Metaphysik in der Moderne: Von Schopenhauer bis zur Gegenwart 3515092285, 9783515092289

Das Anliegen der Metaphysik, die Welt aus wenigen Grundprinzipien zu begreifen, ist seit Hume und Kant häufig als illusi

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Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
1. Metaphysik – totgesagt aber lebendig
2. Die Tradition der klassischen Metaphysik
3. Der Aufstand gegen die Vernunftmetaphysik und die Hauptströmungen der Metaphysik in der Moderne
II. Materialismus des 19. Jahrhunderts
1. Ludwig Feuerbach: Anthropologischer Materialismus
2. Der naturwissenschaftliche Materialismus
3. Friedrich Engels: Dialektischer Materialismus
4. Ernst Haeckel: Monistische Weltanschauung
III. Willensmetaphysik
1. Arthur Schopenhauer: Der Wille als Ding an sich
2. Eduard von Hartmann: Das Unbewusste als Wille und Geist
3. Friedrich Nietzsche: Wille zur Macht und metaphysische Hinterwelten
4. Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher des Lebens
IV. Metaphysik der Evolution
1. Herbert Spencer: Synthetische Philosophie der Evolution
2. Henri Bergson: Metaphysik der schöpferischen Evolution
3. Alfred N. Whitehead: Die Welt als Prozess und Organismus
4. Teilhard de Chardin: Das Ziel der Evolution
V. Phänomenologische Ontologie
1. Edmund Husserl: Programm der phänomenologischen Ontologie
2. Max Scheler: Metaphysik des Geistes
3. Nicolai Hartmann: Kritische Ontologie und Schichtenlehre
4. Martin Heidegger: Fundamentalontologie und Seinsdenken
5. Jean-Paul Sartre: Ontologie der Freiheit
VI. Metaphysik der Transzendenz
1. Martin Buber: Dialogphilosophie
2. Peter Wust: Die Wende zum Sein und das Wagnis des Glaubens
3. Edith Stein: Von der Phänomenologie zur christlichen Metaphysik und Mystik
4. Karl Jaspers: Existenzphilosophie und Metaphysik der Transzendenz
VII. Sprachanalytische Metaphysikkritik
1. Bertrand Russell: Sprachanalyse und Ontologie
2. Der frühe Ludwig Wittgenstein: Die Grenzen sinnvollen Redens und das mystische Schweigen
3. Rudolf Carnap: Die Sinnlosigkeit der Metaphysik
4. Der späte Ludwig Wittgenstein: Metaphysik als Missbrauch der Alltagssprache
VIII. Analytische Ontologie
1. Gilbert Ryle: Sprachanalytische Kritik des Leib-Seele-Dualismus
2. Peter F. Strawson: Sprachanalytische Ontologie von Körper und Person
3. Willard v. O. Quine: Naturalismus und ontologische Verpflichtungen
4. Die analytische Philosophie des Geistes
IX. Ontologie des kritischenRationalismus
1. Karl Popper: Kritisch-rationale Metaphysik und die 3-Welten-Ontologie
2. Paul Feyerabend: Materialismus und Relativismus
3. Hans Albert: Naturalismus und Kritik religiöser Weltauffassungen
4. Mario Bunge: Emergentistischer Materialismus
X. Schlussbetrachtungen
1. Klassische und moderne Metaphysik im Vergleich
2. Von der apriorischen Metaphysik zur hypothetisch-wissenschaftsorientierten Ontologie
3. Der Aufstieg des Naturalismus
Nachweise der Abbildungen
Bibliographie
Personenregister
Sachregister
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Metaphysik in der Moderne: Von Schopenhauer bis zur Gegenwart
 3515092285, 9783515092289

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Martin Morgenstern Metaphysik in der Moderne

Martin Morgenstern

Metaphysik in der Moderne Von Schopenhauer bis zur Gegenwart

Franz Steiner Verlag 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09228-9 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungs­beständigem Papier. Druck: Laupp und Göbel, Nehren Printed in Germany



Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung: Die Situation der Metaphysik zu Beginn der Moderne........................................................................................... 9 1. Metaphysik – totgesagt aber lebendig .................................................... 9 2. Die Tradition der klassischen Metaphysik............................................ 12 3. Der Aufstand gegen die Vernunftmetaphysik und die Hauptströmungen der Metaphysik in der Moderne ............................ 17 II. Materialismus des 19. Jahrhunderts.................................................... 22 1. Ludwig Feuerbach: Anthropologischer Materialismus ........................ 23 2. Der naturwissenschaftliche Materialismus .......................................... 28 3. Friedrich Engels: Dialektischer Materialismus..................................... 32 4. Ernst Haeckel: Monistische Weltanschauung . .................................... 38 III. Willensmetaphysik.............................................................................. 43 1. Arthur Schopenhauer: Der Wille als Ding an sich .............................. 44 2. Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten . ...................... 56 3. Friedrich Nietzsche: Metaphysische Hinterwelten . und Wille zur Macht............................................................................ 62 4. Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher des Lebens........................ 73 IV. Metaphysik der Evolution................................................................... 78

1. Herbert Spencer: Synthetische Philosophie der Evolution................... 79 2. Henri Bergson: Metaphysik der schöpferischen Entwicklung.............. 84 3. Alfred N. Whitehead: Die Welt als Prozess und als Organismus ........ 96 4. Teilhard de Chardin: Das Ziel der Evolution..................................... 107

 Inhaltsverzeichnis



V. Phänomenologische Ontologie........................................................ 113



1. Edmund Husserl: Programm der phänomenologischen Ontologie.... 114 2. Max Scheler: Metaphysik des Geistes................................................. 120 3. Nicolai Hartmann: Kritische Ontologie und Schichtenlehre.............. 126 4. Martin Heidegger: Fundamentalontologie und Seinsdenken............. 138 5. Jean-Paul Sartre: Ontologie der Freiheit............................................. 150

VI. Metaphysik der Transzendenz.......................................................... 157 1. Martin Buber: Dialogphilosophie....................................................... 158 2. Peter Wust: Die Wende zum Sein und das Wagnis des Glaubens...... 164 3. Edith Stein: Von der Phänomenologie zur christlichen Metaphysik und Mystik ..................................................................... 169 4. Karl Jaspers: Existenzphilosophie und Metaphysik . der Transzendenz ............................................................................... 176 VII. Sprachanalytische Metaphysikkritik................................................ 186 1. Bertrand Russell: Sprachanalyse und Ontologie................................. 187 2. Der junge Ludwig Wittgenstein: Die Grenzen des sinnvollen Redens und das mystische Schweigen................................................. 193 3. Rudolf Carnap: Die Sinnlosigkeit der Metaphysik ............................ 200 4. Der späte Ludwig Wittgenstein: Metaphysik als Missbrauch der Alltagssprache............................................................................... 206 VIII. Analytische Ontologie...................................................................... 212 1. Gilbert Ryle: Sprachanalytische Kritik des Leib-Seele-Dualismus ... 214 2. Peter Strawson: Sprachanalytische Ontologie von Körper und Person.......................................................................................... 220 3. William v. O. Quine: Naturalismus und ontologische Verpflichtungen................................................................................... 227 4. Die analytische Philosophie des Geistes............................................. 234 IX. Ontologie des kritischen Rationalismus.......................................... 245 1. Karl Popper: Kritisch-rationale Metaphysik und die 3-Welten-Ontologie............................................................... 246 2. Paul Feyerabend: Materialismus und Relativismus............................. 258

Inhaltsverzeichnis 

3. Hans Albert: Naturalismus und Kritik der religiösen . Weltanschauung . ............................................................................... 262 4. Mario Bunge: Emergentistischer Materialismus................................. 269

X. Schlussbetrachtungen....................................................................... 281

1. Klassische und moderne Metaphysik im Vergleich ............................ 281 2. Von der apriorischen Metaphysik zur hypothetisch-wissenschafts orientierten Ontologie........................................................................ 287 3. Der Aufstieg des Naturalismus .......................................................... 290

Anhang: – Nachweise der Abbildungen................................................................ 297 – Bibliographie . .................................................................................... 299 – Personenregister.................................................................................. 305 – Sachregister......................................................................................... 309

I. Einleitung

1. Metaphysik – totgesagt aber lebendig Mythische und rationale Welterklärung. Als die ersten griechischen Philosophen

vor zweieinhalb Jahrtausenden sich von den überlieferten mythischen Welterklärungen lösten und über die Welt nachzudenken begannen, waren es die Urgründe und Ursprünge (griech. „arché“) aller Dinge, wonach sie zunächst fragten. Im Gegensatz zu den bildhaften, durch Tradition beglaubigten Weltdeutungen des Mythos, suchten sie nach rationalen Erklärungen der Welt, also nach Erklärungen, die auf der Basis vernünftigen Denkens die Welt aus wenigen Grundprinzipien verständlich machen sollten. Am Anfang war Philosophie also Metaphysik. Mit der Emanzipation der Philosophie vom mythischen Denken entstand eine neue Form geistiger Interaktion. Als die Philosophen ihre Ideen und Theorien entwickelten, beschränkten sie sich, von Sokrates als wichtigster Ausnahme einmal abgesehen, keineswegs auf die mündliche Verbreitung ihrer Ansichten, sondern sie schrieben sie nieder und machten sie damit ihren Zeitgenossen und der Nachwelt zugänglich. Sie stellten ihre rationalen Welterklärungen also zur Diskussion und setzten sie der Kritik aus. Andere Denker lasen und analysierten diese Schriften, stellten ihre Schwächen heraus und versuchten diese schließlich mit eigenen Konzepten zu überwinden. Die philosophischen Positionen waren daher stets auch Resultate kritischer Auseinandersetzungen. Es gibt keinen namhaften Denker, der seine eigene Position ohne eine kritische Anknüpfung an die Lehren früherer Philosophen entwickelt hätte. Schon zu Beginn der antiken Philosophie wurde damit die kritische Diskussion selbst zu einer Tradition der Geistesgeschichte. Die Geschichte der Philosophie ist daher nicht eine bloß 

Vgl. K. Popper: Zurück zu den Vorsokratikern. In: Vermutungen und Widerlegungen, Teilband 1, Tübingen 1994, S. 218f.

10 Einleitung

zufällige Abfolge miteinander unverbundener und unverträglicher Systeme, sondern sie ist auch und vor allem eine Geschichte philosophischer Probleme und Problemlösungsversuche. Umstrittenheit der Metaphysik. Wenngleich die kritische Diskussion die Ent-

wicklung des philosophischen Denkens mitbestimmt hat, ist es doch eine strittige Frage, ob die Philosophie bei ihren Lösungsversuchen auch wirklich vorangekommen ist, ob es also in der Geschichte der Philosophie und besonders in der Geschichte der Metaphysik überhaupt einen Erkenntnisfortschritt gegeben hat. Wie keine andere Disziplin der Philosophie wird die Metaphysik in ihrer Geschichte vom Schatten eines grundsätzlichen Zweifels verfolgt. Seit der antiken Schule der Skepsis wurde immer wieder mit verschiedenen Argumenten bestritten, dass die hochgesteckten Erkenntnisziele der Metaphysik überhaupt erreichbar sind. Als in der Neuzeit mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften ein unbestreitbarer Erkenntnisfortschritt erreicht wurde, musste die Metaphysik ihren Anspruch, eine philosophische Welterkenntnis neben der empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnis zu sein, eigens begründen. In der großen neuzeitlichen Debatte zwischen Rationalismus und Empirismus stand zwar die erkenntnistheoretische Frage im Zentrum, ob es eine apriorische Erkenntnis der Welt gibt, doch letztlich ging es dabei um das Schicksal der Metaphysik selbst, ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit. In diesem Sinne stellte Kant die Frage, ob Metaphysik den sicheren Gang der Wissenschaft einschlagen könne oder ob sie weiterhin das Feld begrifflicher Konfusion und fruchtloser Spekulation bleiben werde. Hatten die Kritiken Humes und Kants das traditionelle Selbstverständnis der Metaphysik, die „Königin der Wissenschaften“ zu sein, bereits nachhaltig erschüttert, so wurde sie durch die Revolutionen der modernen Physik im 20. Jahrhundert in eine noch größere Krise gestürzt. Indem Relativitätstheorie und Quantentheorie empirisch begründete Korrekturen an den herkömmlichen Konzepten von Raum, Zeit und Kausalität vornahmen, also an Auffassungen, die in der klassischen Metaphysik als a priori galten, haben sie das traditionelle Verständnis von autonomer Metaphysik radikal untergraben. Ihren prägnantesten Ausdruck fand die Krise der Metaphysik in der Moderne in dem Verdikt der 



Zur Auffassung von Philosophiegeschichte als Problemgeschichte vgl. N. Hartmann: Zur Methode der Philosophiegeschichte. In: Kleinere Schriften, Band 3: Vom Neukantianismus zur Ontologie, Berlin 1958, S. 2 ff. – Eine einführende Darstellung der Geschichte der Philosophie als Problemgeschichte findet sich in M. Morgenstern / R. Zimmer: Denkwege der Philosophiegeschichte, Düsseldorf und Zürich 2003. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur ersten Ausgabe (A VIII).

Metaphysik – totgesagt aber lebendig 11

„Sinnlosigkeit“, das der Wiener Kreis über sie verhängte. Die Metaphysik sieht sich in der Moderne daher mit dem neuen Vorwurf konfrontiert, nicht bloß „spekulativ“, sondern sogar „reaktionär“ zu sein, nämlich den wissenschaftlichen Fortschritt zu behindern. Auf jeden Fall hat Metaphysik den zweifelhaften Ruf, die umstrittenste Disziplin der Philosophie zu sein, die Disziplin nämlich,. die wie keine andere anfällig für Krisen ist, ja geradezu die Disziplin in Dauerkrise. Legitimationsdruck der Metaphysik. Obwohl Metaphysik immer wieder mit

großen Hindernissen konfrontiert wurde, hat sie vor diesen nie kapituliert, jedenfalls nie endgültig und dauerhaft. Zwar gab es Phasen, in denen das metaphysische Denken, wie etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aus dem Zentrum philosophischer Debatten zurücktrat, doch hat die Metaphysik darauf stets wieder einen neuen Aufstieg erlebt. Die Prognosen von einem „Ende“ oder einem „Tod“ der Metaphysik wurden jedenfalls noch immer durch „Erneuerungen“ und „Auferstehungen“ der Metaphysik Lügen gestraft, getreu dem Sprichwort „Totgesagte leben länger“. Kritik und Skepsis wurden so stets zu Herausforderungen für die Metaphysik, ihre Thesen und Positionen besonders zu legitimieren. Sofern sie sich nicht von vornherein den Vorwürfen des „Dogmatismus“ und der „willkürlichen Spekulation“ aussetzen wollte, musste sie ihre Theorien methodisch oder erkenntnistheoretisch plausibel begründen. Schon Platon und Aristoteles befassten sich intensiv mit der Frage, inwiefern das Denken zur Erkenntnis der Wirklichkeit besser geeignet ist als die sinnliche Wahrnehmung. In der Neuzeit haben Descartes und Leibniz mit der Annahme apriorischer Erkenntnis als spezifisch philosophischer Erkenntnisform die Eigenständigkeit der Metaphysik gegenüber den empirischen Wissenschaften zu bewahren versucht. Auch im 20. Jahrhundert stand das Problem der Abgrenzung zwischen Metaphysik und Wissenschaft im Zentrum philosophischer Diskussionen. Metaphysik ist nicht nur höchst umstritten, sondern sie steht auch unter dem ständigen Legitimationsdruck, ihre Thesen und Positionen, ja sogar ihre Existenz überhaupt zu rechtfertigen. Auch die Philosophie der Moderne, die nach dem deutschen Idealismus einsetzt, kennt Metaphysik. Doch bevor wir uns ihr zuwenden und ihre verschiedenen Strömungen und Positionen näher betrachten, gilt es zunächst noch einmal kurz in Erinnerung zu rufen, was Metaphysik in der philosophischen Tradition einmal war. Die Metaphysik der Moderne muss eben im Kontrast zur klassischen Metaphysik gesehen werden.

12 Einleitung

2. Die Tradition der klassischen Metaphysik Die klassische Metaphysik ist gekennzeichnet durch eine Reihe zentraler Grundfragen über Wesen, Grund und Aufbau der Wirklichkeit einerseits und durch das Selbstverständnis als fundamentaler philosophischer Disziplin andererseits. Sie umfasst die Zeit von den Vorsokratikern bis zum deutschen Idealismus, wobei Aristoteles als die einflussreichste Gestalt am Anfang und Hegel als die umstrittenste Gestalt am Ende steht. Die Geschichte der Metaphysik beginnt mit den Thesen der vorsokratischen Philosophen über die Urstoffe und Urkräfte der Natur. Obwohl bei den Vorsokratikern teilweise auch religiöse Motive auftauchten, etwa bei Pythagoras oder Parmenides, war ihr Denken doch überwiegend naturphilosophisch ausgerichtet und näherte sich naturalistischen oder, wie bei Demokrit, sogar materialistischen Positionen. Eine deutliche Veränderung des Denkens fand bei Platon statt. Indem Platon einen göttlichen Weltbaumeister („Demiurg“) annahm und das wahre Sein in eine von der Sinnenwelt verschiedene Welt der „Ideen“ setzte, die zugleich die Heimat der unsterblichen Seele sein sollte, traten bei ihm neben naturphilosophischen auch religiöse Motive deutlich hervor. Die beiden Grundformen der Metaphysik des Aristoteles. Die bedeutendste

Gestalt der antiken Metaphysik ist Aristoteles, weil er nicht nur ein höchst einflussreiches teleologisches Weltbild entwickelt hat, sondern auch das Selbstverständnis und die Begriffe der klassischen Metaphysik entscheidend bestimmt hat. Er stellte die Entwicklung der antiken Metaphysik zusammenfassend dar, analysierte sie und wertete sie systematisch aus. Damit prägte er metaphysische Begriffe wie „Substanz“, „Ursache“ und „Materie“, aber auch den Begriff der Metaphysik selbst. Die Konzeption von Metaphysik als philosophischer Fundamentaldisziplin geht auf seine gleichnamige Schrift zurück. Obgleich dieser Titel erst von einem Herausgeber seiner Werke im 1. vorchristlichen Jahrhundert kreiert wurde – Aristoteles spricht von „Erster Philosophie“ –, kommt in dem griechischen Ausdruck „meta ta physica“ (= das, was nach oder hinter der Physik kommt) das Anliegen der Metaphysik gut zum Ausdruck. Allerdings handelt es sich dabei um einen allgemeinen Begriff von Metaphysik, der für weitere Auslegungen noch offen ist. Aristoteles behandelt in seiner Schrift denn auch zwei Grundfragen. Erstens fragt er nach dem „Seienden als Seiendem“, d. h. nach den Merkmalen, die jedem Seienden – gleichgültig ob belebt oder unbelebt, geistig oder materiell – zukommen. In dieser ersten Variante, die nach den Kategorien

Die Tradition der klassischen Metaphysik 13

des Seienden fragt, erweist sich Metaphysik als „Lehre vom Sein“, also als Ontologie. Zweitens stellt Aristoteles in seiner Schrift die Frage nach dem „höchsten Seienden“, d. h. er fragt nach Gott, seinen Eigenschaften und seinem Verhältnis zur Welt. In dieser zweiten Variante, zu der auch seine Lehre von Gott als dem „unbewegten Beweger“ gehört, erweist sich Metaphysik als (philosophische) Theologie. Metaphysik umfasst bei Aristoteles also Ontologie und Theologie. Diese zweifache Thematik, also die Verknüpfung von ontologischer und theologischer Fragestellung, ist für die Geschichte der Metaphysik charakteristisch geblieben. Noch heute kann, wenn von Metaphysik die Rede ist, Ontologie oder Theologie oder auch beides gemeint sein. – Auch in der folgenden Darstellung wird der Terminus „Metaphysik“ zunächst im weiteren, Ontologie und Theologie umfassenden Sinne verwendet, bevor seine Bedeutung dann je nach Kontext und Bedarf präzisiert wird. Die Rolle der Metaphysik im christlichen Weltbild des Mittelalters. Zu Beginn

des europäischen Mittelalters trat die Philosophie ganz hinter den christlichen Glauben zurück. Frühchristliche Theologen wie Augustinus stellten die Existenzberechtigung der Philosophie überhaupt infrage, schien sie ihnen doch neben der christlichen Theologie schlicht überflüssig, wenn nicht sogar schädlich zu sein. Erst im späteren Mittelalter wurde der Philosophie wenigstens die Rolle einer Hilfsdisziplin der Theologie zugebilligt. Ihre Aufgabe wurde nun darin gesehen, die durch Offenbarung vorgegebenen Glaubenslehren soweit als möglich durch Vernunftgründe zu beweisen. Strittig waren deshalb in der Zeit des Hochmittelalters, der Scholastik, nicht die Glaubenslehren selbst, sondern allein die Frage, ob und wie weit sie philosophisch begründet werden können. So hat Thomas von Aquin große Mühe darauf verwendet, die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Doch die mittelalterliche Metaphysik stellte auch die ontologischen Fragen nach den allgemeinen Merkmalen der Dinge und dem Aufbau der Welt. Freilich blieb dabei auch die Ontologie an die Vorgaben der christlichen Religion gebunden. Dies zeigt sich etwa daran, dass Thomas im Anschluss an Aristoteles die Welt als ein Stufenreich aus Materie, Pflanzen, Tieren und Mensch verstand, aber eben als ein von Gott geschaffenes Stufenreich mit dem Menschen als „Krone der Schöpfung“. Ebenso hielt Thomas, im Einklang mit der christlichen Schöpfungslehre, die Endlichkeit der Welt für vernünftig einsehbar. Die Metaphysik des christlichen Mittelalters war also Ontologie und Theologie, doch mit dem eindeutigen Primat der christli

Zur aristotelischen Metaphysikkonzeption und zum Verhältnis von Ontologie und Theologie bei Aristoteles siehe O. Höffe: Aristoteles, München 1996, S. 139–150.

14 Einleitung

chen Theologie. Die Abhängigkeit vom christlichen Glauben blieb selbst dann noch bestehen, als in der Spätscholastik das Vertrauen in die vernünftige Beweisbarkeit der Glaubenslehren immer mehr verloren ging. Die rationalistische Metaphysik der Neuzeit. Als in der Neuzeit der Aufstieg der

Naturwissenschaften einsetzte, begann auch die Philosophie nach und nach die Fesseln der christlichen Theologie abzuwerfen. Sie besann sich wieder auf ihr ursprüngliches Selbstverständnis als einer sich allein auf Vernunft und kritisches Denken stützenden Disziplin. Es entstand mit dem Empirismus eine metaphysikkritische Strömung und mit dem Rationalismus eine neue Form von Metaphysik, die sich als apriorische Disziplin von den empirischen Wissenschaften abgrenzte. Inhaltlich stand der Rationalismus der scholastischen Metaphysik freilich gar nicht so fern. Rationalistische Denker wie Descartes und Leibniz glaubten weiterhin, die Glaubenslehren durch Vernunftgründe beweisen und damit die Harmonie von Vernunft und Glauben sicherstellen zu können. Kennzeichnend dafür ist Descartes’ Schrift Meditationen über die Erste Philosophie (1641), die bereits im Untertitel „Beweise für das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele“ ankündigt. Während Descartes und Leibniz der christlichen Theologie eng verbunden blieben, vertrat Spinoza eine pantheistische Auffassung. Insgesamt blieb die Metaphysik des Rationalismus stark theologischreligiös orientiert. In methodischer Hinsicht schuf der Rationalismus jedoch ein neues Selbstverständnis von Metaphysik, das an dem Vorbild der Mathematik orientiert war. Wie Descartes durch den methodischen Zweifel eine unerschütterliche Grundlage der Philosophie suchte und in der Selbstgewissheit des Denkens fand, so bemühte sich die rationalistische Metaphysik darum, durch reines Denken zu sicheren Prinzipien zu gelangen. Der Rationalismus grenzte sich von den empirischen Naturwissenschaften mit dem Anspruch ab, metaphysische Prinzipien a priori zu begründen, also unabhängig von Erfahrung und Wissenschaft als wahr nachzuweisen. Descartes nannte solche Prinzipien „angeborene Ideen“, Leibniz sprach von „Vernunftwahrheiten“ im Gegensatz zu „Tatsachenwahrheiten“. In beiden Fällen waren apriorische Einsichten in die Wirklichkeit gemeint, die von empirischen Begründungen unabhängig sein sollten. Metaphysik wurde damit als apriorische Wirklichkeitserkenntnis den empirischen Wissenschaften vorangestellt. Dieser der Metaphysik reservierte Bereich der Erkenntnis umfasste 

Zur Philosophie und Metaphysik des Mittelalters siehe K. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986. Zu Thomas von Aquin S. 324– 340.

Die Tradition der klassischen Metaphysik 15

neben theologischen Themen wie Gott und Unsterblichkeit auch ontologische Themen. So betrachtete Descartes es als eine apriorische Einsicht, dass jede Bewegung eine Ursache hat, und Leibniz verallgemeinerte diese Einsicht zum „Satz vom Grund“. Dass Metaphysik a priori sei müsse, galt bis zu Kant und Hegel als selbstverständlich. Erst zu Beginn der Moderne wurde dieser Konzeption von apriorischer Metaphysik ein neues Verständnis von „hypothetischer“ oder „induktiver“ Metaphysik entgegengesetzt. Der Rationalismus war zwar nicht die einzige, aber die wichtigste Strömung der neuzeitlichen Metaphysik. Daneben gab es noch den von Hobbes und einigen französischen Aufklärern vertretenen Materialismus, der sich eher empiristisch verstand und, im Gegensatz zum Rationalismus, ausgesprochen religionskritische, ja atheistische Thesen vertrat. Doch nicht dieser Materialismus, sondern der Rationalismus wurde die dominierende Gestalt der neuzeitlichen Metaphysik. Kritik der klassischen Metaphysik bei Hume und Kant. In der Aufklärung des 18.

Jahrhunderts geriet die klassische Metaphysik zunehmend in die Kritik. Vor allem David Hume lieferte eine scharfsinnige Analyse und Kritik zentraler metaphysischer Begriffe wie „Kausalität“, „Freiheit“, „Substanz“ und „Ich“, die er großenteils als Fiktionen der menschlichen Einbildungskraft nachzuweisen versuchte. Auch die traditionellen Gottesbeweise lehnte er entschieden ab. Humes empiristische Metaphysikkritik, die Ontologie und Theologie gleichermaßen als illusionär verwirft und die daher Metaphysik zugunsten der empirischen Naturwissenschaften gänzlich preisgibt, hat den Positivismus des 19. Jahrhunderts und den modernen Empirismus tief beeinflusst. Hume gab auch den Anstoß für die einflussreiche Metaphysikkritik, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft (1781) unternommen hat. Im Unterschied zu der Kritik Humes ist die Kritik, die Kant in den beiden Hauptteilen seines Werks vornimmt, allerdings nicht rein negativ. Zu einem rein negativen Resultat gelangt er freilich in der Kritik der theologischen Metaphysik, die in der „transzendentalen Dialektik“ enthalten ist. Hier versucht er zu zeigen, dass das metaphysische Wissen von Gott, Seele und Welt (als ganzer) bloßes Scheinwissen ist. Alle Beweise für die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele basieren auf logischen Fehlschlüssen und alle Versuche der Metaphysik, die Fragen nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt oder nach dem Bestehen oder Nichtbestehen von Freiheit in einer determinierten Natur durch Vernunftgründe zu entscheiden, führen unvermeidlich zu Widersprüchen, den berühmten „Antinomien der reinen Vernunft“.

16 Einleitung

Kants idealistische Umdeutung der Ontologie. Eine konstruktive Kritik der tra-

ditionellen Ontologie enthält dagegen die „transzendentale Analytik“. Hier entwickelt Kant eine Position, die mit dem Rationalismus an apriorischen Prinzipien wie Raum, Zeit, Substanz und Kausalität festhält, aber sie dann in folgenreicher Weise erkenntnistheoretisch umdeutet. Apriorische Erkenntnis der Welt kann es nach Kant nämlich nur geben, wenn der Verstand selbst der Natur grundlegende Strukturen aufprägt. Diese Umkehrung der gewöhnlichen Auffassung von Erkenntnis, die so genannte „kopernikanische Wende“, hat jedoch eine gravierende Konsequenz für die Ontologie: Weil der Verstand der „Gesetzgeber der Natur“ ist, ist alles Wissen von der Welt nur ein Wissen von „Erscheinungen“, nicht von „Dingen an sich“. Nicht wie die Welt an sich ist, können wir erkennen, sondern nur so, wie sie uns als vernünftigen Subjekten erscheint. Kants Aprioritätslehre erweist sich damit als idealistische Umdeutung der traditionellen Ontologie, also als real-ontologische Skepsis. Kants Metaphysikkritik ist eben nur gegen die theologische Metaphysik ausgesprochen negativ, während die traditionelle Ontologie, idealistisch transformiert, in seiner Aprioritätslehre weiterlebt. Die Diskussion, die um Kants Vernunftkritik entbrannte, konzentrierte sich bald auf das Problem des Dinges an sich. Kant hatte gelehrt, dass der Begriff der Kausalität eine Kategorie des Verstandes ist, die nur für die Erscheinungswelt gilt, aber zugleich hatte er das Ding an sich als die Ursache der Erscheinungen bzw. der Empfindungen betrachtet. Diese Unstimmigkeit in Kants System wurde zum Ausgangspunkt des deutschen Idealismus, in dem die klassische Metaphysik ihren letzten Höhepunkt erlebt. Hegels Vernunftmetaphysik. Nachdem Fichte eine idealistische Erkenntnis­

theorie entwickelt hatte, ohne von der Annahme eines Dinges an sich Gebrauch zu machen, und Schelling zu einer neuen spekulativen Naturphilosophie und Metaphysik fortgeschritten war, erreichte der deutsche Idealismus bei Hegel seinen Höhepunkt. Gegen Kants Grenzziehung der Vernunft setzte Hegel ausdrücklich die Unbeschränktheit einer vernünftigen Erkenntnis der Welt.. Die Welt ist nach seiner Ansicht durch reine Vernunft erkennbar, weil die Welt im Grunde selbst vernünftig ist. Der Weltgrund ist somit ein geistig-vernünftiges Prinzip, aus dem Natur und (menschlicher) Geist hervorgehen. Dies erinnert an Spinozas Auffassung von der einen göttlichen Substanz, die in Körper und Geist zwei Erscheinungsformen („Attribute“) hat, doch Hegel gibt dieser 

Zu Kants Kritik der Metaphysik und seiner transzendentalidealistischen Umdeutung der Ontologie siehe O. Höffe: Kant, 3. Aufl. München 1992, S. 44–65, 134–169.

Der Aufstand gegen die Vernunftmetaphysik 17

Metaphysik des Absoluten eine neue Deutung, indem er auf die Idee der Entwicklung, die Schelling in die Metaphysik eingeführt hatte, zurückgreift und daraus ein System der Entwicklung des Absoluten macht. Hegel will also zeigen, wie der vernünftige Weltgrund sich in Natur und Geschichte zunehmend entfaltet. Hegel beansprucht auch das Gesetz der Entwicklung in der „Dialektik“ gefunden zu haben. Alle Entwicklung vollzieht sich danach als dialektischer Dreischritt: Einer Position, die sich als einseitig erweist, tritt eine Gegenposition gegenüber und beide werden schließlich in einer höheren Einheit („Synthese“) versöhnt. Nach diesem Schema interpretiert Hegel die ganze menschliche Geschichte und alle gesellschaftlich-kulturellen Erscheinungen. Auch Kunst und Religion erhalten ihre Stellen als notwendige Stufen in der historischen Entwicklung. Die höchste Erkenntnisform ist jedoch die Philosophie, weil in ihr der Weltgeist das volle Bewusstsein seiner selbst erreicht. Hegels System gipfelt in einer Geschichtsphilosophie, die den unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit zur Freiheit nachweisen will. Die eigentliche treibende und lenkende Kraft des historischen Fortschritts ist aber nicht der Mensch, sondern der Weltgeist. Selbst die großen politischen Führer wie Napoleon, den Hegel bewunderte, sind gleichsam nur „Marionetten“ des Weltgeistes, die dieser für seine Zwecke benutzt. Hegels Vernunftmetaphysik ist der letzte Versuch der klassischen Metaphysik, ein von Wissenschaften und Erfahrung unabhängiges philosophisches Weltbild zu entwickeln, in dem ontologische und theologische Elemente miteinander verknüpft sind. Zwar spielen in dieser Metaphysik die traditionellen Gottes- und Unsterblichkeitsbeweise keine Rolle mehr, doch hat sie gleichwohl eine religiöse Färbung. Hegel beanspruchte daher auch, mit seiner Vernunftmeta­ physik die von Kant behauptete Kluft zwischen Wissen und Glauben überwunden und eine neue Versöhnung von Vernunft und Religion erreicht zu haben.

3. Der Aufstand gegen die Vernunftmetaphysik und die Hauptströmungen der Metaphysik in der Moderne Hegel war der einflussreichste Philosoph im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Nach seinem Tod im Jahr 1831 meldeten sich jedoch zunehmend Kritiker zu Wort, die sein System grundsätzlich infrage stellten. Hegels Metaphysik er

Zu Hegels Metaphysik und Geschichtsphilosophie siehe W. Röd (1996) S. 245–262, 267–272.

18 Einleitung

schien nun als abgehobene Spekulation und als verzerrte, einseitig an der Vernunft orientierte Wirklichkeitssicht. Der Aufstand gegen die Vernunftmetaphysik markiert den Beginn der Philosophie der Moderne und zugleich den Anfang der modernen Metaphysik. Die gegen Hegel vorgebrachte Kritik war freilich ganz unterschiedlicher Art. Eine Form der Kritik, die erst im 20. Jahrhundert in der Existenzphilosophie Früchte tragen sollte, stammte von dem dänischen Philosophen Sören Kierkegaard. Er legte besonderen Nachdruck auf den Einwand, dass der Mensch als Individuum mit seinen konkreten Lebensproblemen und Entscheidungszwängen bei Hegel gar nicht vorkommt. Metaphysikkritik des Positivismus und Neukantianismus. Großen Einfluss hat-

ten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene Formen erkenntnistheoretischer Kritik, die die Möglichkeit von Metaphysik überhaupt leugneten. So vertrat der Positivismus von Comte, Mill und Mach im Rückgriff auf Hume die Auffassung, dass sichere Erkenntnis, wie sie in den Wissenschaften vorliegt, ganz auf das Gegebene („Positive“) der Wahrnehmung beschränkt ist und dass Metaphysik, da sie das sichere Feld der Tatsachen verlässt, nur zu Illusionen führt. Diese Kritik wurde im modernen Empirismus und in der modernen Wissenschaftstheorie wieder aufgegriffen. Der Neukantianismus betrachtete demgegenüber den deutschen Idealismus als eine große Fehlentwicklung, die durch fahrlässige Missachtung der von Kant nachgewiesenen Grenzen der Vernunft entstanden war. Spätere Hauptvertreter des Neukantianismus wie Windelband, Rickert, Cohen, Natorp und Cassirer hielten an dem Kerngedanken Kants fest, dass die Kategorien, über die das Denken a priori verfügt, die Grundstruktur der empirischen Welt bestimmen und dass es daher keine metaphysische Erkenntnis der Welt an sich geben kann. Acht Hauptströmungen der modernen Metaphysik. Die Angriffe auf die Ver-

nunftmetaphysik waren aber keineswegs alle antimetaphysisch. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichten zwei philosophische Strömungen großen Einfluss, die sich ebenfalls gegen die Vernunftmetaphysik wandten, aber selbst durchaus metaphysisch orientiert waren. Mit ihnen beginnen zwei von acht Hauptströmungen der modernen Metaphysik, die im Folgenden vorab kurz vorgestellt werden sollen.



Die umfassende Studie zur philosophischen Situation nach Hegel, die K. Löwith in seinem Buch „Von Hegel zu Nietzsche“ (1941) vorgelegt hat, heißt bereits im Untertitel „Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts“.

Der Aufstand gegen die Vernunftmetaphysik 19

Die erste Strömung der Metaphysik, die nach dem Ende des deutschen Idealismus hervortrat, war der Materialismus, der von Philosophen wie Feuerbach, Marx und Engels, aber auch von Naturwissenschaftlern vertreten wurde. Das Grundanliegen des Materialismus bestand darin, der Hegelschen Vernunftmetaphysik die materialistische Position entgegenzusetzen, dass Bewusstsein organisch bedingt ist und dass Vernunft und Geist Erscheinungsformen der Materie sind. Die zweite metaphysische Strömung, die sich als Gegenposition zu Hegel in Szene zu setzen wusste, war die von Schopenhauer begründete und dann vor allem von Nietzsche vertretene Willensmetaphysik, die auch als „Metaphysik des Irrationalen“ bezeichnet wird. Diese Strömung, zu der auch Eduard von Hartmann und Ludwig Klages zu zählen sind, vertritt die Grundansicht, dass das ursprüngliche Wesen von Natur und Mensch in triebhaften, instinktiven Kräften besteht und dass die Vernunft demgegenüber nur einen sekundären Status hat. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat eine weitere metaphysische Strömung hervor, die von der Biologie ausging und vor allem die philosophische Bedeutung der Evolutionslehre zu klären versuchte. Das grundlegende Ziel der Metaphysik der Evolution, die bei Spencer begann und dann über Bergson und Whitehead zu Teilhard de Chardin führte, war es, ein philosophisches Weltbild auf der Basis der Evolutionstheorie zu entwickeln, das zugleich Wissenschaft und Religion versöhnen sollte. Eine Strömung der modernen Metaphysik, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr einflussreich war, war die von Husserl begründete phänomenologische Ontologie, die mit Hilfe der neuen phänomenologischen Methode zu Wesenseinsichten in Natur, Geschichte und Mensch gelangen wollte. Nachdem Husserl dieses Programm entworfen hatte, legten Scheler, Nicolai Hartmann, Heidegger und Sartre jeweils verschiedene Ansätze einer phänomenologischen Ontologie vor. Zum Teil in engem Kontakt zur Phänomenologie entwickelte sich die Metaphysik der Transzendenz. Unter diesem Namen lassen sich verschiedene philosophische Versuche zusammenfassen, die darauf abzielten, die Welt zu transzendieren und einen neuen Zugang zum göttlichen Grund der Wirklichkeit zu finden. Zu dieser Strömung, die ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte, gehören insbesondere die religiösen Denker Martin Buber, Peter Wust und Edith Stein, aber auch der Existenzphilosoph Karl Jaspers. Eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der modernen Metaphysik spielte die radikale sprachanalytische Metaphysikkritik des modernen Empirismus. Im 

Vgl. H. Schnädelbach (1983) S. 174–183.

20 Einleitung

Anschluss an die von Russell entwickelte Methode der logischen Analyse der Sprache versuchten Wittgenstein und Carnap die Sinnlosigkeit metaphysischer Sätze nachzuweisen und damit der herkömmlichen Metaphysik den endgültigen Todesstoß zu versetzen. Dasselbe Ziel verfolgte der späte Wittgenstein mit seiner Philosophie der Alltagssprache. Diese verschiedenen Formen sprachanalytischer Metaphysikkritik wirkten als große Provokation und wurden zum Ausgangspunkt von zwei Strömungen der Metaphysik, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervortraten. Die analytische Philosophie, die das Erbe des logischen Empirismus und der sprachanalytischen Philosophie des späten Wittgenstein antrat, wandte sich wieder verstärkt dem Leib-Seele-Problem und dem Problem der Willensfreiheit zu und rehabilitierte damit die Ontologie. Die analytische Ontologie, die mit den Arbeiten von Ryle, Quine und Strawson einsetzte, versucht durch subtile Analysen der Begriffe, die wir von mentalen Phänomenen und Prozessen haben, zu einem philosophischen Verständnis des Geistes zu gelangen, das mit den modernen Wissenschaften vereinbar ist. Auch der von Popper entwickelte kritische Rationalismus wies die sprachanalytische Metaphysikkritik zurück und versuchte die rationale Diskussion metaphysischer Fragen voranzutreiben. Das grundlegende Anliegen der Ontologie des kritischen Rationalismus, zu der neben Popper Feyerabend, Albert und Bunge beigetragen haben, besteht darin, ein umfassendes, wissenschaftlich orientiertes Weltbild zu entwickeln. Methodische Vorbemerkungen. Die ausgewählten acht Hauptströmungen de-

cken zwar weite Teile, aber nicht die ganze Breite des metaphysischen Denkens in der Moderne ab. Unberücksichtigt bleiben zum Beispiel verschiedene, heute weitgehend vergessene Ansätze spiritualistischer Metaphysik im 19. Jahrhundert, aber auch vereinzelte metaphysische Ansätze innerhalb philosophischer Strömungen, die, wie zum Beispiel Pragmatismus und Neomarxismus, sich zu Metaphysik und Ontologie im Allgemeinen eher distanziert oder ablehnend verhielten. Ausgeklammert bleiben ferner das diffizil-polemische Verhältnis der Postmoderne zur Metaphysik sowie der ganze Bereich der Esoterik, von der Anthroposophie bis zu New Age. Auch die Differenzierung der acht Hauptströmungen selbst ist nicht selbstverständlich und schließt andere Einteilungen keineswegs aus. Gleichwohl besitzen die ausgewählten Strömungen durch gemeinsame Themen, Grundthesen, Methoden und Diskussionsprozesse jeweils eine gewisse Einheitlichkeit. Ein Hauptziel der folgenden Darstellung besteht darin, die Entwicklungen und Traditionen der modernen Metaphysik ver­ ständlicher und einige bisher vernachlässigte Zusammenhänge sichtbar zu machen.

Der Aufstand gegen die Vernunftmetaphysik 21

Die acht Strömungen der modernen Metaphysik werden jeweils in einem Kapitel dargestellt, wobei den Hauptvertretern jeder Strömung wiederum ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Der Aufbau der Abschnitte orientiert sich an folgendem Schema: In einer Einleitung wird zunächst die jeweilige metaphysische Position kurz charakterisiert und danach ihr Platz in Leben und Werk des betreffenden Denkers beschrieben. Anschließend erfolgt eine Darstellung der metaphysischen Position, wobei sowohl die Entstehung und Begründung der Position als auch ihr Standpunkt zum Leib-Seele-Problem und das in ihr enthaltene philosophische Weltbild herausgestellt werden. Besondere Beachtung gilt dabei auch den Stellungnahmen und Implikationen der Position zu metaphysischen Fragen wie dem Problem der Willensfreiheit und den religiösen Fragen nach Gott und dem Sinn des Lebens. Abschließend wird kurz die Wirkung der Position beschrieben und eine erste Würdigung vorgenommen.

II. Materialismus des 19. Jahrhunderts

Eine frühe Opposition gegen die Vernunftmetaphysik des deutschen Idealismus, die selbst metaphysisch ausgerichtet war, war der Materialismus. Seine Ursprünge liegen teilweise in den Diskussionen, die in der Hegelschen Schule um das Verhältnis von Philosophie und Religion geführt wurden. Die von Hegel vertretene Versöhnungsthese, dass die wesentlichen Inhalte der Religion in der Philosophie bewahrt werden, stieß nun auf Kritik. Darüber hinaus wurde die idealistische Auffassung Hegels, die den Geist als Grund und Wesen der Welt versteht, grundsätzlich in Frage gestellt. Der Materialismus setzte dagegen die Position, dass die Materie die Grundlage aller Wirklichkeit ist, dass also Bewusstsein, Vernunft und Geist Erscheinungsformen der Materie sind. Die Vernunftmetaphysik erschien demgegenüber als unhaltbare Spekulation, die mit der elementaren Tatsache, dass alles Bewusstsein eine organische Basis und einen materiellen Träger hat, nicht vereinbar ist. Der Materialismus war eine einflussreiche, weitgehend außeruniversitäre Strömung der modernen Metaphysik, die sich nicht zuletzt dem Kampf gegen Aberglauben und überholte religiöse Vorstellungen verschrieben hatte. Ausgangspunkt des Materialismus war die Religionskritik Ludwig Feuerbachs und dessen „anthropologischer Materialismus“, der den Menschen primär nicht mehr als Vernunftwesen, sondern als sinnliches Naturwesen begreift. Eine weitere materialistische Position wurde von verschiedenen Naturwissenschaftlern entwickelt. Dieser „naturwissenschaftliche Materialismus“ versuchte die organische Bedingtheit des Geistes insbesondere mit Hilfe der neuen Erkenntnisse der Physiologie zu begründen. In Anknüpfung an Feuerbach, aber auch in eigenwilliger Umdeutung Hegels begründeten Karl Marx und vor allem Friedrich Engels den „dialektischen Materialismus“, der sich von der „mechanisti-

Ludwig Feuerbach: Anthropologischer Materialismus 23

schen“ Ansicht des naturwissenschaftlichen Materialismus abgrenzte. Ausgehend von der Evolutionslehre Darwins entwickelte schließlich Ernst Haeckel eine materialistische Position in seiner „monistischen Weltanschauung“, die unter Anerkennung der ganzen Tragweite der Wissenschaften zugleich einen vernünftigen Kern der Religion zu bewahren versuchte. Als relativ homogene metaphysische Strömung endete der Materialismus etwa mit dem Ersten Weltkrieg. Seitdem findet sich materialistisches Denken innerhalb verschiedener philosophischer Strömungen.

1. Ludwig Feuerbach: Anthropologischer Materialismus Erster Materialist der Moderne. Mit Ludwig Feuerbach beginnt der philoso-

phischen Materialismus in der Moderne. Der frühe Feuerbach war jedoch noch kein Materialist, sondern stand noch ganz im Banne der Philosophie Hegels. Erst die langjährige Auseinandersetzung mit religionsphilosophischen Fragen führte ihn dazu, die von Hegel behauptete Versöhnung von Philosophie und Religion durch eine radikale Religionskritik zu ersetzen. Die von ihm nun konzipierte „Reformation“ der Philosophie war mit einer Hinwendung zu materialistischen Positionen verbunden. Zwar ging es ihm dabei in erster Linie um ein angemessenes philosophisches Verständnis des Menschen, weswegen seine Position auch als „anthropologischer Materialismus“ bezeichnet wird, doch vertrat er auch einen allgemeinen, ontologischen Materialismus. Leben und Werk. Ludwig Feuerbach wurde am 28. Juli 1804 als eines von acht

Kindern des berühmten Juristen Anselm Ritter von Feuerbach (1775–1833) in Landshut geboren. Im Jahr 1823 begann er mit dem Studium der evangelischen Theologie in Heidelberg, doch wechselte er 1824 nach Berlin, um bei Hegel Philosophie zu studieren. Als bayerischer Staatsbürger ging er schließlich nach Erlangen, um hier 1829 zu promovieren und im folgenden Jahr Privatdozent zu werden. Seine anonym veröffentlichte Schrift Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) entfachte einen Sturm der Entrüstung und wurde sofort verboten.

Ludwig Feuerbach (1804–1872) Religionskritiker und Vertreter eines anthropologischen Materialismus

24 Materialismus des 19. Jahrhunderts

Da nach Bekanntwerden seiner Autorschaft seine Aussichten auf eine Professur schwanden, gab er 1832 seine Lehrtätigkeit auf und betätigte sich als philosophischer Autor und als Mitarbeiter an wissenschaftlichen Zeitschriften. Nach der Heirat mit Bertha Löw, die Teilhaberin an einer Porzellanfabrik war, lebte er seit 1837 auf Schloss Bruckberg bei Ansbach. Die Publikation seines Hauptwerks Das Wesen des Christentums (1841) machte ihn schlagartig berühmt. Feuerbach wandte sich nun entschieden von Hegel ab und konzipierte in seiner Schrift Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) eine materialistische Gegenposition. In dieser Zeit hatte er auch Kontakt mit führenden Vertretern der politischen Opposition, insbesondere zu Karl Marx, doch hielt er sich selbst von politischen Aktivitäten fern. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine philosophische Arbeit und entwickelte in der Schrift Das Wesen der Religion (1846) seine Religionsphilosophie weiter. Diese Schrift war auch die Grundlage der viel beachteten öffentlichen Vorlesungen, die Feuerbach im Winter 1848/49 im Heidelberger Rathaus hielt. Als im Jahr 1859 die Bruckberger Porzellanfabrik Bankrott ging, erhielt Feuerbach finanzielle Unterstützung von Freunden und Anhängern, darunter auch von Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei. Nachdem zwei Schlaganfälle ihn zuletzt arbeits- und fast kontaktunfähig gemacht hatten, starb Feuerbach am 13. September 1872 in Rechenberg bei Nürnberg und wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Der Streit um die Religion in der Hegelschen Schule. Feuerbach gehörte zu den „Linkshegelianern“, deren Entwicklung zum Materialismus er entscheidend mitbestimmte. Entstanden war diese Gruppe, als sich nach Hegels Tod die Hegelsche Schule in konservative „Alt- oder Rechtshegelianer“ und in progressive „Jung- oder Linkshegelianer“ spaltete. Während die Spaltung zwischen Rechtsund Linkshegelianern sich schließlich an politischen Fragen zuspitzte, wurde sie ursprünglich durch einen Streit um die christliche Religion ausgelöst. Der Theologe David Friedrich Strauß (1808–1874) hatte in seinem Werk Das Leben Jesu (1835/36) den Evangelien die historische Wahrheit abgesprochen und sie lediglich als Mythen gedeutet, die metaphysische Gedanken in erzählender Form präsentieren. Diese religionskritische Position war noch kein Bruch mit Hegels Versöhnungsthese, die der Religion ja ebenfalls eine eigene, anschauliche Form der Wahrheit zugestanden hatte. Doch in der sich an Strauß anschließenden Debatte wurde diese Auffassung vom „wahren Kern“ der Religion von den Linkshegelianern zunehmend bestritten. 

Eine auch philosophie- und zeitgeschichtlich aufschlussreiche Darstellung von Leben und Werk Feuerbachs liefert J. Winiger (2004).

Ludwig Feuerbach: Anthropologischer Materialismus 25

Erste Distanzierung von Hegel. Feuerbachs Abwendung von Hegel war ein langwieriger und mühsamer Prozess. In seiner lateinischen Dissertation („De inifinitate, unitate, atque communitate rationis“) von 1827 hatte er Hegels Auffassung der Grenzenlosigkeit der Vernunft noch ausdrücklich verteidigt. Auch in seinen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) glaubte er noch auf dem Hegelschen Standpunkt zu stehen, als er den Pantheismus als heimlichen Kern von Hegels System herausstellte. Hegel war in seinen Augen ein heimlicher „Spinozist“, der sich jedoch, mit Rücksicht auf den christlichen Glauben und die Theologie, als solcher nicht offen bekannt hatte. Aus dem Pantheismus folgt nach Feuerbach aber unausweichlich die Leugnung zweier zentraler Dogmen der christlichen Theologie, nämlich der Existenz eines persönlichen Gottes und der Unsterblichkeit der individuellen Seele. Fast schon Nietzsche vorwegnehmend, kritisiert er den Glauben an ein jenseitiges Weiterleben der Seele als eine philosophische Verirrung und fordert stattdessen die Bejahung des diesseitigen Lebens. Mit diesen religionskritischen Thesen will Feuerbach zwar nur die Konsequenzen von Hegels Philosophie offenlegen, doch beginnt damit tatsächlich eine Distanzierung von Hegel. Anstoß erregte Feuerbach auch mit seiner scharfen Polemik gegen die Behinderung des freien Denkens durch die christlichen Dogmen und mit seiner Anprangerung der Unredlichkeit der zeitgenössischen Theologie und Philosophie. Wie sein Vater richtig voraussagte, sollte ihm diese Kritik nie verziehen werden. Die anthropologischen Wurzeln der Religion. Unter dem Eindruck der Debatten

um das Buch von Strauß stellt Feuerbach in dem Aufsatz Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839) Hegels System erstmals grundsätzlich in Frage. Er verwirft nun den Erkenntnisanspruch des spekulativen Denkens und betont stattdessen die Unvereinbarkeit von Vernunft und Glaube. Die religiösen Vorstellungen von einem persönlichen Gott und einem Dasein nach dem Tod gelten ihm jetzt schlicht als Illusionen. Mit der Preisgabe ihres Wahrheitsanspruchs reduziert sich Religion für Feuerbach auf ein natürliches Phänomen, nämlich auf die Tatsache der menschlichen Vorstellungen von Gott und Unsterblichkeit. Die philosophische Aufgabe, die er in seinem Hauptwerk Das Wesen des Christentums (1841) in Angriff nimmt, besteht darin, den natürlichen Ursprung religiöser Vorstellungen nachzuweisen. Als grundsätzliche Erklärung der Gottesidee schlägt er vor, sie als unbewusste Projektion des menschlichen Wesens zu begreifen. Eine prägnante Formulierung seiner Grundidee lautet: „Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber […] Aber der Mensch vergegenständlicht in der Religion sein

26 Materialismus des 19. Jahrhunderts

eignes geheimes Wesen.“ Den Ursprung dieser Projektion findet Feuerbach in dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz: Der Mensch sehnt sich nach einer schützenden Macht; da aber jede irdische Schutzmacht unvollkommen ist, projiziert er menschliche Eigenschaften wie Macht, Güte, Gerechtigkeit und Einsicht auf ein transzendentes, göttliches Wesen, das diese Eigenschaften in absoluter, unbeschränkter Form besitzt. Die Vorstellungen, die der Mensch von Gott als vollkommenem Wesen hat, sind somit nur idealisierte Vorstellungen des Menschen von sich selbst. Die biblische Auffassung vom Menschen als Ebenbild Gottes ist für Feuerbach daher genau die Umkehrung der tatsächlichen Wahrheit, dass der Mensch Gott nach seinem eigenen (menschlichen) Bild erdacht hat. Ähnlich erklärt Feuerbach den Ursprung der Unsterblichkeitsvorstellung aus dem Glückseligkeitstrieb des Menschen: Der Mensch sucht von Natur aus ein beständiges Glück; da er aber als sterbliches Wesen ein solches Glück in der Welt nicht erreichen kann, erfindet er ein Jenseits für ein ewiges glückliches Leben. Da die Vorstellungen von Gott und Unsterblichkeit im Wesen des Menschen wurzeln, erweist sich Theologie als verschleierte Anthropologie. Übergang zum Materialismus. Nach der Publikation seines Hauptwerks beginnt

Feuerbach sich dem Materialismus zuzuwenden. Einen programmatischen Vorstoß in diese Richtung bringen vor allem seine Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843). Darin distanziert er sich von den Verirrungen und Mystifikationen des spekulativen Denkens und versucht durch eine Umkehrung der idealistischen Philosophie Hegels eine neue, materialistische Philosophie zu begründen. Wie später Marx glaubt er zur richtigen Philosophie zu gelangen, indem er Hegel gleichsam vom Kopf auf die Füße stellt. Gegen Hegels Orientierung an höchsten Abstraktionen wie dem „Absoluten“ oder dem „Sein“ fordert Feuerbach, dass die neue Philosophie vom konkreten sinnlichen Menschen ausgehen muss. Die Philosophie muss den Menschen in seiner Ganzheit als Lebewesen aus „Fleisch und Blut“ in den Blick bekommen. Ähnlich wie Schopenhauer versteht er den Menschen primär nicht als ein geistiges oder vernünftiges Wesen, sondern als ein empfindendes, fühlendes, strebendes Wesen, also als ein Naturwesen, das mit sinnlichen Trieben ausgestattet ist, die auch sein Denken und Handeln bestimmen. Der Mensch ist nach Feuerbach zwar primär Sinnenwesen, doch hat er auch spezifische Merkmale als Vernunftwesen. Die geistig-moralischen Eigenschaften des Menschen sind freilich zunächst bloße Anlagen,



L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums, Stuttgart 2002, S. 80.

Ludwig Feuerbach: Anthropologischer Materialismus 27

die zu ihrer Entfaltung auf das Leben in der Gemeinschaft und auf die zwischenmenschlichen Interaktionen angewiesen sind. Eine Bestätigung dieser alten, auf Aristoteles zurückgehenden Auffassung fand Feuerbach in dem seinerzeit Aufsehen erregenden Fall des Kaspar Hauser. Entscheidende Bedeutung für die Menschwerdung des Individuums hat daher die „Ich-Du-Beziehung“, wie Feuerbach mit einem auf Martin Buber vorausweisenden Ausdruck sagt. Neben diesen Grundthesen eines anthropologischem Materialismus entwirft Feuerbach auch die Grundzüge eines allgemeinen philosophischen Materialismus. Gegen den Idealismus aller Spielarten behauptet er, dass Raum und Zeit die Formen allen Seins sind. Ferner vertritt er den naturalistischen Grundsatz, dass alle Vorgänge in der Welt natürliche Ursachen haben und daher auch natürlich, also ohne Rückgriff auf übernatürliche Wesen und Ursachen, erklärt werden können. Feuerbach ist sich dabei durchaus bewusst, dass bestimmte Phänomene, wie etwa die Entstehung des Lebens, sich noch nicht zufriedenstellend erklären lassen. Doch er warnt davor, die Unfähigkeit des Menschen, bestimmte Vorgänge zu verstehen, als eine Unfähigkeit der Natur misszuverstehen, solche Vorgänge hervorzubringen. Aus dem Materialismus ergeben sich nach Feuerbach unmittelbare Folgen für das Leib-Seele-Problem und das Problem der Willensfreiheit. Da die ganze Wirklichkeit von denselben Gesetzen bestimmt wird, kann es keine zwei verschiedenen Wirklichkeiten mit je eigener Gesetzlichkeit geben. Damit weist er vor allem den Leib-Seele-Dualismus zurück. Ebenso unhaltbar ist für ihn die Annahme der Willensfreiheit, weil es neben der kausalen Gesetzlichkeit der Welt nicht noch eine weitere „Bestimmung aus Freiheit“ geben kann. Wie Schopenhauer, dessen Preisschrift über den Willen Feuerbach kannte, behauptet er, dass aus dem Wesen einer Person ihr Handeln notwendig folgt. Obwohl Feuerbach grundsätzlich Materialist ist, legt er sich doch nicht auf eine bestimmte Version des Materialismus fest. Insbesondere lässt er offen, ob sich auch chemische und biologische Eigenschaften der Natur, wie von den naturwissenschaftlichen Materialisten behauptet, auf die Bewegungen von Atomen zurückführen, also mechanistisch erklären lassen. Wirkung. Feuerbach hat nicht nur in den Debatten der Hegelschen Schule eine

entscheidende Rolle gespielt, sondern sein aufklärerisch-humanistisches Den-

 

Zur Frage der Verträglichkeit der „Ich-Du-Beziehung“ mit seiner materialistischen Grundposition vgl. G. Schmidt: Einleitung. In: Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1983, S. 22 ff. Vgl. A. Schmidt (1973) S. 132.

28 Materialismus des 19. Jahrhunderts

ken hat auch bis in die breite Öffentlichkeit gewirkt. Ein Beispiel dafür ist der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller. Als Religionskritiker ist Feuerbach wie Nietzsche und Freud ein Klassiker, der zu einer großen Herausforderung für die moderne Religionsphilosophie und Theologie geworden ist. Auch das materialistische Denken des 19. Jahrhunderts ist stark von ihm beeinflusst. Die naturwissenschaftlichen Materialisten der Jahrhundertmitte waren allesamt Anhänger Feuerbachs und auch die späteren Materialisten, wie Marx und Engels, haben ihre Position meist in kritischer Auseinandersetzung mit Feuerbach entwickelt. Aber auch ganz anders orientierte Denker, wie etwa Martin Buber, haben an Feuerbach angeknüpft. Würdigung. Feuerbachs Religionskritik ist eine bleibende Errungenschaft. In-

dem er die Vorstellung eines persönlichen Gottes als (idealisierte) Projektion menschlicher Eigenschaften entlarvte, hat er den Anthropomophismus der Gottesvorstellung offengelegt und damit deren Glaubwürdigkeit untergraben. Seit Feuerbach stehen religiöse Vorstellungen in der Moderne insgesamt unter dem Generalverdacht, bloßes Wunschdenken zu sein. Feuerbachs Materialismus ist freilich in mancher Hinsicht Entwurf geblieben und konnte sich wohl auch, obwohl als Gegenposition konzipiert, dem Einfluss Hegels nie ganz entziehen. Dennoch ist er ein bedeutender Vorstoß zu einem modernen Welt- und Menschenbild, das sowohl die sinnliche Trieb- und Naturbasis des Menschen stärker berücksichtigt als auch die Einheitlichkeit der materiellen, wissenschaftlich erforschten Wirklichkeit betont. Mit alledem hat Feuerbach zur Befreiung des philosophischen Denkens aus religiösen Fesseln entscheidend beigetragen und gehört damit zu den Wegbereitern eines naturalistischen Weltbildes.

2. Der naturwissenschaftliche Materialismus Die Opposition der Wissenschaften. Eine radikale Opposition zum deutschen Idealismus ging in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus den Naturwissenschaften hervor. Einige Naturforscher zogen aus den neuen Erkenntnissen über die Stoffwechselprozesse und das Nervensystem der Organismen philosophische Konsequenzen und gelangten dadurch zu einer materialistischen Auffassung vom menschlichen Geist. Das von ihnen vertretene materialistische Weltbild hatte einen von Feuerbach beeinflussten stark religionskritischen Akzent und wurde 

Zu Feuerbachs Verhältnis zu Marx (und zum Marxismus) vgl. H.–M. Sass (1982) S. 91ff; A. Schmidt (1973) S. 17ff; J. Winiger (2004) S. 229 ff.

Der naturwissenschaftliche Materialismus 29

deswegen auch zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Da die Vertreter dieser Position, die als physiologischer, mechanistischer oder schlicht als naturwissenschaftlicher Materialismus bezeichnet wird, ihre Thesen gern mit drastischen Beispielen erläuterten und zudem mit den Feinheiten philosophischer Begriffe und Argumente nicht immer genügend vertraut waren, wurden sie von ihren Kritikern als philosophische „Dilettanten“ oder als „Vulgärmaterialisten“ abgestempelt. Entstehung und Hauptvertreter des Materialismus. Die Entstehung des natur-

wissenschaftlichen Materialismus, der mit den Namen Moleschott, Vogt und Büchner verknüpft ist, stand in Zusammenhang mit einer Tagung von Naturforschern und Ärzten im Jahr 1854 in Tübingen. Bereits zuvor hatte der Physiologe Jacob Moleschott (1822–1893) in dem Buch Kreislauf des Lebens (1852) eine populäre Darstellung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Stoffwechsel des menschlichen Körpers geliefert. Feuerbach hatte in einer Rezension dieses Buches Moleschotts Auffassung in der provokativen Formel „Der Mensch ist, was er isst“ zusammengefasst. Auf der Tübinger Tagung griff dann der Physiologe Rudolph Wagner (1805–1864) Moleschotts Schrift scharf an und verteidigte dagegen eine spiritualistische Sicht der menschlichen Seele. Auf diese Attacke reagierten der Zoologe Karl Vogt (1817–1895) mit der Schrift Köhlerglaube und Wissenschaft (1855) und der Mediziner Ludwig Büchner (1824–1899), der Bruder Georg Büchners, mit der Schrift Kraft und Stoff (1855), die ein Beststeller mit 21 Auflagen wurde und in 15 Sprachen übersetzt wurde. Moleschott, Vogt und Büchner waren Anhänger und Freunde Feuerbachs, die mit ihm auch das Schicksal teilten, wegen ihrer radikalen philosophischen und religionskritischen Anschauungen ihre Stellen an deutschen Universitäten zu verlieren. Autorität der Wissenschaften. In seiner Schrift Kraft und Stoff (1855) geht Lud-

wig Büchner, auf dessen Auffassung wir uns hier konzentrieren, von der Auffassung aus, dass philosophische Weltbilder in Zukunft nur noch auf der Basis der empirischen Wissenschaften entwickelt werden dürfen. Mit dem Empirismus ist er der Ansicht, dass jede Missachtung und Überschreitung der Grenzen der Erfahrung nur zu Irrtümern und Illusionen führen kann. Die Zeiten philosophischer Spekulation, in denen Philosophen ohne Bezugnahme auf Erfahrung und Wissenschaft apriorische Weltbilder entwickelten, sind für ihn ein für allemal vorbei. Die Philosophie muss nach seiner Ansicht endlich die Resultate zur



Zu Entstehung und Verlauf des Materialismusstreits vgl. F. A. Lange (1974) S. 535ff; S. Poggi / W. Röd (1989) S. 130 f.

30 Materialismus des 19. Jahrhunderts

Kenntnis nehmen, die die Naturwissenschaften insbesondere über die physiologische Basis des menschlichen Geistes gewonnen haben. Eine solche Ausrichtung der Philosophie an den Wissenschaften bedeutet für ihn zunächst die Anerkennung einiger grundlegender Errungenschaften der Naturwissenschaften. Dazu gehört vor allem die naturalistische These, dass die mechanischen Naturgesetze im ganzen Kosmos gelten und dass alle Phänomene der Welt sich mithilfe von Naturgesetzen erklären lassen. Mechanistischer Materialismus. Zu einem Materialismus wird Büchners Posi-

tion nun dadurch, dass er die Materie als die einzige substanzielle Wirklichkeit und die Bewegung von Stoffen als den Grundvorgang der Wirklichkeit betrachtet. Da die Mechanik der Atome das fundamentale Erklärungsmodell ist, wird diese Position auch als „mechanistischer Materialismus“ bezeichnet. Naturkräfte sind daher für Büchner Eigenschaften der Materie, obgleich er gelegentlich, wie schon der Titel seiner Schrift suggeriert, Kräften ein selbständiges Sein neben der Materie einzuräumen scheint. Zu den von ihm akzeptierten naturwissenschaftlichen Prinzipien gehören schließlich auch die Sätze von der Erhaltung der Materie und der Erhaltung der Kraft. Eine wichtige Konsequenz hat Büchners Materialismus für das Leib-SeeleProblem. Wie alle Vorgänge der Wirklichkeit bestehen auch Denken und Bewusstseinsprozesse im Grunde nur in Bewegungen von winzigen Partikeln. Die dualistische (oder spiritualistische) Annahme einer vom Gehirn unabhängigen Seele wird damit zurückgewiesen. Es gibt keine Gedanken und kein Bewusstsein ohne ein funktionierendes Gehirn. Die berühmt-berüchtigte These Moleschotts, dass die Gedanken sich zum Gehirn verhalten wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren, wird zwar häufig auch Büchner zugeschrieben, doch lehnt er diesen Vergleich tatsächlich als unangemessen ab. Gedanken sind für ihn keine Produkte oder „Absonderungen“ des Gehirns, sondern bestimmte Tätigkeiten des Gehirns. Büchners Ausführungen zum Leib-Seele-Problem 

Vgl. L. Büchner: Kraft und Stoff, 21. Aufl. Leipzig 1904, S. 252 f.

Ludwig Büchner (1824–1899) Hauptvertreter des mechanistischen Materialismus im 19. Jahrhundert

Der naturwissenschaftliche Materialismus 31

sind allerdings nicht immer klar und konsequent im Sinne des Materialismus, sondern scheinen bisweilen auch mit dualistischen Positionen vereinbar zu sein. Zu den kritischen Konsequenzen seines materialistischen Weltbildes, die Büchner klar und unmissverständlich herausgestellt hat, gehört vor allem die Leugnung der Leitideen der klassischen Metaphysik: Da alles in der Welt nach Gesetzen der Materie abläuft, gibt es weder eine immaterielle, unsterbliche Seele noch einen Gott als Schöpfer oder Lenker der Welt, und da auch das Verhalten des Menschen sich allein aus materiellen Ursachen ergibt, gibt es auch keinen freien Willen. Als Darwin im Jahr 1859 mit seiner Evolutionslehre hervortrat und eine natürliche Erklärung für die Entwicklung der Arten vorschlug, wurde Büchner zum begeisterten Anhänger Darwins. Die Entstehung und die anscheinende Zweckmäßigkeit der Lebewesen lassen sich nach Büchner durch die Evolutionstheorie kausal erklären. Die Annahme einer eigenen, für die organischen Prozesse und ihre Zweckmäßigkeit zuständigen „Lebenskraft“, die der Vitalismus annimmt und die im Zentrum teleologischer Weltbilder steht, ist für ihn damit überflüssig geworden. Darwin wurde damit als Bestätigung des mechanistischen Materialismus reklamiert. Wirkung. Büchner hatte, wie die zahlreichen Auflagen seiner Schrift zeigen,

großen Einfluss auf die naturwissenschaftlich gebildete Öffentlichkeit und er beeinflusste das materialistische Denken der zweiten Jahrhunderthälfte, insbesondere Ernst Haeckel. In der akademischen Philosophie wurde Büchner dagegen, ebenso wie Vogt und Moleschott, scharf kritisiert. Charakteristisch dafür ist die Kritik, die der Neukantianer Friedrich Albert Lange (1828–1875) in seiner berühmten Geschichte des Materialismus (1866) vorbrachte. Er warf den Vertretern des neuen Materialismus begriffliche Unklarheiten und unzureichendes Verständnis philosophischer Probleme vor. Zu den scharfen Kritikern des naturwissenschaftlichen Materialismus gehörten auch Marx und Engels, die ihren





F. Paulsen hat in seiner „Einleitung in die Philosophie“ (25. Aufl. Stuttgart und Berlin 1912, S. 90) darauf hingewiesen, dass Büchners Position zwischen verschiedenen Thesen unklar hinund herschwanke, insofern er Bewusstsein nämlich nicht nur im materialistischen Sinne als identisch mit Gehirnvorgängen betrachte, sondern seelische Prozesse auch als Wirkungen von Gehirnvorgängen oder gar als mit Gehirnvorgängen bloß untrennbar verknüpfte Vorgänge verstehe. Zu Langes Kritik des philosophischen Dilettantismus und des „philosophischen Urwalds“ vgl. das Kapitel „Der philosophische Materialismus seit Kant“. In: F. A. Lange (1974) S. 512–584.

32 Materialismus des 19. Jahrhunderts

„dialektischen“ Materialismus von diesem „Vulgärmaterialismus“ entschieden abgrenzten. Würdigung. Die Vertreter des naturwissenschaftlichen Materialismus zeigen ein

gewisses Defizit an begrifflicher Klarheit und philosophischem Problemverständnis, was den Wert ihrer Werke beeinträchtigt, die Bedeutung ihrer Position jedoch nicht einfach aufheben kann. Zwar ist auch ihr mechanistischer Materialismus überholt, insofern er sich an der klassischen Physik orientiert, doch bleibt ihre Grundidee, alle Naturvorgänge auf physikalisch erklärbare Vorgänge zu reduzieren, bis in die Gegenwart eine ernsthafte philosophische Option. Im Übrigen ist das Etikett „Vulgärmaterialismus“ auch ein Stück weit unfair, weil es unterschlägt, dass die Vertreter dieser Position zur Anerkennung des wissenschaftlich orientierten Philosophierens und zur Verbreitung einer naturalistischen Weltanschauung beigetragen haben.

3. Friedrich Engels: Dialektischer Materialismus Begründer der marxistischen Ontologie. Als Freund, Mitarbeiter und politischer

Weggefährte von Karl Marx (1818–1883) war Friedrich Engels an der Ausarbeitung der Philosophie des Marxismus maßgeblich beteiligt. Ihre gemeinsame philosophische Leitidee bestand darin, Hegel „vom Kopf auf die Beine“ zu stellen, d. h. die Hegelsche Dialektik von ihrer idealistischen Verkleidung zu befreien und ihr eine materialistische Fassung zu geben. Während Marx die Sozial- und Geschichtsphilosophie des „historischen Materialismus“ prägte und damit eine Theorie von enormer politischer Sprengkraft schuf, begründete Engels mit dem „dialektischen Materialismus“ die Ontologie des Marxismus.

Leben und Werk. Friedrich Engels wurde am 28. Oktober 1820 in Barmen bei

Wuppertal als Sohn eines Unternehmers geboren. Nach einer kaufmännischen Lehre betätigte er sich als Journalist und geriet unter den Einfluss sozialistischer und linkshegelianischer Ideen. Besonders beeindruckt wurde er von Feuerbachs Religionskritik. Im Jahr 1842 lernte er Marx kennen, woraus zwei Jahre später eine lebenslange Zusammenarbeit entstand. Neben ihrem politischen Engagement für den Kommunismus verfassten sie gemeinsam philosophische und politische Schriften, darunter Die deutsche Ideologie (1845/46; ersch. 1932) und Das Kommunistische Manifest (1848). Nach dem Scheitern der 48er Revolution floh Engels in die Schweiz und trat 1850 in die väterliche Fabrik in Manchester ein, was es ihm ermöglichte, den in London lebenden Marx in den folgenden Jahren

Friedrich Engels: Dialektischer Materialismus 33

finanziell zu unterstützen. 1870 siedelte Engels nach London über und engagierte sich von hier aus für die Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Nach dem Tod von Marx gab Engels aus dessen Nachlass den zweiten und dritten Band des Kapitals heraus. Seit den 70er Jahren beschäftige er sich auch besonders mit Fragen der Naturphilosophie und Ontologie. Dazu gehören vor allem die Schrift Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878), kurz Anti-Dühring genannt, und das zwischen 1873 bis 1882 entstandene, aber erst 1925 veröffentlichte Fragment Dialektik der Natur. Engels starb am 5. August 1895 in London. Hegel, Feuerbach und Marx. Anders als die meisten Materialisten der Moderne

versuchten Marx und Engels ausdrücklich an Hegels Dialektik anzuknüpfen. In seinem Aufsatz Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1888) hat Engels das Verhältnis des Marxismus zu Hegel und Feuerbach pointiert dargestellt. Bei Hegel unterscheidet er deutlich zwischen System und Methode. Hegels idealistisches System lehnt er als dogmatisch und konservativ ab, da es auf die Rechtfertigung aller bestehenden Wirklichkeit hinauslaufe. Doch Hegels dialektische Methode führt nach seiner Ansicht zu einer ganz anderen philosophischen Position, nämlich zu der Auffassung, dass die Wirklichkeit unaufhörliches Werden und Vergehen ist und dass die Geschichte ein unaufhaltsamer Fortschritt ist. Die Dialektik ist daher die große Errungenschaft Hegels. Das Verdienst Feuerbachs sieht Engels darin, zum Materialismus übergegangen zu sein, also die Materie als die einzige (substanzielle) Wirklichkeit begriffen zu haben, womit der Geist zum Produkt der Materie und Gott zum Abbild des Menschen wird. „Der Entwicklungsgang Feuerbachs ist der eines – freilich nie ganz orthodoxen – Hegelianers zum Materialismus hin […] Mit unwiderstehlicher Gewalt drängt sich ihm schließlich die Einsicht auf, […] daß die stoffliche, sinnliche wahrnehmbare Welt, zu der wir selbst gehören, das einzig Wirkliche, und daß unser Bewusstsein und Denken, so übersinnlich es scheint, das Erzeugnis eines stofflichen, körperlichen Organs, des Gehirns ist. Die Materie ist nicht ein Erzeugnis des Geistes, sondern der Geist ist selbst nur

Friedrich Engels (1818–1895) Freund und Mitarbeiter von K. Marx und Begründer des dialektischen Materialismus

34 Materialismus des 19. Jahrhunderts

das höchste Produkt der Materie.“10 Dennoch ist Feuerbach nach Engels in den Fehler des mechanistischen Materialismus zurückgefallen, indem er die Natur nicht dialektisch, d. h. nicht als Prozess und Entwicklung begriff. Erst Marx hat nach Engels den richtigen philosophischen Ansatz gefunden, indem er Materialismus und Dialektik miteinander verknüpfte: Marx übernimmt von Hegel die Dialektik als Gesetz der historischen Entwicklung, doch interpretiert er sie materialistisch. Nach Marx werden soziale Veränderungen und geschichtliche Entwicklungen nicht durch das menschliche Denken oder gar durch einen „Weltgeist“ bestimmt, sondern durch die ökonomischen Verhältnisse und Interessen. Es ist also nicht das Bewusstsein, das das Sein, sondern umgekehrt das gesellschaftliche Sein, das das Bewusstsein bestimmt. Daher sind auch Kunst, Religion und Philosophie keine bestimmenden Mächte, sondern lediglich Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, kurz „ideologischer Überbau“. Marx gelangt aber nicht nur zu einem materialistischen Geschichtsverständnis, sondern auch zu einer dialektischen Konzeption der Materie. Für ihn ist die Materie nicht eine passive, träge Substanz, die wie eine Billardkugel von anderen Kugeln in Gang gesetzt wird, sondern sie ist selbst ursprünglich aktiv und dynamisch. In dem von Marx konzipierten und von Engels ausgearbeiteten Materialismus wird Dialektik zum Bewegungsgesetz der Wirklichkeit. Die Herausforderung Dührings. In den 70er Jahren trat der Philosoph und Nati-

onalökonom Eugen Dühring (1833–1921) mit einer philosophisch-politischen Lehre hervor, die sich als Alternative zum Marxismus präsentierte und damit Marx und Engels die Meinungsführerschaft im Sozialismus streitig machte. Dühring war seit 1863 Privatdozent in Berlin, verlor diese Stelle jedoch 1877 und wurde danach ein erfolgreicher philosophischer Schriftsteller, bevor er im Alter verarmte und erblindete. Eine philosophische Konkurrenz wurde Dühring dadurch, dass er eine von den Wissenschaften ausgehende materialistische Philosophie vertrat, die sich ausdrücklich gegen die Hegel-Marxsche Dialektik wandte. Seine verschiedenen sozialphilosophischen und politischen Auffassungen spielte er gegen Marx aus, als er sich in einer Rezension sehr kritisch über dessen Hauptwerk Das Kapital (Bd. 1, 1867) äußerte. Als Dührings Werk auch in führenden Kreisen der Sozialdemokratie zunehmend Beachtung fand, wurde Engels von Wilhelm Liebknecht zur Stellungnahme gedrängt. Das Resultat ist der Anti-Dühring (1878).11 10 F. Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Marx Engels Werke, Berlin (Ost) 1984, Bd. 21, S. 277 f. 11 Zur Entstehung von Engels’ „Naturdialektik“ vgl. H. Fleischer (1989) S. 285 ff.

Friedrich Engels: Dialektischer Materialismus 35

Die von Engels in dieser Streitschrift geübte Kritik greift Dühring auch persönlich an, indem er ihm Arroganz, Dilettantismus und Dogmatismus vorwirft. In seiner inhaltlichen Kritik bemängelt Engels vor allem, dass Dühring die Gesichtspunkte der Entwicklung und Dialektik zu wenig berücksichtigt habe. Daher polemisiert er auch gegen Dührings Auffassung von „endgültigen Wahrheiten“ in Logik und Moral. Dialektischer Materialismus. Durch die Auseinandersetzung mit Dühring, dem

er eine „undialektische“ Konzeption vorhielt, wurde Engels dazu veranlasst, seine Auffassung von Dialektik auszuarbeiten. Sein Grundgedanke besteht darin, dass es dieselben dialektischen Bewegungsgesetze sind, die das Geschehen in Natur, Geschichte und im menschlichen Denken bestimmen. Als „Dialektik“ bezeichnet er aber nicht nur die Bewegungsgesetze, sondern auch die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungsgesetzen. Nachdem Marx das Verständnis von „Dialektik der Geschichte“ in der materialistischen Geschichtstheorie entwickelt hatte, ging es Engels nunmehr um die Klärung der „Dialektik der Natur“. Ausgangspunkt von Engels’ dialektischer Naturauffassung ist die Grundthese, dass Bewegung die Daseinsweise der Materie ist. Diese These bedeutet zunächst, dass die Natur kein statisches, sondern ein dynamisches, sich ständig veränderndes System ist. Gegensätze und Unterschiede in der Natur wie fest und flüssig oder warm und kalt sind nicht absolut und starr, sondern relativ und veränderlich. Die Welt ist daher kein Komplex von „Dingen“, sondern von „Prozessen“. Wenngleich in Engels’ Auffassung an dieser Stelle eine Prozessontologie im Sinne Whiteheads anklingt, vertritt er doch eine Substanz-Ontologie. „Materie ohne Bewegung ist ebenso undenkbar wie Bewegung ohne Materie. Die Bewegung ist daher ebenso unerschaffbar und unzerstörbar wie die Materie selbst.“12 In den Prozessen der Natur bleibt somit das „Quantum der Bewegung“ oder die Bewegungsenergie erhalten. Engels akzeptiert damit den alten materialistischen Grundsatz, dass nichts aus nichts entsteht und dass nichts in nichts vergeht. Wenn Engels vom Bewegungscharakter der Materie und von den Bewegungsgesetzen der Natur spricht, dann geht es ihm meistens auch um den Aspekt der Entwicklung. Bewegung ist für ihn eben auch Entwicklung, nämlich Entstehung von komplexen Gebilden aus einfachen Elementen. Mit Genugtuung verweist er darauf, dass die Idee der Entwicklung der Natur sich seit Kants 12

F. Engels: Anti-Dühring. In: Marx Engels Werke, Berlin (Ost) 1975, Bd. 20, S. 55.

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Hypothese über die Entstehung des Sonnensystems in den Wissenschaften, besonders in Geologie und Biologie, zunehmend durchgesetzt hat. Die drei dialektischen Bewegungsgesetze der Natur. Bei der Konzeption von Dialektik im Sinne eines dynamischen Naturbildes ist Engels freilich nicht stehen geblieben. Zu dem für seine Auffassung besonders charakteristischen Sinn von Dialektik gelangt er nämlich, wenn er die dialektischen Entwicklungsgesetze im Geiste Hegels charakterisiert.13 In Anlehnung an Hegel behauptet er dann, dass der logische Grundsatz vom (zu vermeidenden) Widerspruch für die sich ständig verändernde Wirklichkeit nicht gilt. Das Grundphänomen der Bewegung selbst betrachtet Engels nämlich als „widersprüchlich“, weil ein bewegter Körper zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort ist und zugleich nicht dort ist. Indem er jedoch Bewegung als widersprüchlich versteht, gelangt er zu der Grundthese seiner Dialektik, dass die Natur selbst widersprüchlich ist. Es ist eben diese Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit, die Engels unter dem Terminus „Durchdringung der Gegensätze“ als eines von drei dialektischen Grundgesetzen der Natur fasst. Das zweite dialektische Grundgesetz betrifft den „Umschlag von Quantität in Qualität“, d. h. die These, dass durch Zunahme von Quantität in der Natur ab einem bestimmten Moment neue Eigenschaften auftreten. Paradebeispiel dafür ist, dass Wasser beim Erhitzen auf 100 Grad Celsius in einen anderen, nämlich gasförmigen Zustand übergeht. Auch das dritte dialektische Grundgesetz, das Gesetz von der „Negation der Negation“, betont die Entstehung neuer Formen in den Prozessen der Natur. Anders als in der Logik, wo die Verneinung von Non-A wieder A ergibt, soll durch die doppelte Negation in der Natur nicht die Rückkehr zum ursprünglichen Zustand, sondern die Weiterentwicklung zu neuen Zuständen stattfinden. Als Beispiel dafür dient das Gerstenkorn, das zunächst zur Pflanze („negiert“) wird, bevor aus der Pflanze dann wieder viele neue Gerstenkörner (als „Negation der Negation“) hervorgehen. Wie sich im letzten Beispiel andeutet, ließen sich einige Formulierungen von Engels als Metaphorik entschärfen. Dennoch charakterisiert er die dialektischen Gesetze häufig so deutlich im Kontrast zur „bloßen“ Logik, dass seine Aussagen sinnlos zu werden drohen.14 Fragt man jedoch danach, was neben dem dynamischen Naturbild als sinnvoller Kern der dialektischen Naturauffassung 13 14

Vgl. dazu besonders F. Engels: Dialektik der Natur. In: Marx Engels Werke, Berlin (Ost) 1975, Bd. 20, S. 348ff, 481 ff. Zur Kritik der Dialektik siehe K. Popper: Was ist Dialektik? In: Vermutungen und Widerlegungen, 2. Teilband, Tübingen 1997, S. 451 ff.

Friedrich Engels: Dialektischer Materialismus 37

gelten kann, dann hält man sich am besten an Bemerkungen wie die folgende, die den alten mechanischen Materialismus kritisiert: „Der Materialismus des vorigen Jahrhunderts war vorwiegend mechanisch […] wie dem Descartes das Tier, war den Materialisten des 18. Jahrhunderts der Mensch eine Maschine. Diese ausschließliche Anwendung des Maßstabs der Mechanik auf Vorgänge, die chemischer und organischer Natur sind und bei denen die mechanischen Gesetze zwar auch gelten, aber von andern, höhern Gesetzen in den Hintergrund gedrängt werden, bildet die eine spezifische, aber ihrer Zeit unvermeidliche Beschränktheit des klassischen französischen Materialismus.“15 In dieser Bemerkung zeigt sich, dass es Engels offenbar um die Anerkennung der qualitativen Vielfalt der Natur geht, also um eine Auffassung von Natur, die in qualitativen Sprüngen fortschreitet und immer wieder neue Formen hervorbringt. So gesehen erweist sich der dialektische Materialismus als eine gemäßigte Form von Materialismus. Wirkung. Der von Engels entwickelte dialektische Materialismus hat auf die

Entwicklung der marxistischen Philosophie großen Einfluss gehabt. Besonders Lenin hat an Engels angeknüpft und damit die Erhebung des „Diamat“ zur sowjetischen Staatsphilosophie vorbereitet. Bei neomarxistischen Denkern ist Engels Naturdialektik dagegen umstritten. Während Georg Lukács und Ernst Bloch auf Engels zurückgegriffen haben, hat die Frankfurter Schule um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno das Projekt einer marxistischen Ontologie grundsätzlich abgelehnt. Außerhalb der marxistischen Philosophie war Engels’ Einfluss dagegen gering. Naturwissenschaftliche Materialisten wie Haeckel haben nicht an Engels angeknüpft.

Würdigung. Soweit Engels’ dialektischer Materialismus sich als eine dynamisch-

evolutionäre Ontologie verstehen lässt, die der qualitativen Vielfalt und den Stufen der Natur gerecht zu werden versucht, gehört sie zu den Vorläufern eines modernen nicht-reduktiven Materialismus. Als solche kann sie auch beanspruchen, zur Durchsetzung des Entwicklungsgedankens und damit zur Verbreitung eines evolutionären Weltbildes beigetragen zu haben. Engels’  Theorie der Naturdialektik im engeren Sinne, also die Theorie der drei dialektischen Naturgesetze, die von der Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit ausgeht, basiert freilich auf einer verfehlten Ontologisierung rein logischer Begriffe und wird daher von Philosophen aller Couleur durchweg abgelehnt. In der Wirklichkeit kann es

15

F. Engels: Ludwig Feuerbach, a. a. O., S. 278.

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zwar „Gegensätze“ geben, aber „Widersprüche“ können sinnvoll nur im Denken angenommen werden. Die auf Hegel zurückgehende Auffassung von Dialektik gilt daher auch in Engels materialistischer Fassung als unhaltbar.

4. Ernst Haeckel: Monistische Weltanschauung Vorkämpfer der Evolutionslehre. Nachdem der naturwissenschaftliche Materia-

lismus in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts die Gemüter erhitzt hatte, trat ab den 60er Jahren Darwin mit der Evolutionstheorie in den Mittelpunkt weltanschaulicher Debatten. Ein bedeutender Vorkämpfer der Evolutionstheorie war der deutsche Biologe Ernst Haeckel. Er bemühte sich auch besonders darum die philosophische Bedeutung und die religionskritischen Konsequenzen der neuen Lehre zu verdeutlichen. Die seinerzeit viel diskutierten „Welträtsel“ glaubte er mit Hilfe der Evolutionstheorie und seiner „monistischen Weltanschauung“ lösen zu können. Haeckels Monismus war vor allem gegen die dualistischen Weltbilder der traditionellen Metaphysik und Theologie gerichtet, doch versuchte er zugleich ein wissenschaftlich haltbares Verständnis von Religion zu bewahren. Leben und Werk. Ernst Haeckel wurde am 16. Februar 1834 in einer Beamtenfa-

milie in Potsdam geboren. Er studierte Medizin und Naturwissenschaften in Würzburg, Berlin und Wien und wurde 1862 Professor für Zoologie in Jena. Mit der Schrift Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868), die ihm die Anerkennung Darwins einbrachte, wurde er zum einflussreichsten Vertreter der Evolutionstheorie in Deutschland. Sein Einsatz für den Naturalismus, den er in dem Buch Die Welträtsel (1899) zusammenfasste, führte im Jahr 1906 zur Gründung des „Deutschen Monistenbundes“, eines Zusammenschlusses von Naturforschern und Naturphilosophen, der sich der Förderung einer naturalistischen Weltanschauung verschrieben hatte und dessen Ehrenvorsitzender Haeckel wurde. Haeckel kämpfte leidenschaftlich gegen Aberglauben und die traditionelle theologische Metaphysik. Er starb am 9. August 1919 in Jena. Die Evolutionslehre und ihre weltanschaulichen Konsequenzen. Haeckel setzte

sich als Biologe für die Evolutionstheorie ein und lieferte zu ihr auch selbst wichtige Beiträge. Dazu gehört vor allem das von ihm 1866 formulierte „biogenetische Grundgesetz“, demzufolge die Embryonalentwicklung eine kurze Wiederholung der Stammesentwicklung ist. Haeckel bemühte sich auch schon früh darum, die weltanschaulichen Konsequenzen der Darwinschen Lehre offenzulegen. Insbesondere betonte er, dass die Evolutionstheorie eine natürliche Erklä-

Ernst Haeckel: Monistische Weltanschauung 39

rung der Herkunft des Menschen aus dem Tierreich liefert und dass eine solche Erklärung mit Hilfe der Prinzipien vom „Kampf ums Dasein“ und vom „Überleben der Tüchtigsten“ eine gewöhnliche kausale Erklärung ist, die eine teleologische Erklärung durch finale Lebenskräfte überflüssig macht. Die Evolutionslehre zeigt für ihn zugleich, dass der biblische Mythos von der göttlichen Schöpfung der Welt und des Lebens überholt ist. Haeckel wurde damit zu einem entschiedenen Verfechter einer naturalistischen Auffassung. Du Bois-Reymonds Welträtsel. Haeckels Eintreten für die Evolutionstheorie

und seine nachdrückliche Betonung ihrer philosophischen und religionskritischen Bedeutung rief heftigen Widerstand hervor. Einwände kamen nicht nur aus kirchlichen Kreisen, sondern auch von wissenschaftlicher und philosophischer Seite. Philosophisch bedeutsam war vor allem der Versuch, erneut die Grenzen menschlicher Erkenntnis geltend zu machen und damit zu zeigen, dass Haeckels philosophische Folgerungen aus der Evolutionslehre verfehlt sind. Eine solche erkenntnistheoretische Kritik entwickelte in den 70er Jahren der Physiologe Emil Du Bois-Reymond (1818–1896) in seinen Vorträgen Die Grenzen des Naturerkennens (1872) und Die sieben Welträtsel (1880). Er versuchte zu zeigen, dass das wissenschaftliche Naturerkennen bestimmte Grundfragen als ungelöste oder gar unlösbare „Welträtsel“ anerkennen muss. Ausgehend von der Vorstellung, dass die Naturwissenschaften alle Phänomene und Ereignisse der Natur auf die Mechanik der Atome zurückführen, gestand er zwar zu, dass sich auf der Basis einer solchen mechanistischen Auffassung die Zukunft exakt voraussagen lässt, doch betonte er zugleich, dass die Voraussetzungen des mechanistischen Erklärungsmodells selbst unerklärt bleiben. Als wissenschaftlich noch ungelöst betrachtete er die Entstehung und die Zweckmäßigkeit der Lebewesen sowie den Ursprung von Sprache und Denken. Als wissenschaftlich grundsätzlich unlösbar galten ihm dagegen die Grundeigenschaften des Atoms, der Ursprung der Bewegung, die Entstehung des Bewusstseins und das Problem der Willensfreiheit. Für das mechanistische Denken bleiben alle diese Grundfragen nach Du Bois-Reymond „Welträtsel“.

Ernst Haeckel (1834-1919) Vorkämpfer der Evolutionstheorie und Hauptvertreter der monistischen Weltanschauung

40 Materialismus des 19. Jahrhunderts

Die monistische Weltanschauung. In seiner Schrift Die Welträtsel (1899) unter-

nahm Haeckel den Versuch, auf der Basis der Naturwissenschaften die von Du Bois-Reymond herausgestellten Welträtsel zu lösen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren die Resultate der Astronomie, Physik, Chemie und Biologie, die sich nach seiner Ansicht zu einer monistischen Weltanschauung zusammenfassen lassen. Ihre zentrale Idee ist die Einheit der Natur, die sich nach Haeckel zunächst darin zeigt, dass die Materie im Weltall überall dieselbe ist und dass im ganzen Kosmos dieselben mechanischen Gesetze herrschen. Zur Einheit der Natur gehört für ihn ferner, dass die Vielzahl der Naturkräfte wie Licht, Elektrizität, chemische und mechanische Energie nur Erscheinungsformen einer „Urkraft“ (oder Grundenergie) sind und dass sich die Gesetze von der Erhaltung der Materie und der Erhaltung der Energie als zwei Ausdrucksformen eines universalen Substanzprinzips verstehen lassen. Die monistische Weltanschauung führt somit zu der Annahme einer einheitlichen Weltsubstanz als dem Ursprung aller Dinge. Indem Haeckel den Monismus als weltanschauliche Konsequenz der Wissenschaften herausstellte, wandte er sich gegen jede Form von metaphysischem Dualismus, der sich auf Unterscheidungen wie Leib und Seele, Welt und Transzendenz oder Natur und Freiheit stützt. Dagegen betonte er die Einheitlichkeit der Wirklichkeit. „Der Monismus des Kosmos […] lehrt uns die ausnahmslose Geltung der ‚ewigen, ehernen, großen Gesetze‘ im ganzen Universum. Damit zertrümmert derselbe aber zugleich die drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens.“16 Besonders eindringlich wandte Haeckel sich auch gegen den Dualismus in Kants Philosophie, der darin gipfelt, die von der theoretischen Vernunft abgewiesenen metaphysischen Ideen von Gott, Unsterblichkeit und Freiheit als „Postulate“ der praktischen Vernunft wieder einzusetzen. Diesem Dualismus Kants stellte Haeckel die naturalistische Auffassung Darwins entgegen und behauptete damit, dass man in weltanschaulicher Hinsicht zwischen Kant und Darwin zu wählen habe. Die Annahme einer einheitlichen Weltsubstanz, die den Kern seiner monistischen Weltanschauung ausmacht, erlaubt nach Haeckel die Widerlegung des Leib-Seele-Dualismus und der Annahme der Willensfreiheit. Zur Lösung der anderen Welträtsel greift er dagegen auf die Evolutionslehre zurück. Mit Hilfe der Darwinschen Lehre lassen sich nach seiner Ansicht vor allem die Entstehung und die Zweckmäßigkeit der Lebewesen natürlich erklären, aber auch die 16 E. Haeckel: Die Welträtsel, Stuttgart 1984, S. 479.

Ernst Haeckel: Monistische Weltanschauung 41

Entwicklung des Bewusstseins und des vernünftigen Denkens werden so verständlich. Was von den Welträtseln zuletzt als ungelöst übrig bleibt, ist nach Haeckel nur die Substanz selbst, deren ursprüngliche Eigenschaften sich nicht weiter erklären lassen. Übergang zum Pantheismus. Wenn Haeckel von einer einheitlichen Weltsub­

stanz spricht, deren Attribute Materie und Energie sind, dann scheint er eine rein materialistische Position zu vertreten. Obwohl seine Position tatsächlich in vielfacher Hinsicht als Materialismus gelten kann, nimmt sein Denken doch in einigen Zusammenhängen eine Wendung, die ihn vom Materialismus ein Stück weit abrücken lässt. Dies wird besonders deutlich im Kontext des Leib-SeeleProblems. Denn obwohl Haeckel den Dualismus ablehnt, versteht er die Materie doch nicht als Substanz und den Geist nicht als deren Attribut. Vielmehr behauptet er in Anlehnung an Spinoza, dass alle Phänomene der Welt, also auch Körper und Geist, Erscheinungsformen einer einzigen Substanz sind. Daher leugnet er nicht nur einen strikten Unterschied zwischen anorganischer und organischer Materie, sondern er betrachtet auch alle Materie als belebt und beseelt. Haeckels monistische Weltanschauung, die zunächst ganz materialistisch daherkommt, nähert er sich damit dem Panpsychismus. Dass Haeckels Distanzierung vom Materialismus stark von Spinoza beeinflusst ist, wird besonders deutlich, wenn er eine Gleichsetzung von Gott und Natur vornimmt und damit zum Pantheismus übergeht. „Der Monismus […] erkennt im Universum nur eine einzige Substanz, die ‚Gott und Natur‘ zugleich ist; Körper und Geist (oder Materie und Energie) sind in ihr untrennbar verbunden. Der extramundane ‚persönliche‘ Gott des Dualismus (ein idealisierter Mensch!) führt notwendig zum anthropistischen Theismus; hingegen der intramundane Gott des Monismus (das allumfassende Weltwesen!) zum Pantheismus.“17 Trotz seiner scharfen Kritik an theistischen Vorstellungen kommt Haeckel damit zuletzt doch dem religiösen Denken entgegen. Im Monismus glaubte er denn auch das „Band“ zwischen Wissenschaften und (pantheistischer) Religion gefunden zu haben, ja, er sprach sogar von einer „monistischen Religion“. Wirkung. Als Vertreter der Evolutionstheorie und der monistischen Weltan-

schauung war Haeckel eine zentrale Figur in den weltanschaulichen Debatten vor dem Ersten Weltkrieg. Dies zeigt sich nicht nur an den zahlreichen Auflagen seiner Welträtsel, sondern auch daran, dass der Monistenbund zwei ihn be-

17

E. Haeckel, a. a. O., S. 31.

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kämpfende Gegenbünde hervorrief, nämlich den evangelischen „Keplerbund“ und den katholischen „Thomasbund“. Die von konservativen und kirchlichen Kreisen betriebenen Kampagnen gegen Haeckel, die ihn als Betrüger und Scharlatan diffamierten, gingen erst zurück, als eine Gruppe deutscher Professoren eine Ehrenerklärung für ihn abgab.18 Obgleich Haeckel selbst politisch konservativ war und auch sozialdarwinistische und rassistische Auffassungen vertrat, hatte er unter Sozialisten viele Anhänger.19 Selbst Lenin berief sich in seinem Kampf gegen den Idealismus auf Haeckel. Auf die akademische Philosophie hatte Haeckel gleichwohl nur geringen Einfluss. Dennoch hat er entscheidend dazu beigetragen, dass die Evolution als wissenschaftlich gesicherte Tatsache in der Öffentlichkeit wie in Philosophie und Theologie zunehmend Anerkennung gefunden hat. Würdigung. Haeckels wissenschaftliche Verdienste um die Durchsetzung der Evolutionstheorie sind unbestritten. Seine Bedeutung als Naturphilosoph und Metaphysiker liegt vor allem darin, dass er ähnlich wie Spencer versucht hat, die Resultate der Naturwissenschaften in einem philosophischen Weltbild zusammenzufassen. Da Haeckel, wie die naturwissenschaftliche Materialisten vor ihm, die erkenntnistheoretische Fragen jedoch fast völlig ignorierte, erreichte er in der Behandlung philosophischer Fragen, wie des Leib-Seele-Problems, nicht immer die nötige begriffliche Klarheit und das erforderliche Problemverständnis. Auch sein Pantheismus erscheint als eine rational nicht zureichend begründete Annäherung an die Religion. Trotz einer gewissen Oberflächlichkeit nimmt Haeckels „monistische Weltanschauung“ einen wichtigen Platz in der Geschichte des modernen Naturalismus und Materialismus ein.

18

Zum Monistenbund und zu Haeckels Stellung in den weltanschaulichen Debatten seiner Zeit vgl. J. Hemleben (1964) S. 125ff, 132ff; H. Schmidt (1926) S. 398ff, 434 ff. 19 Vgl. I. Fetscher (1984) S. VIII f.

III. Willensmetaphysik

Die metaphysische Strömung, die sich wie der Materialismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts scharf gegen die Vernunftmetaphysik des deutschen Idealismus wandte, war die auf Schopenhauer zurückgehende Willensmetaphysik. Die leitenden Motive, die diese Strömung zum radikalen Bruch mit Hegel führten, unterschieden sich jedoch grundlegend von denen des Materialismus. Der Materialismus lehnte es ab, die Welt vom Geist zu verstehen, also die Natur als Erscheinung eines Weltgeistes oder einer Weltvernunft zu verstehen, doch kritisierte er dabei in erster Linie die Missachtung der natürlichen Basis, die Geist und Bewusstsein im Gehirn haben. Die Hypostasierung des Bewusstseins zu einer Seelensubstanz lehnte zwar auch die Willensmetaphysik ab, doch das eigentliche Ziel ihrer Kritik war die idealistische Auffassung, dass die Welt einen vernünftigen Grund hat und daher auch vernünftig organisiert ist. Angesichts des Übels und des Bösen in der Welt und der vielfältigen Leiden der Lebewesen wurde die Vorstellung eines vernünftigen Weltgrundes als unannehmbar verworfen. Die Prinzipien, die den Lauf der Natur und das Verhalten von Tier und Mensch bestimmen, können nur unvernünftige, triebhaft-egoistische Kräfte sein. Ein gemeinsamer Zug der Willensmetaphysik ist daher ein pessimistischer Grundton bei der Beschreibung und metaphysischen Deutung der Welt. Da diese Strömung das Seelenleben als weitgehend unbewusst ablaufendes Geschehen begreift, zeichnet sie sich auch durch eine besondere Affinität zur Psychologie aus. Die Ursprünge der Willensmetaphysik gehen auf das Jahr 1818 zurück, als Arthur Schopenhauer sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung veröffentlichte. Die Wirkung Schopenhauers begann jedoch erst in der Jahrhundertmitte. Das von ihm herausgestellte Widerspiel von Wille und Vernunft bzw. von Geist und Trieb wurde das zentrale Thema der Willensmetaphysik, das in der Folge verschiedene Abwandlungen erfuhr. Schopenhauer selbst sprach dem Geist

44 Willensmetaphysik

zwar einen metaphysisch sekundären Status zu, doch in moralischer Hinsicht betrachtete er den Geist als das eigentlich Wertvolle in der Welt. Eduard von Hartmann, der nächste Vertreter dieser philosophischen Tradition, hat in seiner „Metaphysik des Unbewussten“ den gegensätzlichen Kräften von Wille und Geist einen gleichberechtigten metaphysischen Status eingeräumt. Die damit intendierte Synthese von Schopenhauer und Hegel verbindet in eigenwilliger Weise eine pessimistische Naturauffassung mit einer optimistischen Kulturphilosophie. Friedrich Nietzsche, neben Schopenhauer der zweite Hauptvertreter der Willensmetaphysik, gelangte schließlich zu einer Position, die den latenten Widerspruch zwischen Wille und Geist bei Schopenhauer zu lösen versuchte, indem sie den „Willen zur Macht“ als metaphysische Potenz absolut setzte und Schopenhauers positive Wertung des Geistes zurücknahm. Dass der Geist im Grunde eine lebensfeindliche Macht ist und dass die ganze menschliche Kultur eine verhängnisvolle Abkehr von den natürlichen, instinktiv-triebhaften Kräften des Lebens darstellt, ist auch der Kern der Metaphysik von Ludwig Klages. Dessen Lehre vom Geist als „Widersacher“ des Lebens gehört ebenfalls zur Tradition der Willensmetaphysik, obgleich Klages gewöhnlich als deutscher Vertreter der Lebensphilosophie eingeordnet wird.

