Menschen auf der Strasse: Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 9783666357145, 3525357141, 9783525357149


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German Pages [176] Year 1983

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Menschen auf der Strasse: Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
 9783666357145, 3525357141, 9783525357149

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 56

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler

Band 56

Carsten Küther Menschen auf der Straße

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1983

Menschen auf der Straße Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

von

Carsten Küther

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1983

ClP-Kurztitelaujhahme

der Deutschen

Bibliothek

Küther, Carsten: Menschen auf der Straße: vagierende Unterschichten in Bayern, Franken u. Schwaben in d. 2. Hälfte d. 18. Jh. / von Carsten Küther. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1983. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 56) ISBN 3-525-35714-1 NE: GT

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1983. - Printed in Germany. - Alle Rechte des Nachdrucks, der Vervielfältigung und der Übersetzung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Werk oder Teile daraus auf photomechanischem (Photokopie, Mikrokopie) oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 3 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

Inhalt

I. Einführung II. Unterschichten als Rekrutierungsfeld der Vagierenden III. Beschreibung der vagierenden Unterschichten 1. 2. 3. 4. 5.

Umfang Differenzierung nach Geschlecht Altersverteilung Grad des Vagierens Soziale Herkunft und Berufe

IV. SeßhaftesLeben-Wandern-Vagieren 1. Rechtliche und ökonomische Momente im Grenzbereich zwischen seßhafter und vagierender Lebensweise 2. Gesinde und Tagwerker 3. Hirten und Abdecker 4. Handwerker 5. Mobile Berufe 6. Vagierende von Geburt 7. Soldaten V. Kampf ums Überleben - Alltag auf der Straße 1. Beziehungen und soziale Kontakte 2. Krankheit-Depression-Tod 3. Der Schritt zum Gauner VI. Zusammenfassung

7 15 20 20 28 31 32 35 40 40 45 51 56 61 66 73 77 77 83 89 100

Anhang A: Tabellen Anhang Β: Quellentexte Worterklärungen und Erläuterungen zu den Quellen texten

104 113 142

Anmerkungen

143 5

Quellen Verzeichnis

161

Literaturverzeichnis

164

Personenregister

168

Ortsregister

171

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I. Einführung

Mit dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, ein plastisches Bild der Alltagsrealität Vagierender in Süddeutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu zeichnen. Es wird also über ihr Leben berichtet. Allerdings handelt es sich nur in den seltensten Fällen um >schöne GeschichtenAussteigetendenzen< womöglich noch verstärkt, bleibt bei näherer Betrachtung und Interpretation der Quellen nur wenig übrig. Vielmehr ist ständig die Rede von Not, Hunger, Elend und Armut, die das Leben von großen Teilen der Bevölkerung bestimmten. Und bedrückend oft erfährt man, daß Menschen verfolgt, aufgegriffen, verhört, heimtransportiert, des Landes verwiesen, in Haft genommen, verprügelt, gefoltert und hingerichtet wurden, und all das zum großen Teil deswegen, weil sie eben dieses ungebundene Leben auf der Straße führten bzw. fuhren mußten. Es ist eine in weiten Teilen erschreckende Realität, die in den Quellen zum Vorschein kommt und die in einer historischen Untersuchung über diese Zeit und diese Menschen natürlich ihren Niederschlag findet. Die Arbeit versteht sich als Beitrag zur wirtschafts- und sozialhistorischen Unterschichtenforschung, die vor allem in England und Frankreich zu wichtigen Ergebnissen geführt hat und inzwischen auch in Deutschland weiter in den Vordergrund gerückt ist. Sie konzentriert sich insbesondere auf die Betrachtung des Vagierens, das eine verbreitete Form der Lebensführung innerhalb der Unterschichten war. Eine nähere Erforschung vagierender Bevölkerungsteile ist vor allem deswegen von besonderem Interesse, weil sie wichtige Aufschlüsse über abweichendes Verhalten auf der einen, über Tendenzen sozialer Kontrolle und Disziplinierung auf der anderen Seite bringen kann. Zunächst stellt sich das Problem, die Gruppe der Vagierenden so klar wie möglich zu definieren. Hier existieren eine Anzahl argumentativer Ebenen, die kurz darzustellen und zu erläutern sind. Es bieten sich zwei unterschiedliche Standpunkte an, von denen aus eine Begriffsbestimmung möglich ist: zum einen die obrigkeitliche Sicht mit dem ihr eigenen spezifischen Sprachgebrauch und zum anderen die objektiven sozialen und ökonomischen Bedingungen, die das Leben im Bereich der Unterschichten insgesamt prägten. Die Begriffe »vagierende Unterschichten« und »Vagierende«, die im folgenden verwendet werden, orientieren sich zunächst am zeitgenössi-

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sehen, obrigkeitlich geprägten Sprachgebrauch; sie beziehen sich auf das auffälligste Merkmal der Bevölkerungsgruppe, auf die vagierende Lebensweise nämlich, beinhalten jedoch noch keine nähere soziologische, juristische oder moralische Bestimmung. Dennoch ist es sinnvoll, von diesen Begriffen auszugehen. Gerade die Obrigkeit war es ja, die abweichendes Verhalten definierte und registrierte, unter anderem weil sie damit Kontrollu n d Disziplinierungsabsichten verband. D a m i t ist der größte Teil der Quellen begrifflich vorgeprägt. Das birgt allerdings zugleich erhebliche Probleme in sich, denn die von den Behörden gezogene relativ scharfe Grenze zwischen einerseits Vagierenden und andererseits Seßhaften, die den gesellschaftlichen und rechtlichen N o r m e n entsprachen, ist für die Z w e c k e einer sozialhistorischen Untersuchung nicht ohne weiteres zu akzeptieren. D a m i t w ü r d e man die Existenz von Randbereichen und Zwischenstufen außer acht lassen. Die Vagierenden waren keine klar umrissene, geschlossene soziale Gruppe, ebensowenig wie die Unterschichten insgesamt. Grob gesprochen handelte es sich bei diesen u m eine relativ breite Schicht am unteren Ende bzw. außerhalb des gesamten sozialen Systems. Dieser Bereich kann - w i e d e r u m grob gesprochen - in drei Gruppen unterteilt werden. Einmal waren da die Seßhaften, zweitens die Wandemden, die sich zwar gelegentlich oder regelmäßig in A u s ü b u n g eines Berufs oder auf der Suche nach Arbeit von ihrem Wohnsitz entfernten, sich dabei jedoch nach Auffassung der Behörden, auf jeden Fall aber nach eigenen und allgemeinen gesellschaftlichen Maßstäben i m m e r noch wie die Seßhaften im Rahmen anerkannter N o r m e n bewegten. An dritter Stelle kamen dann die Vagierenden, die außerhalb des sozialen Gefüges standen. Die Übergänge zwischen diesen drei Stufen, insbesondere zwischen d e m Wandern und dem Vagieren, sind nur selten eindeutig zu bestimmen. Unzweifelhaft gab es sie jedoch; auf sie wird i m folgenden mehrfach Bezug g e n o m m e n . In der Biographie eines U n t e r schichtangehörigen bedeuteten sie nicht selten Lebensstationen, die gelegentlich wiederholt durchlaufen wurden. Grundsätzlich gilt: Vagierende hatten keinen festen Wohnsitz bzw. w e n n sie ihn hatten, dann hielten sie sich kaum jemals dort auf, weil er ihnen keine Arbeits- u n d Lebensbedingungen bot, die zugleich die Subsistenz sicherten und ein gewisses Maß an sozialem Anreiz besaßen. Daraus ergeben sich weitere Kriterien: Vagierende hatten kein oder nur in geringstem M a ß e E i n k o m m e n oder Besitz. Erträge aus Gelegenheits- oder Saisonarbeiten reichten allenfalls für den Augenblick. Den Rest der Zeit waren sie gezwungen, sich überwiegend mit Betteln zu ernähren. Das bedingte meist ständige Ortswechsel, die auch mit der Suche nach Arbeit begründet werden konnten. Da das Betteln ebenso wie das »dienstlose Umherziehen« unter Strafe stand, war hier der erste Schritt in die Kriminalität vollzogen. Die Begriffe »Vagierender« u n d »Bettler« werden in den Quellen gelegentlich s y n o n y m

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verwendet. Es kann grob so differenziert werden, daß zwar jeder Vagierende auch Bettler war, jedoch nicht jeder Bettler auch ein Vagierender, z u m Beispiel dann nicht, w e n n es ihm gelang, sich permanent aus öffentlichen oder privaten Almosen in seinem Heimatort zu ernähren. Die vagierende Lebensweise bot weiterhin M o t i v und Gelegenheit zur Eigentumskriminalität, was den ohnehin offensichtlichen und permanenten Konflikt mit Behörden u n d seßhafter Bevölkerung noch zusätzlich verschärfte. Vagierende waren wegen ihrer Lebensweise geächtet - und das zusätzlich zu sozialen und rechtlichen Einschränkungen, die sich aus unehrlichem Beruf oder anrüchiger H e r k u n f t herleiten mochten. Generell gesprochen hatten Vagierende keine akzeptierte Position innerhalb des festen Rahmens von Staat u n d Gesellschaft, von D o r f und Stadt, der geprägt war durch Zünfte, durch Besitzrechte an Boden, durch Erbuntertänigkeit etc. Die neutestamentliche, im Mittelalter durch den heiligen Franziskus in den V o r d e r g r u n d gestellte Auffassung von der Heiligkeit der A r m u t und der daraus resultierenden Pflicht zur Mildtätigkeit hatte auch den bettelnden Vagierenden lange Zeit eine religiöse >Funktion< und damit einen sozialen O r t zugewiesen. 1 A u f G r u n d ihres zahlenmäßigen Anwachsens vor allem seit d e m Dreißigjährigen Krieg u n d infolge der sozialen und ökonomischen Veränderungen während des 18. Jahrhunderts verloren sie diesen O r t , ohne daß ihnen Ersatz geboten wurde. Z w a r ist in jeder zivilisierten Gesellschaft die soziale Sicherung des einzelnen mehr oder weniger vorhanden, doch w a r der gebotene Schutz i m hier behandelten Zeitraum sehr gering und hatte überdies einen stark disziplinierenden Charakter. Dies gilt generell für ökonomische Entwicklungsstufen, in denen die Arbeitskräfte billig u n d zumeist niedrig qualifiziert waren. Erst »in einer hochentwickelten Wirtschaft . . . nehmen sozialpolitische P r o g r a m m e den Charakter von Investitionen in den Produktionsfaktor Arbeit an«. 2 Geht m a n v o m Grad des Vagierens aus, läßt sich die vagierende Bevölkerung grob in zwei Gruppen einteilen. Z u m einen gab es die permanent Vagierenden, die auf Dauer abgesunken, z u m Teil schon als Kinder von Vagierenden auf die Welt g e k o m m e n waren. Neben dem U m s t a n d , daß sie nur sehr spärliche persönliche oder sachliche Bindungen an einen H e i m a t oder Geburtsort und seine seßhaften Bewohner hatten, ist bei ihnen entscheidend, daß sie meist keine Berufsausbildung hatten und sich überdies in den langen Jahren des Vagierens w o h l auch bewußtseinsmäßig weit von der Möglichkeit einer Eingliederung in ein seßhaftes Leben entfernten. Bei diesen Personen kann m a n davon sprechen, daß sie eine »Lebensalternative« gefunden haben, die sich eindeutig abhob v o m integrierten Leben an der untersten Grenze des sozialen Systems der Seßhaftigkeit. 3 Die zweite Gruppe der zeitweilig Vagierenden stellt den unklaren Grenzbereich zu den seßhaften Unterschichten dar. Sie kann wiederum in sich aufgeteilt werden. Da waren z u m einen die Menschen, die über längere Zeiträume ihres Lebens, zum Teil über Jahre, vagierten, sich jedoch persönliche und

