynamik still: Das Opfer und jener, der sie zur Opferung führen wird oder ihr das Opfer, die Geste der Verausgabung, abnehmen wird.
11 S. Žižek: Die gnadenlose Liebe, S. 36f (Hervorhebung im Original). 12 Ebd. S. 27 (Hervorhebung im Original). 13 Vgl. DVD Le Sacre du Printemps, TC 24:09-25:12.
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Durch rituelle Wiederholung versichert sich eine Gruppe, eine Gesellschaft der Gültigkeit eines Opfers.14 Laut René Girard sind Opfer erforderlich, um drohende Krisen abzuwenden.15 Dabei ist es entscheidend, dass dies „im Namen der Kommunität erfolgt.“16 Bei Bausch ist diese Kommunität keine geschlossene, sondern eine offene Konstellation aus Isolationen und Konfrontationen. Einerseits scheren die einzelnen Individuen immer wieder aus der Kommunität aus, werden ausgestoßen oder scheinbar von inneren Kräften aus ihr herausgezogen. Nicht einmal in den synchron getanzten Passagen entsteht der Eindruck einer harmonisch geschlossenen Gruppe, vielmehr bekommt man vervielfältigte, aus der jeweils eigenen Mitte heraus bewegte Einzelne zu sehen. Betont als Einzelne, eine nach der anderen, treten denn auch signifikanterweise die Frauen zu Beginn des Stücks auf. Andererseits wird in den Kreisen, Klüngeln und verstreuten Gruppen meist nach Geschlechtern getrennt getanzt – das ist im Kontext von Bauschs Arbeiten sicherlich ein wichtiger, zentraler Aspekt. Vor allem in ihren frühen Stücken hat sie das Verhältnis der Geschlechter immer wieder als ein prekäres, von Konflikten geprägtes thematisiert. Auch in jenen Szenen im Sacre, in denen Mann und Frau einander choreografisch begegnen, entsteht – bis auf wenige Ausnahmen – nicht der Eindruck, dass da miteinander, sondern vielmehr gegeneinander oder zumindest nebeneinander her getanzt wird. Man kann diese Konfrontation insbesondere der Geschlechter wiederum im Zusammenhang mit der Opferthematik lesen, in der Differenzen eine entscheidende Rolle spielen. Gemäß Girard besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Opfer, der Gewalt und dem Heiligen. Gunter Gebauer und Christoph Wulf halten dazu in ihrem Buch Spiel – Ritual – Geste fest: „Dieser [Zusammenhang, C.T.] liegt in der Wirkung mimetischer Prozesse. Um nicht Opfer der von der Mimesis ausgehenden Gewalt zu werden, verwenden Gesellschaften zwei Strategien, das mimetische Begehren [...] zu kontrollieren: Verbote und Rituale. [...] Verboten wird das mimetische Verhalten, das darauf zielt, die Differenzen auszulöschen, die strukturell für die Erhaltung der inneren Ordnung der Gesellschaft erforderlich sind. [...] Während Verbote durch Begrenzung der mimetischen Rivalität versuchen, die in dieser enthaltene Gewalt zu unterdrücken, stellen Rituale den Versuch dar, die gesellschaftlichen Spannungen und Gewaltpotentiale so zu kanalisieren, daß die Integration der Gesellschaft nicht gefährdet wird. Greift das Verbot der Entdifferenzierung nicht, kann eine den Zusammenhalt der Gesellschaft in Frage stellende mimetische Krise entstehen. Mit ihr verbunden 14 Vgl. Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek: Rowohlt 1998, S. 176. 15 Vgl. René Girard: Wenn all das beginnt... Dialog mit Michel Treguer, aus dem Französischen v. Pascale Veldboer, Münster: Lit 1997, S. 39ff. Vgl. dazu auch G. Gebauer/C. Wulf: Spiel – Ritual – Geste, S. 176, 185. 16 Ebd., S. 175.
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ist die Gefahr des Ausbruchs von Gewalt und des Entstehens eines Teufelkreises sich wechselseitig verstärkender Gewalthandlungen.“17
In Bauschs Tanzstück Sacre werden freilich keine ‚realen‘ Opfer gebracht, keine Rituale praktiziert, sondern gespielt und dem Theaterpublikum vor Augen geführt. Dabei nun werden die Differenzen – vor allem jene zwischen Frauen und Männern – performativ aufrechterhalten. Allerdings liegt in dieser Geste der Unter-Scheidung gerade die unter anderem den Genderaspekt betreffende Brisanz des Stücks. Die Differenz wird nämlich nicht als Basis für die innere Ordnung der Gruppe dargestellt, sondern als Auslöser und als Folge von Gewalt. Hier droht nicht etwa eine Auflösung der Gesellschaft, die durch ein Ritual als Konflikthandhabung wieder zurück zu Integration und Zusammenhalt geführt werden könnte, hier fordert – im doppelten Sinne – eine differenzierte Gesellschaft ihr Opfer. Aber, wie erwähnt, in der Mitte des gemeinschaftlichen Kreises ist die Opferstelle leer. Jene hat sich in das Zentrum des oder vielmehr der Einzelnen verlagert. Die eigentliche Stätte der Opferung liegt – so lese ich Bauschs Stück auch im Gender-Kontext der 1970er Jahre – im Innern einer jeden Frau. Diejenige, die am Schluss exponiert zu Tode kommt, wiederholt dabei – und das ist entscheidend – nur die Bewegungen, die vorher alle ihre Mittänzerinnen auch ausgeführt haben. Dass sie es also ist, die am Schluss bäuchlings in der Erde liegt, ist kontingent, es hätte genauso auch eine andere treffen können. Gebauer/Wulf schreiben zu den Merkmalen des Opfers, „[…] daß es sich nicht erfolgreich wehren kann und daß sein Tod wegen seiner Machtlosigkeit keine weiteren Gewalthandlungen nach sich zieht. Einmal wird es für Gewalttätigkeiten verantwortlich gemacht; es wird ihm eine Macht zugeschrieben, die es nicht hat. Zum anderen wird ihm im nachhinein die Kraft der Versöhnung zugesprochen, die die Kommunität nach dem Tod des Opfers erlebt. In beiden Fällen handelt es sich um Zuschreibungen und Übertragungen. Die Rückkehr zur Ruhe dient der Gemeinschaft als Beweis dafür, daß das Opfer für die mimetische Krise verantwortlich war. In Wirklichkeit verhält es sich jedoch anders. Nicht die Kommunität leidet unter der Aggression des Opfers, sondern das Opfer unter der Gewalt der Kommunität. Damit dieser Umkehrmechanismus funktioniert, dürfen die Übertragungen auf das Opfer nicht durchschaut werden. Würden diese Projektionen als Ideologien erkannt, verlöre das Opfer seine die Gemeinschaft versöhnende Kraft. Da dieser Umkehrmechanismus gewöhnlich nicht durchschaut wird, hält die Kommunität mit dem Tod des Opfers die Krise für beendet.“18
17 Ebd., S. 174 (Hervorhebung im Original). 18 Ebd., S. 175.
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Bauschs Sacre entlarvt jedoch gerade diese Übertragungen, Projektionen und Mechanismen und stellt dadurch die leere Geste, die Gewalt im Akt der Opferung vor dessen angeblich befriedenden Effekt. Nicht etwa mit dem Eindruck der Versöhnung und der harmonischen Ruhe wird denn auch der Zuschauer, die Zuschauerin am Ende des Stücks zurückgelassen, sondern mit dem gespiegelten Blick des Entsetzens. Er/Sie schaut nicht nur auf das Opfer, sondern auch in die auf dieses gerichteten Antlitze der anderen Tänzerinnen und Tänzer. Diese umringen das Opfer nämlich in der Schlussszene nicht im Kreis, sondern beziehen den Betrachter im Zuschauerraum – oder vor dem Bildschirm – in diesen fragmentierten Kreis mit ein. Es ist damit ein gemeinsames Opfer, das erbracht wird. Das Publikum wird in den Gewaltakt mit eingebunden, es wird zum Teil des aggressiven Zusammenschlusses der Gesellschaftsmitglieder gegen das ausgewählte Opfer, von dem sich die Gesellschaft – dies wiederum nach Gebauer/Wulf – für eine begrenzte Zeit die Befreiung von der inhärenten inneren Gewalt verspricht.19 Allerdings ist dieses Versprechen bei Bausch ein vorsätzlich gebrochenes. Die inhärente Gewalt sitzt jedem der Beteiligten mitten im eigenen Körper und lässt sich so leicht auch nicht bändigen. Sie bäumt sich vielmehr ohne bewusste Kontrolle auf und greift auf die physischen Funktionen über. Wen sie schließlich stellvertretend für die anderen überwältigt, ist nicht vorausseh- und nachträglich auch nicht nachvollziehbar. Dies hat zur Folge – so führt es das Stück vor Augen –, dass die Opferung umso unheimlicher und prekärer erscheint. Auch die Analyse, die ich in diesem Beitrag vorgeschlagen habe, ist eigentlich von Beginn an eine prekäre, weil sie auf dem Eindruck und dem Material einer medialen Aufzeichnung mit all ihren Tücken beruht. Ich habe dennoch in zwei Schritten versucht, dem Stück auf die Spur zu kommen oder vielmehr es in meinem Kontext, in dem ich es heute rezipiere, zu verorten und ihm durch Beschreibung da einen Raum zu geben beziehungsweise ihm eine Reflexion an die Seite zu stellen. Zunächst ging es darum, aus dem Bedeutungsangebot der choreografierten Bewegungen Signifikantes aufzunehmen und herauszugreifen, um dann – wenn man so will – eine Interpretation vorzunehmen. Ich würde allerdings eher von einer Semantisierung sprechen, weil Interpretation im hermeneutischen Sinn von einer dem Artefakt zugrunde liegenden Bedeutung ausgeht; ich möchte also von einem Akt der Bedeutungszuweisung oder -synthese reden. Dabei bin ich mir nämlich der letztlichen Subjektivität dieses analytischen Akts sehr wohl bewusst, so habe ich schließlich meinen eigenen Fokus gewählt und bin meinen eigenen Assoziationen nachgegangen, habe also etwas Eigenes aus dem Stück heraus kreiert. Dennoch ist diese meine Kreation der Analyse eine, die sich anlehnt, die aus verschiedenen Kontexten und Intertexten schöpft, die Überlegungen und 19 Ebd.
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Reflexionen heranzieht, um im Zentrum aber stets um die Rezeption des künstlerischen Produkts zu kreisen. Diese analytischen Kreisbewegungen haben zum Sacre von Bausch also ergeben, dass ein Bewegungsakzent auf der proximalen Körperzone der Tänzer und insbesondere der Tänzerinnen festzustellen und zu deuten ist. Diesen physischen Akzent habe ich zunächst mit der Semantik der markierten Körperzone in Beziehung gesetzt und dann mit der intertextuellen Thematik des Opfers. Als Ergebnis hat sich dabei herauskristallisiert, dass das Augenmerk des Betrachters, der Betrachterin auf einen physiologischen Bereich gelenkt wird, der jenseits des Bewusstseins Körperfunktionen steuert, der verletzlich ist und geschützt werden muss, der aber in seiner Autonomie auch zerstörerischen Kräften entgegenwirken oder diese auslösen kann. Während die traditionelle Stätte des Opfers im Kreis der präsentierten Gruppe bei Bausch leer bleibt, verlagert sich die Geste der Verausgabung auf die proximale Zone jeder der auf der Bühne anwesenden Frauen. Die Opferung ist somit potentiell vervielfältigt und auswechselbar, jede kann die Rolle austragen, weil sie sie potentiell in sich trägt. Auch die erlösende Wirkung wird schließlich nicht eingelöst, weil das Opfer so kontingent ist, die Mechanismen der Opferung u.a. durch Wiederholungen ausgestellt und entlarvt werden und das Publikum in den aggressiven Zusammenschluss am Ende mit einbezogen wird. Gerade diesen letzten Punkt der Beobachterinvolvierung stelle ich mir als einen Eindruck vor, der für die semantische Rezeption des Stücks wohl entscheidend, jedoch nur in der LiveAufführung erfahrbar ist. Ich habe ihn in der Analyse ab Video als logische Konsequenz meiner Beobachtung und Semantisierung konstruiert, aber leider nie erlebt. Damit bin ich wieder am Ausgangspunkt meines Beitrags angelangt und diesmal tatsächlich an dessen Ende.
Literatur Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft, 2. überarb. Aufl., Berlin: Erich Schmidt 2001. Brandstetter, Gabriele: ‚Le Sacre du printemps‘. Choreographie und Ritual, in: Caduff, Corina/Pfaff-Czarnecka, Joanna (Hg.): Rituale heute. Theorien – Kontroversen – Entwürfe, Berlin: Reimer 1999, S. 127-148. Brandstetter, Gabriele: Ritual als Szene und Diskurs. Kunst und Wissenschaft um 1900 – am Beispiel von ‚Le Sacre du printemps‘, in: Graevenitz, Gerhart v. (Hg.): Konzepte der Moderne, Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 1999, S. 367-388. Dies./Neumann, Gerd: Opferfest. ‚Penthesilea“ – ‚Sacre du Printemps‘, in: Lehmann, Jürgen u.a. (Hg.): Konflikt – Grenze – Dialog. Kulturkontrasti-
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ve und interdisziplinäre Textzugänge. Festschrift für Horst Turk zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1997, S. 105-139. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek: Rowohlt 1998. Girard, René: Wenn all das beginnt... Dialog mit Michel Treguer, aus dem Französischen v. Pascale Veldboer, Münster: LIT 1997. Helas, Philine: Madensack und Mutterschoß. Zur Bildgeschichte des Bauches in der Renaissance, in: Benthien, Claudia/Wulf, Christoph (Hg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek: Rowohlt 2001, S. 173-193. Hiß, Guido: Zur Aufführungsanalyse, in: Möhrmann, Renate (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Berlin: Dietrich Reimer 1990, S. 65-80. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder: über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Barner, Wilfried (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing Werke 1766-1769, Bd. 5/2, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker 1990, S. 11-321. Pschyrembel, Willibald (Hg.): Klinisches Wörterbuch. 260., neu bearb. Aufl., Berlin: Walter de Gruyter 2004. Schlicher, Susanne: TanzTheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik, Susanne Linke, Reinbek: Rowohlt 1987. Žižek, Slavoj: Die gnadenlose Liebe, Übers. v. Nikolaus G. Schneider, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.
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Methoden de r Bew egungs beobac htung: Die Laban/Barte nieff Bew egungss tudie n
Die Laban/Bartenieff Bewegungsstudien wurden im Wesentlichen von zwei Tänzerpersönlichkeiten entwickelt: Rudolf von Laban (1879-1958) und Irmgard Bartenieff (1900-1981). Laban war nicht nur einer der Begründer des Ausdruckstanzes, sondern auch wesentlicher Initiator der jetzt nach ihm benannten Bewegungsstudien. Seine Studien basierten auf Beobachtungen des Tanzes wie auch Bewegungen des Alltags. Er und seine Mitarbeiter schufen eine Symbolschrift, die Kinetographie Laban1, oder Labanotation, mit der Rekonstruktionen von Tänzen durchgeführt werden können. Bartenieff studierte in den 1920er Jahren in einer Laban Schule in Berlin und war im ersten Beruf Tänzerin. Sie emigrierte nach New York und studierte und praktizierte Physiotherapie. 1978 gründete sie dort das Laban Institute of Movement Studies, an dem sie Labananalysis2 und eine vereinfachte Form der Labanotation, die Motivschrift, unterrichtete. Sie entwickelte mit ihren Mitstreitern ein Coding Sheet für interkulturelle Bewegungsstudien,3 welches die Grundlage für die heutigen Stilanalysen bildet. In diesem Beitrag möchte ich zuerst eine kurze Einführung in die Strukturierung des Beobachtungsprozesses geben und erläutern, welche Entscheidungen die Analyse von Pina Bauschs Le Sacre du Printemps beeinflussten. Dabei stelle ich Kategorien und Parameter der Laban/Bartenieff Bewegungs-
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Vgl. Alfred Schlee (Hg.): Schrifttanz (1928-1931), Hildesheim: Georg Olms 1991. Vgl. Irmgard Bartenieff/Dori Lewis: Body Movement – Coping with the Environment, New York: Gordon and Breach 1981, S. 16ff. Vgl. ebd., S. 169-179.
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studien (LBBS) vor. Danach werde ich einige LBBS-Methoden der Bewegungsbeobachtung anhand von Bauschs Sacre beispielhaft darstellen.
Die Strukturierung des Beobachtungsprozesses Das Modell der Strukturierung der Beobachtung wurde von Carol-Lynne Moore, einer Bartenieff-Schülerin, entwickelt.4 Die folgenden sechs Aspekte: Die Beobachterrolle/der Betrachtungsstandpunkt, die Dauer der Beobachtung, der Sinnzusammenhang, die Kernfrage, die Dokumentationsform und die Bewegungsparameter sollten vor Beginn der Beobachtung von dem Beobachter selbst bestimmt werden. Manche Aspekte sind hingegen nicht vom Beobachter bestimmbar, da sie von den äußeren Rahmenbedingungen festgelegt sind. Die Aspekte der Strukturierung des Beobachtungsprozesses sind nicht isoliert, sondern in Wechselwirkung zueinander zu betrachten.
Beobachterrolle/Betrachtungsstandpunkt Die Beobachterrolle und der Betrachtungsstandpunkt sind im Fall des Sacre durch das Video, einer Produktion für das ZDF, festgelegt. Der Betrachtungsstandpunkt ist kamerabestimmt und gibt zwangsläufig eine distanzierte Beobachterrolle vor. Unabhängig davon, welche Rolle oder welcher Standpunkt eingenommen wird, ist wichtig, dass mit allen Sinnen wahrgenommen wird, nicht nur mit den Augen und den Ohren sondern auch mit dem kinästhetischen Sinn. Die Dauer der Beobachtung Da ich 1993 schon einmal eine komplette Stilanalyse von Sacre durchgeführt habe, benötigte ich für die Analyse im Januar 2006 nur zwei vollständige Beobachtungen. Für die anderen zwei Methoden, die Phrasenanalyse und die Motivschrift5, die ich bei Sacre bisher noch nicht durchgeführt hatte, habe ich sechs weitere Beobachtungen der Bewegungsphrase durchgeführt, diese analysiert und in Symbolschrift dokumentiert (Siehe Abb. 3 und 4). Der Sinnzusammenhang Grundsätzlich kann der Sinnzusammenhang entweder in eine informelle oder in eine formelle Beurteilung einfließen. Um zu einer formellen Beurteilung zu gelangen, benötigt man einen Interpretationsrahmen, zu dem die Daten in Beziehung gesetzt werden können. Da diese Voraussetzung in unserem Fall nicht gegeben war, handelt sich es hier um eine informelle Beurteilung, bei
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Vgl. Carol-Lynne Moore/Kaoru Yamamoto: Beyond Words – Movement Observation and Analysis, New York: Gordon & Breach 1988, S. 214-226. Vgl. Kapitel Motivschriftanalyse in diesem Beitrag.
DIE LABAN/BARTENIEFF BEWEGUNGSSTUDIEN
der die Daten mit dem implizierten Körper-Wissen/Körper-Vorurteil6 des Betrachters verglichen werden. Das Körper-Wissen basiert auf der persönlichen körperlichen Erfahrung einer Bewegung in einem konkreten Sinnzusammenhang. In einem anderen Sinnzusammenhang kann dieses Körper-Wissen zum Körper-Vorurteil werden, da wir dazu neigen unser Körper-Wissen zu generalisieren und es mit Interpretation zu überlagern. Dieses hat den Vorteil, dass wir in unbekannten Situationen schnell reagieren können und gleichzeitig den Nachteil, dass wir diese neue Situation missinterpretieren könnten. Im Kontext eines abstrakten Tanzstückes wie Sacre können KörperWissen und Körper-Vorurteil sehr schnell zusammenfallen, da der Betrachter selbst viele Sinneszusammenhänge herstellen muss.
Die Kernfrage Eine Kernfrage oder auch These sollte am Anfang der Bewegungsanalyse festlegt werden. Meistens wird sie im Verlauf des Beobachtungsprozesses noch präzisiert. Die Kernfrage muss alle Aspekte der Strukturierung mit einbeziehen und ist entscheidend für die Methodenwahl. Die gewählten Kernfragen für Sacre werden jeweils mit der jeweiligen Methode erläutert. Die Dokumentationsform Ob verbal, schriftlich, bildlich, symbolhaft oder auch körperlich-bewegt, die Dokumentationsform wird je nach Kernfragestellung, Methodenwahl und Fähigkeiten des Beobachters verschiedene Formen annehmen. Laban und seine Mitstreiter haben den Weg bereitet, um die beobachteten LBBS-Bewegungsparameter in Symbolen dokumentiert zu können. Diese Symbole und die dazugehörige Grammatik muss erlernt werden, welches anfänglich einen Mehraufwand bedeutet. Sie hat aber auch viele Vorteile: Beobachtungen sind schneller aufgeschrieben, die Gleichzeitigkeit verschiedener Elemente oder Parameter kann besser erfasst werden, ggf. kann die zeitliche Dauer dargestellt werden und die Bewegungsnotation kann ohne Sprache verstanden und ggf. in Bewegung umgesetzt werden, ähnlich wie die Musiknotation ohne Sprache verstanden und mit einem Instrument in Töne umgesetzt werden kann. Die Bewegungsparameter Die Bewegungskategorien der LBBS, die Peggy Hackney,7 eine Schülerin von Bartenieff, weiterentwickelt hat, beantworten folgende Fragen zu Bewegung allgemein: 6 7
Vgl. C.-L. Moore/K. Yamamoto: Beyond Words, S. 67-95. Vgl. Peggy Hackney: Making Connections – Total Body Integration through Bartenieff Fundamentals, New York: Gordon and Breach 1998, S. 217-227.
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• • • • • •
Körper: Was bewegt sich? Welche Bewegung wird ausgeführt? Raum: Wohin geht die Bewegung? Antrieb: Mit welcher energetischen Qualität? Form: Mit welcher plastischen Formveränderung? Phrasierung: In welchem zeitlichen Ablauf? Beziehung: Wie setzt sich die bewegende Person in Beziehung zu etwas oder jemanden?
Bei jeder dieser sechs Kategorien gibt es insgesamt über sechzig Parameter, die beobachtet werden können. Deswegen ist es entscheidend, die situationsbedingt angepasste Auswahl der Beobachtungsparameter innerhalb jeder Kategorie unter Berücksichtigung der Kernfragestellung zu treffen. In allen folgenden Analysemethoden fokussiere ich meine Beobachtungen auf die Kategorien Antrieb und Form, weil mir erstens durch die Ergebnisse der ersten Stilanalyse bewusst geworden ist, dass diese bei Bauschs Sacre im Vordergrund stehen und weil es sich dabei zweitens um bedeutende, aber meistens unberücksichtigte Kategorien der allgemeinen Bewegungsanalyse handelt. Eine Beschränkung der Kategorien ist zudem notwendig, da dieser Beitrag sonst ausufern würde. Zunächst folgt eine kurze Einführung in die Begriffe und deren Symbolschriftzeichen.
Der Antrieb Laban hat mit seiner Antriebslehre ein Handwerkszeug für die differenzierte Beobachtung von Bewegungsdynamik geschaffen. Er hat die vier Faktoren: Kraft/ Gewicht, Fluss, Raum und Zeit in jeweils zwei Pole unterschieden, den ankämpfenden und den hingebenden/erspürenden Pol, um somit acht Elemente des Antriebs zu differenzieren. Die acht Elemente: Leichtes und kraftvolles Gewicht, freier und gebundener Fluss, direkte und flexible Raumantrieb sowie hinauszögernder und plötzlicher Zeitantrieb,8 werden in Abb.1 in Symbolschrift dargestellt. Diese Begriffe sind als bestmögliche Umschreibungen der dynamischen Qualitäten von Bewegung zu verstehen. Mit dem Begriff Fluss meint Laban eine aktive Einstellung zu der Kontinuität der Bewegung. Im gebundenen Fluss kontrolliert man die Bewegung, so dass sie jederzeit angehalten werden könnte. Im Gegensatz dazu wird eine Bewegung, die im freien Fluss ausgeführt wird, nur sehr schwer in einem unvorbereiteten Moment anzuhalten sein.9
8 9
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Vgl. Rudolf von Laban: Die Kunst der Bewegung, Wilhelmshaven: Florian Noetzel 1988, S. 83. Vgl. R. v. Laban: Kunst der Bewegung, S. 82-83.
DIE LABAN/BARTENIEFF BEWEGUNGSSTUDIEN
GEWICHT leicht
flexibel RAUM direkt
FLUSS frei
gebunden
ZEIT allmählich / hinauszögernd
plötzlich kraftvoll
Abb. 1: Antrieb: Faktoren und Elemente10 Der Begriff Raumantrieb bezeichnet die innere Einstellung zum Raum, die in der Art der Raumaufmerksamkeit zum Ausdruck kommt. Der Begriff beantwortet die Frage, wie ich mich im Raum bewege, nicht wohin. Schenkt man nur einem Teil des Raums seine Aufmerksamkeit, so ist dies meist eine direkte Bewegung. Bezieht man mehrere oder alle Teile des Raums mit ein, so ist es eine umschweifende oder flexible Einstellung, die in der Bewegung zu erkennen ist.11 Beim Zeitantrieb geht es nicht um den Puls oder das Tempo der Bewegung, sondern um die innere Einstellung zur Zeit, die in ihr zum Ausdruck kommt. Man kann eine ankämpfende Haltung einnehmen und diese innere Unruhe kann plötzliche Bewegungen hervorrufen. Man kann aber auch die Zeit genießen, sich ausdehnen in der Zeit oder die Bewegung in der Zeit hinauszögern.12 Der Antriebsfaktor Gewicht bezeichnet die innere Einstellung zum Körpergewicht und wie man dieses zur Schwerkraft in Verhältnis setzt. Mit einer aktiven Einstellung zum Gewicht kann man eine Bewegung mit wenig Gewicht, also zart/leicht, oder mit viel Gewicht, also fest/kraftvoll, ausführen.13 Mit nur acht Antriebselementen und deren verschiedenen Intensitätsgraden, zahlreichen Kombinations- und zeitlichen Anordnungsmöglichkeiten konnte Laban die vielseitigen Nuancen von Energiequalitäten unterscheiden. Jedes Element kann unterschiedlich intensiv ausgeführt werden, so gesehen sind die zwei Pole die zwei Seiten eines Kontinuums. 10 Alle Abbildungen sind von der Autorin erstellt. 11 Vgl. Claude Perrottet: Ausdruck in Bewegung und Tanz, Bern/Stuttgart: PauÌ Haupt 1983, S. 48-49. 12 Vgl. ebd., S. 45-47. 13 Vgl. P. Hackney: Making Connections, S. 220.
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Die Kombinationsmöglichkeiten der Elemente werden in Zweier-, Dreierund Viererkombinationen unterschieden. Laban sprach in diesem Zusammenhang von unterschiedlicher Ladung. Um die Kombinationen zu charakterisieren hat Laban ihnen Namen gegeben. Zum Beispiel die Dreierkombination Zeit-, Fluss- und Gewichtsantrieb hat Laban Leidenschaft, die von Zeit-, Fluss- und Raumantrieb hat er Vision genannt. Die Zweierkombination von Zeit- und Flussantrieb nannte er mobil.14 Die Kombination von Zeit- und Gewichtsantrieb heißt heutzutage rhythmisch (früher nahe15). Die zeitliche Anordnung der Kombinationen geschieht in einer Phrase, in der mehrere Bewegungen zu einem Gedankengang oder Satz zusammen gefügt werden. Es ist möglich, die allgemeine Erscheinung einer Phrase zu charakterisieren oder die Kombinationen innerhalb der Phrase festzustellen. Eine allgemeine Betrachtung wäre, festzuhalten, wo die Betonung in der Phrase ist, z.B. endbetonte Phrasierung. Ein Beispiel der Antriebskombinationen innerhalb einer Phrase bei der zweiten Methode Phrasenanalyse – Antrieb zu sehen.
Die Form Hackney unterscheidet sechs verschiedenen Formqualitäten: Steigen, sinken, schließen, ausbreiten, zurückziehen und vorstreben. Diese sind in Abb. 2 in Symbolen dargestellt.16 Diese Formqualitäten können einzeln oder, wie die
steigen
ausbreiten
schließen
vorstreben
zurückziehen sinken
Abb. 2: Formqualitäten nach Laban/Hackney
14 Vgl. R. v. Laban: Die Kunst der Bewegung, S.166. 15 Ebd., S. 86. 16 Vgl. P. Hackney: Making Connections, S. 222.
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DIE LABAN/BARTENIEFF BEWEGUNGSSTUDIEN
Antriebselemente, in Zweier- und Dreierkombinationen auftreten. Die verschiedenen Formqualitäten können auch im zeitlichen Ablauf in einer Phrase dargestellt werden (siehe zweite Methode Phrasenanalyse – Form).
B ew e g u n g s a n a l ys e vo n B a u s c h s S a c r e Im Folgenden stelle ich drei LBBS-Methoden mit beispielhaften Kernfragen in Bezug auf Sacre ausführlich vor: Die Phrasenanalyse, die Motivschriftanalyse und die Stilanalyse mit Checkliste (Coding Sheet). Eine weitere, hier nicht gewählte Methode, die in den LBBS angewandt wird, ist die Strichliste (Check Marks).17
Die Phrasenanalyse Die Phrasenanalyse18 einer einzelnen Phrase des Tanzes, mit Reduktion auf eine Kategorie, ist auf einer zeitlichen Mikroebene anzusiedeln. Diese qualitative Analyse sagt etwas darüber aus, welche Elemente dieser Kategorie hintereinander in der Abfolge erscheinen, aber nichts über die Dauer der verschiedenen Elemente. Nach der ersten Sichtung von Sacre habe ich mich unter der Kernfrage: Wie sieht eine typische Bewegungsphrase der Frauen aus? für die erste Phrase entschieden, die die Frauen unisono zur rhythmisch pulsierenden Musik von Strawinsky tanzen. Diese Phrase habe ich ausgesucht, weil sie, in verschiedenen Variationen, öfter im Stück wiederholt wird und deshalb eines der Leitthemen darstellt. Für die Phrasenanalyse habe ich die erste Ausführung der Phrase, ca. vier Minuten nach Beginn des Stückes, gewählt. Die analysierte Phrase der Frauen wurde im Vortrag in Bewegung dargestellt und wird hier durch eine schriftsprachliche Beschreibung ersetzt, welche die Kategorien Körper und Raum von Laban einbezieht.
17 Die Strichliste ist wohl die bekannteste Beobachtungsmethode, die bei den LBBBS mit der Reduktion auf jeweils einen Parameter innerhalb einer Kategorie angewandt wird. Durch Wiederholung der Methode für weitere Parametern oder weitere Kategorien ist eine umfangreiche oder sogar vollständige quantitative Analyse möglich. Diese Methode ist sehr präzise, aber auch sehr zeitaufwendig. Mit ihr ist eine zeitliche Einordnung oder Aussage über die Dauer des Parameters nicht möglich – sondern nur über die Häufigkeit. Deswegen kann sie beispielsweise Antwort auf die Kernfrage geben: „Welche Antriebskombination ist sehr häufig?“ Da dies eine gängige Methode ist und diese Kernfrage in der Stilanalyse beantwortet wird, werde ich hier nicht näher darauf eingehen. 18 Vgl. R. v. Laban: Die Kunst der Bewegung, S. 173.
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Beschreibung mit den Kategorien Körper und Raum Die Frauen stehen frontal zum Publikum, machen einen Schritt in die Diagonale, um sich dort die Arme um den Körper zu schlingen. Gleich danach machen Sie wieder einen Schritt zurück in die frontale Ausgangsposition, Beine und Arme geöffnet und dem Kopf nach hinten hängend. Hier pulsieren sie einmal, um dann die Arme über die Seiten und die Hände nach oben, über dem Kopf, zusammen zu führen. Zum Abschluss werden die Arme, gefolgt von Kopf und Oberkörper nach unten zwischen die ausgebreiteten Beine geführt. Falls die Phrase wiederholt wird, wird der Oberkörper kurz nach oben aufgerichtet, um wieder von Neuem anzufangen. Phrasenanalyse von Antrieb Diese Bewegungsphrase der Frauen wurde mit der Kategorie Antrieb analysiert. Die Ergebnisse der ausgewählten Bewebungsphrase von Sacre ist in der Abb. 3, obere Zeile, in Symbolen dokumentiert. Diese Art von Phrase wird von links nach rechts gelesen. ANTRIEBSQUALITÄTEN
1
2
3
4
5
FORMQUALITÄTEN
1
2
3
4
5
6
Abb. 3 : Phrasenanalyse von Le Bauschs Sacre du Printemps Die Symbole werden im Folgenden in Worte übersetzt, wobei die Nummern mit denen unter den Symbolen korrespondieren. Hinter den Elementen steht, ob es sich um eine Zweier- oder Dreierkombinationen handelt und welchen Begriff LBBS verwendet, um diese Kombination zu charakterisieren. 1. 2. 3. 4. 5.
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Frei-kraftvoll-plötzlich = Dreierkombination Leidenschaft Kraftvoll-plötzlich = Zweierkombination rhythmisch Kraftvoll-plötzlich = Zweierkombination rhythmisch Frei-direkt-plötzlich = Dreierkombination Vision Frei-kraftvoll-plötzlich = Dreierkombination Leidenschaft
DIE LABAN/BARTENIEFF BEWEGUNGSSTUDIEN
Phrasenanalyse von Formqualitäten Dieselbe Phrase wird auf eine weitere Kategorie Form, noch spezieller auf die Formqualitäten hin, mit derselben Methode analysiert. Die analysierte Phrase der Formqualitäten wird in Symbolschrift in Abb. 3 in der unteren Zeile dokumentiert. Diese bedeutet in Worte übersetzt: 1. Ausbreiten, um 2. zu schließen. 3. Ausbreiten mit Sinken. 4. Steigen mit Ausbreiten, um 5. zu steigen mit Schließen. 6. Sinken. Die Symbole in beiden Phrasen Antrieb und Form geben den Ablauf der Veränderung des Parameter in dieser Kategorie wieder, aber sie korrespondieren nicht zeitlich, da dieses nicht in der Phrasenschrift festgehalten wird.
Die Motivschriftanalyse In dieser Methode wird immer die wichtigste Kategorie der sechs Hauptkategorien im jeweiligen Moment, also das Leitmotiv, in der Symbolschrift dargestellt. Dies ist vergleichbar mit der Musik, in der man viele Töne (z.B. eines Orchesters) auf einmal hört und trotzdem entscheiden kann, nur die wichtigsten Töne z.B. die Leitmelodie aufzuschreiben. Deshalb reduziert die Analyse mit Motivschrift das Beobachtete auf ein bis zwei wesentliche Kategorien, welche innerhalb der Abfolge wechseln können. Die Motivanalyse kann auf der Mikroebene, ähnlich wie die Phrasenanalyse, oder auf der Makroebene, über mehrere Abschnitte des Tanzes hinweg, durchgeführt werden. Die qualitative Analyse der Parameter verschiedener Kategorien wird in der Abfolge und in ihrer Dauer festgehalten. Die relative Dauer wird durch die Länge der Symbole oder mit einer Verlängerung durch einen Aktionsstrich dargestellt. Grundsätzlich wird die Motivschrift19 von unten nach oben und dann von links nach rechts gelesen. Dieselbe Phrase von Sacre wie in der Phrasenanalyse wurde mit der Motivschrift analysiert. Deshalb wird die folgende Kernfrage beispielhaft beantwortet: Was ist das Leitmotiv der typischen Bewegungsphrase der Frauen? Ergebnis der Motivschriftanalyse der Phrase von Sacre in Abb. 4 sieht nicht nur wegen der anderen Anordnung der Symbole etwas anders aus, sondern auch, weil zusätzlich zu den wichtigsten Antriebs- und Formqualitätssymbolen auch noch die Körpersymbole dokumentiert werden. Das 19 Ann Hutchinson Guest: Your Move: A New Approach to the Study of Movement and Dance, London: Gordon and Breach 1983, S. 297.
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Motiv in Worte zu übersetzen, wäre an dieser Stelle zu ausführlich. Deswegen seien nur die folgenden Symbole erklärt. Bei +1, ganz links, sind Schritte notiert: Zuerst mit dem rechten Fuß mit einer Viertel-Drehung nach rechts (3. Symbol von links), dann auf 1 mit dem linken Fuß nach rechts. Bei +4 ist die wichtigste Körperaktion des Motivs dargestellt: Das Zusammenklatschen der Hände, welches auf 4 dann gehalten wird.
2
4
+
+
1
3
+
+ +
Abb. 4: Motivschriftanalyse von Le Bauschs Sacre du Printemps
In Bezug auf meine Kernfrage: Was ist das Leitmotiv der typischen Bewegungsphrase der Frauen? beantwortet die Motivschrift wie sich das Motiv mit LBBS-Parameter zusammensetzt, wie diese Parameter zeitlich einzuordnen sind sowie die Dauer der Parameter. Um das Typische an dieser Phrase zu erkennen, müsste man mehrere Phrasen des Stückes in gleicher Weise auf der Mikroebene analysieren und vergleichen. Dies habe ich nicht weiter verfolgt, da es mir hier um die beispielhafte Darstellung mehrere Methoden geht.20
Die Stilanalyse (mit Checkliste/Coding Sheet) Eine Stilanalyse ist eine auf Vollständigkeit angelegte Analyse der verschiedenen LBBS-Kategorien. Für die Analyse eines Tanzstils werden Daten in jeder Kategorie mit Hilfe einer Checkliste erhoben, um keinen Parameter
20 Wäre aber die Kernfrage: Wie ist diese Phrase zu rekonstruieren? dann wäre Motivschrift nicht die geeignete Methode. Dazu wäre eine Labanotation der Phrase nötig, welche die Kategorien Körper, Raum und Beziehung analysiert und darstellt. Die vollständigste Analyse wäre eine Labanotation, die mit einer Antriebs- und Formanalyse ergänzt wird. Dieser hohe Aufwand lohnt sich nur, wenn die Kernfrage dieses fordert.
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DIE LABAN/BARTENIEFF BEWEGUNGSSTUDIEN
zu vergessen. Die Checkliste dient meistens auch gleich zur Dokumentation der Ergebnisse, die in Symbolen und/oder Stichpunkten festgehalten wird. Durch Beobachtung wird auf der Makroebene die Häufigkeit ggf. auch die Intensität eines Parameters geschätzt, um so eine grobe Quantifizierung zu erlangen. Eine zeitliche Einordnung oder Aussage über die Dauer ist nicht möglich. Die allgemeine Kernfrage: Welcher Bewegungsstil liegt Bauschs Sacre zugrunde? muss, um für die Bewegungsbeobachtung handhabbar zu sein, weiter eingegrenzt werden. Die Parameter in jeder Kategorie werden einzeln beobachtet und die Beobachtungsergebnisse auf der Checkliste notiert. Hier ein Beispiel meiner Beobachtung der Kategorie Antrieb bei Sacre in Stichpunkten:
Daten/Beschreibung der Beobachtung: Antrieb: • Hohe Intensität und Ladung Faktoren: • sehr viel Zeitantrieb • viel Flussantrieb Kombinationen: • sehr häufig: Leidenschaft (Zeit, Fluss und Gewicht) • häufig Vision (Zeit, Fluss und Raum) • häufig mobil (Zeit und Fluss) • häufig rhythmisch (Zeit und Gewicht) • häufig bei der Männergruppe: Aktion (Zeit, Gewicht und Raum)21 Um den beobachteten Daten Sinngehalt zu verleihen, können den Parametern in Bezug auf den Kontext des Stückes Deutungen zugeordnet werden. Hier ein Beispiel, wie ich die Daten in einen Sinnzusammenhang stelle:
Daten: Hohe Intensität und Ladung Faktoren/Elemente: • sehr viel: Zeitantrieb • plötzlich und hinauszögern • viel: Fluss Kombinationen: • sehr häufig: Leidenschaft
21 22 23 24
Deutung im Sinnzusammenhang: Sehr ausdrucksstark Sehr viel: „Entscheidung“22 getrieben sein, abwarten, sich sträuben viel: Gefühl, „Fühlen“23 Angst, Verzweiflung, Erregtheit, „besonders stark von Emotionen erfüllt“24
Vgl. R. v. Laban: Die Kunst der Bewegung, S. 86 -88. R. v. Laban: Die Kunst der Bewegung, S. 124 Ebd., S. 124. Ebd., S. 88.
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• •
häufig: Vision häufig: mobil
• häufig: rhythmisch häufig bei Männergruppe: • Aktion
Lage „visionshaft“25, veranschaulichen zögern, losrennen, abrupt wechselnde Betriebsamkeit pulsieren, abwartende „Präsenz“26 Handlungen, Taten, Vollstreckungen
In einem weiteren Schritt können diese Beobachtungen in Textform ausformuliert werden. Hier ein Beispiel, wie ich meine Daten vom Sacre in Bezug auf die Kategorie Antrieb und deren Sinngehalt in Textform ausgearbeitet habe:
Schlussfolgerungen Antrieb Der Bewegungsstil von Bauschs Choreografie Sacre lässt auf ein sehr ausdrucksstarkes Tanzstück schließen, welches durch hohe Intensität und Ladung der Antriebe geprägt ist. Die Auswahl des Frühlingsopfers aus der Gruppe wird von Angst und starken Emotionen geprägt, was sich vorwiegend in der Dreierkombination Leidenschaft bemerkbar macht. Sehr häufig wird bei den Frauen plötzliche Zeit mit Kraft und freiem Fluss kombiniert, um den Leidensausdruck mit überwiegend kämpferischen Elementen zu zeigen. Es gibt häufige Wechsel zwischen freiem und gebundenem Fluss, der Antriebsfaktor, der mit Gefühlen assoziiert wird. Außerdem ist der Zeitfaktor sehr dominant, ein Getrieben-Sein, nicht zur Ruhe kommen können, abrupt wechselnde Betriebsamkeit bis die Entscheidung gefällt ist. Die Faktoren Zeit und Fluss finden in der Kombination mobil Ausdruck und machen sich in den vielen Passagen des Sacre bemerkbar, in denen gerannt wird. Der Faktor Zeit wird vor allem mit kraftvollem Antrieb kombiniert um rhythmische Bewegungen zu erzeugen, die sich vor allem in Form einer pulsierenden Gruppe im Hintergrund eines Solos zeigen. Wenn die Männergruppe zusammen tanzt, wird Zeit und Kraft mit Raumaufmerksamkeit zur Dreierkombination Aktion zusammengefügt, um Tatendrang zu demonstrieren. Einer von ihnen wird schließlich die Aktion, eine Frau auszuwählen, vollziehen. Erweiterung zur kompletten Stilanalyse Für eine komplette Stilanalyse habe ich die notwendigen Analysen für alle sechs Kategorien der LBBS mit der Checkliste durchgeführt werden. Die Darstellung der Einzelheiten würde hingegen den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Deshalb hier nur die wichtigsten Ergebnisse zu einer enger gefassten Kernfrage. 25 Ebd., S. 87. 26 Ebd., S. 86.
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Die allgemeine Kernfrage: „Welcher Bewegungsstil liegt Bauschs Sacre zugrunde?“ muss, um handhabbar zu sein, weiter eingegrenzt werden. Die neue Kernfrage, die ich auswählte, war: Mit welchen Stilmitteln (LBBS-Parametern) stellt Bausch die Kernaussage „Opfern“ dar? Es folgen stichpunktartig die wichtigsten Ergebnisse für jede Kategorie unter dieser Fragestellung: • Antrieb: Leidenschaft, hohe Intensität • Form: Ausbreiten zum Schließen, selbstbezogener Formprozess (Formfluss) • Körper: konkave Körperhaltung, Arme eng am Körper • Raum (Kinesphäre): Von Außen nach Innen • Phrasierung: Endbetonte Phrasierung • Beziehung: Alle Stufen der Beziehung zum roten Tuch/Kleid Hier wird deutlich, dass alle Kategorien zum Gesamteindruck des ‚Opferns‘ beitragen. Wenn man dies wiederum mit allen Parametern des Stils vergleicht, dann ist dies nur eine Auswahl – wie am Beispiel Antrieb deutlich wird. So kann man durch die Eingrenzung der Fragestellung die Daten aus jeder Kategorie zu einer Synthese zusammenzuführen.
Interpretation Die Arbeit eines Beobachters ist aber nicht beendet, bis Bedeutung aus den vorhandenen Daten geschöpft und eine adäquate Schlussfolgerung in Beziehung zur Kernfrage gezogen wurde.27 Innerhalb des Gesamtkontextes des Stückes kann ich zu einer Interpretation kommen, die wiederum von meinem persönlichen Körper-Wissen oder Körper-Vorurteil geprägt ist. Die folgende Interpretation beruht auf der Grundlage der Synthese und meinem persönlichen Eindruck. Der erste Absatz bezieht sich auf die Kategorie Beziehung zu dem einzigen Requisit, welches ich analysiert, aber im Beitrag nicht im Detail ausgeführt habe. Danach gehe ich auf die wichtigen Kategorien Antrieb und Form ein und setze sie mit den Körper, Raum und Phrasierungskategorien in Verbindung. Der Bewegungsstil von Bausch wird im Sacre von der wesentlichen Aussage des Stückes geprägt – dem Opfer, das sich selbst zerstören muss, indem es sich zu Tode tanzt. Das Symbol der Opferung, das rote Tuch, welches sich als Kleid entpuppt, wird im gesamten Stück als einziges Requisit von allen Tänzern verwendet. Das Unterthema ‚das Opfer werden‘ wird durch kurze oder lange Beziehungen zum roten Tuch/Kleid dargestellt. In der Bewegung wird das Thema „Opfer“ mit allen Bewegungskategorien, hauptsächlich aber durch die Kategorien Antrieb und Form manifes27 Vgl. C.-L. Moore/K. Yamamoto: Beyond Words, S. 226.
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tiert. Die Auswahl des Frühlingsopfers wird von besonders starken Emotionen und vor allem von Angst geprägt, was sich in der Dreierkombination Leidenschaft bemerkbar macht. Die Angst treibt die Frauen in eine Selbstbezogenheit, die überwiegend durch den nach innen gerichteten Formungsprozess ausgedrückt wird. Durch ihre leicht konkave Körperhaltung und die Enge zwischen Armen und Körper, die in vielen Bewegungen zu beobachten ist, zeigen vor allem die Frauen fast durchgängig ihre Angst, als Opfer ausgewählt zu werden Die Formphrasierung von Ausbreiten zu Schließen mit endbetonter leidenschaftlicher Antriebsphrasierung in hoher Intensität zeigt die Selbstzerstörungskraft des Sich-Aufopferns in der Bewegung. Diese wird im Verlauf des Stücks immer wieder in verschiedenen Varianten von den Frauen, wie auch von den Männern dargestellt und in letztendlich vom auserwählten Opfer zum Schluss in einer weiteren Variante wiederholt.
Zusammenfassung Für die Bewegungsbeobachtung nach LBBS gibt es einige Erschwernisse, da sich manche LBBS-Begriffe z.B. nicht aus der Assoziation zu dem Wort erklären lassen. Zudem ist eine Bewegungserfahrung die Voraussetzung für eine differenzierte Beobachtung der Parameter sowie das Erlangen der für die Anwendung der Notation notwendigen Kenntnisse der Symbolik und Grammatik. Die Vorteile der Bewegungsbeobachtung nach LBBS sind eine klare Strukturierung des Beobachtungsprozesses und die Möglichkeit, mit sechs Kategorien und einer umfangreichen Anzahl von Parametern, der Komplexität des Bewegungsgeschehens vor allem in der qualitativen Analyse entsprechen zu können. Die drei beispielhaft vorgeführten Bewegungsanalysemethoden – die Phrasenanalyse, Motivschrift und die Stilanalyse – können sich bei manchen Kernfragen ergänzen. Außerdem könnten sie andere Analyseverfahren bewegungsanalytisch untermauern. Mit den LBBS-Parametern ist es auf jeden Fall möglich, weitere Methoden in Abhängigkeit von den jeweiligen Fragestellungen in unterschiedlichen Anwendungsgebieten zu entwickeln.
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DIE LABAN/BARTENIEFF BEWEGUNGSSTUDIEN
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Intermezzo
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Gabriele Klein (GK): Wie lange hast Du in der Wuppertaler Kompanie getanzt? Gitta Barthel (GB): Ich habe Sacre 1985 getanzt. Ich war damals Mitglied des Folkwang Tanzstudios und wurde für Sacre als Gasttänzerin in der Wuppertaler Kompanie engagiert. Pina brauchte für Sacre zusätzliche Tänzer und hat diese im Folkwang Tanzstudio gesucht. Wir haben das Stück alle gelernt und später wurden Gasttänzer ausgesucht, die bei den Tourneen mit dabei waren. GK: Wie oft hast Du das Stück getanzt? GB: Ich habe Sacre nur in einer Spielzeit getanzt. Damals gab es Gastspiele in Paris und Venedig, wo wir jeweils drei bis fünf Vorstellungen hatten. Danach wurde ich ans Bremer Theater engagiert und konnte deshalb leider Sacre nicht weiter tanzen. GK: Wie war damals das Verhältnis unter den Tänzern, zwischen den Gasttänzern und denen, die fest in der Kompanie waren? GB: Die Wuppertaler Tänzer kannten es, dass für dieses Stück Gäste hinzukamen. Es war normal, man wurde integriert. Mit manchen hatte ich wenig Kontakt, mit anderen mehr, einige haben mir mit Hinweisen sehr geholfen. Die Neuen tanzten aber immer nur die Gruppenparts, die Soli übernahmen natürlich die Ensemblemitglieder. GK: Wie hast Du das Bewegungsmaterial von Sacre gelernt, wer hat es Dir beigebracht? GB: Alle Tänzer aus dem Folkwang Tanzstudio, die wollten, konnten zu den Proben mitkommen. Das haben natürlich alle gemacht, weil es eine tolle Chance für eine Tänzerin ist, dieses Material zu lernen, selbst wenn man 1
Das Gespräch wurde am 14. September 2006 in Hamburg geführt.
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es nachher nicht auf der Bühne tanzen wird. Wir sind regelmäßig zu Probenterminen nach Wuppertal gefahren und haben vor allem mit Tänzern der Kompanie und mit Assistenten von Pina das Material einstudiert. Teilweise haben wir auch Video benutzt, um zu schauen, wer welchen Part übernimmt. Wir mussten ja andere Tänzer ersetzen und so haben wir uns vor den Videorekorder gesetzt und geschaut: Welche Tänzerposition nehme ich ein? Wo steht diese Person jetzt, wo geht sie hin? Den größten Teil des Vokabulars haben wir aber von den Tänzern im Studio gelernt, die uns nach und nach das Schrittmaterial beigebracht haben. Pina kam dann zu den Endproben dazu und hat noch mal an den Qualitäten gearbeitet. Es war damals 1985, Video war noch nicht so gebräuchlich wie heute. Es gab noch nicht die Möglichkeiten digitaler Bildproduktion, mit denen Dreidimensionalität virtuell hergestellt werden kann. Wie war es für Dich, über ein Video, also über ein zweidimensionales Bild eine Choreografie, ein Raumbild zu lernen? Speziell. Ich fand es sehr schwierig, allein technisch, dass man sich bei der Bildbetrachtung quasi immer umdrehen muss. Ich fand es auch ein bisschen theoretisch oder künstlich, mich von außen in dieses Stück zu ‚beamen‘ und an die Stelle einer Tänzerin zu setzen. Auf der anderen Seite war es praktisch. Bei den Videoaufnahmen ging es ja vornehmlich um das Rekonstruieren der Plätze und Wege. Das Bewegungsmaterial haben wir direkt im Studio von den Tänzern gelernt. Habt Ihr neben Video noch andere Archive verwendet. Zum Beispiel eine Notation von Sacre? Nein, wir haben uns selbst Raumwege aufgezeichnet, weil das immer sehr gut klärt. Habt Ihr die verschiedenen Bewegungssequenzen sogleich mit Musik gelernt? Wir haben das Bewegungsvokabular erst ohne Musik gelernt. In dem Moment, wo man die Schrittabfolge lernt, zählt man auch sofort. Das ganze Stück ist gezählt. Die Musik ist so kompliziert aufgebaut, dass man überhaupt nicht durchkäme, wenn man es einfach intuitiv tanzen wollte. Man muss von Anfang an alle Schritte auszählen. Und man muss wissen, wie häufig welcher Takt kommt, um dann in einen anderen Takt zu wechseln. Das Stück hat Achterrhythmen. Das ist ja normal, aber es hat auch Siebenerphrasierungen, Neunerphrasierungen, sogar Elferphrasierungen, und das ist sehr ungewöhnlich. Dadurch ist man von Anfang an gezwungen, die Bewegung sofort zu zählen, man zählt erst langsamer ohne die super schnelle Musik. Wenn man die Bewegung als solche integriert hat, dann tanzt man sie mit Musik in der originalen Geschwindigkeit.
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GK: Wie hast Du Dich mit der Musik vertraut gemacht? GB: Ich habe die Musik immer wieder gehört und gezählt und gezählt. Man muss sie auswendig kennen. Es ist heute noch so, wenn ich diese Musik höre, dann zähle ich sofort mit und ich weiß: Ah Vorsicht! Wenn die Phrasierung vorbei ist, dann kommt ein Siebener dazwischen und dann geht es wieder weiter. In Paris habe ich das Stück zum ersten Mal getanzt und ich erinnere mich, dass ich in der Nacht vorher im Hotelzimmer lag mit einem Walkman und Rhythmen gezählt habe. GK: Kennst Du verschiedene musikalische Einspielungen von Sacre? GB: Ja, aber wenn ich eine andere Version höre, die andere Akzente betont, die langsamer oder schneller ist, merke ich, dass ich mit der Version, die Pina benutzt hat, sehr verhaftet bin, obwohl ich gestehen muss, dass ich gar nicht weiß, welche sie benutzt hat. GK: Welche Bewegungsqualitäten dominieren in Sacre? GB: ‚Stoß‘ ist z.B. eine Qualität, die häufig vorkommt. Das geht direkt zurück auf Labans Antriebsaktionen: Schnell, kraftvoll und zentral, das ist ein Stoß. Ich finde auch, peitschende Bewegungen werden in diesem Stück oft benutzt, gerade durch die vielen Körperwellen, die von zentral nach peripher laufen und wieder zum Zentrum zurückkommen. Auch pulsierende Bewegungen, die oft wiederholt werden, sind prägnante Mittel dieses Stückes, die etwas Rituelles und Unausweichliches vermitteln. GK: Du hast zunächst das Schrittmaterial gelernt. Wie stellt sich eine inhaltliche und emotionale Nähe zu dem Stück her? GB: Das fand ich besonders verblüffend während der Konferenz. Tanzwissenschaftler analysierten und interpretierten Sacre auf unterschiedliche Art und Weise. Ich stellte fest, dass ich den umgedrehten Weg gegangen bin. Pina hatte dieses Stück gemacht, sie hat zu einer musikalischen Vorlage Bewegungsformen gefunden. Mein Weg war nicht so sehr, dies erklärt zu bekommen, sondern das Bewegungsvokabular zu lernen. Und dabei ist mir das Stück nahe gekommen. Ich fand es total faszinierend, in welcher Präzision sie es geschafft hat, für Emotionen und Befindlichkeiten Bewegungsideen zu finden und diese in so passende Formen zu übersetzen, dass ich als Tänzerin genau diese Emotionen erlebe und durchlebe, wenn ich diese Formen tanze. GK: Kannst Du dies an einem Beispiel konkreter machen? GB: Wenn ich zum Beispiel eine Bewegung tanze, die zentral ist, nach innen geht und die einen Akzent hat, werde ich nach und nach eine selbstzerstörerische Kraft in mir spüren. Und nicht weil ich mir vornehme: „So, jetzt will ich zeigen, dass ich mich selbst zerstöre“, sondern weil ich die entsprechenden Bewegungen mache, komme ich in den Zustand,
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den sie ausdrücken sollen. Das hat Sacre eingelöst und darin ist Pina Meisterin. Dieses Stück ist dafür ein tolles Beispiel. Gibt es noch andere Beispiele, wo Du glaubst, einen umgekehrten Weg gegangen zu sein? Ja, zum Beispiel bei dem Thema „Individuum und Gesellschaft“, das ja auch bei den Referenten eine große Rolle spielte. Gerade diese Fragen: „Wer bin ich, wo ist mein Platz, wo gehöre ich hin?“ werden im Stück von ganz allein beantwortet durch die Art und Weise, wie es aufgebaut ist. Es wechseln ja Gruppenszenen immer mit Unisono-Tänzen und Einzelaktionen ab. Das heißt, ich habe einerseits sofort eine Verbundenheit mit der gesamten Gruppe, weil wir zur selben Zeit dasselbe tanzen und andererseits gibt es Szenen, wo jeder allein kreuz und quer durch den Raum rennt und seinen Platz sucht. Als Tänzerin musste ich, auch aus rein technischen Gründen, diesen Suchprozess machen, der von: „Wo ist mein Platz in dieser Gruppe, wo gehöre ich hin, wie gliedere ich mich ein?“ bis zu „Wo ist meine Freiheit, was entscheide ich selbst?“ reichte. Es gibt auch Sequenzen, wo zum Beispiel nur das Bewegungsmotiv festgelegt ist, aber nicht festgelegt wird, wer, wann, wo dieses Motiv tanzt. Aufgrund dieser Struktur habe ich noch mal erlebt, dass ich eine gewisse Freiheit als Individuum habe, aber auch Zwänge und Pflichten, in die ich mich immer wieder einordnen muss. Norbert Servos hat einmal geschrieben, dass die Arbeit von Pina Bausch ein Forschungsunternehmen über die menschliche Sehnsucht sei. Hast Du das auch bei Sacre erlebt? In diesem Stück ist eine große Palette von Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten vorhanden. In ihm steckt auch eine große Suche. Es gibt zärtliche Passagen, wo man Kontakt, Verbundenheit, Sinnlichkeit sucht und es gibt Passagen, wo jeder ums Überleben kämpft. Eine zentrale Passage ist die, wo es darum geht, wer das potentielle Opfer ist. Ich erlebte das einerseits als eine Sehnsucht, mich für ein Ganzes aufzugeben und gleichzeitig erlebte ich die Angst, die Auserwählte sein zu können und die Verantwortung und Konsequenzen dafür zu übernehmen. Das ist für mich auch ein Forschungsprozess von ‚Mensch sein‘. Das sind ja ganz tiefe, essentielle Erlebnisse. Habt Ihr Euch damals mit der Geschichte der Musik und der Choreografie von Sacre beschäftigt? Es wurde bei den Proben darüber gesprochen, weil dieses Wissen auch ein Stück dazu beiträgt, dass man weiß, was man tut und warum man es tut. Aber etwas darüber zu lesen oder sich anderweitig zu informieren, ist letztendlich jedem Tänzer überlassen. Ich habe etwas recherchiert und im Laufe der Jahre habe ich auch verschiedene Sacre-Versionen gesehen. Zu dieser Art von Vorbereitung hat man mit der Kompanie bei
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einer Wiederaufnahme keine Zeit. Aber es geht auch nicht nur um reine Technik. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Generalprobe im Théâtre de la Ville in Paris, wo ich auf einmal per Zufall ganz vorn stand und eine Bewegung machte, ganz weit nach außen geschaut und meinen Körper nach außen gewendet habe in die Weite des Zuschauerraumes hinein. Da kam Pina und sagte, sie verstehe das nicht, sie fände das nicht stimmig, weil das ein Moment sei, bei dem man ganz bei sich ist, ganz nach innen gekehrt. Und das würde nicht zusammenpassen mit einem Blick, der so nach außen geht. Sie hatte natürlich völlig Recht. Das war mir in dem Moment nicht bewusst, ich war nach vorne und auf Präsenz ausgerichtet, aber das hat in dem Moment thematisch nicht gepasst. Insofern geht es auch um eine inhaltliche Recherche, so dass der Tänzer als Interpret auch weiß, warum er was tut. Wie würdest Du das Körper- und Bewegungskonzept von Sacre beschreiben? Es fußt sicherlich auf der Bewegungsanalyse von Laban und auf dem Bewegungsvokabular, das sich Pina nach und nach erarbeitet hat. Sehr viel von diesem spezifischen ‚Pina-Vokabular‘ ist in Sacre angelegt. Zum Beispiel die Spannung zwischen peripherer und zentraler Bewegung, das ist etwas, was sehr typisch ist. Eindeutig periphere Bewegungen gibt es ja kaum in diesem ganzen Stück, selbst in dem Unisono der Frauen, wenn die Arme ein riesigen Kreis machen, fließt die Energie nicht frei durch die Finger nach außen, sondern sie geht nur bis zu den Handgelenken und kommt wieder ins Innere zurück. Dies sind ganz spezifische Details, die zeigen, wie klar und differenziert Pina das Spannungsverhältnis zwischen zentral und peripher einsetzt. In den ersten zehn Minuten ist das Zentrum der Bühne quasi unterbesetzt... Ich glaube, das Zentrum wird solange nicht besetzt, wie nicht klar ist, wer das Opfer ist. Für mich ist das Stück so aufgebaut, dass die Fokussierung auf das Wesentliche sich auch räumlich darstellt und diese kann erst eingenommen werden, wenn die Opferrolle – und das ist eigentlich das Zentrale des ganzen Stückes – geklärt ist. Der Boden, die Erde, das Geerdet-Sein, spielt in dem Stück eine große Rolle... Ja, der Kontakt zum Boden, das Einwurzeln in die Erde, ist etwas sehr Charakteristisches. Das bezieht sich für mich auch auf eine symbolische Ebene: Ich muss mich mit meiner Erde, meinen Wurzeln im Sinne meiner Herkunft verbinden. Aber auch die Dreidimensionalität der Bewegungen, das Plastische der Bewegungsformen ist ganz typisch für das Tanztheater von Pina Bausch, aber auch von Susanne Linke. Oder auch, dass oft der Kontakt zum eigenen Körper hergestellt wird, dass ich
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ganz viel an meinem eigenen Körper entlang streiche, den eigenen Körper berühre, was etwas sehr Sinnliches und konkret Physisches hat. Gibt es Deiner Ansicht nach auch geschlechterdifferenzierte Bewegungsidentitäten in dem Stück? Ich finde schon. Die eher maskuline Bewegungssprache ist gradliniger, hat andere Akzente, mehr Sprünge zum Beispiel. Das Bewegungsvokabular der Frauen ist viel weicher, spiralförmiger, runder, hat mehr Eigenkontakt des Körpers, so dass sich hier eine sinnliche, weibliche Note ausdrückt. Gibt es zentrale Körperpartien? Der untere Bauch, der Solarplexus und das Brustbein sind sehr wesentlich. Das zeigt sich gerade beim Opfer, wenn es sich zu Tode tanzt. Ganz viele Bewegungen werden aus dem Becken heraus initiiert und es geht auch sehr viel um die Öffnung des Brustbeines und die Verbindung zum Becken. Besonders prägnant ist auch die Bewegung der Hände und Arme zwischen den Beinen. Welches Thema hat Dich beim Tanzen immer wieder beschäftigt? Das Ritual. Dieses Stück war für mich immer etwas Rituelles. Ich hatte immer das Gefühl, dass mit mir etwas ganz Urwüchsiges passiert, wenn ich dieses Stück tanze. Es entstand ein Gefühl von Unausweichlichkeit. Ein Gefühl, dass wir das, was wir hier tun und was mit uns passiert, nicht mitbestimmen können und ich mich dem auch nicht entziehen kann. Wie hast Du Sacre erlebt, als Du es getanzt hast. Als Inszenierung, als Realität, als Ritual, als Theater? Während der Konferenz ging es ja viel um die Frage, ob ein Ritual auf der Bühne noch ein Ritual ist, ob man ein Ritual inszenieren kann. Mir wurde bei dieser Diskussion bewusst, dass ich, als ich das Stück getanzt habe, diesen Unterschied überhaupt nicht gemacht habe. Für mich war es Realität: Da tanzt sich jemand zu Tode. Die Tänzerin, die das Opfer ist, die tut ja nicht so, als wäre sie nach und nach müde, sondern die kann tatsächlich fast nicht mehr am Ende des Stückes, das ist real. Marta Savigliano fragte in ihrem Vortrag immer wieder, warum jemand geopfert werden muss. Als ich in dem Halbkreis stand und dem Opfer zugeguckt habe, da wurde ich zu einer Zeugin und habe mich gefragt: „Aber warum? Warum muss sie das machen? Warum muss sie so leiden? Warum muss sie sich so quälen, warum muss sie so kämpfen?“ Es gab für mich keine Distanz. Es war real und keine Inszenierung. Und deswegen habe ich mich auch fast geschämt, als die Zuschauer uns dann beklatscht haben, weil in diesem Moment diese Differenz noch mal so deutlich wurde. Wie? Sie klatschen. Wir haben doch gerade einem Tod
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zugeschaut. Das erschien mir völlig absurd, weil ich noch ganz in dem emotionalen Erleben steckte. Ist Sacre, auch vor dem Hintergrund aller Choreografien, die Du jemals getanzt hast, besonders darin, emotionales Erleben zu provozieren? Ja. Weil es so extrem, so kompromisslos ist und auch das meine ich wieder ganz konkret in meiner Erfahrung als Tänzerin. Ich war damals erst seit drei Jahren professionelle Tänzerin, also noch am Anfang meiner Tänzerkarriere und es war für mich eine riesige technische Herausforderung, das Stück überhaupt zu schaffen, weil es unglaublich schnell ist. Es kommen viele komplexe Bewegungen in kurzer Zeit hintereinander kommen und dies zu einer sehr schwierig zu zählenden Musik. Dabei darf man ja nicht vergessen, dass wir nicht auf einem normalen Tanzteppich tanzen, sondern auf Torf. Das ist eine zusätzliche Herausforderung, die sehr enorm ist. Dieser Torf hat eine symbolische Kraft, aber für mich als Tänzerin war es mehr. Es war konkret, es bedeutete, dass ich viel Kraft aufwenden muss, um mich zu zentrieren und mich zu erden, sonst kann ich das Material gar nicht tanzen. Du hast das Stück vor kurzem noch einmal gesehen. Du warst auf der Konferenz, auf der dieses Stück intensiv diskutiert wurde. Seitdem Du es getanzt hast, sind zwanzig Jahre vergangen. Wie siehst Du heute das Stück? Ist es ein historisches Stück in der Werkgeschichte von Pina Bausch oder kann es immer noch Aktualität beanspruchen? Es hat heute immer noch Bestand. Es hat immer noch dieselbe Stärke. Es übt immer noch dieselbe Kraft und Faszination auf mich aus. Sacre ist schon überall auf der Welt gespielt worden. Und überall erreicht es die Zuschauer. Wieso? Weil es um essentielle Themen geht, nämlich um Tod, Liebe, Unausweichlichkeit und das sind Themen, die den Menschen immer wieder berühren und weil das Stück so kompromisslos inszeniert ist und dadurch immer wieder in den Menschen ankommt. Andere Kulturen aber haben ein anderes Zeichensystem zum Beispiel für Liebe oder sie pflegen einen anderen Umgang mit Tod. Das heißt, es gibt kulturell übergreifende essentielle Themen der Menschheit, sie werden aber verschieden kontextualisiert und praktiziert und sind dadurch auch anders. Dieses Stück hat eine spezifische kulturelle und choreografische Handschrift und trotzdem ergreift es überall auf der Welt die Menschen. Ja, weil es genial gemacht ist.
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Produktion und Übersetzung
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Pina Bausc hs Das Frühlingsopfer. Signatur – Übe rtra gung – Kontext
Pina Bauschs Das Frühlingsopfer ist ohne Zweifel ein Signaturstück der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts. Und das in zweifacher Hinsicht. Zum einen markiert Bauschs Choreografie in der langen Geschichte der Versionen von Le Sacre du Printemps eine tänzerische Gestaltung dieses Themas, die ebenso einflussreich wurde wie jene (als Original-Choreografie verlorene) Uraufführung von Nijinsky. Beide Sacre-Choreografien zählen zum Kanon der großen Tanzwerke des 20. Jahrhunderts – und beide haben, auf sehr unterschiedliche Weise, einen großen Nachhall im Diskurs um die Umbrüche und Paradigmenwechsel in der Ästhetik des Tanzes. Zum anderen ist Bauschs Frühlingsopfer auch in der Geschichte ihres eigenen Œuvres zu einem Signaturstück geworden. Pina Bauschs Aussage, dass Das Frühlingsopfer das einzige ihrer Stücke sei (neben den Sieben Todsünden), das sie zu einer original für ein Ballett geschriebenen Musik choreografiert habe, sowie der in der Tanzkritik des Öfteren zu findende Hinweis, dass Sacre das letzte der Bausch-Stücke sei, das sie (auf eine einzige Musik) durch-choreografiert habe, weisen auf die besondere Stellung von Sacre im Werk Bauschs hin: ein Wendepunkt zum Beginn dessen, was als charakteristische, montagehafte Darstellungsweise des Wuppertaler Tanztheaters berühmt wurde. Im Rückblick, 40 Jahre nach der Uraufführung, stellen sich neue Fragen; und alte Fragen verlangen neue Suchbewegungen und andere Antworten. Worin besteht diese ‚Signatur’? Wie verändert sie sich im Kontext einer seit Pina Bauschs Tod neu einsetzenden Diskursgeschichte und ArchivSituation? Welche neuen Quellen und Dokumente verändern die Perspektive?
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Und welche Übertragungen – ein körperliches „Durcharbeiten“ (im Sinne Sigmund Freuds) und „Umbesetzen“ (im Sinne Hans Blumenbergs) – finden statt in einer rückblickenden Lesart? Signatur, Übertragung und Kontexte von Bauschs Sacre sollen im folgenden unter Bezugnahme auf Jacques Derridas Text Signatur, Ereignis, Kontext1 betrachtet werden. Quellen und Inszenierungen, auf die sich die folgenden Analysen und Lesarten beziehen, sind die Probe Sacre2, die Pina Bausch mit Kyomi Ichida 1987 durchführte. Es handelt sich um die Aufzeichnung einer Umbesetzungsprobe, in der Pina Bausch mit der Tänzerin Kyomi Ichida die Choreografie des Opfers durchgeht. In einem zweiten Schritt soll die Wiederaufführung des dreiteiligen Abends Frühlingsopfer (1975) von Pina Bausch in Wuppertal am 23. November 2013 und damit der Aufführungskontext von Bauschs Choreografie von Sacre betrachtet werden.3 In dem genannten Text fragt Derrida nach dem Verhältnis von Kommunikation und Schrift, von Ereignis, Sprechakt und Kontext; und er erläutert zuletzt seine Theorie der Schrift, des Schrift-Zugs und der iterativen Bewegung der Zeichen zwischen Anwesenheit und Abwesenheit am Beispiel eines Sonderfalls der Schrift: dem Schrift-Zug der Signatur. Kommt, so fragt Derrida, die „absolute Einmaligkeit eines Unterzeichnungsereignisses jemals vor? Gibt es Signaturen?“4 Ja, denn diese Akte sind jeweils einmalig, als Ereignis: Die „rätselhafte Originalität aller Namenszüge“ liegt in jenem performativen Akt – in jenem Bewegungsereignis, das der „aktuellen Punktualität der Unterschriftenform“5 eingeschrieben ist. Andererseits bewahrt die Unterschrift, da die „schriftliche Unterzeichnung per definitionem die ‚NichtAnwesenheit’ des Unterzeichners“6 impliziere, das „Anwesendgewesen-Sein des Unterzeichners“7. Wiedererkennbarkeit, Gültigkeit, Kommunizierbarkeit der Signatur sind nur garantiert durch eine „wiederholbare, iterierbare, nachahmbare Form.“8 Die Zeichnung der Signatur „muss sich von der gegenwärtigen und einmaligen Intention ihrer Produktion lösen können.“9 Pina Bausch hat wiederholt betont, dass sie alle ihre Stücke mit ihrem eigenen 1 2 3
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Vgl. Jacques Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, in Peter Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie, 2. Auflage, Wien: Passagen 1999, S. 325-352. Vgl. die Probendokumentation Pina Bausch: Probe Sacre, DVD und Buch, Paris: L´Arche Éditeur 2013. Ich habe den dreiteiligen Abend in dieser Rekonstruktion in Wuppertal am 23.11.2013 gesehen: Frühlingsopfer. Dreiteiliger Tanzabend von Pina Bausch. Wind von West/Der zweite Frühling/Das Frühlingsopfer, Musik von Igor Strawinsky, Uraufführung 3. Dezember 1975, Opernhaus Wuppertal. Jacques Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 349. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
SIGNATUR – ÜBERTRAGUNG – KONTEXT
Körper und für diesen entworfen, „gezeichnet“ habe. Dies hat sie insbesondere für Le Sacre du Printemps hervorgehoben: „Später, in Wuppertal, dachte ich natürlich, dass ich in ‚Sacre’ das Opfer [...] selber tanzen würde. Diese Rollen waren alle mit meinem Körper geschrieben.“10 An diesem Punkt der Generierung von Sacre möchten die folgenden Überlegungen ansetzen; und immer wieder darauf zurückkommen: Was bedeutet es, wie zeigt es sich, dass Le Sacre du Printemps die Signatur der Choreografin und Tänzerin trägt? Und zugleich: dass diese Spur der Signatur wiederholbar, übertragbar – und damit transformierbar – wird durch andere Körper, durch die Akte der Übertragung selbst, und durch die wechselnden Kontexte, die die Aufführungen und Diskurse neu beleuchten. Die Ablösung der ‚Signatur’ vom Körper der Choreografin beginnt sozusagen von Beginn an; vom Anfang der Arbeiten zum Frühlingsopfer – denn jene Bewegungen, die Bausch sich selbst auf den Leib geschrieben, mit ihrem Körper geschrieben hatte, wurden auf andere Tänzer übertragen: „Aber die Verantwortung als Choreograph hat immer wieder den Drang zu tanzen aufgeschoben. So ist es einfach gekommen, dass ich eigentlich meine Liebe, die ich in mir habe, diesen großen Wunsch, an andere weitergegeben habe.“11 Wie lässt sich die Spezifik der Choreografie von Bauschs Le Sacre du Printemps als Signatur lesen? Als ihre ‚Handschrift’ im Sinne eines Tanzund Choreografie-Stils: der wieder-erkennbar, lesbar, übertragbar ist? Und in welcher Weise zeigt sich dabei – und im Prozess der Geschichte von Bauschs Sacre – eben jener zwiespältige Zug der ‚Signatur’, der Konflikt von Identität, Einmaligkeit, Ereignishaftigkeit mit den Bedingungen der Wiederholbarkeit, der Iteration und der (Un-)Übertragbarkeit der Bewegung? Wie schließlich entstehen aus diesen Interferenzen jene Prozesse eines (neuen) Kontextes, der – mit den Worten Derridas „strukturell ungesättigt“ – die „supplementären Effekte“12 dieses Signierens aufweist: einerseits die Anstrengungen, um Dokumentationen und Archiv dieses ‚Signatur’-Werkes (wie auch des Gesamt-Œuvres) von Pina Bausch zu erstellen. Und andererseits die individuellen Erzählungen, Zeugen-Berichte und Tanz-Übertragungs-Weisen, die den Mythos der ‚Stimme’ der Choreografin zu bewahren suchen: ihren Atem! Beispielsweise im Wiederbeleben der Bewegungen, in den Übertragungen aus dem Körperwissen: Ein „Einatmen in das tote Stück“, und das Spüren, wann „Es“ stimmt.13 10 Pina Bausch: Etwas finden, was keiner Frage bedarf. The 2007 Kyoto Prize Workshop in Arts and Philosophy, Inamori Foundation, 12.11.2007, S. 11. 11 Ebd. 12 Jacques Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 327. 13 Vgl. die Aussagen von Jo-Ann Endicott während des Podiumgesprächs, Wuppertal, 23.11.2013, anlässlich der Aufführung von Frühlingsopfer. Dreiteiliger Tanzabend. Wind von West/Der zweite Frühling/Das Fühlingsopfer (Rekonstruktion); Vgl. FN 3.
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Probe Sacre Neue Quellen verändern das Wissen über Pina Bausch und die Geschichte des Tanztheaters. So z.B. der Video-Mitschnitt einer Probe zu Le Sacre du Printemps, der in Auszügen seit 2013 als DVD und Buch editiert ist.14 Während der Außendreharbeiten zu ihrem Film Die Klage der Kaiserin, 1987, studiert Pina Bausch die Rolle des ‚Opfers’ in Le Sacre du Printemps mit der Tänzerin Kyomi Ichida ein. Die Tänzerin ist in Trainingskleidung. Pina Bausch in weiter Hose, die in hohen und schweren grünen Gummistiefeln steckt; lockerer brauner Pulli mit V-Ausschnitt und auf dem Kopf eine beige Autorennfahrer- oder Pilotenmütze, die wie eine Kappe anliegt, mit tiefen, lose flatternden Ohrenklappen. Die Kleidung ist in diesem Zusammenhang aus zwei Gründen wichtig: Zum einen verweist sie auf den FilmKontext, parallel zur Sacre-Probe, und zum anderen auf Pina Bauschs Interesse am Spiel mit Kleidung und auf Bauschs intensive Zusammenarbeit mit der Kostümbildnerin Marion Cito. Grundsätzlich ist der Zusammenhang von Kleidung und Bewegung im Tanz ein zentrales Element für Bauschs Choreografie und im besonderen auch für Sacre. Beim Beobachten des Probenverlaufs fällt jedenfalls auf, dass eben jene Teile von Bauschs Kleidung, die wenig ‚geeignet’ für komplexe Tanzbewegungen scheinen, überhaupt nicht stören oder irritieren. Bausch zeigt Ichida alle Bewegungen, auch differenzierte Fußarbeit, in Gummistiefeln – Pliés, Gewichtsverlagerungen, halbe Spitze, Ansätze von Sprüngen und rond de jambes – ohne dass das Schuhwerk die Präzision und Qualität der Bewegung im Detail vermindert. Die folgenden Beobachtungen sollen Ausschnitte aus dieser Probe der ‚Danse sacrale’ herausgreifen und damit den choreografischen Verlauf, die Bewegungsdynamik und die Affektstruktur des ‚Opfertanzes’ in Bauschs Le Sacre du Printemps wie mit einer Hintergrund-Folie nachzeichnen. Es wird damit möglich, zwei unterschiedliche Perspektiven auf Pina Bauschs Sacre miteinander in Beziehung zu setzen: einen tanzanalytischen Blick auf Verfahren des Probens und Prozesse der Verkörperung; und, überlieferungsbezogen, geht es um Fragen des ‚Edierens’, d.h. um eine medientechnische und sprachorientierte Seite der Poetik von Bauschs Sacre. Ein Blick auf die Texte, die der Veröffentlichung des Probenvideos mitgegeben sind, gibt der Leserin eine kurze Einführung in den Kontext der Aufnahmen von 1987 – und einen interpretierenden Essay von Norbert Servos. Vor allem aber enthält das Booklet eine Transkription des mündlichen Dialogs zwischen Pina Bausch und Kyomi Ichida. Hier ein Auszug:15 14 Vgl. FN 2. 15 Vgl. Pina Bausch/Kyomi Ichida: Dialog während einer Probe von ‚Le Sacre du Printemps’, in: Pina Bausch: Probe Sacre, S. 30-44. Dieser Dialog ist im Booklet auch in französischer und englischer Sprache übersetzt.
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Pina Bausch Das erste ... und irgendwo, wenn du das gemacht hast, ne, das das das ... wie du wegläufst, das muss mehr, mehr vom Gefühl her ... irgendwo dieses Entsetzen irgendwie, also dieses ... das ist zu sehr ... ja, weißt du? Kyomi Ichida Ja. Pina Bausch Und dann hast du hier vielleicht einen Hauch zu früh angefangen. Diese Bewegung ... dann ist sie räumlich so weit weg, ich weiß auch nicht genau, weißt du was ich meine? Hans Pop Ja, ja klar. Pina Bausch Diese hier, also das ... das ist vielmehr irgendwas auf’m ... Kyomi Ichida Ach so.16
Dies ist der Beginn des transkribierten Dialogs; das Ende dieses Probenausschnitts schließt mit den Worten: Pina Bausch Nee, da ist, da ist ne Pause. Drehen, drehen, ach so, ich ... das, das, das, das, das, das ... Pause. Da ist ne Pause. And then nothing.17
Ein Leser dieses Dialogs wird sich vielleicht fragen, welche ‚Textsorte’ er hier vor sich hat. Welches Gespräch findet hier statt? Die Syntax ist aufgelöst, Sätze sind begonnen, mit Lücken und neuen Wendungen geöffnet, unvollständig – oder mit einer Frageformel beendet („weißt du?“), die mit „Ja“, und „Ja, ja klar“ beantwortet wird – ohne, dass der Leser aus dem Gesagten deutliche Informationen entnehmen könnte, was hier bestätigt wird. Ganz offensichtlich gibt die Transkription die Kommunikation zwischen Gesprächspartnern wieder, deren Dialog noch andere – performative – Dimensionen besitzt als jene, die in schriftlicher Form übertragen sind. Selbstverständlich, so wird jeder Tanzkundige und jeder Betrachter des Probenvideos einwenden, ist dieser Text ja ‚nur’ um der besseren (akustischen) Verständlichkeit willen im Booklet gedruckt; und natürlich ist er hauptsächlich die andere Seite, die ‚andere’, die verbale Begleitung des gesamten Bewegungs-Kommunikations-Verlaufs der Probe – zwischen körperlichem Zeigen, körperlichen Übertragungen, Nachahmen, Wiederholen, Korrigieren und Durcharbeiten der Bewegungen. Gewiss, in solchen oder ähnlichen Prozessen verläuft die Praxis des Erlernens, Übertragens, Probens einer Choreografie. Ist es dann aber nicht zugleich überraschend, dass die Bewegungsanweisung in ihrer sprachlichen Form über weite Strecken scheinbar eher unspezifisch bleibt? – von wenigen Termini aus dem Tanzvokabular, z.B. ‚port de bras’, oder ‚contraction’, abgesehen. Könnte man den hier zitierten 16 Ebd., S. 31. 17 Ebd., S. 44.
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Dialog-Text nicht – sozusagen probeweise – mit anderen Augen lesen? Nicht bloß als Begleitung der ‚eigentlichen’, nämlich der körperlich-tänzerischen Bewegungsübertragung, sondern als ein sprachliches Ereignis sui generis? So betrachtet gebärdet sich der Text wie ein Dada-Gedicht oder wie eine Sequenz aus einem Stück von Samuel Beckett. Das zitierte Sprachgebilde entfaltet – in sich selbst – eine eigene Poetik. Der Wechsel von deiktischen und verweisenden Satzfragmenten („wie du wegläufst, das muss mehr, mehr...“), von Pausen und wiederholenden kumulierenden Elementen (“ne, das, das, das...“) entfaltet eine eigene Rhythmik. Die unabgeschlossene Syntax, fehlende Verben und Lücken, entlässt die (Sprach-)Bewegung ins Offene. Und die häufigen unbestimmten Adverbia, die wie Interjektionen gebraucht sind („irgendwo, irgendwie, irgendwas“), zeigen, dass nicht die Semantik, nicht das Bedeuten und (sprachliche) Fixieren im Vordergrund steht, sondern dass vielmehr (sprachlich und körperlich) Such-Formeln eingesetzt werden als Platzhalter für eine Bewegung/Bewegtheit, deren unfassbare Dynamik über die Grenzen der verbalen Sprache geht. Der Todestanz, die rettungslose Selbst-Opferung der ‚Erwählten’. In der Text-Form, im Dialog zwischen Bausch und Ichida, finden sich für die extreme Affekt-Situation des Tanzes des Opfers nur zwei, eher zurückhaltend gesprochene Index-Worte: „irgendwo dieses Entsetzen irgendwie“18 und „And then nothing“19. Von Pina Bausch ist (in unterschiedlichen Interview-Situationen) überliefert, dass sie in dem, was sie sagen wollte, der gesprochenen Sprache ungern vertraute. So schreibt Wim Wenders in seiner Rede zur Trauerfeier, Für Pina am 4.9.0920, dass ihr des Öfteren „die Worte fehlten“21. Es „war einfach nicht zu übersehen, wie wenig Pina der Sprache vertraut hat, und wie sie sich manchmal gewunden und gequält hat, um etwas zu sagen, was eigentlich einfach war, aber eben doch nicht.“22 Bausch sagte von sich selbst Ähnliches – freilich mit einer anderen Gewichtung: „Bestimmte Dinge kann man mit Worten sagen und andere mit Bewegungen“, äußert sie in ihrer Rede zur Verleihung des ‚Kyoto-Preises’ 200723. Diese Differenz von Worten und Bewegungen wird für Bausch genau in jenem Moment ‚sprechend’, in dem das Sagen und Zeigen stocken: „Aber dann gibt es Momente, wo man ganz sprachlos ist, ganz ratlos und hilflos, wo man nicht mehr weiter weiß. Da fängt dann etwas an. Es geht darum, eine Sprache
18 Ebd., S. 31. 19 Ebd., S. 44. 20 Vgl. Wim Wenders: Rede für Pina am 4.9.2009, unter http/www.pinabausch.de/pina_bausch/rede_fuer_pina_040909.html.php vom 11.12.14 , S. 1-5. 21 Ebd., S. 2. 22 Ebd., S. 1. 23 Pina Bausch: Etwas finden, was keiner Frage bedarf, S. 1.