1. Arthur Schopenhauer: Der Wille als Ding an sich Kantianer und Metaphysiker. Arthur Schopenhauer ist der Begründer der Wil-

lensmetaphysik. Mit seiner Auffassung vom Willen als unbewusstem, triebhaftem Wesen von Mensch und Natur hat er ein pessimistisches Weltbild entwickelt, das entschieden mit der Vernunftmetaphysik Hegels bricht. Zugleich ist Schopenhauer derjenige unter den modernen Metaphysikern, der sich der Kantischen Erkenntnistheorie am weitesten angeschlossen hat und, ähnlich wie Kant, eine scharfe Kritik der klassischen theologischen Metaphysik vorgenommen hat. Gleichwohl hat er Kants gänzliche Preisgabe der Metaphysik abgelehnt. Schopenhauer ist also beides, Kantianer und Metaphysiker. Schopenhauer philosophische Weltsicht kreist um einen Grundgedanken, der je nach Kontext verschieden ausgelegt und angewandt wird. Dennoch ist er ein Denker, der, von großer Wahrheitsliebe erfüllt, mit offenen Augen durch die Welt geht und mit einem tief dringenden Blick alltägliche Dinge des Lebens in einem neuen, metaphysischen Licht erscheinen lassen kann. Besondere Anziehungskraft besitzt Schopenhauer auch dadurch, dass er nicht nur das metaphysische Bedürfnis und die Unvermeidlichkeit der Metaphysik höchst aufschlussreich beleuchtet, sondern sich auch intensiv mit den großen Themen der klas-

Arthur Schopenhauer: Der Wille als Ding an sich 45

sischen Metaphysik befasst, wobei er zu eigenen, keineswegs rein negativen Stellungnahmen zu den Fragen von Tod und Unsterblichkeit, Freiheit und Sinn des Lebens gelangt. Leben und Werk. Arthur Schopenhauer wurde am 22. Februar 1788 als Sohn des

Kaufmanns Heinrich Floris Schopenhauer und der später als Schriftstellerin bekannt gewordenen Johanna Schopenhauer in Danzig geboren. Nach dem Willen seines Vaters sollte der Junge Kaufmann werden, doch fühlte er sich zur Philosophie und den Wissenschaften hingezogen. Von seinem Wunsch, die unsichere Gelehrtenlaufbahn anzustreben, ließ er erst ab, als sein Vater ihm als Belohnung für diesen Verzicht eine mehrjährige Bildungsreise versprach. In den Jahren 1803–04 reiste er mit seinen Eltern durch halb Europa, wobei er nicht nur die kulturellen Metropolen London, Paris, Wien und Berlin kennen lernte, sondern auch immer wieder mit den dunklen Seiten des menschlichen Lebens und der sozialen Wirklichkeit konfrontiert wurde. Besonders erschütterte ihn der Anblick von 6000 Galeerensklaven in Toulon. Angesichts der vielfältigen Leiden der Menschen verlor er den Glauben an eine vernünftige, von Gott geschaffene Weltordnung. Nach dem Tod des Vaters begann Schopenhauer im Jahre 1805 mit dem Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie. Er studierte unter anderem in Berlin bei Fichte, über dessen Person und Lehre er sich jedoch bald sehr despektierlich äußerte, und promovierte 1813 in Jena mit der Schrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, worin er Kants Transzendentalphilosophie eine einfachere, elegantere Form zu geben versuchte. In den folgenden vier Jahren schrieb er in Anknüpfung an Platon, Kant und die gerade ins Deutsche übersetzten Schriften der indischen Philosophie und Religion sein philosophisches Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818). Obwohl ein entschiedener Gegner der Philosophie Hegels, die er wegen ihrer Dunkelheit und ihres Optimismus verachtete, begab er sich 1819 nach Berlin, um bei Hegel zu habilitieren. Danach legte er seine eigenen Vorlesungen demonstrativ just auf die Zeiten, an denen Hegel las. Dieser mutige, aber eigensinnige Versuch, die Studenten von Hegel zu sich herüber zu ziehen, scheiterte je-

Arthur Schopenhauer (1788–1860) Anhänger der Erkenntnistheorie Kants und Begründer der Willensmetaphysik

46 Willensmetaphysik

doch kläglich. Da Schopenhauer zu einer Revision seiner Taktik nicht bereit war, zog er sich, da er durch das Erbe seines Vaters materiell unabhängig war, als Privatgelehrter zurück. Nach einer unsteten, von Reisen bestimmten Phase kehrte Schopenhauer im Jahr 1830 wegen der grassierenden Cholera, der Hegel zum Opfer fiel, Berlin den Rücken und lebte zunächst in Mannheim, ab 1833 in Frankfurt am Main. In seinen späteren Schriften befasst er sich hauptsächlich damit, sein philosophisches System zu kommentieren und zu ergänzen. In der Schrift Über den Willen in der Natur (1836) untersucht er die Bestätigungen, die seine Metaphysik durch die Naturwissenschaften erfahren hat, und die Schrift Die beiden Grundprobleme der Ethik (1841) enthält eine Ausarbeitung seiner Mitleidsethik und seiner Freiheitstheorie. Auch der zweite Band der Welt als Wille und Vorstellung (1844) bringt zahlreiche Ergänzungen und Erläuterungen seines philosophischen Systems, aber auch umstrittene Annäherungen an den Materialismus. Nach der Publikation des zweibändigen Werks Parerga und Paralipomena (1851), das neben weiteren Ergänzungen und Erläuterungen auch die Aphorismen zur Lebensweisheit enthält, begann nach drei Jahrzehnten die Wirkung seiner Philosophie. Mit Genugtuung, aber nicht ohne Selbstironie sprach der alte Schopenhauer von der beginnenden „Komödie“ seines Ruhms, die er noch erleben durfte. Mitten an der Arbeit an Ergänzungen für eine Neuauflage seiner Werke ereilte ihn am 21. September 1860 der Tod durch Herzversagen. Erkenntnistheorie im Anschluss an Kant. Die Erkenntnistheorie, die Schopen-

hauer in seiner Dissertation und im ersten Teil der Welt als Wille und Vorstellung (1818) entwickelt, ist eine sich eng an Kant anschließende Aprioritätslehre, die das sichere Wissen von der Welt darlegen soll. Wie Kant vertritt er die Auffassung, dass es erfahrungsunabhängige Erkenntnisse von der raum-zeitlichen Wirklichkeit gibt. Er akzeptiert die „kopernikanische Wende“ Kants, welche besagt, dass der menschliche Erkenntnisapparat gleichsam eine „Brille“ ist, durch die die Welt immer schon betrachtet wird. Die von uns erkannte Welt ist daher kein „Ding an sich“, sondern nur „Erscheinung“ oder „Vorstellung“. Schopenhauer vereinfacht die Kantische Lehre jedoch, indem er die apriorischen Formen auf Raum, Zeit und Kausalität reduziert. Eine wichtige Konsequenz, die Schopenhauer aus Kants Erkenntnistheorie zieht, ist die Ablehnung des Materialismus. Nach materialistischer Auffassung



Eine Rekonstruktion von Schopenhauers Aprioritätslehre versuche ich in meiner Dissertation: M. Morgenstern (1985).

Arthur Schopenhauer: Der Wille als Ding an sich 47

ist die Materie das Ding an sich, aus dem die Entstehung von Leben und Bewusstsein erklärt werden muss. Schopenhauer begreift die Materie jedoch als den Inbegriff der raum-zeitlich-kausalen Welt, d. h. als eine durch das erkennende Subjekt bedingte Erscheinung. Die Materie ist also stets Objekt für ein Subjekt und daher kein Ding an sich. „Denn ‚kein Objekt ohne Subjekt‘ ist der Satz, welcher auf immer allen Materialismus unmöglich macht.“ Mit dieser sich auf die Subjekt-Objekt-Korrelation stützenden Kritik hat er das Original der idealistischen Materialismuskritik geliefert, die vor allem im Neukantianismus große Bedeutung erlangen sollte. Die Lehre Kants blieb für Schopenhauer zeitlebens der maßgebliche Ausgangspunkt seiner Philosophie. Gleichwohl hat er in seinen späteren Jahren, vor allem im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung (1844), der kopernikanischen Wende Kants eine neue, materialistisch klingende Fassung gegeben. Unter dem Eindruck der sich entwickelnden Naturwissenschaften, insbesondere der Physiologie, vertritt er nunmehr die These, dass die apriorischen Formen (Raum, Zeit, Kausalität) zur Ausstattung des menschlichen Gehirns gehören und dass die objektive Welt daher nur ein „Gehirnphänomen“ ist. „Denn diese anschauliche und reale Welt ist offenbar ein Gehirnphänomen: daher liegt ein Widerspruch in der Annahme, dass diese auch unabhängig von allen Gehirnen, als ein solche, daseyn sollte.“ Indem er die „Welt als Gehirnphänomen“ versteht, setzt Schopenhauer das menschliche Gehirn offenbar als ein an sich bestehendes Gebilde voraus. In dieser physiologischen Kant-Deutung liegt daher, wie Interpreten immer wieder betont haben, eine Annäherung des späten Schopenhauer an den Materialismus. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass Schopenhauer sich selbst stets als Anhänger der idealistischen Erkenntnistheorie Kants verstanden hat. Der neue Weg zum Ding an sich. Das Grundproblem der Metaphysik ist für

Schopenhauer durch seinen engen Anschluss an Kants Erkenntnistheorie vorgegeben: Was ist das Ding an sich, das der Welt als Vorstellung zugrunde liegt? Ausgehend von seiner idealistischen Erkenntnistheorie nimmt Schopenhauer zunächst mit Kant an, dass das Problem des Dinges an sich weder empirisch noch apriorisch zu lösen ist. Denn erstens ist jeder Versuch, durch empirischnaturwissenschaftliche Forschung zum Ding an sich vorzudringen, zum Scheitern verurteilt, weil die raum-zeitlich-kausale Natur immer schon in den vom

 

A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 1, hg. von A. Hübscher, Wiesbaden 1972, S. 35. A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 2, S. 6.

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Subjekt vorgegebenen Formen erscheint. Die „Brille“ des Subjekts können die Naturwissenschaften nicht abwerfen. Aus dem gleichen Grunde ist aber auch zweitens der Versuch hinfällig, auf apriorischem Wege, d. h. durch Herausarbeitung der apriorischen Formen, zum Ding an sich vorzudringen. Alles Apriorische gilt eben nur für die Welt als Erscheinung. Da die Metaphysik weder empirisch-naturwissenschaftlich noch apriorisch vorgehen kann, kann sie überhaupt nicht von der objektiven Welt und ihren raum-zeitlich-kausalen Formen ausgehen. Aber neben diesem „Weg von außen“ sieht Schopenhauer noch einen anderen, offenen „Weg von innen“. Der Mensch findet sich nämlich nicht nur in der äußeren Wahrnehmung als Objekt unter Objekten, d. h. als Leib in der Natur, sondern er ist sich zugleich auf eine davon völlig verschiedene Art in der inneren Selbsterfahrung gegeben. „Die letzten Geheimnisse trägt der Mensch in seinem Innern, und dieses ist ihm am unmittelbarsten zugänglich; daher er nur hier den Schlüssel zum Räthsel der Welt zu finden und das Wesen aller Dinge an Einem Faden zu erfassen hoffen darf.“ Um das Rätsel der Welt zu lösen, muss der Mensch seinen Blick von der äußeren Natur abwenden und in sich selbst hineinschauen. Im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung (1844) hat Schopenhauer den von ihm beschrittenen „Weg von innen“ noch weiter erläutert und eindringlich gegen Kant verteidigt. Er bestreitet hier energisch, dass Metaphysik lediglich a priori verfahren dürfe. Auf apriorischem Wege gelange man in der Tat lediglich zu dem vom Intellekt vorgegebenen raum-zeitlich-kausalen Rahmen der Welt als Erscheinung. Das Ding an sich zeigt sich aber, wenn auch in den apriorischen Formen „verhüllt“, gerade in der Erfahrung, ist es doch der eigentliche „Grund“ der Erscheinungswelt. Daher darf, ja muss die Metaphysik gerade bei den Tatsachen der Erfahrung ansetzen, also empirische Erkenntnisquellen benutzen, um das in ihnen sich ausdrückende Ding an sich zu erschließen. Schopenhauer wird damit zum Vorläufer, ja Begründer der induktiv-hypo­ thetischen Metaphysik-Konzeption, wie sie im 19. Jahrhundert vor allem von Eduard von Hartmann vertreten wurde. Der Wille als Ding an sich. Schaut der Mensch nun in sich hinein, in sein nur ihm selbst unmittelbar bekanntes Seelenleben, so erlebt er sich nach Schopenhauer als triebhaftes, unvernünftiges Wollen, als ein Streben, das auf Befriedi 

A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 2, S. 198. Vgl. M. Morgenstern: Schopenhauers Begriff der Metaphysik und seine Bedeutung für die Philosophie des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für phil. Forschung, Bd. 41 1987, S. 592–612.

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gung der natürlichen Bedürfnisse gerichtet ist. Der „Wille“, von dem Schopenhauer hier als dem inneren Wesen des Menschen spricht, ist also weniger das Organ bewusster Entscheidungen als vielmehr das partiell unbewusste, triebhafte Streben nach Selbsterhaltung, also weit mehr das, was gewöhnlich als „Lebenswille“ bezeichnet wird. In diesem triebhaft-unbewussten Streben hat der Mensch das Wesen seines wahren Seins erfasst. Um auch das innere Wesen der übrigen Welt zu verstehen, gibt es nach Schopenhauer nur den Weg der Analogie. Das Wesen der Natur muss als wesensgleich mit dem eigenen Wollen gedacht werden. Indem also der subjektive Wille des Menschen auf die ganze Natur übertragen wird, gelangt man zu der metaphysischen Annahme eines kosmischen „Urwillens“ als dem Wesen der Wirklichkeit. Dieser objektiv-metaphysische Wille ist ebenfalls ein triebhaft-unbewusstes Streben nach Dasein und Wohlsein, also eine Art Urkraft oder Energie, die alles Geschehen und Leben in Gang setzt. Mit dieser metaphysischen Konzeption des „blinden“ Willens als Ding an sich glaubt Schopenhauer, Kants Rätsel des Dinges an sich gelöst zu haben. Der Wille in Natur und Mensch. Nachdem Schopenhauer den Willen als Ding

an sich herausgestellt hat, geht es ihm sodann darum zu zeigen, wie der Wille in Natur und Mensch in Erscheinung tritt. In Anknüpfung an Aristoteles geht er dabei von der Auffassung aus, dass der Wille sich auf verschiedenen Stufen der Natur manifestiert, nämlich in Materie, Pflanzen, Tieren und Menschen. In Materie und Pflanzen agiert der Wille noch gänzlich unbewusst und erreicht erst in Tier und Mensch teilweise Bewusstsein. Gewöhnlich hält Schopenhauer diese Stufen der Natur und damit zugleich alle Arten von Pflanzen und Tieren für unveränderlich, ja er betrachtet die Objektivationsstufen sogar als „Ideen“ im Sinne Platons, also als ewige Urbilder der vergänglichen Dinge. Diese Anleihe bei Platons Ideenlehre tritt in seinem späteren Denken allerdings zunehmend zurück. Einer evolutionären Sicht nähert sich Schopenhauer dagegen, wenn er die Art und Weise genauer charakterisiert, wie der Wille sich in der Natur objektiviert. Die Objektivation des Willens zeigt sich nämlich in einem ständigen Kampf der Lebewesen um Nahrung. Schopenhauer beschreibt diesen Kampf, den er gelegentlich auch als Motor der Höherentwicklung zu begreifen scheint, durchaus im Einklang mit Darwins Lehre vom „Überleben der Tüchtigsten“, wobei er besonders die damit verbundenen Leiden der Lebewesen betont. Der 

Vgl. M. Morgenstern: Schopenhauers Grundlegung der Metaphysik. In: 69. SchopenhauerJahrbuch 1988, S. 57–66.

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Wille ist eben im Grunde in allen Lebewesen derselbe, und das, was sich als „Fressen“ und „Gefressenwerden“ in der Natur zeigt, ist in Wahrheit eine „Selbstentzweiung des Willens“. Der Lebenswille ist nach Schopenhauer daher ein unvernünftiges, böses Prinzip, das für das Leid in der Welt letztlich verantwortlich ist. Dass der Lebenswille das Wesen von Natur und Mensch ausmacht, bedeutet nach Schopenhauer zunächst, dass alle Lebewesen zutiefst egoistische Wesen sind, deren Streben ursprünglich nur auf Selbsterhaltung und auf die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse gerichtet ist. Schopenhauer hat insbesondere den Egoismus des Menschen in seinen vielfältigen Erscheinungsformen beschrieben und dabei auch die verborgenen egoistischen Motive hinter gesellschaftlichen Konventionen und moralischen Normen herausgestellt. In der Gesellschaft prallen die einzelnen Egoismen aufeinander und produzieren ständig Konflikte. Ein gesellschaftliches Zusammenleben setzt nach Schopenhauer daher eine Beschränkung der egoistischen Antriebe voraus. Aber eine solche Beschränkung der Egoismen ist nur durch die Androhung von Sanktionen und Strafen möglich, also letztlich durch Appelle an das „wohlverstandene Eigeninteresse“. Als zweite Form des Lebenswillens steht neben dem Selbsterhaltungstrieb der Sexualtrieb. Schopenhauer ist der erste Philosoph, der der Sexualität eine dominante Rolle gerade auch im menschlichen Leben zugeschrieben hat. Berühmt ist das Kapitel „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung (1844), worin die Phänomene des Verliebtseins und des sexuellen Verlangens als eine Täuschung des Individuums gedeutet werden, deren sich die Natur zur Erhaltung der Art bedient. Damit nimmt Schopenhauer eine Deutung der modernen Biologie vorweg. Pessimistisches Menschenbild. Indem Schopenhauer den triebhaften Lebens-

willen zur dominierenden Kraft im Menschen erklärt, vollzieht er einen Bruch mit dem klassischen Menschenbild, dem zufolge der Mensch als „vernünftiges Lebewesen“ kraft seiner Vernunft seine natürlichen Triebe beherrscht und lenkt. Schopenhauer leugnet zwar nicht, dass der Intellekt mit seiner Denkfähigkeit das spezifische Merkmal des Menschen ist, das ihn vom Tier unterscheidet, aber er sieht nicht im Intellekt, sondern im Willen die herrschende Instanz im Menschen. Denn es ist nicht die Vernunft oder der Intellekt, der die Richtung des menschlichen Handelns und Strebens bestimmt, sondern der Wille. Der Intellekt ist dagegen nur ein Instrument des Willens. Die Aufgabe des Intellekts besteht bloß darin, dem Willen die Mittel zur Realisierung seiner vorgegebenen Wünsche und Bedürfnisse bereitzustellen. Auf die Wünsche und Bedürfnisse

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selbst hat der Intellekt dagegen keinen Einfluß. Hier knüpft Schopenhauer an die umstrittene These David Humes von der Vernunft als der „Sklavin der Leidenschaften“ an, doch unterscheidet er sich von Hume in diesem Kontext vor allem dadurch, dass er lediglich den Egoismus als Antrieb anerkennt und diesen in grell-pessimistischen Farben ausmalt. Indem Schopenhauer die Macht des Lebenswillens beschreibt, gelangt er zu bemerkenswerten psychologischen Hypothesen. So erklärt er etwa das Phänomen des Wahnsinns als eine Schutzmaßnahme des Lebens gegen unerträgliche Erfahrungen und er entdeckt den psychologischen Mechanismus der „Verdrängung“. Die ganze Art, wie Schopenhauer die Macht des Trieblebens herausarbeitet, macht ihn zum wichtigsten Vorläufer der Psychoanalyse. Leben als Leiden. Wie die Selbstentzweiung des Willens in der Natur stets Leid

produziert, so ist auch das Leben der Menschen ständig mit Leiden verbunden. Alles Leben ist daher Leiden, wie Schopenhauer in bewusster Anknüpfung an den Buddhismus sagt. Das natürliche Streben der Menschen nach Glück ist zum Scheitern verurteilt, weil die Befriedigung von Bedürfnissen im Grunde nur Leiden beseitigt, aber kein positives Glück hervorbringt. Der junge Schopenhauer behauptet besonders hartnäckig, dass Glück und Lust nur im Abbau von Leiden und Schmerzen bestehen. Die Suche nach Glück ist aber auch deshalb illusorisch, da auf die Befriedigung eines Wunsches sofort ein neuer Wunsch entsteht. Kein Ziel hält, was es verspricht, der Mensch wird von seinen Bedürfnissen und Wünschen immer genarrt. Das Streben nach Bedürfnisbefriedigung und Wunscherfüllung ist daher kein Weg zum Glück, vielmehr liegt das dem Menschen erreichbare „Glück“ im Verzicht auf Wollen und Streben, also in einem Gemütszustand, der von Wünschen und Bedürfnissen frei ist. Das Wort aus Goethes Faust „Es irrt der Mensch, solang’ er strebt“ wäre ein passendes Motto für Schopenhauers pessimistischer Glückslehre. Diese schroffe Philosophie des Un-Glücks hat Schopenhauer in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit (1851) etwas gemildert, indem er die Glücksmomente, die mit der Befriedigung von Bedürfnissen und dem Betätigen der eigenen Kräfte verbunden sind, nicht mehr nur negativ als Verschwinden von Leid deutet, sondern ihnen einen positiven Erlebniswert zuspricht. Dennoch bleibt auch für die mildere pessimistische Altersweisheit die Vermeidung von Unglück und Leid wichtiger als das Streben nach Glückserfahrungen.



Vgl. M. Kaiser-El-Safti (1987); G. Gödde (1999).

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Kritik der theologischen Metaphysik. Schopenhauers pessimistische Lebensauf-

fassung ist auch von zentraler Bedeutung für seine kritische Einstellung zur klassischen theologischen Metaphysik. Dabei ergeben sich einige wichtige Einwände bereits als Konsequenzen aus der Aprioritätslehre. Dazu gehören insbesondere die These der raum-zeitlichen Unendlichkeit der Welt und die These der Allgemeingültigkeit des Kausalprinzips. Aus der Annahme der Unendlichkeit der Welt folgt für ihn, dass die Welt keinen Anfang hat, und dies wiederum bedeutet, dass die Welt auch nicht durch eine Schöpfung Gottes zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit entstanden sein kann. Aus dem Prinzip der Kausalität folgt nach Schopenhauer, dass die Kette der Ursachen ebenfalls endlos ist. Weil der Verstand bei allem Erkennen die Kategorie der Kausalität von vornherein schon mitbringt, ist es ausgeschlossen, dass die Suche nach Ursachen einmal an einen absoluten Anfang gelangt. Der Versuch des kosmologischen Gottesbeweises, Gott als erste Ursache der Welt zu erweisen, läuft daher nach Schopenhauer auf eine willkürliche Suspendierung der Kategorie der Kausalität hinaus. Die Annahmen eines zeitlichen Anfangs und einer ersten ­Ursache der Welt sind daher mit den Prinzipien der Aprioritätslehre unvereinbar. Schopenhauers Kritik der theologischen Metaphysik schlägt noch deutlich schärfere Töne an, sobald er auf das Leiden und das Elend der Welt zu sprechen kommt. Die Tatsache, dass das Leben mit Leiden verbunden ist und dass es Übel und Böses in der Welt gibt, ist für ihn das entscheidende Argument, um zum Atheismus überzugehen. Die Vorstellung von Gott als einem vollkommenen Wesen, das allwissend, allmächtig und allgütig ist, lässt sich nach seiner Ansicht mit der Tatsache des Leidens nicht vereinbaren. Die Welt kann keine Schöpfung eines vollkommenen Wesens sein. Alle Versuche, das Dasein Gottes mit dem Übel und dem Bösen in der Welt zu vereinbaren, wie es vor allem Leibniz in seiner „Theodizee“ unternommen hatte, sind für ihn nur Sophismen, ja im Grunde ein Hohn auf die Leiden der Menschheit. In keinem anderen Zusammenhang wird Schopenhauer so polemisch und sarkastisch wie an den Stellen, wo er den metaphysischen Optimismus von der „besten aller möglichen Welten“ geißelt. Wenngleich Schopenhauer wegen der Tatsache des Leidens ein entschiedener Verfechter des Atheismus ist, ist seine Willensmetaphysik doch keineswegs irreligiös. Sie erhält vielmehr ausgesprochen religiöse Züge, sobald Schopenhauer sich der Frage der endgültigen Aufhebung des Leidens und den klassischen Problemen von Freiheit und Unsterblichkeit zuwendet. In diesem Kontext nimmt sein Denken geradezu eine Wende zur Mystik.

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Determination des Handelns und „höhere“ Freiheit. Die mystische Wendung,

die Schopenhauer dem Freiheitsproblem gibt, wird besonders deutlich in seiner Schrift Über die Freiheit des menschlichen Willens (1841). Schopenhauer argumentiert hier zunächst erkenntnistheoretisch für die strikte Geltung des Kausalprinzips. Wie alle Vorgänge der Natur determiniert sind, so ist auch das menschliche Handeln durch Charakter und Umstände eindeutig festgelegt. Es gibt also nur die Freiheit, tun zu können, was man will, also Handlungsfreiheit; aber es gibt keine Freiheit in einer Situation so oder anders zu entscheiden, also keine Willensfreiheit. Diesem Determinismus wird am Ende der Schrift jedoch eine „höhere Ansicht“ entgegengesetzt. Dabei geht es Schopenhauer darum eine Ansicht zu entwickeln, die Freiheit und Verantwortlichkeit gewährleistet. Um sich als frei und verantwortlich zu denken, muss sich der Mensch, da sein Handeln ja determiniert ist, in seinem „Sein“ als frei betrachten, und das heißt nach Schopenhauer, dass man den Charakter als Resultat einer freien Wahl denken muss. Mit dieser Idee, die offenbar auf Platons Mythos von der vorgeburtlichen Wahl des Charakters zurückgeht, geht Schopenhauers Freiheitslehre in Mystik über. Was es nämlich heißen soll, den eigenen Charakter frei zu wählen, wenn man nicht die Lehre von der Seelenwanderung zugrunde legt, bleibt unverständlich. Unvergänglichkeit des Willens und Unsterblichkeit. Eine mystische Wendung

findet sich auch in Schopenhauers Auffassung von Unsterblichkeit. Mit dieser Frage hat er sich intensiv auseinandergesetzt, vor allem in dem Kapitel „Über den Tod und die Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich“ im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung (1844). Schopenhauer zieht hier die Folgerungen aus seiner Auffassung vom Willen als Ding an sich. Da der Wille, aber nicht der Intellekt, das unvergängliche Prinzip im Menschen ist, ist die Person mit ihrem individuellen Bewusstsein vergänglich, während der Wille als unpersönliches Prinzip sich immer wieder neu in anderen Lebewesen verwirklicht. Schopenhauer kennt daher eine Form von Unsterblichkeit, aber es ist eine Unvergänglichkeit des Lebenswillens, nicht jedoch eine Unsterblichkeit der individuellen Seele. Seine Auffassung hat mehr Ähnlichkeit mit der materialistischen Auffassung von der Unvergänglichkeit der Materie oder Energie als mit der Seelenwanderungslehre. Gleichwohl bietet Schopenhauer seine Auffassung als Trost



Vgl. M. Morgenstern: Die metaphysischen Wurzeln der Moral bei Schopenhauer. In: Dieter Birnbacher / Andreas Lorenz / Leon Miodonski (Hg.): Schopenhauer im Kontext. Deutschpolnisches Schopenhauer-Symposion 2000, Würzburg 2002, S. 71–82.

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für die Menschen an, die den Schritt zur Verneinung des Willens nicht getan haben. Eine andere Form von Unsterblichkeit entwickelt Schopenhauer jedoch im Kontext seiner Lehre von der Verneinung des Willens. Eine dauerhafte Erlösung vom Leiden gibt es für ihn nur durch die Überwindung des Egoismus in der Willensverneinung, deren maßgebliche Form er in der Askese findet. Im Gegensatz zum moralischen Handeln aus Mitleid, das zwar auch eine Form von Willensvereinung darstellt, aber den Sorgen und Leiden der Welt noch zugewandt bleibt, ist Askese ein weltüberwindendes Verhalten. Der Asket überwindet den Willen und erreicht eine von den Sorgen der Welt ungetrübte Gelassenheit und Heiterkeit. Im Asketen hat sich also der Intellekt endgültig vom Willen emanzipiert. Das Erreichen der Willensverneinung deutet Schopenhauer in Anlehnung an den Buddhismus als Übergang ins Nichts („Nirwana“), womit jedoch ein Zustand der Erlösung gemeint ist, für den uns die Begriffe fehlen. Am ehesten darf man sich dies nach Schopenhauer als ein Ausbrechen aus dem Kreislauf der Wiedergeburten vorstellen, doch betont er ausdrücklich, dass diese religiöse Vorstellung lediglich Bild und Gleichnis für etwas gänzlich Unvorstellbares sei. Die mit der Willensvereinung zu erreichende Erlösung ist eine somit mystische Form von Unsterblichkeit. Erlösungslehre. Schopenhauers Willensmetaphysik und Pessimismus enden in

einer mystischen Erlösungslehre, deren Ähnlichkeit mit ostasiatischen Religionen, insbesondere mit dem Buddhismus, unverkennbar ist. Wie der Buddhismus deutet Schopenhauer alles Leben als Leiden, und wie dieser lehrt er die Einheit alles Lebendigen. Auch in der Auffassung, dass die menschliche Erkenntnis lediglich eine Oberflächensicht der Welt liefert, ja dass die Sinnenwelt eine Täuschung („Maya“) ist, stimmt Schopenhauer mit dem Buddhismus im Wesentlichen überein. Vor allem aber hat er die Lehre von der Willensverneinung ausdrücklich mit Bezug auf die buddhistische Lehre vom Übergang ins „Nirwana“ formuliert. Schopenhauer selbst war kein Asket und beanspruchte auch nicht, einen Blick in den jenseitigen Zustand der Erlösung erreicht zu haben. Aber er bewunderte die Asketen und Mystiker aller Religionen, die sich von der Welt losgesagt hatten, und er freute sich darüber, dass seine Philosophie auch als „Religion“ wahrgenommen wurde. Wirkung. Schopenhauer hat die moderne Philosophie und Metaphysik stark be-

einflusst. Die Wirkung seiner Philosophie begann zwar erst nach drei Jahrzehnten Verzögerung, doch wurde sie dann zu einer der großen geistigen Mächte

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in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Maßgeblich geprägt hat Schopenhauer die Tradition der Willensmetaphysik, die von Eduard von Hartmann über Nietzsche bis zu Ludwig Klages führt. Vor allem der Denkweg Nietzsches ist ohne Bezug zur Philosophie Schopenhauers völlig unverständlich. Wie Nietzsche hat Schopenhauer die Psychoanalyse Freuds und die moderne Tiefenpsychologie stark beeinflusst. Aber auch andere philosophische Strömungen haben seine Ideen aufgenommen. So gehört Schopenhauer mit seiner im Namen Kants gegen den deutschen Idealismus geführten Polemik auch zu den Gründungsvätern des Neukantianismus. Zu den Denkern anderer Strömungen, die von ihm wichtige Impulse erhalten haben, gehören etwa Bergson, Wittgenstein und Scheler. Schopenhauer hat schließlich auch einen beträchtlichen Einfluss auf das moderne Geistesleben überhaupt gehabt. Besonders Künstler und Schriftsteller wie Richard Wagner, Leo Tolstoi und Thomas Mann haben sich stark von ihm angezogen gefühlt. Würdigung. Schopenhauers metaphysische Grundthese vom triebhaften, unbe-

wussten Willen war zwar von der Romantik und ihrer Vorliebe für das Dunkle und Abgründige inspiriert und sie war in gewisser Weise sogar von Schelling vorweggenommen worden, doch erst Schopenhauer hat aus dieser Idee ein umfassendes philosophisches System geschaffen. Mit seiner pessimistischen Metaphysik beginnt ein folgenreicher Umbruch im metaphysischen Denken der Moderne. Indem er die Dominanz und destruktive Potenz der triebhaft-irrationalen Kräfte in Natur und Mensch herausstellt und zugleich ihre teilweise unbewusste Rolle betont, hat er das moderne tiefenpsychologische Bild des Menschen begründet. Trotz mancher Übertreibungen und gelegentlicher sophistischer Anwandlungen, wenn er etwa im Interesse des Systems hartnäckig jedes positive Erleben von Glück und Lust leugnet, hat er insgesamt zu einer realistischen Weltsicht beigetragen, die von einer materialistischen Position nicht so weit entfernt ist, als es zunächst scheinen mag. Zugleich hat Schopenhauer in seinen Überlegungen zu den letzten Fragen ganz andere Töne angeschlagen. In diesem Kontext erkennt er nicht nur eine „höhere“ Form von Willensfreiheit an, sondern er vertritt in der Lehre von der Willensverneinung eine Erlösungslehre, die nur als eine mystische Version der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele verstanden werden kann. Die Erlösungslehre ist eine mystische Theologie ohne Gott. Damit zeichnet sich Schopenhauers Metaphysik insgesamt durch eine eigenartige Ambivalenz aus: Je nach Gesichtspunkt oder Zusammenhang erscheint sie einmal als eine pessimistische Ontologie und Anthropologie, ein andermal als eine religiöse Metaphysik und Erlösungslehre.

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2. Eduard von Hartmann: Das Unbewusste als Wille und Geist Anhänger Schopenhauers. Schopenhauers Philosophie fand ab der Jahrhun-

dertmitte begeisterte Anhänger und einige eigenwillige Fortführungen. Zu den glühenden Anhängern seiner Philosophie gehörten Julius Frauenstädt (1813– 1879), der populäre Darstellungen von Schopenhauers Philosophie lieferte, und Paul Deussen (1845–1919), der Jugendfreund Nietzsches, der 1912 die Schopenhauer-Gesellschaft begründete. Außerdem haben einige Privatgelehrte an Schopenhauers pessimistische Metaphysik angeknüpft und sie je auf verschiedene Art zu radikalisieren versucht. Dazu gehört zunächst Julius Bahnsen (1830–1881), der Schopenhauers Diagnose vom Leben als Leiden teilte, aber jeden Ausweg aus dem Leiden leugnete und stattdessen das „Tragische als Weltgesetz“ betrachtete. Philipp Mainländer (1841–1876) interpretierte in Anlehnung an das physikalische Gesetz der Entropie die gesamte Weltentwicklung als einen Verfallsprozess ins Nichts und lieferte zudem eine Rechtfertigung des Selbstmords, den er nach Fertigstellung seines Werks Philosophie der Erlösung (ersch. 1879) dann tatsächlich vollzog. Die bedeutendste Fortführung von Schopenhauers Metaphysik stammt jedoch von Eduard von Hartmann. Der Philosoph des Unbewussten. Während Schopenhauer sein philosophisches

System als 30-Jähriger vorlegte, aber ein Leben lang auf Erfolg und Anerkennung warten musste, erreichte Eduard von Hartmann bereits in jungen Jahren großen Erfolg. Mit seiner Auffassung vom Unbewussten als dem verborgenen Weltgrund hinter Natur und Geist legte Hartmann eine Metaphysik vor, die einerseits in Anknüpfung an Hegel und Schelling die Weltentwicklung als sinnvolle, zielbestimmte Entwicklung begreift, aber andererseits im Rückgriff auf Schopenhauer eine pessimistische Weltdeutung vornimmt, wonach alles Leben leidvoll und erlösungsbedürftig ist. Hartmann verknüpfte damit aber nicht nur Optimismus und Pessimismus, sondern er beanspruchte zugleich, sein metaphysisches System durch Analyse und Verallgemeinerungen der empirischen Wissenschaften begründet zu haben. Mit dieser Metaphysikkonzeption, die zugleich das wissenschaftliche Gewissen und das religiöse Bedürfnis zufrieden stellen will, traf Hartmann den Nerv der Zeit. Obwohl er später zu fast allen Gebieten 

Zu Julius Bahnsen und Philipp Mainländer vgl. R. Reschika (2001) S. 134–141, 142–159.

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der Philosophie publizierte, blieb er zeitlebens der „Philosoph des Unbewussten“. Leben und Werk. Eduard von Hartmann wurde am 23. Februar 1842 als Sohn

eines Offiziers in Berlin geboren. Nach dem Abitur wählte er 1858 ebenfalls die militärische Laufbahn, doch musste er nach einer Knieverletzung, die ihn zeitlebens behinderte, das Militär verlassen. Fortan widmete er sich der Malerei und Musik und schließlich der Philosophie. Von 1864 bis 1867 schrieb er die Philosophie des Unbewussten, die gleich bei ihrem Erscheinen im Jahr 1869 großes Aufsehen erregte. Eine Berufung zum Philosophieprofessor lehnte er ab, um sich ganz auf die Ausarbeitung seines philosophischen Systems zu konzentrieren. Außer dem Werk Philosophie des Unbewussten, das Hartmann immer mehr erweiterte, bis es schließlich bei der 11. Auflage im Jahr 1904 drei Bände mit insgesamt 1600 Seiten umfasste, veröffentlichte er in den folgenden Jahren Schriften zu metaphysischen und erkenntnistheoretischen, aber auch zu ethischen, politischen, ästhetischen und religionsphilosophischen Themen. Eine erkenntnistheoretische Begründung seiner Metaphysik leisten die Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus (1875) und die Kategorienlehre (1896). Metaphysische und naturphilosophische Fragen behandeln die Geschichte der Metaphysik (2 Bde, 1899/1900), Das Weltbild der modernen Physik (1902) und Das Problem des Lebens (1906). Schließlich verfasste Hartmann noch eine achtbändige (!) „Einführung“ in sein philosophisches Werk unter dem Titel System der Philosophie im Grundriss (1906–1909). Hartmann verbrachtes sein ganzes Leben in Berlin, zurückgezogen im Kreis seiner Familie. Er war zweimal verheiratet. Beide Ehefrauen unterstützten ihn in seiner philosophischen Arbeit und verfassten jeweils eigene Schriften, um die philosophische Position ihres Mannes zu verteidigen. Hartmann starb am 5. Juni 1906. Die Möglichkeit einer induktiven Metaphysik. Den Fehler der traditionellen Metaphysik sieht Hartmann darin, auf apriorischem Wege zu den metaphysischen Prinzipien der Welt gelangen zu wollen. Eine moderne Metaphysik kann aber nicht länger die Ergebnisse und Fortschritte der empirischen Wissenschaften ignorieren, sondern sie muss von deren Erkenntnissen ausgehen und von ihnen aus durch schrittweise Verallgemeinerungen zu den metaphysischen Prinzipien aufsteigen. Der Untertitel von Hartmanns Hauptwerk lautet daher „spekulative Resultate nach induktiv-naturwissenschaftlicher Methode“. Die Metaphysikkritik Kants ist nach Hartmann kein unüberwindliches Hindernis für eine induktive Metaphysik. Wie Schopenhauer kritisiert er Kants

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Voraussetzung, dass Metaphysik, weil sie über die Erfahrung hinausgehen wolle, nicht bei der Erfahrung ansetzen dürfe. Kant setzt nach Hartmann das Verständnis von apriorischer Metaphysik als selbstverständlich voraus und übersieht damit die Möglichkeit einer empirisch-induktiven Metaphysik. Hartmann hat seine Konzeption induktiver Metaphysik auch durch eine Analyse der Leistungs­fähigkeit von deduktiver und induktiver Methode zu begründen versucht. Während die induktive Methode es erlaubt, vom Konkreten und Gegebenen ausgehend, zu den Prinzipien schrittweise emporzusteigen, besteht der Grundmangel der deduktiven Methode darin, dass sie ihre Grundprinzipien nicht begründen kann, sondern sie irgendeiner höheren Einsicht oder „Intuition“ überlassen muss. Darüber hinaus hat ein deduktives System den Nachteil, nur als Ganzes akzeptiert oder abgelehnt werden zu können, während man einem induktiv aufgebauten System bis zu einem bestimmten Punkt folgen kann, um von da ab einen anderen Weg einzuschlagen. Induktive Metaphysik erweist sich damit als empirisch, induktiv und hypo­thetisch: sie ist empirisch, insofern sie von Erfahrung ausgeht; sie ist induktiv, insofern sie die Erfahrung überschreitet; und sie ist hypothetisch, insofern sie durch dieses Überschreiten bloß wahrscheinliche Geltung beanspruchen kann. Realismus als Voraussetzung der Metaphysik. Da die Metaphysik auf der Grund-

lage der Wissenschaften die metaphysischen Prinzipien der Realität „induktiv erschließen“ soll, legt Hartmann gegen alle Formen des Idealismus besonderen Nachdruck auf den Nachweis der Erkennbarkeit der Realität. Der subjektive Idealismus Berkeleys, der nur die gegebenen Vorstellungen als wirklich anerkennt, und der transzendentale Idealismus Kants, der wegen der subjektiven Bedingtheit der Kategorien und Anschauungsformen das Ding an sich für unerkennbar hält, haben nach Hartmann den grundlegenden Mangel gemeinsam, nicht mit der alltäglichen und wissenschaftlichen Auffassung von Erkenntnis vereinbar zu sein. Freilich ist der naive Realismus, der die wahrgenommene Welt für ein adäquates Abbild der Realität an sich hält, durch die philosophische und wissenschaftliche Erkenntniskritik längst überholt. Schon die antike Erkenntnistheorie zeigte, dass die sinnlichen Qualitäten der Wahrnehmung wie Ge-

Eduard von Hartmann (1842–1906) Induktiver Metaphysiker und Philosoph des Unbewussten

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schmack und Geruch keine Eigenschaften der Dinge, sondern lediglich Wirkungen der Dinge auf die Sinnesorgane sind. Sodann hat die neuere Physik nach Hartmann gezeigt, dass auch die wahrgenommenen Qualitäten Schall, Wärme und Licht (Farben) in molekularen Bewegungszuständen bestehen, und die Physiologie der Sinnesorgane hat nachgewiesen, dass die Sinnesempfindungen in bestimmten Teilen des Gehirns zu den sinnlich erlebten Qualitäten verarbeitet werden. Die Konsequenz dieser verschiedenen Kritiken sieht Hartmann aber nicht in der Preisgabe des Realismus, sondern im Übergang zu einem kritischen (oder „transzendentalen“) Realismus. Als Merkmale der Realität an sich müssen insbesondere alle Kategorien anerkannt werden, die bei der Erklärung der Wahrnehmung vorausgesetzt werden, nämlich Raum, Zeit, Kausalität und Substanz. Erkennen ist damit nach Hartmann zwar kein völlig getreues Abbild der Realität, aber doch eine Repräsentation der Realität im Bewusstsein, die ein partiell zutreffendes Bild der Realität liefert. Die metaphysischen Grundprinzipien der Wissenschaften. Die ersten Schritte

der Metaphysik bestehen nach Hartmann darin, die Grundprinzipien der empirischen Wissenschaften herauszuarbeiten. Ausgangspunkt sind damit einerseits Physik und Biologie, die sich mit der objektiven Sphäre der physischen Natur befassen, und andererseits die Psychologie, die es mit der subjektiven Sphäre des Bewusstseins zu tun hat. In der Physik werden alle Dinge letztlich durch Bewegungen von Atomen erklärt, wobei Kräfte als Ursachen der Bewegungen angenommen werden. Naturkräfte sind damit für die Physik die letzte erklärende Instanz. In der Biologie besteht das grundlegende Phänomen nach Hartmann in der Zweckmäßigkeit der organischen Natur. Gegen die verbreitete mechanistische Erklärung organischer Funktionen setzt er die vitalistische These, dass Entstehung und Funktion von Organismen nur durch nicht-mechanistische, organisierende Kräfte erklärt werden können. Die Grundprinzipien der Psychologie werden nach Hartmann erst sichtbar, wenn die verfehlte Gleichsetzung von Psychischem und Bewusstsein preisgegeben wird. Hartmann versucht daher zu zeigen, dass hinter psychischen Phänomenen wie Bewusstsein, Gefühl und Gedächtnis unbewusste Kräfte angenommen werden müssen. Wie die Physik und Biologie stößt damit auch die Psychologie auf Kräfte als Grundprinzipien, die sie selber nicht mehr erklären kann. Die metaphysische Hypothese des Unbewussten. Die nächste Aufgabe der Me-

taphysik besteht nach Hartmann darin, weiteren Aufschluss über die Kräfte zu erlangen. Die einzige Möglichkeit, das Wesen der Kraft zu begreifen, sieht er in

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dem von Schopenhauer gewiesenen Weg, die Kräfte in Analogie zum menschlichen Willen zu verstehen. Wie Schopenhauer sagt er daher, dass ein triebhaftes Wollen das eigentliche oder substantiell Wirkliche ist. Nun ist das Wollen aber, wie die Analyse der Biologie gezeigt hat, kein rein blindes Wollen, sondern ein auf Ziele angelegtes Wollen. Um die Finalität der organischen Natur metaphysisch verständlich zu machen, muss neben dem Willen ein zweites, geistiges Prinzip angenommen werden, das Hartmann als „Geist“ oder als „Idee“ bezeichnet. Der Geist muss dabei, im Gegensatz zum aktiven, dynamischen Willen, als ein ursprünglich passives, ohnmächtiges Prinzip gedacht werden. Die ganze Funktion des Geistes besteht darin, den unermüdlich tätigen, aber an sich blinden Willen auf Ziele hinzulenken.10 Doch obwohl Hartmann damit Schopenhauers „Willen“ und Hegels „Geist“ zum Wesen der Welt rechnet, vertritt er doch keinen metaphysischen Dualismus von Wille und Geist als selbständiger Prinzipien, sondern er gelangt zu einer „Synthese“ von Hegel und Schopenhauer, indem er im Rückgriff auf Spinoza Wille und Geist als die beiden Erscheinungsformen oder „Attribute“ einer einzigen Substanz fasst. Und diese eine Substanz bezeichnet er als das „Unbewusste“. In dieser metaphysischen Konzeption ist zunächst die Auffassung enthalten, dass das Unbewusste als final wirkende Kraft schon in der Natur tätig ist, bevor es im Menschen zum Selbstbewusstsein gelangt. Weiterhin steckt darin die These des Panpsychismus, dass jedes materielle Objekt auch eine psychische Innenseite hat, die aber erst ab einer gewissen Entwicklungsstufe mit Bewusstsein verknüpft ist. Und schließlich erweist sich Hartmanns metaphysisches System, indem es das Unbewusste auch als final steuernde Vernunft begreift, als ein teleologisches Weltbild, dem zufolge das gesamte kosmische Geschehen auf einen Endzweck zuläuft, von dem alle Einzelwesen den Sinn ihres Daseins erhalten. Hartmann will damit die kausale Determination der Natur zwar nicht aufheben, aber er ordnet sie der finalen Determination unter. Ähnlich wie Leibniz behauptet er, dass die kausalen (oder mechanischen) Gesetze der Natur die besten Mittel sind, mit deren Hilfe das Unbewusste seine Ziele verwirklichen kann.11 Ein solches teleologisches Weltbild fordert nach Hartmann zuletzt auch die Anerkennung der Endlichkeit der Welt in der Zeit. Da die Welt ein Ziel hat, muss sie auch einen Anfang haben. Anfang und Ende der Welt haben damit den Charakter eines kosmischen Dramas: Die Welt entstand, als das Wollen 10 Zu der darin enthaltenen Kritik Hartmanns an Schopenhauers Metaphysik vgl. J.-C. Wolf (2006a) S. 99 ff. 11 Zur Kritik an Hartmanns Versuch, Kausalität und Teleologie zu vereinbaren, vgl. J.-C. Wolf (2006a) S. 17, 152 ff.

Eduard von Hartmann: Das Unbewusste als Wille und Geist 61

sich gleichsam vom Urgrund losriss und sich in der Welt zu realisieren begann. Danach wurde das Wollen vom Geist in Dienst genommen und auf ein Weltziel hingelenkt. Während der teleologische Zug von Hartmanns System bei Hegel wurzelt, macht sich seine Orientierung an Schopenhauer bei der Vorstellung vom Weltziel geltend. Obgleich Hartmann mit Hegel den Weltprozess als die zunehmende Entfaltung und Bewusstwerdung des Unbewussten begreift, teilt er mit Schopenhauer den Pessimismus, dass Leben stets mit Leid verbunden ist und dass die Welt daher besser nicht wäre. Diesen Pessimismus verbindet er aber mit einer optimistischen Auffassung von Kultur. Die Geschichte ist ein Fortschritt zu mehr Humanität und muss daher nach Kräften unterstützt werden, um das Leiden zu lindern. Anders als Schopenhauer lehnt er eine individuelle Willensvereinung mit Askese und mystischer Weltflucht ausdrücklich ab, sondern fordert im Gegenteil ein humanitäres Engagement. Der Zweck der Kultur-, ja der ganzen kosmischen Entwicklung bleibt die Welterlösung vom Leiden. Allerdings vermag Hartmann keine klare Vorstellung davon zu geben, wie ein universaler kosmischer Akt der Welt- und Willensaufhebung aussehen könnte. Wirkung. Obwohl Eduard von Hartmann mit seiner Philosophie des Unbewussten

(1869) eine Zeitlang geradezu Modephilosoph war und großen Einfluss auf die philosophisch interessierte deutsche Öffentlichkeit hatte, hat er, anders als Schopenhauer und Nietzsche, die weitere philosophische Entwicklung insgesamt doch weniger beeinflusst. Dennoch hat seine Philosophie des Organischen dem modernen Vitalismus, etwa bei Hans Driesch, wichtige Impulse gegeben, und als Erkenntnistheoretiker spielte Hartmann auch eine wichtige Rolle bei den zu Jahrhundertbeginn auftretenden Bemühungen um einen erkenntnistheoretischen Realismus, z. B. bei Oswald Külpe und Nicolai Hartmann. Als Metaphysiker des Unbewussten wurde Eduard von Hartmann von Friedrich Nietzsche rezipiert, doch hat Nietzsche seinen Pessimismus und seine Erlösungslehre entschieden zurückgewiesen. Eine bedeutende Wirkung zeigt die Metaphysik Hartmanns dagegen in Max Schelers Metaphysik des Geistes mit ihrem Antagonismus von Geist und Trieb. Würdigung. Hartmann hat ein beeindruckendes philosophisches Werk geschaf-

fen, das durch klare systematische und philosophiegeschichtliche Analysen, aber auch durch gewagte Spekulationen gekennzeichnet ist. Seine metaphysische Grundposition, die Wille und Geist als Attribute des unbewussten Weltgrundes begreift, hat philosophiegeschichtlich das Verdienst, deutlich gemacht zu haben, dass eine Welt- und Willensverneinung, wie Schopenhauer sie denkt, auf der

62 Willensmetaphysik

Basis des Willens als alleinigem metaphysischem Prinzip kaum zu erklären ist. In systematischer Hinsicht enthält Hartmanns Metaphysik trotz des von ihm beanspruchten induktiv-naturwissenschaftlichen Charakters, verschiedene Konzepte wie Panpsychismus und Teleologie, die in den modernen Wissenschaften praktisch keine Rolle mehr spielen. Auch wenn Hartmann damit offenbar der spiritualistisch-teleologischen Tradition verhaftet bleibt, hat er doch der induktiv-hypothetischen Metaphysik und dem Begriff des Unbewussten den Weg geebnet.

3. Friedrich Nietzsche: Wille zur Macht und metaphysische Hinterwelten Wahrheitssucher und Sinnsucher. Friedrich Nietzsche ist eine schillernde, faszi-

nierende Gestalt. Er war ein Denker, dessen Bemühungen um Wahrheit und Weisheit im Wahnsinn endeten und der sich mit seinen Aufsehen erregenden Lehren von der „Umwertung aller Werte“ und vom „Antichrist“ bewusst zum Antipoden seines Zeitalters stilisierte. Nietzsches Philosophie ist auch deshalb von einer eigentümlichen Anziehungskraft, weil in ihr die großen metaphysischen Fragen scharfsinnig und illusionslos aufgerollt werden. Sie zeichnet sich aber auch durch Unklarheiten und Vieldeutigkeiten aus, weswegen sich ganz verschiedene philosophische Strömungen von der Lebensphilosophie bis zur Postmoderne auf Nietzsche als ihren Vorläufer berufen. Seine Lehren vom „Willen zur Macht“ und vom „Übermenschen“ lassen zudem Deutungen zu, die ihn als „Protonazi“ einzuordnen erlauben. Gerade Nietzsches Vereinnahmung durch die Nazis macht deutlich, dass seine Philosophie ein hochexplosives Gemisch von Ideen ist. Nietzsches Verhältnis zur Metaphysik ist durchaus ambivalent. Einerseits vertritt er eine radikale Metaphysikkritik, die nicht bloß die religiöse, sondern nahezu jede Form von Metaphysik als illusionäres Denken kritisiert, andererseits ist er jedoch selbst Metaphysiker, der im Anschluss an Schopenhauer eine bestimmte Form von Willensmetaphysik vertritt. Nietzsche ist also sowohl ein leidenschaftlicher Wahrheitssucher, der sich gegen die falschen Versprechungen und Illusionen der traditionellen Metaphysik und Religion entschieden zur Wehr setzt, als auch ein leidenschaftlicher Sinnsucher, der die Frage zu beantworten versucht, wie ein sinnvolles Leben in einer Welt ohne Gott möglich ist. Nietzsche hat kein philosophisches System ausgearbeitet, sondern in seinen Schriften hauptsächlich Sammlungen von Ideen und Reflexionen vorgelegt. Seine Gedanken kreisen meist um einige zentrale Themen, doch scheinen sie

Friedrich Nietzsche: Wille zur Macht und metaphysische Hinterwelten 63

sich nicht selten zu widersprechen. Auch die aphoristische Form seiner Schriften trägt dazu bei, dass Nietzsche als systematischer Philosoph nicht leicht zu fassen ist. Dennoch hat seine Philosophie einen systematischen Grundzug, der sich gerade in seinen Auseinandersetzungen mit metaphysischen Fragen deutlich zeigt. Leben und Werk. Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 als Pfarrerssohn in dem

kleinen Dorf Röcken südlich von Leipzig geboren. Nachdem sein Vater 1849 infolge einer Geisteskrankheit früh gestorben war, wuchs der Junge bei Mutter, Schwester und zwei Tanten auf. Er besuchte die Internatschule in Pforta und studierte danach klassische Philologie in Bonn und Leipzig. Während seiner Leipziger Studienzeit entdeckte er die Philosophie Schopenhauers, dessen Metaphysik und Pessimismus ihn tief beeindruckten. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung wurde er bereits 1869, noch bevor er eine Doktorprüfung abgelegt hatte, zum Professor für klassische Philologie nach Basel berufen. Während des Deutsch-Französischen Krieges (1870–71) leistete er, obwohl inzwischen Schweizer Staatsbürger, freiwillig Kriegsdienst als Sanitäter, bis er einen psychophysischen Zusammenbruch erlitt. Nach seiner Rückkehr nach Basel schrieb er neben seiner Vorlesungstätigkeit sein erstes Buch Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872). Mit dieser Schrift, die unter dem Einfluss von Schopenhauers Metaphysik eine neue Deutung der griechischen Kultur begründet und die Musik Richard Wagners als Höhepunkt moderner Kunst feiert, manövrierte er sich in eine akademische Außenseiterrolle, die er zeitlebens nicht mehr loswurde. Große Anerkennung fand er dagegen bei Wagner selbst, mit dem er in den frühen 70er Jahren freundschaftlichen Umgang pflegte. Getrübt wurde die Freundschaft, als Wagner in Bayreuth seine Musikstätte schuf, die bald zu einer Kultstätte des von Nietzsche verabscheuten deutschen Antisemitismus und Chauvinismus wurde. Als im Jahr 1876 die vierte von Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–76) unter dem Titel Richard Wagner in Bayreuth erschien, war das Ende der Freundschaft mit Wagner besiegelt. Der Bruch mit Wagner steht am Beginn der zweiten Phase von Nietzsches Denken, die durch die Abwendung von Schopenhauers Metaphysik und die

Friedrich Nietzsche (1844–1900) Vertreter der Willensmetaphysik und radikaler Religions- und Kulturkritiker

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Hinwendung zu psychologischen Betrachtungen charakterisiert ist. Die Schriften Menschlich Allzumenschliches (1878–80), Morgenröte (1881) und Die Fröhliche Wissenschaft (1882) enthalten auch eine psychologische Kritik metaphysischer Vorstellungen. Im Jahr 1879 wurde Nietzsche, der seit Jahren häufig von heftigen Migräneanfällen nebst Erbrechen heimgesucht wurde, vorzeitig in den Ruhezustand versetzt. Danach führte er ein unstetes, einsames Leben, meist in Hotels in Norditalien, Südfrankreich und der Schweiz. Mit dem Jahr 1882 beginnt die dritte Phase von Nietzsches Denken, in der er sich erneut der Metaphysik zuwandte und eine leidenschaftliche, geradezu aggressive Lebensbejahung propagierte. Nietzsche entwickelte nun die Grundgedanken seiner eigenen Metaphysik, die von den Ideen der ewigen Wiederkehr des Gleichen und des Willens zur Macht ausgeht. Im Winter 1882–83 begann er damit, diesen Gedanken in seinem Werk Also sprach Zarathustra (1883–85) eine poetische Form zu geben. Gewissermaßen als Kommentare dazu veröffentlichte er danach Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Jahr 1888 erlebte Nietzsches Produktivität einen letzten Höhepunkt. In nur sechs Monaten schrieb fünf Bücher: Der Fall Wagner (1888), Götzendämmerung (1889) sowie die erst von der Schwester veröffentlichten Bücher Der Antichrist (1894), Nietzsche contra Wagner (1894) und Ecce Homo (1908). Im Januar 1889 brach Nietzsche beim Anblick eines misshandelten Droschkenpferdes in Turin zusammen. Nach dem Ausbruch der Krankheit (vermutlich handelte es sich um progressive Paralyse infolge einer Syphilis-Infektion) lebte er in geistiger Umnachtung im familiären Kreis in Weimar, wo er von Mutter und Schwester gepflegt wurde. Nach seinem Tod am 25. August 1900 wurde ein Teil des Nachlasses von seiner Schwester in einer umstrittenen Auswahl unter dem Titel Der Wille zur Macht (1901) herausgegeben. Der späte Nietzsche und die Metaphysik. Nietzsches Einstellung zur Metaphy-

sik hat sich in den drei Phasen seines Denkens stark gewandelt. Während er in der zweiten und dritten Phase als Kritiker der Metaphysik aufgetreten ist, hat er sich in der ersten und dritten Phase selbst als metaphysischer Denker betätigt. In seiner Frühphase war er ein Anhänger Schopenhauers, der auf der Basis von dessen Metaphysik eine Kultur- und Kunstphilosophie vertrat. Erst in seiner Spätphase hat Nietzsche dagegen eine eigenständige metaphysische Konzeption entwickelt. Das maßgebliche Bild von Nietzsche als Metaphysiker und als Metaphysikkritiker findet sich somit in seiner Spätphase. Erkenntniskritik und Sprachkritik. Wenn Nietzsche sich mit Erkenntnistheorie befasst, geht es ihm gewöhnlich nicht um eine erkenntnistheoretische Begrün-

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dung der Metaphysik, sondern um die kritische Prüfung traditioneller philosophischer Begriffe. In seiner mittleren Phase betreibt er eine solche Erkenntniskritik vor allem in Form einer Entlarvungspsychologie, also als Versuch, philosophische Begriffe durch Nachweis ihres psychologischen Ursprungs zu diskreditieren. So versucht er etwa die verborgenen Wünsche hinter metaphysischen Vorstellungen wie „Gott“ oder „Seelensubstanz“ offen zu legen und sie damit als bloße Wunschvorstellungen zu demaskieren. Zu dieser psychologischen Erkenntnis- und Metaphysikkritik kommt beim späten Nietzsche noch eine sprachkritische Komponente hinzu, die auf Wittgenstein und die moderne Sprachphilosophie vorausweist. Nietzsche untersucht die Rolle der Sprache bei der Bildung metaphysischer und ontologischer Begriffe und kommt dabei zu dem kritischen Ergebnis, dass die Sprache eine Tendenz zum Illusionären und Fiktiven hat. So ist etwa der Ausdruck „Substanz“ im Sinne eines (darunter liegenden) beharrlichen Trägers wechselnder Eigenschaften durch die Subjekt-Prädikat-Struktur unserer Sprache bedingt: Jedem mit einem Prädikat bezeichneten Geschehen wird ein Täter als Subjekt untergeschoben. Die Idee der Substanz ist daher nach Nietzsche eine Fiktion. Auch andere metaphysische und ontologische Begriffe werden vom späten Nietzsche einer scharfen erkenntnis- und sprachkritischen Analyse unterworfen. So enthält etwa das Kapitel „Von den Vorurteilen der Philosophen“ in Jenseits von Gut und Böse (1886) eine Kritik der Ideen von „Kausalität“, „Ich“, „freier Wille“ und „causa sui“. Als Fazit seiner Kritik bemerkt Nietzsche einmal im Nachlass: „Parmenides hat gesagt ‚man denkt das nicht, was nicht ist‘; – wir sind am andern Ende und sagen ‚was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein‘.“12 In solchen Zusammenhängen scheinen Metaphysik und Ontologie bei Nietzsche sich gänzlich aufzulösen. Pragmatisch-evolutionäre Umdeutung Kants. Ein wichtiger Teil der erkenntnis-

theoretischen Überlegungen, die Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse und Götzendämmerung (1889) sowie im Nachlass anstellt, beschäftigen sich mit den Problemen, die durch die Philosophie Kants aufgeworfen werden, also mit der Frage der Erkennbarkeit des Dinges an sich und mit der aktiven Rolle des Denkens beim Aufbau des menschlichen Weltbildes. Eine Grundtendenz dieser Überlegungen besteht darin, die Lehre Kants unter dem Einfluss der Darwinschen Evolutionstheorie zu kritisieren und umzudeuten. Ähnlich wie bei Schopenhauer zeigt sich diese Umdeutung in Nietzsches Verständnis des menschlichen

12

Nietzsche: Umwertung aller Werte, 2 Bde. München (dtv) 1969, Bd.1 S. 75 (I. Buch Aph. 56)

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Intellekts. Der Intellekt ist für ihn nicht mehr wie für Kant die unveränderliche („transzendentale“) Bedingung aller Erfahrung, sondern ein Produkt der Evolution, das als Organ für den Kampf ums Überleben nützlich ist, aber für eine adäquate Erkenntnis der Wirklichkeit an sich ungeeignet ist. Daher formuliert er Kants Grundfrage nach der Möglichkeit apriorischer Wirklichkeitserkenntnis („Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“) zu der Frage um „warum ist der Glaube an solche Urteile nötig?“.13 Der späte Nietzsche konzipiert damit eine Erkenntnistheorie, die Kant und Darwin miteinander verknüpft und sich einer pragmatischen Auffassung von Erkenntnis nähert. Die Grundthese dieser Auffassung lautet, dass die apriorischen Formen (Raum, Zeit, Substanz, Kausalität) unvermeidliche Fiktionen sind, mit deren Hilfe der Mensch ein vereinfachtes, verfälschtes, aber in praktischer Hinsicht für Leben und Überleben nützliches Bild der Welt schafft. Kants apriorische Formen werden damit als „Fiktionen“ gedeutet, und zwar ziemlich genau in der Weise, wie sie Hans Vaihinger später in seiner „Philosophie des Als-Ob“ definiert hat, als falsche, aber nützliche Annahmen. Zugespitzt behauptet Nietzsche daher: „Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte.“14 Damit geht der späte Nietzsche noch einen Schritt weiter als Schopenhauer in Richtung Pragmatismus und evolutionärer Erkenntnistheorie. Relativismus und Wahrheitspathos. Nietzsches Erkenntnistheorie hat eine deut-

liche Tendenz zum Relativismus. Nur relativistisch ist seine Auffassung zu verstehen, dass der Mensch die Welt stets aus einer Perspektive betrachtet und ihr eine schematisierende, vereinfachende Deutung aufzwingt. Die vom Menschen wahrgenommene Welt ist somit stets eine aus einer bestimmten Perspektive interpretierte Welt. Diese These der Abhängigkeit jeder Weltauslegung von einem Standpunkt oder einer Perspektive wird auch als Nietzsches „Perspektivismus“ bezeichnet. Dieser relativistischen Tendenz steht allerdings das Wahrheitspathos des späten Nietzsche gegenüber. Wenn er z. B. vom „Mut der Wahrheit“ spricht und dabei zu bedenken gibt, dass die gesuchte Wahrheit über die Welt, die einst als göttlich gedacht wurde, sich vielleicht als schrecklich herausstellen könnte, dann zeigen diese wie viele andere Stellen, dass Nietzsche an einem herkömmlichen Wahrheitsverständnis durchaus festhält.

13 14

Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart 1964, S. 18 (Aph. 11). Nietzsche: Der Wille zur Macht, Stuttgart 1964, S. 343 (Aph. 493).

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Erkenntniskritik und Metaphysik. Der Fiktionalismus und Relativismus von Nietzsches Erkenntnistheorie scheinen für Metaphysik keinen Platz mehr zu lassen. Der späte Nietzsche ist jedoch zugleich ein entschiedener Metaphysiker, der seine Konzeption des Willens zur Macht als wahre Beschreibung des Wesens der Welt versteht und keineswegs als bloße Fiktion. Obwohl diese beiden Konzeptionen, also fiktionalistische Erkenntnistheorie und Willensmetaphysik, vielfach unvermittelt nebeneinander stehen, gibt es bei Nietzsche aber auch Versuche, beide miteinander zu verbinden. Seine Grundidee besteht dabei darin, den Fiktionalismus als erkenntnistheoretische Folgerung aus seiner Metaphysik zu begreifen. Da der Wille zur Macht das Wesen aller Dinge ist, muss er sich auch im Erkennen geltend machen. Erkennen ist daher kein getreues Abbilden der Wirklichkeit, sondern eine Form praktischer Weltbewältigung mittels grober, schematisierter und fiktiver Vorstellungen, die jedoch für praktische Zwecke des Lebens und Überlebens ausreichend sind. Nietzsches pragmatisch-evolutionäre Umdeutung Kants soll also eine Konsequenz seiner Willensmetaphysik sein. Eine solche Umdeutung setzt nun aber voraus, dass die menschliche Erkenntnis nicht in jeder Hinsicht bloße Fiktion sein kann. Außerdem kann auch ein Teil metaphysischer Begriffe, wie etwa der Begriff der Substanz, nicht gänzlich fiktiv sein. Um selbst Metaphysik treiben zu können, muss daher Nietzsches Erkenntnis- und Metaphysikkritik eingeschränkt werden. Klar und explizit getan hat er dies freilich nicht. Korrektur an Schopenhauer. Eine erkenntnistheoretische Begründung seiner Metaphysik, wie sie etwa Schopenhauer unternommen hat, gibt es bei Nietzsche nicht. Wenn er seine metaphysische Position vorträgt, hat dies mehr den Charakter der Verkündung einer Einsicht, die sich einer nüchternen Bestandsaufnahme der Wirklichkeit aufdrängen soll. In dieser Weise gibt Nietzsche im Anschluss an Schopenhauer eine Gesamtdeutung der Welt, die sich von den bei Schopenhauer zu findenden mystischen Komponenten entschieden distanziert und die in ethischer Hinsicht eine Umkehrung von Schopenhauers „Willensverneinung“ in eine entschiedene Welt- und Lebensbejahung darstellt. Diese Distanzierung von Schopenhauer ist bereits in Nietzsches früher Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) zu erkennen. In dieser Schrift nimmt er mithilfe von Schopenhauers metaphysischem Gegensatzpaar Wille und Intellekt eine neue Deutung der griechischen Kultur vor. Das griechische Kultur- und Kunstleben sieht er von zwei polaren Kräften beherrscht, die er nach den Gottheiten Apollo und Dionysos benennt. Das „Apollinische“ ist die Kraft des Maßes und der Harmonie, das „Dionysische“ ist dagegen die Kraft des triebhaften, schöpferisch-zerstörerischen Lebens. Während

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das „Apollinische“ die griechische Plastik und das „Dionysische“ die Musik der Griechen beherrschte, waren beide Kräfte in der griechischen Tragödie versöhnt. Eine Verbindung beider Kräfte gehört nach Nietzsche zu einer Kultur, die dem Leben dient. Wird dagegen die intellektuell-vernünftige Seite auf Kosten der triebhaft-emotionalen Seite entwickelt, wie dies nach Nietzsche insbesondere seit der Aufklärung der Fall ist, dann entsteht die oberflächliche Kultur des Intellektualismus, die ihre Wurzeln im instinktiven, triebhaften Leben verloren hat. Die Entwicklung einer Kultur, die neben den Kräften des Intellekts auch den Kräften des Emotionalen und Instinktiven gerecht wird, erhofft sich Nietzsche von einer Erneuerung der antiken Tragödie, besonders von den Musikdramen Richard Wagners. In dieser Kultur- und Kunsttheorie ist von der metaphysisch-ethischen Zielsetzung der Philosophie Schopenhauers nichts mehr übrig geblieben. Nietzsche geht es letztlich nicht mehr um die Erlösung vom leidvollen Leben, sondern um die Inthronisierung des Lebens zum höchsten Wert. Die Kunst soll dem Leben dienen und durch den schönen Schein das Leben erträglich machen. In dieser Theorie steckt im Ansatz bereits Nietzsches spätere Polemik gegen die Lebensfeindlichkeit von Moral und religiöser Metaphysik. Wille zur Macht als Wesen der Welt. Schon beim frühen Nietzsche vollzieht sich

die Hinwendung zu einer immanenten Weltanschauung. Wenn der späte Nietzsche dann wieder auf Schopenhauers Metaphysik zurückgreift, so beseitigt er rigoros deren transzendente Komponenten und versperrt alle religiösen Hintertüren. Aber auch der Willensbegriff selbst erhält bei Nietzsche einen neuen Akzent. Das Wesen der Wirklichkeit begreift auch er als einen triebhaften Wollen, doch anders als Schopenhauer sieht er im Wollen kein bloßes Streben nach Selbsterhaltung, sondern auch ein „Mehr-haben-Wollen“ und ein „Einflußnehmen-Wollen“, kurz einen „Willen zur Macht“. Das Gesamtbild der Welt, das Nietzsche vor Augen hat, findet sich in einer Passage des Nachlasses eindrucksvoll beschrieben. In Aphorismus 1067 des Willens zur Macht (1901) heißt es u. a.: „[…] Die Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine fest eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird […] vom ‚Nichts‘ umschlossen als von seiner Grenze […] als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo ‚leer‘ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich eins und vieles […] ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend […] diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, […] dies mein ‚Jenseits von Gut und Böse‘, ohne Ziel, wenn nicht im Glück

Friedrich Nietzsche: Wille zur Macht und metaphysische Hinterwelten 69

des Kreises ein Ziel liegt […] wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? […] Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem.“15 Nietzsches Metaphysik ist offensichtlich als eine monistische Lehre konzipiert, die alle Erscheinungen in der Welt aus einem Grundprinzip zu erklären beansprucht. Religiöse oder metaphysische Annahmen von einem übernatürlichen oder jenseitigen Dasein werden, wie es die Formel „und nichts außerdem“ signalisiert, strikt ausgeschlossen. Da der Wille das alleinige Grundprinzip ist, kann der Geist (oder die Vernunft) nicht als ein zweites Prinzip neben dem Willen gefasst werden, sondern muss als eine Erscheinungsform des Willens zur Macht gedeutet werden. Darin steckt auch Nietzsches Kritik an Schopenhauer, dessen Lehre von der Willensverneinung nur schwer mit seiner Metaphysik vom Willen als Ding an sich zu vereinbaren ist. Nietzsche versucht damit auch Schopenhauers Formen der Willensvereinung, also das moralische Handeln aus Mitleid und die Askese, als verschleierte Formen des Machtstrebens zu begreifen. Unter metaphysischem Gesichtspunkt werden Mitleid und Askese somit dem System einverleibt, obgleich Nietzsche sie in moralphilosophischem Kontext als widernatürlich und dekadent anprangert. Ein wichtiger, obgleich häufig übersehener Gedanke ist in diesem Zusammenhang der Gedanke der „Sublimierung“, womit Nietzsche eine zentrale Idee von Freud vorwegnimmt. Sublimierung liegt nach Nietzsche zum Beispiel vor, wenn der Sexualtrieb zum einem Drang nach geistig-schöpferischer Tätigkeit umgeformt wird oder wenn der Wunsch, einen Feind zu unterwerfen oder zu töten, in den Wunsch verwandelt wird, einem Gegner in einem Wettkampf zu besiegen. Das in allen Sublimierungen enthaltene Wesen bleibt nach Nietzsche jedoch immer dasselbe Streben nach Macht. Offenbar glaubt er durch die Idee der Sublimierung ein grundsätzliches Erklärungsschema entdeckt zu haben, das die Entstehung höherer Lebensformen, also etwa auch das von Schopenhauer anerkannte Stufenreich der Natur, verständlich machen kann.16 Metaphysische Hinterwelten. Eine besondere Rolle in Nietzsches Spätwerk

spielt die Kritik der religiösen Vorstellungen von Gott, Unsterblichkeit und Jenseits. Im Zarathustra (1883–85) wendet sich Nietzsche vor allem gegen die „metaphysischen Hinterwelten“ der platonisch-christlichen Tradition. Damit versucht er den Glauben an eine übersinnliche oder überirdische Wirklichkeit und

15 Nietzsche: Der Wille zur Macht, S. 696f (Aph. 1067). 16 W. Kaufmann (1982) S. 245 ff.

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jede Art von Metaphysik der Transzendenz als illusionär bloßzustellen. Diese Kritik hat ein praktisches Gegenstück in seiner Kritik an der Lebensfeindlichkeit religiöser Metaphysik, die er schon bei Platon, vor allem aber im Christentum findet. Der lebensfeindlichen Haltung des Christentums setzt er eine rein diesseitige, lebensbejahende Haltung entgegen. In diesem Sinne sagt Nietzsches Zarathustra in der Vorrede: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.“17 Nietzsche wendet sich also gegen die Abwertung des irdischen Lebens durch ein religiöses oder metaphysisches Jenseits. Immer dann, wenn der Sinn des Lebens oder die Erfüllung des Lebens in ein Jenseits verlegt wird, entstehen nach Nietzsche „metaphysische Hinterwelten“, die das Leben entwerten. Seine Ablehnung metaphysischer und religiöser Jenseitsvorstellungen brachte er auf die Formel: „Gott ist tot.“ In seiner Moralphilosophie geht Nietzsche noch weiter und kritisiert die herkömmliche Moral, die eine Beherrschung der natürlichen Triebe fordert, insgesamt als widernatürlich und dekadent. Nietzsche verwirft dabei die christliche Moral der Nächstenliebe und Schopenhauers Mitleidsethik als „Sklavenmoral“, die ihren Ursprung im Zusammenschluss der vielen „Schwachen“ gegen die wenigen „Starken“ habe, und stellt ihr die „Herrenmoral“ gegenüber. Diese Lehre hat eine bedenkliche Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie. Nihilismus als Folge von „Gottes Tod“. Obwohl Nietzsche „Gottes Tod“ im Zarathustra als Befreiung des Menschen für ein selbstbestimmtes, sinnerfülltes Leben begrüßt, hat er darin doch zugleich eine fragwürdige Entwicklung gesehen. Der Glaubensverlust bedeutet nämlich zugleich einen Sinnverlust und eine Untergrabung des Glaubens an objektive, allgemeinverbindliche Werte. Das Verblassen und Verschwinden des Glaubens an den christlichen Gott wird somit von Nietzsche einerseits als eine Grundtatsache der Moderne begrüßt, doch andererseits befürchtet und prophezeit er als dessen unvermeidliche Folge das Heraufkommen des „europäischen Nihilismus“. Offenbar war Nietzsche ähnlich wie Dostojewskij davon überzeugt, dass ohne den Glauben an Gott und an einen Sinn des Lebens auch die Moral zusammenbricht. Der Satz „Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt“, steht auch hinter Nietzsches Nihilismus-Prognose. Die Bedeutung des Glaubens- und Sinnverlusts für die Kultur hat Nietzsche jedenfalls stark beschäftigt. Seine späte Metaphysik lässt sich als ein Versuch verstehen, einen Ausweg aus dieser Situation zu weisen. Nietzsche ist also

17

Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Stuttgart 1969, S. 9.

Friedrich Nietzsche: Wille zur Macht und metaphysische Hinterwelten 71

auch deshalb zur Metaphysik zurückgekehrt, um der Herausforderung des Nihilismus mit einer neuen, sinnstiftenden „diesseitigen“ Metaphysik zu begegnen. Übermensch und ewige Wiederkunft. Die Lehre vom Willen zur Macht hat

Nietzsche durch zwei weitere Lehren ergänzt, die seine Antworten auf die Herausforderung des Nihilismus enthalten. Durch die Lehren vom Übermenschen und von der ewigen Wiederkehr erhält Nietzsches Metaphysik den Charakter einer Sinngebung. Beide Lehren treten als diesseitige Sinnlehren in gewisser Weise an die Stelle von Schopenhauer Erlösungslehre. Eine Überwindung des Nihilismus erblickt Nietzsche zunächst darin, dass die Menschen sich als Schöpfer der Werte und als Sinngeber ihres Daseins begreifen lernen und ihr Leben ganz am Diesseits ausrichten. Als ein neues irdisches Ziel hat Nietzsche im Zarathustra daher den „Übermenschen“ vorgeschlagen, ein Wesen, das dem Menschen so weit überlegen sein soll wie der Mensch dem Affen. Der Mensch soll sich als „Brücke“ zwischen Affe und Übermensch begreifen, also nicht als Krone oder Endpunkt der Entwicklung, sondern als Durchgangsstadium zu etwas Höherem. Der Übermensch, wie Nietzsche ihn als Fernziel konzipiert, ist offenbar ein Wesen, das ganz diesseitig orientiert ist, ohne religiöse Hoffnungen auf eine jenseitige Welt lebt und seine natürlichen Kräfte und Anlagen ganz entfaltet. Soweit ist Nietzsches Auffassung noch nicht besonders „anrüchig“. Geht man jedoch weiter und verlangt genauere Auskunft, dann erweist sich die Lehre vom Übermenschen als notorisch unklar und offen für vielfältige Ausdeutungen. Umstritten ist vor allem,. ob Nietzsche damit eine bewusste Züchtung des Übermenschen propagiert, eine zunächst ja nahe liegende Deutung, mit der sich Nietzsche als Vordenker des Rassismus, ja als Begründer der Idee einer (zu züchtenden) „Herrenrasse“, entpuppen würde. Dass Nazi-Ideologen wie Alfred Baeumler und Alfred. Rosenberg vor allem an Nietzsches Lehre vom Übermenschen anknüpfen und sie für ihre Zwecke vereinnahmen konnten, ist so gesehen nur allzu verständlich. Wie der zitierte Aphorismus 1067 bereits gezeigt hat, verknüpfte Nietzsche seine Lehre vom Willen zur Macht mit seiner Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Nietzsche hat auf diese Lehre großen Wert gelegt und sie zum „tiefsten Gedanken“ stilisiert. Begründet hat er diese Lehre, die von der antiken Idee eines Kreislaufs von Welten inspiriert ist, ganz kosmologisch. Da Materie und Energie endlich sind, die Zeit aber unendlich ist, müssen alle möglichen Konstellationen der Atome, einschließlich aller einzelnen Lebewesen, sich unendlich oft wiederholen. Der Grund dafür, warum Nietzsche mit dieser

72 Willensmetaphysik

Lehre so viel Aufhebens macht, liegt darin, dass sie eine weitere Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben soll. Dass alle Dinge wiederkehren, darf nach Nietzsche nämlich nicht im Sinne einer ewigen Wiederkehr des Sinnlosen verstanden, sondern die ewige Wiederkehr soll das Leben gerade sinnvoll machen. Wer weiß, dass sein Leben in der jetzigen Form ewig wiederkehren wird, lernt sein Leben und sein Schicksal zu bejahen und zu lieben. In Anspielung, aber auch in Abgrenzung von Spinozas intellektueller Liebe zu Gott setzt er damit die Liebe zum Schicksal („amor fati“). Wirkung. Nietzsche hat das moderne Philosophieren nachhaltig geprägt. Her-

ausragende Vertreter anderer philosophischer Strömungen erhielten von ihm wichtige Impulse. Dazu gehören die Lebensphilosophie Bergsons, die Existenzphilosophie von Jaspers, die Existenzialontologie und das Seinsdenken von Heidegger sowie die Geschichts- und Kulturphilosophien von Spengler und Klages. Mit seiner Entlarvungspsychologie hat er ferner die Tiefenpsychologie von Freud, Adler und Jung und die Ideologiekritik der Frankfurter Schule und der Postmoderne stark beeinflusst. Seine Metaphysik, vor allem aber seine Moralphilosophie hat freilich auch eine fatale Wirkung auf nationalsozialistische Ideologen gehabt und diese in ihren rassistischen Ideen bestärkt. Wie Schopenhauer hat Nietzsche auch einen enormen Einfluss auf das moderne Geistesleben überhaupt gehabt. Zu den Schriftstellern, die von ihm wichtige Anregungen erhielten, zählen unter vielen anderen Thomas Mann, Hesse, Benn und Rilke. Nietzsche hat nach wie vor großen Einfluss auf Menschen, die von religiösen Zweifeln beunruhigt werden und ihre metaphysischen und religiösen Ideen kritisch prüfen wollen. Würdigung. Nietzsches späte Metaphysik stellt den Versuch dar, ein umfas-

sendes und zugleich sinnstiftendes Welt- und Lebensbild zu entwerfen, das ohne Gott und Religion auskommt. Dazu knüpft er an Schopenhauers Lehre vom Willen an, weist aber dessen mystische Erlösungslehre und Mitleidsethik entschieden zurück. Während Schopenhauer moralisches Handeln und Askese als Formen der Willensverneinung lobt, werden sie von Nietzsche gerade deswegen abgelehnt oder als sublimierte Formen des Willens zur Macht gedeutet. Nietzsche hat damit, neben Schopenhauer, ebenfalls maßgeblich zur Entstehung des modernen tiefenpsychologischen Bildes vom Menschen beigetragen. Bei ihm beginnt aber auch die folgenreiche Aufwertung der triebhaft-irrationalen Kräfte. In seiner (hier nicht weiter verfolgten) Moralphilosophie wird Nietzsche sodann zum Zerstörer der alten (religiösen) Werte, die das Christentum zur Herrschaft gebracht hat und die er als Formen der „Dekadenz“ versteht,

Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher des Lebens 73

und zum Begründer oder besser Erneuerer natürlicher Werte, wie er sie bei den Griechen findet.

4. Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher des Lebens Philosoph des Irrationalismus. Der durch Schopenhauer und Nietzsche geprägte

Gegensatz von Geist und Wille ist auch das zentrale Thema der Metaphysik Ludwig Klages. In seiner Erkenntnistheorie ist Klages zwar von Bergson und dessen Kritik des mechanistischen Denkens ausgegangen, doch steht er ganz in der Tradition der Willensmetaphysik, wenn er Leben und Geist als feindliche metaphysische Potenzen versteht. Wie Nietzsche ergreift er leidenschaftlich Partei für das Leben und verbindet damit eine radikale Kulturkritik. Klages wird zwar häufig zur deutschen Lebensphilosophie gezählt, doch gehört seine Philosophie aufgrund der zentralen Rolle, die die Bewertung des Gegensatzes von Geist und Leben in ihr spielt, mehr zur Tradition der Willensmetaphysik. Wegen seines umfassenden Angriffs auf die Vernunft gilt er auch als Philosoph des Irrationalismus. Leben und Werk. Ludwig Klages wurde am 10. Dezember 1872 als Sohn eines

Textilkaufmanns in Hannover geboren. Während seiner Schulzeit freundete er sich mit dem gleichaltrigen Theodor Lessing (1872–1933) an, der später als pessimistischer Kulturphilosoph bekannt werden sollte. Trotz seiner Neigung zur Welt der Dichtung und Sagen studierte er seit 1891 auf Druck seines Vaters Chemie in Leipzig und München, wo er sich dem literarischen Kreis der „Kosmiker“ anschloss, dem unter anderem Stefan George angehörte. Nebenher betrieb er psychologische Studien, insbesondere zur Ausdruckskunde und Graphologie. Nach Abschluss des Studiums übersiedelte er im Jahr 1905 nach Kilchberg in der Nähe von Zürich und eröffnete hier ein Seminar für Ausdruckskunde, das die berufliche Basis seines Lebens blieb. Hier arbeitete und forschte er zu psychologischen und philosophischen Themen. Eine frühe Darstellung seiner Grundgedanken lieferte er in dem Buch Mensch und Erde (1913). Nach seiner Schrift Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches (1926) erschien schließlich sein dreibändiges, mehr als 1500 Seiten umfassendes Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele (1929–32). Obwohl Klages mit seinen Schriften großen Erfolg hatte und zu zahlreichen Vorträgen eingeladen wurde, hatte er nie eine Professur inne. Er starb am 29. Juli 1956 in Kilchberg.

74 Willensmetaphysik

Bildhaftes und begriffliches Denken. Ausgangspunkt von Klages Konzeption

sind erkenntnistheoretische Überlegungen im Anschluß an Bergson. Wie Bergson betrachtet er das mechanistische Weltbild als eine Oberflächensicht des Verstandes, wodurch die Natur für den Menschen zwar technisch beherrschbar wird, aber in ihrem inneren Wesen verkannt wird. Das mechanistische Denken hat es nach seiner Ansicht nur mit Relationen zwischen den Dingen, nicht jedoch mit ihrem inneren Wesen zu tun. Das Weltbild des Verstandes kommt eben dadurch zustande, dass das begriffliche Denken die Dinge in starre Gebilde zerlegt, also die Welt „atomisiert“, während das Erleben das Wesen der Wirklichkeit in ihrem steigen Wandel erfasst. Um dieses Erleben angemessen auszudrücken, bedarf es nicht der begrifflichen Sprache des Verstandes, sondern einer symbolisch-bildhaften Sprache, wie sie für Mythos und Dichtung kennzeichnend ist. Das begriffliche Denken liefert nach Klages eben „logozentrische“ Fehldeutungen der Welt, die von den Gefühls- und Instinktregungen abstrahieren. Im Gegensatz dazu kann das „biozentrische“ Denken durch gefühlsaufgeladene Symbole das eigentliche Wesen der Wirklichkeit erfassen. Geist und Seele. In dem Grundgedanken der verstandesmäßigen Verdingli-

chung der Natur stimmt Klages mit Bergson weitgehend überein. Einen neuen Weg schlägt er jedoch ein, wenn er in der Tradition der Willensmetaphysik diesen Gedanken metaphysisch-anthropologisch ausdeutet und daraus eine Kulturkritik entwickelt. An die Stelle von Bergsons Unterscheidung von Verstand und Intuition setzt Klages dabei im Anschluss an Schopenhauer und Nietzsche den umfassenderen Gegensatz von Geist und Leben. Die Besonderheit von Klages Terminologie besteht darin, dass er „Leben“ als Oberbegriff für Seele und Leib fasst und beide in Gegensatz zu Geist setzt. Klages benennt sein Hauptwerk jedoch nach dem untergeordneten Gegensatz von Geist und Seele, weil es ihm gerade um die Herausstellung der Wesenverschiedenheit von Geist und Seele geht.18 Als Seele versteht er die Gesamtheit der ursprünglichen, ins18

Vgl. K. Wuchterl (1995) S. 289.

Ludwig Klages (1872–1956) Vertreter einer Metaphysik des instinktivtriebhaften Lebens und radikaler Vernunftund Kulturkritiker

Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher des Lebens 75

tinkt- und gefühlsbestimmten Erlebnisformen, die jeweils mit einem lebendigen Leib untrennbar verbunden sind. Während der Geist die rationale, der Gefühlswelt enthobene Instanz ist, bilden Seele und Leib die beiden Pole des Lebens. Auf der Basis dieser Differenzierung von Seele und Geist vertritt Klages nun die entscheidende These, dass Leib und Seele ursprünglich, d. h. vor dem Auftreten des Geistes in der Geschichte des Menschen, eine harmonische Einheit waren. Klages vertritt damit die romantisch gefärbte Auffassung, dass der Mensch im Zeitalter von Mythos und Magie noch in einer sinnvoll geordneten Welt und im Einklang mit der Natur lebte. Eine mehr terminologische als sachliche Differenz zu Nietzsche besteht nun darin, dass Klages es ablehnt, das ursprüngliche, instinktiv-triebhafte Leben als „Willen zur Macht“ zu begreifen. „Wille“ ist für ihn vielmehr eine Form des Geistes, die auf die Beherrschung und Gestaltung der Welt und des Lebens abzielt. Daher betrachtet er es als verfehlt, das instinktiv-triebhafte Leben, das er wie Nietzsche als Wesen der Wirklichkeit begreift, als „Wille“ zu bezeichnen. Der Geist als Feind des Lebens. Mit dem Auftreten des Geistes brach die ur-

sprüngliche Harmonie von Seele und Leib auseinander. Der Geist ist nach Klages eine triebhemmende, lebensfeindliche Macht, die gleichsam von außen in die Welt eindringt und die natürliche Entfaltung des seelischen Lebens unterdrückt. In dem Titel seines Hauptwerks Der Geist als Widersacher der Seele (1929–32) kommt dieser Gedanke gut zum Ausdruck. Der „Einbruch“ des Geistes in die Welt ist für Klages ein historisches Phänomen, das erst relativ spät in der Menschheitsgeschichte, nämlich vor etwa 10.000 Jahren, geschah und damit die neue Epoche des historischen Menschen einleitete. Wegen der grundlegenden Bedeutung dieses Ereignisses spricht Klages, ähnlich wie Heidegger, von einer neuen Epoche des Seins. Das durch magische Vorstellungen bestimmte Weltbild der vorgeschichtlichen (vorgeistigen) Menschen hat Klages, im Rückgriff auf einen Ausdruck des romantischen Philosophen Johann Jakob Bachofen (1815–1887), als „Weltbild des Pelasgertums“ zu beschreiben versucht. Kennzeichnend für diese vorgeschichtliche Welt, die Klages sich anscheinend als einen nahezu paradiesischen Zustand vorstellt, ist das Erleben der Welt in ekstatischen Traumbildern. Nach dem Einbruch des Geistes in die Welt begann der Mensch den Leib als seelenlosen Mechanismus und die Seele als totes Anhängsel des Leibes zu begreifen. Während Leib und Seele ursprünglich eine Einheit bildeten, ging nun das ursprüngliche Einsfühlen mit der Natur verloren. Als Folge davon begann der Mensch – gefördert vor allem durch das Christentum – sich als „Krone

76 Willensmetaphysik

der Schöpfung“ zu verstehen und die Natur seinen Zwecken zu unterwerfen. Die Herrschaft des Geistes zeigt sich nach Klages in Wissenschaft und Technik, aber auch im seelenlosen, bloß auf den äußeren Nutzen und Erfolg ausgerichteten modernen Leben, vor allem aber in der zunehmenden Zerstörung der Natur. „Wir täuschten uns nicht, als wir den ‚Fortschritt‘ leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, daß Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von ‚Nutzen‘, ‚wirtschaftlicher Entwicklung‘, ‚Kultur‘ geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die ursprünglichen Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis der Gewerblichkeit die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch überläßt, gleich dem ‚Schlachtvieh‘ zur bloßen Ware, zum vogelfreien Gegenstande eines schrankenlosen Beutehungers. In seinem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft.“19 Der wissenschaftlich-technische Fortschritt läuft somit letztlich auf die Vernichtung des Lebens hinaus. Klages gelangt damit zu einer leidenschaftlichen Anklage gegen Intellektualismus und Rationalismus und zu einer radikalen Kritik der modernen Wissenschafts-, Technik- und Fortschrittsgläubigkeit überhaupt. Wie Nietzsche ergreift er Partei für das bewusstlose, instinkthafte Leben, doch im Unterschied zu Nietzsche hat Klages keinen Ausweg, etwa durch eine „Rückkehr zur Natur“, anzubieten. Vielmehr hielt er die Zerstörung des Lebens und den Untergang der Menschheit im Laufe weniger Jahrhunderte für unvermeidlich.20 Wirkung. Ähnlich wie Eduard von Hartmann als „Philosoph des Unbewussten“ gilt, ist auch die philosophiegeschichtliche Stellung Klages fast allein durch sein Werk Der Geist als Widersacher der Seele bestimmt. Seine pessimistische Metaphysik und Kulturphilosophie hat das geistige Klima Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg stark beeinflusst. Die Spuren Klages bei seinen Zeitgenossen sind freilich nicht leicht zu entdecken. Vermutlich wurde Oswald Spenglers Vision vom „Untergang des Abendlandes“ bereits von Klages frühen Schriften beeinflusst. Klar ist dagegen, dass Scheler seine Metaphysik des Geistes in Abgrenzung zu Klages entwickelt hat und dass in Heideggers Lehre von der „abendländischen Seinsvergessenheit“ die Anklänge an Klages nicht zu überhören sind. Auch ganz anders orientierte Denker wie Theodor W. Adorno oder

19 L. Klages, Mensch und Erde. Elf Abhandlungen, Stuttgart 1973, S. 12. 20 Vgl. R. Reschika (2001) S. 210 ff.

Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher des Lebens 77

Schriftsteller wie Thomas Mann und Robert Musil haben von Klages Anregungen erhalten. Würdigung. Als Protagonist des philosophischen Irrationalismus und als philo-

sophischer Wegbereiter des Nationalsozialismus wurde Klages heftig attackiert, und zwar nicht nur von Marxisten wie Georg Lukács und Ernst Bloch. Nun verbindet Klages in der Tat eine Abwertung wissenschaftlich-rationaler Erkenntnis, die von Bergson stammt, mit einer Aufwertung des triebhaft-instinktiven Lebens in der Nachfolge Nietzsches. Durch seine Abwertung von Geist und Vernunft, die selbst das magische Denken als eine den Wissenschaften überlegene Form metaphysischer Erkenntnis begreift und die sich in gewisser Weise der Esoterik nähert, erweist sich Klages als Antipode von Wissenschaft und wissenschaftlich orientierter Metaphysik. Nicht zuletzt hat seine metaphysische Konzeption mit ihrer Betonung der lebensfeindlichen Macht des Geistes eine unbestreitbare Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda gegen „entwurzelte Intellektuelle“ und „entartete Kunst“. Diese Nähe zur NSIdeologie bleibt bestehen, auch wenn Klages, trotz antisemitischer Äußerungen, sich persönlich anscheinend eher distanziert gegenüber dem Nationalsozialismus verhalten hat. Sieht man von seiner fundamentalen Vernunftkritik jedoch einmal ab, dann lässt sich Klages auch als Vordenker der ökologischen Bewegung verstehen, der auf die Gefahren des wissenschaftlich-technischen Fortschritts aufmerksam gemacht hat.

IV. Metaphysik der Evolution

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat eine metaphysische Strömung hervor, die unter dem Eindruck von Darwins Revolution der Biologie nach der philosophischen Bedeutung der Evolutionstheorie fragte und ein umfassendes philosophisches Weltbild unter der Leitidee der Evolution zu entwickeln versuchte. Diese Strömung, die sich als Metaphysik der Evolution fassen lässt, befasste sich vor allem mit der Frage, ob sich die Evolution mit den Mitteln der Naturwissenschaften, also mit Hilfe mechanistischer oder kausaler Begriffe und Theorien zureichend begreifen lässt oder ob dazu andere Konzepte erforderlich sind. Auf den Prüfstand gestellt wurde somit der Materialismus und seine Tauglichkeit als Grundlage eines evolutionären Weltbildes. Ein allgemeines Kennzeichen dieser Strömung bestand darin, dass sie sich, mehr oder weniger deutlich, vom Materialismus distanzierte und sich zugleich religiösen Vorstellungen annäherte. Die Metaphysik der Evolution begann bei Herbert Spencer, der als Erster ein philosophisches Weltbild auf der Basis der Evolution ausarbeitete. Als Gegenposition zu Spencers Metaphysik, die noch eine gewisse Nähe zum Materialismus wahrt, entwickelte Henri Bergson seine Metaphysik der „kreativen Evolution“, die das materialistische Weltbild als oberflächliche Sicht verwirft und dagegen eine auf philosophischer Intuition basierende, metaphysische Tiefensicht von Leben und Geist setzt. In kritischer Anknüpfung an Bergson entwickelte Alfred N. Whitehead in seiner „organischen Philosophie“ eine umfassend angelegte Metaphysik des Lebens und der Evolution, die der modernen Physik und zugleich den zentralen Ideen der Religion gerecht werden will. Noch deutlicher wurde diese religiöse Orientierung in Teilhard de Chardins Versuch, Evolution und Glauben in Übereinstimmung zu bringen. Um die Metaphysik der Evolution als metaphysische Strömung der Moderne sichtbar zu machen, wird in der folgenden Darstellung auf den geläu-

Herbert Spencer: Synthetische Philosophie der Evolution 79

figeren Ausdruck „Lebensphilosophie“ bewusst verzichtet. Das, was gewöhnlich „Lebensphilosophie“ genannt wird, ist ganz auf Bergson und seine deutschen Anhänger zugeschnitten. Dieser philosophiegeschichtliche Terminus bekommt zunächst das gemeinsame Grundanliegen der französischen und englischen Philosophen der Evolution nicht in den Blick. Außerdem wird durch diesen Terminus die Tatsache eher verdeckt, dass die deutsche Lebensphilosophie, zu der neben Klages vor allem Georg Simmel und Hermann Graf von Keyserling gehören, stark unter dem Einfluss der Willensmetaphysik steht und einen mehr oder weniger ausgeprägten pessimistischen Grundton hat, der sich in der Metaphysik der Evolution sonst nicht findet. Zählt man jedoch die deutsche Lebensphilosophie, insbesondere Klages, zur Tradition der Willenmetaphysik, dann erweist sich die Metaphysik der Evolution ausschließlich als Sache französischer und englischer Denker.

1. Herbert Spencer: Synthetische Philosophie der Evolution Positivist und Philosoph der Entwicklung. In Herbert Spencer begegnen wir

einem Vertreter moderner Metaphysik, der sich selbst gar nicht als Metaphysiker verstand. Als Positivist vertrat er nämlich wie Comte und Mill die Auffassung, dass die menschliche Erkenntnis auf die in der Wahrnehmung gegebenen („positiven“) Tatsachen beschränkt ist. Apriorische Metaphysik, die unabhängig von Erfahrung und Wissenschaft die Wirklichkeit erfassen will, kann es daher für ihn nicht geben. Spencers herausragende Stellung in der Philosophie der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts beruht jedoch darauf, dass er selbst ein philosophisches Weltbild begründet hat, in dessen Zentrum der Entwicklungsgedanke steht. Im Unterschied zur spekulativen Metaphysik des deutschen Idealismus geht es ihm darum, die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Natur, Mensch und Gesellschaft zusammenzufassen und unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung zu vereinheitlichen. Eine solche „Synthese“ der Wissenschaften ist das Ziel seiner „synthetischen Philosophie“, die sich als wissenschaftlich orientierte oder induktive Metaphysik verstehen lässt. Während Darwin die Evolutionstheorie biologisch begründet, deutet Spencer sie philosophisch aus und schafft damit ein evolutionäres Weltbild. Leben und Werk. Herbert Spencer wurde am 27. April 1820 in Derby im Zen-

trum Englands geboren. Nach seiner Schulzeit absolvierte er weder Ausbildung noch Studium, sondern begann im Jahr 1838, lediglich durch autodidaktisch an-

80 Metaphysik der Evolution

geeignete mathematische Kenntnisse qualifiziert, mit einer Tätigkeit als Eisenbahningenieur. 1843 siedelte er nach London über und arbeitete nebenher als Journalist, ab 1846 hauptberuflich. Er veröffentlichte politische, soziologische und biologische Abhandlungen. In einem Aufsatz des Jahres 1852 zur Frage der Evolution, die damals vor dem Hintergrund der Theorie Lamarcks heftig diskutiert wurde, prägte er die Ausdrücke „Kampf ums Dasein“ und „Überleben der Tüchtigsten“, die wenig später von Darwin übernommen wurden. Nach einer Erbschaft im Jahr 1853 gab er seine Berufstätigkeit auf und widmete sich fortan ganz der Ausarbeitung seiner Ideen. Durch die Anwendung des Entwicklungsgedankens auf die Psychologie entstand sein Werk Principles of Psychology (1855; dt. Prinzipien der Psychologie, 1882–86). Bei der Arbeit an diesem Werk erlitt Spencer infolge Überarbeitung einen Zusammenbruch, aus dem eine chronische physische Gebrechlichkeit resultierte, die ihm für den Rest seines Lebens nur wenige Stunden konzentrierter Arbeit pro Tag erlaubte. In den 50er Jahren reifte in Spencer die Idee, die Entwicklung als Grundprinzip aller Bereiche von Natur und Gesellschaft nachzuweisen. Im Jahr 1858 konzipierte er schließlich, trotz seiner schwachen Konstitution, sein auf 10 Bände angelegtes monumentales Werk „System der synthetischen Philosophie“. Obwohl er aus gesundheitlichen Gründen mehrfach zu längeren Pausen gezwungen wurde und aus finanziellen Gründen Mitte der 60er Jahre die Arbeit beinahe einstellen musste, realisierte er in den Jahren von 1860 bis 1896 sein Lebenswerk nahezu exakt nach Plan. 1862 veröffentlichte er die First Principles, worin die Grundlagen der Philosophie, so der Titel der deutschen Übersetzung von 1875, behandelt werden. In den folgenden Jahren erschienen jeweils in mehreren Bänden die „Prinzipien“ der Biologie, Psychologie (2. Aufl.), Soziologie und Ethik. 1898 verlegte Spencer seinen Wohnsitz nach Brighton, wo er im am 8. Dezember 1903 starb. Wissenschaft, Religion und das unerkennbare Absolute. Im ersten Teil der First

Principles (1862) hat Spencer die erkenntnistheoretische Begründung seiner synthetischen Philosophie geliefert. Als Positivist versteht er Erkennen als Beschreiben oder Erfassen von Relationen zwischen Dingen. Die Naturwissen-

Herbert Spencer (1820–1903) Positivist und Philosoph der Entwicklung

Herbert Spencer: Synthetische Philosophie der Evolution 81

schaften beschreiben, wie Körper unter dem Einfluss von Kräften sich bewegen und aufeinander wirken. Doch was Materie und Kraft ihrem inneren Wesen nach sind, bleibt dabei stets verschlossen. Nach Spencer ist menschliche Erkenntnis überhaupt zutiefst relativ, insofern durch das Erfassen der Beziehungen der Dinge untereinander gleichsam nur die Außenseite der Dinge erkannt wird, wohingegen ihr inneres Wesen unergründlich bleibt. Wir kennen immer nur die Manifestationen des Wesens der Dinge, aber nie dieses selbst. Wissenschaftliche Begriffe und Prinzipien sind daher keine Abbilder, sondern nur „Symbole“ für die unerkennbare Wirklichkeit. „Die Forschungen des Wissenschaftlers lassen ihn nach allen Richtungen unlösbaren Rätseln begegnen, und immer klarer begreift er, daß diese unlösbare Rätsel sind. Mit der Größe lernt er auch die Kleinheit des menschlichen Geistes kennen – seine Kraft, alles zu verarbeiten, was innerhalb der Grenzen der Erfahrung auftritt, und seine Unfähigkeit, das außerhalb der Erfahrung Liegende zu bewältigen. Mehr als alle anderen erkennt er, daß die wahre Natur keines Gegenstandes erkennbar ist.“ Spencer behauptet damit, dass die Philosophie, da sie wie alle menschliche Erkenntnis an die Tatsachen der Erfahrung gebunden ist, sich auf die Herausarbeitung der allgemeinen Merkmale der positiv gegeben Welt beschränken muss. Die Grundtatsachen der Welt, wie sie etwa in physikalischen Gesetzen oder Grundkräften gegeben sind, lassen sich dagegen nicht weiter aufklären. Vor allem in diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Spencer behauptet, dass die Philosophie das wahre Wesen der Welt nicht erfassen kann. In Abgrenzung zu einer apriorischspekulativen Metaphysik bezeichnet er seine synthetische Philosophie daher auch als „Kosmologie“. Die Anerkennung der Unerkennbarkeit des Wesens der Welt eröffnet nach Spencer die Möglichkeit, Wissenschaft und Religion miteinander zu versöhnen. Denn das, worin nach seiner Ansicht alle Religionen übereinstimmen, ist die Überzeugung, dass die Welt letztlich nicht aus sich selbst erklärt werden kann, sondern dass dazu etwas „Jenseitiges“ angenommen werden muss. Spencer behauptet nun, dass die These einer für die Wissenschaften ihrem Wesen nach unbegreiflichen Wirklichkeit und die religiöse Annahme einer Transzendenz im Grunde auf dieselbe „höchste Wahrheit“ hinauslaufen, nämlich auf die Anerkennung eines der Welt zugrunde liegenden, aber unerkennbaren „Absoluten“. Spencer weiß natürlich, dass sich Wissenschaft (und Philosophie) über diese Grenze faktisch immer wieder hinwegsetzen, wenn sie Behauptungen über das Wesen der Wirklichkeit machen, und dass auch die Religionen mit theolo

H. Spencer: First Principles, New York 1910, S. 57; zit. nach W. Durant (1982) S. 428.

82 Metaphysik der Evolution

gischen Lehren und Dogmen über das Wesen Gottes verknüpft werden. Aber sofern beide konsequent bleiben und die Grenzen der menschlichen Erkenntnis respektieren, müssen sie nach Spencer die Welt zuletzt als „Mysterium“ stehen lassen und damit ein unerkennbares Absolutes anerkennen. Mit dieser Lehre vom „Unerkennbaren“, die eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Kants Lehre vom Ding an sich hat, wollte Spencer Frieden zwischen Wissenschaft und Religion stiften, doch brachte er damit vor allem Theologen gegen sich auf. Entwicklung als einheitliche Weltformel. Die Aufgabe der Philosophie ist nach

Spencer die Synthese der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer einheitlichen Theorie. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die Grundsätze und Grundbegriffe der Physik. In den Prinzipien von der Erhaltung der Masse und der Erhaltung der Kraft sowie in der Vorstellung der Materie als Erscheinung anziehender und abstoßender Kräfte findet er Raum, Zeit, Materie, Bewegung und Kraft als die grundlegenden Vorstellungen der Physik. In Übereinstimmung mit dem mechanistischen Materialismus behauptet Spencer nun, dass sich alle Phänomene der Realität auf die beiden Grundprinzipien Materie und Bewegung zurückführen lassen. Daher muss sich auch Entwicklung als Bewegung von Materie verstehen lassen. Im Zentrum von Spencers First Principles (1862) steht die Formulierung und Begründung eines allgemeinen Entwicklungsbegriffs, der für alle Bereiche der Welt vom kosmischen Geschehen bis zur Entwicklung von Gesellschaft und Geschichte gültig sein soll. Dieser allgemeine Begriff besteht aus mehreren Komponenten. Zunächst ist Entwicklung ein Prozess der „Integration“ von Materie, insofern ursprünglich zerstreute Teile zu einem Ganzen („Aggregat“) zusammengeschlossen werden. Ein weiteres allgemeines Merkmal von Entwicklung ist die „Differenzierung“ der Materie, insofern das sich bildende Ganze eine sich von anderen Dingen unterscheidende, individuelle Form erhält. Integration und Differenzierung von Materie findet z. B. statt, wenn aus einem ursprünglich gleichartigen Urnebel verschiedene, ungleichartige Planeten entstehen. Entwicklung ist daher auch stets Übergang von unbestimmten, gleichartigen Zuständen zu bestimmten, ungleichartigen Zuständen, also Übergang von Homogenität zu Heterogenität. Ein Kennzeichen von Entwicklung besteht schließlich in der Abgabe oder „Zerstreuung“ von Bewegung, insofern die zu einem Aggregat verbundenen Teile ihre früheren selbständigen Bewegungen verlieren. Atome verlieren z. B. ihre frühere Selbständigkeit, wenn sie zu einem Molekül verbunden werden, und Menschen müssen ihre ursprüngliche, natürliche Freiheit einschränken, wenn sie sich zu einer Gesellschaft zusammenschließen. Umgekehrt besteht das Vergehen eines Aggregats darin, dass es sich

Herbert Spencer: Synthetische Philosophie der Evolution 83

in seine Teile auflöst, wobei die Teile ihre selbständigen Bewegungen zurückerhalten und das Ganze seine individuelle Form verliert. Das Weltbild der Entwicklung. Die sich im Großen wie im Kleinen vollziehende

Entwicklung und Auflösung aller Dinge ist nach Spencer durch mechanische Gesetze genau bestimmt. Alle Entwicklungen laufen auf ein Gleichgewicht als ihren Höhepunkt zu und verharren dann in diesem Zustand eine gewisse Zeit. In einem Gleichgewicht befindet sich nach Spencer unser Sonnensystem. Doch irgendwann wird jedes Gleichgewicht destabilisiert, wodurch das Ganze in Auflösung übergeht. Mit der These vom Gleichgewicht als Höhepunkt einer Entwicklung will Spencer jedoch nicht sagen, dass alle sich entwickelnden Dinge ihren Höhepunkt auch immer erreichen. Jede Entwicklung kann durch äußere Ursachen gestört oder zerstört werden. Nicht jedes Lebewesen erreicht das Erwachsenenalter und auch eine geschichtliche Entwicklung kann durch natürliche oder politische Katastrophen gestoppt werden. Damit lehnt Spencer auch die Vorstellung ab, dass die Geschichte einen unaufhaltsamen Fortschritt darstellt. Da es Entwicklung und Auflösung auf allen Ebenen gibt, stellt sich für Spencer die Frage nach der Entwicklung des Universums im Ganzen. Gibt es ein Ende der Welt, wenn alle Sterne und Planeten zu Staub zerfallen sind? Besteht dies Ende in einem universellen Tod des Universums? Nach Spencer gibt es zwar (noch) keine wissenschaftlich verlässliche Antwort auf diese Frage, aber er hält es doch für wahrscheinlich, dass nach dem Ende der Welt eine neue Welt beginnt. Jedenfalls bekundet er seine Sympathie für die antike Idee eines periodischen Wechsels von Weltentstehung und Weltuntergang. Soweit stimmt Spencer Sicht der sich entwickelnden Welt weitgehend mit dem Materialismus überein. Dennoch beansprucht seine Philosophie der Entwicklung ja nur die äußere, erfahrbare Seite der Wirklichkeit, nicht jedoch ihr inneres Wesen zu begreifen. Daher lehnt er Spiritualismus und Materialismus als unzulässige Spekulationen über das Absolute ab. Ähnlich wie Spinoza betrachtet er Materie und Geist vielmehr als zwei Erscheinungsweisen des an sich unerkennbaren Absoluten. Wirkung. Mit seiner evolutionären Weltanschauung wurde Spencer der einfluss-

reichste englische Philosoph seiner Zeit, der auch großen Einfluss auf die breite Masse der Gebildeten ausübte. Zusammen mit Darwin verhalf er dem Ent

Eine genauere Analyse von Spencers Gesetz der Entwicklung findet sich bei O Gaupp: Herbert Spencer (1923) S. 87–92.