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soziale Bindungen oder auch berufliche Fähigkeiten und die Bereitschaft, sie anzuwenden, bewahrt hatten, so daß vielen von ihnen noch nach längerer Zeit die Reintegration glücken konnte. Z u m anderen gab es die große Gruppe Angehöriger meist bäuerlicher, aber auch gewerblicher Unterschichten. Sie arbeiteten etwa als Erntehelfer, Hüter oder als Produzenten von Kleinwaren, waren jedoch gezwungen, außerhalb der Saison und auf der Suche nach Arbeit bzw. Absatzmärkten durchs Land zu ziehen. Natürlich war nicht jeder dieser Gelegenheits- und Saisonarbeiter ein Vagierender. Dennoch ist naheliegend, daß dieser Status häufig den Beginn des Absinkens bedeutete. Schon eine leichte Krankheit, ein geringfügiges Vergehen und seine Bestrafung oder Pech bei der Arbeitssuche (die eben häufig vagierend bewerkstelligt werden mußte) konnten das völlige Ende des Erwerbs aus Arbeit bedeuten. Innerhalb dieser Gruppe der zeitweilig Vagierenden fand also eine durch (zeitweiliges) Absinken und (wiederholte) Reintegration bedingte Fluktuation statt, die noch durch wirtschaftliche, politische, klimatische Gegebenheiten beeinflußt wurde. Seitens der Behörden wurden kaum Unterschiede in der Behandlung von auf Dauer oder zeitweilig Vagierenden gemacht. N u r wenn es zu einer Untersuchung wegen Diebstahls oder Raubes kam, wirkte die andauernd vagierende Lebensweise strafverschärfend. Ging es jedoch nur um den simplen Sachverhalt des Vagierens meist im Zusammenhang mit Betteln, dann wurde nicht näher differenziert. Das erscheint auch durchaus logisch, da beide Typen sich gleichermaßen der Kontrolle und Disziplinierung entzogen bzw. sich entziehen konnten. Und das war der Punkt, an dem die Behörden reagierten. Eine gewissermaßen eigene Gruppe neben den beiden genannten bildeten die vagierenden Gauner, also diejenigen, bei denen das Moment des kriminellen Broterwerbs zentral war. Sie rekrutierten sich meist aus den permanent Vagierenden. Die Gauner waren zugleich Umfeld und insbesondere personelles Reservoir der zahlreichen Räuberbanden, die im 18. Jahrhundert ihr Unwesen trieben. Sie waren bereits Gegenstand eingehender Untersuchungen 4 und sollen hier nur insoweit berücksichtigt werden, als sie eine besonders auffällige Stufe des Absinkens darstellten. Mit der groben Zweiteilung in permanent und zeitweilig Vagierende sind bereits wichtige definitorische Momente erfaßt, die die Grenzen des Untersuchungsgegenstandes hinreichend umreißen. Allerdings läßt sich - wie gesagt - auch erkennen, daß innerhalb der vagierenden Unterschichten starke Unterschiede in sozialer, wirtschaftlicher und vermutlich auch in bewußtseinsmäßiger Hinsicht bestanden. Es ist also notwendig, den konturhaften, obrigkeitlich gefärbten Begriff zu erweitern bzw. zu füllen. Aufgabe der Untersuchung soll einmal die Darstellung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten sein, die eine relativ große Zahl von Menschen zur vagierenden Lebensweise bewegten. Z u m anderen soll insbesondere nach der alltäglichen Lebenssituation und nach den Erfahrun-

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gen der Vagierenden gefragt werden. Wichtiges methodisches Prinzip ist dabei die möglichst starke Konzentration auf den vagierenden Menschen. Seine Person und seine Lebensrealität stehen im Mittelpunkt, soweit die Quellenlage das eben zuläßt. Es werden also in erster Linie weder wirtschaftliche Entwicklungen selbst oder etwa die Durchsetzung neuer Rechtsgrundsätze und die Einrichtung mehr oder minder neuer Institutionen wie zum Beispiel Polizeitruppen oder Zucht- und Arbeitshäuser noch die entsprechenden Gründe und Herleitungen betrachtet, sondern der Vagierende, auf den solche Entwicklungen spezifische Auswirkungen haben mußten. Auf diese Weise soll ein möglichst plastisches Bild gezeichnet werden. Ein weiterer Aspekt der Untersuchung ist die Frage nach eventuellen Änderungen in der Lebenssituation der Vagierenden, Änderungen, die sich aus ökonomischen, sozialen und administrativen Entwicklungen oder infolge demographischer Veränderungen und einem Wandel im Wertsystem - etwa in der Einschätzung des Betteins - ergaben. Dieser Aspekt kannjedoch nur gelegentlich und eher beiläufig angesprochen werden, nicht weil seine Relevanz geleugnet würde, sondern weil die Quellen in dieser Beziehung kaum eindeutige Aussagen machen. Diese Einschränkung bedeutet aber nicht, daß nicht der Versuch unternommen wird, Entwicklungen und Veränderungen - oder ihr Ausbleiben - aufzuzeigen. Die Eingrenzung des Bearbeitungszeitraums auf etwa 1750 bis in die 90er Jahre des 18. Jahrhunderts ermöglicht, einen Wandel innerhalb der vagierenden Unterschichten selbst darzustellen - beispielsweise hinsichtlich des U m f a n g s oder der Zusammensetzung - wie auch mögliche Änderungen oder Verbesserungen im Bereich der staatlichen Maßnahmen. Es ist im Auge zu behalten, daß die Vagierenden zumindest seit dem Dreißigjährigen Krieg für Staat und Gesellschaft ein Problem von beträchtlichem Gewicht darstellten. Bei Quantifizierungsversuchen für den hier anstehenden Zeitraum werden insbesondere Informationen aus den frühen 50er und den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts, also aus einer v o m Krieg gezeichneten und einer relativ friedlichen Phase, gegenübergestellt, u m so einen Vergleich zu ermöglichen. Natürlich sind auch die besonderen Bedingungen des Bearbeitungsgebietes Bayern, Franken und Schwaben zu berücksichtigen. Die Bevölkerung wuchs hier nur sehr langsam, ökonomisch war der Raum relativ rückständig, 5 was unter anderem auch dazu führte, daß keine Ströme von Wanderarbeitern auftraten, die anderswo von den Arbeitsmöglichkeiten »großer Kulturen« auch über weite Entfernungen angezogen wurden. 6 Anders als beispielsweise im Rheingebiet traten hier auch kaum traditionell Vagierende wie Zigeuner und Betteljuden auf. Im wesentlichen sprechen zwei Gründe für die Wahl des Untersuchungsraumes. Z u m einen ist sein Rahmen weit genug gesteckt, u m das überregionale M o m e n t des Vagierens deutlich werden zu lassen, wobei zugleich auch die Verhältnisse in dem relativ straff organisierten Flächenstaat Bayern und