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zu finden – mit Worten, mit Bildern, Bewegungen, Stimmungen – die etwas von dem ahnbar machen, was immer schon da ist.“24
Die Momente der Sprachlosigkeit – in Situationen, in denen das vertraute Vokabular nicht verfügbar ist – enthalten, folgt man Bauschs Kyoto-PreisRede, sowohl in der verbalen als auch in der tänzerischen ‚Sprache’ das Potential für das (Er-)Finden einer anderen, einer „genaueren Sprache“25, die „das präzise Wissen, das wir alle haben, [...] ahnbar machen kann.“26 Es sind jene Lücken, Pausen, die Stockungen im Erinnern und die Brüche im Gekonnten, die – möglicherweise – das kreative Finden einer anderen Sprach-Weise erst eröffnen: „Etwas finden, was keiner Frage bedarf.“27 Pina Bauschs Findekunst, in der gemeinsamen Arbeit mit den Tänzern (seit ihrem ‚Macbeth’-Stück Er nimmt sie an der Hand und führt sie ins Schloss, die anderen folgen, 1978) entwickelte sich seit 1978 aus immer wieder neuen Situationen des Fragens. Eine offene Arbeitsweise, die dennoch sehr präzise ist: ein Herantasten an Themen, die nicht auf direktem, ‚geraden’ Weg zugänglich sind: „Deshalb kann man auch nie ganz direkt fragen. Das wäre zu plump und die Antworten wären zu banal.“28 Raimund Hoghe, langjähriger Dramaturg bei Pina Bausch, hat ein Kompendium dieser Frage-Szenarien dokumentiert.29 Diese Geflechte von Fragen – zu Lebensgeschichten, Gefühlen, Bewegungserfahrungen, zu Gesten, Sehnsüchten, Träumen und Alltagsbeobachtungen – orientieren sich immer am Persönlichen, am Privaten, mit allen Brüchen, Hemmungen, Fehlversuchen – im Tasten, auf Umwegen nach einer allgemeinen, sozialen Wirklichkeit, die neben der Spur von vorgefertigten Antworten sichtbar zu werden vermag. Dies sei der Grund, so Bausch, weshalb sie das, was sie sucht, „mit den Worten in Ruhe lassen“ will, um es „mit viel Geduld zum Vorschein“30 zu bringen. Eine umfassende und genaue, auch sprachliche Analyse dieses Verfahrens von Pina Bausch, in der Erarbeitung der Stücke mit den Tänzern, steht bislang noch aus. Die Probe von 1987 zum Solo des Opfertanzes in Sacre erscheint vor diesem Hintergrund als ein Prozess, in dem eben jene Doppel-Spur der Sprachen – der verbalen und der tanz-körperlichen – gleichermaßen als offene Behälter/Medien in der gemeinsamen Suche nach einer präzisen Übertragung, einer Suche nach Wirklichkeit, eingesetzt sind. 24 25 26 27 28 29
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Raimund Hoghe: Pina Bausch. Tanztheatergeschichten. Mit Fotos von Uli Weiss, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. 30 Pina Bausch: Etwas finden, was keiner Frage bedarf, S. 11.
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Überlegungen zu Bauschs spezifischer Synchronisation beider SprachFormen – Reden und Körper-Bewegung – in der Sacre-Probe sollen im Folgenden als Modell „dichter Beschreibung“31 dienen. Der Analyse-Fokus liegt dabei, nach einem ersten allgemeinen Überblick zum Probenverlauf, auf drei zentralen Darstellungsdimensionen, die charakteristisch sind für Bauschs Le Sacre du Printemps: • die Darstellungs-Relevanz von Körperkurven: von ‚curves’, und Beugen des Rumpfes; • der rhythmische und energetische Einsatz des Atems; • die Arbeit mit Blicken, Blickweisen in der Organisation von Raum und Interaktionen. Die besondere, ja einmalige Situation, die durch das Probenvideo zu Sacre dokumentiert ist, zeigt sich in der Art und Weise, in der Pina Bausch das Tanz-Solo des ‚Opfers’ in der Erarbeitung mit Kyomi Ichida zugleich erinnert, verkörpert und weitergibt. Bauschs Arbeit mit Ichida lässt erkennen, dass sie diesen Part, wie wohl jede choreografische Einheit und tänzerische Gebärde im gesamten Stück, aus ihrer eigenen Bewegungs-Erfindung heraus vollkommen präsent hat; dass sie jede Bewegung, jeden rhythmischen Impuls höchst präzise körperlich vergegenwärtigt. Und damit wird zugleich evident, dass jede Eigentümlichkeit von Gesten und Raum-Konfigurationen sowie die Qualität und die Ausrichtung der Bewegungen mit Bauschs eigener Geschichte als Tänzerin eng zusammengehören. Tatsächlich erwähnt Bausch im Rückblick auf ihre Kreation von Das Frühlingsopfer (1975), dass sie während der Choreografie des Stücks davon ausging, dass sie selbst das Solo tanzen würde. Es sei eine „Rolle“, die mit ihrem „Körper geschrieben“32 sei. Dies wird deutlich in der Bewegungsarbeit mit Ichida: in den genauesten Details der Abläufe und rhythmischen Akzente, der Gewichtsverlagerungen und der Raum-greifenden Ausführung – und der oft bis zur Erschöpfung Ichidas getriebenen Wiederholungen: so lange bis „es“ stimmt.33 In dem Wechsel zwischen Zeigen, Beobachten, Präzisieren in der Wiederholung wird deutlich, wie sehr Bausch selbst diese Bewegungsgestalt der Rolle ‚verkörpert’ und aus der eigenen Bewegungs- und Körper-Tanzgeschichte entwickelt hat. Das wenig ‚spezifische’ sprachliche Vokabular wird höchst genau durch Bauschs Bewegung-Zeigen ergänzt: Und in der Beobachtung von Bausch und Ichida, 31 Im Sinne von Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. 32 Vgl. Pina Bausch: Etwas finden, was keiner Frage bedarf, S. 11. 33 Vgl. Pina Bausch: Probe Sacre, z.B. die Passage in der Transkription, S. 40ff – von „Akzent“ (S. 40) über die Wiederholungen der „curves“ (S. 35 und 42), bis zum „Klatschen der Arme“ (S. 43).
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die nebeneinander die gleichen Bewegungsfolgen ausführen, wird deutlich, wie beispielsweise Bauschs Ausführung der Schwungbewegungen und der Entwicklung des Port de bras aus dem Rücken, über die Schulter und Führung der Ellenbogen in die Handgelenke nach vorne, einen anderen Ansatz aufweist als dieselbe durch Ichida ausgeführte Bewegung. Bauschs langer Torso, die langgliedrigen Arm- und Beinbewegungen, die aus der Körpermitte mobilisiert werden, lassen erkennen, dass und wie die Differenz von Körpern, Körperkulturen und Trainingsgeschichte auch und gerade in diesen minutiösen Detailarbeiten der Übertragung die Gestaltung und Formgebung der Choreografie beeinflussen. Stephan Brinkmann berichtet, in seiner Geschichte als Tänzer über 18 Jahre hinweg in Pina Bauschs Sacre, von einer ähnlichen Erfahrung: „Ich war immer sehr beeindruckt, wenn Pina Bausch die Bewegungen aus Sacre zeigte, und es hatte einen großen Einfluss darauf, wie ich die Bewegungen selbst machen wollte, denn es war einfach wunderbar, ihr zuzusehen. Ich habe sie oft vor Augen, wenn ich das Stück tanze. Es gab einen großen inneren Atem, der die Bewegungen führte, und eine wirklich einmalige Bewegungsqualität.“34
Und die Tänzerin Helena Pikon äußert im Gespräch darüber, in welcher Weise Bausch insbesondere die Bewegungsphrasen der Frauen in Sacre gezeigt habe: „Man brauchte sie nur anzusehen und verstand die Essenz einer Bewegung, ihre Qualität und das Gefühl, das damit zusammenhängt. Die Kommunikation zwischen den Tänzern und ihr lief nicht durch das Erklären in Worten.“35 Der verbale und nonverbale, auf der kinästhetischen und tanz-technischen Erfahrungsdimension basierende Übertragungsprozess in der Probe kristallisiert sich um drei Aspekte des Bewegungsvokabulars, die zugleich auch Schlüsselmotive der gesamten Sacre-Choreografie markieren: ‚curves’; Atem; Blicke. In mehreren Verläufen der Probe arbeitet Bausch mit Ichida an der Präzisierung von unterschiedlichen Ausführungen von Körperkurven; zum Beispiel in der Form von Kurven, die aus der Körpermitte in einer Welle in die Streckung von Rumpf und Armen nach vorne übergehen – „Das ist nach vorne, ne. [...] Dann ziehen und wieder zusammen, ja. Elbow, elbow... [...] Dann irgendwo... das ist ja noch rund. Rund, rund. Hier ist alles noch rund, guck mal wo, rund. Vorne.“36 Bausch zeigt hier, wie sie mit einer ‚contraction’ aus der Körpermitte, über die Bewegung über Schultern, 34 Vgl. Stephan Brinkmann: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz, Bielefeld: transcript 2012, S. 214. 35 Ebd., S. 175. 36 Pina Bausch: Probe Sacre, S. 36.
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Ellbogen, Arme die Kurve entwickelt und in die Raum-Ausrichtung – „nach vorne“ – führt. Und die ebenso differenziert erarbeitete zweite Variante der Körperkurve entwickelt sich aus der Seit-Diagonal-Rundung des Rumpfes, wodurch nicht einfach eine Seit-Beuge, sondern eine räumliche Öffnung der Rumpf-Torsion entsteht. Die Schwierigkeit der Bewegung – die Ichida durch häufiges Wiederholen anzueignen sucht – besteht in der höchst genauen Konfiguration von RumpfSeit und Schulter-Arm-Kopf-DiagonalKurvung, eine Bewegung, die zudem mit einer diffizilen Abstimmung zwischen contraction und Schwung ihre Dynamik gewinnt: Über eine lange Probierphase erläutert Bausch – im Zeigen, Korrigieren, Schauen, Mitmachen – diese Phrase37, spricht an, wie das Gewicht verlagert wird, wie das Dehnen der ArmSchwung-Bewegung in dem Raum verläuft („You don’t reach it, ne. [...] Riesen port de bras. Riesen port de bras, und dann, ne, noch mal eng werden...“38), Abb. 1: Kyomi Ichida und bis hin zur genauen Abstimmung Pina Bausch, 1987 zwischen ‚Gewichts’-Schwung-Arbeit („Aber weißt du: immer das Gewicht es machen lassen.“39) und der contraction („this is round. It’s a contraction and the head down.“40). Signatur (aus dem Körper der Choreografin) und Übertragung, in Wiederholung und Neuverkörperung: in welchem Verhältnis stehen hier Autorin, ‚Werk’ (Bewegungsfindung) und Ablösung vom Autorin-Körper im Prozess der Übergabe? Und welche Rolle spielt die Interpretation von unterschiedlichen Bewegungstechniken des Tanzes? In der höchst fein ausdifferenzierten Arbeit mit Körperkurven wird Bauschs sehr persönliche, für ihren Bewegungsstil charakteristische Integration von unterschiedlichen Tanztechniken und Körperästhetiken des 20. Jahrhunderts evident. Da ist das Erbe des deutschen Ausdruckstanzes – an Bausch vermittelt durch ihre Ausbildung an der Folkwang Hochschule Essen, durch Kurt Jooss, die Jooss-Leeder-Methode, durch Hans Züllig und Jean
37 38 39 40
Ebd., S. 39-43. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Ebd.
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Cébron.41 Doch allzu sehr hat man Bausch auf das Erbe des Ausdruckstanzes und der Folkwang-Tradition festgelegt. Ebenso wichtig waren für sie die Begegnungen mit Tanzkonzepten und Choreografen in der Zeit ihres Aufenthalts in New York: mit Anthony Tudor, Alwin Nicolais, Paul Taylor und ihre tänzerische Kooperation mit Paul Sanasardo und Donya Feuer. Entscheidend freilich ist und bleibt, dass und wie Bausch auf häufige Interviewfragen wie „Could you describe what your style was like in your early pieces“42 darauf insistierte, dass sie in der Bewegung und Durcharbeitung der Bewegungskonzepte dieser ‚Lehrer’ ihre eigene Signatur entwickelte: „Would you acknowledge any influence on you as a choreographer? Was Jooss an influence?“, lautet die Frage, und Bausch antwortet: „It is difficult to say, because life is already so much an influence, each person you meet, the technique you learn [...] I think the most important is the humanity, which was so important also for people like Jooss, like Tudor. The human side. But you see, Jooss had to find his own way, Tudor had to find his own way; I find my own way too.“43
In Bauschs Verwendung von Grundformen des modernen Tanzes, wie z.B. Körperkurven, zeigt sich genau diese Entwicklung einer ganz eigenen Spielart der Arbeit aus dem Körperzentrum. Stephan Brinkmann erörtert in einem Kapitel zu Tanz, Gedächtnis und Technik die Einflüsse und Ausbildungskonzepte an der Folkwangschule, die auch für Pina Bauschs Ausbildung prägend waren. Besondere Bedeutung hatte dabei in jener Zeit die ‚Körperkurve’: „Dabei wird die Wirbelsäule eingerundet, indem das Zentrum des Körpers nach rückwärts zieht. Schultern und Hüfte bleiben dabei übereinander. Jean Cébron differenziert hier noch weiter, zwischen Curving, Contraction – und Sinking-TorsoMovement. [...] Cébron macht darüber hinaus deutlich, dass die Bewegungen ‚Curving’, ‚Contraction’ und ‚Sinking’ in alle Richtungen ausführbar sind und auch im Brustkorb oder den Extremitäten stattfinden können.“44
41 Pina Bausch nennt diese Lehrer als ihre wichtigsten Mentoren und Vorbilder, vgl. Pina Bausch: Etwas finden, was keiner Frage bedarf, S. 4. 42 Vgl. das Interview mit Nadine Meisner: Come dance with me, aus dem Jahr 1984; wiederabgedruckt in: Royd Climenhaga (Hg.): The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, London: Routledge 2013, S. 167-176, hier: S. 172. 43 Ebd. S. 176. 44 Vgl. Stephan Brinkmann, Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz, S. 274.
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Und Brinkmann verweist mehrfach in seinem Text darauf, dass die Körperkurve „für Le Sacre du Printemps eine der wichtigsten Körperhaltungen ist.“45
Abb. 2: Pina Bausch: Le Sacre du Printemps Pina Bausch hat immer wieder betont, wie wichtig Cébron für ihre tänzerische und choreographische Arbeit war: Er sei einer derjenigen gewesen, von denen sie „am meisten über Bewegung gelernt habe.“46 Ebenso sind in Pina Bauschs Umgang mit den Gestaltungsmöglichkeiten von Körperkurven auch die Spielarten dieser Bewegung, wie sie im amerikanischen Modern Dance praktiziert wurden, integriert. Während der Zeit ihres Aufenthalts in New York besuchte Bausch u.a. Trainings der Graham- und José Limon-Technik, arbeitete mit Louis Horst und Merce Cunningham – mit Tänzern und Choreografen also, die ihrerseits höchst spezifische und unterschiedliche Modi und Konzepte von contraction und von curves entwickelt haben. Neben den spannungsreichen, tief in die Körpermitte gezogenen contractions der Graham-Technik und den Balance-schwierigen side-curves bei Cunningham gibt es bei Pina Bausch jedoch auch noch eine ganz eigene Version der Körperkurve – eine Kombination aus bounce, Schwung-Bewegung und einer durch die Hebung des Brustbeins nach oben weisenden, fließenden Bewegung: die Art und Weise, wie Pina Bausch selbst 45 Ebd. 46 In ihrer Kyoto-Preis-Rede betont Pina Bausch, dass Cébron als Bewegungslehrer für sie die höchsten Ansprüche verfolgte: „Mir bewusst zu werden über jede winzige Kleinigkeit einer Bewegung und was und wie das alles gleichzeitig im Körper passiert, und und und... Man muss so viel denken. Man hat das Gefühl, man kann nie mehr tanzen, eine schwere Schule – aber! Viele geben auf. Leider.“ Vgl. Pina Bausch: Etwas finden, was keiner Frage bedarf, S. 8.
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diese weiche, fließende Kurve ausführt, lässt auch an ähnliche Bewegungsqualitäten bei Trisha Brown denken.47 Die Probe Sacre zeigt an mehreren Stellen, wie entscheidend der Einsatz des Atems sowohl für den Ausdruck als auch für die präzise Form ist. In entscheidenden Momenten der Phrasierung und der Strukturierung von Qualität und Dynamik der Bewegung, weist Bausch immer wieder auf den Einsatz des Atems hin. Oft ist es einfach nur das ‚Hörbar’-machen der Atmung, oder eine Synchronisierung einer Dehnungs- oder SchwungBewegung mit tiefem Ein- und Ausatmen und dem Akzent und Rhythmus der Choreografie: „U-----uuund“; oder es ist ein kurzer Hinweis: „extra breath“48, oder ein gemeinsames Führen, ein Atmen, das im Textbuch oft nicht vermerkt, das anscheinend nicht ‚transkribierbar’ ist: „Wenn du jetzt hier läufst ... das machste auch irgendwie mit dem Atmen, ne.“49 Dieses Verfahren, den Atem in genauestem Spüren in die Generierung einzelner Bewegungsphrasen einzubeziehen, gibt dem Körperausdruck ‚Stimme’ (analog der Atem-Arbeit eines Sängers), Timbre, emotionale Tiefe und Dynamik in der Regulierung des Tempo-Verlaufs.50 Der Atem ist in Bauschs Sacre ein grundlegendes Element der Modellierung der Bewegung. Zugleich ist der Atem auch ein Teil der gesamten Dynamik der Gruppentänze in Sacre: die Erschöpfung, Verausgabung, die Zeichen der Panik werden spürbar und hörbar im ‚kollektiven’ Atmen – keuchend, heftig, spannungsreich. Anstrengung wird nicht verborgen; diese physischen Zeichen des Kampfes, des Gruppen-Exzesses sind ein grundlegender Bestandteil von Bauschs Bewegungskonzept – eine Ästhetik, die im Kritiker-Streit in der Rezeption der frühen 1980er Jahre von deutscher Seite als Bauschs „Realismus“ (Jochen Schmidt)51 und „Theater der Erfahrung“ (Norbert Servos)52 interpretiert wurde; von amerikanischen Kritikern entweder als „Bausch’s theatre of dejection“53 eingestuft wurde (Arlene Croce, die über die Torf-Erde auf der Bühne sagt, es sei ein „smell like a stable“, und das „life in the Bausch 47 Auch wenn m.E. nicht dokumentiert ist, wie Bausch Trisha Browns frühe Arbeiten einschätzte. 48 Vgl. Pina Bausch: Probe Sacre, S. 36. 49 Ebd. S. 41. 50 Es sind z.B. jene Momente in der Probe, in denen Bausch darauf hinweist und es zeigt, dass die Bewegung nicht so sehr „geführt“ werden solle, da so die Dynamik und Schnelligkeit nicht koordiniert werden können; z.B. ebd., S. 39. 51 Vgl. zum Streit über die Klassifizierungen und Differenzen von deutschem Tanztheater und amerikanischem Modern Dance Ann Daly: The thrill of the lynch mob or the rage of a woman, in: Royd Climenhaga: The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, S. 251-263, hier: S. 255. 52 Vgl. das Nachwort von Norbert Servos in: Pina Bausch: Probe Sacre, S. 81. 53 Arlene Croce: Bausch’s theatre of dejection (The New Yorker 1984), wiederabgedruckt in: Royd Climenhaga: The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, S. 192-199, hier: S. 194.
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company“ als „’Animal House’ with weltschmerz“ bezeichnet54) oder mit der Zuschreibung, Bauschs Tanztheater sei „expressionistic“ (Anna Kisselgoff)55. Gerade an solchen Rezeptionsweisen der 1980er und 1990er Jahren lässt sich der Abstand in der Wirkungsgeschichte und Weitergabe von Bauschs Erbe heute ablesen. Stephan Brinkmann erinnert in seinen Notizen zu Bauschs Sacre die Intensität der heftig atmenden Tänzer-Gruppe in jenem Moment, in dem der Opfertanz beginnt56 – und die Relevanz des Atmens während des ganzen Stück-Verlaufs: „Für mich heute am stärksten: das Gefühl von Atem. Ich nehme ihn in verschiedenen Arten wahr, zunächst den eigenen. Er steigt an und beruhigt sich wieder, wie in Wellen. Aber auch der Atem der anderen ist immer gegenwärtig, hörbar während des Tanzes in der Gruppe, während der Bewegungen. Nicht nur hörbar, sondern auch für uns alle sichtbar [...] Bei der Poona-Stelle, wenn Männer und Frauen ganz eng zusammenstehen: um mich herum Männer und Frauen und ihr erschöpfter und rasender Atem. Das Atmen begleitet uns gemeinsam weiter in die letzte große Stelle. Viele Tänzer atmen dabei auch im Takt der Musik. Vor dem Solo des Opfers wieder: alle auf engstem Raum in der Gruppe stehend, keuchend, nach Luft ringend. Die Musik ist dezent und bedrohlich, und ich kann den Atem noch deutlicher hören und spüren. Dicht hinter mir weint eine Tänzerin. Während des Opfertanzes beruhigt sich dann der Atem aller. Zum Schluss: Stille!“57
Die Atmungskurven der Gruppe und der ‚Erwählten’, zuletzt in ihrem Opfertanz, verlaufen in einem gestaffelten ‚Auf und Ab’, verstärken das Gegenüber von Gruppe und ausgestoßener Einzelner. Die ‚Stille’ am Ende, von Brinkmann aus der Perspektive der Tänzer-Gruppe (im „Atmen aller“) erzählt, ist zuletzt komplementär zum Tod des Opfers – in Pina Bauschs knappen Worten: „And then nothing.“58 Ein drittes Element von Bauschs Sacre-Choreografie – neben den Körperkurven und dem Atmen – sind Blicke. Bauschs eigenes Verfahren der Suche, der Bewegungsgenerierung aus einer Mischung von Beobachten, Betrachten und Nachspüren hat sie als ‚gucken’ bezeichnet. Raimund Hoghe überliefert Bauschs Selbstkommentar: „Was ich tu’: ich gucke. Vielleicht ist es das. Ich hab’ immer nur Menschen beguckt. Ich hab’ nur menschliche Beziehungen gesehen oder versucht zu sehen und darüber
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Ebd. Vgl. Ann Daly: The thrill of the lynch mob or the rage of a woman, S. 255. Ebd., S. 88. Ebd., S. 134. Pina Bausch: Probe Sacre, S. 44.
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zu sprechen. Das ist, wofür ich mich interessiere. Ich weiß nichts Wichtigeres als das.“59
Wim Wenders hat Bauschs Blick und Blickweisen als grundlegend für ihre einzigartige Sicht auf den Menschen gewürdigt: „wie sehr Pina statt der Worte ihrem BLICK vertraut hat. [...] Sie hat ihren Blick ungeheuer geschärft für all das, was wir mit unseren Bewegungen und Gesten sagen, was wir damit über uns selbst verraten, unwillkürlich, unbewusst, und eben auch den meisten Zuschauern unbewusst.“60
Entscheidend für eine tanzwissenschaftliche Betrachtung ist die Art und Weise, wie Bausch Blick und Blick-Relationen als Verfahren für die Bewegungsgenerierung und für die Orientierung im Raum einsetzt. Hier sind unterschiedliche Blick-Szenarien zu unterscheiden: Die Art und Weise, wie Pina Bausch im Probenprozess mit ihren Tänzern ‚schaut’, beobachtet, direkt, indirekt, scheinbar distanziert, zugleich in höchstem Maße aufmerksam, Detail und Ganzes im Blick... ein ‚lauschendes’, ein (er-)spürendes (Zu-) Schauen, das als Ganzes, im Feedback mit den Tänzern einen wesentlichen Faktor der Bewegungsgenerierung und der Stücke-Komposition darstellt. Dann: Die Beziehung, die sich als Blick-Relation zwischen Tänzern bzw. Bühne und Publikum einstellt. Es ist eine offene Konstellation. Die Möglichkeit (und auch das Scheitern) eines ‚encounter’ werden eingeräumt: So entgegnet Bausch auf die Frage, weshalb sie andere Formen „beyond dance“61 einsetze: „What I try is to find the pictures, or the images that can best express the feeling I want to convey. And you have to find your own way to show these things, I am not telling a story in a normal way. Each person in the audience is part of the piece in a way; you bring your own experience, your own fantasy, your own feeling in response to what you see. There is something happening inside. You only understand that if you let that happen, it’s not something you can do with your intellect. So everybody, according to their experience, has a different feeling, a different impression. Also on different days what you feel is different.”62
59 Raimund Hoghe: Pina Bausch. Tanztheatergeschichten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 8. 60 Wim Wenders: Rede für Pina am 4.9.2009, S. 2. 61 Nadine Meisner: Come dance with me, S. 173. 62 Ebd.
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Bauschs Konzept eines „emanzipierten Zuschauers“63 folgt einer Offenheit der Übertragungsmöglichkeiten, in denen „Form“ und „Feeling“64 stets korrelieren. Mit den Worten Yvonne Rainers könnte man sagen, „Feelings are Facts“65; und diese Erfahrungen sind, in Bauschs Publikumskonzept, ebenso persönlich und individuell different, wie sie dies in ihrer Arbeit mit den individuellen Erfahrungen und persönlichen Geschichten der Tänzer wahrnimmt. In einer sehr spezifischen Weise arbeitet Bausch in Sacre mit dem Einsatz von Blicken: Im Probenvideo des ‚Opfertanzes’, an jener Stelle, an der die Tänzerin des Opfers in einer heftigen und ruckartigen Bewegung die Arme angewinkelt seitlich hochzieht, in dieser Pose erstarrt und mit Blicken, aus denen Panik und Orientierungslosigkeit spricht, Blicke mit aufgerissenen Augen, die rasch in unterschiedliche Raumrichtungen ‚rennen’ – in jenem atemlosen Moment, kurz bevor sie blind losrennt, um ihrem Schicksal zu entrinnen, weist Pina Bausch Kyomi Ichida darauf hin:
Abb. 3: Kyomi Ichida in Pina Bauschs: Le Sacre du Printemps, 1987 Und dann, wenn du dann da stehst, bei der nächsten Musik, und dann nicht denken: ‚wer ist da?’ und extra rechts und links gucken, sondern das ist irgendwie ... Kyomi Ichida Ach so. Pina Bausch Ja, das ist ... du weißt überhaupt nicht, was du machst, das ist irgendwie ... gucken ... das stimmt überhaupt nicht. Gucken, das ist was ganz anderes. 63 Vgl. Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen Verlag, 2010. 64 Zur theoretisch-philosophischen Seite vgl. Susanne K. Langer: Feeling and Form: A Theory of Art Developed from Philosophy in a New Key, London: Routledge & Kegan 1957. 65 Vgl. Yvonne Rainer: Feelings are Facts. A life (writing art), Cambridge: MIT Press 2006.
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Da musst du laufen, du musst ganz weit laufen, blitzschnell und plötzlich stoppen [...].66
Blicke dienen der Orientierung im Raum, dem Erspüren, Tasten und Kommunizieren; sie werden jedoch ebenso eingesetzt für die Erfahrung des Verlusts der Orientierung, wie in dieser Proben-Stelle, in der die Augen eben nicht (mehr) „gucken“, sondern in blindem Entsetzen rasen, als ob sie die Panik-Bewegung des ‚Rennens’ schon vorwegnähmen. Stephan Brinkmann beschreibt die unterschiedlichen Arten der Blicke: zum einen das „gucken“, wohin man rennt, an den Chaos-Stellen von Sacre, wenn alle in einem „Wirrwarr über die Bühne laufen“67; und zum anderen das „Einander sehen und spüren“, das „in Sacre ebenso wichtig [ist] wie miteinander zu tanzen.“68 „Nach jeder längeren Bewegungsphase kommt ein Moment des Umherguckens und des einander Anschauens [...] jeder Bewegungsteil wird durch Blicke eingeleitet oder motiviert [...] Schließlich dann der Blick auf die Tänzerin, die das Opfer tanzt [...], wenn sie tanzt und wir langsam einen Kreis um sie bilden.“69
Aus der Perspektive der Tänzer-Gruppe (deren Blicken das Opfer ausgesetzt ist – und ebenso im Blickfeld des Publikums) erscheint diejenige Seite, die von Bausch mit Ichida geprobt wird als jener Moment, in dem es „keine Gegenseitigkeit der Blicke mehr gibt. In ihrem letzten Tanz ist sie allein.“70 Die Analyse des ‚Opfertanzes’ in der Probe Sacre, von grundlegenden Themen der tänzerischen Form und der Bewegungsgenerierung, erschließt in der Kontextualisierung mit Quellen zur Rezeption und Produktion Zugänge zu Pina Bauschs Sacre: zu Bauschs Gestaltungsweise der Affektdynamik und der großen menschlichen Themen, die in Le Sacre du Printemps verhandelt werden. Vieles ist dazu gesagt worden. Was fügt die genaue Betrachtung der Probenarbeit den vielfältigen Interpretationen des Bausch-Diskurses hinzu? Im Probenverlauf selbst und in der Gegenüberstellung mit dem Opfertanz, wie Ichida ihn dann in der Aufführung tanzt, treten jene Modi von Kurven, Atem, Blick noch stärker als Affekt-Generatoren hervor. Da, wo es um die größte Genauigkeit jeder Bewegung in der Probe geht – ohne Musik, in der wiederholenden Aneignung, treten durch das Tempo der Strawinsky’schen Musik, durch die Akzentsetzungen und die in den Exzess treibende Ge-
66 Pina Bausch: Probe Sacre, S. 34. Der Blick, den Kyomi Ichida hier ‚probt’, dem raschen, von Entsetzen getriebenen Jagen der Augäpfel, erinnert an die Augen‚Arbeit’ im japanischen Butoh. 67 Stephan Brinkmann: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz, S. 74. 68 Ebd., S. 87. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 88.
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schwindigkeitsanforderung von Bauschs Choreografie die Chaos-Stellen, die Momente des Unkontrollierbaren wieder in den Verlauf der Szene ein. Immer wieder versucht Bausch mit Ichida das komplexe Verhältnis von kontrollierter Bewegung und Loslassen der Kontrolle zu üben – im Nachgeben des Kopfes, den fallenden Armen, dem überstürzten ‚Rennen’: Pina Bausch Kopf, Kopf vorne rüber. Dann beides zu--- Kopf, Kopf geht mit Kopf. Kopf, Kopf, Kinn, Kinn, Kinn, Kinn, Kinn. Kannst du dich heute Abend nochmal damit beschäftigen.71
Und dann der abschließende Hinweis: Pina Bausch Und da ist das Problem: das muss so schnell sein, das kannst du dir gar nicht vorstellen.72
So werden schließlich die curves, contractions, Schwünge, die in der Zeitlupe der Probe weich und fließend sind, im harten und peitschenden Tempo der Musik äußerst heftig, gewaltsam; es sind schlagende Bewegungen der Arme (jenes Haupt-Bewegungsmotiv, das den Frauentanz in der gesamten SacreChoreografie Bauschs skandiert); mit Ecken und Winkeln in der Bewegung, die Pausen und Richtungswechsel markieren. Es ist eine ganz und gar aus der Bewegungsdynamik (nicht aus einem ‚Darstellen’ oder einem Rollenspiel) von Panik und Ekstatik generiertes Solo des Opfers. In diesen Übergängen, die Bausch hier einarbeitet, nistet das affektive Potential ihrer Sacre-Choreografie: die Verausgabung, die Selbstbearbeitung, ja Selbstzerfleischung der Ausgestoßenen – des Opfers – in einem Bewegungsduktus des auto-aggressiven Schleuderns, Hackens, Fallens und Auseinanderbrechens der Lebens-Bewegungs-Bahnen.
Frühlingsopfer K o n t e x t e u n d Ü b e r t r a g u n g sw e i s e n Wie geht es weiter: mit der Überlieferung von Bauschs Sacre du Printemps, in einer Ära – posthum – in der das Vermächtnis bewahrt und an jüngere Tänzergenerationen weitergegeben werden soll? Es gibt parallele Bemühungen zum Erbe von Pina Bausch – sowohl in der Dokumentation in Archiven und der Pina Bausch Foundation als auch in der Wiederaneignung der Stücke durch eine jüngere Tänzergeneration. Zwischen der Uraufführung von Bauschs Das Frühlingsopfer (1975) und der ersten Wiederaufnahme des gesamten, dreiteiligen Tanzabends Frühlingsopfer (im Herbst 2013) liegen 71 Ebd., S. 37. 72 Ebd., S. 43.
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beinahe 40 Jahre, d.h. mehrere Tänzergenerationen, die inzwischen in SacreAufführungen mitgetanzt haben. Der dreiteilige Tanzabend Frühlingsopfer wurde am 3. Dezember 1975 im Opernhaus Wuppertal uraufgeführt. Während der letzte Teil dieses Abends, Le Sacre du Printemps seither zu einem der am meisten gespielten Stücke des Wuppertaler Tanztheaters wurde und in einer neuen Konstellation zusammen mit Café Müller (1978) das Programm bestimmte, sind die beiden anderen Teile des Premierenabends – Wind von West und Der zweite Frühling – nach vereinzelten Wiederaufnahmen aus dem Repertoire verschwunden. In der Jubiläumsspielzeit 2013/14 wurde – im Rahmen von ‚PINA 40 – 40 Jahre Tanztheater Wuppertal Pina Bausch’ – eine ‚Rekonstruktion’ des dreiteiligen Frühlingsopfer-Abends unter der künstlerischen Leitung von Dominique Mercy gezeigt; eine Aufführung, in der Studierende der Folkwang Universität der Künste (Essen) und der Juilliard School (New York) sowie Tänzerinnen und Tänzer des Folkwang Studios (Essen) tanzten.73 Die Betrachtung der Aufführung von Le Sacre du Printemps (1975) im Verein mit zwei weiteren Premierenstücken zum Thema ‚Frühlingsopfer’ stellt eine wesentliche Dimension einer historischen und tanzästhetischen Kontextualisierung dar. In der historischen Rückblende zur Uraufführung von Nijinskys/Strawinskys Le Sacre du Printemps, am 31. Mai 1913 in Paris, ergibt sich sogar noch ein deutlicherer Fluchtpunkt der Übertragungen, Elisionen und Re-Konstruktionen von Meisterwerken der Tanzgeschichte. Nijinskys Sacre war am Premierenabend in Paris (als vorletzter Programmpunkt) eingebettet in den Kontext von drei weiteren Stücken der Ballets Russes: Das Programm lautete: Les Sylphides, Le Spectre de la rose, Le Sacre du Printemps, Danses polovetziennes (aus Prince Igor)74. Erst in dieser Programm-Konstellation konnte Le Sacre du Printemps die volle Sprengkraft seiner Fremdheit entfalten – denn die übrigen Stücke des Abends waren durch die Aufführungen und Tourneen der Ballets Russes seit 1909 bereits zu Publikums-Magneten geworden. Pina Bausch hatte sich schon in ihrer Ausbildungszeit an der Folkwang Hochschule mit Strawinskys/Nijinskys Le Sacre du Printemps befasst. In einer studentischen Hausarbeit schreibt sie über diese Choreografie. Sie interessiert sich dabei insbesondere für jene körpertechnische und ästhetische Dimension von Sacre, die Millicent Hodson später (in Anlehnung an
73 Vgl. FN 3. 74 Vgl. Abb. des Programmheftes in Avatar der Moderne, und vgl. Gabriele Brandstetter: Le Sacre du Printemps 1913/2013, in: Raphael Gygax (Hg.): Sacré 101. An Anthology on ‚The Rite of Spring’, Zürich: JRP Ringier Kunstverlag 2014, S. 9-23.
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Nijinsky) als Nijinskys „Crime against grace“75 bezeichnet hat, nämlich: Nijinskys Einwärtsdrehung von Füßen (und der Körpertorsionen) und die damit verbundene Ausdrucksgeste einer „gequälten Atmosphäre des ‚Frühlingsopfers’“. Bausch zitiert in ihrer Hausarbeit76 aus dem Buch von Eric Walter White über Strawinsky und zieht daraus Schlussfolgerungen über die Ausdrucksqualität von Sacre. „In dem Buch von White über Strawinsky fand ich einmal den folgenden Satz: ‚Nijinsky fand, daß ihm das Thema des ‚Sacre’ den gesuchten Vorwand bot, die klassischen Positionen umzudrehen, so daß die Bewegungen der Tänzer nach innen anstatt nach außen gemacht werden sollten.’ Er wollte damit die gequälte Atmosphäre des Frühlingsopfers zum Ausdruck bringen.“77 Bausch interpretiert Nijinskys Wendung gegen die klassische Ballett-Ästhetik (und gegen das Körpermodell des en dehors) ganz klar als eine Entscheidung für eine neue Ausdrucksform des Tanzes. Es ist eine Frage, die für Bausch – so darf man im Zusammenhang dieser frühen Auseinandersetzung mit Nijinskys Sacre annehmen – auch für ihre eigene Suche nach einer neuen tänzerischen Ausdrucksform maßgeblich wurde. In diesen Horizont der Kreation von Bauschs eigener Version von Sacre gehört auch die Komposition des gesamten dreiteiligen Abends, den sie 1975 unter den Gesamttitel Das Frühlingsopfer stellte. Welcher Dramaturgie folgt dieses Programm? Welche Verknüpfungen und Themen-Knoten werden sichtbar? Und welchen Einfluss hat dieser Programmkontext – in der Rekonstruktion von 2013 – auf mögliche Interpretationen von Le Sacre du Printemps? Sucht man nach leitenden Prinzipien für die Dramaturgie des Programms, so zeigt sich beim Blick auf die Musik: Alle drei Stücke sind zu Musik von Igor Strawinsky choreografiert. Man könnte den ‚Dreiteiligen Tanzabend von Pina Bausch’ (so der Untertitel) also als eine dreiteilige StrawinskyChoreografie betrachten.78 Der erste Teil, betitelt Wind von West, ist zu Strawinskys Cantata (1951) choreografiert – einer seiner späten Sakralmusiken. Die Gesänge, die sakrale Aura der Musik verbinden sich hier mit der Stimmung des Tanzstücks: eine traumhafte, teilweise schwermütige 75 Vgl. Millicent Hodson: Nijinskys Crime against grace: reconstruction score of the original choreography for Le Sacre du Printemps, Stuyvesant, NY: Pendragon Press 1996. 76 Stephan Brinkmann hat diese Hausarbeit im Archiv der Folkwang Universität ausfindig gemacht: Philippine Bausch: Ein- und Auswärtsdrehung der Füße im Laienunterricht. Unveröffentlichte Hausarbeit, Tanzarchiv des Instituts für zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität der Künste (o.J.), zit.n. Stephan Brinkmann: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz, S. 193. 77 Zit. n. ebd. 78 Eine ausführliche Untersuchung des Verhältnisses von Musik und Choreografie, wie dies für Pina Bauschs Le Sacre du Printemps schon unternommen wurde (vgl. dazu Stephanie Jordans Beitrag in diesem Band), ist für alle drei Stücke dieses Abends, sowohl zu Strawinsky-Choreografien als auch zur Frage von Pina Bausch und ihren Musik-Choreografien, ein Desiderat.
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Atmosphäre. Die durch Gaze-Vorhänge, Tür-Rahmungen und Glas-Konstruktionen in Staffelungen geteilte Bühne öffnet Raum-Zeit-Tiefen von Gegenwart, Erinnerung und Zukunfts(t)räumen.
Abb. 4: Pina Bausch: Wind von West, Rekonstruktion, 2013 Strawinskys Musik resoniert mit diesen Räumen sowie mit den Bewegungen und dem Sich-Verfehlen der Tänzerinnen und Tänzer. Musik-RaumBewegung generieren etwas, das man den Atem dieser Choreografie nennen könnte. Josephine Ann Endicott, die 1975 in Wind von West tanzte und für die Rekonstruktion 2013 (zusammen mit John Giffin und Mari DiLena) die Probenleitung innehatte, betonte im Podiumsgespräch79, dass speziell für die Weitergabe von Cantata an eine jüngere Tänzergeneration die Arbeit mit dem Atem sehr wichtig sei. Es sei „wie das Einatmen in das tote Stück.“80 Das zweite Stück des Abends, Der zweite Frühling, unterscheidet sich in Stimmung und Komposition deutlich von Cantata und Das Frühlingsopfer. Als Mittelstück innerhalb des Strawinsky-Dreiteilers nimmt es die Rolle eines burlesken Intermezzos ein. Während der erste Teil mit Cantata und der letzte Teil mit Sacre je zu einer geschlossenen Komposition von Strawinsky choreografiert sind, besteht die Musik zu Der zweite Frühling aus einer von Pina Bausch ausgewählten Zusammenstellung von acht kleinen Instrumentalstücken Strawinskys.81 Entscheidend ist dabei der rhythmische Charakter 79 Podiumsgespräch zur Aufführung am 23.11.2013 80 Ebd. 81 Vgl. das Programmheft zur Aufführung: Trois Pièces Faciles: pour piano à quatre mains: Valse (1915), Drei Stücke für Klarinette: Nr. 1 (1919), Drei Stücke für Streichquartett (1914), Ernest Ansermet gewidmet: Nr. 2, Excentrique (Scherzo, Nr. 3, Cantique (Hymne), Tango für Orchester
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dieser Stücke: Es handelt sich um pointierte Tanz-Miniaturen, wie etwa ‚Valse für Klavier’ (vierhändig), ‚Tango’ oder schnurrende SpieluhrenStücke, die an Strawinskys Petruschka erinnern. Musik und Choreografie verstärken und pointieren den szenisch-chaplinesken Bau des Stücks. In einem hochstilisierten Art-Deco-Interieur diniert ein alterndes Paar – beide werden heimgesucht durch Erinnerungen an erotische Begegnungen und durch Sehnsüchte nach einem ‚zweiten Frühling’. Diese Allegorien der Wünsche werden verkörpert durch sinnlich auftretende Tänzer. Sie erscheinen wie ein erotisches Inventar dieses Raums, das vorübergehend traumhaft wiederbelebt ist: aus dem Sofa, der Chaiselongue und dem Buffet schwingen sich die Erinnerungen in einen Traumtanz mit dem alternden Paar. Dabei wird die Differenz der Geschlechter – jenes Thema, das Pina Bausch in allen ihren Stücken immer wieder neu beleuchtete – zum Thema: teils slapstickartig, komisch, teils humorvoll-spielerisch und teils melancholisch – in der letztendlichen Resignation des Paares, das immer wieder von den Ordnungsmustern und Routinen des Alltags eingefangen wird, so dass der Wunsch nach einem ‚zweiten Frühling’ ein verlorener Traum bleibt.
Abb. 5: Pina Bausch: Der zweite Frühling, Rekonstruktion 2013 Pina Bauschs Umgang mit der Musik in Der zweite Frühling entspricht bereits jenem Verfahren, das sie nach Le Sacre du Printemps zu einem Prinzip macht: die freie Zusammenstellung von Einzelstücken; die collagehafte Mixtur, das pointierende zum Teil auch Kontrafaktur-ähnliche Beleuch(1940/1953), Eight Instrumental Minitaures (1920/1961): Allegretto, Cinq Pièces Faciles pour piano à quatre mains: Nr. 1 , Andate (1917), Eight Instrumental Miniatures (1920/1961) Larghetto.
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ten von szenischen Themen in der Choreografie. Im Interview hebt Bausch hervor, dass Sacre und Die sieben Todsünden die einzigen ihrer Stücke seien, die sie zu einer Musik, die als Ballettmusik komponiert wurde, choreografiert habe: „I never really liked opera ballet music. And all the pieces I have done – with two exceptions: Sacre and Seven Deadly Sins – they have never used ballet music. All the others are made with other kinds of music, not ballet music.“ 82 Und Bausch beschreibt, wie sie ihre Musik findet (da diese nicht speziell für ihre Stücke von einem Komponisten geschrieben werde): „I listen to music. I pull it together myself. Der zweite Frühling, or The Second Spring, is made with eight different short pieces.“83 Und sie fügt über die komischen Elemente des Stücks hinzu: „I always thought I had no sense of humor. But I found out, when I did this, that that’s not true. I never thought I could do something like The Second Spring. Now I’m doing many more different things.“84 War es im zweiten Teil des Frühlingsopfer-Triptychons die Montage unterschiedlichster Strawinsky-Stücke, die den Ton angab, so wählt Pina Bausch für die Choreografie von Le Sacre du Printemps eine bestimmte musikalische Interpretation des Strawinsky-Orchesterstücks: Die Aufnahme, die Pierre Boulez mit dem Cleveland-Orchestra einspielte. Pina Bausch sagte in einem Interview auf die Bemerkung (die von Kritikern und Wissenschaftlern oft gemacht wurde), dass Le Sacre du Printemps die letzte Choreografie in Bauschs Œuvre sei, die sie ganz und geschlossen zur Musik und mit der Musik einer bestimmten Komposition entworfen habe: „The most important thing to me was to understand what Stravinsky wanted. In The Rite of Spring, there is nothing to add to what’s already there. There is a Young Girl, The Chosen One, and that young girl dances, all by herself, until she dies.“85 Tatsächlich könnte man Pina Bauschs dreiteiligen Tanzabend Frühlingsopfer von 1975 ein Triptychon nennen und die Komposition dieses Programms in der Tradition der ‚Dreiteiler’ und der Dramaturgie der Akte in der Theatergeschichte betrachten; wenngleich Bauschs Abend diese SpielKonvention in ihrem Triptychon zugleich aufgreift und transformiert. Das burleske Mittelstück z.B. folgt zwar noch einer Tradition des ‚Intermezzos’. Dass jedoch das tragische Stück, dessen schweres Gewicht die ironische 82 Glenn Loney: ‚I pick my dancers as people’. Pina Bausch discusses her work with the Wuppertal Dance Theatre (1985), in: Royd Climenhaga: The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, S. 80-94, hier: S. 95. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Pina Bausch, zit.n.: Anita Finkel: Gunsmoke (1991), in: Royd Climenhaga: The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, S. 152-166, hier: S. 155.
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Leichtigkeit des zweiten Stücks auslöscht, am Ende des Abends steht, kehrt sich gegen die Konvention – z.B. der Oper (in deren ‚Haus’ der ganze Abend ja spielte) und ihren Vorgaben eines ‚lieto fine’.86 Sucht man nach dramaturgischen Verbindungslinien, die die drei Stücke des Abends konfigurieren, so lassen sich – neben der schon diskutierten Bedeutung von Strawinskys Musik – auch thematische Relais erkennen. Da ist das Thema Frühling: Wind von West zeigt Frauen und Männer am Beginn, im Einander-Suchen, im Aufbrechen (und Brechen) von Liebe, Nähe, Sexualität. Und zugleich enthält die Bewegungssprache tatsächlich auch einen Anklang an Pina Bauschs eigenen ‚Frühling’ als Tänzerin und Choreografin. Die Bewegungen der Tänzer zeigen jenes Idiom, das Pina Bauschs Ausbildung an der Folkwang Hochschule mit ihren Erfahrungen in den USA (von Martha Graham, Antony Tudor, José Limon bis Paul Taylor) verknüpft und das sie für ihre choreografische Sprache entwickelt und erweitert hat: gleichsam durch einen USA-‚Wind von West’, der in dem Stück weht – und den Atem weiterträgt, in die Geschichte ihrer kommenden Arbeiten. Der zweite Frühling spielt mit einer (unmöglichen) Wiederkehr des ersten Frühlings – im ‚Herbst’ eines Paares. Damit ist schon angedeutet, dass das Thema Frühling nicht eigentlich ‚rein’ ist; sondern dass Aufbruch und Anfang immer schon von Bruch, Verlust, Ende und Niedergang durchsetzt sind: der Herbst und der Winter im Frühling. So gesehen, könnte man die Reflexionen über Pina Bauschs dreiteiligen Tanzabend Frühlingsopfer auch überschreiben: Pina Bauschs Jahreszeiten. In allen drei Stücken des Abends geht es um die Beziehung von Männern und Frauen, um Annäherung und Verlust oder Verfehlen, Liebe und Ende, Sexualität, Gewalt und Tod. Die tänzerischen Ausdrucksformen sind sehr unterschiedlich, ebenso die choreografischen Gefüge dieser existentiellen Fragen. Ein Thema, das in den drei Teilen des Abends in verschiedenartigen Varianten auftaucht, ist mit dem Titel formuliert: ‚Frühlingsopfer’. Männer und Frauen sind ‚Opfer’ ihrer Fantasien, Träume, und ihrer Lebensgeschichte in Wind von West. Sie erscheinen als ‚Opfer’ ihrer sozialen Rollen, in der Anpassung an Normen und Geschlechter-Stereotypen in Der zweite Frühling. Und in Das Frühlingsopfer wird das ‚Opfer’ zum Zentralthema in jener rituellen kollektiven Gewalt, die schon Nijinsky in seiner Choreografie inszeniert hatte. Bei Bausch wird das Opfer, jene ‚Erwählte’, die in einer sich zur Phrenesie steigernden Gruppen-Dynamik – zwischen Vereinzelung und Kollektiv – ausgestoßen wird. In einem für Zuschauer und Tänzerin gleicher-
86 Mit dieser Tradition hatte Bausch auch schon, in ihrer Orpheus-Choreografie gebrochen (entgegen Christoph Willibald Glucks Operndramaturgie eines ‚happy ending’).
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maßen ‚fassungslosen’ Zustand tanzt sie bis zum Kollaps: „and then nothing.“87 Die Intensität dieses (letzten) Tanzes beruht – wie an der Proben-Sequenz gezeigt – gerade auf der genauesten, bis in jedes kinästhetische Detail ausgefeilten Charakteristik jeder Bewegung dieses Solos. Und dasselbe gilt für die gesamte Choreografie von Sacre. Ein herausgehobener Moment, zwischen individuellen Partien und geschlossener Gruppe, ist hier die Situation der Wahl, die ‚Ausstoßung’ der Erwählten. Pina Bausch wurde in Interviews darauf angesprochen, weshalb der Name der Tänzerin, die jeweils das Solo der ‚Erwählten’ tanzt, nicht (wie sonst üblich bei großen Soli) extra im Programmheft vermerkt werde; gleichsam als ‚Rolle’, die verkörpert wird. Eben dies scheint jedoch nicht im Sinne von Bauschs Konzept der Erwählten und des Opfers zu sein. In jener Szene, in der einer der Männer die Macht hat, eine der jungen Frauen auszuerwählen, die nacheinander aus der dicht gedrängten Frauengruppe einzeln auf ihn zugehen, mit dem roten Kleid des Opfers in der Hand, stellt sich für den Zuschauer jene Frage, die Glenn Loney (1985) an Bausch richtete: „Does that mean that each time this Rite is celebrated a different girl is the sacrifice? That the dancers themselves, as well as the audience, have no idea who will be chosen?“88 Und Bausch antwortet: „’The audience shouldn’t know in adavance who the girl will be, who will be chosen. Where is the suspense? Of course all the girls in the troup know the dance the chosen one will do, but in terms of rehearsals, we can’t choose a different girl each time.’ Pina Bausch is thoughtful. ‚That is a terrific idea, though!’ She says that she toyed with telling the man just before the performance who the girl would be.“89
Die Bedeutung der Gruppe und des Zufalls als Auswahlkriterium ist in diesem Kontext ähnlich wie sie in derselben Szene bei Nijinsky ist, wo die Erwählte durch ihr ‚Fallen’ im Zirkel der Frauen ausgelost wird. Und doch verschieden: denn die Gleichrangigkeit aller Tänzer der Kompanie zeigt sich u.a. in dieser Praxis des Nicht-Ankündigens der Solistin im Programmheft. Pina Bausch: „We work as a company, so how can you single out anyone in ‚Le Sacre’ – you can only call them ‚The Girl’ and ‚The Man who is judging’.“90 In Bauschs Sacre-Choreografie verschränken sich hiermit zwei Prinzipien der ‚Auswahl’: zum einen jene rituelle ‚Election’ (die ek-stasis) der ‚Chosen 87 Pina Bausch: Probe Sacre, S. 44. 88 Glenn Loney: ‚I pick my dancers as people’. Pina Bausch discusses her work with the Wuppertal Dance Theatre (1985), S. 95. 89 Ebd. S. 94f. 90 Ebd., S. 95.
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One’, des Opfers, aus dem Körper der Gruppe, die ein Basiselement der Sacre-Idee ist (wie sie von Strawinsky/Roerich/Nijinsky erfunden wurde). Und zum anderen das Prinzip, das Bausch zur Maxime ihrer Auswahl der Tänzer für ihre Kompanie machte. Sie engagiere, so Bausch, „nicht in erster Linie den Tänzer“,91 denn den setze sie, mit allem was er als Ausbildung durchlaufen hat, voraus. Und sie fährt fort: „Mich interessiert vor allem seine Persönlichkeit, das Unwiederbringliche und Einmalige an ihm.“92 Eben diese Situation macht es unnötig, für Le Sacre du Printemps bestimmte Rollen durch bestimmte Tänzer zu besetzen. Eher umgekehrt gilt: die Rolle (z.B. der ‚Chosen One’), so präzise sie in der ‚Probe’ auch einstudiert wird, verändert sich und wird gestaltet durch die Persönlichkeit der jeweiligen Tänzerin:93 „I don’t design dances around dancers“, so Bausch, „around ‚stars’, because we don’t have any stars. But when dances are developping, you see who can do this, who can do that.“94 Auf diese Weise entfaltet sich die Geschichte von Bauschs Le Sacre du Printemps in unterschiedlichen Schichten: in der Weitergabe des Bewegungsmaterials von Bausch und den Tänzern an jene, die sich die Choreografie aneignen und weitertragen; und in den Umschichtungen der Kontexte, ihrer historischen und ästhetischen Konstellationen und Referenzen – etwa, wenn Le Sacre du Printemps nicht mehr zusammen mit den beiden anderen ‚Frühlings’-Stücken als ein ‚Triptychon’ aufgeführt wird, sondern zusammen mit Café Müller als ein ‚Diptychon’, in dem – in ihrer Darstellung in Café Müller, der einzigen Partie, die Pina Bausch bis zu ihrem Tod selbst tanzte – der Körper der Choreografin auf der Bühne auch als Tänzerin erscheint.
Epilog: Das Nachleben von Pina Bauschs Sacre Die Fragen, wie das Korpus der Choreografien von Bausch in die Zukunft weitergegeben wird und wie ein ‚Bausch’-Repertoire aussehen könnte, das ihre ‚Signatur’ trägt und weitergibt, welche Kompanien und Tänzer es übernehmen und pflegen können – und schließlich: wie solche Entscheidungen getroffen werden: diese Fragen werden, als neue Kontexte und Diskurse einer Debatte um Archiv, Erbe und Kanon, in Zukunft Tänzer und Theater ebenso wie Wissenschaftler beschäftigen.
91 Pina Bausch: Etwas finden, was keiner Frage bedarf, S. 12. 92 Ebd. 93 Eine detaillierte Analyse von Bauschs Choreografie des Opfertanzes in Sacre müsste einen Vergleich der Besetzung dieser Rolle durch unterschiedliche Tänzerinnen der Wuppertaler Tanztheater Kompanie, von 1975-2009 (und danach) einschließen. 94 Ebd.
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Für Le Sacre du Printemps gilt in besonderem Maße, dass und wie der Prozess der ‚transition’ ein Moment der Ablösung vom Körper der Choreografin beinhaltet. Mehrfach hat Bausch betont – und, wie in der Probe mit Kyomi Ichida – auch gezeigt, dass sie Sacre für sich selbst erfunden hat: Auf die Frage „Do you choreograph on your own body?“95 antwortet Bausch (im Interview 1985): „Yes. I make the material and take it to the dancers. Then we start playing with it. But first I teach it. I see what they can do with it.“96 Für Le Sacre du Printemps gilt dieses Verfahren in noch stärkerem Maße: Geradezu als eine multiplizierte Inkorporation der Bewegungs-Erfindung aus dem Körper von Pina Bausch. Dieses Prinzip – „concept and movement“, „to do it on my own“97 – wurde in einem kurzen Interview pointiert: Christopher Bowen bemerkte zu Bausch: „I heard an audience member in London wonder if all of the women were meant to be you...“ Pina Bausch antwortete: „Nice idea. But not only the women...“98 Die Übertragung in einen multiplen Körper – der jeweiligen Tänzer des Tanztheaters – wiederholt die ‚Signatur’ der Choreografin, transformiert sie in einem Prozess der Um-Schreibung, des Wieder und Wider: ‚Rekonstruktion’ sei ein Akt der Wiederbelebung, so Jo Ann Endicott mit Blick auf die Rekonstruktionsarbeiten an Frühlingsopfer99, es sei wie „ein Stück aus dem Grab bringen.“100 Es ist ein Weiter-Geben – ein passover – dessen Reichweite zwischen der möglichst genauen, getreuen ‚Nachahmung’ der Signatur und der Geister-Beschwörung, der Wieder-Holung „aus dem Grab“, oszilliert. Stephan Brinkmann bringt dieses Erinnern und Weitergeben (auch: an den eigenen Körper) auf die Formel des Nachschreibens. „Ich denke oft an Pina Bauschs Satz: Sie habe mit ihrem Körper geschrieben. So kommen mir die Aufführungen und Proben wie ein Akt des Nachschreibens vor, indem wir diejenigen Wege gehen, die sie auch gegangen ist. Es ist eine Form des Erinnerns mit dem Körper, eine Art und Weise, um den Kontakt herzustellen.“101
Das Nachleben von Pina Bauschs Sacre zieht seine Kraft und emotionale Wirksamkeit aus diesen vielfältigen Akten des Wieder-Holens, des ReAnimierens und Re-Signierens. 95 Vgl. Glenn Loney: ‚I pick my dancers as people’. Pina Bausch discusses her work with the Wuppertal Dance Theatre, S. 96. 96 Ebd. 97 Ebd. S. 95. 98 Christopher Bowen: ‚Every day a discovery...’: interview with Pina Bausch (1999), in: Royd Climenhaga: The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, S. 99-103, hier: S. 102. 99 Gesprächsnotiz vom Podiumsgespräch am 23.11.2013. 100 Ebd. 101 Stephan Brinkmann: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz, S. 164.
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Die Geschichte dieses Übertragens generiert darüber hinaus jedoch – in dem ‚Wieder’ des Wiederholens – das Wider; die Widerständigkeit einer jungen Generation von Tänzern und Choreografen, die in der Auseinandersetzung mit Bauschs ‚Signaturstück’ das Erbe befragen, und im zitierenden Umarbeiten Fragen an Sacre stellen – eine Suchbewegung, die etwas zutage fördert, was im Material der Choreografie erst sichtbar zu werden vermag. Zu diskutieren ist dann erneut – und in veränderten Kontexten – die Frage der Autorschaft und der Rechte’ an einem Werk: Xavier Le Roys Le Sacre du Printemps (2007) beispielsweise, inszeniert die Musik Strawinskys als eine Dirigier-Performance, inspiriert durch Simon Rattle. In seinem Solo trägt er ein rotes T-Shirt, womit er das rote Kleid der Tänzerin des Opfers bei Pina Bausch zitiert: eine Performance, in der der Choreograf und Tänzer den Appell von Sacre in das Publikum hinein-dirigiert.
Abb. 6: Xavier Le Roy: Le Sacre du Printemps, 2007 Abb. 7: Josep Caballero García: SACRES, 2013 In einer zugleich rebellischen und melancholischen Weise setzt sich Josep Caballero Garcia in No (´rait) of spring (2013) und SACRES (2013)102 mit der Frage des Übertragens und Weitergebens des Erbes von Pina Bausch auseinander: Die Probleme mit Fragen des ‚Copy-Rights’, die sich in der Erarbeitung seiner Choreografie auftürmten (sowohl mit der Musik Strawinskys als auch der Choreografie Bauschs), übersetzt Caballero in ein aufbegehrendes Solo eines ‚Wider’. Hier bringt er seine körperlichen Erinnerungen und seine 102 Josep Caballero Garcia: No [´rait] of spring, Premiere am 26.04.2013, K3 Tanzplan Hamburg P1 und SACRES, Premiere am 15.11.2013, Symposium Tanz über Gräben. 100 Jahre ‚Le sacre du printemps’, Radialsystem.
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SIGNATUR – ÜBERTRAGUNG – KONTEXT
Tanzerfahrungen in Bauschs Sacre in eine Collage ein, die zugleich eine Medien-Geisterbeschwörung von älteren Aufführungen und Schrift-Stücken seines Ringens um Zugang zum Copyright wird. Beide Sacre-Versionen (und andere wären hier zu nennen) übertragen etwas vom Geist von Pina Bauschs Sacre: von der Bedeutung des Über Grenzen Gehens; und von jener Kraft, aus dem Persönlichen heraus eine neue Perspektive auf die aktuelle Situation – für eine Welt von heute – zu entwerfen. Es ist das spezifische Verfahren, das Pina Bausch für das Wuppertaler Tanztheater erfunden hat: „Wir zeigen etwas Persönliches, aber es ist nicht privat.“103
Literatur Bausch, Pina: Etwas finden, was keiner Frage bedarf. The 2007 Kyoto Prize Workshop in Arts and Philosophy, Inamori Foundation, 12.11.2007. Dies.: Probe Sacre, DVD und Buch, Paris: L´Arche Éditeur 2013. Dies./Kyomi Ichida: Dialog während einer Probe von ‚Le Sacre du Printemps’, in: Bausch, Pina: Probe Sacre, DVD und Buch, Paris: L´Arche Éditeur 2013, S. 30-44. Bowen, Christopher: ‚Every day a discovery...’: interview with Pina Bausch (1999), in: Climenhaga, Royd: The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, S. 99-103. Brandstetter, Gabriele: Le Sacre du Printemps 1913/2013, in: Raphael Gygax (Hg.): Sacré 101. An Anthology on ‚The Rite of Spring’, Zürich: JRP Ringier Kunstverlag 2014, S. 9-23. Brinkmann, Stephan: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz, Bielefeld: transcript 2012. Croce, Arlene: Bausch’s theatre of dejection (1984), in: Climenhaga, Royd: The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, S. 192-199. Daly, Ann: The thrill of the lynch mob or the rage of a woman, in: Climenhaga, Royd: The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, S. 251-263. Derrida, Jacques: Signatur, Ereignis, Kontext, in: Peter Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie, 2. Auflage, Wien: Passagen 1999. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Hodson, Millicent: Nijinskys Crime against grace: reconstruction score of the original choreography for Le Sacre du Printemps, Stuyvesant, NY: Pendragon Press 1996.
103 Vgl. Pina Bausch: Etwas finden, was keiner Frage bedarf, S. 12.
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GABRIELE BRANDSTETTER
Hoghe, Raimund: Pina Bausch. Tanztheatergeschichten. Mit Fotos von Uli Weiss, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Langer, Susanne K.: Feeling and Form: A Theory of Art Developed from Philosophy in a New Key, London: Routledge & Kegan 1957. Loney, Glenn: ‚I pick my dancers as people’. Pina Bausch discusses her work with the Wuppertal Dance Theatre (1985), in: Climenhaga, Royd: The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, S. 80-94. Meisner, Nadine: Come dance with me, in: Climenhaga, Royd (Hg.): The Pina Bausch Sourcebook. The making of Tanztheater, London: Routledge 2013, S. 167-176. Rainer, Yvonne: Feelings are Facts. A life (writing art), Cambridge: MIT Press 2006. Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen Verlag, 2010. Wenders, Wim: Rede für Pina am 4.9.2009, unter http/www.pinabausch.de/pina_bausch/rede_fuer_pina_040909.html.php vom 11.12.14.
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GABRIELE KLEIN
Die Logik de r Praxis . Methodologisc he As pe k te einer praxeologisc he n Produk tionsa nal ys e a m Beispiel Das Frühlings opfer von Pina Ba usc h
Die Choreografie zu Strawinskys Le Sacre du Printemps hatte vor mehr als einem Jahrhundert Weltpremiere in Paris. Es ist bekannt und – vor allem im Jubiläumsjahr 2013 – vielfach besprochen worden, dass die Choreografie von Nijinsky und den Ballets Russes von dem Pariser Premierenpublikum vornehmlich als ein Eklat, als ein Affront wahrgenommen wurde, von einigen aber schon damals als ein Meilenstein in der Tanzgeschichte der Moderne bejubelt wurde.
Kon_Texte Als Pina Bausch sich etwa sechzig Jahre später an das wohl wichtigste und am häufigsten interpretierte Musikstück der Tanzgeschichte der Moderne heranwagte, hatten nicht nur namhafte Choreografen bereits eindrückliche Interpretationen vorgelegt: Maurice Bejart (1959) zum Beispiel, der die Erotik geopfert sah oder John Neumeier (1972) mit seiner neoklassizistischen Deutung. In diesen sechzig Jahren hatte sich auch das gesellschaftliche Verhältnis zu Opfern durch zwei Weltkriege und den Holocaust fundamental geändert. Vor allem Deutschland als das „Land der Täter“ war spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg aufgefordert, ein Verhältnis zur eigenen Geschichte und zu den Opfern zu finden, die das nationalsozialistische 123
GABRIELE KLEIN
Regime und seine vielen „willigen Vollstrecker“ (Goldhagen) verursacht hatte. Nicht zuletzt die APO, die Studentenbewegung, die Frauenbewegung oder Friedensbewegung, die Schwulen- und Lesbenbewegung thematisierten wie die Schwarzenbewegung und die Vietnamskriegsgegner in den USA die Frage des gesellschaftlichen Opfers. Viele Ereignisse wie die Kubakrise, die Dekolonisierung Afrikas, der Prager Frühling, der Bau der Berliner Mauer, die Ermordung von John F. und Robert Kennedy und Malcolm X, die Attentate auf M. Luther King und Rudi Dutschke, der Tod Che Guevaras oder auch die Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München rückten die Opferthematik endgültig in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte. Seit Ende der 1960er Jahre war die Frage, wer, wo, wie das Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse ist, in der öffentlichen Debatte sehr präsent. Die Positionen teilten sich dabei vor allem in zwei feindliche Lage auf: Auf der einen Seite das konservative Lager, repräsentiert durch die Springer-Presse und ihr Flaggschiff, die Bild-Zeitung, auf der anderen Seite die Studierenden und ihre Sympathisanten, die Intellektuellen, Künstler und die fortschrittlichliberale Presse. Diese politisch aufgeladene Situation wurde gerahmt von einem radikalen Umbruch, in dem sich die industrialisierten Gesellschaften seit den 1960er Jahren befanden: Bergbau- und Stahlkrise, die insbesondere das Ruhrgebiet und anliegende Industriestädte wie Wuppertal trafen, das einst zu den ersten, größten und reichsten Industriestandorten des Deutschen Kaiserreichs gezählt hatte, und die damit eingehergehende langatmige und schwierige Transformation der Altindustrieregionen, das sich ankündigende Ende des Wohlfahrtsstaates, die durch Georg Picht in den 1960er Jahren beschworene „Bildungskatastrophe“, die mit dem sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt einhergehende Hoffnung auf mehr „Demokratie wagen“, die durch den Radikalenerlass 1972 für viele schnell Makulatur geworden war – all dies forcierte das Gefühl von Unsicherheit, Zukunftsangst und Lähmung. Insbesondere in der jungen Generation, die wie Pina Bausch in die Kriegsjahre hineingeboren waren, die schwierige Nachkriegszeit als Kinder miterlebt hatten und gegen die verkrusteten Strukturen der Adenauer-Ära, die nicht nur kleinbürgerliche Lebensweisen protegiert sondern auch Altnazis in wichtige Positionen in Bildung, Politik, Justiz, Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung zurückgeholt und sie damit rehabilitiert hatte, provozierte diese Situation die Suche nach neuen vollständig anderen Lebensformen. Diese Suche nach Neuem ereignete sich vor allem auch in der Kunst, die in den 1960er Jahren in allen Kunstsparten einen Aufbruch erfuhr. Im westlichen Kunsttanz veränderte George Balanchine das Ballett, Merce Cunningham den modernen Tanz und das Judson Church Theater leitete die Postmoderne im Tanz ein. In dieser hier nur kurz skizzierten politisch brisanten, emotional aufgeladenen, gesellschaftlich brüchigen, aber auch künstlerisch kreativen Situation 124
DIE LOGIK DER PRAXIS
entscheidet sich also Pina Bausch, einen dreiteiligen Strawinsky-Abend zu gestalten, den sie Frühlingsopfer nennt. Der letzte Teil, damals betitelt mit Le Sacre du Printemps, wurde dann in den Folgejahrzehnten unter dem Titel Das Frühlingsopfer das am meisten gespielte und erfolgreichste Stück der Kompanie, die unter dem Namen Tanztheater Wuppertal das ästhetische Paradigma dessen geprägt hat, was in der Tanzgeschichte als ‚Tanztheater’ bekannt wurde. Mit Le Sacre du Printemps schließt Pina Bausch eine Phase in ihrer außergewöhnlichen Schaffensperiode ab. Die Choreografie Das Frühlingsopfer ist die letzte Choreografie, für die sie ausschließlich die Bewegungssprache erfand und die sie „durchchoreografierte“ (N. Servos). Sie ist nie mehr, so wissen wir es heute, zu dieser choreografischen Arbeitsweise zurückgekehrt. Denn nachdem sie mit Frühlingsopfer ihr choreografisches Meisterstück erarbeitet und, wie schon in Iphigenie auf Tauris (1973) und Orpheus und Eurydike (1975), mit denen sie das Genre der ‚Tanzoper’ erfand, ihr choreografisches Können fulminant unter Beweis gestellt hatte, vollzieht sie bekanntlich eine radikale Transformation der bisherigen ästhetischen Mittel und Arbeitsweisen des Tanzes. Sie radikalisiert, wie vielfach geschrieben, mit Montage- und Collageverfahren, mit Einbezug von Sprache und Bildmedien, mit der Vermischung von Theater, Alltag und Tanz nicht nur die tänzerischen, choreografischen und theatralen Mittel. Ihre Wuppertaler Kompanie wird auch hinsichtlich der Arbeitsweisen, der Formen der Zusammenarbeit, der gemeinsamen ‚Researchphasen’, wie die Mitglieder des Tanztheaters dies nennen, und der jahrzehntelangen Schaffens- und Arbeitsperioden mit z.T. denselben Kompaniemitgliedern eins der größten und am längsten andauernden Experimente von Künstlergruppen (nicht nur) in der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wie sich also vor diesem mächtigen Hintergrund dieser Choreografie annähern? Der Text skizziert, unterfüttert mit Beispielen, die Methodologie eines praxeologischen Ansatzes einer Produktionsanalyse, der eine sozialund kulturwissenschaftliche Perspektive mit einer tanz- und bewegungswissenschaftlichen Sicht verbindet. Es ist eine Herangehensweise, die versucht, Text (Choreografie) und Kontext (soziale, politische und kulturelle Rahmungen) zu verflechten. Verflechtung bedeutet nicht nur, den gesellschaftlichen Kontext zu benennen, indem beispielsweise aufgelistet wird, wie hier eingangs geschehen, was sich in der Zeit auf sozialer, politischer und kultureller Ebene ereignet hat. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, wie in den ästhetischen Praktiken und Formen selbst soziale, politische und kulturelle Erfahrungen eingeschrieben sind. Entsprechend ist in dem hier skizzierten praxeologischen Ansatz die Methodologie so angelegt, dass sie in den ästhetischen Praktiken selbst die Muster sozialer Wahrnehmung und Erfahrung herauszuarbeiten versucht. 125
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Der Text führt dazu zunächst mit ‚Produktion’ einen grundlegenden Begriff praxeologischer Forschung ein, um dann die Bruchstücke eines praxeologischen Forschungsprogramms zu skizzieren. Letzteres sieht vor, die Logik der Forschungspraxis selbst zu reflektieren, was im dritten und letzten Abschnitt skizzenhaft erfolgt.
P r o d u k t i o n s a n a l ys e ve r s u s Au f f ü h r u n g s a n a l ys e : Standortbestimmungen Die Tanzforschung ist bezüglich der methodischen Annäherung an ihren Gegenstand mit einem zentralen Problem konfrontiert: Wie kann man sich einer Aufführung nähern? Um dies zu beantworten, muss zunächst geklärt sein, was überhaupt unter Aufführung verstanden wird: Das ‚Stück’, die Aufführungssituation, der Aufführungsort, die Zuschauer z.B.? Aufführung, so wissen wir aus der jüngeren Theaterforschung, meint nicht nur das ‚Stück’ im Sinne eines fertigen Produkts, sondern auch das Ereignishafte und Situationale der Aufführung. Mit dieser Reformulierung des Aufführungsbegriffs folgt die Theaterforschung einem Verständnis, das sich in der künstlerischen Praxis des Tanzes – und auch in den Bildenden Künsten – bereits in den 1960er Jahren durchgesetzt hatte, so in dem zufallsgenerierten Aufführungskonzept von Cage und Cunningham oder in den improvisatorisch und performativ angelegten Produktionen des Judson Church Theaters. Im deutschsprachigen Raum war es vor allem Pina Bausch, die schon mit ihrem ersten Stück Fritz (1973), das sie für die Wuppertaler Bühnen schuf, gezeigt hatte, dass jedes ‚Stück’ ein Work in Progress ist und niemals fertig. ‚Stück’ war deshalb auch der passende Begriff, um das Prozesshafte und sich Entwickelnde zu bezeichnen. Aber nicht nur das ‚Stück’ verändert sich ständig, quasi Stück für Stück. Auch der Kontext, in dem es aufgeführt wird, macht das Stück anders. Ob das Frühlingsopfer 1975 in Wuppertal aufgeführt wurde oder 2013 in Taipei: der zeithistorische Rahmen, der kulturelle und gesellschaftliche Kontext, das Publikum und seine Sehgewohnheiten und deren Kontextualisierungen sind andere. Dieses Verhältnis von Text und Kontext ist vor allem dann relevant, wenn man eine sozial- und kulturtheoretische Lesart wählt und zudem der wahrnehmungstheoretischen These folgt, dass ein ‚Stück’ erst in der Wahrnehmung des Betrachters entsteht. Eine Aufführungsanalyse, die einem weiten Aufführungsbegriff folgt, ist demnach aufgefordert, die Historizität und Kulturalität ihres Standpunktes offenzulegen und die Position der eigenen Lesart transparent zu machen.
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DIE LOGIK DER PRAXIS
Pierre Bourdieu spricht in diesem Sinne von „reflexiver Methodologie“1, die er als vollständige Objektivierung versteht, nicht nur eines Gegenstandes, sondern der Beziehung zu diesem Gegenstand, einschließlich der Wahrnehmungs- und Klassifikationsmuster. Letztere bestimmen nicht nur das eigene Interesse an der Objektivierung, sondern definieren auch die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit. Eine reflexive Analyse einer kulturellen Praxis fordert entsprechend eine Ethik als Grenze. Ähnlich diskutieren die postcolonial studies die Reflexion des gesellschaftlichen Ortes der Sprecherposition. Mit einem Ansatz, der ein Stück nicht nur als ein fertiges Produkt, sondern als einen kontextabhängigen Prozess ansieht, wird die Frage nach dem empirischen Material besonders relevant. Welches Material liegt von den Aufführungen vor? Gibt es Videomaterial zu dem Stück? Welches kann und darf bearbeitet werden? Hat man Zugang dazu? Sind die Rechte geklärt? Welche Qualität hat das Videomaterial? Aus welcher Perspektive ist das Stück aufgenommen? Totale, Halbtotale, Ausschnitte. Von welcher Aufführung liegt Videomaterial vor? Wer tanzt in dieser auf Video aufgenommenen Aufführung? Eine kontextbezogene Aufführungsanalyse provoziert zudem weitere Fragen: Liegen Paratexte vor, so zum Beispiel Programmhefte, Fotos, Interviews mit der Choreografin oder mit den Tänzern? Von welchen Aufführungen sind Kritiken oder ggf. bereits wissenschaftliche oder ausführlichere journalistische Texte publiziert? Gibt es Eindrücke oder Stellungnahmen des Publikums? Ist bearbeitetes Filmmaterial zu dem Stück vorhanden, z.B. Dokumentationen? Mit diesen Fragen wird das Problem virulent, wie sich methodisch eine Analyse von Text und Paratexten oder anders gesprochen: eine Stückanalyse mit einer Rahmenanalyse verbinden lassen, ein methodologisches Problem, dem bislang in der Tanzforschung wenig Beachtung geschenkt wurde. In der jüngeren Tanzforschung hat aber nicht nur ein erweiterter Aufführungsbegriff zur Diskussion gestanden, sondern der für die theaterwissenschaftliche Forschung so elementare Begriff der Aufführung selbst wurde in Frage gestellt. An dessen Stelle tritt zunehmend der Begriff der Produktion. Produktion meint den Herstellungsprozess eines künstlerischen Werkes, das grundsätzlich zur Aufführung bestimmt ist. Produktion meint dabei die notwendige Arbeit, welche zur Erzeugung von künstlerischen Werken aufgewendet wird.
1
Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979; Ders./Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996.
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Der Produktionsbegriff umschließt entsprechend, wie ein erweiterter Aufführungsbegriff, Text und Paratext, Text und Kontext, das Stück und seine Rahmungen. Zudem thematisiert er das Verhältnis von Prozess und Produkt, von Arbeitsweisen und dem ‚Stück’. Er berücksichtigt also den Arbeitsprozess, der aus dieser Sicht zugleich mehr ist als der einem fertigen Produkt vorgelagerte Vorgang der Stückentwicklung – und genau dies macht ihn für einen praxeologischen Ansatz tragfähig. Das Forschungsinteresse liegt hier auf den Praktiken des künstlerischen Arbeitens und damit auch auf der Sozialität des Arbeitsprozesses. Die Fragen, wie, wann, wo, was zusammen gearbeitet wird, sind aus produktionsanalytischer Sicht zentral für die Produktion des Ästhetischen. Gerade das Tanztheater Wuppertal hat gezeigt, dass die spezifische Arbeitsweise des Fragestellens, die eine künstlerische Verarbeitung der Subjektivität der Tänzer und ihren Erfahrungen und ein für die damalige Zeit radikales gemeinschaftliches Arbeiten provozierte, ein neues kompositorisches Verfahren, die Montage, nach sich zog. Es ist ein Verfahren, das nicht nur mit einer an linearen Erzählstrukturen gebundenen Dramaturgie brach und das Fragmentarische in die Tanzdramaturgie einführte, sondern auch Unterschiede nebeneinander stehen und miteinander vereinbaren konnte und Subjektivität und Kollektivität in ein ausgewogenes Verhältnis brachte. Zudem hat der lange Zeitraum des gemeinsamen Arbeitens, der für manche Tänzer mehr als ein durchschnittliches Tänzerdasein, nämlich fast vierzig Jahre andauerte, spezifische Umgangsweisen, Arbeitsformen und Identitäten hervorgebracht und etabliert, die für die Ästhetik des Tanztheater Wuppertal entscheidend waren, so z.B. der über Jahrzehnte eingespielte Ablauf eines Arbeitstages mit Training und ‚Kritik’ an der Vorstellung des Vorabends2, Researchphasen, Proben und Aufführungen oder die Beständigkeit, mit der Tänzer über Jahre ihre Rollen tanzten, Charaktere zeigten und in ihren Solotänzen eine spezifische Bewegungssprache entwickelten oder auch das Prinzip der generationsspezifischen Weitergabe, bei dem Tänzer ihre selbst entwickelten Rollen an andere Tänzer weitergaben. Gerade die jahrzehntelange Zusammenarbeit der Kompanie veranschaulicht, dass die Formen der künstlerischen Zusammenarbeit immer auch ein ‚Realitätsmodell’ sind, an dem sich zeigt, welche Arbeitsweisen und Arbeitsformen für Künstler in welchen historischen Phasen möglich waren: eine Kompanie in der Größenordnung des Tanztheater Wuppertal, die jahrzehntelang zusammengearbeitet hat, ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Zeiten neoliberaler Kunstpolitik und projektorientierter, netzwerkbasierter Arbeitsweisen ein historisches Konstrukt. Formen des Kollektiven, die hier 2
Siehe dazu den Text von Stephan Brinkmann und das Interview mit Barbara Kaufmann in diesem Band.
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gelebt wurden und werden und in die künstlerischen Praktiken Eingang fanden, sind von daher anderer Gestalt als jene kollektiven Praktiken, die im Kontext projekt- und netzwerkbasierter künstlerischer Arbeit erzeugt werden können. Mit dem Wissen um die Schwierigkeiten, die namhafte Choreografen wie William Forsythe und Sasha Waltz mit der Fortführung ihrer Kompanien haben, ist es umso bemerkenswerter, dass Pina Bausch ihr TanztheaterEnsemble über so viele Jahre halten und finanzieren konnte. Auch vor diesem Hintergrund der Produktionsbedingungen einer großen Kompanie provoziert der Produktionsbegriff neue Fragen, vor allem dann, wenn man Produktion als eine künstlerische und soziale Praxis versteht und sie praxeologisch untersucht: Wie lässt sich der Produktionsprozess beschreiben? Welches Material benötigt man dafür: z.B. Aufzeichnungen der Choreografin, der Tänzer, Dramaturgen, Musiker, der Kostümbildnerin, des Bühnenbildners? Welches Material sollte noch zusätzlich erhoben werden, z.B. Publikumsbefragungen, Interviews oder ethnografische Verfahren? Welche Erhebungs- und Interviewverfahren sowie Auswertungsverfahren kommen dabei zur Anwendung? Gerade die durch eine spezifische Forschungsfrage bedingte zusätzliche Erhebung empirischen Materials setzt die Kenntnis des entsprechenden methodischen Instrumentariums qualitativer Sozial- und Kulturforschung voraus, sei es die Kenntnis der großen Spannbreite an Interviewverfahren und -techniken, Transkriptionsverfahren sowie Auswertungsverfahren oder das praktische Wissen um verschiedene Beobachtungsverfahren und deren Transkriptionen und Zusammenführungen zu „Dichten Beschreibungen“3. Es verlangt zudem eine – noch ausstehende – Reflexion dieser Instrumentarien hinsichtlich ihrer Eignung für tanzwissenschaftliche Forschung. Wann und wie z.B. machen Interviews Sinn? Wie ist die sprachliche Übersetzung methodisch zu bewerten, wenn Tanz doch jenseits des gesprochenen Wortes seine Kraft entfaltet?
As p e k t e e i n e r P r o d u k t i o n s a n a l ys e z u D a s Frühlingsopfer: Die ‚Fakten‘ Aus der Sicht einer kontextgebundenen praxeologischen Produktionsanalyse ist die Choreografie Das Frühlingsopfer weit mehr als ein Stück. Es ist ein ephemeres Zeitdokument, d.h. ein Dokument, in dem sich die Flüchtigkeit der einzelnen Aufführung mit der Dauerhaftigkeit des Aufführens über einen langen Zeitraum hinweg verbindet. Es ist ein künstlerisches Meisterwerk und zugleich ein „Oberflächenphänomen“, das mit Siegried Kracauer4 zu ver3 4
Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977.
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stehen ist als das Besondere, das Erkenntnis über das Allgemeine aussagt, über den Grundgehalt der Kunst und der Kultur, in der es gezeigt und wahrgenommen wird. Will man sich der Produktion Das Frühlingsopfer annähern, sind allein die ‚Fakten’ überwältigend: Das Frühlingsopfer wurde am 3.12.1975 in Wuppertal uraufgeführt und seitdem in Wuppertal regelmäßig gespielt. Zwischen 1989 und 1993 war das Stück nicht im Spielplan des Tanztheater Wuppertal. Es ist das Stück, das bislang von allen Choreografien Pina Bauschs am meisten gespielt wurde. Gastspiele waren bislang5: 1976: Solingen, Köln, Deutschland, 1977: Berlin, Deutschland, 1977: Nancy, Frankreich, 1978: Edinburgh, Schottland, 1979: Südostasien-Tournee (Colombo, Delhi, Madras, Hyderabad, Kalkutta, Bombay, Singapur, Manila, Bandung, Jakarta, Seoul, Hongkong), 1980: Südamerika-Tournee (Curitiba, Rio de Janeiro, São Paulo, Porto Alegre, Santiago de Chile, Buenos Aires, Lima, Bogota, Caracas, Mexico City), 1981: Israel-Tournee (En Gedi, En Hashovez, Jerusalem, Tel Aviv) (Das Frühlingsopfer + Der Zweite Frühling), 1981: Köln, Deutschland, 1982: Wien, Österreich, 1982: Amsterdam, Niederlande, 1984: Amerika-Tournee (Los Angeles, New York, Toronto), 1985: Paris, Frankreich, 1985: Venedig, Italien, 1986: Japan-Tournee (Tokyo, Osaka, Kyoto), 1987: DDR-Tournee (Ost-Berlin, Gera, Cottbus, Dresden), 1987: Athen, Griechenland, 1987: Breslau, Polen, 1987: Prag, Košice, Tschechoslowakei, 1988: Athen, Delphi, Griechenland, 1988: Reggio, Cremona, Bologna, Modena, Italien, 1993: Paris, Frankreich, 1993: Moskau, Russland, 1994: Lissabon, Portugal, 1995: Frankfurt, Deutschland, 1995: Amsterdam, Niederlande, 1995: Avignon, Frankreich, 1995: Tel Aviv, Israel, 1998: Stockholm, Malmö, Schweden, 1999: Berlin, Deutschland, 2002: Genf, Schweiz, 2003: Bochum, Deutschland, 2006: Brüssel, Belgien, 2006: Tokyo, Japan, 2007: Beijing, Volksrepublik China, 2008: London, Großbritannien, 2008: Barcelona, Spanien, 2008: Düsseldorf, Deutschland, 2009: São Paulo, Brasilien, 2009: Kairo, Ägypten, 2010: Seoul, Südkorea, 2010: Monaco, Monaco, 2011: Warschau, Polen, 2013: Taipei und Kaohsiung, Taiwan, 2013: Moskau, Russland, 2013: Göteborg, Schweden, 2013: Paris, Frankreich, 2013: Neapel, Italien, 2013: Bordeaux, Frankreich, 2013: Antwerpen, Belgien.