84 Metaphysik der Evolution

wicklungsgedanken gegen den erbitterten Widerstand der Theologen zum Durchbruch. Auch die Einzelwissenschaften, insbesondere die Soziologie und Psychologie, erhielten von ihm wichtige Impulse. Innerhalb der Philosophie findet sich sein Einfluss zunächst im Positivismus und im Materialismus, z. B. bei Ernst Haeckel. Mit seinem evolutionären Weltbild hat er aber vor allem der modernen Metaphysik der Evolution den Weg geebnet. Seine mechanistische Auffassung von Entwicklung wurde zum Anstoß für Bergsons Konzept der „kreativen Evolution“. Würdigung. Ungeachtet der großen Verdienste Spencers um die Verbreitung des Evolutionsgedankens sind zentrale Stücke seiner Entwicklungslehre doch ernsthaften Einwänden ausgesetzt. Zunächst befindet sich seine Lehre vom unerkennbaren Absoluten in einer ähnlichen Situation wie Kants Lehre vom Ding an sich, insofern das Absolute wie das Ding an sich ein Dasein ohne (erkennbares) Wesen sein soll. Anders als Kant ist Spencer aber ein erkenntnistheoretischer Realist, der die bewussteinsunabhängige Realität der raumzeitlichen Welt anerkennt. Ob jedoch die Annahme der Unerkennbarkeit des inneren Wesens der Wirklichkeit es rechtfertigt, von einem unerkennbaren „Absoluten“ zu sprechen, ist fraglich. Auch Spencers allgemeiner Entwicklungsbegriff enthält fragliche Komponenten. Zweifelhaft ist z. B., ob Entwicklung tatsächlich immer einen Übergang von gleichartigen zu ungleichartigen Zuständen darstellt. Spencer belegt seine Thesen zwar stets mit empirischem Material, aber er wählt, wie eingewendet wurde, immer nur das seine Thesen stützende Material aus und ignoriert den Rest. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass Spencers evolutionäres Weltbild sich auf die Grundsätze der klassischen Physik stützt, die durch die Entwicklung der modernen Physik revidiert wurden.

2. Henri Bergson: Metaphysik der schöpferischen Evolution Philosoph der schöpferischen Entwicklung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war

Bergson der einflussreichste Vertreter moderner Metaphysik. Anders als Schopenhauer und Nietzsche war er schon zu Lebzeiten sehr populär. Mit seiner Metaphysik der „schöpferischen Entwicklung“, die sich nicht zuletzt als Gegenposition zu Spencer versteht, hat er ein evolutionäres Weltbild entworfen, das Leben und Geist eine besondere, eigenständige Rolle im Universum zuschreibt und das sich vom Materialismus distanziert. Bergson stützt seine Metaphysik auf eine Erkenntnistheorie, die auf eine neue Weise die Grenzen des Verstandes

Henri Bergson: Metaphysik der schöpferischen Evolution 85

aufzeigen und zugleich die „Intuition“ als eine dem Verstand überlegene, metaphysische Erkenntnisform herausstellen will. Attraktiv wurde seine „Lebensphilosophie“, wie seine Position auch genannt wird, für die Zeitgenossen besonders dadurch, dass er sie nicht nur durch eine neuartige Erkenntnistheorie begründete, sondern vor allem auch dadurch, dass er seine metaphysischen Grundthesen durch Analyse und Kritik der modernen Wissenschaften gewann. Trotz seiner Beiträge zur Erkenntnistheorie und Ethik blieb Bergson in erster Linie Metaphysiker. Leben und Werk. Henri Bergson wurde am 18. Oktober 1859 als Sohn polnischjüdischer Eltern in Paris geboren. Er war ein hervorragender Schüler, dem durch ein Stipendium der Besuch des Gymnasiums ermöglicht wurde. Nach dem Studium der Philosophie an der berühmten École normale supérieure in Paris war er zunächst, wie später Sartre, Lehrer an verschiedenen Gymnasien, zuerst in der Provinz, danach in Paris. In den 80er und 90er Jahren betätigte er sich neben seiner Berufstätigkeit als Übersetzer, hielt Vorträge und veröffentlichte kleinere Abhandlungen. Bekannt wurde Bergson zunächst mit seinem Buch Essais sur les données immédiates de la conscience (1889; dt. Zeit und Freiheit, 1911), worin er sich mit dem metaphysischen Problem der Willensfreiheit auseinandersetzt. Sein nächstes Werk Matière et mémoire (1896; dt. Materie und Gedächtnis, 1908) war dem Leib-Seele-Problem gewidmet. Trotz des großen Ansehens, das er schon zu dieser Zeit genoss, scheiterten zwei Bewerbungen um eine Professur an der Sorbonne. Im Jahr 1900 wurde Bergson schließlich Professor für Philosophie an die Eliteuniversität „Collège de France“. 1903 veröffentlichte er die programmatische Abhandlung Introduction à la métaphysique (dt. Einführung in die Metaphysik, 1934) und vier Jahre später sein metaphysisches Hauptwerk L’évolution créatrice (1907; dt. Schöpferische Entwicklung, 1912). Während des Ersten Weltkriegs war Bergson diplomatischer Gesandter in Spanien und in den USA. Vermutlich war er daran beteiligt, Präsident Wilson zum Kriegseintritt der USA an der Seite der Entente zu bewegen. Im Jahr 1922 wurde Bergson Präsident der Völkerbundkommission für geistige Zusammenarbeit und als Krönung seiner Karriere erhielt er im Jahr 1927 den Nobelpreis für

Henri Bergson (1859-1941) Kritiker des Materialismus und Vertreter einer Metaphysik der schöpferischen Entwicklung

86 Metaphysik der Evolution

Literatur. In den 20er Jahren ging sein Einfluss jedoch allmählich zurück, zumal er sich wegen einer Erkrankung weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückzog und auch nur noch wenig publizierte. Nach längerem Schweigen erschien schließlich seine moral- und religionsphilosophische Schrift Les deux sources de la morale et de la religion (1932; dt. Die beiden Quellen der Moral und der Religion, 1933). Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs siedelte Bergson in die Nähe von Bordeaux über, doch kehrte er nach der Proklamation der Vichy-Regierung nach Paris zurück. Obwohl seine Werke seit 1914 auf dem Index der katholischen Kirche standen, fühlte er sich zuletzt dem Katholizismus eng verbunden. In seinem 1937 verfassten Testament schrieb er: „Ich hätte konvertiert, wenn ich nicht die seit Jahren sich vorbereitende enorme Welle des Antisemitismus gesehen hätte, die im Anrollen war. Ich wollte bei denen bleiben, die morgen verfolgt werden.“ Nachdem er eine ihm angebotene Sonderbehandlung bei der beginnenden Verfolgung der Juden im besetzten Frankreich abgelehnt hatte, starb Bergson am 4. Januar 1941 infolge einer Lungenentzündung, die er sich beim Schlangestehen in der Winterkälte zuzog, als er sich als Jude registrieren lassen wollte. Kritik der naturwissenschaftlichen Psychologie. Bergson hat sein metaphysisches

System in seinen Schriften zunehmend entfaltet. In seiner frühen Schrift Zeit und Freiheit (1889) entwickelt er zunächst eine Konzeption von menschlicher Freiheit, die sich auf eine neue Sicht des menschlichen Seelenlebens stützt. Sein Ausgangspunkt ist die damalige naturwissenschaftliche Psychologie, die Bewusstseinszustände wie Empfindungen, Gefühle und Affekte als messbare „Elemente“ begriff und die Verknüpfung dieser Elemente im Vorstellungsleben durch Assoziationsgesetze zu beschreiben versuchte. Nach Bergson ist eine solche „mechanistische“ Psychologie jedoch verfehlt, weil sie auf einer unzulässigen Übertragung von Begriffen der räumlichen Welt auf die zeitliche Welt des Bewusstseins beruht. In der materiellen Welt gibt es allerdings feste, selbständige Dinge, die man isolieren, in Teile zerlegen und messen und deren Bewegungen man durch Gesetze beschreiben kann. Doch während in der materiellen Welt das mechanistische Weltbild gilt, fehlen im seelischen Innenleben die Voraussetzungen für die Anwendung mechanistischer Begriffe. Im seelischen Erleben gibt es nämlich gar keine festen, abgegrenzten „Elemente“ und auch keine Abfolgen isolierter Momente oder Augenblicke, die sich durch Gesetze beschreiben ließen. 

Zitiert nach Arne Grøn: Henri Bergson. Das unmittelbar Gegebene. In: A. Hügli, P. Lübcke (1992) S. 415.

Henri Bergson: Metaphysik der schöpferischen Evolution 87

Bewusstsein als „Dauer“. Die Abfolge seelischer Erlebnisse hat nach Bergson

eher Ähnlichkeit mit der Wiederholung eines Tons, der sich bei wiederholter Wahrnehmung ändert. Um eine adäquate Auffassung von der Psyche zu erhalten, muss man sich von allen räumlichen Bildern und allen theoretischen Kon­ strukten frei machen und sich ganz an das unmittelbare Erleben halten. Wie der französische Titel seines Buches sagt, geht es ihm darum, die „unmittelbaren Tatsachen des Bewusstseins“ freizulegen. Dieses philosophische Anliegen hat große Ähnlichkeit mit der einige Jahre später von Husserl entwickelten phänomenologischen Methode. Schon Bergson will alle Vorurteile und Theorien hinter sich lassen und sich ganz auf die reinen Tatsachen des Bewusstseins konzentrieren. Eine solche Versenkung in die Innenwelt zeigt nach Bergson, dass es im ursprünglichen Seelenleben keine isolierten Elemente und keine Folge getrennter Augenblicke gibt, sondern dass Momente der Vergangenheit in der Gegenwart aufbewahrt sind. Das innere Erleben zeichnet sich daher vor allem durch „Dauer“ („durée“) aus, d. h. durch das Fortdauern vergangener Erlebnisse im gegenwärtigen Erleben. Der Begriff „Dauer“ spielt eine zentrale Rolle in Bergson Theorie. Doch wenngleich es sich dabei um einen schillernden Begriff handelt, besteht seine zentrale, immer wiederkehrende Bedeutung darin, dass das ursprüngliche Bewusstsein aus einem „Strom“ oder „Fluss“ von Erlebnissen besteht, in denen die Vergangenheit ihre Spuren hinterlässt. Physikalische Zeit und erlebte Zeit. Bergsons Grundthese von der „Dauer“ als Merkmal des Psychischen hat wichtige Konsequenzen. Zunächst folgt aus dieser These, dass im inneren Erleben eine ursprüngliche Zeiterfahrung liegt, die von der physikalischen („objektiven“) Zeit grundverschieden ist. Wie das innere Erleben insgesamt bezeichnet Bergson auch diese ursprüngliche, erlebte Zeit als „Dauer“. Während die physikalische Zeit mit Hilfe regelmäßiger Abläufe der Natur gemessen wird und daher durch räumliche Bilder und Begriffe gedacht und vorgestellt wird, ist die erlebte Zeit etwas ganz Einzigartiges, Einmaliges. Im inneren Erleben gibt es nämlich keine Wiederholungen, d. h. kein seelischer Zustand tritt unverändert noch einmal auf und keine Abfolge seelischer Ereignisse kehrt jemals wieder. Die Begründung dieser wichtigen These liegt nach Bergson darin, dass bei der Wiederholung einer Erfahrung, z. B. beim wiederholten Anschauen eines Films, die erlebende Person selbst sich verändert hat. Bei einer Wiederholung spielt die Erinnerung an eine frühere Erfahrung eine wichtige Rolle, sodass die spätere Erfahrung immer schon eine neue Erfahrung 

Zu den verschiedenen Abwandlungen des Begriffs der „Dauer“ in Bergsons Werk vgl. E. Oger (1991) S. IX–LVII.

88 Metaphysik der Evolution

darstellt. Wiederholung im strengen Sinne gibt es daher nach Bergson im Seelischen nicht. Verstand und Intuition. Die Unterscheidung von räumlicher Außenwelt und zeitlicher Innenwelt verknüpft Bergson mit der erkenntnistheoretischen Unterscheidung von Verstand und Intuition. Die Welt der Materie ist das Feld des analysierenden, rechnenden Verstandes, der die Dinge in Teile zerlegt und ihre Bewegungen in Gesetzen beschreibt. Der Bereich des Seelischen ist dagegen nur durch „Intuition“, also durch Hinabtauchen in das unmittelbare Leben zu erfassen. Wenngleich Bergson in seiner ersten Schrift auch die Übertragung der Kategorien des Verstandes auf die organische Welt ablehnt, hat er sich der philosophischen Deutung des Organischen erst später zugewandt. Freiheit. Auf der Basis seiner neuen Psychologie versucht Bergson die Annahme menschlicher Freiheit zu rechtfertigen. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist der durch Intuition gesicherte Befund, dass es in der Innenwelt keine isolierten Elemente und keine Wiederholungen von Erfahrungen gibt. Diese Annahme genügt nach Bergson aber bereits, um den Determinismus aus dem Bereich des Seelischen zu verbannen. Denn wenn es keine Wiederholung gleicher Ereignisse gibt, kann es auch keine Gesetze geben, die die Ereignisse bestimmen. Und ohne die Annahme von Gesetzen wiederum wird die These des Determinismus sinnlos. Eine Beschreibung der Dinge mittels allgemeiner Gesetze können nach Bergson nur die Naturwissenschaften liefern und daher kann sich auch nur im Bereich der materiellen Natur das Problem des Determinismus überhaupt stellen. Aber auch die These des Indeterminismus, dass die Abläufe nicht durch Gesetze festgelegt sind, sondern zufällig erfolgen, hat aus einem analogen Grund im Feld des inneren Erlebens nichts zu suchen. Wo es nämlich keine Wiederkehr gleicher Elemente gibt, gibt es auch kein Abweichen von Gesetzen und daher keinen Zufall. Bergson glaubt daher, dass das Problem der Willensfreiheit „jenseits“ der traditionellen Debatte zwischen Deterministen und Indeterministen angesiedelt ist. Nach seiner Ansicht ist das menschliche Handeln frei, wenn der Mensch sich als ganze Person darin verwirklicht. „Kurz, wir sind frei, wenn unsre Handlungen aus unsrer ganzen Persönlichkeit hervorgehen, wenn sie sie ausdrücken, wenn sie jene undefinierbare Ähnlichkeit mit ihr haben, wie man sie zuweilen zwischen dem Kunstwerk und seinem Schöpfer findet.“ Wenn das Ich, nicht aber irgendwelche natürlichen Anlagen, der Urheber der Tat ist, ist der Mensch frei. 

H. Bergson: Zeit und Freiheit, Frankfurt am Main 1989, S. 129.

Henri Bergson: Metaphysik der schöpferischen Evolution 89

Kritik mechanistischer Leib-Seele-Theorien. In seiner zweiten Schrift Materie

und Gedächtnis (1896) versucht Bergson durch eine Analyse des psychologischen Phänomens des Gedächtnisses neues Licht auf das metaphysische Problem der Beziehung von Körper und Geist zu werfen. Ähnlich wie in seiner Freiheitsschrift wendet er sich auch hier gegen die zeitgenössische naturwissenschaftliche Psychologie und den von ihr meist vertretenen „psychophysischen Parallelismus“, also gegen die Auffassung, dass körperliche und seelische Vorgänge parallele Vorgänge ohne gegenseitigen Einfluss sind. Nach Bergson ist diese Position ebenso unhaltbar wie die seinerzeit ebenfalls verbreitete Position des „Epiphänomenalismus“, der geistige Vorgänge als bloße Anhängsel körperlicher Vorgänge betrachtet. Beide Positionen begehen den Fehler, dass sie die Arbeitsweise des Gehirns als Schlüssel zum Verständnis des Bewusstseins betrachten, also mechanistische Begriffe für die Deutung des Geistes verwenden. Indem Bergson sich gegen solche Versuche energisch zur Wehr setzt und dagegen die grundlegende Verschiedenheit von materiellen und seelischen Vorgängen behauptet, läuft seine Position auf einen Leib-Seele-Dualismus hinaus. Bergson setzt sich in diesem Kontext auch mit den erkenntnistheoretischen Positionen des Realismus und Idealismus auseinander, soweit diese monistische Positionen in der Leib-Seele-Frage zu stützen scheinen. Der Idealismus hat nach Bergson darin Recht, dass Wahrnehmungen stets von einem Subjekt als ihrem Zentrum abhängen, aber er gleitet in einen subjektiven Idealismus oder Spiritualismus ab, wenn er, darüber hinausgehend, die Materie als bloße Vor­ stellung deutet und die ganze räumlich-materielle Welt gleichsam ins Subjekt hineinzieht. Umgekehrt hat der Realismus mit seiner Annahme einer un­ abhängigen materiellen „Außenwelt“ zwar Recht, aber er geht in einen unhaltbaren Materialismus über, wenn er den Geist auf die Materie zu reduzieren versucht. Selektive Wahrnehmung. Realismus und Idealismus haben nach Bergson noch

einen weiteren Fehler gemeinsam. Beide verstehen die menschliche Wahrnehmung nämlich als „reine“ Erkenntnis, d. h. als eine interesselose, sachliche Beschreibung, gleichsam als ein „Fotografieren“ der Welt. Ähnlich wie Nietzsche und der Pragmatismus betont Bergson, dass die Wahrnehmung kein adäquates Bild der Welt liefert, sondern stets nur einen subjektiv gefärbten, auf das praktische Leben ausgerichteten Ausschnitt. Aus den vielfältigen Eindrücken und „Bildern“, die die Welt dem Wahrnehmenden präsentiert, kommen nur die in der Wahrnehmung zu Bewusstsein, die für das Handeln Bedeutung besitzen. Die wahrgenommene Welt ist somit eine für Leben und Überleben selektierte Weltsicht. Die Wahrnehmung steht somit in engem funktionalen Zusammen-

90 Metaphysik der Evolution

hang mit dem Leib und liefert daher keine Anhaltspunkte für eine Sonderstellung des Geistes. Das Gedächtnis. Bergson geht es nun aber darum, ein Element innerhalb des seelischen Erlebens zu finden, das nicht durch natürliche Selektion zu erklären ist. Nach seiner Ansicht kann nämlich nur ein solches, für die Evolution des Menschen nutzloses, überflüssiges Element die Annahme der Autonomie des Geistigen stützen. Wie im Titel „Materie und Gedächtnis“ bereits angedeutet wird, glaubt Bergson, dass das menschliche Gedächtnis in einem bestimmten Sinne evolutionär nutzlos ist. Ohne evolutionären Sinn und Zweck ist jedoch nicht das Gedächtnis überhaupt, sondern nur eine seiner beiden Formen. Durchaus nützlich ist nämlich das „mechanische“ (oder motorische) Gedächtnis, das durch Wiederholung oder Übung bestimmter Vorgänge zustande kommt, etwa wenn ein Musikinstrument erlernt wird oder wenn etwas auswendig gelernt wird, und danach in festen, automatisierten Gewohnheiten besteht. Im Gegensatz zu diesem mechanischen Gedächtnis, das mit Körperfunktionen verknüpft ist, besteht das „reine“ Gedächtnis im bloßen Erinnern an frühere Erlebnisse oder Ereignisse. In einer erinnernden Rückkehr in die Vergangenheit fehlen nach Bergson alle Nützlichkeitserwägungen. Auch wenn in bestimmten Fällen eine Erinnerung zum Motiv einer Handlung werden kann, etwa wenn die Erinnerung an einen Freund zum Wunsch wird ihn wiederzusehen, ist das reine Gedächtnis nach Bergson eine ausschließlich geistige Funktion ohne irgendeinen Nutzen für das organische Leben. Darüber hinaus ist er der Ansicht, dass das reine Gedächtnis sich nicht im Gehirn lokalisieren lässt, wobei er glaubt, die Tatsachen der Aphasie und Amnesie, also die durch Gehirnverletzungen hervorgerufenen Sprach- und Gedächtnisstörungen, mit seiner Auffassung vereinbaren zu können. In dem Phänomen des reinen Gedächtnisses zeigt sich daher Bergson die Autonomie des Geistes. Das Gehirn als Vermittler zwischen Körper und Geist. Die Selbständigkeit des Geistes bedeutet nach Bergson aber nicht, dass die geistigen Funktionen gänzlich unabhängig vom Körper wären. Er gesteht dem Materialismus zwar zu, dass es zwischen Körper und Geist einen Zusammenhang gibt, aber er betont zugleich, dass diese Abhängigkeit keinen Schluss vom Wesen des Körpers auf das Wesen des Geistes zulässt. „Daß zwischen dem Bewußtseinszustand und dem Gehirn ein Zusammenhang besteht, ist unbestreitbar. Es besteht aber auch ein Zusammenhang zwischen dem Kleid und dem Nagel, an dem es aufgehängt ist, denn wenn der Nagel herausgezogen wird, fällt das Kleid herunter. Kann man deshalb sagen, daß die Form des Nagels die Form des Kleides andeute oder uns

Henri Bergson: Metaphysik der schöpferischen Evolution 91

irgendeinen Schluß auf sie erlaube? Ebensowenig kann man daraus, daß die psychologische Tatsache an einen Gehirnzustand angehängt ist, auf den ‚Parallelismus‘ der beiden Reihen, der psychologischen und der physiologischen, schließen.“ Dass sich die geistigen Funktionen nicht auf Gehirnprozesse reduzieren lassen, hat Bergson noch mit einem anderen Bild veranschaulicht. Danach gleicht das Bewusstsein einem Theaterstück, dessen Bedeutung sich nicht aus dem bloßen Auf- und Abtreten der Schauspieler auf der Bühne ergibt. Zu dieser Auffassung einer partiellen Selbständigkeit des Geistes gehört nach Bergson, dass das Gehirn als Vermittler zwischen Bewusstsein und Körperbewegungen fungiert. Das Gehirn steuert die Selektion der Wahrnehmungen und gibt dem Geist gleichsam einen Blick in die Welt, andererseits werden die Vorstellungen und Zwecke des Geistes über das Gehirn in Körperbewegungen umgesetzt. Anders als der psychophysische Parallelismus behauptet Bergson damit in der Tradition Descartes eine Wechselwirkung zwischen Körper und Geist. Auch wenn Bergson sich in seinem Buch nicht zur Frage der Unsterblichkeit äußert, hat er in anderen Zusammenhängen doch eine gewisse Sympathie für diese Vorstellung erkennen lassen. Das System der schöpferischen Entwicklung. In seinem metaphysischen Haupt-

werk Schöpferische Entwicklung (1907) stellt Bergson dem mechanistischen Weltbild ein Verständnis von kreativer Evolution und eine dynamische Wirklichkeitssicht entgegen. In seinen vorangegangenen Schriften hatte er die durch Intuition erfassbare Welt des Bewusstseins scharf von der verstandesmäßig erfassbaren Welt der Materie abgegrenzt. Nun geht er dazu über, die philosophische Intuition auch auf die organische Natur anzuwenden und damit eine neue Sicht der Lebensprozesse zu gewinnen.

Kritik des Mechanismus und Vitalismus. Ein erstes Anliegen Bergsons besteht darin, die Unzulänglichkeiten der traditionellen Konzepte des Mechanismus und Vitalismus nachzuweisen. Verfehlt ist nach seiner Ansicht sowohl die mechanistische Position, die die Lebewesen letztlich als berechenbare Automaten begreift, als auch die vitalistische Position, die eine zielgerichtete Lebenskraft in den Organismen annimmt. Während der Hauptfehler des Vitalismus darin besteht, die Kategorie des Zwecks unzulässigerweise von dem Bereich des menschlichen Handelns auf die organische Natur zu übertragen, ist der Mechanismus außerstande zentrale Merkmale der Organismen zu erklären. Insbesondere  

H. Bergson, Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S. IV. Vgl. E. Oger (1991) S. XVIII.

92 Metaphysik der Evolution

bleibt nach Bergson die Tatsache mechanisch-kausal unerklärbar, dass ähnliche Organe bei Lebewesen ganz verschiedener Entwicklungslinien auftreten. Darüber hinaus haben beide Positionen den grundlegenden Mangel, dass sie Lebewesen als (durch Ursachen oder Zwecke) determiniert betrachten und daher nicht in der Lage sind die Tatsache zu erklären, dass in der Evolution dauernd neue Lebensformen entstehen. Bergson Grundthese lautet daher: Die Evolution ist schöpferisch und lässt sich nicht voraussagen. Die Zukunft ist offen. Élan vital. Zu einem angemessenen Verständnis von schöpferischer Entwick-

lung will Bergson vordringen, indem er seine Intuition der „Dauer“ auf die organische Natur überträgt. Ähnlich wie Schopenhauer, benutzt er das innere Erleben als Schlüssel zum Verständnis der Natur und kehrt die materialistische Vorgehensweise damit genau um. Indem Bergson die Intuition auf die lebendige Natur anwendet und mit ihr zum inneren Wesen des Lebendigen vordringt, offenbart sich ihm das Wesen des Lebendigen als „élan vital“. Mit diesem Ausdruck, der im Deutschen meist als „Lebensschwung“ oder „Lebensimpuls“ übersetzt wird, soll die treibende Kraft aller Entwicklung und die Ursache der Vielfalt der Lebensformen bezeichnet werden. In der intuitiven Schau erweist sich somit auch Leben, wie vordem Bewusstsein, als „Dauer“, also als ein ständiges Fließen und Verändern, wobei Vergangenes bewahrt und Neues geschaffen wird. Bergson betont nun freilich stärker als früher den Aspekt des Kreativen. Die Wirklichkeit als Werden. Nachdem Bergson seine Sicht der Dauer auf das

Leben übertragen hat, geht er in diesem Werk dazu über, auch die anorganische Natur und das gesamte Universum als „Dauer“ zu begreifen. Alles Stabile und Feste in der Welt gibt es nur in der Sicht des Verstandes. Dringt man mit der Intuition tiefer ein, dann zerfließt alles Stabile und Feste und zeigt sich in ständiger Veränderung und dauerndem Wandel begriffen. Das Bild beharrlicher Dinge ist im Grunde eine bloße Augenblicksaufnahme des Verstandes, die zu grob ist, um das ständige Werden aller Dinge erkennen zu können. Damit vertritt Bergson in der Tradition Heraklits ein dynamisches Weltbild, das ohne die Annahme von Substanzen auskommt.



Diese Deutung dürfte kaum zu umgehen sein, obgleich Bergson sich energisch dagegen verwahrt. Vgl. H. Bergson: Einführung in die Metaphysik. In: Denken und schöpferisches Werden, Hamburg 1993, S. 211.

Henri Bergson: Metaphysik der schöpferischen Evolution 93

Mechanistische Oberflächensicht und metaphysische Tiefensicht. Im Kontext

seiner Metaphysik der kreativen Evolution erhält der erkenntnistheoretische Gegensatz von Verstand und Intuition eine neue Bedeutungsnuance. Das durch den Verstand gewonnene Naturverständnis wird nun als eine bloße „Oberflächensicht“ der „Tiefensicht“ der metaphysischen Intuition gegenübergestellt. Für den Verstand besteht die Wirklichkeit aus starren, festen Dingen, die in Teile zerlegt werden können. Das sich daraus ergebende mechanistische Weltbild erlaubt zwar, die Bewegungen in der materiellen Welt wissenschaftlich zu berechnen, doch ist es ein verstandesmäßiges Konstrukt, das dem Charakter der Wirklichkeit als kontinuierlicher Veränderung und Werden nicht gerecht wird. Da der Verstand ein bloßes Werkzeug des Lebens ist, ist das mechanistische Naturbild für praktische Zwecke ausreichend, aber philosophisch gesehen eine bloße „Oberflächensicht“. Im Gegensatz dazu liefert die Intuition eine metaphysische „Tiefensicht“, indem sie unter der Oberfläche das innere Wesen unmittelbar erlebt und bei der Beschreibung dieses Erlebens ohne Kategorien des Verstandes auskommt. „Unterhalb der an der Oberfläche erstarrten und kristallisierten Schicht finde ich eine Kontinuität des Fließens, die mit keinem anderen Fluß zu vergleichen ist. Es ist eine Aufeinanderfolge von Zuständen, von denen jeder den folgenden ankündigt und den vorhergehenden in sich enthält.“ Bei Bergson gibt es daher eine eindeutige Zuordnung von Verstand, Wissenschaft und Materie auf der einen Seite und von Intuition, Leben (und Bewusstsein) und Metaphysik auf der anderen Seite. Aufschwung und Abfall des Lebens. Der élan vital verwirklicht sich in einer

Vielfalt von Lebensformen. Bergson äußert sogar die Vermutung, dass Pflanzen und Tiere gleichzeitig entstanden sind, weil sie durch die Produktion von Sauerstoff in der Fotosynthese bzw. von Stickstoff in der Atmung sich wechselseitig ihre Lebensgrundlagen liefern. Danach teilte sich das tierische Leben in in­ stinktive und intelligente Lebewesen, letztere mit dem Menschen an der Spitze. Der Instinkt reagiert auf bestimmte Reize und steuert das Verhalten der Tiere mit natürlicher Sicherheit und Präzision. Der Verstand schiebt zwischen Reiz und Reaktion noch die Reflexion und erlaubt damit ein flexibleres, aber auch unsicheres Verhalten. Die Intuition scheint Bergson in diesem Zusammenhang als eine Art höheren Instinkt zu betrachten. Der élan vital verwirklicht sich in der Materie, indem er sie zu höheren Lebensformen bildet. Doch in der Natur gibt es nicht nur Entstehung und Ent-



H. Bergson: Einführung in die Metaphysik, S. 185.

94 Metaphysik der Evolution

wicklung von Lebewesen, sondern auch Verfall und Tod, wodurch die Lebewesen in den Schoß der anorganischen Materie zurückkehren. Die Evolution stellt sich daher nach Bergson als ein ständiger Kampf des Lebens mit der Materie dar. Das Leben nimmt die Materie in Dienst und bildet sie zu höheren Formen, doch die Materie löst zuletzt alle organischen Formen wieder auf. Die Evolution zeigt somit zwei Richtungen, eine aufsteigende Richtung bei der Höherentwicklung der Lebewesen und eine absteigende Richtung durch Rückkehr der Lebensformen zur toten Materie. Élan vital und der Gott der Mystik. Obgleich Bergson seine Metaphysik der

schöpferischen Entwicklung als Gegenposition zum Materialismus betrachtete, hat er sich zu den zentralen Fragen der theologischen Metaphysik nach Gott und Unsterblichkeit meist zurückhaltend geäußert. Dennoch hat er, wie bereits erwähnt, der Idee der Unsterblichkeit keineswegs ablehnend gegenübergestanden. Auch zur Gottesfrage hat er sich schließlich, vor allem in seinem Werk Die beiden Quellen der Moral und Religion (1932), positiv geäußert. Er unterscheidet hier zwischen einer „statischen“ Religion, die sich mithilfe des Verstandes eine Vorstellung von Gott und von einem Dasein nach dem Tode bildet, und einer „dynamischen“ Religion, der es nicht um das rationale Begreifen Gottes geht, sondern um das Erleben Gottes durch Intuition und mystische Schau. Bergson bezieht sich dabei ausdrücklich auf die Erfahrungen der Mystiker, die nach seiner Ansicht in einem entscheidenden Punkt alle übereinstimmen. „Also die Natur Gottes […] wird der Philosoph von dem Mystiker erfragen müssen. Diese Natur Gottes würde der Philosoph schnell definiert haben, wenn er die Mystik auf eine Formel bringen wollte. Gott ist Liebe, und er ist Gegenstand der Liebe: das ist die ganze Errungenschaft der Mystik.“10 Was sich in der metaphysischen Intuition zunächst als Lebensschwung erweist, enthüllt sich der noch tiefer dringenden mystischen Schau als Gott und zwar als göttliche Liebe. Indem Bergson den élan vital mit Gott und Liebe in Verbindung bringt, ja ihn als göttliche Liebe versteht, geht seine Metaphysik in Mystik über. Dieser „Gott der Mystik“ ist also nicht der transzendente Schöpfergott, sondern eine sich in der Evolution zunehmend verwirklichende göttliche Macht, die zugleich als Liebe zu denken ist. Wirkung. Die Philosophie Bergsons hatte in den ersten Jahrzehnten des 20.

Jahrhunderts eine enorme Popularität, die nur mit dem Existentialismus Sartres

10 H. Bergson: Die beiden Quelle der Moral und der Religion, Frankfurt am Main 1992, S. 196.

Henri Bergson: Metaphysik der schöpferischen Evolution 95

nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist. Als Metaphysiker der schöpferischen Entwicklung beeinflusste er die gesamte europäische Philosophie und das zeitgenössische Geistesleben überhaupt, wie z. B. die Romanciers Marcel Proust und André Gide. Großen Einfluss hatte Bergson auf die Vertreter der Lebensphilosophie, insbesondere auf Georg Simmel, Oswald Spengler und Hermann Graf Keyserling, aber auch die evolutionären Metaphysiker Whitehead und Teilhard de Chardin. Kaum geringer war Bergsons Resonanz bei den Vertretern der phänomenologischen Ontologie, also bei Husserl, Scheler, N. Hartmann, Heidegger und Sartre. Schließlich findet sich Bergsons Einfluss auch in anderen Strömungen wie etwa dem Pragmatismus von William James und John Dewey und dem kritischen Rationalismus Karl Poppers. Würdigung. Bergson hat mit seiner Metaphysik die Sicht einer kreativen, of-

fenen Evolution begründet, die in Grundzügen auch heute noch aktuell ist. Freilich hat Bergson auch Thesen und Argumente entwickelt, die aus der aktuellen Diskussion verschwunden sind. Beispielsweise wird heute nicht mehr versucht, Willensfreiheit auf die vermeintliche Einmaligkeit des seelischen Geschehens zu stützen; ebenso wird die von Bergson bestrittene Lokalisierbarkeit des Gedächtnisses heute allgemein akzeptiert. Doch abgesehen von einzelnen Lehren, dürfte der Hauptgrund für den Rückgang seiner Rezeption in seiner philosophischen Methode liegen. Bergson belastet nämlich seine These des grundlegenden Unterschieds von Zeit und Raum bzw. von Bewusstsein und Materie mit der Hypothek der „Intuition“, die eine dem Verstand überlegene Methode metaphysischer Erkenntnis sein soll. Nun führt die Verwendung der Intuition bei ihm aber dazu, dass die intuitiven Einsichten häufig nicht mit klaren Begriffen formuliert werden. Daher haben zentrale Begriffe wie „Dauer“ und „Zeit“ nur eine verschwommene Bedeutung. Man fragt sich beispielsweise auch, worin sich denn der „élan vital“ von dem vitalistischen Konzept einer Lebenskraft unterscheiden soll. Damit nicht genug, betrachtet Bergson die Unklarheit solcher Begriffe jedoch nicht als einen Nachteil, sondern geradezu als Bestätigung seiner Auffassung, dass die intuitiv erlebte Tiefenschicht nicht in klare Begriffe des Verstandes übertragen werden kann. Dies ist jedoch eine fragwürdige „Bestätigung“, da sie es gestattet, sich gegen Kritik anzuschirmen. Wegen der Unterordnung des Verstandes unter die Intuition wurde Bergson denn auch von Philosophen ganz verschiedener Richtung, wie etwa von dem Empiristen Bertrand Russell und dem Marxisten Georg Lukács, als Bahnbrecher des Irrationalismus kritisiert. Unbestreitbar ist, dass Bergsons Hervorhebung der Intuition eine Abwertung des Verstandes bedeutet und außerdem eine unverkennbare Tendenz zur Abwertung von Rationalität überhaupt hat. Die Berech-

96 Metaphysik der Evolution

tigung dieser Kritik lässt sich auch kaum durch den Hinweis abschwächen, dass Bergson eine zutiefst humane Ethik vertreten hat und jedem politischen Extremismus fern stand.

3. Alfred N. Whitehead: Die Welt als Prozess und Organismus Mathematiker und Metaphysiker. Whitehead ist ein Vertreter moderner Meta-

physik, der sich schon lange einen Namen als Mathematiker und Physiker gemacht hatte, bevor er im Alter von über sechzig Jahren als Philosoph und Metaphysiker hervortrat. Wie Spencer und Bergson bemüht er sich darum, ein philosophisches Weltbild auf der Basis der Evolutionstheorie zu entwickeln. Bei seiner philosophischen Deutung der Welt als Prozess und Organismus knüpft er zwar auch an Bergson an, doch weist er dessen Abwertung der Vernunft zugunsten einer philosophischen Intuition entschieden zurück. Anders als Bergson bezieht er ferner neben der Biologie die Relativitätstheorie und Quantentheorie ein, wenn er nach der philosophischen Bedeutung der modernen Wissenschaften fragt. Noch entschiedener als Bergson versucht Whitehead schließlich das Weltbild der modernen Wissenschaften mit religiösen Vorstellungen zu versöhnen. Whitehead stellt nicht nur in biographischer Hinsicht einen Sonderfall in der Metaphysik der Moderne dar. Ungewöhnlich, ja fast einzigartig in der modernen Philosophie sind auch die Dunkelheit seiner Grundbegriffe und Refle­ xionen und die Komplexität seines philosophischen Systems. Die Schwerverständlichkeit seiner Schriften wird auch von ausgewiesenen Kennern seines Werks unumwunden zugestanden. Doch anders als Hegel und Heidegger wurde er wegen seiner unbestrittenen wissenschaftlichen Kompetenz nie als spekulativer Phantast oder gar als intellektueller Gaukler angegriffen. Whiteheads Metaphysik gleicht einem in Nebel gehüllten Gebirgsmassiv, von dem man bestenfalls einige besonders markante Züge zu Gesicht bekommt. Leben und Werk. Alfred North Whitehead wurde am 15. Februar 1861 als Sohn

eines anglikanischen Pastors in Ramsgate an der Südostküste Englands geboren. Er studierte ab 1880 Mathematik am berühmten Trinity College in Cam­ bridge, wo schon Newton studiert hatte. 1884 schloss er das Studium mit dem Bachelor of Arts ab und wurde noch im selben Jahr Dozent am Trinity College. Im Jahr 1890 heiratete er Evelyn Wade, die Tochter eines irischen Landadligen, die seine Interessen auch auf religiöse und ästhetische Fragen lenkte und die

Alfred N. Whitehead: Die Welt als Prozess und Organismus 97

lebenslang eine wichtige Gesprächspartnerin für ihn wurde. 1898 veröffentlichte er ein viel beachtetes Buch über Algebra, bevor er schließlich 1905 mit der Arbeit Maxwell’s Theory of Electricity and Magnetism promovierte. Mit dieser und der folgenden Schrift On Mathematical Concepts of the Material World (1906) begann Whiteheads Hinwendung zur Physik und Naturphilosophie. Doch im Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit stand in diesen Jahren die Zusammenarbeit mit seinem ehemaligen Schüler Bertrand Russell an der logischen Begründung der Mathematik, die in dem berühmten dreibändigen Werk Principia Mathematica (1910–12) ihren Niederschlag fand. Kurz bevor Wittgenstein nach Cambridge kam, siedelte Whitehead 1910 nach London über. Hier lehrte er zunächst weiter Mathematik, ab 1914 Physik. Als Früchte seiner Beschäftigung mit Physik und Naturphilosophie erschienen nach dem Ersten Weltkrieg mehrere Schriften, darunter The Concept of Natur (1920; dt. Der Begriff der Natur, 1990), worin Whitehead sich gegen die Zweiteilung der Natur in Materie und Geist wendet und für einen umfassenden Naturbegriff plädiert. Im Jahr 1924 wurde er schließlich als Professor für Philosophie an die Harvard Universität in Cambridge (Massachusetts) berufen. Whitehead wurde nun ganz zum Metaphysiker, der außer Wissenschaft auch Religion und Kulturgeschichte in sein Denken einbezog. Aus seinen Vorlesungen gingen drei Werke hervor, die Whiteheads Ruhm als Metaphysiker begründeten, nämlich Science and the Modern World (1925; dt. Wissenschaft und moderne Welt, 1988), Process and Reality (1929; dt. Prozess und Realität, 1979) und Adventures of Ideas (1933; dt. Abenteuer der Ideen, 1971). Das wichtigste, aber auch schwierigste dieser Werke ist Prozess und Realität, weil Whitehead sich darin auf systematische Überlegungen konzentriert und im Gegensatz zu den beiden anderen Werken auf kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Ausführungen verzichtet. Zu den weiteren Schriften, die aus Vorlesungen und Vorträgen hervorgingen, gehören Religion in the Making (1927; dt. Wie entsteht Religion?, 1985), The Function of Reason (1929; dt. Die Funktion der Vernunft, 1974) und Modes of Thought (1938; dt. Denkweisen, 2000). Während seiner akademischen Lehrtätigkeit scharte er zahlreiche begabte Schüler um sich, außer Russell vor allem Willard v. O. Quine. Whitehead starb am 30. Dezember 1947 in Cambridge an einem Gehirnschlag.

Alfred N. Whitehead (1861–1947) Kritiker des Materialismus und Vertreter einer Metaphysik der prozesshaftorganischen Wirklichkeit

98 Metaphysik der Evolution

Aufgabe der Philosophie. Die Aufgabe der Philosophie besteht nach White-

head darin, ein umfassendes philosophisches Weltbild oder, wie er auch sagt, eine Kosmologie zu entwerfen, die gleichermaßen den Wissenschaften und der Religion gerecht werden soll. „Die Philosophie […] gewinnt ihre Bedeutung hauptsächlich daher, daß sie die beiden, nämlich Religion und Wissenschaften, zu einem rationalen Denkschema verschmilzt.“11 Whitehead lehnt eine rein wissenschaftlich orientierte Metaphysik damit ab und erhebt die Versöhnung von Wissenschaft und Religion zum Programm seiner Metaphysik. Außer Wissenschaft und Religion bezieht Whitehead aber auch Moral und Kunst in sein Denken ein. Ähnlich wie Hegel, aber anders als fast alle anderen Metaphysiker der Moderne sieht er Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Religion in einem großen Zusammenhang. Das Ziel seiner Metaphysik besteht darin, „ein Schema von Ideen zu entwerfen, in dem die ästhetischen, moralischen und religiösen Interessen mit jenen Begriffen von der Welt in Verbindung gebracht werden, die ihren Ursprung in den Naturwissenschaften haben.“12 Es geht ihm somit darum, die aus verschiedenen Lebensbereichen stammenden Ideen in einem System von Grundbegriffen zu erfassen und kohärent zu deuten, also ein in sich stimmiges System von wissenschaftlichen, religiösen, moralischen und ästhetischen Begriffen zu entwickeln – ein offenbar groß angelegtes Projekt, das sowohl die Korrektur alter als auch die Einführung neuer Begriffe zur Folge hat. Die Schwerverständlichkeit von Whiteheads Philosophie rührt nicht zuletzt daher, dass bei dem Umbau des begrifflichen Grundgerüsts menschlicher Erkenntnis alte Begriffe ihre gewohnte Bedeutung verlieren, ohne dass die neue Bedeutung schon hinreichend klar wäre.13 Kritik des Materialismus. Ein zentrales Anliegen Whiteheads ist die Kritik des Materialismus. Nach der klassischen Auffassung, die die neuzeitliche Physik und Naturphilosophie dominiert hat, ist die Materie die Substanz der raumzeitlichen Welt, also der unvergängliche Baustein der Wirklichkeit. Die Materie besteht danach aus winzigen, meist als unteilbar gedachten Teilchen von einer bestimmten, festen Struktur, die zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Platz im Raum einnehmen und die sich kontinuierlich im Raum bewegen. Dieses klassische Modell des mechanistischen Materialismus kritisiert Whitehead mit wissenschaftlichen und philosophischen Argumenten. 11 12 13

A. N. Whitehead: Prozess und Realität, Frankfurt am Main 1979, S. 53. A. N. Whitehead: Prozess und Realität, S. 22. Zu Whiteheads Auffassung von Philosophie als Konstruktion eines neuen Begriffssystems vgl. M. Hampe (1998) S. 104 ff.

Alfred N. Whitehead: Die Welt als Prozess und Organismus 99

Seine wissenschaftliche Kritik des Materialismus zielt darauf ab zu zeigen, dass die moderne Physik die Vorstellung von der Materie als dem alleinigen Baustein der Welt preisgegeben hat. Whitehead weist vor allem darauf hin, dass die Physik nach der Etablierung der Wellentheorie des Lichts und der Theorie des Elektromagnetismus nunmehr neben der Materie auch elektromagnetische Felder und Wellen als grundlegende Wirklichkeiten anerkennt. Die Vorstellung von Materie als Substanz wurde nach Whitehead ferner durch die Einführung des Satzes von der Erhaltung der Energie untergraben, weil damit der Begriff der Energie die grundlegende Funktion zu übernehmen begann, die vorher der Begriff der Materie (Masse) hatte. Auch die Bahnen der Elektronen um den Atomkern entsprechen nicht der traditionellen Vorstellung einer kontinuierlichen Bewegung von Körpern. Aus alledem zieht Whitehead den Schluss, dass die traditionelle Kategorie der Materie als Substanz aufgegeben werden muss.14 Das grundlegende Argument von Whiteheads philosophischer Kritik des Materialismus lautet, dass das mechanistische Konzept der Materie eine Ab­ straktion ist, die nur eine Seite der Wirklichkeit in den Blick bekommt. Die Konzeption der Materie als ausgedehntes, stabiles Teilchen ist eine abstrakte, d. h. eine einseitige, bloß auf das quantitativ Feststellbare ausgerichtete Wirklichkeitssicht, die der qualitativen Vielfalt der Welt nicht gerecht wird. Whitehead gesteht zwar zu, dass die Vorstellung von der Materie als „Bauklötzchen“ eine für die wissenschaftlich-technische Erfassung der Natur nützliche Ab­ straktion ist, aber sie ist gleichwohl nur eine Halbwahrheit, weil sie wesentliche Merkmale der Körper ausblendet. Zu diesen ausgeblendeten Eigenschaften gehören nicht nur die „sekundären Qualitäten“ von Farbe, Geruch und Geschmack, sondern auch die Harmonie der Welt, die innere Verflochtenheit aller Dinge und schließlich die Zweckbestimmtheit der Körper. Als unhaltbare Konsequenz des Materialismus betrachtet Whitehead nicht zuletzt die Leugnung von Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen. Aufgabe der Philosophie ist es, alle diese Phänomene der Erfahrung verständlich zu machen, statt sie im Rückgriff auf Abstraktionen zu leugnen oder wegzuerklären. Wie hier wendet Whitehead sich auch in anderen Zusammenhängen energisch gegen die Fehler des abstrakten Denkens. „Denken ist abstrakt; und die unduldsame Verwendung von Ab­ straktionen ist das Hauptübel des Intellekts.“15

14 15

An diese wissenschaftliche Kritik des Materialismus hat Popper mit seiner These von der „Selbstüberwindung des Materialismus“ angeknüpft. Siehe unten Kap. IX, S. 251 ff. A. N. Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt am Main 1988, S. 30.

100 Metaphysik der Evolution

Die Welt als Prozess. In seiner Kritik des Materialismus hat Whitehead die Vor-

stellung von Materie als Substanz zurückgewiesen. Er geht jedoch noch weiter und verwirft die traditionelle Vorstellung von Substanz überhaupt. Es gibt in der Welt kein absolut Beharrliches und Unvergängliches, vielmehr ist alles Stabile und Dauerhafte nur eine vorübergehende, vordergründige Erscheinung. Schaut man genauer hin, dann erweist sich alles in der Welt in ständigem Entstehen und Vergehen begriffen. Es gibt auch keine beharrlichen Bausteine oder Elemente, aus denen alle Dinge aufgebaut wären, sondern auch auf der atomaren Ebene der Welt ist alles im „Fluss“. Daher muss nach Whitehead die Vorstellung von Substanz als beharrlichem Baustein der Dinge aufgegeben werden und durch die Kategorie des Prozesses ersetzt werden. Alles Reale in der Welt ist Prozess und auch das grundlegend Wirkliche sind Prozesse oder Ereignisse („events“). „Wir müssen vom Geschehnis als der letzten Einheit alles natürlichen Vorkommens ausgehen.“16 Alle relativ stabilen Gebilde wie materielle Körper und Lebewesen müssen als Produkte oder Resultate zugrunde liegender, sich wiederholender Prozesse verstanden werden, also als wiederkehrende Formen oder Muster elementarer Prozesse. Mit der Grundthese von der Welt als Prozess knüpft Whitehead an die von Heraklit begründete metaphysische Tradition an, die von Bergson in der Moderne erneuert wurde. Ein Vergleich von Whitehead und Bergson ist hier aufschlussreich. Bergson hatte seine These von der Welt als Werden durch Berufung auf die metaphysische „Intuition“ begründet und sich mit einer metaphorischen, fast poetischen Umschreibung der metaphysischen Tiefendimension der Welt begnügt. Whitehead stimmt Bergson zwar darin zu, dass die Vorstellung der materiellen Natur, die die klassische Physik voraussetzt, eine Oberflächenansicht des Verstandes ist, aber er fügt präzisierend hinzu, dass es gar nicht der Verstand als solcher, sondern nur die von ihm verwendete Subjekt-PrädikatStruktur unserer Sprache ist, die zu jedem Tun einen Täter und zu jedem Geschehen ein Ding hinzudenken lässt. Die Vorstellung einer allen Veränderungen zugrunde liegenden Substanz ist somit in der Sprache angelegt. Der Verstand ist jedoch diesem Schema von Subjekt und Prädikat nicht rettungslos ausgeliefert. Eine wichtige Errungenschaft der von Whitehead und Russell ausgearbeiteten Principia Mathematica besteht gerade in der Einsicht, dass die auf Aristoteles zurückgehende klassische Subjekt-Prädikat-Logik durch eine Logik der Relationen ergänzt und (teilweise) korrigiert werden muss. Whitehead bestreitet daher, „daß die ‚Subjekt-Prädikat‘-Form der Aussage die letztlich adäquate Dar16 A. N. Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, S. 125.

Alfred N. Whitehead: Die Welt als Prozess und Organismus 101

stellungsform hinsichtlich der wirklichen Welt verkörpert.“17 Es ist also gerade der Logiker Whitehead, der für die Metaphysik mit Hilfe einer Theorie der Relationen einen neuen rationalen Weg vorschlägt, die Welt als Prozess zu begreifen. Wirkliche Einzelwesen als letzte Elemente der Wirklichkeit. Wenngleich White-

head den Substanzbegriff durch den Begriff des Prozesses ersetzt, gibt es noch einen weiteren Begriff in seinem Konzept, der die Rolle des Nachfolgers für den Substanzbegriff angetreten hat. Das elementar Wirkliche begreift Whitehead nämlich nicht nur als Prozesse oder Ereignisse, sondern auch als „wirkliche Einzelwesen“ („actual entities“). „Der Begriff ‚Substanz‘ wird in den eines ‚wirklichen Einzelwesens‘ umgewandelt …“18 Wirkliche Einzelwesen sind also ebenso wie Ereignisse die grundlegenden Elemente der Wirklichkeit, doch offenbar handelt es sich dabei nur um zwei Aspekte des elementar Wirklichen. Genauer betrachtet, treten die Begriffe „Ereignis“ und „wirkliches Einzelwesen“ jeweils die Nachfolge für zwei verschiedene Momente des Substanzbegriffs an. Wenn Whitehead sich nämlich gegen die Annahme eines unzerstörbaren Substrats oder Grundstoffs wendet, betrachtet er die letzten Einheiten der Welt als Prozesse oder Ereignisse; wenn er jedoch Substanz im Sinne eines selbständig Seienden negiert, spricht er von wirklichen Einzelwesen. Mit besonderem Nachdruck wendet er sich dabei gegen die von Descartes geprägte Auffassung, dass Substanz dasjenige ist, was nichts anderes zu seiner Existenz benötigt. Die Vorstellung eines von allen anderen Dingen unabhängigen Seins ist nach Whitehead verfehlt, weil es in einer Welt allseitiger Verflechtung keine solchen unabhängigen Existenzen geben kann. Den Ausdruck „wirkliche Einzelwesen“ verwendet Whitehead daher vor allem dann, wenn er die gegenseitige Bezogenheit und allseitige Verflechtung der Elemente der Wirklichkeit herausstellen will. „Es gibt kein Einzelwesen, noch nicht einmal Gott, das zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf.“19 Es ist für die Einzelwesen keine bloß äußerliche, zufällige Tatsache, mit anderen Einzelwesen verknüpft zu sein. Die Relationen zu anderen Einzelwesen gehören nach Whitehead gerade zum Wesen jedes Einzelwesens. Relationalität ist somit ein „Wesensmerkmal“ der Realität. Die Welt als Organismus. Die Gebilde der elementaren Ebene der Wirklichkeit,

die Whitehead als Ereignisse und Einzelwesen begreift, existieren nie völlig iso-

17 A. N. Whitehead: Prozess und Realität, S. 78. 18 A. N. Whitehead: Prozess und Realität, S. 58. 19 A. N. Whitehead: Wie entsteht Religion?, Frankfurt am Main 1990, S. 82.

102 Metaphysik der Evolution

liert, sondern sie stehen immer mit anderen in Wechselwirkung. Indem viele Einzelwesen sich zusammenschließen und miteinander verwachsen, werden sie zu Teilen eines neuen Ganzen. Ein solches Ganzes ist nach Whitehead ein „Organismus“, also ein Gebilde, dessen Teile auf das Ganze wirken, das aber als Ganzes auch auf die Teile zurückwirkt. Nicht nur lebende Körper, sondern bereits Elektronen, Protonen und Moleküle betrachtet Whitehead als „organische Einheiten“. Den Begriff des Organismus betrachtet er daher als das Bindeglied zwischen Physik und Biologie, wobei der Unterschied lediglich darin bestehen soll, dass die Physik es mit kleinen, die Biologie mit großen Organismen zu tun hat. Die Welt ist daher nach Whitehead ein riesiges Geflecht von Organismen verschiedener Größe und Stabilität, die auf elementaren Ereignissen beruhen, und ein riesiger Gesamtprozess, der sich in zielbestimmter Entfaltung befindet. Die Welt als Ganze ist somit selbst ein großer Organismus. Whitehead ersetzt damit die mechanistische Materiekonzeption der neuzeitlichen Philosophie und Physik durch eine organische Theorie der Materie, die auch die Vorstellung der Zweckmäßigkeit organischer Formen und Prozesse enthält und damit auf eine Rehabilitierung der teleologischen Naturauffassung hinausläuft. Da es ihm aber gerade darum geht, einem neuen organischen oder ganzheitlichen Naturverständnis den Weg ebenen, bezeichnet er seine Metaphysik auch ausdrücklich als „Philosophie des Organismus“ und „organische Naturauffassung“. Verflechtung der Einzelwesen als „Erfassen“. Bisher ließ sich Whiteheads Auf-

fassung von der Welt als Prozess und Organismus ganz als Ontologie verstehen. Wenn er jedoch auf das „Erfassen“ als Merkmal der Einzelwesen zu sprechen kommt, treten auch erkenntnistheoretische Überlegungen auf. Die Verschlingung ontologischer und erkenntnistheoretischer Fragestellungen ist ein weiterer Grund der Dunkelheit seiner Konzeption.20 Wenn Whitehead die Verflechtung der wirklichen Einzelwesen als „Erfassen“ deutet, dann klingt dies zunächst wie ein Wechsel in eine erkenntnistheoretische Thematik. In der Tat knüpft Whitehead hier an die Wahrnehmungstheorie von Locke an. Nach Locke ist die (menschliche) Wahrnehmung eine sinnliche Erkenntnis von Objekten der Umwelt, die einen kausalen Einfluss der Objekte auf die Sinnesorgane des Wahrnehmenden voraussetzt. Im Unterschied zu Locke betont Whitehead aber, dass Wahrnehmungen bewusst und unbewusst sein können. Da in dem Ausdruck „apprehension“ vor allem das bewusste Erfas20 Wegen der Verknüpfung von ontologischen und erkenntnistheoretischen Konzepten spricht man auch von Whiteheads „Erkenntnisontologie“. Vgl. E. Wolf-Gazo (1989) S. 304.

Alfred N. Whitehead: Die Welt als Prozess und Organismus 103

sen gemeint ist, streicht Whitehead die Vorsilbe „ap“ und erhält damit den Terminus „prehension“, der im Deutschen als „Erfassen“ übersetzt wird. Obwohl der Ausdruck „Erfassen“ also einen erkenntnistheoretischen Ursprung hat, verwendet Whitehead ihn zur Bezeichnung aller Arten von physischen, biologischen und psychologischen Relationen, durch die ein Einzelwesen bestimmt ist. „Erfassen“ wird damit zu einem übergreifenden ontologischen Terminus, der neben gewöhnlichen kausalen Relationen auch die (kausale) Verknüpfung in der Wahrnehmung meint. Wenn Whitehead also die allseitige Verbundenheit der Dinge als „Erfassen“ begreift, so wird damit noch angedeutet, dass jedes wirkliche Einzelwesen (bewusst oder unbewusst) kausale Einflüsse von vielen anderen Einzelwesen „erfährt“. Jedes Einzelwesen erweist sich damit als Synthese all seiner Erfassungen oder, wie Whitehead in deutlicher Anspielung auf die Monadenlehre von Leibniz sagt, als „Spiegel“ der Welt. Doch im Unterschied zu den Monaden haben die Einzelwesen „Fenster“, da sie sich gerade im gegenseitigen Erfassen konstituieren. Freiheit. Das von Whitehead gezeichnete Bild der Welt als eines riesigen zielbe-

stimmten Prozesses, der ständig Organismen entstehen und vergehen lässt, scheint mit der Betonung der Verflochtenheit und gegenseitigen Abhängigkeit aller Einzelwesen keinen Platz für Willensfreiheit zu lassen. Der Mensch ist schließlich ein organisches Wesen, das in vielfältigen Abhängigkeiten von seiner Umwelt lebt. Nun lässt sich menschliche Freiheit nach Whitehead zwar nicht beweisen, aber für ihr Bestehen spricht nach seiner Ansicht nicht nur der Indeterminismus der Quantentheorie, sondern auch das menschliche Bewusstsein von Freiheit und Verantwortlichkeit, das sich nicht wegerklären lasse. Whitehead rechnet den Begriff der Freiheit daher sogar unter die grundlegenden Kategorien. Sein Verständnis von Freiheit erscheint zunächst freilich paradox, wenn er behauptet: „Die Konkretisierung jedes wirklichen Einzelwesens ist innerlich determiniert und äußerlich frei.“21 Damit scheint er die traditionelle Auffassung, dass der Mensch als physisches Wesen determiniert, als geistig-moralisches Wesen jedoch frei ist, genau umzukehren. Eine solche Deutung wäre jedoch unangemessen. Zwar leugnet Whitehead tatsächlich die strikte Determination der physischen Natur, doch seine Auffassung von Freiheit selbst hat eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Auffassung Kants. Whitehead ist nämlich der Ansicht, dass die handelnde Person eine innere Distanzierung zu ihren natürlichen Antrieben vornehmen kann. Und indem der Mensch diese Antriebe 21

A. N. Whitehead: Prozess und Realität, a. a. O., S. 73.

104 Metaphysik der Evolution

bewertet und sich für oder gegen sie entscheidet, bringt er durch diese Entscheidung aus sich selbst einen neuen Faktor in das Geschehen ein. Freiheit besteht daher in einer Entscheidung aufgrund rationaler Reflexion und wertender Stellungnahme. Da bei einer Entscheidung stets eine Bezugnahme auf Werte und Ideen stattfindet, kann Whitehead auch sagen, dass es überall dort Freiheit gibt, wo Ideen wirksam sind.22 Gegen den Leib-Seele-Dualismus. Die Ablehnung des Substanzbegriffs hat zur

unmittelbaren Folge, dass der klassische Dualismus von Körper und Geist hinfällig ist. Materie und Geist sind keine unvergänglichen Bausteine, sondern sie sind durch sich wiederholende Prozesse geschaffene Gebilde. Die Zweiteilung der Welt in eine ausgedehnte, empfindungs- und bewusstlose Materie und in einen unausgedehnten, denkenden Geist betrachtet Whitehead ferner als eine verfehlte Abstraktion, da die Welt ein einziges Abhängigkeitsgeflecht von Einzelwesen darstellt, worin kein Einzelwesen völlig autonom ist. Einen weiteren Einwand gegen den Dualismus sieht er in der Tatsache, dass es keine scharfe Grenze zwischen bewussten und unbewussten Prozessen gibt. Es gibt vielmehr Grade des Bewusstseins von der physischen Natur über die Wahrnehmung bis hin zur höchsten geistigen Entfaltung im Denken. Indem Whitehead nun annimmt, dass alle Einzelwesen verschiedene Grade von Bewusstsein haben, erweist sich seine Metaphysik als Panpsychismus. Und indem er ferner behauptet, dass jedes Ereignis zwei Seiten hat, insofern es von außen gesehen Materie und von innen gesehen Bewusstsein ist, deutet sich eine Ähnlichkeit mit der Lehre Spinozas an, die Whitehead selbst hervorgehoben hat: „Die organistische Philosophie steht Spinozas Denkschema sehr nahe. Allerdings unterscheidet sie sich dadurch von ihm, daß sie die Subjekt-Prädikat-Formen des Denkens verläßt […] Daraus folgt, daß das ‚Substanz-Qualität‘-Konzept umgangen wird; und die morphologische Beschreibung wird durch die Beschreibung dynamischer Prozesse ersetzt.“23 Objektive Unsterblichkeit. Die Ersetzung des Substanzbegriffs durch den Be-

griff des Prozesses impliziert, dass es keine unvergänglichen wirklichen Einzelwesen gibt. Wie alle Einzelwesen ist auch das Bewusstsein einer Person nur eine vorübergehende, prozessuale Wirklichkeit. Für die traditionelle Idee der Unsterblichkeit der Seele ist daher in Whiteheads Konzept in der Tat kein Platz. Dennoch spricht er in eigenwilliger, nicht leichtverständlicher Weise auch von

22 Zu Whiteheads Freiheitstheorie vgl. M. Hampe (1998) S. 119. 23 A. N. Whitehead: Prozess und Realität, S. 38.

Alfred N. Whitehead: Die Welt als Prozess und Organismus 105

Unsterblichkeit und zwar, genauer gesagt, von „objektiver Unsterblichkeit“. Darunter versteht er zunächst die zeitlich unbegrenzte Fortdauer einer Person durch ihre Taten, aber auch ihre Fortdauer in der Erinnerung der Nachwelt. Nichts was jemals existiert, kann in einer Welt, in der alles mit allem verknüpft ist, jemals (ganz) verloren gehen, jedes Ereignis hinterlässt Spuren in der Welt. Neben dieser Form von endloser Fortdauer der Wirkungen einer Person denkt Whitehead noch an eine Form von Unsterblichkeit, die mit dem von ihm ganz platonisch gedachten Reich der „ewigen Gegenstände“ („eternal entities“) zusammenhängt. Ewige Gegenstände sind vor allem Ideen und Werte, die in einem Reich der bloßen Möglichkeit existieren und dort gleichsam auf ihre Realisierung in der raum-zeitlichen Welt warten. Wie diese Form von Unsterblichkeit nun zu denken ist – ob sie etwa darin besteht, dass eine Person, die eine Realisierung einer ewigen Idee ist, nach ihrem zeitlichen Ende im Reich der bloßen Möglichkeit weiterexistiert –, bleibt ziemlich unklar. Festhalten kann man aber, dass die von Whitehead avisierten Formen von „objektiver Unsterblichkeit“ sich deutlich von der traditionellen Vorstellung der Unsterblichkeit der Person oder Seele unterscheiden. Kreativität, Ordnung und Gott. Wie bereits angedeutet, hat auch Gott in White-

heads Weltsicht eine wichtige Rolle. Um diese Rolle zu klären, müssen wir noch einmal einen Blick auf seine Metaphysik als Ganze werfen. Ein zentrales Merkmal seines Verständnisses von der Welt als Prozess und Organismus besteht darin, dass es in der Welt ein ständiges Entstehen (und Vergehen) von neuen Einzelwesen gibt. Das Prinzip der Entstehung von Neuem in der Welt ist die Kreativität. Sie ist der Motor oder die innere Kraft, die die vielfältigen Entwicklungen der Welt und der Dinge in Gang setzt und in Gang hält. Nun ist Kreativität nach Whitehead zwar produktiv und schöpferisch, aber sie ist zugleich wahllos und blind. Damit aus dem blinden, schöpferischen Drang Ordnung und zweckbestimmte Entwicklungen entstehen können, muss nach Whitehead ein Prinzip der Begrenzung oder Ordnung angenommen werden. Hier ist nun genau der Punkt, wo Whitehead die in seinem philosophischen Programm vorgesehene Wende zu einer theologisch-religiösen Deutung der Welt nimmt. Die Macht oder Instanz, die den blinden Schöpfungsdrang in geordnete, zweckmäßige Bahnen lenkt, ist Gott. Im Unterschied zu Bergson, der den „élan vital“ schließlich mit Gott identifizierte, betrachtet Whitehead, fast wie Schopenhauer, die kreative Potenz der Welt als blind und nimmt daher, ähnlich wie Eduard von Hartmann, ein eigenständiges Ordnungsprinzip an, das er als Gott begreift. Man hat Whiteheads Gott auch mit dem Weltbaumeister („Demiurg“) von Platons Timaeus verglichen. Ähnlich wie der Demiurg Platons ist White-

106 Metaphysik der Evolution

heads Gott kein Weltschöpfer, sondern der Urheber der Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welt und die lenkende Macht der Evolution. Indem er als Ziel der Weltentwicklung die zunehmende Verwirklichung Gottes in der Welt sieht, nähert sich sein Gottesverständnis dem Pantheismus.24 Wirkung. Whitehead ist einer der großen Metaphysiker der Moderne, doch hat er, verglichen mit Schopenhauer und Nietzsche, Bergson und Heidegger, bisher einen eher begrenzten Einfluss gehabt. Der Hauptgrund für diese Diskrepanz zwischen seinem unbestrittenen Rang und seiner geringen Wirkung dürfte in der Schwerverständlichkeit seiner Schriften liegen. Gleichwohl hat Whitehead einen gewissen Einfluss auf die Naturwissenschaften ausgeübt, insbesondere auf philosophierende Physiker und Biologen wie David Bohm und Ilya Prigogine. Aber auch bei den modernen Bemühungen um ein ganzheitlich-ökologisches Weltbild, etwa bei dem Vordenker der New Age Bewegung Fritjov Capra, ist sein Einfluss zu erkennen. Darüber hinaus entstand in Anknüpfung an Whiteheads Prozessmetaphysik in den USA eine eigene „Prozesstheologie“. Zu erwähnen ist ferner, dass Karl Popper seine Auffassung der Wirklichkeit als Prozess mit ausdrücklicher Berufung auf Whitehead begründet hat. Neben seinem Einfluss auf das metaphysische Denken der Moderne gibt es aber auch ganz anders motivierte Anknüpfungen an Whiteheads Philosophie. So haben Vertreter der Frankfurter Schule wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse in ihrer ideologiekritischen Polemik gegen die „instrumentelle Vernunft“ und den „Szientismus“ auf Whiteheads Kritik am einseitig-abstrakten Charakter naturwissenschaftlicher Theorien zurückgegriffen. Insgesamt bleibt aber festzustellen, dass die Auseinandersetzung mit Whitehead gegen Ende des 20. Jahrhunderts gerade erst richtig begonnen hat. Würdigung. Whitehead ist ein moderner Metaphysiker, der nicht nur auf der Basis gründlicher wissenschaftlicher Kenntnisse ein umfassendes metaphysisches System entwickelt, sondern er ist auch ein enorm schöpferischer Denker, der viele originelle Ideen und Perspektiven entwirft und der häufig mit verblüffenden philosophie- und kulturgeschichtlichen Deutungen aufwartet. Whiteheads metaphysische Konzeption selbst hat eine Komplexität, deren systematische Bedeutung und Relevanz noch keineswegs ausreichend erschlossen ist.

24 Bezüglich der Komplikationen, die mit Whiteheads Unterscheidung zwischen der „Urnatur“ und der „Folgenatur“ Gottes verbunden sind, vgl. M. Hauskeller (1994) S. 98ff; M. Hampe (1998) S. 156 ff.

Teilhard de Chardin: Das Ziel der Evolution 107

In der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Whitehead stehen Verständnisbemühungen weitgehend im Vordergrund. Daher ist eine kritische Würdigung der Metaphysik Whiteheads nur sehr vorläufig möglich. Auf zwei neuralgische Punkte, um die jede Kritik und Würdigung nicht herumkommt, sei nur kurz hinweisen. Zunächst wird Whiteheads Kritik am einseitigen, abstrakten Charakter der Naturwissenschaften die Feuertaufe erkenntnistheoretischer Kritik überstehen müssen. Es ist zu fragen, ob die naturwissenschaftlichen Theorien nicht vielmehr berechtigte Abstraktionen sind, die durch Preisgabe der „subjektiven Elemente“ der Erfahrung gerade ein zutreffenderes Bild der Wirklichkeit liefern. Auch Whiteheads Grundthese von der Welt als Organismus muss kritisch hinterfragt werden und dazu in den Kontext der modernen Debatte um das ganzheitlich-ökologische Denken gestellt werden. Wie dieses Denken muss auch Whiteheads organische Philosophie mit den Einwänden der systemtheoretischen Auffassung des Organischen konfrontiert werden. Eine zentrale Frage lautet daher, ob Whiteheads Metaphysik in zentralen Teilen nicht doch ein fragwürdiges Zugeständnis an das teleologische Denken darstellt.

4. Teilhard de Chardin: Das Ziel der Evolution Ein christlicher Metaphysiker der Evolution. Das zentrale Anliegen des franzö-

sischen Philosophen Teilhard de Chardin besteht darin, eine neue Versöhnung von Wissenschaft und christlicher Religion zu liefern. Zwar hatten auch die metaphysischen Positionen von Bergson und Whitehead eine religiöse Färbung, doch ist die Philosophie Teilhards noch enger an der christlichen Religion orientiert. Indem er die Evolutionstheorie mit christlichen Vorstellungen verknüpft und ausdeutet, behauptet er erneut die Sonderstellung des Menschen in der Welt. Der Mensch ist nach Teilhard nicht ein bloßes Zufallsprodukt oder Randphänomen, sondern die „Spitze“ der Evolution, also der vorläufige Höhepunkt einer weiter fortschreitenden Entwicklung. Leben und Werk. Pierre Teilhard de Chardin wurde am 1. Mai 1881 auf einem

Landgut in der Nähe von Clemont-Ferrand (Auvergne) geboren. Er trat 1899 in den Jesuitenorden ein und studierte zunächst Theologie und Philosophie, danach noch Geologie und Paläontologie. Nach der Priesterweihe im Jahr 1911 publizierte er naturwissenschaftliche Arbeiten. 1922 promovierte er zum Doktor der Naturwissenschaften und erhielt noch im gleichen Jahr eine (außerordentliche) Professur für Geologie an einem katholischen Institut in Paris, die er jedoch wegen theologischer Differenzen bereits 1924 wieder verlor. Nachdem er

108 Metaphysik der Evolution

sich verpflichtet hatte, zu philosophisch-theologischen Themen nicht mehr zu publizieren, nahm er 1926 eine 20jährige Forschungstätigkeit als Paläontologe in China auf, wo er an der Entdeckung des „Peking-Menschen“ (Sinanthropus) beteiligt war. Während des Zweiten Weltkriegs schrieb Teilhard in China, wo er isoliert, aber mit Sorge die politische Entwicklungen in Europa verfolgte, große Teile seines philosophischen Werks. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich geriet er erneut in Konflikt mit der katholischen Kirche. 1951 übernahm er die Leitung eines New Yorker Instituts für paläontologische Forschung. Einen Ruf als Wissenschaftler hatte Teilhard schon zu Lebzeiten erlangt, doch als Philosoph wurde er erst nach der postumen Veröffentlichung seiner Schriften bekannt. Dazu zählen Le groupe zoologique humain (1956; dt. Die Entstehung des Menschen, 1961), L’avenir de l’homme (1951; dt. Die Zukunft des Menschen, 1963) und die vielfach als Hauptwerk betrachtete Schrift Le phénomène humain (1955; dt. Der Mensch im Kosmos, 1959). Teilhard starb am 10. April 1955 in New York. Der Ansatz der „Hyperphysik“. Anders als die meisten Metaphysiker der Mo-

derne verzichtet Teilhard weitgehend auf eine erkenntnistheoretische Fundierung seiner Philosophie. Stattdessen beansprucht er eine philosophische Weltsicht zu liefern, die von der Entwicklung des Kosmos und des Lebens als elementarer Tatsache ausgeht. Teilhard vermeidet für seine philosophische Konzeption den Terminus „Metaphysik“, wohl auch aus Rücksicht auf sein Publikationsverbot, und spricht demgegenüber von „Hyperphysik“. Es geht ihm jedoch um eine philosophische Konzeption, die den modernen Wissenschaften zwar gerecht werden will, die sich aber zugleich gegen eine rein physische oder materialistische Weltsicht wendet. Ähnlich wie Bergson ist er der Ansicht, dass die Wissenschaften eine bloße Außensicht der Dinge liefern, die durch eine philosophische Innensicht ergänzt und vertieft werden muss.

Die drei Stufen der Evolution. Teilhard geht in seinen Überlegungen von der

kosmologischen Urknalltheorie aus, wenn er als erste Phase der kosmischen Entwicklung die Bildung der Materie annimmt. Darunter versteht er die Ent-

Teilhard de Chardin (1881–1955) Vertreter einer christlichen Metaphysik der Evolution

Teilhard de Chardin: Das Ziel der Evolution 109

wicklung des Kosmos von der Entstehung der Atome und Moleküle bis zur Bildung der Sterne und Sternsysteme. Nach der Bildung der „Geosphäre“ kommt es in der zweiten Phase zur Bildung der „Biosphäre“, also zur Entstehung des Lebens von den Einzellern bis zu den Säugetieren und den Vorläufern des Menschen. Die Evolution der Biosphäre zeichnet sich durch zunehmende Komplexität der organischen Formen und durch eine allmähliche Steigerung des Bewusstseins aus. Bei den Primaten besteht die Evolution fast nur noch in der fortschreitenden Ausbildung des Gehirns. „… wenn die Säugetiere am Baum des Lebens einen Hauptzweig bilden, den Hauptzweig, so sind die Primaten, das heißt die Hirn- und Handwesen, die Spitze dieses Zweiges – die Anthropoiden, die Knospe zuhöchst auf dieser Spitze.“25 Mit dem Auftreten des Menschen (Homo sapiens) beginnt die dritte Phase der Evolution, die zur Ausbildung einer ganz neuen Form von Bewusstsein führt, nämlich zu Vernunft und Denken. Gegenüber dem auf Empfindungen und Wahrnehmungen beschränkten Bewusstsein der Tiere zeichnet sich das menschliche Bewusstsein nach Teilhard durch neue Merkmale aus: Zum menschlichen Bewusstsein gehört die Fähigkeit des abstrakten Denkens, das Ich-Bewusstsein und schließlich die Fähigkeit der Voraussicht. Mit dem menschlichen Denken entsteht nach Teilhard um die Erde eine neue Schicht der Wirklichkeit, die er als „Noosphäre“ bezeichnet. Das Gesetz der kosmischen Entwicklung. Mit dieser Auffassung von den drei Stufen der kosmischen Evolution bewegt sich Teilhard noch weitgehend auf dem Terrain wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse, auch wenn seine Betonung der grundlegenden qualitativen Differenz zwischen tierischem und menschlichem Bewusstsein wohl kaum auf allgemeine Zustimmung rechnen kann. Entscheidend für seine Philosophie ist nun aber, dass er glaubt, das allgemeine kosmische Gesetz der Entwicklung gefunden zu haben. Alle Entwicklung besteht nach seiner Auffassung nämlich darin, dass der „Weltstoff“, von dem die Evolution ausgeht, sich „einrollt“, d. h. sich immer mehr differenziert und immer komplexer wird. Dies bedeutet für ihn, dass jede Zunahme an Komplexität stets mit einer Zunahme der inneren, „psychischen“ Struktur, also mit zunehmenden Graden von Bewusstsein, verknüpft ist. Teilhard vertritt somit einen Panpsychismus, der nicht nur Lebewesen, sondern allen materiellen Gebilden einen psychischen, wenn auch anfangs noch „vorbewussten“ Innenaspekt zuschreibt.

25 Teilhard des Chardin: Der Mensch im Kosmos, München 1999, S. 160.

110 Metaphysik der Evolution

Die Zukunft der Evolution und des Menschen. Der zentrale Kern von Teilhards Philosophie besteht aus seinen Vorstellungen über das Ziel der Evolution und des Menschen. In diesem Kontext tritt der Wissenschaftler hinter den religiösen Denker und Mystiker Teilhard zurück. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist seine Überzeugung, dass die ersten beiden Phasen der Evolution, die zur Herausbildung der Geo- und Biosphäre geführt haben, im Wesentlichen abgeschlossen sind. Die weitere Evolution wird sich daher nach seiner Ansicht in der Noosphäre vollziehen, also in der weiteren Entfaltung des menschlichen Bewusstseins. Das Auftreten des Ich-Bewusstseins bedeutet nach seiner Ansicht einen Wendepunkt in der Evolution. Bisher war die Evolution durch die Zunahme der Komplexität und Divergenz der Lebensformen gekennzeichnet. Auch die Geschichte der Menschheit zeigt nach Teilhard Divergenz, insbesondere auch in den zwischenmenschlichen Konflikten und in den Kriegen zwischen Saaten und Völkern. Dennoch beginnt mit dem Menschen die Welt in den Prozess der Konvergenz überzugehen. Darunter versteht Teilhard zunächst die Entstehung einer in Frieden und Gerechtigkeit lebenden Menschheit. Auf der Grundlage einer zunehmenden moralischen Reifung werden die Menschen sich immer mehr als eine große Gemeinschaft begreifen und ihr Zusammenleben in einer humanen Ordnung organisieren, die vom Geist der Liebe bestimmt sein wird. Auch Nationalismus und übersteigerter Individualismus werden dann der Vergangenheit angehören. Weiterhin erwartet Teilhard von der Zukunft eine weitere Entfaltung des menschlichen Geistes, wobei nach seiner Ansicht sogar mit technischen Hilfsmitteln eine Vervollkommnung des menschlichen Gehirns angestrebt werden sollte.26 Wichtig ist nun nach Teilhard, dass bei der Entfaltung des menschlichen Geistes ein qualitativer Sprung stattfinden wird, gleichsam ein Übergang vom Menschen zum „Übermenschen“. Anders als Nietzsche denkt er dabei aber nicht an eine freie Entfaltung natürlicher Kräfte, sondern an die Weiterentwicklung des menschlichen Bewusstseins zu einem „kollektiven Bewusstsein der Menschheit“, offenbar ein durch weitere Verinnerlichung und Vertiefung entstehendes überindividuelles Bewusstsein. Das Ziel der Evolution und der Punkt „Omega“. Die Weiterentwicklung der

Noosphäre wird schließlich auf einen letzten Punkt führen, den Teilhard als den „Punkt Omega“ bezeichnet. Darunter versteht er nicht nur das Ende des Uni26 Vgl. Teilhard de Chardin: Die Zukunft des Menschen, München 1982, S. 117 f.

Teilhard de Chardin: Das Ziel der Evolution 111

versums, sondern auch die Erfüllung des christlichen Glaubens. So spricht er etwa davon, dass die Menschheit schließlich ihr Schicksal als natürliche Gattung hinter sich lassen wird. Die Menschen werden dann ihre materiellen Hüllen abwerfen und als rein geistige Wesen zu Gott zurückkehren. Am Ende der Evolution werden die Menschen daher das erleben, was Mystiker als das „Schauen Gottes“ und als das „Einswerden“ mit Gott umschrieben haben. Lassen sich solche Thesen noch im Sinne theistischer Vorstellungen von Gott und Unsterblichkeit verstehen, so gibt es doch auch pantheistisch klingende Bemerkungen. Da ihm sein Bekenntnis zum christlichen Glauben jedoch sehr wichtig war, schließt sein Hauptwerk mit folgenden Sätzen: „Denn wenn am Ende die bewußten Zentren der Welt tatsächlich nur mehr ‚eins mit Gott‘ sind, so kommt es zu diesem Zustand nicht durch Identifizierung (indem Gott zu allem wird), sondern durch die differenzierende und einigende Wirkung der Liebe (Gott ganz in allen) – und das ist durchaus orthodox und christlich.“27 Ob es Teilhard immer gelingt, seine „Orthodoxie“ durch solche und ähnliche Subtilitäten überzeugend zu demonstrieren, sei dahingestellt; offensichtlich ist jedoch, dass er das Ziel der Evolution und des Menschen ganz in religiösen Begriffen denkt, die aus der christlichen Heilsgeschichte stammen.28 Wirkung. Wegen des Publikationsverbots der katholischen Kirche war Teilhard zu Lebzeiten zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Als seine Schriften schließlich postum erschienen, erreichten sie breite öffentliche Resonanz, besonders in katholischen Kreisen. Positiv aufgenommen wurden seine Ideen auch bei philosophierenden Wissenschaftlern, die sich ebenfalls um eine Versöhnung von Wissenschaft und Religion bemühten, so etwa bei dem bekannten Wissenschaftspublizisten Hoimar von Ditfurth und bei Fritjof Capra. Auf fachwissenschaftlicher Seite der Biologie stieß Teilhards Philosophie der Evolution dagegen gewöhnlich auf entschiedene Ablehnung, zum Beispiel bei den Biologen Manfred Eigen und Jacques Monod. Gleichwohl wurde Teilhard zu einer der wichtigsten Inspirationsquellen neuerer Bestrebungen, Wissenschaft und Religion zu vereinbaren. Würdigung. Teilhards Philosophie der Evolution ist ein viel beachteter Versuch, das wissenschaftliche Weltbild der Kosmologie und Biologie in den Rahmen der christlichen Religion zu stellen und damit zugleich die christliche Theologie zu modernisieren. Obwohl Teilhard die wissenschaftlichen Resultate über die 27 Teilhard des Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 322. 28 Zur Lehre vom Punkt „Omega“ vgl. G. Schiwy (1989) S. 340; J. Hemleben (1966) S. 133 ff.

112 Metaphysik der Evolution

Entwicklung der Kosmos und des Lebens seinen Überlegungen zugrunde legt, kommt er bei seiner religiös-mystischen Deutung des Ziels der Evolution doch nicht ohne eine Korrektur an allgemein akzeptierten wissenschaftlichen Auffassungen aus. Um seine Thesen über die Zukunft der Evolution und des Menschen begründen zu können, braucht er die Annahme der zielgerichteten Höherentwicklung der Evolution. Nur unter der Voraussetzung einer teleologischen Deutung der Evolution hängen seine Thesen über die Zukunft und das Ziel der Evolution nicht völlig in der Luft. Doch mit dieser Voraussetzung finaler Kräfte setzt er sich in Widerspruch zu den anerkannten biologischen Erklärungsprinzipien, die mit Mutation und Selektion auskommen. Teilhards theologische Metaphysik der Evolution ist daher mit moderner Wissenschaft kaum vereinbar.

V. Phänomenologische Ontologie

Eine Strömung der modernen Philosophie, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Brennpunkt des metaphysischen Denkens wurde, war die von Husserl begründete Phänomenologie. Sie wandte sich gegen die verbreitete Beschränkung der Philosophie auf Erkenntnistheorie, wie sie vor allem vom Neukantianismus und Positivismus vertreten wurde, und versuchte zu einer neuen philosophischen Weltsicht vorzudringen. Die Grundidee der phänomenologischen Ontologie bestand darin, die anschaulich gegebene Wirklichkeit in ihren vielfältigen Formen in den Blick zu bekommen und ihre Wesenszüge zu erfassen. Diese Konzentration auf die phänomenale Welt bedeutete die Ablehnung von Spekulationen über die verborgenen Grundprinzipien und ersten Gründe der Welt. In der Zielsetzung, das Wesen der Phänomene zu beschreiben, waren sich die Vertreter der Phänomenologe weitgehend einig, doch hatten sie divergierende Auffassungen von der phänomenologischen Methode und entwickelten auch verschiedene ontologische Ansätze. Ausgangspunkt der Phänomenologie war die von Edmund Husserl entwickelte phänomenologische Methode, die darauf abzielte, das Wesen der anschaulich gegebenen Phänomene auf der Basis einer „Wesensschau“ zu beschreiben. Husserl gelangte damit zum Programm der phänomenologischen Ontologie, die apriorische Wesenseinsichten in alle Bereiche der Wirklichkeit liefern sollte. Dieses Programm haben die späteren Vertreter der Phänomenologie aufgegriffen, aber auch erheblich modifiziert. Besonders eng hat sich zunächst Max Scheler diesem Programm angeschlossen, als er sittliche und emotionale Phänomene in ihrem Wesensgehalt a priori zu beschreiben versuchte. In einer gewissen Distanz zu Husserls Programm hat er später eine philosophische Anthropologie entwickelt, die in einer Metaphysik des Geistes gipfelt. Nicolai Hartmann knüpfte in seiner Ontologie an Ideen Husserls und Schelers an, doch entwickelte er eine Konzeption von „kritischer Ontologie“, die eine phänomengerechte Er-

114 Phänomenologische Ontologie

fassung der mehrschichtigen Wirklichkeit auf der Basis der empirischen Wissenschaften anstrebt. Als Fortführung und Radikalisierung von Husserls Programm hat Martin Heidegger seine „Fundamentalontologie“ präsentiert. Die darin aufgeworfene Grundfrage nach dem „Sinn von Sein“ soll nicht nur den Wissenschaften, sondern auch allen speziellen Ontologien bereits zurunde liegen. In Heideggers späterem „Seinsdenken“ sind die Bezüge zur Phänomenologie dagegen zurückgetreten. Als eine phänomenologische Ontologie verstand auch Jean-Paul Sartre seine Position, die die ontologische Verschiedenheit von Welt und Mensch herausstellt und darauf eine Theorie menschlicher Freiheit gründet.

1. Edmund Husserl: Programm der phänomenologischen Ontologie Der Begründer der Phänomenologie. Husserls Begründung von Philosophie als

Phänomenologie war der Versuch, Philosophie zur „strengen Wissenschaft“ zu erheben und durch eine Letztbegründung des Wissens alle Formen von Relativismus und Skeptizismus, die er als große Gefahren für die europäische Kultur betrachtete, ein für allemal zu überwinden. Dazu forderte Husserl eine neue philosophische Zuwendung zur Wirklichkeit, der er in dem Slogan „Zurück zu den Sachen!“ pointiert Ausdruck verlieh. Das Ziel seiner phänomenologischen Ontologie war es, die Wesenzüge der verschiedenen Formen der Wirklichkeit zu erfassen. Husserl hat dieses phänomenologische Programm jedoch selbst nur in Ansätzen realisiert und er hat es außerdem, im Anschluss an Kant, mit einem transzendentalphilosophischen Vorbehalt versehen. Phänomenologische Ontologie im Sinne Husserls ist daher keine Lehre von der an sich bestehenden Wirklichkeit, sondern eine Wesenslehre von der Erscheinungswelt. Leben und Werk. Edmund Husserl wurde am 8. April 1859 in Proßnitz (Mäh-

ren) in einer jüdischen Tuchhändlerfamilie geboren. Er studierte Mathematik und Philosophie und promovierte 1882 in Halle mit einer mathematischen Ar-

Edmund Husserl (1859–1938) Begründer der Phänomenologie und Programmatiker der phänomenlogischen Ontologie

Edmund Husserl: Programm der phänomenologischen Ontologie 115

beit. Anschließend wandte er sich unter dem Einfluss des österreichischen Philosophen Franz von Brentano zunehmend philosophischen Fragen zu. Im Jahr 1887 habilitierte er sich mit einer Arbeit über den Zahlbegriff in Halle und war danach 15 Jahre Privatdozent. Als sein Buch Philosophie der Arithmetik (1891) von Gottlob Frege, einem der Väter der modernen Logik und Semantik, in einer Rezension scharf kritisiert wurde, begann Husserl mit einer grundlegenden Revision seiner Auffassungen, die schließlich zu seinem ersten Hauptwerk Logische Untersuchungen (2. Bde.; 1900/1901) führte. Die Publikation dieses Werkes erregte sofort großes Aufsehen in der Fachwelt und verschaffte ihm 1901 eine Professur für Philosophie in Göttingen. In den folgenden Jahren arbeitete er seine Philosophiekonzeption weiter aus und veröffentlichte den programmatischen Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft (1911) und sein zweites Hauptwerk Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913). 1916 wurde Husserl zum Nachfolger des Neukantianers Heinrich Rickert an die Universität Freiburg im Breisgau berufen, wo Heidegger von 1918 bis 1923 sein Assistent war. Nach seiner Emeritierung (1927) veröffentlichte er die Schrift Formale und transzendentale Logik (1929). Aus Gastvorlesungen in Paris entstanden die Cartesianischen Meditationen (1931), die zuerst auf Französisch und 1950 auf Deutsch erschienen. Vorträge in Wien und Prag waren die Grundlage seines Buchs Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936). Während der NS-Zeit war Husserl, obwohl seit 1886 zum Protestantismus konvertiert, zunehmend Demütigungen und Repressalien ausgesetzt. Es wurde ihm verboten zu lehren und an Kongressen im Ausland teilzunehmen und zuletzt wurde er aus seinem Freiburger Haus vertrieben. Nach seinem Tod am 27. April 1938 wurde sein umfangreicher Nachlass von Schülern nach Belgien gerettet. Von der Psychologismuskritik zur Phänomenologie des Bewusstseins. Husserls

frühe Bemühungen um die Klärung der Grundlagen der Mathematik erhielten durch Frege eine neue Richtung. Während er vorher die Gesetze der Logik als Gesetze des menschlichen Denkens verstanden hatte, legte er nun großen Wert auf die strenge Unterscheidung zwischen logischen und psychologischen Fragen. In den Logischen Untersuchungen (1900/01) lieferte er selbst eine vernichtende Kritik des Psychologismus. Er wandte etwa ein, dass die Gesetze des menschlichen Denkens empirisch begründet werden müssen und daher nur wahrscheinliche Geltung erlangen können, wohingegen die Gesetze der Logik nicht empirisch gestützt werden müssen, um als notwendig eingesehen zu werden. Die Logik befasst sich nicht mit bloß faktischen Regelmäßigkeiten, son-

116 Phänomenologische Ontologie

dern mit Gesetzen von Gedankeninhalten und ihren notwendigen Beziehungen. Da nun solche abstrakten Bedeutungen weder zur physischen Natur noch zu den psychischen Denkprozessen gehören, betrachtete Husserl sie als ideale Gebilde (oder „Wesenheiten“), die wie die Platonischen Ideen der realen Welt enthoben sind, also zeitlos und unveränderlich sind. Husserl erneuerte damit die Position des Universalienrealismus. Die Klärung des Wesens logischer Aussagen und Gesetze war der Ausgangspunkt von Husserls Konzeption der Phänomenologie. Indem er zu verstehen versuchte, um welche Art von Erkenntnis es sich eigentlich handelt, wenn die absolute Geltung logischer Gesetze eingesehen wird, gelangte er schließlich zur Auffassung, dass es Einsichten in allgemeine Wesenheiten und ihre notwendigen Beziehungen sind, die von (oder in) einem „reinen Bewusstsein“ ohne Rekurs auf die sinnliche Anschauung erzielt werden. Ausgehend von dem Paradigma einer geistigen Anschauung („Wesensschau“) im Bereich der Logik wandte Husserl sich in den Logischen Untersuchungen (1900/01) den Bereichen der Erkenntnis und des Bewusstseins zu und glaubte auch hier zu Wesenseinsichten gelangen zu können. Ein allgemeines Wesensmerkmal des Bewusstseins hat er insbesondere darin gesehen, dass Bewusstsein stets „intentional“ auf Gegenstände gerichtet ist. Diese These von der „Intentionalität“ (nach lat. „intentio“ = Absicht, Gerichtsein) bedeutet nach Husserl, dass Bewusstsein keine geschlossene Innenwelt von Vorstellungen ist, von denen aus das Subjekt irgendwie in die Außenwelt gelangen muss, sondern dass es bei raum-zeitlichen Objekten immer schon angelangt ist. Die phänomenologische Methode. Die anfängliche Beschränkung der Phäno-

menologie auf die Wesenserforschung des menschlichen Bewusstseins hat Husserl schließlich fallen gelassen. In den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) hat er der Phänomenologie die Aufgabe zugewiesen, die allgemeinen Wesenszüge aller Bereiche der wahrgenommenen Wirklichkeit zu beschreiben. Eine solche Wesenserkenntnis lässt sich nach Husserl durch die phänomenologische Methode erreichen. Dabei sind drei Schritte zu unterscheiden. Der erste Schritt ist die „phänomenologische Reduktion“ (oder „Epoché“), die alle Vorurteile über das zu untersuchende Phänomen ausblendet und sich ganz darauf konzentriert, wie es im vorurteils- und deutungsfreien „reinen Bewusstsein“ gegeben ist. Die Phänomene sollen damit so in den Blick kommen, 

Zu Husserls Kritik des Psychologismus und seiner Theorie des idealen Seins vgl. W. Stegmüller (1969) S. 49ff, 54 ff.

Edmund Husserl: Programm der phänomenologischen Ontologie 117

wie sie vor jeder theoretischen Deutung gegeben sind. Die Konzentration auf die unmittelbar gegebenen Bewusstseinsphänomene bedeutet zugleich eine methodische „Weltaufhebung“, insofern von der bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit der Phänomene ganz abgesehen wird. Der zweite Schritt der phänomenologischen Methode ist die so genannte „eidetische Reduktion“ (nach griech. „eidos“ = Wesen), die von den zufälligen, individuellen Eigenschaften des Phänomens absieht und dadurch das allgemeine Wesen sichtbar macht. Indem die Variationsmöglichkeiten eines Phänomens gleichsam in der Phantasie durchlaufen werden, wird der invariable Kern als das Wesen des Phänomens intuitiv erfasst. Mit diesem zweiten Schritt erweist sich die Phänomenologie als eine „eidetische“ oder Wesenswissenschaft, die streng a priori verfährt. „Reine Phänomenologie als Wissenschaft kann, solange sie rein ist und von der existenzialen Setzung der Natur keinen Gebrauch macht, nur Wesensforschung und gar nicht Daseinsforschung sein, jede ‚Selbstbeobachtung‘ und jedes Urteil auf Grund solcher ‚Erfahrung‘ fällt außerhalb ihres Rahmens.“ Phänomenolo­gische Wesensforschung ist damit nach Husserl ein neues, weites Feld apriorischer Erkenntnis. Der dritte Schritt der phänomenologischen Methode ist die „transzendentale Reduktion“, die die Konstitution der Phänomene im „reinen Bewusstsein“ erklären soll. Es soll also gezeigt werden, durch welche Leistungen des Bewusstseins die Phänomene zustande kommen. Mit diesem Übergang zu einer „transzendentalen Phänomenologie“ schließt sich Husserl im Resultat der Auffassung der Neukantianer an, dass jedes objektive Sein stets durch ein Subjekt bedingt ist und folglich kein An-sich-Sein hat. Es war daher kein Zufall, dass Husserl und der Neukantianer Paul Natorp einen von gegenseitiger Wertschätzung geprägten Briefwechsel pflegten. Formale und materiale Ontologie. Die Wesensschau gehört auch zu Husserls

Konzeption phänomenologischer Ontologie. Maßgebend für diese Konzeption sind jedoch nur die beiden ersten Schritt der phänomenologischen Methode, also die Einklammerung der Wirklichkeitsfrage und die eidetische Reduktion, nicht jedoch die transzendentale Reduktion. Ontologie als Wesenswissenschaft befindet sich daher nach Husserl auf einer vorläufigen Stufe philosophischer Reflexion. Auf der letzten Stufe wird das Wesenswissen zum Wissen von der phänomenalen Welt herabgestuft.

 

Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt am Main 1981, S. 43. Zur phänomenologischen Methode vgl. W. Stegmüller (1969) S. 70ff; H. Noack (1976) S. 197 ff.

118 Phänomenologische Ontologie

Die Aufgabe der phänomenologischen Ontologie besteht nun darin, das Wesen aller anschaulich gegebenen Wirklichkeitsbereiche herauszuarbeiten. Solche Wesenseinsichten sollen den empirischen Wissenschaften bereits zugrunde liegen und können daher durch diese nicht mehr revidiert werden. Mit dieser Anerkennung einer streng apriorischen Ontologie wendet Husserl sich gegen die modernen Versuche, Ontologie und Metaphysik auf induktiv-empirischer Grundlage als Synthese oder Verallgemeinerung der empirischen Wissenschaften zu betreiben. Die phänomenologische Ontologie selbst zerfällt nun nach Husserl in formale und materiale Ontologie. Die „formale Ontologie“ ist die Wesenswissenschaft vom Gegenstand überhaupt. Sie beschreibt das formale Wesen eines Gegenstandes in Kategorien wie „Eigenschaft“, „Sachverhalt“ und „Relation“. Da nun jeder Gegenstand nach Husserl einer bestimmten Region angehört, etwa der Region der Natur oder des Geistes, so besteht die Aufgabe der „regionalen“ oder „materialen Ontologie“ darin, das Wesen dieser Regionen zu erforschen. „Jede Tatsachenwissenschaft (Erfahrungswissenschaft) hat wesentliche theoretische Fundamente in eidetischen Ontologien.“ Es gibt daher materiale Ontologien der Natur, des Geistes und der Geschichte, die die Wesensmerkmale dieser Bereiche als Fundamente der entsprechenden empirischen Wissenschaften herauszustellen haben. Phänomenologie der Lebenswelt. An der Grundkonzeption der transzenden-

talen Phänomenologie hielt Husserl in der Folgezeit stets fest, doch hat er in seiner Spätphase eine wichtige Akzentverschiebung vom Bewusstsein zur „Lebenswelt“ vorgenommen. Während es ihm vorher um die Wesensschau der Phänomene im reinen Bewusstsein ging, versucht er in seinem Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936) die ursprüngliche Lebenswelt freizulegen, in der Handeln, Erfahrung und Denken des Menschen sich immer schon bewegen. Husserls Lebenswelt ist, ähnlich wie Heideggers „In-der-Welt-sein“, die apriorische Basis der Wissenschaften und kann daher durch die empirischen Wissenschaften selbst nicht sinnvoll in Frage gestellt oder revidiert werden. Aber auch diese Ontologie der Lebenswelt bleibt der transzendentalen Phänomenologie untergeordnet. Die Lebenswelt ist zwar der ursprünglich erlebte Welthorizont des Menschen, aber sie ist doch eine Leistung des transzendentalen Subjekts und kann daher nicht beanspruchen, die Wirklichkeit an sich zu sein. 

Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen 1980, S. 19.

Edmund Husserl: Programm der phänomenologischen Ontologie 119

Eine zunehmende Leugnung der Lebenswelt findet Husserl in den neuzeitlichen Naturwissenschaften seit Galilei. Ähnlich wie Whitehead betrachtet er das mathematisch-naturwissenschaftliche Weltbild als eine idealisierte Sicht, die von wesentlichen Merkmalen der Lebenswelt abstrahiert. Der entscheidende Fehler des wissenschaftlichen Weltbildes sieht er darin, die Lebenswelt zu vergessen und die Idealisierungen, auf denen das Bild von der materiellen Natur beruht, als das wahre Wesen der Welt misszuverstehen. Indem die Naturwissenschaften nicht nur von den ursprünglichen Erfahrungen und ihren sinnlichen Qualitäten, sondern auch von der zweckmäßigen Ordnung der Lebenswelt abstrahieren, führt die rein wissenschaftliche Weltauffassung nach Husserl zu einer Sinnentleerung der Welt und des Lebens. Die „Entzauberung der Welt“ durch die Wissenschaften, die nach Max Weber eine Grundtatsache der abendländischen Geistesgeschichte ist, beruht somit nach Husserl auf einer verfehlten Ausblendung der Lebenswelt und ihres „Sinnfundaments“. Und gerade weil es nach Husserl eine ursprüngliche sinn- und zweckbestimmte Lebenswelt gibt, erhofft er sich von einer Rückbesinnung auf die Lebenswelt einen Ausweg aus der Krise von Wissenschaft und Kultur. Wirkung. Wenngleich Husserl nie ein besonders populärer Philosoph war, kann

sein Einfluss auf die akademische Philosophie, vor allem in Deutschland und Frankreich, kaum überschätzt werden. Husserl begründete nicht nur die Tradition der Phänomenologie, sondern er beeinflusste auch andere philosophische Strömungen, wie etwa die Existenzphilosophie und die philosophische Anthropologie. Auch namhafte Denker, wie Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas in Deutschland und Maurice Merleau-Ponty und Jacques Derrida in Frankreich, haben an Lehren Husserls angeknüpft. Eine strikte Fortsetzung der transzendentalen Phänomenologie hat es allerdings kaum gegeben. Bereits seine frühen Schüler, einschließlich Scheler, wandten die phänomenologische Methode auf verschiedene Bereiche an und versuchten in Psychologie, Ethik, Recht, Kunst und Religion zu Wesenseinsichten zu gelangen, doch lehnten sie Husserls Wende zum transzendentalen Idealismus durchweg ab. Die Vertreter moderner Metaphysik, die zur Tradition der phänomenologischen Ontologie gerechnet werden können, wie N. Hartmann, Heidegger und Sartre, haben wichtige Anregungen von Husserl erhalten, aber sie haben die phänomenlogische Methode doch verschieden verstanden und gehandhabt.