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in den - teilweise geistlichen - Kleinstaaten Frankens und Schwabens verglichen werden können. Z u m anderen kann die Untersuchung als Fallstudie über die Vagierendenproblematik unter relativ statischen sozialen und ökonomischen Bedingungen, wie sie im Bearbeitungsgebiet und -Zeitraum vorherrschten, betrachtet werden. Entsprechende Arbeiten für andere Gebiete könnten folgen. Die problematische Quellenlage ist schon mehrfach angesprochen worden. Herangezogen w u r d e n vor allem Gerichtsrechnungen, Festnahmelisten und Bettelschubunterlagen, die die Grundlage fur quantifizierende Aussagen bilden, sowie Unterlagen über Kriminaluntersuchungen, Steckbriefe, M a n date und Verordnungen, Pfarrmatrikel etc. Auf spezielle Probleme einzelner Quellenarten wird unten noch näher eingegangen. Allgemein ist zunächst festzustellen, daß keine bzw. nur sehr spärliche Selbstzeugnisse von Vagierenden oder auch überhaupt von Unterschichtangehörigen vorliegen. 7 A m ehesten könnte man noch die A n t w o r t e n in Verhören festgenommener Verdächtiger zu dieser Kategorie zählen. Allerdings mindert die spezielle Situation, in der solche Quellen entstanden, zugleich ihren Wert. Das ist ein generelles Problem: die meisten herangezogenen und heranzuziehenden Quellen stehen unter eindeutig obrigkeitlichen Vorzeichen. Das Interesse der Autoren w a r es nicht oder nur selten, Erklärungen oder Gründe für das Vagieren einzelner oder einer ganzen Bevölkerungsgruppe zu finden, sondern sie waren auf der Suche nach strafrechtlich relevanten Tatbeständen. D a m i t war die Richtung des Gesprächs vorgegeben, w u r d e sein Inhalt >obrigkeitlich gefärbtnormalen< nichtkriminellen Vagierenden in gleicher Verhörsituation. Die Folge ist, daß in solchen Aussagen das M o m e n t der Kriminalität - das zweifellos in beträchtlichem Maße bestand - nicht so sehr in den Vordergrund rückte, wie es gerichtliche Quellen ihrem Charakter entsprechend erwarten lassen. Überdies gelingt es hin und wieder d e m Verhörführer u n d manchmal auch d e m bearbeitenden Historiker - , Lügen der Inquisiten zu durchschauen und daraus wiederum verwertbare Informationen zu ziehen. Darüber hinaus bietet es auch beträchtliche Vorteile, mit derartigen Gerichtsmaterialien arbeiten zu können. Der vorgeschriebene Fragenkanon, nach dem z u m Beispiel Verhöre geführt wurden, bezog sich zu Beginn der Fragen »ad generalia« regelmäßig auf die allgemeine Situation des Verhörten - und genau sie war es ja, die die Realität seines Alltags maßgeblich bestimmte. Gefragt w u r d e nach N a m e n , Alter, Familienstand, Religion, Beruf, Heimatort, Angehörigen, Gesundheitsstand, Vermögen und nach möglichen Vorstrafen; die A n t w o r t e n geben einen recht klaren Einblick. In ähnlicher Weise, aber mit gewissen Einschränkungen sind serielle

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Quellen der Gerichte zu verwenden. Wurden Vagierende in Rechnungsbüchern beispielsweise aufgeführt, dann nicht deswegen, weil man an ihnen selbst interessiert war, sondern weil die Maßnahmen gegen sie Unkosten verursacht hatten, die bürokratisch korrekt abgebucht werden mußten. In den Rechnungen wurden dann meist ähnliche, wenn auch weniger ausfuhrliche Angaben wie in Verhören »ad generalia« vermerkt. Das Problem liegt nun darin, daß für die Abfassung der Vermerke keine verbindlichen Vorschriften bestanden bzw. daß die bestehenden Vorschriften in den einzelnen Ämtern und Gerichten unterschiedlich beachtet und ausgelegt wurden. Es ist also kein durchgängiges Prinzip zu erkennen, nach dem die Angaben gemacht und gesammelt wurden. Zusammenfassung und Vergleich der Informationen aus den einzelnen Gerichten sind entsprechend problematisch. Auffällig ist zum Beispiel, daß die Zahl der erfaßten Vagierenden stark schwanken konnte, 8 daß Berufsgruppen, die in einem Gericht häufig auftreten, im benachbarten völlig fehlen, j a daß in manchen Rechnungen Vagierende überhaupt nicht genannt werden. In den meisten Fällen ist schwer zu entscheiden, inwieweit die Unstimmigkeiten auf regionale Unterschiede zurückzuführen sind oder auf die unterschiedliche Befolgung obrigkeitlicher Erlasse durch lokale Beamte. Es ist also Behutsamkeit bei der Quellenarbeit erforderlich. Als letztes gravierendes Problem, das sich natürlich auch aus den bisher angeführten ergibt, sei erwähnt, daß insbesondere biographische Angaben über Vagierende in der Regel äußerst fragmentarisch bleiben. Von vielen Vagierenden erhält man nur eine einzige Information. Wurden sie irgendwo auffällig, nahm man ihren momentanen Status zu Protokoll und - in groben Umrissen, soweit es dem Gericht relevant und dem Verhörten tunlich erschien - ihre Lebensläufe. Von wenigen Ausnahmen abgesehen erfährt man nichts über mögliche oder wahrscheinliche spätere Kollisionen mit den Behörden. Dazu konnte es in einem anderen Staat kommen oder doch in einem anderen Gerichtssprengel, die Namen waren geändert worden und damit auch die Papiere und persönlichen Daten. Identifikationen, die durch die zeitgenössische Justiz nicht vorgenommen werden konnten, sind 200 Jahre später auch dem begnadetsten Historiker nur selten möglich. Überdies ist ein großer Teil der einschlägigen Akten zum Teil vernichtet, zum Teil auch in keinem guten Erschließungszustand. All dies ist bei dem Versuch hinderlich, ein umfassendes und authentisches Bild der Lebensrealität Vagierender zeichnen zu wollen. Doch soll die Quellenlage nicht allzu düster gesehen werden. Man ist darauf angewiesen, mit dem Material zu arbeiten, das man hat. U n d von Vorteil ist dabei, daß die Vagierenden ein alltägliches und allgegenwärtiges Problem ihrer Zeit waren. Mit ihnen mußten sich verschiedene Bereiche der Administration befassen: Justiz, Militär, Finanzverwaltung, Mautwesen, Kirchen etc. U n d es erscheint in der Tat möglich, durch Auswertung der aus diesen Bereichen 13

stammenden Quellen und Quellenarten und durch eine sorgfältige Interpretation ein authentisches Bild der vagierenden Unterschichten zu zeichnen. Kollegen, Bekannte und Freunde, mit denen ich während der verschiedenen Entwicklungsstufen dieser Untersuchung in Kontakt stand, haben mich in meinem Argwohn bestärkt, daß ich mit der vorliegenden Arbeit wenig Ruhm ernten würde. Wenn der gesamte Themenkomplex auch nicht neu sei, so stehe man bei seiner Erforschung doch noch ziemlich am Anfang. Es sei daher unvermeidlich, daß sich Schwächen ergäben und daß Gewichtungen und Schlußfolgerungen zweifelhaft bleiben müßten. Vor allem könne das Bild nicht vollständig werden. Da dies wohl in der Tat unvermeidlich ist und da zudem noch bestimmte Grenzen hinsichtlich der aufzuwendenden Zeit und des Umfangs der Untersuchung nicht überschritten werden sollten, mußte ich mich bei der Formulierung auf eine meiner hervorstechendsten Eigenschaften verlassen: auf den Mut zur Lücke. Der Leser, der von dieser Untersuchung möglicherweise ganz bestimmte Antworten erwartet, wird irritiert sein, wenn sie nicht gegeben werden. Das tut mir natürlich leid. Ich möchte ihn dann auf die Literatur verweisen, die in letzter Zeit zahlreicher zum Thema erschienen ist und noch erscheinen wird. Überdies wirkt es vielleicht als Aufforderung, die Fehler und Schwächen dieser Untersuchung zu korrigieren. Finanziert wurde die Arbeit durch ein Forschungsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ich danke den Fachgutachtern und insbesondere Herrn Rostosky für seine Unterstützung. Professor Dr. Jürgen Kocka und Dr. Heinz Reif haben sich dankenswerterweise intensiv mit dem Manuskript beschäftigt; die daraus resultierenden kritischen Anmerkungen waren für die Überarbeitung ungemein wertvoll. Meinen Freunden danke ich für ihr durch gelegentliche ironische Bemerkungen nur unvollkommen verdecktes Verständnis angesichts meiner in den vergangenen Monaten häufigen geistigen Abwesenheit.

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II. Unterschichten als Rekrutierungsfeld der Vagierenden

Dieses Kapitel hat nicht den Ehrgeiz, ein lückenloses Bild der sozialen Situation allgemein und speziell am unteren Ende der sozialen Rangleiter zu zeichnen. Es wird lediglich eine kurze, einfuhrende Skizze des sozialen und wirtschaftlichen Umfelds der Vagierenden entworfen, die für das Verständnis der weiteren Schritte der Untersuchung unumgänglich ist. 1 Der Begriff der Unterschichten soll unter dem Aspekt der Einkommensund Vermögensverhältnisse betrachtet werden. Gehen wir zunächst von den ökonomisch weitgehend stabilen Bevölkerungsteilen aus. Vollbauern und Inhaber größerer Handwerksbetriebe erwirtschafteten in guten Jahren mehr als den Eigenbedarf, konnten Reserven sammeln und befanden sich damit in relativ gesicherter wirtschaftlicher Lage. Allerdings war ihre Zahl verhältnismäßig gering; Vollstellen oder doch Stellen, die eine Familie sicher ernähren konnten, waren und blieben begrenzt. So waren in Bayern zum Beispiel mehr als die Hälfte aller landwirtschaftlichen Anwesen Klein- und Nebenerwerbsbetriebe. Schon für das ausgehende 17. Jahrhundert galt, daß auf 52% aller eingehöfteten Anwesen die Familien von der Ackernahrung allein nicht leben konnten, also auf Nebenerwerb angewiesen waren. 20% aller Anwesen waren »Bloßhäusl«, verfugten über keinerlei Grundbesitz, und ihre Inhaber mußten sich ausschließlich aus Lohnarbeit ernähren. Und die weitere Entwicklung im 18. Jahrhundert lief darauf hinaus, daß die Zahl der Nebenerwerbsbetriebe noch anwuchs, die der Vollbetriebe dagegen etwa konstant blieb. 2 Ähnliches ist über das handwerkliche Gewerbe zu sagen. Wirtschaftlich gesichert waren nur die Betriebe, die einen oder besser mehrere Gesellen beschäftigten, und das waren nicht sehr viele. Das läßt sich schon daran erkennen, daß 1780 in Bayern 28 945 Meistern nur ganze 8 506 Gesellen gegenüberstanden. 3 Die zahlreichen Meister jedoch, die allein arbeiteten, waren auf den Erlös aus ihrer eigenen Arbeitsleistung angewiesen und galten folglich nur als »eine besondere Art von Tagelöhner«. 4 Dennoch gilt für sie ebenso wie für die vergleichbaren bäuerlichen Klein- und Mittelbetriebe, daß ihre wirtschaftliche Lage noch vergleichsweise stabil war, wenn auch alles andere als unerschütterlich. Im Gegensatz dazu standen die Vertreter der Unterschichten, die mehr oder minder stark auf Arbeitsleistungen für Fremde und auf die Möglichkeit angewiesen waren, sie auch anbieten respektive verkaufen zu können. Sie 15