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Stand September 2014.
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Abb. 1: Gastspiele Das Frühlingsopfer von Pina Bausch 1976-2013, eigene Tabelle. Insgesamt spielte die Wuppertaler Kompanie Das Frühlingsopfer von 19762013 mehr als 300 Mal in 74 Städten, in 38 Ländern und in 4 Kontinenten. Da das Stück immer auf großen Bühnen gezeigt wird, haben vermutlich bislang weit mehr als 200.000 Personen das Stück auf der Bühne gesehen. Im Laufe von nahezu vierzig Jahren haben verschiedene Personen die Einstudierungen geleitet: Pina Bausch, Hans Pop, Dominique Mercy, Ed Kordtland, Jo Ann Endicott und Mariko Aoyama (beide die Einstudierungen an der Opéra de Paris). Barbara Kaufmann und Kenji Takagi haben die jüngste Einstudierung der Wiederaufnahme für die Jubiläumsspielzeit 2013/2014 übernommen. 16 Paare, also insgesamt 32 Tänzer tanzen das Stück. Insgesamt haben ca. 300 Tänzer bislang das Stück auf der Bühne getanzt. Unzählige mehr haben es einstudiert. Einige, die das Stück lange tanzen, haben mit mehr als 100 Personen getanzt. Das Frühlingsopfer wird seit einigen Jahren von drei Gruppen von Tänzern getanzt: Den Tänzern des Tanztheater Wuppertal, den Mitgliedern des Folkwang Tanzstudios (FTS) sowie Studierenden der FolkwangUniversität. Studierende der 3. und 4. Klasse der Folkwang-Universität, selten auch Studierende aus unteren Klassen, und die FTS-Tänzer erlernen alle das Stück, aber nicht als Workshop oder als Bestandteil eines Unterrichtskanons, sondern immer nur mit der Perspektive der Aufführung. Seit dem Tod von Pina Bausch treffen die verantwortlichen Probenleiter zusammen mit der 131
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künstlerischen Leitung des Tanztheaters und unter Hinzuziehung der Professoren der Folkwang Universität gemeinsam eine Auswahl, wer das Stück von den Studierenden und den FTS-Tänzern tanzen darf.6 Elf Tänzerinnen des Tanztheater Wuppertal haben bislang das Opfer getanzt: Marlis Alt, Colleen Finneran, Monika Sagon, Malou Airaudo, Jo Ann Endicott, Beatrice Libonati, Kyomi Ichida, Ruth Amarante, Azusa Seyama, Ditta Miranda Jasfi, Tsai-Chin Yu und Tsai-Wei Tien, Tänzerin des FTS7 sowie die Tänzerinnen der Opéra National de Paris. Dies sind allein die quantitativen Daten der Produktion. Sie sind insofern relevant, als dass sich hinter ihnen eine Unmenge an Material und methodischen Zugängen verbirgt. Wie kann man sich allein angesichts dieser ‚Fakten’ und dem dazugehörenden reichhaltigen Proben- und Aufführungsmaterial mit einer Produktionsanalyse einer ‚Jahrhundertchoreografie’ annähern? Wenn es – auch im Sinne einer Inszenierungsanalyse – nicht reicht, sich mit nur einer Aufführung bzw. einer einzelnen Aufnahme einer Aufführung zu befassen, ist doch das Stück von so vielen Tänzern getanzt worden? Es liegt auf der Hand, dass das Produktionsmaterial ausufernd ist: Unzählige Videoaufzeichnungen von Proben und Aufführungen, schriftliche oder skizzenhafte Aufzeichnungen der Choreografin, der Probenleiter und der Tänzer, Briefwechsel mit den Organisatoren vor Ort z.B. bzgl. der Bereitstellung des Torfes. Inspizientenlisten, Technikeranweisungen, Programmhefte, Kritiken, Interviews, zum großen Teil in Fremdsprachen. Unzählbare Fotos von verschiedenen Fotografen mit unterschiedlichen Ästhetiken. Dokumentarfilme wie der ZDF-Fernsehfilm, der am 11.3.19798 ausgestrahlt wurde oder Ausschnitte, die anlässlich des hundertjährigen Jubiläums von Sacre auf Arte gezeigt wurden. Probe Sacre9, ein Film, der zufällig entstanden ist und einen Ausschnitt aus der Probe von Pina Bausch mit Kyomi Ichida zeigt, die aufgrund eines Krankheitsfalls kurzfristig einspringen und die Opferrolle tanzen und diese schnell einstudieren musste. Bei der Überfülle von Materialien, die zum großen Teil im Pina-BauschArchiv in Wuppertal gelagert und gespeichert sind, scheint es zunächst mehr als hinreichend, dieses Material auszuwerten, falls es überhaupt zugänglich
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Siehe dazu das Interview mit Barbara Kaufmann in diesem Band. Beim dreiteiligen Strawinsky-Abend, der im Rahmen des Festivals pina40 entsprechend der Uraufführung vom 3.12.1975 vom 22.-24.11.2013 im Wuppertaler Opernhaus und am 26.11.2013 im Aalto Theater Essen gezeigt wurde. Es tanzten Mitglieder des Folkwang-Tanzstudios, Studierende des Instituts für Zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität der Künste und Absolventen des letzten Jahrgangs der Juilliard School of Music in New York, an der Pina Bausch selbst 1960 studiert hatte. Erneut ausgestrahlt bei ZDF Kultur am 5.2.2011. Pina Bausch: Probe Sacre, DVD und Buch, Paris: L’Arche Éditeur 2013.
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ist. Aber selbst wenn das Material ‚freigegeben’ wäre10: Einige Fragen lassen sich mit dem vorliegenden Material nicht hinreichend beantworten. Für eine Produktionsanalyse, die auch die Praktiken des künstlerischen Arbeitens in den Blick nimmt, wäre zusätzliches empirisches Material wichtig: Wie verlaufen die Proben? Wie lernen die neuen Tänzer das Stück? Wie erfolgt die Auswahl der Tänzer? Wie erfolgt die Übertragung auf andere Kompanien, wie z.B. auf die Tänzer der Opéra National de Paris, die als einzige fremde Kompanie bislang das Stück gelernt haben? Wie laufen die Einstudierungen nach dem Tod von Pina Bausch? Wie nehmen die Tänzer der vier Tänzergenerationen, die mittlerweile das Stück getanzt haben, es wahr? Diesen Fragen kann selten anhand von schriftlichen Dokumenten nachgegangen werden. Sie provozieren vielmehr Materialerhebungen der Oral History, einem aus der Geschichtswissenschaft stammenden Verfahren, das auf dem Sprechenlassen von Zeitzeugen basiert. Hierbei geht es nicht so sehr um irgendeine Form des Gesprächs oder Interviews, das durch seine Fragestruktur Rahmen setzt, sondern um das freie erinnernde Sprechen. Ähnliches gilt für Fragen bezüglich des Publikums: Wie hat das Publikum in den verschiedenen Ländern und Kontinenten das Stück angenommen? Wie zum Beispiel wurden 1979 bei der Südostasientournee oder 2009 in Kairo die durchsichtigen Kleider der Frauen wahrgenommen? Die freien Oberkörper der Männer? Das Reißen des Trägers, das den Blick auf die nackte Brust des Opfers freigibt? Wie erlebten die Zuschauer beispielsweise das Stück 1981 in Israel, in jenem Jahr als Israel die Welt schockte, indem es präventiv Bomben auf Bagdads Nuklearrektoren warf? Oder 1987 die Bürger der DDR, jenem Jahr, als US-Präsident Ronald Reagan am Brandenburger Tor den sowjetischen Parteichef Gorbatschow aufforderte, er solle die Mauer niederreißen lassen. Hatte es dort vielleicht sogar Einfluss auf die Mobilisierung der Freiheitsbewegung, die 1989 zum Fall der Mauer führte? Wie lassen sich auf diese Fragen Antworten finden? Die damals beteiligten Tänzer wissen es nicht (mehr), die Kritiken thematisieren diese Zusammenhänge nicht, entsprechende Interviews liegen nicht vor. Wie kann man neues Material generieren, erschließen und auswerten, um die in die ästhetische Form eingegangene gesellschaftliche Erfahrung zu thematisieren?
10 Das Pina-Bausch-Archiv befindet sich derzeit (September 2014) noch im Aufbau, die digitale Aufarbeitung der Materialien ist in Arbeit. Der Zugang zu den Materialien von Sacre ist deshalb noch nicht möglich. Das für diesen Aufsatz benutzte Material stammt deshalb aus bereits veröffentlichten Materialien, aus eigenen Recherchen sowie Interviews, die die Autorin mit Tänzern und Probenleitung geführt hat. Zwei dieser Interviews sind in stark gekürzter Fassung in diesem Band abgedruckt.
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Praxeologisch ausgerichtete Tanzforschung: Methodologische Bruchstücke Eine Produktionsanalyse in dem oben beschriebenen Sinne folgt den Parametern einer praxeologisch ausgerichteten Tanzforschung.11 Diese wiederum basiert auf der von Pierre Bourdieu abgeleiteten These, die er in dem Entwurf einer Theorie der Praxis12 entwickelt hat. Folgt man seinen Überlegungen zu einer Praxeologie, ist Tanzforschung selbst als eine Praxis zu bestimmen, die allerdings einer anderen Logik folgt als die tänzerische Praxis, allein dadurch dass die Logik der (künstlerischen) Praxis unter einem anderen Handlungsdruck steht als die wissenschaftliche Praxis. Diese beiden Logiken zu erkennen, sie zueinander ins Verhältnis zu setzen, dies methodisch umzusetzen und theoretisch zu reflektieren, wäre folglich die Grundlage einer praktischen Theorie wie einer theoriegeleiteten Praxis – mit anderen Worten: die Grundlage einer praxeologischen Tanzforschung. Obwohl sich die aus der sozialwissenschaftlichen Forschung hervorgegangenen praxistheoretischen Ansätze13 in einzelnen Punkten unterscheiden, lassen sich die Grundannahmen einer praxeologischen Forschung, übersetzt auf die Tanzforschung, folgendermaßen skizzieren: Eine praxistheoretische Perspektive untersucht nicht primär Ideen, Werte, Normen, Zeichen- und Symbolsysteme von Tänzen und Choreografien, sondern sucht diese in den Praktiken, in ihrer Situiertheit auszumachen. D.h. sie konzentriert sich auf die materiale Verankerung von Ideen, Werten, Normen, Zeichen- und Symbolsystemen in den Körpern, aber auch in Dingen und Artefakten, (so z.B. in Räumen, Materialien, Requisiten, Bühnenbildern und Kostümen). Die materiellen Verankerungen setzt sie in ein Verhältnis zu praktischem Können 11 Siehe dazu: Gabriele Klein: Praktiken des Tanzens und des Forschens. Bruchstücke einer praxeologischen Tanzwissenschaft, in: Bischof, Margrit/Nyffeler, Regula (Hg.): Visionäre Bildungskonzepte im Tanz, Zürich: Chronos 2014, S. 103–113. 12 Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. 13 Vgl. z.B. Stefan Hirschauer: Praktiken und ihre Körper. Über materialle Partizipanden des Tuns, in: Hörning, Karl-Heinz/Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: transcript 2004, S. 73-91; Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, H.4, 2003, S. 282-301; Robert Schmidt: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin: Suhrkamp 2012; Theodore R. Schatzki/Karin Knorr-Cetina/Eike von Savigny (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London: Routledge 2001; Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008; Elizabeth Shove/Mika Pantzar/Matt Watson (Hg.): The dynamics of social practice. Everyday life and how it changes, Los Angeles [u.a.]: Sage 2012.
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und implizitem Wissen von Körpern. So hat der über die Strategien des Fragens geschulte Körper der Tänzer des Tanztheater Wuppertal ein praktisches Können entwickelt, das der Körper situativ abrufen kann. Oder die Tänzer haben die in Sacre zur Vollendung gebrachte Bewegungsästhetik Pina Bauschs, die Plastizität der Bewegungsfiguren, das spezifische Verhältnis von Zentrum und Peripherie, die Arbeit mit Armen und Händen verleiblicht, so dass dies in den Körpern der Tänzer als implizites Wissen gespeichert ist und – ohne den Weg über das Bewusstsein zu gehen – abgerufen werden kann. Der wichtigste Träger von Praktiken ist der Körper. Eine Praxeologie versteht den Körper nicht als ein Instrument des Subjekts, das beherrscht und unterworfen wird. Sie lokalisiert Tanzen auch nicht als intentionale Handlung im einzelnen Subjekt sondern geht davon aus, dass tänzerische Praktiken erst Handlungssubjekte produzieren. Eine praxeologische Sicht richtet ihren Blick also nicht darauf, dass ein Subjekt eine tänzerische Handlung ausführt. Vielmehr geht sie davon aus, dass sich in und durch Praktiken selbst Subjektivierungsprozesse über Verkörperungen vollziehen, also bestimmte Praktiken des Trainierens, des Improvisierens, des Kollaborierens etc. bestimmte Subjekttypen erst hervorbringen. So erklärt sich, dass der Habitus und das inkorporierte Wissen der Tänzer des Tanztheater Wuppertal spezifisch sind. Sacre ist geprägt durch Antriebsaktionen wie stoßen und peitschen, durch Körperkurven und -wellen, durch pulsierende und plastische Bewegungen, die durch eine Spannung von zentraler und peripherer Bewegung gekennzeichnet sind. Und so erklärt sich auch, dass die Tänzer der Pariser Oper, als sie Sacre lernten, nicht nur mit dem Bewegungsvokabular der Pina Bausch als klassische Tänzer wenig vertraut waren, sondern ihr Körper für diese Bewegung nicht ‚gebildet’ war.14 Tanzen ist aus praxeologischer Sicht also nicht als eine am Subjekt orientierte intentionale Handlung zu verstehen, auch nicht als ein kommunikatives Phänomen, sondern als ein doing dance, d.h. als eine Praxis vor der Übersetzung in eine symbolische Handlung. „Eine [tänzerische, G.K.] Handlung muss in Gang gesetzt werden, sie verlangt nach einem Impuls und einem Sinnstiftungszentrum. Daher fragt man nach ihr mit Warum- und Wozu-Fragen. Eine [tänzerische, G.K.] Praxis hingegen läuft immer schon, die Frage ist nur, was sie am Laufen hält und wie man oder Leute sie praktizieren: Wie ist es zu tun? Nach einer Handlung fragt man am besten die Akteure, eben weil die Sinnstiftung im Zentrum steht, Praktiken haben eine andere Empirizität: Sie sind in ihrer Situiertheit vollständig öffentlich und beobachtbar.“15 14 Siehe dazu den Text von Stephan Brinkmann in diesem Band. 15 Stefan Hirschauer: Praktiken und ihre Körper. Über materialle Partizipanden des Tuns, in: Hörning, Karl-Heinz/Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Neue
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Unter tänzerischen Praktiken versteht ein praxeologischer Ansatz nicht Bewegungshandlungen einzelner Akteure, sondern interdependente Aktivitäten, die entlang kollektiv geteilter, praktischer Wissensformen organisiert sind. Tänzerische Praktiken sind demnach als ein Bündel körperlicher und mentaler Aktivitäten zu verstehen, die nicht auf individuelle Motive oder Absichten Einzelner zurückgeführt werden können. Auch Ordnungen, wie beispielsweise der festgelegte und immer wiederholte Ablauf einer Trainingsstunde, wird keine eigenständige Existenz jenseits oder außerhalb der Praktiken zugestanden, d.h. die Praktiken sind nicht gerahmt von Ordnungen. Vielmehr löst sich in einer praxeologischen Perspektive das Verhältnis von Ordnung und Situation, Makro- und Mikroebene auf: Ordnungen werden als emergente Phänomene angesehen, die in den Praktiken eingelagert sind und durch Praktiken hervorgebracht werden. So folgen Praktiken des Einstudierens von Sacre jahrelang praktizierten, intersubjektiv geteilten Wissensordnungen: Das Bewegungsvokabular wird seit Jahren zunächst ohne Musik gelernt. Die Tänzer lernen die Musik auswendig, indem sie sie immer wieder über Kopfhörer hören und mitzählen.16 Denn anders als in den ersten Jahren, wo das Stück nicht gezählt und von Beginn an mit Musik probiert wurde, sind mittlerweile alle Schritte ausgezählt. Das Stück ist in 30 Abschnitte gegliedert, die zunächst getrennt voneinander gelernt werden. Geprobt werden zunächst Sequenzen, dann Formationen, dann Abschnitte. Um einzelne ‚Stellen’ besser kommunizieren zu können, haben sie Namen wie: Kleines Solo, Wolke17, Große Stelle, Erste Männerdiagonale, Bodenstelle, Kreis, Chaos, Erste Lifts oder Poonastelle18. Erlernt werden die Bewegungen in einem synthetisierenden Prozess. Nachdem die Bewegungsphrasen gelernt und in zeitlich mit der Musik abgestimmt sind, werden die Aufstellungen der Gruppen und die Wege im Raum geklärt und geprobt. Männer und Frauen proben zunächst getrennt mit jeweils einer weiblichen oder männlichen Probenleitung. Die Proben erfolgen später gemeinsam, besonders für die Stellen, wo es um Hebungen geht. Obgleich das Bewegungsmaterial im Wesentlichen durch die Probenleitungen weitergegeben wird, sind Medien ein wesentlicher Bestandteil des Probenprozesses. Diese waren schon immer wichtig. Sie sind aber umso wichtiger geworden, seitdem Pina Bausch nicht mehr die letztendlichen Entscheidungen fällt, denn die auf Video festgehaltene ‚letzte Fassung’ vor Pina Bauschs Tod ist der Maßstab für die Neueinstudierungen. Zu den Medien Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: transcript 2004, S. 73 (Hervorhebung im Original). 16 Siehe das Interview mit Gitta Barthel in diesem Band. 17 Siehe das Interview mit Barbara Kaufmann in diesem Band. 18 Siehe dazu den Text von Stephan Brinkmann in diesem Band.
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gehören zudem Schriftmedien wie ein Regiebuch und Videoaufzeichnungen, die vor allem entscheidend dafür sind, zu schauen, wer welche Tänzerposition einzunehmen und Raumwege zu bewältigen hat. Schließlich zeichnen sich die Tänzer selbst mit ihren eigenen Notationsweisen die Raumwege auf, um sich die Raumdimensionen zu vergegenwärtigen, deren Dreidimensionalität im Videobild ja nicht erkennbar ist. Eine praxeologische Perspektive berücksichtigt all diese Aspekte, denn sie konzentriert sich auf das Vollzugsgeschehen und damit immer auch auf die performative Dimension, also auf die Art und Weise, wie Prozesse durchgeführt werden und ob sie gelingen oder scheitern. Die performative Dimension steht auch bei der Bewegungsanalyse im Vordergrund. Pina Bausch Bewegungsästhetik ist motivisch und thematisch begründet,19 wobei die Bewegung aber nicht über ein dahinter liegendes Gefühl generiert wird. Vielmehr konzentriert sich Pina Bausch, vermutlich auch beeinflusst durch die Formsprache des amerikanischen Tanzes, den sie Ende der 1950er Jahre in New York kennengelernt hatte, auf die Form. Über die Bewegungsform wird die Emotion erzeugt. Erst wenn die Form präzise getanzt wird, erst wenn der Tänzer eine Balance findet zwischen der Kontrolle über die Form (des Körpers, des Atems, des Gewichts) und dem Erleben der Bewegung, ihres Flusses, entsteht die Emotion, so die Grundhaltung. Eine detaillierte Körperarbeit an der Form20 ist deshalb für den Probenprozess elementar. Erarbeitet wird die Form der Bewegung über die Beziehung der Körperteile sowie über die Dynamik der Bewegung. Die Form entsteht aber nicht nur in der Bewegung der Körper, sondern auch in der Begegnung mit Materialien, mit dem Raum und dem Licht. Da ist die Bühne, deren Boden mit Torf bedeckt ist. Dieser Torf macht die Bühne zu einem Aktionsraum, in dem jeder Tänzer mit Widerstand kämpfen muss. Der Torf symbolisiert Verwurzelung, Naturnähe und Bodenständigkeit. Aber er macht vor allem etwas: Er fordert zum Kampf auf, er macht die Bewegung schwerer, er ist widerständig, unberechenbar, er irritiert die erlernte Form. Immer wieder gibt es deshalb Tränen, wenn Tänzer Sacre zum ersten Mal auf dem Torf tanzen,21 denn man muss sich selbst in diesem Raum und man muss die Form neu finden. Immer wieder prüfen die Tänzer vor den Aufführungen, welche Beschaffenheit der Torf hat:22 ist er nass, trocken, hart, matschig, körnig? Der Torf ist widerständig, aber er zwingt die Tänzer auch dazu, die erlernten Bewegungen nicht einfach zu wiederholen, sie „schön“ zu tanzen, 19 20 21 22
Siehe dazu den Text von Stephan Brinkmann in diesem Band. Siehe dazu das Interview mit Barbara Kaufmann in diesem Band. Ebd. Siehe dazu das Interview mit Stephan Brinkmann in: Brandstetter, Gabriele/ Klein, Gabriele (Hg.): Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs „Le Sacre du Printemps“, Bielefeld: transcript 2006.
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sondern in der Situation zu sein, die Form immer wieder in der Auseinandersetzung mit dem Torf zu generieren. Das Licht, das von der Seite kommt und den Bühnenraum für die Tänzer anders erscheinen lässt und die Kostüme, die im Laufe der 35 Minuten von Erde verschmutzt sind, am Körper kleben und nach Erde riechen, tragen wesentlich mit dazu bei, dass die Tänzer in der Situation sind, das Frühlingsopfer nicht aufzuführen, sondern durchzuführen. So wundert es nicht, dass viele Tänzer das Stück als ein Ritual erleben, das in dem Moment durchgeführt und nicht zum x-ten Mal aufgeführt wird. Wie die Materialitäten von Raum, Licht und Kostümen für die Choreografie entscheidend sind, ist auch eine praxistheoretische Perspektive dadurch gekennzeichnet, dass sie die Dichotomie zwischen einer Subjekt- und Objektwelt unterläuft, indem der Mitwirkung der Artefakte an den Praktiken der Körper Rechnung getragen wird. Sacre wird von den Tänzern als extrem, kompromisslos, kraftaufwendig, als ein „inneres Erdbeben“ wahrgenommen. Es provoziert eine große körperliche Verausgabung, die durch hohes Tempo und immensen Krafteinsatz entsteht. Und es schafft emotionale Verausgabung, wenn „man es passieren lässt“23, wenn man sich dem Bewegungsablauf überlässt, ihn – im wahrsten Sinne – durchlebt und erfährt. Erst dann, so betonen es viele Tänzer, erleben sie die emotionale Vielfalt des Stücks: Kampf, Leidenschaft, Grenzen, Entsetzen, Mitleid, Trauer, Verunsicherung, Einsamkeit, Angst, Tod. Legt Das Frühlingsopfer einerseits kultur- und geschichtsübergreifende Emotionen frei, so knüpft es andererseits an eine Debatte der 1960/70er Jahre an: an die virulente Diskussion um das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum als Verhältnis von Tätern und Opfern, von Männern und Frauen auf choreografischer, tänzerischer, dramaturgischer und narrativer Ebene. In choreografischer Hinsicht geschieht dies in Korrespondenz zur Musik, indem die Polyphonie der Musik mit vielfältigen Varianten von Bewegungsmotiven verflochten wird. Zudem schafft es auf der Ebene der tänzerischen Bewegung mit der Balance zwischen Stabilität, Kraft und Spannung einerseits und Labilität, Gewicht und Entspannung andererseits ein Spannungsfeld des Hin- und Hergeworfen-Seins. Es gibt Sequenzen, bei denen ein Bewegungsmotiv festgelegt ist, aber nicht definiert ist, wer, wann, wo das Motiv tanzt. Dies sorgt dafür, dass es Bewegungsraum für den Einzelnen gibt, aber auch Zwänge und Pflichten der Gemeinschaft. Es gibt Verbundenheit, aber auch Ausgeschlossenheit. Im dramaturgischen Aufbau zeigt sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, indem Gruppenszenen, Unisonotänze und Einzelaktionen gemischt werden. „So eng wie möglich stehen und so groß wie möglich bewe23 Siehe dazu das Interview mit Barbara Kaufmann in diesem Band.
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gen“24, mit diesem Satz von Pina Bausch ist das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft wohl am deutlichsten auf den Punkt gebracht. Die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft ist hier – in der Zeit der 1970er Jahre, eines erneuten, zweiten großen Individualisierungsschubes im 20. Jahrhundert25 – in der Ambivalenz der Rolle des Opfers markiert: einerseits die Sehnsucht, sich für die Gemeinschaft aufzugeben, auserwählt zu sein, im Mittelpunkt zu sein und sich der Gemeinschaft zu entheben und andererseits die Angst, die Auserwählte zu sein und Verantwortung und Konsequenzen zu erleben, sich zu Tode zu tanzen für das Wohl der Gemeinschaft. Die Perspektive zeigt sich für die Tänzerin also darin, auserwählt zu sein, um einen großen Solotanz tanzen zu dürfen, sich dafür aber bis zur totalen Erschöpfung zu verausgaben.
D i e L o g i k d e r F o r s c h u n g s p r a x i s . Ab s c h l i e ß e n d e programmatische Überlegungen Eine praxeologisch ausgerichtete Produktionsanalyse, so wie sie in diesem Text skizziert wurde, ist aufgefordert, die Reflexion der Beziehungen zwischen den Praktiken des Forschens und den tänzerischen Praktiken in den Blick zu nehmen und zu reflektieren. Sie legt, im Sinne Bourdieus, zugleich die wissenschaftlichen Praktiken z.B. des Beobachtens, Beschreibens, Recherchierens, Dokumentierens, Analysierens und Interpretierens offen und leuchtet die Beziehungen zu den beobachteten tänzerischen Praktiken aus, zu denen Praktiken z.B. des Trainierens, Improvisierens, Probens, Komponierens oder Choreografierens gehören. An den Praktiken des Choreografierens, zu denen z.B. mit Recherchieren, Beschreiben und Beobachten die gleichen Praktiken wie die der wissenschaftlichen Praxis zählen, wird anschaulich, wie elementar wichtig das In-Verhältnis-Setzen der Logiken der Praktiken ist, um die Differenz und ggf. die Ähnlichkeit der Praktiken von wissenschaftlicher und künstlerischer Praxis herauszuarbeiten. Was unterscheidet die Praktiken des Recherchierens einer Choreografin von dem Recherchieren einer Wissenschaftlerin? Welche Unterschiede bestehen zwischen Praktiken des Beobachtens im künstlerischen wie im wissenschaftlichen Feld, wenn hier z.B. ethnografisch vorgegangen wird? Gerade die aktuell und kontrovers geführte Debatte um Artistic Research zeigt, dass die Perspektive auf die Logik der Praktiken im künstlerischen und wissenschaftlichen Feld hilfreich sein kann, um eine differenzierte Debatte um die Potentialität der künstlerischen Forschung zu führen.
24 Siehe dazu den Text von Stephan Brinkmann in diesem Band. 25 Siehe dazu den Text von Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner in diesem Band.
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Eine praxeologische Perspektive ist von daher ein kritisch-analytisches Projekt, das die Logiken der wissenschaftlichen und der choreografischen Praxis zueinander in Beziehung setzt. Aus praxeologischer Perspektive wäre Tanzwissenschaft als eine erfahrungsgeleitete empirische Wissenschaft anzulegen. Eine Praxeologie provoziert mithin eine Neubestimmung dessen, was unter Tanztheorie verstanden wird. Betrieben allein aus der empirischen Forschung fordert sie die permanente Relativierung der Theorie ein. Theorieentwicklung kann aus dieser Sicht nicht der empirischen Verpflichtung entgehen und selbstreferentiell sein. Eine Praxistheorie in diesem Sinne destabilisiert mit der Relationalität der Logik der wissenschaftlichen und künstlerischen Praktiken die Trennung von wissenschaftlicher Theorie einerseits und künstlerischer Praxis und Empirie andererseits. Ihr Ausgangspunkt ist die Theoriegebundenheit von Empirie gleichermaßen wie die Empiriegebundenheit von Theorie. Eine praxeologische Perspektive opfert damit die Vorstellung dessen, was Theorie gemeinhin bedeutet, nämlich reines Denken oder ein Modell, ein Bild von Realität zu sein. Aber ihr Gewinn besteht darin, dass sie ihren Blick auf die Vielfalt, den Reichtum und die stumme Sprache (Bourdieu) richtet, mit der die tänzerischen Praktiken selbst den Gegenstand erzeugen, den Tanzwissenschaftler erforschen. Konzeptionell ist somit in einer Praxeologie eine zukunftsweisende Idee angelegt: nämlich den für die Moderne charakteristischen Dualismus von Theorie und Praxis, Kunst und Wissenschaft zu unterlaufen und damit Politiken der In- und Exklusion und der Machtrelationen zwischen dem künstlerischen und dem wissenschaftlichen Feld zu umgehen – mit und durch eine praxeologische Forschung, deren Praktiken sich, möglicherweise unterschiedlich, in Tanzkunst und Tanzwissenschaft finden lassen.
Literatur Bausch, Pina: Probe Sacre, DVD und Buch, Paris: L’Arche Éditeur 2013. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. Ders./Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materialle Partizipanden des Tuns, in: Hörning, Karl-Heinz/Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: transcript 2004, S. 73-91. 140
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Kalthoff, Herbert/Hirschauer, Stefan/Lindemann, Gesa (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Klein, Gabriele: Praktiken des Tanzens und des Forschens. Bruchstücke einer praxeologischen Tanzwissenschaft, in: Bischof, Margrit/ Nyffeler, Regula (Hg.): Visionäre Bildungskonzepte im Tanz. Zürich: Chronos 2014, S. 103-113. Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, H.4, 2003, S. 282-301. Schatzki, Theodore R./Knorr-Cetina, Karin/Savigny, Eike von (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London: Routledge 2001. Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin: Suhrkamp 2012. Shove, Elizabeth/Pantzar, Mika/Watson, Matt (Hg.): The dynamics of social practice: Everyday life and how it changes, Los Angeles [u.a.]: Sage 2012.
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„Ihr seid die Musik !“ Zur Eins tudierung von Sacre aus tä nze risc her Perspek tive
Folgt man Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein in ihrer zu Beginn dieses Sammelbandes gemachten Annahme, dass der Forscher Sacre in einer Art zweiten Konstruktion de- und rekonstruiert, indem er Komponenten des Stückes historisch, thematisch oder ästhetisch analysiert, so stellt sich die Frage, wie eine erste Konstruktion des Stückes erfolgt und welche Faktoren dabei in der praktischen Einstudierung und Umsetzung untersucht werden.1 Der folgende Beitrag nimmt diese erste Konstruktion des Stückes Sacre auf der Ebene der Ausführenden – also der Tänzer – in den Blick. Er schildert, wie das Stück aus der Perspektive der Tänzer heraus einstudiert wird und benennt Faktoren der Einstudierung. Zur Untersuchung dieses Vorgangs greife ich auf subjektive Erfahrungen als Tänzer des Stückes zurück, die ich in dem Zeitraum von 1993 bis 2010 in vielen Proben und Aufführungen von Sacre gesammelt habe und nutze sie, um eine Beobachtungsperspektive des Einstudierens einzunehmen. Gleichfalls wird eine wissenschaftliche Einordnung des Erlebten vorgenommen, indem Erfahrungen und Beobachtungen durch die Bezugnahme auf Theoriefelder der Kultur- und Sozialwissenschaften sowie der Tanzwissenschaft ausgedeutet werden. Die Perspektive des folgenden Beitrags wird vor allem dadurch bestimmt, dass der Forschungsgegenstand Sacre nicht allein analytisch, sondern auch phänomenologisch beschrieben wird und der Text von der Lebenswelt der Tänzer ausgeht. Der Text verbindet qualitative Forschung und wissenschaft1
Vgl. die Einleitung von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein in diesem Band.
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liche Reflexion, indem tänzerische Lebenswelt und deren Deutungsmöglichkeiten aufeinander bezogen werden. Der Forschungsgegenstand Sacre wird dadurch nicht nur von außen erschlossen, sondern auch von innen heraus beschrieben. Es ist ein aus der praktischen Erfahrung gewonnener Zugang, der mir als Tänzer des Stückes möglich war. Dadurch entfällt ein Teil der methodischen Probleme der Tanzwissenschaft, wie z.B. das Gewinnen von Informanten und Material, allerdings bleibt für die schriftliche Aufzeichnung die Herausforderung bestehen, zu den eigenen Erfahrungen in Distanz zu treten und sie differenziert zu formulieren, zu analysieren und auszudeuten. Der Beitrag soll verdeutlichen, dass bereits auf der Ebene der praktischen Einstudierung eine Analyse erfolgt: Unter der Anleitung eines Probenleiters oder einer Probenleiterin werden Faktoren der Choreografie, wie z.B. Bewegungen, Wege im Raum oder die Musik getrennt voneinander ausgeführt bzw. wahrgenommen. Der Begriff der Analyse greift für die Tanzpraxis zwar nur bedingt, da er die Aktivität des Intellekts hervorhebt, während im Tanz intuitive, emotionale und motorische Phänomene gleichberechtigt wirksam sind. Dennoch untersuchen auch die Tänzer das Stück, indem sie Bewegungsphrasen zergliedern, die Musik in metrische Muster teilen, Wege im Raum definieren oder sich die Stimmung, die einer Bewegung unterliegt, verdeutlichen, bevor sie sie erzeugen. Darüber hinaus wird die Choreografie unter den Tänzern inhaltlich und formal reflektiert, indem die Tänzer Absprachen treffen, Korrekturen austauschen oder im Dialog mit der Choreografin oder den Probenleitern eine Bewegungsphrase, einen Durchlauf des Stückes oder eine Vorstellung besprechen. Als weitere Instrumente der Analyse dienen Videos von Vorstellungen und Skizzen von Gruppenformationen, vor allem um räumliche Beziehungen zu klären. Die im Folgenden beschriebenen Faktoren der Ausführung und Einstudierung von Pina Bauschs Sacre sind dieser einleitenden Betrachtung entsprechend Bewegungsmaterial, Musik, Wege im Raum, Motivation, Reflexion und technische Medien.
B ew e g u n g s m a t e r i a l Pina Bausch erklärte, Sacre sei mit ihrem Körper geschrieben.2 1975 zeigte sie den Tänzern die Bewegungen selbst und erfand die dazugehörige Choreografie. Ihre schöpferische Kraft beschränkte sich allerdings nicht auf die dafür vorgesehenen Zeiten im Tanzsaal. Unter den Tänzern des Tanztheaters wird bis zum heutigen Tag die Anekdote erzählt, das berühmte Frauensolo am 2
Pina Bausch: Etwas finden, was keiner Frage bedarf. The 2007 Kyoto Prize Workshop in Arts und Philosophy, S. 11. Vgl. http://www.inamori-f.or.jp/ laureates/k23_c_pina/img/wks_g.pdf vom 9.11.2014.
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Ende des Stückes sei zusammen mit Marlies Alt, der Tänzerin der Originalbesetzung, in Pina Bauschs damaligem Büro im Wuppertaler Opernhaus entstanden. Der überwiegende Teil des Stückes dürfte jedoch im Ballettsaal des Wuppertaler Opernhauses choreografiert worden sein. Die Aufgabe der Einstudierung von Sacre wurde im Verlauf seiner nunmehr vierzigjährigen Aufführungsgeschichte von Tänzern und Mitarbeitern wie Hans Pop, Josephine Anne Endicott, Dominique Mercy, Barbara Kaufmann und Kenji Takagi übernommen. Sie alle haben Sacre jahrelang selbst getanzt und kennen das Stück aus eigener Erfahrung. Sie wurden von Pina Bausch persönlich ausgesucht, um die Proben anzuleiten, Bewegungen zu demonstrieren und um neuen Tänzern die Bewegungen zu vermitteln. Sie sind also nicht nur Wissens- und Gedächtnisträger für die Bewegungen des Stückes, sondern darüber hinaus durch die Choreografin bevollmächtigt, was ein für die getreue Überlieferung der Choreografie sowie für die Akzeptanz der Probenleiter während der Einstudierung wichtiger Sachverhalt ist. Gleichfalls war Pina Bausch in den Proben – vor allem in denen der Frauen – meistens selbst anwesend, um korrigierend einzugreifen und um gegebenenfalls Bewegungen vorzutanzen. Eine inhaltliche Kommentierung der Bewegungen oder Szenen erfolgte dabei – wenn auch sehr behutsam – ebenfalls durch sie. Die Tänzer wurden auf diese Weise mehrfach in das Stück eingewiesen, zunächst durch die Probenleitung und später durch die Choreografin selbst. Dadurch konnte nicht nur die Ausführung der Bewegungen, sondern auch ihre Vermittlung durch Pina Bausch geprüft und begleitet werden. Vor allem aber wurde das Stück durch die Präsenz der Choreografin während der Proben und Aufführungen besonders bestätigt und mit ihrer Gegenwart zusätzlich aufgeladen. Die Anwesenheit der Choreografin erinnerte außerdem an den schöpferischen Akt der Entstehung des Stückes, das in wechselnder Besetzung bis in die Gegenwart hinein immer wieder neu entsteht. Der Ägyptologe Jan Assmann hat im Rückgriff auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs die Begriffe des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses entwickelt, die die zwei voneinander zu unterscheidenden Erinnerungstypen bezeichnen. Während das kulturelle Gedächtnis einen hohen Geformtheitsgrad besitzt und von spezialisierten Traditionsträgern vermittelt wird, so wird das kommunikative Gedächtnis durch Interaktion und lebendige Erinnerung in organischen Gedächtnissen vermittelt.3 Am Beispiel von Sacre wird deutlich, dass beide Erinnerungstypen während der Einstudierung wirksam sind und einander durchdringen. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass die Vermittlungstechnik des Stückes die Technik des Zeigens ist. Es ist die wichtigste Art der Bewegungs3 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, München: Beck 1992.
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vermittlung, nicht nur von Sacre, sondern von Tanz überhaupt und dürfte auch weiterhin das Fortleben des Stückes gewährleisten. Die erste Generation des Wuppertaler Tanztheaters lernte das Stück direkt von Pina Bausch, spätere Tänzergenerationen lernten es von ehemaligen Tänzern des Stückes. Informationen werden in direktem zwischenmenschlichen Kontakt auf neue Tänzer übertragen und jeder Tänzer ,schreibt‘ Pina Bauschs Sacre mit dem eigenen Tanzkörper neu und trägt die Choreografin auf diese Weise mit und in sich. Um sich auf jede Bewegungsphrase getrennt konzentrieren zu können, werden zu Beginn der Proben alle Phrasen isoliert voneinander erarbeitet. Dazu werden sie zunächst metrisch erfasst. Das Stück lässt sich in ca. dreißig Teile gliedern, eine Gliederung, die sich aus der Dramaturgie der Choreografie ergibt, da nach vielen Bewegungsphrasen ein Formationswechsel erfolgt, der die im Wuppertaler Tanztheater praktizierte Einteilung in sogenannte Stellen während der Proben nahelegt. Diese Stellen werden im Probenprozess unzählige Male wiederholt, obwohl die eigentliche Ausführung oft nur wenige Sekunden dauert. Wenn in den Proben von der ‚Großen Stelle’, ‚Ersten Männerdiagonalen’ oder ‚Bodenstelle’, dem ‚Kreis’, ‚Chaos’, den ‚Ersten Lifts’ oder der‚Poona-Stelle’ die Rede ist, wissen alle Tänzer die entsprechenden Bewegungen, ihre metrisch-rhythmische Gestaltung und ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Choreografie. Sie kennen auch die dazugehörige Musik, mit der sie sich durch wiederholtes Hören vertraut gemacht haben. Akustische Wahrnehmung und Bewegung werden von Beginn an miteinander synchronisiert, eine Fähigkeit, die zur Gedächtnisbildung beiträgt und die für das Tanzen von Sacre unbedingt notwendig ist. Das Umsetzen von Musik in Bewegung gehört zu denjenigen Fähigkeiten, die jeder Tänzer im Laufe seiner Ausbildung und praktischen Tätigkeit auf der Bühne erlernt und täglich praktiziert, z.B. während des Trainings. Aber nicht nur die metrische Struktur einer Bewegungsphrase spielt eine Rolle. Form, Dynamik und Richtung der Bewegungen sind weitere Parameter, die jede Bewegung bestimmbar machen. Die Tänzer haben diese Informationen zum Bewegungsmaterial verinnerlicht und können sie als Gedächtnisleistung bei Bedarf abrufen. Dazu ein Beispiel aus dem Kreis als ein Beispiel für internes Wissen: rund auf eins, hochrollen auf zwei und drei, Schritt auf vier. Und weiter: rund auf eins, hochrollen auf zwei, Schritt auf links drei und eine viertel Wendung und Schritt rechts auf vier. Fünfundzwanzig solcher Vierergruppen lassen sich für den ersten Teil des Kreises einteilen, eine etwa zwei Minuten dauernde Sequenz. Schon die geringe Abweichung der ersten beiden Vierergruppen voneinander zeigt, dass die wenigsten einander gleichen. Außerdem lässt sich eine metrische Einteilung in Vierergruppen nicht konsequent einhalten. Dem widerspräche Strawinskys Musik. Um die Form einer Bewegung zu erreichen, werden die Positionen der Körperteile 146
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oder deren Beziehung zueinander benannt, z.B. ‚Schulter vor‘ oder ,rechter Ellbogen zur linken Hüfte‘. Eine zentrale Form in Sacre ist die Körperkurve – ein runder Rücken mit rückwärts gekipptem Becken und gebeugten Beinen – die von den Tänzern immer wieder praktiziert wird. So tief wie möglich sollen sie sich einrunden, mit maximalem demi-plié. Die Bewegungsdynamik der Körperkurve erfolgt als Stoß durch den Einsatz von Kraft zur Körpermitte hin, als zur Erde gerichtete Fallbewegung durch das Ausnutzen des körpereigenen Gewichts oder als allmähliches Sinken. Im Gegensatz dazu steht ein An- oder Hochziehen des Körpers gegen die Schwerkraft als Zug in den Extremitäten oder als Anheben des Brustbeins. Ganz besonders wird an den Akzenten der Bewegungen gearbeitet. „Ihr müsst die Akzente am Ende der Bewegungen machen“4, forderte Hans Pop die Tänzer während der Proben am Kreis unermüdlich auf. Unterstützend benannte Pina Bausch die inhaltliche Motivation der Bewegungen und bezeichnete Stimmungen einer Szene oder einer Bewegungsphrase. „Sie haben sich noch nie berührt“5, beschrieb sie einen Moment des Kreises, in dem Männer und Frauen stehend ihre Arme vorsichtig anheben und nacheinander ausstrecken. Auf diese Weise greifen emotionale Motivation und formal-dynamische Analyse von Tanzbewegungen fortwährend ineinander. Formal betrachtet ist die Wiederholung von Bewegungen und Bewegungsphrasen eine der wichtigsten Methoden bei der Einstudierung des Stückes. Die Wiederholungen einzelner Bewegungen sowie längerer Bewegungssequenzen dienen vor allem dazu, deren Verfügbarkeit zu gewährleisten. Durch die Wiederholung der gleichen Bewegungsabläufe entsteht ein sogenanntes motorisches Gedächtnis, ein Mechanismus automatisierter Bewegungen, die einen ganz bestimmten Zeitverlauf einnehmen. Da die bewusste Aufmerksamkeit für das schnelle Ausführen von hochkomplexen Tanzbewegungen zu langsam ist, ist die Aktivität des motorischen Gedächtnisses – auch implizites oder prozedurales Gedächtnis genannt – unverzichtbar. Sie steht dafür ein, dass die Bewegungen ohne nachzudenken und zügig ausgeführt werden können. Eine wesentliche Leistung, die die Tänzer während der Einstudierung eines Stückes erbringen, ist also die Überführung von Erinnerungen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Dabei spielen nicht nur implizite, sondern auch explizite Gedächtnisinhalte, z.B. die bewusste Bewegungsausführung oder das Raumbewusstsein, eine Rolle. Tanz ist daher mit dem Konzept des Flüchtigen6 nur eingeschränkt beschrieben, da er 4 5 6
Persönliche Mitteilung von Hans Pop während einer Sacre-Probe. Zitate ohne Quellenangabe basieren auf meiner aktiven Teilnahme an den Proben und sind mit ‚Persönliche Mitteilung’ gekennzeichnet. Persönliche Mitteilung von Pina Bausch während einer Sacre-Probe. Vgl. Gabriele Klein: Das Flüchtige. Politische Aspekte einer tanztheoretischen Figur, in: Sabine Huschka (Hg.): Wissenskultur Tanz. Historische und
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dauerhafte Strukturen, sowohl auf motorischer als auch auf kortikaler Ebene, schafft.7 Die Ausführung des Bewegungsmaterials setzt selbstverständlich eine eintrainierte Tanztechnik voraus. Grundlagen des klassischen Balletts sind darin genauso wichtig wie Grundlagen des modernen Tanzes. Die besondere Eigenart der Tanztechnik, die mit Pina Bauschs Sacre in Zusammenhang steht, wurde besonders deutlich, als die Choreografin 1997 ihr berühmtes Stück zum ersten Mal mit Tänzern der Pariser Oper einstudieren ließ, mit Tänzern also, die auf eine ganz andere Weise trainiert waren als die Tänzer des Wuppertaler Tanztheaters. Geraldine Wiart, die 1997 bei der ersten Einstudierung von Pina Bauschs Sacre an der Pariser Oper dabei war und die Rolle des Opfers lernte, beschrieb ihre Erfahrung wie folgt: „We had to start from scratch. It was as if she had to remodel our bodies. She taught us her technique, but our muscles weren’t used to it. We discovered new pains. Some of the movements would take hours, repeated 50 times until it was right, until our bodies became the memory of the movements. It was the discovery of something entirely new. It has been an incredible experience.“8 Im Blick auf die klassisch ausgebildeten Tänzer der Pariser Oper wird besonders deutlich, worin die technische Herausforderung des Bewegungsmaterials von Sacre liegt: im Einrunden und Mobilisieren der Wirbelsäule, im bewussten Einsatz von Entspannung und körpereigenem Gewicht während der Bewegung, in der Verwendung von labilen Körperpositionen und Drehungen, in denen Brust und Becken nicht auf einer gemeinsamen Achse liegen, in der Verwendung von zentralen Bewegungsqualitäten, wie Stoß, Druck, Gleiten und Schlottern, im Wechselspiel zwischen Gleichgewicht und Dysbalance oder im Einsatz von parallelen und eingedrehten Fußpositionen. Seine Eigenschaften ändert das Bewegungsmaterial kontinuierlich und setzt sowohl Stabilität, Kraft und Spannung als auch Labilität, Gewicht und Entspannung während der Bewegungen ein. Viele dieser Prinzipien stehen mit der Bewegungsschule von Kurt Jooss und Sigurd Leeder in Zusammenhang, mit der Pina Bausch als Schülerin von Jooss bestens vertraut war und die ihre Wurzel in der Bewegungsforschung von Rudolf von Laban hat.9 Gewicht und
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zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld: transcript 2009, S. 199-209. Zur ausführlichen Darstellung von Gedächtnisformen im Tanz vgl. Stephan Brinkmann: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz, Bielefeld: transcript 2013. Geraldine Wiart zit.n. Alan Riding: Using muscles classical ballet has no need for, in: The New York Times, 15.06.1997. Vgl. http://www.nytimes.com/1997/06/15/arts/using-muscles-classical-ballethas-no-need-for.html vom 09.11.2014. Vgl. z.B. Jean Cébron: Das Wesen der Bewegung. Studienmaterial nach der Theorie von Rudolf von Laban, in: Urs Dietrich (Hg.): Eine Choreographie ent-
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Entspannung des Körpers werden im Klassischen Ballett weit weniger sichtbar, liegt dort doch die Fokussierung auf einer Überwindung der Schwerkraft, auf der Beherrschung des Gleichgewichts, auf Stabilität und auf aufrechter Körperhaltung mit Auswärtsdrehung der gestreckten Beine. Auch die Plastizität der Raumgestaltung, erkennbar durch den Einsatz aller Dimensionen und Diagonalen, ist ein Merkmal von Sacre und dürfte für die Tänzer der Pariser Oper neu gewesen sein. Sie ist ebenfalls eine Konsequenz der Ideen Labans, Jooss’ und Leeders, die Pina Bausch für ihre Bewegungssprache geschickt nutzte. Das räumlich komplexe und dynamisch vielfältige Bewegungsvokabular wird mit atemberaubender Geschwindigkeit ausgeführt, worin eine weitere Herausforderung des Bewegungsmaterials von Sacre liegt. Gerade deswegen müssen die Tänzer und Tänzerinnen eine ausgewogene Balance zwischen Anstrengung und Ruhe bewahren, eine Eigenschaft, die abermals auf ein grundlegendes Bewegungsprinzip verweist, zu dem Kurt Jooss sagte: „Das klare Unterscheidungsvermögen zwischen Entspannung und Spannung als Ausgangszustände des Körpers für diese oder jene Bewegung ist für die Tänzererziehung von immenser Wichtigkeit, weil die Fähigkeit zu entspannen die Basis für die Anmut in der Bewegung ist.“10 Die Tanztheorie von Rudolf von Laban und die daraus hervorgehende Theorie der Jooss-Leeder-Methode stellen die beiden Theoriefelder dar, mit denen sich Sacre aus einer tanztheoretischen Perspektive betrachten lässt. Die beiden Theorien formulieren Bewegungsprinzipien, definieren Bewegungsqualitäten und analysieren Richtungen im Raum und lassen sich erkenntnisstiftend auf die Choreografie von Pina Bausch anwenden.11 Die Erde, die in Sacre den Tanzboden bedeckt, stellt für die Ausführung der Bewegungen eine ganz besondere finale Herausforderung dar, denn bis zu der Hauptprobe auf der Bühne, zwei Tage vor der Aufführung, wird auf Tanzteppich probiert, einer Situation also, die völlig von dem abweicht, was die Tänzer dann in der eigentlichen Aufführung erwartet. Dadurch bleibt jede Vorstellung in gewisser Weise unberechenbar. Die Erde verhindert, dass die Tänzer sich – im wahrsten Sinne des Wortes – auf vertrautes Terrain begeben. Sie verleiht der Aufführung eine ganz besondere Note, in der ein routiniertes steht. Das kalte Gloria. Mit einem Beitrag von Jean Cébron, Essen: Die Blaue Eule 1990, S. 73-98. Jean Cébron besuchte Sigurd Leeders Schule in London und tanzte die Rolle des Todes in Kurt Jooss’ Choreografie Der Grüne Tisch. Jean Cébron und Pina Bausch waren gut miteinander bekannt. Sie tanzten nicht nur zusammen in Der Grüne Tisch, sondern auch in Choreografien von Jean Cébron und arbeiteten von 1983 bis 1989 gemeinsam an der Tanzabteilung der Folkwang Universität. Außerdem war Jean Cébron viele Jahre lang einer der Trainingsleiter des Tanztheaters Wuppertal. 10 Kurt Jooss zit.n. Patricia Stöckemann: Etwas ganz Neues muß nun entstehen. Kurt Jooss und das Tanztheater, München: Kieser 2001, S. 232. 11 Vgl. dazu auch den Beitrag von Antja Kennedy in diesem Band.
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Durchexerzieren von Bewegungen – ohnehin niemals beabsichtigt – unmöglich ist. Das Tanzen auf der Erde ist aber keinesfalls nur ein Hindernis. Die Faszination, die einmalige Erfahrung auf ihr zu tanzen, ist ein gleichwertiger Aspekt. Als „Suche nach einer Sinnlichkeit“12 beschrieb Pina Bausch ihre Stücke und fügte hinzu: „Etwas tun, wozu man Lust hat... Wenn ich mich in die Erde lege oder in den Schlamm...“13. In Sacre wird diese Suche nach einer Sinnlichkeit provoziert und zugleich eingelöst, indem der Torf die Tänzer dazu bringt, jeden ihrer Schritte genau und immer wieder neu zu erspüren. Anfangs noch vorsichtig tastend – im Liegen oder Sinken – steigert das Agieren der Tänzer auf dem Torf mehr und mehr seine Wucht, bis es schließlich im Opfertanz der Auserwählten seinen Höhepunkt findet. Dass aus den Tänzern dabei nach und nach „Erdmenschen“14 werden, wie Pina Bausch zu uns sagte, deren Haut über und über mit Torf bedeckt ist, war dabei ein von ihr gern gesehener Nebeneffekt.
Musik Pina Bausch erwähnt in dem unten angeführten Interview, der Beginn ihrer Arbeit an Sacre sei die Musik gewesen. Über die Einstudierung ihres Stücks, insbesondere des finalen Opfertanzes, mit Tänzern der Pariser Oper im Jahr 1997 erzählt sie: „The first thing I did was to talk to them about what Sacre means to me. The starting point is the music. There are so many feelings in it; it changes constantly. There is also much fear in it. I thought, how would it be to dance knowing you have to die? How would you feel, how would I feel? The Chosen One is special, but she dances knowing the end is death. The dancers listened carefully with big ears. They seemed very interested.“15 Zu den Tänzern ihrer Kompanie sagte die Choreografin oft: „Ihr seid die Musik“16, wohl um sie zu ermutigen, sich nicht nur mit allen Sinnen, sondern auch emotional ganz auf das Werk von Strawinsky einzulassen. In den Proben wird die Musik zunächst gezählt: die ‚Große Stelle’ in drei mal acht und ein mal vier Schlägen, die ‚Erste Männerdiagonale’ in acht Schlägen oder die ‚Bodenstelle’ in neun, fünf, sechs und drei Schlägen. Die ‚Bodenstelle’ ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich die Musik Strawinskys nicht in ein regelmäßiges Metrum einteilen lässt und von den Tänzern in ganz besonderem Maße fordert, nicht nur einem vorgestellten Metrum zu folgen, 12 Pina Bausch zit.n. der filmischen Dokumentation von Kay Kirchmann: Bilder aus den Stücken der Pina Bausch (D 1990, Regie: Kay Kirchmann). 13 Ebd. 14 Persönliche Mitteilung von Pina Bausch während einer Sacre-Probe. 15 Pina Bausch zit.n. Alan Riding: Using muscles classical ballet has no need for, in: The New York Times, 15.6.1997. 16 Persönliche Mitteilung von Pina Bausch während einer Sacre-Probe.
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sondern auf die Musik zu hören und die Bewegungen synchron zur Phrasierung und vor allem zur Akzentuierung auszuführen. Eine Einteilung von Strawinskys Musik in Zählzeiten ist dabei anscheinend eine Technik späterer Zeiten. Frühere Mitglieder der Wuppertaler Kompanie berichten, sie hätten Sacre nie gezählt, sondern von Beginn an mit Musik probiert oder wären im Gegensatz zu einer metrischen einer melodisch-dynamischen Vorstellung gefolgt. Viele der Phrasen werden in den Proben auch heute noch gesungen, während die Bewegungen dazu demonstriert werden. Zwischen den metrisch einteilbaren Phrasen der Musik gibt es immer freie Teile, in denen nicht auf, sondern über die Musik getanzt wird oder in denen Aktionen, wie z.B. Gehen, Rennen oder Stehen, stattfinden. Für die Tänzer sind diese Teile nicht weniger intensiv, bieten aber die Möglichkeit, sich erneut zu konzentrieren, sich von der anstrengenden Bewegungsgestaltung zu erholen und neue Kraft für die nächste Phrase zu sammeln. Hat sich in der Einstudierungsphase des Stückes eine Sequenz eingeprägt, wird das Tempo der Bewegungen beschleunigt, z.B. durch schnelleres Zählen oder Singen, bevor die Musik eingespielt wird und die Tänzer die Bewegungen zur Musik probieren. Bis Ende der 1990er Jahre wurde im Ballettsaal des Wuppertaler Opernhauses mit einem Tonbandgerät probiert, bei dem sich die Wiedergabegeschwindigkeit der Musik mit einem eingebauten Regler variieren ließ. Von dieser Vorrichtung wurde gerne und oft Gebrauch gemacht, um das hohe Tempo der Bewegungsphrasen schrittweise einzuüben. Das Tanzen zu Strawinskys Musik wird viele, viele Male wiederholt. Unterbrochen werden diese Wiederholungen von Phasen, in denen die Tänzer die Musik hören, zum einen, um sich mit der Musik vertraut zu machen, zum anderen, um auszumachen, wo die Akzente in der Musik liegen. Eine Partitur bekommen sie währenddessen nicht zu sehen. Allein das Hören muss gewährleisten, dass eine zur Musik synchrone Bewegungsausführung erfolgt. Erworbene Informationen werden dabei nicht schriftlich notiert, sondern bleiben durch das organische Gedächtnis abrufbar. Bei Wiederaufnahmen entfällt die Phase des Neulernens. Viele Tänzer des Wuppertaler Tanztheaters haben das Stück jahrelang getanzt, einige zwanzig Jahre lang. Sie müssen sich an die Bewegungen in den Proben dann zwar erinnern und sie praktizieren, sie sich aber nicht völlig neu aneignen. Eine besondere Herausforderung besteht in der Aufführung zu live gespielter Musik, die es mit dem Tanztheater Wuppertal 1982 und 1995 in Amsterdam mit dem Royal Concertgebouw Orchestra und dem Radio Filharmonisch Orkest, 2003 in Bochum mit den Duisburger Symphonikern, 2006 in Brüssel mit dem Orchestre Symphonique de la Monnaie, 2008 mit den Düsseldorfer Symphonikern und 2014 mit dem Sinfonieorchester Wuppertal gegeben hat. Die Sacre-Aufführungen der Opéra National de Paris werden in der Regel von dem Orchester der Oper begleitet. In der Begegnung 151
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mit Livemusik wird besonders deutlich, dass Sacre nicht gleich Sacre ist, sondern dass in Bezug auf Tempi, Klanglichkeit und Interpretation der Musik eine enorme Variationsbreite möglich ist. Die Tänzer des Tanztheaters – an die Sacre-Version des Cleveland Orchestra dirigiert von Pierre Boulez gewöhnt – müssen dann nicht nur auf variierende Tempi reagieren, sondern sich auch auf für sie ungewohnte Klangräume einstellen und diese mit dem Körper übersetzen. Allerdings wurde von Pina Bausch immer darauf geachtet, dass in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Dirigenten eine Annäherung an die von ihr verwendete Version von Pierre Boulez erfolgte. Zum einen unterstützt die Musik also die motorische Gedächtnisbildung, indem Bewegungsabläufe und Musik einander entsprechen, zum anderen bewirkt die Musik, dass die Tänzer gegenwartsbezogen tanzen, was sie hören, statt Bewegungen lediglich automatisch abzurufen. Fasziniert stellen Tänzer und Probenleiter in den Proben zu Sacre immer wieder fest, dass sich Strawinskys Musik nie ,abnutzt‘. Auch nach dem hundertsten Mal ruft die Musik noch eine Resonanzerfahrung hervor, sowohl beim Hören als auch beim Tanzen. Begünstigt wird diese Erfahrung dadurch, dass die Tänzer im wahrsten Sinne des Wortes zu Strawinskys Musik mitschwingen. Sie werden nicht nur von der Musik angeregt, sondern bewegen sich zu ihr. Die Schwingungen der Musik werden mit dem Körper artikuliert, nicht in dem Verhältnis eines Nacheinanders, sondern in dem des Zugleich-Seins. Begründet liegt der Eindruck des Neuen, Unverbrauchten aber auch in dem Werk selbst, seiner explosiven Klanglichkeit, seinen unregelmäßigen Rhythmen, seinem Spiel von Konsonanz und Dissonanz und der überraschenden Linie seiner Partitur.
Wege im Raum Sind die Bewegungsphrasen gelernt und in zeitlicher Übereinstimmung mit der Musik getanzt, werden die Aufstellungen der Gruppen und die Wege im Raum geklärt und geprobt. Dieser Arbeitsschritt erfolgt nach zwei bis drei Wochen, nachdem die Tänzer sich das Bewegungsmaterial einschließlich der Musik genügend eingeprägt haben. Oft musste während der Wiederaufnahmen der Choreografie auch darauf gewartet werden, welchen Tänzer oder welche Tänzerin Pina Bausch für ihr Stück besetzen wollte und an welchem Platz in der Gruppe sie tanzen sollten, bevor genaue Formationen und Wege festgelegt werden konnten. Schon Strawinsky selbst sah während des Komponierens seines Sacre das Schauspiel vor sich „als eine Folge ganz einfacher rhythmischer Bewegungen,
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die von blockartig aufgebauten Gruppen ausgeführt werden...“17 – eine Vorstellung, der Pina Bausch bewusst oder intuitiv gefolgt ist. Folglich wird in Sacre vor allem in Blöcken – oft getrennt nach Männern und Frauen – getanzt. Für einige Wochen wird in unterschiedlichen Sälen geprobt und zahlreiche Formationen werden auch getrennt aufgestellt. Viele der Blockformationen ergeben sich organisch aus den vorhergehenden. Allerdings sind hierbei Variationsmöglichkeiten gegeben und werden auch genutzt. In diesem Fall werden Plätze gewechselt oder neu bestimmt. Für alle Aufstellungen existieren Skizzen im Regiebuch, die von den Probenleitern, zusammen mit Videoaufnahmen, zu Hilfe genommen werden. Dies eine Arbeitsphase, bei der technische Medien eine wertvolle und notwendige Hilfestellung leisten. Zu Beginn dieser Phase stehen die Tänzer geduldig an der Seite des Saals, bis ihnen ihr Platz zugewiesen wird. Für eine Blockformation von sechzehn bis maximal zweiunddreißig Tänzern bedeutet das, viel langes Warten und Stehen, bis jeder seinen Platz zugewiesen bekommen und eingenommen hat. Seit der ersten Wiederaufnahme des Stückes übernehmen die Tänzer Plätze ihrer Vorgänger. Dadurch ist ihr Weg durch das Stück in gewisser Weise vorgezeichnet. Es wird ganz einfach der Platz des Tänzers besetzt, der nicht mehr mittanzt. Allerdings werden auch hier Plätze getauscht und neu verteilt, gelegentlich auch innerhalb des Stückverlaufs. Die Informationen zu Plätzen und Wegen werden nicht nur von einem Leiter diktiert, sondern gemeinsam erinnert – ein Phänomen, das zwar den gesamten Prozess der Einstudierung betrifft, für die Komponente der Choreografie aber besonders gilt. Hier ist von einem kollektiven Gedächtnis zu sprechen, das wirksam wird, um die Einstudierung eines Stückes zu bewerkstelligen. Der Begriff, durch Maurice Halbwachs geprägt, besagt, dass Erinnerungen gleichzeitig vom einzelnen Bewusstsein als auch vom Bewusstsein anderer aufgebaut werden und dadurch Anteil am Denken und Fühlen einer Gruppe genommen wird.18 Dabei spielen sowohl feste Kodierungen, wie in diesem Fall Aufstellungen und Bewegungsabläufe, als auch zirkuläre Prozesse, wie individuelle Informationen und Eindrücke zu dem Stück, eine Rolle. Das eingeübte Wissen, das mit Bezug auf Jan Assmann bereits mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses beschrieben wurde und das nicht organisierte, interpersonell vermittelte Wissen – das kommunikative Gedächtnis – sind in dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses zusammengefasst. Hat die Arbeit an der Gruppenchoreografie begonnen, wird schnell deutlich, dass das Tanzen in den Formationen eine zusätzliche Herausforderung bedeutet. „So eng wie möglich stehen und so groß wie möglich
17 Igor Strawinsky zit.n. Wolfgang Dömling: Strawinsky, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982, S. 39. 18 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart: Enke 1967.
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bewegen“19, lautet die Devise in den Proben des Wuppertaler Tanztheaters. Während den Tänzern bei der Einstudierung des Stückes beliebig viel Platz zur Verfügung steht, müssen sie ihre Bewegungen nun auf engstem Raum – gerade dem, der dafür nötig ist – ausführen. Das Verhalten des Einzelnen beeinflusst dabei die Bewegungen der ganzen Gruppe und kann im ungünstigen Fall zu Unfällen oder Verletzungen führen oder den Ablauf der Choreografie stören. Umgekehrt ist es die Gruppe, die das Verhalten des Einzelnen lenkt und den Platz, an dem er steht, bestimmt. So folgt der einzelne Tänzer dem Bewegungsstrom der Gruppe und bringt seinen Körper in die Bahnen der Choreografie. Das Stehen in Blöcken bedeutet immer ein Stehen ,auf Lücke‘, also eine Platzierung, in der jeder vom Zuschauerraum aus gesehen werden kann. Die Tänzer stehen dann versetzt und müssen ein Gespür dafür entwickeln, dass der Blick der Zuschauer sie erreichen kann, auch wenn die eigene Blickrichtung eine ganz andere ist. Beim Tanzen gilt es dann, nicht nur die Bewegungen richtig auszuführen, sondern auch den festgelegten Platz einzunehmen und in der Bewegung beizubehalten. Außer den in Blöcken organisierten Strukturen der Choreografie gibt es Momente, in denen sich Gruppen mischen, Wege kreuzen oder Männer und Frauen gemeinsam Bewegungen, wie z.B. Hebungen, ausführen. Auch diese Stellen werden, jede für sich, viele Male geprobt und wiederholt. Dabei werden nicht nur die Raumwege selbst bestimmt, sondern ihr Anfangs- und Endpunkt. Selten kommt es vor, dass eine Formation über mehrere Minuten erhalten bleibt. Wie die Bewegungsphrasen dauern die Formationen oft nur wenige Sekunden, bevor die Tänzer sich neu formieren. Allein der ‚Kreis’ bildet hier eine Ausnahme. Für zweieinhalb Minuten bleibt er als eine von der gesamten Gruppe hergestellte Form bestehen. Gleichzeitig ist er die einzige Aufstellung in dem Stück, an der alle Tänzer beteiligt sind. In den Probenphasen tasten sich Probenleiter und Tänzer langsam und gründlich durch die Choreografie voran. Schritt für Schritt werden erst einzelne Formationen, dann längere Sequenzen und schließlich ganze Abschnitte geprobt. Ein Durchlauf der gesamten Choreografie findet erst am letzten Probentag im Saal statt, eine Woche vor der Aufführung vor Publikum. Er bleibt auch dadurch ein Ereignis der besonderen Art. Dann nehmen die Tänzer wahr, welche enorme Anforderung an Kondition, Konzentration und Musikalität das Stück stellt – neben der emotionalen Verausgabung, die es ebenfalls bewirkt.
19 Persönliche Mitteilung von Hans Pop während einer Sacre-Probe.
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M o t i va t i o n Pina Bausch äußerte, sie habe große Hemmungen das zu formulieren, was sie suche oder was sie fühle und verwies auf das, was sie auf der Bühne tue.20 Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass es der Choreografin immer wieder gelang, Kerngedanken ihrer Arbeit geschickt zu formulieren. So antwortete sie z.B. amerikanischen Studierenden der University of California, Los Angeles (UCLA) 1996, als diese sie nach einer Filmvorführung von Café Müller fragten, „Why do they repeat all the time?“ mit „They don’t repeat, they try again!“21 Die Rede war von der Szene, in der sich Malou Airaudo und Dominique Mercy, anfangs von Jan Minarik arrangiert, immer wieder versuchen zu halten und zu umarmen. Die Studierenden sahen lediglich den formalen Verlauf der Szene, Pina Bausch darüber hinaus deren Motivation und sie erklärte sie mit dem Ersetzen eines einfachen Verbs. Ein weiterer Beleg für Pina Bauschs Gespür für das gesprochene Wort ist auch, dass ihre Stücke seit Ende der 1970er Jahre mit Fragen an die Tänzer begannen, Fragen von großer Poesie und elegantem Sprachwitz. Zu der Qualität ihrer Fragen sagte Pina Bausch in einem Interview mit der Journalistin Alice Schwarzer: „Ich frage selten etwas direkt. Ich frage immer nur um Ecken rum. Denn wenn die Fragen plump sind, können die Antworten auch nur plump sein.“22 Während der Proben zu Sacre erklärte Pina Bausch bestimmte Momente, auch wenn dies sparsam geschah und ihre Anweisungen indirekt sein konnten. Zwar wurde gemeinsam an den Bewegungen des Stückes gearbeitet, ihrer Form und ihrer Qualität, aber die Stimmung, die einer Szene oder einer Bewegung unterlag, wurde von Pina Bausch bei Bedarf benannt. Einige Szenen oder Bewegungen des Stückes erhielten dementsprechende Bezeichnungen: In der Introduktion des zweiten Teils bezeichnet ‚das Weinen’ eine ganz bestimmte Bewegung der Frauen, die Männer forderte Pina Bausch dazu auf, ihre Bewegungen stolz zu tanzen, zu den Paarhebungen erklärte sie, dass die Frauen sich einen Mann aussuchen, um ihn zu bespringen und die ‚Große
20 Pina Bausch zit.n. einem Fernsehbeitrag der Deutschen Welle vom 8.7.2009: Kultur 21. Zum Tod von Pina Bausch. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=GTq62e80IUA vom 9.11.2014. 21 Persönliche Mitteilung von Pina Bausch. Das Gespräch fand im Rahmen der Proben zu der Koproduktion Nur Du Anfang Februar 1996 auf dem Campus der UCLA in den USA statt, nachdem die Studierenden eine Fernsehaufzeichnung von Café Müller gesehen hatten. Der Campus der UCLA diente dem Tanztheater Wuppertal während seiner zweieinhalbwöchigen Residenz als Probenort für ein neues Stück. Ich selbst war an der Produktion als Tänzer beteiligt und bei dem Gespräch anwesend. 22 Pina Bausch zit.n. Alice Schwarzer: Pina Bausch. Ein Portrait von Alice Schwarzer, in: Emma 7 (1987), S. 54.
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Stelle’ war in ihren Worten „ein Fest“.23 Wenn sich die Tänzer während des Opfertanzes zu entspannt um das Opfer herumbewegten, äußerte sie enttäuscht: „Manchmal seht ihr aus, als ob jetzt alles vorbei ist. Im Gegenteil: Jetzt fängt es erst richtig an!“24 Die Musik von Strawinskys Sacre ist die Vorgabe, der Pina Bausch folgte, die sie gelesen hatte, wie sie einmal zu uns Tänzern sagte.25 Die Emotion, die von der Musik in Gang gesetzt wird, stand dabei aber ebenso im Zentrum. „Die Musik ist vorrangig und die Emotion“26, äußerte sich die Choreografin in einem Interview mit der Filmemacherin Anne Linsel zu ihrem Werk. Die Tanzbewegungen ihres Stückes übersetzen die Musik in Bewegung, welche wiederum menschliche Gefühle in ihrer ganzen Bandbreite hervorbringen. Nicht nur die Angst der Frauen, die Auserwählte zu sein oder das Aufbäumen des Opfers, vom Leben zu lassen, kommen in dem Stück zum Ausdruck. Auch wenn die wilde, beängstigende Wucht der Bewegungen als bleibender Eindruck dominieren mag, sind vorsichtige und zärtliche Momente in dem Stück ebenso zu finden – und sind von innen auch deutlich zu spüren. Als innigen Zusammenhang der körperlichen Geste „mit einem Inneren, mit der Gemütsbewegung“27 beschrieb Kurt Jooss 1957 das Erlebnis des Tanzes zu einer Zeit, in der Pina Bausch selbst an der Folkwangschule studierte. Diesem Credo von Jooss folgte Pina Bausch zeitlebens und genau darin zeigt sich ihre Anbindung in den sogenannten Ausdruckstanz. Es gelang ihr in Sacre, unter Einbezug der von Laban und in dessen Folge von Jooss und Leeder generierten Erkenntnisse, Emotionen in Bewegungen auszudrücken und diese in einer choreografischen Form zu organisieren. Pina Bauschs Sacre entstand auf der Basis eines Bewegungsverständnisses, das Prinzipien formuliert, um sie für den Ausdruck eines Themas zu nutzen. Der Kerngedanke, eine Bewegung müsse thematisch motiviert sein, wie er von Jooss und Leeder formuliert wurde,28 zieht sich dabei durch Pina Bauschs gesamtes Schaffen und gilt nicht nur für Sacre. Auch in den Tanztheaterstücken nach 1975 lag allem, was auf der Bühne gezeigt wurde, eine Motivation – hervorgegangen aus einer von Pina Bausch gestellten Frage – zugrunde.
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Persönliche Mitteilung von Pina Bausch während einer Sacre-Probe. Ebd. Ebd. Pina Bausch zit.n. der filmischen Dokumentation von Anne Linsel: Pina Bausch (D 2006, Regie: Anne Linsel). 27 Kurt Jooss in: Gedanken über Stilfragen im Tanz. Vortrag gehalten am 23. September 1957, Schrift 5, Essen: Folkwang-Offizin der Folkwangschule für Gestaltung, o.S. 28 Vgl. dazu z.B. Ursula Pellaton: Von vitaler Bedeutung ist der innere Beweggrund. Zum 100. Geburtstag von Sigurd Leeder, in: tanzdrama 5 (2002), S. 7.
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Die Tänzer konnten dadurch immer einen Bezug zwischen einem Thema und seinem Ausdruck herstellen. In Sacre sind die Emotionen in den Bewegungen des Stückes aufgehoben, indem Pina Bausch ein genau ausgeprägtes Gespür dafür besaß, was in tänzerischer Bewegung zum Ausdruck kommt und wie es hergestellt wird. Für die Darstellung einer der Körpermitte innewohnenden Kraft nutzte sie Stoßbewegungen zur Körpermitte hin, für die zielbewusste Haltung der Männer nutzte sie Betonungen am Ende der Bewegungen und die Frauen ließ sie – als Ausdruck von Hoffnung – gleitend-schwebende Bewegungen ausführen. Gleichfalls überlagert und vermischt sich dieses Bewegungsmaterial unter Männern und Frauen auch und es entsteht kein eindimensionales, sondern ein komplexes Bild der unterschiedlichen Geschlechter, das nicht nur Unterschiede sondern auch Gemeinsamkeiten aufzeigt. Emotion und Bewegung bringen einander dabei gegenseitig hervor, Strawinskys Musik als Antrieb nutzend. Diese Interpretation des Verhältnisses von Körperbewegung und Emotion als eines der gegenseitigen Hervorbringung basiert auf meinen Beobachtungen und Erfahrungen in den Sacre-Proben. Dort wurden Emotionen behutsam – meistens durch Pina Bausch persönlich – sprachlich artikuliert und durch ein gemeinsames Erleben in der Gruppe verstärkt. Intensiv wurde aber auch an den Parametern von Bewegung gearbeitet, ihrer Dynamik sowie ihrem zeitlichen und räumlichen Verlauf. Der besondere Zug des Verhältnisses zwischen Bewegung und Emotion ist also der des gegenseitigen Auslösens. So wie emotionale Zustände in Sacre durch Bewegungen hervorgebracht werden, so sind es umgekehrt Emotionen, die die Tanzbewegungen in Sacre motivieren.
Reflexion Der Vorgang der Reflexion beginnt bereits in den Proben, wenn nach jeder Stelle Fehler verbessert, Wege geklärt oder Bewegungen präzisiert werden. Auf die Ausführung jeder Stelle folgen in den Proben Korrekturen, an die sich dann eine Wiederholung der Stelle anschließt. Dieses Verfahren wird zum einen von den Probenleitern angeleitet, zum anderen findet eine Verständigung der Tänzer untereinander statt. Jeder Tänzer kennt die Vorgaben des Stückes genau, die es trotzdem erlauben, individuelle Absprachen untereinander zu treffen, z.B. bei einem schnellen Formationswechsel oder während der Ausführung einer Hebung. Die Tänzer erfüllen also nicht nur Vorgaben, sondern sind dazu aufgefordert, sich ihnen bietende Freiräume zu nutzen und zu füllen. In der letzten Reihe des Parketts des Wuppertaler Opernhauses war Pina Bausch nicht nur während der Vorstellungen ihres Sacre immer anwesend. Auch zu den am folgenden Tag stattfindenden Korrekturproben – unter den 157
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Tänzern Kritik genannt – kam sie regelmäßig, um Details zu verbessern, Stellen erneut zu üben, musikalische oder räumliche Fragen zu klären oder um notfalls einen verletzten Tänzer bzw. eine Tänzerin zu ersetzen. Die Arbeit an Sacre war mit der ersten Aufführung keineswegs abgeschlossen, sondern setzte sich fort, indem man sich nach jeder Vorstellung traf, um den vorhergehenden Abend aus ihrer Sicht zu beurteilen und zu verbessern. Die Reflexion über den vergangenen Abend gehörte zur Arbeit an Sacre genauso dazu, wie die Aufführung selbst. Sie diente nicht nur dazu, den letzten Abend zu reflektieren, sondern auch auf den kommenden Abend vorzubereiten. Auf die Perspektiven ihrer Mitarbeiter, ganz besonders auf die von Hans Pop, legte Pina Bausch dabei großen Wert und überließ ihm weite Teile der Korrekturen, besonders die für die Männer, die auch die meisten Proben mit ihm verbrachten. Vielleicht lässt sich an diesem Sachverhalt am deutlichsten ablesen, dass Erinnern im Tanz, wie im Theater überhaupt, immer im Hinblick auf die Zukunft geschieht. Die Fehler einer Aufführung werden in den Korrekturen und Kritiken benannt, um sie in der bevorstehenden Vorstellung zu vermeiden. Das Stück wird von Choreografin und Tänzern nicht als fertiges Produkt betrachtet, sondern vielmehr erneut hergestellt. Der Gedanke, dass das Gedächtnis eine schöpferische Aktivität entfaltet, findet sich im Werk des französischen Philosophen Henri Bergson.29 Bergson sah eine wesenhafte Funktion des Gedächtnisses vor allem in seiner Gegenwärtigkeit und seiner in die Zukunft weisenden Dynamik. Gleichfalls schließt nach Ansicht Bergsons jedes Erinnern die Bewusstwerdung der Vergangenheit ein. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses ist Pina Bauschs Sacre immer eine Schöpfung, weil die Tänzer im Rückgriff auf ihr eintrainiertes und zu Bewusstsein gebrachtes Gedächtnis Vergangenheit und Zukunft dynamisch miteinander verknüpfen, um es in der Gegenwart der Aufführung wirksam werden zu lassen. Die Reflexion der Aufführungen von Sacre ist als ein Bestandteil dieses dynamischen Erinnerungsprozesses zu verstehen. Am Tag nach der letzten Sacre-Vorstellung gibt es dann keine Kritik mehr. Die Tänzer haben keine Folgeaufführung in naher Zukunft vor sich; und doch erwarten alle, dass es ein nächstes Mal geben wird.
T e c h n i s c h e M ed i e n Eine Einstudierung des Stückes, allein aus dem menschlichen Gedächtnis heraus wäre mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Zumindest Aufzeichnungen der Aufstellungen aus dem Regiebuch sind unerlässlich, um die Formationen der Gruppen zu stellen – vorausgesetzt, man möchte die ursprüngliche Form des Stückes erhalten. Mit diesen Unterlagen ausgerüstet 29 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Zürich: Coron 1927.
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kommen die Probenleiter zu den Proben. Manchmal werden anhand der aktuellen Besetzung auch neue Skizzen angefertigt. Auf einem Blatt Papier bezeichnet ein Kreis mit dazugehörigem Namen des Tänzers bzw. der Tänzerin, wo die Person innerhalb einer Formation steht. Je länger das Stück Sacre im Spielplan der Wuppertaler Kompanie existiert, desto mehr Videos stehen bei einer Wiederaufnahme zur Verfügung, denn jede Aufführung von Sacre wird – wie alle anderen Aufführungen des Tanztheaters auch – von einem hauseigenen Team gefilmt. Diese Bänder werden in den Proben hinzugezogen, besonders um Raumwege und Formationen zu klären. Nicht selten laufen sie während der Proben auch parallel zu der tatsächlich ausgeführten Choreografie mit, während die Probenleiter Gegenwärtiges und Aufgezeichnetes miteinander vergleichen. Der Einsatz von Videos – schon immer Teil der Wiederaufnahmeproben des Wuppertaler Tanztheaters – dürfte auch in Zukunft notwendig sein, da der prüfende Blick der Choreografin seit ihrem Tod 2009 nicht länger auf der Inszenierung ruht. Bis 2009 dienten die Videos zur Verfeinerung dessen, was Pina Bausch sah und oft auch ohne Zuhilfenahme von Mitschnitten korrigierte und richtete. Der Einsatz technischer Medien wie Notationen und Videos ist nunmehr unentbehrlich, weil diese Informationsträger eine Vorlage bieten, an der sich Tänzer und Probenleiter gemeinsam orientieren können. Dass dadurch nicht alle Fragen geklärt und nicht alle Komponenten der Bewegungsausführung angesprochen werden können, versteht sich von selbst. Die vollständige Adaption des Stückes an die Situation im Probensaal lässt sich von einem Videoband ebenso wenig ablesen, wie der persönliche Ausdruck des einzelnen Tänzers. Die Vermittlung des Bewegungsmaterials übernehmen von vornherein lebendige Wissensträger, die die Bewegungen von Sacre detailgenauer zeigen können als technische Medien dazu in der Lage sein würden. Selbst bei sehr genauen schriftlichen Notationssystemen von Bewegung, wie z.B. der Kinetographie Labans, wird die Dimension des menschlichen Ausdrucks in der Bewegung nicht miterfasst und nur Spezialisten sind in der Lage, diese Notationen zu lesen. Allerdings ist eine ausreichende Anzahl von Tänzern gegenwärtig, um die Informationen zu dem Stück und seinen Bewegungen an zukünftige Generationen weiterzugeben. Diese Tänzer sind Pina Bausch durch jahrzehntelange Mitarbeit verbunden und haben Sacre selbst viele Male getanzt. Sie veranschaulichen, dass im Tanz vor allem der menschliche Körper dasjenige Gedächtnismedium ist, das Erinnerung in lebendiger Form erhält und überliefert.
Zusammenfassung Die Bewegungen von Sacre werden durch die Technik des Zeigens, also durch interpersonelle Vermittlung, weitergegeben. Ein sich wiederholender 159
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Kreislauf in der Arbeit am Bewegungsmaterial von Sacre lässt sich umschreiben als der des Zeigens, Benennens, Wiederholens und Reflektierens. Das Bewegungsmaterial der Choreografie wird in kurze Sequenzen geteilt, die nur allmählich einen zusammenhängenden Ablauf ergeben. Die Körpersprache der Choreografin Pina Bausch wird durch die Tänzer, die sie auf ihre eigenen Körper übertragen, dabei neu produziert. Gleichfalls leistet der Körper, dass die Bewegungen dauerhaft verfügbar bleiben. Die Tänzer müssen über Grundlagen in klassischen und modernen Tanztechniken verfügen, um die Bewegungen ausführen zu können. Besonders zentrale Bewegungsqualitäten gelangen in Sacre zum Einsatz und stehen damit einer eher peripheren Bewegungsgestaltung im klassischen Ballett gegenüber. Von Beginn an ist die Verbindung von Musik und Bewegung zentral. Um eine genaue Zusammenstimmung von Musik und Bewegung zu erreichen, werden Bewegungen metrisch gegliedert. Rhythmische, nicht in Taktformen geordnete Bewegungsphrasen spielen zwar ebenfalls eine Rolle, orientieren sich aber gleichsam an der Dynamik von Strawinskys Komposition. Das Tanzen in Blockformation unterstützt die Erfahrung eines kollektiven Prozesses, in dem die Gruppe das Erleben des Einzelnen prägt. Jeder Tänzer geht an einen für ihn bestimmten Platz und versucht diesen Platz im Bezug zur Gruppe zu halten. Gleichfalls ist das Bewusstsein, von einem Publikum gesehen zu werden, an diesem Vorgang beteiligt. Die Bewegungen von Sacre sind dramatisch und musikalisch motiviert und orientieren sich an einem vorgegebenen Konzept. Das Verhältnis von Emotion und Bewegung ist dennoch nicht als eines von Ursache und Wirkung zu denken, sondern als eines der Wechselseitigkeit. Die Reflexion einer vergangenen Aufführung erfolgt im Hinblick auf die Zukunft, wobei technische Medien eine hilfreiche und notwendige Ergänzung darstellen. Die Erfahrung des ‚Zugleich-Seins’ betrifft besonders das Verhältnis von Bewegung und Musik sowie das von Bewegung und Emotion. An ihnen wird deutlich, dass Resonanzvermögen im Sinne eines gegenseitigen Zusammenklingens im Tanz besonders wirksam wird. Der Beitrag zeigt, dass der Prozess der Einstudierung von Sacre von Beginn an synthetisierend verläuft, indem zum einen der Zusammenhang der Faktoren im Fokus steht, zum anderen die Bewegungs- und Raumanalyse immer an die Bewegungsausführung gekoppelt ist. Über die Behandlung der Fragestellung „Wie konstruieren die Tänzer das Stück Sacre und welche Faktoren werden dabei analysiert?“ hinaus, stellt der Beitrag auch eine methodische Herangehensweise der Tanzwissenschaft vor. Dabei werden Erkenntnisse nicht allein durch den Blick auf das fertige Produkt des Stückes gewonnen, sondern besonders aus der Beobachtung von Prozessen seines Entstehens, Probens und Aufführens. Diese Forschungsperspektive wird aus den Erfahrungen der Tänzer entwickelt und integriert internes Wissen und 160
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persönliche Mitteilungen in die Erschließung des Forschungsgegenstandes. Sie macht die Erfahrungen der Tänzer für die tanzwissenschaftliche Forschung zugänglich und anschlussfähig und verbindet theoretische Reflexion und selbstreflexive Tanzpraxis in einem wissenschaftlichen Kontext.