Zu Husserls Theorie der Lebenswelt vgl. K. Wuchterl (1995) S. 58 ff.

120 Phänomenologische Ontologie

Würdigung. Husserls Verdienste um die Widerlegung des Psychologismus sind

unbestritten. Die Bedeutung seiner Auffassung von Philosophie als Phänomenologie wird dagegen kontrovers beurteilt. Einerseits wird die Phänomenologie als ein Vorstoß zu einer phänomengerechten Philosophie und Ontologie gewürdigt, und auch sein Bemühen um ein phänomenologisches Grundwissen, das die ursprüngliche, von den Wissenschaften vorauszusetzende Lebenswelt des Menschen beschreibt, findet vielfach Zustimmung. Andererseits ist Husserls phänomenologische Methode schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt. Zunächst ist seine Suche nach einer festen, absolut sicheren Basis des Wissens fragwürdig, da sie der menschlichen Fehlbarkeit nicht Rechnung trägt. Außerdem lässt sich gegen die phänomenologische Methode einwenden, dass sie als intersubjektive Methode zu unbestimmt ist, so dass ständig die Gefahr besteht, beliebige Ideen oder „Intuitionen“ als Wesenseinsichten auszugeben. Da selbst Husserls Schüler unter Wesensschau jeweils etwas Verschiedenes verstanden, steht die Wesensschau unter dem Verdacht, gerade keine „streng wissenschaftliche“ Methode zu sein.

2. Max Scheler: Metaphysik des Geistes Der Anwender der Phänomenologie. Scheler, der zweite Hauptvertreter der

Phänomenologie, hat die phänomenologische Methode auf emotionale und ethische Phänomene angewandt und dabei vor allem die „materiale Wertethik“ begründet. Ferner lieferte er phänomenologische Wesensanalysen der Religion und des religiösen Glaubens und schließlich hat er in seiner Spätphase eine philosophische Anthropologie entwickelt, die sich, im Gegensatz zu Husserls Auffassung von apriorischer Wesensschau, auch auf die empirischen Wissenschaften stützt. Die von ihm in diesem Kontext entworfene Metaphysik des Geistes hat außerdem, ebenfalls im Gegensatz zu Husserls Programm, einen spekulativen Zug, der von einem Rückgriff auf Grundideen der Willensmetaphysik herrührt. In Schelers Entwicklung vollzieht sich damit ein allmählicher Übergang von einer phänomenologischen Ontologie zu einer religiösen Metaphysik. Anders als Husserl, der lediglich das Programm einer phänomenologischen Ontologie skizziert hat, blieb Scheler zwar nicht in methodologischen Vorarbeiten stecken, doch ist seine metaphysische Position ein Entwurf geblieben, dessen weitere Ausarbeitung sein plötzlicher Tod verhindert hat. 

Zur Kritik der Wesensschau vgl. W. Stegmüller (1969) S. 89 f.

Max Scheler: Metaphysik des Geistes 121

Leben und Werk. Max Scheler wurde am 22. August 1874 in einer jüdischen Gutsbesitzerfamilie in München geboren. Er studierte Philosophie, Psychologie und zeitweise auch Medizin und promovierte 1897 in Jena bei dem Neukantianer Rudolf Eucken mit einer Arbeit über das Verhältnis von Logik und Ethik. 1899 konvertierte er zum Katholizismus und habilitierte sich mit der Arbeit Die transzendentale und die psychologische Methode (1900). In den folgenden Jahren war er als Privatdozent tätig, zunächst in Jena, dann ab 1906 in München, doch verlor er 1910 wegen privater Verwicklungen seine Lehrbefugnis. In dieser Zeit geriet Scheler unter den Einfluss Husserls und veröffentlichte zwei Schriften, die ihn zum einflussreichsten Phänomenologen neben Husserl machten. In dem Buch Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass (1913), das 1923 in zweiter, verdoppelter Auflage unter dem neuen Titel Wesen und Formen der Sympathie erschien, setzt er sich kritisch mit den Mitleidstheorien Schopenhauers und Nietzsches auseinander, und in dem Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/16) stellt er Husserls „reiner Logik“ eine „reine Wertlehre“ zur Seite, die die absolute Geltung sittlicher Werte gegen Skeptizismus und Relativismus zu sichern versucht. Nach dem Ersten Weltkrieg, den Scheler zeitweise als Möglichkeit zu einer „geistig-moralischen Erneuerung“ begrüßte, wurde er von Adenauer an die neu begründete Kölner Universität berufen. In seiner Schrift Vom Ewigen im Menschen (1921) befasste er sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Religion, doch ein Jahr nach dem Erscheinen dieser Schrift distanzierte er sich öffentlich vom Katholizismus und bekannte sich zu einer pantheistischen Auffassung. Nach dieser Wende, die den Beginn seines Spätwerks markiert, veröffentlichte er die Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre (1923/24) und das Buch Die Wissensformen und die Gesellschaft (1925). In seiner letzten Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) konzipiert er schließlich ein philosophisches Menschenbild und eine Metaphysik des Geistes. 1928 nahm Scheler einen Ruf an die Universität Frankfurt am Main an, doch kurz nach der Übersiedung nach Frankfurt starb er am 19. Mai 1928 an einem Herzinfarkt.

Max Scheler (1874–1928) Anwender der phänomenologischen Methode und Begründer einer Metaphysik des Geistes

122 Phänomenologische Ontologie

Phänomenologie der Religion. In der Schrift Vom Ewigen im Menschen (1921) geht es Scheler um eine phänomenologische Religionsphilosophie. Dazu beschreibt er die religiösen „Akte“ des Glaubens und untersucht das Wesen des Göttlichen und das Verhältnis von Vernunft und Glaube. Er wendet sich dabei gegen die herkömmlichen Auffassungen, die die Philosophie der Religion entweder über- oder unterordnen. Im Gegensatz dazu akzeptiert er gleichzeitig die Unabhängigkeit der Philosophie und den Offenbarungsanspruch der Religion. Nach seiner Ansicht sind Philosophie und Religion zwar voneinander unabhängige, aber gleichwohl miteinander grundsätzlich übereinstimmende Erkenntnisbemühungen des Menschen. Ähnlich wie Spencer betrachtet er nämlich Religion und Philosophie (qua Metaphysik) als zwei verschiedene Wege zum selben Ziel, d. h. zur Annahme einer absoluten Wirklichkeit („ens per se“) hinter der wahrgenommenen Welt. Wenn die Religion von Gott und die Metaphysik vom Weltgrund spricht, so meinen beide nach Scheler im Grunde dasselbe. Während die Metaphysik den mühsamen Weg der weltlichen Erfahrung geht, stützt sich die Religion auf Offenbarung. Allerdings gesteht Scheler zu, dass die religiöse Vorstellung von Gott Merkmale wie Allwirksamkeit, Personsein und Heiligkeit aufweist, die über den philosophischen Begriff des Weltgrundes hinausgehen. Gleichwohl hält er in diesem Kontext am theistischen Gottesbegriff entschieden fest. Schelers religionsphilosophische Auffassungen sind also nicht nur phänomenologische Analysen religiösen Glaubens, sondern sie stellen auch teilweise selbst religiöse Metaphysik dar. Metaphysisches Heils- oder Erlösungswissen. Einen weiteren Schritt zu einer

religiösen Metaphysik unternimmt Scheler in seiner Schrift Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926). Er unterscheidet darin drei Formen des Wissens, nämlich Herrschafts-, Bildungs- und Erlösungswissen, wobei die beiden letzten Wissensformen der Philosophie bzw. der Metaphysik vorbehalten sind. „Herrschafts- oder Leistungswissen“ ist das Wissen der empirischen Einzelwissenschaften, das der Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft dient, insofern es dazu dient, natürliche und gesellschaftliche Veränderungen zu erklären und vorherzusagen. „Bildungs- oder Wesenswissen“ steht dagegen nicht im Dienst materieller Interessen oder sinnlicher Bedürfnisse, sondern es zielt auf die Bildung der menschlichen Persönlichkeit ab. Es ist die Aufgabe der Philosophie als Phänomenologie Wesenswissen von der Welt bereitzustellen, mit dessen Hilfe sich der Mensch ein Bild vom Wesen der Wirklichkeit machen kann. 

Zu Scheler These der „Konformität“ von Philosophie und Religion vgl. K. Wuchterl (1995) S. 204ff; W. Stegmüller (1969) S. 118 ff.

Max Scheler: Metaphysik des Geistes 123

Das von Religion und Metaphysik bereitgestellte „Erlösungs- oder Heilswissen“ gibt dem Menschen die Möglichkeit, sein Leben sinnvoll zu gestalten und an der zielgerichteten Gesamtentwicklung der Welt mitzuarbeiten. Scheler differenziert damit klar zwischen phänomenologischer Wesensontologie und religiöser Metaphysik. Die drei Wissensformen sind nach Scheler universale Möglichkeiten menschlichen Weltverstehens. Damit wendet er sich gegen Auguste Comtes Dreistadiengesetz, das die Geschichte als eine Aufeinanderfolge von theologischem, metaphysischem und wissenschaftlichem Stadium deutet. Gleichwohl verbindet Scheler mit seiner Lehre auch kulturphilosophische Überlegungen. So vertritt er etwa die Diagnose, dass in der europäischen Neuzeit einseitig das Herrschaftswissen über die physische Natur entwickelt worden sei, im Gegensatz zur Kultur Indiens, bei der das Schwergewicht auf dem Erlösungswissen liege. Da zum Gedeihen einer Kultur aber ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den drei Wissensformen notwendig ist, fordert Scheler, dass Europa sich verstärkt dem philosophischen Bildungswissen und dem religiös-metaphysischen Heilswissen zuwenden solle. Die Sonderstellung des Menschen durch den Geist. In seiner letzten Schrift Die

Stellung des Menschen im Kosmos (1928) hat Scheler eine philosophische Anthropologie entworfen. Ausgehend von einem sich auf die moderne Biologie stützenden Vergleich von Tier und Mensch gelangt er hier zu der Annahme einer Stufenfolge biopsychischer Kräfte. Anders N. Hartmann, auf den er sich bereits stützt, versteht er das Organische und das Psychische zusammen als eine Schicht der Realität, da alles Lebendige nach seiner Ansicht eine psychische Innenschicht („Fürsich- und Innesein“) hat. Mit dieser Annahme einer biopsychischen Schicht nähert Scheler sich dem Panpsychismus. Die unterste Stufe der biopsychischen Welt ist der bewusst- und empfindungslose „Gefühlsdrang“, der im Reich der Pflanzen allein herrscht und die treibende Kraft in allem Geschehen ist. Die zweite Schicht sind die Instinkte, die das Verhalten der Tiere, in Restformen aber auch das Verhalten des Menschen, nach angeborenen und vererbten festen Mustern steuern. Die dritte Stufe bilden das assoziative Gedächtnis und das darauf basierende gewohnheits­mäßige Verhalten, wodurch es den Lebewesen gelingt, sich aus der Artgebun­denheit und Starrheit des Instinkts zu lösen und sich neuen, nicht arttypischen Situationen anzupassen. Die vierte Stufe ist schließlich die praktische Intelli­genz. Ein 

N. Hartmann hat seine Schichtenlehre erstmals im Jahr 1926 in dem Aufsatz „Kategoriale Gesetze“ vorgetragen. – Vgl. M. Morgenstern (1997) S. 166 f.

124 Phänomenologische Ontologie

Verhalten ist nach Scheler intelligent, wenn es sich ohne praktische Versuche, also allein durch „mentales Probehandeln“, an neue Situationen sinnvoll anpassen kann. Alle diese natürlichen Antriebe stehen nach Scheler im Dienst der Lebensbedürfnisse und machen daher nicht das Wesen des Menschen aus. Ähnlich wie Bergson sucht Scheler also Eigenschaften des Menschen, die keinen Nutzen für die natürlichen Instinkte und Triebe haben und daher auch nicht evolutionär erklärt werden können. Auch die Intelligenz unterscheidet den Menschen nach Scheler nur graduell, nicht wesentlich von den Tieren. Das Wesen des Menschen wird erst in seinem neuen Verhältnis gegenüber der Natur sichtbar. Während die Tiere durch ihre Instinktausstattung in Verhalten und Wahrnehmung auf eine bestimmte Umwelt festgelegt sind, ist der Mensch in seinem Handeln und Erkennen nicht auf eine bestimmte Umwelt fixiert. Er kann sich mit Hilfe der Technik fast überall in der Natur einrichten, und er ist fähig, sich zu einer von Nützlichkeits­erwägungen freien, objektiven Betrachtung der Welt zu erheben. Diese „Weltoffenheit“ des Menschen lässt sich nach Scheler nicht durch natürliche Antriebe erklären, sondern erfordert ein neues Prinzip: den Geist. Vermöge des Geistes kann der Mensch sich gegen seine natürlichen Triebe wenden. „Mit dem Tiere verglichen, das immer ‚Ja‘ zum Wirklichsein sagt […], ist der Mensch der ‚Neinsagenkönner‘, der ‚Asket des Lebens‘, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit.“ Der Mensch ist daher als „Vitalwesen“ der Höhepunkt in der Entwicklung der Lebewesen, aber als Geistwesen steht er im Gegensatz zur natürlichen Evolution.10 Metaphysik von Drang und Geist. In seiner Anthropologie gelangt Scheler zur

Anerkennung von Trieb und Geist als den beiden grundlegenden Wesenszügen des Menschen. Diese Wesensbestimmung wird für ihn zum Ausgangspunkt einer metaphysischen Gesamtdeutung der Welt. Indem er wie Schopenhauer und Bergson der Ansicht ist, dass das Wesen der Welt nur in Analogie zum Wesen des Menschen verstanden werden kann, formuliert er die metaphysische Grundthese, dass Geist und Drang die beiden Grundprinzipien der Welt oder, mit deutlicher Anspielung auf Spinoza, die beiden „Attribute“ des Absoluten sind. Diese metaphysische Konzeption macht zwar eine terminologische Anleihe bei Spinoza, doch noch wichtiger dürfte der Rückgriff auf Eduard von Hartmann gewesen sein. Wie dieser nimmt Scheler nämlich an, dass zur Erklärung der

 Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 8. Aufl. Bern 1985, S. 55. 10 Zu Schelers philosophischer Anthropologie vgl. W. Stegmüller (1969) S. 124 ff.

Max Scheler: Metaphysik des Geistes 125

Entwicklung des Kosmos und des Lebens ein ordnendes Grundprinzip angenommen werden muss, das er als Geist begreift. Die nähere Ausgestaltung, die Scheler dieser metaphysischen Konzeption geben wollte, ist nur in einigen zentralen Punkten erkennbar. Zunächst versteht er den Geist als ein ursprüngliches Prinzip, das im Weltgrund bereits angelegt ist, wenngleich der Geist erst auf einer höheren Stufe der Evolution erscheint. Sodann ist der Geist von sich aus ohnmächtig, seine alleinige Macht besteht darin, den blinden Drang zu lenken und ihm damit eine sinnvolle Richtung zu geben. Damit verwirft Scheler die traditionelle Auffassung vom Geist als höchster Macht. Dennoch ist Geist für ihn der Ursprung von allem Sinn und Wert in der Welt, ja er ist das eigentlich Göttliche in der Welt, das jedoch den „Drang“ zur Realisierung seiner Ideen und Werte braucht. „Der Grund der Dinge mußte, wenn er seine deitas, die in ihr angelegte Ideen- und Wertfülle verwirklichen wollte, den weltschaffenden Drang enthemmen, um im zeithaften Ablauf des Weltprozesses sich selbst zu verwirklichen – er musste den Weltprozeß sozusagen in Kauf nehmen, um in und durch den zeithaften Ablauf dieses Prozesses sein Wesen zu verwirklichen.“11 Diese pantheistische Auffassung verbindet Scheler mit dem allgemeinen Entwicklungsgedanken. Das Ziel der kosmischen Entwicklung sieht er nämlich in der zunehmenden Durchdringung von Geist und Drang. „Diese Durchdringung ist zugleich wachsende Vergeistigung des ursprünglich für Ideen und höchste Werte blinden schöpferischen Dranges und […] wachsende Macht- und Kraftgewinnung des ursprünglich ohnmächtigen, nur Ideen entwerfenden unendlichen Geistes.“12 Und da der Geist mit dem Menschen in die Welt kommt, wird der Mensch zum Mitstreiter Gottes im Weltprozess, ja zum Mitkämpfer bei der „Gottwerdung“ der Welt.13 Wirkung. Max Scheler war einer der einflussreichsten Philosophen in den 20er

und frühen 30er Jahren, bis die Nazis die öffentliche Auseinandersetzung mit seinem Werk verboten und seinen Einfluss damit gewaltsam beendeten. Mit seinen Analysen emotionaler, moralischer und religiöser Phänomene hat er der phänomenologischen Bewegung nachhaltige Impulse gegeben. Insbesondere N. Hartmann und Heidegger haben Scheler als genialen Ideenlieferanten geschätzt. Darüber hinaus hat Scheler die philosophische Anthropologie von Helmut Plessner und Arnold Gehlen nachhaltig geprägt und mit seiner Lehre von den 11 12 13

Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 70. Scheler: Philosophische Weltanschauung, 3. Aufl. Bern 1968, S. 12. Zu Schelers Metaphysik von Geist und Drang vgl. W. Stegmüller (1969) S. 127ff; H. Noack (1976) S. 209, 216 ff.

126 Phänomenologische Ontologie

Wissensformen hat er die von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel entwickelte Lehre von den Erkenntnisinteressen inspiriert. Seine Metaphysik von Geist und Drang hat dagegen kein großes Echo gefunden. Kennzeichnend dafür ist N. Hartmanns Schichtenlehre, die den Geist zwar auch als höchste Schicht der Realität begreift, ohne ihm jedoch die Sonderstellung im Sinne Schelers zuzusprechen.14 Würdigung. Schelers philosophische Anthropologie ist in ihren phänomenolo-

gischen Teilen, die sich mit der Beschreibung der Weltoffenheit des Menschen befassen, eine bedeutende Leistung. Bemerkenswert ist, dass Scheler sich in seiner Anthropologie und Metaphysik von der Wesensschau weitgehend löst und weit mehr eine philosophische Weltanschauung auf der Basis der Wissenschaften entwickelt. Die metaphysische Deutung des Geistes als übernatürliches Grundprinzip der Welt, die Scheler im Rückgriff auf Eduard von Hartmann vornimmt, ist freilich Bedenken ausgesetzt. Gegen seine Metaphysik des Geistes lässt sich einwenden, dass der Geist durchaus als Ergebnis der natürlichen Evolution verstanden werden kann und dass auch die Steuerung und Kontrolle der Triebe durch den Geist einen evolutionären Nutzen haben kann, z. B. um ein geordnetes Leben in einer Gemeinschaft zu ermöglichen. Und schließlich setzt Schelers Auffassung, die das Auftreten des Geistes in der Welt durch dessen Präexistenz im Weltgrund erklärt, die problematische These voraus, dass Neues nur das „Auftauchen“ von etwas vorher schon Vorhandenem ist. Schelers Metaphysik scheint somit dem schöpferischen Charakter der Evolution kaum gerecht zu werden.

3. Nicolai Hartmann: Kritische Ontologie und Schichtenlehre Vertreter einer kritischen Ontologie. Nicolai Hartmann ist der Begründer eines

philosophischen Systems, in dessen Zentrum eine groß angelegte, fünf Bände umfassende Ontologie steht, die Untersuchungen und Stellungnahmen zu nahezu allen traditionellen Problemen der Metaphysik liefert und die schließlich in einer modernen Fassung der alten, auf Aristoteles zurückgehenden Schichtenlehre gipfelt. Da Hartmann seine frühe philosophische Schulung im Marburger Neukantianismus erhalten hatte, wurde es für ihn, als er seine Ontologie zu entwickeln begann, zu einer Frage der Selbstbehauptung, die eigene Position 14

Zu Schelers Einfluss auf die phänomenologische Bewegung vgl. K. Wuchterl (1995) S. 193.

Nicolai Hartmann: Kritische Ontologie und Schichtenlehre 127

in Abgrenzung zum Idealismus Kants und der Neukantianer zu begründen. Als eine Errungenschaft Kants betrachtete er allerdings dessen Kritik der klassischen theologischen Metaphysik, doch Kants idealistische Umdeutung der traditionellen Ontologie lehnte er ab. Um zu unterstreichen, dass seine Ontologie selbst erkenntnistheoretisch begründet ist und der Erkenntniskritik Kants und der Neukantianer standzuhalten vermag, bezeichnete er seine Konzeption als „kritische Ontologie“. Hartmanns Ontologie gehört, zumindest in einem weiteren Sinne, auch zur phänomenologischen Ontologie.15 Unter dem Einfluss Husserls und Schelers wollte er eine phänomengerechte Beschreibung der mehrschichtigen Wirklichkeit liefern und die Phänomene in ihrem von philosophischen Deutungen unabhängigen Wesensgehalt erfassen. Allerdings grenzte er sich von den Auffassungen Husserls und Schelers auch in wichtigen Punkten ab. Abgelehnt hat er nicht nur Husserls Wende zum Idealismus, sondern auch die von Husserl und Scheler vertretene Konzeption einer apriorischen Wesensschau. Im Gegensatz dazu hat Hartmann seine Ontologie auf die ganze Breite der Erfahrung und der empirischen Wissenschaften gegründet. Leben und Werk. Nicolai Hartmann wurde am 20. Februar 1882 in Riga als Bal-

tendeutscher geboren. Er studierte zunächst Philosophie und klassische Philologie in Petersburg, ab 1905 in Marburg bei den Neukantianern Hermann Cohen und Paul Natorp. Im Jahr 1907 promovierte er mit einer Arbeit über das Seinsproblem in der griechischen Philosophie, die erheblich erweitert unter dem Titel Platos Logik des Seins (1909) erschien und die ihn als Anhänger des Marburger Idealismus zeigt. Nach seiner Habilitation im Jahr 1909 wurde er Privatdozent in Marburg. In seinem nächsten Buch Die Philosophischen Grundlagen der Biologie (1912) tritt der idealistische Ansatz bereits in den Hintergrund. Nach dem Ersten Weltkrieg, den er als Dolmetscher und Briefzensor an der Ostfront erlebte, wurde Hartmann Professor für Philosophie in Marburg, ab 1922 als Nachfolger Natorps, doch ließ er den Idealismus nun ganz fallen. In seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921) begründet er einen erkenntnistheoretischen Realismus als Voraussetzung der Ontologie. In den 20er Jahren veröffentlichte er die programmatischen Aufsätze Wie ist kritische Ontologie möglich? (1923) und Kategoriale Gesetze (1926) sowie die aus zwei Teilen bestehende Philosophie des deutschen Idealismus (1923/29). In Auseinandersetzung mit Scheler entstand seine Ethik (1926). 15

Zur Einordnung Hartmanns in den Umkreis der Phänomenologie (bzw. zu seiner Stellung in der „phänomenologischen Bewegung“) vgl. H. Spiegelberg (1960) Bd. I, S. 356–391.

128 Phänomenologische Ontologie

In den Jahren von 1923–25 hatte Hartmann in Marburg kollegiale Kontakte zu Heidegger und nach seinem Wechsel nach Köln pflegte er mit Scheler freundschaftlichen Umgang. Im Jahr 1930 ging er nach Berlin, wo er während der Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft sich ganz der Ausarbeitung seiner Ontologie widmete. Nach der Schrift Das Problem des geistigen Seins (1933) erschienen die drei Bände seiner allgemeinen Ontologie: In Zur Grundlegung der Ontologie (1935) untersucht er die allgemeinsten ontologischen Begriffe, in Möglichkeit und Wirklichkeit (1938) befasst er sich insbesondere mit dem Unterschied zwischen logischer und realer Möglichkeit und im Aufbau der realen Welt (1940) entwickelt er eine realistische Kategorienlehre und formuliert die Grundgesetze der geschichteten Realität. Während des Krieges veröffentlichte er die zusammenfassende Schrift Neue Wege der Ontologie (1942) und vollendete die Philosophie der Natur (1950). Nach dem Krieg wechselte er nach Göttingen, wo er seine Lehrtätigkeit sofort wieder aufnehmen konnte, da er als „ideologisch unbelastet“ galt. Während der Fertigstellung seiner Ästhetik (1953) starb Hartmann am 9. Oktober 1950 infolge eines Schlaganfalls. Ebenfalls postum erschien die kurze metaphysikkritische Schrift Teleologisches Denken (1951). Realismus als Voraussetzung der Ontologie. In seinem Werk Grundzüge einer

Metaphysik der Erkenntnis (1921) begründet Hartmann in Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus und der Phänomenologie einen erkenntnistheoretischen Realismus. Der Titel „Metaphysik der Erkenntnis“ enthält vor allem eine Kampfansage an die Marburger Neukantianer und ihre Auffassung von Erkenntnistheorie als „Logik der Erkenntnis“. Nach dieser sich eng an Kant anschließenden Auffassung bewegt sich Erkennen stets in einem vom Denken selbst erzeugten Rahmen reiner (oder apriorischer) Begriffe. Da das Denken damit selbst bestimmt, was überhaupt Gegenstand der Erkenntnis werden kann, ist Erkennen kein Abbilden, sondern gewissermaßen ein „Erzeugen“ der Wirklichkeit. Gegen diesen „logischen Idealismus“ verteidigt Hartmann die realistische Auffassung, dass Erkennen ein „Erfassen“ der an sich bestehenden Realität ist.

Nicolai Hartmann (1882–1950) Erneuerer des kritischen Realismus und Vertreter einer kritischen Ontologie und Schichtenlehre

Nicolai Hartmann: Kritische Ontologie und Schichtenlehre 129

Hartmann liefert eine ausführliche Analyse und Kritik der wichtigsten Einwände des Idealismus, wobei er immer wieder nachzuweisen versucht, dass diese Einwände den Realismus nicht widerlegen können. Neben dieser Kritik am Idealismus liefert Hartmann auch eine direkte Rechtfertigung des Realismus. Sein zentrales Argument für den Realismus ist phänomenologischer Natur, doch ist es auch gegen Husserl gerichtet. Hartmann behauptet nämlich, dass das „Erfassen“ der an sich bestehenden Wirklichkeit selbst zum „Erkenntnisphänomen“ gehört, womit er sagen will, dass der Realitätsanspruch, den alltägliche und wissenschaftliche Erkenntnis miteinander gemeinsam haben, zum unverzichtbaren Kern des Erkenntnisbegriffs gehört. Freilich ist der naive Realismus des Alltagsverstandes, der Erkennen als eine adäquate Abbildung oder Widerspiegelung der Realität im Bewusstsein versteht, durch die Wissenschaften widerlegt, insbesondere durch ihren Nachweis, dass das, was wir als Farben oder Töne wahrnehmen, in Wirklichkeit elektromagnetische bzw. Schallwellen sind. Doch wenn auch die Realität nicht genau gleich im Bewusstsein abgebildet werden kann, bleibt doch weiterhin richtig, dass die realen Dinge im Bewusstsein mit ausreichender Ähnlichkeit (oder eindeutigen Korrespondenzen) repräsentiert werden. Der damit gegebene „kritische Realismus“ stellt nach Hartmann die notwendige Voraussetzung der Ontologie dar.16 Die Konzeption der kritischen Ontologie. Unter der Voraussetzung eines kri-

tischen Realismus hat Hartmann die Aufgaben und Methoden seiner kritischen Ontologie skizziert. Im Unterschied zur alten, dogmatischen Ontologie verzichtet die kritische Ontologie darauf, streng apriorisch zu verfahren, also von Intuitionen oder Definitionen auszugehen und daraus mit Hilfe der deduktiven Methode die Grundprinzipien der Welt abzuleiten. Gefordert ist vielmehr eine „regressive“ oder „analytische“ Methode. Die Aufgabe der kritischen Ontologie besteht danach darin, bei den Phänomenen, wie sie in der Alltagserfahrung und in den Wissenschaften gegeben sind, auszugehen und dann auf die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien zurückzuschließen. Da diese Konzeption von kritischer Ontologie Erfahrung und Wissenschaft voraussetzt, beansprucht Hartmann, anders als Husserl, keine evidente Wesenseinsichten, sondern lediglich ein hypothetisches Formulieren der Prinzipien. Indem er dabei die Prinzipien, die durch Rückschluss von den Phänomenen aus erfasst werden, als Kategorien versteht, wird Ontologie methodisch zur „Kategorialanalyse“ und inhaltlich zur „Kategorienlehre“.17 16 Zur Hartmanns Rechtfertigung des Realismus vgl. M. Morgenstern (1997) S. 35ff, 40ff, 49 ff. 17 Zu Hartmanns Konzeption der kritischen Ontologie vgl. M. Morgenstern (1992) S. 70 ff.

130 Phänomenologische Ontologie

Die elementaren Seinsbegriffe. In der Schrift Zur Grundlegung der Ontologie

(1935) untersucht Hartmann die elementaren Seinsbegriffe. Dazu gehört zunächst die Frage nach dem allgemeinen Seinsbegriff, also die Aristotelische Frage nach dem „Seienden als Seiendem“. Nach Hartmann ist Sein in allen besonderen Arten des Seienden ein und dasselbe. Auch traditionelle Gegensätze wie „Sein und Werden“, „Substanz und Akzidens“ oder „Form und Materie“ dürfen nicht so verstanden werden, als sei nur jeweils eines der Glieder dieser Gegensätze mit dem Sein identisch. Mit Aristoteles behauptet er daher, dass der Seinsbegriff ein undefinierbarer Grundbegriff ist. „Sein ist ein Letztes, nach dem sich fragen läßt. Ein Letztes ist niemals definierbar.“18 Im Gegensatz zu Heidegger, der die Frage nach dem „Sinn von Sein“ als die zentrale Frage seiner Ontologie betrachtet, steht der Seinsbegriff bei Hartmann zwar auch am Anfang der Ontologie, aber diese erste Frage wird vergleichsweise kurz beleuchtet und tritt dann hinter anderen Fragen ganz zurück.19 Hartmann befasst sich ferner mit der klassischen Unterscheidung zwischen „Dasein“ und „Sosein“, die er als „Seinsmomente“ bezeichnet, um deutlich zu machen, dass beide in jedem Seienden untrennbar verbunden sind. Daher betrachtet er z. B. Kants Ding an sich, dem zwar ein Dasein, aber kein Sosein zugestanden wird, als unhaltbare Fiktion. Im Anschluss an Husserls Psychologismuskritik unterscheidet er sodann zwischen realem und idealem Sein. Reales Sein umfasst Natur und Geist und zeichnet sich durch Zeitlichkeit, Veränderlichkeit und Individualität aus; ideales Sein besteht dagegen aus mathematischen Gebilden und logisch-abstrakten Bedeutungen, die durch Unzeitlichkeit, Unveränderlichkeit und Allgemeinheit charakterisiert sind. Das ideale Sein deutet Hartmann im Anschluss an Aristoteles als „universalia in re“, also als das „in“ den Dingen enthaltene Wesen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext seine Umwertung des idealen Seins. Ähnlich wie Nietzsche kritisiert er nämlich jede Abwertung des realen Seins zugunsten des vermeintlich „höheren“ idealen Seins. „Der Nimbus der Erhabenheit besteht am idealen Sein nur in den Augen derer, die es nicht kennen. Er ist der Ausdruck eines falschen Idealismus, der im Leben sich rächt; denn er führt zur Abwertung und Verkennung des Realen. […] Die Überschätzung des Ewigen und Unvergänglichen ist blinde Sehnsucht. Sie weiß nicht, was sie ersehnt […] Die wahren Werte des Menschenlebens liegen

18 N. Hartmann: Grundlegung der Ontologie, Berlin 1965, S. 43. 19 Einen umfassenden Vergleich zwischen Hartmann und Heidegger liefert W. Harich (2004) S. 163 ff.

Nicolai Hartmann: Kritische Ontologie und Schichtenlehre 131

immer im Vergänglichen, sie blitzen auf im hellen Licht des Augenblicks wirklicher Erfüllung.“20 Ontologische Modalitäten. In seiner Schrift Möglichkeit und Wirklichkeit (1938)

untersucht Hartmann vor allem die Unterscheidung zwischen logischer und realer Möglichkeit. Während logisch alles möglich ist, was keinen Widerspruch enthält, kann nach seiner Ansicht nur das als „real möglich“ gelten, was auch real wirklich ist (oder wird). Ein „bloß“ real Mögliches, das nicht wirklich ist, betrachtet er als eine „Art Gespensterdasein“. Hartmann vertritt damit einen „harten“ Begriff von Realmöglichkeit, den er in der antiken Schule der Megariker vorgebildet findet. Aus seiner Modallehre glaubt Hartmann den Determinismus ableiten zu können. Real möglich ist für ihn nur das, dessen sämtliche Bedingungen gegeben sind; mit dem Vorliegen aller Bedingungen ist eine Sache aber schon wirklich und zugleich notwendig. Wenn aber alles, was real ist, zugleich notwendig ist, dann bedeutet dies einen universalen Determinismus. Hartmanns Beitrag zur einer Logik der Modalitäten ist noch wenig ausgewertet, doch sein modaler Beweis für das ontologische Prinzip der Determination wird meist als verfehlt betrachtet. Fundamentalkategorien. Das wichtigste Werk seiner allgemeinen Ontologie ist

der Aufbau der realen Welt (1940). Im ersten Teil dieses Werkes entwickelt Hartmann einen realistischen Begriff von Kategorie, dem zufolge eine Kategorie ein grundlegendes Merkmal der Welt repräsentiert. In Auseinandersetzung mit Kant, Hegel und den Neukantianern analysiert er im zweiten Teil die grundlegenden Kategorien der Realität und präsentiert sie schließlich auf einer Kategorientafel. Diese Fundamentalkategorien bestehen aus zwölf elementaren Gegensatzpaaren wie „Prinzip-Concretum“, „Substrat-Relation“ und „Determination-Dependenz“. Nach Hartmann repräsentieren diese Gegensatzpaare jeweils verschiedene Strukturmomente der Realität. So ist etwa „Prinzip“ eine allgemeine Gesetzmäßigkeit, die nicht losgelöst von konkreten Objekten besteht. Im Gegensatz zu den Neukantianern interpretiert Hartmann damit korrelative Grundbegriffe ausdrücklich realistisch.21

20 N. Hartmann: Grundlegung der Ontologie, Berlin 1965, S. 292. 21 Zu den allgemeinen ontologischen Grundfragen vgl. W. Stegmüller (1969) S. 255ff; M. Morgenstern (1997) S. 60 ff.

132 Phänomenologische Ontologie

Die Schichten der Realität und ihre Gesetze. Im Zentrum von Hartmanns phi-

losophischem Weltbild steht die Lehre von den Schichten der Realität, die er im dritten Teil des Aufbaus der realen Welt entwickelt. Ausgangspunkt sind einige durch Alltagserfahrung und Wissenschaften gesicherte Tatsachen, wie etwa, dass es Bewusstsein nur in Abhängigkeit von einem funktionierenden Organismus gibt und dass Tiere und Menschen ohne bestimmte Stoffe wie Sauerstoff und Wasser nicht leben können. Angesichts solcher Phänomene muss man nach Hartmann anerkennen, dass das „Höhere“ nicht ohne das „Tiefere“ existieren kann, dass die Realität also ein Schichtenreich darstellt. „Von Schicht zu Schicht, über jeden Einschnitt hinweg, finden wir dasselbe Verhältnis des Aufruhens, der Bedingtheit ‚von unten‘ her, und doch zugleich der Selbständigkeit des Aufruhenden in seiner Eigengeformtheit und Eigengesetzlichkeit. […] Die Welt entbehrt bei aller Mannigfaltigkeit und Heterogeneität keineswegs der Einheitlichkeit. Sie hat die Einheit eines Systems, aber das System ist ein Schichtensystem. Der Aufbau der realen Welt ist ein Schichtenbau.“22 Indem Hartmann von der Grundtatsache der geschichteten Realität ausgeht und außerdem die Differenzierung der Realwissenschaften in Physik/Chemie, Biologie, Psychologie und Geisteswissenschaften berücksichtigt, gelangt er zu der Unterscheidung von vier Schichten der realen Welt, nämlich Materie, Leben, Seele und Geist. Der Unterschied zwischen Seele und Geist deckt sich nicht ganz mit dem Unterschied zwischen Wahrnehmung und Denken. Als Geist versteht Hartmann nämlich nicht nur das Denken als psychischen Prozess, sondern auch die (objektiven bzw. „objektivierten“) Produkte des Denkens. Nachdem Hartmann die Schichten der Realität als Phänomen herausgestellt hat, versucht er die Gesetzmäßigkeiten der geschichteten Realität in mehreren Gruppen umfassend zu beschreiben. Eine Gruppe dieser Gesetze hat es mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Schichten zu tun. Wichtig ist dabei vor allem das Gesetz des „Novums“, das besagt, dass jede höhere Schicht neue Eigenschaften aufweist, die die vorangegangene Schicht noch nicht besitzt. Das Novum einer Schicht besteht somit in den auf das Tiefere irreduziblen Eigenschaften. Das Gesetz des Novums ist also antireduktionistisch. Das Gesetz der „Schichtendistanz“ behauptet, dass es zwischen den Schichten Einschnitte gibt. Die Natur ist also nicht durchweg kontinuierlich, sondern sie macht Sprünge.

22 N. Hartmann: Der Aufbau der realen Welt, Berlin 1964, S. 182.

Nicolai Hartmann: Kritische Ontologie und Schichtenlehre 133

In einer anderen Gruppe von Gesetzen geht es um die Abhängigkeit der Schichten untereinander. Entscheidend ist dabei das Gesetz der „Stärke“, das Hartmann wegen seiner zentralen Bedeutung auch als das „Grundgesetz“ der Schichtung bezeichnet. Es besagt, dass die tieferen Schichten die stärkeren und die höheren Schichten die schwächeren sind. Das Tiefere ist, kurz gesagt, das Seinsfundament des Höheren. Das Gesetz der Stärke hat einen antiidealistischen Zug, insofern es metaphysische Konzepte ausschließt, die den Geist als eigenständige Substanz betrachten. Das Gesetz der „Indifferenz“ besagt, dass die niederen Schichten gleichgültig oder indifferent gegen mögliche Überformungen durch höhere Schichten sind. Dies bedeutet nach Hartmann auch, dass die tieferen Schichten keinerlei Tendenzen zur Ausbildung höherer Formen in sich tragen. Es gibt also keine Tendenz der Materie Leben zu erzeugen und keine Tendenz von Organismen Bewusstsein auszubilden. Das Gesetz der Indifferenz hat also einen ausgesprochen antiteleologischen Zug.23 Willensfreiheit als Spezialfall „kategorialer Freiheit“. Zu den Grundgesetzen der

geschichteten Realität gehört nach Hartmann auch das „Gesetz der Freiheit“. Es besagt, dass die höheren Schichten einen Freiraum der Entfaltung haben, der durch das Tiefere zwar begrenzt, aber nicht im Einzelnen festgelegt ist. Hartmann glaubt damit auch, Willensfreiheit ontologisch verankern zu können. Bereits in seiner Ethik (1926) hat er die Annahme der Willensfreiheit durch eine Analyse der Phänomene des Freiheits-, Verantwortungs- und Schuldbewusstseins zu begründen versucht. Ohne die Annahme der Willensfreiheit wären nach seiner Ansicht alle diese Phänomene bloße Selbsttäuschungen, was er jedoch, ähnlich wie Whitehead, als eine absurde Deutung betrachtet. Die ontologische Möglichkeit der Willensfreiheit glaubt Hartmann sodann aufweisen zu können, ohne den Determinismus aufzugeben. Dazu nimmt er an, dass Willensfreiheit eine zusätzliche, nicht aus der Natur, sondern aus der Schicht des Geistes stammende Determinante darstellt, die der Mensch in den Weltprozess einbringt und diesen damit „überformt“. In diesem Sinne ist die menschliche Freiheit ein Spezialfall „kategorialer“ (oder ontologischer) Freiheit. Im Gegensatz zu diesem deterministischen Freiheitsverständnis hat Hartmann aber auch an Willensfreiheit im gewöhnlichen Sinne festgehalten.24

23 Zu Hartmanns Schichtenlehre vgl. M. Morgenstern (1992) S. 81ff; M. Morgenstern (1997) S. 78 ff. 24 Zu Hartmanns Freiheitstheorie vgl. M. Morgenstern (1992) S. 189ff; M. Morgenstern (1997) S. 137 ff.

134 Phänomenologische Ontologie

Kritik religiöser Metaphysik. Wie wichtig Hartmann Willensfreiheit ist, zeigen

auch die Antinomien zwischen Ethik und Religion, die er am Schluss der Ethik vorträgt. Er versucht hier zu zeigen, dass der Gottesglaube mit den ethischen Ideen von Freiheit und Würde des Menschen unvereinbar ist. Zu diesen Antinomien gehört auch das Verhältnis von göttlicher Vorsehung und Freiheit. Nach Hartmann wird der Mensch zu einer Marionette der göttlichen Weltordnung degradiert, wenn der Lauf der Dinge durch einen Plan Gottes festgelegt ist. Da er diese Antinomie für unauflösbar hält, entscheidet er sich für die menschliche Freiheit und vertritt, wie später Sartre, einen „postulatorischen Atheismus“: Um der Freiheit des Menschen willen darf Gott nicht existieren.25 In diesen Kontext gehört noch eine weitere Kritik Hartmanns an religiöser Metaphysik. Er wendet sich gegen die zentrale Voraussetzung jeder „Sinnmetaphysik“, dass das menschliche Leben ohne einen Gott sinnlos wäre. Er betont, dass Sinn und Zweck erst mit dem Menschen in die Welt kommen, insofern nur der Mensch Sinn verstehen und Zwecke setzen kann. Hartmann geht aber noch weiter und stellt geradezu „existentialistisch“ fest, dass nur in einer an sich sinnlosen Welt menschliche Sinngebung und Sinnerfüllung möglich sind. „… in einer schon von sich aus sinnerfüllten Welt wäre ein der Sinngebung mächtiges Wesen schlechthin überflüssig. […] In seiner Sinngebung an die von sich aus sinnlose Welt hat der Mensch seine ihm eigentümliche Sinnerfüllung. Eine schon sinngeordnete Welt würde ihn um diese betrügen. Das metaphysische Bedürfnis, das eine solche Welt zum Postulat macht, ist eine ungeheure Selbsttäuschung und Selbstverkennung des Menschen.“26 Die Sinnlosigkeit der Welt ist daher wie die Nicht-Existenz eines Gottes Voraussetzung eines Lebens in Freiheit und Würde. Atheismus und „Existentialismus“ sind bei Hartmann somit Ergebnis einer nüchternen ontologisch-ethischen Analyse. Kritik einseitiger Weltbilder. Da die Realität nach Hartmann ein Schichtensys-

tem ist, sind alle philosophischen Weltbilder verfehlt, die einzelne Kategorien unzulässig verallgemeinern. Solche einseitigen Weltbilder hat er „Ismen“ bezeichnet und sie in zwei Grundtypen eingeteilt. Auf der einen Seite gibt es die Metaphysik „von unten“, die Kategorien aus niederen Schichten verwendet, um die Gebilde höherer Schichten daraus zu erklären. Prototyp dieses verfehlten Metaphysiktyps, der gegen die Gesetze des Novums und der Freiheit verstößt, ist der Materialismus. Auf der anderen Seite gibt es Metaphysik „von oben“, die Kategorien aus höheren Schichten benutzt, um daraus die tieferen Schichten zu 25 Zu den Antinomien von Ethik und Religion vgl. W. Stegmüller (1969) S. 277 ff. 26 N. Hartmann: Teleologisches Denken, Berlin 1966, S. 111 f.

Nicolai Hartmann: Kritische Ontologie und Schichtenlehre 135

erklären. Dazu gehört zunächst der Idealismus, der das Subjekt zum Ursprung der Welt macht, obwohl das Subjekt zur höchsten Schicht der Realität gehört. Der Idealismus verstößt damit gegen das Gesetz der Stärke und stellt die Welt auf den Kopf. Die historisch einflussreichste Form solcher Metaphysik sieht Hartmann in der Teleologie, die die Welt im Ganzen als zweckmäßig gesteuert deutet. Die teleologische Weltdeutung hat er sogar als den Kern, ja als die „Erbsünde“ der traditionellen Metaphysik betrachtet und ihr in seiner Schrift Teleologisches Denken (1953) eine scharfe, geradezu ideologiekritische Analyse gewidmet.27 Naturphilosophie. In seiner Philosophie der Natur (1950) liefert Hartmann eine

spezielle Ontologie der anorganischen und organischen Schichten der Realität. Im ersten Teil dieses Werkes geht es ihm darum zu zeigen, dass Raum und Zeit nicht, wie Kant meint, bloße Anschauungsformen sind, sondern Realkategorien. Zwar sind Raum und Zeit auch Anschauungs- oder Bewusstseinsformen, doch unterscheiden sich diese gerade von den Realkategorien Raum und Zeit. In diesem Kontext setzt Hartmann sich auch kritisch mit der Relativitätstheorie auseinander und glaubt ihr einige überflüssige „spekulative Relativismen“ bescheinigen zu können. Im zweiten Teil analysiert er die Kategorien der anorganischen Natur, und zwar nicht nur die klassischen Kategorien von Substanz und Kausalität, sondern auch neuere Kategorien wie Prozess, Gesetzlichkeit und Wechselwirkung. Zwar entwickelt Hartmann dabei ein dynamisches Naturbild, doch hält er sowohl an der Vorstellung eines beharrlichen Substrats in allen Veränderungen als auch an einem universalen Determinismus fest. Den Indeterminismus der Quantenphysik lehnt er unter anderem mit dem Hinweis auf verborgene, noch nicht festgestellte Faktoren ab. Im dritten Teil, der eine Analyse der Kategorien der organischen Natur bringt, setzt sich Hartmann, im Rückgriff auf Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, kritisch mit dem Problem der anscheinenden Zweckmäßigkeit organischer Prozesse auseinander. Die klassischen Positionen zu dieser Frage, Mechanismus und Vitalismus, lehnt er ab, weil er in ihnen, ähnlich wie Bergson, zwei unzulässige „Grenzüberschreitungen“ sieht, nämlich einerseits eine Erklärung „von unten“ durch mechanistische Prinzipien, andererseits eine Erklärung „von oben“ durch die dem Bereich des Geistes angehörende Teleologie. Daher schlägt Hartmann die Hypothese einer spezifisch „organischen Determination“ vor, die eine Lösung „diesseits“ von Mechanismus und Vitalismus sein soll. Die 27 Harich hat hinter Hartmanns Kritik des teleologischen Denkens den Einfluss Feuerbachs auszumachen versucht. Vgl. W. Harich (2000) S. 100 ff.

136 Phänomenologische Ontologie

anscheinende Zweckmäßigkeit in der Entwicklung der Lebewesen (Ontogenese) lässt sich danach durch die Annahme erklären, dass die Anlagesysteme der Lebewesen „geschlossene Ursachenkomplexe“ sind, die von Außeneinflüssen weitgehend abgeschottet sind und daher gleichsam unveränderlich ein Ziel anzusteuern scheinen. Philosophie des Geistes. War Hartmanns Naturphilosophie durch eine Ausein-

andersetzung mit Kant bestimmt, so stellt seine Philosophie des Geistes den Versuch dar, Hegels Lehre vom subjektiven, objektiven und absoluten Geist von ihren unhaltbaren metaphysischen Komponenten zu befreien und ihren phänomenologisch haltbaren Kern herauszuarbeiten. Den Lehren Hegels hat Hartmann daher seine Lehren vom personalen, objektiven und objektivierten Geist entgegengesetzt. In der Lehre vom „personalen Geist“ ist er freilich weniger an Hegel als an den zeitgenössischen anthropologischen Entwürfen Schelers und Plessners orientiert. In Anknüpfung an diese Entwürfe untersucht er die Wesensmerkmale des Menschen als erkennendes und handelndes Wesen. Dazu gehören vor allem die Beherrschung der Triebe durch den Geist, die Fähigkeit zu rein sachlicher Weltbetrachtung, das Bewusstsein von sich selbst und seiner zufälligen („exzentrischen“) Stellung in der Welt sowie die Freiheit, das eigene Leben nach Plänen zu gestalten und sich selbst zu verwirklichen. In seinen Lehren vom objektiven und objektivierten Geist ist Hartmann dagegen an Hegel orientiert. „Objektiver Geist“ versteht er als eine kollektive Macht, die als „Zeitgeist“ oder „Gruppengeist“ das Denken und Fühlen einer großen Zahl von Menschen beherrscht. Dazu rechnet er nicht nur Moral und Recht, sondern auch Religion, Kunst und philosophische Weltanschauung, also genau das, was bei Hegel „absoluter Geist“ heißt. Hartmann versucht die zentrale kulturelle Funktion des objektiven Geistes herauszuarbeiten, insbesondere seine prägende Kraft bei der Erziehung und geistigen Entwicklung der Menschen. Der Einfluss des objektiven Geistes ist jedoch nicht absolut. Das Individuum bleibt vielmehr stets aufgefordert, den „Zeitgeist“ zu prüfen und, falls nötig, zu revidieren. Anders als Hegel betrachtet Hartmann den objektiven Geist nämlich durchaus als fehlbar und anfällig für Moden und Verirrungen. Er ist daher auch kein verborgener „Lenker“ der Geschichte, der einen unaufhaltsamen Fortschritt garantieren würde. Die geschichtsphilosophischen Theorien von Hegel und Marx kritisiert Hartmann als einseitige Anätze, die jeweils nur einen Typ kausaler Faktoren – nämlich geistige bei Hegel und ökonomische bei Marx – zulassen und damit der Vielschichtigkeit der Geschichte nicht gerecht werden.

Nicolai Hartmann: Kritische Ontologie und Schichtenlehre 137

Auch Hartmanns Lehre vom „objektivierten Geist“ ist ein Stück Kulturphilosophie. Unter objektiviertem Geist versteht er die materiellen Realisierungen geistiger Ideen wie Dichtungen, Werke bildender Kunst, aber auch Bauwerke, die vom Menschen geschaffen werden, aber danach eine die Individuen weit überragende Dauer und Geschichtlichkeit besitzen. Werke des objektivierten Geistes beeinflussen das Denken und Fühlen der Menschen häufig über viele Generationen und selbst der objektivierte Geist einer untergegangenen („toten“) Kultur kann wieder zu einer formenden Macht werden, wenn er von Menschen wieder verstanden und erlebt wird. Der objektivierte Geist hat nach Hartmann eine ausgesprochen konservative Tendenz, insofern er als kodifiziertes Recht, kanonisierte moralische Lehre oder religiöses Dogma leicht zu einer Fessel des lebendes Geistes und seiner weiteren Entwicklung werden kann. Trotz der Macht der Kultur hält Hartmann an der Freiheit des Individuums festhält und distanziert sich auch von der pessimistischen Kulturphilosophie Spenglers. Wirkung. Hartmanns Bemühungen um eine „Metaphysik der Erkenntnis“ und

eine sich darauf stützende „kritische Ontologie“ haben auf seine Zeitgenossen großen Eindruck gemacht. Scheler, Cassirer, Heidegger, Jaspers und Gehlen haben sich eingehend mit Hartmanns Konzeption auseinandergesetzt. Gewirkt hat Hartmann darüber hinaus vor allem auf Denker, die sich um ein umfassendes philosophisches Weltbild bemühen. Dazu gehören philosophierende Biologen wie Max Hartmann, Konrad Lorenz und Rupert Riedl, aber auch wissenschaftlich orientierte Philosophen wie Mario Bunge und Gerhard Vollmer. Marxistische Denker wie Georg Lukacs und Wolfgang Harich28 griffen auf Hartmann zurück, um den dialektischen Materialismus weiter zu entwickeln. Auch für Denker der Neuscholastik war Hartmanns philosophisches System zur Schärfung ihrer eigenen Position wichtig. Gleichwohl ist sein Einfluss nach seinem Tod in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts merklich zurückgegangen. Dies mag sich zum Teil daraus erklären, dass seine Philosophie in vieler Hinsicht als unzeitgemäß erscheinen kann: Seine nüchterne, wissenschaftlich orientierte Grundhaltung vermochte weder religiöse oder existentielle noch politische Orientierung zu geben und sein philosophisches System stieß auf das verbreitete, von Positivismus und Empirismus genährte Misstrauen gegen philosophische Systeme überhaupt. So ist es dazu gekommen, dass Hartmann mittlerweile ganz in den Schatten Heideggers geraten ist.29 28 Einen umfassenden Vergleich zwischen Hartmann und Lukács liefert W. Harich (2004) S. 201 ff. 29 Zur Hartmanns Wirkung vgl. M. Morgenstern (1997) S. 165 ff.

138 Phänomenologische Ontologie

Würdigung. Nicolai Hartmann hat mit seiner „kritischen Ontologie“ ein philo-

sophisches Weltbild vorgelegt, das in der Weite des Entwurfs und in der Konsequenz der Durchführung von keiner metaphysischen Position der Moderne übertroffen werden dürfte. Hartmann leistet eine klare Analyse der elementaren Seinsbegriffe und Kategorien und eine ebenso nüchterne wie umfassende Bestandsaufnahme der Schichten der realen Welt, die mit einem gemäßigten, nicht-reduktiven Materialismus vereinbar sein dürfte. Seine Schichtenlehre kommt jedenfalls ohne Zugeständnisse an das teleologische Denken aus und weist damit auf moderne systemtheoretische Ansätze voraus. Seine Stellungnahmen zu den metaphysischen Grundfragen ergeben sich meist als Folgerungen aus der Schichtenlehre. Trotz dieser positiven Merkmale hat von Hartmanns Ontologie jedoch auch einige Schwächen. Dazu zählt etwa sein eigenwilliges Festhalten an den Prinzipien der klassischen Physik, insbesondere am Determinismus, woraus sich auch seine letztlich schwankende Stellungnahme zum Problem der Willensfreiheit ergibt. Eine methodische Schwäche von Hartmanns Philosophieren kann man darin sehen, dass er die im modernen Empirismus entwickelte logische Analyse der Sprache ignoriert, was sich z. B. im Kontext seiner Modallehre negativ bemerkbar macht. Gleichwohl bleibt Hartmanns „kritische Ontologie“ einer der wichtigsten Beiträge zur Metaphysik der Moderne.

4. Martin Heidegger: Fundamentalontologie und Seinsdenken Existenzphilosoph und Metaphysiker. Martin Heidegger galt lange Zeit zusam-

men mit Karl Jaspers als Hauptvertreter der Existenzphilosophie in Deutschland. Ausschlaggebend für diese Zuordnung war, dass Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) sich eingehend mit den existentiellen Themen Sorge, Angst, Tod befasst und den Unterschied zwischen „eigentlicher“ und „uneigentlicher“ Existenz herausgestellt hatte. In der Einleitung seines Werks hatte er zwar die Seinsfrage zu seinem zentralen Anliegen erklärt, doch war diese Frage hinter seinen existenzphilosophischen Ausführungen zurückgetreten. Die ontologische Fragestellung von Sein und Zeit konnte daher leicht als eine im Grunde eher belanglose Verpackung eines existentiellen Kerns erscheinen.. Dass Heidegger selbst sich gegen diese Deutung aussprach, konnte an der verbreiteten Zuordnung seines Werks zur Existenzphilosophie zunächst nichts ändern.

Martin Heidegger: Fundamentalontologie und Seinsdenken 139

In der weiteren Entwicklung seines Denkens verschwand die existenzphilosophische Thematik schließlich völlig. Der späte Heidegger wandte sich der Seinsfrage zu und suchte nach einem ursprünglichen Seinsverständnis in der Geschichte der Metaphysik. Allerdings war dieses „Seinsdenken“ mit kulturphilosophischen und theologischen Fragen verknüpft und präsentierte sich zudem in einer höchst eigenwilligen, dunklen Sprache. Die Verständnisprobleme, die das Spätwerk aufwarf, haben vermutlich dazu beigetragen, dass es lange dauerte, bis Heidegger nicht nur als Existenzphilosoph, sondern auch als „Seinsdenker“ wahrgenommen wurde. Leben und Werk. Martin Heidegger wurde am 26. September 1889 in dem klei-

nen Ort Messkirch im Schwarzwald in einfachen, katholisch geprägten Verhältnissen geboren. Ein Stipendium ermögliche ihm den Besuch des Gymnasiums und ab 1909 das Studium der katholischen Theologie in Freiburg im Breisgau. Im Jahr 1911 brach er das Theologie-Studium ab und begann mit dem Studium der Philosophie, unter anderem bei dem Neukantianer Heinrich Rickert. Im Jahr 1913 promovierte er mit der Arbeit Die Lehre vom Urteil im Psychologismus und zwei Jahre später erfolgte seine Habilitation mit der Schrift Die Kategorienund Bedeutungslehre des Duns Scotus (1915), die bereits den Einfluss Husserls erkennen lässt. Während des Ersten Weltkriegs diente Heidegger zeitweise als Briefzensor. Nachdem Husserl 1916 Rickerts Nachfolger in Freiburg geworden war, wurde Heidegger 1918 sein Assistent. 1923 erhielt er eine Professur in Marburg. Nach der Publikation von Sein und Zeit (1927), wodurch er zum Star der jüngeren Philosophengeneration avancierte, ging er 1928 als Nachfolger Husserls nach Freiburg zurück. Große Aufmerksamkeit erregte er danach mit seiner Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) und mit seiner metaphysisch-existenziellen Kant-Interpretation in dem Buch Kant und das Problem der Metaphysik (1929).30

30 Zu Heideggers Kant-Buch vgl. W. Stegmüller (1969) S. 178 ff.

Martin Heidegger (1889–1976) Existenzphilosoph und Vertreter eines eigenwilligen ontologischen Denkens

140 Phänomenologische Ontologie

Nach dem Machtantritt Hitlers engagierte sich Heidegger als Rektor der Universität Freiburg zunächst für den Nationalsozialismus, doch trat er im April 1934 vom Rektorat zurück. Später betrachtete er sein NS-Engagement, das auch seine langjährige Freundschaft mit Karl Jaspers schwer belastete, zwar als einen Fehler, doch hat er sich zu keiner Zeit, auch nicht in seinem postum erschienenen Spiegel-Interview von 1976, klar und eindeutig vom Nationalsozialismus distanziert. Nach seinem Rückzug von der Politik vollzog Heidegger philosophisch eine Wende, die er selbst als „Kehre“ bezeichnete. Sie bestand in einem Verzicht auf existenzphilosophische Fragestellungen und in einer neuen Zuwendung zur Seinsfrage. Diese Konzentration auf die Seinsfrage findet sich erstmals in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik von 1935 (ersch. 1953). In den späteren Arbeiten Die Zeit des Weltbildes (1938) und Brief über den Humanismus (1946) befasste er sich mit der Geschichte des abendländischen „Seinsverständnisses“, wobei sein „Seinsdenken“ immer mehr Züge einer pessimistischen Kulturphilosophie annahm. Nach dem Krieg erhielt Heidegger wegen seiner NS-Vergangenheit Lehrverbot von 1946 bis 1949. Doch schon bald danach fand er durch Vorträge, Abhandlungen und Bücher wieder große Resonanz. In seinen späteren Schriften setzte er seine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Metaphysik fort. Dazu gehört vor allem sein zweibändiges Werk Nietzsche (1961), worin Nietzsche als Ende der abendländischen Metaphysik gedeutet wird. Nachdem 1975 mit der Publikation der Gesamtausgabe seiner Werke, die auch sämtliche Vorlesungen enthalten soll, begonnen worden war, starb Heidegger am 26. Mai 1976 in seinem Geburtsort Messkirch. Die fundamentalontologische Frage nach dem Sinn von Sein. In Sein und Zeit

(1927) versucht Heidegger Husserls Programm der phänomenologischen Ontologie zur radikalisieren.31 Nach seiner Ansicht ist Husserls Konzeption von formaler und materialer Ontologie, die auf die Wesenszüge eines Gegenstandes überhaupt bzw. auf die Wesenzüge der einzelnen Seinsregionen ausgerichtet ist, noch nicht grundsätzlich genug. Daher setzt er ihr seine Konzeption der „Fundamentalontologie“ entgegen, die sich mit der auch von Husserl übergangenen Grundfrage nach dem „Sinn von Sein“ befassen soll. „Alle Ontologie, mag sie über ein noch so reiches und festverklammertes Kategoriensystem verfügen, bleibt im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer eigensten Absicht, wenn sie 31

Wir halten uns in der folgenden Darstellung an Heideggers erklärte Grundintention und ­ issachten damit die Empfehlung von G. Figal (1992, S. 8), bei der Auseinandersetzung mit m Heidegger die Seinsfrage erst einmal zu vergessen.

Martin Heidegger: Fundamentalontologie und Seinsdenken 141

nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend geklärt und diese Klärung als ihre Fundamentalaufgabe begriffen hat.“32 Diese Grundfrage lässt sich nach Heidegger nicht einfach dadurch erledigen, dass man den Seinsbegriff als den allgemeinsten, selbstverständlichsten und undefinierbaren Begriff einfach hinnimmt. Das Verständnis für die Frage nach dem Sinn von Sein muss vielmehr wieder neu erarbeitet werden.33 Analytik des Daseins. Die Klärung der Seinsfrage nimmt Heidegger aber nicht

etwa dadurch in Angriff, dass er die philosophischen Beiträge zu dieser Frage aufarbeiten würde, sondern indem er sich dem Menschen zuwendet. Diese überraschende Wende zum Menschen als Ausgangspunkt der Ontologie ist nach Heidegger gerechtfertigt, weil der Mensch ein Wesen ist, das in seiner alltäglichen Lebensweise immer schon über ein Verständnis von Sein und Welt verfügt. Weil „Seinsverständnis“ selbst eine „Seinsbestimmtheit“ des Menschen ist, wird die Herausarbeitung der Seinsart des Menschen nach Heidegger zur philosophischen Aufgabe. Dabei kommt es für ihn darauf an, das menschliche Dasein in seiner alltäglichen Lebensweise sichtbar zu machen, weil die ursprüngliche Seinsart des Menschen von wissenschaftlichen und philosophischen Konzepten häufig gerade verdeckt wird. Durch seinen Anspruch, das hinter verfehlten objektivierenden Deutungen verborgene Wesen des Menschen sichtbar zu machen, gibt er Husserls Leitidee „Zurück zu den Sachen!“ eine neue Deutung. Nach Heidegger darf die Phänomenologie nicht bei den Phänomenen und ihrem anschaulich gegebenen Wesen stehen bleiben, sondern sie muss gerade die vordergründigen Phänomene zu den dahinter liegenden Gründen durchstoßen. Die Phänomene müssen ausgelegt werden, um wahrhaft verstanden zu werden. Indem Heidegger die phänomenologische und hermeneutische Methode damit miteinander verknüpft, wird die Fundamentalontologie zur „Existenzialontologie“ (oder „existenzialen Analytik des Daseins“), die die wesenhaften Strukturen des Menschen („Existenzialien“) erschließen soll. In-der-Welt-sein. Zu der ursprünglichen Seinsverfassung des Menschen gehört nach Heidegger, dass der Mensch sich lebend inmitten von Menschen und Dingen vorfindet und mit ihnen umgeht. Dieses „In-der-Welt-sein“, wie er die ursprüngliche Lebenssituation des Menschen nennt, ist eine primär praktisch ausgerichtete Grundhaltung. Ein Merkmal dieser Einstellung ist die „Sorge“, wo32 M. Heidegger: Sein und Zeit, 12. Aufl. Tübingen 1972, S. 11. 33 Zu Heideggers Fundamentalontologie vgl. W. Stegmüller (1969) S. 137ff; K. Wuchterl (1995) S. 437 ff.

142 Phänomenologische Ontologie

mit gemeint ist, dass der Mensch sich um sein Leben und Überleben kümmert. Ein weiteres Merkmal des „In-der-Welt-seins“ besteht darin, dass der Mensch die Dinge im hantierenden Umgang als „Zeug“ gebraucht und dass er die Welt als „Umwelt“ betrachtet. Die Dinge sind also ursprünglich „zuhanden“ und erst in einer sekundären, reflektierenden Einstellung „vorhanden“. Zu den Merkmalen der praktischen Grundhaltung gehört schließlich auch, dass der Mensch die Gemeinschaft mit anderen als „Mitwelt“ und den Umgang mit anderen als „Fürsorge“ erlebt. Heidegger prägt hier wie andernorts eine eigenwillige Sprache, um die von ihm gemeinten, aber häufig übersehenen Aspekte bekannter Phänomene zu kennzeichnen.34 Die ursprüngliche Erschlossenheit der Welt. Heideggers „In-der-Welt-sein“ ist

im Grunde eine lebensweltliche Fassung von Husserls „Intentionalität des Bewusstseins“. Dies wird besonders deutlich, wenn Heidegger die erkenntnistheoretische Bedeutung des „In-der-Welt-seins“ herausstellt. „In-der-Welt-sein“ heißt für ihn nämlich, dass der Mensch immer schon bei den Dingen sich aufhält, also gleichsam „draußen“ bei der Außenwelt ist. Daher betrachtet Heidegger die gesamte, an Descartes sich anschließende neuzeitliche Erkenntnistheorie mit ihrem Ausgehen vom Subjekt und seinen „innen“ gegebenen Vorstellungen als verfehlt. Die daraus sich ergebende Subjekt-Objekt-Problematik kritisiert er als eine künstliche Abstraktion, die auf einer ontologisch unangemessenen Auslegung des ursprünglich erfahrenen und erlebten „In-der-Welt-Seins“ basiert. Der grundlegende Fehler der traditionellen Erkenntnistheorie besteht nach Heidegger darin, dass Bewusstsein und erkennendes Subjekt nach der Seinsart des innerweltlich Vorhandenen gedacht werden, nämlich als eine Art „innerer Kasten“, der der Außenwelt gegenübersteht. Erst in der Konsequenz dieses verfehlten Ansatzes entsteht nach Heidegger die Fragestellung der Abbildtheorie, wie das Subjekt aus seiner inneren Sphäre in die Außenwelt hinausgreifen kann. Geht man jedoch vom „In-der-Welt-sein“ des Menschen aus, dann darf Erkennen nicht als ein Vorgang betrachtet werden, durch den ein Subjekt sich Vorstellungen beschafft. Als eine bestimmte Art des „In-der-Welt-seins“ befindet sich das Erkennen immer schon bei den Gegenständen der Welt. Daher bedarf es auch keiner Deutung der Empfindungen, um von ihnen durch einen „Sprung“ zur Außenwelt zu gelangen. Damit spielt Heidegger das Phänomen der ursprünglichen Erschlossenheit der Welt gegen die Abbildtheorie aus. Eine ein-

34 Zur „Analytik des Daseins“ vgl. W. Stegmüller (1969) S. 160ff; K. Wuchterl (1995) S. 440 ff.

Martin Heidegger: Fundamentalontologie und Seinsdenken 143

deutige Stellungnahme zum Problem von Idealismus und Realismus ist damit aber noch nicht gegeben. Existenzphilosophische Lehre vom Menschen. Zum „In-der-Welt-sein“ des

Menschen gehören nach Heidegger verschiedene weitere Merkmale. Zum Beispiel gibt es auch eine ursprüngliche Erschlossenheit der Welt durch emotionale Phänomene wie Stimmungen. Höhepunkt von Heideggers „Analytik des Daseins“ bilden freilich die existenzphilosophischen Passagen, die den Unterschied zwischen eigentlicher und uneigentlicher Existenz erläutern. Gewöhnlich lebt der Mensch nach vorgegebenen Sitten und Konventionen und hält sich ganz an das, was „man“ tut. Dieses „Verfallensein“ an das „Man“ ist nach Heidegger eine „uneigentliche“ Lebensweise, insofern der Mensch die grundlegenden Entscheidungen über sein Leben an andere abtritt und damit seine eigensten Möglichkeiten verschenkt. Mit Hilfe grundlegender Erfahrungen, wie dem Verstehen der Endlichkeit und Vergänglichkeit, kann der Mensch sich jedoch aus dieser uneigentlichen Existenz befreien. Vor allem die Todesangst vermag den Menschen ganz zu sich selbst zu bringen und ihn wachzurütteln, sodass er begreift, dass die Entscheidungen über sein Leben seine ureigenste Sache sind. Eigentliche Existenz liegt somit nach Heidegger vor, wenn der Mensch sein Leben in die eigenen Hände nimmt und es nach seinen eigenen Zielen und Plänen gestaltet. Wichtig ist dabei, dass das, was aus dem Menschen wird, nicht von Natur aus festgelegt ist, sondern Sache freier Selbstverwirklichung ist. Das „Wesen“ des Menschen liegt daher, wie Heidegger zugespitzt formuliert, in seiner „Existenz“. Diese existenzphilosophischen Thesen, die ein Menschenbild unter den Gesichtspunkten von Freiheit, Selbstverwirklichung und Endlichkeit entwerfen, bilden Zentrum und Höhepunkt von Sein und Zeit. Eine unmittelbare Verknüpfung dieser existenzphilosophischen Anthropologie mit der Frage nach dem Sinn von Sein ist keineswegs offensichtlich. Auch das, was Heidegger schließlich als Ertrag der „Analytik des Daseins“ für die Seinsfrage anzubieten hat, kann den existenzphilosophischen Gesamteindruck kaum in Frage zu stellen. Als Lösung der Seinsfrage deutet er zuletzt kaum mehr als die Richtung an, wenn er fragt: „Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“35 Heidegger meint damit offenbar, dass der „Sinn von Sein“ im Horizont der Zeitlichkeit zu verstehen ist, doch verschiebt er eine genauere Antwort auf den ursprünglich geplanten, aber nie veröffentlichten zweiten Teil von Sein und Zeit. 35

M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 437.

144 Phänomenologische Ontologie

Ob seine Lösungsidee noch etwas anderes besagen könnte als die ziemlich banale Feststellung, dass das Sein (oder alles Seiende) zeitlich gedacht werden muss, bleibt jedoch unklar. Die Seinsfrage und die Angst vor dem Nichts. In den ersten Jahren nach dem

Erscheinen von Sein und Zeit verknüpfte Heidegger die Seinsfrage weiterhin eng mit existenzphilosophischen Themen. So widmet er etwa in der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929) der Langeweile als menschlicher Grundstimmung eine umfangreiche Analyse und beschäftigt sich dabei auch mit dem Wesen von Tier und Mensch. Eine existenzphilosophische Färbung hat auch seine Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929), in der er sich mit der Grundfrage der Metaphysik befasst: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts? Ausgehend von der Feststellung, dass sich die Wissenschaften mit dem Seienden befassen und mit sonst „nichts“, stellt er dann die umstrittene Frage: „Wie steht es um dieses Nichts?“36 Anschließend versucht er zu zeigen, dass die Frage nach dem Nichts den Wissenschaften und selbst der Logik vorangeht. Doch danach bringt er wieder die existenzphilosophische Fragestellung ins Spiel. Er bezeichnet die Langeweile zunächst als eine Stimmung, die das Ganze des Seienden offenbart, und beschreibt anschließend die Angst als die Stimmung, die den Menschen das Nichts erleben lässt. In der Angst verschwindet die Welt und lässt das Nichts in seiner Bedrohlichkeit zurück. „Die Angst offenbart das Nichts.“37 Offensichtlich meint Heidegger damit, dass. sich in der Todesangst dem Menschen die Möglichkeit seines Nichtseins erschließt. Und da der Mensch im Bewusstsein der Unausweichlichkeit seines Nichtseins lebt, sagt Heidegger weiter: „Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts.“38 Die Kehre und die Suche nach dem ursprünglichen Seinsverständnis. Nach der Zeit des Rektorats (1933–34) begann eine neue Phase in Heideggers Denken. Die Seinsfrage rückte nun ganz ins Zentrum seines Denkens, doch löste er sie aus der Verknüpfung mit existenzphilosophischen Themen. Aufschluss über die Seinsfrage erhoffte er sich jetzt nicht mehr von einer Analyse des menschlichen Daseins. Stattdessen wandte er sich verstärkt der Geschichte der Metaphysik zu, weil er glaubte, dass die frühen Vorsokratiker noch über ein ursprüngliches Seinsverständnis verfügten, das später verloren gegangen sei. Die abendlän36 M. Heidegger: Was ist Metaphysik? In: Wegmarken, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1978, S. 105. 37 M. Heidegger: Was ist Metaphysik?, S. 111. 38 M. Heidegger: Was ist Metaphysik?, S. 114.

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dische Metaphysik seit Platon ist daher für den späten Heidegger eine durch „Seinsvergessenheit“ gekennzeichnete Fehlentwicklung.39 Das für Heideggers Spätwerk charakteristische „Seinsdenken“ findet sich erstmals in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik (1935). Heidegger geht hier wieder von der Grundfrage der Metaphysik „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ aus, doch expliziert er die Bedeutung dieser Frage nun, ohne existenzphilosophische Themen anzusprechen. Sie gilt ihm als die tiefste und ursprünglichste Frage, doch zugleich als eine Frage, die unpopulär ist und dem alltäglichen Denken völlig fern liegt. Im Laufe seiner Explikation dieser Frage stellt er die Notwendigkeit heraus, dass ihr eine andere Frage noch vorangehen muss, nämlich die Vor-Frage, die auf die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks „Sein“ zielt. In den anschließenden grammatischen und etymologischen Untersuchungen, die z. B. den griechischen Ausdruck „physis“ als „das von sich aus Aufgehende“ übersetzen, kommt er dann aber zu keinem befriedigenden Ergebnis. Vielmehr stellt er fest, dass der Ausdruck „Sein“ ohne klare, angebbare Bedeutung ist. Gleichwohl sperrt er sich weiterhin gegen die traditionelle Auffassung von Sein als allgemeinstem und leerstem Begriff. Stattdessen betont er, dass Sein etwas ganz Einzigartiges und Fragwürdiges ist. Schließlich geht Heidegger noch auf die traditionellen Gegensatzpaare „Sein und Werden“, „Sein und Schein“, „Sein und Denken“ und „Sein und Sollen“ ein und weist jeweils auf das in ihnen sich zeigende Seinsverständnis hin. Als Gegensatz zu Werden wird Sein als Bleiben gedacht, entsprechend ist der Gegensatz von Schein das Immergleiche, der Gegensatz von Denken das Vorhandene und der Gegensatz von Sollen ist das Vorliegende. In keinem dieser Gegensatzpaare wird aber, so Heideggers Fazit, das Sein in seiner ganzen Weite gedacht. Die Suche nach einem ursprünglichen Seinsverständnis bleibt also auch hier erfolglos. Seinsvergessenheit und das Schicksal des Abendlandes. In der Vorlesung Ein-

führung in die Metaphysik verknüpft Heidegger die Seinsfrage auch mit kulturphilosophischen Überlegungen. Vor dem Hintergrund seiner These der abendländischen Seinsvergessenheit stellt er zunächst die rhetorische, später eindeutig bejahte Frage, ob die Seinsvergessenheit die entscheidende Ursache des Verfalls von Völkern sei. Seine kulturphilosophische Diagnose zur Gegenwart lautet: „Dieses Europa, in heilloser Verblendung immer auf dem Sprunge, sich selbst zu erdolchen, liegt heute in der großen Zange zwischen Rußland auf der einen und 39 Zur „Kehre“ vgl. K. Wuchterl (1995) S. 460 ff.

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Amerika auf der anderen Seite. Rußland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen.“40 Heidegger konstatiert einen allgemeinen geistigen Verfall und eine „Weltverdüsterung“ der Welt, wozu er vor allem das Verschwinden des Gottesglaubens, die zunehmende Zerstörung der Erde, die Vermassung des Menschen und den Hass auf geistige Freiheit und Kreativität rechnet. In dieser Diagnose zeigen sich Spuren von Nietzsches Nihilismus-Diagnose, Spenglers und Klages Kulturpessimismus, aber auch der NSIdeologie. Das Schicksal Europas hängt nach Heidegger jedenfalls davon ab, ob es gelingt, einen neuen Bezug zum Sein, also ein ursprüngliches Seinsverständnis, zu finden. Schon hier beansprucht Heidegger mit seinem Seinsdenken nichts weniger als den Weg zur Rettung des Abendlandes zu weisen. Der kulturphilosophische Aspekt tritt in Heideggers späteren Arbeiten noch stärker hervor. In dem Vortrag Die Zeit des Weltbildes (1938) deutet er die neuzeitliche Wissenschaft und Technik als Ausdruck der Metaphysik der Neuzeit und diese wiederum als eine Konzeption, die ganz auf die Herrschaft über das Seiende ausgerichtet ist. Die Metaphysik der Neuzeit ist daher für ihn eine neue Phase vertiefter Seinsvergessenheit. Indem der Mensch der Neuzeit sich als autonomes Subjekt versteht und sich von alten Bindungen befreit, betrachtet er die Welt als verfügbares Objekt. „Man kann das Wesen der Neuzeit darin sehen, daß der Mensch sich von den mittelalterlichen Bindungen befreit, indem er sich zu sich selbst befreit. Aber diese richtige Kennzeichnung bleibt doch im Vordergrund. […] Nicht daß der Mensch sich von den bisherigen Bindungen zu sich selbst befreit, ist das Entscheidende, sondern daß das Wesen des Menschen sich überhaupt sich wandelt, indem der Mensch zum Subjekt wird. […] Der Mensch wird zur Bezugsmitte des Seienden als solchen.“41 Diese Etablierung des Subjekts als Zentrum der Welt führt aber zur Herrschaft des technisch-wissenschaftlichen Denkens und zur „Entfesselung“ der Technik und damit zur Entzauberung und Entgöttlichung der Welt. Später hat Heidegger die neuzeitliche Metaphysik im Anschluss an Nietzsche als „Wille zur Macht“ charakterisiert. Das seinsgeschichtliche Denken und Gott. Neben der Zunahme der kulturphilo-

sophischen Komponente besteht ein weiteres Kennzeichen von Heideggers Arbeiten nach der „Kehre“ darin, dass seine Sprache immer eigenwilliger und eso-

40 M. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, 5. Aufl. Tübingen 1987, S. 28. 41 M. Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. In: Holzwege, 6. Aufl. Frankfurt am Main 1980, S. 85 f.

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terischer wird, ja einen geradezu mystagogischen Ton anschlägt. Dies gilt bereits für das in den Jahren 1936–38 entstandene, aber erst postum veröffentlichte Werk Beiträge zur Philosophie, das den dunklen Untertitel „Vom Ereignis“ trägt. Auch der viel beachtete Brief über den Humanismus (1946), auf den wir uns hier beschränken, ist in einer sehr schwerverständlichen Sprache verfasst. Noch mehr als bei früheren Schriften ist man dabei darauf angewiesen, aus den nebulösen Heideggerschen Ausführungen einen verständlichen Kern herauszupräparieren. Das Risiko einer Fehldeutung wird damit zwar größer, doch kann man sich nicht mit einer bloßen Paraphrasierung begnügen, die im Falle Heideggers nur allzu leicht zur Nachdichtung würde.42 Heideggers Thema ist hier das Wesen des Menschen. Da zum Menschen Denken und Handeln gehören, setzt er bei diesen Begriffen an und formuliert gleich zu Beginn die These: „Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen.“ Daran anschließend folgt die Bemerkung, „dass im Denken das Sein zur Sprache kommt“, worauf sich der bekannte Satz anschließt: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“43 Damit ist der Leser schon nach wenigen Zeilen dazu gezwungen, sich einen eigenen Reim auf diese Aussagen zu machen. Was Heidegger hier vermutlich sagen will, dürfte kaum mehr als die nicht besonders originelle Feststellung sein, dass der Mensch mit Hilfe der Sprache die Welt (das „Sein“) deutet und auslegt. Daher wendet sich er auch gleich gegen eine „technische“ Deutung von Denken und Sprache und kritisiert an dieser Auffassung den fehlenden „Bezug des Seins zum Menschen“ sowie die fehlende Einsicht, dass der Mensch „in der Lichtung des Seins“ oder „in der Wahrheit des Seins“ steht. In dieser etwas poetischen Ausdrucksweise steckt offenbar die These, dass der Mensch mit Hilfe der Sprache die Welt denkt und vorstellt. Das Stehen in der „Lichtung des Seins“ bezeichnet Heidegger jedenfalls auch als „Ek-sistenz“ und sieht darin das Wesen des Menschen. Bis zu diesem Punkt ist Heideggers Auffassung zwar verschroben formuliert, aber sie bewegt sich offenbar noch im Rahmen der traditionellen Auffassung vom Menschen als Geist- oder Vernunftwesen. Eine eigentümliche Wendung setzt freilich in Heideggers Überlegungen ein, wenn er sagt, dass das Sein es selbst ist, das sich dem Menschen in der Lichtung offenbart. Anscheinend denkt er Sein damit als eine Art handelndes Subjekt. Dass dies keineswegs abwegig ist, zeigen weitere Bemerkungen, etwa die Aussage, dass der Mensch 42 Zur Entstehung und dem historischen Hintergrund von Heideggers „Brief über den Humanismus“ vgl. R. Safranski (1994) S. 410 ff. 43 M. Heidegger: Brief über den Humanismus. In: Wegmarken, S. 311.

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keine Macht darüber hat, ob und wie das Sein ihm erscheint, nämlich ob als Gott oder Natur. „Ob es und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins.“44 Jedes Seinsverständnis ist also eine Art Geschenk oder Gabe des Seins an den Menschen. Heidegger nennt diese neue Art der Auseinandersetzung mit der Seinsfrage nun das „seinsgeschichtliche Denken“ und sieht darin ein „ursprüngliches“ Denken, durch das die Metaphysik der Neuzeit überwinden soll, indem es eine neue „Nähe zum Sein“ sucht. Dazu gehört, dass der Mensch seine falsche technische Einstellung zu Denken und Sprache überwindet und in einer bescheidenen, gleichsam demütigen Haltung, als „Hirte des Seins“, die „Ankunft des Seins“ erwartet, also darauf wartet, dass das Sein sich dem Menschen noch einmal offenbart. Nun liegt es nahe in solchen Aussagen eine verkappte philosophische Theologie zu vermuten, also das Sein mit Gott zu identifizieren. Das Seinsdenken ließe sich damit als Ausweg aus der Verdüsterung der glaubenslosen Welt verstehen, insofern es den Menschen für eine neue Erfahrung des Seins, und das hieße dann für einen neuen Glauben oder eine neue Gotteserfahrung, offen hielte. Auch Heideggers Selbstverständnis als Denker in einer „seinsvergessenen“, glaubenslosen Zeit, der die Erinnerung an das Sein wach hält und die Ankunft eines neuen Seins vorbereitet, würde dadurch verständlicher. Einen religiösen Hintergrund seines Denkens hat Heidegger schließlich in dem SpiegelInterview angedeutet, als er sagte: „Nur ein Gott kann uns retten.“ Gleichwohl hat er eine solche Identifizierung von Sein und Gott entschieden abgelehnt. Anscheinend blieb seine Haltung in den Fragen von Theologie und Religion zwiespältig. Fragen wir abschließend noch einmal nach dem Ertrag des seinsgeschichtlichen Denkens für die Seinsfrage. Sieht man von den kulturphilosophischen und krypto-theologischen Dimensionen des Heideggerschen Seinsdenkens ab, dann fällt das Resultat freilich enttäuschend aus. Heidegger sagt selbst: „Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst.“45 Auch im Brief über den Humanismus gibt Heidegger damit zur Klärung der Seinsfrage nur die Auskunft, dass Sein der umfassendste Begriff ist und zugleich das Allernächste ist. Mehr als die sonst immer als unzureichend abgelehnte traditionelle Auffassung von Sein scheint er damit letztlich auch nicht bieten zu können. 44 M. Heidegger: Brief über den Humanismus, S. 328. 45 M. Heidegger: Brief über den Humanismus, S. 328.

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Wirkung. Wenngleich Heidegger wegen der Dunkelheit seiner Schriften häufig als der umstrittenste Denker seit Hegel gilt, gehört er doch zusammen mit Wittgenstein zu den einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Sein radikales Fragen nach den verborgenen Gründen hat schon früh seine Schüler tief beeindruckt. Heideggers frühes Hauptwerk Sein und Zeit hat wie kein anderes Werk die Existenzphilosophie, aber auch andere zeitgenössische Strömungen beeinflusst.46 Sein späteres „Seinsdenken“ hat durch die damit verknüpfte Kultur-, Wissenschafts-, Technik- und Metaphysikkritik verschiedene philosophische Strömungen in der zweiten Jahrhunderthälfte, wie z. B. die Frankfurter Schule und die Postmoderne, nachhaltig beeinflusst. Heidegger hat es auch verstanden, viele begabte Schüler, die später selbst Philosophieprofessoren wurden, um sich zu scharen und damit die akademische Philosophie in Deutschland maßgeblich zu bestimmen. Auch namhafte Denker, die Heidegger eher kritisch gegenüberstanden, wie etwa Theodor W. Adorno, Karl Löwith oder Ernst Tugendhat, haben sich intensiv mit Heideggers Philosophie auseinandergesetzt. Der kaum zu überschätzende Einfluss Heideggers in Deutschland und Frankreich zeigt sich nicht zuletzt darin, dass bedeutende philosophische Positionen und Strömungen wie die philosophische Hermeneutik Gadamers, der Existenzialismus Sartres und die Postmoderne ohne Heidegger undenkbar wären. Würdigung. Heideggers Sein und Zeit ist ein eigenwilliger, aber wichtiger Bei-

trag zur philosophischen Anthropologie, der freilich einseitig die dunklen, „tragischen“ Seiten des menschlichen Daseins hervorhebt. Was die Frage nach dem „Sinn von Sein“ angeht, die der Anlass für seine existenzphilosophischen Überlegungen war, so besteht ein auffälliger Kontrast zwischen der vermeintlichen Bedeutung dieser Fragestellung und dem tatsächlichen Resultat seiner Untersuchungen. Zunächst wird diese Frage eindrucksvoll als die entscheidende ontologische Grundfrage eingeführt, nicht ohne dabei Denker wie Husserl und N. Hartmann wegen der Vernachlässigung dieser Frage als oberflächlich zu kritisieren. Doch der Ertrag von Heideggers Untersuchungen ist mehr als dürftig. Derselbe Kontrast zwischen Ankündigung und dünnem Ergebnis wiederholt sich in abgewandelter Form auch in Heideggers Spätwerk, in dem die Suche nach dem ursprünglichen Seinsverständnis geradezu zur Schicksalsfrage des Abendlandes hochstilisiert wird. Die Suche nach dem „ursprünglichen Seinsverständnis“ bleibt auch hier weitgehend ergebnislos, sie kommt jedenfalls über 46 Zum Verhältnis Heideggers zu den Zeitgenossen vgl. K. Wuchterl (1995) S. 450 ff.

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die alte Einsicht vom Sein als dem allgemeinsten Begriff kaum hinaus. In ontologischer Hinsicht scheint daher auch die Bedeutung von Heideggers „Seinsdenken“ überschätzt zu werden. Was dem Spätwerk Heideggers jedoch trotz seiner Dunkelheit eine gewisse Bedeutung geben könnte, sind die mit ihm verknüpften weiteren Fragstellungen. Dazu gehören seine eigenwilligen Deutungen klassischer metaphysischer Positionen ebenso wie die Herausstellung neuer Aspekte alter philosophischer Fragen. Auch seine kulturphilosophischen Gedanken, mitsamt ihrer Wissenschafts- und Technikkritik, sind interessante philosophische Beiträge, auch wenn sie zu einem nicht geringen Teil schon bei Nietzsche, Spengler und Klages vorgebildet sind. Ohne Vorbild ist anscheinend seine Umdeutung des philosophischen Fragens nach dem Sein in die religiöse Grundhaltung der Erwartung oder Hoffnung auf eine neue Offenbarung des Seins (oder Gottes).

5. Jean-Paul Sartre: Ontologie der Freiheit Existentialist und phänomenologischer Ontologe. Als existentialistischer Philo-

soph und politisch engagierter Schriftsteller gleichermaßen anerkannt, steht Sartre nahezu einzigartig in der geistigen Kultur des 20. Jahrhunderts. Der von ihm begründete Existentialismus basiert auf einem Menschenbild, das von einer sinnlosen, absurden Welt ausgeht und eine radikale Sicht menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit enthält. Anders als bei Heidegger und Jaspers gibt es bei Sartre keinerlei religiöse Tendenzen oder Hintergründe. Grundlage von Sartres Existentialismus ist eine phänomenologische Ontologie, die methodisch an Husserl, Heidegger und Hegel anknüpft, aber inhaltlich eine Unterscheidung zwischen Mensch und Natur macht, die der Tradition Descartes’ und Bergsons verpflichtet ist.

Leben und Werk. Jean-Paul Sartre wurde am 21. Juni 1905 in Paris geboren. Nach dem Abitur studierte er von 1924 bis 1929 an der École normale supérieure in Paris, wo er neben Maurice Merleau-Ponty auch Simone de Beauvoir kennen lernte, mit der er eine lebenslange freie Beziehung hatte. Von 1931 bis 1944 war er mit mehreren Unterbrechungen Philosophielehrer an Gymnasien, ab 1937 in Paris. In den Jahren 1933 bis 1934 setzte er als Stipendiat sein Studium in Berlin fort und lernte in dieser Zeit die Werke von Husserl, Scheler, Heidegger und Jaspers kennen. Als Frucht seiner Auseinandersetzung mit der Phänomenologie veröffentlichte er sein erstes Buch La Transcendance de l’ego (1936; dt. Die Transzendenz des Ego, 1964). Im September 1939 wurde er zum Militärdienst einberu-

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fen und geriet im Juni 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nachdem er im April 1941 entlassen worden war, setzte er seine Lehrtätigkeit in Paris fort und schloss sich der Résistance an. Noch während des Krieges erschien sein Hauptwerk L’Être et le néant (1943; dt. Das Sein und das Nichts, 1962). Bekannt wurde er jedoch zunächst als Dramatiker. Im Jahr 1945 gründete Sartre die Zeitschrift „Les Temps Moderne“ und lebte fortan als freier Schriftsteller. Mit seiner populär verfassten Schrift L’existentialisme est un humanisme (1946; dt. Ist der Existentialismus ein Humanismus?, 1947) setzte er sich an die Spitze dieser neuen philosophischen Bewegung und verschaffte ihr mit Romanen und Dramen eine breite Wirkung. Wegen seiner atheistischen Grundhaltung wurden seine Werke 1948 auf den katholischen Index gesetzt. In den folgenden Jahren engagierte sich Sartre für den Kommunismus und versuchte in seinem zweiten Hauptwerk Critique de la raison dialectique (1960; dt. Kritik der dialektischen Vernunft, 1967) Existentialismus und Marxismus miteinander zu verbinden. Im Jahr 1964 veröffentlichte er seine literarische Autobiographie Les mots (dt. Die Wörter, 1965), doch lehnte er den Nobelpreis für Literatur ab. Kurz vor seiner Erblindung publizierte er noch eine umfangreiche Studie zu Flaubert unter dem Titel L’idiot de la famille (1971–72; dt. Der Idiot der Familie, 5 Bde. 1977–80). Sartre starb am 15. April 1980 in Paris und wurde unter großer öffentlicher Anteilnahme beigesetzt. An-sich-Sein. Sartres Werk Das Sein und das Nichts (1943) trägt den Untertitel „Versuch einer phänomenologischen Ontologie“. Ähnlich wie bei Heidegger liegt der Schwerpunkt des Werks zwar auf anthropologischen Fragen, doch stehen ontologische Überlegungen am Anfang. Im Anschluss an Husserl und Heidegger fragt Sartre nach dem Begriff des Phänomens und stellt zunächst klar, dass von einem Phänomen nur dann gesprochen werden kann, wenn es etwas vom Bewusstsein unabhängiges Wirkliches gibt, das da erscheint. Damit jedoch etwas Reales zum Phänomen werden kann, muss es ein Bewusstsein geben, dem es erscheint. Dass Sartre damit eine realistische Erkenntnistheorie vertritt, wird deutlich, wenn er Kants Gegenüberstellung von einem unerkennbaren Wesen (Ding an sich) und einer erkennbaren Erscheinung entschieden zurückweist.

Jean-Paul Sartre (1905–1908) Existentialistischer Philosoph und Vertreter einer Ontologie der Freiheit

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Phänomene sind also keine bloßen Erscheinungen, sondern sie enthüllen verschiedene Aspekte (oder Seiten) der Wirklichkeit. Phänomene zeigen also, wie die Welt an sich ist.47 In diesem realistischen Phänomenbegriff steckt eine Kritik an Husserls transzendentaler Phänomenologie. Sartre erkennt zwar an, dass Husserl mit der Intentionalität ein zentrales Merkmal des Bewusstseins herausgestellt hat, aber er kritisiert, dass Husserl den Begriff der Intentionalität zu Unrecht idealistisch interpretiert hat, nämlich als Bezogenheit eines Subjekts auf ein Objekt innerhalb eines Bewusstseins. Nach Sartre kommt es vielmehr darauf an anzuerkennen, dass Bewusstsein ursprünglich auf Gegenstände jenseits des Bewusstseins, also auf Objekte der an sich bestehenden Wirklichkeit, bezogen ist. Ähnlich wie N. Hartmann betrachtet Sartre damit den Realitätsbezug selbst als ein Merkmal des Bewusstseins. Die Wirklichkeit, worauf Bewusstsein stets bezogen ist, zeichnet sich nach Sartre durch einige grundlegende Bestimmungen aus, die von den Merkmalen des Bewusstseins grundverschieden sind. Während Bewusstsein intentional auf die Wirklichkeit bezogen ist, ist diese Wirklichkeit selbst ein Sein-an-sich, das gleichsam in sich ruht und keinerlei Beziehung zu etwas anderem hat. Diese an sich bestehende Realität hat neben ihren wirklichen Eigenschaften keine verborgenen Möglichkeiten, die in einem latenten Zustand gleichsam auf ihre Realisierung warteten. Im An-sich-Sein gibt es also nur aktuelle, keine potentielle Wirklichkeit. Ein wichtiges Merkmal der an sich bestehenden Wirklichkeit sieht Sartre schließlich darin, dass sich ihr Sein in keiner Weise als notwendig begreifen lässt. Damit lehnt er vor allem die theistische Auffassung von der Welt als einer Schöpfung Gottes ab. Das An-sich-Sein ist vielmehr grundlos und kontingent. Die existentielle Grunderfahrung von der Welt als absurdem, rein faktischem Sein, das sich gleichsam schamlos in seiner Nichtigkeit präsentiert und aufdrängt, hat Sartre in seinem Roman Der Ekel (1938) beschrieben. Das Für-sich-Sein und das „Nichten“. Dem An-sich-Sein der materiellen Welt

steht das Für-sich-Sein des Bewusstseins als spezifisch menschliches Sein gegenüber. Mit diesem von Hegel entlehnten Ausdruck deutet Sartre an, dass das menschliche Bewusstsein sich nicht nur intentional auf die Welt bezieht, sondern stets auch Bewusstsein von sich selbst ist, also einen Selbstbezug hat. Selbstbewusstsein hat bei Sartre eine komplexe Struktur. Wir beschränken uns auf die Aspekte, die für seine Freiheitstheorie von Bedeutung sind. 47 Zu Sartres Konzeption von phänomenologischer Ontologie vgl. A. C. Danto (1987) S. 47 ff.

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Ausgangspunkt von Sartres Überlegungen ist die Grundeinsicht, dass durch das reflexive Bewusstsein ein neuer Bezug zur Wirklichkeit eröffnet wird, der auch über den durch die bloße Wahrnehmung charakterisierten Weltbezug hinausgeht. Das entscheidend Neue, das durch das menschliche Bewusstsein in die Welt kommt, ist die Dimension der Möglichkeit und „das Nichts“ („le néant“). Was Sartre damit meint, lässt sich an folgenden Beispielen klar machen: Indem der denkende Mensch sich Ziele setzt oder an Vergangenes erinnert, geht er in Gedanken über die gegebene Wirklichkeit hinaus und befindet sich damit im Reich der (gedanklichen) Möglichkeiten. Auch die einfache Erfahrung, wenn eine Erwartung enttäuscht wird und sich in „nichts“ auflöst, bedeutet eine „Nichtung“ des Seins. Es ist offenbar Sartres Vorliebe für dramatische Zuspitzungen und paradoxe Ausdrücke zuzuschreiben, wenn er in verschiedenen Abwandlungen davon spricht, dass der Mensch das Sein „nichtet“. Gemeint ist damit im Grunde aber nur das gedankliche Negieren von Wirklichem und das Setzen von Möglichem. So gesehen hat „Nichten“ eine logisch-sprachliche und keine ontologische Funktion.48 Die unverlierbare Freiheit. Freilich ist Sartre der Ansicht, dass die Fähigkeit des

„Nichtens“ ein fundamentales Kennzeichen des Für-sich-Seins ist, das erhebliche philosophische Konsequenzen hat. Der „nichtende“ Mensch hat sein Ansich-Sein immer schon ins Reich der Möglichkeiten transzendiert und lebt daher stets in Bezug auf das Mögliche. Der Mensch entwirft sich insbesondere Pläne und Vorstellungen von seinem zukünftigen Leben, die er im Handeln zu realisieren versucht. Er ist sich damit selbst „vorweg“, wie Sartre mit Heidegger sagt. Das gedankliche Überschreiten der Wirklichkeit ins Mögliche verschafft dem Menschen eine Unabhängigkeit von der Wirklichkeit, ja sie ist der Kern der menschlichen Freiheit. Der Mensch ist in seinen Entscheidungen frei, weil er das Sein „nichten“ kann. „Nichten“ und Freiheit betrachtet Sartre damit als zwei Seiten derselben Sache. Freiheit ist das fundamentale Merkmal des Menschen. Der Mensch ist ursprünglich frei und er hat auch gar nicht die Möglichkeit, auf seine Freiheit zu verzichten. Er ist in allem Handeln frei und wählt in jedem Augenblick sein Schicksal. Es gibt nach Sartre auch keinen Zwang von Situationen, die die Freiheit aufheben könnten. Nicht die Umstände, sondern der Mensch bestimmt, was zu Motiven seines Handelns wird. Ob und wann z. B. eine soziale Situation als unerträglich empfunden wird und zum Anlass eines Aufstandes oder einer 48 Zu Sartres Auffassung vom „Nichts“ vgl. A. C. Danto (1987) S. 69 ff.

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Revolution wird, hängt nach Sartre davon ab, ob die Menschen eine Vorstellung von einer gerechten Gesellschaft haben. „In keinem Falle und auf keine Weise kann die Vergangenheit von sich aus einen Akt herbeiführen, das heißt die Setzung eines Zieles […] Sobald man nämlich dem Bewußtsein diese verneinende Kraft sich selbst und der Welt gegenüber zuschreibt, sobald diese Nichtung einen integrierenden Bestandteil der Setzung eines Zieles bildet, muß man anerkennen, daß die unerlässliche und grundlegende Bedingung jeder Tätigkeit die Freiheit des handelnden Wesens ist.“49 Selbst die anscheinend aufgezwungene Teilnahme an einem Krieg bleibt für Sartre eine freie Wahl, weil man stets die Möglichkeit hat sich zu entziehen, und sei es durch Selbstmord. Der Mensch ist aber auch gegenüber seinen sinnlichen Trieben und Bedürfnissen frei, weil er sie in freier Wahl erst billigen muss, bevor sie sein Handeln bestimmen. In einer bekannten dramatischen Wendung sagt Sartre daher: „Ich bin dazu verurteilt, für immer jenseits meines Wesens zu existieren, jenseits der Antriebe und Anlässe meines Tuns: ich bin dazu verurteilt, frei zu sein.“50 Die Urwahl des Selbstbildes. Sartre ist sich durchaus darüber im Klaren, dass das

Leben eines Menschen, trotz der zugestandenen ursprünglichen Freiheit, eine gewisse Einheitlichkeit zeigt, die gewöhnlich auf seinen Charakter zurückgeführt wird. Ein zentrales Stück seiner Freiheitstheorie besteht nun gerade darin zu zeigen, dass es so etwas wie ein durch Natur oder Gesellschaft festgelegtes „Wesen“ (oder einen Charakter) des Menschen nicht gibt. Auch die Begründung dieser These liefert Sartre durch Bezugnahme auf das „Nichten“. Das gedankliche Transzendieren der Wirklichkeit beinhaltet nach seiner Ansicht nämlich immer auch, dass der Mensch sich ein Bild von sich selbst, seinen Fähigkeiten und seinen letzten Zielen entworfen hat. Dieser Selbstentwurf leitet das Handeln und bestimmt daher, was aus einem Menschen wird. Ob jemand in einer bestimmten Situation, z. B. angesichts einer drohenden Folter, wie Sartre dies in seinem Drama Tote ohne Begräbnis (1946) durchspielt, sich als feige oder tapfer erweist, ist durch sein Selbstbild vorgegeben. Nun ist aber auch dieses Selbstbild des Menschen nach Sartre in keiner Weise durch die sozialen Umstände oder die biologische Natur festgelegt, sondern es ist selbst eine ursprünglich freie Wahl. Sartre bezeichnet sie auch als „Urwahl“, um zu betonen, dass sie den einzelnen freien Handlungen vorangeht. Die menschliche Person ist daher kein substantielles Ich mit festliegenden Eigenschaften, die sich im Handeln zeigen, sondern der Mensch ist das, was er aus sich macht. Der Mensch ist so, 49 J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 555 f. 50 J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 560.

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wie er sich ursprünglich wählt und im Handeln realisiert. Die „Existenz“ des Menschen geht daher, wie Sartre in Anlehnung an Heidegger sagt, seinem „Wesen“ voran.51 Der Mensch ist also das freie Geschöpf seiner selbst, weil auch der leitende Grundentwurf des Menschen durch eine freie Wahl zustande kommt. Indem Sartre damit auch Charakterzüge wie Feigheit und Tapferkeit als Resultate freier Wahl begreift, vertritt er eine radikale Auffassung von Freiheit und Verantwortlichkeit, die eine Ähnlichkeit mit Schopenhauers mystischer Idee einer freien Wahl des Charakters hat.52 Sartres Theorie der Freiheit hat einen betont atheistischen Akzent. Nach seiner Ansicht kann der Mensch nämlich nur dann ursprünglich frei sein, wenn er kein Geschöpf Gottes ist. Wäre der Mensch von Gott geschaffen, dann hätte er auch ein dem göttlichen Plan entsprechendes feststehendes Wesen. Wie N. Hartmann vertritt Sartre damit einen „postulatorischen Atheismus“. Wirkung. Als Hauptvertreter des Existentialismus war Sartre die zentrale intel-

lektuelle Figur im Frankreich der Nachkriegszeit. Mit seinen philosophischen Schriften, vor allem aber mit seinen Essays, Romanen und Dramen, die seine philosophische Position eindrucksvoll illustrieren, hat er eine ganze Generation tief beeinflusst, allen voran Albert Camus und Simone de Beauvoir. Sartres Existentialismus war Gegenstand lebhafter Debatten, an denen sich Phänomenologen wie Merleau-Ponty, religiöse Denker wie Gabriel Marcel und Marxisten wie Georg Lukács beteiligten. Mitte der 50er Jahre vollzog Sartre wegen politischer Differenzen einen Bruch mit seinen einstigen Weggefährten Camus und Merleau-Ponty, woraufhin er als intellektuelle Leitfigur zunehmend umstritten wurde. Sartres Philosophie hat zwar in erster Linie mit ihren existentialistischen Lehren gewirkt, doch war auch seine ontologische Freiheitstheorie recht einflussreich. Sie hat insbesondere auch die Diskussion um das Problem der Willensfreiheit in der analytischen Philosophie befruchtet. Sartres Dualismus von An-sich-Sein und Für-sich-Sein wurde dagegen durchweg kritisiert und hat kaum Nachfolge gefunden. Insgesamt ging Sartres dominierender philosophischer Einfluss Ende der 60er Jahre zurück, als im Strukturalismus eine neue philosophische Strömung entstand, deren Vertreter Claude Levi-Strauss und Michel Foucault gegen Sartre die Rolle unbewusster Strukturen im Bewusstsein geltend machten.

51 52

Zum Verhältnis von Sartre und Heidegger vgl. B.-H. Lévy (2002) S. 153ff, 175 ff. Zu Sartres Freiheitstheorie vgl. A. C. Danto (1987) S. 139ff; W. Biemel (1964) S. 102 ff.

156 Phänomenologische Ontologie

Würdigung. Die Ontologie Sartres erweist sich, ähnlich wie Heideggers „Fun-

damentalontologie“, weitgehend als existentialistische Anthropologie. Zwar geht Sartre von An-sich-Sein und Für-sich-Sein als den beiden grundlegenden Seinsweisen aus, doch dient ihm das damit anerkannte An-sich-Sein lediglich als Bezugsrahmen, um seine Theorie des Bewusstseins zu explizieren. Eine ausgearbeitete philosophische Theorie vom Wesen und Aufbau der Wirklichkeit entwickelt er nicht. Sartres Beitrag zur Ontologie besteht vor allem aus seinen Theorien des Bewusstseins und der Freiheit. Obwohl seine Bewusstseinstheorie, anders als die seiner Vorgänger Descartes und Bergson, keinen religiösen Hintergrund hat, leidet sie doch an einem ähnlichen Grundgebrechen. Indem Sartre nämlich die physische Basis des Bewusstseins als phänomenlogisch irrelevant ignoriert und Bewusstsein vielmehr als autonom versteht, wird der Zusammenhang von Körper und Geist zerrissen und unverständlich. Ebenso pocht er in seiner Freihteitstheorie auf den phänomenologischen Befund der Autonomie und Souveränität des Ich, wodurch die Möglichkeit einer kausalen Erklärung menschlichen Handelns vorschnell und dogmatisch ausgeschlossen wird. In Sartres phänomenologischer Ontologie scheint damit gerade das ontologische Moment zu kurz zu kommen.