waren in der ständischen Gesellschaftsordnung keinesfalls überflüssig, da ihre Dienstleistungen und Produkte überall verlangt wurden. 5 Im Widerspruch zu ihrer sozialen und volkswirtschaftlichen Unentbehrlichkeit stand der Umstand, daß ihre Einkünfte kaum zum Leben ausreichten. 6 Zu diesen Unterschichten zählen zunächst sämtliche Bedienstete, M ä g d e und Knechte, Gesellen, subalterne Amtspersonen wie Schergen und Schreiber, aber auch Schulmeister und allgemein Personen, die zwar in einem festen Arbeitsverhältnis standen, dafür jedoch nur geringsten Lohn erhielten 7 und überdies im Notfall von heute auf morgen entlassen werden konnten. Ähnlich prekär war die Lage der Inhaber bäuerlicher Kleinstbetriebe wie der Häusler und Söldner. Sie standen zwar auf einer etwas höheren sozialen Stufe als die Bediensteten, besaßen auch ein wenig Grund und ein Häuschen, mußten jedoch nebenher noch Lohnarbeit leisten. 8 Daraus mußte der wesentliche Teil des Lebens bestritten werden. Leerhäusler hatten nur ein Haus und waren so völlig auf Verdienst aus Taglohnarbeiten oder als kleine Landhandwerker angewiesen. Inleute wohnten »in der Herberge«, also zur Miete, verfügten unter Umständen über einen eigenen Herd und arbeiteten bei Bauern gegen Kost und kärglichen zusätzlichen Lohn. 9 Alle diese Gruppen werden in den Quellen meist — faktisch zutreffend unter dem umfassenden Begriff der »Tagwerkersleute« zusammengefaßt. Verdienstausfälle, auch nur für wenige Tage, konnten jeden Tagwerker unter die Schwelle des Existenzminimums drücken, da keinerlei Reserven vorhanden waren. Eine gewisse Sicherheit lag allenfalls in der Vielfalt der Tätigkeiten, die man anbieten konnte und nach denen auch Nachfrage bestand. Dreschen, Erntearbeit, Viehhüten, Gräben ziehen, Holzfällen, Korbflechten, aber auch Spinnen oder Weben im Verlagssystem gehörten zum typischen Repertoire. 1 0 Bei mangelndem Arbeitsangebot in einem Bereich konnte auf einen anderen ausgewichen werden. Man kann in solchen Fällen also nicht von Berufen im eigentlichen Sinne sprechen. Es handelte sich eher um eine größere Zahl von Gelegenheitsarbeiten und Nebentätigkeiten. U n d der Wechsel von einer Arbeit zur nächsten, die gewissermaßen zwangsläufige berufliche Unstetigkeit, konnte in die mobile Lebensweise einmünden, wenn man auf der Suche nach Lohnarbeit bzw. Absatzmärkten den Heimatort verlassen mußte. A u f jeden Fall blieb jede Sicherheit ausgesprochen trügerisch, da die erzielten Einkommen immer sehr bescheiden blieben und sich überdies sehr viele Menschen auf diese Weise ernähren mußten. Die Konkurrenz war also entsprechend groß. So wurden derartige Lohnarbeiter häufig pauschal, aber zutreffend als »Arme« definiert. 1 1 Ein zusätzliches Kriterium zur Bestimmung des Rekrutierungsfelds vagierender Unterschichten mag die Betrachtung der sogenannten Unbehausten bieten. Das waren in erster Linie Inleute und Ehehalten, die sich durch Tagwerkerarbeiten oder in festen Diensten ernährten und kein Haus ihr eigen nannten. Damit verengt sich der Blick nun auf den Teil der 16

Unterschichten, der über keinerlei immobiles Eigentum verfugte - nur das konnte eine gewisse Sicherheit bieten - und deswegen besonders stark von der Gefahr des Absinkens in die vagierende Lebensweise bedroht war. Zur Verdeutlichung sei das Beispiel der Pfarrei Mitterndorf im Gericht Dachau, das als typisch für Bayern gilt, angeführt. 1 2 Die Auswertung der Pfarrmatrikel ergab, daß von den Menschen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebten (die also grob gerechnet zwischen 1775 und 1824 starben) zwischen 24% und 28% unbehaust waren. 1 3 Man kann davon ausgehen, daß insbesondere aus diesem Viertel der ländlichen Bevölkerung der Strom der Vagierenden gespeist wurde, und vor allem in diesem sozialen Bereich spielte sich der Wechsel von Absinken und Reintegration ab. Ausgehend von diesem Wert und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß auch der Besitz eines kleinen Anwesens häufig noch nicht das Existenzminim u m sicherte, muß man zeitgenössischen Stimmen Realitätsnähe zubilligen, die überaus große Teile der Bevölkerung nicht nur den Armen, sondern praktisch den Bettlern zuordneten. 1 4 D e m entgegenstehende Aussagen früher Volkszählungen, in denen Arme oder gar Bettler kaum genannt werden, sind folglich mit einiger Skepsis zu betrachten. Die ihnen zugrundeliegenden Bewertungskriterien waren offenbar nicht differenziert genug. 1 5 Es ist also festzustellen, daß es grundsätzlich die instabile wirtschaftliche Stellung war, die die Unterschichtangehörigen anfällig fur die vagierende Lebensweise machte. Hinzu kam häufig noch das Moment der eingeschränkten sozialen und rechtlichen Position insbesondere von Angehörigen unehrlicher Berufe wie Abdecker, Hüter, Gerichtsdiener, Köhler etc. oder von unehelich Geborenen. Sie waren von vornherein in der Stellung von Außenseitern und mögen sich besonders leicht zum Vagieren entschlossen haben. Auch die Angehörigen vorwiegend mobiler Berufe sind hier zu nennen, also Hausierer und wandernde Krämer sowie Schausteller, Schauspieler und Musikanten. Z u diesen ökonomischen und sozialen Gründen kam möglicherweise noch ein rudimentär eigenständiges, von den allgemeinen N o r m e n abweichendes Bewußtsein. Es ist anzunehmen, wenn auch kaum zu belegen, daß es bei Unterschichtangehörigen allgemein eine stärker als bei sozial höher einzuordnenden Gruppen ausgeprägte Bereitschaft gab, sich Lebens- und Arbeitsbedingungen zu entziehen, die den gesellschaftlichen Normen zwar entsprachen, jedoch zugleich stark reglementiert waren und beengend wirkten. Dieser Gedanke fuhrt wieder auf das bereits angesprochene Moment der Fluktuation zwischen seßhaftem Leben und Vagieren. Wenn man von der Hypothese ausgeht, daß Teile der seßhaften Unterschichten konkrete Erfahrungen mit der vagierenden Lebensweise gemacht hatten und damit unter Umständen noch spezifisch geprägt worden waren, dann liegt der Schluß nahe, daß bei diesen Menschen zumindest latent die Neigung vorhanden sein konnte, sich erneut den für sie sehr engen Grenzen 17

des sozialen System zu entziehen, sobald eine bestimmte Schwelle wirtschaftlicher oder sozialer Einschränkung erreicht oder überschritten war. Das ist ein Gedankengang, der sich bei näherer Beschäftigung mit dem Thema aufdrängt, der gelegentlich auch durch den Tenor der Quellen gestützt wird, der sich jedoch nicht zweifelsfrei belegen läßt. Skepsis ist also angebracht. Dennoch erscheint es sinnvoll und zweckmäßig für die Einschätzung der Lebenssituation von Menschen am unteren Ende des sozialen Systems, diese Möglichkeit im Auge zu behalten. Die Frage nach dem Anteil der Unterschichten an der Gesamtbevölkerung ist nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten, da statistische Unterlagen fehlen. Als Hypothese mag gelten, daß im Bearbeitungsgebiet und -Zeitraum unter Einschluß der bäuerlichen Klein- und Kleinstbetriebe sowie der handwerklichen Einmannbetriebe erheblich mehr als die Hälfte der Bevölkerung >unterbäuerlich< und >unterbürgerlichoffiziell< anerkannten »wahren Armen« vergleichbar hohe Zahl ähnlich bedürftiger arbeitsunfähiger Menschen, die also etwa auch 2% der Gesamtbevölkerung ausmachte, keine Unterstützung erhielt. Diese Gruppe war