Literatur Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, München: Beck 1992. Bausch, Pina: Etwas finden, was keiner Frage bedarf. The 2007 Kyoto Prize Workshop in Arts und Philosophy, http://www.inamorif.or.jp/laureates/ k23_c_pina/img/wks_g.pdf vom 9.11.2014. Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung, Zürich: Coron 1927. Brinkmann, Stephan: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz, Bielefeld: transcript 2013. Cébron, Jean: Das Wesen der Bewegung. Studienmaterial nach der Theorie von Rudolf von Laban, in: Dietrich, Urs (Hg.): Das kalte Gloria. Eine Choreographie entsteht. Mit einem Beitrag von Jean Cébron, Essen: Die Blaue Eule 1990, S. 73-98. Dömling, Wolfgang: Strawinsky, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart: Enke 1967. Jooss, Kurt: Gedanken über Stilfragen im Tanz. Vortrag gehalten am 23. September 1957, Schrift 5, Essen: Folkwang-Offizin der Folkwangschule für Gestaltung, o. S. Klein, Gabriele: Das Flüchtige. Politische Aspekte einer tanztheoretischen Figur, in: Huschka, Sabine (Hg.): Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld: transcript 2009, S. 199-209. Pellaton, Ursula: Von vitaler Bedeutung ist der innere Beweggrund. Zum 100. Geburtstag von Sigurd Leeder, in: tanzdrama 5 (2002), S. 6-9. Riding, Alan: Using muscles classical ballet has no need for, in: The New York Times, 15.6.1997, http://www.nytimes.com/1997/06/15/arts/usingmuscles-classical-ballet-has-no-need-for.html vom 9.11.2014. Schwarzer, Alice: Pina Bausch. Ein Portrait von Alice Schwarzer, in: Emma 7 (1987), S. 50-59. Stöckemann, Patricia: Etwas ganz Neues muß nun entstehen. Kurt Jooss und das Tanztheater, München: Kieser 2001.
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Filme Bilder aus Stücken der Pina Bausch (D 1990, Regie: Kay Kirchmann). Pina Bausch (D 2006, Regie: Anne Linsel). Kultur 21. Zum Tod von Pina Bausch. Ein Beitrag der Deutschen Welle vom 8.7.2009, https://www.youtube.com/watch?v=GTq62eb80IUA vom 9.11.2014.
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Intermezzo
Die Treue z ur Form. Gabriele Klein im Ges präc h mit Barbara Ka ufma nn 1
Gabriele Klein (GK): In welchem Zeitraum und wie oft hast Du Frühlingsopfer mit dem Tanztheater Wuppertal getanzt? Barbara Kaufmann (BK): Ich hab es nicht gezählt. Aber insgesamt 19 Jahre, zwischen 1985 und 2004. Am Anfang war ich noch beim FTS2. Meine Geschichte mit Pinas Sacre beginnt aber eigentlich viel früher. 1977 begann ich bei Jessica Iwanson in München meine Tanzausbildung, da habe ich 1978 zufällig die ZDF-Version von Pinas Frühlingsopfer im Fernsehen gesehen. Das hat sich mir tief eingeprägt, förmlich eingebrannt. Ich wusste sofort, so etwas will ich machen. 1984 bin ich von Susanne Linke im FTS engagiert worden. Eines Tages kam Anne Marie Benati, sie tanzte zu der Zeit in der Kompanie in Wuppertal, in den Ballettsaal und hat mit uns Sacre einstudiert. Erst in diesem Moment habe ich begriffen, dass dies das Stück war, das ich Jahre zuvor im Fernsehen gesehen hatte und das mich seitdem immer begleitet und beeinflusst hatte. GK: Die Tänzer des FTS haben ja schon damals Sacre gelernt, aber nicht alle haben mitgetanzt. Bist Du als Gasttänzerin schon mit auf Tournee gegangen?
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Das Gespräch wurde am 24. Mai 2014 in Wuppertal geführt. Das Folkwang Tanzstudio (FTS) wurde 1928 von Kurt Jooss gegründet. Choreografen wie Pina Bausch, Susanne Linke, Reinhild Hoffmann, Urs Dietrich, Mark Sieczkarek und Henrietta Horn haben in den letzten Jahrzehnten mit ihren Choreografien entscheidend das Profil des FTS geprägt. Pina Bausch hatte bis zu ihrem Tod 2009 die künstlerische Leitung inne. Seit Oktober 2012 steht das Ensemble unter der künstlerischen Leitung von Rodolpho Leoni.
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BK: Ja. Meine erste Tournee ging 1985 nach Paris, dann 1986 nach Tokio. 1987 hat Pina mich dann fest engagiert. GK: Hast Du verschiedene Plätze in dem Stück getanzt? BK: Am Anfang war es eine besondere Situation, denn wir waren drei Tänzerinnen für zwei Plätze. Beim ersten Gastspiel hat Pina mich deshalb zusätzlich in das Stück getan und ich kam erst mittendrin zum Kreis auf die Bühne. Auch die Liftstelle, wenn die Frauen nach der Wahl des Opfers auf die Männer springen, habe ich damals auf Grund meines Extraplatzes noch nicht mitgetanzt. In den folgenden Jahren habe ich viele verschiedene Plätze getanzt bis hin zur Rolle mit dem ‚kleinen Solo’, wie es genannt wird. Das ist ein Moment im Stück, wo zum ersten Mal eines der Mädchen allein, umringt von den Männern, eine Ahnung vom Ende spürt. So habe ich diese Stelle jedenfalls immer empfunden. Ich habe dann auch den Tanz des Opfers zusammen mit Ruth Amarante und Julie Shanahan gelernt. Das waren ein Geschenk und eine starke Erfahrung. Ruth hat es schließlich wunderbar getanzt. GK: Das Stück ist ja ein sehr physisches, körperlich für die Tänzer herausforderndes Stück, es braucht viel Kraft und Energie. Der Torf auf dem Boden ist eine weitere Herausforderung... BK: Ja, vom ersten Schritt an. Wenn man das erste Mal die Erde unter den Füßen spürt, gibt es eigentlich kein Halten mehr. Dann ist alles bis zum letzten Ton bis das Opfer auf die Erde stürzt ein Fluss, ein Rausch. Wie Stromschnellen und Wasserfälle. Das Stück ist für die Physis so stark, dem kannst du dich in keiner Weise entziehen. In diesen 35 Minuten entfesselt sich unaufhaltsam alle Energie. GK: 2001, nach der Geburt Deines zweiten Sohnes, hast Du dann die Assistenz übernommen. Was war Deine Aufgabe? Hast Du den Tänzern des FTS das Bewegungsmaterial beigebracht? BK: Pina hat mir die Möglichkeit gegeben, in diese Aufgabe hineinzuwachsen während ich noch im Stück besetzt war. D.h. ich bin eingesprungen und habe so auch lange die Tänzerperspektive behalten können. Das eine war bei den Proben und Vorstellungen dabei zu sein und Korrekturen aufzuschreiben. Das andere war, in der Folkwang Universität mit den Studenten und den Tänzern des FTS zu arbeiten und sie vorzubereiten, also ihnen den Text beizubringen, das heißt, das Bewegungsmaterial zu vermitteln. Damals habe ich diese Aufgabe mit Ed Kortland zusammen in Essen begonnen. Er hat sich um die Bewegungen der Männer gekümmert. Seit 2008 teile ich mir diese Aufgabe mit Kenji Takagi. Dominique Mercy hat uns dabei immer wunderbar unterstützt. Sehr wichtig war in all der Zeit die Zusammenarbeit mit Hans Pop. Er kennt Sacre seit der Entstehung sowohl als Tänzer als auch als Betreuer in und auswendig in allen Aspekten – von der Choreografie, 166
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der Arbeit mit dem Orchester bis zu technischen Fragen. Er gibt den Tänzern immer wieder wichtige Impulse in den Endproben und für die Vorstellungen. Welche neuen Erfahrungen hast Du in diesem Prozess der Vermittlung machen können? Wenn man die Bewegungen weitergeben möchte, tauchen Fragen auf, die man sich beim Tanzen selbst nie gestellt hat. Eine bewusste Betrachtung und eine genaue Analyse der Bewegungsabläufe ohne dabei die Lebendigkeit, die Dynamik und das Spontane zu verlieren, sind extrem wichtig. Die Einstudierung für die Männer und die Frauen erfolgt getrennt. Wie lange braucht man, um das Bewegungsmaterial einzustudieren? Mindestens zweimal drei bis vier Wochen, also sechs bis acht Wochen insgesamt. Die Proben müssen wir in den Unterrichtsplan der FolkwangUni, den Probenplan des FTS und den Spielplan des Tanztheaters integrieren. Wir haben meist in Blöcken von zwei bis drei Wochen jeweils vormittags drei Stunden gearbeitet und die Hälfte der Zeit mit den Frauen und Männern getrennt geprobt. Ist die Einstudierung von Sacre für die Studenten der Folkwang Tanzabteilung heute Teil des Stundenplans? Pina hat sehr klar geäußert, dass es kein Sacre Workshop ist. Es waren Proben. Sie standen immer im Zusammenhang mit dem Spielplan des Tanztheaters. Proben sind dafür da, dass man sich in die Lage versetzt, ein Stück zu tanzen. Es geht also um die Einstellung und die Haltung, mit der man das Bewegungsmaterial erarbeitet. Wie viele Studierende haben es bei der neuen Einstudierung gelernt? Das waren grundsätzlich die Studenten der dritten und vierten Klasse, mit wenigen Ausnahmen aus jüngeren Jahrgängen und die jeweils neuen Tänzer des FTS. Wie viele Frauen werden denn aus der Studierendengruppe ausgesucht? Es richtet sich nach dem Bedarf der Besetzung und natürlich auch danach, wie weit die einzelnen Tänzer bis zu den Proben mit der Kompanie in Wuppertal sind. Wir haben immer ein paar mehr Frauen und Männer nach Wuppertal eingeladen. In dem Stück tanzen 32 Tänzer, 16 Frauen und 16 Männer. Dann gibt es noch Ersatz, jeweils zwei Frauen und zwei Männer. Wie ist unter den Tänzern die Aufteilung zwischen dem Tanztheater, den FTS-Tänzern und den Studenten? Das Verhältnis hat sich mit den Jahren verändert. Als ich anfing, waren wir nur wenige Gäste aus dem FTS. Pinas Fokus war, dass die Tänzer des FTS die Besetzung ergänzen. Es gab aber auch mal eine Zeit, wo deren Termine nicht mit den Vorstellungsdaten des Tanztheaters 167
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vereinbar waren. Deshalb kamen dann Studenten zu den Proben von Sacre hinzu. Mittlerweile tanzen immer alle Tänzer des FTS, also fünf Frauen und fünf Männer und ein oder zwei Studenten mit. Auch ehemalige Studenten und FTS Tänzer sind mitunter als Gäste engagiert. Wie wählt Ihr die Tänzer aus? Früher hat vermutlich Pina Bausch die Auswahl getroffen. Wie funktioniert das jetzt? Natürlich hat Pina jede Auswahl selbst getroffen. Aber es gibt einen Prozess, der schon mit ihr begonnen hat. Zuerst haben wir alle Tänzer vorbereitet, dann kam Pina zu den Proben dazu, hat geguckt und hat dann entschieden. Später gab es auch Phasen, wo sie keine Zeit hatte, nach Essen zu kommen und da hat sie gesagt: „Guckt Ihr bitte. Ihr habt auch die Erfahrung und könnt das sehen. Du weißt, was es ist.“ Ein wirklich schöner Vertrauensbeweis. Es haben uns auch Malou Airaudo, Dominique Mercy und Lutz Förster beraten, die durch ihren Unterricht die Studenten natürlich gut kannten. Wir haben zusammen Vorschläge gemacht und diejenigen Tänzer, die wir ausgewählt hatten, sind zu den Proben nach Wuppertal mitgekommen. Dort hat dann Pina mit allen gearbeitet. Sie hat sich selbst und den Tänzern viel abverlangt, und sie hat immer versucht, so lange wie möglich die Türen offen zu halten und keine vorschnellen Entscheidungen zu treffen. Noch mal gucken, den Raum lassen, noch Mal an etwas arbeiten, niemanden zu schnell ausschließen. Ich habe immer wieder bewundert, wie sie die Möglichkeiten einer Person erkennen konnte, wie sie gesehen hat, wenn jemand noch Zeit und Geduld brauchte und dass etwas Überraschendes zum Vorschein kommen kann. Sie blieb immer neugierig. Wie kann man diese Neugierde behalten? Ich versuche aufmerksam und genau hinzusehen. Auch das habe ich von Pina gelernt. Sie hat immer gesagt. „Du musst lernen überall hin zu gucken.“ Alle Details wahrnehmen und die gesamte Dynamik erfassen. Das ist eine sehr spannende Aufgabe, bei der ich auch selbst immer weiter lerne. Du hast ja in dem Gespräch3 über das Verhältnis von Original und Übersetzung gesprochen und gesagt, eine Übersetzung könne anstreben, treu dem Original zu folgen. Ich versuche so treu zu sein, wie ich nur sein kann, wobei Treue für mich nicht bedeutet, nur das Erscheinungsbild genau zu zeigen, sondern das Wesen des Stückes zu vermitteln. Das kann man nicht voneinander trennen. Letzten Endes ist es die Wahrhaftigkeit und Persönlichkeit der Menschen, die daran arbeiten und es tanzen, die das Stück transportieren. Wer trifft nach Pinas Tod die Entscheidungen?
Das Podiums-Gespräch fand am 22. Mai 2014 zwischen Marc Wagenbach und Gabriele Klein im Opernhaus Wuppertal anlässlich der Buchpremiere von Tanz erben (transcript 2014) statt.
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BK: Letztlich die künstlerische Leitung. Aber wir tauschen uns intensiv über die Fragen zur Besetzung aus und versuchen gemeinsam die richtigen Lösungen zu finden. Als Dominique Mercy und Robert Sturm die künstlerischen Leiter waren, haben Kenji und ich mit ihnen gesprochen, nun mit Lutz Förster. Zum Beispiel für den Strawinsky-Abend4, der das erste Mal ohne Kompanie nur mit FTS-Tänzern und Studenten stattfand, haben wir mit Malou Airaudo, Dominique Mercy und Lutz Förster zusammen gesessen und überlegt, wie eine tragfähige Besetzung aussieht. Was stimmt? Welche Tänzer sind auf welchen Plätzen richtig besetzt? Die Präsenz, die Technik, die Dynamik, die Ausdruckskraft der verschiedenen Tänzer spielen eine Rolle. Wir haben auch überlegt, wer das früher denn getanzt hat und haben uns an der Originalbesetzung als Inspiration und Wegweiser orientiert. Sprechen, abwägen, in den Proben noch mal genau gucken, auch erkennen, wer welche Entwicklung macht. Manchmal sieht man, dass jemand einen ganz weiten Weg in kurzer Zeit zurücklegt. Das ist toll. GK: Gibt es immer übereinstimmende Meinungen? BK: Größtenteils finden wir eine Einigung. Wir diskutieren, manchmal auf Umwegen und kontrovers. Jeder kann auch auf sein Wissen und seine eigene Erfahrung mit dem Stück zurückgreifen, seinem Gespür folgen. „Gefühle sind etwas sehr Genaues“, ist einer meiner Lieblingssätze von Pina. Ja, es läuft letztendlich auf eine gemeinsam getragene Entscheidung hinaus. GK: Wie lange vor der Aufführung werden denn die Entscheidungen gefällt? BK: Mitunter hat es sich lange hinaus gezögert, das war dann auch manchmal für die Tänzer schwer auszuhalten. Pina hat deutlich gemacht, dass sich aus den Proben nicht automatisch ein Anspruch ableitet, Sacre tatsächlich zu tanzen. Es sei auch schön und wertvoll zu lernen und daran zu arbeiten. Aber für die Proben in der Lichtburg5 und dann auf der Bühne steht die Besetzung fest. GK: Wann werden die neuen Tänzer das erste Mal mit dem Torf konfrontiert? BK: In der Hauptprobe. Wenn wir das erste Mal auf der Bühne proben, wird das Stück gestellt und noch ohne Torf getanzt. Da müssen erst einmal wieder die Platzierungen aufgestellt und die Raumorientierung neu vorgenommen werden. Die Fläche mit dem Torf, wir sprechen auch oft von der Erde, kann mal breiter oder schmaler sein und auch die Tiefe variiert von Bühne zu Bühne. Wo stehe ich, wo muss ich hin? Also: Durchplatzieren, machen, tanzen, wiederholen. Wenn das steht, legt die 4 5
Der dreiteilige Strawinsky-Abend fand am 22.-26.11.2013 im Opernhaus Wuppertal statt. Ehemaliges Kino in Wuppertal-Barmen, Probenort des Tanztheater Wuppertal.
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Technik den Torf auf und es gibt den ersten Durchlauf in der Erde. Zuvor hatte es natürlich schon einen Durchlauf im Probenraum gegeben. Diese letzte Probe in der Lichtburg liebe ich, da ist jedes Mal so eine Intensität und Dichte im Raum, die das Stück regelrecht neu erweckt. Damit aufgeladen gehen wir dann auf die Bühne. Wie erleben das die Tänzer, die noch nicht im Torf getanzt haben? Für die meisten ist es ein Schock. Es gibt eigentlich fast immer nach diesem ersten Mal in der Erde Tränen... weil es so eine Erschütterung ist. Weil der Torf die Bewegung schwerer macht oder einen Widerstand erzeugt, der viel Kraft braucht? Der Torf bietet Widerstand. Es ist ein völlig neues Gefühl und ein Schock in zwei Richtungen: die Anstrengung, sich erst einmal wieder neu finden zu müssen und auf den Füssen zu bleiben und gleichzeitig dieses neue heftige Erlebnis. Beides zusammen löst eine Menge aus. Ist es dann auch schon mal passiert, dass jemand meinte, das schaffe er nicht? Als unmittelbare Reaktion vielleicht. Man sieht natürlich die Schwierigkeiten, aber an dem Punkt kann ich die Tänzer eigentlich nur ermutigen und sagen: „Da sind wir alle durchgegangen. Wir teilen diese Erfahrung und kennen diesen Kampf auch.“ Das ist der Prozess: durch, weiter, ein nächstes Mal, bis Sacre dich beflügelt. Das heißt, die Tänzer, die Sacre neu lernen, tanzen zwei Mal mit Torf vor der Aufführung? Genau. Die Neuen machen die Hauptprobe schon im Kostüm, die anderen erst die Generalprobe, weil es für die Kostümabteilung eine riesige Arbeit ist, die mit Torf beschmierten Kostüme immer wieder sauber zu kriegen und für den nächsten Abend bereit zu haben. Das Kostüm macht noch einmal ein ganz anderes Gefühl: für die Frauen, sich in diesen Kleidern so nackt zu fühlen und für die Männer mit freiem Oberkörper zu tanzen. Soviel Erde, Wind, Atem, Schweiß und Haut auf Haut... Was ist mit dem Licht? Ja, das Licht ist auch noch mal eine neue Erfahrung. Die Scheinwerfer von der Seite schaffen ein neues Raumgefühl für die Tänzer und da sie fast auf Augenhöhe sind kann es manchmal blenden. Es hilft nicht gerade auf den Füssen zu bleiben. Aber es erschafft erst diesen besonderen Ort für das Frühlingsopfer. Du bist über Jahrzehnte mit der Kompanie getourt und auch mit Sacre fast zwanzig Jahre. Die Kompanie kennt sich, man ist miteinander vertraut. Wie ist es denn, wenn die jungen Gasttänzer dabei sind?
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BK: Ich finde immer, dass sie einen unglaublich frischen Wind mitbringen, weil sie so jung sind. Sehr feierfreudig. Eigentlich sind sie mittendrin und voll integriert. Ich bemerke auf der einen Seite, dass sie sehr viel von uns, wie wir sind und wie wir uns verhalten – beim Training und in den Proben – bewusst oder unbewusst aufnehmen. Auf der anderen Seite helfen sie mir, mich selber immer wieder zu erneuern. Zugleich sind sie auch richtig durstig nach Korrekturen und es ist toll zu sehen, wie sie die umsetzen und in das Stück hineinwachsen. GK: Das Stück ist nicht nur eine starke Erfahrung und eine physische Herausforderung. Die jungen Tänzer machen vielleicht zum ersten Mal so große Tourneen, tanzen auf großen Bühnen und erhalten einen unglaublichen Applaus... BK: Ich habe es ja selbst erlebt und oft mit ihnen miterlebt. Es gibt Momente, wo sie sehr beeindruckt und auch überwältigt sind. Da ist viel Dankbarkeit, weil sie es wertschätzen und sich freuen, diese Erfahrungen zu machen. GK: Sprechen sie denn über ihre Erfahrungen? BK: Ja und das ist schön. Manchmal gibt es auch gar nichts zu sagen, es läuft einfach nur viel Wasser. Nicht, weil man über etwas weint, sondern weil sich etwas löst. Es ist wie ein inneres Beben. Die Form der Choreografie und der Bewegungen und die Musik verstärken sich gegenseitig. Das erzeugt eine Energie und Dynamik, die in den Tänzern wie in Resonanzkörpern schwingt. Gefühle muss man nicht extra herstellen. Es gehört ja auch zum Wesen des Stücks, dass es einem quasi zustößt. Ich ermutige die Tänzer immer, sich zu erlauben, es passieren zu lassen. GK: Es passieren zu lassen? BK: Ja, es geht darum, eine Balance zu finden zwischen der Kontrolle über das, was du mit deinem Körper tust, wie du deine Technik nutzt, dein Formempfinden, deinen Atem, dein Gewicht, den Raum, das Verhältnis zu den anderen Tänzern und gleichzeitig geht es darum, sich hinzugeben an den Moment, wie zum ersten Mal. Das scheint widersprüchlich, denn wie habe ich denn das, was mir unbekannt ist, unter Kontrolle? Das ist die Kunst. Es ist nicht gemeint, Gefühle extra zu produzieren, Bewegungen zu kopieren oder eine Geschichte zu interpretieren, sondern sich ganz auf die Form einzulassen. Sie hat die gleiche Kraft wie die Musik und gibt den Tänzern die Freiheit, sie zu füllen. In einem Moment im Stück, wo sich die Frauen und Männer nach einer sehr intensiven, repetitiven Stelle in einer plötzlichen Stille gegenüberstehen und sich anblicken, ist nur das hefige Atmen zu hören, was natürlich heraus kommt. Das ist ein eindringliches Beispiel dafür, was es heißt: es passieren zu lassen.
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GK: Du warst mit der Kompanie und mit dem Sacre in vielen Ländern und Kulturen. Jede Kultur hat ein historisches und aktuelles Verhältnis zu Opfern. In jeder Kultur gibt es Opfer und jeder Mensch kann auch in seinem persönlichen Leben mit dem Thema Opfer etwas anfangen. Überall wird die Opferthematik anders übersetzt. Hast Du im Publikum Unterschiede gemerkt? BK: Bei anderen Stücken, ja, da sind die Reaktionen spürbar unterschiedlich, beispielsweise an welchen Stellen gelacht wird, ob und wie gelacht wird. Auch die Zeit, die vergeht bis der Applaus am Ende einsetzt und wie er verläuft, ist ganz verschieden. Bei Sacre aber kaum. Das ist so archaisch, so unmittelbar, ich glaube da wird etwas berührt, das sich unter den verschiedenen Schichten von kulturellen Unterschieden befindet. Quasi unter der Haut. Ich denke, es berührt das Opferthema, das grundsätzlich in jeder Kultur existiert. GK: Ich stelle mir vor, dass in manchen Ländern die durchsichtigen Kleider der Frauen provozierend wirken. Oder dass zum Beispiel das Reißen des Trägers und der Blick auf die nackte Brust des Opfers erst einmal Widerstand erzeugt... BK: Damit habe ich mich nicht wirklich beschäftigt. Vor vielen Jahren, 1979, als die Kompanie Sacre in Kalkutta getanzt hat, gab es tatsächlich laute Proteste im Publikum wegen der Transparenz der Kleider. Nach meinem Wissen hatte das einen politischen Hintergrund. Wir haben auch in Kairo getanzt. Womöglich war es dort auch ein Thema. Aber das Theater, in dem wir mit Sacre gastiert haben, war auch bekannt für sein unangepasstes Programm. Spürbar war für mich dort eher die gesamte Wirkung, der sich das Publikum nicht entziehen konnte. Ich denke, Nacktheit auf einer Bühne provoziert nicht, wenn sie nachvollziehbar ist und dahin gehört, wo sie erscheint. GK: Würdest Du sagen, dass Sacre ein Ritual ist, das Ihr gemeinsam auf der Bühne vollzieht? Ist es anders als eine Aufführung, wie es andere Stücke des Tanztheaters wären? In Sacre wird die Opferung vollzogen. Dadurch dass es physisch und performativ und nicht theatral und repräsentativ ist. Es wird ja nicht die Inszenierung des Opfers gespielt, sondern das Opfer tanzt quasi bis zur totalen Erschöpfung. BK: Als Tänzerin habe ich es mitunter wirklich wie ein Ritual empfunden. Aber aus der Perspektive derjenigen, die das Stück zu betreuen und zu pflegen hat, sehe ich es als eine Aufführung, die mich bewegt. Manchmal werde ich sogar wieder ganz hineingezogen und verspüre die Sehnsucht mitzutanzen, ein Teil davon zu sein, wie vor 36 Jahren. Einmal Tänzerin, immer Tänzerin... Diese Verbindung ist eine Kraftquelle für die Assistenzaufgabe.
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GK: Die große Kraft des Stücks besteht ja unter Anderem darin, dass die Tänzer nicht nur das Bewegungsmaterial lernen, sondern auch zu verstehen, dass sie es in dem Moment der Aufführung immer wieder neu machen müssen, so als tanzten sie es zum ersten Mal. Wie bringt man den Tänzern die Art von Präsenz bei? Wie bringt man ihnen bei, dass sie, wenn sie einmal die Form gelernt haben, nicht nur die Form ausführen müssen? BK: Tatsächlich über die Form. Wenn du die Bewegungen wirklich so ausführst, wie sie sein sollen, fängst du an zu fühlen, was sie erzählen. Es geht ja nicht um eine wie auf dem Millimeterpapier abgezirkelte Uniformität, sondern darum, dass jeder Tänzer mit seinen eigenen Proportionen und seinem Temperament die Form und Dynamik findet, die die Choreografie verlangt. Jede Form hat eine bestimmte Funktion, sie transportiert etwas ganz Bestimmtes. Wie Körpersprache eben. Wir können ja jede Kopfhaltung, Schulterspannung oder Blickrichtung lesen. Das heißt, an der Genauigkeit der Bewegungen muss man immer wieder arbeiten. Warum zum Beispiel hat die große Diagonale der Frauen, die wir die Wolke nennen, diese singende Qualität, diesen Klang? Weil wir den Atem, die Gewichtsverlagerung, das Porte de bras und das Plié benutzen und die Körper- und Raumrichtung definieren. So genau wie die Musiker ihre Instrumente spielen. Pina hat deshalb mit den Tänzern ausgiebig an der Form gearbeitet. Sie wollte immer, dass wir weiter ausholen, uns mehr strecken oder tiefer ins Plié gehen als wir dachten, dass wir es konnten. „Hier musst du tief in die Hüfte gehen und mit der Brust weit nach oben. Guck doch mal die verschiedenen Richtungen. Mach noch mal.“ Wie oft hat sie zu uns gesagt: „Tiefer, größer. Ihr müsst Euch mit Luft füllen, bevor Ihr loslauft.“ GK: Würdest Du sagen, dass das choreografische Sehen der Pina Bausch darin besteht, dass sie in der Form die Emotion sieht? BK: Ich würde sagen, das ist ein Teil ihres choreografischen Sehens. Ihr Sehen birgt noch viel mehr. Sie prüfte immer die Realität und Echtheit dessen, was sie gesehen hat. GK: Gibt es auch ein choreografisches Hören? BK: Dazu fällt mir ein, dass Pina in den Proben öfter gesagt hat: „Ich höre schon an deinen Schritten, ob es stimmt oder nicht stimmt.“ Man kann hören, wie jemand zu Boden fällt, wie jemand atmet, wie eine Hand auf ein Gesicht gleitet. Geräusche spielen in Pinas Stücken eine wichtige Rolle. GK: Bei der starken physischen Kraft, die Sacre den Tänzern abverlangt, ist, wie in allen Stücken des Tanztheaters, das Timing natürlich auch sehr wichtig.
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BK: Auch das ist wirklich eine riesige Herausforderung ohne Pinas untrügliches Gespür. Ein ausgeprägtes Gefühl für Timing lernt man in dieser Arbeit. Auf der Bühne sind wir gegenseitig auf unsere genau gefühlten Timings angewiesen. Der Körper erinnert sich erstaunlich genau daran und durch das viele Zuschauen erkennt man immer besser die Feinheiten. Das ist eindeutig meine Erfahrung und gleichwohl bleibt es immer eine Annäherung an Pinas Blick.
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Aktion und Dialog
NIC OLE HAIT ZIN GER /CLAUDIA JE SCHKE /CHRIST IANE KARL
Die Tänze der Opfe r. Tä nzerisc he Ak tione n, Bew egungs Te xte und Metatex te
NICOLE HAITZINGER (NH) Im Einführungsvortrag der Tagung Bewegung in Übertragung – Methoden der Tanzforschung bezeichnete Gabriele Brandstetter Le Sacre du Printemps als ein „Offert an den Betrachtenden.“ Wir möchten an diese schöne Metapher anknüpfen, die in sich schon auf eine ‚Opfergabe‘, ja vielleicht auch Hingabe verweist, die Igor Strawinskys Komposition und das Libretto Sacre immer wieder einzufordern scheint. Die Auseinandersetzung, die intensive Hingabe spiegeln auch die Aussagen der Choreografen Pina Bausch und Maurice Béjart wider, die sich beide mit dem Sacre-Material künstlerisch beschäftigten. „I cannot speak of the Rite of Spring. It’s too powerful. I don’t have the words. My every phrase, my every intention is there in my movements. I have only my dance.“1 „You have to fight the music, you have to love it, you have to give yourself entirely to it. But you have to stay yourself. There is the perpetual struggle.“2
Nach der Uraufführung von Sacre durch Waslaw Nijinsky im Jahr 1913 entstanden im 20. Jahrhundert über 80 verschiedene Bühnen-Umsetzungen. Das Faszinosum dieses Œuvres, das als Emblem der Moderne und wegen seiner breiten künstlerischen Rezeption als Konstituente für das kulturelle 1 2
Das Zitat von Pina Bausch wurde aus der folgenden filmischen Dokumentation transkribiert: Les Printemps du Sacre (1993), produziert von La Sept/Arte and Telmondis. Director: Jacques Malaterre. Das Zitat von Maurice Béjart wurde transkripiert aus ebd.
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Gedächtnis des Tanzes des letzten Jahrhunderts gilt, scheint ungebrochen. Die Tagung kreiste in ihren Vorträgen und Diskussionen häufig um die ‚Leerstellen‘ und die Schwierigkeit der Versprachlichung, der „negativen Praxis des Tanzens im Zwischen von Sagen und Zeigen“3, denen sich die Theoretisierung der Sacre-Choreografien (hier vor allem natürlich des Tagungsvorschlages, der Version von Bausch) stellen muss. Tanzen ‚passiert‘ demnach semiotisch zunächst nicht fassbare Räume; diese ‚Passage‘, die Immanenz des tänzerischen Aktes wird sichtbar und erfahrbar im Blick auf das motorische Geschehen selbst. In explizit bewegungsanalytischem Vergleich befassen wir uns mit der Bausch-Choreografie und der Nijinsky-Version in der Rekonstruktion von Millicent Hodson und Kenneth Archer4 – und zwar mittels des mobilen Systems der Inventarisierung von Bewegung (IVB). Wir, Nicole Haitzinger, Christiane Karl, verstehen uns als zwei Dilettantinnen der Bewegungsanalyse. Dilettantismus verwende ich hier ohne die aktuelle abwertende Konnotation, sondern in seinem Wortsinn „erfreut, ergötzt“, von etwas zu einer Kunst hingezogen, doch (noch) nicht professionell ausgebildet.5 Mit Fokus auf den Akt des Tanzens wollten wir uns – eher das Handwerk beschreibend als, wie sonst üblich, in diskursiver Geste – eine andere Erfahrung, ein spezifisches Wissen über den Tanz und das Tanzen erarbeiten. Die Annäherungen an die analytische Dokumentation beziehen mehrere Ebenen des Wahrnehmens, Denkens und Schreibens mit ein. Um tänzerische Aktionen in Bewegungstexten darstellbar zu machen, sind Metatexte hilfreich, die wir im Folgenden mit der rhetorischen Figur des ‚Exkurses‘ kennzeichnen. Die drei Exkurse spiegeln die Kulturgeschichte des Tanzes, die Problematik der Bewegungslektüre und Wiederverschriftung und die Frage der performativen Autorschaft im Tanz.
An n ä h e r u n g e n a n d i e a n a l yt i s c h e D o k u m e n t a t i o n Unsere erste Aufgabe definieren wir mit Bewegungsbeobachtung und Beschreibung eines wesentlichen Teils in beiden Sacre-Umsetzungen, nämlich 3 4
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Vgl. den Beitrag von Dieter Mersch in diesem Band. In den 1980er Jahren erarbeiteten Millicent Hodson und Kenneth Archer nach 15-jähriger Forschungsarbeit eine Rekonstruktion von Nijinskys Choreografie, unterstützt durch Marie Rambert, die zur Entstehungszeit des Balletts Nijinskis Assistentin war. Am 30. September 1987 wurde die Produktion vom Joffrey Ballet in Los Angeles aufgeführt. Seit 1991 gehört sie zum Repertoire der Pariser Oper. Dokumentiert ist die (Wieder-)Entdeckung von Nijinskys Sacre in: Millicent Hodson: Nijinsky’s Crime against Grace. Reconstruction Score of the Original Choreography for „Le Sacre du Printemps“, Dance & Music Series No. 8, New York: Lang 1996. Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. Berlin 1999, S. 181.
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des solistischen Opfertanzes, der bei Nijinsky und Bausch das choreografische Finale markiert. Wir entscheiden uns für eine erste, assoziative Sichtung und lenken unseren Blick gezielt auf die Bewegung. Uns wird schnell klar (und dies gilt unseres Erachtens für jeden, auch ohne tanzwissenschaftliche oder tänzerische Vor-Kenntnisse), dass sich die jeweiligen Körper- und Bewegungskonzepte in beiden Versionen unterscheiden. Doch wie lassen sich diese Differenzen in der Bewegungswahl, -anordnung und -ausführung beschreiben, vor allem wenn man sich nicht an gewohnten Ordnungsrastern (Vergleich von Inszenierungsstrategien, theatralen Zeichensystemen, Kontext) orientieren kann? Man weiß, dass es ‚anders‘ ist. Doch offensichtlich fehlt uns ein unmittelbar aufrufbares Medium zur Übertragung dieser Bewegungswahrnehmungen in Sprache. Auch im Kontext des Tagungsthemas Bewegung in Übertragung dürfte es nicht erkenntniseffektiv genug sein festzustellen, dass es sich ‚irgendwie‘ unterscheidet. Obwohl es mit unserem theater- bzw. kulturwissenschaftlichen Vorwissen gerade an diesem Punkt verführerisch wäre, unser erlerntes, jahrelang praktiziertes bekanntes Referenzsystem (Theatersemiotik) aufzurufen und mit nachdenkendem Kreisen um das ‚irgendwie‘ (performatives Schreiben) zu verknüpfen.
Exkurs I: Tanzgeschichten CHRISTIANE KARL (ChK) An den Entwicklungs- und Realisierungsprozessen des Balletts Le Sacre du Printemps – von der Idee für das Libretto bis zur Pariser Uraufführung 1913 – waren verschiedene Künstler maßgeblich beteiligt. Der Rückgriff auf einen slawischen Ritus basiert auf den ethnologischen Forschungen des Malers und Archäologen Nicholas Roerich zur frühchristlichen russischen Malerei. 1911 erhielt Strawinsky, der sich bereits mit der Thematik auseinander gesetzt hatte, den offiziellen Kompositionsauftrag für ein Ballett, in dem sich ein junges Mädchen in einem zu tödlicher Erschöpfung führenden Tanz für die Fruchtbarkeit der Erde opfert. Im darauf folgenden Jahr begann Nijinsky – 1912-1915 Chefchoreograf der Ballets Russes – seine choreografische Arbeit mit dem Solopart der Auserwählten, des Opfers. Die Uraufführung am 29. Mai 1913 in Paris löste beim Premierenpublikum heftige Reaktionen aus und zog kontroverse Debatten nach sich. Die Gemüter erhitzten sich weniger am Inhalt – die Suche nach Ursprünglichkeit und Erneuerung heidnischer Ursprungsmythen entsprach dem damaligen Zeitgeist – sondern an Nijinskys bewegungstechnischer und choreografischer Umsetzung.6 Der über mehrere Generationen tradierte Formenkanon des klassischen Balletts lieferte (dem Tänzer und Choreografen) Nijinsky das 6
Vgl. M. Hodson: Nijinsky’s Crime, S. vii.
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Material für seine Raum-Zeit-Komposition, das er jedoch teilweise durch die Umkehrung des klassischen Bewegungsvokabulars ‚en dedans‘ – oder wie Hodson es bezeichnet „pigeon-toed“7 – und durch Isolation variierte. So entsteht ein Bewegungsvokabular, in der Kritik häufig als ‚eckig‘ bezeichnet, das als Kontrast zu den ‚fließenden‘ Bewegungen des Balletts gelesen wurde. Nijinskys reduzierte Bewegungssprache wird zudem durch weniger virtuose Sequenzen aus dem Bereich der Alltagsbewegung sowie des Volkstanzes ergänzt. Nijinsky greift in seiner Choreografie Rhythmus und Atmosphäre der Musik auf und entwickelt die Choreografie in Anlehnung an die aus der Rhythmischen Gymnastik stammende ‚plastique animée‘ von Émile JaquesDalcroze. In seiner kongenialen szenischen Komposition entfaltet sich so die Eigendynamik der Bewegung, ohne die musikalischen Strukturen zu verdoppeln.8 Bauschs Choreografie Le Sacre du Printemps ist der dritte Teil des Tanzabends Frühlingsopfer (Wind von West/Der zweite Frühling/Le Sacre du Printemps), der am 3. Dezember 1975 in Wuppertal Premiere hatte. Ihre Auseinandersetzung mit dem Material – dem paganen archaischen Ritus und Strawinskys Partitur – aktualisiert sich vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Fragen. Auf die für das Tanztheater charakteristischen Bezüge zu realpolitischen Situationen verweist Michael Diers und rekurriert auf die westdeutschen gesellschaftspolitischen Probleme in den 1970er Jahren, konkret auf den Zusammenhang zwischen dem Thema Opfer, bzw. Opferbereitschaft und den (Re-)Aktionen der RAF.9 Obwohl Bausch in Sacre nicht direkt Haltungen oder Situationen aus dem Alltag auf die Bühne stellt, bewegt sich auch dieses Stück „[...] weniger in einem narrativ-illusionistischen als in einem gesellschaftlichen Kontext und spiegelt die als virulent empfundenen Zivilisationsprozesse“.10 Die alltäglichen und realpolitischen Züge in Bauschs Bewegungssprache lassen sich auf Vorstellungen vom Tanz als kultureller Praxis zurückführen, wie sie bereits von Rudolf von Laban und Kurt Jooss in den 1920er Jahren formuliert worden waren und die ein paar Dekaden später von den ChoreografInnen des Tanztheaters aufgegriffen und weiter entwickelt werden. Verknüpft mit der für Bausch zentralen Frage, was den Menschen bewegt und nicht wie er sich bewegt, ist und bleibt es ihr Prinzip, Bewegung als sinnliche Erfahrung und nicht als formales Material zu verstehen. 7 8 9
Ebd. Vgl. ebd., S. vii, xviii. Siehe den Beitrag von Michael Diers in diesem Band. Vgl. auch: Claudia Jeschke: Tanz als BewegungsText, Tübingen: Niemeyer 1999. 10 Claudia Jeschke/Susanne Schlicher: Tanzforschung für die Theaterwissenschaft. Pina Bausch und William Forsythe: „Im besten Fall drückt Tanz nichts anderes aus als sich selbst“, in: Erika Fischer-Lichte/Wolfgang Greisenegger (Hg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen: Narr 1994, S. 243.
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Exkurs II: Bewegungsgeschichten – Wahrnehmung und Verschriftung CLAUDIA JESCHKE (CJ) Die Inventarisierung von Bewegung, IVB, erkundet und reflektiert die Theoriefähigkeit von Bewegung durch die Systematisierung von Bewegungswahrnehmungen und ihre Übertragung in Sprache (oder Schrift). Voraussetzung für diese Theoretisierung ist ein Blick auf Bewegung, der sich auf die dynamischen Anteile im Bewegungsablauf konzentriert, d.h. auf eine Ebene der Beobachtung, die nicht die stabile Erscheinungsform, sondern die sie bedingenden motorischen (= bewegungsaktiven, instabilen) Prinzipien untersucht. Das bedeutete nicht nur, die in der bewegungsorientierten Forschung existenten Methoden einer kritischen Prüfung zu unterziehen, sondern erforderte auch einen transkulturellen wie genreübergreifenden Ansatz, mit dem sich komparativ motorische Identitäten jenseits soziokultureller und (theater-)ästhetischer Grenzen feststellen lassen. Die Untersuchung von Bewegung als artikulierender, ‚künstlicher‘ Größe, als Aktion, als Handlung (und nicht als Mittel zur Herstellung einer bestimmten Erscheinungsform) ermöglicht, die jede Bewegungserscheinung strukturierenden motorischen Äußerungen aufzuzeigen. Der Begriff der Motorik, wie ihn IVB gebraucht, bezeichnet demnach die für die Tanz- und Theaterforschung theoretisch und methodisch verwertbaren Elemente während einer Bewegungsaktion. Das Verständnis von Bewegungen als Aktionen erschließt sich mit Hilfe eines inventarisierenden Untersuchungsmodells. IVB begreift die Komplexität von Bewegung als selbstverständliche Voraussetzung des Sich-Bewegens, als physikalisch-physiologische wie auch phänomenologische Konstruktion, da die zu deren Wahrnehmung wesentlichen Kriterien Körper, Bewegungsart, Raum und Zeit während des Bewegungsprozesses nie einzeln auftreten. Das spezifische Zusammenwirken der Kriterien wird deshalb als bewegungskonstitutiv betrachtet. Das Inventar der Beobachtungskriterien ist flexibel; sein Gebrauch richtet sich nach der Art und Weise, wie der Beobachtende die Beobachtungskriterien benützen will. Die Flexibilität der Inventarisierung ist aber keineswegs beliebig; der inventarisierende Blick auf die Bewegungsphänomene legt vielmehr ein spezifisches – eben das durch das jeweilige Erkenntnisinteresse des Beobachtenden bestimmte Vokabular – frei, das, so zeigt sich bei der Anwendung von IVB weiter, auch spezifische Techniken der Verknüpfung aufweist. Auswahl und Verknüpfung der Phänomene äußern sich als motorische Systeme; ihre Bestimmung, d.h. ihre Lokalisierung und Beobachtung innerhalb ihres eigenen Kontextes, als BewegungsTexte also, verweist auf die Konzepthaftigkeit von Bewegung, auf ihr interpretatives Potential.
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N i j i n s k ys u n d B a u s c h s S a c r e i m V e r g l e i c h (NH, ChK) In der Untersuchung der beiden Opfertänze11 beginnen wir mit der Nijinsky-Rekonstruktion. Zum einen, da wir offensichtlich unter der gewohnten Perspektive eines linearen Geschichtsverständnisses eine (vermeintliche) historisch-chronologische Abfolge – Nijinsky (1913) und Bausch (1975) – favorisieren. Zum anderen gibt uns die Erstauseinandersetzung mit Nijinskys Sacre die Möglichkeit, die uns noch aus der Tagung Bewegung in Übertragung (methodisch und inhaltlich) sehr präsenten, heterogenen Analysemöglichkeiten der Sacre-Version von Bausch kurz auszublenden. Der erste Schritt ist die Auswahl von exemplarischen Kurzsequenzen. Unsere Annäherung konzentriert sich auf zwei bis drei Sekunden der Anfangspassage von Nijinskys Choreografie. Wir arbeiten mit dem Standbild, das wir immer wieder kurz vor- und rückspulen. Es folgt die Übersetzung des Gesehenen in die Schriftzeichen von IVB. Welche spezifischen Körperpartien (gesamter Körper, einzelne Körpersektoren oder verschiedene Körperteile) sind motorisch aktiv? Wir lernen durch die präzisen Anhaltspunkte des Systems den Körper in seine Sektoren einzuteilen und zwischen der motorischen Aktivierung der Körperteile (Rumpf, Kopf, Gliedmaßen und Gelenke) zu unterscheiden. Unser Blick wird genauer, fokussierter. Uns fällt z.B. auf, dass bei Nijinsky eine Körperspaltung in unten/oben feststellbar ist, dass fast alle Armgesten Bewegungen der Unterarme und die meisten Beingesten Bewegungen der Unterschenkel sind, sowie dass Innehalten ein wiederkehrendes Phänomen ist. Gleichzeitig beginnen wir die abstrakten Bewegungszeichen von IVB wie eine neue Sprache zu lernen. Oft müssen wir die Zeichen nachschlagen, bevor wir die Beobachtungen notieren können. Doch trotz oder gerade wegen dieser zeitaufwendigen Inventarisierung wird uns das Verständnis für den Körper als Bewegungsapparat (mit seinen vielen, differenzierten, doch auch physiologisch begrenzten Bewegungsmöglichkeiten) bewusster. 11 Igor Stravinsky: Le sacre du printemps, revised 1947. The rite of spring: pictures from pagan Russia in two parts – Partitur, (re-engraved ed. 1967), full orchestral score. London 1997, S. 121-153, Akt 2, Szene 5: Sacrificial Dance (The Chosen One) – Danse Sacrale (L’Élue), Repetitionsziffern 142-201. Videomaterial für Nijinsky: Le Sacre du Printemps. The Joffrey Ballet. Reconstructed and staged 1989 by Millicent Hodson. Artistic supervisor of the reconstruction: Robert Joffrey (Dance Directed by Thomas Grimm). CoProduction of WNET/New York and Danmarks Radio (Copyright: 1989, Danmarks Radio and Educational Broadcasting Corporation). Videomaterial für Bausch: Le Sacre du Printemps. Tanztheater Wuppertal. Choreografie: Pina Bausch. Produktion des ZDF (Studio Hamburg) 1978, ausgestrahlt 1979. Notate zum tänzerischen Ablauf finden sich in M. Hodson: Nijinsky’s Crime, S. 166ff und Jacques Rivière: From Le Sacre du Printemps, in: Lincoln Kirstein (Hg.): Nijinsky Dancing, New York: o.V. 1975, S. 164-168.
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Das nächste IVB-Thema, das wir uns bei der Nijinsky-Version exemplarisch erarbeiten, ist Koordinieren. Hier prüfen wir, auf welche Weise die Körperteile der Tänzerin durch die Artikulation der Gelenke ihre Positionen verändern. Welche Körperteile bewegen sich auf den Körper zu oder vom Körper weg? Wie sieht es mit Beugungen und Streckungen aus – also der gleichzeitigen Bewegung zweier Gliedmaßenteile aufeinander zu oder voneinander weg? Expandiert oder kontrahiert der Rumpf? Verdrehen sich die Beine einwärts oder auswärts, verdreht sich der Rumpf nach links oder rechts? Bewegen sich die Gliedmaßen oder Gliedmaßenteile nahe oder fern vom Körper? Die ersten Antworten fallen uns für diese Nijinsky-Version relativ leicht: Auffällig ist die Bewegung der Oberarme auf den Körper zu und von ihm weg sowie die Bewegung der Unterarme zum Oberarm hin und von ihm weg, die Einwärtsverdrehung der Beine und Füße, die Kontraktion oder Expansion sowie die Verdrehung des Oberkörpers. Die räumlichen Ausrichtungen der Ober- und Unterarme auf der Breiten- bzw. Längsfläche wird ebenfalls deutlich. Die Notierung der motorischen Phänomene in den Punkten Mobilisieren und Koordinieren gelingt besser, wenn wir die Bewegungen mimetisch nachahmen, die Stellungen ausprobieren, uns gegenseitig bei unseren Versuchen zusehen und unsere körperlichen Erfahrungen durch die Übertragung in Schriftzeichen abstrahieren. Die zwei weiteren Untersuchungs-Kategorien von IVB – Belasten und vor allem das Regulieren – stellen uns bei unserem ersten Beispiel Nijinsky vor größere Herausforderungen. Belasten fokussiert die Analyse des Einsatzes der Körperschwere. Werden die von der Körperschwere belasteten Partien von der Tänzerin eher beibehalten, werden bestimmte Stellungen wie stehen, knien, liegen akzentuiert? Oder favorisiert die Nijinsky-Choreografie einen häufigen Belastungswechsel durch Übertragungen, also durch der vorübergehenden Entlastung der belasteten Körperpartien wie durch Stellungswechsel, Ortwechsel durch Schritte, Sprünge oder das Fallen? Besonders auffällig in Nijinskys Choreografie ist für uns der häufige Einsatz des Sprunges sowie die Übertragung durch Laufschritte nach vorne bzw. zur Seite. Das Regulieren versucht den Energieaufwand und die Energieverteilung der motorischen Aktivitäten genauer zu bestimmen. Ist das von den Muskeln aufgewendete Maß an Kraft eher gleichmäßig, steigernd oder mindernd? Gibt die Körperschwere der Erdanziehung eher nach oder wirkt sie ihr entgegen? Wie sieht es mit der Modulation, dem jeweiligen Zusammenwirken zwischen physischer Kraft und Schwerkraft in der Bewegung, das die Muskeln aufgrund ihrer Elastizität gestalten, aus? Und ist schließlich die Phrasierung – die Verteilung von Energie über die Dauer von Bewegung – eher gleich bleibend oder allmählich bzw. plötzlich mit mehr/weniger Energie? Und gibt es Tempoveränderungen (beschleunigend oder verlangsamend)? Wir ver183
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muten einen gleichmäßigen bzw. steigernden Einsatz von Kraft im Energieaufwand. Das Konzept des Regulierens favorisiert das gleich bleibende Tempo. Die Phrasierung der Arm- und Beingesten mit plötzlich mehr Energie erscheint uns weiters als ein auffälliges motorisches Phänomen, das wir notieren. Da wir bis jetzt fast ausschließlich mit statischen Bildausschnitten (in Folgen) gearbeitet haben, stellt uns die Analyse dieser Bewegungsqualitäten bei Nijinskys Sacre zunächst vor große Probleme. Uns wird klar: Die Zwischenergebnisse sind in diesen Punkten eher diffus und vage. Nach den ersten Zwischenanalysen beginnen wir das ‚Spiel‘ – und für uns ist es tatsächlich zu einem faszinierenden Puzzlespiel geworden – mit Bauschs Opfertanz-Version aus Sacre. Erneut selektieren wir gemeinsam die für uns exemplarischen Ausschnitte und beginnen ‚von vorne‘. Dieses ‚von vorne‘ heißt für uns noch automatisch mit den Modulen Mobilisieren und Koordinieren. Gleich zu Beginn ist ein markanter Unterschied zu Nijinskys Choreografie deutlich: In der Bausch-Version wird der gesamte Körper mobilisiert. Die Schwierigkeit im folgenden Versuch der Ausdifferenzierung der Teilaspekte von Mobilisieren und Koordinieren besteht darin, dass wegen unserer bis dato sehr (bewegungs-)bildhaften Analysemethode (Arbeit mit Standbildern in Folge) die Auswertung der Beobachtungen extrem heterogene und teils widersprüchliche Ergebnisse bringen. Anders als bei Nijinsky lässt sich kein konturierbares Körperkonzept herauskristallisieren. Wir formulieren einige Auffälligkeiten wie: Die Arme bewegen sich sehr nahe auf den Körper zu (bis zur Berührung) oder weit vom Körper weg, Verdrehungen erfolgen in unterschiedlichen Gradationen, die Bewegungen finden nicht auf Achsen oder Flächen statt, die der Breite oder Tiefe der Körperarchitektur entsprechen, sondern verlaufen auf Zwischenflächen. Auch in den Punkten Belasten und Regulieren kamen wir mit unserer hart erarbeiteten Methode der ausdifferenzierten Standbildanalyse nicht weiter. In einem Gespräch mit Claudia Jeschke diskutieren wir die bisherigen Zwischenergebnisse und problematisieren unseren momentanen (Still-)Stand. „Was ist bei Bauschs Sacre-Version auffällig?“ – wieder stellen wir diese erste Frage und holen unsere intuitiven, assoziativen Bewegungswahrnehmungen zurück ins Denk/Spiel. Im Vergleich mit Nijinsky funktioniert bei Bausch – und das ist die These, die wir im Gespräch entwickeln – die Bewegungsweise weniger über Bewegungs-Formen, sondern mehr über den spezifischen Einsatz von Energie. Offensichtlich kann der Opfertanz nicht mit der von uns praktizierten Methode der bildhaften Qualitäten von Bewegung und der damit in Verbindung stehenden Favorisierung der Aktivitäten Mobilisieren und Artikulieren erfasst werden. Wir beschließen, die Aktivitäten von IVB für die Bausch-Analyse anders zu gewichten und uns das auf die Bewegungsqualitäten verweisende Belasten und Regulieren zu konzentrieren. Nicht mehr die Beobachtung und Beschreibung von motorischen Phäno184
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menen, sondern die Auswahl und Verknüpfung im motorischen System soll in der weiteren vertiefenden Auseinandersetzung stärker betont werden.
Exkurs III: Bewegungserfahrung, Bewegungswahrnehmung und Körpergedächtnis (CJ) Jegliche Bewegungserfahrung entwickelt sich aus aktivem Bewegen und/ oder dem Sehen/Wahrnehmen von Bewegung, das im prozeduralen Gedächtnis der aktiven Bewegung ähnliche Reaktionen auslöst.12 „Bewegung, Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung laufen im gesamten Körper ab, denn Gehirn und (Rest-)Körper können nicht getrennt von einander betrachtet werden, sie bilden einen unauflöslichen Organismus. Folglich sind Bewegung, Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung Denk- und Bewegungsprozesse zugleich. [Die aufgeführten] neurowissenschaftliche[n] Ergebnisse dokumentieren eindeutig, dass nicht allein die Ausführung, das Tun, Bewegung in den Körper einschreibt und das Körpergedächtnis formiert, sondern dieser Prozess ebenso über die (visuelle) Wahrnehmung und Vorstellung erfolgt. Zudem verbindet uns die Beobachtung von Fremdbewegungen mit der Welt der Anderen, […].“13
Als entscheidend für die Befassung mit Tanz-Wissen wird immer wieder der so genannte Bewegungssinn aufgerufen. Bewegungssinn oder Kinästhesie referiert sowohl auf den körperlichen Prozess der Wahrnehmung eigener Bewegung als auch auf das ‚Nachempfinden‘ fremder Körperbewegung.14 Annette Hartmann impliziert in ihrer Gleichsetzung von Bewegen und Sehen 12 Der Neurophysiologe Wolf Singer unterscheidet zwei Arten der Gedächtnisleistung, die sich während der Wahrnehmung ereignen. Zum einen das „prozedurale Gedächtnis“, in dem motorische und sensorische Fähigkeiten gespeichert sind und das durch Übung aufgebaut wird. Dieses Gedächtnis wird beim Erlernen von neuen motorischen Mustern aktiv. Zum andern benennt Singer das „episodische oder deklarative Gedächtnis“, mit dessen Hilfe Ereignisse in den Zeitfluss eingeordnet, Reihenfolgen, Assoziationen und damit Kontexte gespeichert werden. Etwa in: Wolf Singer im Gespräch mit Dorothee Hannappel: Keine Wahrnehmung ohne Gedächtnis, in: Theaterschrift, 8/1994, S. 30. Zu Fragen der Bedeutungskonstruktion und möglicher methodischer Antworten vgl. Bettina Schlüter: Konstruktivistische Aspekte einer Korrelationsanalyse von Musik und Tanz, in: Claudia Jeschke/Hans-Peter Bayerdörfer: Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 59-69. 13 Annette Hartmann: Mit dem Körper memorieren. Betrachtung des Körpergedächtnisses im Tanz aus neurowissenschaftlicher Sicht, in: Johannes Birringer/ Josephine Fenger (Hg.): Tanz im Kopf. Dance and Cognition, Münster: Lit 2005, S. 185-199, hier S. 197. 14 Zum historischen Verständnis der Kinästhesie vgl. Sabine Huschka: Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien, Hamburg: Rowohlt 2002, S. 27, Anm. 3.
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die visuelle Kinästhesie. Bereits in einem Artikel von 1984 hat Mary M. Smyth darauf hingewiesen, dass auch andere Sinne, vor allem das Hören (etwa von Strawinskys Sacre...), den Bewegungssinn unterstützen können. Smyth macht deutlich, dass theoretisch zwischen motorischem Wissen (motor knowledge) und Kinästhesie zu unterscheiden ist. „Motor knowledge might be involved in classification of movement, or knowing how to make a movement could be an important part of remembering it after seeing someone else perform, but such motor knowledge need not to be kinaesthetic. It could involve only the rules for the control of movement, not the perception of how such movements would feel. As kinesthesis is the sense of movement, communication has to access the stored representations of what movements feel like, not how they are made.”15
Jedoch ist es laut Smyth möglich, den Bewegungssinn mit Hilfe kinästhetischer Vorstellung(en) zu aktivieren: „So, it is possible that kinesthetic imagery can be part of thinking about a series of movements which one cannot perform.“16 Das Zusammenwirken von „motor knowledge“ und Kinästhesie basiert demnach auf ähnlich mobilen und zu historisierenden Strukturen wie die wandlungsfähigen Figurationen von Bewegungserfahrung, Bewegungswahrnehmung und Körpergedächtnis.
B ew e g u n g s T e x t e : R e vi s i o n e n (NH, ChK) Unser Versuch der automatisierten Anwendung von IVB, also der Abarbeitung der Aktivitäten 1-4 (Mobilisierung, Koordinieren, Belasten, Regulieren) ist in der ersten Phase bei der Analyse von Bauschs OpfertanzChoreografie schnell an ihre Grenzen gestoßen. IVB nennt sich nicht nur ‚mobiles System‘, es fordert die gestaltende, kreative Zusammensetzung sowie die unterschiedliche Gewichtung der Teilaspekte. Wiederholt sichten wir den Opfertanz in der Bausch-Version. In der zweiten Phase konzentrieren wir uns auf die energetischen Dimensionen des Tanzes und des Tanzens und beginnen mit den Aktivitäten Regulieren und Belasten. Wir lassen längere Bewegungssequenzen auf uns wirken, rufen unser motorisches Körpergedächtnis auf und nehmen andere, also mehr energetische als bildhafte Bewegungsqualitäten wahr. In einer spezifischen Regulation von Energie wird in Bauschs Sacre-Choreografie zwischen Momenten des Nachgebens mit plötzlicher Minderung der Energie und Momenten des Entgegenwirkens mit plötzlicher Steigerung von Energie variiert. 15 Mary M. Smyth.: Kinesthetic Communication in Dance, in: Dance Research Journal 16/2, 1984, S. 19-22, hier S. 21. 16 Ebd., S. 22.
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Muskuläre Gegenspannung (Steigerung der Kraft, kein Nachgeben der Körperschwere) und Trägheit (Verringerung der Kraft, Nachgeben der Körperschwere) wechseln dynamisch in den Bewegungsphrasen. Der Fall nach vorne als markantes Bewegungsprinzip wird uns jetzt viel deutlicher als in unseren ersten Sichtungen. Kurz bevor der Körperschwere ganz nachgegeben wird, folgt meist eine plötzliche Steigerung von Energie und ein Entgegenwirken durch die Expansion des Körpers. Wenige Male fällt die Tänzerin über die Knie nach vorne, bevor es tatsächlich zu einem Kontakt von Vorderfront und Boden kommt. Insgesamt kristallisiert sich für uns der sehr dynamische Wechsel im Energieaufwand als augenfälliges Bewegungsprinzip heraus. Der Einsatz von alltäglichem Bewegungsmaterial (Schritte in alle Richtungen) wird von uns ebenfalls als auffällig vermerkt. Über diese differenziertere Art der Inventarisierung des Bewegungsvokabulars holen wir die schon in der ersten Phase kurz skizzierten Aspekte des Koordinierens in unser Gedächtnis zurück und überprüfen sie. Unsere ersten, sehr zentral gesetzten Bebachtungen wie die sehr ferne und nahe Zu- und Wegbewegung der Arme auf den Körper und vom Körper weg (bis zur Berührung), die Kontraktionen des Oberkörpers, seine Verdrehungen in unterschiedlichen Graduationen und die Bewegungen auf Zwischenflächen erfahren eine andere Gewichtung. Uns wird klarer, dass das Konzept der Koordination (Artikulation und Räumlicher Verlauf) dem Konzept des Regulierens unterliegt. Auch das Mobilisieren unterziehen wir einer Revision. Der ganze Körper ist an der Bewegung beteiligt, wir nehmen auch in dieser zweiten Phase keine weiteren Spezifizierungen vor. Auffällig sind die Phasen des Innehaltens im Solo des Opertanzes, denen Phasen der plötzlichen motorischen Aktivität folgen. Nachdem wir die Videoversion des Opfertanzes sicher 20-30 Mal gesehen haben, fällt uns zum ersten Mal auf, dass zwar der gesamte Körper mobilisiert wird, doch die motorische Aktivität vor allem vom rechten Körpersektor ausgeht. Wir staunen, dass diese Auffälligkeit, die jetzt so deutlich vor unsere Augen tritt, bis jetzt von uns nicht wahrgenommen wurde. Wir verlieren uns in unserer Kommunikation auch in dieser zweiten Phase manchmal im Detail, arbeiten uns an minimalen Differenzierungen ab. Doch diese scheinbaren Nebenwege schärfen den Blick, lassen Nuancierungen erkennen, die auf wieder andere Potentiale verweisen. Gezielter stellen wir Fragen an die Choreografie, an IVB und an unsere körperliche Wahrnehmung. Welche Erkenntnisse haben wir aus dieser Bewegungsanalyse der Nijinsky- und Bausch-Version des Opfertanzes aus Sacre mittels IVB gewonnen? Das am Beginn genannte intuitive ‚irgendwie ganz anders‘ hat sich sicherlich präzisiert. Die Unterschiede – und unerwarteten Gemeinsamkeiten – können durch den genaueren Blick auf Bewegung und die Übertragung in Zeichen und Sprache anders kommuniziert werden. Klarer wurde auch, dass 187
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wir in unserer Perspektivierung IVB zur ‚analytischen‘ Dokumentation von Bewegung verwendet haben. Das heißt, dass wir uns auf die Inventarisierung und Bestimmung des Bewegungsvokabulars in den beiden Sacre-Versionen konzentriert haben. Unser Ergebnis ist demzufolge eine detaillierte Aufschlüsselung von motorischen Prinzipien. Die spezifische inventarisierende Annäherung an Bewegung und der Versuch der Übertragung unserer Bewegungsbeobachtungen und -wahrnehmungen in Sprache generierte eine eigene „Textsorte“ (Claudia Jeschke). Diese kritische Transkription und Transformation von Bewegung in Text ist per se noch keine Interpretation, kein Kommentar, sondern intendiert den Nachvollzug von bestimmten Bewegungsaspekten, die hier z.T. noch gleichwertig nebeneinander stehen. Im Prozess der Annäherung an IVB birgt dieses Verfahren insbesondere auch die Möglichkeit des Erlernens einer präzisen Dokumentationstechnik von motorischen Phänomenen. In unserer weiteren Auseinandersetzung mit Bewegungsanalyse wird sich höchstwahrscheinlich – wie in jeder Technik (des künstlerischen und/oder wissenschaftlichen Arbeitens) – eine Automatisierung einstellen. Je nach Fragestellung kann dann diese Art der genauen Auflistung von Bewegungsphänomenen und die Erstellung von spezifischen Bewegungstexten als eigene Textsorte als notwendig, oder eben auch als nicht so zentral gewertet werden. Der Weg der genauen systematischen Bewegungsbeobachtung, den man innerhalb des offenen, mobilen Systems IVB selbst gestaltet, führt nicht direkt zu einer Datenauswertung im klassischen Sinn, an deren Ende ein Ergebnis oder eine große, neue Erkenntnis stehen muss. Denn jede weitere Diskursivierung und Kontextualisierung, die immer spezifischen (Sprach-)Regeln gehorchen, sind mit einem Übertragungsprozess in ein anderes System verbunden. Diese Übersetzung, Übertragung ist gekennzeichnet durch Ein- und Ausblendungen. Hier sind wir wieder bei der (semiotischen) Leerstelle, die in diesem Fall unsere eigene z.T. nicht-diskursivierbare motorische Erfahrung ist. Im Versuch der Inventarisierung von Bewegung erscheint uns der Prozess, das ‚wie‘ wichtiger als das Produkt oder eine verallgemeinerte Erkenntnis. Das Faszinierende an IVB ist der Prozess der Bewegungsbeobachtung selbst, in dem das eigene Bewegungsgedächtnis aufgerufen wird. Im Moment der Aktion, dem Ausführen der Analyse scheint man dem Tanz und dem Tanzen nahe zu kommen, vielleicht ähnlich nahe wie im Moment der Aufführung. Es wird uns klar, dass unser Körper nicht nur unter dem traditionell mystifizierten Tanzverständnis ‚mehr‘ weiß, sondern auch im Spiegel neuester neurowissenschaftlicher Erkenntnisse über nachweisbares Bewegungswissen verfügt. Und dass sich dieses Wissen über Bewegung eben auch ‚anders‘ als über Sprache und Bilder, nämlich von motorischem Körper (Tänzerin) zu motorischem Körper (Wahrnehmenden) vermittelt.
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Diese Methode des Wissen-Schaffens über Bewegung zeugt nicht nur von spezifischem Fachinteresse, sondern vor allem von Respekt für den Tanz, von Hingabe an das Tanzen, die im Prozess einer theoretischen Auseinandersetzung das Aktionsfeld kinästhetischer Vorstellungen konturieren.
Motorische Identitäten: Die Tänze der Opfer (CJ) Kinästhetische Vorstellungen lassen sich als Hinweise auf das interpretative Potential von Bewegung werten. Die Suche nach diesem Potential findet idealiter im Kontext der Tanz- und Bewegungsgeschichte selbst statt – also etwa, wie hier, im Vergleich zweier Tänze an der gleichen Stelle des vertanzten musikalischen Werkes. Der Blick ist bei dieser Suche nicht länger auf die Inventarisierung, d.h. analytische Dokumentation der Aktionen, also die Bestimmung des Bewegungsvokabulars gerichtet; ebenso sind choreografische Organisation des Materials und Musikbezug unter dieser Perspektive sekundär. Der bewegliche Blick sondiert vielmehr das je spezifische Zusammenspiel der Auffälligkeiten und Prägnanzen im Bewegungsvokabular. So lassen sich die motorischen Identitäten entdecken – Identitäten, die sich als Denkfiguren jenseits der traditionell meist bewegungsfernen historiografischen Ordnungsraster verstehen, gleichzeitig jedoch einzudenken sind in die gesamtkulturellen Entwicklungen von Tanzgeschichten. Für beide Soli charakteristisch sind die Phasen des Innehaltens, des regungslosen Stehens, die von jäh einsetzenden Aktionen abgelöst werden. Ausgangspunkt für beide ist demnach der aufrechte Stand, der durch Fälle zum Boden kontrastiert und im Wieder-Aufrichten in die Vertikale als ein wesentliches Merkmal der motorischen Identität erscheint. Auf der Ebene der Fortbewegung wie des Raumbezugs arbeiten Bausch wie Nijinsky mit ‚einfachem‘, alltäglichem Bewegungsmaterial wie Schritten (in alle Richtungen, besonders auch rückwärts), Drehungen, Wendungen, Sprüngen, häufig in Kombination miteinander. Weit greifende Lokomotionen kennen sie beide nicht, auch wenn sich die topografischen Programme unterscheiden: Bausch lässt die Bewegungen in gedachter oder tatsächlicher Interaktion mit der Gruppe ablaufen, während die „Erwählte“ in Nijinskys Version innerhalb eines isoliert erscheinenden Kreises agiert. Zentral ist weiter die Berührung des eigenen Körpers an unterschiedlichen Stellen als Selbstversicherung vor der Auslöschung des Körpers in der Opferung. Diese Berührungen decken das gesamte modulative Spektrum von träge bis gegenspannend ab, lassen sich also als sanft gehalten bis gewaltsam schlagend wahrnehmen. Aktionen des Schwungs, die der Oberkörper gemeinsam mit dem Kopf und den Armen ausführt, verdeutlichen in beiden tänzerischen Lösungen das Atmen. In Bauschs Sacre bestimmt das Konzept des Regulierens jegliche Bewegung. Mobilisieren, Koordination und Belasten sind ihm untergeordnet, der 189
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aufrechte Stand wirkt so in jeder Aktion gefährdet. Die Auseinandersetzung mit Kraft und Zeit ist das elementare Merkmal dieses Tanzes; sie bewegt sich sowohl stets zwischen extremen Polen und betrifft sowohl Energieaufwand als auch Energieverteilung als sie auch geprägt ist von kontinuierlicher Steigerung bis zur physischen Erschöpfung, der Paralysierung der Muskeln, die weitere Bewegung verunmöglicht. Häufig verbinden sich die motorischen Prinzipien der (schwindenden, sich vermindernden) Stabilität und der (staccato-artigen) Phrasierung, wenn die Tänzerin der Erdanziehung nachgibt und zudem die Energie sich plötzlich verändert. Ersteres zeigt sich in der Bewegung des gesamten Körpers – die Anfangsbewegung des Solos ist entsprechend ein Fall zu Boden; letzteres wird besonders deutlich in den abrupten Kontraktionen des Oberkörpers sowie in den Aktivitäten der Arme und Hände, die vor allem die vordere Fläche des Oberkörpers, manchmal auch das Gesicht berühren, mit großer Kraft schlagen oder sich wenigstens in deren Nähe bewegen. Die Muskeln sind insgesamt sehr elastisch, d.h. das Zusammenwirken zwischen physischer Kraft und Schwerkraft, das durch die den Muskeln eigene Elastizität gestaltet wird, ist so varianten- wie kontrastreich. Diese Bewegungsphrase wird gefolgt von einer Sequenz, die den größtmöglichen Kontrast in der Verwendung von Stabilität und Phrasierung darstellt. Kurz bevor der Erdanziehung durch Fallen völlig nachgegeben wird und die Energie verloren geht, entsteht ein plötzlicher Energieschub. In dieser Phase wird der Körper nicht kontrahiert, sondern expandiert; die Arme folgen dieser Aktion und bewegen sich fern vom Körper. Die Elastizität der Muskeln wird ausgereizt. Phrasen 1 und 2 wechseln sich in kontinuierlich beschleunigter Frequenz ab. Das Konzept des Mobilisierens ist wenig ausdifferenziert: Gesamtkörperliche Aktionen bedingen die (resultativen) Aktionen des Oberkörpers und der Arme, oder – genauso häufig – die heftigen Bewegungen der oberen Körperhälfte resultieren in Schritten und/oder Drehungen und/oder Fällen. Diese Aktionen sind ‚formlos‘, d.h. der Bewegungsapparat reagiert auf die eben beschriebenen Aktivitäten von Energieaufwand und Energieverteilung. (Die Betonung der rechten Körperseite erscheint im Zusammenhang des hier offensichtlichen Bewegungsrepertoires eher intuitiv, affektiv als bewusst gewählt.) Ebenso formlos ist das Konzept des Koordinierens. Sowohl in der Artikulation der Gelenke als auch im räumlichen Verlauf ist das Bewegungsvokabular unspezifisch und erscheint so eher gliedmaßen-betont. Auch das Belasten unterliegt den physiologischen wie physischen Impulsen, die sich durch Muskelelastizität und Erdanziehung ergeben. Eingefügt in den impulshaften Duktus der Choreografie sind Reminiszenzen Bausch-typischer tänzerischer Formung. Ein Developpé des rechten Beines gehört dazu wie die weiten Oberkörper- und Armführungen oder die kurze Eindrehung des linken belasteten Beines. 190
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Nijinskys Sacre-Bewegungsvokabular ist durch das Konzept des Mobilisierens geprägt. Der stabil erscheinende Körper wird in einen oberen und einen unteren Körpersektor geteilt, beide Sektoren bewegen sich vor allem simultan. Die Mobilisierung des Unterkörpers erfolgt durch (mit angezogenen Beinen ausgeführte) Sprünge aus dem Stand, Drehsprünge und Laufschritte, verwendet demnach vor allem Aktionen aus der Aktivität des Belastens. Die erste Aktion des Solos ist ein Sprung. Doch auch das Fallen ist ein zentrales Bewegungsmotiv. Die artikulative Ausdifferenzierung der Gliedmaßen bzw. des Rumpfes entspricht dem definitiven ‚System‘ der räumlichen Bewegungsverläufe. Nijinsky orientiert sich (jedenfalls in der Interpretation durch Hodson und Archer) an der Vertikale des Körpers als räumliche Bezugsachse und an einem gleich bleibenden Verhältnis von zentralen und peripheren Körperteilen. Die Aktivität des Regulierens ist von gleichmäßiger oder steigernder Kraft bestimmt, die Modulationsfähigkeit der Muskelelastizität wird anders als bei Bausch nicht als Wirkungs- und Erlebensprinzip thematisiert. Ebenso bleibt das Tempo der Bewegungen gleich; Arm- und Beingesten können jedoch mit plötzlich mehr Energie ausgeführt werden, wodurch in der Nijinsky-Version der Effekt von Intensivierung entsteht. Während Bausch Regulieren als kontinuierliche Steigerung durch Repetition konzipiert, zeigt der Tanz des Opfers in Nijinskys Version die Wiederholung eines gleichmäßig anstrengenden, nicht gesteigerten Musters von Energieaufwand und Energieverteilung. Der Eindruck der Opferung entsteht weniger durch Synthetisierung der möglichen Muskelaktivitäten in ihrem Versuch, der Erdanziehung nicht nachzugeben, als durch Addition verschiedener choreografischer Phasen, deren Gestaltung sich im Verlauf des Solos nicht ändert. Beide Soli sind bestimmt von höchstem Energieaufwand und Wiederholung, jedoch verdeutlicht der Blick auf die motorischen Identitäten folgenden wesentlichen Unterschied: In Bauschs Tanz inszenieren diese Mittel den Körper des ‚Opfers‘ als einen ‚Erfahrungskörper‘, der nur noch an wenigen Stellen kodifiziertes Bewegungsmaterial aufzurufen scheint oder nach Auswegen, neuen Bewegungen im Widerstand gegen die Opferung sucht. Er wirkt wie auf sich selbst zurückgeworfen; selbst wenn er zu Boden fällt, bezieht er sich immer auf seine (zunehmend schwindenden) physischen Reserven.17 Nijinskys ‚Erwählte‘ bietet trotz der verwendeten Kraft, Dynamik 17 Der Bericht der Tänzerin Ruth Amarante unterstützt diese Lesart eines keineswegs improvisierten, vielmehr choreografiert progressiven Zusammenbruchs: „There is one repetition of beating on the ground, of beating myself, several times. But the whole solo is a progression. In that moment it is more startling – ‚What is happening?‘ – a mortal fear of death. It is as if no more blood were left in your brain.“ […] „Her [Bausch’s] interpretation is strange. The sacrificed could even feel honoured and have some calmness. But in Pina’s version, she wanted to show this instinctive fear of death.“ Ciane Fernandes: Pina Bausch
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NICOLE HAITZINGER/CLAUDIA JESCHKE/CHRISTIANE KARL
und Repetition ihren Körper dar als einen repräsentativen, theatralen Körper, dessen Bewegungen auch bei extremem Energieaufwand nicht nur strukturiert, sondern geformt erscheinen. Hingabe wie Widerstand sind nicht wie bei Bausch in den Körper der Tänzerin verlagert, sondern befinden sich außerhalb, werden durch den Boden, die Erde dargestellt, von der sich die Tänzerin durch kraftvolle Sprünge entfernt oder gegen die sie sich wehrt, wenn sie nach einem Fall wiederholt, gestalteter und deshalb demonstrativer als Bauschs Opfer auf ihn einschlägt. Der Tanz der „Erwählten“ erscheint hier wie von der (ritualisierten) Choreografie der Opferung angetrieben; seine motorische Identität impliziert nicht wie in Bauschs Version den Eindruck individuellen physischen Engagements. Sacre von Bausch ist Mitte der 1970er Jahre entstanden; auch die Arbeit an der so genannten Rekonstruktion der Nijinsky-Choreografie wurde in diesem Zeitraum intensiviert. Angesichts dieser ‚Zeitgenossenschaft‘ und der Ähnlichkeiten in den motorischen Aktivitäten ist zu fragen, in welchem Maße der ‚Zeitgeist‘ der letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts Findung und Ausführungsidee der Bewegungen prägt. Das Verhältnis von Musik und Tanz betreffend wäre zu fragen, in welchem Maße die Ähnlichkeiten der motorischen Identitäten den Eigenheiten von Strawinskys Musik geschuldet sind: Ist die Kinästhesie des Hörens eine rein neurophysiologische ‚Angelegenheit‘, oder hat sie auch historische Anteile, die vom kulturellen Wandel der Hörgewohnheiten beeinflußt werden? Mit Blick auf die Unterschiede in den motorischen Identitäten wäre zu fragen, in welchem Maße die jeweiligen tanztechnischen Schulungen der ausführenden Tänzerinnen die performative Qualität der Soli färben oder gar bestimmen – eine Frage, die Probleme der Tanz-Dokumentation generell thematisiert, indem sie die Aufführung zum Dokument deklariert. Und wieder mit Blick auf die Gemeinsamkeiten ist mit traditionell tanzhistoriografischem Erkenntnisinteresse (das sich durch die bislang gestellten Fragen an die ‚historische Verläßlichkeit‘ von ‚re-konstruierten‘ Aufführungen problematisiert) zu fragen, in welchem Maße Nijinsky auf der Bewegungsebene tatsächlich eine zukunftsweisende, d.h. energetisch äußerst variable Ästhetik provoziert hat, die physiologische, also physische wie sinnliche Erfahrungen der Ausführenden wie Zuschauenden ins Zentrum der Tanzgestaltung rückt. Der Blick auf das interpretative Potential von Bewegung eröffnet der praxisnahen Tanzwissenschaft wenn nicht neue Untersuchungsfelder, so doch bewegungsorientierte Variablen methodischer Selbstreflektion.
and the Wuppertal Dance Theater. The Aesthetics of Repetition and Transformation, New York u.a.: Lang 2001, Appendix A, S. 111-117, hier S. 117.
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TÄNZERISCHE AKTIONEN, BEWEGUNGSTEXTE UND METATEXTE
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Machine Me taphors in Pina Ba us c h’s The Rite of Spring: A Choreomusical Approac h
In the context of a symposium on the methodologies of dance research focussing on Pina Bausch’s The Rite of Spring, it is useful to debate specifically dance-related categories or features as being possible focuses for analysis. One such focus might be choreomusical relations, or choreomusicology, which is my specialism. But there is also the issue that not all analytical procedures suit all dances. Still, this apart, dance categories or features can operate like different discourses and systems that feed the ‘larger picture’of a work. I must explain what I mean by ‘larger picture‘. This is not something unified with organic relations between parts, or a water-tight ‘whole‘; it is quite a messy concept, numerous discourses operating and setting up relations and conflicts. We might well ask how we can possibly choose to analyse one feature of a work and not look at the ‘larger picture.’ We might rightly suggest that if we choose just one of these discourses, the analysis of a supposed dance could get out of hand: we do not see the wood for the trees, and we could end up with a reading that makes little sense of the ‘whole‘. In my own practice, I try, prejudiced and biased as I am, to see the big, open picture first, then to focus on music and dance, returning to the big picture from time to time, allowing a dialectical discussion between it and my focus. I am aware that the notional ‘whole’ changes. It has a historical dimension. It changes between different readers and audiences across time who operate with different theoretical frameworks and cultural backgrounds. But it also changes with me as I analyse a work, as I watch a dance again and again, finding in it new information, allowing the musical aspects to become more 195
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prominent through analysis, breaking it down in time, even making it static, in ways that go against all notions of live performance timing and theatrical reception. I take into consideration a history of reception in other words, by others and by myself. I also use a tripartite model, author-work-reader, allowing history to emerge as it affects what the performed work is, changing as performance practices change – indeed, it could be called a four part model when we include the dancer-performer. Briefly, to ground this stance, my contention is that we conceive of a dance as an object outside of ourselves, that it is not merely a figment of my imagination. And yet, as an individual spectator, I cannot help but complete the work in an individual fashion and I must account for that perspective in some way. I also work with a particular notion of authorial intention, not intention in the simplistic sense of what the author had in mind or said, which Wimsatt and Beardsley famously critiqued in “The Intentional Fallacy”1 but, working from Arthur Danto’s theory of art embodying ideas, in the sense that contextual information is part of the work of art, that we can presume for instance that an author might intend something, like irony, because of what we already know about the context of her work.2 Now I move to a discussion of the music, which is a relatively unexplored field by dance scholars, although there are signs that this situation is changing rapidly, not least in Germany. Music, sometimes operating quietly and sometimes subversively, adds to our understanding of the meaning of a dance work, even if in the form of just one more strand or discourse. But music and dance are also interactive, interdependent components or voices, each working upon the other, occasionally mutually highlighting each other, so that the whole experience becomes more than the sum of its parts, and indeed a new shape can be created through their juxtaposition. This model has been informed by my readings of film theory, for instance, Claudia Gorbman and her concept of ‘mutual implication‘, music and image working together in a ‘combinatoire of expression‘, by new musicology too, Nicholas Cook in Analysing Musical Multimedia, proposing different categories for interaction in theatre, commercials, film and music video, and Daniel Albright in Untwisting the Serpent, an interdisciplinary discussion of consonance and dissonance in modernist examples ranging across many art forms, particularly music and literature.3 1 2 3
See W.K. Wimsatt/Monroe Beardsley: The Intentional Fallacy, in: Joseph Margolis (ed.): Philosophy Looks at the Arts: Contemporary Readings in Aesthetics, Philadelphia: Temple University Press 1978, pp. 293-306. See Arthur C. Danto: The Transfiguration of the Commonplace, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1981. See Claudia Gorbman: Narrative Film Music, in: Yale French Studies, 60 (1980), pp. 189-90; Nicholas Cook: Analysing Musical Multimedia. Oxford: Oxford University Press 1998; Daniel Albright: Untwisting the Serpent:
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I have also developed a method for analysing structural interrelationships between music and dance, stemming from doctoral work on the American modern dance pioneer Doris Humphrey.4 The augmentation of dance rhythmic concepts was crucial, and it is here that I was especially indebted to music theory. The method has continued to develop, but developing and applying it has always been a two-way process. In other words, while use of the method can be revealing about a work, application of it can also lead to its own refinement. Seeing and hearing have generated methodological concepts, which in turn have generated seeing and hearing more distinctively and differently. Although there are other areas for comparison, I still consider rhythm a logical basis for examining structural relationships between music and dance, I mean, rhythm in the broadest sense from the most detailed patterning to the large structuring in time of a whole dance. This makes especial sense for Stravinsky dances, the composer generally agreed to have brought the rhythmic component to the front of our consciousness after a period of relative dormancy. Working across music and dance thus has made it possible to talk about the distinctive choreomusical styles of different choreographers. Looking at just one work here, I would not attempt to do that for Bausch, suffice to convey my understanding that Bausch analysed the Stravinsky score, in her own way, with or without the help of a musician, that she envisioned her developing dance whilst doing this and, with her finished dance, created a new choreomusical shape or ‘combinatoire of expression‘. Looking now at the Rite, the first problem we face is how to deal with all that musical literature on the score. More than any other musical score perhaps, there is a huge body of literature, any number of analyses by music theorists and they do not stop! How can I cope with this? What do I use? I would not even understand some of it without another musical analytical education! I had to make choices, to examine the most recent musical literature, to check the rhythmic analyses, to seek advice from Stravinsky specialists as to what to prioritise. My biggest shock was confrontation with the rhythmic analysis of Pierre Boulez, a major marker in Rite scholarship (1953, revised 1966).5 Here was the most detailed, thorough presentation of arithmetical relationships, the measuring of the number of beats within discrete rhythmic cells, exposure of retrogrades, symmetries, asymmetries and
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Modernism in Music, Literature, and Other Arts, Chicago and London: University of Chicago Press 2000. See Stephanie Jordan: Music as Structural Basis in the Choreography of Doris Humphrey, unpublished PhD dissertation, University of London Goldsmiths College, 1986. Pierre Boulez: Stravinsky Remains, [analysis of The Rite of Spring, 1953, revised 1966] in: Stocktakings from an Apprenticeship, trans. Stephen Walsh, Oxford: Clarendon Press 1991, pp. 55-110.