VI. Metaphysik der Transzendenz

Eine Strömung der modernen Metaphysik, die nicht durch eine bestimmte Methode, sondern durch eine gemeinsame Thematik und Zielsetzung charakterisiert ist, ist die Metaphysik der Transzendenz. Ähnlich wie die phänomenologische Ontologie entstand diese moderne Form religiöser Metaphysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die metaphysikkritischen Strömungen des Positivismus und Neukantianismus. Einige Vertreter der Metaphysik der Transzendenz haben sich ausdrücklich der phänomenologischen Hinwendung zur Realität angeschlossen. Doch im Unterschied zur Phänomenologie waren sie der Ansicht, dass eine philosophische Weltsicht unvollständig bleibt, solange sie nicht zum letzten Grund der Wirklichkeit vorstößt und sich in einer Metaphysik der Transzendenz vollendet. Die Metaphysiker der Transzendenz befassen sich zwar auch mit ontologischen Themen, doch im Zentrum ihres Interesses stehen eindeutig metaphysisch-religiöse Probleme. Ein häufig wiederkehrendes Leitmotiv ihres Denkens besteht darin, auf wissenschaftlich-rational unlösbare Fragen, „Rätsel“ und „Mysterien“ des Seins hinzuweisen, um den Übergang zu einem religiösen Glauben als Ergänzung der wissenschaftlich-rationalen Weltauffassung zu begründen. Als einheitliche philosophische Strömung lässt sich die Metaphysik der Transzendenz nur schwer abgrenzen, da ihre Vertreter nicht nur aus verschiedenen philosophischen Traditionen wie dem Neukantianismus und der Phänomenologie herkommen, sondern religiöse Themen auch in verschiedener Weise in ihr Denken einbeziehen. Die Religionen, an denen die religiösen Metaphysiker sich orientieren, sind vor allem das Judentum und das Christentum, andere Religionen spielen praktisch keine Rolle. Die religiöse Orientierung erweist sich häufig als konfessionelle Bindung, wobei im Einzelfall aber nur schwer zu sagen ist, wo die Inspiration philosophischen Denkens an einer Religion in die Unter-

158 Metaphysik der Transzendenz

werfung unter einen Glauben übergeht, wo also Argumente durch Bekenntnisse ersetzt werden. Wenngleich eine genaue Grenze zwischen Philosophie und konfessioneller Theologie nur schwer zu ziehen ist, werden im Folgenden aus der religiösen Metaphysik vier Vertreter ausgewählt, die primär als Philosophen gelten können, da sie einen Platz in der Philosophiegeschichte der Moderne innehaben. Wir beginnen mit Martin Buber, der durch eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition zu seiner Dialogphilosophie gelangte. In Peter Wust begegnen wir einem religiösen Denker, der vom Neukantianismus zu einer christlichexistentialistischen Metaphysik fortschreitet. Edith Stein ist eine Philosophin, die bereits wichtige Beiträge zur Phänomenologie geleistet hatte, bevor sie eine Wende zu einer an Thomas von Aquin orientierten Metaphysik vollzog. Während diese drei Denker sich stark am jüdischen bzw. christlichen Glauben orientierten, ist der Existenzphilosoph Karl Jaspers Vertreter einer religiösen Metaphysik, der sich von allen konfessionellen Glaubensformen distanziert.

1. Martin Buber: Dialogphilosophie Begründer der Dialogphilosophie. Martin Buber ist ein religiöser Metaphysiker,

dessen Denken weniger durch die Auseinandersetzung mit traditionellen oder modernen philosophischen Systemen als vielmehr durch die Besinnung auf sein jüdisches Erbe bestimmt wird. Es war vor allem die Beschäftigung mit dem „Chassidismus“, einer osteuropäischen jüdischen Erweckungsbewegung des 18. Jahrhunderts, die ihn zur Entdeckung des Dialogs als Schlüssel zum Verständnis von Mensch und Gott führte. Der Dialog mit dem mitmenschlichen Du ist für Buber die Voraussetzung für die Entwicklung der Person, er ist aber auch die Grundlage des religiösen Erlebens. Seine Dialogphilosophie ist eine religiöse Philosophie, die Gott in der Zuwendung zur Welt und zum Menschen sucht. Leben und Werk. Martin Buber, am 8. Februar 1878 in Wien geboren, wuchs

nach der Scheidung seiner Eltern ab 1881 bei seinen wohlhabenden jüdischen Großeltern in Lemberg (Galizien) auf. Sein Großvater Salomon Buber war ein bedeutender jüdischer Gelehrter. Ab 1896 studierte Martin Buber Philosophie, Philologie und Kunstgeschichte in Wien, Leipzig, Zürich und Berlin, unter an-



Zum Chassidismus vgl. G. Wehr (1968) S. 54 ff.

Martin Buber: Dialogphilosophie 159

derem bei dem Positivisten Ernst Mach und dem Lebensphilosophen Georg Simmel. Während seiner Studienzeit entfremdete er sich dem jüdischen Glauben, doch führte ihn sein Engagement für den Zionismus zur religiösen Mystik zurück. Nach der Promotion über ein mystisches Thema im Jahr 1904 betätigte er sich als Schriftsteller und in der Erwachsenenbildung und studierte den Chassidismus. Im Jahr 1913 vollzog er eine entscheidende Wende durch die Abkehr von der Mystik. Seit dieser Zeit sah er die für das Judentum wesentliche religiöse Grundhaltung nicht mehr in der mystischen Versenkung und Abkehr von der Welt, sondern gerade in der Hinwendung zur Welt und zum Menschen. Diese Einstellung bestimmt auch sein Hauptwerk Ich und Du (1923), worin seine Dialogphilosophie enthalten ist, die er in späteren Veröffentlichungen weiter erläuterte, aber nicht mehr grundlegend korrigierte. Im selben Jahr (1923) wurde er Dozent für Religionswissenschaft und jüdische Ethik in Frankfurt, woraus 1930 eine Professur wurde. 1925 begann Buber mit dem jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig (1886–1929), mit dem er seit 1921 eng befreundet war, die Neuübersetzung der hebräischen Bibel ins Deutsche, die er nach Rosenzweigs frühem Tod allein weiter führte und 1961 vollendete. Nach dem Beginn der NSHerrschaft gab er 1933 seine Frankfurter Professur auf, unterrichtete aber weiter in der jüdischen Erwachsenenbildung. 1938 emigrierte er nach Palästina und erhielt in Jerusalem einen Lehrstuhl für Sozialphilosophie. Nach der Gründung des Staates Israel setzte er sich für eine Verständigung zwischen Juden und Arabern ein und entfaltete eine einflussreiche Lehrtätigkeit. International hoch angesehen, doch wegen seiner kritischen Haltung zur Politik Israels in seinem Heimatland umstritten, starb Buber am 13. Juni 1965 in Jerusalem. Vorläufer der Dialogphilosophie. Buber ist zwar der Begründer und Hauptver-

treter der Dialogphilosophie, doch wurden einige seiner zentralen Gedanken kurz zuvor von zwei anderen religiösen Denkern vorweggenommen. Es handelt sich dabei um den österreichischen, katholischen Philosophen Ferdinand Ebner



Zu Bubers Lebenswende vgl. G. Wehr (1996) S. 145 ff.

Martin Buber (1878–1965) Begründer einer Dialogphilosophie und Vertreter einer theistischen Gottesvorstellung

160 Metaphysik der Transzendenz

(1882–1931) und den bereits erwähnten Franz Rosenzweig. Beide hatten bei Neukantianern studiert, dann aber jeweils eine religiöse Philosophie entwickelt, die dem Dialog eine zentrale Rolle zuspricht. Ebner war in seinem Werk Das Wort und die geistigen Realitäten (1921) im Anschluss an Kierkegaard vom einsamen denkenden Ich ausgegangen und hatte als Voraussetzung des fragenden Ich das gefragte Du gefunden. Der Dialog mit dem Du hat nach Ebner zentrale Bedeutung für die Bildung des Ich und für die Begegnung mit Gott. Eine ähnliche Auffassung hatte auch Rosenzweig in seinem Werk Der Stern der Erlösung (1921) entwickelt. Bei seinem Bemühen, Offenbarung philosophisch zu verstehen, war er zu der Auffassung gelangt, dass in der Offenbarung ein Angesprochenwerden des Menschen durch Gott erfolgt und dass die konkrete menschliche Existenz stets durch einen Dialog mit einem Du bedingt ist. Ebner und Rosenzweig haben damit Buber den Weg geebnet. Es und Du. Bubers Schrift Ich und Du (1923) ist in einem expressionistischen Ton geschrieben. Gleichwohl liegt dieser Schrift ein systematischer erkenntnistheoretischer Ansatz zugrunde. Buber geht nämlich davon aus, dass es zwei grundverschiedene Weisen gibt, die Welt zu erleben. Der Mensch kann die Dinge nämlich entweder als „Es“ oder als „Du“ erleben. Sofern der Mensch sich auf die Dinge als Objekte der Erfahrung richtet und über sie spricht, bewegt er sich in der Unterscheidung von „Ich und Es“. Die Dinge als „Es“ betrachten, heißt nach Buber, sie als unpersönliche Objekte begreifen, die man beschreiben, erklären und beherrschen kann. Aber in dieser objektiven, wissenschaftlichen Einstellung bleiben die Dinge, wie Buber mit der Lebensphilosophie sagt, dem Menschen im Grunde fremd und unverständlich. Sofern der Mensch dagegen etwas als „Du“ anspricht, also als eine Person, mit der er kommunizieren kann, hat man es nach Buber mit einer völlig anderen Einstellung zu tun. Es ist die Einstellung des Dialogs zwischen Menschen, wodurch sich eine „Beziehung“ zwischen Ich und Du bildet. „Erfahrung“ und „Beziehung“ sind somit die beiden grundverschiedenen Einstellungen zur Welt. „Die Welt als Erfahrung gehört dem Grundwort Ich-Es zu. Das Grundwort Ich-Du stiftet die Welt der Beziehung.“ Wesentlich an einer Beziehung ist, dass sie erlebt wird, ohne dass etwas über sie ausgesagt werden kann. Die Ich-Du-Beziehung kann also nicht besprochen, beschrieben, erklärt oder gar beherrscht werden. Sobald nämlich über etwas gesprochen wird, wird es nach Buber als „Es“ behandelt. „Den Menschen, zu dem



M. Buber: Ich und Du, Stuttgart 1995, S. 6.

Martin Buber: Dialogphilosophie 161

ich Du sage, erfahre ich nicht. Aber ich stehe in der Beziehung zu ihm, im heiligen Grundwort. Erst wenn ich daraus trete, erfahre ich ihn wieder. Erfahrung ist Du-Ferne.“ Zur Ich-Du-Beziehung gehört nach Buber, dass Menschen sich gegenseitig zur Selbstverwirklichung helfen. Die Beziehung zwischen Ich und Du hat kon­ stitutive Bedeutung für das Menschsein, weil nur durch den Dialog mit einem Du das Ich sich voll entfalten kann. Also nur in der zwischenmenschlichen Begegnung entwickelt sich der Mensch zur Person. „Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Die Ich-Du-Beziehung ist nach Buber nicht ein für allemal gegeben, sondern sie muss vom Menschen stets aufs Neue hergestellt werden. Mit einem Menschen in eine dialogische Beziehung treten und ihn als Person erleben, erfordert nach Buber eine Anstrengung. Der Mensch bleibt stets der Gefahr ausgesetzt, die Kräfte für den Aufbau einer Ich-Du-Beziehung nicht mehr aufzubringen. Versagt jemand in dieser Hinsicht, dann entgleitet ihm das Du zum Es, d. h. er sieht den anderen nicht mehr als Person, sondern nur noch als Objekt oder Sache. Eine zu sehr auf die Natur als bloßes Objekt ausgerichtete Lebenshaltung, insbesondere die wissenschaftliche Einstellung, führt nach Buber leicht dazu, dass die Fähigkeit des Menschen unterentwickelt bleibt, Beziehungen zu Personen einzugehen und aufzubauen. Gott als ewiges Du. Den Übergang von dieser philosophisch-anthropologischen Lehre zu einer religiösen Metaphysik erreicht Buber dadurch, dass er neben der zwischenmenschlichen Ich-Du-Beziehung auch eine Beziehung des Ich zu einem „ewigen Du“ annimmt. Der Ursprung dieser Gottesvorstellung liegt vor allem in Bubers Auseinandersetzung mit dem Chassidismus. In dieser jüdischen Tradition findet er die Botschaft des anredenden und anredbaren Gottes, der zum gerechten Handeln in der Welt aufruft. Außerdem entdeckt er im Chassidismus einen Humanismus, insofern der „Zaddith“, der geistliche Führer im Chassidismus, der moralisch vollkommene, vorbildliche Mensch ist, der Frieden und Gerechtigkeit vorlebt und konkrete Ratschläge für das richtige Leben gibt. Die Grundidee von Bubers religiöser Philosophie besteht darin, dass in jeder Ich-Du-Beziehung, also in der Begegnung mit einem Menschen, Gott als „ewiges Du“ miterlebt wird. „Die verlängerten Linien der Beziehungen schnei  

M. Buber: Ich und Du, S. 9. M. Buber: Ich und Du, S. 12. Zu Bubers Synthese von Judentum und Humanismus vgl. K. Wuchterl (1995) S. 381 ff.

162 Metaphysik der Transzendenz

den sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm. Durch jedes geeinzelte Du spricht das Grundwort das ewige an.“ Einen Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Du sieht Buber darin, dass ein Mensch stets auch als Sache betrachtet, also verdinglicht werden kann, wohingegen dies bei Gott, der wesenhaft Person ist, nicht möglich ist. Das göttliche Du kann zwar erlebt werden, aber Gott kann nicht objektiv beschrieben oder gar mit Argumenten bewiesen werden. Da über Gott keine Aussagen gemacht werden können, kann es auch keine philosophische Theologie geben. Damit unterscheidet sich Buber von christlicher Metaphysik, doch hat seine Auffassung eine gewisse Nähe zur mystischen Tradition, die Gott erleben, aber nicht rational begreifen will. Denn obgleich es nach Buber keine Beweise für die Existenz Gottes geben kann, gibt es doch „Hinweise“ auf Gott, die Hinweise nämlich, die in der Begegnung mit dem menschlichen Du enthalten sind. Obwohl Buber keine Lehre von Gott entwickeln will, zieht er aus seiner Auffassung von Gott als ewigem Du doch wichtige theologische Konsequenzen. Zunächst folgert er daraus die Unhaltbarkeit des Pantheismus. Da „Du“ der adäquate Name für Gott ist, ist die pantheistische Gleichsetzung von Gott und Welt verfehlt, weil Gott damit nicht mehr als Person angesprochen werden kann. Gott als „ewiges Du“ verstehen bedeutet offenbar die Anerkennung eines theistischen Gottesbegriffs. Andererseits hat Buber aber auch eine strikte Trennung von Welt und Gott, Diesseits und Jenseits abgelehnt. Da Gott im zwischenmenschlichen Dialog miterlebt wird, ist er kein rein transzendentes Wesen. Gott ist zwar Person („ewiges Du“), aber er ist jedenfalls auch in der Welt. Und da der Dialog den Weg zu Gott eröffnet, ist es auch verfehlt, Gott durch eine Abkehr von der Welt und den Mitmenschen zu suchen. Abgelehnt hat Buber daher die in der Tradition von Augustinus und Kierkegaard stehende monologische Gottesbeziehung, derzufolge der Einzelne stets allein vor Gott steht. Eine Konsequenz von Bubers Auffassung, dass Gott in der Welt anzutreffen ist, besteht schließlich in der Ablehnung einer strikten Trennung von profanem Weltleben und sakralem Gottesdienst. Die Begegnung mit Gott findet keineswegs nur im Gottesdienst oder in der Begegnung mit der Offenbarung der heiligen Schriften statt, sondern gerade und vor allem im alltäglichen Leben. Zu Bubers religiöser Grundhaltung gehört daher auch eine ausgeprägte Weltfrömmigkeit.

 

M. Buber: Ich und Du, S. 71. Zu Bubers Verhältnis zum Christentum und zur christlichen Theologie vgl. G. Wehr (1996) S. 196 ff.

Martin Buber: Dialogphilosophie 163

Wirkung. Buber erreichte als religiöser Denker, vor allem aber als geistiger Füh-

rer des Judentums große Resonanz. Er wurde zu Gastvorlesungen und Vorträgen nach Europa und Amerika eingeladen und erhielt 1953 den Friedenpreis des Deutschen Buchhandels. Mit seinem Werk beeinflusste er Konzeptionen in Philosophie, Theologie und Psychologie, die dem Dialog eine besondere Rolle einräumen. Wichtig wurde Bubers Dialogphilosophie vor allem für Gabriel Marcel und Emmanuel Lévinas. Die Bedeutung seines Werks für die Philosophie wurde 1963 besonders gewürdigt, als ein eigener Band zu seiner Philosophie in der von Paul Schilpp herausgegebenen Reihe über große Philosophen der Gegenwart („Library of Living Philosophers“) erschien.

Würdigung. Wenngleich Buber wiederholt gesagt hat, dass er nur Erfahrungen mitteilen und Gespräche führen wolle, ist seine Dialogphilosophie doch eine systematische Konzeption. Sofern Buber die Bedeutung des Dialogs für die Entwicklung des Menschen betont, leistet er einen Beitrag zur philosophischen Anthropologie. Seine strikte Unterscheidung zwischen „Ich-Du“ und „Ich-Es“ ist freilich erheblichen Einwänden ausgesetzt. Offensichtlich fragwürdig ist seine erkenntnistheoretische These, dass über die Ich-Du-Beziehung keine Aussagen gemacht werden können, zumal Buber ja selbst laufend über diese Beziehung redet. Fragwürdig ist aber auch, wie die Ich-Du-Beziehung zur Begründung einer theistischen Gottesvorstellung verwendet wird. Seine These von Gott als ewigem Ich stützt sich nämlich auf die „Erfahrung“, dass in der zwischenmenschlichen Begegnung zugleich Gott als ein ewiges Du „miterlebt“ wird, womit jedoch nur eine mystische Erfahrung gemeint sein kann.10 Bubers Auffassung von Gott als „ewigem Du“ erweist sich vielmehr als eine religiöse Deutung menschlicher Kommunikation, die mit theistischen Vorstellungen vereinbar ist, aber durch die Tatsachen selbst in keiner Weise gefordert wird. Wenn Buber daher Gott als „ewiges Du“ begreift, zugleich jedoch jede rationale Diskussion über Gott abgelehnt, so kann man darin eine Immunisierung des Theismus gegen pantheistische und atheistische Kritik sehen.

 Eine aufschlussreiche Sammlung von Zeugnissen zu Buber bietet G. Wehr (1996) S. 401 ff. 10 Zu Buber als Mystiker vgl. G. Wehr (1996) S. 147, 161.

164 Metaphysik der Transzendenz

2. Peter Wust: Die Wende zum Sein und das Wagnis des Glaubens Christlicher Existenzphilosoph und Metaphysiker. Peter Wust war ursprünglich vom Neukantianismus beeinflusst, doch schloss er sich schließlich den zeitgenössischen Bemühungen um eine Erneuerung der Metaphysik an. Im Unterschied zu Lebensphilosophie und Phänomenologie vertrat er die Auffassung, dass die Hinwendung zur Realität zugleich ein Durchbruch zum göttlichen Weltgrund sein müsse. Die Wende zum Sein (oder zu den „Sachen“) ist nach seiner Ansicht erst dann ganz vollzogen, wenn die Metaphysik sich auch den religiösen Fragen nach dem Dasein Gottes und dem Sinn des Lebens wieder zuwendet. Wust sah in der Neubegründung von Ontologie und religiöser Metaphysik nicht nur eine Abkehr von Kant und eine Rückkehr zu Platon, sondern geradezu eine philosophische Revolution von allgemeiner kultureller Bedeutung. Der Titel seiner frühen Schrift Die Auferstehung der Metaphysik hat denn auch nicht zufällig einen religiösen Unterton. Wust greift aber nicht nur auf Ideen der platonischen und christlichen Philosophie zurück, sondern er reflektiert auch das „ungesicherte“ Verhältnis des Menschen zur Welt und zur Transzendenz. Und indem er dabei religiöse Fragen auch als praktische Lebensfragen behandelt und den Glauben als eine Möglichkeit menschlicher Freiheit begreift, nähert er sich inhaltlich der Existenzphilosophie. Wust gilt daher auch als christlicher Existenzphilosoph. Leben und Werk. Peter Wust wurde am 28. August 1884 in dem kleinen saarlän-

dischen Dorf Rissenthal als Sohn armer Handwerker geboren. Er studierte von 1907 bis 1910 Philosophie, Germanistik und Anglistik in Berlin und Straßburg und wurde zunächst Lehrer in Trier und Köln. Neben seiner Berufstätigkeit befasste er sich weiter mit Philosophie und promovierte 1914 bei dem Neukantianer Oswald Külpe in Bonn mit einer Arbeit über John Stuart Mills Theorie der Geisteswissenschaften. Anschließend scheiterte er mit mehreren Versuchen,

Peter Wust (1884–1940) Christlicher Existenzphilosoph und Vertreter eines metaphysisch-religiösen Denkens

Peter Wust: Die Wende zum Sein und das Wagnis des Glaubens 165

sich zu habilitieren. Seine Schriften Die Auferstehung der Metaphysik (1920) und Die Dialektik des Geistes (1928) machten ihn jedoch bekannt und verschafften ihm 1930 eine Professur für Philosophie in Münster. Hier entfaltete er eine einflussreiche Lehrtätigkeit und schrieb sein Werk Ungewissheit und Wagnis (1937). Wust setzte sich intensiv mit der zeitgenössischen Philosophie auseinander, korrespondierte mit namhaften Kollegen wie Husserl und N. Hartmann und pflegte freundschaftliche Kontakte zu Edith Stein, Gabriel Marcel und Max Scheler, dessen religiöser Denkimpuls ihn tief beeindruckte. Obwohl Gegner des Nationalsozialismus lehrte er bis 1939, als ihn ein Krebsleiden zur Aufgabe seiner Lehrtätigkeit zwang. Nach monatelanger, geduldig ertragener Krankheit starb Wust am 3. April 1940 in Münster. Neubegründung religiöser Metaphysik. Der Anstoß für Wusts Hinwendung zur

Metaphysik kam von seinem einstigen Berliner Lehrer, dem Philosophen und Theologen Ernst Troeltsch (1865–1923), der ihm in einem Gespräch im Oktober 1918 angesichts des bevorstehenden Kriegsendes geraten hatte: „Wenn Sie noch etwas für die Kräfteerneuerung unseres Volkes tun wollen, dann kehren Sie zurück zum uralten Glauben der Väter und setzen Sie sich in der Philosophie ein für die Wiederkehr der Metaphysik gegen alle müde Skepsis einer in sich unfruchtbaren Erkenntnistheorie.“11 Diese Empfehlung hat entscheidend dazu beigetragen, dass Wust eine persönlich-existentielle Krise überwand und den Weg zu einer religiösen Metaphysik einschlug. In der Schrift Die Auferstehung der Metaphysik (1920) versucht Wust die ganze Tragweite der zeitgenössischen Wende zum Sein zu verdeutlichen. Erkenntnistheoretisch bedeutet diese Wende die Preisgabe des Idealismus und den Übergang zum Realismus. Die menschliche Erkenntnis ist eben keineswegs darauf beschränkt, bloße Erscheinungen und ihre Relationen untereinander zu beschreiben, wie es Neukantianismus und Positivismus behaupten, sondern es ist ihr gerade auch möglich, zur Realität selbst und zum Wesen der Dinge vorzudringen. Wust verwirft damit vor allem die auf Kant zurückgehende Idee einer „Allmacht des Subjekts“, das mittels seiner apriorischen Kategorien die Welt der Erscheinungen konstituiert. Gegen den Idealismus Kants, der das Subjekt als „transzendentale“ Bedingung der raum-zeitlichen Wirklichkeit begreift, setzt Wust mit alter und neuer Metaphysik den Primat des Seins vor dem Bewusstsein. Mit der Anerkennung des Realismus erhält die Metaphysik zugleich ihre Aufgabe zurück, eine philosophische Erkenntnis der Wirklichkeit zu liefern. 11

P. Wust: Gestalten und Gedanken, 4. Aufl. Kempten 1950, S. 255 f.

166 Metaphysik der Transzendenz

Eine realistische Erkenntnistheorie bereitet nach Wust aber zugleich eine religiöse Einstellung zur Wirklichkeit vor. „Im ganzen bedeutet diese geistige Umkehr eine Absage an die triumphierende Vernunft, die alles aus sich erzeugen zu können glaubt, und eine Hinwendung zur beschauenden und demütig verehrenden Vernunft, eine Umkehr also vom Vernunftstolz zur Demut und zur schweigend anerkennenden Ehrfurcht.“12 Die Vielfalt des Seins. Die Wende zum Sein bedeutet sodann die Anerkennung

der Ontologie als legitimer philosophischer Aufgabe. Da Wust vor allem auf eine religiöse Metaphysik abzielt, hat er nur eine grobe ontologische Skizze vom Aufbau der Wirklichkeit geliefert. Sein Ausgangspunkt ist die Tatsache der Vielfalt der besonderen Formen des Seins. Alle Formen des Seins lassen sich zunächst in ideales und reales Sein unterscheiden. Als ideales Sein betrachtet Wust im Anschluss an Husserl die Logik mit ihren unverbrüchlichen Gesetzlichkeiten, die dem Menschen auch eine Ahnung von Ewigkeit und Erhabenheit vermitteln können. Das reale Sein der raum-zeitlichen Welt zerfällt in Natur und Geschichte, die beide nicht nur kausal, sondern auch final durch Ziele und Werte bestimmt sind. Von entscheidender Bedeutung für die Metaphysik ist es nun nach Wust, dass Natur und Geschichte sich nicht restlos durch Verstand und Wissenschaften begreifen lassen. Beide bleiben vielmehr in ihrem inneren Wesen zuletzt kontingent und rätselhaft. Doch gerade durch diese irrationalen Züge weisen die natürlichen und geschichtlichen Seinsformen über sich hinaus auf einen göttlichen Grund als Ursprung aller Wirklichkeit. Mit dieser Einsicht ebnet die Ontologie der religiösen Metaphysik den Weg.13 Die zeitbedingten Wege zu Gott. Die zentrale Fragstellung findet Wust in der

religiösen Metaphysik. Mit der platonisch-christlichen Tradition nimmt er an, dass die wandelbaren, vergänglichen Erscheinungen einen unvergänglichen einheitlichen Seinsgrund voraussetzen. Dass zum Ganzen des Seins auch das „absolute Sein“ Gottes gehört, macht den Kern seiner religiös-metaphysischen Grundposition aus. Wust zögert auch nicht, das „Absolute“ oder den „Seinsgrund“ als Gott zu bezeichnen. Die These, dass Gott das Absolute oder der Seinsgrund der Welt ist, betrachtet er als den unzerstörbaren Kern religiöser Metaphysik, der „philosophia perennis“. Dagegen trägt jeder Versuch, diese metaphysische Idee zu begründen oder in einem metaphysischen System auszuarbeiten, unweigerlich den Stempel der Geschichtlichkeit, ist also zeitgebunden 12 13

P. Wust: Die Auferstehung der Metaphysik, Hamburg 1963, S. XXII. Zu Wusts mehrdeutigem Begriff der Metaphysik vgl. K. Wuchterl (1995) S. 359 f.

Peter Wust: Die Wende zum Sein und das Wagnis des Glaubens 167

und wandelbar. In seinem Werk Die Dialektik des Geistes (1928) beschreibt Wust ausführlich die verschiedenen Wege des metaphysischen Denkens, sich dem Absoluten zu nähern, wobei er immer wieder deren Unsicherheit und Fehlbarkeit herausgestellt. Obwohl Wust die Denkwege der Metaphysik genau verfolgt und auswertet, geht es ihm doch nicht darum, ein metaphysisches System auszuarbeiten. Er verzichtet also darauf, der Idee des göttlichen Seinsgrundes eine weitere zeitbedingte, vergängliche Gestalt zu geben. Sein zentrales Anliegen ist es vielmehr, die religiöse und existentielle Bedeutung dieser metaphysischen Idee zu verdeutlichen. Da Gott als Seinsgrund der Welt gedacht werden muss, hat die Metaphysik vor allem die Aufgabe, den menschlichen Geist für diesen göttlichen Weltgrund zu öffnen und offen zu halten. Und dies bedeutet nach Wust auch, dass der denkende Mensch der Welt in der Haltung der „Seinsfrömmigkeit“ begegnen soll, d. h. in einer demütig-verehrenden Haltung, die sich bewusst ist, dass Welt und Leben von Gott stammen. Dies ist eine der Stellen, an denen Wusts Metaphysik in Religion übergeht.14 Die metaphysische Ungeborgenheit des Menschen. In seinem letzten Werk Un-

gewissheit und Wagnis (1937) hat Wust in Anknüpfung an die Existenzphilosophie, insbesondere an Kierkegaard und Jaspers, die existenzielle Dimension religiöser Metaphysik weiter expliziert. Dabei geht er von der Feststellung aus, dass das menschliche Dasein durch eine ursprüngliche Unsicherheit und Ungeborgenheit („insecuritas humana“) gekennzeichnet ist. Im Unterschied zum Tier weiß der Mensch um diese Situation und wird sich ihrer immer wieder schmerzlich bewusst. Die Unsicherheit der menschlichen Existenz zeigt sich auf der Ebene des alltäglichen Lebens darin, dass die Lebenspläne des Individuums durch Zufall und Schicksalsschläge, aber auch durch Eingriffe anderer Menschen zunichte gemacht werden (können). Auf der Ebene der wissenschaftlichen Erkenntnis zeigt sie sich darin, dass die Wirklichkeit nicht vollständig in mathematisch-wissenschaftlichen Theorien eingefangen werden kann, sondern dass stets Unsicherheitsfaktoren und Rätsel bleiben. Aber auch auf der Ebene der religiösen Gottes- und Heilssuche gibt es Zweifel und Unsicherheit. Zum Wesen des Menschen gehört freilich auch, dass der Mensch nicht nur sichere Lebensverhältnisse, sondern auch einen metaphysischen Halt sucht. Ähnlich wie Schopenhauer versteht Wust den Menschen als „animal metaphysicum“, also als ein metaphysisches Sucherwesen, das nach dem Sinn des Da14

Zu Wusts religiöser Grundhaltung vgl. B. Scherer (1973).

168 Metaphysik der Transzendenz

seins fragt. „Der Mensch ist ein Mittelwesen zwischen Bios und Logos, ein Sucherwesen, das immer ‚unterwegs‘ ist …“15 Wust unterscheidet dabei drei Varianten der Sinnfrage, nämlich die Frage nach Gott, die Frage nach dem Sinn des Seins und die Frage nach der Erkennbarkeit der Welt. Der Mensch ist also Gottsucher, Glücks- und Heilssucher und Wahrheitssucher. Das Wagnis des Glaubens. Wenngleich der Mensch durch sein eigenes Wesen zur Suche nach dem Sinn angetrieben und damit zur Metaphysik und zur Religion geführt wird, lassen sich die Sinnfragen, wie Wust immer wieder betont, nie endgültig und nie mit Gewissheit beantworten. Die Religionen enthalten zwar Glaubenswahrheiten als Antworten auf die Fragen nach Gott und dem Heil, aber die Gewissheit eines Glaubens kann nie mit Vernunftgründen sichergestellt werden. Für Vernunft und Philosophie bleibt die „insecuritas humana“ unaufhebbar. Für die Suche nach metaphysischer Geborgenheit hat nach Wust die Vernunft aber nicht das letzte Wort. Gerade weil der Mensch den Sinn des Seins nicht mit Sicherheit klären kann, sondern in Ungewissheit vor dem Rätsel der Welt verharren muss, ist er nach Wust auch frei dafür, sich einem religiösen Glauben anzuvertrauen. Wust geht aber noch weiter und rechtfertigt den Schritt in den Glauben dadurch, dass er ihn als Ausdruck von „Weisheit“ interpretiert. „Die wahre Lebensweisheit wagt auf das Minimum der menschlichen Sehfähigkeit das Maximum des Glaubens an die universale Ordnung […] Der Lebensweise bewahrt im Glück wie im Unglück auf der Fortunaebene den Glauben an eine weise Weltregierung …“16 Nur im Glauben kann der Mensch eine befriedigende Antwort auf die Sinnfragen erhalten, und nur im Glauben gibt es die metaphysische Geborgenheit jenseits der Vernunft.17 Der Sinnsucher Mensch darf daher das „Wagnis des Glaubens“ eingehen. Wust selbst kehrte bekanntlich zum katholischen Glauben zurück und war, wie er in seiner Autobiographie schreibt, seit Ostern 1923 „wieder naiv gläubig wie Kind“.18 Wirkung. Mit seiner Lehrtätigkeit und seinen Schriften beeinflusste Wust nicht

nur katholische Kreise der Öffentlichkeit, sondern auch religiös orientierte Philosophen und Theologen, wie z. B. Gabriel Marcel und Hans Küng, die den „Sprung in den Glauben“ möglichst rational gestalten wollen. Seine christliche 15 16 17 18

P. Wust: Gestalten und Gedanken, S. 257. P. Wust: Ungewissheit und Wagnis, 6. Aufl. Kempten 1955, S. 299, 301. Zu Wusts Auffassung von christlicher Selbstverwirklichung vgl. H. Westhoff (1982) S. 185 ff. P. Wust: Gestalten und Gedanken, S. 256.

Edith Stein: Von der Phänomenologie zur christlichen Metaphysik und Mystik 169

Existenzphilosophie wirkte als Gegenmodell zu den agnostischen und atheistischen Positionen von Jaspers, Heidegger und Sartre, ohne freilich deren Einfluss zu erreichen. Würdigung. Wusts existentiell-religiöse Metaphysik hat noch einmal die zen-

trale existentielle Bedeutung der Sinnfrage verdeutlicht und zugleich die Ungewissheit aller religiös-metaphysischen Antworten auf die Sinnfrage herausgestellt. Wenn Wust darüber hinaus eine positive Antwort auf die Sinnfrage und einen Übergang in einen religiösen Glauben für unvermeidlich hält, dann setzt er freilich voraus, dass das metaphysische Bedürfnis des Menschen befriedigt werden muss. Die philosophisch entscheidende Frage ist aber nicht, welche Vorstellungen das metaphysische Bedürfnis befriedigen können, sondern ob es gute Argumente für solche befriedigenden Vorstellungen wie die Annahme eines Gottes oder eines göttlichen Weltgrundes gibt. Da Wust nun aber weitgehend auf gewöhnliche Argumente für die Existenz Gottes und für ein Dasein nach dem Tod verzichtet, erweist sich sein Plädoyer für das „Wagnis des Glaubens“ bestenfalls als eine „Option“, die das philosophische Denken an der Grenze der Vernunft wählen kann. Eine tragfähige rationale Begründung für den Schritt in den Glauben liegt damit aber kaum vor.

3. Edith Stein: Von der Phänomenologie zur christlichen Metaphysik und Mystik Phänomenologin und christliche Metaphysikerin. Die breite Öffentlichkeit kennt

Edith Stein als Zeugin des christlichen Glaubens und als Heilige der katholischen Kirche, die wegen ihrer jüdischen Herkunft Opfer des Holocaust wurde. Viel weniger bekannt ist dagegen ihr philosophisches Werk, das erst in einer späteren Phase einen ausgesprochen religiösen Charakter annahm. Ursprünglich bewegte sie sich in den Bahnen der Husserlschen Phänomenologie und befasste sich mit phänomenologischen Studien zur menschlichen Person und zur Gesellschaft. Danach nahm ihr Denken eine religiöse Wendung und führte zu einer christlichen Metaphysik und Mystik. Ähnlich wie Peter Wust war Edith Stein der Auffassung, dass die Hinwendung zur Realität erst in einer religiösen Weltsicht ihren Abschluss findet, aber während Wust sich dabei der Existenzphilosophie näherte, wird Edith Steins religiöse Philosophie wegen ihres Rückgriffs auf Thomas von Aquin zur katholischen Neuscholastik gerechnet.

170 Metaphysik der Transzendenz

Leben und Werk. Edith Stein wurde am 12. Oktober 1891 als jüngstes von elf

Kindern in einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Breslau geboren. Sie wurde im jüdischen Glauben erzogen, von dem sie sich jedoch früh löste. Im Jahr 1911 begann sie in Breslau mit dem Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Psychologie, doch wechselte sie 1913 nach Göttingen, um bei Husserl zu studieren. Nach dem Staatsexamen arbeitete sie 1915 als Krankenschwester in einem Soldatenlazarett. 1916 promovierte sie bei Husserl in Freiburg und war danach bis 1918 seine Privatassistentin. In diesen Jahren hatte sie enge Kontakte zu den Vertretern der Phänomenologie, aber auch unerfüllt gebliebene Beziehungen zu Roman Ingarden und Hans Lipps. Als sie zur Habilitation, die bis dahin nur Männern offen stand, nicht zugelassen wurde, gab sie ihre Stelle bei Husserl auf und zog sich nach Breslau zu ihrer Familie zurück. Unter dem Einfluss Schelers fand sie zum christlichen Glauben und konvertierte 1922 zum Katholizismus. Von 1923 bis 1931 war sie Deutschlehrerin am Dominikanerinnenkloster in Speyer. Ihre philosophischen Interessen traten nun eine Zeitlang hinter ihrer Berufstätigkeit zurück. Im Laufe der 20er Jahre wandte sie sich jedoch Thomas von Aquin zu, um die philosophische Dimension ihres Glaubens zu klären. Nach einem weiteren vergeblichen Habilitationsversuch mit einer Arbeit über die scholastische AktPotenz-Lehre wurde sie 1932 Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster, doch musste sie diese Stelle 1933 nach dem Beginn der NS-Herrschaft aufgeben. Noch im selben Jahr trat sie in den Orden der Karmeliter in Köln ein. Nach ihrem Eintritt wurde sie für philosophisch-wissenschaftliche Aufgaben freigestellt und erhielt damit die Gelegenheit, ihre Arbeit über „Potenz und Akt“ zu vollenden. Durch die Umarbeitung dieser Schrift entstand in den Jahren 1936–37 ihr postum erschienenes Hauptwerk Endliches und ewiges Sein (1950). Nach dessen Vollendung wurde sie von der Ordensleitung beauftragt, anlässlich des 1942 bevorstehenden 400. Geburtstages des Ordensvaters Johannes vom Kreuz (1542–1591), ein Werk über dessen Leben und mystische Theologie zu schreiben. Ergebnis ihrer Studien ist die unvollendete Schrift Kreuzeswissenschaft (1954). 1938 floh Edith Stein nach Echt in Holland. Hier wurde sie am 2. August 1942 verhaftet und in das KZ Auschwitz deportiert,

Edith Stein (1891–1942) Vertreterin der Phänomenologie und einer christlichen Metaphysik und Mystik

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wo sie vermutlich am 9. August 1942 in der Gaskammer starb. Wegen ihrer vorbildlichen religiösen Lebenshaltung wurde sie von der katholischen Kirche selig und heilig gesprochen. Phänomenologie der Person. In ihrer Dissertation Zum Problem der Einfühlung

(1917) versucht Edith Stein zu klären, wie durch Einfühlung das seelische Innenleben einer anderen Person erfasst werden kann. Sie stellt die Einfühlung als Voraussetzung der Kommunikation zwischen Menschen heraus und befasst sich mit dem psycho-physischen Aufbau der menschlichen Person. Im Gegensatz zu Husserl, der auf die idealistischen Wege Kants und der Neukantianer eingeschwenkt war, sieht Stein das Phänomen der Einfühlung im Einklang mit einer realistischen Auffassung von Erkenntnis als Erfassen einer jenseits des eigenen Bewusstseins liegenden Realität. In weiteren Arbeiten ihrer phänomenologischen Frühphase19 untersucht Stein die philosophischen Grundlagen der Psychologie und der Sozialwissenschaften. In der Abhandlung Psychische Kausalität (1922) vertritt sie einerseits die Auffassung, dass der Mensch in seinem Verhalten und Erleben durch die Kausalität der Natur bestimmt wird, doch andererseits versucht sie zu zeigen, dass das menschliche Handeln der Motivation als eigener geistiger Gesetzlichkeit unterliegt. Als geistig-vernünftiges Wesen bestimmt der Mensch sein Handeln, indem er sich zwischen abstrakten Motiven und Werten entscheidet. Als rational handelndes Wesen ist der Mensch somit frei. Husserl und Thomas von Aquin. Im Verlauf ihrer phänomenologischen Studien

gelangte Stein zu der Überzeugung, dass eine Phänomenologie der menschlichen Person unvollständig bleibt, solange sie nicht das religiöse Erleben des Menschen mit einbezieht. Als sie Ende der 20er Jahre wieder philosophisch zu arbeiten begann, befasste sie sich intensiv mit der Philosophie von Thomas von Aquin. Ein erstes Ergebnis dieser Arbeit ist ihr Beitrag zur Festschrift zu Husserls 70. Geburtstag im Jahr 1929, worin sie die Phänomenologie mit der thomistischen Philosophie konfrontiert.20 Stein sieht nun in der religiösen Dimension der thomistischen Metaphysik gerade einen Vorzug gegenüber der phänomenologischen Beschränkung auf die Wesensanalyse gegebener Phänomene. Im Gegensatz zu Husserl kennt Thomas nämlich nicht nur einen natürlichen Weg zur Wahrheit durch die Vernunft, sondern darüber hinaus auch einen über19 Zu Steins Verhältnis zu Husserl und zur Phänomenologie vgl. R. Wimmer (1999) S. 230ff; H.B. Gerl (1998) S. 81ff; E. Endres (1999) S. 77 ff. 20 Steins Gegenüberstellung von Husserl und Thomas untersucht R. Wimmer (1999) S. 261 ff.

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natürlichen Weg durch Offenbarung und Glaube. Während die Vernunft sich der Wahrheit nur in einem unendlichen Prozess anzunähern vermag und dabei stets nur ein bruchstückhaftes und vorläufiges Bild der Wirklichkeit gewinnt, gelingt es dem Glauben die Grenzen der Vernunft zu überschreiten und die ganze Wahrheit über das Sein zu erreichen. Den Glauben betrachtet Stein dabei als ein „Geschenk der Gnade“, der einer weiteren Rechtfertigung weder fähig noch bedürftig ist. Katholische Neuscholastik und Neuthomismus. Mit ihrem Vergleich von Hus-

serl und Thomas und ihrem Bekenntnis zur Philosophie von Thomas war Edith Stein zum Neuthomismus übergegangen. Der Neuthomismus war die bedeutendste Spielart der katholischen Neuscholastik, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor allem an katholischen Akademien in Frankreich, Belgien und Deutschland entwickelt wurde. Wichtige Vertreter des Neuthomismus waren Jacques Maritain (1882–1973) in Frankreich, Joseph Maréchal (1878–1944) in Belgien und Erich Przywara (1883–1972) und Karl Rahner (1904–1984) in Deutschland. Przywara war mit Edith Stein befreundet und ermunterte sie zur Auseinandersetzung mit Thomas. Zu den zentralen Lehren des Neuthomismus gehören zunächst die Auffassung von Gott als Ursache (oder Schöpfer) der Welt und das Konzept der Begreifbarkeit Gottes durch Analogien. Weitere Kernstücke sind die Lehre von Potenz und Akt, die Annahme einer mehrschichtigen Realität mit dem Geist als höchster, unvergänglicher Schicht, die Anerkennung der Willensfreiheit, aber auch die Annahme der göttlichen Vorherbestimmung allen Geschehens. Als Voraussetzung dieser metaphysischen Lehren vertritt der Neuthomismus einen erkenntnistheoretischen Realismus, womit meist eine polemische Haltung zu Kant verbunden ist. Die christliche Metaphysik Edith Steins ist ebenfalls keine bloße Rückkehr zu Thomas, sondern ein mit Elementen der Phänomenologie modernisierter Thomismus. Die Frage nach dem Sinn des Seins. Zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Seinsfrage, die Stein in ihrem Hauptwerk Endliches und ewiges Sein (1950) versucht, gehört vor allem auch die Klärung der Frage nach dem Sinn des Seins. Ihr Hauptwerk trägt daher den bezeichnenden Untertitel „Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins“, der eine deutliche Anspielung auf Heidegger enthält. Ihre eigene Seinslehre hat Stein nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit (1927) entwickelt.21 Sie kritisiert an Heidegger, 21

Zu Steins Verhältnis zu Heidegger vgl. H.-B. Gerl (1998) S. 95 ff.

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dass dieser die Seinsfrage lediglich im Rahmen einer Analyse des menschlichen Daseins in Angriff nimmt und den Schritt zum transzendenten, ewigen Sein unterlässt. Ferner wendet sie ein, dass Heideggers Charakterisierung des menschlichen Daseins durch Angst, Endlichkeit und Geworfenheit nur eine Grunderfahrung des Menschen ist. Die andere, bei Heidegger fehlende Grunderfahrung sieht sie darin, dass der Mensch sich in seinem flüchtigen, brüchigen Sein als getragen und aufgehoben erlebt in einem absoluten Sein. „Denn der unleugbaren Tatsache, daß mein Sein ein flüchtiges, von Augenblick zu Augenblick gefristetes und der Möglichkeit des Nichtseins ausgesetztes ist, entspricht die andere ebenso unleugbare Tatsache, daß ich trotz dieser Flüchtigkeit bin und von Augenblick zu Augenblick im Sein erhalten werde und in meinem flüchtigen Sein ein dauerndes umfasse. […] Ich stoße also in meinem Sein auf ein anderes, das nicht meines ist, sondern Halt und Grund meines in sich haltlosen und grundlosen Seins. […] Grund und Urheber meines Seins, wie alles endlichen Seins, kann letztlich nur ein Sein sein, das nicht – wie alles menschliche Sein – ein empfangenes ist: es muß aus sich selbst sein; ein Sein, das nicht – wie alles, was einen Anfang hat – auch nicht sein kann, sondern notwendig ist.“22 Dieses notwendige, ewige Sein ist Gott. Zu dieser religiösen Grunderfahrung gehört nach Stein auch das feste Vertrauen, dass das Schicksal des Menschen, allen widrigen Erfahrungen zum Trotz, in einen göttlichen Plan eingebunden ist. In der Auffassung von Gott als Weltgrund treffen sich nach Stein der religiöse Glaube und das philosophische Denken. Ziel ihres Hauptwerks ist es daher auch, religiöse Gottsuche und philosophische Wahrheitssuche in einer „philosophia perennis“ zur Synthese zu bringen. Endliches und ewiges Sein. Im Unterschied zu Peter Wust, der sich mit der He-

rausstellung eines göttlichen Weltgrundes begnügt, ohne eine metaphysische Theorie dazu zu entwickeln, versucht Stein in ihrem Hauptwerk Endliches und ewiges Sein das Verhältnis von Welt und Gott, von realem Seiendem und transzendentem Seinsgrund metaphysisch zu begreifen. Dazu entwickelt sie eine Seinslehre, die auf das thomistische Schema „Potenz und Akt“ zurückgreift. Ihr Grundgedanke ist, dass die realen Dinge der Welt Verwirklichungen von (idealen) Wesenheiten sind. Die Wesenheiten sind ewig und unvergänglich, sie haben aber als solche bloß potentielles Sein, das jenseits von Raum und Zeit zu denken ist. Die verwirklichten Wesenheiten besitzen dagegen ein aktuelles Sein 22 E. Stein: Endliches und ewiges Sein, 3. Aufl. Freiburg-Basel-Wien 1986, S. 56f, 57.

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in Raum und Zeit, sie sind dafür aber endlich und vergänglich. Die Realisierung von Wesenheiten ist somit ein Übergang vom potentiell-ewigen zum aktuellendlichen Sein, oder kurz: von Potenz zu Akt. Die Ontologie von Potenz und Akt entwickelt Stein zu einer Theologie weiter, indem sie auf Gott zurückgreift, um die Kluft zwischen potentiellem und aktuellem Sein zu überbrücken. Gott ist das Urprinzip, das den Übergang vom ewigen zum endlichen Sein erklären soll. Dies bedeutet nach Stein, dass die endlichen, vergänglichen Dinge ihr flüchtiges Sein gleichsam von Gott geschenkt erhalten. Es ist also Gott, der für die Realisierung der ewigen Wesenheiten sorgt und die endlichen Dinge in ihrem vergänglichen Sein erhält. Damit gibt Stein der religiösen Grunderfahrung der Geborgenheit in Gott eine metaphysische Deutung. Gott ist die Macht, die die realen Dinge sozusagen aus dem Ozean der Möglichkeiten vorübergehend auftauchen lässt. Die endlichen Dinge sind stets nur „durch“ Gott. Da Gott als die verwirklichende Macht der ewigen Wesenheiten nicht nur den realen Dingen, sondern auch den Wesenheiten schon zugrunde liegt, muss Gott als „reiner Akt“ („actus purus“) verstanden werden. Wenngleich Stein Gott als „reinen Akt“ denkt, betont sie doch andererseits, dass der Mensch sich keine angemessene Vorstellung von Gott machen kann. Auch die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes liefert keine angemessene Vorstellung von Gott. Stein schließt sich vielmehr der scholastischen Lehre von der „analogia entis“ an, derzufolge nichts im gleichen Sinne von Gott und den endlichen Dingen ausgesagt werden kann. Gott kann danach nur in „Analogie“ zu endlichen Dingen und Attributen gedacht werden. Nur in einem analogen Sinne lässt sich der Mensch als „Ebenbild Gottes“ verstehen.23 Mystische Gottesschau. Edith Stein beschränkt sich in ihrem Hauptwerk aber

nicht auf eine thomistische Ontologie und Theologie, sondern sie bezieht auch die Mystik mit ein. Sie sieht in der Mystik nämlich eine die Metaphysik und den christlichen Glauben ergänzende, ja vollendende Erfahrung übernatürlicher Art. Ausgangspunkt ihrer Zuwendung zur Mystik ist die negative Theologie, also die an Augustinus und Dionysios anknüpfende Lehre, dass Gott nur negativ, durch Negation aller natürlichen Prädikate, vom Verstand gedacht werden kann. Jenseits des Verstandes gibt es aber noch die mystische Gottesschau, die der meditierende Mensch in seinem Innern erreichen kann. Der Weg zum mys23 Stein als Thomistin beleuchtet K. Wuchterl (1995) S. 353 ff.

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tischen Erleben24 beschreibt Stein vor allem im Anschluss an Johannes vom Kreuz. Es ist ein Weg, der zunächst zur Überwindung der natürlichen Antriebe und zur Abkehr von der äußeren Welt führt und der schließlich in einem Zustand der inneren Ruhe und des Schweigens mündet, in einem Bewusstseinszustand, der erfüllt ist von reiner Liebe zu Gott und der sich geborgen weiß in Gott. In diesem meditativen Zustand kann sich die mystische Gottesschau als Gnade ereignen: „Die mystische Begnadung gibt als Erfahrung, was der Glaube lehrt: die Einwohnung Gottes in der Seele. Wer, von der Glaubenswahrheit geleitet, Gott sucht, der wird sich in freiem Bemühen eben dahin aufmachen, wohin der mystisch Begnadete gezogen wird: sich […] zurückziehen in die leere Einsamkeit seines Inneren, um dort zu verweilen im dunklen Glauben – in einem schlichten liebenden Aufblick des Geistes zu dem verborgenen Gott, der verhüllt gegenwärtig ist. Hier wird er in tiefem Frieden – weil am Ort seiner Ruhe – verharren, bis es dem Herrn gefällt, den Glauben in Schauen zu verwandeln. Das ist […] der Aufstieg zum Berge Karmel, wie ihn unser heiliger Vater Johannes vom Kreuz gelehrt hat.“25 Wirkung. Bedingt durch die postume Veröffentlichung ihres Hauptwerks be-

gann die Wirkung von Edith Steins religiöser Philosophie erst in den 50er Jahren. Ihr tragisches Schicksal hat dazu geführt, dass Sie in der katholischen Öffentlichkeit als Zeugin des Glaubens zwar große Beachtung fand, dass aber ihr philosophisches Werk hinter ihrem Leben lange Zeit fast ganz zurücktrat. Doch in den letzten Jahren mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Auseinandersetzung mit ihrem Werk gerade erst beginnt. Würdigung. Edith hat betont, dass zu Metaphysik und Ontologie auch die letz-

ten metaphysisch-religiösen Fragen gehören. Anders als Heidegger hat sie die Frage nach dem Sinn des Seins eindeutig als eine metaphysisch-religiöse Frage gefasst. Während Stein damit die Bedeutung der Sinnfrage für ein philosophisches Weltbild herausgestellt hat, hat sie in ihren metaphysischen Lehren ihren christlichen Glauben vorausgesetzt. Ihre religiöse Philosophie stellt daher mit ihrer Auffassung von endlichem und ewigem Sein und der damit verknüpften Lehre von Potenz und Akt eine Erneuerung der scholastischen Vorstellung von Gott als Ursprung der (endlichen) Welt dar. Auch ihre Auffassung von mystischer Gotteserkenntnis steht in einer langen Tradition religiöser Metaphysik. Die Intention, die Stein mit diesen Lehren verfolgt, besteht aber weni-

24 Zu Steins Auffassung von Mystik vgl. H.-B. Gerl (1998) S. 166 ff, 178 ff. 25 E. Stein: Endliches und ewiges Sein, S. 407 f.

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ger darin, eine philosophische Begründung des christlichen Glaubens zu liefern, als vielmehr diesen vorausgesetzten Glauben philosophisch zu deuten. So gesehen wendet sich ihre christliche Metaphysik und Mystik an diejenigen, die den Schritt zum Glauben schon getan oder die mystische Gottesschau bereits erlebt haben. Rationale Argumente für die Wahrheit der religiösen Vorstellungen, die Echtheit des mystischen Erlebens oder für den Schritt in den Glauben sind damit jedoch nicht gegeben.

4. Karl Jaspers: Existenzphilosophie und Metaphysik der Transzendenz Existenzphilosoph und religiöser Metaphysiker. Karl Jaspers gilt neben Martin

Heidegger als der zweite Hauptvertreter der deutschen Existenzphilosophie. Doch während bei Heidegger die Analyse der existentiellen Situation des Menschen den Weg zur Frage nach dem Sinn von Sein weisen soll, ergeben sich metaphysische Fragen bei Jaspers schlicht als Konsequenz seines existenzphilosophischen Denkens.26 Ähnlich wie Buber, Wust und Stein stößt Jaspers zu metaphysisch-religiösen Fragen vor, doch behandelt er diese ohne Anbindung an einen bestimmten Glauben. Wenngleich Existenzphilosophie bei Jaspers in Metaphysik mündet, bedeutet dies bei ihm aber primär metaphysisches Philosophieren und nicht Schaffen eines metaphysischen Systems. In der Tradition Kants lehnt er nämlich metaphysische Lehren von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit ebenso ab wie ontologische Lehren vom Wesen und Grund der Welt. Trotz ihrer Unlösbarkeit hält Jaspers das Philosophieren über metaphysische Probleme aber für unverzichtbar und für das Gelingen menschlicher Existenz sogar für wesentlich. Als Metaphysiker ist Jaspers damit eine Art Grenzgänger, der in immer neuen Anläufen die Grenzen des Erkennens reflektiert und damit ein indirektes Licht auf den metaphysischen Bereich jenseits dieser Grenzen zu werfen versucht. Leben und Werk. Karl Jaspers wurde am 23. Februar 1883 in einer wohlhabenden,

liberalen Bankiersfamilie in Oldenburg geboren. 1901 begann er ein Studium der Jurisprudenz. Nachdem ein unheilbares Lungenleiden, das er durch eine sehr disziplinierte Lebensweise in den Griff bekam, diagnostiziert worden war, wechselte er im Jahr 1902 zum Studium der Medizin, zunächst nach Berlin, später

26 Zu Jaspers und zur Existenzphilosophie im Allgemeinen vgl. K. Wuchterl (1995) S. 404 ff.

Karl Jaspers: Existenzphilosophie und Metaphysik der Transzendenz 177

nach Göttingen und Heidelberg. 1908 promovierte er und war danach bis 1915 Assistent an der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg. Nach seiner Heirat mit Gertrud Mayer im Jahr 1910 habilitierte er sich mit der Schrift Allgemeine Psychopathologie (1913), die zum Standardwerk über Geisteskrankheiten wurde und ihm 1916 eine Professur für Psychologie in Heidelberg einbrachte. Mit seinem Werk Psychologie der Weltanschauungen (1919), das die Bedeutung der „Grenzsituationen“ für die Wahl einer Weltanschauung herausstellt und daher als erstes Werk der deutschen Existenzphilosophie gilt, vollzog er den Übergang zur Philosophie. Gegen den Widerstand des Neukantianers Rickert wurde Jaspers 1922 in Heidelberg zum Professor für Philosophie berufen. In den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gehörte er auch dem Heidelberger Kreis um Max Weber an, wo er unter anderem Max Scheler, Ernst Bloch und Georg Lukács kennen lernte. In dieser Zeit schloss er auch Freundschaft mit Heidegger, die freilich durch dessen späteres NS-Engagement schwer belastet wurde. Anfang der 30er Jahre veröffentlichte er seine kultur- und zeitkritische Bestandsaufnahme Die geistige Situation der Zeit (1931) und sein dreibändiges Hauptwerk Philosophie (1932), das die Themen Welt, Seele und Gott existenzphilosophisch aufrollt. Seine Auseinandersetzung mit der Seinsfrage entwickelte er später in seinem Werk Von der Wahrheit (1947) zur Lehre vom „Umgreifenden“ weiter. Eine wichtige Anwendung seines existenzphilosophischen Denkens auf die Religion enthält die Schrift Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962). In der NS-Zeit war Jaspers Repressalien ausgesetzt und ab 1938 mit Publikationsverbot belegt. Während der Kriegsjahre lebten er und seine jüdische Frau in ständiger Angst vor Verhaftung. Vermutlich wurde die Deportation nur durch den Einmarsch der Amerikaner verhindert. Nach dem Krieg engagierte sich Jaspers am Wiederaufbau der Universität Heidelberg, setzte sich in Vorlesungen und Schriften mit der NS-Vergangenheit auseinander und bemühte sich um Breitenwirkung durch Radiovorträge und populär gefasste Einführungsschriften. Enttäuscht von der deutschen Nachkriegsentwicklung nahm er 1948 einen Ruf nach Basel an. Von hier aus beobachtete und analysierte er die neue weltpolitische Situation, vor allem in der Schrift Die Atombombe und die Zukunft des

Karl Jaspers (1883–1969) Existenzphilosoph und Vertreter eines metaphysisch-religiösen Denkens

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Menschen (1958), und kommentierte kritisch die politische Entwicklung in der Bundesrepublik. Als politisch-moralisch engagierter Philosoph und als Repräsentant des „anderen“ Deutschland genoss er großes Ansehen und erhielt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, so 1957 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Jaspers starb in Basel am 26. Februar 1969. Philosophische Weltorientierung. Die Frage nach dem Sein ist die Leitfrage der „philosophischen Weltorientierung“, die Jaspers im ersten Band seines Hauptwerks Philosophie (1932) unternimmt. Um zu klären, ob und wie weit eine Erkenntnis der Wirklichkeit möglich ist, befragt Jaspers die Wissenschaften. Philosophische Weltorientierung wird damit zu einer Grenzziehung wissenschaftlicher Erkenntnis. Ein Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis sieht Jaspers darin, dass die Wissenschaften stets zu neuen Erkenntnissen über die Welt fortschreiten, aber die Welt als Ganze niemals erfassen können. Verfehlt sind daher nach Jaspers „geschlossene“ Weltanschauungen wie der Positivismus und der Idealismus, die das Grundwissen von der Welt für abgeschlossen oder abschließbar halten. „Philosophische Weltorientierung faßt nicht letzte Ergebnisse der Wissenschaften zu einem einheitlichen Weltbild zusammen, sondern zeigt die Unmöglichkeit eines solchen gültigen Weltbildes als des einen und absoluten; sie sucht die Fragwürdigkeiten der faktischen Weltorientierung.“27 Ein philosophisches Weltbild muss also „offen“ sein, um neue Erkenntnisse einbauen zu können. Hier wie auch sonst gilt es Dogmen zu vermeiden.28 Ein weiteres Merkmal der wissenschaftlichen Welterkenntnis sieht Jaspers darin, dass die Wissenschaften zu einer Unterscheidung verschiedener Wirklichkeits- oder Seinsbereiche gelangen, die sie nicht aufheben können. In Anknüpfung an N. Hartmanns Schichtenlehre vertritt Jaspers die Auffassung, dass die objektive Realität eine aufeinander aufbauende Schichtenordnung von Materie, Leben, Seele und Geist ist, wobei die tieferen Schichten die Daseinsvoraussetzungen der höheren Schichten sind, aber jeweils neue, irreduzible Gesetzlichkeiten aufweisen. „Versuchen wir die vier Welten gemeinsam zu denken, so denken wir nur in Analogien (Leben als Mechanismus, Geist als Leben, menschliche Gesellschaft als Organismus), die sich bei näherem Studium wieder auflösen. Es gibt keine erkenntnismäßig fruchtbare umfassende Theorie der Welt

27 K. Jaspers, Philosophie I. Philosophische Weltorientierung, 4. Aufl. Berlin-Heidelberg-New York 1973, S. 29 f. 28 Zu Jaspers’ antidogmatischem Denken vgl. K. Salamun (1985) S. 25 ff.

Karl Jaspers: Existenzphilosophie und Metaphysik der Transzendenz 179

überhaupt.“29 Im Unterschied zu Hartmann deutet Jaspers die Schichtung der Realität aber epistemologisch als bloße Erkenntnisgrenzen. Nach seiner Ansicht sind die Wissenschaften nur nicht in der Lage, die vierfache Gliederung der Wirklichkeit auf das ihr zugrunde liegende einheitliche Sein zu überschreiten. In diesem Sinne erreichen Wissenschaften keine Seinserkenntnis. Für die von ihm herausgestellten Grenzen der Wissenschaften gibt Jaspers eine transzendentalphilosophische Erklärung im Sinne Kants. Danach können die Wissenschaften nicht zum absoluten Sein vorstoßen, weil sie es stets mit der objektiven („gegenständlichen“) Welt zu tun haben, alles objektive Sein aber stets durch ein erkennendes Subjekt bedingt ist. Diese „Subjekt-Objekt-Spaltung“ aller Erkenntnis bedeutet nach Jaspers, dass die Welt als Objekt nicht das absolute Sein ist. Wie menschliche Erkenntnis überhaupt kann auch wissenschaftliche Erkenntnis wegen dieser unaufhebbaren Subjektbedingtheit nicht zum An-sich-Sein vordringen. Die Erhellung von Existenz und Freiheit. Die Herausarbeitung der Subjekt-Ob-

jekt-Spaltung macht nach Jaspers nicht nur eine Erkenntnis der Wirklichkeit an sich unmöglich, sondern entzieht zugleich das Subjekt dem erkennenden Zugriff. Im zweiten Band seines Hauptwerks, der „Existenzerhellung“, versucht Jaspers daher das Subjekt philosophisch zu „erhellen“. Jaspers unterscheidet verschiedene Formen des Ich. Zunächst gibt es das empirische Ich, das als lebender Körper und als erlebendes Bewusstsein den Forschungen der Biologie, Medizin und Psychologie zugänglich ist. Sodann gibt es das erkennende Ich, das bei aller Objekterkenntnis vorausgesetzt wird. Dieses Erkenntnissubjekt, das Jaspers im Anschluss an Kant auch als „Bewusstsein überhaupt“ bezeichnet, ist das notwendige Gegenstück der Welt als Objekt und kann daher selbst niemals in objektivierender Form erfasst werden. Ebenfalls jeder rationalen Erkenntnis unzugänglich ist die „Existenz“ des Menschen, womit Jaspers den inneren Kern der Person meint, der sich vor allem im freien Handeln zeigt. „Existenz“ ist also kein feststehender Wesenskern des Menschen, sondern vielmehr so etwas wie die Möglichkeit freier Selbstverwirklichung. Gerade weil der Mensch nicht durch natürliche Anlagen und Umstände festgelegt ist, sondern sich selbst in der Kommunikation mit anderen zu dem macht, was er ist (oder wird), hat die Existenzphilosophie einen stark appellativen Ton.30

29 K. Jaspers, Philosophische Weltorientierung, S. 107. 30 Ein Vergleich zwischen Jaspers und Buber hinsichtlich Kommunikation und Dialog findet sich bei K. Salamun (1985) S. 84 f.

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Ein zentrales Stück von Jaspers’ Existenzerhellung befasst sich mit der menschlichen Freiheit. Dabei geht es ihm vor allem darum, ein ursprüngliches Verständnis von Freiheit aufzuweisen, das sich nicht durch Begriffe des Verstandes umschreiben oder definieren lässt. Ähnlich wie Bergson weist Jaspers auch die herkömmliche Auffassung zurück, als stelle sich das Problem der Willensfreiheit in Form der Alternative von Determinismus und Indeterminismus. Nach seiner Ansicht ist die mit dem Determinismus verträgliche Auffassung von Freiheit als bloßer Handlungsfreiheit ebenso verfehlt wie die indeterministische Auffassung von Freiheit als Ursachlosigkeit. In beiden Fällen wird Freiheit (bzw. Unfreiheit) nämlich mit Hilfe des „objektiven“ Begriffs der Ursache gedacht. „In jedem Fall aber führen Determinismus und Indeterminismus auf eine falsche Ebene. Sie machen existentiellen Ursprung abhängig. Der eine macht die Freiheit fälschlich objektiv und hebt sie, trotzdem er sie sie als bestehend behauptet, grade damit auf […] Der andere verneint sie, aber trifft nicht sie, sondern ein gegenständliches Phantom. Beide haben unrecht, weil sie, das objektive Sein für alles Sein haltend, der Freiheit verlustig gehen.“31 Die ursprüngliche Freiheit des Menschen lässt sich nach Jaspers gerade nicht begrifflich fixieren, sondern sie kann nur im Vollzug freien Handelns erlebt und in philosophischer Reflexion erhellt werden. Jaspers sieht dieses Freiheitsverständnis ganz im Einklang mit Kants Auffassung, dass der Mensch als freies Wesen nicht zur Erscheinungswelt gehört. Metaphysik der Transzendenz. Im dritten Buch seines Hauptwerks, der „Meta-

physik“, fragt Jaspers nach der Transzendenz. Darunter versteht er, traditionell gesprochen, den göttlichen Seinsgrund der Welt, der sich rationaler Erkenntnis entzieht. Existenz, Freiheit und An-sich-Sein der Welt sind von diesem letzten oder höchsten Sein abhängig. Indem Jaspers Transzendenz als das „ganz andere“ Sein fasst, das allen Besonderungen und Gegensätzen der Welt, insbesondere auch der Subjekt-Objekt-Spaltung, zugrunde liegt, hat das transzendente Sein Ähnlichkeit mit dem „Einen“ Plotins. Zugleich versteht Jaspers Transzendenz als Gott oder göttliches Sein, das der tragende, sinnstiftende Grund der Welt und des Lebens ist. „Existenz […] ist das unüberwindbare, weil unendliche Ungenügen, das eines ist mit dem Suchen der Transzendenz. Existenz ist nur in bezug auf Transzendenz oder gar nicht.“32 Im Einklang mit Wust und Stein, aber im Gegensatz zu Sartre ist Jaspers somit der Ansicht, dass gerade der „exis31

K. Jaspers: Philosophie II. Existenzerhellung, 4. Aufl. Berlin-Heidelberg-New York 1973, S. 170. 32 K. Jaspers: Philosophie III. Metaphysik, 4. Aufl. Berlin-Heidelberg-New York 1973, S. 6.

Karl Jaspers: Existenzphilosophie und Metaphysik der Transzendenz 181

tierende“ Mensch, der sich zum eigentlichen Sein und freier Selbstverwirklichung erhebt, sich als „geschenkt“ von einem Absoluten erlebt. „Wo ich eigentlich ich selbst bin, bin ich gewiß, dass ich es nicht durch mich selbst bin. Die höchste Freiheit weiß sich in der Freiheit von der Welt zugleich als tiefste Gebundenheit an Transzendenz.“33 Jaspers beschreibt verschiedene Wege, wie der Mensch sich zum transzendenten Sein erheben und eine Ahnung vom göttlichen Weltgrund erreichen kann. Dazu gehört zunächst das formale (oder gedankliche) Transzendieren aller weltlichen Dinge. Dies wird wie in der negativen Theologie dadurch erreicht, dass die Kategorien des Verstandes als untauglich zur Erfassung des transzendenten Seins eingesehen werden. Das Denken überschreitet damit die Welt, aber nur insofern, als negative Aussagen über den Seinsgrund gemacht werden. Sodann gibt es nach Jaspers verschiedene existenzielle Bezüge zur Transzendenz. So findet er etwa in Trotz und Auflehnung gegen den ungerechten, sinnwidrigen Lauf der Dinge eine implizite Bezugnahme auf eine göttliche oder absolute Gerechtigkeit. Eine weitere Form des Erhebens zum Absoluten findet Jaspers im Lesen der „Chiffren“ der Transzendenz. Chiffren sind sinnlich gegebene Zeichen, die auf ein verborgenes Transzendentes verweisen. Nach Jaspers können alle Dinge und Erfahrungen des Menschen in der Welt zu Chiffren der Transzendenz werden, und zwar dann, wenn in ihnen die Nichtigkeit der endlichen Welt erlebt wird und etwas Transzendentes in ihnen aufleuchtet. Eine besondere Bedeutung als Chiffre hat nach Jaspers das unvermeidliche Scheitern des Menschen in seinen weltlichen Bestrebungen. Weil alles Leben und alle Lebenspläne letztlich durch den Tod durchkreuzt werden, leuchtet im Scheitern die Ahnung eines transzendenten, vollkommenen Seins auf, wo alles Streben nach Sinn und Glück erfüllt werden kann. Neben existenziellen Erfahrungen können auch metaphysische Theorien zu Chiffren der Transzendenz werden. Damit weist Jaspers der traditionellen Metaphysik mit ihren Lehren vom Wesen und Ursprung der Welt eine existenzphilosophische Funktion zu. Entscheidend sind gar nicht die inhaltlichen Lehren mit ihrem Wahrheitsanspruch, sondern metaphysische Theorien werden zu Vehikeln des metaphysischen Denkens, mit deren Hilfe sich das Transzendieren der Welt gedanklich vollziehen und eine Ahnung vom absoluten Seinsgrund erreichen lässt. Metaphysische Theorien werden daher verwendet, um in ihnen die Transzendenz zu hören. „Durch Metaphysik hören wir das Umgreifende der 33

K. Jaspers: Einführung in die Philosophie, München 1971, S. 36.

182 Metaphysik der Transzendenz

Transzendenz. Wir verstehen diese Metaphysik als Chiffrenschrift.“34 Diese Auffassung von Metaphysik hat damit eine Ähnlichkeit mit der Mystik, die dem Menschen einen Weg zum eigenen Erleben und Schauen Gottes weist. Jaspers versucht damit genau das philosophierend zu erhellen, was Wittgenstein schlicht mit Schweigen belegt.35 Philosophischer Glaube. Auch Mythen und Religionen bieten nach Jaspers grundsätzlich Möglichkeiten, die Welt zu transzendieren und Gott zu erahnen. Aber beide sind in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt, Chiffren als Begriffe und bloß bildliche Umschreibungen als „leibhaftige“ Aussagen misszuverstehen. „Unser wahres Verhalten zu Gott hat seinen tiefsten Ausdruck in folgenden Sätzen der Bibel gefunden: Du sollst dir kein Bildnis und Gleichnis machen. […] Kein Gleichnis kann ihm entsprechen und keines darf sich an seine Stelle setzen. Alle Gleichnisse ohne Ausnahme sind Mythen, als solche sinnvoll im verschwindenden Charakter bloßen Gleichnisseins, jedoch Aberglauben, wenn sie für die Realität Gottes selbst genommen werden.“36 Die meisten Religionen leiden darüber hinaus an dem Grundgebrechen, dass sie ihre Lehren als durch Offenbarung gesicherte Dogmen ausgeben, also mit einem Absolutheits- und Ausschließlichkeitsanspruch aufzutreten. Aber indem religiöse Ideen in den Offenbarungsreligionen zu Dogmen werden, gehen sie nicht nur über die Erkenntnisgrenzen hinaus, sondern sie bekommen in der gesellschaftlichen Realität häufig einen autoritären, ja totalitären Charakter. Der „philosophische Glaube“ ist dagegen nach Jaspers von Dogmen und festen Lehren völlig frei, er besteht nämlich lediglich in dem Vertrauen auf die Existenz Gottes als des tragenden, sinngebenden Seinsgrundes, also in einer religiösen Haltung, die von einem ursprünglichen Gottvertrauen getragen ist, aber auf alle festen Vorstellungen von Gott verzichtet. Philosophischer Glaube ist damit der gemeinsame Boden aller konfessionellen Glaubensformen.37 Die Lehre vom Umgreifenden. In seinem Werk Von der Wahrheit (1947) hat Jas-

pers seiner Auseinandersetzung mit der Seinsfrage eine andere systematische Form gegeben. War vorher vom Transzendieren als philosophischem Denkpro-

34 K. Jaspers: Einführung in die Philosophie, S. 29. 35 Zu Jaspers’ Verhältnis zur Mystik vgl. W. Stegmüller (1969) S. 238ff; zum Vergleich von Jaspers und Wittgenstein vgl. K. Salamun (1985) S. 31 ff. 36 K. Jaspers: Einführung in die Philosophie, S. 38 f. 37 Zu Jaspers (ambivalenter) Einstellung zur Religion vgl. K. Wuchterl (1995) S. 414ff und H. Saner (1970) S. 119 f.

Karl Jaspers: Existenzphilosophie und Metaphysik der Transzendenz 183

zess die Rede, so treten nun in der Lehre vom „Umgreifenden“ das Sein und seine Formen selbst mehr in den Vordergrund. Der Grundgedanke von Jaspers ist, dass das Sein an sich (oder als Ganzes) weder Subjekt noch Objekt ist, sondern der Subjekt-Objekt-Spaltung vorausliegt und diese gleichsam „umgreift“. So gesehen ist das Umgreifende zunächst ein anderer Name für das Sein an sich. Als das der objektiven Welt zugrunde liegende Sein kann das Umgreifende niemals Objekt des Denkens und der Erkenntnis werden, sondern es kann durch philosophische Reflexionen nur indirekt vergegenwärtigt und „erhellt“ werden. „Vom Umgreifenden philosophieren, das würde bedeuten, einzudringen in das Sein selbst. Dies kann nur indirekt geschehen. Denn indem wir sprechen, denken wir in Gegenständen. Wir müssen durch gegenständliches Denken die Zeiger auf das Ungegenständliche des Umgreifenden gewinnen.“38 Indem Jaspers das Sein an sich in verschiedener Weise zu erhellen versucht, gelangt er schließlich zu einigen ontologischen Grundthesen, die das Grundgerüst seiner sehr abstrakten, fast formalen Ontologie des Umgreifenden ausmachen, der so genannten „Periechontologie“ (nach griech. „to periechon“ = umgreifen). Obgleich das Umgreifende als das Sein an sich hinter allen besonderen Seinsformen steht, lässt es sich durch das gedankliche Transzendieren der objektiven Welt nach Jaspers doch indirekt in Blick bekommen. Je nach der Art, wie dieses Transzendieren unternommen wird, wird das umgreifende Sein in verschiedenen Formen sichtbar. Sofern der Mensch sich mit seinem Verstand auf die objektive Welt richtet und über sie hinausgeht, erscheinen Bewusstsein überhaupt und das Sein an sich als Formen des Umgreifenden; werden die Dinge der Welt dagegen als Chiffren der Transzendenz gelesen, kommen Existenz und Transzendenz (Gott) als Formen des Umgreifenden in den Blick.39 Wichtig ist in diesem Kontext vor allem, dass Jaspers der Transzendenz eine herausgehobene Stellung als höchstes oder letztes Umgreifendes zuspricht und sie daher auch als das „Umgreifende alles Umgreifenden“ bezeichnet. In der Lehre vom Umgreifenden hat Jaspers seinem existenzphilosophischen Denken vor allem eine neue, ontologische Form gegeben. Eine ganz neue Idee trägt er aber vor, wenn er die Vernunft als das „Band“ aller Weisen des Umgreifenden versteht und der Vernunft damit einen Vorrang vor der Existenz einräumt. In dieser Akzentverschiebung von der Existenz zur Vernunft spiegelt sich eine Wandlung von Jaspers’ Philosophie. Stand ursprünglich das einsame, freie Individuum im Zentrum seiner Philosophie, so betont er später immer 38 K. Jaspers: Einführung in die Philosophie, S. 27. 39 Eine genauere Darstellung der Weisen des Umgreifenden findet sich bei W. Stegmüller (1969) S. 212 ff.

184 Metaphysik der Transzendenz

mehr die Bedeutung von Kommunikation und Intersubjektivität. Daher will der späte Jaspers seine Philosophie nicht mehr als Existenzphilosophie, sondern vielmehr als Vernunftphilosophie verstanden wissen. Wirkung. Jaspers’ Existenzphilosophie hat, wie die hohen Auflagen seiner Bü-

cher und seine Medienpräsenz in den 50er und 60er Jahren zeigen, eine beträchtliche Breitenwirkung gehabt und das philosophische Denken in Deutschland, Frankreich und Italien, aber auch in den USA und in Japan stark beeinflusst. Dies gilt besonders für die Diskussionen in Anthropologie, Psychologie, Geschichts- und Religionsphilosophie. Als Metaphysiker der Transzendenz ist sein Einfluss auch in der Theologie zu spüren. Auf dem Höhepunkt seines Einflusses erschien 1957 in den USA ein „Schilpp-Band“ über seine Philosophie. In Deutschland geriet Jaspers freilich immer mehr in den Schatten von Heidegger. Anders als Heidegger hat Jaspers nicht schulbildend gewirkt und auch keine namhaften Schüler oder Nachfolger gehabt. Auch prominente Vertreter der Existenzphilosophie wie Sartre und Camus orientierten sich mehr an Heidegger als an Jaspers. Würdigung. Die Bedeutung von Jaspers für die moderne Metaphysik liegt vor

allem darin, dass er die unverzichtbare Rolle des metaphysisch-religiösen Denkens für die philosophisch-existentielle Weltorientierung herausgestellt hat. Das philosophische Denken bleibt unvollständig, wenn es sich nicht mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat. Zugleich ist Jaspers’ Philosophie wegen ihres antidogmatischen Charakters besonders dazu geeignet, das intellektuelle Gewissen für die Illusionen und Gefahren dogmatischen Denkens zu sensibilisieren. Seine Metaphysik der Transzendenz ist von dem Bemühen getragen, die Philosophie für einen philosophischen Glauben offen zu halten, aber sich dem „Sprung“ in einen bestimmten Glauben zu versagen. Von Jaspers geht daher eine große Ermutigung zum metaphysischen Denken aus. Die Schwierigkeiten von Jaspers’ Metaphysik hängen vor allem damit zusammen, dass er einerseits die Unlösbarkeit metaphysischer Fragen behauptet, aber andererseits doch metaphysische Thesen vertritt. Dies zeigt sich besonders an seinem an Kant orientierten Versuch, die Grenzen menschlicher Erkenntnis zu bestimmen.40 Indem er die Grenzen der Wissenschaften mit den Grenzen der Rationalität zusammen fallen lässt, aber gleichwohl ständig über diese Grenzen philosophierend hinausgeht, verzichtet er darauf, sein eigenes Denken als 40 Zur Kritik an Jaspers’ enger Anlehnung an Kants Erkenntnistheorie vgl. W. Stegmüller (1969) S. 233 ff.

Karl Jaspers: Existenzphilosophie und Metaphysik der Transzendenz 185

eine rationale Erkenntnisbemühung zu verstehen. Doch diese Preisgabe der Rationalität erscheint problematisch. Denn selbst wenn die metaphysischen Fragen sich „letztlich“ als unlösbar herausstellen sollten, bedeutet dies doch nicht, dass sie damit rationaler Analyse und Diskussion gänzlich unzugänglich wären. Eine fragwürdige Folge von Jaspers’ Irrationalismus besteht darin, dass er die fehlende begriffliche Präzision und Klarheit geradezu als unvermeidliches Kennzeichen seiner Art des Philosophierens zu betrachten scheint.41

41

Zur Kritik an Japsers’ Auffassung des schwebenden, sich auch begrifflich nicht festlegenden Philosophierens vgl. K. Salamun (1985) S. 14f, 41 ff.

VII. Sprachanalytische Metaphysikkritik

Eine besondere Rolle in der Entwicklung der modernen Metaphysik spielte der scharfe Angriff, der von Wittgenstein und dem Wiener Kreis auf die Metaphysik geführt wurde. In Anknüpfung an die Metaphysikkritik des klassischen Positivismus von Hume bis Mach wurde Metaphysik zunächst als grundsätzlich verfehltes, unwissenschaftliches Unternehmen attackiert. Doch im Rückgriff auf die moderne Logik und Semantik wurde daraus schließlich eine sprachanalytische Metaphysikkritik, die in der These von der „Sinnlosigkeit der Metaphysik“ provokativ zugespitzt wurde. Metaphysisches Denken sollte danach nicht bloß illusionär und nutzlos sein, sondern metaphysische Sätze sollten sich bei genauerer logischer Analyse als Sätze ohne Sinn und Bedeutung erweisen. Durch die logische Analyse der Sprache sollte das Ende der Metaphysik eingeläutet werden. Diese Kritik richtete sich zwar pauschal gegen Metaphysik, doch galt ihre Attacke in erster Linie der traditionellen Metaphysik, die apriorische Erkenntnisse über Welt, Gott und Mensch zu liefern beansprucht. Ontologie im Sinne einer philosophischen Klärung der grundlegenden Annahmen über die Welt, die von den empirischen Wissenschaften vorausgesetzt werden, wurde dagegen keineswegs völlig abgelehnt.

Bertrand Russell (1872–1970) Begründer der logischen Analyse der Sprache und Vertreter des logischen Atomismus

Bertrand Russell: Sprachanalyse und Ontologie 187

Ausgangspunkt der sprachanalytischen Metaphysikkritik war die von Bertrand Russell begründete Methode der logischen Analyse der Sprache und die von ihm begonnene Untersuchung der ontologischen Voraussetzungen von Sprache und Logik. In Anknüpfung an Russell hat der frühe Ludwig Wittgenstein eine Sprachtheorie mit radikalen metaphysikkritischen Konsequenzen entwickelt. Rudolf Carnap hat diese Konsequenzen weiter entfaltet, indem er nicht nur traditionelle Probleme der Philosophie als bloße „Scheinprobleme“ herauszustellen versuchte, sondern auch das Programm der „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ formulierte. Eine radikale Metaphysikkritik, die auch jede Form von Ontologie preisgibt, hat der späte Wittgenstein in seiner Philosophie der Alltagssprache entwickelt.

1. Bertrand Russell: Sprachanalyse und Ontologie Logiker und Sprachanalytiker. Russell war nicht nur maßgeblich an der Ent-

wicklung der modernen mathematischen Logik beteiligt, sondern er hat auch als Erster das neue logische Instrumentarium zur Analyse der Sprache verwendet. Damit wurde er zum Wegbereiter des „linguistic turn“, also der Hinwendung der Philosophie zur Sprache als ihrem zentralen Thema. Zugleich begründete Russell damit die enge Verknüpfung der empiristischen Tradition mit moderner Logik, die vom Wiener Kreis programmatisch als „logischer Empirismus“ ausgesprochen wurde. Als Empirist lehnte Russell die traditionelle Metaphysik ab und benutzte die logische Analyse auch zur Kritik metaphysischer Thesen. Gleichwohl ist seine Stellung zur Metaphysik keineswegs nur negativ-kritisch. Seine Beschäftigung mit Logik und Sprache führte ihn auch zu der ontologischen Frage, welche Art von Wirklichkeit die Logik und eine logisch adäquate Sprache voraussetzen. Darüber hinaus vertrat Russell eine eigene Position zum Leib-SeeleProblem. Leben und Werk. Bertrand Russell wurde am 18. Mai 1872 in einer Familie des

Whig-Adels in Trelleck (Wales) geboren. Sein Großvater war Premierminister, sein Patenonkel war John Stuart Mill. Russell erhielt Privatunterricht und eine streng religiöse Erziehung, gegen die er früh rebellierte. Ab 1890 studierte er Mathematik und Philosophie in Cambridge, unter anderem bei Whitehead. Von 1895 bis 1901 und von 1910 bis 1916 war er Dozent in Cambridge. In dieser Zeit veröffentlichte er das Buch Principles of Mathematics (1903) und den bahnbrechenden Aufsatz On Denoting (1905; dt. Über das Kennzeichnen, 1971), worin

188 Sprachanalytische Metaphysikkritik

er die Methode der logischen Analyse auf die Sprache anwendet. In Kooperation mit Whitehead entstand das dreibändige Grundlagenwerk Principia Mathematica (1910–13). Im Jahr 1916 verlor Russell wegen Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung seine Stelle und musste deswegen auch ein halbes Jahr ins Gefängnis. Danach war er zwei Jahrzehnte lang ohne reguläre universitäre Anstellung, nahm aber zahlreiche Gastprofessuren in den USA und in China wahr. In dieser Zeit entwickelte er in Vorlesungen seine Philosophie des „logischen Atomismus“ und veröffentlichte die für seine Ontologie zentralen Werke The Analysis of Mind (1921; dt. Die Analyse des Geistes, 1927) und The Analysis of Matter (1926; dt. Philosophie der Materie, 1929). 1939 erhielt Russell schließlich eine ordentliche Professur in Los Angeles, doch ging er 1944 nach Cambridge zurück. Er publizierte weitere Werke zur Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie sowie sein sehr erfolgreiches Buch A History of Western Philosophy (1948; dt. Philosophie des Abendlandes, 1950). Im Jahr 1950 erhielt er für seine Schrift Marriage and Morals (1929; dt. Ehe und Moral, 1951) den Nobelpreis für Literatur. In den 50er und 60er Jahren engagierte er sich für Frieden und atomare Abrüstung. Einen Rückblick auf seine Denkwege gab er in dem Buch My Philosophical Development (1959; dt. Die Entwicklung meines Denkens, 1973) und die Geschichte seines langen, ereignisreichen Lebens, in dessen Verlauf er viermal verheiratet war, erzählte er zuletzt in seiner dreibändigen Autobiography (1967–69; dt. Autobiographie, 1967–71). Russell starb am 2. Februar 1970 in Plas Penrhyn (Wales). Mathematische Logik und logische Analyse der Sprache. Russells frühe Phase

stand ganz im Zeichen von Mathematik und Logik. Wie Frege vertrat er den „Logizismus“, d. h. die programmatische Auffassung, dass die Mathematik sich vollständig auf rein logische Grundsätze zurückführen lässt. Die entscheidende Wende in dieser frühen Phase erfolgte, als er in den Grundlagen der Mengenlehre Paradoxien entdeckte, die mit dem Begriff der „Menge aller Mengen“ zusammenhängen. Worum es bei diesen Paradoxien geht, lässt sich an einem klassischen Beispiel verdeutlichen: Wenn der Kreter Epimenides sagt „Alle Kreter lügen“, dann ist diese Aussage paradox, insofern sie sich auch auf sich selbst bezieht. Paradoxien haben es also mit einer Form von „Selbstbezüglichkeit“ sprachlicher Ausdrücke zu tun. Die Entdeckung der Paradoxien in der Mengenlehre führte Russell zur Entwicklung der so genannten „Typentheorie“. „Gewisse Widersprüche – deren einfachster und ältester der über Epimenides den Kreter ist, der sagte, daß alle Kreter lügen, was auf den Mann reduziert werden kann, der sagt ‚Ich lüge‘ – überzeugten mich, nachdem ich fünf Jahre hauptsächlich dieser einen Frage gewidmet hatte, daß keine Lösung ohne die Typentheorie technisch

Bertrand Russell: Sprachanalyse und Ontologie 189

möglich ist.“ Diese Theorie unterscheidet zwischen verschiedenen logischen Typen (oder Ebenen) wie Individuen, Mengen von Individuen und Mengen von Mengen und verbietet es, eine Gesamtheit als Element ihrer selbst zu fassen. Die Bildung paradoxer selbstbezüglicher Ausdrücke wird damit als logisch unzulässig ausgeschlossen. Das Musterbeispiel einer logischen Analyse der Alltagssprache lieferte Russell in seinem Aufsatz Über das Kennzeichnen (1905). Gegenstand seiner Überlegungen sind so genannte „Kennzeichnungen“, d. h. sprachliche Ausdrücke wie „der gegenwärtige Schachweltmeister“ oder „der gegenwärtige König von Deutschland“, mit denen man sich auf eine bestimmte Person bezieht. Da der zweiten Kennzeichnung aber kein wirklicher Gegenstand entspricht, droht eine logische Paradoxie. Denn was man auch immer von „dem gegenwärtigen König von Deutschland“ aussagen mag, z. B. dass er Philosoph ist oder kein Philosoph ist, ist falsch. Wenn nun aber sowohl der bejahte als auch der verneinte Satz falsch ist, dann liegt ein Verstoß gegen den logischen Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch vor. Russell schlägt ein Verfahren vor, um Sätzen wie „der gegenwärtige König von Deutschland ist Philosoph“ eine adäquate logische Form zu geben. Ausgangspunkt ist die einfache Einsicht, dass dieser Satz und seine Verneinung eine gemeinsame falsche Voraussetzung haben, nämlich die Existenz eines gegenwärtigen deutschen Königs. Das logische Verfahren Russells besteht nun darin, die Voraussetzung eines solchen Satzes zum Inhalt der Satzaussage zu machen. In der logisch korrekten Form muss der Satz nach Russell lauten: „Ein (und nur ein) Gegenstand ist König von Deutschland und dieser Gegenstand ist Philosoph.“ In diesem Satz ist der Ausdruck „der gegenwärtige König von Deutschland“, der in der alltagssprachlichen Formulierung grammatisches Subjekt ist, zu einem Teil der Satzaussage geworden. Für diesen logisch präzisierten Satz gilt nun wieder der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch: Entweder dieser Satz oder seine Verneinung ist wahr. Die philosophische Bedeutung von Russells Analyse liegt vor allem in dem Nachweis, dass die grammatische Form der Alltagssprache sich nicht mit ihrer logischen Form decken muss. Das grammatische Subjekt muss nicht logisches Subjekt sein.

  

B. Russell: Der logische Atomismus. In: Philosophische und politische Aufsätze, hg. von U. Steinvorth, Stuttgart 1971, S. 37. Zu Russells Typentheorie vgl. A. J. Ayer (1973) S. 43ff; A. Newen / E. v. Savigny (1996) S. 49 ff. Zu Russells Theorie der Kennzeichnungen vgl. A. J. Ayer (1973) S. 48ff; A. Newen / E. v. Savigny (1996) S. 62 ff.

190 Sprachanalytische Metaphysikkritik

Logischer Atomismus als Ontologie der Logik. Die enge Verknüpfung von Lo-

gik und Ontologie hatte Russell bereits in seinen 1898 gehaltenen Vorlesungen über Leibniz herausgestellt. Darin machte er die traditionelle, auf Aristoteles zurückgehende Subjekt-Prädikat-Logik für das Vorherrschen der Substanzmetaphysik in der westlichen Philosophiegeschichte verantwortlich. Nun hat sich die traditionelle Logik nach Russell jedoch als unvollständig herausgestellt. Hinzu gekommen sind vor allem die Aussagenlogik und die Logik der Relationen. Durch weitere Überlegungen, die durch Diskussionen mit seinem Schüler Ludwig Wittgenstein mitbestimmt wurden, entwickelte Russell eine neue, logisch fundierte Sicht von Sprache und Wirklichkeit. Ihr Grundgedanke ist, dass die Wirklichkeit in atomaren und molekularen Aussagen abgebildet wird. Molekulare Aussagen bestehen aus mehreren atomaren Aussagen, die durch logische Zeichen („Junktoren“) wie „und“, „oder“, „wenn-dann“ verknüpft sind. Atomare Aussagen bestehen dagegen aus Eigennamen und einfachen Prädikaten wie „ist schwer“ oder Beziehungsausdrücken wie „ist größer als“. Die Eigennamen in atomaren Aussagen sind aber nicht die Eigennamen der Alltagssprache wie „Sokrates“. Diese sind vielmehr Abkürzungen für Kennzeichnungen wie „die Person, die den Schierlingsbecher trank“ oder „der Lehrer Platons“. Logischer Eigenname ist nach Russell nur das Demonstrativpronomen „dies“ oder „dieses“, mit dem ein Sprecher sich in einer konkreten Situation auf einen (wahrgenommenen) Gegenstand bezieht. Eigennamen, Prädikate und Beziehungsausdrücke sind nach Russell die Bestandteile eines atomaren Satzes. Damit ein atomarer Satz Bild der Wirklichkeit sein kann, muss seinen Bestandteilen jeweils etwas in der Wirklichkeit entsprechen. Die von der Logik vorausgesetzte Ontologie besteht daher aus Individuen, Eigenschaften und Relationen. Da diese Elemente sich als Ergebnis einer logischen Analyse ergeben, sind sie „logische Atome“. „Ich nenne meine Theorie logischen Atomismus, weil die Atome, zu denen ich als den letzten unzerlegbaren Bestandteilen bei der Analyse kommen möchte, nicht physikalische, sondern logische Atome sind. Von diesen Atomen sind die einen die Dinge, die ich Individuen nenne – kleine Farbflecke, Töne, kurzlebige Dinge – die anderen die Prädikate, Relationen etc. Der springende Punkt ist, daß die Atome, zu denen ich kommen möchte, Atome der logischen, nicht der physikalischen Analyse sind.“ 

B. Russell: Philosophie des logischen Atomismus. In: Die Philosophie des logischen Atomismus. Aufsätze zur Logik und Erkenntnistheorie 1908–1928, ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von J. Sinnreich, München 1976, S. 179.

Bertrand Russell: Sprachanalyse und Ontologie 191

Im Rahmen der Logik bleibt offen, was genau diese Individuen mit ihren Eigenschafen und ihren Relationen in Wirklichkeit sind. Der logische Atomismus ist daher eine formale Ontologie, deren inhaltliche Ausfüllung im Wesentlichen den empirischen Wissenschaften überlassen bleibt. Wie das Zitat jedoch zeigt, hat Russell zugleich eine inhaltliche Deutung vorgeschlagen, wenn er die Individuen, die die „Atome“ der Wirklichkeit ausmachen, nicht als Substanzen im traditionellen Sinne unvergänglicher Elemente betrachtet, sondern vielmehr als kurzlebige Ereignisse. Russell neigte offenbar dazu, die Welt als Prozess zu verstehen. Das Leib-Seele-Problem und der neutrale Monismus. In den 20er Jahren befasste

Russell sich in seinen beiden Schriften Die Analyse des Geistes (1921) und Philosophie der Materie (1926) mit den ontologischen Voraussetzungen der Realwissenschaften. Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren zwei gegenläufige Tendenzen der damaligen Physik und Psychologie. Während die behavioristische Psychologie bei der Erforschung des Geistes sich ganz auf das in der äußeren Wahrnehmung gegebene menschliche Verhalten beschränkte und den Geist damit tendenziell materialistisch deutete, löste sich in der modernen Physik das alte Bild der Materie gerade auf. Diese beiden Tendenzen glaubte Russell durch eine philosophische Wirklichkeitssicht miteinander vereinbaren zu können. Russell geht hier davon aus, dass Physik und Psychologie aus dem gegebenen Erfahrungsmaterial, den „Sinnesdaten“, wissenschaftliche Theorien entwickeln. Die wissenschaftlichen Theorien von Materie und Geist sind daher „logische Konstruktionen aus Sinnesdaten“, wobei freilich nicht ganz klar ist, ob die Sinnesdaten von den realen Dingen (oder Ereignissen) herrühren, also nur deren Abbilder sind, oder ob sie selbst das eigentlich Reale sind. Da nun aber Körper und Geist nach Russell jeweils solche Konstruktionen sind, muss das Ausgangsmaterial der Konstruktionen offenbar etwas sein, was von Körper und Geist verschieden ist. Die Welt besteht somit aus einem einheitlichen neutralen Stoff, und es ist daher nur eine Sache der Perspektive (oder der theoretischen Konstruktion), ob dieser Weltstoff als Materie oder als Geist erscheint. Dieser „neutrale Monismus“, den in ähnlicher Form bereits der Positivist Ernst Mach vertreten hatte, soll eine Position jenseits des Gegensatzes von Materialismus und Idealismus (oder Spiritualismus) sein. Damit unterscheidet sich die von



Zu Russells Philosophie des logischen Atomismus vgl. A. J. Ayer (1973) S. 94ff; A. Newen / E. v. Savigny (1996) S. 65 ff.

192 Sprachanalytische Metaphysikkritik

Russell behauptete neutrale Identität von Körper und Geist grundlegend von der späteren materialistischen Identitätstheorie. Wirkung. Wegen seiner populärphilosophischen Schriften und seines politischmoralischen Engagements gehört Russell neben Sartre zu den bekanntesten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine Beiträge zur Logik, Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie blieben der breiten Öffentlichkeit dagegen weitgehend unbekannt. Doch gerade diese diffizilen theoretischen Konzepte hatten eine große Wirkung auf die moderne Philosophie, vor allem auf den logischen Empirismus und die analytische Philosophie. Großen Einfluss erlangte insbesondere Russells Theorie der Kennzeichnungen. Indem er zeigte, wie sich unklare Ausdrücke und Aussagen logisch präzise analysieren lassen, ebnete er dem frühen Wittgenstein und dem Wiener Kreis den Weg. Der logische Atomismus findet sich ähnlich in Wittgensteins Tractatus und hat die weitere Entwicklung der Bildtheorie der Sprache stark beeinflusst. Russells Position zum Leib-SeeleProblem, der neutrale Monismus, wurde im Wiener Kreis positiv rezipiert, doch hat die spätere analytische Philosophie des Geistes die neutrale Identitätsthese meist verworfen. Insgesamt trat Russells Einfluss mit der Zeit immer mehr hinter den Wittgensteins zurück. Würdigung. Unbestritten sind Russells Verdienste um die logische Analyse der

Sprache. Die Fruchtbarkeit dieser Methode zur Klärung des Sinns philosophischer Begriffe und Aussagen hat er eindrucksvoll demonstriert. Verglichen mit seiner herausragenden Bedeutung als Analytiker steht Russells Bedeutung als Systematiker freilich etwas zurück. Dies hängt auch damit zusammen, dass seine ontologischen Auffassungen sich wandelten und zudem etwas heterogen erscheinen. Logischer Atomismus und neutraler Monismus sind jedenfalls zwei Positionen, deren genaues Verhältnis zueinander nicht ohne weiteres klar ist. Der logische Atomismus ist eine formale Ontologie, die verschiedene Deutungen zulässt und daher keine inhaltlichen Antworten auf die ontologischen Fragen nach den Bausteinen der Wirklichkeit und dem Verhältnis von Körper und Geist enthält. Der neutrale Monismus ist dagegen eine Position zum LeibSeele-Problem, die von den Problemen des Dualismus zwar frei ist, bei der aber nicht recht zu sehen ist, wie sie mit dem (von Russell übrigens zugestandenen) Basischarakter des Physischen und der Abhängigkeit des Psychischen vom Physischen zusammen bestehen soll. Russell hat damit der modernen Ontologie 

Zu Russells neutralem Monismus vgl. A. J. Ayer (1973) S. 102ff; A. Newen / E. v. Savigny (1996) S. 70 ff.

Der frühe Ludwig Wittgenstein: Die Grenzen sinnvollen Redens 193

neue sprachanalytische Wege geebnet, doch wird der von ihm selbst beschrittene Weg des neutralen Monismus mittlerweile als Sackgasse betrachtet.

2. Der frühe Ludwig Wittgenstein: Die Grenzen sinnvollen Redens und das mystische Schweigen Metaphysikkritiker und Mystiker. Wittgensteins herausragende Stellung in der

Philosophie des 20. Jahrhunderts beruht auf der erstaunlichen Tatsache, dass er zwei philosophische Strömungen begründet hat. Während der frühe Wittgenstein mit dem Tractatus dem logischen Empirismus des Wiener Kreises den entscheidenden Anstoß gegeben hat, hat der späte Wittgenstein mit den Philosophischen Untersuchungen die Philosophie der Alltagssprache begründet. Für die Geschichte der modernen Metaphysik ist Wittgenstein in zweierlei Hinsicht wichtig. Zunächst ist er der Begründer einer neuen, sprachphilosophisch begründeten Metaphysikkritik, wobei der frühe und der späte Wittgenstein in der kritischen Konsequenz zwar weitgehend übereinstimmen, aber diese Kritik durch verschiedene sprachphilosophische Konzeptionen begründen. Sodann ist Wittgenstein paradoxerweise selbst ein Metaphysiker oder, genauer gesagt, ein von metaphysisch-religiösen Ideen zutiefst geprägter Denker. Über diese Ideen kann nach seiner Ansicht zwar nicht sinnvoll geredet werden, aber sie bilden den Hintergrund, der für sein gesamtes Denken und Leben von entscheidender Bedeutung ist. Die sich damit andeutende Spannung zwischen der Verwerfung einer metaphysisch-religiösen Lehre und der Anerkennung einer mystisch-religiösen Grundhaltung ist für Wittgensteins Einstellung zur Metaphysik charakteristisch. Leben und Werk. Ludwig Wittgenstein wurde am 26. April 1889 als Sohn eines sehr reichen Industriellen in Wien geboren. Im Elternhaus, das ein kulturelles Zentrum Wiens war, erhielt er bis zu seinem 14. Lebensjahr Privatunterricht. Danach besuchte er die Realschule in Linz. Nach dem Abitur begann er 1906 mit dem Studium der Ingenieurwissenschaften in Berlin, das er 1908 in Manchester fortsetzte. Nachdem sein Interesse an logischen und mathematischen Grundlagenfragen erwacht war, wechselte er (auf Empfehlung Freges) im Jahr 1911 an das Trinity College nach Cambridge, um bei Bertrand Russell und George E. Moore zu studieren. Er vertiefte sich schnell und mit großem Eifer in 

Eine ausführliche Darstellung von Leben und Werk, das insbesondere auch Wittgensteins religiösen Hintergrund eingehend behandelt, findet sich in Ray Monk (1992).