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weitgehend auf eigenes Almosensammeln angewiesen, woraus wiederum ein gewisser Zwang zum Vagieren zumindest im Bereich der engeren Heimat resultierte. Es soll an dieser Stelle nicht näher auf den naheliegenden Umstand eingegangen werden, daß auch einige der >anerkannten< Armen ihr kärgliches >offizielles< Almosen noch durch eigene Bettelei ergänzen mußten. 9 Damit ist zunächst eine erste Teilgruppe der vagierenden Unterschichten grob umrissen. In diesen 2%, die zwar objektiv bedürftig, aber nicht als »wahre Arme« anerkannt waren, sind nicht oder nur in geringem Umfang Personen enthalten, die aus spezifischen beruflichen oder sozialen Gründen abgesunken waren. Gemeint sind damit vor allem Angehörige von Unterschicht-Berufsgruppen wie Bediente, Tagwerker, 1 0 manche Handwerker, unehrliche Berufe, mobile Berufe und »Soldatenleute«, also entweder Entlassene oder Deserteure, und geborene Vagierende. Sie wurden größtenteils als arbeitsfähig und damit als »starke Bettler« eingestuft. Aufstellungen der Polizeibehörden 11 über aufgegriffenes und bestraftes resp. ausgewiesenes »Gesindel« lassen jedoch erkennen, daß sich gerade aus diesen Gruppen der weitaus größte Teil der Vagierenden rekrutierte. Zweifellos ist zu berücksichtigen, daß einige von ihnen auch unter die potentiellen »wahren Armen« zu rechnen sind. Allerdings darf deren Anteil nicht allzu hoch angesetzt werden. Die bayerischen Gerichtsrechnungen aus den frühen 50er Jahren machen hierzu recht deutliche Aussagen. Es wurde zum Teil detailliert angegeben, ob ein Delinquent oder auffälliger Vagierender durch hohes Alter oder irgendwelche Krankheiten stark eingeschränkt war. Am höchsten war der Anteil an Kranken, Blinden und Alten in Biburg, wo er in den Jahren 1750-52 etwa 14,4% betrug. In Vilshofen lag der entsprechende Wert bei 6,5%. In anderen Gerichten sind die Angaben spärlicher. Witwen oder Witwer wurden in diesen Aufstellungen selten gesondert registriert. Unter den durch den österreichischen Bettelschub in den 80er und frühen 90er Jahren nach bzw. durch Bayern transportierten Vagierenden ist niemand zu finden, den man als potentiellen »wahren Armen« definieren könnte. Das ist auch durchaus einleuchtend, da diese Menschen ausnahmslos eine längere Wegstrecke hatten vagierend zurücklegen müssen und somit in ihrer physischen Leistungsfähigkeit nicht nennenswert eingeschränkt sein konnten. Die zuvor angestellte Überlegung sei nun wieder aufgenommen und fortgeführt: in den 80er Jahren waren 2% der bayerischen Gesamtbevölkerung zwar objektiv bedürftig, jedoch nicht als »wahre Arme« anerkannt und deswegen zum größten Teil darauf angewiesen, umherzuziehen und Almosen zu sammeln. Damit galten sie nach Auffassung der Behörden als Vagierende. In den Polizeiquoten war diese Gruppe allerdings eine ausgesprochene Minderheit. Selbst wenn man annimmt, daß auch die Biburger und Vilshofener Angaben nicht vollständig waren und man deswegen von etwa 20% oder gar gutgerechneten 25% ausgehen muß, dann wären doch 22

noch 75% bis 80% aller als Vagierende bezeichneten Aufgegriffenen arbeitsfähige Angehörige der oben aufgezählten Unterschicht-Berufsgruppen, machten also das Drei- bis Vierfache des Wertes der Bedürftigen aus. Und bei der Ausgangsgröße von 2% Bedürftigen betrüge dann der Gesamtanteil der Vagierenden an der Bevölkerung ca. 8% bis 10%. 1 2 Zweifellos fordern die Quellensituation, auf der diese Überlegungen basieren, wie auch die Probleme der Beweisführung selbst zur Vorsicht beim Umgang mit diesen Zahlen heraus. Dennoch halte ich für das Bayern der 80er Jahre die Schätzung für realistisch, zumal die bayerische Bevölkerungsstatistik von 1792 sie noch zusätzlich bestätigt. 13 Zwar wird auch hier keine Rubrik gefuhrt, die sich eindeutig auf Arme oder gar »Vaganten« bezieht. Allerdings wird eine »übrige Volksklasse« genannt, die aus Personen bestand, die sich nicht unter Bauern, Bürger, Adel, Dienerschaft oder Klerus einordnen ließen. Der Schluß liegt nahe, daß diese »übrige Volksklasse« weitgehend durch arbeitsunfähige Arme, Bettler bzw. permanent Vagierende gebildet wurde. Aufgeführt sind nur männliche Personen über 21 Jahre. 1 4 Bezogen auf die Gesamtbevölkerung macht diese Gruppe etwa 1,8% aus, bezogen auf den ihr entsprechenden Bevölkerungsteil der über 21jährigen Männer (exklus. Klerus) jedoch 6,2%. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung könnte die »übrige Volksklasse« also etwa 5% betragen haben. 1 5 Berücksichtigt man nun wiederum, daß in diesem Wert nicht oder nur in Ausnahmefällen Tagwerker, Handwerker, Unehrliche etc. enthalten sind, dann kommt man für die Vagierenden insgesamt wieder auf einen Schätzwert von etwa 10%. 1 6 Schließlich sei noch auf eine frühere Berechnung hingewiesen, die auf der Auswertung relativ vollständiger Festnahmelisten des bayerischen Militärkordons bzw. der neu eingerichteten Gendarmerie aus der Zeit von 1806 bis 1818 beruhte. Auch sie kam zu einem Ergebnis von mindestens 10% Vagierender in der bayerischen Bevölkerung. 1 7 Für die außerbayerischen Gebiete des Bearbeitungsraumes dieser Untersuchung - also Teile von Franken und Schwaben - können keine vergleichbaren Schätzungen hergeleitet werden. Es liegen hier keine Quellen vor, die wenigstens halbwegs quantitativ auswertbar sind. Doch auch dieser Umstand kann ausgehend von den bayerischen Gegebenheiten interpretiert werden. Wie noch ausgeführt werden wird, folgte in Bayern die obrigkeitliche Politik gegenüber den Vagierenden relativ straffen Grundsätzen, verfügte über vergleichsweise reichhaltige Mittel und wurde entsprechend effektiv durchgeführt. Erleichtert wurde das Vorgehen durch das großräumige, geschlossene Staatsgebiet. Diese Situation war in Franken und Schwaben grundsätzlich nicht gegeben. Der Raum war politisch und geographisch stark gegliedert, was überregionale Kontroll- und Verfolgungsmaßnahmen enorm erschwerte. Überdies waren die kleinen Staaten weder personell noch vor allem finanziell ausreichend ausgestattet, um eine entsprechende Politik mit Aussicht auf Erfolg durchführen zu können; 23

teilweise sah man auch überhaupt nicht die Notwendigkeit dazu. In den zahlreichen geistlichen Territorien wurde eine prinzipiell sehr tolerante Haltung den Vagierenden gegenüber eingenommen. Man schätzte den Anteil der Bettler hier folglich auf mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung. 1 8 Grundsätzlich fanden Vagierende also in Franken und Schwaben objektiv günstigere Bedingungen, ihr Leben zu fristen, als etwa in Bayern. Wenn also Vagierende in den Unterlagen der fränkischen und schwäbischen Gerichte und Polizeibehörden nicht in entsprechendem Maße in Erscheinung treten, dann ist das nicht als Hinweis darauf zu werten, daß sie weniger zahlreich waren. Im Gegenteil, man kann daraus sogar schließen, daß dem »Vaganten«-Problem als solchem einerseits keine besondere Bedeutung zugemessen wurde, weil es schon von jeher Bestandteil des Lebens auf dem Lande gewesen war bzw. daß man andererseits davor resigniert oder kapituliert hatte. 19 Darauf deuten diverse Hinweise in Amtsrechnungen hin. Als Beispiel sei das kleine augsburgische Amt Schönegg angeführt. Zwischen 1750 und 1755 war einer der >spektakulärsten< Fälle der des Nicolaus Lam, der am 20. 1. 1753 als »ein Vagant nebst 2 andern Bettlern« aufgegriffen wurde. Der Grund: Lam hatte versucht, den Opferstock einer am Wege stehenden Kapelle auszuräumen. Er wurde tags darauf ins Zuchthaus nach Buchloe gebracht. Seine beiden Mitgefangenen dagegen wurden »nach empfangenen Carpatschstraichen wider endlassen«. 20 Aus der Diktion des Rechnungsbucheintrages geht hervor, daß bettelnde Vagierende wahrhaftig keine Seltenheit waren; die Namen der beiden anderen wurden nicht einmal registriert - im Gegensatz zur üblichen Praxis etwa in Bayern. In Schönegg wurden außer den drei angeführten Beispielen im genannten Zeitraum folgende Vagierende auffällig: 1750/51: Christian Schickh aus Schalckshofen wegen gebrochener Urfehde. Während seiner Haft betrugen die Verpflegungskosten für ihn allein 32 Gulden - ein relativ hoher Betrag für die marginale Bedeutung des Falles und eine Belastung für den Etat. 1751/52: Keine. 1752/53: Monica Hueberin aus Riedlingen wurde wegen Diebstahls in Klosterbeuren ins Zuchthaus Buchloe geschickt. 1753/54: Außer Lam und den beiden Bettlern wurde eine Gruppe von vier erwachsenen Vagierenden und einigen Kindern für eine Nacht festgehalten und dann wieder entlassen. Ein Grund wird nicht genannt. 1754/55: Keine. 2 1 Die Behörden beschränkten sich hier in der Regel also darauf einzugreifen, wenn Vagierende kriminell geworden waren, d. h. Diebstähle oder Räubereien verübt hatten. Material über derartige Fälle liegt in großem Umfang vor. Solche Untersuchungsunterlagen lassen ein zahlenmäßig starkes Vagierendenwesen für Franken und Schwaben ebenso erkennen wie auch die Listen des österreichischen Bettelschubs. Hier waren Franken oder Schwaben nämlich überproportional vertreten. All das legt den Schluß