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symmetries of asymmetry. It was a reminder of the spirit of musical analysis from another era, which showed balance and variety, but not the progress of a work. In terms of my own work, I cannot hear or feel the music in the way that Boulez analyses and can find no evidence that any Rite choreographer has done so either. I do not find that his formal analysis resonates with any notion of content. It is interesting, though, that Bausch chose Boulez’ classic 1969 recording with the Cleveland Orchestra when she made the work, for the premiere and for the film that we now see. On the other hand, the theorist Pieter van den Toorn, whose book on Rite embraces chapters on pitch relationships and the esoteric matters of set theory and octatonicism – none of which is directly useful to my work – also includes writing on rhythm which is useful and does make sense to me as a dance analyst.6 It certainly has implications for an analysis of Bausch. Here, although van den Toorn hardly deals with meaning, his writing suggests the energy and continuity of music through time, and he addresses how we actually experience rhythm through time, processes of cognitive psychology, learning and education in listening to music, although he does not actually admit as much. He understands that we hold patterns, regularities within us so that disruptions feel like disruptions, and that with Stravinsky we expect a disruption to happen but it is always a shock when it does. I contend that we feel these metrical irregularities in choreography, certainly in Bausch’s Rite, as much as in the music, and they are an important point of contact between the two media. And this kind of analysis links readily to my own discussion of meaning, particularly about the anxieties raised in every Rite that I know. Likewise, I especially appreciate the energy within the analysis of Peter Hill, a pianist who knows the music from embodiment of the piano reduction.7 A choreomusical approach encourages the imagination to roam in a number of directions. There is a great deal, for instance, to learn from the history of the Rite score and dance, which is another crucial aspect of choreomusical discussion – no other piece of music has such a mythology attached to it – and the position of Bausch’s Rite within the history of Rites and especially German Rites produced in Germany.8 6 7 8
Pieter C. Van den Toorn: Stravinsky and ‘The Rite of Spring‘: The Beginnings of a Musical Language, Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1987. See Peter Hill: Stravinsky: ‘The Rite of Spring‘, Cambridge: Cambridge University Press 2000. See Susan Manning: German Rites: A History of Le Sacre du printemps on the German Stage, in: Dance Chronicle, 14/2 (1991), pp. 129-58; German Rites Revisited: An Addendum to a History of Le Sacre du printemps on the German Stage”, in: Dance Chronicle, 16/1 (1993), pp. 115-20 and the ‘Stravinsky the Global Dancer‘ database chronology, www.roehampton.ac.uk/stravinsky.
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Another factor that should be considered is the sheer scale of the orchestral forces and the problem for choreographers to match up to them or at least negotiate some power relationship with them. If some felt the score was too colossal to bear choreography, however large the cast, other Rite choreographers, especially from the late 20th century, have made a virtue of that unmatchable power. The music they perceived as a force to be reckoned with, and outside the world of the dance, not just complicit with the tribe as opposed to the victim (as in the original Rite), but ‘outside’ all of them. This is clearly signalled from the start by Bausch as her dancers listen to and look out towards something clearly beyond their immediate space. Then, they are gradually beaten down by sound, exhausted by it. Only by the end of Part 2, “The Sacrifice”, are the mob and music complicit, against the “Chosen One”. But the music is not just physically outside; it is also outside in representing the power and burden of the past, so many other Rites, including the notorious original. In my choreomusical analysis, I will consider rhythmic content, the structuring of material through time, in patterns and phrases. Highlighted by contrast are 1. the relative freedom from pulse of the Introduction sections to each of the two Parts, for the women, listening and responding, but with breath and space sometimes to initiate independent dance impulses as echoes or anticipations of sound gestures; 2. the opposite, the strictly pulse-based activity which is what the Rite drives forward as its principal statement. The latter is of two kinds again, one that foregrounds extreme irregularity, with the shock of musical accent embodied in a physical shriek, the body in reflex mode, gesture or jump as automatic and immediate response, like being shot from a gun. The other works with regularity, irregularity referring back to a basis in regularity, and I want to focus on this aspect, as it indicates the controlling capacity of the music operating as it were outside this dance ‘community.’ The first example comes from the section called ‘Augurs of Spring’ in the score. The music is written in 2/4 which is set up as an ostinato, in other words a repeating motif, in the introductory bars, when the women wait to begin dancing. Then we feel a downbeat ‘one’ in the music and in the dance. There are occasional passages where this sense of musical downbeat is less clear and we are unsettled. For instance, there are the famous irregular accents over the big chords, but at the start we still feel the security of the past, then we become less certain, and then the 2/4 is clarified for us again a few bars later. Soon, the disruption is more unsettling still as different instrumental
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voices branch out like exclamations, but after a while, the 2/4 ostinato again returns and stabilises us once more. I will analyse ‘Augurs’ in two Sections. There is a clear break at the end of Section 1 (at cue mark [22] in the score). Section 2 involves more of the orchestra, layers of instruments and rhythms piling up, repetitions, resulting in a climax, energy accumulating through pattern repetition. In Bausch’s Rite, only the women dance Section 1; the men join them for Section 2. In Section 1, from time to time, we hear a solo instrument and see one of the women break out. But we will focus here on the group. We feel the same downbeat 1 in the dance as in the music at the start, but this is not necessarily the only dance accent – downbeat accent and dynamic accent or accent of force are two different things. The dance dynamic accents are independent from those in the music. For instance, in the first unit, which becomes a motif (4 dance counts long, with each count equal to one musical beat, performed eight times in all)9 the dance dynamic accent occurs on count 4. The motif is constructed as follows: • A step to the right, drawing in the left leg, the upper body and head dropping over the knees, hands crossed over the thighs, count 1; • The left leg opens to second position plié and the dancer looks upwards, hands reaching down in opposition, count 2; • The dancer bobs in the same position, count 3; • Hands are clasped above the head in preparation for the main dynamic accent on count 4, a striking action down the front of the body, pulling the torso and head down with it, count 4. Bausch also groups the musical bars into pairs so that we count the beats as 1 2 3 4 as opposed to 1 2 1 2. There are also several dance repeats, plenty of time to register the movement, before an abrupt gear shift. This procedure of immobility and abrupt discontinuity, block construction, with ostinatos a frequent feature, is a Stravinsky feature, and Bausch uses it too, but on her own terms. When the music first begins to sound metrically insecure, the pattern in the dance is already established, and the security continues within the dance. The second unit is closely related to the first, and again in 4 counts, but it travels down the diagonal and is shown nine times. It also establishes itself within the clear musical metre, even though, once more, the same big dance accent (the striking action) is on count 4. Again, the choreography preserves the continuity when the music becomes rhythmically less certain, although here, the camera moving off the group briefly removes some of this conti9
See DVD in Pina Bausch: Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer), Book with DVD, Paris: L'Arche Éditeur 2012, TC 4:05-4:36.
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nuity. Some of the stage choreography is missing – we are analysing from one source, which is a screen dance, and we can speculate through it to the live version if we wish. Soon, there is an 8-count unit of movement, which involves the same dropping of the body and head as in the previous material whilst now turning upstage and back twice (the whole unit performed five times in total). The upward inflection of the step on count 1 becomes a fresh kind of accent, but this is a longer, more complex unit of material and we may well lose a secure sense of metre by the end of this passage, especially as the music also goes off track. How we sense regular periodicity may of course depend on how well we know the dance, whether we have kept our attention on the group or let it go to the breakout solos. As part of my own methodology, I deliberately took a break from viewing to get back to a position of naïvete, of not ‘anticipating’ what was going to happen. Finally the opening motif returns, at which point it is hard to perceive that the main dance accents have in fact moved to count 3 of the musical bar. Thus, Bausch creates her own rhythmic layer and unsettles us by changing her own accent patterns. Interacting with the music, she presents her own version of security and insecurity, which is quite different from the effect of the music alone. But oddly, by doing this, she can make us hear the music differently. So, to recapitulate at this point, as much as the music is perceived as an ‘outside’, powerful force, Bausch can also interact with it and change our perceptions of it: some aspects indeed, the pulse-based aspects of it, through mutual highlighting, become especially powerful. Then, as much as we experience real body sweat, toil, dishevelled hair, dirt, we might consider that Bausch’s dancing group is also an anti-body, antiSubject construction: mass as army or machine, especially the latter, the women bunched close together in phalanx formation, unison movement, unison facings, largely on the spot, or hardly travelling at all. Stravinsky himself is known to have been fascinated by machines, whether embodied in the puppet Petrushka or in the pianola, or in his strict motor rhythms. And the machine provided very common imagery in early 20th century culture, considered either dangerous to the notion of subjectivity, about oppression, as indeed was Stravinsky’s Rite, by, for instance, Adorno, or Utopian, symbol of freedom, or both.10 Bausch does not simply articulate the machine element that is already in the music, indeed more than any other Rite choreographer I know she exaggerates the turbine and pistons in the score. Perhaps we have a heightened awareness of Stravinsky’s motor pulse, as all her motifs show that 10 See Theodor W. Adorno: Philosophy of Modern Music [1949], trans. Anne G. Mitchell and Wesley V. Bloomster, London: Sheed & Ward 1973.
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pulse so emphatically. She also emphasises plain repetition more starkly than Stravinsky – one single individual idea goes on for longer – and there is hardly much dance texture to complicate the picture at this stage. Is it significant that the recording she chose was by the arch modernist precision conductor Pierre Boulez? But we must not overlook the moments of sudden lightness at this stage in the dance movement: that lean up and back on count 1 in the 8 count phrase. The downward drive is not all-consuming yet. There is also a sense of freedom. This is important at this point in the dance, an effect achieved partly by rhythmic means, freedom from musical accentuations. Later in ‘Augurs’, from 2 bars before [27], we see one woman start up the machine again, an image that comes across especially strongly in that she recapitulates the opening, by now very familiar motif. Now, there are rhythmic layers in the dance, provided by female group, male group, and solo woman. We have two and then briefly three layers of arm accents all occurring at different times. Bausch is borrowing the principle of musical layers here, but again taking the principle on her own terms, not visualising or cartoon ‘mickey-mousing’ any particular layer in the music. The succession of arms shooting upwards counterpoints the weight of the accents that follow. Then, five bars after [28], a broad theme suddenly enters (it returns in ‘Spring Rounds’), and the men and women are all in unison briefly, a wonderful moment, with the solo woman out front. The group behind match her for just 4 counts and then slide away again into their own material. Later, at [31], there is another layered effect, full orchestra repetitions, the climax, the men edging down a long diagonal with a repeating 8 count phrase (performed nine times), and the women in 4-count units around the periphery, but here again, the cameraman makes a choice and cuts out the full rhythmic texture, some of the machine effect. The camera focuses on the free individual outbursts. We have to look behind the screening. Soon, in Rite, the music takes greater command in channelling the energy on stage. We will now look at the section where the ‘Ritual of the Rival Tribes’ leads without a break into the ‘Procession of the Sage.’ We would count the music in 4s, but the women’s arm phrase, characterised by an elbow driving sharply into the body, and a swing driving downwards takes over all by itself, in 3s (grouped as 3 times 3 counts), again and again, far more repetitions than in ‘Augurs’, a real dance ostinato. A drum beat thud marking ¾ gives the movement an edge as if that elbow is a punch, and the women are pinned down by the drum, trapped and brutalised like a herd of animals.They start this motif next to a trombone melody, later much of the orchestra drops out and the women seem particularly exposed, and then the orchestral accumulation begins.
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Now, to the angry trumpets, the men dance to a very square ostinato, incisive, unlike the women, with no sense of being beaten down. Here are layers again in both dance and music, the women moving in three 3s still, the men in 8s (six times through), here matching, visualising specific rhythmic layers in the music, which is now, like the choreography, totally regular in its cyclical repetitions. The dancers are determined by sound pattern. Again, there is climax through repetition which can only be halted by being literally cut off. The women’s pulse here is literally dominated, crushed by the rest of the music (including the men’s music) during this brutal climax – we can see it but can hardly hear it – a metaphor in musical terms for the narrative content of the work. Recall the concept of interaction, the possibility of mutual highlighting between media. Bausch makes us hear better the least emphatic layer in the score: we hear that it is overpowered. So how does the by now controlling capacity of the music progress during the second Part of Rite, the Sacrifice? I would suggest that the machine component becomes increasingly streamlined, with fewer and fewer crossaccents and cross-rhythms. The dance rhythm focuses on the plainest, most pared-down, pulse formations. The dance texture becomes simply full ensemble (men and women in unison), or “Chosen One.” Sections in Stravinsky’s ‘Ritual Action of the Ancestors’ can be heard as plain four square, at least Bausch lets us hear them this way. She sets to the music either stillness or rhythmless walking or, at the two climaxes, the mass machine in action again. If we turn to the first climax, we find an accumulation of dance material from the past, nearly all from ‘Augurs’, but now, strikingly, all the material is timed so that the big accents are consonant with the music, on count 1: nothing is wayward any more. We can feel the difference in effect, the choreography now completely absorbed into musical structure. By contrast, in the ‘Danse Sacrale’, a major musical feature is that any notion of periodicity or regularity is constantly alluded to and lost. Bausch highlights the slipperiness in the score with a veritable breakdown in dance terms. How does the Chosen One relate to what she hears? She clutches at what she can – she embodies the search for regularity when the machine in the music is at its hardest to find. This draws me to the point about legacy, watching each Rite through notionally every other Rite. Each dance makes us hear the score in a new way, creates a different kind of shape and dialogue, thus, perhaps by surprising us in terms of what we hear, highlighting the distinctions between different versions. In respect of that point, I can now trouble that notion of Bausch’s stage community being overpowered by sound, and the concomitant notion of sound as ‘outside’ force, and take a look at history once more. Many Rites, for 203
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instance, the Béjart (1959), which was very familiar on German stages in the 1960s, relish spectacle: indeed they feature a good deal of posing and shapemaking. Bausch’s version broke sharply from this tradition and showed us the body in a state of collapse. But during the last twenty-five years or so, a number of choreographers, perhaps the most interesting, have favoured smallscale productions, one or two, or just a few dancers on stage, which makes the overpowering capacity of the score even clearer. I am thinking of the Rites of Raimund Hoghe, Min Tanaka, Marie Chouinard, and in its very metaphorical manner, of Jérôme Bel. Bausch’s version now looks big. Mass unison becomes spectacular, even when expressing pain, and that real body, real work, real exhaustion is now a stylistic convention. I am not interested in the concept of the Bausch being old-fashioned, but now that I consider her Rite in the context of at least 260 other Rites, I cannot help but see it in more ‘spectacular’ terms than I might have done in the 1970s, especially too as the number of performers seems to have increased over the years, from 24 to 32, possibly to meet the demands of large stages like the Paris Opera. Sheer numbers say a lot. Bausch’s Rite is still miraculous, but perhaps after all an opera house ballet, still part of the old tradition as much as it looks to the future. I will end with that idea. Further research on Bausch’s Rite beckons: conducting interviews in Wuppertal; undertaking ethnographic investigation, to ask about counting, process (as it might inform what we now see – dance is very modest in this area of information compared to music); scrutinising the piano rehearsal score; watching other videos, different performances, getting different perspectives on the choreography. Yet, this paper hopefully demonstrates that the choreomusical discourse is one to be reckoned with alongside the others that this conference has proposed, including detailed rhythmic analysis. For instance, the historical and ‘machine’ dimensions that are revealed by this approach can operate usefully alongside the gender discourse that is far more often stressed when Bausch’s Rite is discussed.
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A CHOREOMUSICAL APPROACH
Cook, Nicholas: Analysing Musical Multimedia, Oxford: Oxford University Press 1998. Danto, Arthur C.: The Transfiguration of the Commonplace, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1981. Gorbman, Claudia: Narrative Film Music, in: Yale French Studies, 60 (1980), pp. 189-90. Hill, Peter: Stravinsky: ‘The Rite of Spring’, Cambridge: Cambridge University Press 2000. Jordan, Stephanie: Music as Structural Basis in the Choreography of Doris Humphrey, unpublished PhD dissertation, University of London Goldsmiths College 1986. Van den Toorn, Pieter C.: Stravinsky and ‘The Rite of Spring’: The Beginnings of a Musical Language, Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1987. Wimsatt, W.K./Beardsley, Monroe: The Intentional Fallacy, in: Margolis, Joseph (ed.): Philosophy Looks at the Arts: Contemporary Readings in Aesthetics, Philadelphia: Temple University Press 1978, pp. 293-306.
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Intermezzo
BINA ELISABETH MOHN
Kamera-Ethnografie : Vom Blicke ntw urf z ur De nkbew egung
Eine Bühne – kein Publikum. Ein Tanzstück wird aufgeführt. Studio-Produktion. Der Kameramann dreht das Bühnenstück in einer Einstellung. Stellvertretend für spätere Betrachter werden Ausschnitte der Szenerie in den Blick und aus dem Blick gerückt, in dem die Kamera zoomt und schwenkt – und dies immer genau im richtigen Moment! Hier ist eine ‚wissende Kamera‘ am Werk. Wie die Schritte der Tänzerinnen und Tänzer ist auch die Kameraführung in die Choreografie eingespannt und verfährt konsequent nach Drehbuch. Beim Filmen weiß sie bereits genau, was sie wie aufnimmt. Aus einem durchkomponierten Tanzstück wird eine wohl geplante filmische Aufführungsdokumentation, die uns im Ergebnis nahe legt, den Film als ‚die Aufführung‘ zu thematisieren. Abgesehen von der Übertragung in ein anderes Medium wird keinerlei thematische Differenz in Anspruch genommen. Le Sacre du Printemps: Ein Tanzstück auf CD – voilà. Die Namen von Film-Crew und Regisseur tauchen im Abspann unter. Im Rahmen eines methodischen Werkzeugkastens der Tanz- und Bewegungsforschung Kamera-Ethnografie1 zu präsentieren und sich dabei auf einen Film zu beziehen, ist eine Herausforderung, denn Kamera-Ethnografie ist kein weiterer Ansatz der Text- oder Filmanalyse. Sie nutzt dagegen die 1
Kamera-Ethnografie nenne ich das in diesem Text vorgestellte Verfahren, bei dem Kameraführung und Schnitt in die ethnografische Formulierungsarbeit konstruktiv einbezogen werden.
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eigene Bilderproduktion auf dem Weg zu neuen Blickentwürfen und Sinn aufstöbernden Beschreibungen. Ziel kamera-ethnografischen Forschens ist ein ‚Dichtes Zeigen‘2 sozialer Phänomene, in ihrer Varianz und in ihren möglichen Zusammenhängen. Ethnografische Beschreibungsentwürfe, seien sie nun verbal oder nonverbal, verfahren bereits im Ansatz diametral anders, als die Produktion einer filmischen Aufführungsdokumentation: Ethnografie zeichnet sich geradezu dadurch aus, nicht nach Drehbuch zu verfahren und lange Zeit das Stück, was gespielt wird, überhaupt noch nicht zu kennen. Indem ethnografisches Forschen als ein Prozess angelegt wird, der sich zwischen noch nicht Gewusstem und neuen Wissensaspekten aufspannt, entsteht ein Raum, der zu durchqueren ist – ein Feld der Bewegung. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, auch den Gebrauch der Kamera einmal nicht vorrangig vom Fixieren, sondern von der Suchbewegung aus zu denken. Mehrere Entscheidungen im Gebrauch ihres Mediums würde eine Kamera-Ethnografin anders treffen als die Film-Dokumentaristen bei einer Aufführungsdokumentation. Dies betrifft die Wahl der Situation, in der die Kamera zum Einsatz kommt (Offene Situationen); den Umgang mit der eigenen Positionierung im Raum (Interagierende Körper); die Wahl des Themas, das mit der Kamera verfolgt und bearbeitet wird (Eingreifende Blicke); die Bewertung der Differenz, die sich im Resultat zeigt (Implizite Choreografien); den Status kamera-ethnografischer Bilder in Wissensprozessen (Positionen im Aufbruch). Kamera-Ethnografie bietet Entscheidungsalternativen, die allesamt mit der Dynamik von Wissensprozessen – mit Bewegung im Kopf – zu tun haben. An vier konkreten Beispielen aus ganz unterschiedlichen Projektzusammenhängen werden im Folgenden Aspekte eines Wissens in Bewegung herausgearbeitet, wobei der Slogan Wissen in Bewegung hier vorrangig in seiner zweiten Bedeutung aufgegriffen wird: Anstelle von ‚Bewegungswissen‘ geht es um ‚Wissensbewegung‘, um eine audiovisuelle Methode des Forschens. Die Beispiele stammen überwiegend nicht aus der Tanz- und Bewegungsforschung sondern aus aktuellen kamera-ethnografischen Studien zum Unterrichtsalltag an deutschen Schulen. Da Kamera-Ethnografie in der Bewegungsforschung neu ist, mögen die Leser das Gesagte und Gezeigte auf die ihnen vertrauten Kontexte übertragen, die vorgestellte Methode modifizieren und anwenden.
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Angelehnt an den Begriff der ‚Dichten Beschreibung‘ bei Clifford Geertz. Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Dichte Beschreibung zielt auf ein Verstehen und Herausarbeiten sozialer und kultureller Sinnstrukturen.
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KAMERA-ETHNOGRAFIE
Offene Situationen 1982 stellt der Dokumentarfilmautor und Regisseur Klaus Wildenhahn den Film Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal?3 fertig. Mit diesem Filmprojekt begibt er sich in den Alltag des Tanztheaters Wuppertal hinein – ein bevorzugtes Revier dokumentarfilmischer Improvisation. Verglichen mit einer Aufführungssituation ist die Probenarbeit in vieler Hinsicht ungefertigter. Sie lässt möglichen Inhalten, Blicken und Deutungen einen geradezu verunsichernden Spielraum. Ein idealer Nährboden für ethnografisches Forschen!
Abb. 1: Produktion von Bewegung4 In Wildenhahns Film entsteht an einigen Stellen der Eindruck, dass zur selben Zeit ein Tanzensemble Bewegungen erprobt und eine Kamera Blicke auf ein Tanzensemble ausprobiert. Vor und hinter der Kamera wird an Darstellungen gearbeitet. Was gibt es hier zu sehen? Auf diese Frage gibt es nicht nur eine Antwort, denn Alltag spielt verschiedene Stücke zugleich. Bei dem aussichtslosen Versuch, für drei Filmsequenzen, die ich an dieser Stelle zitieren möchte, adäquate Umschreibungen zu finden, gerate ich völlig in den Sog des Mediums Text und klopfe die Tonspur der ausgewählten Filmzitate nach Worten ab. Dieser Umweg wird mich zum Abwesenden im Text, zu den Bildern zurückführen. I. Pina Bausch studiert mit ihren Tänzerinnen und Tänzern eine Bewegungssequenz ein und man hört sie dabei eine eigenartige Sprache sprechen:
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Klaus Wildenhahn: Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal?, Verleih: Stiftung Deutsche Kinemathek, Deutschland 1982, 115 Minuten. Bausch in: Ebd.
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Like you really do it with THIS hand. You take it in – DA. It’s like: DA – and DA. Wenn man mit den Armen SO geht, SO – aber mit dem Bein SO. Also SO hinten hin. Das Knie ist ein bisschen SO – hoch und runter. SO. Und wenn man da ist aber gleich zurück, SO – und DA! und zurück.
Das Reden der Choreografin scheint seltsam leer ohne ihren Körper. Ihre wenigen Worte führen bloß hin zu den Bewegungsweisen, in denen sich etwas wortlos formuliert, wenn Körper etwas ‚so‘ tun, was man ‚da‘ sieht. Dieses Reden bei der Probe markiert genau die Schwelle, an der das Sagen gegenüber dem Zeigen kapituliert und es die Körper sind, die sprechen. Würde man einmal die ganzen ‚So’s‘ und ‚Da’s‘ aus der Tonspur heraus suchen und die dazu gehörigen Bildsequenzen betrachten, dann bekäme man wohl das körpersprachliche Repertoire in den Blick, an dem die Choreografin gerade arbeitet. Was sich in der Sprache der Choreografin verbirgt – ein mögliches kamera-ethnografisches Thema. II. Pina Bausch redet mit zweien ihrer Tänzer. Die Kamera bleibt etwas abseits, selten sehen wir die Choreografin direkt von vorne. Beim Filmen werden die Beziehungen der Beobachter zu ihren Protagonisten sichtbar. Ungeklärte Beziehungsfrequenzen können Bildstörungen verursachen. Bausch stellt ihrer Tänzerin und ihrem Tänzer Aufgaben: „Ihr erzählt nicht wie ihr lacht, sondern wie ihr gelacht habt. Als wenn das mal – vor Jahren hattet ihr noch gelacht. Heute habt ihr nichts mehr zu lachen. Ihr erzählt – you understand? How it was when you laughed – telling each other.“ Langsam zu Klaviermusik tanzend beginnt das Paar sprachliche und körperliche Ausdrücke hervorzubringen: „Ich hab mich immer so richtig zusammengerollt,“ spricht der Tänzer, während er sich zusammenrollt. „Ach so,“ antwortet die Tänzerin und erzählt „ich mach nur kleine Bewegungen, ich hab immer nur kleine Bewegungen gemacht.“ „Und gespuckt hab ich auch,“ ergänzt der Tänzer. Die Choreografin: „Noch mal zusammen.“ Und die Tänzerin setzt ein: „Ich hab immer SO gemacht,“ und sie drückt quietschend Luft über ihren oberen Rachen, „manchmal ohne Ton“ und sie 212
KAMERA-ETHNOGRAFIE
schnuppert mit der Nase, Nacken, Schultern und Brustkorb geraten dabei ins Zittern, während ihr Partner lauthals nach Luft japst.
Abb. 2: Bewegungsspuren auf PVC5 III. Keine Worte. Keine Pianoklänge. Nur Füße – im Vordergrund hochhackig beschuht. Und der Boden, auf dem die Absätze rhythmisch klackern. Schrittfolgen üben. Bewegungsspuren auf Poly Vinyl Chlorid, wie auf einem abstrakten Gemälde, das sich einem Gewitter an Pinselstrichen ausgeliefert hat und nun den Eindruck grafischer Ordnung erweckt. Cut. Zu Tangomusik wird im Block getanzt. Im vorderen Bildausschnitt der Rücken von Pina Bausch. Sie tanzt aus dem Stand einige der Schritte mit, dann steigt sie aus und beobachtet. Die Tänzerinnen und Tänzer bleiben ununterbrochen in ihrem Blickfeld, selbst wenn sie dabei Schultern und Oberkörper zur Seite wendet und an ihrer Zigarette zieht. Dann steht sie da, die Zigarette in die Luft haltend, und ihr Rücken wird zu einem Ruhepol, der stumm die gesammelte Beobachtung in sich aufzunehmen scheint und in dieser Kameraeinstellung zum Ort der Reflexion wird. „Das müsste eigentlich SO gehen,“ sagt sie schließlich, geht auf die Tanzenden zu, reiht sich ein und legt einige Schritte in diagonaler Laufrichtung aufs PVC, unglaublich dahin geschlackst und exakt halb demonstrierend, halb selbst noch ausprobierend. Ihre Bewegungsweise wirkt wie ein mit ihrem Körper dahin gekritzelter Entwurf, die Verkörperung einer Skizze. Dabei sagt sie: „Eigentlich wandert ihr nach DA.“ Die Filmsequenzen aus dem Dokumentarfilm sind mit einer kameraethnografischen Bildproduktion vergleichbar, bei der ebenfalls zunächst unklar ist, was es hier wohl zu erzählen geben könnte. Filmtraditionen wie das Cinéma Vérité und das Direct Cinema6 kommen der subtilen Aufmerksamkeit
5 6
Vgl. Tanztheater Wuppertal in: K.Wildenhahn: Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal? Richard Leacock, Frederick Wiseman und die Gebrüder Maysle zählen zu den Pionieren des Direct Cinema. Jean Rouch, Ethnologe, ist wohl der bekannteste Vertreter des französischen Cinéma Vérité, welches sich in der Art der Intervention und Provokation beim Filmen vom Direct Cinema unterscheidet. Beide
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eines ethnografischen Forschens nahe, indem sie z.B. Kameras gerade dann einschalten, wenn das Offizielle vorüber ist: Die Wochen und Monate vor einer Aufführung etwa oder die Minuten und Stunden danach. Dort also, wo sich das Geschehen eher als im Prozess der situativen Hervorbringung denn als kompositorisch verfestigt zeigt. Dort, wo es gelingen kann, den geheimen Zauber des noch so Unscheinbaren im Alltag aufzuspüren. Dort wo der Versuch dichter Beschreibungen Sinn macht, weil sie noch niemand formuliert hat. Sicherlich ist es möglich, auch anhand einer Choreografie wie Sacre von Bausch, die selbst bereits eine ‚dichte Darstellung‘ ist, Lesarten zu entwickeln, in denen wiederum Sinnhorizonte dieser Aufführung oder der Aufführungspraxis dicht beschrieben werden. Dies bedarf allerdings gut begründeter Blickdifferenzen beim Kameragebrauch oder eines Medienwechsels vom Visuellen zum Verbalen, um dichte Beschreibungen sinnvoll übereinander stapeln zu können. Im Gegensatz zur Aufführung selbst bieten die weniger vorab durch-inszenierten Situationen des Alltags eines Tanzensembles eine andere Offenheit für die häufig überraschenden Beschreibungsansätze einer kamera-ethnografischen Methode, die sich zunächst mit ‚unwissender Kamera‘ auf Blicksuche begibt.
Interagierende Körper Auf einer Probebühne studieren Mathias Bauer (Kontrabass) und Maria Lucchese (Didgeridoo) ihre Performance Von Nymphen, Sylphen, Pygmaeen und Salamander ein. In dieser Situation probiere ich das Konzept einer ‚Körperkamera‘ aus: Ein Kamera führender Körper, der sich physisch nähert oder entfernt anstatt neutral zu bleiben. Hier findet etwas völlig anderes statt, als bei der Kameraführung der Aufführungsdokumentation von Le Sacre, bei der von fixer Position aus gezoomt und geschwenkt wurde, unter dem Gesichtspunkt einer Abbildung – nicht Erkundung – der Szenerie. Die von Hand geführte Kamera verlässt ihre Überblicksposition und beginnt zügig, sich auf Mathias Bauer zu zubewegen. Je näher sie heran tritt, desto kleiner wird ihr Blickfeld, schließlich sehen wir nur noch, wie Hand und Bogen des Kontrabassisten den Bildausschnitt durchqueren. Aus dieser Nähe produziert die Kamera eine Weile lang eine Videosequenz, die sich auf Bewegungen, Töne und Klangfarben des Streichinstruments konzentriert. Dann wandert die Kamera weiter, sucht den Fußboden entlang streifend nach einem nächsten Objekt ihrer visuellen Begierde, erwischt das Ende des auf
Stile entstanden in den 1960er Jahren und nutzen leichte Synchrontontechnik, um sich Realitäten ‚direkt‘ zu nähern.
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Abb. 3: Optisches Ertasten mit neugieriger Kamera7 dem Boden ruhenden Didgeridoos. Sie beginnt es zu erklimmen und optisch abzutasten. Dabei verlagert sich auch akustisch die Wahrnehmung, da sich die Kamera mitsamt dem darauf montierten Richtmikrofon vom Kontrabass ab und dem Didgeridoo zuwendet. Langsam das Instrument hinauf schwenkend misst nun die Kamera die Länge der Handlungsfläche aus, hält oben angekommen inne und entwickelt ein Interesse für die Atmung der Spielerin, die wie ein Frosch die Backen aufbläst und wir hören dabei ihr rhythmisches Lufttanken. Als eine der beiden Hände der Musikerin aus dem Bildausschnitt herausgreift, folgt ihr die Kamera, sinkt etwas tiefer und findet nun eine neue Einstellung, in der Instrument, Hand und Arm in leichter Drehung auf und nieder beben und dabei Atem und Klang Gestalt verleihen. Maria Lucchese schreitet sprechend durch den Raum. Als sich ihr die Kamera nähert, nutzt die Performance-Künstlerin das nicht zu übersehende Gegenüber, blickt, spricht und gestikuliert direkt ins Objektiv hinein. Später sieht man bei einer Tanzsequenz mit Ocean-Drum, wie die Kamera sich in die kreisende Bewegung der Tänzerin einbaut und aus der Hocke heraus ein Bild erheischt, was weder im Konzept der Performer noch aus der Sicht eines Publikums bislang existierte: Während der Kontrabassist Texte von Paracelsus rezitierend von Menschen, Fischen und den Elementen Luft und Wasser spricht, taucht die Kamera auf und unter. Die Perlen der Ocean-Drum schweben von unten betrachtet über den Bildausschnitt und aus Ober- und Unterfläche der Trommel werden Elemente verschiedener Sichtsphären, die sich mal rauschend mal verstummend an die Bildfläche spielen. Kameraethnografische Videobilder erkunden die Szenerie, ohne sie abzubilden. Sie bleiben skizzenhaft und fragmentarisch. Indem die Kamera sich an den Phänomenen reibt, entsteht das, was Reibung ausmacht: Berührung, Veränderung, Erwärmung. Was hat dies mit empirischer Sozialforschung zu tun? Das Hineingehen in die Situationen, die man beforscht, ist ein Charakteristikum ethnografischen Arbeitens. Ethnografische Daten sind Ergebnis eines 7
Vgl. Elisabeth Mohn: Versuche zur ‚Körperkamera‘, unveröffentliches Manuskript, Berlin 2004.
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professionellen persönlichen Zugangs zum Feld. Dies gilt auch für eine Kamera-Ethnografie und ihr Potential, etwas zu sehen und zu zeigen, um den Preis, selbst dabei gesehen zu werden und sich plötzlich mittendrin zu befinden in den Situationen, die man beforscht. Eine dokumentarische Nähe resultiert nicht aus dem Verbergen des Beobachters, nicht aus seiner Unauffälligkeit, sondern aus sozialen Beziehungen im Feld und aus dem Einnehmen einer Rolle, die das Feld anbietet. Bewegungsweisen und mögliche Forschungsbeziehungen korrespondieren mit den feldspezifischen Rahmenbedingungen. Ausgerechnet der interaktive Charakter von Beobachtungssituationen ermöglicht es schließlich, auch das ganz Alltägliche aus nächster Nähe filmen zu können. Von einer ‚Körperkamera‘ zu sprechen bedeutet nicht, dass mit der Kamera ständig im Feld herum gelaufen wird. Man kann, wie Amos Hetz es mir gegenüber formulierte, auch „in Bewegung stehen“: Der Tänzer, Choreograf und Bewegungslehrer spricht davon, Bewegung in der innegehaltenen Position aufzufinden und Ruhe als eine Form der Bewegung, als eine aktive Position, wahrzunehmen. Diese Erfahrung aus der Bewegungslehre hat mit dem kamera-ethnografischen Arbeiten erstaunlich viel zu tun, denn das Produzieren beobachtender Bilder entsteht aus der Ruhe heraus. Selbst auf einem Stativ kann die Kamera ‚Körperkamera‘ sein, solange sie auf ihrem Dreibein nicht erstarrt, sondern ihre Statik, ihre Ruhe, als eine aktive Position genutzt wird, aus der heraus sich die Dynamik des Wahrnehmens und der Kameraführung entwickeln kann. Viele Sozialwissenschaftler haben Bedenken, sie könnten beim Forschen die Situationen und beim Filmen ihre Datenproduktion stören und versuchen daher, von außen, oben oder hinten aus zu beobachten – unauffällig, unbewegt und unter Verzicht auf Bild gebende Entscheidungen. Beim Forschen mit der Kamera spitzen sich die Konsequenzen solcher Strategien verdeckter Präsenz drastisch zu: Eine Schulklasse z.B. von hinten aus zu filmen, bedeutet Rücken statt Gesichter vor die Kamera zu bekommen. Sie aus einer starren Überblicksposition heraus zu filmen, bedeutet einen Verzicht auf erkundende selektive Bilder und dies ähnelt etwa dem Versuch, ‚Autobahn fahrend‘ die Beschaffenheit von Feldwegen beschreiben zu wollen, die aber angesichts der Blicke durch hochgekurbelte Fenster bloß vorüber gerauscht sind. Solche Video-Daten sind in der Regel außerordentlich ausdruckslos, doch wurde bislang nicht im Geringsten reflektiert, auf welche Weise ihre visuelle Unattraktivität die daran anknüpfenden Wissensprozesse beeinträchtigt anstatt zu befördern. Kamera-ethnografisches Arbeiten ähnelt eher einer Tanzprobe als einem Überwachungsszenario: Stabile Blick-Positionen werden permanent aufgegeben um in eine produktive ‚Labilität‘ zu geraten, in der sich auch Ungeplantes ereignen kann. Dies betrifft gesicherte Wissenspositionen ebenso wie 216
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gesicherte Kamera- und Körperpositionen, die nun zu Ausgangspunkten werden für daran anknüpfende Bewegungsfolgen im Raum und im Kopf. Es geht um Wege ins Ungewisse, um ein Noch-nicht-Wissen auf dem Weg zu neuen Blickentwürfen und Sichtweisen.
Eingreifende Blicke Situationen sind etwas Hochkomplexes. Weder Menschen noch Kameras können sie je überblicken oder vollständig erfassen. Sie sind vielschichtig und unübersichtlich. Mit einer Kamera lassen sich Blickschneisen durch das Dickicht einer Situation schlagen – nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Stefan Hirschauer benennt ein Artikulationsproblem, vor dem schreibende Ethnografen stehen, da sie es mit der „Schweigsamkeit des Sozialen“8 zu tun bekommen. Situationen artikulieren ihre soziologische Beschreibung nicht selber, mögen sie auch noch so laut und voller Worte sein. Forschung mit der Kamera geht es nicht viel anders: Bilder fliegen nicht im Feld herum, so dass man sie mit der Kamera bloß einzufangen bräuchte, auch wenn die erlebten Situationen noch so viele visuelle Reize bieten. In Abwandlung der ‚Schweigsamkeit‘ herrscht eine ‚Bild-Losigkeit des Sozialen‘, der gegenüber sich Kamera-Ethnografie als eine bildende Gattung des Forschens erweist. Ihre Kreativität unterscheidet sich nicht von derjenigen schreibender Ethnografen, die an Formulierungen arbeiten und deren Tun Clifford Geertz9 als Schriftstellerei ernst nahm. Es gibt wohl kaum etwas ‚Flacheres‘ als die Videobilder einer Kamera, die man als technisches Aufzeichnungsgerät einfach ‚laufen‘ ließ. In Analogie zur ‚Dichten Beschreibung‘ erfordert ein Medienwechsel zum ‚Dichten Zeigen‘ Autorinnen und Autoren hinter der Kamera, deren Blick-, Bild- und später Schnittentwürfe sich in unvertraute Sinnzusammenhänge und unkalkulierbare Tiefen des Verstehens wagen, denn ‚Dichtes Zeigen‘ beruht auf Blickarbeit. Schreibende Ethnografen begegnen ihrem Artikulationsproblem, indem sie zunächst fieldnotes produzieren, die sie später weiterverarbeiten zu Protokollen und dichten Beschreibungen. Fieldnotes sind eine Art von Notizen, die mit der Situationsteilnahme der Ethnografen unmittelbar zu tun haben: Beobachtungsnotizen; Gesprächsnotizen aus der Kommunikation im Feld; Fragen, die während des Feldaufenthaltes in den Kopf geraten. Ähnlich verfährt Kamera-Ethnografie im Rahmen ihres Mediums: Zunächst werden Beobachtungen in fokussierte Videobilder übersetzt. Sie haben den Charakter 8 9
Vgl. Stefan Hirschauer: Ethnografisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung, in: Zeitschrift für Soziologie 30-6 (2001), S. 249-451. Vgl. Clifford Geertz: Die Künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller, München, Wien: Hanser 1990.
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audiovisueller Feldnotizen, denn in der Wahl des Bildausschnitts und bei der Kameraführung wird formuliert, die Kamera ‚schreibt‘ Bilder, wird zum ‚Caméra-Stylo‘.10 Der Ausdruck ‚Caméra-Stylo‘ – „Kamera als Federhalter“ steht im Zusammenhang eines Autorenkinos, bei dem Filmemacher ihre Gedanken auf Zelluloid formulieren. In der Nouvelle Vague (an prominenter Stelle bei Jean Luc Godard) spielte die Vision vom Caméra-Stylo eine große Rolle. Im gleichen Zeitraum der 1950er – 1980er Jahre kamen auch die repräsentationskritischen Debatten zum ethnografischen Beschreiben auf. Dabei gerieten die wissenschaftlichen Autoren ins Blickfeld: Autorenkino – Autoren-Ethnografie! Was bei einem kamera-ethnografischen Verfahren, welches sich als an die „Writing-Culture“-Debatte11 der Ethnologie anschließend verortet, auf den Videobändern festgehalten wird sind daher eher Spuren einer Blicksuche wissenschaftlicher Autoren denn Situationsdokumente. Paradoxerweise ist ein solches Material jedoch in der Lage, die Referenz auf den Gegenstand des Forschens wesentlich stärker zu erzeugen als es einem blicklosen Kameragebrauch jemals gelingt.12 Hierin liegt die Expertise des ethnografischen Arbeitens, das leider häufig schlicht und einfach mit teilnehmender Beobachtung gleichgesetzt wird: Ob schreibend oder filmend, in beiden Fällen gelingt ein Beobachten, Beschreiben oder Zeigen in dem Versuch, die eigenen Vorannahmen zunächst zurückzustellen und die Formulierungsarbeit mit Notizblock oder Kamera aus einem offenen, aufnahmebereiten Zustand heraus zu kreieren, so dass die beforschten Phänomene gegenüber den etablierten Wissensbeständen eine Chance erhalten, in den Blick zu geraten. Gleichzeitig – und in diesen Paradoxien gewinnt Ethnografie ihre Erkenntnisdynamik – findet der Entwurf des neu Gesehenen im Rahmen wissenschaftlicher Theorien und Diskurse statt, die ethnografische Beschreibungen zu etwas Hausgemachtem machen, was sich von Selbstbeschreibungen des Feldes, die per Interview erhoben werden könnten, prinzipiell unterscheidet. Ethnografien sind Beschreibungen des Beschreibenden, nicht der Beschriebenen.13 Und ethnografische Blicke sind Blicke der 10 Vgl. Alexandre Astruc: Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter, in: Theodor Kotulla (Hg.): Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente (2): 1945 bis heute, München: Piper 1964, S. 111-115. 11 Vgl. James Clifford/George Marcus (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley/Los Angelos/London: University of California Press 1986. Und vgl.: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. 12 Diese Sichtweise setzt eine Unterscheidung voraus zwischen einem ethnografischen Forschungsgegenstand und einem Feld, in dem man ethnografisch forscht. Der Forschungsgegenstand ist durch wissenschaftliche Diskurse mitbestimmt und die Erzeugung einer Referenz auf ihn bedarf professioneller Fokussierung. 13 Vgl. C. Geertz: Die Künstlichen Wilden, S. 139f.
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Blickenden: Ebenfalls ‚hausgemacht‘.14 Blicke sind Handlungen. Sie bilden Gestalten und überführen bloßes Schauen in mögliches Sehen.15 Neben die Prozesshaftigkeit von Situationen und die Bewegungsaspekte eines kameraführenden Körpers tritt ein weiteres Kriterium der Forschungsdynamik: Die Differenz. In Bezug auf das Wissen-Schaffen geht es darum, an einem anderen als dem eigenen Ausgangsort anzukommen. Bei einer Aufführungsdokumentation hingegen wäre dies überhaupt nicht die relevante Zielsetzung, denn das Produkt setzt – wenn auch mit medienspezifischen und durchaus kunstvollen Mitteln – letztendlich nicht auf Wissensprozesse und interessante Differenz, sondern auf das Dokumentarische als ein dem Dokumentierten weitgehend Ähnliches. Bei Ethnografien handelt es sich hingegen um Darstellungen, die sich erstens von dem was man wusste, zweitens von den Situationen, in denen sie entstehen und drittens von dem unterscheiden, was Situationsteilnehmer über Situationen zu erzählen haben. Und dennoch beanspruchen sie auf etwas zu zielen, was mit der beforschten Situation wesentlich zu tun hat und so gesehen sind sie in einem anspruchsvollen Sinne auch ‚dokumentarisch‘. Ein aktiv fokussierender, selektiver Umgang mit der Kamera führt paradoxerweise dazu, dass anschließend mehr und nicht weniger auf dem Videomaterial sichtbar wird. Die Kunst des Sehens und Zeigens ist immer auch eine des Weglassens und Nicht-Zeigens.
14 Stefan Hirschauer und Klaus Amann formulieren ein soziologisches Ethnografiekonzept, das diese eigentlich der Ethnologie entlehnte und dort etwas stiefmütterlich behandelte Methode in das Licht einer empirischen Entdeckungsstrategie rückt, die alles andere als ‚bloß deskriptiv‘ ist. Sie plädieren dafür, die Wissensordnung des Feldes und die Relevanzen der eigenen Disziplin auseinander zu halten und diese Unterscheidung konstruktiv zu nutzen bei der Hervorbringung feldbezogener Beschreibungen der Beschreibenden. Vgl. Stefan Hirschauer/Klaus Amann (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Birgit Griesecke spricht von einer „produktiven Fiktionalität“ in der ethnografischen Forschung: Finden und Erfinden ethnografischer Beschreibung sind ineinander verwoben. Sie diskutiert dies u. a. anhand einer aufschlussreichen Lektüre Ludwig Wittgensteins. Vgl. Birgit Griesecke: Japan dicht beschreiben. Produktive Fiktionalität in der ethnographischen Forschung, München: Fink 2001, S. 54-80. 15 Vgl. Ludwik Fleck: Schauen, sehen, wissen, in: Lothar Schäfer/Thomas Schnelle (Hg.): Ludwik Fleck. Erfahrung und Tatsache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983.
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Abb. 4: What the hell is going on here?16 Beobachtung im Luftraum des Klassenzimmers.17 Ein Versuch, vorm Sichtungsmonitor eine Video-Schnittfolge in Worte zu fassen – ein ‚Monitortext‘: Im Fokus der Kamerabeobachtung sind die sich meldenden Arme der Schülerinnen und Schüler. Ihre Hände erzählen vom Sich-Melden und Seltendran-Kommen, von gedehnter Zeit, erstarrten Gelenken und tanzenden Fingerspitzen, die etwas Unerklärliches tun, was geradezu exotisch erscheinen mag: Hand-Lungen? Finger verlängern sich durch Stifte zu antennenartigen Meldemasten. Eine Hand schraubt sich höher und höher in den Luftraum, bis sie dort oben um ihr Handgelenk zu kreiseln beginnt wie ein Lenkdrachen der Loopings schlägt, bevor er mangels Wind abstürzt. Ein ebenso formschöner Lufttanz zweier Arme stellt sich als Zeit auskostendes Räkeln statt Melden heraus. Mit einem Armband aus schwarzem Leder, geschmückt mit spitzen Nieten aus Metall, steigt ein Arm in die Höhenlage der Unterrichtslandschaft auf und lässt dabei die Finger der Hand wie eine Blüte auseinander spreizen – beim Abtauchen in die schattigeren Tischlagen schließen sie sich wieder. Beim Hinschauen entsteht eine Mischung aus Faszination und unterschwelliger Empörung und in die noch fehlenden Worte für das Gesehene schleichen sich erste Fragen ein: Was tun die Hände von Schülern, die sich melden und nicht drankommen, im Luftraum des Klassenzimmers? Die Sprachlosigkeit der Video-Bilder erleichtert es, bei der Wie-Frage alltäglicher Praxis zu verweilen. Ausgerechnet dort, wo Sinn und Zweck des Tun und Machens ins Leere laufen, entstehen Spielräume für die Erprobung neuer Bewegungsvarianten, die von den unausgelasteten Schülerinnen und Schülern formvollendet exerziert werden. 16 Vgl. Elisabeth Mohn: Stundenweise Schulzeit, in: Elisabeth Mohn/Klaus Amann: Lernkörper. Kamera-Ethnografische Studien zum Schüler-Job (VideoDVD), Göttingen: IWF Wissen und Medien 2006, Video 2. 17 Für die Beispiele einer „Kamera-Ethnografie“ vgl. ebd. Dort werden sechs Video-Studien zum Schülerjob vorgestellt, die im Rahmen des DFG-Projekts Jugendkultur in der Unterrichtssituation 2002-2005 entstanden sind: Zentrum für Schulforschung und Lehrerbildung (ZSL), Universität Halle-Wittenberg, PD Dr. Georg Breidenstein.
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Der Tanzpädagoge Amos Hetz tritt für ein erweitertes Bewegungsverständnis ein. Die Hände der Schüler im Luftraum des Klassenzimmers zeigen etwas von diesen ungeahnten persönlichen Bewegungsrepertoires, die er in seinen Workshops erkundet. Kamera-ethnografische Studien sind geradezu prädestiniert dazu, genau an dieser Stelle einen wertvollen Beitrag zum Bewegungsverständnis zu leisten, indem sie die in alltäglichen Praktiken aufspürbaren Bewegungsspielarten, die weder bewusst noch abfragbar sind, neugierig in den Blick rücken und uns dabei Gelegenheit geben zu Ratlosigkeit, Faszination und zu Ansätzen, etwas zu wissen, was wir so zuvor noch nicht kannten.
Abb. 5: Alltägliches als Quelle für Bewegungsstudien18 Vorab festgelegte Darstellungsabsichten behindern eine ethnografische Wahrnehmungsarbeit auf ähnliche Weise, wie sie das Erspüren und Hervorbringen von Bewegung eines Tanzensembles ersticken können. „Die Notwendigkeit, sich innerhalb einer Tanzformation einem einheitlichen Stil anzupassen, unterminiert den Dialog mit anderen Ausdrucksformen und verschüttet die dynamische Quelle stilistischer Kreativität.“19 Das Zurückstellen von Vorgaben und Absichten erinnert an Erzählungen von Filmemachern über ihr dokumentarisches Arbeiten. Der holländische Regisseur Johann Van der Keuken z.B. berichtet: „,To take something at face value‘ meint, etwas nehmen, wie es kommt, ohne es einzuordnen. Es ist so etwas wie ein fast unbelasteter Blick. Für einen Moment akzeptiert man, das, was man sieht, sei so.“20 In einer anderen Variante dazu Klaus Wildenhahn: „[...] dass sich so etwas wie ein sinnloses, nicht gezieltes Aus-dem-Fenster-Sehen in meinen Filmen finden lässt. Wobei das nicht unbedingt immer ein Fenster sein muss, aus dem man guckt. Es ist dieses eher absichtslose, vielleicht etwas blöde 18 Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal in: K. Wildenhahn: Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal? 19 Vgl. Amos Hetz: Die Bewegung ist erst am Anfang, in: ballett-tanz/ Das Jahrbuch 1999, S. 110f. 20 Vgl. Gabriele Voss: Dokumentarisch Arbeiten, Berlin: Vorwerk 8 1996, S. 82f.
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Gucken. Was ganz schön ist. Man weiß gar nicht, was man denkt und fühlt. Es ist so ein etwas entleertes Gucken, aber wahrscheinlich ist es doch ganz wichtig. Eine plötzliche Distanz zur Welt und eine merkwürdige Fremdheit, wo befindet man sich? Man weiß es nicht genau. [...] Das scheinbar Vertraute ist gleichzeitig auch etwas sehr Fremdes.“21
Beide Blicktechniken zielen auf eine Wahrnehmungsstufe, die einer Identifizierung und Deutung des Gegenstandes zuvorkommt: Die eine, indem die Interaktion erst einmal ausdrücklich oberflächlich bleibt, die andere, indem die Interaktion zunächst gleichgültig betrieben wird. Solche Strategien rechne ich der Spielart Starkes Dokumentieren22 zu. Im Gegensatz zu alltäglichen Verständigungsprozessen, in denen ein blitzschnelles Immer-sofort-Wissen praktiziert wird, handelt es sich beim Starken Dokumentieren, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, um ein Gebot der Langsamkeit: „Wie die Schildkröte in Michael Ende’s Momo weiß, erreicht derjenige den ‚wirklichen‘ Gegenstand schneller, welcher sich nicht zielstrebig auf ihn zu bewegt. Während Momo einen Rückwärtsgang einlegt, um den grauen Herren zu entfliehen, bemühen sich starke Dokumentaristen um einen interpretativen Leerlauf. Sie versuchen, ihren Sinngenerierungsmotor abzukühlen, um nicht auf alltäglichen Common Sense ‚abzufahren‘.“23
Clifford Geertz schlägt vor, Feldforschungen mit der Frage zu beginnen: „What the hell is going on here?“24 Diese Frage lohnt sich gerade dort zu 21 Vgl. ebd., S.168. 22 Als Spielarten des Dokumentierens unterscheide ich: Starkes Dokumentieren, Dokumentarische Methode der Dokumentation, Anti-Dokumentieren und Paradoxes Dokumentieren. Starkes Dokumentieren fasst Strategien zusammen, die sich um eine Verzögerung des Sinnstiftens beim Forschen bemühen, um den Gegenstand in tieferer oder ungewohnter Bedeutung in den Blick zu bekommen. Die Dokumentarische Methode der Dokumentation beschreibt Alltagspraxis als ein blitzschnelles Immer-sofort-Wissen, über das Verständigung gerade deshalb gelingt, weil beim Deuten nicht gezögert wird. Anti-Dokumentieren stellt eine Gegenbewegung zur verborgenen Autorschaft beim Starken Dokumentieren dar und will durch Reflexivität das Dokumentarische dekonstruieren. Paradoxes Dokumentieren schließlich kombiniert widersprüchliche Spielarten des Dokumentierens und befasst sich mit Wechselspielen und Zwischenpositionen. Diese vier Konzepte erweisen sich in der praktischen Durchführung empirischer Wissensprozesse als komplementär und allesamt unverzichtbar. Sie lassen sich in ein Bewegungsmodell methodologischer Registerwechsel überführen, das beim ethnografischen Schreiben und Filmen reflexiv gehandhabt werden kann. Vgl. Elisabeth Mohn: Filming Culture. Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise, Stuttgart: Lucius & Lucius 2002. 23 Ebd., S. 63. 24 S. Hirschauer/K. Amann (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur, S. 20.
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stellen, wo man denkt, es sei doch klar, was los ist: Etwa in einem Klassenzimmer, Tango-Lokal, Ruder-Club oder bei der Aufnahmeprüfung zur Ballett-Akademie. Sie ermöglicht eine „Befremdung der eigenen Kultur“25 um schließlich Vertrautes neu sehen zu lernen. Starkes Dokumentieren, mit seinen konsequenten Versuchen vom Nochnicht-Wissen auszugehen, ist eine nützliche Forschungshaltung und Wahrnehmungsstrategie. Es erhöht die Chance, im Feld Antworten auf Fragen zu finden, die man noch überhaupt nicht gestellt hat. Doch allein mit Zurückhaltung und wissensasketischen Schachzügen, allein mit Starkem Dokumentieren, gelingt kein ‚Dichtes Zeigen‘. Bei kamera-ethnografischen Beobachtungen wird noch nicht gewusst und doch permanent erkannt, wird entdeckt, aber auch entworfen, wird zugleich etwas aufgezeichnet und dabei konstruktiv visualisiert: Ein Hin und Her zwischen Interpretationsaskese und Gestaltsehen, Öffnungen und Schließungen. Hier sind weitere Spielarten des Dokumentierens in Aktion, etwa Konstellationen des Paradoxen Dokumentierens, bei denen unter dem Tisch etwas gespielt wird, was in methodischen Konzepten gern unter den Tisch gespielt wird: Die Rolle alltäglicher Verständigungspraxis, die als eine „Dokumentarische Methode der Interpretation“ beschrieben wurde, und bei der das Einfließen von Wissensaspekten und Vorstellungen elementarer Bestandteil der Orientierung ist. Kein Elfenbeinturm ist dagegen gefeit. Zum Glück. ‚Dichtes Zeigen‘ gelingt durch methodologische Registerwechsel, durch eine Bewegung zwischen unterschiedlichen Spielarten des Dokumentierens, die mal auf Öffnung, mal auf Schließung zielen, mal auf Reflexivität oder aber darauf, Wissen unbestimmt, bzw. im Prozess zu halten.
Implizite Choreografien Das Entdeckungspotential der Kamera-Ethnografie hat nicht zuletzt mit einer Neubewertung der Arbeit am digitalen Schnittplatz zu tun. Bekannt sind bislang eher die folgenden beiden Varianten im Umgang mit dem Videoschnitt: a) es wird überhaupt gar nicht geschnitten und b) es wird sofort zielstrebig an einem Filmschnitt gearbeitet. Ersteres hat mit der Bewertung des Videomaterials als authentisches Datenmaterial zu tun. Man möchte das, was man für ein unbeflecktes Situationsdokument hält, nicht durch Schnitt und Montage seiner Unschuld berauben. ‚Dichtes Zeigen‘ fällt unter den Tisch. Mit dieser Konvention geraten Sozialwissenschaftler allerdings in ein forschungspraktisches Dilemma: Alle konstruktiven Aspekte des Sehens am Material müssen quasi als Kopfrechenaufgaben absolviert werden, da sie weder bildhaft sichtbar, noch durch 25 Vgl. ebd.
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Erfahrungen beim Sequenzieren und Montieren von Videomaterial angeregt werden. Anders die Konventionen beim ethnologischen Kameragebrauch, die in dieser Hinsicht der viel zitierten Aufführungsdokumentation Sacre durchaus gleichen. Dort wird die Bildproduktion im Feld keineswegs gescheut. Vermieden wird etwas anderes beim schnellen Schritt zum Schnitt, nämlich die Differenz zwischen der untersuchten Situation und möglichen hausgemachten Blicken. Man geht nur zu gerne davon aus, was mit der Kamera gefilmt wurde sei inhaltlich ‚im Kasten‘. Aus einer ethnologiegeschichtlich begründeten Angst vor dem Vorwurf der Arroganz und Besserwisserei werden die Chancen gar nicht erst ausgereizt, am Material spannende Blicke zu entwerfen, die sich offenkundig der wissenschaftlichen Disziplin selbst zurechnen lassen würden. So gibt es zweierlei Blickfluchten: Die der Soziologen beim Filmen mit blickloser Kamera und die der Ethnologen, die beim Schnitt die Blickdifferenz der interpretativen Rahmung unterschätzen. Wie aber können dann Filme entstehen, die auch den beforschten Feldern interessante Angebote zum Dialog auf Augenhöhe machen? Die Vermeidung der Differenz erscheint wie eine unausgesprochene Einschätzung der Beforschten als schwache Gegenüber, denen man ‚fremde‘ Blicke und ‚andere‘ Wissensaspekte ersparen müsse. Beide Varianten verspielen entscheidende Potentiale einer KameraEthnografie, die sich als eine Bewegungsweise zwischen Wissensorten versteht und bei der das Videomaterial an der Hervorbringung von Unterscheidungen und am Stiften von Zusammenhängen beteiligt ist.26 Ein an Prozessen des Sehens orientierter Umgang mit Videomaterial kann gerade am Schnittplatz und lange bevor Ergebnisse montiert werden ein Experimentierfeld eröffnen. Es lohnt sich, dabei erneut die Frage zu stellen: „What the hell is to see here?“ Das Material wird erkundet, zerlegt, befragt. Es wird viel geredet, evtl. auch vorm Monitor geschrieben, Sequenzen zurecht geschnitten, versuchsweise arrangiert, beobachtet, verworfen. Was lässt das konkrete Material ‚mit sich‘ machen, was nicht? Ziel ist zunächst ein Aufwerfen von Fragen und das Entwickeln weiterer Blick-Fokussierungen. Welche Antworten auf welche Fragen sind an diesen Bildern möglich? Interpretative Rahmen und 26 Birgit Griesecke gibt anhand der Beschreibungsmaximen Ludwig Wittgensteins wertvolle Anregungen, die auch das Versuchen und Experimentieren am Videomaterial anleiten können. Vgl. Birgit Griesecke: Essayismus als versuchendes Schreiben. Musik, Emerson und Wittgenstein, in: Wolfgang Baumgart/Kai Kauffmann (Hg.): Essayismus um 1900, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2005, S. 157-175; vgl. auch dies.: Am Beispiel ‚Versuch‘. Warum Wittgensteins Philosophie die Kulturgeschichte der Wissenschaften herausfordern kann, in: Sigrid Weigel/Karlheinz Barck (Hg.): „fülle der combination“, Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, Reihe Trajekte, München: Fink 2005, S. 267-291.
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Theorien werden erprobt und haben im Sinne möglicher Optiken Werkzeugcharakter. Die Worte der Forschenden gegenüber ihren Videosequenzen sind keineswegs auf ein Ausbuchstabieren manifester Bildinhalte festzuschreiben, sie bewegen sich mal an Bildoberflächen, mal durchs Bild hindurch in abwesende Situationen und mal entfernen sie sich auch von den Bildern, umkreisen sie aus großem Abstand oder fliegen schlichtweg davon. Bildfolgen setzen und Sätze bilden – zwei mediale Praktiken, deren Differenz und intermediales Potential verspielt würde, wenn man sie in repräsentative Abbildungsbeziehungen zueinander zwingt und versucht, die Dinge ein für allemal fest zu stellen, anstatt sie eher laufend, bzw. intermedial, zwischen den Medien hin und her hüpfend, zu verstehen. In diesem Zusammenhang sind sicherlich die Überlegungen von Dieter Mersch27 überaus spannend, der Erfahrungspotentiale gerade darin sieht, dass sich Bilder dem sprachlichen Zugriff entziehen und ihre Rätselhaftigkeit nicht in Textur aufgeht. Gerade weil sich Worte von Bildern unterscheiden liefert der Versuch, vor dem Monitor zu schreiben, ein Evokationspotential: Die Suche nach Worten schärft das Erblicken der Bilder, die ihrerseits Wortfindungen hervorlocken. Es entstehen eigenartige Texte, die es ohne die Videosequenzen niemals geben würde und im Anschluss an das Schreiben lässt sich wiederum Videomaterial mit geschärften Sinnen schneiden. Audiovisuelles Forschen wird im Kontext solcher Medienübergänge inspiriert. Auch hier wieder der Zusammenhang von Differenz, Prozessdynamik und Denkbewegung. So bietet eine experimentell explorierende Arbeitsweise gerade am digitalen Schnittplatz reichlich Anlass dazu, den Entwurf interessanter Blicke und die Entdeckung spannender Aspekte des Feldes aneinander reifen zu lassen. Beispiel für eine Theorie inspirierte ‚Versuchsoptik‘: Im Umgang mit den Video-Beobachtungen aus Unterrichtssituationen entstand die Idee, die Schüler einmal versuchsweise als ‚Konsumenten‘ zu betrachten. Michel de Certeau hat alltägliche Praktiken von Konsumenten untersucht und deren taktischen Charakter herausgearbeitet. Über Taktik schreibt er: „[…] sie ist immer darauf aus, ihren Vorteil ‚im Fluge zu erfassen‘. Was sie gewinnt, bewahrt sie nicht. Sie muss andauernd mit den Ereignissen spielen um ‚günstige Gelegenheiten‘ daraus zu machen.“28 Trifft es auch auf Schülerinnen und Schüler zu, dass sie sich ständig mit den Umständen und dem Wollen eines Anderen auseinander setzen und im Unterricht nicht mit etwas Eigenem rechnen können? Was also machen Schüler aus dem, was sie machen sollen, durch das ‚wie‘ sie es machen? 27 Vgl. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer ‚performativen Ästhetik‘, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002; vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band. 28 Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 23.
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Ergebnis dieses Versuchs ist das Video Taktik.29 Es stöbert verborgene Produktivität im Alltagshandeln jugendlicher Schülerinnen und Schüler auf.
Abb. 6: Choreografische Potentiale alltäglicher Bewegung30 Die Schwenks der Kameraführung begleiten die Schülerinnen und Schüler auf ihren Wegen durch den Raum. Die Möglichkeit, im Klassenzimmer verschiedene Unterrichtsmaterialien zusammen suchen zu dürfen, wird von den Jugendlichen intensiv genutzt. Wo in der traditionellen Frontalsituation die Körper eher geparkt erscheinen, gerät hier das Ganze in nicht enden wollende Bewegung. Am digitalen Schnittplatz ermöglicht der Fokus auf „Gänge“ weitere Mikrobeobachtungen: Wie schon die Hände im Luftraum des Klassenzimmers, zeigen sich auch die Gangarten als variantenreich: Schlendern, flanieren, spazieren,… Beim Sequenzieren und Montieren des Materials werden Unterscheidungen herausgearbeitet, Zusammenhänge erwogen und häufig sind es Zufälle, in denen sich Entdeckungen wie diese einstellen: Immer ist jemand am Laufen, doch nie zu viele auf einmal. Einem Staffellauf ähnlich scheint sich beim Hinsetzen des Einen, das Aufstehen des Nächsten zu ergeben. Das Herumlaufen im Unterricht bringt eine unausgesprochene Choreografie zur Aufführung. „Als verkannte Produzenten, Dichter ihrer eigenen Angelegenheiten, und stillschweigenden Erfinder eigener Wege durch den Dschungel der funktionalistischen Rationalität produzieren die Konsumenten durch ihre Signifikationspraktiken etwas, das die Gestalt von ‚Irr-Linien‘ haben könnte […].“31
29 Vgl. Elisabeth Mohn: Taktik, in: Elisabeth Mohn/Klaus Amann: Lernkörper. Kamera-Ethnografische Studien zum Schülerjob (Video-DVD), Göttingen: IWF Wissen und Medien gGmbH 2006, Video 2. 30 Ebd. 31 M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 21.
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Im Sinne einer „Kunst des Handelns“ trifft dies wohl auch auf gelangweilte Unterrichtskonsumenten zu und Schülerinnen und Schüler lassen sich als Produzenten taktischer Praktiken im schulischen Alltag entdecken, die etwas Unglaubliches tun: Als Lernkörper bauen sie ein ‚Perpetuum Mobile‘ – in keinem Drehbuch hätte eine solche Entdeckung impliziter Choreografie vorab entworfen werden können! ‚Dichtes Zeigen‘ entsteht wie die „Dichte Beschreibung“ an Schnittstellen rekonstruktiver und konstruktiver Prozesse. Amos Hetz lehrt in seinen Movement Studies Differenzierung und Integration. Indem man lernt, jedes Körperteil unabhängig voneinander zu bewegen, wird eine Bewusstheit im Einzelteil erzeugt, die bei ihrer Integration eine erspürte Ganzheit erschaffen.32 Anstelle einzelner Glieder gegenüber der Einheit eines Körpers im Raum zergliedert Kamera-Ethnografie ihre VideoSequenzen. Jeder Schnitt ist zunächst ein Akt gegen den Zusammenhang, gegen ein Ganzes. Zerlegen wird zur Erfahrung, die zu Bewusstheitsfragmenten führt: Schnitte im Material sind ohne ein Reflektieren interpretativer Relevanzen kaum möglich. Bei ihrer Montage werden neue Einheiten erschaffen, ein integrierter Material-Corpus sozusagen, der nicht mehr so oberflächlich erscheint wie das ungeschnittene Footage. Differenzierung und Integration zielen auf Tiefendimensionen des ‚Dichten Zeigens‘. Wie ein Körper in Bewegung, braucht auch die Videomontage schließlich eine Art ‚virtueller Wirbelsäule‘, über die Teilaspekte im Interesse möglicher Zusammenhänge integriert werden können. Das ‚entleerte Gucken‘ (er)füllt sich.
P o s i t i o n e n i m Au f b r u c h Kamera-Ethnografie schlägt eine Methodologie der Bewegung vor, die sich von starren Vorstellungen eines Dokumentieren- und Wissen-Könnens verabschiedet. Kamera-ethnografische Video-Sequenzen haben so wenig mit ‚Daten‘ zu tun, wie die weitere Arbeit am Material mit ‚Auswertung‘. Anstelle eines Zweiphasenmodells der klaren Trennung in Daten hier und Analysen dort tritt die kontinuierliche Arbeit an materialisierten Blickspuren und den daraus erwachsenden Sichtweisen. Wissensprozesse werden dabei über mehrere Phasen hinweg gestaltet: 1. Entwurf von Blickspuren mit der Kamera 2. Erprobung von Fokussierungen beim experimentellen Arrangement der Bilder 3. Dichtes Zeigen erarbeiteter Sichtweisen in Form audiovisueller Produkte 4. Rezeption des Gezeigten 32 Vgl. Claudius Nestvogel: Von Leonardo da Vinci ins 21. Jahrhundert. Schrift für eine Tradition, die keinen Namen hat – Amos Hetz Movement Studies, in: tanzdrama 43 (1998), S. 13-16.
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5. Reflektion von Medialität, Methodologie, Gezeigtem und nicht Gezeigtem Diese Phasen zu unterscheiden macht deshalb Sinn, weil sie jeweils unterschiedliche Strategien im Prozess des Wissen-Schaffens auf den Plan rufen, in denen die vier Spielarten des Dokumentierens mal mehr dem Wissen und der konstruktiven Schließung, mal mehr dem Nichtwissen und der perzeptiven Öffnung zuneigen.33 Ein ‚Tanz des Wissens‘ entfaltet sich, indem die methodologisch-strategischen Grundhaltungen variiert und abgewechselt, eingenommen und wieder aufgegeben werden. Eine Art von methodologischer Inkonsistenz erweist sich dabei in der praktischen Durchführung von Wissensprozessen als unvermeidlich und: Produktiv! Blickender Kameragebrauch materialisiert die Paradoxien der Ethnografie in Form von Kameraeinstellungen und macht sie anschlussfähig für weiteres Hin-Schauen und Herbei-Sehen. Die Ergebnisse einer Kamera-Ethnografie setzen ebenso wenig auf Stillstand wie schon das gesamte Verfahren, denn gezeigt werden mögliche Sichten, deren Fragwürdigkeit Programm ist. Die audiovisuellen Resultate haben einen hybriden Charakter: Sie stellen etwas ‚fest‘ und treten etwas ‚los‘. Videosequenzen sind ideale Ausgangspunkte für daran anknüpfende Denkbewegungen. Interessanterweise hat diese Arbeitsweise, die fragmentarisch und brüchig erscheinen mag, in ihrer praktischen Durchführung gegenteilige Effekte: Aufgrund der intensiven Arbeit am Blick taugt KameraEthnografie dazu, das Sehen selbst voranzutreiben und dabei das Zeigen überhaupt erst zu ermöglichen. Gesehenes und Gezeigtes entwickeln eine Performanz, die die noch so gut gemeinten Materialien blickloser Kameras mühelos in den Schatten stellen. Aufgrund – nicht trotz – ihrer Subjektivität und Selektivität gelingt es kamera-ethnografischen Bildern, ein Denken zu evozieren, was sich in die Nähe der Phänomene begibt und sich an ihnen reibt. Aus Repräsentationsbemühungen wird ein Evokationsbestreben, welches die Spannungsfelder des Fremden und Vertrauten und der Näherung und Distanzierung zu nutzen weiß. ‚Dichtes Zeigen‘ gewinnt nicht zuletzt dadurch seine Tiefendimension, dass Wissenschaft ‚Dis-Tanz-Räume‘34 durchschreitet. Dies ist der wesentliche Unterschied zwischen ethnografischem dichtem Beschreiben bzw. Zeigen und einer filmischen Aufführungsdokumentation, wie etwa derjenigen von Sacre, die im Interesse einer dem Stück möglichst ähnlichen Wiedergabe auf die neugierige Kamera, hausgemachte Blickentwürfe und Sinn generierenden Filmschnitt völlig verzichtet. Ethnografische Wissensprozesse hingegen entwickeln sich im Rahmen einer Forschungsdynamik, die letztendlich auf unerwartete Ergebnisse zielt und gerade in ihrer 33 Ausgeführt in: E. Mohn: Filming Culture, S. 213-224. 34 Vgl. den Beitrag von Michael Diers in diesem Band.
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Kreativität wissenschaftlich ist, denn im Gegensatz zu einer Aufführungsdokumentation dringt Kamera-Ethnografie zu neuen Wissensaspekten vor. Da die sozialwissenschaftliche Repräsentation längst vom Zwang einer Identität zwischen Gegenstand und seiner dichten Beschreibung erlöst ist,35 können nun auch Kameras von der Verpflichtung auf ein statisches Festhalten entbunden werden. Kameragebrauch und Videobilder von geistigen Bewegungsimpulsen aus zu denken, eröffnet Chancen einer explorativen Bewegungsforschung, die unser Wissen in Bewegung hält.
Literatur Amann, Klaus/Hirschauer, Stefan (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Astruc, Alexandre: Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter, in: Kotulla, Theodor (Hg.): Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente (2): 1945 bis heute, München: Piper 1964, S. 111-115. Berg, Eberhard/Fuchs, Martin: Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation, in: Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S.11-108. Clifford, James/Marcus, George (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley/Los Angelos/London: University of California Press 1986. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988. Fleck, Ludwik: Schauen, sehen, wissen, in: Schäfer, Lothar/Schnelle, Thomas (Hg.): Ludwik Fleck. Erfahrung und Tatsache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 147-174. Garfinkel, Harold: Common Sense Knowledge of Social Structures. The Documentary Method of Interpretation in Lay and Professional Fact Finding, in: Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology, New Jersey 1967, S. 76-103. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Ders.: Die Künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller, München/ Wien: Hanser 1990.
35 Vgl. Eberhard Berg/Martin Fuchs: Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 11-108.
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Griesecke, Birgit: Japan dicht beschreiben. Produktive Fiktionalität in der ethnographischen Forschung, München: Fink 2001. Dies.: Essayismus als versuchendes Schreiben. Musil, Emerson und Wittgenstein, in: Braungart, Wolfgang/Kauffmann, Kai (Hg.): Essayismus um 1900, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2005, S.157-175. Dies.: Am Beispiel ‚Versuch‘. Warum Wittgensteins Philosophie die Kulturgeschichte der Wissenschaften herausfordern kann, in: Weigel, Sigrid/Barck, Karlheinz (Hg.): „fülle der combination“, Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, Reihe Trajekte, München: Wilhelm Fink 2005, S. 267-291. Hetz, Amos: Die Bewegung ist erst am Anfang, in: ballett/tanz/Das Jahrbuch (1999), S. 110 ff. Hirschauer, Stefan: Ethnografisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung, in: Zeitschrift für Soziologie 30-6 (2001), S. 429-451. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer ‚performativen Ästhetik‘, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Mohn, Elisabeth: Filming Culture. Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise, Stuttgart: Lucius & Lucius 2002. Dies.: Permanent Work on Gazes. Video Ethnography as an Alternative Methodology, in: Knoblauch, Hubert/Raab, Jürgen/Soeffner, Hans-Georg u.a. (Hg.): Video-Analysis. Methodology and Methods, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2006, S. 173-181. Dies.: Stundenweise Schulzeit, in: Dies./Amann, Klaus: Lernkörper. KameraEthnographische Studien zum Schülerjob (Video-DVD), Göttingen: IWF Wissen und Medien gGmbH 2006, Video 1. Dies.: Taktik, in: Dies./Amann, Klaus: Lernkörper. Kamera-Ethnographische Studien zum Schülerjob (Video-DVD), Göttingen: IWF Wissen und Medien gGmbH 2006, Video 2. Nestvogel, Claudius: Von Leonardo da Vinci ins 21. Jahrhundert. Schrift für eine Tradition, die keinen Namen hat – Amos Hetz Movement Studies, in: tanzdrama 43 (1998), S.13-16. Voss, Gabriele: Dokumentarisch Arbeiten, Berlin: Vorwerk 8 1996.
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Ritual und Symbol
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Pina Bausc hs Insze nierung Le Sacre du Printemps. Eine Falla nal ys e z ur Soziologie s ymbolischer Forme n und ritueller Ordnunge n
Au f f ü h r u n g , Au f z e i c h n u n g , Au s l e g u n g In seinem Kunstwerk-Aufsatz beklagt Walter Benjamin die Verkümmerung dessen, was er bekanntermaßen ins Zentrum seiner Betrachtungen rückt und in den Begriff der Aura kleidet: Indem sie das Hier und Jetzt des Originals entwerte und damit dessen Echtheit an der empfindlichsten Stelle berühre und verletze, verändere die technische Reproduktion die Funktion und die Wahrnehmung, mithin das Erlebnis des Kunstwerks. Die Erfahrung des Kunstwerks im Hier und Jetzt könne durch die technische Reproduktion niemals eingeholt und aufgefangen werden.1 Unweigerlich trägt somit auch das hier zur groben Veranschaulichung des interpretativen Verfahrens der wissenssoziologischen Hermeneutik2 genommene Filmdokument von Pina Bauschs 1 2
Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 7-43. Im Rahmen dieser kurzen Darstellung, der es im Wesentlichen daran gelegen ist, anhand von Ergebnissen das Potential des Verfahrens kenntlich zu machen, ist es weder möglich, auf dessen methodologische Hintergründe einzugehen, noch die methodisch-analytische Vorgehensweise en detail wiederzugeben. Zu beidem vgl. vor allem Hans-Georg Soeffner: Die Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung, Konstanz: UVK 2004; Hans-Georg Soeffner/Jürgen Raab: Kultur und Auslegung der Kultur. Kultursoziologie als sozialwissenschaftliche Hermeneutik, in: Friedrich Jaeger/Jürgen Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 2, Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 546-567;
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Inszenierung des Le Sacre du Printemps das Stigma des Verlustes der Aufführung in der Aufzeichnung. Der von Max Weber beschriebene Prozess der Rationalisierung moderner Lebenswelten macht keineswegs Halt vor der Entzauberung der Kunst und vermag das ästhetische Handeln ebenso wie die ästhetische Erfahrung zu überformen. Doch das moderne Leben ist, darauf machten Benjamin und Weber gleichermaßen aufmerksam, ein Leben in Ambialenzen und Paradoxen, denn der mit der technischen Reproduktion erlittene Verlust an Augenblicklichkeit, an ‚Präsenz‘ und ‚Authentizität‘, geht einher mit dem Gewinn gänzlich neuer Möglichkeitsräume menschlichen Darstellens, Wahrnehmens, Deutens und Verstehens.3 Die mediale Aufzeichnung der Aufführung ist zum einen die Bedingung der Möglichkeit der methodisch-kontrollierten Auslegung. Grundsätzlich kann die sozialwissenschaftliche Rekonstruktionsarbeit erst dann beginnen, wenn das zu untersuchende soziale Handeln längst vorüber und abgeschlossen ist. Darüber hinaus muss soziales Handeln, sofern es überhaupt der Interpretation zugänglich sein kann, in bestimmten Daten repräsentiert sein. Anders ausgedrückt: Das wissenschaftliche Verstehen kann nur dann systematisch ansetzen und methodisch-kontrolliert durchgeführt werden, wenn das Datum diskursiv vorliegt. Das Handeln muss in irgendeiner Form aufgezeichnet sein, so dass es von den Interpreten mehrfach gesichtet, hin- und hergewendet, in diesem Sinne ausgelegt und die Auslegung auch von Dritten überprüft werden kann. Weil sich gerade auch der Tanz als kontinuierliche Bewegungskunst durch Zeitlichkeit und Flüchtigkeit auszeichnet, vermag erst die Fixiertheit und immer neue Abrufbarkeit einer Aufführung, also erst deren mediale Aufzeichnung, die flüchtige Aufmerksamkeit der Wahrnehmung und Deutung auf Dauer zu stellen. „Auch angestrengteste Aufmerksamkeit,“ so wusste bereits Wilhelm Dilthey, „kann nur dann zu einem kunstmäßigen Vorgang werden, wenn die Lebensäußerung fixiert ist und wir so immer wieder zu ihr zurückkehren können. Solches kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen nennen wir Auslegung oder Interpretation.“4
3
4
dies.: Bildverstehen als Kulturverstehen in medialisierten Gesellschaften, in: Aleida Assmann/Ulrich Gaier/Gisela Trommsdorff (Hg.): Positionen der Kulturanthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 249-274; Jürgen Raab/Dirk Tänzler: Video Hermeneutics, in: Hubert Knoblauch u.a. (Hg.): Video-Analysis – Methodology and Methods, Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociology, Frankfurt a.M.: Lang 2006, S. 85-99. Zur Medialisierung des Körpers vgl. Jürgen Raab: Körperbilder. Über Rationalität und Irrationalität des Körpers im Interaktionsgeschehen, in: Dirk Tänzler/Hubert Knoblauch/Hans-Georg Soeffner (Hg.): Zur Kritik der Wissensgesellschaft, Konstanz: UVK 2006, S. 235-256. Vgl. Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band V, Stuttgart: Teubner 1957, S. 319.
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SOZIOLOGIE SYMBOLISCHER FORMEN UND RITUELLER ORDNUNGEN
Aus der Bedingung der Aufzeichnung sozialen Handelns ergibt sich für die Auslegung zum anderen und gleichsam wie von selbst die Notwendigkeit der Deutung auch der medialen Form, in der das Handeln repräsentiert ist. Das vorliegende Filmdokument ist eine im Jahre 1978 für das ZDF im Fernsehstudio Hamburg hergestellte und 1979 ausgestrahlte Produktion. Die Aufzeichnung geschah also nicht ‚nebenbei‘, sondern diese Aufführung des Wuppertaler Tanztheaters richtete sich ausschließlich an das Medium und ist allein für die Rezeption durch ein mediales Publikum bestimmt. Anders als bei Mitschnitten ‚vor Ort‘ ist im Studio, wie in einer Art Laborsituation, alles einzig auf die Bedingungen und Erfordernisse des technischen Mediums eingestellt und zugerichtet. Aufgrund des damit gegebenen erhöhten Potentials zur Kontrolle und Präzision darf davon ausgegangen werden, dass der Sacre dem medialen Zuschauer so dargeboten wird, wie es die Initiatoren beabsichtigten. Ebenso wie die Musik, wie Akteure, Tanzbewegungen und Choreografie, Kostüme und Bühnenbild, die Bausch allesamt unverändert von der Theaterbühne in das Fernsehstudio überträgt, sind die Kameraarbeit und die mediale Nachbearbeitung alles andere als beliebig oder zufällig, sondern tragen Sinn und vermitteln Bedeutung. Denn, wie die übrigen Arrangements und Handlungen, ist die Wahl der Kadrierungen, sind Schwenks und Zooms nicht nur im Datum fixierte, sondern das Datum erst generierende Inszenierungsmittel und kommunikative Darstellungsformen, die gleich den anderen symbolischen Handlungen auszulegen sind. Auch für sie gilt: „forms are the food of faith“5 – es gibt keine sinnvolle Soziologie des Handelns, ohne eine Soziologie der Formen. Symbol und Rituale zählen zu den zentralen menschlichen Ausdrucksund Darstellungsformen. Dem von uns im Folgenden verwendeten wissenssoziologischen Symbol- und Ritualbegriff liegen anthropologische und phänomenologische Überlegungen zugrunde. Anthropologisch ist die Vorstellung der prinzipiellen Zeichengebundenheit menschlichen Darstellens, Wahrnehmens, Deutens und Verstehens (G.H. Mead, A. Gehlen, H. Plessner, E. Cassirer). Phänomenologisch ist die Betonung des transzendentalen Charakters von Symbolen: Als besondere Bedeutungsträger verweisen Symbole von einem gegenwärtig Gegebenen – einem aktuellen Wahrnehmungsdatum – auf ein gegenwärtig Abwesendes, das aber in der Erfahrung vermittels dieses Verweises mitvergegenwärtigt – ‚appräsentiert‘ – wird (E. Husserl, A. Schütz).6 Diese Charakterisierung schließt die insbesondere in der Mathe5 6
Vgl. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur, Frankfurt a.M.: Athenaion 1973, S. 25. Vgl. Alfred Schütz: Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, in: Ders.: Theorie der Lebenswelt 2. Die kommunikative Ordnung der Lebenswelt, Konstanz: UVK 2003, S. 119-197; ders./Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz: UVK/UTB 2003, S. 634-658.
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matik gebräuchliche Symboldefinition (Vertretungssymbolik) aus. Stattdessen betont sie, dass Symbole einerseits intersubjektiv konstituiert sind und „die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“7 stets in „symbolischen Formen“8 geschieht, und dass Symbole andererseits durch ihre Wirkung auf die kollektive Wahrnehmung, Orientierung und auf soziales Handeln Intersubjektivität absichern. Aus diesem Verständnis leitet sich der Ritualbegriff ab: Rituale sind Aktionsformen von Symbolen, verlangen also Tätigkeiten, wo andere Symbole ihre Kraft und Wirkung aus der fixierten Zeichengestalt ziehen. Allgemein lässt sich das Ritual daher charakterisieren als eine spezifische Verknüpfung von symbolischen Einzelhandlungen und Gesten in gleich bleibenden, vorstrukturierten, also intern geordneten Handlungsketten. Rituale repräsentieren Ordnungen, die im Handeln immer erst und immer wieder hergestellt werden müssen und die das Handeln überschaubar und vorhersagbar machen. Gegenstand wissenssoziologischer Analysen sind die symbolischen und rituellen, also sinnhaften, zeichenhaft repräsentierten und damit der Interpretation zugänglichen sozialen Handlungen. Wie die vorliegende Analyse exemplarisch zeigen will, geschieht die Untersuchung und Beschreibung menschlicher Handlungs-, Orientierungs- und Wissensformen durch die Rekonstruktion der Organisationsstruktur der verwendeten Symbole und Rituale ebenso wie der sozialen Situation derer, die sie im sozialen Handeln herstellen und einsetzen.9 Drei Sequenzen aus Bauschs medialer Inszenierung des Sacre wollen wir mit Blick auf das ästhetische Zusammen- und Gegeneinanderspiel der kommunikativen Ausdrucks- und Darstellungsformen betrachten, also hinsichtlich der sinnkonstituierenden Figurationen der im Datum wahrnehmbaren Handlungselemente.