194 Sprachanalytische Metaphysikkritik

logische Fragen, sodass er bald zum gleichberechtigten Diskussionspartner Russells avancierte. Im Ersten Weltkrieg diente Wittgenstein als Freiwilliger in der österreichischen Armee, bis er im November 1918 in italienische Kriegsgefangenschaft geriet. Während Krieg und Gefangenschaft schrieb er den Tractatus-logico-philosophicus, der schließlich 1921 erschien. Nach seiner Entlassung veränderte er sein Leben von Grund auf. Im Bewusstsein, die philosophischen Probleme gelöst zu haben, zog er sich von der Philosophie zurück und versuchte ein einfaches Leben in mystisch-religiösem Geist zu führen. Er verzichtete auf sein Erbe und betätigte sich von 1920 bis 1926 als Volksschullehrer an kleinen Dorfschulen, doch gab er diese Tätigkeit nach Konflikten mit Eltern und Schulbehörden auf. Danach arbeitete er zeitweise als Gärtner. In den 20er Jahren vollzog er wegen philosophischer Differenzen einen Bruch mit Russell, doch hatte er Kontakte zum Wiener Kreis. 1929 kehrte er schließlich mit neuen philosophischen Ideen nach Cambridge zurück, promovierte mit dem Tractatus und entwickelte in den Lehrveranstaltungen der folgenden Jahre seine neue Philosophie der Alltagssprache. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich nahm er 1938 die britische Staatsbürgerschaft an und wurde 1939 Nachfolger auf dem Lehrstuhl Moores. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er zeitweise freiwillig als Apothekenbote und Laborassistent. 1947 legte er seine Professur nieder, um sich, wie schon in früheren Phasen, in absolute Einsamkeit zurückzuziehen und sich ganz der Ausarbeitung seiner Philosophie zu widmen. Bereits von einer Krebserkrankung gezeichnet, gelang es ihm noch die postum erschienenen Philosophischen Untersuchungen (1953) abzuschließen. Die letzten Monate verbrachte er bei Freunden, in Gelassenheit seinen Tod am 29. April 1951 in Cambridge erwartend. Das Programm des Tractatus. Im Vorwort des Tractatus (1921) hat Wittgenstein die Zielsetzung seiner Abhandlung klar formuliert. Es geht ihm darum, den Bereich des Denk- und Sagbaren vom Unsagbaren abzugrenzen. Von dem Nachweis der Grenze sinnvollen Redens verspricht er sich nichts weniger als die endgültige Lösung aller philosophischen Probleme. Der Tractatus tritt aber

Ludwig Wittgenstein (1889–1951) Sprachanalytischer Philosoph, Metaphysikkritiker und Mystiker, Begründer der Philosophie der Alltagssprache

Der frühe Ludwig Wittgenstein: Die Grenzen sinnvollen Redens 195

nicht nur mit diesem ungeheuren Anspruch auf, sondern er ist auch seiner Form nach keine gewöhnliche philosophische Abhandlung. Er ist vielmehr eine lehrbuchähnliche Darstellung mit Hauptthesen und angefügten Erläuterungen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der axiomatisch aufgebauten Ethik Spinozas hat, wobei ein wichtiger Unterschied allerdings darin besteht, dass Wittgenstein keine Beweise und nur wenige Begründungen seiner Thesen liefert. Vielmehr formuliert er seine Auffassungen lapidar, fast orakelhaft, jedenfalls so, als wären sie – bei hinreichender Beschäftigung mit der Thematik – von selbst einsichtig. Gerade wegen der Kürze der Darstellung und des Fehlens zureichender Erklärungen der Grundbegriffe und Grundthesen ist der Tractatus ein äußerst schwieriges Werk. Sprache als Bild der Welt. Grundlage des Tractatus ist eine logisch-ontologische

Theorie, die Wittgenstein im Anschluss an Frege und Russell entwickelt hat. Wittgenstein geht darin von der Annahme aus, dass die Welt die Gesamtheit der „Tatsachen“ ist, d. h. die Gesamtheit der Dinge und ihrer Relationen. Um Gegenstand der Sprache werden zu können, müssen die Dinge der Welt aus atomaren Gegenständen aufgebaut sein, also aus kleinsten Elementen bestehen. Was diese Elemente sind, sagt Wittgenstein freilich nicht, sondern betrachtet es als Aufgabe der empirischen Wissenschaften, diese zu identifizieren. Wie Russell legt er damit seiner Sprachtheorie eine formale Ontologie zugrunde. Nach der Herausstellung der atomistischen Struktur der Welt formuliert Wittgenstein die erkenntnistheoretische Grundthese, dass der Mensch sich Vorstellungen oder vielmehr „Bilder“ der Tatsachen macht. Damit ein Bild eine zutreffende Darstellung der Wirklichkeit, also eine wahre Abbildung ist, muss es nach Wittgenstein eine eindeutige Zuordnung zwischen den Elementen des Bildes und den Elementen der Tatsache geben. Wie bei einer Notenschrift die einzelnen Noten und Töne einander genau zugeordnet sind, ohne sich zu ähneln, müssen auch Bild und Tatsache keine Ähnlichkeit haben, aber sie müssen doch die gleiche Struktur haben. Gedanken und Sätze sind nach Wittgenstein solche Bilder der Wirklichkeit, doch gibt es wichtige Unterschiede zwischen beiden. Ein Gedanke ist das logische Bild einer Tatsache, der in verschiedenen Sprachen ausgedrückt werden kann und dabei doch derselbe Gedanke bleibt. Ein Satz ist dagegen der sinnliche Ausdruck eines Gedankens, dessen adäquater Ausdruck durch Eigenarten  

Das Erbe Freges und Russells wird eingehend untersucht bei A. Kenny (1974) S. 31 ff. Zur Ontologie des Tractatus vgl. A. Kenny (1974) S. 89ff; A. Newen / E. v. Savigny (1996) S. 89f; W. Stegmüller (1969) S. 555 ff.

196 Sprachanalytische Metaphysikkritik

der Umgangssprache behindert werden kann. „Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides, nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen.“10 So sind etwa Ausdrücke der Umgangssprache wie „Bank“ mehrdeutig, doch lassen sich solche Mehrdeutigkeiten leicht aufklären. Es gibt jedoch weniger harmlose Mehrdeutigkeiten der Umgangsprache, die nach Wittgenstein in der Philosophie viel Verwirrung angerichtet haben. Dazu zählt er vor allem das Wort „ist“, das drei völlig verschiedene Bedeutungen hat. In dem Satz „Peter ist fleißig“ wird es als Kopula verwendet, um einer Person eine Eigenschaft zuzuschreiben, in dem Satz „Oktavian ist Augustus“ wird es als Identitätsbehauptung benutzt und in dem Satz „Gott ist“ behauptet es eine Existenz. Um solche Mehrdeutigkeiten aufzuklären und Verwechslungen zu vermeiden, fordert Wittgenstein eine „logische Grammatik“, d. h. eine mathematische Logik, die die logische Form von Sätzen offen legt. Indem er damit der Philosophie die Aufgabe zuspricht, die logische Struktur von Sätzen zu klären, wird Philosophie zur Sprachkritik, also zu einer Tätigkeit, die sich um die Klärung von Gedanken und Sätzen und um die Unterscheidung von sinnvollen und sinnlosen Sätzen bemüht. Sinnvolle und sinnlose Sätze. Sinnvolle Sätze drücken einen Gedanken aus, ein

Gedanke kann aber wahr oder falsch sein. Ein Satz wie „Angela Merkel wurde im Jahr 2005 Bundespräsidentin“ ist zwar falsch, aber sinnvoll, da er einen möglichen Sachverhalt über diese Person behauptet. Wahre und falsche Sätze drücken also Sachverhalte aus, wobei wahre Sätze sich auf bestehende Sachverhalte (oder Tatsachen) beziehen, falsche Sätze dagegen auf bloß mögliche Sachverhalte. Sätze sind also sinnvoll, wenn sie über existierende Gegenstände etwas Wahres oder Falsches sagen. Werden in Sätzen jedoch Namen ohne Bedeutung verwendet, also Namen, denen kein Gegenstand entspricht, so entstehen sinnlose Sätze. Gerade solche Sätze mit Namen ohne Gegenstandsbezug sind jedoch nach Wittgenstein in der Metaphysik an der Tagesordnung, wenn vom „Absoluten“ oder dem „Weltgrund“ gesprochen wird. Sinnlose Sätze kommen nach Wittgenstein dadurch zustande, dass in ihnen gegen die Abbildungsfunktion der Sprache verstoßen wird. Die alleinige Funktion der Sprache sieht er nämlich darin, Tatsachen und Sachverhalte abzubilden. Nun werden jedoch auch in den philosophischen Disziplinen der Logik und 10 L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. In: Schriften 1, Frankfurt am Main 1980, S. 25 (4.002).

Der frühe Ludwig Wittgenstein: Die Grenzen sinnvollen Redens 197

Ethik keine Behauptungen über Tatsachen gemacht. Die Logik befasst sich nämlich mit formalen Gesetzen, die Ethik mit Normen und Werten. In beiden Fällen liegen daher keine Aussagen über (mögliche oder wirkliche) Sachverhalte vor. Logik und Ethik sagen daher nichts über die Welt und sind in diesem Sinne „sinnlos“. Eine weitere Konsequenz der Annahme, dass Abbildung die alleinige Funktion der Sprache ist, sieht Wittgenstein darin, dass nur etwas über die Welt, nichts jedoch über das Verhältnis zwischen Sprache und Welt (oder über die ihnen gemeinsame „logische Form“) gesagt werden kann. Das Verhältnis von Bild und Tatsache ist etwas, was sich nach seiner Ansicht in einem Satz „zeigt“.11 Versucht man dieses Verhältnis aber zum Inhalt eines Satzes zu machen, so entsteht ein Scheinsatz, d. h. ein Satz, der (vergeblich) zu sagen versucht, was sich nur „zeigen“ kann. Daher sind auch Wittgensteins sprachphilosophische Überlegungen nach ihren eigenen Kriterien sinnlos. Allerdings sind sie damit keineswegs wertlos. Sie haben vielmehr die Funktion einer Leiter, auf der man hinauf steigen muss, die man aber danach wegwerfen muss, um die Welt richtig zu sehen. Der letzte (siebte) Hauptsatz des Tractatus zieht daher die berühmte Schlussfolgerung: „Wovon nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“12 Die Grenzen des Sagbaren und das Mystische. Wittgensteins Abbildtheorie der

Sprache hat zur Konsequenz, dass die Grenzen des sinnvollen Redens im Wesentlichen mit dem Bereich der (Natur-)Wissenschaften zusammenfallen.13 Was jenseits dieser Grenze liegt, lässt sich nicht mehr sinnvoll sagen. Jeder Versuch, es dennoch zu tun, verstößt gegen die Logik der Sprache und produziert Scheinsätze. Die traditionellen metaphysischen Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit liegen jenseits der Grenze des Sagbaren und erweisen sich daher als Scheinprobleme, die sich nicht einmal als Fragen sinnvoll formulieren lassen. Wittgenstein glaubt daher, mit seiner Grenzziehung das Ende der Metaphysik als philosophischer Disziplin besiegelt zu haben. Allerdings bedeutet diese Grenzziehung für ihn auch, dass alles, was gesagt werden kann, für den Menschen mehr oder weniger gleichgültige Tatsachen be-

11 12 13

Zu Wittgensteins Unterscheidung zwischen „sagen“ und „zeigen“ vgl. A. Newen / E. v. Savigny (1996) S. 75ff; W. Stegmüller (1969) S. 526 ff. L. Wittgenstein: Tractatus, S. 83 (7). Wittgensteins Abbildtheorie der Sprache wird eingehend behandelt bei A. Kenny (1974) S. 70ff; A. Newen / E. v. Savigny (1996) S. 89f; W. Stegmüller (1996) S. 539ff; D. Pears (1971) S. 68 ff.

198 Sprachanalytische Metaphysikkritik

trifft. Die wesentlichen Lebensfragen kommen nämlich wissenschaftlich-rational überhaupt nicht in den Blick. „Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“14 Alle wichtigen Fragen gehören zu einem Bereich, über den nicht sinnvoll geredet werden kann. Erkennbares und Wertvolles fallen somit gänzlich auseinander. Der Nachweis der Grenze des Sagbaren ist also nur die eine Seite von Wittgensteins Stellungnahme zum Problem der Metaphysik. Die andere Seite besteht in dem Hinweis auf den jenseits dieser Grenze liegenden Bereich des „Mystischen“. Dass die Welt eine über sie hinausgehende metaphysische Bedeutung hat, „zeigt“ sich nach Wittgenstein in der Tatsache der Welt selbst. Zwar kann der Mensch die Vorgänge der Natur in ihrem gesetzmäßigen Ablauf und die natürlichen Dingen in ihrem Aufbau erklären, doch vor der Existenz der Welt selbst kann er nur erstaunen und verstummen. „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.“15 Die Existenz der Welt, aber auch Sinn und Zweck der Welt und des Lebens sind die unlösbaren Rätsel, die über die Welt hinaus auf eine unaussprechliche metaphysisch-religiöse Dimension hindeuten. Wenn Wittgenstein daher sagt, dass über alle metaphysischen Fragen geschwiegen werden muss, dann ist dies ein höchstbedeutsames Schweigen, ein Schweigen, das vor der sich „zeigenden“ Dimension der Transzendenz sich bescheidet. Es ist das Schweigen der Mystik, das Gott und dem Sinn des Lebens in einer nicht-verstandesmäßigen, unaussprechlichen Schau zugewandt ist.16 Beispielhaft hat Wittgenstein seine metaphysisch-religiöse Grundhaltung in einer Bemerkung zur Frage der Unsterblichkeit der Seele bekundet. „Die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges Fortleben nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer mit ihr erreichen wollte. Wird denn dadurch ein Rätsel gelöst, dass ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige? Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.“17 Die metaphysische Haltung, die sich hier zeigt, ist die eines Vertrauens 14 L. Wittgenstein: Tractatus, S. 82 (6.52, 6.521). 15 L. Wittgenstein: Tractatus, S. 81 (6.44) 16 Die mystisch-ethische Seite des „Tractatus“ untersuchen A. Jannik / S. Toulmin (1984) S. 227 ff. 17 L. Wittgenstein: Tractatus, S. 81 (6.4312)

Der frühe Ludwig Wittgenstein: Die Grenzen sinnvollen Redens 199

auf eine Sinn gebende Transzendenz, die große Ähnlichkeit mit der Grundeinstellung religiöser Metaphysiker wie Edith Stein, Peter Wust oder Karl Jaspers hat. Wirkung. Wittgenstein ist neben Heidegger der einflussreichste Philosoph des

20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er der modernen Sprachphilosophie seinen Stempel aufgedrückt. Mit dem Tractatus hat er vor allem die logisch-idealsprachlich orientierte Variante der analytischen Philosophie maßgeblich geprägt. Die Wirkung dieser Schrift begann bereits vor ihrer Veröffentlichung, als Russell im Jahr 1918 durch Auswertung seiner früheren Diskussionen mit Wittgenstein seinen „logischen Atomismus“ entwickelte. Vom Tractatus war Russell danach auch sehr beeindruckt, doch führten seine Einwände gegen einige Thesen schließlich zum Bruch mit Wittgenstein. Herausragende Bedeutung hatte der Tractatus für den Wiener Kreis. Die mystischen Schlusspassagen ignorierend, verstanden Schlick, Neurath und Carnap den Tractatus in erster Linie als Logik, Sprachtheorie und Metaphysikkritik und entwickelten daraus ihre Position des logischen Empirismus. Wegen ihrer intensiven Auseinandersetzung mit dem Tractatus wurde er auch als die „Bibel“ des logischen Empirismus bezeichnet. Der Einfluss des Wiener Kreises war fast immer auch ein Einfluss Wittgensteins. Außerhalb der analytischen Philosophie wurde vor allem Wittgensteins radikale Metaphysikkritik wahrgenommen, doch wurde diese Kritik häufig mit verständnislosem Kopfschütteln beantwortet. Die Wirkung der mystisch-religiösen Seite des Tractatus ist schwer abzuschätzen. Zwar wurde sie vereinzelt, z. B. bei Jaspers, ausdrücklich begrüßt, doch dürfte Wittgensteins Eintreten für Schweigen und Mystik insgesamt mehr im Sinne einer Bekräftigung der Bedeutung metaphysischer Fragen und damit als Verteidigung der Metaphysik rezipiert worden sein. Würdigung. Die zentrale Rolle des Tractatus als Ausgangspunkt moderner

Sprachphilosophie ist unbestritten. Er wurde zum wichtigsten Bezugspunkt moderner Diskussionen um den Abbildcharakter der Sprache. Als gescheitert gilt jedoch der Versuch des Tractatus, die Grenzen sinnvollen Redens so zu ziehen, dass alle Bereiche außerhalb der Naturwissenschaften, insbesondere die Metaphysik, sinnlos werden. Hinweise darauf, dass in dieser Hinsicht etwas an Wittgensteins Theorie nicht stimmen kann, finden sich ja bei ihm selbst. Als unplausibel muss vor allem erscheinen, dass die von ihm entwickelte Sprachtheorie nach ihren eigenen Grundsätzen sinnlos ist. Wittgensteins Auffassung, dass nicht sinnvoll über Sprache geredet werden kann, hat kaum Nachfolge gefunden

200 Sprachanalytische Metaphysikkritik

und wurde bald durch die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache ersetzt. Auch das Schweigen vor den metaphysisch-religiösen Fragen hat Wittgenstein ja nicht durchgehalten, sondern selbst wichtige metaphysische Aussagen, z. B. über den Sinn des Lebens, gemacht, die wohl in keinem relevanten Sinne als „sinnlos“ betrachtet werden können. Diese inkonsistenten, ja paradoxen Konsequenzen des Tractatus deuten daraufhin, dass der frühe Wittgenstein die Grenze des sinnvollen Redens zu eng gezogen hat.

3. Rudolf Carnap: Die Sinnlosigkeit der Metaphysik Radikaler Metaphysikkritiker. Carnap ist als Logiker und Sprachphilosoph der

herausragende Vertreter des Wiener Kreises. Zur Geschichte des metaphysischen Denkens in der Moderne gehört er insbesondere wegen seiner radikalen Metaphysikkritik, die er im Anschluss an Wittgenstein entwickelt hat. Seine Kritik, dass Metaphysik nicht etwa bloß unbeweisbare, unwissenschaftliche Spekulation oder bloße „Begriffsdichtung“ ist, sondern dass sie schlicht „logisch sinnlos“ ist, bedeutet einen Einschnitt in der Geschichte der modernen Metaphysik. Während Wittgenstein diesen neuen Typ sprachlogischer Metaphysikkritik in der ihm eigenen lakonischen Kürze verkündete, hat Carnap diese Kritik weiter ausgebildet und exemplarisch erläutert. Anders als bei Wittgenstein gibt es bei Carnap jedoch keine Mystik und keine metaphysisch-religiösen Hintergründe. Er ist vielmehr der klar und rein sachlich denkende Logiker, der konziliant in der Form, aber unerbittlich in der Konsequenz die Unmöglichkeit der Metaphysik nachzuweisen versucht. Gerade weil er diese Auffassung in seinen Schriften eingehend begründet hat, wurde seine Metaphysikkritik zur großen Herausforderung für die zeitgenössischen Philosophen, die sich um eine Neubegründung der Metaphysik bemühten. Die These der „Sinnlosigkeit der Metaphysik“ wurde durch Carnap zum Signum des Wiener Kreises.

Rudolf Carnap (1889–1970) Hauptvertreter des logischen Empirismus und Verfechter der These der Sinnlosigkeit der Metaphysik

Rudolf Carnap: Die Sinnlosigkeit der Metaphysik 201

Leben und Werk. Rudolf Carnap wurde am 18. Mai 1889 in Ronsdorf bei Wup-

pertal geboren. Er studierte von 1910 bis 1914 Mathematik, Physik und Philosophie in Freiburg und Jena, unter anderem bei Frege. Nach dem Ersten Weltkrieg, den er als Soldat und später als Physiker in einem Militärinstitut erlebte, promovierte er 1921 mit der Arbeit Der Raum (1922) bei dem Neukantianer Bruno Bauch in Jena. 1926 holte ihn Moritz Schlick als Dozent nach Wien. Carnap nahm regelmäßig an den Treffen des Wiener Kreises teil und avancierte in kurzer Zeit zu einer ihrer führenden Persönlichkeiten.18 In seinem Werk Der logische Aufbau der Welt (1928) versuchte er das empiristische Programm der Zurückführung aller Begriffe auf die Wahrnehmung zu realisieren. Der Metaphysikkritik sind seine Schrift Scheinprobleme in der Philosophie (1928) und sein Aufsatz Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache (1931) gewidmet. Im Jahr 1931 wurde er Professor für Naturphilosophie in Prag, wo er sein Werk Logische Syntax der Sprache (1934) schrieb. Angesichts der sich verschärfenden politischen Situation emigrierte Carnap im Dezember 1935 in die USA und lehrte bis 1961 an den Universitäten von Chicago, Princeton und Los Angeles. In dieser Zeit befasste er sich weiter mit Fragen der Logik, Semantik und Wissenschaftstheorie, insbesondere mit der Klärung der induktiven Logik und der Wahrscheinlichkeitstheorie. 1963 wurde er durch den von Paul Arthur Schilpp herausgegebenen Band The Philosophy of Rudolf Carnap als einer der großen Philosophen des Jahrhunderts geehrt. Carnap starb am 14. September 1970 in Santa Monica bei Los Angeles. Verifizierbarkeit als Sinnkriterium. Die Grundposition des logischen Empiris-

mus, die Carnap mit dem Wiener Kreis teilte, verstand sich ausdrücklich als Gegenposition zu Kant und zum Neukantianismus. Gegen Kants Lehre von den synthetischen Urteilen a priori vertrat man die Auffassung, dass es nur logische Erkenntnis einerseits und empirische Erkenntnis andererseits gibt. Mit dem klassischen Empirismus leugnete man damit die Möglichkeit apriorischer Wirklichkeitserkennt­nis. Darüber hinaus betrachtete man metaphysische Sätze als sinnlos, nämlich als Verstöße gegen die Logik unserer Sprache. Als sinnvoll wurden nur Sätze anerkannt, die entweder, wie Sätze der Logik und Mathematik, streng logisch bewiesen werden können oder die, wie Sätze der Realwissenschaften, empirisch überprüft und „verifiziert“ werden können.19 18 Zu Carnaps Stellung im Wiener Kreis vgl. M. Geier (1992) S. 28 ff. 19 Zur Kritik und Revision des empiristischen Sinnkriteriums vgl. G. Patzig, Nachwort. In: R. Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie, Frankfurt am Main 1966, S. 111ff; W. Stegmüller (1969) S. 380ff, 402 ff.

202 Sprachanalytische Metaphysikkritik

Indem man die Verifzierbarkeit als Kriterium sinnvoller Sätze, also als „Sinnkriterium“, ansetzte, verlangte man freilich nur die prinzipielle Überprüfbarkeit. Sätze, die nur faktisch nicht überprüfbar sind, wie es seinerzeit z. B. Aussagen über die Beschaffenheit der Rückseite des Mondes waren, sind dagegen durchaus sinnvoll. Prinzipiell unüberprüfbar und damit sinnlos sind dagegen Sätze über das „Absolute“, das „Unbedingte“ oder das „wahrhaft Seiende“. Wie Wittgenstein sah man daher den Bereich der sinnvollen Sätze als identisch mit dem Bereich der Wissenschaften an. Die Philosophie hatte daher den Rückzug auf Logik, Semantik und Wissenschaftstheorie anzutreten und einer rein „wissenschaftlichen Weltauffassung“ Platz zu machen. Philosophische Scheinprobleme. In seiner Schrift Scheinprobleme in der Philoso-

phie (1928) hat Carnap unter Voraussetzung des empiristischen Sinnkriteriums verschiedene traditionelle Probleme der Philosophie als Scheinprobleme nachzuweisen versucht. Als Musterbeispiel eines philosophischen Scheinproblems führt er die Streitfrage zwischen Realismus und Idealismus an, also die Frage, ob die empirisch erkannte Welt eine vom Bewusstsein unabhängige Realität hat oder ob sie nur „im“ Bewusstsein existiert. Carnap verdeutlicht die Sinnlosigkeit dieser Problemstellung am Beispiel zweier Geographen, die sich über alle empirischen Merkmale eines Berges in Afrika einig sind, dann aber in Streit darüber geraten, ob dieser Berg nun „real“ ist oder nur „in der Vorstellung“ besteht. „Unser Beispiel läßt sich leicht verallgemeinern. Wie es mit dem Berge steht, so auch mit der Außenwelt überhaupt. Da uns nun die Sachhaltigkeit als das Kriterium der sinnvollen Aussagen gilt, so kann weder die These des Realismus von der Realität der Außenwelt, noch die des Idealismus von der Nichtrealität der Außenwelt als wissenschaftlich sinnvoll anerkannt werden. Das besagt nicht: die beiden Thesen seien falsch; sondern: sie haben überhaupt keine Sinn, in Bezug auf den die Frage, ob wahr oder falsch, gestellt werden könnte.“20 Die klassische Streitfrage zwischen Realismus und Idealismus ist also sinnlos, weil es keine empirischen Bedingungen geben kann, die es erlauben würden, diesen Streit zu entscheiden. Überwindung der Metaphysik durch Sprachanalyse. In seinem Aufsatz Über-

windung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache (1931) hat Carnap die These der Sinnlosigkeit der Metaphysik durch eine Analyse sinnloser Sätze weiter untermauert. Er geht dabei von zwei Arten sinnloser Sätze aus. Die erste Art 20 R. Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie, S. 63 f.

Rudolf Carnap: Die Sinnlosigkeit der Metaphysik 203

von Sinnlosigkeit kommt durch die Verwendung bedeutungsloser Ausdrücke wie das „Absolute“, das „Unbedingte“ oder der „Urgrund“ zustande. Da diesen Ausdrücken kein empirischer Gegenstand zugeordnet werden kann, sind die Sätze, in denen sie vorkommen, sinnlos. Auch der Ausdruck „Gott“ ist nach Carnap ein solcher bedeutungsloser Ausdruck. Damit vertritt er aber keineswegs einen Atheismus, sondern betrachtet die beiden Aussagen „Gott existiert“ und „Gott existiert nicht“ als gleichermaßen sinnlos. Die zweite Art sinnloser Sätze besteht in der syntaxwidrigen Verwendung sinnvoller Ausdrücke. So ist der Satz „Cäsar ist eine Primzahl“ nach den Regeln der herkömmlichen philologischen Grammatik ebenso korrekt gebildet wie der Satz „Cäsar ist ein Feldherr“. Nach den Regeln einer logischen Grammatik ist der Satz „Cäsar ist eine Primzahl“ jedoch sinnlos, weil die Ausdrücke „Feldherr“ und „Primzahl“ zu logisch völlig verschiedenen Kategorien gehören. „Der hier festgestellte Fehler unserer Sprache liegt also darin, daß sie, im Gegensatz zu einer logisch korrekten Sprache, grammatische Formgleichheit zwischen sinnvollen und sinnlosen Wortreihen zuläßt.“21 Eine logische Grammatik muss daher Unterscheidungen von Kategorien wie „Ding“, „Lebewesen“ oder „Zahl“ vornehmen, um die Bildung logisch sinnloser Sätze auszuschließen. In anderen Fällen ist die Sinnlosigkeit keineswegs so offensichtlich wie in dem zuletzt gegebenen Beispiel. Zu solchen Fällen gleichsam verschleierter Sinnlosigkeit gehört nach Carnap vor allem die philosophische Rede vom „Nichts“, wie sie etwa bei Heidegger und Sartre zu finden ist. Carnap bezieht sich in seinem Aufsatz direkt auf Heideggers Schrift Was ist Metaphysik? von 1929 und unterwirft die darin enthaltenen Bemerkungen über „das Nichts“ einer scharfen logischen Analyse. Indem Heidegger Sätze wie „die Angst offenbar das Nichts“ und „das Nichts nichtet“ formuliert, substantiviert er das Wort „nichts“ und verwendet damit nach Carnap den Ausdruck „nichts“ als eine Gegenstandbezeichnung. Dadurch entsteht der Schein eines Gegenstandes und alle Aussagen, die über diesen Pseudogegenstand gemacht werden, erweisen sich, wie alle Sätze mit bedeutungslosen Namen, als Unsinn. Die logisch sinnvolle Verwendung des Wortes „nichts“ besteht nach Carnap dagegen allein in der Negation einer Existenzbehauptung. So bedeutet etwa der Satz „nichts ist rund und viereckig“, dass es keinen Gegenstand gibt, der zugleich rund und viereckig ist. Die von Heidegger aufgeworfene „Frage nach dem Nichts“ war daher für Carnap und den logischen Empirismus das Paradigma sinnloser Metaphysik.22 21

R. Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis, Bd.2, 1931, S. 230. 22 Zu Carnaps Kritik an Heidegger vgl. M. Friedmann (2004) S. 25 ff.

204 Sprachanalytische Metaphysikkritik

Mit dem Nachweis der Sinnlosigkeit metaphysischer Sätze verbleibt zuletzt noch die Frage, wie die Anziehungskraft und die historische Rolle der Metaphysik erklärt werden können. Carnap glaubt diesen Tatsachen genügend Rechnung zu tragen, indem er der Metaphysik die Funktion zuspricht, ähnlich wie Kunst und Mythos Lebensgefühle auszudrücken. „Die (Schein-)Sätze der Metaphysik dienen nicht zur Darstellung von Sachverhalten, weder von bestehenden (dann wären es wahre Sätze) noch von nicht bestehenden (dann wären es wenigstens falsche Sätze); sie dienen zum Ausdruck des Lebensgefühls.“23 Allerdings betrachtet Carnap Metaphysik, im Unterschied zur Kunst, als inadäquaten Ausdruck für ein Lebensgefühl, weil sie ihrer Form nach etwas vortäuscht, was sie nicht ist, nämlich eine Theorie der Wirklichkeit.24 Physikalismus. Obwohl Carnap Metaphysik generell ablehnte, näherte er sich

einer ontologischen Position doch an, als er sich mit der Frage einer einheitlichen Wissenschaftssprache befasste. Durch die Konstruktion einer Wissenschaftssprache sollte das empiristische Programm, dass sich alle Grundbegriffe nur auf „unmittelbar Gegebenes“ beziehen dürfen, realisiert werden. Als Ausgangsbasis wählte er dazu in seiner Schrift Der logische Aufbau der Welt (1928) das „Eigenpsychische“, also die Erlebnisse der eigenen Person. Auf dieser „phänomenalistischen“ Basis versuchte er mithilfe einer Grundrelation (der sog. „Ähnlichkeitserinnerung“) komplexere Begriffe, insbesondere die Begriffe der Physik, zu konstruieren. Carnap betonte freilich, dass die Wahl seiner Ausgangsbasis nur methodische Bedeutung hat und dass man eine Wissenschaftssprache ebenso gut auf physikalischer Basis aufbauen könnte. Daher beanspruchte er auch keine ontologische Stellungnahme zum Leib-Seele-Problem zu geben. Unter dem Eindruck von Einwänden, die vor allem Neurath erhob, ließ Carnap jedoch dieses phänomenalistische Projekt fallen. In dem programmatischen Aufsatz Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft (1931) vertritt er demgegenüber die Auffassung, dass alle wissenschaftlichen Aussagen sich als Aussagen über körperliche Vorgänge verstehen lassen. Die psychologische Aussage, dass eine Person aufgeregt ist, muss daher als Aussage über ihr Verhalten oder ihre Körpervorgänge verstanden werden. Nach Carnap behauptet der Physikalismus aber nicht bloß, dass psychologische Aussagen in physikalische Aussagen „übersetzt“ werden können, sondern dass der Sinn (oder logische Gehalt) psychologischer Aussagen in überprüfbaren Aussagen über 23 Rudolf Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, S. 238. 24 Zur These der Sinnlosigkeit der Metaphysik vgl. W. Stegmüller (1969) S. 383ff; V. Kraft (1997) S. 26 ff.

Rudolf Carnap: Die Sinnlosigkeit der Metaphysik 205

körperliche Vorgänge besteht. Nach Carnap ist daher auch der Behaviorismus, der sich ganz auf die Beschreibung und Erklärung menschlichen Verhaltens beschränkt, die einzig wissenschaftliche Form von Psychologie.25 Auch mit dem Physikalismus legt Carnap sich nicht auf eine ontologische Position zum Leib-Seele-Problem fest. Das Psychische wird ja nicht als „Erscheinung“ des Physischen oder „identisch“ mit physischen Prozessen gedeutet, sondern es wird vielmehr als wissenschaftlich irrelevant beiseite geschoben. Auch wenn Carnap sich damit weiterhin von Ontologie distanziert, steht sein Physikalismus doch an der Schwelle zu einem philosophischen Materialismus, wie er in der späteren Entwicklung der analytischen Philosophie vertreten werden sollte. Wirkung. Carnaps Metaphysikkritik erregte großes Aufsehen und fand zunächst

auch eifrige Verfechter. So hat etwa der Engländer Alfed J. Ayer (1910–1989) in seiner frühen Schrift Language, Truth and Logic (1936; dt. Logik, Sprache, Wirklichkeit, 1970) die radikale Position Carnaps und des Wiener Kreises übernommen und vor allem auf Ethik und Religion angewandt. Doch die kritischen Einwände gegen das empiristische Sinnkriterium wurden immer zahlreicher und gewichtiger, so dass Carnap sich veranlasst sah, das Kriterium mehrfach zu modifizieren und zu entschärfen, bis von der ursprünglich radikalen Metaphysikkritik nicht mehr viel übrig blieb. Der späte Carnap war gegenüber einer Metaphysik, die in Anknüpfung an die Wissenschaften zu einem philosophischen Weltbild zu gelangen versucht, durchaus aufgeschlossen. Der aufklärerische Eifer, den Carnap und der Wiener Kreis ursprünglich an den Tag legten, ist jedenfalls bei den logischen Empiristen in späterer Zeit einer toleranteren Einstellung gegenüber Metaphysik gewichen. Würdigung. Die von Carnap und den logischen Empiristen im Anschluss an

Frege, Russell und Wittgenstein entwickelte Methode der logischen Analyse der Sprache hat große Erfolge bei der Klärung philosophischer Probleme erzielt. Dazu gehört etwa ihr Beitrag zur Klärung des „Seinsproblems“ durch Herausarbeitung der verschiedenen Verwendungsweisen des Hilfszeitwortes „sein“. Auch der Nachweis der sinnvollen Funktion des Wortes „nichts“ als Negation von Existenzaussagen ist eine solche bleibende Errungenschaft. Insgesamt hat sich Carnaps Metaphysikkritik jedoch als überzogen herausgestellt. Offenbar hat er die Entdeckung, dass Metaphysiker gelegentlich gegen

25

Zu Carnaps Physikalismus vgl. W. Stegmüller (1969) S. 392 ff.

206 Sprachanalytische Metaphysikkritik

die logische Syntax der Sprache verstoßen, vorschnell zu der pauschalen Kritik verallgemeinert, dass die traditionelle Metaphysik überhaupt voller logischer Fehler sei. Die Sinnlosigkeitsthese ist jedenfalls in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. So erweist sich Carnaps Auffassung, dass Ausdrücke, denen kein Gegenstand empirisch zugeordnet werden kann, sinn- oder bedeutungslos sind, als abhängig von einer keineswegs selbstverständlichen Bedeutungstheorie. Schließlich ist auch die These, dass nicht verifizierbare Aussagen sinnlos sind, wenig plausibel. Denn erstens ist die Verifikation von wissenschaftlichen Aussagen schwieriger, als Carnap und die logischen Empiristen zunächst annahmen, und zweitens ist es offenbar eine nur schwer zu leugnende Tatsache, dass wir den Sinn von Sätzen verstehen können, ohne bisweilen eine Vorstellung davon haben, wie diese Sätze überprüft werden können. Der Bereich der sinnvollen Sätze ist also größer, als man im Wiener Kreis ursprünglich annahm. Als unzureichend geklärt muss zuletzt auch der Begriff der Metaphysik selbst gelten, den Carnap zugrunde legt. Die Art von Metaphysik, an die er und die logischen Empiristen vornehmlich dachten, war offenbar die alte apriorische Metaphysik, die etwas jenseits aller Erfahrung Liegendes wie den Weltgrund, die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele durch bloße Vernunftgründe zu beweisen versuchte. Eine Ontologie, die im Anschluss an die empirischen Wissenschaften nach den Grundprinzipien der Welt fragt, wird aber von Carnaps Kritik nicht in gleicher Weise getroffen. Sein Physikalismus lässt sich ohnehin als Annäherung an eine solche ontologische Position verstehen. Es waren denn auch gerade ontologische Fragen, die in der Tradition der analytischen Philosophie bald wieder aufbrechen sollten.

4. Der späte Ludwig Wittgenstein: Metaphysik als Missbrauch der Alltagssprache Philosoph der Alltagssprache. Im Jahr 1929 kehrte Wittgenstein nach Cam­

bridge zurück und entwickelte in den folgenden Jahren seine neue Sprachphilosophie. Während er sich früher im Anschluss an Frege und Russell um eine logische Analyse der Sprache bemüht hatte, wandte er sich nun unter dem Einfluss von George Edward Moore, der den Common sense gegen philosophische Kritik verteidigt hatte, der Alltagssprache und der in ihr enthaltenen Weltsicht zu. Die alltägliche Sprache wurde nun für Wittgenstein zum Muster des sinnvollen Redens über die Welt. Auch die Haltung Wittgensteins zur Metaphysik erfährt nun eine charakteristische Veränderung. Zwar ist er nach wie vor der Ansicht, dass die traditio-

Der späte Ludwig Wittgenstein: Metaphysik als Missbrauch der Alltagssprache 207

nelle Philosophie, vor allem die Metaphysik, sich mit bloßen Scheinproblemen befasst, doch während er früher die philosophischen Probleme durch eine logische Analyse der Sprache aufzulösen versuchte, sieht er den Ursprung der philosophischen Probleme nun im Missbrauch der Alltagssprache. „Wir sind, wenn wir philosophieren, wie Wilde, primitive Menschen, die die Ausdrucksweise zivilisierter Menschen hören, sie mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung ziehen.“26 Die Lösung philosophischer Probleme erfolgt daher durch die Herausstellung des allein zulässigen alltäglichen Sprachgebrauchs. Entstehung und Charakter der Spätphilosophie. In den 30er und 40er Jahren

entwickelte Wittgenstein seine neue Konzeption in Lehrveranstaltungen und fixierte sie in verschiedenen Manuskripten, die unter seinen Studenten und Kollegen zirkulierten. Seine Spätphilosophie war somit in Cambridge in den Grundzügen bereits bekannt, als sie nach seinem Tod in den Philosophischen Untersuchungen (1953) veröffentlicht wurde. Dieses Buch vertritt nicht nur inhaltlich eine Gegenposition zum Tractatus, sondern es hat auch eine völlig andere Form. An die Stelle des systematischen Aufbaus des Tractatus ist hier eine Sammlung von kurzen Reflexionen getreten, die sich thematisch zwar alle auf die Sprache und ihre verschiedenen Funktionen beziehen, die aber zunächst ziemlich unsystematisch wirken. In ihrer aphoristischen Form erinnern die Philosophischen Untersuchungen an die Schriften Nietzsches. Auch der apodiktische Ton des frühen Wittgenstein ist weitgehend verschwunden und hat einem vorsichtigeren, problemanalytischen Philosophieren Platz gemacht.27 Die Vielfalt des Sprachgebrauchs. Der späte Wittgenstein gibt seine frühere

Auffassung preis, dass die alleinige Funktion der Sprache in der Abbildung von Tatsachen besteht. Er betont nun, dass man mit der Sprache nicht nur Tatsachen beschreiben, sondern auch Versprechen geben, Befehle erteilen oder Gefühle ausdrücken kann. Den Hauptfehler seiner früheren Auffassung sieht er also darin, die Sprache allein unter dem Aspekt der Erkenntnis gesehen zu haben und damit den Gesichtspunkt, dass Sprechen eine Form des Handelns ist, ganz außer Acht gelassen zu haben.

26 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Schriften 1, Frankfurt am Main 1980, S. 379. 27 Zu Wittgensteins Selbstkritik am „Tractatus“ vgl. W. Stegmüller (1969) S. 564ff; A. Kenny (1974) S. 123 ff.

208 Sprachanalytische Metaphysikkritik

Indem Wittgenstein nunmehr seine Aufmerksamkeit auf das sprachliche Handeln richtet, schärft sich sein Blick auch für die soziale Einbettung der Sprache und für die zentrale Rolle, die die menschliche Interaktion beim Erlernen einer Sprache spielt. Kinder lernen eine Sprache, indem sie den Sprachgebrauch der Erwachsenen nachahmen und sich dadurch die Regeln der Sprache aneignen. Ein sprachlicher Ausdruck ist gelernt, wenn man ihn in normalen Alltagssituationen anzuwenden weiß. Da das Beherrschen einer Sprache dem Beherrschen eines Spiels ähnelt, bezeichnet Wittgenstein den regelhaften Gebrauch eines Ausdrucks als „Sprachspiel“.28 Mit der Herausstellung der gesellschaftlichen Bedingungen der Sprache verschiebt sich für Wittgenstein die philosophische Frage nach der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ganz auf das Sprachhandeln. Hatte er früher gesagt, dass ein Name ohne bezeichneten Gegenstand bedeutungslos ist, so sieht er nun, dass ein Name auch ohne einen solchen Gegenstand sinnvoll verwendet werden kann. Wittgensteins semantische Grundthese lautet nunmehr: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“29 Die verfehlte Suche nach dem Wesen. Der späte Wittgenstein ist der Ansicht,

dass die verschiedenen Funktionen der Sprache sich nicht auf eine einheitliche Grundfunktion zurückführen lassen. Es gibt also nicht ein allgemeines Wesen der Sprache, sondern nur verschiedene, mehr oder weniger verwandte Sprachfunktionen nebeneinander. Wittgenstein erläutert diese These am Beispiel der Spiele. Zwar bezeichnen wir Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele usw. alle mit Wort „Spiel“, doch lässt sich kein gemeinsames Merkmal der Spiele ausmachen. Die verschiedenen Arten von Spielen haben zwar gewisse „Familienähnlichkeiten“, aber kein allgemeines Wesen. Auf den nahe liegenden Einwand, dass es ein gemeinsames Wesen geben müsse, da die Sprache doch ein Wort dafür vorsehe, entgegnet Wittgenstein mit der Aufforderung, nicht zu „denken“, wie etwas angeblich sein muss, sondern zu „schauen“, wie es tatsächlich ist. Wie die verschiedenen Spiele kein allgemeines Wesen gemeinsam haben, so haben nach Wittgenstein auch die verschiedenen Funktionen der Sprache kein allgemeines Wesen, sondern lediglich Familienähnlichkeiten. Die Tatsache, dass die Sprache bestimmte Phänomene mit einem Wort bezeichnet, darf nach Wittgenstein also nicht als Grund für die Annahme verstanden werden, dass solche Phänomene stets ein

28 Zu Wittgensteins Auffassung von „Sprachspiel“ vgl. A. Newen / E. v. Savigny (1996) S. 93ff; W. Stegmüller (1969) S. 576ff; A. Kenny (1974) S. 186 ff. 29 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 311.

Der späte Ludwig Wittgenstein: Metaphysik als Missbrauch der Alltagssprache 209

gemeinsames Wesen haben. Die verfehlte Suche nach dem Wesen ist für Wittgenstein der Fehler des philosophischen „Essentialismus“.30 Der metaphysische Missbrauch der Alltagssprache. Innerhalb des sinnvollen all-

täglichen Sprachgebrauchs gibt es nach Wittgenstein zwei Arten sinnvoller Sätze. Die erste Art sinnvoller Sätze sind gewöhnliche empirische Sätze wie „Körper dehnen sich bei Erwärmung aus“, die etwas über die Wirklichkeit aussagen. Die zweite Art sinnvoller Sätze sind so genannte grammatische Sätze wie „der Ausdruck ‚Körper‘ verwendet man zur Bezeichnung ausgedehnter Dinge“, die etwas über die Sprache und den Sprachgebrauch aussagen. Die von Wittgenstein getroffene Unterscheidung zwischen empirischen und grammatischen Sätze entspricht im Wesentlichen der Carnapschen Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache. Sinnlose Scheinsätze kommen nun nach Wittgenstein dadurch zustande, dass diese beiden Arten sinnvoller Sätze verwechselt werden. So ist etwa der Satz „alle Körper sind ausgedehnt“ anscheinend eine Aussage über die Wirklichkeit. Genauer betrachtet erweist er sich jedoch als eine verschleierte Aussage über den Sprachgebrauch, insofern etwas, das nicht ausgedehnt ist, eben nicht „Körper“ genannt wird. Verleitet durch die sprachliche Form des Satzes, die wie ein gewöhnlicher empirischer Satz aussieht, verfällt man der Illusion, dass man eine Einsicht in die Wirklichkeit zu haben glaubt, obwohl man es lediglich mit einer Einsicht in den Sprachgebrauch zu tun hat. „Man glaubt, wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form entlang, durch die wir sie betrachten.“31 Die Verwechslung von Satzformen ist nach Wittgenstein eine für die Metaphysik typische Verwirrung. Ein instruktives Beispiel für den philosophischen Missbrauch der Alltagssprache liefert Wittgenstein in seiner Kritik der philosophischen Skepsis. Ein universaler Zweifel, wie etwa Descartes’ Zweifel an der Realität der Außenwelt, ist für ihn sinnlos, weil jeder Zweifel ein unbezweifeltes Bezugssystem voraussetzt. Während man sinnvoll bezweifeln kann, ob man bei einer bestimmten Wahrnehmung einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen ist, ist der philoso­ phische Zweifel an der Realität der Außenwelt sinnlos, weil die grundsätz­liche Zuverlässigkeit der Sinne zum Bezugssystem gehört, das einen sinnvollen Zweifel in Einzelfällen erst ermöglicht.32

30 Zu Wittgensteins Kritik des Essentialismus vgl. W. Stegmüller (1969) S. 610 ff. 31 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 343. 32 Zu Wittgensteins Kritik an Descartes vgl. A. Kenny (1974) S. 237 ff.

210 Sprachanalytische Metaphysikkritik

Philosophie als Therapie geistiger Verwirrungen. Da philosophische bzw. meta-

physische Konfusionen entstehen, wenn der verlässliche Pfad des alltäglichen Redens verlassen wird, sieht Wittgenstein die eigentliche Aufgabe der Philosophie darin, diesen Missbrauch der Alltagssprache aufzudecken und die dadurch entstandenen Missverständnisse zu beseitigen. „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“33 Philosophie wird damit zu einer Art „Therapie“ geistiger Verwirrungen. Die philosophischen Probleme werden wie eine Krankheit behandelt und geheilt, indem man ihre Ursachen aufdeckt und beseitigt. Die Alltagssprache und ihre Sprachspiele sind nach Wittgenstein in einer bestimmten soziokulturellen Lebensweise eingebettet und haben dadurch einen fundamentalen, nicht hintergehbaren Status für die Philosophie. Die Sprachspiele der Alltagssprache sind Grundphänomene, die weder erklärt noch kritisiert werden können. Die Philosophie muss die Sprachspiele vielmehr als Tatsachen schlicht zur Kenntnis nehmen. „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene‘ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt.“34 Daher fordert Wittgenstein auch, dass alle Erklärung verschwinden und durch Beschreibung ersetzt werden müsse. Die von Wittgenstein konzipierte Philosophie der Alltagssprache ist im Grunde ein konservatives Konzept, das darauf hinausläuft, die verzerrten Weltsichten der Metaphysik durch die philosophisch unbelastete, aber zutreffende Sicht der Alltagssprache zu ersetzen. Damit erhält der in der Alltagssprache verkörperte Common sense seine philosophische Sanktionierung. Wirkung. Mit seiner Spätphilosophie hat Wittgenstein die nach dem Ende des

Zweiten Weltkriegs in England entstandene Philosophie der Alltagssprache („ordinary language philosophy“) begründet. Einige Vertreter dieser Strömung wie Ryle und Strawson versuchten, metaphysische Fragen wie das Leib-SeeleProblem und das Problem der Willensfreiheit durch eine Analyse der Alltagssprache zu klären. Andere Vertreter wie Austin und Searle entwickelten eine Theorie des sprachlichen Handelns, die als „Sprechakttheorie“ sowohl die weitere Entwicklung der analytischen Sprachphilosophie als auch die einzelwissenschaftliche Linguistik befruchtet hat. Die in der Spätphilosophie Wittgensteins programmatisch geforderte Ausrichtung an der Alltagssprache hat dazu geführt, dass die Orientierung an mo33 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 343. 34 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 478.

Der späte Ludwig Wittgenstein: Metaphysik als Missbrauch der Alltagssprache 211

derner Logik und Wissenschaft, die für den logischen Empirismus charakteristisch war, hier in den Hintergrund trat. Diese Fixierung auf die Alltagssprache als Allheilmittel der Philosophie wurde jedoch schließlich als einseitig und unzureichend kritisiert und wieder preisgegeben. Für die analytische Philosophie, wie sie sich seit den 70er Jahren in den angelsächsischen Ländern entwickelt hat, sind die Analyse der Alltagssprache und die moderne Logik gleichberechtigte Zugangsweisen zu philosophischen Problemen geworden. Würdigung. Wittgensteins Programm, philosophische Themen durch Rekurs auf die Alltagssprache zu klären, hat in Einzelfällen zu wichtigen Ergebnissen geführt. Seine allgemeine Konzeption von Philosophie als Therapie geistiger Verirrungen ist dagegen eine Verabsolutierung einer Teilwahrheit, nämlich der Einsicht, dass bestimmte philosophische Auffassungen auf einem sprachlichen Missverständnis oder einem Missbrauch der Alltagssprache beruhen. Ähnlich wie Carnap hat Wittgenstein offenbar übersehen, dass eine Reihe philosophischer Fragen nicht in dieser Weise rein sprachanalytisch gelöst werden können. Die allgemeine These, dass philosophische Probleme bloße Scheinprobleme sind, hat auch hier Schiffbruchbruch erlitten. Wittgensteins Philosophiekonzeption versteht die Alltagssprache als sakrosankte Basis des Philosophierens. Für eine solche Rolle ist die Alltagssprache aber kaum geeignet, weil sie selber schon durch die Sprache der philosophischen Tradition durchsetzt ist. Außerdem berücksichtigt diese Philosophiekonzeption nicht genügend, dass es Sprachwandel gibt und dass der Mensch diesen Wandel, zumindest partiell, bewusst beeinflussen kann. Wittgensteins Philosophiekonzeption tendiert damit dazu, die historisch zufällige Realitätssicht der Alltagssprache zu dogmatisieren. Wenn die Philosophie sich aber nicht gegen die Errungenschaften der modernen Wissenschaften abschotten will, kann sie sich auch die Lösung philosophischer Probleme nicht einfach durch die implizite Ontologie der Alltagssprache, die ja gerade auch die Vorurteile des „Alltagsverstandes“ enthält, vorgeben lassen.

VIII. Analytische Ontologie

Der nach der Machtergreifung Hitlers einsetzende Exodus deutscher Gelehrter und Künstler führte unter anderem dazu, dass die Entwicklung der sprachanalytischen Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg sich zunächst fast ausschließlich in den angelsächsischen Ländern abspielte. Dabei bildeten sich zwei Traditionen heraus. Zur herrschenden Strömung in England wurde die auf den späten Wittgenstein zurückgehende Philosophie der Alltagssprache. In den USA folgte die Philosophie dagegen der Tradition des logischen Empirismus des Wiener Kreises und der von ihm propagierten Auffassung, dass philosophische Fragen durch Konstruktion einer logisch präzisen Kunstsprache zu lösen sind. Diese beiden Traditionen näherten sich im Laufe der 60er Jahre einander an, bis sie zu der einheitlichen Strömung der „analytischen Philosophie“ verschmolzen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur dominierenden Strömung der modernen Philosophie überhaupt aufsteigen sollte. Die analytische Philosophie, die die früheren einseitigen Orientierungen an mathematischer Logik bzw. Alltagssprache hinter sich gelassen hat, zeichnet sich vor allem durch das Bemühen aus, philosophische Probleme, soweit als irgend möglich, durch Analyse und Argumente zu klären, wobei die Methoden der modernen Logik und Semantik verwendet, aber auch die Ergebnisse der Wissenschaften und die Regeln der Alltagssprache je nach Bedarf herangezogen werden. Auch die Einstellung zur Metaphysik hat in beiden Traditionen eine charakteristische Veränderung erlebt. Die Philosophie der Alltagssprache war ursprünglich ganz antimetaphysisch eingestellt, insofern sie im Anschluss an Wittgenstein philosophische Probleme als bloße Scheinprobleme betrachtete, die durch den Missbrauch der Alltagssprache entstanden seien. Zu einer positiven Einstellung zur Metaphysik gelangte man jedoch, als man die Analyse ontologischer Begriffe der Alltagssprache als philosophische Aufgabe in Angriff nahm. Auch der Wiener Kreis war ursprünglich strikt antimetaphysisch ausge-

Analytische Ontologie 213

richtet. Doch im Verlaufe der kritischen Diskussion um das empiristische Sinnkriterium, auf das sich die These der „Sinnlosigkeit der Metaphysik“ ja stützte, setzte sich im logischen Empirismus der Nachkriegszeit schließlich eine tolerantere Einstellung zur Metaphysik durch. Entscheidende Anstöße für diese Entwicklung gingen von den Kritiken aus, die Popper und Quine am logischen Empirismus geübt hatten und die je auf verschiedene Art die Position des Wiener Kreises als eine verfehlte, dogmatische Form von Positivismus (oder Empirismus) herausgestellt hatten. Metaphysik und vor allem Ontologie galten nun nicht mehr als schlicht sinnlos, sondern als Inspiration, Vorarbeit oder Ergänzung der Wissenschaften. Als die beiden Traditionen dann zu der einheitlichen Strömung der analytischen Philosophie verschmolzen, hatte sich die Anerkennung von Ontologie als sinnvoller philosophischer Aufgabe weitgehend durchgesetzt. Die Anfänge der analytischen Ontologie liegen in den einflussreichen Beiträgen, die Ryle, Strawson und Quine in den 40er und 50er Jahren publizierten. Eine scharfe Kritik des traditionellen, von Descartes geprägten Leib-Seele-Dualismus lieferte Gilbert Ryle, indem er das Konzept einer immateriellen SeelenSubstanz als einen philosophischen Mythos interpretierte. Im Gegensatz dazu hat Peter Strawson eine dualistische Ontologie von Materie und Person entwickelt, die er als grundlegende, auch den Wissenschaften vorangehende Form menschlichen Weltverständnisses betrachtet. Willard v. O. Quine kritisierte grundlegende Annahmen des Wiener Kreises als „Dogmen des Empirismus“ und machte zugleich auf die ontologischen Voraussetzungen wissenschaftlicher Theorien aufmerksam. In kritischer Fortführung dieser Ansätze entstand in den folgenden Jahren und Jahrzehnten die analytische Philosophie des Geistes („philosophy of mind“). Grundlegendes Anliegen dieser Strömung ist es, ein philosophisches Verständnis des menschlichen Bewusstseins zu entwickeln, das sowohl mit den Ergebnissen moderner Wissenschaften verträglich ist als auch den Anforderungen logisch-semantischer Präzision und Klarheit genügt. Ein zentrales Thema dieser Strömung ist die Frage, ob und, wenn ja, in welchem präzisen Sinne eine analytische Philosophie des Geistes materialistisch ist. Die analytische Ontologie wurde damit zu einem wichtigen Austragungsort des modernen Streits um den Materialismus.



Vgl. oben Kap. VII, S. 201 f.

214 Analytische Ontologie

1. Gilbert Ryle: Sprachanalytische Kritik des Leib-Seele-Dualismus Sprachphilosoph und Metaphysikkritiker. Zu den Hauptvertretern der Philoso-

phie der Alltagssprache, die nach dem Zweiten Weltkrieg die philosophische Szene in England beherrschte, gehörte neben John Austin und Peter Strawson auch Gilbert Ryle. In seiner philosophischen Grundhaltung schloss Ryle sich weitgehend dem späten Wittgenstein an. Wie dieser sah er die Aufgabe der Philosophie darin, die sinnlose Verwendung der Sprache in der traditionellen Philosophie zu entlarven, und wie dieser versuchte er die philosophischen Begriffsverwirrungen durch Rekurs auf die Alltagssprache zu lösen. Anders als die logischen Empiristen des Wiener Kreises betrachtete er die formale Logik nicht als philosophisches Allheilmittel und auch die Sätze der Wissenschaften galten ihm nicht einfach als Muster sinnvoller Sätze. Vielmehr war er der Ansicht, dass der sinnvolle Sprachgebrauch der Alltagssprache umfassender ist als die Sprache der Wissenschaften. Zur Geschichte der modernen Metaphysik gehört Ryle vor allem wegen seiner Kritik am traditionellen Leib-Seele-Dualismus. Diese Lehre beruht nach seiner Ansicht auf „Kategorienfehlern“, d. h. auf Verstößen gegen die Regeln der Alltagssprache. Als Alternative zum psychophysischen Dualismus versuchte er den in der Alltagssprache enthaltenen und zugleich philosophisch akzeptablen Begriff des Geistes herauszuarbeiten. Gegenüber Metaphysik und Ontologie blieb Ryle zwar distanziert, doch hat er durch seine philosophische Konzeption des Geistes die Erneuerung der Ontologie innerhalb der analytischen Philosophie vorbereitet. Leben und Werk. Gilbert Ryle wurde am 19. August 1900 in Brighton geboren.

Von 1919 bis 1924 studierte er klassische Philologie und Philosophie in Oxford, wo er anschließend als Dozent wirkte. In seinen frühen Jahren befasste er sich auch mit der Phänomenologie, doch unter dem Einfluss des Wiener Kreises wandte er sich der Analyse missverständlicher sprachlicher Ausdrücke und Redewendungen zu. Um genauere Informationen über diese neue Strömung zu erhalten, schickte er 1932 seinen Schüler Alfred Ayer zu einem Studienaufenthalt nach Wien. Im Jahr 1945 wurde Ryle Professor für Metaphysik in Oxford 

Zu Ryles Auffassung von Philosophie vgl. A. Kemmerling (1984) S. 128 ff.

Gilbert Ryle: Sprachanalytische Kritik des Leib-Seele-Dualismus 215

und in den Jahren 1948 bis 1971 war er Nachfolger Moores als Herausgeber der renommierten philosophischen Zeitschrift „Mind“. Große Beachtung fand sein Hauptwerk The Concept of Mind (1949; dt. Der Begriff der Geistes, 1969), worin seine sprachanalytische Kritik am Leib-Seele-Dualismus enthalten ist. Mit seiner Schrift Dilemmas (1954; dt. Begriffskonflikte, 1970) setzte er seine sprachkritischen Bemühungen fort. Als ausgezeichneter Kenner der griechischen Philosophie präsentierte er sich in dem Buch Plato’s Progress (1966). Ryle wurde 1968 emeritiert. Er starb am 6. Oktober 1976 in Whitby bei Oxford. Wider das Dogma vom Gespenst in der Maschine. In seiner Schrift Der Begriff

des Geistes (1949) wendet Ryle sich gegen die von Descartes begründete Lehre, dass Körper und Geist zwei voneinander unabhängige Substanzen sind. Dieser traditionelle Leib-Seele-Dualismus, den er polemisch als „Descartes’ Mythos“ und als „Dogma vom Gespenst in der Maschine“ bezeichnet, besteht nach seiner Ansicht aus folgenden Hauptthesen: Der Körper befindet sich in Raum und Zeit, unterliegt den Gesetzen der Mechanik und ist der externen Beobachtung zugänglich. Im Gegensatz dazu existiert der Geist nur in der Zeit, folgt nicht den mechanischen Gesetzen und ist nur der Introspektion zugänglich. Die öffentliche Natur des Körpers und die private Natur des Geistes hat nach Ryle die Konsequenz, dass jeder Mensch, da in ihm Körper und Geist miteinander verbunden sind, zwei parallele Lebensläufe durchlebt, nämlich einen öffentlichen und einen dahinter verborgenen privaten. Aus dieser Theorie Descartes ergeben sich nach Ryle einige Probleme, an denen sich die neuzeitliche Metaphysik vergeblich abgearbeitet hat. Ein zentrales Problem betrifft zunächst den Zusammenhang zwischen Körper und Geist. Obgleich Körper und Geist nach Descartes wechselseitig aufeinander einwirken, nämlich der Geist auf den Körper im Handeln und der Körper auf den Geist in der Wahrnehmung, bleibt doch eine kausale Verknüpfung zwischen zwei völlig verschiedenen Substanzen unbegreiflich. Ein weiteres Problem sieht Ryle darin, dass das „Fremdseelische“ problematisch wird, da das Bewusstsein anderer Personen Descartes zufolge prinzipiell unbeobachtbar ist. Wie kann man sicher sein, ob ein Mensch, dem man begegnet, eine wirkliche Person mit

Gilbert Ryle (1900–1976) Vertreter der Philosophie der Alltagssprache und Kritiker des klassischen Leib-Seele-Dualismus

216 Analytische Ontologie

Bewusstsein ist oder ein Roboter, der intelligentes Verhalten nur simuliert? „Nach dieser Theorie ist absolute Einsamkeit das unausweichliche Geschick der Seele. Nur unsere Körper können einander finden.“ Ein Problem betrifft schließlich die Natur des Geistes selbst. In der Nachfolge Descartes’ setzte sich immer mehr die Auffassung durch, dass auch das Vorstellungsleben Gesetzen unterworfen ist. In Analogie zur materiellen Natur nahm man schließlich an, dass auch die Folge der Vorstellungen verursacht ist und dass Vorstellungen andere Vorstellungen verursachen können. Damit wurde jedoch, wie Ryle hervorhebt, das mechanistische Modell stillschweigend auf das Geistesleben übertragen. Die Folge war, dass der Geist quasimechanischen Gesetzen unterliegen sollte. Kategorienfehler. Nach Ryle sind die erwähnten traditionellen Probleme des

Leib-Seele-Dualismus bloße Scheinprobleme, die auf Verstößen gegen die Regeln der Alltagssprache beruhen. Sie basieren nämlich auf einer Verwechslung logisch heterogener Kategorien. An folgendem Beispiel erläutert er diese These des „Kategorienfehlers“: Einem Fremden wird die Universität Oxford gezeigt. Nachdem er nacheinander die Colleges, die Bibliotheken, die Laboratorien, die Verwaltungsgebäude usw. gesehen hat, fragt er noch: „Und wo ist die Universität?“ Der Fehler dieser offenbar unsinnigen Frage besteht nach Ryle in der irrigen Annahme, dass die Universität selbst ein Teil derselben Klasse von Einrichtungen sei, die man ihm gezeigt hat. Der Fremde muss daher darüber aufgeklärt werden, dass er den Sinn des Oberbegriffs „Universität“ nicht verstanden habe und dass er die Kategorien von Klasse und Element verwechsle. Eine ähnliche Verwechslung von Kategorien findet Ryle im Leib-SeeleDualismus. Indem man Körper und Geist als zwei Substanzen begriff, setzte man voraus, dass Körper und Geist zwei Elemente desselben Typs sind, nämlich zwei Arten von Substanzen. „Die Unterschiede zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen wurden so als Unterschiede innerhalb des gemeinsamen Rahmens der Kategorien ‚Ding‘, ‚Material‘, ‚Eigenschaft‘, ‚Zustand‘, ‚Vorgang‘, ‚Veränderung‘, ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ dargestellt. Geister sind Dinge, aber Dinge von anderer Art als Körper; geistige Vorgänge sind Ursachen und Wirkungen, aber Ursachen und Wirkungen anderer Art als Körperbewegungen.“ Weil ein solcher gemeinsamer begrifflicher Rahmen vorausgesetzt wurde, konnte das mechanistische Modell unter der Hand auf den Geist übertragen werden. Als

 

G. Ryle: Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, S. 12. G. Ryle: Der Begriff des Geistes, S. 18.

Gilbert Ryle: Sprachanalytische Kritik des Leib-Seele-Dualismus 217

Folge davon entstand die quasimechanistische Auffassung des Geistes, wodurch die Seele zum „gespensterhaften“ Gegenstück des Körpers wurde. Aus seinen Analysen folgert Ryle, dass die traditionelle Unterscheidung von Materie und Geist verfehlt ist, weil sie unterstellt, dass beide Begriffe derselben Kategorie angehören. Damit erweist sich aber auch die Streitfrage zwischen Materialismus und Idealismus als verfehlte Fragestellung. Die Frage „Gibt es Körper und Geist, oder gibt es nur eines von beiden?“ ist nach Ryle ebenso unsinnig wie die Frage: „Kam er aus Angst und aus dem Haus, oder nur aus einem von beiden?“ Die Eigenart des Geistigen wird nach Ryle durch den metaphysischen Dualismus gänzlich verdeckt. Voraussetzung für einen angemessenen Begriff des Geistes ist hingegen, dass Körper und Geist nicht mehr als zwei Formen eines Typs gefasst werden, sondern dass sie als ganz verschiedene Kategorien erkannt werden. Dispositionen als Wesen geistiger Eigenschaften. Ein Grundanliegen Ryles be-

steht nun in dem Nachweis, dass geistige Phänomene nicht als verborgene innere Vorgänge, gleichsam als „inneres Theater“, zu verstehen sind. Die Auffassung, dass mentale Ausdrücke ein inneres Geschehen bezeichnen, kritisiert er vielmehr als „intellekualistische Legende“. Mentale Prädikate, durch die geistige Eigenschaften repräsentiert werden, stehen nach Ryle nicht für geistige „Vorgänge“, sondern vielmehr für „Dispositionen“, d. h. für Tendenzen oder Neigungen von Personen, unter bestimmten Umständen in einer bestimmten Weise zu handeln. So bedeutet das Prädikat „geizig“ etwa, dass eine Person die Disposition hat, in bestimmten Situationen – wenn sie z. B. zur Hilfe für Notleidende aufgefordert wird – nichts oder nur wenig zu spenden. Ähnlich sind nach Ryle auch mentale Prädikate wie „wissen“ oder „wollen“ als Dispositionen zu verstehen. Sätze wie „sie weiß“ oder „er will“ bedeuten nicht, dass jemand gerade innere geistige Akte des Denkens oder Wollens vollzieht, sondern dass sie oder er dazu neigt, unter bestimmten Umständen etwas zu sagen oder zu tun. Entsprechend beziehen wir uns nach Ryle, wenn wir von einer „intelligenten Handlung“ sprechen, nicht auf das verborgene innere Geschehen des Denkens, das einer Handlung vorangeht, sondern auf eine bestimmte Art von Handlung selbst. Der Grundfehler von Descartes’ Mythos sieht Ryle also darin, Dispositionen als unbeobachtbare, innere Vorgänge misszuverstehen. „Die traditionelle Theorie des Geistes hat die Typenunterscheidung zwischen Disposition und 

Zu Ryles Kritik der „intellektualistischen Legende“ vgl. A. Kemmerling (1984) S. 137 ff.

218 Analytische Ontologie

Betätigung in einen mythischen Zwiespalt zwischen unbeobachtbaren geistigen Ursachen und beobachtbaren geistigen Wirkungen mißdeutet.“ Dispositionen sind also Neigungen und Tendenzen von Personen, aber keine Vorgänge oder Ereignisse. Werden Dispositionen jedoch unter bestimmten Bedingungen verwirklicht, dann manifestieren sie sich stets im beobachtbaren äußeren Verhalten. Es gibt daher nach Ryle auch nicht zwei parallele Lebensläufe einer Person, sondern jede Person hat als handelndes Wesen nur eine Geschichte. Logischer Behaviorismus. Indem Ryle geistige Eigenschaften als Dispositionen

versteht, deren Manifestationen im Handeln liegen, führt er ähnlich wie der Behaviorismus Geistiges auf Verhalten zurück. Seine Position wird daher gewöhnlich als eine Form von Behaviorismus verstanden, doch sind einige Unterschiede zu beachten. Anders als radikale Behavioristen, die menschliches Verhalten nicht nur ohne Bezugnahme auf Bewusstsein erklären, sondern die darüber hinaus Geistiges als Phänomen schlicht leugnen, hat Ryle die Existenz geistiger Phänomene nicht bestritten, sondern nur ihre Deutung als innerer Vorgänge abgelehnt. Außerdem hat er im Gegensatz zu der von Behavioristen häufig vertretenen Forderung, das Verhalten in rein physikalischen Begriffen zu beschreiben, auch biologische Begriffe zur Beschreibung des Verhaltens als zulässig betrachtet. „Der Mensch braucht durch die Behauptung, er sei kein Gespenst in einer Maschine, nicht zu einer Maschine degradiert zu werden. Er könnte schließlich doch eine Art Lebewesen sein, nämlich ein höheres Säugetier. Es muß noch der verwegene Sprung zu der Hypothese gewagt werden, daß er vielleicht ein Mensch sei.“ Einen reduktiven Materialismus oder Physikalismus, wie er etwa von Carnap vertreten wurde, lehnt Ryle damit ab. Der entscheidende Unterschied zu anderen Formen des Behaviorismus besteht jedoch darin, dass Ryle einen „logischen Behaviorismus“ vertritt. Unter diesem Etikett wird gewöhnlich seine Auffassung zusammengefasst, dass menschliche Handlungen sich durch Dispositionen zwar erklären lassen, dass aber in solchen Erklärungen die Ursachen der Handlungen noch nicht angegeben werden. Seine Auffassung, dass eine „dispositionale“ Erklärung keine kausale Erklärung ist, sondern nur die logische Einordnung eines Elements in eine Klasse, erläutert Ryle an Beispielen folgender Art: Erklärt man das geizige Verhalten einer Person mit dem Hinweis auf ihre Eigenschaft des Geizes, so ordnet man die geizige Handlung lediglich einem allgemeinen Verhaltensmuster zu. Man sagt im Grunde nur, dass die Person jetzt geizig handelt, weil Geiz zu ih 

G. Ryle: Der Begriff des Geistes, S. 38. G. Ryle: Der Begriff des Geistes, S. 451.

Gilbert Ryle: Sprachanalytische Kritik des Leib-Seele-Dualismus 219

rem Charakter gehört oder weil sie im Allgemeinen dazu neigt, geizig zu handeln. Eine solche logische Einordnung als Fall in eine Klasse nennt aber nicht die Ursache, die die Disposition Geiz in einem konkreten Fall ausgelöst hat. Indem Ryle Dispositionen nicht als Ursachen von Handlungen betrachtet, unterscheidet sich seine Auffassung von späteren materialistischen Theorien, die Dispositionen als manifeste Gehirnzustände betrachten und sie damit zu den kausalen Faktoren von Handlungen zählen. Wirkung. Ryle hat durch seine Analysen des philosophischen und alltäglichen

Sprachgebrauchs die weitere Entwicklung der Philosophie der Alltagssprache in den 50er und 60er Jahren maßgeblich beeinflusst. Auch wenn er seinen logischen Behaviorismus selbst nicht als ontologische Position betrachtete, hat er doch zum Wiederaufleben ontologischer Fragen in der analytischen Philosophie erheblich beigetragen. Vor allem aber hat seine sprachanalytische Kritik des traditionellen Leib-Seele-Dualismus dazu geführt, dass diese Position aus der modernen Metaphysik und Ontologie weitgehend verschwunden ist. Würdigung. Gegen Ryles logischen Behaviorismus wurden allerdings gravie-

rende Einwände vorgebracht. Seine Grundthese, dass geistige Eigenschaften sich als Dispositionen verstehen lassen, hat sich bei Prädikaten wie „können“ oder „geizig“ als fruchtbar erwiesen. Dass jedoch auch Prädikate wie „denken“, „vorstellen“ oder „fühlen“ sich als Neigungen zu bestimmten Handlungen angemessen deuten lassen, wurde dagegen zunehmend bestritten. Ryles behavioristisches Programm, geistige Eigenschaften generell auf Dispositionen zu Handlungen zurückzuführen, ist jedenfalls auf große Schwierigkeiten gestoßen. Auch seine Auffassung, dass geistige Eigenschaften zwar Dispositionen, aber keine Ursachen von Handlungen sind, hat sich im Laufe der Diskussion als fraglich herausgestellt. Wenngleich die weitere Entwicklung der analytischen Philosophie über Ryles Ansatz hinausgegangen ist, war sein Werk doch ein wichtiger Ausgangs- und Bezugspunkt der späteren Debatten in der analytischen Philosophie des Geistes.



Zu Ryles Verhältnis zum Behaviorismus vgl. A. Kemmerling (1991) S. 530 f.

220 Analytische Ontologie

2. Peter F. Strawson: Sprachanalytische Ontologie von Körper und Person Sprachphilosoph und Ontologe. Mit Strawson begegnen wir dem Vertreter der Philosophie der Alltagssprache, der als Erster zu einer positiven Einstellung zur Metaphysik vorgedrungen ist. Wie Wittgenstein und Ryle sieht Strawson die Aufgabe der Philosophie in der Analyse des alltäglichen Sprachgebrauchs und in der Klärung der Grundbegriffe des alltäglichen Denkens. Allerdings teilt Strawson nicht mehr deren Auffassung, dass die philosophischen Probleme bloße Scheinprobleme sind, die sich aus dem Missbrauch der Alltagssprache ergeben. Gegen Wittgensteins programmatische Forderung, die Metaphysik durch eine Analyse der Alltagssprache verschwinden zu lassen, setzt er vielmehr die These, dass die Alltagssprache selbst metaphysische Begriffe enthält und dass es Aufgabe der Philosophie ist, diese Begriffe zu analysieren. Metaphysik (bzw. Ontologie) ist somit der Teil philosophischer Sprachanalyse, der sich mit den allgemeinsten Begriffen und Kategorien befasst, mit deren Hilfe die Welt gedacht wird. Eine solche sprachanalytische Ontologie bemüht sich um die Klärung der grundlegenden Merkmale der Welt und des Menschen, die im Sprachgebrauch vorausgesetzt werden. Die letzten metaphysischen Fragen nach Gott und dem Sinn des Lebens bleiben so zwar ausgespart, doch beendet Strawson damit die Metaphysikabstinenz innerhalb der vom späten Wittgenstein ausgehenden Tradition der Philosophie der Alltagssprache. Leben und Werk. Peter Frederic Strawson, am 23. November 1919 in London

geboren, studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Volkswissenschaft in Oxford von 1937 bis 1940. Nach dem Zweiten Weltkrieg, den er als Soldat erlebte, kehrte er 1947 nach Oxford zurück und wurde hier 1948 Dozent. 1968 wurde er Nachfolger Ryles als Professor für Metaphysik. Strawson trat zunächst mit Aufsätzen zu logischen und sprachphilosophischen Themen hervor. Bekannt wurde er 1950 mit seinem Aufsatz über die sprachliche Bezugnahme („On Referring“), der eine kritische Auseinandersetzung mit Russells Theorie der Kennzeichnungen enthält. Der Herausarbeitung der Unterschiede zwischen formaler Logik und Alltagssprache war sein erstes Buch Introduction to Logical Theory



Strawson unterscheidet begrifflich nicht zwischen Metaphysik und Ontologie, doch ist seine Konzeption, da religiöse Fragen in ihr keine Rolle spielen, in erster Linie Ontologie.

Peter F. Strawson: Sprachanalytische Ontologie von Körper und Person 221

(1952) gewidmet. In seinem Hauptwerk Individuals (1959; dt. Einzelding und logisches Subjekt, 1972) vollzog er danach den Schritt zu einer sprachanalytischen Ontologie. Ziel seines Aufsatzes Freedom and Resentment (1962; dt. Freiheit und Übelnehmen, 1978) ist der Nachweis, dass ein grundlegendes Freiheitsverständnis schon in der Alltagsprache verankert ist. In seiner Schrift The Bounds of Sense (1966; dt. Die Grenzen des Sinnes, 1981), die sich im Untertitel als Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft zu erkennen gibt, befasst er sich mit den Gemeinsamkeiten zwischen seiner sprachanalytischen Ontologie und Kants transzendentalem Idealismus. Aus Gastvorlesungen hervor gingen seine Schriften Scepticism and Naturalism (1985; dt. Skeptizismus und Naturalismus, 1987) und Analysis and Metaphysics (1992; dt. Analyse und Metaphysik, 1994). Strawson, der bis zu seiner Emeritierung 1987 in Oxford lehrte, erhielt zahlreiche Ehrungen und Einladungen zu Gastvorlesungen und wurde 1977 in den Adelsstand erhoben. Er starb am 13. Februar 2006 in Oxford. Die Konzeption der sprachanalytischen Ontologie. Mit seiner sprachanaly-

tischen Ontologie beansprucht Strawson die Nachfolge der klassischen, auf Aristoteles zurückgehenden Ontologie anzutreten. Während die traditionelle Ontologie nach dem Seienden fragte, also die Prinzipien und Grundtypen des Seienden herausarbeiten wollte, soll die Begriffsanalyse die Grundbegriffe der Gegenstände klären, die wir für wirklich halten. Traditionelle und sprachanalytische Ontologie unterscheiden sich nach Strawson somit in der Form der Darstellung. Im Unterschied zum objektiv-ontologischen Redestil, der für die Ontologie früher charakteristisch war, verwendet die sprachanalytische Ontologie einen begrifflichen Redestil. „Die Frage also ‚Was sind unsere allgemeinsten Begriffe oder Begriffstypen von Dingen?‘ und die andere Frage: ‚Was sind die allgemeinsten Typen von Dingen, die wir für seiend oder existierend halten?‘, laufen tatsächlich auf dasselbe hinaus.“10 Der begriffliche Redestil hat nach Strawson aber den Vorteil, dass er ein klareres Bewusstsein über das tatsächliche phi10 P. F. Strawson: Analyse und Metaphysik, München 1994, S. 50.

Peter Strawson (1919–2006) Vertreter einer analytischen Ontologie der Alltagssprache und Kritiker des Materialismus

222 Analytische Ontologie

losophische Tun enthält und dadurch Irrwege der Metaphysik und Ontologie leichter vermeiden kann. Zu dem begrifflichen Grundgerüst des Weltverstehens gehören nach Strawson eine Reihe zentraler, selbstverständlicher Kategorien wie „Ursache“, „Existenz“, „Ding“ oder „Zeit“. Solche Kategorien haben das menschliche Denken zu allen Zeiten beherrscht und sind in ihrem Kern unveränderlich. Sie sind hochgradig allgemein, nicht weiter zerlegbar und für jedes Weltverstehen unverzichtbar. „Es gibt nämlich im menschlichen Denken einen sehr großen Zentralbereich, der keine Geschichte hat […] Es gibt Kategorien und Begriffe, die sich in ihrem Grundcharakter überhaupt nicht ändern. Offensichtlich sind dies nicht die Spezialbegriffe des höchst entwickelten Denkens. Es sind die Selbstverständlichkeiten des am wenigsten entwickelten Denkens …“11 Da Strawson sich nur mit diesen festen, unveränderlichen Kategorien befasst, verfährt er deskriptiv, indem er Eigenart und Inhalt dieser Kategorien beschreibt. Es gibt nach Strawson zwar auch eine „revisionäre“ oder reformierende Metaphysik (bzw. Ontologie), die auf die Korrektur von Kategorien abzielt, doch veränderlich und reformierbar sind nach seiner Ansicht nur die weniger zentralen Kategorien. Die Klärung der Grundbegriffe des Weltverstehens erreicht Strawson nicht etwa dadurch, dass er sie definieren oder im Sinne des Empirismus auf das „Gegebene“ der Erfahrung zurückführen würde, sondern vielmehr dadurch, dass er die Stellung der Kategorien im allgemeinen Begriffssystem beschreibt, also ihre gegenseitigen Abhängigkeiten und Verknüpfungen offen legt. So ist z. B. der Begriff des Dinges nicht ohne den Begriff der Eigenschaft zu verstehen, und die Klärung des Eigenschaftsbegriffs erfordert wiederum den Begriff einer Ursache, die Eigenschaften von Dingen hervorruft oder verändert. Die Kategorien des menschlichen Weltverstehens bilden somit für Strawson ein kompliziertes, kunstvolles Netz. Im Anschluss an Kant, aber auch in Übereinstimmung mit der Phänomenologie Husserls und Heideggers, nimmt Strawson an, dass die Grundbegriffe des menschlichen Weltverstehens die Minimalstruktur jeder möglichen Erfahrung bestimmen und damit zugleich ein philosophisches Weltbild enthalten, das den stillschweigend vorausgesetzten Rahmen des alltäglichen Denkens und Redens und die Ausgangsbasis wissenschaftlicher Begriffe und Theorien bildet. Da dieser begriffliche Rahmen für jedes Weltverständnis verbindlich ist, kann er weder sinnvoll in Frage gestellt werden, wie dies die traditionelle Skepsis immer 11

P. F. Strawson: Einzelding und logisches Subjekt, Stuttgart 1972, S. 10.

Peter F. Strawson: Sprachanalytische Ontologie von Körper und Person 223

wieder getan hat, noch kann er, wie Kant dies versucht hat, selbst noch einmal begründet oder gerechtfertigt werden. Auch die These Kants, dass die Welt „an sich“ völlig anders ist (oder sein könnte), ist nach Strawson schlicht sinnlos. Dass der begriffliche Rahmen gleichsam als naturgegeben hinzunehmen ist, ist die Grundthese seines gemäßigten Naturalismus.12 Die sprachliche Bezugnahme auf Einzeldinge. In Einzelding und logisches Subjekt

(1959) geht Strawson von der Tatsache aus, dass Menschen sich über Objekte verständigen können. Wir beziehen uns auf Gegenstände in Sätzen wie „Dies ist ein teures Auto“, „Peter ist hungrig“ oder „Der äußerste Planet unseres Sonnensystems hat einen Durchmesser von x Kilometern“. In diesen Sätzen erfolgt die Bezugnahme auf den jeweiligen Gegenstand mit Hilfe eines Demonstrativpronomens, eines Eigennamens und einer Kennzeichnung. An einer solchen Bezugnahme („Referenz“) auf Gegenstände zeigt sich nach Strawson, was für existent gehalten wird. Im Unterschied zu Russell und Quine hält Strawson damit an der Auffassung fest, dass die gewöhnliche alltagssprachliche Verwendung von Eigennamen und Kennzeichnungen eine Bezugnahme auf Seiendes darstellt.13 Strawson stellt auch klar, dass eine erfolgreiche Bezugnahme nicht auf die unmittelbare Anwesenheit des Gegenstandes angewiesen ist. Neben einer solchen direkten gibt es auch eine indirekte Bezugnahme auf einen abwesenden Gegenstand, wenn dieser Gegenstand in der (mit der Bezugnahme verknüpften) Beschreibung so genau bestimmt wird, dass er in eine eindeutige Beziehung zu gegebenen Gegenständen gesetzt werden kann. Die grundlegende Bedingung dafür, dass eine identifizierende Bezugnahme auf Gegenstände gelingen kann, sieht Strawson darin, dass die Gegenstände der raum-zeitlichen Welt angehören und sich in ihr lokalisieren lassen. Außerdem müssen sie eine gewisse Stabilität besitzen und wiedererkennbar sein. So ist nach Strawson eine Welt, die nicht in Raum und Zeit wäre, schlicht unvorstellbar, wohingegen wir uns eine farblose und klanglose Welt vorstellen können. Raum und Zeit gehören somit zu den notwendigen Begriffen des menschlichen Weltverstehens. Die Gegenstände, die die Bedingungen erfolgreicher Bezugnahme erfüllen, sind nach Strawson in erster Linie die Einzeldinge („individuals“) der raumzeitlichen Welt wie Bäume, Steine, Tiere, Landschaften und der Mensch. Einzeldinge haben aber nicht nur einen bestimmten Platz in der raum-zeitlichen 12 13

Zu Strawsons Naturalismus vgl. A. F. Koch (1991) S. 589 f. Einzelheiten zu Strawsons diffiziler Theorie des Bezeichnens finden sich bei J. Schulte: Peter Frederic Strawson. In: A. Hügli / P. Lübcke (1993) S. 433 ff.

224 Analytische Ontologie

Welt, sondern sie besitzen außerdem ein selbständiges Sein und sind daher ontologisch primär. Denn nicht alles, worauf referiert wird, hat in der Ontologie einen primären Platz als selbständiges Wirkliches. Man kann auch auf Eigenschaften und Relationen referieren, etwa wenn man sagt „Mut ist eine Tugend“ oder „Peter ist größer als Paul“. Doch Eigenschaften und Relationen werden stets von Einzeldingen ausgesagt. Sie sind also von Einzeldingen abhängig und daher ontologisch sekundär. Nur Einzeldinge sind, wie Strawson sagt, die Objekte primärer Referenz und nur sie sind damit das Modell des ursprünglichen, selbständigen Seienden. Mit der Herausstellung des grundlegenden ontologischen Status der Einzeldinge knüpft Strawson bewusst an die Ontologie des Aristoteles an. Aristoteles hatte in seiner Kategorien-Schrift die gewöhnlichen materiellen Dinge als „erste Substanzen“ bezeichnet und zugleich betont, dass Ausdrücke für Sub­ stanzen in Sätzen nur als Subjekt auftreten können, nie als Prädikat. Ganz in diesem Sinn behauptet auch Strawson, dass Ausdrücke für Einzeldinge, im Unterschied zu Ausdrücken für Universalien, nur als Subjekt auftreten können. Der Begriff der Person. Die von Strawson als Objekte primärer Referenz he-

rausgestellten Einzeldinge sind allesamt Gegenstände der raum-zeitlichen Welt, also körperliche Dinge. Innerhalb der körperlichen Welt gibt es nach Strawson aber zwei Grundtypen von Einzeldingen, nämlich materielle Objekte (im engeren Sinne) und Personen. Materielle Objekte besitzen lediglich physische Eigenschaften wie Masse oder Länge. Personen sind zwar auch körperliche Wesen mit physischen Eigenschaften, aber sie haben darüber hinaus auch geistige Eigenschaften. Im Unterschied zu materiellen Objekten können Personen also physische und mentale Prädikate zugesprochen werden. Personen sind Lebewesen, die über ein Bewusstsein verfügen und ihr Handeln nach Zielen und Zwecken absichtlich ausrichten. Strawson versteht daher den Begriff der Person im Sinne einer ursprünglichen Einheit aus physischen und psychischen Eigenschaften. Von einer Person gibt es somit physikalische und psychologische Beschreibungen. Indem Strawson den Begriff der Person als ursprünglichen Begriff fasst, setzt er damit den Begriff des Bewusstseins oder des Geistes keineswegs als zweiten Grundbegriff neben den Begriff der Materie. Eine dualistische Metaphysik im Sinne Descartes, die Materie und Geist als zwei Substanzen begreift, weist er vielmehr ähnlich wie Ryle als unangemessen zurück. Strawson gesteht sogar zu, dass das Geistige eine physische Basis hat. Dennoch lehnt er die materialistische Deutung, dass Bewusstseinsprozesse identisch mit Gehirnprozessen sind, entschieden ab. Mentale Eigenschaften können nach seiner Ansicht nur

Peter F. Strawson: Sprachanalytische Ontologie von Körper und Person 225

einer Person als Subjekt, die „Ich“ sagen kann, zugesprochen werden, nicht jedoch einem materiellen Objekt. Hätte der Materialismus Recht, wäre das Geistige also nur die Kehrseite physischer Prozesse, dann wäre es im Prinzip möglich, eine rein physikalische Erklärung menschlichen Verhaltens zu geben. Eine solche Erklärung wäre jedoch nach Strawson keine Erklärung des intentionalen Handelns, weil sie den Menschen nur als physisches Wesen betrachten und die persönliche Geschichte mit ihren Gefühlen und Absichten ausklammern würde. Zur Erklärung des Handelns einer Person gehört nach Strawson also sowohl die physikalisch-biologische Erklärung der Körperbewegungen als auch die Erklärung des Handelns aus Intentionen und Emotionen, wie sie nur der Biograph oder Historiker geben kann. Gegen Ryle erneuert Strawson damit die These, dass jeder Mensch zwei Geschichten hat, eine physikalische und eine persönliche, ohne damit einen Substanzen-Dualismus zu vertreten.14 Moralische Einstellungen und Freiheit. Strawsons Konzept der Person enthält

auch die Anerkennung menschlicher Freiheit. Sein Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass das Bewusstsein der Freiheit eine gleichsam naturgegebene Tatsache des menschlichen Lebens ist. Den Ursprung des Freiheitsbewusstseins sieht Strawson darin, dass wir uns als Urheber unseres Handelns erleben. Wir sind Akteure, keine bloßen Zuschauer. Das Freiheitsbewusstsein ist eng mit moralischen Einstellungen verbunden. Wir nehmen nach Strawson immer schon eine moralische Haltung zu uns selbst und gegenüber anderen Personen ein. Wir rechnen uns unsere Handlungen zu und fühlen uns für sie verantwortlich. Auch die Handlungen anderer Menschen bewerten wir moralisch, wir sind ihnen für bestimmte Handlungen dankbar oder nehmen ihnen ihr Tun übel. Lediglich bei psychisch Kranken, Kindern oder moralisch unterentwickelten Personen schränken wir unsere moralische Einstellung ein oder geben sie in extremen Fällen ganz preis. Obwohl Strawson nicht weiter zu erklären beansprucht, worin die Freiheit des Menschen eigentlich besteht – etwa im „Anders-Handeln-Können“ –, hält er die Anerkennung der Freiheit für den Menschen als praktisch-handelndes Wesen für unverzichtbar. Eine rein naturwissenschaftliche Theorie, die das menschliche Verhalten wie das Funktionieren einer komplexen, genetisch programmierten Maschine erklären würde, weist Strawson als schlicht absurd zurück. Auch der Determinist behandelt seine Mitmenschen ja nicht nur wissen14

Zu Strawsons deskriptiver Metaphysik vgl. J. Schulte (1993) S. 436ff; W. Künne (1984) S. 170ff, 189 ff.

226 Analytische Ontologie

schaftlich-objektiv als bloße Objekte. Die teilnehmende, moralische Haltung gegenüber anderen ist vielmehr vom menschlichen Leben in der Gesellschaft untrennbar verbunden. „Das menschliche Festgelegtsein auf das Teilnehmen an gewöhnlichen Beziehungen zwischen Personen ist, glaube ich, zu durchgehend und hat zu tiefe Wurzeln, als daß wir den Gedanken ernstnehmen könnten, eine allgemeine theoretische Überzeugung könnte unsere Welt so verändern, dass es in ihr nicht länger solche Dinge wie interpersonale Beziehungen gäbe […] Dieses Festgelegtsein ist Teil des allgemeinen Bezugsrahmens menschlichen Lebens, nicht etwas, das zur Begutachtung anstehen kann, wie besondere Fälle innerhalb dieses Bezugsrahmens zur Begutachtung anstehen können.“15 Die menschliche Freiheit gehört somit zum allgemeinen, unveränderlichen Begriffsapparat, mit dem der Mensch die Welt und sich selbst deutet. Wirkung. Peter Strawson hat mit seinen subtilen Analysen der Alltagssprache

der weiteren Entwicklung der analytischen Philosophie wichtige Anstöße gegeben. Mit seiner sprachanalytischen Ontologie hat er, zusammen mit Quine, entscheidend zur Erneuerung der Ontologie in der analytischen Tradition und zur Entstehung der analytischen Philosophie des Geistes beigetragen. Darüber hinaus hat Strawson durch die Betonung der Gemeinsamkeiten seiner Position mit der Lehre Kants auch den Weg geebnet für eine Annäherung zwischen der analytischen Philosophie und den kontinentalen Traditionen des Neukantianismus und der Phänomenologie. Würdigung. Strawsons ontologische Position hat vor allem die zentrale Rolle

der Begriffe von Person und Freiheit im menschlichen Weltverstehen betont. Seine Auffassung, dass diese Begriffe zum unveränderlichen begrifflichen Grundgerüst des menschlichen Weltverstehens gehören, hat eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den neukantianischen und phänomenologischen Bemühungen, ein a priori feststehendes Begriffssystem oder eine unhintergehbare Lebenswelt aufzuweisen. Auch wenn diese Auffassung umstritten ist und von wissenschaftlich orientierten Philosophen gewöhnlich abgelehnt wird, hat sie doch das Verdienst, die großen Schwierigkeiten verdeutlicht zu haben, die jedem Materialismus entgegenstehen.

15

P. Strawson: Freiheit und Übelnehmen. In: Seminar: U. Pothast (Hg.): Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt am Main 1978, S. 214, 216 f.

Willard V. O. Quine: Naturalismus und ontologische Verpflichtungen 227

3. Willard v. O. Quine: Naturalismus und ontologische Verpflichtungen Kritischer Empirist und Ontologe. Indem wir uns dem Werk von Quine zuwen-

den, wechseln wir nicht nur geographisch von England in die USA, sondern wir betreten auch eine andere philosophische Szene. Während die vom späten Wittgenstein begründete Philosophie der Alltagssprache im England der Nachkriegszeit dominierte, war der logische Empirismus in den USA zur herrschenden philosophischen Strömung geworden. Maßgeblich zu diesem Aufstieg beigetragen hatte Carnap, nachdem er 1935 in die USA emigriert war. Unter Carnaps amerikanischen Schülern ragt besonders Quine hervor. Quine war Logiker und Sprachphilosoph, aber auch Erkenntnistheoretiker und Ontologe, der wie Carnap philosophische Fragen durch eine logische Analyse der Sprache anging. Im Rückgriff auf die amerikanische Tradition des Pragmatismus lieferte er aber auch eine scharfsinnige Kritik des logischen Empirismus und versuchte diesen von Dogmen zu befreien.16 Quines Stellung in der Geschichte der modernen Metaphysik und Ontologie ist vor allem dadurch bestimmt, dass er, im Gegensatz zu Carnap, die Unvermeidlichkeit der Ontologie betonte und sich um die Herausstellung ontologischer Voraussetzungen wissenschaftlicher Theorien bemühte. Außerdem trat er für eine konsequente naturalistische Grundhaltung ein und gelangte schließlich zu einer radikalen materialistischen Ontologie. Leben und Werk. Willard van Orman Quine wurde am 25. Juni 1908 in Akron

(Ohio) geboren. Er studierte Mathematik und Philosophie in Harvard und promovierte 1932 mit einer logischen Arbeit bei Whitehead. In den Jahren 1932–33 hielt er sich im Rahmen eines Forschungsstipendiums in Wien, Prag und Warschau auf. Hier lernte er die wichtigsten Vertreter des logischen Empirismus kennen, insbesondere auch Carnap, der neben Russell den größten Einfluss auf sein Denken ausübte. Nach seiner Rückkehr in die USA war er zunächst Dozent, ab 1948 Professor in Harvard. Quine publizierte zunächst mehrere Bücher zur Logik, bevor er in der Aufsatzsammlung From a Logical Point of View (1953; dt. Von einem logischen Standpunkt, 1979) seine viel beachteten Arbeiten über die 16 Zu Quines philosophiegeschichtlicher Stellung und seiner Zwischenstellung zwischen dem reinen Sprachphilosophen Wittgenstein und dem reinen Wissenschaftsphilosophen Popper vgl. W. Stegmüller (1987) S. 231 ff.

228 Analytische Ontologie

Dogmen des Empirismus und die logische Analyse ontologischer Voraussetzungen vorlegte. In seinem Hauptwerk Word and Object (1960; dt. Wort und Objekt, 1980) hat er seine Version des Empirismus umfassend dargelegt und dabei neben einer behavioristischen Bedeutungstheorie das ontologische Grundgerüst der modernen Wissenschaften herausgestellt. Der Ontologie ist auch die Aufsatzsammlung Ontological Relativity and Other Essays (1969; dt. Ontologische Relativität, 1975) gewidmet. Seine Sprachphilosophie hat er in den Werken Theories and Things (1981; dt. Theorien und Dinge, 1985) und The Roots of Reference (1974; dt. Die Wurzeln der Referenz, 1989) weiter ausgebaut. The Time of my Life (1985) enthält seine Autobiographie und in Pursuit of Truth (1992; dt. Unterwegs zur Wahrheit, 1995) liefert er eine Einführung in seine Philosophie. Durch seine Arbeiten erwarb Quine sich hohes Ansehen und erhielt zahlreiche Einladungen zu Gastprofessuren. Er starb am 25. Dezember 2000. Empirismus ohne Dogmen. Ganz selbstverständlich ist für Quine die empiristi-

sche Grundthese, dass Sinneswahrnehmungen die Quelle allen Wissens sind. Ganz empiristisch ist auch seine Forderung, dass man sich nie weiter als nötig von der unmittelbaren Erfahrung entfernen soll. Allerdings ist das Verhältnis von Wahrnehmung und Theorie nach seiner Ansicht nicht so einfach, wie die Empiristen früher meinten. Es geht ihm daher vor allem darum, Zwei Dogmen des Empirismus, so der Titel seines berühmten Aufsatzes von 1951 (dt. 1972), zu überwinden und damit einen geläuterten Empirismus zu entwickeln. Das erste Dogma des Empirismus sieht Quine in der klassischen Forderung, wissenschaftliche Theorien auf die unmittelbare Erfahrung zurückzuführen. Gegen diese Reduktionsforderung wendet er mit Popper zunächst ein, dass Theorien durch Erfahrung nicht verifiziert, sondern nur bestätigt oder widerlegt werden können. Weiterhin wendet er ein, dass Tatsachen sich stets durch verschiedene Theorien erklären lassen. So kann etwa die Beobachtung, dass Kugeln eine schiefe Ebene hinabrollen, ebenso durch die aristotelische Auffassung vom „natürlichen Ort“ aller Dinge wie durch Newtons Gravitationstheorie erklärt werden. Theorien sind also durch Tatsachen „unterbestimmt“. Ein weiterer Einwand lautet, dass einzelne wissenschaftliche Hypothesen sich nicht isoliert, son-

Willard v. O. Quine (1908–2000) Vertreter der analytischen Philosophie und einer naturalistischen Ontologie

Willard V. O. Quine: Naturalismus und ontologische Verpflichtungen 229

dern stets nur im Rahmen einer Gesamttheorie überprüfen lassen. „Mein Gegenvorschlag […] besteht darin, daß unsere Aussagen über die äußere Welt nicht einzeln, sondern nur insgesamt vor dem Tribunal der Sinneswahrnehmung stehen.“17 Steht eine Hypothese im Widerstreit mit Beobachtungen und Experimenten, so muss nicht notwendig die Hypothese verworfen werden, sondern es kann auch eine Korrektur an anderen Teilen der Gesamttheorie vorgenommen werden. Dass nicht einzelne Hypothesen, sondern nur Theorien als Ganze überprüfbar sind, ist Quines „Holismus“ (nach griech. „to holon“ = das Ganze). Das zweite Dogma des Empirismus besteht nach Quine in der Annahme, dass es eine strikte Unterscheidung zwischen analytischen und empirischen Aussagen gibt. In subtilen logischen Analysen hat er zu zeigen versucht, dass die auf Kant zurückgehende und später vom logischen Empirismus übernommene Unterscheidung von „analytisch-synthetisch“ sich keineswegs logisch einwandfrei definieren lässt. Daher lehnt er die strikte Einteilung aller Aussagen in analytische und synthetische ab und zieht daraus die entscheidende Folgerung für sein Verständnis von Philosophie: Da es keine scharfe Grenze zwischen analytischen und synthetischen Aussagen gibt, gibt es auch keine scharfe Grenze zwischen Philosophie und Wissenschaft. Dies bedeutet nicht nur, dass es keine apriorische philosophische Welterkenntnis gibt, sondern auch, dass in den wissenschaftlichen Theorien selbst allgemeine ontologische Annahmen enthalten sind. Philosophie und Wissenschaft (einschließlich Logik und Mathematik) haben daher eine gemeinsame Aufgabe, nämlich die Verbesserung des begrifflichen Netzes, durch das die Welt erfasst wird.18 Naturalisierte Erkenntnistheorie. Grundgedanke des modernen Empirismus

bleibt auch nach Quine die konsequente Orientierung an der Erfahrung als Grundlage und Kontrollinstanz aller Erkenntnis. Als inkonsequent gilt ihm allerdings die Auffassung des klassischen Empirismus, dass die „Sinnesdaten“ (oder „ideas“) diese empirische Basis darstellen. Die Grundlage der Erkenntnis ist nach Quine nicht das individuelle Bewusstsein oder die innere Erfahrung, sondern nur die intersubjektiv zugängliche äußere Erfahrung. Wie der Behaviorismus muss auch die empiristische Erkenntnistheorie eine Wende vom Mentalen zum Sprechen und Verhalten vollziehen.

17 18

W. v. O. Quine: Die beiden Dogmen des Empirismus. In: Zur Philosophie der idealen Sprache, hg. und übersetzt von Johannes Sinnreich, München 1972, S. 189. Zu Quines Kritik des Empirismus vgl. O. Scholz: Willard Van Orman Quine: Naturalisierter Empirismus. In: A. Hügli / P. Lübcke (1993) S. 402f; W. Stegmüller (1987) S. 225 ff.

230 Analytische Ontologie

Quines Leugnung einer exakten Grenze zwischen Philosophie und Wissenschaft hat ferner die wichtige Konsequenz, dass die Erkenntnistheorie nicht länger beanspruchen kann, eine den Wissenschaften vorangehende philosophische Disziplin zu sein, in der die Prinzipien der Wissenschaften a priori begründet werden. Vielmehr fordert Quine eine „naturalisierte Erkenntnistheorie“, d. h. eine Position, die die Erkenntnisprozesse nicht den Prozessen der realen Welt (als deren mentales Abbild) entgegensetzt, sondern sie als Teil derselben Realität begreift. „Mit Dewey glaube ich, daß Wissen, Geist und Bedeutung Teile derselben Welt sind, mit der sie sich befassen, und daß sie mit derselben empirischen Gesinnung, die die Naturwissenschaften belebt, untersucht werden müssen. Es gibt keinen Platz für eine erste Philosophie.“19 Quines Naturalismus umfasst daher nicht nur die Ablehnung übernatürlicher Faktoren zur Erklärung der Natur, sondern auch die Umdeutung der Erkenntnistheorie in eine empirisch-psychologische Disziplin, der die Aufgabe zugeschrieben wird, die Entstehung und das Wachstum der Erkenntnis aus den Sinneserfahrungen zu beschreiben und zu erklären.20 Ontologische Verpflichtungen. Die Anerkennung der Ontologie ergibt sich für

Quine vor allem daraus, dass er das realistische Selbstverständnis der Wissenschaften akzeptiert. Jede Wissenschaft setzt die Gegenstände, die sie erforscht und die sie zu erklären versucht, als existent voraus. Und da bestimmte Gegenstände existieren müssen, wenn eine wissenschaftliche Theorie wahr ist, so bedeutet dies nach Quine, dass jede Theorie sich auf bestimmte ontologische Voraussetzungen „verpflichtet“. Ontologische Annahmen sind daher stets „relativ“ zu bestimmten Theorien. Diese „ontologische Relativität“ kann nach Quine zwar nicht aufgehoben, aber sie kann durch die Anerkennung eines wissenschaftlichen Fortschritts doch entschärft werden Die ontologischen Annahmen, die eine Theorie voraussetzt, sind nach Quine aber nicht einfach an der sprachlichen Oberfläche abzulesen. Bei ihrer Offenlegung muss vor allem beachtet werden, dass auch Eigennamen wie „So­ krates“ oder „Pegasus“ sich nicht automatisch auf reale Gegenstände beziehen. Um die tatsächlichen ontologischen Voraussetzungen explizit zu machen, hat er daher in seinem Aufsatz On What there is (1948; dt. Was es gibt, 1979) ein lo-

19 W. v. O. Quine: Ontologische Relativität. in: Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975, S. 41. 20 Zu Quines Auffassung von naturalisierter Erkenntnistheorie vgl. H. Lauener (1982) S. 100ff; W. Stegmüller (1987) S. 269 ff.

Willard V. O. Quine: Naturalismus und ontologische Verpflichtungen 231

gisches Verfahren entwickelt, das an Russells Theorie der Kennzeichnungen anschließt. Ziel des Quineschen Verfahrens ist es, den sinnvollen Gebrauch eines Eigennamens wie „Pegasus“ zuzulassen, ohne die Existenz dieses Gegenstandes vorauszusetzen. Ähnlich wie Russell verwendet er den Kunstgriff, den Namen „Pegasus“ logisch als Prädikat („ist Pegasus“ oder „pegasiert“) zu deuten. Wenn daher jemand die Existenz von Pegasus leugnet, dann lässt sich diese Behauptung logisch einwandfrei in dem Satz „Es gibt keinen Gegenstand, der Pegasus ist“ ausdrücken. Es sind daher nach Quine nicht die Namen, an denen man erkennen kann, was jemand für existent hält. Diese ontologische Last tragen vielmehr referierende Ausdrücke wie „etwas“, „jemand“, „einige“ und „alle“. Da nun diese Ausdrücke in der formalen Sprache der Logik als Variablen (x, y, z) auftreten – und zwar als durch Quantoren „gebundene“ Variablen („Es gibt ein x, für das gilt …“ bzw. „Für alle x gilt …“) –, kann man an ihnen erkennen, welche ontologische Voraussetzungen eine Theorie macht. „Wir können sehr leicht zu ontologischen Verpflichtungen dadurch gelangen, daß wir z. B. sagen, daß es etwas gibt (gebundene Variable!), das rote Häuser und Sonnenuntergänge gemeinsam haben […] Aber das ist im wesentlichen die einzige Art und Weise, in der wir uns in ontologische Verpflichtungen verwickeln können: Durch unseren Gebrauch von gebundenen Variablen. Der Gebrauch von vorgeblichen Namen ist kein Kriterium …“21 Die den (gebundenen) Variablen zugeordneten Gegenstände („Werte“) müssen also existieren, wenn die Theorie wahr ist. Quines berühmtes, etwas technisch klingendes Diktum dafür lautet: Existieren (Sein) heißt Wert einer gebundenen Variablen sein. Die philosophische Bedeutung von Quines Analyse besteht darin, dass es nicht die Namen, Kennzeichnungen oder Prädikate, sondern die gebundenen Variablen sind, an denen die „ontologischen Verpflichtungen“ von Theorien abgelesen werden können. Wirklich sind nach diesem Kriterium nicht nur die Gegenstände der Wahrnehmung, sondern auch alle nicht unmittelbar wahrnehmbaren Objekte wie Elektronen oder Moleküle, die von wissenschaftlichen Theorien vorausgesetzt werden. Quine vertritt damit auch einen wissenschaftstheoretischen Realismus.22 Physikalismus. Die Explikation der ontologischen Voraussetzungen wissen-

schaftlicher Theorien ist der erste Schritt der Ontologie. Da die Vielzahl der

21

W. v. O. Quine: Was es gibt. In: W. Stegmüller (Hg.): Das Universalienproblem, Darmstadt 1978, S. 114. 22 Zu Quines Ontologiekriterium vgl. H. Lauener (1982) S. 128ff; W. Stegmüller (1969) S. 487ff; W. K. Essler (1984) S. 108 ff.