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nahe, daß der Anteil der Vagierenden in diesen Gebieten stellenweise erheblich höher lag als in Bayern. Die Probleme, die sich ergeben, wenn Aussagen über den Umfang vagierender Unterschichten gemacht werden, verstärken sich naturgemäß, sobald die Entwicklung über einen längeren Zeitraum dargestellt werden soll. Die Quellenlage ist dafür vollends unzureichend, und man ist in noch stärkerem Maße auf Schlußfolgerungen angewiesen. Es spricht zunächst einiges für die Annahme, daß die Vagierendenpopulation im Bearbeitungszeitraum stark angestiegen ist. Bei näherer Betrachtung läßt sich diese Auffassung jedoch nicht halten. Z u m einen bewegte sich der Zuwachs der Gesamtbevölkerung im Untersuchungsraum in eher bescheidenem Rahmen. Da zugleich die ökonomischen und sozialen Strukturen beibehalten wurden, ist es unwahrscheinlich, daß das bescheidene Bevölkerungswachstum dramatische Auswirkungen an der unteren Grenze der sozialen Skala zeigte. Z u m anderen fällt zwar auf, daß in dem Bearbeitungszeitraum zahlreiche Bettelmandate erlassen bzw. verschärft wurden und daß darin auch ständig vom immer stärker überhand nehmenden Bettel- und Vagantenwesen die Rede ist. Aber die häufige Wiederholung dieser formelhaften Klagen reicht wohl nicht aus, um auf einen rapiden Anstieg der vagierenden Bevölkerung zu schließen. Eher kann man annehmen, daß die Zahl permanent relativ hoch war und wegen der unzureichenden sozialen und sicherheitspolizeilichen Mittel auch nicht verringert werden konnte. Das mag verdeutlichen, welche Probleme der absolute Staat hatte, seinen Machtanspruch durchzusetzen. 22 Solche Passagen der Mandate sind also eher Aussagen zu strukturellen Problemen des Staates und seiner Verwaltung als quantitative Angaben über die Vagierenden. Ebenso ist die These zu relativieren, nach der es infolge von Krieg oder Frieden bzw. in Zeiten ökonomischer Blüte oder Depression zu beträchtlichem Anstieg oder Abnahme der Schicht der Vagierenden gekommen sei. Schwankungen mag es durchaus gegeben haben, sie hatten jedoch gewiß keine dramatischen Ausmaße, jedenfalls nicht, wenn man die Situation in einem größeren geographischen und zeitlichen Rahmen betrachtet. Vor allem saisonal bedingte Schwankungen, die sich aus der Arbeitsmarktsituation ergaben, traten sicherlich auf. Dieser Aspekt soll hier zunächst noch nicht näher erörtert werden. 2 3 Meines Erachtens ist grundsätzlich von der Hypothese auszugehen, daß ökonomische Krisen weniger eine Zunahme der Zahl der Vagierenden bewirkten, als vielmehr einen Wandel in ihrer Erscheinungsform, jedenfalls in den Augen der Öffentlichkeit. Zwar trieben Wirtschaftskrisen viele Menschen, insbesondere Unterschichtangehörige, an und unter die Grenzen des Existenzminimums und machten sie damit zu potentiellen Bettlern und Vagierenden. 24 Von denselben Krisen - jedenfalls wenn sie von überregionaler Bedeutung waren - war aber die gesamte Bevölkerung betroffen, also auch die potentiellen Almosengeber. Damit verringerte sich ganz allgemein die Möglichkeit, sich vagierend, das heißt 25

weitgehend durch Bettelei zu ernähren, oder sie verlor doch viel von ihrer Attraktivität. Die Betroffenen blieben in ihren Heimatorten, wo sie noch einen gewissen Rückhalt hatten, und versuchten, sich dort unter noch stärkerer Einschränkung als schon zuvor zu ernähren. Das Sammeln von Almosen vor allem auf der Basis privater Wohltätigkeit hatte dabei sicherlich seine Bedeutung, doch kam es unter solchen Umständen wohl nur selten zur Übernahme der vagierenden Lebensweise. 25 Auf der anderen Seite erhöhten sich in wirtschaftlichen Blütezeiten bei der seßhaften Bevölkerung die Bereitschaft und vor allem die Fähigkeit, Almosen zu geben. Damit verbesserten sich die Möglichkeiten der Subsistenzsicherung durch Betteln, was wiederum relativ viele Menschen zu vagierender Lebensweise veranlaßte. Dabei war dann weniger akute wirtschaftliche Not Grund für das Vagieren, sondern das Bedürfnis, sich wenigstens für einen Moment von Enge und obrigkeitlicher Reglementierung freizumachen. Besonders Handwerksburschen scheinen hier anfällig gewesen zu sein, zumal allgemein die »Erziehung zur Arbeit« noch keine durchgreifenden Erfolge verzeichnet hatte. 26 Auch die Auswirkungen von Kriegen - die ja zu allgemein krisenhaften Entwicklungen fuhren konnten - dürfen nicht überschätzt werden. Verdächtige Vagierende wurden von den Gerichten immer schon mit Vorliebe zum Militärdienst verurteilt, ließen sich wohl auch anwerben, um entweder das Handgeld der Werber zu erhalten oder aber um vor eventuellen Verfolgungen durch Justizbehörden sicher zu sein. In Kriegszeiten bestand besonders hoher Bedarf an Rekruten, was also geradezu eine Abnahme der Schicht der Vagierenden bewirken konnte. Natürlich hob später das verstärkte Auftreten von Deserteuren diesen Effekt wieder auf, und nach Kriegsende führte dann ohne Zweifel die vergleichsweise große Zahl entlassener und abgedankter Soldaten, die häufig sozial entwurzelt waren, zu einem gewissen, zeitweiligen Zuwachs auf der Landstraße. Aus all dem ergibt sich, daß die Zahl der Vagierenden insgesamt nur relativ langsam anstieg. Allerdings sah sich in Krisenzeiten ein großer Teil der vagierenden Bevölkerung gezwungen, aus akuter Not und da das Betteln unergiebig wurde, zu kriminellen Mitteln der Subsistenzsicherung zu greifen, also Diebstahl und Raub zu verüben. Diese Änderung im Auftreten - auch wenn sie sich nur auf einen Teil der Vagierenden bezog wurde von den Behörden und der Bevölkerung registriert und in Berichten, Gutachten und Mandaten als Resultat des Überhandnehmens von »Gesindel« erklärt. Die Folge war eine Verschärfung der obrigkeitlichen Maßnahmen gegen die Vagierenden überhaupt, was auch insofern logisch war, als die Mittel zur gezielten Bekämpfung der eigentlichen Straftäter meist völlig unzureichend waren. 2 7 Damit erscheint mir die Schlußfolgerung gerechtfertigt, daß der Anteil der zugleich Vagierenden in den bayerischen Territorien in den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts etwa 8% der Gesamtbevölkerung ausmachte und daß 26

dieser Wert bis zum Ende des Jahrhunderts langsam auf etwa 10% anstieg. Dabei mochte sich auch der allmähliche Bevölkerungszuwachs auswirken. 28 Für die kleinen Staaten Frankens und Schwabens ist eine ähnliche Entwicklung anzunehmen, allerdings lagen die entsprechenden Werte vermutlich um 2% bis 3% höher. Überdies stieg hier sicher der prozentuale Anteil der Vagierenden schneller an, da weder die Armen- noch die Sicherheitspolitik die bayerischen Standards erreichen konnten. Quellensituation und spezifische Beweisführung bewirken, daß die Entwicklung relativ statisch erscheint. Es kann zwar angenommen werden, daß es jahreszeitlich bedingt oder durch besondere regionale Gegebenheiten zu stärkeren Schwankungen im zahlenmäßigen Umfang vagierender Unterschichten kam, doch sind sie kaum zu belegen. Im Rahmen dieser Untersuchung schien es mir wichtig, eine eindeutige Aussage zu machen und zu begründen. Und da relativ vorsichtig argumentiert und im Zweifel immer auf der Basis des geringeren Wertes gefolgert wurde, halte ich die genannten Schätzungen - bei aller Skepsis, die der Vorgehensweise gegenüber angebracht ist - für Mindestwerte. Zusätzlich gestützt wird die Schätzung meines Erachtens durch den allgemeinen Tenor der Quellen. Das mag bei der Lektüre der unten ausgeführten biographischen Fragmente 29 deutlich werden, die nicht nur einen Einblick in das Leben vagierender Individuen gestatten, sondern auch Impressionen von der Alltäglichkeit und Allgegenwart des Vagierens als Lebensweise vermitteln. Noch deutlicher wird dieses Bild durch die Beiläufigkeit, mit der Vagierende in den Quellen pauschal »abgebucht werden. In der Regel machte man sich dabei - anders als bei dem Material, das der Schätzung zugrunde lag - nicht die Mühe, irgendwelche Angaben zu den Personen zu machen, seien es nun Namen, Herkunftsorte, Berufe, Altersangaben etc. Was blieb, waren-erschütternde-Zahlen. Vom 1. 3. bis zum 31. 12. 1780 griff das bayerische Sekuritätskorps insgesamt 1 071 Vagabunden auf, zusätzlich zu 21 Deserteuren, 28 Wildschützen und 229 »Prozeßmäßigen«. Gegen letztere wurden also Untersuchungen wegen irgendwelcher Delikte angestrengt; vermutlich waren auch sie zum großen Teil Vagierende. Nach den Listen des bayerischen Jägercorps wurden 1784/85 in vier Monaten 757 Vagierende festgenommen und für die Jahre 1786 bis 1788 ist von 5 843 aufgegriffenen Bettlern und »Vaganten« die Rede. Dabei ist diese Aufstellung nicht vollständig. 30 In Gerichtsrechnungen wurde beiläufig erwähnt, daß beispielsweise am 16. 7. 1756 der österreichische Sommerschub von immerhin 65 Personen von Vilshofen nach Osterhofen durchgeliefert, dort von den beiden Amtsleuten übernommen und auf acht Wagen weiter ins Gericht Natternberg transportiert wurde. Anfang Dezember desselben Jahres wurde dann der zweite, der Herbstschub in gleicher Weise abgefertigt, der diesmal aus 42 Personen bestand. 3 1 Und man muß sich vergegenwärtigen, daß derartige Maßnahmen jahrzehntelang, Jahr für Jahr regelmäßig durchgeführt wurden. Wenn eine Addition der Einzelwerte möglich wäre, würden sich enorme Summen 27

ergeben, deren Gewicht noch durch die Tatsache erhöht würde, daß das sicherheitspolizeiliche Netz alles andere als lückenlos war, viele Vagierende also nicht erfaßt wurden. An dieser Stelle ist nochmals an die oben bereits angestellte Überlegung zu erinnern, daß die Schätzungen sich ja auf die jeweils zur gleichen Zeit Vagierenden beziehen. Wie schon gesagt und wie noch weiter erläutert werden wird, gab es innerhalb dieser Gruppe eine beträchtliche Fluktuation, die bedingt war durch erfolgreiche (zeitweilige) Reintegration bzw. durch (wiederholtes) Absinken von Teilen der seßhaften Bevölkerung. Grob gerechnet ist davon auszugehen, daß etwa die Hälfte der Vagierenden permanent auf der Straße lebte und daß folglich die zweite Hälfte einem ständigen Austausch unterworfen war. 3 2 Die Konsequenz ist, daß neben der schon beträchtlichen Anzahl momentan Vagierender noch ein weiter Personenkreis eigene, konkrete Erfahrungen mit der vagierenden Lebensweise gemacht hatte. Gerade diese Menschen konnten sich keine Illusionen darüber machen, daß ein an sich geringfügiger Anlaß - eine Krankheit zum Beispiel oder ein einmaliges Fehlverhalten - den Verlust der seßhaften Existenz nach sich ziehen konnte. Unter diesen Umständen bekommen zeitgenössische Aussagen, die ein Drittel der Bevölkerung als »Bettlergesindel« bezeichnen, ein anderes Gewicht und können nicht mehr ohne weiteres als unzulässige Übertreibungen abgetan werden. 3 3 Dabei ist allerdings daran zu erinnern, daß diese vielen Menschen nicht alle Vagierende im Sinne der vorangestellten Definition waren. Eingeschlossen ist der weite, eher diffuse Bereich der wandernden Bevölkerungsgruppen.