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Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M.: Fischer 1969. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Band 1: Sprache, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. Vgl. Hans-Georg Soeffner: Protosoziologische Überlegungen zur Soziologie des Symbols und des Rituals, in: Rudolf Schlögl/Bernhard Giesen/Jürgen Osterhammel (Hg.): Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften, Konstanz: UVK 2004, S. 4172.
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R o n d e s p r i n t a n i è r e s 10 Entscheidend für die Auswahl der Rondes printanières als Einstieg in die Auslegung war, dass der mediale Zuschauer nach fast zehn Minuten das Ensemble zum ersten Mal als Ganzes in den Blick bekommt und dieses darüber hinaus über weite Strecken einheitliche Tanzbewegungen zu einer harmonisch anmutenden Musik ausführt.11 Erst diese Stelle, von der Kamera in einer Totalen eingefangenen, lässt erkennen, dass sich die Gruppe aus je vierzehn Tänzerinnen und Tänzern ungefähr gleicher Altersstufe mit sich stark ähnelndem, nämlich eher hagerem und athletischem Körperbau zusammensetzt. Die äußerst schlichte Kleidung identifiziert die Personen weder als Funktionsträger noch als Inhaber sozialer Positionen, sondern differenziert sie ausschließlich, dafür umso eindeutiger, in ihrer Geschlechtsidentität. Gleich Uniformen tragen die Frauen kurze und leicht transparente, hautfarbene Kleider; die mit entblößtem Oberkörper auftretenden Männer, in ebenso stereotyper Manier, eng anliegende schwarze Hosen. Stereotyp sind gleichfalls die wie bei Mädchen zu Pferdeschwänzen gebundenen langen Haare, während sich die Männer durchgehend mit Kurzhaarschnitten präsentieren. Verglichen mit der strengen Ordnung der Akteure unterliegt das Bühnenbild einer eher diffusen Dichotomie, denn der etwas unebene, dunkelbraune Boden geht ohne sichtbare Grenze oder Horizont in einen monochromen, tiefschwarzen Hintergrund, beziehungsweise Himmel über. Zu allen Seiten, dies suggeriert der das Ensemble in einer Totalen vorführende Bildausschnitt, setzt sich dieses Bühnenarrangement potentiell unendlich fort. Medial liegt dieser Totalen die Naheinstellung einer Szene voraus, welche die Rondes printanières einleiten. Diese Einstellung zeigt die Tanzbewegung einer einzelnen Frau inmitten einiger versetzt und regungslos voneinander abgewandt stehender, teils von den Bildrändern abgeschnittener Personen. Die dem Zuschauer frontal ansichtige Tänzerin hat die Arme an den Körper angelegt, ihr Gesicht abgewandt und den Kopf seitlich nach unten geneigt. Langsam senkt sie sich, ihre Knie zu den Seiten hin spreizend, mithin die Beine öffnend, in die Hocke. Noch bevor die Frau den tiefsten Punkt erreicht, nimmt die Kamera sie mit einem leichten Schwenk aus dem Bildzentrum, weicht zurück und vergrößert mittels Zoom den Ausschnitt zur Totalen. Diese Kamerabewegung begleitet die Herauslösung der Akteure aus ihrer Erstarrung 10 Die für dieses und die beiden folgenden Kapitel gewählten Überschriften – Rondes printanières (Frühlingsreigen), Jeux des cités rivales (Spiele der streitenden Stämme) und Danse sacrale (Opfertanz) – übernehmen die von Strawinsky für die entsprechenden Teilabschnitte seines Sacre vorgesehenen Titel. Vgl. Volker Scherliess: Igor Strawinsky – Le Sacre du Printemps, München: Fink 1982. 11 Vgl. DVD in Pina Bausch: Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer), Buch mit DVD, Paris: L'Arche Éditeur 2012, TC 09:12-12:15.
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und Isolation: Sie formieren sich zu einem Kreis, in den sich jene – die Bewegung und Formbildung einleitende – Tänzerin zuletzt, als der Reigentanz bereits beginnt, einfindet. Offenbar haben die Akteure ihren vorbestimmten Platz in der sich ausbildenden Form und kennen den Weg zu ihm, denn mehrheitlich gehen sie rückwärts, würdigen sich dabei keines Blickes und stoßen dennoch nicht aneinander. Entweder bewirkt eine Macht, der alle gleichermaßen unterliegen, die Formbildung nahezu magisch. Diese Macht müsste ihren Ort im Zentrum des Kreises haben, von dem aus sie den gleichen Abstand aller zu sich herstellt. Doch das Zentrum ist leer – ein Umstand, den ein rotes Tuch noch betont, das am Rand des Kreises auf dem Boden liegt und das an dieser Stelle die soeben mit der Kreisform hergestellte Symmetrie durchbricht. Damit erhebt sich die Frage nach der Ausdrucksgestalt der Macht und weshalb sie nicht mehr sinnlich wahrzunehmen, sondern allenfalls zu imaginieren ist. Oder es handelt sich um einen Verhaltensablauf, dem die Akteure auf einen bestimmten Reiz hin aus bloßer Gewohnheit und deshalb wie blind folgen. In den Worten Max Webers, um „ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Weise“ und damit „ganz und gar an der Grenze dessen, was man ein ‚sinnhaft‘ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann.“12 Doch auch der damit umschriebene Idealtypus des traditionalen Handelns gibt nur Teilantworten, ja drängt umso mehr auf die Beantwortung der Frage, weshalb das Zentrum unbesetzt ist und um welches Symbol die Gemeinschaft einmal tanzte. Zum Reigentanz haben sich die Akteure nach den Geschlechtern alternierend positioniert. Die gleichen Abstände zueinander einnehmend, blicken sie in dieselbe Richtung und beginnen, sich synchron zu bewegen. Signalisieren der Kreis als perfekte geometrische Form und die Kreisbewegung als unendliche Wiederkehr des Immergleichen schon an sich Geschlossenheit und Harmonie, so besteht die rituelle Leistung des Kreistanzes in der Aufhebung sozialer Gegensätze durch die Verknüpfung der Raum- und Zeitdimension. So lassen die durch die zyklische Bewegung angezeigte Stillstellung der Zeit und die durch Vereinheitlichung des Raumes markierte innere Schließung die Vorstellung eines sozialen Ganzen entstehen, in dem jeder den Platz des anderen einnehmen kann – und dessen mediale Entsprechung augenscheinlich die Totale ist. Wir wollen nur einige Aspekte kurz benennen, mit denen Bausch diesem – den genannten Inszenierungselementen vermittelten – Zusammenschluss und Ausgleich im selben Zuge entgegenarbeitet und somit in der Ritualdarstellung zugleich den Ritualbruch ästhetisch überformt vorführt. 12 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr 1985, S. 12.
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Zunächst fällt auf, dass sich der Reigen gegen den Uhrzeigersinn und den Lauf der Sonne, damit gegen den natürlichen Gang der Dinge dreht. Außerdem wird die den Reigentanz bestimmende Gleichförmigkeit an einer kurzen Stelle aufgelöst, an der die Geschlechter unterschiedliche Tanzbewegungen ausführen.13 Zuerst ist nicht zu entscheiden, welches Geschlecht die Differenz setzt und durch Abweichung den Bruch bewirkt. Doch dann sind es die Frauen, die von hinten an die Männer herantreten, sie mit beiden Händen vorsichtig an den Schultern berühren, die Köpfe sanft auf deren Rücken legen und sich schließlich mit dem ganzen Körper an die Partner schmiegen. Die Paare bewegen sich daraufhin in einem Gleichschritt nach vorne, nehmen diesen aber sofort wieder zurück, um sich sogleich voneinander zu lösen. Dabei ist bemerkenswert, dass sie sich auf die kurze Synchronbewegung hin wieder in verschiedene Richtungen drehen, so dass sie in der Trennung den Blick-kontakt vermeiden. Rückwärts gegen den Uhrzeigersinn rennend, stellen sie schließlich die ursprünglichen Abstände wieder her und kehren zur strengen Gleichförmigkeit der Bewegungen zurück. Die den Reigen in seiner Grundstruktur durchbrechende Berührung ist nicht die erste zwischen den Geschlechtern. In Bauschs Sacre gehen der – kaum anders als zärtlich zu deutenden – Geste der Frauen zwei von Männern eingeleitete körperliche Kontakte voraus.14 Angesichts des Umstandes, dass sich die Geschlechter über die gesamte Inszenierung hinweg kaum ansehen oder gar berühren, und in krassem Gegensatz zur Geste der Frauen, sind diese männlichen ‚Annäherungen‘ derart gewaltsam und sexuell aufgeladen, dass sie schon fast einer Vergewaltigung gleichkommen. Auch für einen letzten hier relevanten Aspekt sind die Blicke und Berührungen der Akteure entscheidend. Wenn der Reigen eine Tanzform ist, mit der die sozialen Gegensätze überwunden werden, dann ist der rituelle Höhepunkt der Übergang vom offenen in den geschlossenen Kreis. Aber selbst an jenen Stellen, an denen sich die Akteure in Richtung Zentrum drehen und sogar einen Schritt darauf hin und damit aufeinander zu machen, biegen sie zugleich Oberkörper und Kopf zurück und vermeiden den Blickkontakt.15 Entsprechend bleibt, auch wenn sie sich aufrecht stehend dem Zentrum zuwenden und sich ihre Blicke über die Leerstelle in der Mitte hinweg treffen, sie dabei die gestreckten Arme seitlich bis auf Schulterhöhe anheben und die Hände öffnen, so dass sie sich mit den Nebenstehenden überkreuzen, die – als beinahe unumgänglich erscheinende – Berührung konsequent aus.16
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Vgl. DVD Le Sacre du Printemps, TC 10:16-10:28. Vgl. ebd., TC 7:42-7:49 und 8:39-8:45. Vgl. ebd., TC 10:11, 10:16, 10:56, 11:16. Vgl. ebd., TC 11:18-11:25 und Abb. 1.
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Abb. 1: Standbild: Rondes printanières17 Noch vielmehr: Unmittelbar auf das Scheitern des Zusammenschlusses vollzieht sich an dem nun auch musikalisch durch Beckenschläge, Trompetenund Posaunenstöße angezeigten Höhepunkt des Reigens der zweimalige kollektive Zusammenbruch in der Vereinzelung18, bevor sich kurz darauf die Formation – abermals eingeleitet durch eine Tänzerin, die den Kreis zuerst verlässt – auflöst.19 Die Inszenierung lebt von der Spannung, dass die Tänzer den Kreis und den Reigen einerseits zwar nicht infrage stellen, andererseits aber das, was geometrische Form, kollektive Bewegung und nicht zuletzt Strawinskys Musik „an dieser harmonisch dichtesten Stelle des Werkes“20 sinnhaft nahe legen, uneingelöst lassen: Es eröffnet sich und verbleibt eine Differenz zwischen der Einheit stiftenden rituellen Figur und deren Performanz in der Aufführung. Zusammenfassend lassen sich drei Strukturprinzipien für die Inszenierung des Reigens erkennen. Erstens die Reduktion der Gestaltungselemente. Sie tritt deutlich in der Darstellung der Akteure hervor, setzt sich im Bühnenarrangement fort und findet ihre Aufnahme in der Kamerahandlung. Effekt dieser Reduktion ist das Hervortreten von Details und Gesten, die sich der Wahrnehmung und Deutung umso mehr aufdrängen. So etwa, dass Bausch die Aufzeichnung nur einer Kamera überantwortet, dass die Nachbearbeitung vollends auf Schnitt und Montage als den für das audiovisuelle Medium 17 Diese und die folgenden Abbildungen sind der DVD der Fernsehaufzeichnung des ZDFs von Pina Bauschs Inszenierung des Sacre aus dem Jahre 1979 (1. Ausstrahlung) entnommen. Vgl. auch DVD in Pina Bausch: Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer), Buch mit DVD, Paris: L'Arche Éditeur 2012. 18 Vgl. DVD Le Sacre du Printemps, TC 11:26-11:36. 19 Vgl. ebd., TC 12:08-12:15. 20 Vgl. V. Scherliess: Igor Strawinsky, S. 59.
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charakteristischen Ästhetisierungsmitteln verzichtet, und dass die Kameraarbeit ihre stärkste Reduktion als in die Totale ‚zurückgenommene‘ Einstellung erfährt. Doch die Aufgabe der Kamera erschöpft sich nicht im nüchternen Protokoll, denn sie zeigt das Geschehen aus einer Vorzugsperspektive,21 bewegt sich behutsam und sorgsam bemessen, bringt feine Korrekturen an und lenkt so nicht nur den Blick des Betrachters, sondern komplettiert die Bilder zu ästhetischen Gesamteindrücken. Die auf allen Handlungsebenen realisierte Reduktion bildet die Voraussetzung für das zweite Strukturprinzip: Den Antagonismus der Gestaltungselemente. So wird im Ensemble mittels Frisuren, Kleidung und Bewegungen die äußere Grenzziehung und innere Schließung der Geschlechter als einer elementaren Grundkategorie sozialer Orientierung22 dramaturgisch in Szene gesetzt. Das Spannungsverhältnis zweier Antipoden prägt auch das Bühnenbild. Die braune Erde ist konkret, greifbar und sinnlich-real (tatsächlich handelt es sich um feuchten Torf), sie steht für das Hier und Jetzt, für das, was Orientierung und Halt verspricht, weil es mit allem und allen anderen verbindet, schließlich für Natur, Ursprünglichkeit und nicht zuletzt für das Leben selbst. Ihr gegenüber ist das Schwarz des Himmels diffus. Es ist ebenso undurchdringlich wie unendlich, also das, worin man sich verliert, was auf Transzendenz und auf den Tod verweist. Zwischen dem Ensemble und dem Symbolgefüge von Kleidung und Bühnenraum wird damit ein die sozialen Kategorien scheidendes und sie zugleich charakterisierendes Verbindungsglied erkennbar: Hautfarben, transparent und zudem – dies vermittelt das im Verlauf des Sacre immer wieder zu beobachtende Anheben der Kleider, ihr Verrutschen und gegen Ende ihr Wechsel – hochgradig disponibel, koinzidiert die knappe Bekleidung der Frauen mit den Bedeutungsgehalten der Erde; auf der anderen Seite verbindet sich die wie eine zweite Haut eng anliegenden und ‚festgewachsenen‘, schwarzen Hosen der Männer mit dem Schwarz des Hintergrundes. Drittes Strukturprinzip ist schließlich die Wertung der über die Reduktion zur Geltung gebrachten Antagonismen: Besonders markant, weil moralisch, an jenen Stellen, an denen sich die Akteure über die Geschlechtergrenzen hinweg berühren und Bausch der vom Mann ausgehenden Gewalt die Zärtlichkeit der Frau entgegenstellt. Eine Wertung durchzieht aber auch die sich abzeichnende Opposition von Statik und Dynamik im Handeln der Geschlechter. Denn mit den – sich wie mechanisch, ohne individuelle Ausnahme in den rituellen Rahmen einfindenden – Männern, die mit Max Weber gesprochen, die vorgegebene Ordnung „dumpf“ und „in der einmal eingelebten Einstellung“ reproduzieren, kontrastieren zum einen jene beiden 21 Vgl. Abb. 1, die Kamera ist leicht erhöht und mittig zentriert. 22 Vgl. Erving Goffman: Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a.M./New York: Campus 1994.
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Frauen, die den Reigen einleiten bzw. auf unzeremonielle Weise auflösen und zum anderen der durch die kollektive Annäherung aller Frauen angesetzte Schnitt in der Synchronbewegung der Geschlechter.
J e u x d e s c i t é s r i va l e s Auch in der zweiten von uns ausgewählten Sequenz tanzen die Akteure synchron und räumlich eng, doch die Form unterscheidet sich grundlegend vom Reigen. Bausch übersetzt das von Strawinsky als Spiel wetteifernder Stämme konzipierte Thema in einen Konkurrenztanz, in dem Männer und Frauen dieselbe Musik unterschiedlich interpretieren und mit ihren Formationstänzen die Selbstbilder der Geschlechtergruppen zum Ausdruck bringen. Dabei erscheint der Tanz der Frauen sehr viel dynamischer und dramatischer – ein Eindruck, erzeugt und unterstützt vor allem durch die Verkopplung zweier Gestaltungselemente. Denn zum einen bringt die Kamera die Männergruppe kaum als Ganze zur Ansicht, während sie den Frauen Bildfolgen reserviert, in denen sie die Frauengruppe als Einheit, nämlich komplett, dazu von den Bildrändern unbeschnitten und synchron tanzend, präsentiert: Was der hier ausgesparte Schnitt und die Montage im Film leisten, übernimmt die Kamera durch Eigenbewegung und Kadrierung. Zum anderen führt die in unbewegter Einstellung eingefangene Synchronbewegung, zumal in ihrer geradezu außerordentlichen Redundanz und Komprimierung (die dicht gedrängte Gruppe wiederholt den komplexen Bewegungsablauf binnen einer Minute nicht weniger als achtzehn Mal), eine Geste vor, der die Männer nichts Vergleichbares entgegenzusetzen haben und welche die Frauen wie in keiner anderen Geste zusammenschließt, identifiziert und charakterisiert.23 So wie die Gesamtbewegung der Gruppe zugleich Bilder einer brandenden Welle, einer im Wind sich wiegenden Pflanze und eines werbenden, angreifenden oder sich verteidigenden Tieres, eines pulsierenden Organs und einer seelenlosen Maschine hervorzurufen vermag, ist auch die Einzelgeste selbst hochgradig ambivalent. Als Variation taucht sie an verschiedenen Stellen der Inszenierung auf: Im Reigen deutet das gesamte Ensemble sie an24, zu späterer Stelle bleibt sie den Frauen vorbehalten, die sie einzeln und nacheinander ausführen.25 Beide Male ist die Geste rund und weich, wirkt das Ausgreifen und Heranziehen wie ein Ausdruck des Verlangens nach Sozialität und wie ein Angebot zu körperlicher Nähe – im Reigen, zwischen den Geschlechtern, geht die Offerte ins Leere; an der angesprochenen späteren Stelle löst die Frauengruppe sie unter sich ein. Im Konkurrenztanz der 23 Vgl. DVD Le Sacre du Printemps, TC 14:37-15:41. 24 Vgl. ebd., TC 10:04-10:08. 25 Vgl. ebd., TC 18:33-19:14.
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Geschlechter bekommt die Geste jedoch eine andere Qualität. Erstens wird sie um ein überhöhend-auratisches Moment angereichert, wenn beide Arme eine weit über den Kopf ausladende Kreisbewegung beschreiben (vgl. Abb. 2) Zweitens verwandelt sich das Ausgreifen in ein Vorstrecken und das Heranziehen in einen ‚Rückschlag‘, bei dem die Spitze des Ellenbogens wie bei einer Selbsttötung in die Magengrube stößt und den Körper einknicken lässt. Versinnbildlicht die Geste einmal Selbstbehauptung und Beziehungsoffenheit, also zwei Bedingungen des Weiterlebens (in) der Gemeinschaft, ist sie das andere Mal ein Motiv der Unterwerfung und des Todes, und damit – wie im Falle des Selbstmordes oder einer Opferung – des Rückzugs (aus) der Gemeinschaft.
Abb. 2: Standbild: Jeux des cités rivales Die für den Reigen beschriebenen Strukturprinzipien finden sich somit in Bauschs Jeux des cités rival wieder. Das Basisprinzip der Reduktion weiter tragend und forcierend, unterstreichen die Formationstänze deutlich die Gegensätzlichkeit der Geschlechter. Darüber hinaus erhärtet sich die im Reigen bereits angedeutete größere Handlungsdynamik der Frauen. Zwar ist ihre Geste, der Musik entsprechend, hochgradig repetitiv, doch sie wirkt sehr viel drastischer, auffälliger und ästhetisch ansprechender als die eher konventionellen und ‚einfacheren‘ Bewegungen der Männer. Auch dieser Inszenierung ist eine Wertung inhärent, die ihren Ausdruck idealtypisch in jenem einzelnen, schwerfällig auf die dynamisch tanzende Frauengruppe zukommenden, schließlich vor ihr in völlige Regungslosigkeit verfallenden Mann findet.26
26 Vgl. ebd., TC 15:55-15:37 und Abb. 2.
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Danse sacrale Im Schlussstück erreicht die Erzählhandlung ihren Höhepunkt. Musikalisch „wirkt die Danse sacrale wie die Summe des bisher Gehörten,“27 und auch alle von uns identifizierten Strukturprinzipien finden sich hier wieder, ja sie werden, der dramaturgischen Steigerung folgend, so zusammengeführt, dass sie in der Verdichtung sogar noch konkreter hervortreten. Zunächst zu dem allen anderen Strukturprinzipien vorgängigen Moment der Reduktion: Während sich in den Rondes printanières das gesamte Ensemble noch beinahe vollendet synchron bewegt und zu einer fast geschlossenen Gemeinschaft formiert, sich in den Jeux des cités rivales dagegen bereits zwei Gruppen mit ihnen vorbehaltenden Tanzbewegungen voneinander scheiden, konzentriert sich schließlich die Handlung in der Danse sacrale auf nur noch zwei Hauptakteure. Sie repräsentieren – so unsere aus der bisherigen Auslegung hergeleitete und im Folgenden vertretene These – über ihr Geschlecht und mit ihrem Tanz nicht nur idealtypisch zwei unterschiedliche soziale Kategorien, sie bringen auch ein spezifisches „Arrangement der Geschlechter“28 zur Aufführung und zeichnen darüber hinaus das Bild einer Interpretation der modernen Gesellschaft. Bauschs Danse sacrale präsentiert die beiden Hauptakteure als radikale Antipoden. Wie in Zeitlupe legt sich der Tänzer zu Boden und hebt die ausgestreckten Arme. Diese Geste, die er über die gesamte Schlussszene von immerhin fünf Minuten in vollkommener Regungslosigkeit durchhält, leitet den letzten Tanz und damit den ‚Tod‘ der Tänzerin ein, der sich denn auch unmittelbar in einem ersten Zusammenbruch ankündigt.29 Ehe es jedoch zum Finale kommt, stellt Bausch der vollkommenen Erstarrung die höchste Dynamik entgegen. Im Todestanz wiederholt die Tänzerin die Gesten der Vergemeinschaftung aus den Rondes printanières und den Jeux des cités rivales, bevor sie unmittelbar vor ihrem Zusammensinken die Arme mehrmals in derselben Art und in dieselbe Richtung empor reckt wie der am Boden verharrende Tänzer (vgl. Abb. 3). In beiden Fällen weist bzw. greift die Geste ins Leere, und für beide Akteure endet das Ritual gleich, denn auch die letzte rituelle Geste, die auf der Brust überkreuzten Arme, signalisiert, wie beispielsweise aus den Grabmalen altägyptischer Pharaonen überliefert, den Tod (vgl. Abb. 4).
27 Vgl. V. Scherliess: Igor Strawinsky, S. 78. 28 Vgl. E. Goffman: Interaktion und Geschlecht, S. 105-158. 29 Vgl. DVD Le Sacre du Printemps, TC 29:58-30:40.
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Abb. 3: Standbild: Danse sacrale – Geste Aber selbst der Tod vereint die beiden Akteure nicht. Die finalen Körperhaltungen sind so verschieden, wie sie für zwei auf dem Boden liegende Personen nur sein können: Weit voneinander entfernt, liegt er auf dem Rücken und sie auf dem Bauch, weist sein Körper in die eine und ihrer in die andere Richtung – ein Arrangement, in dem sich nichts mehr zusammenfügt und das mit dem individuellen zugleich den sozialen Tod anzeigt. Denn die Zerrissenheit des Paares spiegelt sich auch in den von den Umstehenden vollführten Bewegungen und in der von ihnen gebildeten Form wieder. Was sich im Reigen andeutete, ist nun vollends ersichtlich. Der Kreis ist nur noch Fragment, die Gemeinschaft eine bloße Zusammenwehung Vereinzelter, die auch der Rhythmus der Musik einander nicht mehr anzugleichen vermag, und die nur noch eines gemeinsam haben: Sie teilen die Aufmerksamkeit auf ein Ereignis, das entweder niemanden mehr wirklich berührt und sie aus diesem Grunde teilnahmslos macht, oder das alle gleichermaßen erschüttert und deshalb versteinern lässt. In diesem Licht kann auch die mediale Darstellungsform gelesen und gedeutet werden. In der Danse sacrale durchmisst die Kamera nochmals ihr gesamtes Handlungsspektrum: Aus einer Naheinstellung schwenkt sie leicht und zoomt in die dann festgestellte Totale. Formal wiederholt sie damit die Kameraarbeit aus den Rondes printanières und legt den Vergleich der beiden Situationen nahe. Doch nun zeigen jene dominante Perspektive und Einstellung, die das Einfangen eines Ganzen suggerieren, eine zersplitterte Gemeinschaft – ein Eindruck, den der ‚Abschnitt‘ seitlich über die Bildränder ‚hinauswandernder‘ Akteure noch unterstützt (vgl. Abb. 4). In der abschließenden Einstellung erfährt das Zusammenspiel aus theatraler Aufführung und medialer Aufzeichnung – der Dramaturgie folgend – somit 245
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eine letzte Steigerung. Denn das durch die Überschreitung der Bildränder vermittelte Auseinanderfallen der Gemeinschaft bezieht den medialen Betrachter – der Paradoxie noch nicht genug – in das Rund der Beziehungslosen ein und komplettiert so das Fragment zu einem neuen ‚Ganzen‘, bestehend aus Akteuren und Rezipienten. Diese Einbindung bekräftigt eine vom Betrachter über die beiden am Boden liegenden Körper und das Zentrum hinweg zu den dahinter Stehenden reichende Verbindungslinie: Sie versichert ihn nicht nur darüber, dass er sich mit den anderen auf gleicher Augenhöhe, sondern auch in gleichem Abstand zu den Toten und damit letztlich zum Zentrum des Kreisfragments befindet.
Abb. 4: Standbild: Danse sacrale – Schlussbild Wie in den Rondes printanières bleibt das eigentliche Zentrum unbesetzt. Doch um diese Leerstelle herum hat sich das soziale ‚Ganze‘ im rituellen Handeln selbst eine neue Sinnfigur für Gesellschaftlichkeit geschaffen. Dieses Symbol – die als Standbild fixierte Figuration aus ‚Paar‘, Umstehenden und Betrachter – repräsentiert eine spezifische, fragmentierte Ordnung der Gesellschaft und ist das Abbild der Struktur ihrer Sozialbeziehungen. Das Ritual, der Tanz, aus dessen Entfaltung das Symbol am finalen Höhepunkt hervorgeht, ist der Prozess der Selbstauslegung und Selbsttypisierung einer Gesellschaft, die sich, indem sie sich zur Aufführung bringt, als das erfährt und ihren Mitgliedern vor Augen führt, was sie ist; und die mit der medialen Aufzeichnung und technischen Reproduktion in die Lage kommt, ihr Sosein nicht nur anders darzustellen und wahrzunehmen, sondern ihre symbolischen Formen und rituellen Ordnungen methodisch-kontrolliert auszulegen und damit anders zu deuten und neu zu verstehen. Unsere Fallanalyse kann somit zeigen, dass das Ritual mehr ist als die Aktionsform des Symbols. Das Ritual 246
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ist jener soziale Handlungszusammenhang, dessen konkreter Verlauf oder phantasierter Entwurf erstens das Urbild für die symbolische Form abgibt, in dem die symbolische Form zweitens in sozialer Wechselwirkung ausgehandelt und immer wieder neu ausgehandelt wird, und für den sie wiederum schließlich drittens als Abbild die räumlich und zeitlich aufs stärkste verdichtete Darstellungs- und Kommunikationsform bereit stellt.
S ym b o l d e r Z e r s e t z u n g – g e s t ö r t e r i t u e l l e O r d n u n g Das Frühlingsopfer gehört zu den ältesten Kollektivritualen der Menschheit. Den Anstoß für Igor Strawinskys „Vision einer großen heidnischen Feier“ gab wahrscheinlich Sergei Mitrofanovic Gorodeckijs Gedicht Man errichtet Jarilo, in dem dieser in der 1907 erschienen Sammlung Jar‘ den Hergang eines Frühlingsopfers im vormodernen Weißrussland schildert.30 Das slawische jar’e bedeutet Frühling, jaryi steht für hell, kräftig, stürmisch und jung, jarovyj oder jar’e für das Getreide, und schließlich bezeichnet jenes in der Überschrift des Gedichtes genannte jarilo den heidnischen Gott, dem man die Jungfrauen darbringt. Die am weitesten zurückreichenden Darstellungen schildern Jarilo als Fruchtbarkeit spendenden Liebes- und Sonnengott, um den sich die Gemeinschaft im rituellen Reigentanz wie ein Sonnenrad dreht.31 Der Gott trägt ein langes, helles Gewand, hat ein Hirschgeweih auf dem Kopf, hält ein Getreidebündel in der einen, einen menschlichen Totenschädel in der anderen Hand und darüber hinaus weiß das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, dass „dieser Jarilo [...] stets von einem als Mann verkleideten Mädchen dargestellt“32 wird. Indem diese Figur Pflanze und Tier, Mensch und Gott, Frau und Mann, Natur und Kultur, Leben und Tod zu einer paradoxen Einheit verknüpft, leistet sie, was Symbole grundsätzlich auszeichnet: Die Ermöglichung der Erfahrung einer außeralltäglichen Wirklichkeit und die gleichzeitige Vorführung und Überwindung von Gegensätzen.33
30 Vgl. V. Scherliess: Igor Strawinsky, S. 86f. 31 Vgl. Felix Haase: Volkstum und Brauchtum der Ostslaven, Hildesheim/New York: Olms 1980, S. 97f. 32 Vgl. Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin, Leipzig: De Gruyter 1931, S.165f. Vgl. ebenso F. Haase: Volkstum und Brauchtum der Ostslaven, S. 103. Sowie vgl. die Darstellung Jarilos in der Interpretation von Strawinskys Sacre in dem Film von Thomas Grube/Enrique Sánchez Lansch: Rhythm is it. You can change your life in a dance class, Vertrieb: Boomtown Media International 2005. Kritisch gegenüber dieser Deutung der Figur Jarilo: Vgl. Katherina Zakravsky: Re-Membering ,Le Sacre‘, in: Krassimira Kruschkova/Nele Lipp (Hg.): Tanz anderswo: intra- und interkulturell, Jahrbuch Tanzforschung, Bd. 14, Münster: Lit 2004, S. 205–233. 33 Vgl. H.-G. Soeffner: Protosoziologische Überlegungen, S. 50ff.
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So wie das beispielhaft in der Figur des Jarilo verkörperte Symbol die Widersprüche hervorkehrt und glättet, indem es die Grenzen signalisiert und überwindet, Unterschiedliches in sich aufnimmt und miteinander verbindet, damit Gemeinschaftshandeln ermöglicht und Gemeinschaften konstituiert, markiert auch das Ritual die Unterschiede zwischen den Gesellschaftsmitgliedern und vermag zugleich diese Differenz in der Gemeinschaftsaktion des Tanzes, durch die Kettung der Akteure an gemeinsame Handlungsgitter, an einen gemeinsamen Handlungsakt und Rhythmus, im Hegelschen Sinne ‚aufzuheben‘. In Bauschs Sacre ist das aus der Vormoderne überlieferte Symbol nicht mehr existent, und was an seine Stelle tritt, versinnbildlicht nicht den Ausgleich, sondern schreibt die Zersetzung fest. Nur konsequent unterläuft die Inszenierung denn auch die klassische Interpretation des Frühlingsopfers und präsentiert eine gestörte rituelle Ordnung. Traditionell sind alle Opferhandlungen Versöhnungsgesten und zielen auf eine am Ende herzustellende Harmonie, wofür das Ritual die das Opfer motivierenden Spannungen entfaltet, um sie allmählich aneinander heranzuführen und die Versöhnung einzuleiten. Bei Bausch dagegen wird zwar die Versöhnung immer wieder angedeutet, aber nicht eingelöst. Vielmehr gehorcht die Inszenierung einer eigenen Dramaturgie, wenn sie, durchzogen mit den von uns beschriebenen Strukturprinzipien, allein auf die Differenzierung und Distanzierung der Geschlechter abhebt. Das Symbol, das in der archaischen Gesellschaft diese Differenz als Sinnfigur einst überbrückte, hat sich in der Moderne zersetzt. Das Ritual, das die archaische Gesellschaft mit kollektiven Handlungen zu kollektiven Haltungen zusammenführte und so die sozialen Distanzen verringerte, verselbständigte sich zu einem destruktiven Mechanismus der Grenzziehung und Entfremdung. Weil die Moderne den spezifischen Problemhintergrund, vor dem die einst für heilig gehaltenen Symbole und Rituale ihren Sinn und ihre Bedeutung hatten, ausgewechselt hat, verlangen auch die Darstellungs- und Handlungsformen nach Veränderung. Die Erneuerung und mit ihr die Befreiung aus den überkommenen gesellschaftlichen Verhältnissen, die Entwicklung von solchen Verhaltensformen zwischen den Geschlechtern, die den sich wandelnden Bedingungen und Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens in modernen Gesellschaften angemessen sind, aber kann (wenn überhaupt) – und dies ist die von Bausch gelegte Grundstruktur und die politisch-wertende Aussage ihrer Inszenierung – nur durch ‚die Frau‘ angestoßen und verwirklicht werden. Als das dynamische Prinzip kämpft das Weibliche, das Bausch mit dem Natürlichen, dem Konkreten und dem sozial Verbindenden, ja mit dem Leben selbst gleichsetzt, gegen seine Antipode: Die durch das Männliche verkörperte Routine, Statik, Undurchdringlichkeit und den Tod. Bauschs Sacre führt vor, mit welchen Mitteln sich die Bewegung gegen 248
SOZIOLOGIE SYMBOLISCHER FORMEN UND RITUELLER ORDNUNGEN
das Erstarrte durchsetzen könnte. Noch allerdings erweist sie sich als zu schwach: Sie unterliegt, fügt sich und das Soziale stirbt mit ihr.
Literatur Bächtold-Stäubli, Hanns (Hg.): Handwörterbuch des Aberglaubens, Band III, Berlin/Leipzig: De Gruyter 1931. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 7–43. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M.: Fischer 1969. Dilthey, Wilhelm: Die Entstehung der Hermeneutik, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band V, Stuttgart: Teubner 1957, S. 317–338. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, Frankfurt a.M.: Athenaion 1973. Goffman, Erving: Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a.M./New York: Campus 1994. Haase, Felix: Volkstum und Brauchtum der Ostslaven, Hildesheim/New York: Olms 1980. Raab, Jürgen/Tänzler, Dirk: Video Hermeneutics, in: Hubert Knoblauch/ Schnettler, Bernt/Raab, Jürgen/Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Video-Analysis – Methodology and Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociology, Frankfurt a.M.: Lang 2006, S. 85–97. Raab, Jürgen: Körperbilder. Über Rationalität und Irrationalität des Körpers im Interaktionsgeschehen, in: Dirk Tänzler/Hubert Knoblauch/HansGeorg Soeffner (Hg.): Zur Kritik der Wissensgesellschaft, Konstanz: UVK 2006, S. 235–256. Scherliess, Volker: Igor Strawinsky – Le Sacre du Printemps, München: Fink 1982. Schütz, Alfred: Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, in: Ders.: Theorie der Lebenswelt 2. Die kommunikative Ordnung der Lebenswelt, Konstanz: UVK 2003. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz: UVK/ UTB 2003. Soeffner, Hans-Georg: Die Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung, Konstanz: UVK 2004. Ders.: Protosoziologische Überlegungen zur Soziologie des Symbols und des Rituals, in: Schlögl, Rudolf/Giesen, Bernhard/Osterhammel, Jürgen (Hg.): Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in 249
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Dis/tanzraum. Ein k uns this torisc he r Ve rsuc h über die politisc he Ik onografie von Pina Bauschs Le Sac re du Printemps
„Sie [Pina Bausch] sagte, im Grunde interessiere es sie wenig, wie sich die Menschen bewegten oder wie sie gingen. Sie wolle vielmehr wissen, was sie bewege und was in ihnen vorgehe.“1
1. Auftakt oder Genius loci - Wer als Kunsthistoriker über Theater, Tanz oder Ballett spricht, tut dies in Deutschland an kaum einem berufeneren Ort als im Hamburger Warburg-Haus. Wenn dann auch noch Igor Strawinskys Ballett Le Sacre du Printemps, uraufgeführt am 29. Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs Elysées,2 auf der Tagesordnung steht, rückt man nicht nur sachlich und fachlich, sondern auch historisch in die Nähe der Epoche machenden Forschungen des Gründers der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek. Denn Aby Warburg hatte im Jahr zuvor auf dem Internationalen KunsthistorikerKongress in Rom mit seiner Dechiffrierung des Programms der Fresken des ferraresischen Palazzo Schifanoja für Aufsehen gesorgt und der Ikonologie als Forschungsrichtung zum Durchbruch verholfen. Ohne kulturwissen1 2
Jochen Schmidt: Pina Bausch: Das permanente Ärgernis, in: Hedwig Müller/ Norbert Servos: Pina Bausch – Wuppertaler Tanztheater. Vom „Frühlingsopfer“ bis „Kontakthof“, Köln 1979, o.S. Durch die Compagnie Les Ballets Russes, Choreographie Vaslav Nijinsky, Dirigent: Pierre Monteux.
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schaftliche Grundlegung ließ sich Kunstgeschichte fortan nicht mehr sinnvoll denken.3 Dem Konzept, die Kunstgeschichte als problemorientierte Wissenschaft kulturhistorisch zu fundieren und dadurch den Nachbardisziplinen eng zu assoziieren, war auch der seit 1905 betriebene Aufbau einer eigenen Forschungseinrichtung gewidmet.4 Seit seinen Tagen als Realgymnasiast bildete Lessings „Laokoon“ mit der Frage nach den Gesetzen und Grenzen der einzelnen Künste eine der Programmschriften von Warburgs Nachdenken über die wechselseitige Erhellung der Künste (und Wissenschaften).5 Als Historiker suchte er jene Einheit des kulturellen Lebenszusammenhangs zu rekonstruieren, dem die jeweiligen Kunstwerke entstammten. Kontext wäre ein möglicher, wenn auch zu schwacher moderner Ausdruck für das dichte Gefüge aus Religion, Philosophie, Politik, Literatur, Musik und Tanz, aus dem heraus ein Werk der bildenden Kunst wie z.B. das in Warburgs Dissertation von 1893 ausführlich behandelte Botticelli-Gemälde Der Frühling (vgl. Abb. 1) verstanden sein wollte.6 Der Kunstgeschichte mit ihrer kennerschaftlich aufgefassten Stilgeschichte war es bis dahin nicht gelungen, den Formen- und gedanklichen Anspielungsreichtum des mediceischen Programmbildes angemessen zu entfalten.7 Warburgs „ganzheitliche“, plurale Methode verhalf dazu, die literarischen, intellektuellen und kulturellen Quellen des Bildes zu erschließen und damit dem Kunstwerk seinen historischen Sitz im Leben der Florentiner Renaissance-Gesellschaft zurück zu gewinnen. 3
4
5 6 7
Warburgs Vortrag ist unter dem Titel Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara (1912) wieder abgedruckt in der Neuausgabe der Gesammelten Schriften. Studienausgabe, hg. von Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998, Bd. I.2, S. 459-482. – Zum Rang dieses Beitrages für die Kunstgeschichte siehe Martin Warnke: Vier Stichworte: Ikonologie-Pathosformel-Polarität und Ausgleich-Schlagbilder und Bilderfahrzeuge, in: Werner Hofmann/Georg Syamken/Martin Warnke: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt a.M.: Europäische Verlangsanstalt 1980, S. 54-83; vgl. auch Andreas Beyer (Hg.): Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie, Berlin: Wagenbach 1992. Vgl. dazu Michael Diers: Warburg aus Briefen. Kommentare zu den Briefkopierbüchern der Jahre 1905-1918, Weinheim: Wiley 1991; Tilmann von Stockhausen: Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg: Architektur, Einrichtung und Organisation, Hamburg: Dölling und Garlitz 1992; Salvatore Settis: Warburg continuatus: Description d’une bibliothèque, in: Marc Baratin/ Christian Jacob (Hg.): Le pouvoir des bibliothèques, Paris 1996, S. 122-169. Vgl. Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 1992, 41 u. passim. Sandro Botticellis Geburt der Venus und Frühling (1893), wieder abgedruckt in: Warburg: Gesammelte Schriften, Bd. I.1, S. 1-60. Dazu ausführlich Horst Bredekamp, Sandro Botticelli: La Primavera. Florenz als Garten der Venus, Frankfurt a.M.: Fischer. 4. Aufl. 1996 (= Reihe kunststück).
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Abb. 1: Sandro Botticelli, Der Frühling, um 1486, Tempera/Holz, 203 x 314 cm, Galleria degli Uffizi, Florenz Dass die Untersuchung des „äußerlich bewegten Beiwerks“, sprich der Draperien und der flatternden Haare der dargestellten Figuren, für Warburg ein Leitgedanke seiner Forschung gewesen ist, muss nicht mehr betont werden. Das Interesse der Künstler an der Darstellung „gesteigerter äußerer Bewegung“ ging, so Warburgs These, auf die konkrete Auseinandersetzung mit antiken Vorbildern zurück. Im „bewegten Beiwerk“, den modischen Accessoires vornehmlich weiblicher Gestalten in der Malerei des Quattrocento, erkannte Warburg allerdings mehr als eine bloße Übernahme der Formensprache der Antike.8 Er sah darin vielmehr mit Nietzsche und Burckhardt auch die dionysisch anstachelnden, dämonisch finsteren Züge des Altertums wirksam werden, eine Auffassung, die der durch Winckelmann geprägten klassizistischen Vorstellung von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ widersprach.9 Warburg lenkte das Interesse auf die unbeachteten Aspekte der Leidenschaft, der heftigen Gefühlsregung und des Kampfes, die den „Superlativen der Gebärdensprache“ alias Pathosformeln, wie Warburg die Topoi
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Vgl. dazu Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Bewegungsfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Fischer 1995, 149-159, und dies.: Ein Stück in Tüchern. Rhetorik der Drapierung bei A. Warburg, M. Emmanuel, G. Clérambault, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 4, Berlin 2000, S. 105139. Ausführlicher dazu Michael Diers: Die Gegenwart der Bilder. Zur Erinnerung der Antike bei Aby Warburg, in: Ders.: FotografieFilmVideo. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg: Philo 2006, S. 299-332.
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und Stereotype im Repertoire von Gestik und Gewandmotiven genannt hat, abzulesen waren.10 Die Idee, der Bewegung und ihren Darstellungsmodi nachzuforschen, ist für Warburg seit den Botticelli-Forschungen eine wichtige Maßgabe geblieben. Tanz und Theater spielen in diesem Zusammenhang als Untersuchungsfelder eine zentrale Rolle (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Bildtafel zum Motivkreis „Reigen – Der Tanz der Salome“, Fotografie, späte 1920er Jahre Die Auseinandersetzung reicht von der griechischen Frühzeit bis zur Gegenwart, vom Tanz der dionysischen Mänaden und der mittelalterlichen Morisken über die frühneuzeitlichen Ballette und Intermedien an italienischen oder französischen Höfen bis zu den Tänzen der Hopi-Indianer (vgl. Abb. 3).11
10 M. Warnke: Vier Stichworte, S. 61ff. 11 Siehe dazu das Register der Gesammelten Schriften (wie Anm. 3) s. v. Tanz und Tanzspiel; vgl. auch Aby Warburg: Das Schlangenritual, hg. von Ulrich Raulff, Berlin 1988 (= Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek); Kurt W. Forster: Die Hamburg-Amerika-Linie, oder: Warburgs Kulturwissenschaft zwischen den Kontinenten, in: Aby Warburg: Akten des internationalen Symposions Hamburg
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Abb. 3: Aby Warburg, Hamis Katchinas und Manas in einer Reihe beim Tanz in Oraibi, Arizona, Mai 1896, Fotografie Zentral- und Idealfigur des Programms dynamischer und zugleich ästhetischer Bewegung („jene schwungvoll selbstbewußte Schönheit“12) ist für Warburg die so genannte Ninfa geworden, „die [nach antikem Vorbild geschaffene] lebensvolle Gestalt der herbeieilenden Dienerin“, oder, wie es an anderer Stelle heißt, die „junge Frau in laufender Bewegung“13 (vgl. Abb. 4). Kaum zufällig nimmt in einer historisch wie zeitgenössisch ‚modernen‘ weiblichen Figur das Problem konkrete Gestalt an, um das Warburgs Werk kreist: Das Hin und Her zwischen Mythos und Logos, Affekt und Rationalität, Angst und Leidenschaft, Macht und Ohnmacht, Distanz und Nähe. Die Funktion bildhafter Gestaltung im Prozess des zivilisationsgeschichtlichen, bis heute vernehmlichen Pendelgangs zu untersuchen, stellt die zentrale Aufgabe von Warburgs Studien dar. Unter den zahlreichen Zeugnissen für das bislang noch nicht eingehend untersuchte wissenschaftliche Interesse Warburgs am Tanz14 findet sich auch ein zeitgenössisches Gemälde aus dem Warburgschen Familienbesitz, das in den zwanziger Jahren in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek prominent platziert war. Carl Bantzers „Schwälmer Tanz“ (vgl. Abb. 5) porträtiert im Breitformat und in ungewöhnlicher Nahsicht ein hessisches Volksfest.
1990, hg. von Horst Bredekamp/Michael Diers/Charlotte Schoell-Glass, Weinheim: Wiley 1991, S. 11-37. 12 A. Warburg: Gesammelte Schriften, I.1, S. 66. 13 Ebd., S. 65. 14 Vgl. G. Brandstetter: Tanz-Lektüren, insb. S. 148ff.
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Die fliegenden Röcke und Tücher der jungen Frauen skandieren den musikalischen Rhythmus und zeigen den tänzerischen Schwung an.15 Für Warburg bestätigte dieses bäuerliche „Lebensbild“ der Jahrhundertwende, ein Hauptwerk des Malers, die These vom Fortleben einer Formensprache, die mittels äußerer Bewegung innere, psychische Energien einer Epoche zum Vorschein bringt. Angedeutet werden sollte durch diese Ausführungen zum ‚Standort‘, dass Warburgs unter den Schutz der Mnemosyne gestelltes Forschungsprogramm, das dem Phänomen der „Erneuerung der heidnischen Antike“16 in der Renaissance gewidmet war, und Strawinskys musikalisch-theatralisches Sacre-Projekt, das den Untertitel „Bilder aus dem heidnischen Rußland“ trägt, einander in mancher Abb. 4: Domenico Ghirlandaio, Hinsicht ähneln: Der Kunsthistoriker Geburt des Johannes (Detail), 1486, wie der Künstler fragt nach dem Fresko, Florenz, S. Maria Novella, Ursprung und Fortwirken paganer Capella Tornabuoni Domenico Mythen und Rituale in der Gegenwart. Ghirlandaio Strawinsky tut dies in seiner „oeuvre fauve“ (Jean Cocteau17), die bereits, wie Theodor W. Adorno geschrieben hat, „vom Lärm des kommenden Krieges“ widerhallt18, um „durch die Imitation von Wilden [...] mit wunderlich-sachlicher Magie davor [zu] behüten, dem Gefürchteten zu verfallen.“19 Indem Warburg als Wissenschaftler über die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge „bildlicher Ursachensetzung“ aufklärt,
15 Siehe den Ausstellungskatalog Carl Bantzer (1857-1941) – Aufbruch und Tradition, hg. von Bernd Küster/Jürgen Wittstock, Marburger Universitätsmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Bremen 2002; vgl. auch Renate Scharffenberg/ Carl Bantzer: Aufbruch und Tradition. Die Ausstellung im Marburger Universitätsmuseum (www.philosophia-online.de/mafo/heft2002-03/Carl_Bantzer.htm). 16 So lautet der Haupttitel der ersten beiden Bände von Warburgs Gesammelten Schriften; der Untertitel verweist auf Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. 17 Zit.n. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik [1949], Frankfurt a.M.: Ullstein 1969, S. 129. 18 Ebd., S. 137. 19 Ebd., S. 138.
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Abb. 5: Carl Bantzer, Schwälmer Tanz, 1898, Öl/Lwd., 95 x 165 cm, Universitätsmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Marburg handelt er von der eigenartigen Doppelfunktion von Bildern und Symbolen, die einerseits, z.B. im Kult, die Distanz zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben und da – durch den lebensnotwendigen Denkraum zu zerstören vermögen, und andererseits, im Fall der Künste, Distanz und Denkraum schaffen und einrichten können. Für den Musiker, dessen schockierende Klänge und Rhythmen die Körper der Tänzerinnen und Tänzer ‚befehligen‘ und über sich hinaustreiben (vgl. Abb. 6), wie für den Gelehrten, der ‚exaltierten‘ Körperaktionen in stumm beredten geschichtlichen oder zeitgenössischen Bildzeugnissen nachforscht, geht es, kurz gefasst, um die Bestimmung der historisch-anthropologischen Grundlagen der Kultur, oder anders, mit Walter Benjamin gesagt, um die Dialektik von Kultur und Barbarei.
Abb. 6: Pina Bausch: Le Sacre du Printemps (1975/2000), Foto: Ursula Kaufmann
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2. Das Tanzkleid oder mehrere Farben Rot – Den Historiker interessiert im Fall von Pina Bauschs Choreografie von Strawinskys Le Sacre du Printemps neben dem Stück selber insbesondere auch dessen Situierung in der Zeit. Ausgangspunkt des vorliegenden Versuchs ist daher die Frage, warum Pina Bausch im Jahr 1975, kurz nach Übernahme der Direktion der TanztheaterSparte der Wuppertaler Bühnen20 auf Strawinskys legendäres, vormals skandalumtostes „Frühlingsopfer“ zurückgreift.21 Nach Tanzoper-Aufführungen und Tanzabend-Choreografien ist es das erste (und bis dato letzte) Mal, das sie ein Ballett der klassischen Moderne für eine Inszenierung wählt. Dem Sacre-Teil stellt sie zwei weitere Choreografien zu StrawinskyKompositionen voran und fasst die drei Stücke unter dem Gesamttitel Frühlingsopfer zusammen. Während die ersten beiden Teile (Wind von West und Der zweite Frühling) das Verhältnis der Geschlechter im Kontext von Zweierund Gruppenbeziehungen zum Gegenstand haben und deutlich gegenwartsbezogen aufgefasst sind,22 wendet sich das abschließende Ballett der locker gereihten Trilogie mit dem Sujet von Opfer und Tanz der allgemeinen Frage nach Leben und Tod zu und damit scheinbar fort von Alltags- und Aktualitätsproblemen. Zwar bleibt auch jetzt die Frage des Geschlechterverhältnisses virulent, sie wird aber vor der Folie von heidnischem Mythos und Ritual historisch weiter abgerückt und stärker ins Grundsätzliche der Conditio humana gewendet. Für die choreografische Nacherzählung des Stoffes, den die in elf Sätze gegliederte Musik beisteuert, hat Bausch als Leitfaden ein Kleid gewählt (vgl. Abb. 7). Indem es den dramaturgischen und zugleich dramatischen Mittelpunkt der Geschichte bildet, steigt das scharlachrote Hemd über den Rang eines herkömmlichen Requisits oder Kostüms weit hinaus. Um dieses strahlend leuchtende Gewand, das die vor dunklem Hinter- und Untergrund eher hautfarbenblass gehaltene Szenerie wie ein Lichtpunkt pointiert, wird der 20 Die Übernahme erfolgte mit der Spielzeit 1973/74. 21 Le Sacre du Printemps wurde am 3. Dezember 1975 an den Wuppertaler Bühnen uraufgeführt; Bühne und Kostüme Rolf Borzik, Spieldauer ca. 2 Stunden. Siehe auch den „theaterzettel 7“ der Wuppertaler Bühnen für die Spielzeit 1975/76 mit einem einführenden Text von Edmund Gleede. Der Autor weist unter anderem auf die Aktualität des Stückes hin, indem er schreibt: „Niemand hat mit seiner Musik die Ballettschöpfer so provoziert und angespornt wie er [Strawinsky]. Kein Wunder, daß unter den bedeutenden Choreografen unserer Zeit keiner mehr an Strawinskijs ‚Le Sacre du Printemps’ vorbeigehen kann: Allein in den vergangenen fünf Jahren haben sich Erich Walter, John Neumeier, Glen Tetley, Hans von Manen und nun auch Pina Bausch mit dieser ‚Atombombe der Musik‘ (Honegger) auseinandergesetzt [...].“ 22 Siehe dazu H. Müller/N. Servos: Pina Bausch, Kapitel „Frühlingsopfer“, o.S.
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Bericht über den durch religiöse Ideologie legitimierten und durch die Mitglieder ihrer Gruppe exekutierten freiwilligen Opfertod einer jungen Frau ausgesponnen.
Abb. 7: Standbild: Bausch, Le Sacre du Printemps Stoffe, Tücher und Kleider sind ein häufig behandeltes literarisches Sujet. Es reicht von den Mythen und Märchen bis zur Novellen-, Roman- oder Filmliteratur der Gegenwart. Auch die bildende Kunst hat diesen Gegenstand vielfach aufgegriffen und dargestellt – vom Nessushemd des Herakles bis zum geteilten Mantel des hl. Martin, vom Kleid der Kaiserin Adelheid (vgl. Abb. 8) bis zum BadeAbb. 8: Kaiser Otto und Adelheid, Buchholzschnitt aus „Historie von Herzog Ernst von Bayern und Österreich“, Augsburg, Anton Sorg um 1480
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Abb. 9: Simone Martini-Umkreis (Barna da Seina?), Johannes der Täufer, um 1340/50, Tempera/Holz, 108 x 50,8 cm, Lindenau Museum, Altenburg
tuch der keuschen Susanna. Der Farbe kommt dabei in der Regel eine besondere Kennzeichnungsfunktion zu. Purpurrot z.B. ist seit Alexander dem Großen die Farbe von Königen und hohen Beamten, Rot kann aber auch Ausgrenzung und Randständigkeit signalisieren. Ein rotes Gewand verweist nicht selten auf einen Auserwählten (vgl. Abb. 9) oder sozial Nobilitierten. Oder aber es zeigt, im Gegensatz dazu, einen Außenseiter an.23 Auch Jesus, als König der Juden verhöhnt, wird von seinen Peinigern als spöttisches Hoheitszeichen ein roter Mantel um die Schultern gelegt (vgl. Abb. 10). Auf diese Weise tritt der Todgeweihte dem gläubigen Betrachter zugleich als Auserwählter wie als Ausgestoßener gegenüber. Auch Maria Magdalena, eine der galiläischen Frauen, die Jesus nachfolgten und später mit der namenlosen Sünderin, die Buße tat, gleichgesetzt wurde, wird häufig im roten Kleid gezeigt (vgl. Abb. 11).
Abb. 10: Umkreis Rueland Frueauf d.Ä., Dornenkrönung, zw. 1440/1507, Öl/Holz, Historisches Museum Regensburg
Abb. 11: Noli me tangere, M.R. James Memorial Psalter, England, spätes 14. Jh., London, British Library Ms. Add. 44949, folio 4 recto (detail)
23 Zur Bedeutung der Farbe Rot siehe Heide Nixdorff/Heidi Müller: Weiße Westen – Rote Roben. Von den Farbordnungen des Mittelalters zum individuellen Farbgeschmack, Berlin 1983 (= Ausst.Kat. Museum für Völkerkunde u. Museum für Deutsche Volkskunde, SMPK), S. 112ff. u. passim.
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In diesem Fall verbindet sich das Rot der erotischen Leidenschaft mit dem Rot der Auszeichnung einer Erwählten. Auch der Furor, die wilde Raserei, wird dem klassischen Handbuch der Barockikonografie folgend seinem Temperament gemäß in leuchtendes Rot gehüllt.24 Ferdinand Hodler dient 1911 das feurige Rot dazu, das „Entzücktsein“ zu personifizieren (Abb. 12). In Bauschs Sacre bildet das rote Kleid im Materialsinn den roten Faden der Handlung. Zu Beginn liegt eine der Tänzerinnen auf dem Kleid im Torf des Bühnenbodens (vgl. Abb. 13). Sie erhebt sich, ergreift das Kleid, das zunächst nicht als ein Gewand, vielmehr als ein bloßes Tuch erscheint und auch späterhin häufig als Knäuel oder Büschel25 Abb. 12: Ferdinand zusammengedrückt in Händen gehalten wird, und Hodler, Entzücktes reicht es, eine Art Reigen oder Stafette initiierend, Weib, 1911, Öl/Lwd., weiter. Der Zuschauer lernt rasch, dem Weg dieses 172 x 85,5 cm, Musée Zeichentuchs und Tuchzeichens, das durch die d’art et d’histoire, Hände der Frauen und Männer wandert, wie einem Genf Signal zu folgen. Nach und nach gewahrt er dessen Bedeutung. Aber erst im letzten Teil, wenn sich das Tuch als Kleid entpuppt und das Initiationsritual beginnt, wird ihm dies, von Schauder begleitet, in vollem Umfang bewusst. Der in einem langwierigen Prozess als Opfer schließlich bestimmten jungen Frau wird durch den Protagonisten, den „sage“ des Stückes, das farblose Alltagsgewand ab- und das Todestanz/TotentanzGewand übergestreift (vgl. Abb. 14). Auf diese Weise vor den Umstehenden ausgezeichnet, kann jetzt der „Heilige Tanz“ zum Opfertod beginnen. Diesen Tod hat das Tuch im Verlauf des Stückes als Leidfaden bereits mehrfach verheißen: Vom erwähnten ersten Bild über die mittlere Szene, in welcher der Anführer minutenlang darauf ausgestreckt lagert, bis zur Schlussszene mit der tot am Boden liegenden Tänzerin (vgl. Abb. 15). Das Tuch wandelt sich zum Kleid, eine Metamorphose, die rund zwanzig Minuten in Anspruch nimmt und vom strahlenden Tanzkleid zum blutgetränkten Totenhemd führt.
24 Vgl. den mit einem Holzschnitt illustrierten „Furore“-Eintrag in Cesare Ripas, Iconologia, Rom 1604, S. 176f. 25 Man ist versucht, dieses Tuchbüschel als eine Art geheimer Namenssignatur der Choreographin anzusehen, denn Bausch und Büschel sind der Etymologie nach eng verwandt.
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Abb. 13: Standbild: Bausch: Sacre – Beginn
Abb. 14: Standbild: Bausch: Sacre
Abb. 15: Standbild: Bausch: Sacre – Ende
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Diese zeichenhaft-symbolische, poetisch-dramatische und szenisch-dramaturgische Verknüpfung und Verdichtung von Rot, Tuch und Kleid, so sehr traditionsverhaftet, ja klischiert dieser Einsatz eines Requisits auf den ersten Blick erscheinen könnte, sucht als gelungene ästhetische Strategie ihresgleichen. Das Tuch wechselt in der Zuschauerwahrnehmung mehrfach seine Bedeutung, so dass es die gesamte Bandbreite des kulturgeschichtlich geprägten Assoziationsspektrums durchläuft und die einzelnen semantischen Felder zugleich miteinander verkettet. Auf diese Weise kommen mehrere Farben Rot zum Einsatz – das Rot als Signal der Auszeichnung und Ausgrenzung, als Farbe der Verführung und Erotik, aber vor allem als Zeichen des Opfers, des Blutes und des Todes. Und zugleich werden wesentliche Formen und Funktionen von Stoff, Tuch und Kleid an- und durchgespielt. Was bis dahin am Topos rotes Kleid vielleicht Kitsch, Opern- oder Vamphaftigkeit war, wird durch Bausch neu und eindringlich mit elementarer Bedeutung versehen. Bei Pina Bausch vollzieht sich der Kleidertausch vom hautfarbenen zum roten Gewand hin. Wie man diesen signifikanten Wechsel auch in der Gegenrichtung, von Rot zu Ocker, im Bild sinnfällig machen kann, zeigt ein kleinformatiges Gemälde von Domenico Veneziano (Abb. 16). Die Tafel, Teil einer Predella, ist um 1445 entstanden. Johannes der Täufer hat sich als Einsiedler in die Wüste, die hier als Gebirge aufgefasst ist, zurückgezogen. Soeben tauscht er sein rot leuchtendes städtisches Alltagsgewand, das ihn der christlichen Ikonografie nach als Propheten und Märtyrer charakterisiert, gegen das härene Gewand des Asketen ein. Der alte Rock ist samt weißem Hemd bereits abgestreift und wird mit der Linken zur Seite gelegt, während die Rechte das neue Wams über die Schultern zieht. Der Maler hält mit dem nackten Jüngling, der soeben Abb. 16: Domenico Veneziano, Johannes beidhändig den Kleidertausch der Täufer in der Wüste, um 1445, vollzieht, exakt den Moment des Tempera/Holz, 28,8 x 32,4 cm, National Umschwungs fest und lässt Gallery of Art, Washington keinen Zweifel an der Unumstößlichkeit des Entschlusses, der den Heiligen schließlich zum gewaltsamen Tod führen wird. Die Johannes-Ikonografie ist durch die Gestalt der Salome, die im Auftrag ihrer Mutter Herodias den Kopf des Johannes fordern wird, der Tanz-Ikonografie eng verbunden. Der Auftritt der Salome (vgl. Abb. 17) begleitet in 263
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zahlreichen Darstellungen als Parallelhandlung die Hinrichtung des Predigers und endet nach orientalischem Brauch mit der Präsentation des abgeschlagenen Hauptes auf einem Teller.26 Rolf Borzigs Bühne der Sacre-Inszenierung ist ein karg ausstaffierter, im Wesentlichen mittels Licht komponierter, modern-klassischer Raum, in dem in der Reihe gedämpfter Erd- und Inkarnatfarben nur das Rot exzelliert. Die Bühne und die hellen Kostüme des Corps de ballet rahmen das Rot, das irrlichternd durch das Dunkel des Bühnenraums wandert. Der Torfmull am Boden dämpft nicht nur die Schritte der Tänzer, sondern auch das Licht, das die Szenen nur spärlich ausleuchtet. Torf auf dem Bühnenboden eines Tanzstückes ist im Jahr 1975 ein eher ungewöhnlicher Belag. Er passt als jahrtausendealter Erd- und Urstoff allerdings hervorragend zur Idee der heidnischen Vorzeit, auf die das Stück abhebt. Die Anregung dazu rührt möglicherweise von den „Erdräumen“ Walter de Marias her, der 1968 in München seine erste und 1974 im Hessischen Landesmuseum Darmstadt eine zweite interior earth sculpture realisiert hat. Drei Jahre später richtete er den Earth Room für die New Yorker Dia Art Foundation ein (vgl. Abb. 18). In der Galerie provoziert die kniehoch aufgeschüttete Erde Gedanken über das konzeptuelle Zusammenspiel von Raum, Skulptur und Material. Auch theatralische Elemente hat man im Fall des Earth Room ausgemacht: „The earth is sculpture, but by virtue of its excessive mass it is theatre as well.“27
Abb. 17: Benozzo Gozzoli, Der Tanz der Salome, um 1461/62, 23,8 x 34,3 cm, National Gallery of Art, Washington
26 Vgl. zur Johannes-Ikonografie Friedrich-August von Metsch: Johannes der Täufer. Seine Geschichte und seine Darstellung in der Kunst, München 1989, hier S. 97ff. 27 W.A.L. Beeren: Exposé, in: Ausst.Kat. Walter de Maria, Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam 1988, S. 8.
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Bei Bausch und Borzig verbinden sich mit dem Torfmull als Untergrund nicht nur Vorstellungen von freier Natur und Weltabgeschiedenheit, sondern auch Assoziationen, die in Richtung Arena lenken. Im Verlauf des Stückes verstärkt sich dieser Aspekt zunehmend, evoziert nicht zuletzt durch die wiederkehrenden Kreisformationen der Tänzer. Die Analogie zum Abb. 18: Walter de Maria, The New York Stierkampf, durch das rote Tuch Earthroom, 1977, Erde, 197 Kubikmeter, prägnant gemacht, stellt sich als Dia Center for the Arts, New York weitere Bezugsebene her. Versucht man, die Farbkonzeption von Bühne und Kostüm auf ein künstlerisches Vorbild zu bringen, so ließe sich an Tizian und die von ihm bevorzugte Palette denken, die vielfach von Creme-, Rot- und Dunkeltönen geprägt ist. Als Beispiel sei auf sein Venus und Adonis-Gemälde von 1554 hingewiesen (vgl. Abb. 19). In der orientalischen Mythologie verkörpert der schöne Jüngling die bald nach ihrem Aufblühen von der heißen Sommersonne versengte Frühlings-Vegetation, bei Tizian und seinem literarischen Gewährsmann Ovid tritt Adonis als Jäger und Geliebter der Venus in Erscheinung. Soeben befreit er sich aus ihrer Umklammerung, um trotz wiederholter Warnungen zur Eberjagd aufzubrechen, die ihn kurz darauf das Leben kosten wird.28 Dass die Szene auch bei Tizian auf dunklem Boden im Freien spielt und der Held amazonengleich in ein rotes Hemd gekleidet ist, während die Heldin in göttlicher Nacktheit gegeben wird, sei neben der Übereinstimmung der allgemeinen Valeurs als Parallele zur Sacre-Choreografie am Rande vermerkt. Bei Bausch repräsentieren die hautfarbenen Kleider der Abb. 19: Tizian, Venus und Adonis, Tänzerinnen bekleidete Nacktheit 1554, Öl/Lwd., 186 x 207 cm, Museo del Prado, Madrid 28 Vgl. zur Ikonografie des Gemäldes Susanne Biodene (Hg.): Titian - Prince of Painters, National Gallery of Art, Washington/Venedig: Marsilio Ed 1990/91, S. 328ff.
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(und Ursprünglichkeit)29, zu der auch die nackten Oberkörper der Tänzer stimmen. Mit diesen Hinweisen zur allgemeinen Ikonografie soll es hier sein Bewenden haben. Auf den ersten Blick scheint es, als habe Bausch ihre Choreografie der Strawinsky-Komposition im fernen Reich der Klassizität und somit außerhalb von Zeit und Raum, zumal der eigenen Epoche angesiedelt. Einige Anzeichen sprechen für diese Annahme, andere dagegen. Letztere sollen jetzt aufgezeigt werden, indem nach dem Gegenwarts- und Aktualitätsbezug der Inszenierung und der politischen Ikonografie des Stückes gefragt wird. „Wieso redet man allein vom Tanz? Ich verstehe nicht, warum die Welt überhaupt nicht dazu gehört. Es geschehen unendlich viele Dinge im Leben, und es ist interessant, wieso das alles geschieht. So ist auch beim Tanz das wirklich Wichtige der Grund, warum man tanzt [...]. Der Tanz muß etwas ganz Erwachsenes werden, darf nicht nur ein kleiner Blitzableiter am Rand des Lebens sein. Es gehört alles dazu – die anderen Künste, das gesamte Leben, sogar die Politik.“30
3. Der Opfertanz oder Tanz und Gesellschaft – Die Geschichte vom roten Kleid und der damit einhergehende Bericht über Gewalt und Tod, Gruppendruck und Opfermut, Kollektiv und Subjekt, Unterwerfung und Anpassung fällt 1975 in eine Zeit, in der in Deutschland der RAF-Terrorismus nicht nur für Schlagzeilen, sondern für eine (innen-)politisch äußerst angespannte Lage sorgt. Dieses Klima hat, so darf vermutet werden, die Wahl des Stückes und die Form der Inszenierung mitbestimmt. Um diese Epoche in Erinnerung zu rufen, seien hier in Kurzform einige wenige Daten in Erinnerung gebracht (Abb. 20). Die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin sitzen im Stuttgart-Stammheimer Hochsicherheitstrakt ein und sehen dem Prozeßbeginn entgegen. Der Mithäftling Holger Meins war im November des Vorjahres ebendort im Rahmen eines Hungerstreiks verstorben.
29 Bekanntlich waren die Tänzer der Pariser Uraufführung zum Teil unbekleidet. 30 Pina Bausch nach Helmut Schleier: Der Tanz muß etwas Erwachsenes werden. Pina Bausch im Gespräch über ihre Arbeit, in: Ballett-Journal/Das Tanzarchiv, 34. Jg., Nr. 6, 1986, S.26, zit.n. Gabriele Klein: FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes, Weinheim/Berlin: Quadriga 1992, S. 246.
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Abb. 20: Gerhard Richter, Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen, Tf. 471: Baader-Meinhof-Fotos 1989, 8 s/w-Reproduktionen, 51,7 x 66,7 cm Die Bewegung 2. Juni entführt Ende Februar des Jahres den Berliner CDUBürgermeister-Kandidaten Peter Lorenz, um gefangene Sympathisanten frei zu pressen. Gefordert wird ein Flug in den Südjemen. Der Berliner ExBürgermeister Heinrich Albertz begleitet den Flug nach Aden. In Stockholm wird im April die westdeutsche Botschaft von Angehörigen der Rote Armee Fraktion besetzt, welche die Freilassung sämtlicher Baader-Meinhof-Häftlinge verlangen; sie drohen, das Gebäude in die Luft zu sprengen und Stunde für Stunde eine Geisel zu töten, wenn ihren Forderungen nicht stattgegeben werde. Die Ankündigung wird in die Tat umgesetzt, indem einer der Botschaftsattachés am offenen Fenster hingerichtet wird. In der zweiten Dezemberhälfte wird in Wien eine Opec-Konferenz von Terroristen gesprengt; auch hier lassen wiederum mehrere unbeteiligte Menschen ihr Leben.31 Diese Ereignisse werden die Zeitgenossin Bausch nicht unberührt gelassen haben; die Generation, die da terroristisch agiert, ist ihre eigene. Das Klima politischer Verunsicherung und Unsicherheit war weit verbreitet und produzierte auf vielen Seiten Gefühle von Angst, Ohnmacht und Wut. Das Kollektiv als ideologisch nicht nur zusammengeschlossene, sondern weitgehend gleichgeschaltete Gruppe, die Unterordnung des Einzelnen unter das allgemeine Kommando, der Aufruf zum Kampf samt Tötungs- und Todesbereitschaft, all diese Phänomene wurden am Beispiel des Auftretens der zahlreichen „revolutionären“ Gruppen in der politischen Öffentlichkeit diskutiert. Sich in dieser Situation dem Sacre zuzuwenden, das von einer religiös eingeschworenen, fanatischen Gemeinschaft, von heidnischem Opfergang und einer rituellen Exekution coram publico handelt, konnte auch heißen, 31 Vgl. zu diesem Abschnitt bundesdeutscher Geschichte ausführlich Stefan Aust: Der Baader Meinhof-Komplex, Hamburg: Hoffmann & Campe 1986.
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politische Gegenwart im historischen Rücksprung künstlerisch zu reflektieren (vgl. Abb. 21).32
Abb. 21: Standbild: Bausch: Le Sacre du Printemps Adorno hat in seiner erstmals 1949 veröffentlichten Philosophie der neuen Musik eine ausführliche Analyse von Strawinskys Ballettmusik vorgelegt. Einige Sätze markieren jene Aspekte des Stückes, die es Mitte der siebziger Jahre angesichts der skizzierten politischen Situation zum Vergleich geradezu empfohlen haben könnten. Unter anderem heißt es dort: „Die Härte des Sacre, das sich gegen alle subjektive Regung so stumpf macht wie das Ritual gegen den Schmerz bei Initiationen und Opfern, ist zugleich die Kommandogewalt, die den Körper, dem es mit permanenter Drohung den Ausdruck von Schmerz verwehrt, zum Unmöglichen trainiert gleich dem Ballett, dem wichtigsten traditionellen Element Strawinskys.“33
Über die Stichworte Härte, Antisubjektivität, Ritual, Initiation, Kommandogewalt, Opfer und Schmerz benennt Adorno jene charakteristischen Gesichtspunkte, die eine Aufführung des Sacre Mitte der siebziger Jahre aktuell erscheinen lassen konnten. Und viele der von Bausch gefundenen szenischchoreografischen Mittel fügen sich in diesen historisch-politischen Kontext ein, darunter die vielfältigen Konstellationen und Konfrontationen von Gruppe und Einzelnem, die Ein-, Zusammen- und Ausschlussformationen der diversen Gruppen, aber auch die Heftigkeit und Drastik mancher Aktionen und nicht zuletzt die Zeichenhaftigkeit vieler Bilder, darunter jenes der Blutlache, mit dem das Stück beginnt, das dann im Mittelteil, wenn der Anführer auf dem Kleid ausgestreckt wie hingerichtet daliegt, zitiert wird und 32 Der Theaterzettel der Uraufführung (wie Anm. 21) gibt keine Hinweise; möglicherweise lassen sich in Kritiken entsprechende Angaben finden. 33 T.W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik, S. 159.
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mit dem es schließlich endet. Darüber hinaus legen auf der Ebene der Handlung die Suche nach dem Opfer in den eigenen Reihen, die verzweifelte Abwehr und die schließliche Hinnahme des Ansinnens eine Parallelführung der realpolitischen und der poetischen Welt nahe. Letztere ist auch bei Strawinsky nicht aus der Zeit heraus gefallen, wenn man, das Jahr 1913 und damit den Vorabend des Ersten Weltkriegs in Betracht zieht. Noch ein anderer Zusammenhang könnte im Blick auf eine politische Bestimmung der Aufführung eine Rolle gespielt haben. Um die Mitte der 1970er Jahre gab es in Deutschland eine breite, von zahlreichen Aufführungen begleitete öffentliche Debatte über Brechts Lehrtheater der späten 1920er und frühen 1930er Jahre. Insbesondere Die Maßnahme, uraufgeführt mit der Musik von Hans Eisler in Berlin am 10. Dezember 1930, stand damals als Lehrstück unter diversen Gesichtspunkten neu zur Diskussion.34 Es ist die Geschichte des jungen Genossen, der sich für einen schwerwiegenden taktischen Fehler vor der Partei zu rechtfertigen hat und schließlich aus Einsicht in die politische Notwendigkeit in die eigene Tötung einwilligt. Die Argumentation seiner Kameraden lautet: „Wenn du gefaßt wirst, werden sie dich erschießen, und da du erkannt wirst, ist unsere Arbeit verraten. Als müssen wir Dich erschießen und in die Kalkgrube werfen, damit der Kalk dich verbrennt. Aber wir fragen Dich: weißt Du einen Ausweg?“ Die Antwort lautet „Nein“ und dadurch gibt der junge Genosse, „ja sagend zur Revolutionierung der Welt“ 35, sein Einverständnis zur Hinrichtung. Wie im Sacre Strawinskys ist das Opfer auch bei Brecht unumgänglich, hier aus taktischpolitischem Kalkül, dort aus religiösem Wahn geboten. Bis hin zu Schul- und Werksaufführungen wurde Brechts Lehrtheater in den 1970er Jahren auf seine theatral-ästhetischen und pädagogisch-politischen Möglichkeiten hin untersucht und als Modell für ein alternatives Gegenwartstheater erprobt.36 Bauschs Sacre-Inszenierung von 1975 lässt sich rückblickend als ein indirekter Beitrag des Tanztheaters zu dieser Debatte begreifen.37 Der Choreografin Bausch wird in der Literatur das historische und politische Interesse eher abgesprochen. So heißt es in der Bausch-Monographie von Hedwig Müller und Norbert Servos aus dem Jahr 1979: „Wo zum
34 Nicht zuletzt für die in Stammheim einsitzenden RAF-Mitglieder stellte Brechts Maßnahme eine Standardlektüre dar; vgl. S. Aust: Der Baader Meinhof-Komplex, S. 262f., 461 u. 592. 35 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Bd. I , Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 662. 36 Vgl. hierzu Reiner Steinweg (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. 37 Hingewiesen sei darauf, dass Bausch ihrer Frühlingsopfer-Choreografie unmittelbar einen Brecht/Weill-Tanzabend (Die sieben Todsünden) folgen lässt (Uraufführung am 15. Juni 1976).
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einen die Subjektivität als Qualität eingebracht wird, bleibt andererseits Geschichte als konkrete Größe ausgeklammert.“38 Oder an anderer Stelle: „Doch ebenso wie der Ausdruckstanz [im allgemeinen, M.D.] zeigt sie [Bausch] nur Zustände, Auswirkungen einer Gesellschaft, ohne die Frage nach deren Ursachen zu stellen; der einzelne bleibt seinen Zwängen ausgeliefert, schicksalhaft eingebunden. [...] Insofern bleibt ihr kritischer Einsatz verkürzt, vermittelt sich das Ausstellen von Wirklichkeit nur indirekt als Gesellschaftskritik.“39
Man kann sicherlich unterschiedlicher Auffassung über die politische Dimension vieler Bausch-Stücke sein. In plakativer oder expliziter Hinsicht wird man gewiss nicht fündig. Aber einige Inszenierungen lassen sich der Konzeption und Intention nach in besagtem Sinn durchaus gesellschaftskritisch verstehen.40 Die Choreografie des „Frühlingsopfers“ gehört ohne Frage dazu, indem im Sacre-Teil durch die Opferthematik neben, oder richtiger, in der Vorzeit auch die Gegenwart, die eigene Arbeit eingeschlossen, reflektiert wird.41 Wer darüber hinaus nach Aufklärung über politische und soziale Ursachen und Hintergründe fragt, überschätzt die Möglichkeiten von Tanz und Ballett. Deren Aufgabe liegt in der in der zeitgemäßen choreografischen Adaption einer musikalischen Handlung und in der künstlerischen Transposition dieses Stoffes in prägnante (Körper-)Bilder, die zunächst untereinander, aber dann auch mit Bildern der Welt außerhalb des Theaters verglichen sein wollen. Von dort – aus Alltag, Politik, Medien und Historie – sind sie inspiriert worden und diese Abkunft geben sie über Kennmarken, wie das Beispiel zeigt, durchaus zu erkennen. Die Bausch-Choreografie des Sacre vermittelt zwischen den Epochen der Vorzeit der Erzählung, der musikalischen Moderne des Jahres 1913 und der politischen Gegenwart von 1975. Darin liegt die Aktualität der Inszenierung, die vom Standpunkt der Gegenwart aus eine historische Passage unternimmt und von dort wieder zum Anfang zurückführt.42 38 H. Müller/N. Servos: Pina Bausch, o.S. 39 Ebd., o.S. – Obwohl Rika Schulze-Reuber in ihrem Buch Das Tanztheater Pina Bausch: Spiegel der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Rita G. Fischer 2005, im Untertitel den Gesellschaftsbezug explizit macht, gelangt sie in ihrer Einschätzung kaum über die Position von Müller/Servos hinaus. 40 Als Beispiele seien aus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre Die sieben Todsünden (1976), Kontakthof (1978) und Café Müller (1978) angeführt. 41 Es ist daher kaum als Zufall zu werten, dass Bausch ihrer Einstudierung die Einspielung der Strawinsky-Musik durch Pierre Boulez, einen explizit politisch denkenden Künstler, zugrunde legt. 42 Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972 in Hamburg verhaftet wurde, nachdem sie eine Modeboutique am Jungfernstieg aufgesucht hatte, um sich dort neu einzukleiden. Zur Anprobe eines Pullovers
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4. Das Tanzopfer oder ein Tanzstück über den Tanz – Pina Bauschs Auseinandersetzung mit dem Sacre-Stoff erfolgt über den bezeichnenden historischen Augenblick hinaus zugleich auch an einer entscheidenden Kehre der eigenen künstlerischen Arbeit. Ihr choreografischer Abend des Frühlingsopfers kündigt den Prozess der Wandlung vom Ballett zum Tanztheater auf eindringliche Weise an. Bereits in der frühen Bausch-Monographie von Müller und Servos heißt es: „Mit ,Frühlingsopfer‘ ist sozusagen der Schlußpunkt einer im engeren Sinne choreografischen Phase erreicht. Darauf folgt die kontinuierliche Herausbildung dessen, was als Wuppertaler Tanztheater bereits Begriff geworden ist. Das Prinzip der Montage, die Einbeziehung von Pantomime und Sprechtheater, die Verarbeitung der Kunstentwicklung in den 1960er Jahren werden zu bestimmenden Stilmerkmalen.“43 Statt von Schlusspunkt spricht man vielleicht besser von Wendepunkt, weil man dadurch dem besonderen Rang der Sacre-Choreografie und den darin niedergelegten Zügen eines kritischen Selbstporträts der Choreografin sowie ihrer weiteren künstlerischen Entwicklung eher gerecht wird. Indem Bausch Strawinskys Sacre wählt, greift sie auf ein radikales Stück der klassischen Moderne zurück. Sie knüpft daran an, um es zu überwinden und – für ihr künftiges Bewegungstheater – zu verabschieden. Es ist eine doppelte Vorzeit, die hier abtritt, nicht nur diejenige des bei Strawinsky verarbeiteten archaischen Stoffes, sondern zugleich jene des modernen (Ausdrucks-)Balletts, wie sie seit Michel Fokines unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs verfasstem Leserbrief an die Londoner Times vom 6. Juli 1914 mit seinen Grundforderungen für den neuen Tanz über Isadora Duncan, Rudolf von Laban, Mary Wigman und Harald Kreutzberg bis in die eigene Gegenwart hinein ausgeprägt worden war.44 Das russische Heidentum wird bei Strawinsky, so ließe sich sagen, mit der Ära des modernen Tanzes gleichgesetzt und im Durchgang durch das Stück entsprechend weit abgerückt. Sacre ist die letzte Bausch-Choreografie, welche die Bezeichnung
hatte sie ihre Jacke, in der eine Schusswaffe steckte, abgestreift; die Verkäuferin, der dies auffiel, alarmierte die Polizei. 43 H. Müller/N. Servos: Pina Bausch, Kapitel „Frühlingsopfer“, o.S. 44 In Stichworten lautet dieses Programm: Ablehnung vorgefertigter Schrittkombinationen und Bewegungsfolgen; Tanz und Mimik als Ausdruck einer dramatischen Situation; die Ausdruckshaftigkeit soll nicht nur Gesicht und Hände, sondern den ganzen Körper des Tänzers und darüber hinaus jene der Gruppe erfassen. Darüber hinaus begrüßte Fokine die Verbindung der Künste unter der Voraussetzung vollkommener Gleichwertigkeit und lehnte die Unterordnung des Tanzes unter die Musik oder das Bühnenbild ab. (Angaben nach dtv-Lexikon in 20 Bänden, München 1995, Bd. 2, 83, s.v. Ballett).
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„Ballett“ trägt; es folgen als Gattungsbegriffe das neutrale „Szenen“ (Blaubart) oder, nochmals reduziert, schlicht „Stück“.45 Die Ausgangsidee für seine Musik hat Strawinsky in folgendem Satz zusammengefasst: „Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.“46 Diese „Vision einer heidnischen Feier“ lässt sich mit der Ausgangssituation einer klassischen Ballettaufführung vergleichen – Tanzexaltationen auf der Bühne, dargeboten vor Publikum. Bausch wird dieses hergebrachte Schema in der Folge häufig durchbrechen. Zwar bleibt das Publikum an Ort und Stelle sitzen, aber es wird aufgeweckt und aufgeschreckt und in die Inszenierung einbezogen. Die vierte Wand wird durchlässig und das Publikum von der Bühne herab adressiert. Tanz wird dem Publikum mehr und mehr als Konstruktion und Konvention vorgeführt, Brechtisch demonstriert und stärker aus dem Alltagsbewusstsein heraus entwickelt. Das überkommene Tanzritual, das in sich geschlossene Ganze, weicht einer neuen Offenheit. Wenn man so will, wird mit Fokines Anspruch an das Ballett als Theater der Künste noch einmal neu begonnen und auf neue Weise ernst gemacht. Bauschs Frühlingsopfer, insbesondere der Sacre-Teil, ist ein Manifest des Abschieds, das einen Neuanfang ankündigt. Das in einem langwierigen Prozess bestimmte, dem Tod durch rhythmisch gesteigerten Tanz geweihte Opfer, das sich nicht mehr (be-)greifen lässt, vertritt den auf Solopartien abgestellten Brillant-Stil der Danse d’ecole und des Modern Dance. Der überkommene Vertrag mit dem Zuschauer wird aufgekündigt: „Spitzentanz“, um es vereinfacht zu sagen, wird nicht mehr geboten. Das Corps de ballet erhält als Gruppe, die aus Tänzerindividuen besteht, neue Rechte, die Solistin (und damit das System, das sie repräsentiert) tritt ab, sie wird, um im Bild zu bleiben, „geopfert“. Der „Heilige Tanz“, auf den als Höhepunkt die Strawinsky-Komposition zusteuert, fungiert bei Bausch als ‚mise en abyme‘ oder auch als ein Gleichnis der eigenen Arbeit, das vom Ende des konventionellen Balletts erzählt. Mit dem Tod der Solistin endet zugleich die Ära des allmächtigen Choreografen (vgl. die Rolle des sage), der allein und ohne Rücksprache über die Inszenierung verfügt. Auch die Funktion der Gruppe als Zuschauer, die im Sacre mehrfach genutzt wird, wird nachfolgend als Laborsituation begriffen und das Gebanntsein der Zuschauer auf und vor der Bühne in ein Beobachten überführt. Einfühlung (und Mitleiden), wie sie Strawinskys Musik noch forciert, ist nunmehr als Zitat zugelassen. Das Sacre dient Bausch auch dazu, unterschiedliche Tanzformen und -stufen (Reigen, Ritual, Trance) zu zitieren und ästhetisch zu reflektieren. Letztlich handelt die 45 Vgl. H. Müller/ N. Servos: Pina Bausch, Kapitel „Blaubart“, o.S. 46 Zit.n. Rondo-CD-Führer Igor Strawinsky (http://www.rondomagazin.de/fuehrer/ strawinsky/is01.htm).