232 Analytische Ontologie

Wissenschaften auch eine Vielzahl von ontologischen Annahmen mit sich bringt, besteht eine weitere Aufgabe der Ontologie nach Quine darin, die ontologischen Voraussetzungen der Wissenschaften in ihrer Gesamtheit zu analysieren, zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Die Ontologie soll sich dabei von der Frage leiten lassen, welche Entitäten angenommen werden müssen, also unverzichtbar sind, damit die gut bewährten wissenschaftlichen Theorien über die Welt funktionieren. Ganz im Sinne von „Ockhams Rasiermesser“ fordert er also, nicht mehr Entitäten anzunehmen als unbedingt notwendig. Es geht also um ein ontologisches Minimum.23 Zu den gut bewährten wissenschaftlichen Theorien, an denen die Ontologie sich zu orientieren hat, gehören nach Quine nur die Naturwissenschaften, und zwar vor allem Physik, Chemie und Kosmologie. Daher glaubt er, dass die Ontologie mit der Annahme physischer Gegenstände auskommt und dass eine adäquate Beschreibung der Welt nur rein physikalische Begriffe benötigt.24 Diesem „Physikalismus“ fällt insbesondere der ganze Bereich des Geistes zum Opfer. Zu verschwinden hat zunächst die Annahme mentaler Gegenstände aus der Sprachphilosophie. Im Anschluss den Pragmatismus und den späten Wittgenstein betrachtet Quine daher die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nicht als ein abstraktes, mentales Gebilde, sondern als eine bestimmte Form des Verhaltens, das in einer Gemeinschaft erlernt wird. Materialistische Theorie des Geistes. Quines Physikalismus macht sich auch in

seiner Stellungnahme zum Leib-Seele-Problem geltend. Als fast selbstverständlich geht er dabei davon aus, dass geistige Zustände und Prozesse als physiologische Zustände und Prozesse des menschlichen Körpers zu verstehen sind. Danach gibt es keinen Unterschied im Bewusstsein ohne einen entsprechenden Unterschied im physischen Zustand des Gehirns. Nicht mehr selbstverständlich ist es für ihn dagegen, wie diese physikalistische (oder materialistische) These ontologisch genau zu deuten ist. Die Anerkennung des physischen Charakters mentaler Zustände lässt sich nach seiner Ansicht sowohl im Sinne einer Identifikation von geistigen und körperlichen Zuständen als auch im Sinne einer schlichten Leugnung geistiger Zustände deuten. Die erste Deutung, also die Identitätsthese, betrachtet er als einen gemäßigten („zahmen“) Physikalismus, der dem alltäglichen Verständnis 23 Zur Aufgabe der Ontologie nach Quine vgl. H. Lauener (1982) S. 134ff, 142 ff. 24 Außer physischen Gegenständen spricht Quine freilich auch abstrakten Entitäten wie Klassen und Mengen Realität zu, da sie nach seiner Ansicht als Gegenstände der Mathematik unverzichtbar sind. Vgl. dazu H. Lauener (1982) S. 136ff; W. Stegmüller (1987) S. 257.

Willard V. O. Quine: Naturalismus und ontologische Verpflichtungen 233

von Geist noch ein gewisses Recht einräumt, insofern Bewusstsein als „Phänomen“ und als Eigenschaft physischer Zustände anerkannt wird. Im Gegensatz dazu stellt die zweite Deutung, also die These der Elimination des Psychischen, einen radikalen Physikalismus dar, der auf die anscheinend paradoxe Position hinausläuft, geistige Zustände selbst als Phänomene zu verwerfen, also sie letztlich als Illusionen zu betrachten. Wenngleich Quine diese beiden Formen eines „reduktiven“ und „eliminativen“ Physikalismus vorstellt und diskutiert, gibt er doch schließlich zu verstehen, dass er diese Unterscheidung selbst letztlich als unhaltbar betrachtet. Seine Position zum Leib-Seele-Problem wird daher sowohl zur Identitätstheorie als auch zum eliminativen Materialismus gerechnet. Im Kontext seiner Überlegungen zum Leib-Seele-Problem tritt Quines philosophische Grundhaltung deutlich hervor. Er ist ein äußerst nüchterner, realistischer Denker, der alle Formen philosophischen Wunschdenkens entschieden ablehnt. Diese Grundhaltung zeigt sich besonders klar im Anhang seiner Schrift Unterwegs zur Wahrheit (1992), wo er unter der Überschrift „Was ich glaube“ die herkömmlichen metaphysischen Vorstellungen von Gott, Unsterblichkeit und Willensfreiheit als Erzeugnisse eines illusionären Denkens zurückweist. Wirkung. Als Logiker, Sprachphilosoph, Wissenschaftstheoretiker und Onto-

loge hat Quine die weitere Entwicklung der analytischen Philosophie entscheidend geprägt. Namhafte Vertreter dieser Strömung wie Putnam, Davidson oder Rorty sind selbst Schüler von Quine oder von diesem stark beeinflusst. Mit seinem Angriff auf die Dogmen des Empirismus und mit seiner Betonung der ontologischen Voraussetzungen der Wissenschaften hat er außerdem wesentlich zur Überwindung der metaphysik­feindlichen Einstellung des modernen Empirismus und zur Erneuerung der Ontologie in der analytischen Philosophie beigetragen. Würdigung. Auch wenn durch Quines Beiträge zur Ontologie die systematische

Klärung der Positionen und die Entwicklung neuer, alternativer Konzepte wesentlich vorangebracht wurden, sind sie doch durchaus nicht unumstritten geblieben. Der Naturalismus im weiteren Sinne, also die Beschränkung auf natürliche Faktoren zur Erklärung der Welt, wird zwar nur noch selten in Frage gestellt, doch ist Quines Konzept einer naturalisierten Erkenntnistheorie, die alle mentalen und abstrakt-geistigen Phänomene als gewöhnliche Elemente der realen Welt betrachtet, keineswegs auf allgemeine Zustimmung gestoßen. Auch der von ihm vertretene Behaviorismus und Physikalismus sowie seine psychophysische Identitätstheorie sind Formen eines „reduktiven“ oder gar „elimina-

234 Analytische Ontologie

tiven“ Materialismus, dessen Angemessenheit für die organische Natur und das seelisch-geistige Sein vielfach bezweifelt wird.

4. Die analytische Philosophie des Geistes Ursprünge und Themen der analytischen Philosophie des Geistes. Als die sprachanalytische Philosophie im Laufe der 50er Jahre traditionelle metaphysische Fragen als echte Probleme rehabilitierte, rückte vor allem die alte Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist ins Zentrum der Diskussion. Die sich schließlich herausbildende „analytische Philosophie des Geistes“ ist durch eine lebhafte Debatte gekennzeichnet, an der sich zahlreiche Philosophen aus verschiedenen Ländern, meist mit Aufsätzen in Fachzeitschriften und Sammelbänden, beteiligen. Auffällig ist jedoch, dass die Denker, die die Entwicklung der ontologischen Debatte am nachhaltigsten bestimmen, fast ausschließlich aus der englischsprachigen Welt stammen, nämlich aus den USA, England und Australien. In dieser Debatte werden nicht nur traditionelle Thesen und Argumente neu aufgerollt, sondern es werden auch ganz neue Standpunkte und Überlegungen entwickelt. Da dabei nicht nur die Methode der logischen Analyse verwendet wird, sondern auch komplizierte Konzepte der modernen Semantik eine wichtige Rolle spielen, hat sich die analytische Philosophie des Geistes immer mehr zu einem faszinierenden, aber auch schwerverständlichen Forschungsbereich von Spezialisten entwickelt. Bei unserem Versuch, einige Hauptlinien dieser modernen Ontologie zu verdeutlichen, werden wir nacheinander auf die Identitätstheorie, den anomalen Monismus, den Funktionalismus und den eliminativen Materialismus eingehen. Die Identitätstheorie. Eine Position, die die oben erwähnten Schwierigkeiten

von Ryles logischem Behaviorismus vermeiden will, ist die gegen Ende der 50er Jahre entwickelte Identitätstheorie. Sie wurde zunächst von dem australischen Philosophen Ullin Place (1924–2000) in dem Aufsatz Is Consciousness a Brain Process? (1956) vorgetragen und danach von seinem Landsmann Jack Smart (geb. 1920) in dem Aufsatz Sensations and Brain Processes (1959) gegen Einwände verteidigt. Zur selben Zeit trat auch der deutsch-amerikanische Philosoph Herbert Feigl (1902–1988) in seinem Aufsatz The ‚Mental‘ and the ‚Physical‘ (1958) als Verfechter der Identitätstheorie hervor. Zu den späteren Vertretern dieser Position gehören unter anderem der Australier David Armstrong (geb. 1926) mit seinem Buch A Materialist Theory of Mind (1968) und der US-Amerikaner David Lewis

Die analytische Philosophie des Geistes 235

(1941–2001) mit dem Aufsatz An Argument for the Identity Theory (1966; dt. Eine Argumentation für die Identitätstheorie, 1977). Im Unterschied zum logischen Behaviorismus akzeptiert die Identitätstheorie mentale Prozesse als innere Ursachen von Verhalten. In einem weiteren Schritt deutet sie mentale Prozesse als identisch mit bestimmten Zuständen des Zentralnervensystems. Das, was die Menschen als Bewusstseinsprozesse erleben, ist somit identisch mit den Zuständen und Prozessen, die von der Neurophysiologie erforscht werden. Die Identitätsthese stützt sich auf folgende Argumentation: Angesichts vorliegender wissenschaftlicher Forschungsergebnisse über die physiologische Basis von Bewusstseinsprozessen ist es vernünftig zu vermuten, dass der wissenschaftliche Fortschritt in Zukunft zu immer mehr mentalen Prozessen die physiologischen Gegenstücke entdecken wird. Und diese psychophysische Korrelation lässt sich am besten erklären, wenn man von der Korrelation zur Identifikation übergeht, d. h. wenn man die miteinander verknüpften Erscheinungsformen des Geistigen und Körperlichen als Ausdruck einer Identität deutet. Im Unterschied zu älteren Versionen der Identitätstheorie bei Spinoza oder Russell, die Körper und Geist als verschiedene Aspekte oder Erscheinungen einer zugrunde liegenden neutralen Substanz verstehen, ist die neue Identitätstheorie ausgesprochen materialistisch. Die mit den geistigen Prozessen als identisch betrachteten physiologischen Prozesse gelten nämlich als grundlegend. Bewusstsein ist also ein innerer Aspekt, der zu einigen der (an sich bestehenden) materiellen Prozesse hinzukommt. Die Identitätstheorie versteht sich als eine empirische Hypothese, die von einer empirisch überprüfbaren Vermutung über die allgemeine Verknüpfung von Bewusstseins- und Gehirnprozessen ausgeht. Jedes aus der subjektiven Perspektive beschriebene geistige Phänomen muss daher zugleich eine objektivnaturwissenschaftliche Beschreibung zulassen. Nur wenn diese Hypothese empirisch bestätigt wird, kann die Identitätstheorie als wissenschaftlich fundiert gelten. Die Identitätstheorie ist aber auch eine philosophische Theorie, insofern sie die empirisch festgestellten psychophysischen Korrelationen als Identität deutet. Aufgabe der Philosophie ist es nun, die Identitätstheorie klar zu formulieren. Was ist nun der genaue Sinn der Identitätsthese? Die These der Identität von Bewussteins- und Gehirnprozessen wird von ihren Vertretern gewöhnlich mit anderen wissenschaftlich begründeten Identifikationen in Verbindung gebracht, etwa mit der Identität von Wasser und H2O oder der Identität der Wärme eines Gases mit der mittleren kinetischen Molekularenergie. Wie die Identität von Wasser und H2O wissenschaftlich nachgewiesen wurde, so soll

236 Analytische Ontologie

auch die Identität von Bewusstseins- und Gehirnprozessen empirisch nachgewiesen werden. Die Vertreter der Identitätstheorie gestehen durchaus zu, dass mentale Ausdrücke wie „Empfindung“ oder „Wollen“ einen anderen Sinn („meaning“) haben als Ausdrücke für Gehirnvorgänge, doch sie betonen zugleich, dass mentale und physiologische Ausdrücke sich auf dieselben Gegenstände beziehen („referieren“). So sagt Lewis: „Die Identitätstheorie besagt, daß die Zuschreibung eines Erlebnisses denselben Bezug hat wie die Zuschreibung eines gewissen neuralen Zustands: Beide beziehen sich gleichermaßen auf die neuralen Zustände, die Erlebnisse sind. Sie besagt nicht, daß diese Zuschreibungen dieselbe Bedeutung haben.“25 Mentale und physiologische Ausdrücke müssen also nicht synonym sein, um die gleiche Referenz zu haben. Die Tatsache, dass wir mit mentalen Ausdrücken doch etwas ganz anderes „meinen“, spricht nach dieser Auffassung daher nicht gegen die Identitätstheorie. Die Anerkennung, dass die Identität bestimmter mentaler und physiologischer Prozesse stets durch die empirisch-wissenschaftliche Forschung nachgewiesen werden muss, hat eine wichtige Folge für den logischen Charakter einer solchen Identitätsbehauptung. Da jede Identitätsthese empirisch begründet ist, ist sie keine notwendige oder durch Begriffsanalyse einzusehende Identität, sondern nur eine faktische oder kontingente Identität. Auch nach der Feststellung einer Identität von Phänomenen bleiben die Phänomene nämlich als Erscheinungen verschieden. Auf der Basis der Identitätsthese lässt schließlich die Annahme mentaler Verursachung eine einfache Deutung zu: Gerade weil mentale Prozesse mit Gehirnprozessen identisch sind, haben sie auch eine kausale Rolle im menschlichen Verhalten. Da sie nämlich zugleich physische Ereignisse sind, können sie durch andere physische Ereignisse verursacht werden und ihrerseits ein bestimmtes Verhalten bewirken. Einwände gegen die Identitätstheorie. Die Identitätstheorie wurde Gegenstand

einer lebhaften, kontroversen Debatte. Ein Teil der gegen sie ins Feld geführten Einwände betont die Kluft, die in unserem Erleben zwischen mentalen und physiologischen Prozessen besteht. So wurde etwa darauf hingewiesen, dass die Identitätstheorie geistige Eigenschaften lediglich in ihrer kausalen Funktion erfasse, von anderen Eigenschaften geistiger Prozesse wie den subjektiven („phänomenalen“) Erlebnisqualitäten dagegen ganz absehe. In diesem Sinne hat der 25

D. Lewis: Eine Argumentation für die Identitätstheorie. In: Die Identität von Körper und Geist, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von A. Kemmerling, Frankfurt am Main 1989, S. 10.

Die analytische Philosophie des Geistes 237

amerikanische Philosoph Thomas Nagel (geb. 1937) in seinem Aufsatz What is it like to be a bat? (1974; dt. Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, 1981) behauptet, dass zum Bewusstsein eines Lebewesens eine ganz spezifische subjektive Erlebnisform gehöre, die von der objektiv-wissenschaftlichen Beschreibung nie erfasst werden könne. Ein anderer Einwand versucht die vor allem von der Phänomenologie Husserls herausgestellte „Intentionalität“ mentaler Zustände gegen die Identitätstheorie auszuspielen. Gemeint ist damit, dass mentale Zustände wie Denken und Wünschen auf Objekte gerichtet sind, und zwar selbst dann, wenn diese Objekte gar nicht existieren. Diese Gerichtetheit mentaler Zustände lässt sich nun, so der Einwand, durch die Identitätstheorie nicht verständlich machen. Denn anders als mentale Zustände sind physische Zustände nicht auf etwas gerichtet. Die Identitätstheorie müsste somit entweder erklären, wie das Physische „intentional“ sein kann, oder sie müsste die Intentionalität mentaler Zustände irgendwie als Schein „wegerklären“. Auf der Basis einer eigenwilligen, häufig als revolutionär betrachteten semantischen Theorie von Namen hat der amerikanische Logiker und Sprachphilosoph Saul A. Kripke (geb. 1940) in seiner Schrift Naming and Necessity (1972; dt. Name und Notwendigkeit, 1981) zu zeigen versucht, dass es keine Identität zwischen Bewussteins- und Gehirnprozessen geben kann. Kripke geht davon aus, dass Eigennamen wie „Goethe“ und Ausdrücke für natürliche Arten wie „Wasser“ so genannte „starre Designatoren“ sind, mit denen wir uns in „allen möglichen Welten“ auf dieselben Gegenstände beziehen. Bildet man mit zwei starren Designatoren eine Identitätsthese wie „Wasser ist H2O“, dann handelt sich nach Kripke um eine notwendige Identität, die in allen möglichen Welten gilt. Nach Kripke müsste auch die Grundthese der Identitätstheorie eine solche notwendige Identität ausdrücken. Da nun aber denkbar sei, dass mentale Zustände auch ohne den üblichen Typ von Gehirnprozessen auftreten könnten, können Bewusstseins- und Gehirnprozesse nicht identisch sein. Kripke versucht damit offenbar in neuer, sprachphilosophisch modifizierter Form aus der bloßen Vorstellbarkeit einer Sache eine These über die reale Welt abzuleiten. Das Argument der „multiplen Realisierbarkeit“. Der auf Putnam zurückgehende, wohl einflussreichste Einwand gegen die Identitätstheorie wendet sich gegen eine anscheinend unhaltbare Konsequenz dieser Theorie. Dieser Einwand besteht aus folgendem, nicht leicht verständlichem Gedankengang: In ihrer ursprünglichen Form besagt die Identitätsthese, dass ein bestimmter Typ mentaler Zustände, z. B. Zahnschmerzen, mit einem bestimmten Typen physiologischer Zustände, z. B. der Erregung bestimmter Hirnfasern, identisch ist. Diese Fas-

238 Analytische Ontologie

sung der Identitätsthese, die also eine „Typenidentität“ behauptet, hat nun aber, so der Einwand, die unplausible Konsequenz, dass nur Wesen mit unserer physiologischen Ausstattung auch mentale Zustände haben können. Nimmt man dagegen an, dass auch Wesen einer anderen Spezies oder Organismen mit einem anderen Nervensystem mentale Zustände wie Hunger haben können, dann muss man auch annehmen, dass ein Typ mentaler Zustände nicht bloß von einem, sondern von verschiedenen Typen physischer Zustände realisiert werden kann. Dieser Einwand der „multiplen physischen Realisierbarkeit“ mentaler Zustände blieb zwar nicht unwidersprochen, doch wurde er für viele Philosophen zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. Er wurde insbesondere zum Ausgangspunkt des Funktionalismus und der Theorie Davidsons.26 Anomaler Monismus. Einen Ausweg aus der geschilderten Problemsituation der

Identitätstheorie hat der amerikanische Philosoph Donald Davidson (1917– 2003) mit seiner Position des so genannten anomalen Monismus versucht. Enthalten ist diese Position insbesondere in seinem Aufsatz Mental Events (1970; dt. Geistige Ereignisse, 1981) Mit der Identitätstheorie geht Davidson darin davon aus, dass mentale Zustände identisch mit physischen Zuständen sind. Da er aber das Argument der multiplen Realisierbarkeit akzeptiert, sieht er sich veranlasst, die Identitätsthese abzuschwächen. Wenn ein Typ mentaler Zustände durch verschiedene Typen physischer Zustände realisiert werden kann, dann kann ein mentaler Zustandstyp nicht identisch mit einem ganz bestimmten physischen Zustandstyp sein. Identisch können daher nicht die mentalen und physiologischen Ereignisse hinsichtlich ihrer allgemeinen Eigenschaften sein; identisch kann vielmehr nur jeweils ein einzelnes mentales Phänomen mit einem einzelnen physischen Phänomen sein. Diese von Davidson vertretene schwächere Identitätsthese behauptet also die Identität bestimmter mentaler und physischer Einzelereignisse, die auch als „Token-Identität“ bezeichnet wird. Sie hat vor allem die gewünschte Konsequenz: Wenngleich mentale Phänomen faktisch in menschlichen Gehirnen realisiert werden, wobei jedes Phänomen identisch mit einem bestimmten physiologischen Prozess ist, ist es doch möglich, dass Wesen mit anderer physiologischer Ausstattung dieselben mentalen Phänomene haben. Mit der Identitätstheorie akzeptiert Davidson ferner die Annahme mentaler Verursachung, doch verknüpft er diese Annahme mit einer eigenwilligen 26 Zur Kritik der Identitätstheorie vgl. A. Beckermann (2001) S. 117ff; P. Lanz: Vom Begriff des Geistes zur Neurophilosophie. In: A. Hügli / P. Lübcke (1983) S. 283ff; J. Schröder (2004) S. 75ff;

Die analytische Philosophie des Geistes 239

Zusatzthese. Nach Davidson gibt es nämlich zwischen psychologisch und physiologisch beschreibbaren Zuständen einen gravierenden Unterschied. Während physische Ereignisse sich mit Hilfe deterministischer Gesetze erklären und voraussagen lassen, ist dies bei mentalen Ereignissen nicht möglich. Das Geistige stellt in dieser Hinsicht einen Sonderfall in der Welt dar. Diese „Anomalie des Geistigen“ besteht nach Davidson darin, „daß es keine strikten deterministischen Gesetze gibt, auf deren Grundlage geistige Ereignisse prognostiziert und erklärt werden können …“27 Da Davidson sich mit seiner These der Identität von mentalen und physiologischen Einzelereignissen dem monistischen Materialismus anschließt, zugleich jedoch das Mentale als „anomal“ charakterisiert, bezeichnet er seine Position als „anomalen Monismus“. Auch Davidsons Theorie hat lebhafte Diskussionen ausgelöst. Im Zentrum der Debatte steht vor allem die Frage, ob die verschiedenen Komponenten seiner Theorie überhaupt miteinander vereinbar sind. So wird etwa gefragt, ob mentale Verursachung sinnvoll behauptet werden kann, wenn gleichzeitig strenge psychologische Gesetze geleugnet werden. Da von Ursachen nur im Hinblick auf kausale Gesetze gesprochen werden könne, sei mentale Verursachung ohne Kausalgesetze ein Unding.28 Funktionaler Materialismus. Das Argument der multiplen physischen Realisier-

barkeit mentaler Zustände wurde auch zum Ausgangspunkt des funktionalen Materialismus, der von den amerikanischen Philosophen Hilary Putnam (geb. 1927) und Jerry Fodor (geb. 1935) entwickelt wurde. Putnam hat seine Auffassung vor allem in den Aufsätzen Minds and Machines (1960; dt. Geist und Maschine, 1977), The Mental Life of Some Machines (1967) und The Nature of Mental States (1975; dt. Die Natur mentaler Zustände, 1981) vorgetragen, sich in späteren Arbeiten jedoch vom Funktionalismus wieder distanziert. Fodors Beitrag ist insbesondere in dem Aufsatz Psychological Explanation (1968; dt. Erklärungen in der Psychologie, 1977) enthalten. Der funktionale Materialismus akzeptiert mit der Identitätstheorie zunächst die These, dass es mentale Verursachung gibt. Sein grundlegendes Anliegen besteht nun gerade darin, mentale Zustände von ihrer kausalen Rolle her zu begreifen, die sie im menschlichen Erleben und Verhalten spielen. Nach Auffassung des Funktionalismus ist ein mentaler Zustand begriffen, wenn seine kausale (oder funktionale) Rolle in einem psychologischen System genau erfasst ist. 27 D. Davidson: Geistige Ereignisse. In: Handlung und Ereignis, Frankfurt am Main 1990, S. 293. 28 Zur Kritik an Davidsons anomalem Monismus vgl. M. Pauen (2001) S. 125 ff.

240 Analytische Ontologie

Und diese kausale Rolle ist erfasst, wenn geklärt ist, durch welche Ereignisse von außen (input) er verursacht wurde, welche Auswirkungen er auf andere Systemzustände hat und welche Wirkungen er schließlich nach außen (output) ausübt. Am Beispiel von Schmerzen lässt sich verdeutlichen, was die funktionalistische Auffassung bedeutet. Schmerzen sind danach funktionale Zustände, die durch ihre kausale Rolle im System eines Organismus bestimmt sind. Schmerzen werden erstens durch Verletzungen des Körpers verursacht, sie rufen zweitens andere Bewusstseinszustände wie Ängste oder Hoffnungen hervor (und werden auch von diesen beeinflusst) und sie bewirken drittens ein bestimmtes Verhalten. Sobald die kausale Rolle eines mentalen Zustandes im System menschlichen Verhaltens und Erlebens beschrieben ist, ist das Wesen dieses Zustandes nach funktionalistischer Auffassung vollständig geklärt. Wichtig ist, dass mentale Phänomene in ihrer kausalen (oder funktionalen) Rolle beschrieben werden können, ohne dass das Material oder Substrat, das die mentalen Zustände realisiert, in die Beschreibung dieser Rolle einginge. Damit erhält die funktionalistische Auffassung des Geistes einen sehr abstrakten, formalen Zug. Im Gegensatz zur Identitätstheorie ist der funktionale Materialismus somit der Auffassung, dass zur Klärung der Natur geistiger Zustände die Suche nach ihrer physischen Realisierung überhaupt nicht dazu gehört. Die Erforschung und Beschreibung der kausalen Rolle mentaler Zustände ist vielmehr unabhängig von der Frage, worin die reale Basis dieser Zustände besteht. Mentale Zustände können daher auch durch Organismen anderer Art, aber grundsätzlich auch durch künstliche Systeme (Maschinen) realisiert werden. Logisch ist es sogar möglich, dass mentale Zustände die Zustände eines nicht-physischen Systems, etwa einer immateriellen Seele, sein könnten. In seiner allgemeinen Form, die mentale Zustände als funktionale Zustände deutet, ist der Funktionalismus daher ontologisch neutral. Es ist somit lediglich ein kontingentes Faktum, dass mentale Zustände beim Menschen Zustände des Gehirns sind. Erst durch diese zusätzliche These, dass mentale Zustände durch physische Zustände realisiert werden, wird aus dem Funktionalismus eine Spielart des Materialismus.

Hilary Putnam (geb. am 31. Juli 1927 in Chicago) Vertreter der analytischen Philosophie des Geistes und Begründer des funktionalen Materialismus

Die analytische Philosophie des Geistes 241

Computermodell des Geistes. Eine einflussreiche Variante des Funktionalismus

ist das Computermodell des Geistes, das ursprünglich von Putnam vorgeschlagen wurde. Mentale Zustände gleichen in ihren kausalen Rollen einem Computerprogramm, das die Arbeitsweise des Computers festlegt. Nach dem Computermodell verhält sich der Geist somit zum Gehirn wie die Software zur Hardware. Ebenso wie ein Computerprogramm lässt sich die Funktionsweise des Geistes beschreiben, ohne dass man die reale Basis der Zustände, also die Hardware, kennen müsste. Das Computermodell des Geistes gestattet eine plausible Erläuterung der These der multiplen Realisierbarkeit mentaler Zustände. Wie die Software auf Computern aus verschiedenen Materialien laufen kann, können dieselben mentalen Zustände in verschiedenen Systemen realisiert werden. Doch das Computermodell bleibt gewöhnlich bei dieser Analogie von Computer und Gehirn nicht stehen, sondern geht zu der These über, dass der Geist im Grunde ein Computer ist, nämlich eine symbolverarbeitende Maschine. Der Funktionalismus in der Diskussion. Der funktionale Materialismus gilt als

eine Position, die bestimmte mentale Phänomene, etwa die Intentionalität des Bewusstseins, recht gut erklären kann. Strittig ist dagegen, ob er auch den Erlebnisqualitäten des Bewussteins gerecht wird. Eine häufig vorgebrachte Kritik besagt, dass der Funktionalismus die Differenz zwischen Mensch und Computer (bzw. Roboter) unterschlägt. Denn wir würden selbst dann einen Roboter nicht als eine Person mit mentalen Zuständen anerkennen, wenn der Roboter ein ebenso intelligentes Verhalten zeigen würde wie ein Mensch. Auch einen Schachcomputer betrachten wir nicht als Person, obwohl selbst Schachgroßmeister gegen die besten Schachcomputer kaum noch eine Chance haben. Daher kann, so die Pointe des Einwands, die Identifizierung von mentalen Zuständen mit funktionalen Zuständen nicht richtig sein. Auf die gleiche kritische Konsequenz zielt ein Gedankenexperiment ab, das auf der Möglichkeit einer anomalen Farbwahrnehmung beruht: Aufgrund eines angeborenen Sehfehlers nimmt eine Person zwei Farben, etwa Rot und Grün, stets vertauscht wahr. Da sie aber gelernt hat, das von ihr als rot Wahrgenommene als „grün“ zu bezeichnen – und grün entsprechend als „rot“ –, besteht in der funktionalen Rolle ihrer mentalen Zustände kein Unterschied zu den mentalen Zuständen der Menschen mit normaler Wahrnehmung. Also können mentale Zustände nicht auf ihre funktionale Rolle reduziert werden.29

29 Zur Kritik am Funktionalismus vgl. P. Lanz, Vom Begriff des Geistes zur Neurophilosophie, S. 295ff; M. Pauen (2001) S. 133ff; J. Schröder (2004) S. 95 ff.

242 Analytische Ontologie

Eliminativer Materialismus. Einen radikalen Weg zur Lösung des Leib-Seele-

Problems schlägt der eliminative Materialismus ein. Seine Grundthese lautet, dass es streng genommen mentale Phänomene gar nicht gibt. Begründet wurde der eliminative Materialismus von dem amerikanischen Philosophen Wilfrid Sellars (1912–1989) in dem Aufsatz Empiricism and the Philosophy of Mind (1956; dt. Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, 1981). Vertreten wird diese Position unter anderem von dem US-Amerikaner Richard Rorty (1931–2007) sowie vor allem von den australischen Philosophen Paul Churchland (geb. 1942) und Patricia Churchland (geb. 1943). Ihre bekanntesten Bücher sind Neurophilosophy. Towards a Unified Science of Mind (1985) von Patricia Churchland und The Engine of Reason (1995; dt. Die Seelenmaschine, 1997) von Paul Churchland. Sellars fragt nach der Adäquatheit und Veränderlichkeit der Alltagspsychologie. Unter „Alltagspsychologie“ („folk psychology“) versteht er die selbstverständlichen Auffassungen von Bewusstsein, Denken, Fühlen und Wollen, die mit der grundlegenden Unterscheidung zwischen seelischen und körperlichen Prozessen verknüpft sind. Diese Alltagspsychologie hat sich nicht nur in geschichtlicher Zeit kaum verändert, sondern sie hat sich auch in der Alltagssprache niedergeschlagen. Sellars entwickelt zunächst eine Hypothese über die Entstehung der Alltagspsychologie in der menschlichen Vorgeschichte. Nach dieser Hypothese begannen Menschen irgendwann damit, sich gegenseitig innere Zustände zuzuschreiben, um das Verhalten anderer verstehen zu können. Dies bedeutet nach Sellars aber, dass die alltagspsychologischen Konzepte von Bewusstsein und Geist theoretische Konstrukte sind, d. h. sie sind keine unmittelbaren (theorieneutralen) Tatsachen der Erfahrung, sondern sie sind von einer Theorie postulierte Entitäten. Als theoretische Konstrukte sind sie jedoch durch Erfahrung überprüfbar und korrigierbar. Sellars glaubt nun in der Tat, dass mit der Entwicklung einer modernen materialistischen Theorie des Geistes und einer ihr entsprechenden neuen Sprache die alltagspsychologischen Vorstellungen verschwinden werden – ähnlich wie die früheren Vorstellungen von Hexen oder Dämonen verschwunden sind. Ausgehend von Sellars haben Paul und Patricia Churchland in verschiedenen Schriften den eliminativen Materialismus weiter ausgebaut. Die Churchlands betrachten die Alltagspsychologie als eine überholte Theorie, die sich nicht in das moderne wissenschaftliche Weltbild integrieren lässt. Die Alltagspsychologie wisse nichts von den physischen Grundlagen des Bewusstseins und sei daher nicht in der Lage, psychische Krankheiten zu verstehen. Wie Sellars gehen sie davon aus, dass die Alltagspsychologie im Laufe des wissenschaftlichen Fortschritts durch eine Neurophysiologie (oder Neurobiologie) abgelöst werden wird, die das menschliche Innenleben allein in neurophysiologischen Katego-

Die analytische Philosophie des Geistes 243

rien beschreiben wird. Diese materialistische Theorie wird zugleich eine neue Sprache entwickeln, die die psychologischen Phänomene neu klassifiziert und deutet. Die internen Prozesse, die bisher „Geist“ oder „Bewusstsein“ genannt wurden, werden dann nur noch physiologische Phänomene sein. „Wenn wir es also schließlich schaffen, eine adäquate Theorie neuronaler Aktivität aufzustellen, dann wird diese Theorie ihre primitive Vorläuferin einfach ersetzen. Die Alltagspsychologie wird eliminiert werden, so wie es falschen Theorien ergeht, und die vertraute Ontologie der mentalen Zustände des gesunden Menschenverstandes wird dasselbe Schicksal erleiden wie das stoische Pneuma, die Essenzen der Alchimie, das Phlogiston, der Wärmestoff und der lichtleitende Äther.“30 Diese Annahme, dass das Mentale in Theorie und Sprache beseitigt werden wird, ist die Kernthese des eliminativen Materialismus. Im Unterschied zur Identitätstheorie haben die Ausdrücke der Alltagspsychologie nach dieser Position also nicht nur eine andere Bedeutung als physiologische Ausdrücke, sondern sie beziehen sich auch andere Gegenstände. Während physiologische Ausdrücke sich auf Gehirnprozesse beziehen, beziehen sich die alltagspsychologischen Ausdrücke jedoch auf etwas, was es im Grunde gar nicht gibt; sie haben nur scheinbar eine Referenz. Die Sätze der Alltagspsychologie sind daher falsch und die von ihr postulierten Entitäten sind bloße Fiktionen. Die Elimination des Mentalen bedeutet daher keine „Reduktion“ der mentalen Phänomene auf ihre physiologische Basis. Im Falle einer Reduktion wäre die alltagspsychologische Beschreibung menschlichen Verhaltens nämlich durchaus zutreffend, nur eben nicht grundlegend. Nach Paul und Patricia Churchland ist die Alltagspsychologie jedoch falsch und muss daher beseitigt werden. Einwände gegen den eliminativen Materialismus. Der eliminative Materialismus

ist offensichtlich eine große Herausforderung für das menschliche Selbstverständnis, tritt er doch mit der Zumutung auf, dass mentale Zustände nur altmodische theoretische Entitäten sind. An kritischen Einwänden gegen diese Position mangelt es denn auch nicht. Viele Kritiker machen geltend, dass Geist und Bewusstsein keine bloßen theoretischen Konstrukte sind und dass unsere Selbstwahrnehmung nicht so stark von theoretischen Annahmen abhängt, wie dies der eliminative Materialismus behauptet. Vor allem Gefühle und Empfindungen werden häufig als weitgehend vortheoretisch und vorsprachlich herausgestellt. Ein anderer Einwand behauptet, dass der eliminative Materialismus sich in ei-

30 Paul Churchland, Scientific Realism and the Plasticity of Mind (1979), deutsch zitiert nach M. Pauen (2001) S. 95.

244 Analytische Ontologie

nen Widerspruch verwickelt, wenn er mentale Zustände eliminieren will. Denn da der eliminative Materialismus ja selbst eine Theorie sei, die eine hypothetische Annahme über die Wirklichkeit mache, setze er einen mentalen Zustand des Wissens voraus. Umstritten ist freilich, ob dieser Einwand sich auch nach Preisgabe der mentalistischen Alltagssprache noch stellen wird. Gleichwohl scheint Bewusstsein Merkmale zu haben, die sich einer strikten „Elimination“ hartnäckig widersetzen.31 Würdigung. Die analytische Philosophie des Geistes, von der hier nur eine sehr

grobe Darstellung gegeben werden konnte, ist ein spannender, aber auch komplizierter Diskussionsprozess, der auf die Erfahrungen und Errungenschaften der gesamten analytischen Philosophie aufbaut und damit erhebliche Anforderungen an Teilnehmer und Rezipienten stellt. In dieser Diskussion werden scharfsinnige Überlegungen und Argumente entwickelt, aber auch skurrile Gedankenexperimente angestellt, deren Bedeutung und Relevanz nicht immer klar ist. Außerdem werden begriffliche Differenzierungen vorgenommen und theoretische Standpunkte formuliert, die die philosophische Tradition häufig noch gar nicht kannte. Mit alledem erweist sich die analytische Philosophie des Geistes als eine Strömung der modernen Metaphysik, die sich in stürmischer Entwicklung befindet und deren bleibende Errungenschaften sich kaum abschätzen lassen. Zwei Tendenzen scheinen für die analytische Philosophie des Geistes jedoch besonders charakteristisch zu sein. Zunächst kann man feststellen, dass in der analytischen Diskussion einige traditionelle Aspekte des Leib-Seele-Problems, insbesondere die damit verknüpften religiösen Begleitvorstellungen, gänzlich verschwunden sind. Eine Erneuerung der Vorstellung einer immateriellen Seelensubstanz oder gar der Idee der Unsterblichkeit der Seele scheint völlig ausgeschlossen zu sein. Die Diskussion dreht sich nämlich fast ausschließlich um die Frage, welche Form von Materialismus oder Monismus die adäquate Philosophie des Geistes ist. Sodann zeichnet sich die analytische Debatte um die Natur des Geistes durch eine starke Tendenz zu philosophischer Detailarbeit aus. Zwar geht es dabei zuletzt um die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt, doch tritt das Bemühen um eine philosophische Gesamtsicht der Welt bisher hinter der analytischen Detailarbeit an der Natur des Geistes ganz zurück. Ob die analytische Ontologie sich in Zukunft einmal auch einer philosophischen Gesamtsicht der Welt zuwenden wird, bleibt abzuwarten. 31

Zur Kritik am eliminativen Materialismus vgl. M. Pauen (2001) S. 121ff; J. Schröder (2004) S. 97 ff.

IX. Ontologie des kritischen Rationalismus

Der von Popper begründete kritische Rationalismus ist eine Strömung der modernen Philosophie, die ursprünglich ganz auf Wissenschaftstheorie ausgerichtet war und sich erst später der Metaphysik zuwandte. Die Vertreter des kritischen Rationalismus beschäftigen sich außer mit ontologischen Fragen wie dem Leib-Seele-Problem und dem Problem der Willensfreiheit zwar auch mit Fragen religiöser Metaphysik, doch sind ihre diesbezüglichen Ergebnisse durchweg negativ-kritischer Natur. Obgleich die kritischen Rationalisten gewöhnlich unterschiedslos von Metaphysik und Ontologie reden, geht es ihnen daher vor allem um ein philosophisches Verständnis von Welt und Mensch, also um Ontologie. Von der analytischen Philosophie unterscheidet sich der kritische Rationalismus zunächst dadurch, dass er stärker an den modernen Wissenschaften und weniger an logischer Analyse der Sprache orientiert ist. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal besteht darin, dass er sich mehr um ein philosophisches Weltbild bemüht. Wie bei der analytischen Philosophie steht aber auch hier die Frage im Zentrum, ob und inwiefern eine moderne Ontologie materialistisch sein muss. Eine Erneuerung von Metaphysik (bzw. Ontologie) hat zuerst Karl Popper unternommen. Er hat nicht nur zu zeigen versucht, dass metaphysische Probleme rational diskutiert und kritisiert werden können, sondern er hat in seiner 3-Welten-Ontologie auch ein philosophisches Weltbild entworfen, das zwar auf die modernen Wissenschaften aufbaut, das aber gleichwohl den Materialismus ablehnt, um der Vernunft und Freiheit des Menschen gerecht zu werden. Im Gegensatz zu Popper hat Paul Feyerabend in seiner frühen Phase einen radikalen Materialismus vertreten, den er durch seinen späteren erkenntnistheoretischen Anarchismus allerdings wieder infrage gestellt hat. Hans Albert hat den Naturalismus gegen religiöse Weltauffassungen verteidigt, indem der die gängigen Einwände zu widerlegen versuchte, die von Theologen und religiösen Denkern ge-

246 Ontologie des kritischen Rationalismus

gen wissenschaftliche Weltbilder vorgebracht werden. Eine wissenschaftsorientierte Ontologie, die der qualitativen Vielfalt und Vielschichtigkeit der Wirklichkeit voll Rechnung zu tragen versucht, ohne dem Leib-Seele-Dualismus Zugeständnisse zu machen, hat Mario Bunge in seinem gemäßigten („emergentistischen“) Materialismus entwickelt.

1. Karl Popper: Kritisch-rationale Metaphysik und die 3-Welten-Ontologie Wissenschaftstheoretiker und Metaphysiker. Indem wir uns Karl Popper, dem

Begründer des kritischen Rationalismus, zuwenden, kehren wir zunächst in die Zeit des Wiener Kreises zurück. Popper war zwar nie Mitglied dieser Gruppe von Philosophen und Wissenschaftlern um Schlick, Carnap und Neurath, doch hat deren wissenschaftlich-rationale Grundhaltung ihn stark beeindruckt. Die radikale Metaphysikkritik des Wiener Kreises lehnte er freilich von Anfang an als überzogen ab. In Auseinandersetzung mit dem logischen Empirismus entwickelte Popper schließlich eine neue wissenschaftstheoretische Konzeption, die auch die Grenze zwischen Wissenschaft und Metaphysik neu definiert. Popper war als Wissenschaftstheoretiker schon zu einem Klassiker der Philosophie der Moderne geworden, als er sich in seinem Spätwerk der Metaphysik zuwandte. Damit war das Etikett „Positivist“, das ihm seit dem Positivismusstreit der 60er Jahre in Deutschland häufig angehängt wurde, endgültig obsolet geworden. Der späte Popper bemühte sich um eine Rehabilitierung der Metaphysik und steuerte selbst Beiträge zum Problem der Willensfreiheit und zum Leib-Seele-Problem bei. Obwohl er sich dabei an moderner Biologie, Physik und Kosmologie orientierte, gelangte er zu einem philosophischen Weltbild, das dem Menschen eine besondere Stellung in der Welt zuweist und sich dadurch in ausdrücklichen Gegensatz zum Materialismus setzt. – Terminologisch ist zu beachten, dass Popper, wenn er von „Metaphysik“ redet, sich gewöhnlich mit ontologischen Fragen und nur selten mit religiösen Fragen befasst.

Karl Popper (1902–1994) Begründer des kritischen Rationalismus, Erneuerer metaphysischer Fragestellungen und Vertreter einer pluralistischen Ontologie

Karl Popper: Kritisch-rationale Metaphysik und die 3-Welten-Ontologie 247

Leben und Werk. Popper wurde am 28. Juli 1902 als Sohn eines bekannten Wie-

ner Rechtsanwaltes geboren. Er interessierte sich früh für Politik und verstand sich in seiner Jugend vorübergehend als Kommunist. Sein Weg zum Philosophie-Professor war ungewöhnlich. Er absolvierte zunächst eine Tischlerlehre und holte gleichzeitig das Abitur nach. Danach studierte er Philosophie, Psychologie und Musikgeschichte und arbeitete zunächst als Erzieher, bis er 1930 eine Anstellung als Hauptschullehrer fand. In diesen Jahren hatte er Kontakte zum Wiener Kreis und schrieb sein wissenschaftstheoretisches Hauptwerk Logik der Forschung (1934). Von 1937 bis 1945 lehrte er als Philosophie-Dozent in Christchurch in Neuseeland, wo sein zweibändiges sozialphilosophisches Hauptwerk The Open Society and its Enemies (1945; dt. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1957/58) entstand. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Popper von 1946 bis 1969 Professor für Logik und wissenschaftliche Methodenlehre in London und stieg in dieser Zeit zu einem der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts auf. In den Conjectures and Refutations (1963; dt. Vermutungen und Widerlegungen, 2 Bde. 1994/97) entwickelt er seine Wissenschaftstheorie zu einer allgemeinen Erkenntnistheorie weiter, die die Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis und die Kritik als Motor des Erkenntnisfortschritts herausstellt. Zugleich begann er sich in dieser Schrift metaphysischen Themen zuzuwenden. In dem Werk Objective Knowledge (1972; dt. Objektive Erkenntnis, 1973) entwickelte er seine Freiheitskonzeption und entwarf die Grundzüge seiner Theorie der „3 Welten“, die er später in dem gemeinsam mit seinem Freund, dem Gehirnphysiologen John C. Eccles (1903–1997), verfassten Werk The Self and its Brain (1977, dt. Das Ich und sein Gehirn, 1982) ausgearbeitet vorlegte. Postum erschien Poppers Auseinandersetzung mit der Philosophie der Vorsokratiker in The World of Parmenides (1998; dt. Die Welt des Parmenides, 2001). Wegen seiner Beiträge zur Wissenschaftstheorie und politischen Philosophie genoss Popper großes Ansehen und erhielt zahlreiche Ehrungen. Im Jahr 1965 wurde er wegen seiner Verdienste um die Verteidigung der offenen, demokratischen Gesellschaft in den Adelsstand erhoben. Er starb am 17. September 1994 in einem Londoner Krankenhaus. Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Metaphysik. Schon in seiner Logik der

Forschung (1934) hatte Popper die Metaphysikkritik des logischen Empirismus zurückgewiesen. Gegen die These der Sinnlosigkeit der Metaphysik brachte er vor allem den Einwand vor, dass das empiristische Sinnkriterium, das nur logisch und empirisch verifizierbare Aussagen als sinnvoll anerkennt, die absurde Konsequenz hat, dass neben der Metaphysik auch die empirischen Wissen-

248 Ontologie des kritischen Rationalismus

schaften als sinnlos gelten müssten. Wissenschaftliche Theorien bestehen nämlich aus Allaussagen wie „Alles Kupfer leitet Elektrizität“, die etwas über eine unbegrenzt große Zahl von Fällen behaupten, insbesondere auch über alle zukünftigen Fälle, und die daher niemals vollständig überprüft werden können. Keinen Ausweg aus dieser Schwierigkeit bietet, wie Popper im Anschluss an Hume zeigt, die Einführung eines Induktionsprinzips, das die Gleichförmigkeit des Naturverlaufs in Vergangenheit und Zukunft behauptet. Denn ein solches Prinzip kann eben deswegen, weil es die Voraussetzung aller Erfahrungsschlüsse ist, selbst nicht durch Erfahrung bewiesen werden. Wissenschaftliche Theorien sind also nicht beweisbar, sondern bleiben immer mehr oder weniger gut bestätigte Hypothesen, die durch den weiteren Fortschritt widerlegt werden können. Einen wirklichen Ausweg aus dieser Problemsituation erlaubt dagegen nach Popper der „Falsifikationismus“. Diese Position zieht aus der Einsicht, dass Theorien nicht bewiesen, sondern nur widerlegt („falsifiziert“) werden können, die methodologische Folgerung, dass Wissenschaftler stets versuchen sollen, ihre Hypothesen und Theorien zu widerlegen, d. h. sie möglichst harten Tests zu unterwerfen, um die falschen Theorien zu beseitigen. Die Theorien, die die Tests überstehen, sind damit zwar nicht bewiesen, aber doch auf die bestmögliche Art bestätigt. Der Falsifikationismus behauptet also, dass der Weg zur Wahrheit durch die Eliminierung der Irrtümer führt. Falsifizierbarkeit fasst Popper zugleich als Abgrenzungskriterium von Wissenschaft und Metaphysik. Während wissenschaft­liche Theorien empirisch widerlegt werden können, sind metaphysische Theorien einer empirischen Widerlegung nicht fähig, weil sie gar nichts über die empirisch zugängliche Welt aussagen und daher mit jeder möglichen Erfahrung vereinbar sind. Entgegen einer landläufigen Vorstellung ist Unwiderlegbarkeit damit nach Popper kein positives Merk­mal einer Theorie, sondern gerade das Kennzeichen der Unwissenschaftlichkeit. Rationale Diskussion metaphysischer Probleme. In der Logik der Forschung hatte

Popper zwar die Sinnlosigkeitsthese des Wiener Kreises kritisiert, sich ansonsten aber von Metaphysik distanziert. Doch in den 50er Jahren versuchte er in zwei Aufsätzen, die in Vermutungen und Widerlegungen aufgenommen wurden, nachzuweisen, dass metaphysische Fragen sinnvoll gestellt und untersucht werden können. Gegen die von Wittgenstein und dem logischen Empirismus vertretene These von den „Scheinproblemen“ der Philosophie legte Popper nun großen



Zu Poppers Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Metaphysik vgl. L. Schäfer (1988) S. 65 ff.

Karl Popper: Kritisch-rationale Metaphysik und die 3-Welten-Ontologie 249

Nachdruck auf die These, dass es überhaupt echte philosophische Probleme gibt. In dem Aufsatz Über die Eigenart von philosophischen Problemen und über ihre Wurzeln in der Naturwissenschaft von 1952 schreibt er: „Echte philosophische Probleme haben ihre Wurzeln immer in drängenden Problemen außerhalb der Philosophie, und sie sterben ab, wenn diese Wurzeln verkümmern.“ Daher ist es für ihn zum Verständnis einer philosophischen Theorie unerlässlich, die außerphilosophische Problemsituation, die sie zu lösen beansprucht, zu rekon­ struieren. So ist es etwa zum Verständnis der Philosophie Kants unverzichtbar zu wissen, dass die Newtonsche Physik als unbezweifelbar wahr erschien, obgleich nach Humes Kritik sicheres Wissen über empirische Naturgesetze ausgeschlossen war. Popper zentrales Anliegen besteht nun darin zu zeigen, dass Metaphysik, obwohl sie keine Wissenschaft ist, nicht irrationaler Beliebigkeit ausgeliefert ist, sondern dass auch eine rationale Auseinandersetzung mit metaphysischen Problemen möglich ist. Das methodologische Grundproblem der Metaphysik besteht damit in der Frage, wie wahre und falsche metaphysische Theorien unterschieden werden können, wenn sie per definitionem empirisch unwiderlegbar sind. In dem Aufsatz Über die Stellung der Erfahrungswissenschaft und der Metaphysik von 1957/58 hat Popper dazu den Vorschlag gemacht, dass jede rationale Theorie – sei sie nun wissenschaftlich oder philosophisch – als eine Antwort auf ein Problem zu verstehen ist. Auch metaphy­sische Theorien lassen sich daher argumentativ vertreten und kritisieren, insofern sie Versuche sind, bestimmte Probleme zu lösen. Jede metaphysische Theorie kann in Bezug auf eine gegebene Problemsituation rational diskutiert werden. Eine rationale Diskussion metaphysischer Probleme kann mithilfe folgender Fragen erfolgen: „Löst die Theorie ihr Problem? Löst sie es besser als andere Theorien? Verschiebt sie es vielleicht nur? Ist die Lösung einfach? Ist sie fruchtbar? Widerspricht sie vielleicht anderen philosophischen Theorien, die wir zur Lösung anderer Probleme brauchen?“ Popper versucht also methodologische Kriterien wie Erklärungskraft und Einfachheit, die bei der Beurteilung der Adäquatheit wissenschaft­licher Theorien angewendet werden, auch für die Diskussion metaphysischer Probleme fruchtbar zu machen. Eine metaphysische Theorie kann nach seiner Ansicht aber auch dadurch kritisiert werden, dass man zeigt, dass das Problem, das sie zu lösen versucht, gar kein wirkliches Problem ist. So kritisiert Popper etwa Kants Philosophie mit dem Argument, dass der

 

Popper: Vermutungen und Widerlegungen, Teilband I, Tübingen 1994, S. 104. Popper: Vermutungen und Widerlegungen, Teilband I, S. 289.

250 Ontologie des kritischen Rationalismus

Determinismus, den Kant mit mensch­licher Freiheit zu vereinbaren versucht, gar nicht aus Newtons Physik folgt. Verteidigung der Willensfreiheit. Das metaphysische Problem, mit dem Popper sich zuerst intensiv auseinandersetzte, war das Problem der Willensfreiheit. In seinem Essay Über Wolken und Uhren (1965) verteidigt er die Freiheit des Menschen gegen die Einwände des Determinismus und versucht ihre Vereinbarkeit mit der modernen Physik nachzuweisen. Popper geht in seinen Überlegungen von dem Gegensatz von physikalischem Determinismus und Indeterminismus aus, den er durch den Gegensatz von Uhren und Wolken veranschaulicht. Der Determinismus betrachtet alle Naturvorgänge gleichsam als „Uhren“, die durch physische Ursachen genau bestimmt sind und im Prinzip exakt vorausberechnet werden können. Der Indeterminismus versteht die Naturvorgänge dagegen gleichsam als „Wolken“, die mehr oder weniger ungeordnet sind und deren Bewegungen nicht genau vorhergesagt werden können. Die menschliche Freiheit sieht Popper durch den physikalischen Determinismus bedroht, weil nach dieser Position das menschliche Verhalten allein durch physische Ursachen bestimmt ist, sodass für Willensfreiheit kein Platz mehr ist. Den psychologischen Determinismus, der das menschliche Verhalten aus Charakter und Motiven erklärt, schiebt Popper dagegen als zu vage und unbestimmt beiseite. Gegen den physikalischen Determinismus hat Popper verschiedene Argumente vorgebracht. In Anknüpfung an den amerikanischen Pragmatisten Charles S. Peirce (1839–1914) wendet er sich zunächst gegen die verbreitete Auffassung, dass der Determinismus von der klassischen Physik vorausgesetzt werde. Nach Popper können sogar die Erfolge der Newtonschen Physik bei der Berechnung der Planetenbewegungen nicht einfach als Bestätigungen des Determinismus gedeutet werden, da es in der Natur die vom Determinismus unterstellte absolute mathematische Exaktheit nirgends gibt. Sodann wendet Popper ein, dass der Determinismus mit der Tatsache des schöpferischen Charakters der Evolution unvereinbar ist. Wenn alles in der Natur strikt kausal bestimmt wäre, könnte auch das vorgeblich Neue in der Welt stets vorausberechnet werden. Ein Wissenschaftler hätte etwa durch die Untersuchung der Körper von Mozart und Beethoven deren musikalische Werke voraussagen können, was Popper für schlicht absurd hält. Schließlich ist der Determinismus auch deshalb verfehlt, weil er die physische Welt als ein geschlossenes System versteht, das keine Einwirkungen von nicht-physischen Objekten erhalten kann. Nach Auffassung des physikalischen Determinismus können, so Poppers Einwand, Ge-

Karl Popper: Kritisch-rationale Metaphysik und die 3-Welten-Ontologie 251

fühle und Gedanken des Menschen keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge haben, sondern sie sind entweder bloße Illusionen oder unwirksame Nebenprodukte der physischen Objekte. Dass der Mensch damit zu einem bloßen Rädchen in der riesigen Maschine des Universums wird, bezeichnet Popper als „Alptraum des physikalischen Determinismus“. Mit der Zurückweisung des Determinismus ist jedoch, wie Popper betont, menschliche Freiheit noch keineswegs gewährleistet. Der bloße Indeterminismus impliziert ja die Anerkennung des Zufalls in der Natur, doch Zufall ist nicht dasselbe wie Freiheit. Wenn das Verhalten des Menschen ein bloßes Produkt des Zufalls wäre, gleichsam das Ergebnis einer Lotterie, dann wäre für Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen ebenfalls nichts gewonnen. Auch der „Quantensprung“ ist kein Modell für Willensfreiheit. Der Indeterminismus schafft daher nach Popper nur einen Spielraum für menschliche Freiheit, er macht aber diese noch nicht aus. „… der physikalische Indeterminismus ist für mich eine notwendige Voraussetzung für jede Lösung unseres Problems. Man muss Indeterminist sein; doch ich werde zu zeigen versuchen, dass das nicht genug ist.“ Entscheidend ist für Popper, dass der Indeterminismus Lücken in der kausalen Verflechtung der Natur behauptet und damit die physische Natur für Einflüsse nicht-physischer Faktoren öffnet. Wenn die Natur nicht vollständig durch physische Ursachen bestimmt ist, dann ist es auch möglich, dass der Mensch durch freie Entscheidungen in den Naturverlauf eingreifen kann. Und das heißt nach Popper, dass Vorstellungen, Absichten, Pläne und Theorien des Menschen über sein Handeln Einfluss auf die Welt nehmen können. Freie Entscheidungen müssen nach Popper als eine Art „Reifungsprozess“ gedacht werden, auf jeden Fall als etwas, was zwischen oder, besser gesagt, jenseits des Unterschieds von Wolken und Uhren liegt. In seiner Freiheitskonzeption postuliert Popper somit einen Einfluss geistiger Faktoren auf die materielle Natur. Kritik des Materialismus. Wie seine Freiheitstheorie bereits zeigt, geht es Popper

als Metaphysiker insgesamt darum, die in der Neuzeit auftretende materialistische Deutung vom Menschen als bloßer „Maschine“ zu beenden und gegen den Materialismus die Sonderstellung des Menschen im Universum erneut sicherzustellen. Dieses zentrale Anliegen haben Popper und Eccles in ihrem gemeinsamen Vorwort von Das Ich und sein Gehirn (1977) formuliert: „Wir haben dieses Buch zum Teil geschrieben, weil wir beide der Ansicht sind, daß die Herabsetzung des Menschen und seiner Leistungen weit genug getrieben worden ist – in

 

Popper: Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973, S. 252. Zu Poppers Freiheitstheorie vgl. U. Steinvorth (1987) S. 268ff; U. Pothast (1987) 183 ff.

252 Ontologie des kritischen Rationalismus

der Tat, zu weit. Es heißt, wir sollten von Kopernikus und Darwin lernen, daß die Stellung des Menschen im Universum nicht so erhaben ist oder so einzigartig, wie wir es einst angenommen hatten. Das mag sein. Doch seit Kopernikus haben wir auch zu verstehen gelernt, wie wunderbar, wie selten und vielleicht einzigartig unsere kleine Erde in diesem großen Universum ist; und seit Darwin haben wir vieles über die wunderbare Organisation aller Lebewesen auf Erden gelernt, sowie über die einzigartige Stellung des Menschen unter seinen Mitgeschöpfen.“ Beim späten Popper spielt daher die Materialismuskritik eine zentrale Rolle. Sie tritt in zwei Grundformen auf. Die erste Form seiner Materialismuskritik entwickelt Popper im Anschluss an Whitehead. Wie dieser versucht er nachzuweisen, dass die moderne Physik die Vorstellungen des klassischen Materialismus überwunden hat. Nach der klassischen Auffassung des „Klötzchen-Materialismus“ war die Materie ein den Raum erfüllender, substanzieller Stoff, aus dessen Bewegungen die Vorgänge der Natur erklärt werden. Diese Konzeption betrachtet Popper durch die Entwicklung der Physik seit Newton als überholt. Bereits Newtons Physik führte mit der Gravitation als Fernwirkung eine zweite Form von Verursachung neben dem mechanischen Stoß ein. Durch die Entdeckung des Elektrons, der instabilen Elementarteilchen und der wechselseitigen Konvertierbarkeit von Materie und Licht (Photonen) wurde später der substanzielle Charakter der Materie aufgehoben und durch die Einführung von Feldern und Strahlung wurde die Materie schließlich in gewisser Weise „entstofflicht“. Das Fazit seiner Kritik hat Popper in dem provokativen Satz „Der Materialismus überwindet sich selbst“ zusammengefasst. Obgleich die Vorstellung von der Materie sich damit grundlegend gewandelt hat, bleibt für Popper ein moderner „physikalistischer“ Materialismus eine Herausforderung für die Metaphysik. Die alte These Lamettries vom Menschen als „Maschine“ tritt nämlich in moderner Version als These vom Menschen als „elektrochemischer Maschine“ wieder auf. Als wesentlicher Bestandteil des Materialismus erhalten geblieben ist darin nach Popper die Annahme der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt, also die Annahme, dass die Vorgänge in der Welt allein durch physische Ursachen bestimmt sind. Die zweite Form von Poppers Materialismuskritik richtet sich gegen moderne materialistische Positionen zum Leib-Seele-Problem. Dazu zählt er Behaviorismus, Panpsychismus, Epiphänomenalismus und Identitätstheorie. Der Behaviorismus, der das Geistige auf verbales Verhalten zurückzuführen versucht, 

Popper / J. Eccles: Das Ich und sein Gehirn, München 1982, S. 13 f.

Karl Popper: Kritisch-rationale Metaphysik und die 3-Welten-Ontologie 253

läuft nach Popper auf die absurde These hinaus, dass es Geistiges überhaupt nicht gibt. Der Panpsychismus, der aller Materie eine seelische Innenseite zuspricht, kann nach seiner Ansicht zwar die Entstehung des Geistes erklären, doch erkauft er dies mit der phantastischen Annahme einer allgemeinen Naturbeseelung und verkennt damit, dass Geist eine emergente Eigenschaft von Lebewesen ist. Den Epiphänomenalismus, der Bewusstsein als ein bloßes Anhängsel oder eine Begleiterscheinung physischer Prozesse deutet, hält Popper für unvereinbar mit dem Darwinismus. Denn wenn Bewusstsein ein Anhängsel ohne Einfluss auf die Natur wäre, dann hätte es auch keinen evolutionären Nutzen und folglich bliebe es unverständlich, warum es im Laufe der Evolution durch natürliche Auslese entstanden ist. Hauptangriffsziel von Poppers Kritik ist die Identitätstheorie. Diese Position leidet nach seiner Ansicht unter demselben Defekt wie der Epihänomenalismus. Denn wenn psychische Prozesse nur „von innen gesehene“ physische Prozesse sind, dann wird die psychische Innenseite zur Erklärung von Naturvorgängen überflüssig. „Die Identitätstheorie fügt der geschlossenen physikalischen Welt einen neuen Aspekt hinzu, aber sie kann nicht erklären, wieso dieser Aspekt in den Kämpfen und Bedrängnissen von Welt 1 [der physischen Welt] von Vorteil sein soll.“ Wenn Bewusstsein mit Hirnprozessen identisch ist, braucht man bei Erklärungen eben nur die äußere, physische Seite zu beachten. Psychologische Erklärungen von Handlungen sind daher überflüssige Duplikate physikalischer Erklärungen. Poppers Kritik läuft damit auf die These hinaus, dass die Identitätstheorie mit der Evolutionstheorie unvereinbar ist. Die 3-Welten-Ontologie. Wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt ha-

ben, betrachtet Popper die Annahme der geschlossenen physischen Welt als das entscheidende Hindernis für ein akzeptables philosophisches Menschenbild. Um den Menschen als frei und verantwortlich handelndes Wesen verstehen zu können, müssen nach seiner Ansicht geistige Faktoren einen Einfluss auf das Verhalten des Menschen haben. Daher hat Popper vorgeschlagen, drei Wirklichkeitsbereiche zu unterscheiden und diese Unterscheidung von „3 Welten“ zur Grundlage eines philosophischen Weltbildes zu machen. Popper entwickelt dabei eine ontologische Konzeption, auch wenn er den Terminus „Ontologie“ nicht verwendet. Poppers 3-Welten-Ontologie geht zunächst davon aus, dass es neben dem Bereich der physischen und organischen Welt (Welt 1) noch den Bereich der 

Popper: Das Ich und sein Gehirn, S. 120.

254 Ontologie des kritischen Rationalismus

Akte und Zustände des Bewusstseins (Welt 2) gibt. Diese Unterscheidung entspricht im Kern der traditionellen Unterscheidung zwischen Leib und Seele. Darüber hinaus muss ein Bereich abstrakt-geistiger Gehalte (Welt 3) angenommen werden, der aus Ideen, Gedanken und Theorien besteht. Da diese geistigen Inhalte nach Popper unabhängig von dem sie denkenden subjektiven Bewusstsein bestehen, bezeichnet er sie auch als „objektiven Geist“. Welt 3 besteht somit aus den Gebilden, die einst Platon mit seinen „Ideen“ gemeint hatte. Doch während Platon die Ideen für ewig und unveränderlich hielt, betrachtet Popper Welt 3 ausdrücklich als Produkt menschlichen Denkens. In Welt 3 versucht er somit Selbständigkeit und Erzeugtsein miteinander zu verbinden. Zu dieser eigenwilligen Auffassung von Welt 3 gelangt Popper, weil er ein evolutionäres Weltbild vorlegen will, das mit den Erkenntnissen der modernen Kosmologie und Biologie in Übereinstimmung stehen soll. Er betrachtet es als wissenschaftlich hinreichend gesicherte Tatsachen, dass es lange Zeit im Kosmos kein Leben gab und dass Organismen und Lebewesen mit Bewusstsein erst relativ in der Geschichte der kosmischen Evolution aufgetreten sind. Daraus leitet er die ontologische Grundthese ab, dass Bewusstsein (Welt 2) ein Produkt der physischen Natur (Welt 1) ist und dass die objektiv-geistigen Gehalte (Welt 3) ihrerseits Produkte des menschlichen Geistes (Welt 2) sind. Ähnlich wie Bergson und Whitehead betont Popper daher den kreativen, emergenten Charakter der Evolution, wobei er zugleich behauptet, dass die Entstehung neuer Formen aus vorhergegangenen Formen weder erklärt noch vorausgesagt werden kann. Außer auf die Kosmologie und Evolutionstheorie stützt sich Popper auch auf Erkenntnisse der Gehirnphysiologie. Eine unbestreitbare Tatsache sieht er vor allem darin, dass Bewusstsein stets an ein funktionierendes Gehirn gebunden ist, dass Welt 2 also immer von Welt 1 abhängig bleibt. Eine ähnliche Abhängigkeit gibt es auch zwischen Welt 2 und Welt 3, weil die in einer bestimmten Sprache formulierten Theorien oder Gedanken stets auf deutende Subjekte angewiesen sind. Im Gegensatz dazu sind Bücher, die in einer unverständlichen, toten Sprache verfasst sind, nur noch rein physische Gegenstände. Insofern Popper die Entstehung und Abhängigkeit der psychischen Welt von der physischen Welt (und entsprechend der objektiv-geistigen Welt von der physischen und psychischen Welt) behauptet, lässt sich seine 3-Welten-Ontologie als ein Schichtenmodell verstehen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schichtenlehre N. Hartmanns hat. 

Vergleiche zwischen Popper und Nicolai Hartmann finden sich in M. Morgenstern (1992) S. 184ff, 210 ff.

Karl Popper: Kritisch-rationale Metaphysik und die 3-Welten-Ontologie 255

Doch wenngleich Popper die materielle Bedingtheit des seelischen und geistigen Seins zugesteht, ist er dennoch der Ansicht, dass der menschliche Geist und die von ihm produzierten objektiv-geistigen Gebilde, nachdem sie entstanden sind, ein „Eigenleben“ führen und eine „partielle Autonomie“ erlangen. So stecken in Theorien implizit Ideen, an die ihre Schöpfer ursprünglich gar nicht gedacht hatten, und das Ich des Bewusstseins ist, wie Popper mit Bergson annimmt, kein bloßes Anhängsel oder Funktion des Gehirns, sondern vielmehr ein „Akteur“, der das Gehirn wie ein Instrument oder Organ für seine Zwecke benutzt. Bewusstsein und objektiver Geist bleiben daher zwar von der Materie abhängig, doch wachsen sie nach Popper gleichsam über die Materie hinaus. Es ist diese partielle Selbständigkeit, die Popper meint, wenn er vom „Ich und seinem Gehirn“ spricht. Wenn Popper dem Ich-Bewusstsein eine partielle Autonomie zuspricht, kehrt er damit jedoch nicht einfach zum cartesischen Substanzen-Dualismus zurück. Eine Deutung des Ich als Substanz lehnt er ausdrücklich ab, und zwar nicht nur, weil Bewusstsein stets von einem materiellen Träger abhängig ist, sondern auch deswegen, weil die moderne Physik nicht einmal mehr die (den Geist tragende) Materie als unvergängliche Substanz anerkennt. Außer der Materie muss daher auch der Geist, wie Popper mit Hinweis auf Whitehead behauptet, als Prozess verstanden werden, in dem sich die Identität des Ich stets neu bildet. Trotz seiner Distanzierung vom Substanzen-Dualismus hält Popper aber mit Descartes daran fest, dass es zwischen Körper und Geist eine Wechselwirkung gibt. Einerseits erzeugen physische Einwirkungen auf den Körper Empfindungen, andererseits können bloße Gedanken körperliche Reaktionen hervorrufen. Popper glaubt nun diese psychophysische Wechselwirkung verständlicher machen zu können, indem er das Ich als Vermittler zwischen Welt 1 und Welt 3 herausstellt. Das Ich erlebt die Einwirkungen physischer Prozesse in der Wahrnehmung und verändert durch sein Handeln die Welt; das Ich erzeugt aber auch Sprache, Gedanken und Theorien, die das Ich einerseits durch sein Handeln in der Welt realisieren kann, die aber andererseits auf seine eigenen Entwicklung zurückwirken. Dass das Ich mit Welt 1 und Welt 3 in Wechselwirkung steht und damit die Schaltstelle zwischen Materie und objektivem Geist ist, ist der Kern von Poppers These des „Interaktionismus“.



Zu Poppers 3-Welten-Theorie vgl. L. Schäfer (1988) S. 149ff; M. Carrier / J. Mittelstraß (1989) S. 121–132; H. Hastedt (1988) S. 181–190.

256 Ontologie des kritischen Rationalismus

Einstellung zu religiösen Fragen. Wenngleich Popper mit seiner 3-Welten-On-

tologie das Ziel verfolgt, die Sonderstellung des Menschen gegen den Materialismus zu sichern, verbindet er damit doch keine metaphysisch-religiösen Motive. Über die klassischen Ideen von Gott, Unsterblichkeit der Seele und Sinn des Lebens hat er sich in seinen Schriften sehr zurückhaltend geäußert und sich gewöhnlich als Agnostiker bezeichnet.10 In den Diskussionen mit Eccles hat Popper aber diese Zurückhaltung aufgegeben und seine Einstellung zu den letzten Fragen offen gelegt. Anlass war das von Eccles geäußerte Bedenken, ob Popper mit seiner 3-Welten-Theorie nicht doch dem Materialismus bedenklich nahe komme, insofern sie keinen Platz für die Idee der Unsterblichkeit der Seele lasse. Popper entgegnete darauf zunächst, dass ihm die Vorstellung einer unsterblichen Seele wenig attraktiv erscheine, da sie eine „Art geisterhafte Halbexistenz“ bedeute, die noch unter der Stufe des gewöhnlichen Bewusstseins stehe. Vor allem aber hält er die Idee der unsterblichen Seele mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften für unvereinbar. Die Tatsachen der Evolution und der organischen Bedingtheit des Bewusstseins zeigen für ihn hinreichend, dass diese Idee falsch ist. Sein Freund Bryan Magee (geb. 1930) versuchte denn auch vergeblich, ihn zu einer weiter gehenden Beschäftigung mit metaphysisch-religiösen Fragen zu bewegen.11 Die Zurückweisung der Idee der Unsterblichkeit bedeutet nach Popper aber keineswegs, dass das menschliche Leben damit sinnlos oder absurd wird. Im Fehlen eines vorgegebenen, transzendenten Sinnes des Lebens sieht er vielmehr die Bedingung dafür, dass das endliche Leben besonderen Wert und Würde hat. Existentialistisch im Inhalt, aber nicht im Ton ist Poppers Credo zu den letzten Fragen: „Ich glaube, wir könnten das Leben nicht wirklich schätzen, wenn es immer weitergehen würde. Gerade die Tatsache, daß es gefährdet ist, daß es endlich und begrenzt ist, daß wir seinem Ende ins Auge sehen müssen, erhöht meiner Meinung nach den Wert des Lebens und damit sogar den Wert des Todes …“12 Wirkung. Als Wissenschaftstheoretiker ist Popper ein Klassiker der Moderne.

Seine falsifikationistische Wissenschaftstheorie und seine darauf beruhende Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Metaphysik hat das Selbstverständnis

10 Zu Poppers Zurückhaltung in religiösen Fragen vgl. seinen Brief an Hans Albert vom 16.04.1982. In: Hans Albert / Karl Popper Briefwechsel, hg. von M. Morgenstern / R. Zimmer, Frankfurt am Main 2005, S. 249. 11 Vgl. B. Magee (1998) S. 608. 12 Popper: Das Ich und sein Gehirn, S. 654.

Karl Popper: Kritisch-rationale Metaphysik und die 3-Welten-Ontologie 257

moderner Wissenschaftler entscheidend geprägt. Mit seiner Konzeption einer kritisch-rationalen Metaphysik, die methodologische Kriterien in die Diskussion metaphysischer Probleme einführt, hat er auch maßgeblich dazu beigetragen, dass Metaphysik im kritischen Rationalismus und in der analytischen Philosophie wieder zu neuem Leben erwacht ist. Von Poppers inhaltlichen Beiträgen zur Metaphysik haben vor allem seine Freiheitstheorie und Materialismuskritik Beachtung gefunden. Würdigung. Ein besonderes Verdienst Poppers um die Metaphysik besteht zu-

nächst darin, dass er die Möglichkeit einer rationalen Diskussion metaphysischer Probleme nachgewiesen hat und damit entscheidend dazu beigetragen hat, die Metaphysik von dem Geruch des Sinnlosen zu befreien. In seiner Freiheitstheorie hat Popper einen noch nicht hinreichend geklärten Weg eingeschlagen, um Willensfreiheit auf der Basis einer indeterministischen Ontologie zu begründen. Deutlich gemacht hat er dabei auch, warum deterministische Freiheitstheorien den Anschein der Absurdität nicht leicht loswerden. Auch seine Materialismuskritik hat einige zentrale Schwierigkeiten des Materialismus aufgezeigt. Klar geworden ist vor allem, dass die materialistische Annahme der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt nicht dazu führen darf, den Geist zu einem bloßen Anhängsel ohne evolutionäre Funktion zu degradieren. In seiner 3-Welten-Ontologie hat Popper neue Gesichtspunkte in die Diskussion des Leib-Seele-Problems eingeführt und dadurch eine originelle ontologische Position entwickelt, die sowohl die Bedeutung abstrakter Gegenstände für die Entwicklung des Bewusstseins als auch die Bedeutung des Bewusstseins für die Evolution betont hat. Gleichwohl bleibt seine Position ernsthaften Einwänden ausgesetzt. Noch unproblematisch ist es, wenn Popper im Sinne einer Schichtenlehre oder eines gemäßigten Materialismus die materielle Basis des Geistes anerkennt und nur die Verschiedenheit physischer und seelischer Prozesse und Eigenschaften betont. Doch sobald er auf seine zentrale These der „partiellen Autonomie“ des Ich-Bewusstseins zu sprechen kommt und den Geist als Vermittler zwischen Welt 1 und Welt 3 fasst, scheint der menschliche Geist zu einer selbständigen Entität zu werden, der seine materielle Basis gleichsam abwirft. Seine 3-Welten-Ontologie wird daher häufig als ein unhaltbares Zugeständnis an den traditionellen Leib-Seele-Dualismus kritisiert. Wenngleich Popper auch wichtige Beiträge zur Metaphysik geliefert, erreicht er als Metaphysiker doch nicht den Rang, den er als Wissenschaftstheoretiker und politischer Philosoph hat.

258 Ontologie des kritischen Rationalismus

2. Paul Feyerabend: Materialismus und Relativismus Das Enfant terrible des kritischen Rationalismus. Paul Feyerabend begann als

entschiedener Anhänger des kritischen Rationalismus und wurde schließlich zu einem seiner schärfsten Kritiker. In seiner frühen Phase folgte er Poppers falsifikationistischer Wissenschaftstheorie, doch entwickelte er in den 70er Jahren als Gegenposition seine „anarchistische Erkenntnistheorie“, die eine Pluralität von Methoden und Theorien zur Förderung des wissenschaftlichen Fortschritts propagiert. Doch Feyerabend blieb bei diesem Pluralismus nicht stehen, sondern radikalisierte ihn zu einem philosophischen Relativismus, der die privilegierte Rolle der Wissenschaft bei der menschlichen Welterkenntnis leugnet. In die Geschichte der modernen Metaphysik gehört Feyerabend, weil er Mitte der 60er Jahre den Materialismus in die Diskussionen des kritischen Rationalismus einbrachte, also gerade zu der Zeit, als Popper seine 3-Welten-Ontologie auszuarbeiten begann. Feyerabend ist aber auch deshalb für die Metaphysik der Moderne von Bedeutung, weil er in seinem späteren Denken eine skeptisch-relativistische Distanzierung von Metaphysik und Philosophie vollzog und sich damit der Postmoderne näherte. Leben und Werk. Paul Feyerabend wurde am 23. Januar 1924 in Wien geboren. Am Zweiten Weltkrieg nahm er seit 1942 als Soldat teil. 1945 erlitt er eine schwere Verletzung, die eine bleibende Gehbehinderung zur Folge hatte. Nach dem Krieg begann er 1946 in Wien Geschichte und Soziologie zu studieren, doch wechselte er bald zum Studium der Physik, Mathematik, Astronomie und Philosophie. Im Jahr 1951 promovierte er mit einer wissenschaftstheoretischen Arbeit und ging im folgenden Jahr nach London, um im Rahmen eines Stipendiums seine Studien bei Popper fortzusetzen. Er hatte engen Kontakt zu Popper, übersetzte dessen The Open Society and Its Enemies ins Deutsche, lehnte es aber ab, sein Assistent zu werden. Von 1959 bis zu seiner Emeritierung 1990 war er Professor in Berkeley (Kalifornien). Während dieser Zeit nahm er viele Gastprofessuren wahr, u. a. in London, Hamburg, Kassel und Berlin. Seit 1980 war er zusätzlich Professor in Zürich. In seiner frühen Phase veröffentlichte Feyerabend zahlreiche Aufsätze zur Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie. Nach seiner Abkehr von Popper entwickelte er seine neue Position in seinem Hauptwerk Against Method (1975; dt: Wider den Methodenzwang, 1976). In späteren Schriften wie Science in a Free Society (1978; dt. Erkenntnis für freie Menschen, 1979) und Farewell to Reason (1986;

Paul Feyerabend: Materialismus und Relativismus 259

dt. Irrwege der Vernunft, 1989) arbeitete er seinen Relativismus noch schärfer heraus und zog auch politische Konsequenzen. Kurz nach der Vollendung seiner Autobiographie Killing Time (1994; dt. Zeitverschwendung, 1995) starb Feyerabend am 11. Februar 1994 in der Nähe von Genf. Verteidigung des Materialismus. Feyerabend betrachtet den Materialismus als eine noch unausgereifte ontologische Option, die nach seiner Ansicht meist vorschnell abgelehnt wird. In seinem Aufsatz Der Materialismus und das LeibSeele-Problem von 1963 verteidigt er daher den Materialismus und weist einige verbreitete Einwände als verfehlt zurück. Der erste Einwand betrachtet die materialistische These, dass Denken und Bewusstsein materielle Prozesse sind, als unsinnig, da sie den Regeln der Alltagssprache widerspreche. Feyerabend gesteht zunächst zu, dass der Dualismus in der Alltagssprache verankert ist, aber dies ist für ihn kein relevanter Einwand, weil dadurch die Möglichkeit, dass der Materialismus dereinst einen adäquaten Ausdruck in der Alltagssprache finden wird, keineswegs ausgeschlossen ist. Der zweite Einwand hält die materialistische These, Bewusstseinsvorgänge seien materielle Prozesse, schlicht für empirisch falsch. Auch diesem Einwand gesteht Feyerabend zu, dass es tatsächlich einen Unterschied zwischen intro­ spektiv beobachteten Bewusstseinsvorgängen und Wahrnehmungen der materiellen Natur gibt. Aber dies zeigt für ihn nur, dass ein Unterschied auf der Ebene der Erscheinungen (oder Erfahrung) besteht, nicht jedoch ein Unterschied im Sein. Was verschieden zu sein scheint, muss nicht verschieden sein. Der dritte Einwand bestreitet, dass die Unterscheidung von Erscheinung und Wirklichkeit auf die Welt des Bewusstseins angewandt werden kann, und begründet dies mit dem Argument, dass Bewusstsein etwas unmittelbar Gegebenes und Bekanntes ist, das nicht Erscheinung von etwas anderem sein kann. Richtig ist nach Feyerabend an diesem Einwand, dass Bewusstseinsvorgänge in der Alltagssprache als etwas unmittelbar Gegebenes beschrieben werden, aber damit werde die in der Alltagssprache verankerte Zweiteilung der Welt in eine direkt erfahrbare, gewisse Innenwelt und eine indirekt erfahrbare, hypothetische Außenwelt bereits vorausgesetzt. Und dies heißt für ihn, dass die vermeintliche

Paul Feyerabend (1924–1994) Vertreter und Kritiker des kritischen Rationalismus, Anhänger des Materialismus und Begründer einer anarchistischen Erkenntnistheorie

260 Ontologie des kritischen Rationalismus

„Tatsache“ des unmittelbar gegebenen Bewusstseins sich als eine durch die mentalistische Alltagssprache erzeugte („konstituierte“) Tatsache, also als eine ontologische Deutung, entpuppt. Da der Materialismus aber eine andere ontologische Deutung vornimmt, ist die Berufung auf die unmittelbare Gegebenheit des Bewusstseins als Argument gegen den Materialismus nach Feyerabend untauglich, weil zirkulär. Das Fazit seiner Prüfung der Einwände gegen den Materialismus lautet somit: „Es gibt also keinen Grund, warum man den Versuch einer rein physiologischen Theorie des Menschen aufgeben oder warum Physiologen die ‚Seele‘ aus ihren Betrachtungen ausschalten sollten.“13 Feyerabends Verteidigung des Materialismus steht im Zusammenhang mit den Diskussionen der analytischen Philosophie des Geistes um den „eliminativen Materialismus“.14 Wie diese Position sieht auch Feyerabend das zukünftige Schicksal des Materialismus entscheidend von der Entwicklung einer materialistischen Sprache abhängig. Wenn eine solche Sprache erst einmal vorliegt, wird es nach seiner Ansicht möglich sein, die mentalistischen Ausdrücke durch entsprechende Ausdrücke der materialistischen Sprache zu ersetzen. Über die introspektiv gegebenen Prozesse und Zustände, die wir in der mentalistischen Alltagssprache als „Geist“, „Seele“ und „Bewusstsein“ bezeichnen, kann man dann in einer ontologisch adäquaten materialistischen Sprache sprechen. Feyerabends Verteidigung des Materialismus ist somit ein Plädoyer für den eliminativen Materialismus.15 Anarchismus und Relativismus. In seinem Hauptwerk Wider den Methodenzwang

(1975) hat Feyerabend in Anknüpfung an den amerikanischen Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn (1922–1996) in Fallstudien nachzuweisen versucht, dass Wissenschaftler keineswegs immer gemäß Poppers Auffassung von wissenschaftlicher Methode vorgehen. Besonders neue, noch unausgereifte Hypothesen und Theorien werden nach Feyerabend bei widerstreitenden Beobachtungen nicht sofort preisgegeben, sondern vielmehr in Schutz genommen. Nach seiner Ansicht ist dies keineswegs eine unwissenschaftliche Haltung, vielmehr ist dieser „laxe“ Umgang mit kritischen Erfahrungen und Experimenten sogar die Voraussetzung dafür, dass eine neue Theorie sich überhaupt entfalten und ihre Vorzüge zeigen kann. Die strikte Anwendung der kritischen Methode, so spitzt 13 14 15

P. Feyerabend: Der Materialismus und das Leib-Seele-Problem. In: Probleme des Empirismus, Braunschweig 1981, S. 207. Siehe Kap. VIII, S. 242 ff. Zu Feyerabends materialistischer Position vgl. G. Maxwell: Feyerabends Materialismus. In: Duerr, H. P. (1981), S. 175–187.

Paul Feyerabend: Materialismus und Relativismus 261

Feyerabend seine Kritik an Popper zu, hätte den wissenschaftlichen Fortschritt sogar verhindert. Aus diesen wissenschaftsgeschichtlichen Befunden zieht Feyerabend radikale Folgerungen für die Wissenschaftstheorie. Alle Methoden haben Grenzen ihrer sinnvollen Anwendung und es gibt keine Methode, die nicht in bestimmten Situationen kontraproduktiv den Erkenntnisfortschritt blockieren würde. Die einzige Regel, die universal anwendbar ist, ist dagegen der Grundsatz des erkenntnistheoretischen Anarchismus „Anything goes“, den Feyerabend selbst als „Mach, was du willst!“ übersetzt. Da jede Methode Grenzen hat, fordert der erkenntnistheoretische Anarchismus einen Pluralismus von Methoden zur Erforschung der Welt, und da keine Theorie definitiv zu widerlegen ist, fordert er zudem einen Pluralismus von Theorien, um den Wettbewerb um die Wahrheit zu verstärken.16 Das Ziel des wissenschaftlichen Fortschritts gerät bei Feyerabend freilich in den Hintergrund, wenn er als weitere Konsequenz seines Anarchismus die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft aufhebt. Seine provokative These lautet, dass der Unterschied zwischen Wissenschaft und Mythos viel geringer ist, als gewöhnlich angenommen wird. „Die Wissenschaft steht also dem Mythos viel näher, als eine wissenschaftliche Philosophie zugeben möchte. Sie ist eine der vielen Formen des Denkens, die der Mensch entwickelt hat, und nicht unbedingt die beste.“17 Feyerabend stellt daher andere Weltdeutungen, die neben Mythos und Religion auch Magie und Astrologie umfassen, dem wissenschaftlichen Weltbild als (mehr oder weniger) gleichwertig und gleichberechtigt zur Seite. Wie der englische Titel seiner Schrift Farewell to Reason (1986) andeutet, gibt Feyerabend schließlich auch die Idee wissenschaftlicher Objektivität und die Idee einer einheitlichen Vernunft auf und verwirft beide Ideen als bloße Erscheinungsformen der westlichen Tradition. Die Wissenschaften können daher nicht weiter beanspruchen, überlegene, durch Rationalität ausgezeichnete Formen menschlichen Weltverstehens zu sein. Feyerabends Übergang zum Relativismus bedeutet damit auch den Abschied von den zeitgenössischen Bemühungen um ein wissenschaftsorientiertes philosophisches Weltbild.

16 Eine kritische Analyse von Feyerabends Position liefert G. Andersson: Feyerabends Kritik des kritischen Rationalismus. In: Duerr, H. P. (1981) S. 159–174. 17 P. Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt am Main 1976, S. 392.

262 Ontologie des kritischen Rationalismus

Wirkung. Der frühe Feyerabend ist als scharfsinniger, polemischer Vertreter des kritischen Rationalismus, aber auch als Verfechter eines radikalen Materialismus bekannt geworden. Seine anarchistische Erkenntnistheorie, die mit einem Pluralismus und Relativismus verbunden ist, hat dagegen ein zwiespältiges Echo gefunden. Zwar erlangte Feyerabend mit seinem „Anarchismus“ große Popularität und galt zeitweise sogar als Vordenker der Grünen und Alternativen. Auch bei der Postmoderne, die eine ähnlich radikale Vernunftkritik vertritt, wurde Feyerabends Position positiv aufgenommen. Doch innerhalb der analytischen Philosophie und des kritischen Rationalismus rief seine Leugnung eines wesentlichen Unterschieds zwischen Wissenschaft und Mythos meist heftigen Widerspruch, zum Teil auch verständnisloses Kopfschütteln hervor. Würdigung. Mit seiner Verteidigung des Materialismus hat Feyerabend deutlich

gemacht, dass zumindest einige der verbreiteten Einwände gegen den Materialismus auf einer strittigen Voraussetzung beruhen, nämlich auf der Annahme, dass eine materialistische Alltagssprache unmöglich ist. Feyerabends anarchistische Erkenntnistheorie lässt sich teilweise im Sinne eines wissenschaftstheoretischen Pluralismus verstehen, der den wissenschaftlichen Fortschritt mithilfe einer Pluralität von Methoden und Theorien anstrebt. Doch die eigentliche, provokative Pointe von Feyerabends Position liegt in einem allgemeinen (ontologischen) Relativismus, der das wissenschaftliche Weltbild zu einem beliebigen neben anderen degradiert. Zu dieser relativistischen Konsequenz gelangt Feyerabend vor allem deshalb, weil er die Probleme übertreibt, die sich bei der Überprüfung und Falsifikation von Theorien stellen. Auch wenn man seine Neigung zur Polemik und zu sarkastischer Ironie in Rechnung stellt, scheinen seine Relativierungen von Vernunft und Wissenschaft doch bedenkliche Annäherungen an irrationalistische (oder gar fundamentalistische) Weltanschauungen zu sein.

3. Hans Albert: Naturalismus und Kritik religiöser Weltauffassungen Streiter für kritische Vernunft. Hans Albert ist ein streitbarer Verfechter des kri-

tischen Rationalismus, der sich wiederholt in Kontroversen mit Vertretern anderer philosophischer Strömungen verstrickt hat.18 Die Schwerpunkte seines Werks liegen auf der Ausarbeitung einer kritisch-rationalen Erkenntnistheorie 18

Vgl. Alberts Autobiographie: Hans Albert: In Kontroversen verstrickt. Vom Kulturpessimismus zum kritischen Rationalismus, Wien 2007.

Hans Albert: Naturalismus und Kritik religiöser Weltauffassungen 263

und Sozialphilosophie. Alberts Position geht vom Realismus der Wissenschaften und der Fehlbarkeit der Vernunft aus und versteht Kritik als Motor des wissenschaftlichen und sozialen Fortschritts. Auf dieser Grundlage hat er Kritiken an Positionen mit unzulänglichen Vernunftkonzepten vorgenommen, also an Positionen, die die Leistungsfähigkeit der Vernunft entweder über- oder unterschätzen. Metaphysische Themen wie das Leib-Seele-Problem oder das Problem der Willensfreiheit stehen zwar nicht im Zentrum von Alberts Überlegungen, doch gehört er gleichwohl zur Geschichte der modernen Metaphysik, weil er sich nachdrücklich für ein naturalistisches, an den Wissenschaften orientiertes Weltbild eingesetzt und dabei eine grundlegende Kritik religiöser Weltauffassungen geliefert hat. Leben und Werk. Hans Albert wurde am 8. Februar 1921 in Köln geboren. Nach

dem Zweiten Weltkrieg, den er als Offizier erlebte, studierte er Wirtschaftsund Sozialwissenschaften in Köln. Nach Promotion und Habilitation wurde er 1963 Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre in Mannheim und lehrte hier bis zu seiner Emeritierung 1989. Mitte der 50er Jahre geriet Albert unter den Einfluss der Schriften Poppers, den er 1958 auch persönlich kennen lernte und mit dem er danach freundschaftlich verbunden blieb.19 Der Traktat über kritische Vernunft (1968) gilt meist als Alberts wichtigstes Werk, weil er darin den kritischen Rationalismus als Erkenntnistheorie und Sozialphilosophie systematisch dargestellt hat. In verschiedenen Publikationen der 70er Jahre hat er die von Habermas und Apel vertretene Diskursethik einer scharfen Kritik unterzogen und in der Schrift Kritik der reinen Hermeneutik (1994) hat er sich schließlich mit den philosophischen Positionen von Heidegger und Gadamer kritisch auseinandergesetzt. Auch moderne Theologie und religiöse Metaphysik hat er wiederholt als Formen illusionären Denkens zu entlarven versucht, insbesondere in den Schriften Das Elend der Theologie (1979) und Kritischer Rationalismus (2000). Fallibilismus, Kritizismus, Realismus. Der kritische Rationalismus geht nach Al-

bert von der erkenntnistheoretischen Auffassung aus, dass die menschliche Erkenntnis zwar niemals absolute Sicherheit erreicht, dass sie aber durch die Verwendung kritischer Methoden die Realität zu erfassen vermag. In dieser Grund-

19 Vgl. H. Albert / K. Popper Briefwechsel (2002).

264 Ontologie des kritischen Rationalismus

position sind nach seiner Ansicht mehrere Komponenten enthalten, die es zu unterscheiden gilt. Der kritische Rationalismus ist zunächst ein „Fallibilismus“, der von der grundsätzlichen Fehlbarkeit menschlichen Denkens und Handelns in allen Bereichen ausgeht. Die Aussichtslosigkeit der Suche nach absolut sicherer Erkenntnis hat Albert an der klassischen Begründungsidee verdeutlicht. Jeder Versuch, eine bestimmte Idee als definitiv wahr zu begründen, führt danach in eine ausweglose Situation, die er als „Münchhausen-Trilemma“ bezeichnet – in Erinnerung an den Lügenbaron, der sich und sein Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Versucht man nämlich, eine Idee zu begründen, so hat man nach Albert nur die Wahl zwischen drei gleich unbefriedigenden Alternativen: Man kann erstens das Begründen ohne Ende fortsetzen, doch ist ein solcher „unendlicher Regress“ praktisch undurchführbar – oder man kann zweitens die zu begründende These unter die Prämissen heimlich einschmuggeln, doch stellt ein solcher „logischer Zirkel“ gerade keine Begründung dar – oder man kann drittens die Begründung an irgendeiner Stelle abbrechen und die erreichte These als absolut verlässlich oder evident behaupten, doch hat man damit nur ein „Dogma“ installiert; denn keine subjektiv erlebte Gewissheit kann die objektive Wahrheit einer Überzeugung garantieren.20 Als verkappten Dogmatismus kritisiert Albert insbesondere die von Apel und Habermas unternommenen Versuche einer „Letztbegründung“ der Ethik. Die Konsequenz, die Albert aus dem Münchhausen-Trilemma zieht, besteht in der Preisgabe des Begründungspostulats, also der Auffassung, dass Ideen oder Thesen als definitiv wahr begründet werden müssen. Da ein solcher Beweis unmöglich ist, ist es nach Albert methodisch sinnvoller, auf solche Begründungen ganz zu verzichten und stattdessen Thesen kritisch zu überprüfen, indem sie mit der Erfahrung konfrontiert und auf ihre Vereinbarkeit mit anderen (als wahr anerkannten) Thesen befragt werden. Zum kritischen Rationalismus gehört daher neben dem Fallibilismus ein „Kritizismus“, d. h. die Auffassung, 20 Zu Alberts Kritik am klassischen Begründungsmodell vgl. E. Hilgendorf: Hans Albert zur Einführung, Hamburg 1997, S. 37 ff.

Hans Albert (geb. 1921) Vertreter einer kritisch-rationalen Erkenntnisund Sozialphilosophie und einer naturalistischen Religionskritik

Hans Albert: Naturalismus und Kritik religiöser Weltauffassungen 265

dass falsche Auffassungen durch Kritik eliminiert werden können und dass man sich durch Ausschaltung des Falschen der Wahrheit annähern kann. Der Kritizismus, der eine Verallgemeinerung des wissenschaftstheoretischen Falsifikationismus darstellt, trennt damit die in der philosophischen Tradition eng miteinander verknüpften Ideen von „Wahrheit“ und „Gewissheit“. Man muss daher „das der klassischen Lehre zugrundeliegende Streben nach Gewißheit opfern und die permanente Ungewißheit in Kauf nehmen, ob sich unsere Auffassungen auch in Zukunft weiter bewähren und damit aufrechterhalten lassen.“21 Wahrheit ist zwar erreichbar, aber sie ist niemals beweisbar. Mit der Annahme, dass die menschliche Erkenntnis hypothetische Wahrheiten erreichen kann, ist nach Albert auch ein erkenntnistheoretischer Realismus verbunden. Wenn man sagt, dass bestimmte Aussagen oder wissenschaftliche Theorien (hypothetisch) wahr sind, dann behauptet man, dass sie den Tatsachen „korrespondieren“, d. h. die Welt richtig darstellen oder repräsentieren. Dieser „korrespondenztheoretische“ Wahrheitsbegriff gehört nach Albert unverzichtbar zum alltäglichen und wissenschaftlichen Erkenntnisbegriff. Wahrheit in diesem klassischen Sinne setzt aber einen erkenntnistheoretischen Realismus voraus, also die Anerkennung der (zumindest partiell) erkennbaren Realität. Natürlich handelt es sich dabei um einen „kritischen Realismus“, der die Subjektivität von Wahrnehmungselementen wie Farben oder Tönen anerkennt. Albert hat daher auch scharfe Kritiken „antirealistischer“ traditioneller und moderner Positionen vorgenommen – vom transzendentalen Idealismus Kants und der Neukantianer bis zum sprachphilosophisch begründeten Phänomenalismus der analytischen Philosophie und der Postmoderne. Naturalistische Religionskritik. Aus der Anerkennung des Realismus zieht Al-

bert Konsequenzen für das Verhältnis von Wissenschaft und Religion (bzw. von wissenschaftlicher und religiöser Weltauffassung). Vor allem kommt eine Versöhnung von Wissenschaft und Religion, wie sie im Anschluss an Kant immer wieder versucht worden ist, nicht länger in Frage. Denn wenn die Wissenschaften es mit der Erkenntnis der Wirklichkeit an sich zu tun haben, können Wissenschaft und Religion nicht mehr einfach verschiedenen Wirklichkeitsbereichen zugeordnet werden, wie Kant es getan hat, als er die Wissenschaften den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen und die Religion dem übersinnlichen Ding an sich zuwies. Sofern religiöse Weltauffassungen daher Aussagen über die

21

H. Albert: Traktat über kritische Vernunft, 4. Aufl. Tübingen 1980, S. 33.

266 Ontologie des kritischen Rationalismus

Welt machen, beziehen sie sich nach Albert nämlich auf dieselbe Wirklichkeit wie die Wissenschaften. Zu den zentralen Bestandteilen einer religiösen Weltauffassung rechnet Albert die Annahme der Existenz eines Gottes oder anderer numinoser Wesenheiten (Geister, Dämonen, Engel), die den Lauf der Welt und das Leben des Menschen lenken, und sodann eine Praxis (Kult), durch die Gott oder andere Wesenheiten beeinflusst werden sollen, um das eigene Heil zu erlangen. Religiöse Weltauffassungen gehen mit dieser ethischen und kultischen Dimension über religiöse Metaphysik hinaus, doch enthalten ihre Überzeugungen von der Existenz, Wirksamkeit und Beeinflussbarkeit höherer Wesen metaphysische Annahmen über die Wirklichkeit, die mit den Wissenschaften in Widerstreit zu geraten drohen. Durch die empirisch fundierte Kritik religiöser Weltauffassungen, die mit Aufstieg der neuzeitlichen Wissenschaften einsetzte, wurde nach Albert vor allem die Annahme preisgegeben, dass Natur und Kosmos durch geheimnisvolle, verborgene Kräfte zweckmäßig gesteuert werden. Erst nach der Preisgabe der Finalursachen und der Beschränkung auf die Wirkursachen war der Weg frei, die Kausalgesetze der Natur zu erforschen. Es war also letztlich die metaphysisch-teleologische Annahme einer von Gott geschaffenen zweckmäßigen, sinnvollen Weltordnung, die aufgegeben wurde, um die wissenschaftliche Erforschung der Welt zu ermöglichen. Die neuzeitlichen Wissenschaften legten damit nach Albert den Grundstein für den modernen „Naturalismus“, also für die Annahme, dass in der Natur alles natürlich zugeht. Die Wissenschaften erklären Naturvorgänge eben nur durch natürliche Ursachen und schließen damit die Einflüsse übernatürlicher Wesen oder Kräfte grundsätzlich aus. Da die theologische Vorstellung von göttlichen Wesen, die in die Welt eingreifen, mit dem Naturalismus der Wissenschaften unvereinbar ist, hat die Theologie nach Albert nur folgende Wahl: Sie kann entweder an diesen Prinzipien festzuhalten und sie durch einfallsreiche Manöver gegen wissenschaftliche Kritik immunisieren oder sie kann das religiöse Weltbild von kognitiven Gehalten befreien und Religion damit letztlich auf Ethik (oder auf bloße Gefühle) reduzieren. Bei der ersten Vorgehensweise, die Albert bei dem katholischen Theologen Hans Küng22 eingehend untersucht hat, verschanzt sich die Theologie hinter einem Dogmatismus und steht im Widerspruch zum wissenschaftlichen Weltbild; durch das zweite Manöver gibt die Theologie ihre metaphysischen

22 Vgl. H. Albert: Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng, erw. Neuaufl. Aschaffenburg 2005.

Hans Albert: Naturalismus und Kritik religiöser Weltauffassungen 267

Inhalte preis und entfernt sich damit von Religion im traditionellen Sinne einer religiösen Weltauffassung, die stets auch eine „Heilstechnologie“ ist. Religiöse und wissenschaftsorientierte Metaphysik. Die naturalistisch begrün-

dete Kritik religiöser Weltauffassungen bedeutet nach Albert keineswegs das Ende von Metaphysik überhaupt. Unmöglich geworden ist eben nur die traditionelle, religiöse Metaphysik, die eine rationale Grundlage für die metaphysischen Vorstellungen von Gott und Unsterblichkeit sucht. Eine Metaphysik, die auf der Basis der Wissenschaften ein Weltbild entwirft, bleibt davon jedoch unbetroffen. „… es geht um die Rivalität zwischen einer durch die Resultate der modernen Wissenschaften geprägten Metaphysik und einer religiös geprägten Metaphysik, die mit der ersteren nicht vereinbar zu sein scheint.“23 Auch wenn Albert hier von zwei Arten von „Metaphysik“ redet, ist die von ihm anerkannte moderne Metaphysik nichts anderes als eine „wissenschaftsorientierte Ontologie“. Metaphysik (bzw. Ontologie) kommt nach Albert in der Moderne eben nur noch in Betracht, wenn sie durch konstruktive Beiträge den wissenschaftlichen Fortschritt fördert und damit zur Entwicklung des wissenschaftlichen Weltbildes beiträgt. Solche Beiträge kann sie vor allem dadurch leisten, dass sie neue Ideen entwickelt, die von den Wissenschaften mit empirischem Gehalt ausgestattet und überprüft werden, oder wenn sie die Resultate der Wissenschaften zur Einheit eines Weltbildes abrundet. Hüten muss sie sich jedoch davor, den gerade erreichten Stand wissenschaftlicher Forschung philosophisch zu dogmatisieren und damit den wissenschaftlichen Fortschritt zu blockieren. Im Gegensatz zu religiöser Metaphysik, die sich über den Naturalismus hinwegsetzt und in Dogmen erstarrt, muss eine wissenschaftsorientierte Ontologie konstruktiv und hypothetisch sein. Eine religiöse Metaphysik, die mit einem naturalistisch-wissenschaftlichen Weltbild unvereinbar ist, findet Albert insbesondere bei Heidegger. Schon in dessen Frage nach dem „Sinn von Sein“ sei neben der Frage nach der Wortbedeutung bereits die geschichtsphilosophisch-theologische Frage nach dem Sinn und Zweck der Welt versteckt enthalten gewesen. Der späte Heidegger habe dann mit seinem Seinsdenken eine „Heilslehre ohne Gott“ vertreten und sich selbst zum Propheten einer weltgeschichtlichen Umkehr stilisiert, der die abendländische Verfallsgeschichte der „Seinsvergessenheit“ zu beenden und eine neue Ankunft des Seins vorzubereiten beanspruche. Dieses „Seinsdenken“ betrachtet 23 H. Albert: Kritischer Rationalismus, Tübingen 2000, S. 143.

268 Ontologie des kritischen Rationalismus

Albert als eine verschleierte religiöse Metaphysik. Heideggers „Sein“ verhalte sich wie ein Gott, der sich verbirgt und entbirgt, sich den Menschen zu- und abwendet und der (als „Seinsgeschick“) die Weltgeschichte bestimmt. Im „Seinsdenken“ des späten Heidegger vollzieht sich daher nach Albert eine Rückkehr zum eschatologischen Denken eines religiösen Weltbildes, das mit moderner Wissenschaft unvereinbar ist. Die Frage nach dem Sinn des Lebens. Albert hat religiöse Vorstellungen nicht

nur auf ihre Kompatibilität mit den modernen Wissenschaften befragt, sondern er hat auch ihre Erklärungskraft untersucht. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Sinnfrage. Religiöse Weltauffassungen bieten dem Menschen eine metaphysische Sinngebung an und verknüpfen damit gewöhnlich der Anspruch, dass nur durch eine solche Metaphysik der Sinn des Lebens gewährleistet werden könne. Ein Leben ohne Gott sei dagegen sinnlos. Gegen diesen zentralen Anspruch hat Albert eingewandt, dass die damit geleistete Sinngebung den Menschen zwar in eine zweckmäßige, sinnvolle kosmische Ordnung hineinstellt, dass sie ihn damit aber zu einem bloßen Instrument im göttlichen Heilsplan macht. „Wer den Sinn des menschlichen Lebens ausschließlich davon abhängig macht, inwieweit sich dieses Leben in einen göttlichen Heilsplan einordnen läßt, der sollte sich darüber im klaren sein, daß er damit alle menschlichen Zwecke, die innerhalb des Lebens erwachsen, als irrelevant behandelt, sofern sie sich nicht auf die göttliche Planung beziehen lassen. Damit hat er das ganze Leben instrumentalisiert, das heißt als bloßes Mittel zu einem äußeren Zweck aufgefaßt, der von einer fremden Autorität bestimmt ist.“24 Ähnlich wie N. Hartmann betont Albert damit, dass religiöse Weltauffassungen mit der Freiheit des Menschen unverträglich sind. Außerdem fragt Albert, ob die Idee eines Zustandes ewiger Seligkeit überhaupt inhaltlich klar ist und ob sie sich überhaupt von einem Zustand der Langeweile deutlich genug unterscheidet, um als wünschenswert gelten zu können. Schließlich stellt Albert die Frage, ob es klug ist, auf irdisches Glück zu verzichten, um den möglichen, aber gänzlich unsicheren Zustand ewiger Seligkeit zu erreichen. Gegen die zentrale Behauptung religiöser Weltauffassungen, dass nur ein jenseitiger Lebenssinn das irdische Leben sinnvoll machen kann, setzt er schließlich die Grundthese, dass auch ein sinnvolles, wertvolles Leben ohne Gott und die Verheißung ewiger Seligkeit möglich ist. Die Endlichkeit des menschlichen Lebens macht das Leben keineswegs sinn- und wertlos. 24 H. Albert: Kritischer Rationalismus, S. 183.