2. Differenzierung nach Geschlecht Es ist bereits erwähnt worden, daß alte, kranke oder sonstwie belastete arme Frauen bessere Chancen hatten als Männer in gleicher Situation, als »wahre Arme« anerkannt zu werden. 3 4 Der Zwang, aus wirtschaftlicher Not zu betteln und zu vagieren, dürfte also innerhalb der Gruppe bedürftiger Frauen entsprechend geringer sein. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite war die vagierende Lebensweise für Frauen ganz sicher mit größeren Problemen verbunden als für Männer. 3 5 Zunächst ist ein beträchtlicher sozialer und moralischer Druck anzunehmen. Zogen Frauen allein umher, wurden sie mit besonderem Argwohn betrachtet. Taten sie sich ohne Segen von Kirche und Obrigkeit mit einem Mann zusammen, wurde das als Hurerei kriminalisiert. Eine legal geschlossene Ehe erleichterte zwar vieles, doch blieb immer ein Rest Mißtrauen bei Beamten und Bevölkerung zurück, zumal man auch davon ausgehen konnte, daß manche Ehebescheinigung gefälscht oder unter falschen Voraussetzungen ausgestellt worden war. Hatte die vagierende Frau Kinder und hatte sie diese bei 28

sich, dann bekam die Frage nach der Legitimität des Nachwuchses zusätzliche strafrechtliche Relevanz. Abgesehen davon war natürlich die physische und psychische Belastung für Mütter unter den Vagierenden besonders groß. Vergleichsweise schwierig mußte sich auch die Suche nach Gelegenheitsarbeiten gestalten. Männer, die arbeitsuchend umherzogen, waren ein mehr oder minder gewohntes Bild - denken wir nur an wandernde Handwerksburschen oder Saisonarbeiter. Frauen waren in dieser Beziehung sicherlich auffälliger. Darüber hinaus war das Arbeitsplatzangebot für sie noch begrenzter. Die besten, immer noch relativ kargen Verdienstmöglichkeiten hatten sie in der Stadt, insbesondere als Bedienstete, jedoch auch als Prostituierte. 36 Zwar konnten auch sie in Erntespitzen Arbeit in der Landwirtschaft bekommen, doch wurde - wenn der Arbeitgeber die Wahl hatte häufig der Mann vorgezogen. Arbeit im Haus dagegen wurde auf dem Land kaum an ohnehin argwöhnisch betrachtete Fremde vergeben. Eine Magd zum Beispiel hatte ja Zugang zu allen Räumen des Hauses und damit auch zu den eventuell vorhandenen Wertsachen. Daher war es für Vagierende problematisch, solche Stellen anzunehmen: sie hatten unter Umständen mit Verdächtigungen und Anklagen im Falle von irgendwelchen - angeblichen Diebstählen oder Unterschlagungen zu rechnen. Insbesondere gegenüber Integrationswilligen hatte der Arbeitgeber hier ein probates Machtmittel in der Hand. 3 7 Daraus ergibt sich, daß Frauen in stärkerem Maße als Männer gezwungen waren, denkbare Alternativen auszuschöpfen, bevor sie sich auf die vagierende Lebensweise einließen. Wenn sie dann tatsächlich keine andere Möglichkeit mehr sahen, versuchten sie zunächst, sich insbesondere auf den engeren Umkreis ihrer Heimat zu beschränken, um so in Kontakt mit ihrem gewohnten Umfeld zu bleiben. Befragt man die Quellen nach der Geschlechterverteilung unter den Vagierenden, so ergibt sich zunächst ein eindeutiges Bild, das die Stichhaltigkeit der eben angestellten Überlegungen stützt. 38 Männer waren unter den Aufgegriffenen entschieden zahlreicher vertreten. Bei Addition der Werte aus den Gerichtsrechnungen der frühen 50er Jahre zu denen aus den Polizeiquoten und Schubunterlagen aus den 80er und frühen 90er Jahren ergibt sich auf der Grundlage von insgesamt 7257 geschlechtsspezifischen Angaben ein Verhältnis von· Männern zu Frauen von 1,9 : 1 (4739 : 2518). 39 Ein Vergleich der einzelnen Quellenbestände läßt allerdings erhebliche Differenzen erkennen. So unterscheiden sich die Verhältnisse in den Gerichtsrechnungen (1 : 1) und den Schublisten (1,3 : 1) recht deutlich von denen in den Listen des militärischen Jägerkorps (2 : 1). Da letztere mit 6 600 Personen die solideste Basis haben, dürften sie die Verhältnisse am ehesten zutreffend darstellen. Dennoch erscheint es sinnvoll und notwendig, nach möglichen Gründen für die Abweichungen zu fragen, soweit sie nicht unmittelbar aus den Eigenheiten der Quellen abzuleiten sind. 40 29

Der Anteil der Frauen unter den aufgegriffenen Personen in den Listen des österreichischen Bettelschubs und in den bayerischen Gerichtsrechnungen war, wie gesagt, besonders hoch. Hinsichtlich des Schubs ist die Erklärung einfach: die Attraktivität der Stadt Wien vor allem für weibliches Hauspersonal. Aus den Angaben der Festgenommenen geht hervor, daß ungemein viele und relativ junge Frauen versucht hatten, mit mehr oder weniger Erfolg in Haushalten der Donaumetropole Arbeit als Dienstboten (Kindsmensch, Kuchlmagd, Köchin, Milchmensch etc.) zu finden. 41 Wenn die Arbeitssuche erfolglos blieb oder das Arbeitsverhältnis endete, kamen die Fremden in Konflikt mit den Polizeibehörden und wurden »auf den Schub« gebracht. In den Aufstellungen der Gerichte traten die Frauen deswegen so zahlreich in Erscheinung, weil hier die Zahl der in der engeren Nachbarschaft des Heimatortes bettelnden Menschen relativ hoch war, unter denen dann wiederum die Frauen vergleichsweise häufig auftraten. Die These von den sich bevorzugt auf den Nahbereich beschränkenden vagierenden Frauen wird übrigens auch durch die Schubunterlagen gestützt. Unter den Personen, die von Österreich aus über die bayerische Grenze transportiert wurden, betrug das Verhältnis Männer zu Frauen 1 : 1 . Unter denjenigen jedoch, die bis in die Oberpfalz (zum Teil auch darüber hinaus) geschickt wurden, belief sich der entsprechende Wert auf 1,5 : 1. In diesem zweiten Wert, der sichja ausschließlich auf Vagierende mit überregionalem Wanderradius bezieht, lag also der Anteil der Frauen erheblich niedriger. 42 Aus den eingangs angestellten Überlegungen und den Aussagen der Quellen ergeben sich Schlußfolgerungen, die für das Gesamtbild der Vagierenden und für das Selbstverständnis, das man bei ihnen antreffen konnte, von Bedeutung sind. Zum einen waren Frauen, die - aus welchen Gründen auch immer - den Prozeß des Absinkens in die Schicht der permanent Vagierenden durchgemacht bzw. durchlitten hatten, besonders weit von den Normen des seßhaften Lebens entfernt. Sowohl in ihrem eigenen Selbstverständnis als auch in den Augen der Umwelt (und besonders der Behördenvertreter) befanden sie sich in einer ausgesprochenen sozialen und moralischen Randstellung. Bei ihnen war die Möglichkeit zur Reintegration vermutlich noch weniger vorhanden als bei männlichen Vagierenden gleichen Schlages. 43 Den Frauen wurde - das sei so pauschal behauptet - noch weniger leicht verziehen als Männern. 4 4 Über abweichendes Verhalten wurde bei ihnen kaum einmal hinweggesehen, mochte es auch noch so unverschuldet sein. Darüber hinaus hatten sie im Gegensatz zu Männern in vergleichbarer Lage seltener die Möglichkeit zur Verstellung, also zur Vortäuschung eines gesellschaftlich sanktionierten Lebenswandels, was am Beginn einer möglichen Reintegrationsentwicklung stehen konnte. Vor allem Mütter illegitimer Kinder konnten und wollten diese >Resultate ihres Fehlverhaltens< nicht verleugnen oder irgendwie ungeschehen oder unsichtbar machen. Die Fälle, in denen es dennoch versucht wurde,

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beziehen sich häufig auf Seßhafte, die also ihre soziale Position zu verlieren hatten, und zählen mit zu dem Erschütterndsten, was die Quellen bieten können: Kindesaussetzungen, Kindsmorde und ihre Bestrafung. 4 5 Die Vielzahl der Belastungen, die sich für vagierende Frauen besonders auswirkten, hatte auch Einfluß auf die Art und Weise, wie sie auf der Straße lebten. Frauen - mit gelegentlicher Ausnahme von alten Frauen - vagierten kaum einzeln, sondern in der Regel in Gruppen. Damit hatten sie zwar einen sozialen Rahmen, der ihnen auch gewissen Schutz bot. Andererseits erweckte eine größere Gruppe noch zusätzlichen Behördenargwohn, und die Suche nach Gelegenheitsarbeiten war noch schwieriger. U n d j e größer die Gruppe war, desto problematischer wurde es natürlich, alle Mitglieder durch Betteln zu ernähren. Daraus konnte sich wiederum die Notwendigkeit zur Eigentumskriminalität ergeben. War man einmal auf dieser Stufe des Absinkens angelangt, dann gab es keine Möglichkeit mehr, aus dem Teufelskreis herauszukommen.