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Bausch-Choreografie von der Erschöpfung des klassischen Balletts, der sowohl die Solistin als auch der Chorege als derjenige Tänzer, der die Gruppe anführt, erliegt.
5. In Bausch und Bogen – Die Bühne der späteren Bausch-Stücke, die immer stärker das Tanzen und den Tanz selber reflektieren, wird, mit Warburg gesprochen, zum Distanz- und Denkraum. Resümierend und in ein Merkwort gefasst, ließe sich wortspielend von einem DIS/TANZRAUM sprechen. Damit wäre ein Experimentierfeld bezeichnet, in dem nachdenklich gezeigt und demonstriert, nicht mehr ahnungslos und zeitenthobenen agiert wird. Der private und der gesellschaftliche Alltag rücken verstärkt in den Blick und werden entlang dem Repertoire ihrer Körper- und Verhaltensrituale analysiert – Schritt für Schritt und zugleich in Bausch und Bogen.47
Literatur Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949], Frankfurt a.M.: Ullstein 1969. Aust, Stefan: Der Baader Meinhof-Komplex, Hamburg: Hoffmann & Campe 1986. Beyer, Andreas (Hg.): Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie, Berlin: Wagenbach 1992. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Bewegungsfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Fischer 1995. Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke, Bd. I., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967. Bredekamp, Horst/Botticelli, Sandro: La Primavera. Florenz als Garten der Venus, 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer. 1996 (= Reihe kunststück). Diers, Michael: Warburg aus Briefen. Kommentare zu den Briefkopierbüchern der Jahre 1905-1918, Weinheim: Wiley 1991. Michael Diers: Die Gegenwart der Bilder. Zur Erinnerung der Antike bei Aby Warburg, in: Ders.: FotografieFilmVideo. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg: Philo 2006, S. 299-332. Forster, Kurt W.: Die Hamburg-Amerika-Linie, oder: Warburgs Kulturwissenschaft zwischen den Kontinenten, in: Aby Warburg: Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, hg. von Bredekamp, Horst/ Diers, Michael/Schoell-Glass, Charlotte, Weinheim: Wiley 1991, S. 11-37. 47 Vgl. zu dieser Redewendung: Der Große Duden, Bd. 7: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1963, S. 54.
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Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg: Europäische Verl.-Anst. 1992. Klein, Gabriele: FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes, Weinheim/Berlin: Quadriga 1992. Metsch, Friedrich-August von: Johannes der Täufer. Seine Geschichte und seine Darstellung in der Kunst, München: o.V. 1989. Settis, Salvatore: Warburg continuatus: Description d’une bibliothèque, in: Baratin, Marc/Jacob, Christian (Hg.): Le pouvoir des bibliothèques, Paris: Albin Midel 1996, S. 122-169. Steinweg, Reiner (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Stockhausen, Tilmann von: Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg: Architektur, Einrichtung und Organisation, Hamburg: Dölling und Galitz 1992. Warnke, Martin: Vier Stichworte: Ikonologie-Pathosformel-Polarität und Ausgleich-Schlagbilder und Bilderfahrzeuge, in: Hofmann, Werner/Syamken, Georg/Warnke, Martin: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1980, S. 54-83.
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Listening to the Gesture. The Ga p be tw ee n the Spontane ous a nd the Forme d
Observing dance is an experience with many gaps. Am I able to put it in words, can I listen to the precious gaps in-between? The Chinese book The Secret of the Golden Flower is a description of the quest for inner wisdom. To help the seeker, the writer illustrates the nature of the quest with an image: one should listen to oneself like a hen brooding her eggs – unable to stand up, able only to hear and feel when the chicks are hatching. I have called my lecture ‘Listening to the Gesture’ to indicate that I need to listen with my entire self. Not only to observe movement sensorially, using experience drawn from my body, and not only by analyzing movement with Eshkol-Wachman Movement Notation (EWMN), an analytical system that can be applied to dance, sport and animal behavior. But also to connect all of it to my personal history, my senses and my analytical skills – bringing the imagination into play, bringing in the self. Repeatedly viewing the video of Pina Bausch’s choreography of The Rite of Spring, I again became aware of how I oscillate between different ways of observing movement. But two modes of movement seemed obvious: the formed and the spontaneous. I am unable, however, to identify with only the one or the other; again and again I find the need to reach out to a third person who will bring both modes together. In this article I will swing back and forth between the two, hoping to deliver some observations about this particular choreography of the Rite and some reflections on observing movement in general. This means that many
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other trains of thought will only be given a brief mention before being left behind. I will draw my observations from human movement, which I would describe as an axis whose two poles expose tendencies that exist in our attitude toward movement in general and the development of modern dance in particular. One pole is the spontaneous gesture, the other the formed, artificial one. Here the everyday gesture, here the dance gesture carried out for its own sake.The one is for survival, the other for expressing dreams, feelings, ideas and beauty. Clasping one’s hand to hold bread or making a fist, expressing anger. Asking for a piece of bread, or blessing it as part of a ritual. One can even say that this is a split that has existed in modern dance from the beginning of the twentieth century, a split between the artificially shaped gesture and the natural one. This split has had different manifestations throughout the history of modern dance. It can also be seen in the struggle between the conventions of the Western dance tradition and the impulse to renew it and introduce a fresh language; between the need to exercise maximum control over all aspects of dance and the tendency to leave it open to personal interpretation; between clear rhythmical phrases and those that flow without a regular beat. In formed gestures the posture, the parts of the body, the shape of the movement, the rhythm are all entirely governed by the will of the choreographer, and are achieved by imposing very strict discipline upon the dancers. At the other end of the axis the search is for the individual dancer who is spontaneous with his/her own personal posture. The first mode is generated by moving particular parts of the body (while others are prevented from moving), by defining space, and through the duration of the gesture. It uses a shaped torso and an ideal posture that can remain upright when even the most demanding gestures draw the extremities towards their maximum range. In the other mode ‘free’ gestures lead to divergent postures. This calls for a new type of dancer with an individual torso that reacts to the changes in every gesture, including the gestures of response, feelings, memories and unconscious intentions. These two tendencies in dance can be observed very clearly from the beginning of the twentieth century onwards. The tradition of classical ballet has a well-defined vocabulary and a clearly stylized posture. Isadora Duncan, in contrast, was looking for natural movement. She discovered the ‘solar plexus’ as the centre of movement, and introduced the changing spine into dance, creating an organic connection between the legs, arms and torso. 278
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From this point on, we can easily observe the struggle to introduce the spontaneous into the existing formal dance languages from Nijinsky through Laban, Wigman, Palucca, Graham and Humphry, through Cunningham, Steve Paxton (contact improvisation), DV8 and William Forsythe. Forsythe uses the language of classical ballet, yet bends, stretches and twists the limbs to such extremes that the torso, struggling between holding and yielding, achieves positions that are more familiar to us from football or paralytic spastic illness than from any kind of dance from the past. I will generalize and say that all of these figures introduced new gestures and enlarged movement vocabulary, yet, with the exception of Steve Paxton, none of them offers a radically different attitude to the use of the torso, it is still controlled in the same manner as the other limbs. Viewing Bausch’s Rite in the light of this dichotomy, it becomes clear that her choreography contains the same two attitudes: the traditional ‘artificial gesture’ and the more spontaneous one. Although she has developed her own style, it is derived from these two existing tendencies. The two languages are used alternately; today this is usually known as dance theatre. Nonetheless, I would still argue that even in her case there are two modes that remain separate. All these observations are the fruits of my applying both EshkolWachman Movement Notation (EWMN) as well as my own movement studies, which derive from the new schools of learning movement initiated by Elsa Gindler, Mabel E. Todd, the F.M. Alexander technique, Moshe Feldenkrais and B.B. Cohen, amongst others. In order to see and understand movement, to grasp its different shapes and modes, we both have to analyze actions in terms of the gestures they consist of, and to listen to the gestures in terms of their smallest units, above all the smallest changes in the spine. In what follows I will introduce a few of the basic rules of EWMN as well as some observations from the new schools of learning movement, and discuss the advantages of applying them. We meet the possibility of analyzing movement geometrically very early on: in the fifteenth century. In his book about human movement, Leonardo de Vinci wrote about, and illustrated, movement as being circular – a phenomenon that is one of the basic assumptions of EWMN. “Natural human movements are those exterior movements of the body which are produced by the bending and turning of the back, the arms and the legs according to their nature. All these movements are caused by the spirit, soul and centre of the whole. Yet we feel that the actual force behind them is in the bones and tendons, and we therefore say that the fingers move by virtue of the hand and the hand by virtue of the arm, the arm by virtue of the body, and the body by virtue of the spirit. Consequently, it is possible to form and determine the natural movements by circles
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described around the centers of a spherical gyration, that is to say around the joints, and to express the bones and the tendons by radii which converge towards those centers at varying angles.” (Leonardo de Vinci, from the Codex Huygens Second Book, Theory of Human Movement)
EWMN was invented in Israel in 1958 by the dancer Noa Eshkol and the architect Abraham Wachman. It is a system based on the geometry of the sphere, and is able to analyze the movement of the human body and that of other vertebrates. As such it can describe every type of movement: sport, martial arts, animal behavior and non-verbal human behavior, as well as different styles of dance. Some of the assumptions of EWMN are as follows: • The human body is composed of limbs, which can be described in terms of joints and axes. • The joint and the axis are the smallest units from which movement is created. • By their nature, such units only move in circles or partial circles drawn on the surface of a sphere. Movement is measured in degrees, and is either clockwise or anti-clockwise. • Circular movements can be divided into three types: • Rotation – the limb turns on its own axis; • Cone – the limb draws circles (or partial circles) on the surface of a sphere. The diameter of the circle is greater then 0° and smaller then 180°; • Plane – always has a diameter of 180° (horizontal, vertical or intermediate). It is the largest circle a limb can draw. • A movement is defined as a change of relationship between a limb and its neighbor. Each relationship is described by a position sign. • Each limb is represented individually on the manuscript page. Theoretically the torso is composed of twenty four limbs, but EWMN gives us the freedom to divide it up according to the type of movement in question; to treat it as one limb or as several parts (pelvis, chest, neck and head) or to divide it into even more parts. There is no space within the framework of this paper to discuss all of this in detail, but one can see that each gesture is always constructed with one or more limbs (but as the body is a whole, this means that its other parts are resting or inhibited), and from a combination of different circles (in everyday, spontaneous gestures these are very small or partial circles, and therefore not perceived as such). The presentation of all the limbs of the body on the manuscript page and the three types of movement offers us an abstraction which is far bigger then our experience and as such enables us to look at the movement product without prejudice. 280
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With EWMN we can go beyond the gesture. It is possible to name the components from which the gesture is built (parts of the body, types of movement as well as time), which therefore gives us the ability not only to analyze every change but also every difference that occurs within the gesture itself. Another important aspect of EWMN is that it enables us to express changes in our point of view, to describe the gesture either body-wise or in the absolute sense. This means that we can express the fact (of which we are not always aware) that we change our point of reference many times during our daily actions. Having these two possibilities enables us to understand the very nature of our gestures. Writing down our actions not only defines the changes in our actions, it also gives us a glimpse of our gaps, of our intentions and unconscious movements. And it provides the mover with a tool for composing new gestures, for recording old ones and for reflecting on them. Since first publishing the system Noa Eshkol has analyzed and published extensively (over thirty five texts) on many movement disciplines, including classical ballet, Israeli folk dances, fifty lessons by Dr. M. Feldenkrais and t’ai chi, as well as her own dances (in four volumes of scores). Movement can be analyzed from many points of view, and the objective description of an action will always be colored by the specific position of the analyst. This includes the analyst’s personal movement experience, which is imprinted so early that without extremely close self-observation we cannot be aware of it. Just as with other languages and their notations, the dynamic relationship between the practice and the signs contains many undefined laws of which we should remain aware. In order to highlight the large contribution made by many movement practitioners from the new schools of learning movement, I will now introduce some concepts drawn from this large body of knowledge. The main bearer of our postural legacy is the spine. It is shaped at an early age, in the period before we acquire our mother tongue. It is part of the main core of the self; we rely on it in every action we perform, and yet we are hardly aware of the changes that take place there. This early imprinting of the spine shapes our upright position, our posture, and influences all of our later learning, including dance. Later on we accumulate some more conscious movement experiences in different dance styles – learning one or more movement techniques and observing others. These experiences are by nature distinct, and are imprinted differently onto each of us. As we have different movement histories and interests, which create very personal postures, we incorporate these experiences differently or fight our habits in order to fit into the required mode – and as a result pay a high price: because it is difficult to change our habits using the will, we do so through force and holding. 281
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All this should be taken into consideration when talking about dance. We need to remember that we rely on our experiences, and on the imprints which are our accumulation of knowledge. When reflecting on dance we need to remember that our source is deep in the spine, without us having direct access to it. Only then do we have the necessary distance to be able to analyze the gesture and its relationship to the body as a whole. The human being is a learning animal. Over the last hundred years, through the pioneering work of Elsa Gindler, Mabel E. Todd, F.M. Alexander, Moshe Feldenkrais and B.B. Cohen, new methods have been developed to revise the inhibited spine and the differentiation of our limbs, and to improve the way we move; to trace the earliest beginnings of a movement pattern, and through this to gain a large body of experience and – by creating new body images – to free ourselves from old habits. All our actions are successions of gestures. Gestures by nature are goaloriented, moving from one position to another in order to accomplish a task. If we want to open the door, we put our hand on the handle, push it down, follow the rotation of the door, let go of the handle, release the arm and walk through. Such an action is a typical succession of gestures, and contains a great many of the habits of which we are unconscious. It is performed using the eyes and by sensing the handle through the hand, and yet the movement is produced by an image in the brain, which the nervous system transfers to the muscles, ligaments, bones and joints. Looking at the body of a new-born baby we can see that every movement of the head is followed by an echo in the pelvis, creating curves along the spine. This process changes gradually during the first few months of life. The spine develops its three curves; the head and the extremities differentiate from the torso, and the torso is able to create complex curves which enable the baby to develop various actions: crawling, walking on hands and knees and sitting. At the peak of this process the baby achieves the upright position and finally stands and walks. The human being is born with the potential for the vertical, but acquires it only through being exposed to other human beings. The parents are the agents through which the baby develops his/her upright position. The result is an individual posture, a combination of the genetic print and of mirroring the surrounding environment. Gestures are the building blocks of our actions, and are, as I have said, by nature goal-oriented. This means that we are aware of the beginning and the end of an action, but not of the movement’s path, which is carried out by the nervous system, muscles and bones. The baby, at the earliest stage of its life, cannot coordinate its gestures. With every attempt to move, the whole body is contracted; only gradually are the gestures recognized in the different parts of the body. In order to move the hand to reach the toy (which is the goal), the arm needs to be differentiated 282
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from the torso. (The same is true of any other gestures of the extremities and the head.) In order to differentiate a limb the nervous system inhibits the torso, which prevents the rest of the body from contracting along with the hand. We acquire this inhibition in the first few years of our life, even before our mother tongue. It is a basic pattern which contains key movement information, and as such the spine is the bearer of very deep personal imprints. In practice, all the new schools of learning movement address the spine. Each of them does it in their own particular way, but all of them assume that addressing the whole person opens up a positive process. This respect is needed if we want to revise unconscious inhibition. Another teaching instrument is the deep belief that the total is bigger then the sum of the parts, that the process of integration is an important part of learning and always deals with the balance between the known and the unknown. Gravity is a subject common to most of the systems: listening to gravity while resting and moving, training our senses to the very fine changes that accrue in the different parts of the spine, head, neck, chest, lower back and pelvis, and between the torso and the extremities (relying on the FechnerWeber law that the smaller the stimulation the bigger the sensation). Weight and shifting the weight is another manifestation of gravity. The body can come into contact with the floor in different positions: lying, reclining, kneeling, sitting, and standing. Touching another person is common to all these schools, transmitting your experience to the other and at the same time giving him/her the opportunity to choose a way to react or learn undoing. Training different methods of breathing – increasing the use of the breath and its function while moving – is another subject of close inquiry. Although all of the methods confront the senses, some emphasize one of the senses more than the others, while some of them open and revise the movement by making use of skeletal images, others use images in the widest sense, while a few of them address the feelings as the key to more optimal usage of the self. One more principle that is common to most of these systems is that the type of learning which calls for repetition is done only with the clear intention of listening to every gesture, and in relation to the spine, to the mind and to the whole. Each individual is able to choose his/her rhythm, to decide how many times he/she needs to repeat the gesture in order to acquire it. Dance is constructed from gestures that involve inhibition of the torso. (In each culture the inhibition involves holding in a slightly different way, and this creates different postures.) The vocabulary of ballet, like most other styles of dance, builds its phrases from artificial gestures. The gestures are constructed around clearly defined positions of the legs, arms and head. The dancer acquires the voca283
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bulary through strict repetition. The idea behind this is that one should be able to execute the gestures as fast as any other actions, almost without thought. At the same time the torso is trained to be stable and to inhibit almost any echo from the extremities. The aesthetic ideal is that every dancer will move in the same way and any individual traces will be erased. As a result the mover lacks a personal relationship to the gestures of his/her feelings. Although modern dance has incorporated a number of new possibilities, it still treats the torso as a limb that can be totally controlled. In doing so it imprints a second holding on top of the earlier inhibition (which is always inefficient to some degree); we are asked to give the torso a certain shape, and we therefore need to control it. This prevents the torso from carrying out its most important task of reorganizing itself in order to integrate our gestures with images, feelings and actions. And this in turn prevents the dancer from transforming the given choreography into personal expression. Babies, like animals, acquire their movement skills and, simultaneously, spontaneous dance. A cat runs after its tail; a baby turns and falls, gets up and does it again. Recently I saw a one-year-old baby clapping his hands and tilting his torso in a wonderful dance after eating. All through life we accumulate experiences that are expressed spontaneously in words, sounds and forms, and we also learn the skills that enable us to realize our expression. We learn reading and writing, music, drawing and other media – and some of us also learn dance. Dance, unlike the other arts, leaves hardly any cultural traces. We have very little physical knowledge of dances from the past – even during the last hundred years dances have been lost. How much have we been exposed to the dances of Isadora Duncan, Laban, Palucca, Wigman and Kreutzberg, except through pictures and verbal documentation? Or even more recent events like the Judson Church dance theatre? Dance is still a disappearing art. A fact that forces us to start learning, observing, and doing research on dance almost from the beginning. With the tools of Eshkol-Wachman Movement Notation, which build an abstract, analytical net of concepts, and with the accumulated experience of the new schools of learning movement, I want to confront and read the choreography of The Rite of Spring by Pina Bausch. I will limit myself to scanning it from a very specific point of view, knowing that I will be omitting many other important aspects. As with any other work of art, Bausch’s Rite cannot be wholly analyzed. The dance should be experienced as a totality in itself, complete with the gaps in-between. Yet the duality within its choreographic style is that of the same two modes that have continually reappeared in dance during the twentieth century. Moving between the formed and the spontaneous gesture, Bausch’s style in the Rite also presents itself in two distinct ways: 284
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A – dance phrases constructed from formed gestures. B – movement sequences created from spontaneous gestures. In the formed phrases the gestures are large, and are shaped by the extremities. They are derived from the vocabulary of modern dance, with Bausch’s additional flavors. The spine is treated as another limb, creating big curves and waves, forwards and backwards – less to the sides and in rotation. I imagine that this is in part inherited from Laban. In order to maintain the large gestures of the legs and arms, the spine needs to be inhibited. The language of these phrases is clearly abstract, and is far from being rigid, yet the spine is also given shape. Most of these phrases are carried out in unison, although from time to time this is broken by one or two dancers going out of phrase and then rejoining the others. Time is beatoriented, and creates rhythmical phrases that clearly correspond to the music. The gestures and the beat go together, except for when one or two dancers are a little late or early compared to the rest of the group, which gives the unison an organic, rather than reproduced or mechanical, feeling. The formations of the group are simple geometric shapes: circles, lines, rows. The dancers mainly face the front and the side, and very seldom the back and the two rear diagonals. In the spontaneous sequences the gestures originate as actions which are usually task-oriented, and even if repeated they remain small segments. Even if these actions are slowed down or accelerated their intention is clear, and most of the time they are carried out without a beat. They create another layer on top of the music, to which they clearly do not relate. (The music is very beat-oriented throughout the ballet.) We read the gestures very quickly. They are mainly the result of hands touching different parts of the body or another dancer: pushing, holding, leaning, passing or throwing a dress, taking it off, putting it on or lifting it up. In all these actions the spine reacts spontaneously; the posture is not controlled, but changes the whole expression of the body unconsciously. It is also clear that in all these actions, the aim, the image, is very clear to the dancer (and not at all abstract). The eyes and hands are the focus of the attention, and the entire activity can be described as having originated in tasks – in an image or feeling, or even a story. What is happening here is often described as theatre because of the lack of means of observing and describing movement. In this dance, lying, standing, walking and running are activities that create a bridge between the formed dance phrases and the spontaneous movement segments.
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The lying position is the key to this dance. The dance starts and ends here.1 At the beginning the head moves, gently caressing the red scarf. Is she in a dream, or reverie? We do not know. These very small movements are a beautiful example of what I call ‘spontaneous segments‘. The head moves, and is echoed along the spine to the pelvis; a very vivid symbol of the beginning of life, even of sexual awakening. At the end of the dance, after more then four minutes of an intense solo, which is executed in the mode of formed phrases, the dancer becomes exhausted and rigid, and falls flat on the ground – a very clear symbol of ending, of death. The whole body is stiff; there is no further sign of life. In the standing position Bausch also discriminates between the two different modes. There is a standing that comes about as a result of abruptly stopping the phrase: the torso is inhibited and controlled; all the members of the group have the same rigid attitude of the spine. The other kind of standing occurs while watching: the eyes follow the other group – a single dancer or a couple – and as a result the spine rotates passively from top to bottom in an echo of the movement – again, a spontaneous segment. The rhythm is free of the beat; each dancer moves in his/her personal way, and we see more individual postures and no longer a uniform group. Walking and running are by nature actions that are beat-oriented (even if not counted). Most of the time they appear as the action of an individual (even if more than one person is running)2. We see a combination of shaped and free action, rhythmic and yet not imposed. Another factor which helps to make a visual bridge between these two modes is the choice of dancers. Although the women’s costumes are uniform, and the men also wear the same black trousers, the dancers themselves are different heights, and it is clear that they do not conform to a single mould. There is no call here for total uniformity (as in classical ballet). Sometimes we find the two different modes operating simultaneously. The group dances in formed gestures – it is formed dance in the very obvious sense – while the single dancer or couple, moving in spontaneous segments, are in the task-oriented mode. Here again Pina Bausch reveals the need for both modes, without being able to contain them in a single language. The choreography shows the adolescent mentality of the split between the needs of the individual and the pull of the group. It is not yet a mature style that can accept the diversity of individuals moving in and out of the group through free will rather than violence.
1 2
See DVD in Pina Bausch: Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer), Book with DVD, Paris: L'Arche Éditeur 2012, TC 0:29-0:57 and TC 33:05-35:03. See ibid., TC 2:20-2:55.
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In order to create a danced art form that can contain these two tendencies in one style, we will need to transform both modes. We need to revise the inhibition of the spine in the formed phrases, by educating individual dancers and choreographers who will respect personal interpretations that will be open to change from one performance to another. The spontaneous dancer will need to define the smaller movements between the positions, and the nature of the path of the minute changes, and so transform his/her personal feeling into a consciously formed language, observing his/her gestures in a formal way rather then altering them. The dichotomy between the rhythm of the beat and a free, open rhythm also calls for a change: we need to enable a constant flow between the two, without falling into a mechanical beat or indulging in the very personal. We can see this in certain non-European cultures and some forms of modern music and jazz. There is no sharp division between the improvised and the formal. All these transformations call for revision of the inhibition of the torso which in turn calls for a deep belief in change in the arts, as well as in society.
References Alexander, Frederick Matthias: The Use of the Self, London: Methuen 1932. Bernard, Andre/Stricker, Ursula/Steinmüller, Wolfgang: Idiokinese, Bern: Hubert Hans 2003. Cohen, Bonnie Bainbridge: Sensing, Feeling, and Action: Experiential Anatomy of Body-Mind Centering, Massachusetts: North Atlantic Books 1993. Eshkol, Noa/Wachmann, Abraham: Movement Notation, London: Wiedenfeld and Nicolson 1958. Feldenkrais, Moshe: Awareness Through Movement, New York: Harper & Row 1972. Ludwig, Sophie (Ed.): Elsa Gindler – von ihrem Leben und Wirken, Hamburg: Christians 2002. Panofsky, Erwin: The Codex Huygens and Leonardo da Vinci's Art Theory, The Pierpont Morgan Library Codex M.A. rI39 (Studies of the Warburg Institute, vol. 13), London: The Warburg Institut 1940. Todd, Mabel Ellsworth: The Thinking Body, New York: n.p. 1937. Wilhelm, Richard: The Secret of the Golden Flower, London: n.p. 1931.
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Körper und Medium
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Rot und Tot. Der Körpe r a ls Frage zeic hen in Pina Bauschs Le Sa cre du Printe mps
Vorüberlegungen Auf der leeren weiten Bühne hebt sich ein markiertes Feld ab, das mit befeuchteter und duftender Erde ausgelegt ist. Die Ränder sind ordentlich gezogen, sodass der Eindruck einer Bühne auf der Bühne entsteht, ein doppelt gerahmtes und zweifach entrücktes Spielfeld oder vielleicht sogar ein Schlachtfeld, auf dem alles, was sich im Laufe der Vorstellung ereignen wird, einen herausgehobenen Charakter erhält.1 Das, was gleich beginnen wird, ist so, noch bevor ein Tänzer oder ein Tänzerin aufgetreten ist, als Spiel im Spiel markiert. Jeder Auftritt erfolgt gleich zweimal: Auf die Bühne, jenem anderen Ort, an dem sich der Tradition des bürgerlichen Theaters gemäß, ein von unserer Wirklichkeit abgelöstes, fiktionales Geschehen entfaltet, und auf das Spielfeld. Jeder, der es betritt, tritt sichtbar ins Spiel ein. Er oder sie zeigt das Zeigen. Und was sie zeigen, kommt einer Versuchsanordnung mit offenem Ausgang gleich, die die Grundlagen unserer Gesellschaft überprüfend hinterfragt. Denn das erdbedeckte Feld franst aus. Mit jedem stürmischen Auftritt wird das Feld umgepflügt, verteilt sich der Torf, bis sich die Grenzen zwischen Spielfeld und Bühne und Wirklichkeit nicht mehr genau ziehen lassen.
1
Diese Beobachtung basiert auf einem Vorstellungsbesuch einer Aufführung von Pina Bauschs Le Sacre du Printemps. Die 1979 ausgestrahlte Fernsehaufzeichnung aus dem Jahr 1978, die den folgenden Betrachtungen zugrunde liegt, lässt die Bühne im Unklaren.
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Pina Bauschs Le Sacre du Printemps wurde am 3. Dezember 1975 im Wuppertaler Schauspielhaus zusammen mit den beiden Stücken Wind von West und Der zweite Frühling uraufgeführt. Der gesamte dreiteilige Abend trug damals den Titel Frühlingsopfer. Seither wird das Stück ohne die anderen beiden Stücke aufgeführt. Pina Bausch hat auf der Ebene des Dargestellten den Verweis auf ein Ritual gestrichen. Die Handlung verzichtet auf die Szenen, in denen im Originallibretto von Igor Strawinsky und Nicolai Roerich die Stammesältesten eines archaischen russischen Volksstamms die Erde anbeten, um ihre erneute Fruchtbarkeit durch ein Frühlingsopfer zu garantieren. Mit Ausnahme eines leuchtend roten Kleides, das zunächst lediglich ein Tuch zu sein scheint, verwenden Bausch und ihr Bühnenbildner Rolf Borzik keinerlei Requisiten. Die Frauen tragen weiße, durchsichtige Unterkleider, die Männer springen mit nacktem Oberkörper und schwarzen Hosen über die Bühne. Auch auf der Ebene des Kostüms fehlt jede Anspielung auf eine Geschichte aus prähistorischer Zeit, die in Roerichs Ausstattung für die Uraufführung von Waslaw Nijinskys Choreografie durch die Ballets Russes im Jahr 1913 in Paris der Handlung Zeit und Ort gab.2 Stattdessen sehen wir junge Frauen und Männer, die aus der Mitte unserer Gesellschaft stammen könnten, in einem zeitlosen, ebenso abstrakten wie zeitgenössisch adaptierbaren Raum. Durch die Kostüme, oder, wie im Fall der Männer, durch ihr Fehlen, werden ihre Körper erotisch aufgeladen, durch ihre Gesten werden sie gar sexualisiert. Eine junge Frau streicht gleich zu Beginn sinnlich über ihr Kleid und führt es an ihrem Körper entlang über ihr Gesicht als wolle sie sich streicheln. Die Geschichte, die sie ausagieren, ist eine der sexuellen Initiation, der Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau. Eine Frau wird von einem Mann ausgewählt und fällt nach einem Kräfte raubenden Solo neben ihm auf den Boden, während die Gruppe der übrigen Tänzerinnen und Tänzer zuschaut. Doch die Kleidung ist hier immer auch Tanzkleidung: Praktisch genug, um die Bewegungen nicht zu behindern, konkret genug, um die Männer als Männer und die Frauen als Frauen auszuweisen, aber abstrakt genug, um sie primär als Tänzer und nicht als Figuren oder Charaktere wahrnehmen zu können. Vor dem Hintergrund dieser einleitenden Beobachtungen zeichnet sich der Ansatz, den ich im Folgenden in meiner Analyse von Bauschs Inszenierung von Sacre verfolgen möchte, bereits ab. Bauschs Stück ist ein Stück, das zunächst einmal seinen Kunstcharakter nicht leugnet. Es ist ein Stück über Tanz und dessen Funktion. Ich werde daher die Inszenierung nicht als Ritual betrachten, sondern als Theateraufführung. Sacre ist weder auf der Ebene des 2
Für eine Analyse der Uraufführung von Nijinsky vgl. Isabelle Launay: Communauté et articulations. À propos du Sacre du printemps de Nijinski, in: Claire Rousier (Hg.): Être ensemble. Figures de la communauté en danse depuis le XXème siècle, Paris: Centre national de la danse 2003, S. 65-87.
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DER KÖRPER ALS FRAGEZEICHEN
Dargestellten noch auf der Ebene der Darstellung ein Ritual, sondern ein ästhetischer Text, der im symbolischen Rahmen der Kunst und des Theaters und nicht dem der Religion oder der kultischen Handlung stattfindet. Als ästhetischer Text spielt er mit der rituellen Funktion von Tanz und Theater, indem er die Frage nach dem gesellschaftlichen Körper und dem, was ihn zusammenhält, stellt. Bauschs Sacre ist daher zunächst ein selbstreferentieller modernistischer Text, der szenisch über die Funktion von Tanz und damit auch über die Gesellschaft, in der er stattfindet, reflektiert. Die theoretische Überlegung, auf der meine Ausführungen basieren, geht davon aus, dass der tanzende Körper auf der Bühne nicht einfach gegeben und damit unhinterfragt wahrnehmbar ist. Der Körper auf der Bühne wird durch die Bewegungen, die er in einem spezifisch gestalteten Raum ausführt, in den Augen der Zuschauer konstruiert. Diese Konstruktion rekurriert auf einen Subjektbegriff, der das Subjekt im psychoanalytischen Sinn als gespaltenes Subjekt versteht, dessen Triebe und Wünsche sich nicht ohne Symbolisierungsleistung in die Ordnung einer Kultur einfügen können. Der tanzende Körper ist ein begehrender Körper, der die Zuschauer vor den Augen eines abstrakten Dritten, der Ordnung unserer Kultur, die das Theater repräsentiert, zu bewegen und zu verführen sucht. Als begehrender Körper ist er zum einen abhängig von der symbolischen Ordnung, deren Regeln einen Text bilden, die den Körper regulierend produzieren. Zum anderen generiert er bestimmte Bilder vom Körper, die mit der Ordnung interagieren, sich quer zu ihr stellen, diese herausfordern und befragen. Dabei berührt der Körper das Undarstellbare, im Lacanschen Sinne Reale, das am Grund seines Begehrens liegt und das sich in der Aufführungssituation als Reibung am Material, am Körper der Tänzer Bahn bricht. Der tanzende Körper auf der Bühne ist daher nie nur ein Körper. Selbst wenn er alleine tanzt, steht er in Relation zur Sprache, dem Text einer Kultur, zum Bild, einem individuellen und kollektiven Imaginären, sowie zum Körper als Physis, dessen vermeintliches phänomenologisches Gegebensein immer schon durch die anderen beiden Register überdeckt wird. Der Körper auf der Bühne ist daher nie einfach Material. Er ist bereits im Lacanschen Sinne vom Signifikanten angeschnittenes Material und damit nicht mehr er ‚selbst‘. Bild und Sprache sind daher nicht etwas, was dem Körper von außen zustoßen würde. Vielmehr ist der Körper nur in dem Maße Körper und Materialität, indem er Bild und Sprache ist.3 Methodologisch ergeben sich aus diesen theoretischen Prämissen drei Schritte. Zuerst gilt es nach der Grammatik und der Syntax des Stücks zu fragen. Welche Bewegungssprache wird auf welche Art und Weise in eine choreografische Struktur umgesetzt? Die Choreografie ermöglicht es den 3
Das Modell wurde detailliert entwickelt in Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006.
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tanzenden Körpern, ihr Begehren in eine symbolische Ordnung zu überführen und sagbar zu machen. Nun geht kein Körper in der Bewegungsgrammatik auf. Es gilt daher, zweitens, zu beobachten, wie die Syntax ausgeführt wird, um das zur Darstellung zu bringen, was nicht in ihr gesagt werden kann: Dies ist die Ebene der imaginären Körperbilder, die dort ins Spiel kommen, wo sich das Symbolische auf das Andere, das sich ihm als Differenz entzieht, öffnen muss. Welches Bild also produzieren die Körper? Drittens schließlich rückt der Körper als materieller Widerstand zwischen Sprache und Bild ins Blickfeld. Wie übersteigt er Syntax und bildliche Repräsentation, um ein Wirkungs- und Kraftfeld zu eröffnen, das sich auf die Zuschauer überträgt? Sacre bietet sich für eine solche dreigliedrige Analyse geradezu an. Schließlich geht es in dem Stück um nichts Geringeres als um die Begegnung einer Gemeinschaft mit jenen Triebkräften (Sexualität, Gewalt, Aggression), die sie aus ihrer Mitte heraus aufzulösen drohen, weil sie jede Form der Symbolisierung zu sprengen drohen. Die Gründe für die Bedeutung, die Sacre für den Tanz der Moderne hat, und die anhaltende Faszination, die von dem Stück ausgeht, sind sicher auch darin zu suchen, dass das Stück ein grundlegendes Modell für die Funktionsweise des Tanzes in unserer Gesellschaft und, darüber hinaus, für das Funktionieren der Gesellschaft als solcher formuliert. Das stellt die Frage nach der Identitätsbildung von Subjekten, Gruppen und letztlich auch von Gesellschaften.
D a s S ym b o l i s c h e , o d e r : Der aufgelöste Gesellschaftskörper Die Tänzerinnen und Tänzer des Stücks präsentieren auf der Bühne das Bild eines Gemeinschaftskörpers, das durch zumindest zwei symbolische Systeme hervorgebracht wird. Auf der einen Seite haben wir die Ordnung der Tanzsprache, die die Bewegungen reguliert und ermöglicht, auf der anderen Seite deren raum-zeitliche Umsetzung in Form der Choreografie. Bausch steht mit ihrer Sacre-Interpretation fest auf dem Boden des modernen Tanzes, wobei sie verschiedene Traditionslinien und Ausprägungen zu verbinden scheint. Zur Zeit der Entstehung des Stücks 1975 mag ihrer Tanzsprache als solcher bereits ein transgressiver Gestus zugesprochen werden, führte Bausch doch in eine damals in viel stärkerem Maße als heute vom neo-klassischen Ballett dominierte Tanzwelt an den deutschen Stadt- und Staatstheatern eine andere Vorstellung vom tanzenden Körper ein, die auf primär energetischen Prinzipien basierte. Das Vokabular der Tänzer und Tänzerinnen scheint zunächst an Martha Grahams, an die Atmung angelehntes, auf muskuläreren Spannungszuständen beruhendes System von Contraction und Release angelehnt zu sein, wobei sich beim Einatmen der Torso ausdehnt, beim Ausatmen zusammenzieht. Die Körper von Bauschs Tänzern und Tänzerinnen muten 294
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jedoch weitaus weicher an als jene von Martha Graham. Sie sind beweglicher und weniger monolithisch und berühren so jene von Doris Humphrey entwickelten Körper, die auf einer viel größeren Instabilität basieren.4 Dieser Eindruck ist vor allem auf den schwungvollen, den übrigen Körper mitreißenden Einsatz der Arme und der Schulterregion zurückzuführen, welcher der deutschen Tradition des Ausdruckstanzes geschuldet sein könnte. Mit Ausnahme des ‚ausgewählten‘ Mannes, auf den wir noch zu sprechen kommen werden, folgen alle Tänzer und Tänzerinnen der gleichen Bewegungssprache, was ein homogenes Körperbild erzeugt. Das choreografische Verfahren ist vom Kontrast und der Synkopierung geprägt. Zeitlich versetzt ausgeführte, in Höhe und Raumausrichtung gegenläufige Bewegungen von Gruppen oder einzelnen Tänzern erzeugen eine mitreißende Dynamik, die den Raum immer weder zu sprengen scheint. Die Choreografie basiert auf geometrischen Figuren. Kreise, Kreise im Kreis, kraftvolle Diagonalen stehen einer Geometrisierung der Körperpartien durch die Kostüme zur Seite, die im Plié die Beinpartien zum Dreieck oder zum Trapez formen. Durch Blicke, Drehungen, Ausrichtung der Körper im Raum werden die verschiedenen Raumlinien betont und der Körper zum plastischen Gebilde, dessen Relation zu dem ihm umgebenden Raum deutlich wird. Der individuelle Körper fügt sich so in ein übergeordnetes Gesamtschema, das von den gleichen Prinzipien der Ausdehnung, der Zerstreuung im Raum, und des Zusammenziehens, der Konzentration auf einem Punkt, folgt. Schließt Bausch die Tänzer immer wieder zu Gruppen zusammen, so brechen doch stets ein oder zwei Tänzerinnen oder Tänzer aus der Gruppe aus, umkreisen sie, laufen in einem Bogen zur Mitte, bilden neue Zusammenhänge oder kehren zur ursprünglichen Formation zurück. Obwohl Bausch diese Formelemente als solche ausstellt, finden sie doch nicht im abstrakten Raum der bewegungsprachlichen Zeichen statt. Sie stehen auf der symbolischen Ebene in ihrem pragmatischen Bezug auf den Rezipienten im Horizont des Gedächtnisses einer Kultur, als dessen Teil auch die Institution Theater fungiert. Historische Kontexte, wie den Skandal nach der Uraufführung von Le Sacre du Printemps 1913, können je nach Wissensstand supponiert, Erinnerungen an andere Sacre-Aufführungen wachgerufen und Zeitbezüge hergestellt werden. So wird die Choreografie lesbar als Versuch der Individualisierung, des Ausbrechens aus fest gefügten Formen und Formationen, was im Kontext der 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland gleich mehrfach Bedeutung erlangt. Neben einer Liberalisierung der Gesellschaft im Zuge der 1968er Bewegung durch das, was man seither als sexuelle Revolution bezeichnet, war das Jahrzehnt auch geprägt von den Ter-
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Diesen Hinweis verdanke ich Sabine Huschka.
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roranschlägen der RAF, die die Ordnung der Gesellschaft in ihren Grundfesten radikal erschütterte.5 Der symbolische Körper, den die Regeln der Tanzsprache und der Choreografie produzieren, ist ein aufgelöster, nicht mehr geschlossener Gesellschaftskörper. Was aufbricht, ist die Gewalt, die ihr nicht von außen zustößt, sondern die von Anfang an in ihrer Mitte ist. Schließlich sind die Körper von Anfang an mit berstender Energie und sexuellem Verlangen aufgeladen. Dies führt nun zu den beiden anderen Ebenen der Analyse: Dem durch die Bewegung generierten imaginären Körper, der die Choreografie ausführt und diese dabei übersteigt, und dem Realen als der Lust an der Bewegung.
Das Imaginäre, oder: Der Körper der Verausgabung Die überaus dynamische, an den Raumlinien wie an abstrakt geometrischen Prinzipien gleichermaßen orientierte Choreografie, erhält durch die tanzenden Körper eine andere Qualität. Durch die Bewegungen entstehen imaginäre Körper, die die Ordnung, in die sie eingespannt sind, überschreiten. Das Körperbild, das durch die Bewegungen entsteht, ist ebenso dynamisch wie die Choreografie, die die Tänzer ausführen. Codiert wird dieses Bild über die Sexualität, und damit verbunden über das Verhältnis von Männern und Frauen. Diese beiden Gruppen sind die einzigen Akteure im Spiel von Annäherung und Abstoßung, das auf der Bühne ausagiert wird. Ausgehend von der Körpermitte, der Bauch- und Beckenregion mit ihren sexuellen Konnotationen, werfen sich die Körper in die Luft, reißen den Kopf zurück, überdehnen sich weit zurückgebeugt, bevor sie blitzschnell vornüber schlagen, ins Plié, in die Knie sinken, den Oberkörper vorn über gebeugt, den Kopf gesenkt, übergefaltet und zusammengekauert. Die Arme schwingen ausgestreckt mit gefalteten Händen zwischen den Beinen als hielten sie ein massives Schwert bevor sie mit Schwung nach oben gerissen werden, sich im Ellbogen abknicken, nur um kurz darauf offen und gelöst auf die Oberschenkel zu schlagen. Weit ausgestreckt umspielen sie die Schultern in einer wellenförmigen Linie. Zahlreiche Bewegungen gehen ebenso von der Schulterregion aus, die den Oberkörper der Tänzer in Bewegung versetzen und ihm daher eine größere Flexibilität und Weichheit verleihen. Im schwungvoll-dynamischen und kraftvollen Einfangen und Einholen, im Ausbrechen und Ausholen, im Öffnen und Ver-Schließen des Körpers sind die beiden Geschlechter nicht wesentlich verschieden. Die Männer wirken mit ihren Sprüngen und ihren steifen Armen, die sie wie Klappmesser links und rechst eng am Körper führen, lediglich kompakter als die Frauen. Eine andere Geste dagegen bleibt den Frauen vorbehalten. Im Plié mit beiden Beinen fest 5
Siehe auch den Beitrag von Michael Diers in diesem Band.
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auf der Erde stehend, führen sie den Ellbogen zur Hüfte und stoßen sich damit in die Seite wie mit einem Dolch, eine Geste der Selbstzerstörung, die jedoch im Gefüge der Aufführung zu keiner Selbstzerstörung führt. Vor diesem Hintergrund erscheint das Verhältnis der Geschlechter zueinander keineswegs von einer grundsätzlichen Opposition geprägt zu sein. Denn beide agieren sie mit sexualisierten und gewalttätigen Gesten. Sexualität und Gewalt vereinen sich als Gesten der Überschreitung, die die Körper der Frauen und der Männer gleichermaßen zerreißen. Oft genug mischen sich die Gruppen, laufen die Tänzer und Tänzerinnen durcheinander und beäugen sich mit der gleichen Mischung aus Neugier und Angst. Werden die Geschlechter im dynamischen Kontrast mit zeitversetzten Bewegungen gegeneinander geführt, bleibt die Art ihrer Bewegungen doch die gleiche. Die grundsätzlichere Trennung verläuft im Stück demnach nicht zwischen Mann und Frau. Die grundlegende Opposition im Stück besteht vielmehr zwischen der Gruppe der Tänzer und dem roten Tuch und dem Moment der Bewegungslosigkeit, das es auslöst. Das Tuch ist es, das Männern und Frauen gleichermaßen bestimmte Reaktionen und Verhaltensweisen aufdrängt. Zu ihm müssen sie sich auf die eine, vielleicht weiblich zu nennende, und auf die andere, vielleicht als männlich zu bezeichnete Art verhalten. Die männliche Variante der Selbstzerstörung zeigt sich selbstredend im männlichen Pendant zum dem, was traditionellerweise immer als Opfer, die Frau nämlich, bezeichnet wird. Zu Beginn des Stücks liegt eine Tänzerin bäuchlings auf dem roten Tuch, das später als Kleid erkannt werden wird.6 Sie schlummert und liebkost dabei das Tuch als sei es ihr Liebhaber, bis sie langsam erwacht und sich von ihm zurückzieht und erhebt. Die Parallelszene dazu findet sich später im Stück, wenn Jan Minarik mit ausgebreiteten Armen wie ein Gekreuzigter stocksteif auf dem Tuch liegt. Seine Steifheit macht ihn im weiteren Verlauf zu einer Art Bedrohung, einer uneinnehmbaren Festung, eine erigierte, phallische Säule in der Landschaft, dem sich die Frauen ängstlich nacheinander nähern, bis er stur geradeaus über die Köpfe der Mädchen hinweg blickend blind zugreift, der er dann, zunächst umringt und beschützt von der Gruppe der Tänzer, das rote Kleid überstreift. Was will er? Was wird ihnen geschehen? Doch scheint auch er eher zufällig ausgewählt worden zu sein, das Opfer zu vollstrecken. Im Taumel der ersten Begegnung zwischen Männern und Frauen hat er eine Frau aufgefangen, die jemand kurzerhand durch die Luft geschleudert hat. Der ‚steife‘ Mann, den auch unsere Blicke nicht penetrieren können, zeigt sich als eine Pose, die ihn sichtbar, erkennbar macht und zugleich verstellt, weil er nicht erkannt werden will. Als Pose bleibt er ein Fremdkörper im 6
Vgl. DVD in Pina Bausch: Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer), Buch mit DVD, Paris: L'Arche Éditeur 2012, TC 0:29-0:57.
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Stück, das sich ansonsten jeglicher statischer Posen verweigert. Während die Frau ihr Opfersolo tanzt, das nach dem Überstreifen des Kleides mit einem Sturz beginnt, in dem sie alle Bewegungen noch einmal bis zur Erschöpfung ausführt, legt der Mann sich auf den Rücken und streckt die Arme im 45Grad-Winkel steif in die Luft als sei er nun bereit, sie zu empfangen.7 Doch er vollstreckt das Opfer lediglich in dem Maße wie es an ihm vollstreckt wird. Seine paralysierte Geste hat nicht nur etwas immens hilfloses, indem sie von seiner Unfähigkeit erzählt, eine lebendige Beziehung zur Frau einzugehen. Was will sie? Was wird mit mir geschehen? Als hätte die Totenstarre, rigor mortis, ihn in seinem Grab längst ereilt, zeigt er nur noch die Maske und Fratze des Todes, der die Identitäten der beiden bedroht. Als maskenartige Pose, aus der das Leben gewichen ist, ist sie dem Kleid der Frau in ihrer Funktion analog. Sowohl die auserwählte Frau im roten Kleid als auch der auserwählte Mann in der Totenstarre sind lediglich zwei Varianten der Furcht vor dem Unbegreiflichen, Ausgegrenzten, Heterogenen, das mit der Sexualität in die symbolische Ordnung eindringt. Versucht sich der Mann in einem Akt der Mimikry dem absolut Anderen anzugleichen (er wird zum Tod), um ihn zu bannen, weicht sie ihm aus, nur um sich mit jeder ihrer Bewegungen ihm doch anzunähern (sie erschöpft sich im Tod). Das Körperbild und mit ihm die Vorstellung einer die Identität des Subjekts bedrohenden und auflösenden sexuellen Energie lässt sich zusammenfassend als ein hysterisches Überschreiten der (Körper-)Mitte, des Maßes und der (geometrischen) Ordnung beschreiben. Es resultiert aus der Internalisierung des Verbots der Sexualität und stellt zugleich dessen Erfüllung wie dessen durch die Verausgabung der Körper erzeugte körperliche Materialisierung dar. Das Bewegungsbild und daraus resultierend das Körperbild ist ein Appell an den Anderen, eine Öffnung wie eine pulsierende Wunde, eine Aufforderung zu lieben und ein gleichzeitiges Zurückweichen aus Furcht, man könne sich an jenem ausgeschlossenen, tabuisierten und in diesem Sinne auch heiligen Ort verlieren. Der Körper ist ein Fragezeichen, eine geschwungene, gekrümmte Linie, links und rechts von der Mitte, aufgespannt zwischen Himmel und Erde, die ihre Geheimnisse nicht widerstandslos ohne Verluste, ohne das, was man landläufig Erfahrung nennt, preisgeben wollen. Was will der Andere von mir? Was wird mir geschehen? Diese Frage grundiert jeden ebenso ängstlichen wie flehenden Blick der Frauen auf die Männer, die doch nicht voneinander lassen können, immer wieder neugierig aufeinander zugehen, von einem inneren Impuls getrieben, ein schüchternes, zärtliches Sich-Zeigen auf Seiten der Frauen, bevor die Scham gesehen, erkannt und ausgewählt zu werden in eine panische Fluchtreaktion mündet. Diese führt sie immer wieder
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Vgl. ebd., TC 33:05-35:03.
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zurück zur Gruppe, zu der sowohl die Tänzerinnen als auch die Tänzer stets Kontakt halten. Die Überschreitung der Mitte markiert bei aller Faszination, die sie auslöst, aber gleichzeitig auch den Abstand, den das Gezeigte, sich Zeigende zu uns, den Zuschauern, einnimmt. Diese Distanz, die zugleich unsere Distanz zur Bühne als einem in die symbolische Ordnung unserer Kultur eingelassenen Ort des Imaginären ist, ist unüberbrückbar. Ihre Energie, ihre getriebene, triebhafte Bewegungsflucht, die immer auch eine Bewegungssucht ist, versetzt die Tänzer an einen anderen Ort, an dem sie nicht einzuholen und zu verstehen sind. Im gleichen Bewegungs-Zug, mit dem sie sich uns präsentieren, entziehen sie sich wieder. Sie sinken zurück ins Fremde, Uneinholbare, in die Abwesenheit, aus der sie hervorgehen und die sie mit jeder Bewegung ausheben, hervorholen und in die Gegenwärtigkeit der Aufführung einweben. Mit dieser Beobachtung nähern wir uns vorsichtig dem, was ich mit Lacan und Žižek das Reale nennen will.
Das Reale, oder: Das rote Tuch und der steife Mann Tuch und Pose sind Masken des Anderen, des Heterogenen. Als solche sind sie Fremdkörper im Stück, das seine Choreografie, seine geometrische Ordnung, doch um diese beiden Punkte herum organisiert. Sie sind Symptome des Realen, also des Unmöglichen, das die symbolische Ordnung zum Einsturz bringen würde, könnte es sich als es selbst zeigen. Žižek bezeichnet sie als sinthome, weil sie ein Genießen am Überschuss, jouissance, auslösen. „In so far as the sinthome is a certain signifier which is not enchained in a network but immediateley filled, penetrated with enjoyment, its status is be definition ,psychosomatic‘, that of a terrifying bodily mark which is merely a mute attestation bearing witness to a disgusting enjoyment, without representing anything anymore.”8
Das ist hier durchaus ganz konkret zu verstehen. Sowohl der Vollzug eines tatsächlichen Rituals, eines tatsächlichen sexuellen Akts als auch einer tatsächlichen Gewalttat würde den Rahmen des Theaters und damit des Symbolischen, in dem qua kultureller Vereinbarung so tut als ob, sprengen. Stattdessen spielt die Aufführung mit dieser Grenze, um mit Hilfe des Imaginären (in diesem Falle der Sexualität) symbolisch zu verhandeln, was jeder gesellschaftlichen Ordnung ausgeschlossen bleiben muss, weil sie sie begründet: Der Gewalt. Indem sie symbolisiert wird, wird sie sagbar und damit aus einer 8
Slavoj Žižek: The Sublime Object of Ideology, London/New York: Verso 1989, S. 76.
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Distanz heraus verhandelbar. Wir versinken nicht in ihr. Die Inszenierung spielt auf eine zweifache Art und Weise mit der Grenze zur Gewalt. Zum einen indem sie das rote Tuch, das hier ein Žižek’sches sinthome ist, als ein ebensolches inszeniert: Als Tabu, das für alle, die auf der Bühne mit ihm in Berührung kommen, Ekel, Abscheu und Schrecken auslöst, ohne dass sie jedoch von ihm lassen könnten. Zum anderen wird die Grenze physisch in der Erschöpfung der Bewegung und der Körper ausgelotet und in ihrer Wirkung auf die Zuschauer übertragen. Als Symptom kehrt das Reale im Symbolischen wieder, ohne an es angeschlossen werden zu können, und bedroht dessen Grenzen. Frau und Mann bleiben, haben sie erst einmal Kleid und Pose angelegt, von den anderen Tänzern und Tänzerinnen getrennt. So sehr die Frau auch mit ihren Blicken um Hilfe fleht, die im Raum versprengten Grüppchen, die ihrem Solo ebenso fasziniert wie befremdet zuschauen, werden sie nicht mehr auffangen. Das rote Tuch wandert. Entsetzt und starr vor Angst lässt es die Tänzerin nachdem sie sich von ihm erhoben hat aus der Hand fallen als sei sie von einem Traum erwacht, dessen Tragweite sie erst zu begreifen beginnt. Wie ein Spielball werfen sie es sich zu, und wer es zu lange in der Hand hält, verbrennt sich.9 Sie halten es zusammengeknüllt in Händen, wenn sie aus der schützenden Gruppe heraustreten und sich dem steifen Mann nähern. Einmal landet es gar in der Mitte des Spielfelds, während die Tänzer und Tänzerinnen mit dem Rücken zu ihm einen Kreis bilden und es in einer Art offenen Reigenform, in der sie sich trotz ausgebreiteter Arme nicht gegenseitig berühren, umtanzen. Das Entsetzen, welches das Tuch auslöst, bleibt auf die Ebene des Dargestellten beschränkt. Denn das Tuch als solches vermag bei den Zuschauern weder Furcht noch Ekel auszulösen. Zum Eindruck einer Gefahr und damit zu einer gesteigerten Wahrnehmung kommt es durch ein anderes Verfahren, das die Grenze zum Realen wirkungsvoll umspielt. Der schwere und erdig riechende Torfboden ist nicht nur ein Zeichen für die Erde und damit im Anklang an das Original-Libretto von Sacre für die Fruchtbarkeit, sondern diese selbst. Der Torf führt in den symbolischen Raum ein Element der Wirklichkeit ein, das jede Bewegung potentiell dem Realen aussetzt. Durch die Erde wird der Kontakt der Tänzer und Tänzerinnen zum Boden erschwert, die Schritte werden schwer. Es entsteht Reibung am Boden, die Widerstand erzeugt. Es bedarf Kraft, sich durch den Boden zu pflügen, sich dagegen aufzulehnen und aufzurichten. Die Bewegungen werden so nicht mehr nur ausgeführt, sie erhalten ein Doppel, das im Prinzip jeder Bewegung innewohnt, das aber hier ausgespielt werden kann. Die Bewegung wird gedoppelt von einer zweiten, negativen Bewegung, die nicht als solche getanzt wird, die aber im Widerstand, in der Kraft erfahrbar wird. Durch dieses Gegengewicht 9
Vgl. DVD Le Sacre du Printemps, TC 6:50-7:12.
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zum Sichtbaren wird der Materialcharakter von Körper und Bewegung betont, der das unterstreicht, was nicht ausgeführt wird. Die Bewegung erhält dadurch ein Element der Gefahr, die das symbolische System der Aufführung zum Einsturz bringen könnte: Durch Verletzung, durch die Erschöpfung der Tänzer, die zusammenbrechen könnten, weil ihre Kraft nach einiger Zeit nicht mehr ausreicht. Die Arbeit am Boden hinterlässt Spuren auf Kostümen und Haut der Tänzer. Sie zeichnet Erfahrung auf ihren Körpern ab und überträgt sie als Kraft, als Affekt auf die Zuschauer. Damit steigert sich zum einen die Präsenz der Körper, weil sie als in jedem Moment als wache, aufmerksame Körper präsentieren müssen. Zum anderen markiert dieser „monströse“ Exzess der Körperlichkeit, die aus sich heraustritt, um sich uns zu zeigen, aber auch genau jenen Punkt, an dem die Aufführung von uns zurückweicht, sich uns entzieht. Das Monströse zeigt sich (monstrum) und ist auch zugleich ein Zeichen, eine Warnung, ein Wunderzeichen, das vor einer göttlichen Bedrohung warnt. Hierin verbindet sich die Bewegung mit dem roten Tuch und der Pose als Symptomen des Realen. Sie sind Evidenzen des Unsichtbaren, Platzhalter für eine Leere, für das, was sich im Bild nicht zeigen kann, was an ihm und in ihm abwesend ist, aus dem seine Präsenz hervorgeht, um sich der Abwesenheit wieder anheim zu stellen. Jean-Luc Nancy formuliert diese Dimension des Bildes wie folgt: „Das Wort imago bezeichnet das Bildnis der Abwesenden, der Toten also, genauer: der Vorfahren: die Toten, von denen her wir kommen, die Glieder eines Geflechts, in dem jeder von uns ein Haken ist. Die imago hakt in den Stoff ein. Den Haken des Todes entfernt sie nicht, sie tut mehr und weniger zugleich. Sie webt, sie bildet Absenz. Sie repräsentiert Absenz nicht, sie erinnert nicht daran, sie symbolisiert sie nicht, obgleich auch immer etwas davon im Spiel ist. Im Wesentlichen präsentiert sie die Absenz. Die Abwesenden sind nicht da, sind nicht ‚im Bilde‘. Aber sie sind gebildet: ihre Abwesenheit ist in unsere Präsenz eingeflochten. Der leere Platz des Abwesenden wie ein Platz, der nicht leer ist: das ist das Bild.“10
Jede Bewegung entzieht sich im selben Moment, in dem sie gegeben wird, wird zu einer anderen Bewegung, die ebenso schnell wieder vergeht. Sie markiert den Platz, an dem die Körper aus sich heraustreten, existieren und in Ekstase geraten, sich als Bild zeigen, um sich auf ein Anderes hin zu öffnen, was nicht dargestellt oder präsentiert werden kann. In ihrer Ekstase sind die Körper nicht anschließbar an die symbolische Ordnung. Wir können sie nur genießen, Lust an den Körpern und ihren Bewegungen empfinden, einer Lust am Text, der auf der Ebene des Realen nicht zu verstehen gibt, sondern zu
10 Jean-Luc Nancy: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin: Diaphanes 2006, S. 115f.
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erfahren. Ohne diese Lust am Realen, dem Faszinosum, hätten wir wohl kaum Lust am Tanz und am Theater. Bausch lässt das Ende offen. Ihr symbolischer (Gesellschafts-)Körper vermag sich nicht über dem Ausschluss eines oder gar zweier Opfer zu schließen. Jan Minarik bleibt steif auf dem Rücken liegen, während Malou Airaudo neben ihm, ein ganzes Stück weit von ihm entfernt zu Boden sinkt. Mit der gleichen Geste, die Arme im 45-Grad-Winkel vorgestreckt, fällt sie mit dem Kopf in Richtung seiner Füße, in der verfehlten Begegnung ein verdrehtes Spiegelbild des Mannes. „Das Opfer“, schreibt Nancy, „bewirkt eine Annahme, eine Aufhebung des Profanen im Heiligen; das Bild hingegen bietet sich in einer Öffnung dar, die untrennbar Gegenwart und Abstand bildet.“11 Der unaufgelöste Schluss hält die Zuschauer im Parkett ebenso auf Distanz wie die Tänzer und Tänzerinnen, die um das Tableau der Leblosen, das sich ihnen auf der Bühne bietet, herumstehen. Die zuschauenden Tänzer spiegeln die Ratlosigkeit an die Zuschauer im Parkett zurück. Gerade weil das Geschehen sich zurückzieht und in seine Abwesenheit zurücksinkt, ohne sich aufzulösen, ist das, was auf der Bühne geschieht, ein ästhetisches Bild (und kein Ritual), aus dem die Bedeutung zugunsten eines Affekts, einer öffnenden Geste, gewichen ist. Die sich verausgabenden Körper, die über sich hinauswachsen und sich ebenso wie die Bewegungen der Tanzmoderne zu erschöpfen drohen, präsentieren sich unter dem Ansturm der Triebe und Affekte als Fragezeichen. Wie umgehen mit dem, was wir nicht kontrollieren können und was doch immer schon Teil von uns ist? So zeigt sich auch der Gesellschaftskörper am Ende als Fragezeichen, der über die Öffnung, die die Gewalt riss, über dem Graben zwischen dem Mann und der Frau, keine Antwort findet. Sacre konfrontiert den symbolischen Körper einer Gemeinschaft mit dem imaginären Ansturm von Sexualität und Gewalt, die sich dadurch miteinander verbinden, dass sie Evidenzcharakter beanspruchen und sich nicht rechtfertigen können, sondern Ordnung und Identität mit einer einzigen Geste zerschlagen. Dazu findet Bausch das Bild des Körpers der Verausgabung, der in seiner Erschöpfung stets das Undarstellbare berührt. Das Unrepräsentierbare schlägt sich als Symptom, als lebloses Ding, in Gestalt des roten Tuches und des steifen Mannes in der Aufführung nieder. Beide, Tuch und Totenmaske, markieren die Leere im Zentrum der Aufführung, einer Leere, die von diesem Zentrum aus einen Bewegungsfuror entfacht, aus Furcht, sich dem Tod zu überlassen. Dieser Furor macht die Identität der tanzenden Subjekte in Bauschs Sacre aus – im doppelten Wortsinn: Ihre Identität besteht darin und sie wird dadurch gleichzeitig ausgelöscht. Die tanzenden Körper sind nur, weil sie über dem traumatischen Abgrund des Realen, welches das Kraft- und Wirkungszentrum der Aufführung bildet, Sprache und Bilder, Bewegungstext 11 Ebd., S. 12 (Hervorhebung im Original).
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und Körperbild legen. In diesem Sinne reflektiert Bauschs Inszenierung als ästhetischer selbstreflexiver Text die rituelle Funktion von Theater: Es versucht, das Heterogene über das Imaginäre ins Symbolische zu integrieren und stellt es so der Verhandlung durch die Gemeinschaft, die sich selbst zuschaut, anheim.
Literatur Huschka, Sabine: Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien, Reinbek: Rowohlt 2002. Launay, Isabelle: Communauté et articulations. À propos du Sacre du printemps de Nijinski, in: Rousier, Claire (Hg.): Être ensemble. Figures de la communauté en danse depuis le XXème siècle, Paris: Centre national de la danse 2003, S. 65-87. Nancy, Jean-Luc: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin: Diaphanes 2006. Servos, Norbert: Frühlingsopfer, in: Ders.: Pina Bausch – Wuppertaler Tanztheater oder Die Kunst, einen Goldfisch zu dressieren, Seelze-Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung 1996, S. 24-34. Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006. Žižek, Slavoj: The Sublime Object of Ideology, London, New York: Verso 1989.
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“Movements thus seem to be a form of thought, the only one, as it happens, that can designate the subject in the place where he loses himself.” Monique David-Ménard1
The scope of psychoanalytically informed writing on dance is, from the critical perspective, limited.2 The only dancer/choreographer to have become the object of serious psychoanalytic attention in the twentieth century was Vaslav Nijinsky. Yet, Nijinsky’s mental breakdown, not his choreography, was the primary object of analysis.3 Apart from Nijinsky, the psychoanalytic 1 2
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Monique David-Ménard: Hysteria from Freud to Lacan. Body and Language in Psychoanalysis, Ithaca/London: Cornell University Press 1989, p. 140. I am not referring to the field of dance therapy, but of dance performance in the context of Dance Studies. I do not mean to overlook the ‘psychological’ ballets of Antony Tudor and Martha Graham in the 1940s. These works certainly encourage thinking across these areas. But they have not fostered any critical discourse seriously evaluating the relationship between psychoanalytic theory and dance. Graham is mentioned in the “psychanalyse et danse” section of Pierre Kaufmann. See Pierre Kaufmann: L’Apport freudien. Eléments pour une encyclopédie de la psychanalyse, Paris: Bordas 1993. The field of dance therapy stresses the curative aspects of movement. Performance, on the other hand, has tended to stress pathology, and it is this aspect that has been accorded insufficient critical attention. This is so much the case that Hanna Järvinen has distinguished two schools of interpretation of Nijinsky. For Järvinen the idea of the mad genius, which she calls the hegemonic view, devalorizes Nijinsky’s actual choreographic output. See Hanna Järvinen: The Myth of Genius in Movement. Historical Deconstruction of the Nijinsky Legend, Dissertation: University of Turku 2003.
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field has shown little interest in dancers, much less in choreography. Between 1912 and 1937 Imago, the prominent journal of psychoanalysis and culture edited by Hanns Sachs and Otto Rank, published a mere three articles on dance.4 The successor journal from 1937 to the present, American Imago, has published only one article on dance, and given the by then established discourse about dance in psychoanalytic literature, it was somewhat pre5 dictably on the relationship of Nijinsky’s schizophrenia to his artistic genius. Moreover, there has been nothing in the dance field to match Theodor Adorno’s psychoanalytically informed Philosophy of Modern Music6, much of which focuses on the music of Igor Stravinsky.7 Obviously, what stands in the wings is the case of Rite of Spring, the inaugural work of dance modernism and – through its ‘succès de scandale’ in 1913 – a harbinger of indivi8 dual and social mental disturbance. Now, the choreography of Pina Bausch seems in many respects compatible with a psychoanalytically informed approach to choreography, not least because of the many hallmarks of hysteria that constitute its theatricality and contribute to its intensity. Bausch’s work returns us to the relation between the unconscious and the body in modernism, a relation that was forged in the historical crucible of hysteria, but that has since been occluded by oversimplified concepts of the relationship of language, corporeality, and the imaginary.9 Felicia McCarren has described the historical relationship between dance and pathologies in modernism. “In the late twentieth century,” she writes, “resemblances between dance and hysteria can be read as choreo4
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See A. A. Brill: Die Psychopathologie der neuen Tänze, in: Imago 3 (1914), p. 401-408. See P.C. Van der Wolk: Der Tanz des Çiwa, in: Imago 9 (1923), p. 457-452. See A. Stärcke: Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw., in: Imago 12 (1926), p. 268-272. See Anne Wilson Wangh: Vaslav Nijinsky: Genius and Schizophrenia, in: American Imago 35/3 (Fall 1978), p. 221-237. Alfred Adler wrote an essay intended to preface the first publication of Nijinsky’s Diaries. See Alfred Adler: Preface to The Diary of Vaslav Nijinsky, in: Ballet Review 9/3 (Fall 1981), p. 13-27. See also Peter F. Ostwald: Vaslav Nijinsky: a leap into madness, New York: Carol Publishers Group 1991. See Theodor W. Adorno: Philosophy of Modern Music, New York, London: Continnum 2004. Although Adorno does not mention George Balanchine who was choreographing to Stravinsky’s neoclassical compositions in New York at the time of his book’s first printing, Adorno’s discussion of Stravinsky and restoration could inform an as yet unwritten consideration of Balanchine’s neoclassicism. See, for example, Modris Eksteins: Rites of Spring. The Great War and the Birth of the Modern Age, New York/Boston: Hougton Mifflin Company 1989. Mahmoud Sami-Ali argues that the symbolic function is not originally a linguistic phenomenon. See Mahmoud Sami-Ali: Corps réel, corps imaginaire. Pour une épistémologie psychanalytique, Paris: Bordas 1977, p. 61-76.
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graphic commentary on their long liaison.” To acknowledge their liaison is to broach the issue of their deep imbrication. Despite its music and scenario, which adhere to the original Nijinsky ballet, Bausch’s Rite of Spring (1975) is not retrospective. Bausch evokes hysteria in a contemporary sense. The American feminist literary critic Elaine Showalter writing in the 1980s associated hysteria with feminism: “The feminist romance with hysteria,” she writes, “began in the wake of the women’s liberation movement of the late 1960s and the French événements of May 1968, when a young generation of feminist intellectuals, writers, and critics in Europe and the United States began to look to Freudian and Lacanian psychoanalysis for a theory of femininity, sexuality, and sexual 11 difference.” Feminist theorists such as Juliet Mitchell who have engaged with psycho-analytic theory tracked the migration of hysteria from what was thought to be a personal affliction to an infirmity of broad social dimen12 sions. Hysteria is a behavior around which both oppressive and emancipatory gender politics have been mobilized. To speak of Bausch’s Rite from a psychoanalytic perspective today would not mean to attempt to psychoanalyze the choreographer or to seek psychoanalytic symbolism (although the red scarf is tinged with a symbolic temptation) in her work. I propose instead to consider processes of hystericization. Like the concept of ritualization as opposed to that of ritual as proposed by Catherine Bell, hystercization allows for the emergence of scenes rather than symbols.13 Hystericization functions through a setting of the scene such that the choreography’s formal structure is apprehended as symptomatic. “The symptom,” writes Michel Foucault, “– hence its uniquely privileged position – is the form in which the disease is presented: of all that is visible, it is closest to the essential; it is the first transcription of the inaccessible nature of the disease.”14 Close to the essential without embodying its elusive core, which for psychoanalysis was the narrative generated by the analyst, the symptom was apprehended in early psychoanalysis as the interjection of 10 See Felicia McCarren: Dance Pathologies. Performance, Poetics, Medicine, Stanford: Stanford University Press 1998, p. 47. 11 See Elaine Showalter: Hysteria, Feminism and Gender, in: Sander L. Gilman, et. al. (ed.): Hysteria Beyond Freud, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1993, p. 287. 12 See Juliet Mitchell: Mad Men and Medusas. Reclaiming Hysteria, New York: Basic Books 2000. 13 “‘Ritualization’ attempts to correct the implications of universality, naturalness, and an intrinsic structure that have accrued to the term ‘ritual.‘“ See Catherine Bell: Ritual Theory. Ritual Practice, New York/Oxford: Oxford University Press 1992, pp. 222-223. 14 See Michel Foucault: Birth of the Clinic. An Archaeology of Medical Perception [1979], New York: Vintage Books 1994, p. 90.
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movement and/or paralysis – tremors, tics, pain – into the stream of the patient’s discourse. At the moment that Elizabeth von R’s leg “joined in the discussion,” her physical movement or lack thereof held out, for Freud, the answer to the riddle of her hysteria, the basis on which a narrative account of 15 the symptom’s genesis could be reconstructed. In the psychoanalytic annals of hysteria at the birth of the talking cure, movement (or motility) understood as symptom became the privileged object of the psychoanalytic gaze. What characterizes hysteria (as distinct from neurosis) is the settling of illness in motor functions (from tics and tremors to pantomime). It is this presence of the symptom as such that Bausch seems to have retained, but also updated. Bausch’s work, unlike that of Freud offers no “narrative constructions of bodily meaning.”16 The audience member, confronted with Bausch’s work, becomes more often than not the subject of his or her own self-analysis. This auto-analysis is subjective: it does not presuppose normal and pathological states. Bausch’s Rite presents us nonetheless with what appears to be pathological behavior – personal and social – but it provides no narrative egress, nor any point from which to safely interpret what happens. Adorno described the piece as originally conceived in these terms: “the anti-humanistic sacrifice to the collective – sacrifice without tragedy, made not in the name of a renewed image of man, but only in the blind affirmation of a situation recognized by the victim.”17 In Bausch, the sacrifice is imposed by the community and yet also appears to be sado-masochistically self-inflicted. The choreography posits an irreconcilable ambiguity between collective guilt and individual agency. The fact of sacrifice is apprehended as a psychological necessity to which both the community and the victim appear driven. While the victim in Nijinsky’s original version is a woman who dances herself to death, Bausch’s version self-consciously foregrounds gender: it is undeniable that her Rite comments on the brutal mistreatment of women by men. It seems highly likely that it spoke to a feminist or proto-feminist sensibility in its German audience of the mid-seventies. The “end of social illusion”18 perceived by Adorno in Stravinsky’s music becomes in Bausch’s choreography the end of the illusion of gender. What Adorno called the primeval world depicted in Rite is none other in Bausch’s version than the world of sexual difference itself. (This makes us think again about the scene of the women encountering 15 See Joseph Breuer/Siegmund Freud: Studies in Hysteria, New York: Nervous and Mental Disease Publishing Company 1936, p. 105. 16 See Peter Brooks: Body Work. Objects of Desire in Modern Narrative, Cambridge: Harvard University Press 1993, p. 222. 17 See T. W. Adorno: Philosophy of Modern Music, p. 145. 18 Adorno heard in Stravinsky’s music, particularly in Rite of Spring, a “schizophrenic demeanor,” “the distintegration of the integral individual being” and the construct of “a perspective of mental illness” (See Ibid., p. 170).
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a hippopotamus in Bausch’s Arien (1979)). Its primitive rituals and mores thinly veil her view of contemporary relations between the sexes. The tension between the archaic and the modern analyzed in Stravinsky by Adorno here finds its correlation with the archaic quality of sexual difference: bare-chested men and women in slips and underwear do not inhabit Slavic prehistory but contemporary reality. The archaic element is displaced. What is marked as archaic is sexual difference itself. We deal consequently with two historical layers in Rite – that of the early twentieth century which saw the birth of psychoanalysis and of dance modernism, and that of the seventies, the period of the work’s creation and of the 19 reclaiming of hysteria by feminism. Bausch deploys hysteria as both situation and response to situation. In this sense, she moves seamlessly between an “archaic” and a contemporary understanding of hysteria, and her work might in this sense properly be located in what Christine Buci-Glucksmann has called “the baroque region of modernity.”20 Just as Freud realized that hysterical pain had no cause in organic illness, so the dance of sacrifice occurs in Bausch without a narrative cause unless we understand that cause to be a remembered one, motivated by the Stravinsky score and its 1913 scenario. The elements I shall evoke here are like shifters: They do not contain symbolic content, but are rather ways to situate a psychoanalytic gaze. As such, they could be posed as a series of questions. Is the dirt that carpets the stage part of an imaginary geography of the body that turns sensuality into disgust? Does this setting, in other words, signal erotogenic zone displacement, a hallmark of the hysterical symptom? Bausch replaces the primitivist conceit of sacrifice and/or victimization of the Chosen One with the hysterical event: One whose cause and agency, like the symptom, remains mysterious, although spectacular.21 For example, the red scarf that eventually marks the victim is present from the start: a dancer lies on the scarf, undulates over it gently, and appears to sleep or dream as the work 19 “The structural inability of expository syntax to ‘say’ anything about the genesis of hysterical symptoms becomes a central concern at the dawn of psychoanalysis and of early modernism, which can be effectively viewed as coterminous efforts.” See Harry Polkinhorn: Hysteria, in: American Imago 44/1 (Spring 1987), pp. 2-3. 20 Christine Buci-Glucksmann: Baroque Reason. The Aesthetics of Modernity, London: Sage Publications 1994, p. 151. 21 In this way, it resembles the hysterical performances of Charcot’s Monday lectures at the Salpetrière clinic in Paris, where Freud was in attendance between 1885 and 1886. Hysterical performance became linked at the Salpetrière with the spectacle of pain or to pain as spectacle. The spectacularity of pain is the subject of Georges Didi-Huberman: L’invention de l’hysterie. Charcot et l’iconographie photographique de la Salpetrière, Paris: Macula 1982. See also: Elisabeth Bronfen: The Knotted Subject. Hysteria and its Discontents, Princeton: Princeton University Press 1998.
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begins; it circulates between the women before that circulation actually 22 becomes part of the choosing game. The final solo begins only once Minarek has assumed the position face down on the scarf that iterates that of a female dancer at the work’s start. Once the final solo begins, Minarek lies on his back and slowly raises his arms at a forty-five degree angle, again suggesting dreaming and placing the narrative in a phantasmatic, if nonetheless still brutal, ambience. Moreover, the choreography of the final solo is not markedly different from the choreography we see from the start. All this gives the impression that the dance calls forth the sacrifice and therefore that the dancing is divided between the ostensible narrative of the occurrence of sacrifice and the actualization of the sacrifice as the presentification (Darstellung) of the symptom. Despite dramatic build-up, the sacrifice is always already actualized, which is another way of saying self-inflicted. Narrative is not really necessary, yet it is retained. This is another form of displacement. Inasmuch as the cause of the sacrifice is ambiguous the plot is hystericized. Dance becomes a hysterical symptom in a scenario about the subject or subjects in which bodies are the material, but in which the articulation of corporeality and meaning – body and language – resists symbolization. Bodies are topologized: some of the hallmarks of the hysterical body, according to David-Ménard, are the ambiguity of its movements, reliance on an exchange with objects, and the pantomime of sexual pleasure.23 Historically, the symptom not only takes place at the site of the body, but takes the body as its theatre, a fact that did not escape the attention of the surrealists.24 This blurring of the personal and social representation at the level of interpretable action is what creates the entry point for the audience and the interpretive richness that characterizes the reception of Bausch’s work. The audience is positioned as a collective witness, but ultimately left to its own interpretive devices; it experiences publicly but understands privately. I am not claiming that movement or choreographic syntax should have unequivocal meaning but that to apprehend choreography as symptom requires the viewer to participate
22 Amos Hetz pointed out during the conference that the wave movement used by Bausch was adopted from German Ausdruckstanz. 23 See M. David-Ménard: Hysteria From Freud to Lacan. 24 Surrealists acknowledged their debt to psychoanalysis by praising hysteria as “the greatest poetic discovery of the nineteenth century.” See La Révolution surréaliste, Nr. 11 (1928), pp. 20-22, quoted in: Briony Fer: Surrealism, Myth and Psychoanalysis, in: Briony Fer/David Batchelor/Paul Wood: Realism, Rationalism, Surrealism. Art Between the War, New Haven: Yale University Press 1993, p. 209. That much of Bausch’s work contains interesting connections to surrealism is a theme I hope to develop elsewhere.
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as a social being with an individual history. This quality of perception on the part of the audience parallels the splintered functions of group and individual in the choreography. The constant deflection of the personal into the social and the social into the personal obfuscates political positioning, but potentially engages the complexity of the psycho-sexual underpinnings of fascism, a tendency Adorno also heard in Stravinsky’s score although he claimed for that reason that it could never have been performed in Nazi 26 Germany. Hysteria is shared between the men and women in Rite as indicated by a certain division of hysterical labor. “The hysteric,” writes David-Ménard, “has no body, owing to a lack, in her history, of symbolization of the body.” The ambiguity of this relation to the body is encapsulated in the gesture of one woman early in the work who lifts her slip up to her face as if to protect herself, thereby also exposing herself and rendering herself more vulnerable. The women’s movement vocabulary brings the outside in and the inside out through excavating with the arms and gestures of self-imposed violence that shatter the body’s surface. The movement is primarily up to down or down to up. Could this be read as a lack of body, or better, an absence of the body to itself? “Yet, at the same time,” adds David-Ménard, the hysteric “has too much body…”27 The men are hyper-aggressive and condensed in a “toomuch” body, devoid of introspection. David-Ménard tells us that the symptom is significant, but does not – cannot – represent. It presents or presentifies and does so by means of movement, and in fact, it uses movement in this way to avoid symbolization. It is not that the body cannot participate in symbolic meaning, but that the articulation of the symptom on/by the body implies the historical lack in that body of symbolization of pleasure (jouissance) for itself. Bausch’s Rite tells the story of the sacrifice as the symptom of sexual difference, which is also to say Rite extends the negation characteristic of hysteria into the social realm, sexual difference being an important determinant of social reality. It would therefore be erroneous to say that Bausch takes men and women at face value, or that her ballet is only about the victimization of women by men. This is because she presents sexual difference as 25 “Even for psychoanalysis,” notes David-Ménard, “it is not self-evident that movement should require interpretation.” See M. David-Ménard: Hysteria From Freud to Lacan, p. 140. 26 “Fascism, which literally sets out to liquidate liberal culture – along with its supporting critics – is for this very reason unable to bear up under the expression of barbarism.” See T.W. Adorno: Philosophy of Modern Music, p. 146. It would be worthwhile, but beyond the scope of this paper, to explore the relevance of Wilhelm Reich: The Mass Psychology of Fascism, New York: Orgone Institute, 1946 and its currency at the time of the German premiere of Bausch’s Rite of Spring. 27 See M. David-Ménard: Hysteria from Freud to Lacan, p. 103.
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the result of repression and displacement rather than as truth. Until the final solo during which the protagonists become witnesses who coalesce from distinct groups of women and men into one community of witnesses (thus losing their individuality and usurping the witnessing function of the audience by mirroring it), the division of the stage according to biological sex is strictly binary. But, again, I do not think Bausch’s point of view is Freudian: Rite does not define hysteria as a displacement of sexual difference onto alternative erotogenic zones, but rather defines sexual difference itself as hysterical. That is, sexual difference is the result of a failure of symbolization of jouissance for the social: the alternative zones, could they be located, are those that might restore stability. The topology of hysteria in this work is, therefore, social even though it may emerge fragmentarily in individual behaviors. Bausch is very un-Freudian in that there is no standard of sexual normativity in her work based on sexual identity. But, at the same time, there is an attempt to foreclose desire. Lacanian analyst and theorist Monique David-Ménard posits that hysteria is the result of the fear of desire. Desire acknowledges and constitutes, much as does the signifier, a lack. To fear this lack and to refuse to signify within it is to step outside of language. The hysterical body remains ‘un-constructed’ as it refuses to symbolize its desire: to admit desire and allow it to shape the body’s identity is to corporealize the lack desire signifies.28 Thus, the hysterical symptom comes about as the displacement of the rejection of this lack in/as movement. It is in this sense that the symptom is, to use Freud’s terms, not a representation (Vorstellung) but a presentation (Darstellung). It occurs in a subject unable to topologize his or her own body such that its desire, and hence its pleasure, can be symbolized. The choreography, in other terms, adopts an hysterical strategy by rejecting the symbolization of sexual difference ‘tout court’. Stravinsky viewed his music in similar terms. “Well, my objection to music criticism,” he said in an interview with Robert Craft, “is that it usually directs itself to what it supposes to be the nature of imitation – when it should be teaching us to learn and to love the new reality. A new piece of music is a new reality.”29 Bausch’s Rite also contains a “new reality” presented as a negative dialectic.30 In this way, it references Nijinsky’s moment, the historical moment of the founding of dance modernism. Bausch’s reinterpretation of 28 David-Ménard writes against the energetics of Freud’s conversion theory of hysteria and in favor of a topological description of the erotogenic body. 29 See Igor Stravinsky/Robert Craft: Expositions and Developments, Garden City, New York: Doubleday & Company 1962, p. 115. I am grateful to Stephanie Jordan for pointing this out to me. 30 See Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialectic of Enlightenment, New York: Continuum 1999.
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Nijinsky’s canonical work ‘calls forth’ this complex of issues around the body’s movement, hysteria, and violence in the social field. “It [the modern,]31” said Stravinsky, “implies a new fervour, a new emotion, a new feeling. It is ‘romantic’, of course, and it suffers32 for it cannot accept the world as it is.”33 Bausch focuses on something highly problematic in the new emotion of early-twentieth-century modernism: The sacrifice of woman to the new world. Why are these bare-chested men and these women in slips caught up in the driving logic of Stravinsky’s score? This may not be a question that is explicitly posed to us as an audience, yet we still must cope with it. How are we to deal with the phenomenon of a founding past in this work: The monumentality of the musical score, the choice of the scenario, the brutality of the relationships as something we tell ourselves should rather be consigned to the past? That the aesthetic givens of the work are presented so implacably in Bausch’s version drives this question itself into the background, yet in this way preserves it as a question. What distinguishes the symptom as the centerpiece of the psychoanalytic exploration of hysteria is the problem of symbolization. Feminist analysis saw through the narratives with which Freud proposed to interpret his patients’ symptomatic movements.34 Bausch’s version demystifies Nijinsky’s ur-rite. Her choreography purposefully confuses the social narrative with unconscious personal agency, audience witnessing with self-analytical reading into the work. To me, this is what explains its ability to reclaim the music and question it at the same time. Again, Bausch uses hysteria as both situation (the giveness of the score) and response to situation (the rejection of the score through an insistence on its brutal premises). This simultaneous embrace and denial are themselves functionally hysterical. If we consider Nijinsky’s Rite as one version of the birth of dance modernism, we recall that Jacques Rivière heralded Nijinsky’s innovation as the overcoming of the desiring body, which the critic defined as a body tracing itself through space in curvilinear motion, thus allowing the escape of emotion in movement. The model for this was the choreography of Nijinsky’s predecessor, Michael Fokine. Rivière critiqued Fokine’s choreography: “Instead of the emotion being the object that the movement tries to describe and make visible, it becomes a mere pretext for erupting into movement.”35 31 Insertion by the editor. 32 paschein, to suffer, is also the root of pathos, incidentally 33 See Igor Stravinsky in: Igor Stravinsky/Robert Craft: Memories and Commentaries, London: Faber and Faber 1959, p. 115. 34 A significant strand of feminist critique of psychoanalysis with particular relevance to hysteria centers on the deconstruction of Freud’s narratives of interpretation. See Jacqueline Rose: Dora – Fragment of an Analysis, in: Sexuality and the Field of Vision, London/New York: Verso 1986, p. 27-48. 35 See Jacques Rivière: Le Sacre du printemps, in: What is Dance? (1913), p. 119.