Mario Bunge: Emergentistischer Materialismus 269

Wirkung. Seit den 60er Jahren, als er im „Positivismusstreit“ Popper gegen die Angriffe der Frankfurter Schule verteidigte, ist Hans Albert der einflussreichste Vertreter des kritischen Rationalismus in Deutschland. Durch seine Erkenntnistheorie und Sozialphilosophie hat er das methodische Selbstverständnis der Natur- und Sozialwissenschaften mitgeprägt und zugleich dazu beigetragen, dass Realismus und Naturalismus als Voraussetzungen der Wissenschaften zunehmend Anerkennung gefunden haben. Durch seine kritischen Auseinandersetzungen mit Habermas, Apel und der modernen Theologie hat er die Schwächen dieser Positionen offen gelegt und Modifikationen dieser Positionen veranlasst. Würdigung. Indem er den kritischen Rationalismus auf die zentralen Ideen des

Fallibilismus, Kritizismus und Realismus gegründet hat, hat Albert dieser Position eine systematisch elegante Fassung gegeben, die auch Poppers Anerkennung gefunden hat. Auf der Basis dieser Konzeption hat Albert bedeutende Kritiken anderer Positionen geliefert. Es ist ihm insbesondere überzeugend gelungen, die grundlegenden Schwierigkeiten zu verdeutlichen, mit denen reli­ giöse Weltauffassungen sich in der Moderne konfrontiert sehen. Dass die Theologie angesichts des Naturalismus nur die Wahl zwischen Dogmatisierung und Preisgabe religiöser Ideen, hat er klar herausgestellt und auch die inhaltliche Fragwürdigkeit religiöser Vorstellungen, wie etwa der Idee eines transzendenten Lebenssinnes, hat er deutlich gemacht. Beachtenswert ist auch sein Versuch, Heideggers Philosophie als verkappte Theologie zu entlarven. Durch diese Kritiken hat Albert einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer wissenschaftlich orientierten Ontologie im kritischen Rationalismus geleistet.

4. Mario Bunge: Emergentistischer Materialismus Physiker und Ontologe. Ein Vertreter des kritischen Rationalismus, der eine

umfassende Ontologie ausgearbeitet hat, ist der argentinisch-kanadische Physiker und Philosoph Mario Bunge. Ähnlich wie Popper bearbeitet er metaphysische Themen in enger Anbindung an die modernen Wissenschaften und lehnt die Orientierung an der Alltagssprache ab. Angetrieben wird Bunges Denken von einem aufklärerischen Impuls, der sich in scharfen Polemiken gegen pseudowissenschaftliche Theorien niederschlägt. Ursprünglich befasste Bunge sich mit wissenschaftstheoretischen Fragen, doch rückte schon früh die Ontologie ins Zentrum seines Denkens. Ähnlich

270 Ontologie des kritischen Rationalismus

wie N. Hartmann geht er von der Schichtung der realen Welt als wissenschaftlich gesicherter Tatsache aus und bemüht sich um die Herausarbeitung der philosophischen Voraussetzungen der empirischen Wissenschaften von der Physik über die Biologie bis zur Psychologie und den Sozialwissenschaften. Bunge vertritt ein naturalistisch-materialistisches Weltbild, das einerseits gegen den LeibSeele-Dualismus (einschließlich Poppers 3-Welten-Ontologie) gerichtet ist, das aber andererseits auch den radikalen (reduktiven oder physikalistischen) Materialismus ablehnt. Seine wissenschaftsorientierte Ontologie ist daher ein gemäßigter Materialismus, den er, je nach Kontext, als „wissenschaftlichen“ „systemischen“ oder „emergentistischen“ Materialismus bezeichnet. – Bunge macht terminologisch keinen Unterschied zwischen Metaphysik und Ontologie, doch verwendet er meist den Ausdruck „Ontologie“. Leben und Werk. Mario Bunge, am 21. September 1919 in Buenos Aires geboren,

absolvierte ein Physik-Studium, betrieb aber gleichzeitig philosophische Studien als Autodidakt. Nach seiner Promotion in Physik wurde er 1956 Professor für theoretische Physik in La Plata. 1966 erhielt er eine Professur für Logik und Metaphysik in Montreal. Bunge hat mehr als 500 Aufsätze und mehr als 40 Bücher verfasst, die sich schwerpunktmäßig mit Semantik, Wissenschaftstheorie, Ontologie und Ethik befassen. Ein halbes Dutzend seiner Bücher wurde bisher ins Deutsche übersetzt. Schon in seinem frühen Werk Causality: the Place of the Causal Principle in Modern Science (1959; dt.: Kausalität, Geschichte und Probleme, 1987) untersucht er neben erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen auch ontologische Fragen. Bunges Hauptwerk ist der achtbändige Treatise on Basic Philosophy (1974–89), dessen dritter und vierter Band, The Furniture of The World (1977) und A World of Systems (1979), ganz der Ontologie gewidmet sind. Die darin enthaltene ontologische Konzeption hat Bunge in späteren Schriften erläutert und weiter ausgebaut. Dazu zählen vor allem The Mind-Body-Problem (1980; dt.: Das Leib-SeeleProblem, 1984), Scientific Materialism (1981) sowie die in Kooperation mit Ruben Ardila (geb. 1942) bzw. Martin Mahner (geb. 1958) entstandenen Bücher Philosophy of Psychology (1987; dt.: Philosophie der Psychologie, 1990) und Foundations of Biophilosophy (1997; dt: Philosophische Grundlagen der Biologie, 2000). Eine Zusammenfassung seiner Position findet sich in der Schrift Epistemologia (1980; dt.: Epistemologie, 1983) und in dem (zusammen mit M. Mahner verfassten) Buch Über die Natur der Dinge (2004). Wissenschaftlich orientierte Ontologie. Die früheren Versuche einer strikten

Abgrenzung zwischen Philosophie und Wissenschaft lehnt Bunge als verfehlt

Mario Bunge: Emergentistischer Materialismus 271

ab. Ähnlich wie Quine betrachtet er Philosophie und Wissenschaft als zwei sich ergänzende rationale Erkenntnisbemühungen. Historisch gesehen gibt es nach seiner Ansicht nicht nur einen Einfluss der Philosophie auf die Wissenschaften, wie die Bedeutung des antiken Atomismus für die neuzeitliche Chemie zeigt, sondern auch den Einfluss der Wissenschaften auf die Philosophie, wie Kants Auseinandersetzung mit der Newtonschen Physik deutlich macht. Trotz dieser historischen Tatsache der Wechselwirkung von Philosophie und Wissenschaft ist nach Bunge die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Philosophie und Wissenschaft keineswegs allgemein anerkannt. Daher fordert er eine bewusste Kooperation von Philosophie und Wissenschaft, um gemeinsam einen Erkenntnis­ fortschritt zu erreichen. Die Ontologie strebt wie die Realwissenschaften nach der Erkenntnis der Realität. Der Unterschied zwischen wissenschaftlichen und ontologischen Fragen sieht Bunge lediglich im Grad der Allgemeinheit. Während die Physik z. B. die gesetzmäßigen Bewegungen der Körper oder die Struktur und das Verhalten der Elementarteilchen untersucht, befasst sich die Ontologie mit den allgemeinsten Eigenschaften der Realität überhaupt. Zu diesen allgemeinen philosophischen Grundlagen der Wissenschaften dringt man nach Bunge vor, wenn man etwa danach fragt, ob und wie weit die erfahrene Welt auch wirklich ist oder was überhaupt ein realer Gegenstand ist. Die speziellen Voraussetzungen von Physik oder Psychologie werden dagegen thematisiert, wenn man fragt, welche Vorstellungen von Materie bzw. Geist diese Wissenschaften jeweils haben. Die Aufgabe der Ontologie sieht Bunge zugleich darin, die in den Wissenschaften enthaltenen Grundannahmen über die Wirklichkeit zu analysieren und sie dadurch der Kritik zugänglich zu machen. Die Ontologie ist also keineswegs darauf festgelegt, die ontologischen Voraussetzungen der Wissenschaften blindlings hinzunehmen. Denn auch in den Wissenschaften finden sich unhaltbare oder überholte Ideen. Zur Aufgabe der Ontologie gehört es daher auch alternative Konzepte zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen, etwa eine neue Hypothese zum Leib-Seele-Problem. Damit Ontologie jedoch nicht in haltlose Spekulation oder in fruchtlose Wortklauberei abgleitet, muss sie nach Bunge

Mario Bunge (geb. 1919) Vertreter einer wissenschaftlich orientierten Philosophie und eines emergentistischen Materialismus

272 Ontologie des kritischen Rationalismus

wissenschaftlich orientiert sein, d. h. sie muss mit den gut bestätigten wissenschaftlichen Theorien und Hypothesen vereinbar sein. Die Basiskategorie des konkreten Dinges. Zur Aufgabe der Ontologie gehört

nach Bunge zunächst die Klärung der grundlegenden Kategorien, die zum Verständnis der Realität unverzichtbar sind. Als ontologische Basiskategorie betrachtet er dabei den Begriff des materiellen Objekts (oder konkreten Dinges). Materielle Objekte sind nicht nur wahrnehmbare konkrete Gegenstände wie Steine oder Bäume, sondern auch unbeobachtbare Gegenstände wie Elektronen oder Magnetfelder, die auf wahrnehmbare Gegenstände einwirken können. Die herkömmlichen Definitionen eines konkreten Dinges durch Begriffe wie „Masse“ oder „Lokalisierbarkeit“ betrachtet Bunge als überholt, da es in der modernen Physik nicht nur masselose Photonen gibt, sondern auch Elektronen, die sich nicht im gewöhnlichen Sinne lokalisieren lassen. Zu den allgemeinen Eigenschaften eines Dinges gehört neben der Wirksamkeit vor allem die Veränderbarkeit. Dinge können verändert werden, also von einem in einen anderen Zustand übergehen. Durch ihre Veränderlichkeit unterscheiden sie sich von abstrakt-begrifflichen Konstrukten wie Ideen oder Begriffen, die unveränderlich, gleichsam ewig sind. Allerdings betrachtet Bunge solche Konstrukte nicht als eine zweite Form von Realität neben den materiellen Dingen, sondern als „Fiktionen“, die beim menschlichen Verstehen der Welt eine Rolle spielen, die aber nicht subjektunabhängig existieren. Ein wichtiges Merkmal der Basiskategorie des konkreten Dinges sieht Bunge darin, dass Dinge stets bestimmte Eigenschaften haben. Dinge und Eigenschaften lassen sich daher nur in abstracto trennen, in der materiellen Wirklichkeit gibt es nur Dinge mit Eigenschaften. Die traditionelle Vorstellung eines eigenschaftslosen Trägers (oder Substrats) von Eigenschaften ist somit eine bloße Fiktion. „Da es in Wirklichkeit aber weder eigenschaftslose Substanz noch substanzlose Eigenschaften gibt, bezeichnen wir das substanzielle Etwas, d. h. das substanzielle Individuum mit all seinen Eigenschaften, als Ding (oder konkretes oder materielles oder reales Objekt) oder als Entität.“25 Bunge unterscheidet verschiedene Arten von Eigenschaften. Eigenschaften können z. B. intrinsisch oder relational sein. Intrinsische Eigenschaften kommen einem Ding unabhängig von anderen Dingen zu, wohingegen relationale Eigenschaften stets in Abhängigkeit von anderen Dingen bestehen. Auch Gesetzmäßigkeiten gehören zu den Eigenschaften der Dinge. Eine Gesetzmäßig25

M. Bunge / M. Mahner: Über die Natur der Dinge, Stuttgart 2004, S. 22.

Mario Bunge: Emergentistischer Materialismus 273

keit besteht darin, dass bestimmte Eigenschaften stets gemeinsam auftreten, sie ist also die regelmäßige Verknüpfung zwischen verschiedenen Eigenschaften. Materie als Substanz. Aus der Annahme, dass der Begriff des materiellen Dinges die ontologische Basiskategorie ist, folgert Bunge die Unhaltbarkeit verschiedener ontologischer Konzepte. Verfehlt ist etwa die moderne Fassung der Energie als Substanz. Denn obwohl Energie eine universale Eigenschaft der materiellen Dinge ist, die in ihrem Quantum (in einem isolierten System) erhalten bleibt, ist sie doch eine Eigenschaft und besitzt nicht Selbständigkeit eines materiellen Dinges. „Sowohl Masse als auch Energie sind Eigenschaften von Dingen und keine Substanzen.“26 Auch „Ereignis“ und „Prozess“ sind nach Bunge keine ontologischen Basiskategorien, weil beide Kategorien den Begriff des materiellen Dinges schon voraussetzen. Ein Ereignis ist nämlich der Übergang des Zustands eines Dinges in einen anderen Zustand und ein Prozess ist schlicht eine Folge von Ereignissen. Damit weist Bunge die Prozessontologie, wie sie von Whitehead vertreten wurden, als unhaltbar zurück. Er vertritt vielmehr eine „Seins- oder Substanzmetaphysik: Sie geht von Dingen als Grundkategorie des Seienden aus und behandelt Ereignisse und Prozesse als abgeleitete Kategorien.“27 Wenn Bunge den Begriff des Dinges als Basiskategorie einführt, geht es ihm um die Substanz im Sinne des selbständig Seienden. Damit sagt er freilich nichts darüber aus, was die letzten Elemente der Realität sind, sondern behauptet nur, dass alle Entitäten der Wirklichkeit, wie groß oder klein sie auch immer sein mögen, stets konkrete materielle Objekte mit Eigenschaften sind. Bunges Ontologie hat hier einen formalen Zug, der an den logischen Atomismus von Russell und Wittgenstein erinnert. Bei der Fassung des konkreten Dinges als Basiskategorie lässt Bunge es auch offen, ob es unvergängliche Bausteine der Welt gibt. Dennoch betrachtet er die Materie nicht nur als das selbständig Seiende, sondern auch als unvergängliche Substanz. Mit Nachdruck betont er nämlich wiederholt die Richtigkeit des alten materialistischen Grundsatzes „ex nihilo nihil fit“, also die Annahme, dass nichts aus nichts entsteht und dass nichts zu nichts vergehen kann. Der Glaube an ein „absolutes“ Entstehen und Vergehen von Dingen ist für ihn eine typische Vorstellung von Magie und Theologie. Bunge lehnt daher auch die Deutung der kosmologischen Urknalltheorie im Sinne einer Entstehung aus dem Nichts („creatio ex nihilo“) entschieden ab.

26 M. Bunge / M. Mahner: Über die Natur der Dinge, S. 36. 27 M. Bunge / M. Mahner: Über die Natur der Dinge, S. 60.

274 Ontologie des kritischen Rationalismus

Eine Welt von Systemen. Wenngleich alles Wirkliche aus materiellen Objekten besteht, betont Bunge die qualitative Vielfalt der Welt, die auf der Vielzahl einfacher und komplexer Dinge beruht. Komplexe Dinge sind dabei entweder Aggregate oder Systeme. Um „Aggregate“ handelt es sich, wenn durch Zusammensetzung aus einfachen Elementen bloße „Haufen“ ohne einheitliche Struktur wie Müllkippen oder Wasserlachen entstehen. „Systeme“ sind dagegen Zusammenfügungen von Elementen zu neuen Einheiten mit eigener Struktur, wobei diese Struktur auf der Interaktion der Elemente beruht. Als Musterbeispiele von Systemen betrachtet Bunge Atome, Moleküle und Zellen. Zur Bildung solcher Einheiten kommt es nicht durch Eingriffe höherer, lenkender In­ stanzen, sondern allein durch das Wechselspiel der beteiligten Bestandteile selbst, also durch „Selbstorganisation“ der Dinge. Indem Bunge den Begriff des Systems als zentralen Begriff seiner Ontologie fasst, wird diese zu einer „systemischen“ Ontologie. Daher legt er großen Wert auf verschiedene Aspekte des Systembegriffs. Systeme sind zunächst integrierte Ganzheiten, die neue Eigenschaften haben. In einem System gibt es neben den „resultierenden“ Eigenschaften, die das System von seinen Komponenten geerbt hat, noch neue, „emergente“ Eigenschaften, die erst mit dem System auftreten und daher auch „Systemeigenschaften“ heißen. So hat Wasser neue Eigenschaften, die Wasserstoff und Sauerstoff jeweils für sich noch nicht haben, und Lebewesen sind zwar auch physische Dinge, aber sie haben noch weitere, „überphysikalische“ Eigenschaften. Darüber hinaus zeichnet sich ein System dadurch aus, dass es mit anderen Systemen seiner Umgebung in Wechselwirkung steht. Emergentistischer Materialismus. Aus der Bildung und dem Wechselspiel von Systemen verschiedener Art und Größe lässt sich nach Bunge die Grundstruktur der Realität begreifen. Die Welt erweist sich dabei als ein kompliziertes Gefüge von Systemen verschiedener Größe. Die meisten Systeme bestehen aus „Subsystemen“ und sind selbst wieder Teile eines „Supersystems“. Das umfassendste System, das nicht mehr Bestandteil eines anderen Systems ist, ist das Universum selbst. In dieser Sicht einer „Welt von Systemen“ lassen sich nach Bunge vier Hauptebenen (oder Integrationsstufen) unterscheiden, nämlich Physikosysteme, Chemosysteme, Biosysteme und Soziosysteme. Ähnlich wie in N. Hartmanns Schichtenlehre erweist sich die Welt somit nach Bunge als eine Hierarchie von Systemebenen, wobei die tieferen Systemebenen jeweils das Seinsfundament der höheren Ebenen bilden und die höheren Ebenen sich durch neue, emergente Eigenschaften auszeichnen.

Mario Bunge: Emergentistischer Materialismus 275

Die Grundposition seines emergentistischen Materialismus umschreibt Bunge folgendermaßen: „Jede neue Ebene – genauer: jedes neue komplexe System – weist emergente Eigenschaften und insbesondere Gesetzmäßigkeiten auf, die bei dessen Komponenten alleine nicht auftreten. […] Genau aus diesem Grund ist der Physikalismus falsch. […] So sind etwa Lebewesen auch physikalische Dinge, aber sie sind nicht nur physikalische Dinge, sondern besitzen zahllose supraphysikalische Eigenschaften, die nicht Gegenstand der Physik sind. Daher können die Systeme auf höheren Ebenen auch nur partiell, aber nicht vollständig auf die niedrigerer Ebenen reduziert werden. […] Ein moderner Materialismus ist also emergentistisch, nicht physikalistisch.“28 Mit dieser Position grenzt Bunge sich zugleich vom reduktiven Materialismus wie vom Dualismus ab. „Der emergentistische Materialismus ist zwar ein Substanzmonismus, weil er nur Materielles als Substanz zulässt, aber im Gegensatz zum Physikalismus vertritt er zugleich einen Eigenschaftspluralismus.“29 Bunge betrachtet die Emergenzthese als eine rein ontologische These. Dass es in der Evolution des Kosmos und des Lebens zur Entstehung von Neuem gekommen ist, muss nämlich anerkannt werden, gleichgültig ob und wie weit es gelingt, die Entstehung zu erklären oder gar vorauszusagen. Bunge ist zwar der Ansicht, dass sich das Auftreten neuer Eigenschaften zumindest teilweise erklären lässt, doch ändert dies für ihn nichts an der Tatsache der Emergenz. Emergenz muss nicht irrational sein und auch erklärte Emergenz bleibt Emergenz.30 Psychophysische Identitätstheorie. Der emergentistische Materialismus erlaubt nach Bunge ein adäquates philosophisches Verständnis des menschlichen Geistes. Um Bewusstsein und Geist ihren Platz in der Welt der Systeme anweisen zu können, muss zunächst das Hindernis des traditionellen psychophysischen Dualismus aus dem Weg geräumt werden. Gegen die Annahme einer immateriellen Geist-Substanz wendet Bunge etwa ein, dass alle Erklärungen, die sich auf die Annahme einer solchen Geist-Substanz stützen, bloße Pseudoerklärungen sind, weil die Annahme eines zusätzlichen, immateriellen Wirkfaktors hinter den beobachtbaren physischen Prozessen durch keine empirischen Befunde jemals erschüttert werden kann. Der Dualismus ist daher, wie Bunge auch gegen Popper einwendet, keine überprüfbare, falsifizierbare Theorie. Entscheidend sind nach Bunge die Einwände, die die Unvereinbarkeit des Dualismus mit den modernen Wissenschaften herausstellen. Der Dualismus 28 M. Bunge / M. Mahner: Über die Natur der Dinge, S. 88 f. 29 M. Bunge / M. Mahner: Über die Natur der Dinge, S. 148 f. 30 Zu Bunges Schichten- und Emergenzbegriff vgl. H. Hastedt (1988) S. 191 ff.

276 Ontologie des kritischen Rationalismus

steht nicht nur mit der Evolutionstheorie im Widerspruch, da ein immaterieller Geist nicht der Evolution der materiellen Natur unterliegen würde, sondern er ist auch mit dem physikalischen Gesetz von der Erhaltung der Energie unverträglich, weil durch die Einwirkung des Geistes auf die Materie Energie aus nichts erzeugt und durch die Einwirkung der Materie auf den Geist Energie vernichtet würde. „Als Fazit ergibt sich, daß der psychoneurale Dualismus keine gangbare wissenschaftliche Alternative bildet, keine Lehre, die sich die Wissenschaft oder eine wissenschaftlich orientierte Philosophie zu eigen machen könnten. Wir müssen deshalb dem psychoneuralen Monismus eine Chance einräumen …“31 Bunges emergentistischer Materialismus akzeptiert zwar nur die Materie als Substanz, doch betont er zugleich die Verschiedenheit von mentalen und physiologischen Prozessen. Geist muss nämlich als eine emergente Eigenschaft des Gehirns verstanden werden. Dies bedeutet aber nach Bunge, dass die mentalen Prozesse lediglich die „Innenaspekte“ bestimmter Gehirnprozesse sind. Obwohl mentale und körperliche Prozesse als grundverschieden erfahren werden, kann die ontologische Lösung des Leib-Seele-Problems nur in der Annahme liegen, dass Bewusstseinsprozesse mit bestimmten Gehirnprozessen „identisch“ sind. Bunge vertritt also auch eine Identitätstheorie, doch handelt es sich dabei um eine Identitätstheorie im Sinne des emergentistischen Materialismus, die die Verschiedenheit von physikalischen und mentalen Eigenschaften anerkennt. Daher wendet sich Bunge nicht nur gegen den Substanzen-Dualismus, sondern auch gegen den radikalen Materialismus, der den Geist entweder „eliminiert“ oder auf physikalische Prozesse „reduziert“. Zugleich weist er damit Poppers Einwand zurück, dass der Geist im Rahmen der Identitätstheorie bloß ein funktionsloses Anhängsel von Gehirnprozessen sei. Dieser Einwand geht nach Bunge fälschlich davon aus, dass die Gehirnprozesse ohne ihre mentalen Eigenschaften noch dieselben Prozesse wären. Kausalität, Determination, Freiheit. Der emergentistische Materialismus be-

schreibt nicht nur die Hierarchie der verschiedenen Systemebenen der Realität, sondern auch die Vernetzung der Systeme untereinander. Daher versucht Bunge auch den Kategorien von Kausalität, Determination und Zufall eine neue, zeitgemäße Fassung zu geben. In diesem Kontext findet auch der Freiheitsbegriff seinen Platz.

31

M. Bunge: Das Leib-Seele-Problem. Ein psychobiologischer Versuch, Tübingen 1984, S. 31.

Mario Bunge: Emergentistischer Materialismus 277

Ein Anliegen Bunges besteht zunächst darin, dem Begriff der Kausalität, den Hume, Kant und die logischen Empiristen mehr erkenntnistheoretisch gefasst hatten, wieder als ontologische Kategorie zur Geltung zu bringen. Kausalität oder Verursachung liegt danach vor, wenn ein Ereignis ein anderes Ereignis hervorruft oder, etwas genauer formuliert, wenn ein Ereignis die Zustandsänderung eines anderen Dinges hervorruft. Verursachung betrifft also nur Ereignisse und Veränderungen, nicht jedoch Zustände oder Eigenschaften als solche. Das Musterbeispiel einer Verursachung ist die durch einen Stoß in Gang gesetzte Billardkugel, bei dem zugleich eine Energieübertragung stattfindet. Im Gegensatz dazu sind bloße Aufeinanderfolgen, wie z. B. die Folge von Tag und Nacht, keine Kausalfolgen. Wie mechanische Vorgänge sind Kausalfolgen nach Bunge stets durch Gesetze bestimmt. Verursachung bedeutet somit die gesetzmäßige Hervorbringung einer Zustandsänderung. Kausalgesetze sind nach Bunge keineswegs die einzigen Gesetze der Natur. Zunächst gibt es außer den Kausalgesetzen noch Gesetze wie die Einsteinsche Formel „E = mc2“, die nicht kausale Folgen beschreiben, sondern gesetzmäßige Verknüpfungen zwischen mehreren Größen. Vor allem aber gibt es in der Quantenphysik auch akausale Vorgänge wie den atomaren Zerfall. Doch selbst solche zufälligen Vorgänge sind nach Bunge keineswegs völlig indeterminiert oder gesetzlos. Vielmehr gehorcht selbst der Zufall Gesetzen, nämlich probabilistischen oder Wahrscheinlichkeitsgesetzen. Der zeitgemäße, moderate Determinismus behauptet daher nach Bunge, dass alles Geschehen in der Natur durch Gesetze überhaupt bestimmt ist, wobei diese Gesetze entweder strikt deterministisch oder probabilistisch sind. Doch auch eine in diesem Sinne gesetzmäßig bestimmte Natur kennt weder den absoluten Zufall noch Magie und Wunder. Vor dem Hintergrund dieses gemäßigten Determinismus untersucht Bunge das Problem der Willensfreiheit. Als unproblematisch betrachtet er zunächst den Begriff der Handlungsfreiheit. Das Handeln des Menschen ist danach frei, wenn es absichtlich und ohne Zwang erfolgt. Freiheit des Handelns bedeutet daher, dass der Mensch tun kann, „was er will“. Da der Willensentschluss eines Menschen sich jedoch aus seinem Charakter und den Motiven in einer gegebenen Situation ergibt, ist das menschliche Handeln (strikt) determiniert und im Prinzip voraussagbar. Der Begriff der Handlungsfreiheit macht aber nicht das aus, was in der philosophischen Tradition unter „Willensfreiheit“ verstanden wurde. Das Problem der Willensfreiheit besteht nach Bunge in der Frage, ob auch das Wollen selbst frei zustande kommt, d. h. ob der Mensch nicht nur tun, sondern auch wollen kann, „was er will“. Bunge spitzt das Problem in dieser Weise absichtlich zu, um anzudeuten, dass der Begriff der Willensfreiheit im Grunde absurd ist.

278 Ontologie des kritischen Rationalismus

Die Idee der Willensfreiheit setzt nämlich einerseits voraus, dass die Person der Urheber ihrer Taten ist, aber zugleich setzt sie voraus, dass die Person sich sozusagen über ihren Charakter erheben kann, um einen freien, unbedingten Willensentschluss zu fassen. Im Begriff der Willensfreiheit findet sich nach Bunge somit die inkonsistente Vorstellung eines „persönlichkeitsunabhängigen Wollens“. Da der Begriff der Willensfreiheit der Kritik nicht standhält, bleibt für Bunge als einzig legitimer Begriff von Freiheit der Begriff der Handlungsfreiheit. Dieser Freiheitsbegriff ist nach seiner Ansicht auch die allein tragfähige Grundlage der Ethik. Nur unter der Voraussetzung, dass das menschliche Handeln sich aus dem Charakter und den Motiven einer Situation ergibt, macht es nach Bunge überhaupt Sinn, das Handeln des Menschen durch Motive wie Lohn und Strafe zu beeinflussen. Ein zufällig agierender Mensch wäre der Einflussnahme durch Erziehung und Belehrung unzugänglich. Daher ist nach Bunge auch Poppers Versuch verfehlt, den Begriff der Willensfreiheit auf den Indeterminismus der Quantenphysik zu stützen. Er schließt sich also der von Hume geprägten empiristischen Tradition an, wenn er den Begriff der Handlungsfreiheit als ausreichend betrachtet, um die Verantwortlichkeit und Zurechenbarkeit menschlichen Handelns zu gewährleisten. Wissenschaftliches und religiöses Weltbild. Die materialistische Ontologie ist

nach Bunge mit zentralen religiösen Ideen nicht zu vereinbaren. Die neuralgischen Punkte, wo Wissenschaft und Religion in Konflikt geraten, sieht er vor allem bei Themen wie der Evolution des Kosmos und des Menschen und dem Wesen der menschlichen Seele. Wenn Religionen die Welt und den Menschen als Schöpfungen Gottes betrachten, dann stützen sie sich nach Bunge auf teleologische Deutungen, die mit der kausalen Betrachtungsweise der Wissenschaften unverträglich ist. Und wenn sie die Vorstellung einer immateriellen, unsterblichen Seele vertreten, dann setzen sie sich in Widerspruch zur wissenschaftlichen Auffassung von Bewusstsein und Geist als Eigenschaften des Gehirns. Wie Hans Albert, an dessen religionskritische Untersuchungen er teilweise anknüpft, behauptet auch Bunge, dass zentrale metaphysische Vorstellungen der Religion mit dem Naturalismus der Wissenschaften unvereinbar sind. Da der Naturalismus nur physische, natürliche Ursachen anerkennt, kommen religiöse Ideen, die einen Einfluss Gottes oder anderer übernatürlicher Wesen auf die Welt postulieren, zur Erklärung natürlicher Vorgange überhaupt nicht in Frage. Auch die von Theologen häufig beschrittenen Wege, Religion mit den Wissenschaften zu vereinbaren, kritisiert Bunge als verfehlt. So betrachtet er etwa

Mario Bunge: Emergentistischer Materialismus 279

den Versuch, Religion auf Ethik zu reduzieren, als ein fragwürdiges Unterfangen, weil durch den Verzicht auf die metaphysischen Ideen die Inhalte der Religion weitgehend entleert werden, so dass von Religion im traditionellen Sinne kaum mehr etwas übrig bleibt. Gegenüber solchen verfehlten Versuchen, dem Dilemma von Wissenschaft und Religion zu entgehen, fordert Bunge den Mut, die Konsequenzen des wissenschaftlichen Weltbildes zu ziehen. Sein Fazit lautet daher: „Wissenschaft und Religion mögen auf den ersten Blick kompatibel erscheinen, sie sind es bei näherer Betrachtung jedoch nicht. Wir haben nur die Wahl zwischen einem wissenschaftlichen, d. h. naturalistisch-materialistischen Weltbild und einem mythisch-magisch-animistisch-teleologischen. Wer auf Konsistenz Wert legt, kann nicht von Montag bis Samstag dem einen anhängen und am Sonntag dem anderen.“32 Wirkung. Mit seinen Schriften zur Wissenschaftstheorie und Ontologie hat

Bunge die Entwicklung des kritischen Rationalismus wesentlich mitbestimmt. Während er als Wissenschaftstheoretiker den Einfluss Poppers nicht erreicht, hat er die Ontologie des kritischen Rationalismus stärker als Popper beeinflusst. Auch in der analytischen Philosophie wurde Bunges Beitrag zum Leib-SeeleProblem rezipiert, doch findet hier seine ontologische Gesamtkonzeption weniger Beachtung. Die nachhaltigste Wirkung hat Bunges Ontologie auf Philosophen ausgeübt, die an einem umfassenden philosophischen Weltbild interessiert sind. Wie ein Sammelband33 aus dem Jahr 1990 mit Studien über Bunges Hauptwerk Treatise deutlich macht, hat seine Philosophie vor allem Resonanz bei wissenschaftlich orientierten Philosophen und philosophierenden Wissenschaftlern gefunden. Dies gilt auch für Deutschland, wo Bunges Wirkung unter anderem bei Bernulf Kanitscheider und Gerhard Vollmer, beides Physiker und Philosophen, deutlich zu erkennen ist. Würdigung. Bunge hat das wohl umfassendste philosophische System in der 2.

Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen. Der zentrale Teil dieses Systems, seine systemische Ontologie, ist ein Höhepunkt in der Entwicklung, die die Strömungen der analytischen Philosophie und des kritischen Rationalismus nach ihrer Rückkehr zu ontologischen Fragen in den 50. Jahren erlebt haben. Dass Metaphysik in der Moderne nur eine wissenschaftlich orientierte Ontologie sein kann, die die zentralen Resultate der Wissenschaften verarbeiten muss, hat 32 M. Bunge / M. Mahner: Über die Natur der Dinge, Stuttgart 2004, S. 231. 33 P. Weingartner / G. J. W. Dorn (Hg.): Studies on Mario Bunge’s „Treatise“, Amsterdam /Atlanta 1990.

280 Ontologie des kritischen Rationalismus

wohl niemand deutlicher als Bunge betont. Als verdienstvoll muss es auch gelten, dass Bunge auf der Basis der modernen Wissenschaften traditionellen ontologischen Begriffen wie Substanz, Kausalität und Determination einen neuen, zeitgemäßen Inhalt gegeben und damit die materialistische Grundlage der modernen Ontologie geklärt hat. Indem Bunge den Basischarakter der Materie und die Emergenz geistiger Eigenschaften in seinem emergentistischen Materialismus miteinander verknüpft, vertritt er eine moderne, systemische Version der Schichtenlehre. Mag diese Position in Einzelheiten auch problematisch sein – man könnte z. B. fragen, ob Bunges Konzeption nicht doch eine andere Freiheitskonzeption erlaubt als die traditionelle Auffassung von Handlungsfreiheit –, so weist sie grundsätzlich doch in die Richtung, in die ein moderner, nichtreduktiver Materialismus sich weiter entwickeln muss. Bunges emergentistischer Materialismus ist dazu ein bedeutender Beitrag, der noch längst nicht hinreichend ausgewertet und gewürdigt ist.

X. Schlussbetrachtungen

1. Klassische und moderne Metaphysik im Vergleich Vielfalt und Eigenart moderner Metaphysik. Auch in unserem wissenschaftlich-

technischen Zeitalter stellt die Philosophie die ontologischen Fragen nach dem Aufbau der Welt und dem Wesen des Menschen, aber auch die religiösen Fragen nach Gott und dem Sinn des Lebens. Die Strömungen der Metaphysik, die mit dem Materialismus und der Willensmetaphysik in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzten und die mit analytischer Philosophie und kritischem Rationalismus ins 21. Jahrhundert hineinreichen, wirken kaum weniger heterogen als die neuzeitlichen Positionen von Descartes bis Hegel oder die antiken Positionen von Demokrit bis Plotin. Metaphysik scheint also auch in der Moderne ein „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“ geblieben zu sein. Obgleich auch die moderne Metaphysik vielfältige Formen angenommen hat, weist sie doch einige charakteristische Unterschiede zur klassischen Metaphysik auf. Neben einer gewissen Kontinuität in Problemstellungen und Positionen gibt es nämlich wichtige Veränderungen in den theoretischen Ansätzen sowie ein neues methodisches Selbstverständnis. In den meisten dieser Veränderungen kommt eine Grundtendenz der modernen Metaphysik zum Ausdruck, die als „Verwissenschaftlichung“ oder zunehmende „wissenschaftliche Orientierung“ beschrieben werden kann. Doch bevor auf diese Tendenz genauer eingegangen wird, sollen zunächst die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von klassischer und moderner Metaphysik herausgestellt werden. Wir befassen uns dazu nacheinander mit den metaphysischen Grundpositionen, den Standpunkten in 

Kant: Kritik der reinen Vernunft, A VIII.

282 Schlussbetrachtungen

der Freiheitsfrage und schließlich mit den Stellungnahmen zu religiösen Fragen. Grundpositionen der Metaphysik der Neuzeit. Die Metaphysik der Neuzeit, auf

die der folgende Vergleich sich in erster Linie stützt, entwickelte ihre Grundpositionen vor allem als Antworten auf das Leib-Seele-Problem. Dieses Problem rückte ins Zentrum der neuzeitlichen Philosophie, als es der Physik seit Galilei mit wachsendem Erfolg gelang, die mechanistische Natur der materiellen Welt nachzuweisen. Damit drängte sich die Frage auf, ob auch Bewusstsein und Seele des Menschen nur ein Stück materieller Natur sind oder ob sich der menschliche Geist grundlegend von der Materie unterscheidet. Es ging also um die Frage, ob auch der Mensch als ganzer seinen Platz im mechanistischen Weltbild findet. Die einflussreichste Position, die darauf eine Antwort gab, war der von Descartes entwickelte psychophysische Substanzen-Dualismus. Neben dem Dualismus gab es auch den metaphysischen Idealismus (oder Spiritualismus), der das Wesen der Wirklichkeit als geistig interpretierte. Zu dieser Position kann man Leibniz’ Monadologie, Berkeleys Idealismus und Hegels Vernunftmetaphysik zählen. Grundpositionen, die ebenfalls eine wichtige Rolle spielten, obgleich sie heftigen Angriffen ausgesetzt waren, waren die von Spinoza begründete Identitätstheorie, wonach Körper und Geist zwei Erscheinungsformen einer einzigen (neutralen) Substanz sind, und der von Hobbes und einigen französischen Aufklärern vertretene Materialismus. Kants transzendentaler Idealismus bedeutete demgegenüber gerade den Verzicht auf Metaphysik. Grundpositionen der Metaphysik der Moderne. Anders als in der Neuzeit ist die

metaphysische Problemstellung in der Moderne nicht mehr allein durch die Physik, sondern auch durch die Evolutionslehre bestimmt. Durch die Einführung des evolutionären Gesichtspunkts veränderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die metaphysische Problemsicht: Gefragt wurde nicht mehr allein, wie das Verhältnis von Körper und Geist zu denken ist, sondern es wurde auch gefragt, wie überhaupt Vernunft und Freiheit des Menschen in das umfassende Bild einer sich entwickelnden Natur eingefügt werden können. Die Metaphysik der Moderne, die mit der Absage an Hegels Vernunftmetaphysik einsetzte, zeichnet sich inhaltlich zunächst dadurch aus, dass in ihr der Idealismus kaum noch eine Rolle spielt. Aber auch der klassische Leib-Seele

Der metaphysische Idealismus ist in der Moderne zwar weitgehend verschwunden, doch spielt der metaphysikabstinente erkenntnistheoretische Idealismus mit seinen transzendentalen, hermeneutischen und analytischen Varianten nach wie vor eine wichtige Rolle.

Klassische und moderne Metaphysik im Vergleich 283

Dualismus ist weitgehend verschwunden. Zwar stehen einige Philosophen dem Substanzen-Dualismus durchaus nahe, so etwa die Metaphysiker der Transzendenz oder auch Bergson und Scheler, die die metaphysische Sonderstellung des Geistes mit einem evolutionären Weltbild zu vereinbaren versuchen, doch wird selbst von ihnen ein klares Bekenntnis zum Substanzen-Dualismus vermieden. Ausdrücklich abgelehnt wird eine immaterielle Seelen-Substanz in den dualistischen Positionen von Sartre, Strawson und Popper. Die Identitätstheorie des neutralen Monismus hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts, unter anderem bei Russell und im Wiener Kreis, eine gewisse Rolle gespielt, doch ist sie schließlich ebenfalls verschwunden. Im Gegensatz zu den traditionellen Positionen des Dualismus und Idealismus hat der Materialismus in der Moderne eine bedeutende Aufwertung erfahren. War er im 19. Jahrhundert noch eine Position, die fast nur von philosophischen Außenseitern und Naturwissenschaftlern vertreten wurde, so ist er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur dominierenden ontologischen Position aufgestiegen. Die ontologischen Debatten in analytischer Philosophie und kritischem Rationalismus befassen sich fast nur noch mit der Frage, welche Form von Materialismus angemessen ist. Der Materialismus ist zwar eine alte Position, doch hat sein Aufstieg in der Moderne zu einer Aufspaltung in verschiedene Varianten geführt, insbesondere zu den Positionen des eliminativen, reduktiven, emergentistischen und funktionalen Materialismus. Eine moderne Fassung einer alten metaphysischen Position stellt auch die Schichtenlehre N. Hartmanns dar. Indem Hartmann jedoch die auf Aristoteles zurückgehende Konzeption von ihrem metaphysisch-religiösen Überbau befreit, d. h. die Lehre vom transzendenten Ursprung (oder der Übernatürlichkeit) des Geistes fallen lässt, gelangt er zu einer Position, die sich von einem gemäßigten Materialismus nur unwesentlich unterscheiden dürfte. Die metaphysischen Positionen der Moderne lassen sich teilweise als Abwandlungen traditioneller Standpunkte verstehen, doch wurden auch neue Konzeptionen entwickelt. Zu einem neuen Welt- und Menschenbild gelangt etwa die Willensmetaphysik, indem sie die Macht unbewusst-triebhafter Kräfte in Mensch und Natur betont und damit auch Grundthesen der Tiefenpsychologie vorwegnimmt. Neuartige Konzepte präsentiert ferner die Metaphysik der Evolution, in deren evolutionären Weltbildern nicht nur der Mensch als freies, vernünftiges Lebewesen seinen Platz findet, sondern in denen zugleich religiöse Ideen integriert werden. Die Ideen des Unbewussten und der Entwicklung wurden freilich auch von anderen metaphysischen Strömungen aufgegriffen. So versucht vor allem der moderne Materialismus der Evolutionstheorie voll Rechnung zu tragen.

284 Schlussbetrachtungen

Das Problem der Willensfreiheit in der Metaphysik der Neuzeit. Auch die Stel-

lungnahmen der neuzeitlichen Metaphysik zum Problem der Willensfreiheit müssen vor dem Hintergrund der mechanistischen Physik und des von ihr gestützten Determinismus gesehen werden. Die Grundfrage lautete, ob auch der Mensch der Determination der Natur unterworfen ist und, falls ja, welche Folgen dies für das Verständnis von menschlicher Freiheit hat. Einerseits gab es Positionen, die Willensfreiheit anerkannten und dem Menschen daher eine ontologische Sonderrolle zusprachen. Das war die Lösung Descartes’, der auf der Grundlage seines Leib-Seele-Dualismus die Determination der materiellen Natur mit der Freiheit des menschlichen Geistes vereinbaren wollte. Auch Kant vertrat diese Auffassung in transzendentalphilosophisch modifizierter Form, als er den Menschen als Erscheinung der Determination der Natur unterwarf, ihm als Ding an sich jedoch Freiheit zubilligte. Andererseits gab es Philosophen wie Hobbes und Hume, die den Menschen in die allgemeine Ordnung der Natur hineinstellten und Willensfreiheit verwarfen, wobei sie den Begriff der Handlungsfreiheit meist als ausreichende Grundlage der Moral betrachteten. Das Problem der Willensfreiheit in der Metaphysik der Moderne. Die Stellung-

nahmen zum Problem der Willensfreiheit blieben auch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von der klassischen Fragestellung bestimmt. Da die Natur weiterhin als strikt determiniert galt, haben auch die modernen Anhänger der Willensfreiheit immer wieder zu Konstruktionen gegriffen, die den menschlichen Willen als die große Ausnahme in einer ansonsten determinierten Welt verstehen. Dazu gehörten vor allem Bergson, Jaspers und Sartre. Am Determinismus festgehalten und Willensfreiheit geleugnet haben vor allem die Materialisten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte sich jedoch durch das Auftreten der Quantenphysik der wissenschaftliche Hintergrund des Freiheitsproblems. Nach dieser Theorie sind die Vorgänge im subatomaren Bereich nicht mehr streng determiniert, sondern besitzen einen statistischen Zufallsspielraum. Der Indeterminismus bedeutete eine Revolution im physikalischen Weltbild und stieß zunächst auf heftigen Widerstand. Nicht nur moderne Metaphysiker lehnten den Indeterminismus ab, sondern auch Physiker wie Einstein und Planck betrachteten ihn als vorübergehende Krise der Physik. Einer der ersten Philosophen, der den Indeterminismus akzeptierte und ihn in seine metaphysische Konzeption integrierte, war Whitehead. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Indeterminismus als physikalisches Grundprinzip aber weitgehend durchgesetzt. Die philosophischen Konsequenzen des Indeterminismus der Quantenphysik sind jedoch weiterhin umstritten geblieben. Es gibt keinen allgemeinen

Klassische und moderne Metaphysik im Vergleich 285

Konsens darüber, ob die subatomaren Zufallsprozesse sich auch auf der Ebene des menschlichen Handelns auswirken. Auf der einen Seite gibt es Denker wie Popper, die den quantenphysikalischen Indeterminismus und die dadurch bedingten „kausalen Lücken“ im Naturgeschehen nutzen möchten, um Willensfreiheit aufrecht erhalten zu können. Auf der anderen Seite gehen jedoch die meisten analytischen und kritisch-rationalen Philosophen davon aus, dass der subatomare Indeterminismus keine Bedeutung für das menschliche Handelns hat. Daher sehen sie das Grundproblem weiterhin darin, welche Form von Freiheit mit Determinismus vereinbar ist. Die große Mehrzahl dieser Denker betrachtet in der Tradition Humes den Begriff der Willensfreiheit als eine Schimäre und hält stattdessen den Begriff der Handlungsfreiheit für ausreichend, um die Verantwortlichkeit menschlichen Handelns zu gewährleisten. Wenngleich das Freiheitsproblem unter den Philosophen der zweiten Jahrhunderthälfte umstritten ist, stimmen sie doch alle darin überein, dass der Begriff der Freiheit nicht mit der Vorstellung eines immateriellen Geistes (als Subjekt des Handelns) verbunden werden darf und dass das Freiheitsproblem unabhängig von seinem ursprünglichen religiösen Kontext – also unabhängig von theologischen Annahmen wie der Allwissenheit und Allmacht Gottes und dem Phänomen des Bösen in der Welt – diskutiert werden muss. Religiöse Metaphysik in der Neuzeit. Die Fragen nach Gott und Unsterblichkeit

standen im Zentrum der neuzeitlichen Metaphysik. Die Streitfrage lautete, ob die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele durch Vernunftgründe bewiesen werden können. Besonders im neuzeitlichen Rationalismus wurden, wie in der Scholastik zuvor, verschiedene rationale Gottes- und Unsterblichkeitsbeweise formuliert. Andere Philosophen, allen voran Hume und Kant, lieferten dagegen einflussreiche Kritiken dieser Beweise, doch betrachteten sie die metaphysischen Ideen selber nicht etwa als falsch, sondern lediglich als unbeweisbar. Kant beanspruchte bekanntlich, das vermeintliche Wissen in religiösen Fragen beseitigt und damit wieder Platz für den Glauben geschaffen zu haben. Außerdem ging er in seiner praktischen Philosophie dazu über, die theoretisch unbeweisbaren Ideen von Gott und Unsterblichkeit (und Freiheit) als unverzichtbare „Postulate der praktischen Vernunft“ wieder einzusetzen. Kants Kritik der traditionellen religiösen Metaphysik veranlasste den deutschen Idealismus



Eine Verteidigung von Willensfreiheit im Sinne einer nicht determinierten, freien Wahl findet sich z. B. bei U. Steinvorth: Docklosigkeit oder zur Metaphysik der Moderne, Paderborn 2006, S. 164 ff, sowie bei M. Pauen (2001) S. 286 ff.

286 Schlussbetrachtungen

dazu, bei seinen Versuchen, Philosophie und Religion zu versöhnen, auf herkömmliche Vernunftbeweise weitgehend zu verzichten. Religiöse Metaphysik in der Moderne. In der Moderne sind unter dem Einfluss

Humes und Kants Gottes- und Unsterblichkeitsbeweise fast völlig verschwunden. Doch es gab weiterhin Metaphysiker, die religiöse Ideen in ihre philosophischen Systeme einbauten. Die Vorstellung von Gott bzw. die Annahme einer sinnvollen, göttlich bestimmten Weltordnung haben nicht nur die Metaphysiker der Transzendenz aufgegriffen, sondern auch Denker wie Bergson, Whitehead, Scheler, Heidegger und Teilhard de Chardin. Die Idee der Unsterblichkeit wird dagegen in der Moderne nur noch selten offen und eindeutig vertreten. Wenn sie überhaupt noch vorkommt, dann meist in modifizierter Form wie etwa bei Schopenhauer, Bergson und Whitehead. Wie der klassische Substanzen-Dualismus gilt die Idee der Unsterblichkeit als diskreditiert. Die zentrale Rolle, die die Unsterblichkeitsidee früher hatte, hat in der Moderne weitgehend die Vorstellung vom Sinn des Lebens übernommen. Die Annahme, dass der Sinn des menschlichen Lebens in der Transzendenz liegt, findet sich bei religiösen Denkern wie Wust, Stein und Jaspers, aber auch bei Schopenhauer und Wittgenstein. Es ist kein Zufall, dass diese Denker, indem sie es weitgehend offenlassen, worin der Sinn des Lebens genau besteht, sich mehr oder weniger stark mystischen Auffassungen nähern. Religiöse Vorstellungen tauchen zwar auch in der modernen Metaphysik auf, doch ist die traditionelle Zielvorstellung, eine Harmonie von Vernunft und Glauben bzw. von Wissenschaft und Religion nachzuweisen, im Verlauf der Moderne zunehmend infrage gestellt worden. Gerade in der Frage der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion lässt sich eine charakteristische Akzentverschiebung, ja fast ein Bruch zwischen der älteren Metaphysik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und den neueren, vom modernen Empirismus ausgehenden metaphysischen Strömungen feststellen: Während die Metaphysik von Schopenhauer bis Whitehead und Heidegger religiöse Ideen häufig in ihre Systeme einfügte, sind solche Harmonisierungsbestrebungen in der neueren Entwicklung der modernen Metaphysik stark zurückgegangen. Analytische und kritisch-rationale Denker wie Russell, Carnap, Quine, Popper und Bunge kritisieren religiöse Vorstellungen durchweg als wissenschaftlich unhaltbar, auch wenn in ihren Werken, außer bei Hans Albert, Religionskritik meist nur am Rande vorkommt. In den empiristisch-analytischen Strömungen der modernen Metaphysik sind daher – mit der wichtigen Ausnahme von Wittgenstein – religiöse Positionen und Haltungen weitgehend verschwunden. Im Unterschied zu früheren Zeiten, als religionskritische Auffassungen meist in Form des Agnosti-

Von der apriorischen Metaphysik zur hypothetisch-wissenschaftsorientierten Ontologie 287

zismus auftraten, ist in der Metaphysik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch der offene Atheismus zu einer verbreiteten Position geworden.

2. Von der apriorischen Metaphysik zur hypothetisch wissenschaftsorientierten Ontologie Der Aufstieg hypothetisch-wissenschaftsorientierter Ontologie. Die erläuterten

Unterschiede zwischen klassischer und moderner Metaphysik stehen in engem Zusammenhang mit einer grundlegenden Veränderung im methodischen Selbstverständnis moderner Metaphysik. In der Moderne vollzieht sich nämlich ein langsamer, aber stetiger Übergang von einer apriorischen zu einer hypothetischen, wissenschaftlich orientierten Metaphysik. Dieses neue Verständnis von Metaphysik enthält mehrere, eng miteinander verknüpfte Komponenten. Mit dem Verzicht auf eine definitive, unbezweifelbare, absolut sichere Art von Erkenntnis wird Metaphysik empirisch-hypothetisch, d. h. sie stützt sich auf Erfahrungsgründe und akzeptiert die Fehlbarkeit metaphysischer Thesen und Überlegungen; zugleich wird Metaphysik wissenschaftsorientiert, d. h. sie öffnet sich für die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften und versucht an die philosophisch relevanten wissenschaftlichen Resultate anzuknüpfen. Eine hypothetisch-wissenschaftsorientierte Metaphysik ist vor allem „Ontologie“, also eine philosophische Theorie der Welt, die in Übereinstimmung mit den Wissenschaften stehen will und die gewöhnlich mit religionskritischen Konsequenzen verbunden ist. Durch den Aufstieg dieser Metaphysik (bzw. Ontologie) ist nun freilich, wie im Folgenden deutlich werden wird, die religiöse Metaphysik, die sich seit Hume und Kant ohnehin in einer prekären Situation befindet, in eine noch größere Krise geraten. Diese Grundtendenz zur „Verwissenschaftlichung“ soll nun genauer betrachtet werden. Die alte apriorische Metaphysik. In der Philosophie der Neuzeit, vor allem aber im Rationalismus galt es bis zu Kant und Hegel gewöhnlich als selbstverständlich, dass Metaphysik a priori, mittels reiner Vernunft oder einer spezifisch philosophischen Methode, verfahren müsse, um zu „vernünftigen Einsichten“ über Gott und die Welt zu gelangen. Nur auf apriorischem Wege konnte nach dieser traditionellen Auffassung sicher begründetes Wissen gewonnen werden, das sich von bloßen Meinungen und Vermutungen, wie es die Erfahrungserkenntnis und die empirischen Wissenschaften liefern, durch einen besonderen, exklusiven Grad von Gewissheit unterscheiden sollte. In metaphysischen Dingen durfte nicht „gemutmaßt“ werden. Obwohl die Geschichte der Metaphysik mit

288 Schlussbetrachtungen

dem ständigen Wechsel der Systeme und dem nicht enden wollenden Streit um die letzten Fragen diesen Anspruch ad absurdum zu führen schien, galt Apriorität bis zu Beginn der Moderne als Wesensmerkmal der Metaphysik. Lediglich der Materialismus lehnte diese Auffassung ab, doch betrachtete er sich ohnehin mehr als wissenschaftliche denn als philosophische Theorie. Die Anfänge hypothetisch-wissenschaftsorientierter Metaphysik. Die Idee apri-

orischer Metaphysik wurde zu Beginn der Moderne erstmals entschieden preisgegeben, als Schopenhauer und Eduard von Hartmann die Möglichkeit einer empirisch-hypothetischen bzw. induktiven Metaphysik nachwiesen. Auch die Materialisten des 19. Jahrhunderts waren durch ihr Ausgehen von Physik, Chemie, Physiologie und Evolutionstheorie faktisch Anhänger empirisch-hypothetischer Metaphysik, wenngleich methodologische Reflexionen und Begründungen ihnen eher fern lagen. Ebenso haben die Vertreter der Metaphysik der Evolution durch ihr Anknüpfen an die Evolutionstheorie und andere empirische Wissenschaften den hypothetischen Charakters der Metaphysik anerkannt. Dies gilt besonders für Spencer und Whitehead, weniger aber für Bergson, dessen Methode der „Intuition“ eine Art metaphysischer Tiefenschau ist, die den üblichen Restriktionen empirisch-wissenschaftlicher Methoden gerade nicht unterworfen sein soll. Auch die Metaphysiker der Transzendenz haben für ihre Reflexionen über Gott und den Sinn menschlichen Lebens keine privilegierte Art von Erkenntnis oder Gewissheit beansprucht. Sie bezogen auch die empirischen Wissenschaften in ihre Überlegungen mit ein, freilich vor allem deshalb, um durch den Nachweis der Lücken und Grenzen der Wissenschaften den notwendigen Übergang zu einer religiösen Metaphysik zu begründen. Hypothetische Metaphysik in der empiristischen Tradition. Auf breite Ableh-

nung stieß die Idee apriorischer Metaphysik im Wiener Kreis, in der analytischen Philosophie und im kritischen Rationalismus. Der Wiener Kreis versuchte Metaphysik zwar generell als sinnloses Unternehmen zu desavouieren, doch war es tatsächlich die alte apriorische Metaphysik, gegen die man sich in erster Linie richtete. Eine sich auf die Wissenschaften stützende, hypothetische Metaphysik (oder Ontologie) betrieb man jedoch, zumindest in Ansätzen, faktisch selbst. Als in der späteren Entwicklung der analytischen Philosophie die Rückkehr zu metaphysischen Fragen stattfand, gehörten der hypothetische Charakter und 

Vgl. M. Morgenstern: Schopenhauers Begriff der Metaphysik und seine Bedeutung für die Philosophie des 19. Jahrhunderts. In: Zs. f. phil. Forsch. Bd. 41, 1987, S. 592–612.

Von der apriorischen Metaphysik zur hypothetisch-wissenschaftsorientierten Ontologie 289

die Orientierung an den Wissenschaften zum Kern der neuen analytischen Metaphysik. Die kritischen Rationalisten haben die Möglichkeit und Notwendigkeit einer hypothetischen, wissenschaftlich orientierten Metaphysik nachdrücklich herausgearbeitet und sie haben auch die Aporien und Illusionen offen gelegt, die mit Ideen des klassischen Rationalismus wie der Idee absoluter Gewissheit und der Idee der Letztbegründung verbunden sind. Relikte apriorischer Metaphysik in der Moderne. Freilich gibt es in der Moderne

nicht nur Anhänger hypothetischer Metaphysik. Einen Sonderfall stellt vor allem Husserls Phänomenologie dar, die mit Hilfe der Methode der „Wesensschau“ eine Letztbegründung menschlichen Wissens liefern wollte. An dieser Auffassung von Phänomenologie als apriorischer Metaphysik haben, wenn auch jeweils in verschiedener Form, Scheler, Heidegger und Sartre festgehalten. Lediglich Nic. Hartmann, der ohnehin nur im weiteren Sinne zur Phänomenologie gerechnet werden kann, gab die Idee einer apriorischen Metaphysik preis und legte seiner kritischen Ontologie die empirischen Wissenschaften zugrunde. Auch in der empiristisch-analytischen Tradition ist hypothetische Metaphysik zwar auf breite, aber nicht auf einhellige Zustimmung gestoßen. Eine wichtige Sonderrolle besitzt hier Strawsons analytische Ontologie der Alltagssprache, die sich als eine sprachphilosophische Variante apriorischer Metaphysik verstehen lässt. Strawson beanspruchte zwar keine privilegierte Form von Erkenntnis oder Gewissheit, aber er glaubte doch, dass die von ihm herausgearbeiteten Grundbegriffe einen fundamentalen, auch durch die Wissenschaften nicht korrigierbaren Rahmen menschlichen Weltverstehens darstellen. Wissenschaftliche Orientierung. Trotz der erwähnten Ausnahmen kann man

feststellen, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Übergang von apriorischer zu hypothetisch-wissenschaftsorientierter Metaphysik weitgehend vollzogen worden ist. Moderne Metaphysik (bzw. Ontologie) sieht ihre Aufgabe nun darin, ein philosophisches Weltbild auf der Basis der empirischen Wissenschaften zu entwickeln, und zwar auf der Basis der fortgeschrittenen Wissenschaften, die sich durch ihren Erfolg bei der Erklärung und Prognose der Naturvorgänge am besten bewährt haben. Empirische Grundlage der Metaphysik sind daher vor allem die Naturwissenschaften. Wenn die Metaphysik von fundamentalen, wissenschaftlich gesicherten Aussagen über die Welt ausgeht, braucht sie sich jedoch den Wissenschaften nicht bedingungslos oder kritiklos unterwerfen. Freilich muss sie sich doch davor hüten, wissenschaftlich gesicherte Hypothesen leichtfertig und ohne gute Gründe zu verwerfen. Wissenschaft-

290 Schlussbetrachtungen

liche Theorien einfach zu ignorieren kann sich Metaphysik, die als rationales Unternehmen ernst genommen werden will, nicht mehr erlauben. Dass wissenschaftliche Kompatibilität ein unverzichtbares Merkmal moderner Metaphysik darstellt, hat vor allem die moderne Physik demonstriert, als sie die zentralen Lehrstücke der traditionellen Ontologie – nämlich Substanz, Kausalität, Raum, Zeit – revidiert hat. Sie hat damit vermeintlich apriorische Prinzipien, deren Wahrheit als definitiv galt, als empirisch falsch erwiesen. Nach dieser schallenden Ohrfeige, die die klassische Metaphysik von den Wissenschaften erhalten hat, muss eine ernstzunehmende Metaphysik sich in Zukunft insbesondere darum bemühen, ihre Vereinbarkeit mit den zentralen Resultaten der fortgeschrittenen Wissenschaften sicherzustellen. Wenn Metaphysik mit den Wissenschaften sowohl vereinbar als auch unvereinbar sein kann, dann verliert sie den Makel spekulativer Beliebigkeit, der ihr von Skeptikern immer wieder attestiert wurde. Zwar sind metaphysische Aussagen, anders als wissenschaftliche Hypothesen, keiner unmittelbaren Kontrolle durch Beobachtung und Experiment zugänglich, aber sie sind doch indirekt überprüfbar, nämlich eben durch ihre Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit mit den Wissenschaften. Die Anerkennung wissenschaftlicher Kompatibilität bedeutet allerdings die Preisgabe des alten Traums von einer ein für allemal gültigen Weltsicht. Die Vorläufigkeit und Revidierbarkeit wissenschaftlich orientierter Metaphysik ist, gemessen an den Ansprüchen der klassischen Metaphysik, freilich ein Verlust, für einen wissenschaftlich orientierten Philosophen bedeutet dies dagegen nur die Preisgabe einer von vielen Illusionen.

3. Der Aufstieg des Naturalismus Wissenschaftliche Leitideen. Der methodische Paradigmenwechsel von aprio-

rischer zu hypothetisch-wissenschaftsorientierter Metaphysik hat dazu geführt, dass zentrale Hypothesen und Theorien der empirischen Wissenschaften zunehmend Anerkennung in philosophischen Debatten gefunden haben. Vor allem einige gut bestätigte Grundsätze der modernen Physik und Biologie haben wegen ihres grundlegenden Charakters immer mehr die Rolle von Leitideen des philosophischen Weltbildes erhalten. Die moderne Metaphysik zeigt daher auch inhaltlich eine Tendenz zur Verwissenschaftlichung. Mit dieser in

Diese Einsicht ist bekanntlich der Ausgangspunkt der evolutionären Erkenntnistheorie, wie sie im Anschluss an Konrad Lorenz vor allem von Gerhard Vollmer entwickelt wurde.

Der Aufstieg des Naturalismus 291

haltlichen Ausrichtung an den Wissenschaften und deren Bedeutung für die religiöse Metaphysik wollen wir uns abschließend befassen. Herausragende Bedeutung für die modernen Debatten um das Leib-SeeleProblem haben die Ergebnisse der Neurowissenschaften erhalten. Zwar lassen die von ihnen erzielten Erfolge bei der Identifizierung physiologischer Korrelate von Bewusstseinsphänomenen noch einen Spielraum für philosophische Deutungen und Theorien, doch gilt aufgrund dieser Forschungsergebnisse die organische Bedingtheit des Bewusstseins, auf die der Materialismus seit jeher gepocht hat, mittlerweile als gesichert. Mit der Annahme, dass mentale Prozesse ihre materielle Basis in Gehirnvorgängen haben, ist eben die traditionelle Vorstellung eines frei schwebenden, von der Materie unabhängigen Geistes nicht zu vereinbaren. Die empirische Forschung hat damit den klassischen LeibSeele-Dualismus entscheidend entkräftet. Als eine wissenschaftlich gesicherte Theorie mit weitreichenden philosophischen Konsequenzen hat sich in der Moderne auch die Evolutionslehre etabliert. War es im 19. Jahrhundert die Evolution der Lebewesen, die sich nach anfänglichem, hartnäckigem Widerstand schließlich durchgesetzt hat, so ist im 20. Jahrhundert die mit dem „Urknall“ einsetzende Evolution des Kosmos, zumindest in den Grundzügen, zu einer allgemein anerkannten wissenschaftlichen Hypothese geworden. Wie die kosmologische Urknall-Theorie mit rein physikalischen Hypothesen arbeitet, so begnügt sich auch die Evolutionsbiologie mit kausalen Erklärungen für die zielgerichtete Entwicklung der Lebensformen und die Zweckmäßigkeit der organischen Formen. Die grundlegende philosophische Bedeutung der Evolutionstheorie besteht gerade in dem Nachweis, dass man zur Erklärung der Form und Entwicklung der Lebewesen nicht auf finale Mächte wie zwecktätige „Lebenskräfte“ (oder die Vorsehung Gottes) zurückgreifen muss, sondern dass dazu kausale Prinzipien wie Mutation und Selektion (oder kybernetische Prinzipien wie Selbstregulation, Selbstreproduktion und negative Rückkopplung) ausreichend sind. Die Evolutionstheorie liefert damit einen entscheidenden Einwand gegen jede Art von teleologischer Weltauffassung. Es ist vor allem auf den Erfolg der Evolutionstheorie zurückzführen, dass es mittlerweile zu einem Kennzeichen einer vorwissenschaftlichen Einstel  

Zur Kritik des klassischen Leib-Seele-Dualismus vgl. M. Pauen (2001) S. 34–74; J. Schröder (2004) S. 36–57; M. Bunge: Das Leib-Seele-Problem. Ein psychobiologischer Versuch, Tübingen 1984, S. 25–31. Zur Urknalltheorie vgl. S. Weinberg: Die ersten drei Minuten. Der Ursprung des Universums, München 1974. Zur philosophischen Bedeutung der Evolutionstheorie vgl. G. Vollmer: Auf der Suche nach Ordnung. Beiträge zu einem naturalistischen Welt- und Menschenbild, Stuttgart 1995; G.

292 Schlussbetrachtungen

lung geworden ist, Ziele und Zwecke in der Welt anzunehmen, die nicht Resultat intentionalen menschlichen Handelns sind. Naturalismus als Grundlage der Ontologie. Die wichtigste Rolle als Leitidee in den Diskussionen moderner Metaphysik hat jedoch der Grundsatz des Naturalismus erhalten, also die Auffassung, dass in der Welt alles natürlich oder „mit rechten Dingen“ zugeht. Dieser Grundsatz ist die ontologische Fassung des erfolgreichen methodischen Grundsatzes der Wissenschaften, dass die Welt aus sich selbst heraus zu erklären ist. Der methodische Grundsatz verlangt, dass alle Ereignisse der Natur durch natürliche Ursachen, Naturgesetze und Naturkräfte erklärt werden müssen. Die Wissenschaften lehnen es daher aus methodischen Gründen ab, sich auf außerweltliche Einflüsse oder übernatürliche Kräfte zu berufen. Der Naturalismus als methodisches Prinzip der Wissenschaften wurde lange Zeit hartnäckig bekämpft und hat sich erst in der Moderne weitgehend durchgesetzt. Die Behauptungen religiöser Metaphysiker und Theologen, bestimmte Phänomene der Natur, wie z. B. die Entstehung des Lebens und Bewusstseins oder der Ursprung der Welt, seien wissenschaftlich-rational unlösbare „Welträtsel“, haben sich allesamt als verfehlt oder zumindest als voreilig herausgestellt.10 Solche Annahmen waren religiös motivierte Fesseln, die der wissenschaftliche Fortschritt allesamt gesprengt hat. In der Auseinandersetzung um den Naturalismus haben religiöse Metaphysik und Theologie ein ständiges Rückzugsgefecht geführt, in dessen Verlauf die rational vermeintlich uneinnehmbaren Bastionen nach und nach aufgegeben werden mussten. Der erfolgreiche methodische Grundsatz, dass die Natur aus sich selbst zu erklären ist, bestätigt damit die ontologische Hypothese des Naturalismus, dass es in der Welt überall natürlich zugeht. Der ontologische Naturalismus behauptet insbesondere die „kausale Geschlossenheit“ der raum-zeitlich-materiellen Welt, also die These, dass alle Ereignisse der materiellen Natur auch durch materielle Ursachen hervorgerufen werden. Der ontologische Naturalismus leugnet daher, dass es in der Welt Einwirkungen übernatürlicher Kräfte, Wunder und Eingriffe göttlicher Wesen gibt. Vielmehr muss nach naturalistischer

Vollmer: Biophilosophie, Stuttgart 1995; F. M. Wuketits: Evolution, Erkenntnis, Ethik. Folgerungen aus der modernen Biologie, Darmstadt 1984.  Zum Begriff des Naturalismus vgl. G. Vollmer: Auf der Suche nach der Ordnung, S. 24 ff. 10 Vgl. B. Kanitscheider: Die Materie und ihr Schatten. Naturalistische Wissenschaftsphilosophie, Aschaffenburg 2005, S. 98 ff.

Der Aufstieg des Naturalismus 293

Sicht die gesamte Welt als eine einheitliche materielle Wirklichkeit betrachtet werden, in der überall dieselben Gesetze der Physik und Chemie gelten. Gestützt wird der ontologische Naturalismus insbesondere durch das Gesetz von der Erhaltung der Energie, das besagt, dass in einem (geschlossenen) System die Summe der Energie konstant bleibt. Nach dem Energiesatz können übernatürliche oder immaterielle Wesen oder Kräfte auf die materielle Wirklichkeit nicht einwirken, weil dies eine Vermehrung von Energie bedeuten würde; ebenso wenig können Wirkungen der materiellen Natur in eine immaterielle Wirklichkeit hineinreichen, weil dies einer Verminderung der Energie gleichkäme. Unvereinbar mit dem Energieerhaltungssatz ist daher die traditionelle Vorstellung eines immateriellen Geistes, der auf die physische Natur einwirkt und von ihr beeinflusst wird, aber auch die Vorstellung von Gott als Lenker des Weltlaufs. Naturalismus und Materialismus. Der ontologische Naturalismus ist gewöhnlich

mit einem Materialismus verknüpft, obgleich beide Positionen nicht identisch sind. Zwar stimmen Naturalismus und Materialismus in der Ablehnung des psychophysischen Substanzen-Dualismus überein, doch die engere materialistische Position, dass alles Wirkliche materiell ist, liegt erst dann vor, wenn nicht nur die Existenz übernatürlicher Wesen und immaterieller Geister, sondern auch das immaterielle Sein mathematischer oder abstrakter Gebilde wie Zahlen oder geometrischer Figuren abgelehnt wird. Die naturalistische Position wird also zu einer materialistischen Ontologie, wenn auch auf jeden Platonismus und Universalienrealismus verzichtet wird. Sieht man von der Problematik des „idealen Seins“ jedoch einmal ab, dann läuft der ontologische Naturalismus auf einen Materialismus hinaus.11 Das naturalistische Votum für den Materialismus bedeutet allerdings noch keine Vorentscheidung über die genaue Form der materialistischen Ontologie. Offen bleibt damit vor allem noch, ob der Materialismus reduktionistisch, emergentistisch, funktionalistisch oder eliminativ sein muss. Der Naturalismus markiert somit den Bereich philosophischer Positionen, die mit den Wissenschaften vereinbar sind. Wie wissenschaftliche Theorien ist auch der Naturalismus zwar nicht ein für allemal gesichert, aber er ist doch wissenschaftlich gut bestätigt und als solcher steckt er das Terrain für zukünftige philosophische Weltbilder ab. Wer ein ontologisches oder metaphysisches System entwirft, das teilweise oder ganz außerhalb dieses Terrains liegt, belastet seine Konzeption mit einer schweren Hypothek und übernimmt vor allem die 11

Vgl. M. Bunge / M. Mahner: Über die Natur der Dinge, Stuttgart 2004, S. 7 ff.

294 Schlussbetrachtungen

Verpflichtung zu begründen, warum der Naturalismus für seine philosophische Konzeption nicht verbindlich sein soll. Unvereinbarkeit von Naturalismus und religiöser Metaphysik? Wie die vorange-

gangenen Ausführungen gezeigt haben, machen sich in der Entwicklung der Metaphysik in der Moderne zwei komplementäre Grundtendenzen geltend: Einerseits gibt es eine „Verwissenschaftlichung“, also die zunehmende Etablierung einer hypothetisch-wissenschaftsorientierten Ontologie, die inhaltlich mit einem Naturalismus und Materialismus verbunden ist; und andererseits gibt es, als Kehrseite desselben Prozesses, ein immer deutlicher zutage tretendes Verblassen religiöser Metaphysik und einen zunehmenden Zweifel an der wissenschaftlichen Kompatibilität zentraler religiöser Vorstellungen wie den Ideen von Gott und Unsterblichkeit. Die traditionellen Versuche, eine Versöhnung zwischen Vernunft und Glaube bzw. zwischen Wissenschaft und Religion zu begründen, sind jedenfalls im Laufe der Zeit auf immer breitere Ablehnung gestoßen und religiöse Fragen haben in den philosophischen Debatten insgesamt ihre frühere zentrale Bedeutung verloren. Ist also in der Moderne das Ende religiöser Metaphysik nun doch gekommen, oder bleibt selbst auf dem Boden einer naturalistischen Ontologie noch Raum für religiöse Metaphysik? Um diese Frage beantworten zu können, muss geklärt werden, welche religiösen Vorstellungen mit moderner Wissenschaft und naturalistischer Ontologie unvereinbar sind. Wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, stehen die Ideen von Gott und Unsterblichkeit mit verschiedenen wissenschaftlich gesicherten Grundsätzen in Konflikt. Gegen die Annahme einer immateriellen Seele, die mit dem Körper in Wechselwirkung steht, spricht z. B. das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Und gegen die Vorstellung von Gott als Lenker und Schöpfer12 der Welt spricht unter 12



Auch die Vorstellung vom Schöpfergott dürfte mit dem Naturalismus kaum vereinbar sein. Klar ist zunächst, dass die biblische Vorstellung, Gott habe Himmel und Erde, Tiere und Menschen vor relativ kurzer Zeit (vor ca. 4000 Jahren) erschaffen, angesichts der Millionen und Milliarden von Jahren, in denen sich nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen die Entstehung des Lebens und des Kosmos abgespielt hat, sich als eine naive Vorstellung archaischen Denkens entpuppt. Aber auch die neueren Versuche religiöser Metaphysik, die Vorstellung vom Schöpfergott auf der Basis der kosmoslogischen Urknalltheorie zu bewahren, sind mit dem Naturalismus kaum vereinbar. Denn indem der Urknall als göttlicher Schöpfungsakt interpretiert wird, womit die alte Vorstellung von Gott als erster Ursache der Welt erneuert wird, erfolgt doch eine Einmischung in die wissenschaftliche Praxis: Denn erstens setzt diese religiöse Deutung die durchaus strittige Version der Urknalltheorie voraus, dass die Welt aus dem Nichts entstanden ist, und zweitens tendiert sie dazu, die weitere wissenschaftliche Erforschung des Urknalls mit

Der Aufstieg des Naturalismus 295

anderem die Evolutionstheorie. Das Hauptargument, auf das sich die allgemeine These der Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Religion jedoch stützen könnte, ist das ontologische Prinzip des Naturalismus, also die Annahme, dass alles in der Welt natürlich zugeht, dass es also keine Wunder und keine übernatürlichen Einflüsse gibt. Mit dem Naturalismus inkompatibel sind also solche religiösen Vorstellungen, die irgendeinen kausalen Kontakt zwischen Gott und Welt annehmen. Der Naturalismus schließt es eben aus, dass Gott auf den Lauf der Welt und das Leben der Menschen einwirkt. Mit dem Naturalismus unvereinbar sind ferner religiöse Vorstellungen, die die Seele als eine von der physischen Welt von Grund auf verschiedene Wirklichkeit fassen. Daher hat auch die traditionelle Vorstellung einer immateriellen Seele, die dem Körper nur vorübergehend einwohnt, aber den Gesetzen der materiellen Welt nicht unterworfen ist, in einer naturalistischen Weltsicht keinen Platz. Der Naturalismus ist daher der entscheidende Einwand gegen religiöse Vorstellungen, die übernatürlichen Wesen (Götter, Engel, Dämonen) eine Rolle in den Ereignissen der raum-zeitlichen Welt zusprechen (oder ihren Beistand erhoffen) oder die eine Auswirkung des irdischen Lebens in einem transzendenten Sein postulieren. Der Naturalismus schließt eben jeden kausalen Kontakt zwischen weltlichen und übernatürlichen Mächten aus. Was der Naturalismus offen lässt. Der Naturalismus schließt zwar die theisti-

sche Vorstellung eines in die Welt eingreifenden Gottes aus, nicht jedoch die Gottesvorstellung überhaupt. Mit dem Naturalismus verträglich ist die Annahme, dass es einen Gott oder ein Jenseits gibt, das isoliert und ohne kausale Verbindung mit unserer Welt für sich existiert. Ob ein solcher Gott, der ähnlich wie die Götter Epikurs an der Welt gleichsam desinteressiert ist, noch genügend Anknüpfungspunkte für das traditionelle religiöse Fühlen und Denken bietet, ist freilich eine andere Frage. Keineswegs klar ist es auch, wie ein kausal isoliertes Jenseits mit der zentralen religiösen Vorstellung von einem Sinn des Lebens verknüpft werden könnte. Wenn das Jenseits der Ort sein soll, an dem das menschliche Leben seinen Sinn erhält, so bleibt doch unverständlich, wie eine Sinnerfüllung des Lebens in einem Jenseits denkbar sein soll, wenn es keine kausale Verknüpfung zwischen der Welt und dem Jenseits gibt, wenn die Sineinem theologischen Tabu zu belegen und den wissenschaftlichen Fortschritt damit zu behindern. Daher dürfte auch dieser Versuch, Gott als erste Ursache des kosmischen Prozesses zu fassen, dasselbe Schicksal erleiden wie alle vorangegangen derartigen Versuche, die vom wissenschaftlichen Fortschritt überrollt wurden.

296 Schlussbetrachtungen

nerfüllung also nicht einfach als ein Weiterleben der Seele gedacht werden darf. Die rein logische Möglichkeit eines von der Welt kausal isolierten Jenseits haben auch wissenschaftlich orientierte Philosophen zugestanden. Sie haben die naturalistische Position, die für religiöse Vorstellungen noch Platz lässt, als schwachen oder weltimmanenten Naturalismus bezeichnet und dieser Position einen starken Naturalismus entgegengesetzt, der keine religiösen „Hintertürchen“ mehr offen lässt. Nun ist es für wissenschaftlich orientierte Philosophen nahe liegend, sich in dieser Situation für einen starken Naturalismus zu entscheiden und damit die Möglichkeit religiöser Metaphysik preiszugeben. In diesem Sinne hat etwa Bunge die bloße Möglichkeit eines kausal isolierten Jenseits abgelehnt und sie unter die zahlreichen religiösen Wunschvorstellungen und Illusionen eingereiht.13 Dennoch bleibt festzuhalten, dass diese Verschärfung der naturalistischen Position durch die Anerkennung der modernen Wissenschaften nicht logisch erzwungen ist. Es eröffnet sich damit die Möglichkeit, an einem reduzierten Bestand an religiösen Vorstellungen festzuhalten (oder einen solchen zu entwickeln), ohne in Konflikt mit dem von den Wissenschaften allein geforderten schwachen Naturalismus zu geraten. Wir wollen diese Überlegungen, die einen höchst abstrakten Weg religiöser Metaphysik zu eröffnen scheinen, nicht weiter verfolgen, und wir wollen auch die Frage auf sich beruhen lassen, ob und wie weit solche Vorstellungen noch einen sinnvollen, verständlichen Inhalt haben oder ob sie letztlich auf eine formale, negative oder mystische Idee zusammenschrumpfen, wie sie etwa in der negativen Theologie und in verschiedenen Formen der Mystik, aber auch beim frühen Wittgenstein zu finden ist. Entscheidend ist hier nur, dass der Naturalismus eine solche Option religiöser Metaphysik zulässt. Es mag eine dürftige Möglichkeit sein, aber es ist nach Lage der Dinge die einzige Möglichkeit, den Wissenschaften uneingeschränkte Geltung für das philosophische Weltbild zu verschaffen und zugleich einen damit logisch verträglichen Minimalbestand religiöser Vorstellungen zu bewahren. Sollte auch diese Möglichkeit zum Scheitern verurteilt sein, dann bliebe religiöser Metaphysik nur noch die Selbstaufgabe als philosophisches Projekt.

13

Zur Unterscheidung von schwachem und starkem Naturalismus vgl. M. Bunge / M. Mahner: Über die Natur der Dinge, S. 7ff; B. Kanitscheider: Die Materie und ihr Schatten, S. 67 ff.

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Personenregister

Adenauer. K. 121 Adler, A. 72 Adorno, T. W. 37, 76, 106, 149 Albert, H. 20, 245, 256, 263–269, 278, 288 Andersson, G. 261 Apel, K.-O. 126, 264, 269 Ardila, R. 270 Aristoteles 11 ff, 27, 49, 100, 126, 130, 190, 221, 224, 283 Armstrong, D. 234 Augustinus 13, 162, 174 Austin, J. L. 210, 214 Ayer, J. A. 189, 191 f, 205, 214 Bachofen, J. J. 75 Bahnsen, J. 56 Bauch, B. 201 Baeumler, A. 71 Beauvoir, S. 150, 155 Beckermann, A. 238 Benn, G. 72 Bergson, H. 19, 55, 72 ff, 77 ff, 84–96, 100, 105 ff, 124 f, 135, 150, 156, 180, 254 f, 283 f, 286, 288 Berkeley, G. 58, 282 Biemel, W. 155 Birnbacher, D. 54 Bloch, E. 37, 77, 177 Bohm, D. 106 Brentano, F. 115 Buber, M. 19, 27 f, 158–163, 176, 179 Büchner, L. 29 ff Bunge, M. 20, 137, 246, 269–280, 286, 291, 293, 296

Camus, A. 155, 184 Capra, F. 106, 111 Carnap, R. 20, 187, 199, 200–206, 209, 211, 218, 227, 246, 286 Carrier, M. 255 Cassirer, E. 18, 137 Churchland, Patricia 242 f Churchland, Paul 242 ff Cohen, H. 18, 127 Comte, A. 18, 79, 123 Danto, A. C. 152 f, 155 Davidson, D. 233, 238 f Darwin, C. 23, 31, 38, 40, 49, 65 f, 78 ff, 83, 252 Demokrit 12, 281 Derrida, J. 119 Descartes, R. 11, 14 f, 37, 91, 101, 142, 150, 156, 209, 213, 215 ff, 224, 255, 281 f, 284 Deussen, P. 56 Dewey, J. 95, 230 Dionysios 174 Ditfurth, H. v. 111 Dorn, G. J. W. 279 Dostojewskij 70 Driesch, H. 61 Du Bois-Reymond, E. 39 f Duerr, H. P. 260 f Dühring, E. 33 ff Durant, W. 81 Ebner, F. 159 f Eccles, J. C. 247, 251 f, 256 Eigen, M. 111 Einstein, A. 277, 284

306 Personenregister

Endres, E. 171 Engels, F. 19, 22, 28, 31, 32–38 Epikur 295 Essler, W. K. 231 Eucken, R. 121 Feigl, H. 234 Feyerabend, P. 20, 245, 258–262 Fetscher, I. 42 Feuerbach, Anselm von 23 Feuerbach, L. 19, 22, 23–28, 29, 32 ff, 135 Fichte, J. G. 16, 45 Figal, G. 140 Flasch, K. 14 Fleischer, H. 34 Fodor, J. 239 Foucault, M. 155 Frauenstädt, J. 56 Frege, G. 115, 188, 193, 195, 201, 205 f Freud, S. 28, 55, 69, 72 Friedmann, M. 203 Gadamer, H.-G. 119, 149, 263 Galilei 119, 282 Gaupp, O. 83 Gehlen, A. 125, 137 Geier, M. 201 George, St. 73 Gerl, H.-B. 171 f, 175 Gide, A. 95 Gödde, G. 51 Goethe 51 Grøn, A. 86 Habermas, J. 119, 126, 263 f, 269 Haeckel, E. 23, 31, 37, 38–42, 84 Harich, W. 130, 135, 137 Hartmann, Eduard von 19, 44, 48, 55, 56–62, 76, 105, 124, 126, 288 Hartmann, Max 137 Hartmann, Nicolai 10, 19, 95, 113, 119, 123, 125, 126–138, 149, 152, 155, 165, 178 f, 254, 268, 270, 274, 283, 289 Hastedt, H. 255, 275 Hauskeller, M. 106 Hegel, G. W. F. 12, 15, 16 ff, 22 ff, 25 ff, 32 ff, 36, . 38, 43 f, 46, 56, 60 f, 98, 131, 136, 149 f, 152, 281 f, 287

Heidegger, M. 19, 72, 75 f, 95 f, 106, 114 f, 118 f, 125, 128, 130, 137, 138–150, 151, 153, 155 f, 169, 172 f, 175 ff, 184, 199, 203, 222, 263, 267 ff, 286, 289 Hemleben, J. 111 Heraklit 92, 100 Hesse, H. 72 Hilgendorf, E. 264 Hitler, A. 140, 212 Hobbes, T. 15, 282, 284 Hö ffe, O. 13, 16 Horkheimer, M. 37, 106 Hügli, A. 86, 223, 229, 238 Hume, D. 10, 15, 18, 51, 186, 248 f, 277 f, 284 ff, 287 Husserl, E. 19, 87, 113 f, 114–120, 121, 127, 129 f, 139, 140 ff, 149, 150 ff, 165 f, 169 ff, 222, 237, 289 Ingarden R. 170 James, W. 95 Jannik, A. 198 Jaspers, K. 19, 72, 137 f, 140, 150, 158, 167, 169, 176–185, 199, 284, 286 Johannes vom Kreuz 170, 175 Jung, C. G. 72 Kaiser-el-Safti, M. 51 Kanitscheider, B. 279, 292, 296 Kant, I 10, 15 ff, 31, 35, 40, 44 ff, 47 ff, 55, 57 f, 65 ff, 82, 84, 103, 114, 127 f, 130 f, 135 f, 139, 151, 164 f, 171 f, 176, 179 f, 184, 201, 221 ff, 226, 229, 249 f, 265, 271, 277, 281 f, 284 ff, 287 Kaufmann, W. 69 Keller, G. 28 Kemmerling, A. 214, 217, 219, 236 Kenny, A. 195, 197, 207 ff Keyserling, G. H. v. 79, 95 Kierkegaard, S. 18, 160, 162, 167 Klages, L. 19, 44, 55, 72, 73–77, 79, 146, 150 Koch, A. F. 223 Kopernikus 252 Kraft, V. 204 Kripke, S. A. 237 Kuhn, T. S. 260 Külpe, O. 61, 164 Küng, H. 168, 266 Künne, W. 225 Lamarck 80

Personenregister 307

Lamettrie, J. O. d. 252 Lange, F. A. 29, 31 Lanz, P. 238, 241 Lauener, H. 230 ff Leibniz, G. W. 11, 14 f, 52, 60, 103, 190, 282 Lenin 37, 42 Lessing, T. 73 Lévinas, E. 163 Levi-Strauss, C. 155 Lévy, B.-H. 155 Lewis, D. 234, 236 Liebknecht, W. 34 Lipps, H. 170 Locke, J. 102 Löwith, K. 18, 149 Lorenz, A. 54 Lorenz, K. 137, 290 Lübcke, P. 86, 223, 229, 238 Lukács, G. 37, 77, 95, 137, 155, 177 Mach, E. 18, 159, 186, 191 Magee, B. 256 Mahner, M. 270, 272 f, 275, 279, 293, 296 Mainländer, P. 56 Mann, T. 55, 72, 77 Marcel, G. 155, 163, 165, 168 Marcuse, H. 106 Maréchal, J. 172 Maritain, J. 172 Marx, K. 19, 22, 24, 26, 28, 31, 32 ff, 136 Maxwell, G. 260 Merlau-Ponty, M. 119, 150, 155 Mill, J. S. 18, 79, 164, 187 Miodowski, L. 54 Moleschott, J. 29 ff Monk, R. 193 Monod, J. 111 Moore, G. E. 193 f, 206, 215 Morgenstern, M. 10, 46, 48 f, 53, 123, 129, 131, 133, 137, 254, 256, 288 Musil, R. 77 Nagel, T. 237 Napoleon 17 Natorp, P. 18, 117, 127 Newen, A. 189, 191, 195, 197, 208 Newton, I. 96, 228, 249 f, 252, 271

Neurath, O. 199, 204, 246 Nietzsche, F. 19, 25, 28, 44, 55 f, 61, 62–73, 74 ff, 85, 89, 106, 110, 121 130, 140, 146, 150, 207 Noack, H. 117, 125 Oger, E. 87, 91 Parmenides 12, 65 Patzig, G. 201 Pauen, M. 239, 241, 243 f Paulsen, F. 31 Pears, D. 197 Peirce, C. S. 250 Place, U. 234 Planck, M. 284 Platon 11 f, 45, 49, 53, 70, 105, 116, 145, 164, 190, 254 Plessner, H. 125, 136 Plotin 180, 281 Poggi, S. 29 Popper, K. R. 9, 20, 36, 95, 99, 106, 213, 227 f, 245, 246–257, 258, 260 f, 263, 269 f, 275 f, 278 f, 283, 285 f Pothast, U. 226, 251 Prigogine, I. 106 Proust, M. 95 Przywara, E. 172 Putnam, H. 233, 237, 239 ff Pythagoras 12 Quine, W. v. O. 20, 97, 213, 223, 226, 227–234, 271, 286 Rahner, K. 172 Reschika, R. 56, 76 Rickert, H. 18, 115, 139, 177 Riedl, R. 137 Rorty, R. 233, 242 Rosenberg, A. 71 Rosenzweig, F. 159 f Rilke, R. M. 72 Röd, W. 17, 29 Russell, B. 20, 95, 97, 100, 186 f, 187–193, 194 f, 199, 206, 220, 223, 227, 231, 235, 273, 283, 286 Ryle, G. 20, 210, 213, 214–219, 220, 224 f, 234 Safranski, R. 147 Salamun, K. 178 f, 182 Saner, H. 182

308 Personenregister

Sartre, J.-P.19, 85, 94 f, 114, 119, 134, 149, 150–156, 169, 180, 184, 192, 203, 283 f, 289 Sass, H.-M. 28 Savigny, E. v. 189, 191 f, 195, 197, 208 Schäfer, L. 248, 255 Scheler, M. 19, 55, 61, 76, 95, 113, 119, 120–126, 127 f, 136 f, 150, 165, 170, 177, 283, 286, 289 Schelling, F. W. 16 f, 55 f Scherer, B. 167 Schilpp, P. 163, 184, 201 Schiwy, G. 111 Schlick, M. 199, 201, 246 Schmidt, A. 27 f Schmidt, G. 27 Schmidt, H. 42 Schnädelbach, H. 19 Scholz, O. 229 Schopenhauer, A. 19, 26 f, 43 f, 44–55, 56 f, 60 f, 63 ff, 66 ff, 69 ff, 72 ff, 84, 92, 105 f, 121, 124, 155, 167, 286, 288 Schröder, J. 238, 241, 244 Schulte, J. 223, 225 Searle, J. R. 210 Sellars, W. 242 Simmel, G. 79, 95, 159 Sinnreich, J. 190, 229 Smart, J. 234 Sokrates 9, 190 Spencer, H. 19, 42, 78, 79–84, 96, 122, 288 Spengler, O. 72, 76, 95, 137, 146, 150 Spiegelberg, H. 127 Spinoza, B. 14, 16, 41, 60, 72, 83, 104, 124, 195, 235, 282 Stegmüller, W. 116 f, 120, 122, 124 f, 131, 134, 139, 141 f, 182 ff, 195, 197, 201, 204 f, 207 ff, 227, 229 ff, 232

Stein, E. 19, 158, 165, 169–176, 180, 199 Steinvorth, U. 189, 251, 285 Strauß, D. F. 24 f Strawson, P. 20, 210, 213 f, 220–226, 283, 289 Teilhard de Chardin, P. 19, 78, 95, 107–112, 286 Thomas von Aquin 13 f, 158, 169 ff, 172 Tolstoi, L. 55 Toulmin, S. 198 Troeltsch, E. 165 Tugendhat, E. 149 Vaihinger, H. 66 Vogt, K. 29, 31 Vollmer, G. 137, 279, 290 ff Wagner, Richard 55, 63, 68 Wagner, Rudolph 29 Weber, M. 119, 177 Wehr, G. 158 f, 162 f Weinberg, S. 291 Weingartner, P. 279 Westho ff, H. 168 Whitehead, A. N. 19, 35, 78, 95, 96–107, 119, 133, 187 f, 227, 252, 254 f, 273, 284, 286, 288 Wilson, T. W. 85 Wimmer, R. 171 Windelband, W. 18 Winiger, J. 24, 28 Wittgenstein, L. 20, 55, 65, 97, 149, 182, 186 f, 190, 192, 193–200, 202, 205, 207–211, 212, 214, 220, 227, 232, 248, 273, 286, 296 Wolf, J.-C. 60 Wolf-Gazo, F. 102 Wuchterl, K. 74, 119, 122, 126, 141 f, 145, 149, 161, 166, 174, 176, 182 Wuketits, F. M. 292 Wust, P. 19, 158, 164–169, 173, 176, 180, 199, 286 Zimmer, R. 10, 256

Sachregister

Anthropologie, phil. 113, 120 f, 123  ff, 136, 141, 143 f, 149 f, 156, 159 f, 163 Behaviorismus 205, 218, 229, 233 Bewusstsein – als „Dauer“ 87, 92, 95 – Unbewusstes 25, 43 f, 49, 55, 56 ff, 59 ff, 76, 102 f, 155, 283 – Erlebnisqualitäten 236, 241 – Intentionalität 116, 142, 152, 225, 237, 241, 292 – Fremdseelisches 215 f – Mentales als Disposition 217 ff – Gedächtnis 85, 89 f, 95, 124 Buddhismus 51, 54 Determinismus/Indeterminismus 52 f, 59 f, 88, 103, 131, 133, 135, 138, 171, 180, 250 f, 276 ff, 284 f Dialektik 15, 17, 32 ff, 35 ff, 165, 167 Dialogphilosophie 158 ff, 161 ff, 179 Empirismus – klassischer 10, 14, 29, 229 – logischer 20, 187, 192 f, 199 ff, 203, 211 ff, 227, 246 ff – moderner 15, 18 f, 137 f, 222, 229, 233, 242, 286 – Dogmen des E. 213, 228 f, 233 Endlichkeit/Unendlichkeit 13, 15, 52, 60, 143, 173, 268 Erkenntnis – apriorische Erkenntnis 10 f, 14 ff, 46 ff, 66, 109, 113, 117, 121, 127, 186, 201, 229 – Gewissheit/sichere Basis 14, 109, 118, 120, 287, 289 – Fehlbarkeit/Fallibilismus 167, 247, 263 f, 269, 287

– Verstand u Intuition 84 f, 88, 93, 95 – Wahrnehmung/Sinnesdaten 48, 58 f, 79, 87, 89 ff, 102 f, 109, 124, 132, 153, 191, 201, 216, 228 f, 231, 242, 244, 256, 259, 265 – wissenschaftl. Methode 248, 256 ff, 260 ff – analytisch-synthetisch 66, 201, 229 – naturalisierte Erkenntnistheorie 229 f – anarchistische Erkenntnistheorie 258, 260 ff – evolutionäre Erkenntnistheorie 65 ff, 290 – Grenzen der Erkenntnis 18, 29, 39, 81 f, 84, 166, 172, 176, 179, 182, 184, 193, 197, 199, 288 – Erkenntniskritik 58, 64 f, 67, 127 Evolution – Evolutionstheorie 19, 23, 31, 38 ff, 41 f, 65 f, 78 f, 107, 253, 276, 282 f, 291, 295 – evolutionäres Weltbild 37, 78 f, 83 f, 94, 96, 109, 254, 283 – Gesetz der Entwicklung 82 f, 109 – kreative Evolution 78, 84, 91 f, 95, 254 – „elan vital“ 92 – Zukunft/Ziel der Evolution 110 f Existenzphilosophie/Existentialismus 18, 94 f, 119, 138 ff, 143 f, 149 ff, 155 f, 164, 167 ff, 176 ff, 179 ff, 184 f Freiheit – Freiheitsbewusstsein und Verantwortlichkeit 53, 103, 133, 225 f – Handlungsfreiheit 53, 180, 277 f, 284 f – Willensfreiheit 20, 27, 31, 39 f, 53, 55, 65, 88, 95, 99, 103 f, 114, 133, 138, 150, 153 ff, 171, 179 f, 225 f, 250 f, 253, 277 f, 284 f, – Selbstverwirklichung 143 f, 154 f, 161, 179 ff

310 Sachregister

Geist – u Trieb/Leben 43 f, 49 f, 60 f, 67 f, 73, 75 ff, 84 f, 124 f – u Seele 74 f – evolutionäre Nutzlosigkeit 90, 124, 253 – objektiver/objektivierter Geist 136 f, 254 f Gott – als Weltgrund/Schöpfer (Theismus) 26 f, 52, 122, 162 f, 166 f, 173 ff, 180 ff, 294 ff – Pantheismus 14, 25, 41 f, 106, 121, 125 – Atheismus 52, 134, 155, 203, 287 Idealismus – deutscher 11 f, 16, 18 f, 22, 27, 43, 55, 79, 285 f – subjektiver/transzendentaler 47 f, 58, 89, 117, 119, 127 f, 143, 202, 221, 265, 282 – Fiktionalismus 66 f – Kritik des subj. Idealismus 27, 42, 58, 129 f, 135, 165 – metaphysischer/objektiver 191, 217, 282 f Irrationalismus 19, 73, 77, 95, 185 Kausalität ↑Determinismus Kommunikation/Ich-Du-Beziehung 27, 160 f, 163, 171, 179, 184 Kulturphilosophie/Kulturkritik 44, 61, 67 f, 72 f, 75 ff, 123, 137, 140, 145 f, 149 f Lebensphilosophie 44, 62, 72 f, 79, 85, 95, 160, 164 Leib-Seele-Theorien – psychophys. Dualismus 14, 89, 282 ff – Wechselwirkung von Körper u Geist 91, 255 – mentale Verursachung 236, 238 f – mechanistische Leib-Seele-Theorien 89 – Kritik des Dualismus 27, 40 f, 104, 213, 214 ff, 219, 255, 259, 270, 275 f, 286, 291, 293 – Epiphänomenalismus 89, 252 f – Panpsychismus 41, 60, 62, 104, 109, 123, 252 f – neutraler Monismus 191 ff, 283 – logischer Behaviorismus 218 f – materialistische Theorien ↑Materialismus Logik/logische Analyse 100 f, 104, 138, 186 ff, 190, 192, 198 f, 202 f, 205, 224 Marxismus/Neomarxismus 20, 32 ff, 37, 137, 151 Materialismus 15, 19, 22 ff, 43, 46 f, 78, 82 ff, 138, 205, 213, 217, 239, 244 f, 257 f, 280 ff, 288, 291, 293 ff

– anthropologischer 22 f, 26 ff – dialektischer 22, 32 ff, 35 ff, 137 – naturwissenschaftl./mechanistischer 22 f, 28 f, 30 ff – physikalist./reduktiver 204 f, 231 f, 244 – Identitätstheorie 192, 233 ff, 237 ff, 243, 253 f, 275 f – eliminativer 233 f, 242 ff, 259 f, 262 – funktionaler 239 ff – emergentistischer 138, 246, 269 f, 274 ff, . 280 – anomaler Monismus 234, 238 f – monistische Weltanschauung 23, 38, 40 ff – u Naturalismus 293 f Materialismuskritik 46 f, 84, 89 f, 98 f, 134, 225 f, 251 ff, 256 f, Mensch/Menschenbild – Vernunft-/Geistwesen 123 f, 147, 151 f, 156, 179 f, 224 f, 251 ff – Sinnen-/Triebwesen 22, 26, 43 f, 50 f, 123 f – Sonderstellung des Menschen 90, 107, 123 f, 126, 251, 256, 283 Metaphysik – in Abgrenzung zur Wissenschaft 11, 197 f, 201 f, 246 ff, 256 f, 270 f – als Ontologie u Theologie 12 ff, 15 ff – apriorische/klassische 12 ff, 15 ff, 48, 57 f, 114, 116 ff, 127, 129, 206, 281 ff, 284 ff, 287, 289 f – Vernunftmetaphysik 16 ff, 19, 22, 43 f, 282 – des Willens 19, 43–77, 79, 120, 281, 283 – der Evolution 19, 78–112, 283, 288 – der Transzendenz/religiöse M. 19, 55, 70, 78, 122, 157–185, 263, 266 ff, 285 ff, 291 f, 294 – christliche 169, 172, 176 – rationale Diskussion metaphys. Probleme 20, 248 ff, 257 – hypothetisch-wissenschaftsorientierte . ↑Ontologie Metaphysikkritik 15 f, 18, 22, 25 ff, 30 f, 38, 40 f, 44 f, 52, 57, 62, 64 f, 67, 69 ff, 72, 134, 149, 176, 233, 244 f, 256, 263, 265 ff, 268 f, 278 f, 285 ff, 294 ff – sprachanalytische 19 f, 64 f, 186–211, 212 ff, 246 ff Möglichkeit 128, 131, 173 f

Sachregister 311

Mystik/mystische Gottesschau 52 f, 94, 110 f, 159, 169, 174 f, 182, 193, 198 f, 296 Mythos/mythische Weltanschauung 9, 24, 74 f, 204, 261 f, 279 Naturalismus 27 f, 32, 38, 40, 42, 223, 227, 230, 262 f, 265 ff, 269, 278, 290 f, 292 ff, 295 f Neuscholastik/Neuthomismus 137, 169, 171 f Neukantianismus 18, 31, 47, 55, 113, 115, 117, 121, 126 ff, 131, 139, 157 f, 160, 164 f, 171, 177, 201, 226 Nihilismus 70 f, 146 Ontologie – phänomenologische 19, 95, 113–156 – Schichtenlehre 49 f, 123, 126, 132 ff, 138, 178, 254, 257, 274 f, 280, 283, – logischer Atomismus 188, 190 ff, 199, 273 – analytische 20, 212–244, 289 – des kritischen Rationalismus 20, 245–280 – Prozessontologie 35, 92, 100 ff, 104 ff, 255, 273 – Substanzontologie 35, 190, 273 ff – hypothetisch-wissenschaftsorientierte 15, 29 f, 47 f, 57 f, 62, 79, 82, 98, 123 f, 126 f, 129, 206, 245 f, 263, 267 ff, 270 ff, 278 f, 281, 287 ff, 294 Pessimismus 43, 54, 56, 61, 63, 79, 146 Phänomenologie 19, 113–156, 157 f, 164, 169 f, 171 f, 214, 222, 226, 237, 289 – phänomenologische Methode/Wesensschau 113, 116 ff, 119 f, 126 f, 141, 289 – transzendentale Deutung 114, 117 ff – Lebenswelt 118 ff, 142, 226 f – Psychologismuskritik 115 f, 120, 130 Physik 10, 32, 82, 84, 96, 135, 250 ff, 272 f, 276, 284 f Physikalismus ↑Materialismus Positivismus/Neopositivismus 15, 18, 79 ff, 84, 113, 137, 157, 165, 178, 186, 213 Postmoderne 20, 62, 72, 149, 258, 262, 265 Pragmatismus 20, 66, 89, 95, 227, 232, 250 Rationalismus – neuzeitlicher 10, 14 ff, 285, 287, 289 – kritischer 20, 95, 245–280, 281, 283, 288 Realismus, erkenntnisth. 58 f, 61, 84, 89, 127 ff, 142 f, 151 f, 165 f, 172, 202, 230 f, 263 f, 265, 269 – Ding an sich 16, 44, 46 ff, 49 f, 53, 58, 69, 82, 84, 130, 151, 265, 284

– Realität der Außenwelt 89, 116, 142, 202, 209, 259 Relativismus 66 f, 114, 121, 258 f, 260 ff Religion/Theologie – christliche 13 f, 24 f, 69 ff, 107, 111, 158, 164 f, 167 f, 169 ff, 172 ff, 175 f – jüdische 158 f, 161 – negative Theologie 174, 181, 296 – Glaube u Geborgenheit 168, 174, 180 ff – philosophischer Glaube 182, 184 – statische u dynamische Religion 94 – Versöhnung von R. u Wissenschaft 14, 17, 22 f, 82, 98, 107, 111, 122, 158, 169, 171 f, 285 f Religionskritik 22 f, 25 f, 28, 40 f, 134, 182, 245, 263, 265 ff, 268 f, 278 f, 286 f, 294 f Sein – Seinsbegri ff/Seinsfrage 114, 130 f, 138 ff, 144 ff, 147 ff, 172 f, 178, 182 f – Bedeutungen von „Sein“ 196, 205 – Wert einer gebundenen Variablen 231 – Nichts/„Nichten“ 144, 152 f, 203, 205 – ideales Sein 105, 115 f, 130 f, 254, 293 Sinn – Sinn des Lebens 70 ff, 134, 167 ff, 198, 200, 256, 268, 286, 295 f – Sinn von Sein ↑Seinsbegri ff Sprache – als Bild der Wirklichkeit 195 ff, 198, 207 – empiristisches Sinnkriterium 201 f, 206, 213, 247 f – sinnvolle u sinnlose Sätze 196 f, 199 f, 202 ff, 209 – Objekt- u Metasprache 200, 209 – Sprachgebrauch/Sprachspiele 207 f, 209 ff – Eigennamen/Kennzeichnungen 189, 220, 223, 231 – als „Haus des Seins“ 147 Substanz/Einzelding 40 f, 59 f, 65, 99 ff, 104, 215 f, 223 ff, 252, 255, 272 f, 275 f Teleologie/Vitalismus 12, 60 f, 101 f, 105 f, 110 ff, 119, 166 – Kritik der T. 31, 39, 134 ff, 266, 291 f Tiefenpsychologie/Psychoanalyse 51, 55, 72, 283 Unsterblichkeit 13 ff, 25 f, 40, 45, 52 ff, 69, 91, 94, 104 f, 111, 176, 198, 223, 244, 256, 267, 285 f, 294

312 Sachregister

Wiener Kreis 11, 186 f, 192 ff, 199 ff, 205 f, 212 ff, 246 ff, 283, 288 Wille – als Ding an sich 44, 48 ff – als unbewusster Trieb/Lebenswille 49 ff, 59 f

– zur Macht 68 f, 71, 75, 146 – Willensverneinung 54 f, 61, 67, 69, 72 Zeit – physische und erlebte 87 f