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Rivière hailed Nijinsky’s modernism in its discovery of the body as medium, an historic discovery that took place with Rite of Spring. The role of dance as a medium was to displace the subject, and Rite offered the demonstration of this displacement. The nature of the body as medium in dance modernism was not to corporealize its desire in trace lines of emotional vapor, but to ‘prevent the escape of emotion‘. In Rite Nijinsky prevented the body from expressing its lack, and thus turned the body into its own medium, one from which nothing escaped. To do this, the dancer must lose him “self”, although Rivière 36 states: “He regains possession of himself at each instant.” The strong moments are nevertheless moments of loss, after which possession can be ‘regained‘. To take the dancing subject as the subject of the medium of dance is, by and large, the project of dance modernism, and is also, in the light of my trajectory here, an essentially hysterical project. The bodily person, in order to become the medium of dance (and thus make dance a medium, at last, rather than a simple vehicle of expression) must become lost to herself, become incapable of the desire to move. Yet, it is also true that Nijinsky did not by any means succeed in purging his choreography of narrative, which was to become the corollary of the objectivism inaugurated by Rite. Instead, the narrative stages the loss of a self that we identify as other than ourselves, thereby both celebrating the hysterical project inwardly and condoning it outwardly as violence. By choreographing ‘another’ Rite of Spring Bausch causes desire to return to the sacrificed body, and thus locates hysteria as the score’s hidden motive. In this sense, Bausch displaces the narrative onto the music, and thus enables suffering to emerge – or escape – from movement. This is the counter-message of the work, and it emerges from the performativity of the final solo – the dance of death is not a representation but a presentation in that it stages real and dangerous exhaustion – a voluntary act of self-extinction in and through movement.
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Medien des Ta nze s – Ta nz de r Me die n. Unterw egs z u e iner da nce lite racy
Einleitung Eine Medienanalyse des Tanztheaters am Beispiel von Pina Bauschs Sacre du Printemps durchzuführen, erscheint schon deshalb prekär, als sie sich nicht direkt auf ihren zugrunde liegenden Gegenstand beziehen kann, sondern sich eines anderen Mediums, des Videos, bedienen muss, worin es erscheint. Die Aufzeichnung reproduziert eine Aufführung, ohne uns daran teilhaben zu lassen. Das Video gibt dabei Blickweisen, Perspektiven, Schnitte, Montagen und Tiefenschärfen vor; ein Anderer sieht und zeichnet auf und trägt zugleich in das Aufgezeichnete eine andere Sicht, seine Alterität ein. Der Abstand wird besonders dort problematisch, wo wir auf solches aufmerksam werden möchten, was die präformierte Blickrichtung untersagt und wo der andere Blick buchstäblich nach dem Anderen des Anderen ruft. Wir verfügen zudem nur über eine Version, eine Perspektive, die durch eine Kluft beherrscht wird und uns nötigt, uns auf etwas zu beziehen, das dem zu Analysierenden bereits seine Regie aufgezwungen hat. Gleichzeitig gestattet es aber auch andere Blicke, erlaubt, die Bewegung anzuhalten, die Figuren zu zerlegen und eine genaue Sicht auf das lenken, was zwischen ihren Übergängen geschieht. Denn der Film, wie Walter Benjamin es ausgedrückt hat, gestattet die Entdeckung „völlig neuer Strukturbildungen“ sowie „unbekannter Bewegungen“ oder das, was im Sekundenbruchteil zwischen Hand und Ding im Augenblick der Berührung oder der Verfehlung eines Gegenstandes passiert.1 So muss die 1
Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seine technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 41.
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Reflexion auf die Methodik einer medientheoretisch argumentierenden Tanzanalyse mit dem beginnen, was die Methode oder Blicklogik des Mediums diktieren und denen wir wider Willen folgen müssen. Wir haben also gleichsam mit mehrfach ineinander verschränkten ‚Faltungen‘ und Differenzen anzusetzen, die freilich gleichzeitig schon Auskunft darüber erteilen, was der spezifische Beitrag einer Medienanalyse sein kann: Als ‚Mitten‘ oder ‚Vermittelndes‘ sind Medien dasjenige, was ebenso hervorbringt wie unterbricht und verschiebt. Medienreflexion hat es mit diesem Hervorbringenden und Trennenden, dem Verwandelnden und Entfremdenden zu tun. Sie analysiert die Schnittlinien, Distanzen, Umlenkungen und Verkehrungen, die das Gegebene durchfurchen und worin sich die Medialität des Mediums abzeichnet: Als Summe von durch Musik figurierten und sich ihr widersetzendem Tanz, dem ihn aufzeichnenden und wiederholenden technischen Medium und schließlich der Aufführung als Substitut einer gewesenen Aufführung, die für uns ein für allemal vergangen und verloren ist.
K o n t e x t u i e r u n g d e s T a n z t h e a t e r s vo n Pina Bausch in der klassischen und a va n t g a r d i s t i s c h e n Ä s t h e t i k d e s T a n z e s Gewöhnlich wird dem Tanz in den großen dramatischen Formen des Theaters nur eine Nebenrolle zugewiesen. Statt der Sprache der Bühne berufe er sich auf eine ‚andere Sprache‘, deren Darstellungen sich mit den Bewegungen des Körpers vollziehen und so ein Bild malen oder einen Text schreiben, von dem gesagt worden ist, er sei dem Leib eingemeißelt – und doch bedeutet dies eben schon, den Tanz dem Paradigma der Sprache unterzuordnen und ihn vom Satz, dem Text oder seinen Buchstaben her zu lesen.2 Indessen stößt jeder Bezug auf Text und Sprache auf die Paradoxie, dass der Körper nicht spricht, sondern ist. Gewiss gibt es Gebärden, Zeichen oder Ausdrucksweisen, die sprechend genannt werden können, aber alle diese Gesten und Symbole basieren noch auf jener Indifferenz im Leiblichen, die an
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Nur summarisch sei hier an die Diskussionen um Körperexpressivität erinnert, wie sie die Tanztheorien der 1920er Jahre beherrschten, dort freilich vertreten mit dem Pathos von Zivilisationskritik, die aus der ursprünglichen Kommunikation der Körper – ganz im Sinne des frühen Nietzsche – die Vorherrschaft der Wort- und „Buchkultur“ (Oskar Schlemmer) überwinden helfen sollte. Vgl. dazu Rudolf von Laban: Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen, Stuttgart: Altberliner Bücherstube 1922. Mary Wigman: Die Sprache des Tanzes, München: Battenberg 1986. Fritz Böhme: Tanzkunst, Dessau: Dünnhaupt 1926. Sowie darstellend: Vgl. Gabriele Brandstetter: Ausdruckstanz, in: Diethart Kerbs/ Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal: Hammer 1998, S. 451-463.
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die Unterscheidung Helmuth Plessners zwischen „Körperhaben“ und „Leibsein“ gemahnt.3 Der Leib, der sich ist, bedeutet nicht, sondern zeigt sich.4 Körper vermögen sich nicht anders zu artikulieren, als sich zu zeigen, wobei Zeigen anderes ist als Sagen und Sagen anderes als Zeigen.5 Aller Rekurs auf die Sprache stößt darum auf die Widerständigkeit des Leiblichen und nötigt zu aporetischen Formulierungen. Im Tanz gibt es nur die Gegenwart der Körper, wie William Forsythe einmal gesagt hat, deren Präsenz die Sprache Lügen straft; deswegen ist die ‚Sprache‘ des Tanzes stets auch die Negation von Sprache, wie jedoch erst die ‚Sprache der Figuren‘ deren Gegenwärtigkeit hervortreten und sie ‚Körper werden‘ lässt. Doch bedeutet dies nicht immer noch, selbst in der Negation, den Tanz an einem Medium messen zu wollen, das ihm fremd oder zumindest widerständig bleibt, mithin ein Paradigma zu totalisieren, das in der Choreografie Grammatik, Rhetorik und Textualität auszeichnet, um sie vornehmlich als Graphie, als ‚Figurenschrift‘ zu entziffern? Zwar weist das Modell der Schrift über die Sprache hinaus, weil es sich an der Materialität der Signifikanten,6 d.h. am Körper und seiner Spurenschrift orientiert, doch ist die Schrift ebenso artikuliert wie piktografisch und hält damit an der Differenzialität einer Textur fest, der gleichzeitig – im Sinne skripturaler Ikonizität – ein Bild eingeprägt ist. Bild und Sprache, zusammengeführt zur Figur, bilden wiederum die Grundlagen des klassischen Tanzes, und daran festzuhalten bedeutet auch, sich weiterhin in dessen Modell und Begriff zu bewegen, heißt, seinen Gesetzen und seinen Direktiven zu folgen und die Verkennung durch den Text 3
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Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin: De Gruyter 1965, S. 230ff. Der Topos zieht sich allerdings durch die gesamte phänomenologischer Tradition; vgl. etwa: Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1974, S. 91ff. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek: Rowohlt 1962, S. 398ff. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bonn: Bouvier. 1964ff., bes. Bd. II,1: Der Leib, Bonn: Bouvier 1965. Sowie: Gernot Böhme: Leib: Die Natur, die wir selbst sind, in: Ders.: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 77-93; ders.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, bes. S. 113ff. Vgl. meine Überlegungen in: Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink 2002, S. 47ff. Diese Differenz habe ich von Wittgenstein her in unterschiedlichen Aufsätzen kenntlich zu machen versucht. Vgl. Dieter Mersch: Das Sagbare und das Zeigbare. Wittgensteins frühe Theorie einer Duplizität im Symbolischen, in: Prima Philosophia Bd. 12, H. 4 (1999), S. 85-94; ders.: Die Sprache der Materialität: Etwas zeigen und Sich-Zeigen bei Goodman und Wittgenstein, in: Oliver Scholz/ Jakob Steinbrenner (Hg.): Symbole, Systeme, Welten. Überlegungen zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg: Synchron 2004, S. 141-161. Vgl. Michael Wetzel: Vom Charme der Wiederholung, in: Ulrike Hanraths/ Hubert Winkels (Hg.): Tanz-Legenden. Essays zu Pina Bausch, Frankfurt a.M.: Tende 1984, S. 78-89, hier: S. 85.
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und das Imaginäre zu wiederholen, wie brüchig diese im modernen Tanztheater auch immer geworden sein mögen. Dagegen verfährt das Tanztheater Pina Bauschs transitorisch. Zwar vollzieht es keinen radikalen Bruch, weil alle Elemente in Bezug auf den klassischen Tanz als Folie behalten werden, dennoch erlaubt es eine Verschiebung der Perspektiven, weil es mit den Mitteln der Ästhetik des Tanzes dessen Reflexion vollbringt, welche seine spezifische Medialität allererst zum Vorschein bringt. Im Folgenden seien dazu exemplarisch einige Strategien rekonstruiert, die keineswegs den Anspruch erheben, vollständig zu sein, vielmehr lediglich den Fokus dafür öffnen wollen, was hier Medialität heißen kann, ohne diese sogleich an Sprach-, Schrift-, Text- oder Bildmetaphoriken zu orientieren. Die Arbeit daran ist notwendig rekonstruktiver Art, was insbesondere bedeutet, dem sekundär Gesehenen oder Gezeigten und durch eine Alterität schon vorstrukturierten und nicht durch Teilnahme ‚mimetisch‘ oder ‚performativ‘ Erfahrenen einige Merkmale zu entlocken, die ihm freilich nur aufgesetzt oder nachgeordnet bleiben. Auf den ersten Blick verfährt dabei Bausch avantgardistisch, wenn mit dem Etikett der Avantgarde eine Strategie gemeint ist, die mit Kunst über Kunst hinauszugelangen trachtet, und zwar so, dass wir mit einer Metakunst konfrontiert sind, deren Sujet die Kunst selbst, d.h. ihre spezifische Medialität ist.7 Daraus folgt auch, Kunst und Medien so miteinander ins Spiel zu bringen, dass ihre Relation zueinander umstürzt – dass, einem Vexierbild vergleichbar, durch die Form der künstlerischen Intervention das Mediale selber zur Darstellung gelangt, statt umgekehrt die Künste auf die in ihr verwendeten Medien der Inszenierung zurückzurechnen. Erfordert ist dazu freilich ein anderer Blick, eine „Sicht von der Seite“, die Roland Barthes „anamorphorisch“ nannte.8 Sie versucht, das Wahrgenommene zu unterbrechen und auf seine Unterbrechungspunkte hin zu lesen, d.h. auf solche Momente aufmerksam zu werden, wo die Künste ihre eigene Medialität auf die Probe stellen und den ‚Entzug‘, die ‚konstitutive Negativität‘ des Mediums herausfordern.9 Auf diese Weise entsteht gleichsam eine negative Praxis, die die klassische Ästhetik des Tanzes ‚ent-zeichnet‘ und seine symbolische wie disziplinatorische Ordnung unterläuft. Lässt diese sich vorläufig mit Rudolf zur 7 8 9
Zum Begriff der Avantgarde: Vgl. Dieter Mersch: Ereignis und Aura, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, bes. Tl. III: Vom Werk zum Ereignis. Zur ‚performativen Wende‘ in der Kunst. Vgl. Roland Barthes: Kritik und Wahrheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 76. Zu Versuchen einer Grundlegung: Vgl. Dieter Mersch: Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ‚negative‘ Medientheorie, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München: Fink 2004, S. 75-96. Sowie: Ders.: Negative Medialität. Derridas Différance und Heideggers Weg zur Sprache, in: Journal Phänomenologie, Jacques Derrida, H. 23 (2005), S. 14-22.
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Lippes Naturbeherrschung am Menschen und Pierre Legendres La passion d’être un autre, étude pour la danse10 als eine Dressur beschreiben, die sich einer Geometrisierung der Bewegung unterwirft, die historisch der Geometrisierung der Perspektive und der Rationalisierung der Episteme verwandt ist, transsubstanzialisiert die Figur dabei den Körper, um dem Tanz eine Idee aufzuprägen und in ein schwereloses Bild zu verwandeln. Bereits hier konstituiert den Tanz eine elementare Aporie zwischen zentripedaler Disziplin und zentrifugaler Entdisziplinierung, die seine Ästhetik bis Ende des 19. Jahrhunderts regierte und aus deren Versöhnung sie ihren Mehrwert bezog. Stattdessen hat der moderne Tanz die klassische Ordnung entfesselt und in die Form der Versöhnung Differenzen eingezogen, die die Figuren aufsprengten und jegliche Identität zwischen Rationalität und Freiheit vereitelten. Der Ausdruckstanz der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts ist Resultat dieses Prozesses. Bauschs Tanztheater hat diese Differenzstrategien noch einmal radikalisiert. Wir haben es mit einer ‚Ästhetik der Inversion‘ zu tun, die mit den Mitteln der paradoxen Intervention, der Fraktur und des Widerspruchs operiert und das freizulegen sucht, was die ‚Medialität‘ des Tanzes als theatrale Form erst ermöglicht. Es handelt sich um Gegenstrategien, um die ‚Enttanzung‘ des Tanzes, seine Entschälung auf seine Bestandteile, seine Bedingungen und Subjekte, die nicht länger Tänzerinnen und Tänzer sind, sondern Akteure in einem ungezügelten und zuweilen furiosen Spiel dekonstruktiver Untergrabung. Manchmal scheinen sie die Musik zu dirigieren, statt von ihr affiziert und beherrscht zu werden – etwa wenn, wie in Blaubart (1977), ein rollbares Tonbandgerät auf der Bühne von den Akteuren bewegt, bedient, angehalten und manipuliert wird, um die Musik als domestizierendes Prinzip des Tanzes zurücktreten zu lassen, während die Tänzerinnen und Tänzer aus ihr heraustreten, ihr entgegentreten und dadurch ihre Rolle als Tänzerinnen und Tänzer zurückweisen. Ein anderes Mal verstellen Requisiten die Tanzfläche, bilden Hindernisse, die den Tanz stören, ihren Figuren Widerstände entgegenstellen und ‚defigurieren‘ wie in Café Müller (1978). Fast immer aber treten die Körper mit in Erscheinung, werden der Figur entzogen, indem sie gegenläufig durch ihr Atmen und Schwitzen oder durch Klatschen, Klappern, Scharren und anderen, im klassischen Tanz ausgeblendeten und verdrängten Körper- und Bewegungs-geräuschen ihr ebenso ‚Unfügliches‘ wie Nichttranszendierbares zu demonstrieren. Die Medialität des Tanzes und im Besonderen die ‚Medien‘ des Körpers kommen auf diese Weise konträr zum Vorschein, gleichsam durch jenen „Blick von der Seite“, der ihr gleichermaßen unverdrängbares wie unkontrollierbares Anderes enthüllt, das nur 10 Vgl. Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981; vgl. Pierre Legendre: La passion d’être un autre, étude pour la danse, Paris: Ed. du Seuil 1978.
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exponiert werden kann, wo das Medium umgestülpt, unterbrochen oder – buchstäblich – ‚ausgesetzt‘ wird. Der experimentelle Tanz verdankt sein selbstreferenzielles Potential durchweg solcher primär negativen Verfahrensweisen. „Wenn die Tänzer und Tänzerinnen den obligatorisch großen, leeren, tristen Raum […] durchqueren, sich jagen, umarmen, verschmelzen, trennen, abstoßen, so ist es nicht die Artikulation oder Repräsentation eines Wunsches, was ihre Bewegung vollzieht,“ heißt es treffend bei Michael Wetzel, denn es existiert „kein Text, der die Inszenierung organisiert,“11 vielmehr stellt sich aus, was der klassische Tanz sorgsam zu verbergen und zu überwinden trachtete: Jene Medialität, die im Erscheinen verschwindet und im Verschwinden erscheint. Stets besitzt das Medium die Eigenart zurückzutreten, sich im Mediatisierten selbst auszulöschen und – im Sinne Hegels – „aufzuheben“; Präsenz und Absenz tauschen so die Plätze, während es hier gerade hervortritt und explizit wird, indem z.B. die Körper ihre Anwesenheit nicht mehr verleugnen und sich in ihrer eigenen Gesetzlichkeit und Widerständigkeit preisgeben. Der Eigensinn des Medialen wird so durch eine Serie von Gegenfinalitäten, Brüchen und paradoxen Umkehrungen eigens erst aufgeführt, damit zum Vorschein kommen kann, was sich sonst verschließt: Im Sacre sind wir etwa mit einem Minimalprozess konfrontiert, der die medialen Strukturen der Bühne und des Tanzes gleichsam auf ihren ‚Nullpunkt‘ reduziert – dort, wo diese Strukturen als Medien ihre Medialität und damit ihr Eigenes und Eigentliches offenbaren. Entsprechend beinhaltet die Ästhetik der Minimierung keine choreografische Figurenlehre, auch wenn sie durch und durch narrativ verfährt, sondern vornehmlich die Manifestation ihrer selbst und ihrer medialen Prinzipien. Bausch reagiert damit überall auf die klassische Tanzästhetik, mit der sie sich auseinandersetzt und auf die sie bezogen bleibt; doch indem sie diese gleichzeitig verschiebt und umdeutet weitet sie deren Poetik aus und definiert sie neu. Versucht man ihren Bemühungen gerecht zu werden, um an ihr modellhaft eine medientheoretische Methodenlehre der Tanzwissenschaft zu entwickeln, das, was versuchsweise eine dance literacy genannt werden kann, geht es um die minutiöse Dechiffrierung solcher Manöver und Strategien. Der Ausdruck Literacy gemahnt dabei an die dazu erforderte Fähigkeit zur präzisen Lektüre der jeweils zum Einsatz kommenden medialen Praktiken. Es handelt sich um singuläre Praktiken, die jedem Einzelfall neu ‚aufgelesen‘, ‚gesammelt, ‚entziffert‘ und ‚geborgen‘ werden müssen. Der Tanz als Kunstform erschließt sich weniger von ‚Figuren‘ als vielmehr von solchen Verfahrenweisen her. Zu ihrer Entdeckung bedarf es der ‚negativen‘ Spurenlese, deren Methodik jener „anamorphotischen Untersuchung“ ähnelt, die Roland Barthes auch eine „diversifizierende Kritik“ nannte: „Inhalte ändern zu wol11 Vgl. M. Wetzel: Vom Charme der Wiederholung, S. 79.
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len, ist zu wenig, vor allem gilt es, in das System des Sinns Risse zu schlagen [...].“12
Elementare Medialitäten des Tanzes: R a u m , K ö r p e r , B ew e g u n g , M u s i k Am Beispiel von Bauschs Sacre seien solche medienreflexiven Strategien genauer ins Auge gefasst. Auffallend erscheint zunächst die Reduktion des Geschehens. Sie entspricht durchweg der Ästhetik der 1970er Jahre, konnte damals noch provozieren, während sie heute als das erscheint, was sie ist: Eine negative Ästhetik des Medialen, die mit den Mitteln der Askese, der Ausräumung und des Verschwindens etwas aufdeckt, was die Masken des klassischen Tanzes gewöhnlich verbergen. Wir sehen eine Bühne ohne Requisiten, deren Boden mit Erde bedeckt ist, wir haben Tänzerinnen und Tänzer, die sich in ihrer Anzahl paritätisch aufteilen, aber mit- und gegeneinander tanzen, als ob sie einen Konflikt austragen; wir erkennen die schlichten, fast durchsichtigen Gewänder der Frauen, die ihre Nacktheit eher präsentieren statt verhüllen, sowie die nackten Oberkörper der Männer, deren schwarze Hosen sich vor dem Hintergrund kaum abheben, was die Mächtigkeit ihrer Erscheinung noch verstärkt. Durchweg operiert der Tanz mit Differenzen und Paarungen, die gleichwohl beständig durchkreuzt und wieder aufgehoben werden. Alles ist dabei jedoch aufs Elementare gerichtet: Wir sind Zeugen eines archaischen Tanz und seiner Figuration wie Defiguration und hören dazu den Sacre Igor Strawinskys, der sich massiv und eindringlich immer wieder in den Vordergrund spielt und die orgiastische Szene einer Opferung anzuleiten scheint. Zwar wirft das Stück in seinem Reduktionismus den Tanz auf diese Weise auf seine Grundelemente zurück, doch bildet die reduktive Geste umgekehrt den Versuch, durch die äußerste Kargheit die Darstellungsmittel selber zu entschälen und sie ihrer ästhetischen Medien zu entkleiden. Nimmt man die Grundelemente, erhält man ein Geviert aus Raum/Licht – Körper – Bewegung/Zeit – Musik/Rhythmik, das den Sacre ebenso rahmt wie organisiert. Keines der Elemente kann dabei seinen Vorrang vor den anderen behaupten, keines erscheint weiter reduzibel, ohne den Tanz selbst zu negieren; gleichzeitig verweisen sie aufeinander, bilden eine chiastische Struktur, eine unaufhörliche Interdependenz, die in der Zeit sich laufend verschiebt und umordnet. Bausch setzt sich mit jedem der Grundelemente auseinander, sucht sie miteinander zu konfrontieren, zu entgrenzen und gegeneinander 12 Vgl. Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 12. Zum Begriff der „diversifizierenden Kritik“ vgl. auch ders.: Kritik und Wahrheit, S. 76.
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auszuspielen und gerade dadurch in den Blick zu bringen und kenntlich zu machen. Gleichzeitig erprobt ihr Manöver – tanzend – deren ‚Dekonstruktion‘. Was den Tanz zu konstituieren scheint, wird so gleichermaßen aufgedeckt und verschoben und in ein anderes – das ‚Andere‘ des klassischen Tanzes verwandelt. Eben dies bedeutet ‚Tanztheater‘: Dem Tanz seine vermeintliche Theatralität rauben, um aus ihm allererst ‚Theater‘, d.h. ein Medium der Reflexion zu machen. (1) Da sind zunächst die Elemente Raum und Licht. Sie definieren im klassischen Theater und Tanz den Illusionsraum, der ebenso auf die Bühne bezogen bleibt, wie er diese verleugnet. Dabei regiert der Illusionsraum das Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Tanzenden und Zuschauern und konstituiert damit jene Blickordnung, die die Szene voyeuristisch beherrscht. Alles ist im klassischen Theater auf dieses Regime ausgerichtet und geordnet. Gleiches gilt für den klassischen Tanz, der spätestens seit dem 17. Jahrhundert auf einem kartierten Raum basiert, der die Schritte und Figuren vorzeichnet.13 Im Dienst seiner Aufteilung und Geometrisierung stand eine Bewegungsabfolge, deren Voraussetzung wiederum eine Metrik war, die deren Proportionen festlegte und ihre Wege determinierte. Ein Koordinatensystem rastert so die räumliche Struktur und setzt die Achsen des Tanzes mit den Blickachsen seiner Betrachter in Beziehung. Durch die exakte Bestimmung der vektoriellen Funktionen der Figuren, deren Pendant wiederum der disziplinierte Körper war, wie Rudolf zur Lippe schreibt, entstand zugleich ein Bild. Es ist diese Vorherrschaft des Bildes über den Tanz, der den ebenso strikt linearisierten wie axial zerschnittenen Raum erforderlich machte, dessen leitende ästhetische wie mathematische Prinzipien durch eine Plangeometrie vorgegeben wurde, deren Konstruktivität umgekehrt jedem Ort und jeder Stelle einen genauen Sinn zuwies. Im Gegensatz dazu hat Michel de Certeau – von Maurice Merleau-Ponty her – den Ort vom Raum getrennt und letzteren als dynamisch erklärt, während ersterer statisch bleibt. Denn die Menge der Orte erlaubt, eine „Ordnung“ zu errichten, worin, so wörtlich, „die Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden“, die allererst die räumliche Erfahrung ermöglichen, wohingegen der Raum ein offenes „Geflecht von beweglichen Elementen“ darstellt,14 die ihn laufend dynamisch modifizieren. Das heißt auch: Ein durch Orte definierter Raum bildet ein System von Abständen und Distanzen, und was geschieht, geschieht in ihm, während der Raum, der durch eine Gesamtheit von Bewegungen, Aktionen und Wege gebildet wird, eine Pluralität von Konflikten erzeugt, die sich beständig neu aufzubauen, umgruppieren oder auflösen. Erstere ist der Raum
13 Vgl. Gabriele Brandstetter: Einleitung zu ‚de figura‘, in: Dies./Sybille Peters (Hg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München: Fink 2002, S. 7-31. 14 Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 216f.
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des Maßes, dessen Format der Behälter ist, während letzterer relativ zu den Verhältnissen zwischen Raum und Zeit immer erst im Werden ist. Dies lässt sich auf die Opposition zwischen dem klassischem Tanz und dem Tanztheater Pina Bauschs applizieren. Ersterer normiert den Raum durch die Lokalisierung von Orten und Punkten, die zugleich die Notierung der in ihm stattfindenden Bewegungen gestattet, auch wenn eine solche Notierungen bis ins 19. Jahrhundert zumeist nur heuristisch oder rudimentär vorgenommen wurden und erst Rudolf von Labans Kinetografie sie mehr oder weniger verbindlich setzte. Doch beruht jede Notierung gleichzeitig auf einem System von Normen und diskreten Schnitten. Hingegen arbeitet das Tanztheater Bauschs mit Improvisationen, die bestenfalls Richtungen und Orientierungen kennen, keine Festlegungen, so dass der Raum als Produkt wechselnder Handlungen entsteht und von den Akteuren buchstäblich ‚an Ort und Stelle‘ erst ‚erspielt‘ und ‚ertanzt‘ wird. Eine Bedingung dazu ist seine paradoxale Ausräumung. Die Askese der Darstellung steht in deren Dienst. Der Raum als Gegebenheit, als Behältnis tritt zurück, wird zur Öffnung, zur Hohlform, die von den Körpern und Bewegungen laufend zerdehnt und kontraktiert werden. Er muss gleichsam ‚befreit‘ und entleert werden, um zu einem anderen zu werden, d.h. zu einer Stätte, die, wie in diesem Falle lediglich mit Erde bedeckt, an den Platz eines Rituals gemahnt, das ihn als solchen bereitstellt, abzirkelt und einfasst. Tatsächlich bekommen wir ja mit dem Sacre ein Ritual zu sehen, das von elementaren Kräften des Begehrens und Geschlechterkampfes erzählt und im Verlauf dessen der vorhandene Raum negiert und verwandelt und als Stätte eines Übergangs und einer Opferung allererst erzeugt wird. (2) Ähnliches gilt vom Körper als zweites Grundelement. Zusammen mit der Bewegung bildet er das eigentlich tragende und ‚austragende‘ Element des Tanzes. Sein Darstellungsformat ist die Artikulation der Figur. Dabei wird die Beherrschung der Figur durch jene Dressur erpresst, die Rudolf zur Lippe eindringlich als jene Rationalisierung des Körpers beschrieben hat, in deren Dienst sich die frühneuzeitlichen Selbsttechniken stellten. So erfüllt sich der klassische Tanz in einer Ordnung von Technologien, die durch die Gesetze der Figuration geregelt wurden, um in einer aporetischen Volte den Körper als Körper gerade zurücktreten zu lassen. ‚Verkörperung‘ paart sich dann mit ‚Entkörperung‘. Sie gehorcht ganz jener Logik des Medialen, die Präsenz durch Absenz und Absenz durch Präsenz erzeugt, um allein die Form, die Funktion oder Aussage ins Zentrum zu rücken. Entsprechend vollzieht der klassische Tanz die konträre Negation des Leibes und damit zugleich die Negation dessen, was ihn als Tanz erst ermöglicht. Wir haben es mit dem Ideal einer ‚Transsubstanzialisierung‘ zu tun, die den Körper in seiner Figuration verklärt, um ihm ebenso zu entsagen wie zu einem heiligen und magischen Körper zu sublimieren. 325
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Hat ihn demgegenüber der moderne Tanz des frühen 20. Jahrhunderts mit Isodora Duncan, Marie Taglioni oder Mary Wigman und anderen zu befreien und wiederzugewinnen versucht, steigerten sie seine Choreografie gleichwohl zu einer Textur von ‚Schrittdramatisierungen‘, die in den komplexen Bewegungsnotationen von Rudolf von Laban ihr Korrelat fanden. Bausch, die dessen Repertoire präzise beherrscht, stellt dem jedoch anderes entgegen. Wie inszeniert oder kalkuliert auch immer ihre Aufführungen und besonders der Sacre, der als ihre geregelste Choreografie gilt, sein mögen, es kommt dabei vor allem der Körper als Körper – und das bedeutet entsprechend das Medium als Medium – zur Erscheinung und damit zur Geltung. Dies geschieht insbesondere durch paradoxale Interventionen als ästhetische Mittel seiner Reflexion. Man könnte in diesem Sinne von ‚Tanzreflexionen‘ sprechen, von einem gleichermaßen ‚ertanzten Denken‘ wie einem ‚denkenden Tanz‘, wodurch der Körper, als dessen Medium, von der Figur und seiner symbolischen Funktion erlöst wird. Dass dies jedoch nur durch die Figur und ihre Brechung, durch eine ‚figuralisierte Defiguration‘ möglich ist, macht gerade die Paradoxie aus; doch ist das Entscheidende, dass die Strategien der Fraktur und Inversion, die im Sacre äußerst subtil und verhalten eingesetzt werden, um so eindringlicher und damit wirkungsmächtiger irritieren. Dies geschieht durch eine Reihe einfacher Verfahren, von denen hier nur einige genannt seien. So beraubt erstens der mit bloßem Torf bedeckte Boden der Bühne den Tanz seiner klassischen Leichtfüßigkeit und lässt ihn schwer, ja buchstäblich ‚schwerfällig‘ werden. Die Mühe ist den Tänzern und Tänzerinnen, die barfüßig tanzen, besonders am Schluss anzumerken: Unleugbar drängt sich die Materialität der Bedingungen dem Medium auf, bewirkt eine Verzögerung der Bewegungen, die den Anschein weckt, als dass der rituelle Vollzug sich mehr und mehr dem Erdhaften nähert. Zweitens besteht die schlichte, fast transparente Kleidung aus Leinen, das nicht umsonst mit Leichentuch assoziiert ist und während des Tanzes sukzessive verschmutzt. Wir haben es mit Nacktheit, trotz Bekleidung, zu tun – eine Nacktheit, die sich freilich nicht exhibitioniert und sich dem voyeuristischen Blick preisgibt, sondern Blöße ist, die der Kleidung gerade bedarf. Das Obszöne zeigt sich stets ohne Blöße – hingegen verweist hier die Blöße auf die Präsenz der Körper selber, und zwar durch die Versagung des Blicks und ihrer angedeuteten Nichtgegenwart. Entsprechend offenbaren sie ihr existenzielles Moment: Es führt von der Figur, der Sprache, der Notation zum individualisierten Körper, zum Körper in seiner Differenz, seiner verletzbaren Singularität. Gewiss erfüllt die Nacktheit immer eine symbolische Funktion, weil die Blöße nicht nur den Leib betrifft, sondern das ‚nackte Leben‘, die Existenz selber, wozu gleichermaßen der Ausdruck der Angst, der Besessenheit und des Schmerzes gehören. In diesem Sinne steht jeder einzelne Darsteller und jede einzelne Darstellerin für sich alleine auf der Bühne; sie verkörpern 326
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niemand anderen, sondern einzig sich selbst und vollziehen, jeder für sich, das Ritual des Sacre als Frauenopfer. Das wird als drittes Mittel noch durch die Anstrengung und Erschöpfung der Körper unterstrichen, ihr Schweiß, der schwere Atem, das plötzliche Aufschreien oder Stöhnen, deren Spuren im klassischen Tanz sorgsam getilgt wurden – darin vergleichbar mit Maurizio Kagels Ludwig van (1969), das die unwillkürlichen leiblichen Geräusche der Musiker beim Spielen mitausstellte, um sie auf diese Weise thematisch zu machen. Schließlich wäre als vierte Strategie die Asynchronizität der Bewegungen selbst zu nennen, ihre Abgehacktheit und Gegenläufigkeit, als ob die Tänzer und Tänzerinnen plötzlich innehielten, sich unterbrächen oder gegeneinander agierten. Sie weisen nicht auf ein Misslingen der Handlungen, etwa auf das, was John L. Austin die „Missgeschicke“ des Performativen genannt hat,15 sondern auf den widerständigen Durchbruch der Körper selbst, ihre Ungebärdigkeit und Unfüglichkeit, die sich jeder Kontrolle verweigern. Buchstäblich tanzen sie aus der Reihe und vermögen sich der Ordnung synchroner Abläufe nicht zu unterwerfen. Der Leib bricht dann aus seiner Dressur, seinem trainierten Schema aus, wie umgekehrt die choreografierten Formationen nicht völlig aufgehen, weil die Körper sich so wenig eichen wie auf strikte Figurationen reduzieren lassen. Gewiss sind dies nur Beispiele, die Schlaglichter werfen und noch einer minutiösen Analyse weichen müssten, doch bezeichnen sie sämtliche Strategien des Bruchs und der Gegenfinalität, die die Medialität der Körper gegen ihre Abrichtung im klassischen Tanz zur Erscheinung zu bringen versuchen. Solche gleichermaßen medialen wie ästhetischen Reflexionsformen decken freilich niemals schlechthin auf, sondern bleiben stets nur partiell. Darum ist es unmöglich, ihre Formen zu Ende zu deklinieren, gleichwohl bildet ihr wesentliches Merkmal ihre Negativität – die Praxis des Widerspruchs, der Unterbrechung und Umkehrung, sowie der Störung und Kontamination. (3) Als drittes Grundelement war das Zusammenspiel von Bewegung und Zeit genannt. Es verweist im klassischen Tanz auf die Skandierung von Figur und Choreografie. Letztere realisiert sich durch die Doppelmatrix von Notation und Performanz, die die Bewegung durch Bestimmung der Schrittfolgen und ihrer Lokalisierung im Raum codiert und sich dabei gewöhnlich eines festen Formenkatalogs bedient, der den Tanz dem Text angleicht und ihn lesbar macht.16 Was auf diese Weise codiert wird, ist die Figur als Bewegungsgestalt. Sie setzt die Metrisierung der Zeit, ihre Zerlegung in diskrete Takte voraus, die zugleich die Bewegung in „Schnitte“ einteilt. Entsprechend verglich Goethe im Wilhelm Meister die Struktur des Tanzes mit einem „Räderwerk“, das sich unaufhaltsam und blind seinen Weg bahnt, wo15 Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart: Reclam 1979, bes. 10.-14. Vorlesung. 16 Vgl. G. Brandstetter, in: de figura, S. 255.
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bei eine „sonderbare Musik […] den immer wieder von vorn anfangenden und losrauschenden Tanze bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß“ versetzte.17 Alle Elemente des klassischen Tanzes sind in dieser kurzen Passage versammelt: Die Disziplinierung, die dem Körper etwas Automatenhaftes verleiht, die Wiederholung, die die blinde Sicherheit der Schritte garantiert, sowie die Grammatik der Figuren, die die Widerständigkeit des Körpers zu überwinden trachtet, um ihn gleichsam in einen ‚gefesselten‘ Rausch zu versetzen. So wird das Dionysische, das dem Tanz von Anfang an zu eigen war, durchs Apollinische regiert – ohne jeden Vorschein auf jenen Tabubruch, den Nietzsche ihm zuschrieb.18 Demgegenüber zeichnet sich der moderne Tanz – wie auch das Tanztheater Bauschs – durch den Riss in der Figur aus. Der Zeittakt gerät aus dem Lot, weniger zwar im Sacre, wohl aber in anderen Stücken wie Café Müller oder Blaubart. Zuweilen sprechen die Tänzerinnen miteinander oder mit den Zuschauern und begehen damit ein Sakrileg, ebenso, wenn sie auf der Bühne hin und her gehen, statt zu tanzen, oder sich konträr zu der rhythmischen Ordnung der Musik verhalten. Das gilt auch für den Sacre: Die Figuren erscheinen gerade so angelegt, dass sie sich immer wieder dem Rhythmus des Stücks verweigern und ihm eine eigene Rhythmik entgegensetzen. Das Entscheidende ist dann nicht die Form, der Inhalt, sondern, wie Yvonne Rainer es ausdrückte: „The mind is a muscle.“ „Dance is motion – not emotion“19 formulierte ebenfalls Alvin Nikolais – der Tanz lebt nicht von seiner Narration, die ihn verstehbar macht, sondern von der Performativität der Bewegung selbst, die sich jeder Einverleibung durch ein Symbolisches wie Imaginäres sperrt. (4) Letzteres trifft gleichfalls für das vierte Grundelement zu, die Musik. Sie bildet im klassischen Tanz das Vorgängige und Dominante, das ihn ebenso ermöglicht wie durchdringt. Das gilt sowohl für die lyrischen und elegischen Teile des Melos als auch für den Rhythmus, der diesem historisch stets subordiniert war. Er bändigt, durch Takt und Metrik abgerichtet, den Leib, der nur reagiert. Gleichwohl bildet die Rhythmik das eigentlich disparate und sprengende Moment im Musikalischen, der in den Tanz zugleich ein Widersprüchliches einträgt. Bausch hat es genau auf diesen Punkt angelegt und mit der Wahl des Sacre ein entsprechendes Zeichen gesetzt. Als Träger einer Dialektik von Zeitlichkeit und Unzeitlichkeit tritt nämlich der Rhythmus tendenziell aus der musikalischen Ordnung heraus und verkörpert dessen 17 Zit.n.: J. Hörisch, in: Tanzlegenden, S. 67. 18 Vgl. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, in: Kritische Studienausgabe (KSA), Neuausgabe München: dtv 1999, Bd. 1, S. 22156, bes. S. 6ff u. 48ff . 19 Vgl. http://stanforddaily.com/article/2003/10/31/nikolaisADancingFoolResurrec ted vom 23. August 2006
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performatives Gegenstück, weil er es vornehmlich mit Kräften und Intensitäten zu tun hat: Seine Resonanz liegt im Leiblichen. Adorno hat ihn gerade deswegen, mit besonderem Bezug auf Strawinsky, gescholten: Die rhythmische Exzentrik des Sacre rege nicht die seelische, sondern die ‚körperliche Bewegung‘ an und vindiziere im Körperlichen die Illusion einer wiedergewonnenen Authentizität.20 Weil der Rhythmus bevorzugt den Leib betreffe, verwirft ihn daher Adorno, darin Hegel folgend, um ihm gegenüber erneut das Melos, wenn auch im zersplitterten Format, auszuzeichnen: Stattdessen führe Strawinskys „körperliche Kunst“ geradewegs „zur Vereidigung der Musik auf Physis, zu ihrer Reduktion auf Erscheinung, die objektive Bedeutung annehme, indem sie auf Bedeuten von sich aus verzichtet.“21 Die Verkennung besteht indessen darin, dass Musik nie nur aufs Hören allein angelegt und von ihm her zu bestimmen ist; vielmehr muss sie zugleich gefühlt und erlebt werden, wobei die Stelle des Erlebens der Rhythmus und seine leibliche Präsenz ausmacht, die weniger akustisch empfunden wird, als haptisch. Buchstäblich steckt er im Körper, ist Teil seines Ereignens. Daher seine Eindringlichkeit, sein gebieterischer Impuls: Er spricht unmittelbar den Körper an, fordert ihn auf mitzugehen, versetzt ihn in Spannung. Darum auch seine Nähe zum Ritus, zu den dionysischen Kulten, den Exzessen der Erschöpfung: Der Rhythmus ist ganz Atem, Schritt, Erotik. Weil er nirgends unter ein Maß oder ein Gesetz zu zwingen ist, nicht einmal unter den Taktstrich, dem er in den klassischen Kompositionen zu gehorchen hat, bezeugt sein Element im Musikalischen ein ebenso Überschießendes wie Unbändiges, das die Disziplinierung tendenziell unterläuft. Der klassische Tanz besitzt darin sein unmittelbar Aporetisches: Als Dressur und Beherrschung des Leibes orientiert er sich bevorzugt am Melos, während sein maßgebliches Medium der Rhythmus ist, der die Figuren anhaltend in Bewegung versetzt und nicht loslässt, bis sie aussetzen oder unterbrochen werden. Nietzsche hat das gewusst, als er das Musikalische ans Dionysische und das Dionysische bevorzugt ans Rituelle, an die Leiblichkeit des Tanzes band: Nachempfunden ist darin der Ursprung des Musikalischen aus dem „Sinnesimplikat“, wie es Adorno despektierlich verworfen hat,22 das jedoch nirgends deutlicher zum Vorschein gelangt als im Tanz selbst als seinem performativen Korrelat. Nicht der „Geist“ der Musik, sein „Sinn“ entscheidet für diesen, so wenig wie das Bild, die Figuration, sondern der Effekt. Allerdings bleibt Bauschs Sacre scheinbar weitgehend dem Primat des Musikalischen und damit der klassischen, mimetischen Nachordnung des Tanzes verpflichtet. Überall definiert Strawinskys Musik die ertanzten Struk20 Vgl. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 136 u. 146f. 21 Vgl. ebd., S. 132, auch S. 131. 22 Vgl. ebd., S. 26.
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turen und beherrscht das rituelle Spiel bis zur Auflösung und Selbstzerstörung der Frau. Insofern mag man die Choreografie traditionell nennen. Dennoch ist es gerade die diktatorische Rhythmik, die die Regime der Figuren gleichermaßen anführt wie bricht: Weil sie ihre Macht im Körperlichen entfacht, avanciert dieser zum Ort ihrer exemplarischen Vollstreckung, dessen vermeintlicher ‚Gehorsam‘ ein ‚Gehören‘ ist. Es gehorcht nicht, sondern überlässt sich bis zur Anarchie. In späteren Stücken Bauschs wird das noch radikalisiert; vor allem im Blaubart, wo sich das Verhältnis von Tanz und Musik umgekehrt und zu Opponenten, zu Gegenspielern werden, sodass wir es schließlich mit disparaten Medien zu tun haben, die ihrer eigenen Logik zu folgen scheinen. Das darstellerische Mittel dazu ist ihre ‚Gegenstellung‘. Davon ist auch etwas bereits im Sacre spürbar, etwa wenn die Tänzer und Tänzerinnen immer wieder gegen die Mächtigkeit des Sacre anrennen, sich gegen ihn aufzulehnen oder zu behaupten trachten, wenn sie seinem ordnenden Prinzip zuwiderlaufen, insbesondere dort, wo die Figuren nicht aufgehen oder die Bewegungen sperrig werden, sich abhacken oder selber ein Arythmisches markieren, etwa wenn die Tänzerinnen selber Schläge austeilen oder empfangen oder Musik und Figuration gegeneinander arbeiten und wir es mit gegenläufigen Akzentsetzungen zu tun bekommen, bis zuletzt, im Schlussbild, die Protagonistin des Stücks keinen Zugriff mehr über ihren Körper zu haben scheint, wenn die ekstatischen Rhythmen auf ihn übergreifen, von ihm Besitz nehmen und ihn gleichsam zu Tode besetzen.
Zur Methodologie einer dance literacy Welche Konsequenzen lassen sich daraus für eine anvisierte dance literacy, einer erst noch zu entwickelnden Mikroanalyse medialer Verfahrensweisen des Tanzes ziehen? Zunächst ist der Tanz im Allgemeinen, und das Tanztheater Pina Bauschs im Besonderen, immer ein intermedialer Prozess. Er geschieht auf der Schnittlinie der vier herausgearbeiteten Minimalelemente, die sich wechselseitig kreuzen: Raum – Körper – Bewegung – Rhythmus. Bausch stört ihren Zusammenhang, das ‚Geflecht‘ der Intermedialität, indem sie die Kongruenz der Elemente zerbricht und dadurch deren chiastische Struktur frei legt. Damit entstehen Verschiebungen, die gleichzeitig als Lehrstücke dafür dienen können, was die Medienanalyse der Tanzwissenschaft zu bieten hätte. Vier heuristische Punkte seien genannt, die freilich bestenfalls Anhalte oder Hinweise bieten, keine schon fertig konzeptuierte Methodologie: (1) Erstens die Untersuchung der jeweiligen medialen und intermedialen Konstellationen, die das Dispositiv der Elemente aufspannen. Allgemein sind Medien zugleich eröffnend und verbergend; sie verstellen in dem Maße wie 330
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sie konstituieren und bringen hervor wie sie sich im Konstitutionsprozess selbst zurückhalten. Sie erweisen sich deshalb durchzogen von einer strukturellen Ambiguität. Es gilt, diese Ambiguität in jedem Einzelfall allererst auszubuchstabieren. (2) Zweitens bildet die Untersuchung der Medialität des Körpers ein zentrales Scharnier für die Ästhetik des Tanzes. Der Körper zeichnet sich wesentlich durch die Strukturen des Zeigens aus.23 Körper zeigen; sie zeigen etwas, indem sie etwas darstellen oder aufweisen, und sie zeigen sich, indem sie sich in der Darstellung oder Aufweisung selbst preisgeben und ausstellen. Zwischen Sagen und Zeigen besteht jedoch ein grundlegender Chiasmus, der bedingt, dass beide nirgends zur Deckung gebracht werden können. Was die leiblichen Darstellungen sind, wie die Bewegungen und Figuren sich präsentieren, vermögen sie im selben Augenblick nicht preiszugeben – diese grundlegende Einsicht Wittgensteins24 impliziert, dass es immer einen Entzug gibt, ein Zuviel an Präsenz und ein Zuwenig an Struktur oder Sprache. Tanz und seine Möglichkeiten bewegen sich entsprechend im unbestimmten Zwischenraum dieses Chiasmus. Sie wären in ihrer je spezifischen Kontur und Gestalt eigens erst nachzuzeichnen. Exemplarisch geschah dies anhand der besonderen ästhetischen Strategien des Sacre von Bausch, die sich zugleich als mediale Strategien ausbuchstabieren lassen. Verlangt ist dazu freilich eine ‚Logik‘ des Zeigens, die auf die ihr innewohnende Duplizität von Zeigen und Sichzeigen hin befragt werden kann. Die Duplizität markiert dabei die Differenz zwischen Deiktik, z.B. der Geste oder Bewegungsfigur einerseits, die etwas anzeigt oder ausdrückt, sowie zum anderen der Phänomenalität, der Präsenz und Materialität der Körper selbst. Letztere verweist sowohl auf die Spurenschrift der Wunden und Narben als Erinnerungsmale ihrer verletzten und verletzbaren Existenz als auch auf ihre negative Präsenz im Sinne ihrer Widerständigkeit oder Unverfügbarkeit, die impliziert, das in jeder Bewegung eine Grenze eingetragen bleibt, die, obgleich sie nirgends markierbar ist, dennoch nicht überschritten werden kann. Der Leib als Zeigen und Sichzeigen bezeugt darin gleichzeitig seine Unberechenbarkeit wie Unbeherrschbarkeit. Indem Pina Bausch diese Grenzen auslotet, opponiert sie gleichermaßen gegen deren Verschwinden im Medium des klassischen Tanzes.
23 Vgl. auch Dieter Mersch: Körper zeigen, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.): Verkörperung. Theatralität 2, Tübingen/Basel: Francke 2000, S. 75-91. 24 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Kritische Edition, hg. v. Brian McGuinness/Joachim Schulte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, bes. 2.172, 3.262, 3.332, 4.022, 4.0312, 4.041, 4.121, 4.1212.
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(3) Drittens folgt das Zeigen einer anderen Ordnung oder „Logik“ als die diskursive oder rationale Ordnung des Sagens.25 Vier Charakteristika erscheinen dafür – vorerst – als zentral: (a) Die fehlende Negation, denn das Zeigen duldet keine Verneinung, keine Ausstreichung. Das gilt zumal für die körperliche Präsenz, ihre Bewegung, die sich nicht zugleich ausstellen und annullieren kann. (b) Der fehlende Konjunktiv, denn kein Zeigen verfährt hypothetisch, weshalb der Tanz immer nur die volle Teilnahme gestattet. Anders gewendet, er erlaubt keine Einschränkung, keine Zurückhaltung, sondern stets die ungeteilte Einlassung, eine ‚Gegenwärtigkeit ohne Zögern‘, die aus ihm eine ‚absolute‘, d.h. auch ‚unwidersprechbare‘ Kunst macht. (c) Jedes Zeigen ist zudem, wie sich mit Nelson Goodman sagen lässt, „dicht,“26 soweit es im Bildlichen keine Lücken, keine leeren Felder oder weiße Flecken gibt; vielmehr geschieht alles Zeigen stets „ganz“ und vollständig, es enthüllt sich gleichsam ohne Rest. Damit hängt (d) zusammen, dass das Zeigen nicht nach wahr oder falsch unterschieden werden kann; sein Format ist vielmehr die Evidenz, die entweder vorliegt oder nicht. Zeigen affirmiert sich damit selbst und ‚ergibt‘ ihre einfache Gegenwart. Solche Gegenwart darf dann freilich nicht verwechselt werden mit der Gegenwärtigkeit einer Zeugenschaft, wie sie Jacques Derrida in seiner Philosophie der Nichtpräsenz einer rigorosen Kritik unterzogen hat, vielmehr ist die Dialektik von Anwesenheit und wesentlicher Verspätung auf die ‚Logik‘ des Zeigens nicht anwendbar, weil sie vor allem das betrifft, was mitgängig ist und was sich jeden intentionalen oder inszenatorischen Bedeutens verweigert.27 Es handelt sich stattdessen um eine „negative Präsenz“. Ihr eignet ebenso sehr eine Unverneinbarkeit wie sie nicht mit bezeugbarer Anwesenheit zusammenfällt, die stets schon als Anwesendes bezeichnet und damit eingeschränkt und gerahmt und mithin als solche negiert ist. (4) Viertens schließlich beruht das mediale Spiel der Figuration auf einer Transitorik, für die wiederum wenigstens drei Elemente maßgeblich zeichnen: (a) Die intermediale Konfiguration, deren Zentrum der Körper in Bewegung ist. Insofern liegt auf ihr bereits die ganze Last der Duplizität des Zeigens und Sichzeigens, d.h. sowohl die Logik der Deiktik, der Expression, als auch die Negativität der Spur, der Widerständigkeit und Unverfügbarkeit. (b) Wird in den analytischen Handlungstheorie zwischen Bewegung und Handlung unter25 Vgl. dazu meine Ausführungen in: Dieter Mersch: Wort, Bild, Ton, Zahl. Modalitäten medialen Darstellens, in: Ders. (Hg.): Die Medien der Künste, München: Fink 2003, S. 9-49. 26 Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 154ff., sowie ders.: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 87ff. 27 Vgl. meine Kritik an Derrida in: Dieter Mersch: Spur und Präsenz. Zur ‚Dekonstruktion‘ der Dekonstruktion, in: Susanne Strätling/Georg Witte (Hg): Die Sichtbarkeit der Schrift, München: Fink 2005, S. 21-40.
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schieden, wobei erstere unwillkürlich, letztere intentional vollzogen wird, fügt sich die Performativität der Figur dieser Dichtotomie nicht; sie vollzieht sich vielmehr „zwischen“ den Differenzen von actio und passio oder Intentionalität und Nichtintentionalität.28 Entsprechend erweist sich der Tanz als beides zugleich: Bewegung und Bewegtwerden, Handlung und Widerfahrnis, Körper in actu sowie besetzter oder besessener und enteigneter Körper. Seine Beschreibung erfordert deswegen den Rückgriff auf Kategorien, die beiden Seiten gleichermaßen gerecht werden müssen. Das bedeutet insbesondere im Prozess der Inszenierung die Momente der Ereignishaftigkeit und Nichtwiederholbarkeit, der Präsenz im Sinne negativer Anwesenheit, der Setzung und Irreversibilität, sowie der Passivität und des Eigensinns der Materialität hervorzuheben. Für die Ästhetik des Tanzes sind alle vier Elemente gleichermaßen konstitutiv. Der Tanz als Kunst, zumal der avantgardistische Tanz stellt sie unter Reflexion. Seine Analyse als Kunstform bedarf deshalb im Besonderen der ästhetischen Reflexion durch Strategien der Fraktur, der Umkehrung, der Paradoxie oder Unterbrechung. Sie erweisen sich stets als intermediale Strategien, die konträre Konstellationen nutzen, um die Elemente gegeneinander auszuspielen oder aneinander abprallen zu lassen. Die anvisierte dance literacy bedeutet dann nicht so sehr die Aufdeckung der Figuren oder ihrer Defigurationen, sondern die eigentliche Aufgabe besteht in der je einzelnen Alphabetisierung der zum Einsatz kommenden medialen Reflexionsstrategien. Kein Blick von außen enthüllt dabei das Mediale, das sich etwa anhand der vorkommenden Formate gleichsam phänomenologisch aufzählen ließe, um ihre künstlerischen Abenteuer zu beschreiben, sondern umgekehrt offenbaren erst die ästhetischen Praktiken der Brechung und des Widerspruchs die intermediale Struktur, indem sie in diese eingreifen, sie perforieren, stören oder durchkreuzen und gerade dadurch hervortreten lassen. Entsprechend hat die Kunst den analysierenden Wissenschaften immer mehr zu sagen als umgekehrt diese den Künsten. Beruhen mithin die spezifisch künstlerischen Strategien der Reflexion in der Hauptsache auf der Statuierung medialer Paradoxa, die es in jedem Einzelfall allererst zu entdecken gilt, erlaubt ihre Rekonstruktion dann allerdings keinen präzisen und definierbaren methodischen Zugang. Zu einer von der Ästhetik angeleitenden Medienanalyse gehört vielmehr ihre wesentliche Singularität. Sie determiniert die Spezifik künstlerischer Praxis. Sie ist folglich nur exemplarisch durchführbar und darin zugleich unabschließbarer Prozess. Der Versuch einer solchen exemplarischen Analyse bildete die Auseinandersetzung mit dem Tanztheater Pina Bauschs am Beispiel des Sacre. 28 Vgl. Dieter Mersch: Life-Acts. Die Kunst des Performativen und die Performativität der Künste, in: Gabriele Klein/Wolfgang Sting (Hg.): Performance. Positionen zur zeitgenössischen Kunst, Bielefeld: transcript 2005, S. 33-50.
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DIETER MERSCH
Sie nimmt darin lediglich die Stelle eines Modells ein. Doch sind auf diese Weise die Schnittlinien und Brüche, deren medialen Paradoxa und Entgrenzungen des Sacre identifiziert, ist gleichwohl das Ereignis des Tanzes noch nicht einmal berührt. Es bleibt seiner Diskursivierung grundsätzlich fremd. Einzig lässt seine Beschreibung die Metapher als eine Weise sprachlichen ‚Erzeigens‘ zu, worin ihm die Sprache als eine andere Form von Kunst entgegensteht. Es gilt, in aller Rede über Kunst, diese wesentliche Differenz festzuhalten.
Literatur Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam 1979. Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967. Ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966. Böhme, Fritz: Tanzkunst, Dessau: Dünnhaupt 1926. Böhme, Gernot: Leib: Die Natur, die wir selbst sind, in: Ders., Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 77-93. Ders.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985. Brandstetter, Gabriele: Ausdruckstanz, in: Kerbs, Diethart/Reulecke, Jürgen (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal: Hammer 1998, S. 451-463. Dies.: Einleitung zu ‚de figura‘, in: Dies./Peters, Sybille (Hg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München: Fink 2002, S. 7-31. De Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988. Goodman, Nelson: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Ders.: Sprachen der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. Legendre, Pierre: La passion d’être un autre, étude pour la danse, Paris: Ed. du Seuil 1978. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1974. Mersch, Dieter: Das Sagbare und das Zeigbare. Wittgensteins frühe Theorien einer Duplizität im Symbolischen, in: Prima Philosophia, Bd.12, H. 4 (1999), S. 85-94.
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Ders.: Körper zeigen, in: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/Warstat, Matthias (Hg.): Verkörperung. Theatralität Bd. 2, Tübingen: Francke 2000, S. 75-91. Ders.: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink 2002. Ders.: Ereignis und Aura, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Ders.: Wort, Bild, Ton, Zahl. Modalitäten medialen Darstellens, in: Ders. (Hg.): Die Medien der Künste, München: Fink 2003, S. 9-49. Ders.: Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine „negative“ Medientheorie, in: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München: Fink 2004, S. 75-96. Ders.: Die Sprache der Materialität: Etwas zeigen und Sich-Zeigen bei Goodman und Wittgenstein, in: Scholz, Oliver/Steinbrenner, Jakob (Hg.): Symbole, Systeme, Welten. Überlegungen zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg: Synchron 2004, S. 141-161. Ders.: Negative Medialität. Derridas Différance und Heideggers Weg zur Sprache, in: Journal Phänomenologie, Jacques Derrida, H. 23 (2005), S.14-22. Ders.: Spur und Präsenz. Zur „Dekonstruktion“ der Dekonstruktion, in: Strätling, Susanne/Witte, Georg (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München: Fink 2005, S. 21-40. Ders.: Life-Acts. Die Kunst des Performativen und die Performativität der Künste, in: Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang (Hg.): Performance. Positionen zur zeitgenössischen Kunst, Bielefeld: transcript 2005, S. 33-50. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, in: Kritische Studienausgabe (KSA), Bd.1, Neuausgabe München: dtv 1999, S. 22-156. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin: De Gruyter 1965. Sarte, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, Reinbek: Rowohlt 1962. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bonn: Bouvier 1964. Von Laban, Rudolf: Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen, Stuttgart: Altberliner Bücherstube 1922. Zur Lippe, Rudolf: Naturbeherrschung am Menschen, 2 Bd., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. Wetzel, Michael: Vom Charme der Wiederholung, in: Hanraths, Ulrike u.a. (Hg.): Tanz-Legenden. Essays zu Pina Bausch, Frankfurt a.M.: Tende 1984, S. 78-89. Wigman, Mary: Die Sprache des Tanzes, München: Battenberg 1986. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Kritische Edition, hg. v. Brian McGuiness/Joachim Schulte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.
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Au torinnen, Autore n und Hera us ge berinnen
Gitta Barthel Tänzerin, Choreografin und Tanzvermittlerin. Tanzstudium an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Tänzerin u.a. beim Folkwang Tanzstudio, am Bremer Tanztheater bei Susanne Linke und als Gast bei Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Dozentin für zeitgenössischen Tanz und Choreografie an Universitäten und Ausbildungsstätten. Bis 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bewegungswissenschaft/Performance Studies, Universität Hamburg. Veröffentlichungen: Choreografischer Baukasten (2011, hg. mit G. Klein, E. Wagner); Vom Tanz zur Choreographie. Gestaltungsprozesse in der Tanzpädagogik (2007, mit H.-G. Artus). Peter M. Boenisch Ko-Direktor des European Theatre Research Network (ETRN) und Professor für Europäisches Theater an der University of Kent in Canterbury, Großbritannien. Mit Rachel Fensham Herausgeber der tanzwissenschaftlichen Buchreihe New World Choreographies (Palgrave Macmillan). Seit 2010 Zusammenarbeit mit dem Regisseur Thomas Ostermeier an der Schaubühne Berlin im von der British Academy und dem Leverhulme Trust geförderten Forschungsprojekt Reinventing Directors' Theatre for the 21st Century zum Thema Theaterregie. Veröffentlichungen: körPERformance 1.0 (2002); Directing Scenes and Senses: The Thinking of Regie (2015). Gabriele Brandstetter Professorin für Theater- und Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin, seit 2008 Ko-Direktorin des Internationalen Kollegs Verflechtungen von Theater-Kulturen. 2004: Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft; 2011: Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Veröffentlichungen (Auswahl): Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde (1995; erwei339
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terte Neuauflage 2013); Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien (2005); Tanz als Anthropologie (2007); Notationen und choreographisches Denken (2010, hg. mit F. Hofmann, K. Maar); Dance [and] Theory (2013, hg. mit G. Klein); Touching and Being Touched. Kinesthesia and Empathy in Dance and Movement (2013, hg. mit G. Egert, S. Zubarik); Callas. Ein Tanzstück von Reinhild Hoffmann 1983 / 2012 (2013, hg. mit R. Hoffmann, P. Stöckemann). Stephan Brinkmann Professor für Zeitgenössischen Tanz an der Folkwang Universität der Künste. Tanzstudium an der Folkwang Universität, Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Soziologie an der Universität Köln sowie Zusatzstudium der Tanzpädagogik an der Folkwang Universität. Promotion an der Universität Hamburg. Tänzer beim Folkwang-Tanzstudio und beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Eigene Choreografien und internationale Lehrtätigkeit für Zeitgenössischen Tanz. Buchveröffentlichung: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz (2013). Mark Franko Professor in Performance and Visual Studies, School of Performing Arts and Media, Middlesex University London. Herausgeber des Dance Research Journal, Gründungsmitglied und Mitherausgeber der Buchserie Oxford Studies in Dance Theory. 2011 erhielt er den Outstanding Scholarly Research in Dance Award des Congress in Research in Dance. Buchveröffentlichungen: Martha Graham in Love and War: the life in the work (2012); Excursion for Miracles: Paul Sanasardo, Donya Feuer, and Studio for Dance (2005); The Work of Dance: Labor, Movement, and Identity in the 1930s (2002); Dancing Modernism/Performing Politics (1995); Dance as Text: Ideologies of the Baroque Body (2003/2005); The Dancing Body in Renaissance Choreography (1986). Michael Diers Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und außerplanmäßiger Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Langjähriger Herausgeber der Taschenbuchreihe kunststück, von 2005-2007 auch der Reihe Fundus. Veröffentlichungen (Auswahl): Warburg aus Briefen (1991); Mo(nu)mente (1995, Hg.); Schlagbilder (1997); Der Bevölkerung (2000, hg. mit K. König); Fotografie Film Video. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes (2006), Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform (2009, hg. mit M. Wagner); Das Interview. Formen und Funktionen des Künstlergesprächs seit Vasari (2013, hg. mit L. Blunck u. H.U. Obrist); Max Liebermann: Die Kunstsammlung. 340
AUTORINNEN, AUTOREN UND HERAUSGEBERINNEN
Von Rembrandt bis Manet (2013, hg. mit B. Hedinger und J. Müller); Mit-Hg. der Gesammelten Schriften von Aby Warburg (1994 ff.). Nicole Haitzinger Assoz. Professorin am Fachbereich Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg. Promotion in Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Habilitation an der Universität Salzburg. Mitherausgeberin des Magazins Tanz und Archiv. Redaktionsmitglied bei der Internetzeitschrift CORPUS. Publikationen (Auswahl): DenkFiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden (hg. mit K. Fenböck, 2010); Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts (mit C. Jeschke/ G. Vettermann, 2010); Versehen. Tanz in allen Medien (hg. mit H. Ploebst, 2011); Resonanzen des Tragischen. Zwischen Ereignis und Affekt (2015). Amos Hetz Choreograf, Tänzer, Bewegungslehrer. 1965-2003 Professur für Bewegung, Tanz und Notation an der Jerusalem Academy of Music and Dance, dort Gründer und Leiter des Fachbereichs Bewegung. Gründer des Tanz-Ensemble Tnu'ot (1972), seit 1989 Gründer und Leiter des Room Dances Festival in Israel. Fellow am Wissenschafts-Kolleg Berlin (1992), Gastprofessor an der FU Berlin (2007, Valeska-Gert-Professur), Jerusalem-Preis für Leistungen im Tanz, Lehre und für die Gründung des Chamber Dance Festivals (1999), Landau-Preis für Tanz in Israel (2013). Als Choreograf gehört er zu den wenigen, der die Eshkol-Wachman-Bewegungschrift zur Komposition von Tänzen benutzt. Raimund Hoghe Tänzer, Choreograf, Dramaturg, Filmemacher und Journalist. 1980-1990 Dramaturg für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Seit 1989 eigene Theaterarbeiten. 1994 erstes Solo für sich: Meinwärts, dem Chambre séparée (1997) und Another Dream (2000) als Trilogie über das vergangene Jahrhundert folgten. Arbeiten für das Fernsehen, u.a. 1997 im Auftrag des WDR das Selbstportrait Der Buckel. 2008 in der Kritiker-Umfrage der Zeitschrift ballet-tanz zum "Tänzer des Jahres" ernannt. Veröffentlichungen (Auswahl): Bandoneon – Für was kann Tango alles gut sein? Texte und Fotos zu einem Stück von Pina Bausch (1981); Pina Bausch: Tanztheatergeschichten (1986), ZEIT-Porträts (1993); Raimund Hoghe (2013). Claudia Jeschke Professorin für Tanzwissenschaft an der Universität Salzburg, Leiterin der Derra de Moroda Dance Archives und Mitherausgeberin des Magazins Tanz 341
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und Archiv. Arbeitet(e) als Dramaturgin, Choreografin, Ausstellungsmacherin und Verfasserin von Fernsehsendungen zum Tanz. Re-Konstruktionen zu Tanzphänomenen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts u.a.: Sensuality and Nationalism in Romantic Ballet (DVD, Dancetime Publications New York 2011, gemeinsam mit Robert Atwood); Nijinskys L’Après-midi d’un Faune (2012, gemeinsam mit Ann Hutchinson Guest); Poeten des Tanzes. Die Sacharoffs (Choreografien zum Dokumentarfilm von Stella Tinbergen, 2014). Publikationen (Auswahl): Schwäne und Feuervögel. Die Ballets Russes 19091929 (2009); Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts (2010). Stephanie Jordan Research Professor für Tanzwissenschaft an der Roehampton University London. Buchveröffentlichungen: Striding Out: Aspects of Contemporary and New Dance in Britain (1992), Moving Music: Dialogues with Music in Twentieth-Century Ballet (2000); Stravinsky Dances (2007), Mark Morris: Musician-Choreographer (2015). Multimediale Publikationen: Music Dances: Balanchine Choreographs Stravinsky (2002, analytisches Video in Zusammenarbeit mit TänzerInnen des New York City Ballet, im Auftrag der George Balanchine Foundation); Ashton to Stravinsky (Video/ DVD, mit G. Moris und in Zusammenarbeit mit The Royal Ballet); Stravinsky the Global Dancer (Projekt einer Internet Datenbank, mit L. Nicholas). Christiane Karl Freie Mitarbeiterin des Dachverbands Tanz Deutschland. Magisterstudium an der Universität Leipzig in den Fächern Kulturwissenschaften, Theaterwissenschaft und Journalistik. Promotion an der Universität Salzburg mit dem Thema Tanztheorie und Bewegungskonzepte des ‚Spanischen (Theater-) Tanzes‘ (1780-1870), wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Mitarbeit im Tanzarchiv Leipzig, Produktionsassistenzen bei den Festivals Körperstimmen, Tanz im August (tanzwerkstatt Berlin) und der Tanzplattform Deutschland 2004. Einjährige Auslandsaufenthalte in Spanien und den USA. Barbara Kaufmann Tänzerin, Probenassistentin und Probenleiterin im Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, Leiterin der Dokumentation in der Pina Bausch Foundation. 1977 Tanzausbildung bei Jessica Iwanson in München, 1980 Tänzerin bei Birgitta Trommler im Tanzprojekt München, 1984 Engagement bei Susanne Linke im Folkwang Tanzstudio, seit 1987 Tänzerin im Ensemble des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Ab 2001 Probenassistentin für verschiedene Repertoire-Stücke u.a. für Le Sacre du Printemps und Iphigenie auf Tauris. 2014 Rekonstruktion und Einstudierung des Tannhäuser-Bacchanal in der 342
AUTORINNEN, AUTOREN UND HERAUSGEBERINNEN
Choreografie von Pina Bausch mit Tanzstudierenden der Folkwang Universität der Künste, Tänzern des Folkwang Tanzstudio und des Tanztheater Wuppertal. Antja Kennedy Tanzpädagogin, Bewegungsanalytikerin, Tänzerin und Choreografin. Von 1978-1990 Gründung und Mitarbeit in der Tanzfabrik Berlin. Seit 1988 Mitarbeit im Europäischen Verband für Laban/Bartenieff Bewegungsstudien (EUROLAB). Seit 1995 als Direktorin der EUROLAB Zertifikatausbildung für Laban/Bartenieff Bewegungsstudien. Gastprofessur am Fachbereich Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg (2003), Unterricht bei den Ausbildungen bei impuls e.V. Bremen. Letzte Buchveröffentlichung: Bewegtes Wissen – Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien verstehen und erleben (2010). Letzte Choreografie: Global Water Dances (2013). Gabriele Klein Professorin für Soziologie von Körper, Bewegung und Tanz an der Universität Hamburg, Leiterin des Zentrums für Performance Studies, KoDirektorin des Research Center for Media and Communication. Sprecherin des Forschungsverbundes Übersetzen und Rahmen sowie Ko-Sprecherin des Graduiertenkollegs Lose Verbindungen. Kollektivität im urbanen und digitalen Raum. Buchveröffentlichungen (Auswahl): FrauenKörperTanz (1992); Tanz Theorie Text (2002, hg. mit C. Zipprich); Is this real? Die Kultur des HipHop (2003, mit M. Friedrich); Electronc Vibration. PopKultur Theorie (2004); Performance (2005, hg. mit W. Sting); Stadt. Szenen (2005, Hg.); Emerging Bodies (2011, hg. mit S. Noeth); Choreografischer Baukasten (2011, mit G. Barthel und E. Wagner); Dance [and] Theory (2013, hg. mit G. Brandstetter); Performance and Labor (2013, hg. mit B. Kunst). Dieter Mersch Professor für Ästhetik und Kunstphilosophie an der Zürcher Hochschule der Künste und Leiter des Instituts für Theorie. Gastprofessor und Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens an der Universität Potsdam. Letzte Buchpublikationen (Auswahl): Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis (2002); Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen (2002); Kunst und Medium (2003); Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens (2003, Hg.); Performativität und Praxis (2003, hg. mit J. Kertscher); Medientheorien – Eine Einführung (2006); Logik des Bildlichen (2009, hg. mit M. Heßler); Posthermeneutik (2010), Ordo ab Chao/Order from Noise (2013).
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Bina Elisabeth Mohn Kultur-Anthropologin und Begründerin der Kamera-Ethnographie. Promotion über Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs Authentizität als Darstellungsform, Universität Hildesheim. Aktuelle Publikation: Differenzen zeigender Ethnographie. Blickschneisen und Schnittstellen der Kamera-Ethnographie (in: B. Schnettler und A. Baer (Hg.): Themenheft Visuelle Soziologie, Soziale Welt, 2013). Jürgen Raab Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Koblenz-Landau. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Soziologie des Geruchs. Über die soziale Konstruktion olfaktorischer Wahrnehmung (2001); Visuelle Wissenssoziologie. Theoretische Konzeption und materiale Analysen (2008); Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen (2008, hg. mit M. Pfadenhauer, J. Dreher, P. Stegmeier und B. Schnettler); Video Analysis. Methodology and Methods (20123, hg. mit H. Knoblauch, B. Schnettler und H.-G. Soeffner); Erving Goffman. Klassiker der Wissenssoziologie (20142); Grenzen der Bildinterpretation (2014, hg. mit M. R. Müller und H.-G. Soeffner). Gerald Siegmund Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-LiebigUniversität Gießen. Studium der Theaterwissenschaft, Anglistik und Romanistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2005 bis 2008 Assistenzprofessor am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern, Schweiz. Letzte Buchpublikationen: Abwesenheit (2006), Subjekt: Theater. Beiträge zur analytischen Theatralität (2011, hg. mit Petra Bolte-Picker), Dance, Politics, and Co-Immunity (2013, hg. mit Stefan Hölscher). Hans-Georg Soeffner Professor emeritus für Allgemeine Soziologie und Leiter des Sozialwissenschaftlichen Archivs an der Universität Konstanz. Permanent Fellow, Vorstandsmitglied sowie Leiter der Arbeitsgruppe Wissenssoziologische Hermeneutik am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen. Senior Advisor der Universität Bonn, Forum Internationale Wissenschaft (FIW). Buchveröffentlichungen (Auswahl): Zeitbilder. Versuche über Glück, Lebensstil, Gewalt und Schuld (2005); Neue Perspektiven der Wissenssoziologie (2006, hg. mit D. Tänzler und H. Knoblauch). Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals (2010); Fragiler Pluralismus (2014, hg. mit T. D. Boldt); Grenzen der Bildinterpretation (2014, hg. mit M. Müller und J. Raab). 344
AUTORINNEN, AUTOREN UND HERAUSGEBERINNEN
Christina Thurner Professorin für Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern/Schweiz. Leitung verschiedener vom Schweizerischen Nationalfonds geförderter Forschungsprojekte, u.a. im interuniversitären Graduiertenprogramm ProDoc Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz (Basel/Bern). Stiftungsrätin des Schweizer Tanzarchivs sowie Mitglied des Forschungsbeirats am Institute for the Performing Arts and Film an der Zürcher Hochschule der Künste. Buchveröffentlichungen: Tanzkritik. Materialien (1997-2014) (2015); Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten (2009); Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz (2010, hg. mit Julia Wehren).
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Bildnachw eise
Antja Kennedy S. 69, Abb. 1: Antrieb: Faktoren und Elemente, Quelle: Von der Verf. erstellt. S. 70, Abb. 2: Formqualitäten nach Laban/Hackney, Quelle: Von der Verf. erstellt. S. 72, Abb. 3: Phrasenanalyse von Pina Bauchs Le Sacre du Printemps, Quelle : Von der Verf. erstellt. S. 74, Abb. 4: Motivschriftanalyse von Pina Bauschs Le Sacre du Printemps, Quelle: Von der Verf. erstellt. Gabriele Brandstetter S. 102, Abb. 1: Kyomi Ichida und Pina Bausch, 1987, Quelle: Pina Bausch: Probe Sacre, DVD und Buch, Paris: L´Arche Éditeur 2013, S. 94/95. Standbild aus der Aufzeichnung, ausgesucht von Herbert Rach. S. 104, Abb. 2: Pina Bausch: Le Sacre du Printemps, Quelle: Norbert Servos: Pina Bausch. Tanztheater. München: K. Kieser Verlag. 2003. S. 140. Foto: Gert Weigelt. S. 108, Abb. 3: Kyomi Ichida in Pina Bauschs: Le Sacre du Printemps, 1987, Quelle: Pina Bausch: Probe Sacre, DVD und Buch, Paris: L´Arche Éditeur 2013, S. 69. Standbild aus der Aufzeichnung, ausgesucht von Herbert Rach. S. 113, Abb. 4: Pina Bausch: Wind von West, Rekonstruktion, 2013, Quelle: Programmheft anlässlich der Rekonstruktion des dreiteiligen Strawinsky-Abends von Pina Bausch im Rahmen der Jubiläumsspielzeit PINA40 – 40 Jahre Tanztheater Wuppertal Pina Basuch am 22. November 2013, S. 4/5. Foto: Alexandros Sarakasidis.
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S. 114, Abb. 5: Pina Bausch: Der zweite Frühling, Rekonstruktion 2013, zu sehen (v.l.n.r.), : Chang-Wen Hsu, Sergey Zhukov, Tsai-Wei Tien, Darwin José Diaz Carrero, Quelle: Programmheft anlässlich der Rekonstruktion des dreiteiligen Strawinsky-Abends von Pina Bausch im Rahmen der Jubiläumsspielzeit PINA40 – 40 Jahre Tanztheater Wuppertal Pina Bausch am 22. November 2013, S. 8/9. Foto: Ulli Weiss / Copyright: Pina Bausch Foundation. S. 120, Abb. 6: Xavier Le Roy: Le Sacre du Printemps, 2007, Quelle: Filmstill aus Xavier Le Roy: Le Sacre du Printemps, 2008 von Corinne Schweizer. S. 120, Abb. 7: Josep Caballero García: SACRES, 2013, Quelle: Josep Caballero García SACRES, 2013, Foto: Dieter Hartwig. Gabriele Klein S. 131, Abb. 1: Gastspiele Das Frühlingsopfer von Pina Bausch 1976-2013, Quelle: Von der Verf. erstellt. Bina Elisabeth Mohn S. 211, Abb. 1: Produktion von Bewegung, Quelle: Klaus Wildenhahn: Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal?, Verleih: Stiftung Deutsche Kinemathek, Deutschland 1982, 115 Minuten. S. 213, Abb. 2: Bewegungsspuren auf PVC, Quelle: Ebd. S. 215, Abb. 3: Optisches Ertasten mit neugieriger Kamera, Quelle: Elisabeth Mohn: Versuche zur ‚Körperkamera‘, Berlin 2004, nicht veröffentlicht. S. 220, Abb. 4: What the hell is going on here?, Quelle: Elisabeth Mohn: Stundenweise Schulzeit, in: Elisabeth Mohn/Klaus Amann: Lernkörper. Kamera-Ethnografische Studien zum Schüler-Job (Video-DVD), Göttingen: IWF Wissen und Medien 2006, Video 2. S. 221, Abb. 5: Alltägliches als Quelle für Bewegungsstudien, Quelle: K. Willdenhahn: Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal? S. 226, Abb. 6: Choreografische Potentiale alltäglicher Bewegung, Quelle: Elisabeth Mohn: Taktik, in: E. Mohn/ K. Amann: Lernkörper. KameraEthnografische Studien zum Schülerjob (Video-DVD). Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner S. 240, Abb. 1: Rondes printanières, Quelle : Fernsehaufzeichnung des ZDF von Pina Bauschs Inszenierung des Sacre du Printemps aus dem Jahre 1978/79. S. 243, Abb. 2: Jeux des cités rivales, Quelle : Ebd. S. 245, Abb. 3: Danse sacrale (Geste), Quelle: Ebd. S. 246, Abb. 4: Danse sacrale (Schlussbild), Quelle: Ebd.
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BILDNACHWEISE
Michael Diers S. 253, Abb. 1: Sandro Botticelli: Der Frühling, um 1486, Tempera/Holz, 203 x 314 cm, Galleria degli Uffizi, Florenz, Quelle: Rolf Toman (Hg.): Die Kunst der italienischen Renaissance: Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung, Köln: Könemann 1994, S. 280. S. 254, Abb. 2: Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Bildtafel zum Motivkreis Reigen – Der Tanz der Salome, Fotografie, späte 1920er Jahre, Quelle: Archiv d. Verf. S. 255, Abb. 3: Aby Warburg, Hamis Katchinas und Manas in einer Reihe beim Tanz in Oraibi, Arizona, Mai 1896, Fotografie, Quelle: Benedetta Cestelli Guidi/Nicholas Mann (Hg.): Grenzerweiterungen. Aby Warburg in Amerika 1895-1896, Hamburg u.a.: Döling + Galitz 1999, S. 73. S. 256, Abb. 4: Domenico Ghirlandaio: Geburt des Johannes (Detail), 1486, Fresko, Florenz, S. Maria Novella, Capella Tornabuoni Domenico Ghirlandaio, Quelle: Archiv d. Verf. S. 257, Abb. 5: Carl Bantzer, Schwälmer Tanz, 1898, Öl/Lwd., 95 x 165 cm, Universitätsmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Marburg, Quelle: Bernd Küster: Carl Bantzer, Marburg: Hitzeroth 1993, S. 92f. S. 257, Abb. 6: Pina Bausch, Le Sacre du Printemps (1975/2000), Quelle: Ursula Kaufmann: Ursula Kaufmann fotografiert Pina Bausch und das Wuppertaler Tanztheater, Wuppertal: Müller und Busmann 2002, o.S. S. 259, Abb. 7: Pina Bausch/Tanztheater Wuppertal, Le Sacre du Printemps, Standbild, Quelle: ZDF-Fernsehaufzeichnung von 1978/79. S. 259, Abb. 8: Kaiser Otto und Adelheid, Buchholzschnitt aus Historie von Herzog Ernst von Bayern und Österreich, Augsburg, Anton Sorg um 1480, Staatsbibliothek Berlin, Quelle: Archiv d. Verf. S. 260, Abb. 9: Simone Martini-Umkreis (Barna da Seina?): Johannes der Täufer, um 1340/50, Tempera/Holz, 108 x 50,8 cm, Lindenau Museum, Altenburg, Quelle: Frühe italienische Tafelbilder aus dem Lindenau Museum Altenburg, Mappe o.J. S. 260, Abb. 10: Umkreis Rueland Frueauf d.Ä.: Dornenkrönung, zw. 1440/ 1507, Öl/Holz, Historisches Museum Regensburg, Quelle: Ruth Mellinkoff: Outcasts: Signs of Otherness in Northern European Art of the Late Middle Ages, Berkeley/Los Angeles/Oxford: University of California Press 1993, Vol. II, Abb. VI 9. S. 260, Abb. 11: Noli me tangere, M.R. James Memorial Psalter, England, spätes 14. Jh., London, British Library Ms. Add. 44949, folio 4 recto (Detail), Quelle: Ruth Mellinkoff: Outcasts: Signs of Otherness in Northern European Art of the Late Middle Ages, Berkeley/Los Angeles, Oxford: University of California Press 1993, Vol. II, Abb. XI.10.
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ANHANG
S. 261, Abb. 12: Ferdinand Hodler: Entzücktes Weib, 1911, Öl/Lwd., 172 x 85,5 cm, Musée d’art et d’histoire, Genf, Quelle: Ferdinand Hodler, Ausst.-Kat., Nationalgalerie Berlin, Kunsthaus Zürich u.a.,1983, S. 353. S. 262, Abb. 13-15: Bausch, Le Sacre du Printemps, Standbild, Quelle: ZDFFernsehaufzeichnung von 1978/79. S. 263, Abb. 16: Domenico Veneziano: Johannes der Täufer in der Wüste, um 1445, Tempera/Holz, 28,8 x 32,4 cm, National Gallery of Art, Washington, Quelle: R. Toman (Hg.): Die Kunst der italienischen Renaissance, S. 265. S. 264, Abb. 17: Benozzo Gozzoli: Der Tanz der Salome, um 1461/62, 23,8 x 34,3 cm, National Gallery of Art, Washington, Quelle: Christina Acidini Luchinat: Benozzo Gozzoli, Florenz/Königstein: Scala, Langewiesche 1994, S. 39. S. 265, Abb. 18: Walter de Maria: The New York Earthroom, 1977, Erde, 197 Kubikmeter, Dia Center for the Arts, New York, Quelle: Lisa Phillips/ The Whitney Museum of American Art: The American Century: Art and Culture 1950 - 2000, Ausst.Kat. Whitney Museum 2001, S. 204. S. 265, Abb. 19: Tizian: Venus und Adonis, 1554, Öl/Lwd., 186 x 207 cm, Museo del Prado, Madrid, Quelle: Susana Biadene (Hg.): Titian - Prince of Painters, Ausst.Kat., Venedig/Washington: Marsilio Ed. 1990/91, S. 83. S. 267, Abb. 20: Gerhard Richter: Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen, Tf. 471: Baader-Meinhof-Fotos 1989, 8 s/w-Reproduktionen, 51,7 x 66,7 cm, Quelle: Gerhard Richter, Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen, hg. von Helmut Friedel/ Ulrich Wilmes, Köln: Oktagon 1998, S. 229. S. 268, Abb. 21: Bausch, Le Sacre du Printemps, Standbild, Quelle: ZDFFernsehaufzeichnung von 1978/79. Trotz umfangreicher Recherchen ist es leider nicht in allen Fällen gelungen, die Copyright-Inhaber einzelner Reproduktionen ausfindig zu machen. Etwaige Rechteinhaber werden gebeten, sich ggf. mit den Herausgeberinnen in Verbindung zu setzen.
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