3. Altersverteilung Die Frage nach der Altersverteilung unter den Vagierenden ist insbesondere von Bedeutung hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit bzw. der Möglichkeit, Arbeit zu finden, und den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Sie steht darum in Zusammenhang mit dem schon erörterten Aspekt der »wahren Armen« und anderer Personen, die aus physischen oder psychischen Gründen objektiv arbeitsunfähig waren. Ihnen stand die große Zahl der sogenannten »starken Bettler« gegenüber, denen Neigung zum Müßiggang, also pauschal ArbeitsunWilligkeit unterstellt wurde. 4 6 Altersangaben werden in den Quellen leider selten gemacht. Eine Ausnahme stellen erneut die Unterlagen über den Bettelschub dar. 4 7 Von den dort erfaßten 178 Personen waren nur fünf älter als 61 Jahre ( = 2,8%) und weitere sieben ( = 3,9%) zwischen 51 und 60Jahre alt. Besonders auffällig ist die erstaunlich hohe Zahl junger Menschen meist weiblichen Geschlechts zwischen 15 und 30 Jahren (114 = 64,0%). Unter ihnen überwiegen wiederum Berufsangaben wie »Kuchlmagd«, »Milchmensch« etc. Ihre große Zahl hängt also gewiß mit der Arbeitsmarktsituation der Großstadt Wien zusammen. 4 8 Diese aus den Schubunterlagen gewonnenen Resultate sind schwerlich ohne weiteres auf die Gegebenheiten Bayerns zu projizieren. Dennoch ist auffällig und in der Tendenz auch auf andere, ländliche Regionen übertragbar, daß der weitaus überwiegende Teil der Vagierenden - laut Schublisten 76,4% - jünger als 40 Jahre war. In den übrigen Quellen, die bisher bei Quantifizierungsversuchen herangezogen wurden, fehlen, wie gesagt, auswertbare Altersangaben. In den bayerischen Gerichtsrechnungen tauchen gelegentliche Angaben auf, wie 31

zum Beispiel »alter Tagwerkerssohn«, »alter abgedankter Soldat«, »alter lediger Bauernsohn«, »alt verdorbener Sibler« u. ä. 49 Dabei ist »alt« natürlich ein relativer Begriff; bei den Klassifizierungen steht recht eindeutig die reine Altersbezeichnung an zweiter Stelle in der Bedeutung hinter der Aussage über die Arbeitsfähigkeit. Das ist im Sinne der Fragestellung nur von Vorteil. Einen gewissen quantitativen Anhaltspunkt bietet die Gerichtsrechnung von Biburg aus den Jahren 1751 und 1752. 50 In diesen beiden Jahren wurden insgesamt 85 Bettler im Gerichtssprengel aufgegriffen, mit Karbatschstreichen bestraft und heimgeschickt. Unter ihnen waren 16 Personen, die in der oben bezeichneten Form als »alt« beschrieben wurden, also 18,8%. Auch dieser Wert ist sicher nicht auf ganz Bayern zu übertragen, da die Ausgangsgröße für eine Berechnung bei weitem zu gering ist. Immerhin gestattet er wieder einen ungefähren Einblick. In der Biburger Rechnung von 1750 werden keine Alten erwähnt und in den Rechnungen anderer Gerichte nur sporadisch. Das ist nun kaum darauf zurückzufuhren, daß andernorts oder zu anderer Zeit keine Alten oder Kranken vagierten, sondern auf eher zufällige Eigenheiten der Beamten, Gerichtsschreiber oder wer sonst für die Protokollführung zuständig war. Trotz aller Bedenken läßt sich vorsichtig der Schluß formulieren, daß Alte (im Sinne von zur Arbeit untauglich) unter den Vagierenden durchaus signifikant eine starke Minderheit ausmachten. Sicher waren sie in den bayerischen Landgerichten auffälliger und traten zahlreicher auf als in den Quoten des österreichischen Bettelschubs. Auf jeden Fall aber überwogen die Jüngeren, bei denen Arbeitsfähigkeit angenommen werden konnte, bei weitem.

4. Grad des Vagierens Für die Fragen der Subsistenzsicherung, der Möglichkeit und Bereitschaft zur Reintegration ist der Grad des Vagierens von zentraler Bedeutung. Ein Tagwerker, der arbeitsuchend durch die Dörfer seiner engeren Heimat zog, wanderte zunächst; fand er keine Arbeit, dann war er zunehmend auf Almosen angewiesen, erweckte den Argwohn der Behörden und mußte mit entsprechender Bestrafung rechnen. Hier war dann unter Umständen die Grenze zumindest zum zeitweiligen Vagieren überschritten. Er war dann allerdings noch nicht so eindeutig und endgültig in die Schicht der Vagierenden abgesunken wie ein ehemaliger Soldat, der in Begleitung von Frau und Kindern, die auf der Straße geboren worden waren, Almosen sammelnd oder auch fordernd halb Europa durchstreifte. Es ist also zu untersuchen, wie groß der Anteil der auf Dauer Vagierenden im Verhältnis zu den zeitweilig Vagierenden war. Einen Anhaltspunkt bieten Angaben über 32

zurückgelegte Entfernungen und darüber, ob es sich bei auffällig gewordenen Vagierenden um In- oder Ausländer handelte. Zu diesem Aspekt geben die Quellen relativ umfassende, aber leider nur mittelbar verwendbare Informationen. Das liegt an der durchweg geübten Praxis, Vagierende an ihre Heimatorte zurückzuweisen, die j a jeweils zur Versorgung ihrer Armen verpflichtet waren, auch wenn sie dieser Verpflichtung kaum in genügender Weise entsprechen konnten. Fast bei jedem aktenkundig gewordenen Vagierenden sind also der Herkunftsort und der O r t des Aufgreifens oder sonstwie Auffälligwerdens vermerkt. Bei eventuellen längeren Verhören kamen meist auch verschiedene Zwischenstationen zur Sprache. In Einzelfällen ist also der Wanderweg Vagierender auch über längere Zeiträume zu rekonstruieren. 5 1 Es werden hier wieder vor allem die bayerischen Amts- und Gerichtsrechnungen nach quantifizierbaren Angaben befragt, und einmal mehr ist daran zu erinnern, daß sie nicht als Grundlage für exakte statistische Erhebungen im strengen Sinne geeignet sind. 5 2 Die Tabelle III 5 3 ist darum grundsätzlich mit entsprechender Vorsicht zu lesen. Die Prozentrechnungen erwecken einen Eindruck mathematischer Exaktheit, der in diesem Fall zumindest übertrieben ist. Bedenklich ist auch wieder die relativ geringe zahlenmäßige Basis, auf der die Überlegungen aufbauen. Rückschlüsse auf die Schicht der Vagierenden insgesamt und auf die Effizienz der polizeilichen Maßnahmen sind allerdings möglich und können im übrigen - was entscheidend ist - auf andere Weise nicht gezogen werden. Andererseits lassen sie sich doch noch durch andere Quellenarten in der Tendenz bestätigen. Zusammengefaßt und dargestellt werden in der Tabelle III die Werte und Aussagen derjenigen Gerichtsrechnungen, die am ehesten auswertbar erschienen. Entscheidend für die Auswahl waren: relativ hohe Gesamtzahl der Aufgegriffenen und der Angaben über ihre Herkunftsorte; 5 4 regelmäßige Durchführung von Maßnahmen gegen Vagierende während des ganzen Jahres; geographische Lage im altbayerischen Raum, und zwar sowohl an den Grenzen wie auch im Innern des Landes. Die aufgeführten Gerichte aus dem Innern sind Dingolfing, Erding, Moosburg und Biburg ( = Gruppe A der Tabelle), die Grenzgerichte Marquardtstein und Vilshofen ( = Gruppe B ) ; 5 5 hinzu k o m m t noch als Sonderfall das Gericht T ö l z . 5 6 Man könnte einwenden, Berechnungen und Aufstellungen, welche mit zahlreichen Einschränkungen und Vorbehalten verknüpft sind, wie sie in den Erläuterungen zur Tabelle III 5 7 dargestellt werden, seien völlig untauglich für den Versuch einer näheren Klassifizierung und Differenzierung der Schicht der Vagierenden. Grundsätzlich soll die Aufstellung auch nur Hilfswerte bieten. Einige der erzielten Ergebnisse sind allerdings auch ganz eindeutig. Ausländer machten insgesamt eine starke Minderheit von 2 7 , 5 % unter den Aufgegriffenen aus; sie überwogen jedoch deutlich, mit 8 8 , 3 % in den Grenzgerichten. Ähnlich ist die Situation bei Vagierenden, die offensichtlich lange Strecken zurücklegten und folglich mit einiger Wahrschein-

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lichkeit permanent auf der Straße lebten. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Aufgegriffenen lag zwar sehr hoch, bei 42%; in den Grenzgerichten betrug er jedoch mehr als 70%. Die Tabelle ist außerdem hilfreich für eine weitere, zusätzliche Klärung des Bildes, v. a. wenn sie im Zusammenhang mit den unten näher erörterten berufsspezifischen Angaben aus denselben Amts- und Gerichtsrechnungen 58 und mit den Aussagen anderer Quellenarten gesehen werden. Aufschlußreich ist der Vergleich mit den Angaben über Berufe und soziale Herkunft der aufgegriffenen Vagierenden. 59 Am deutlichsten sind die Angaben von Biburg und Moosburg, den Gerichten also mit den meisten und detailliertesten Informationen. Hier beträgt der Anteil derjenigen, die eine besonders starke Affinität zur eindeutig vagierenden Lebensweise zeigten - also Abdecker, Soldaten, Gerichtsdiener, Hüter, Spielleute und Handwerker ohne gültige Attestate - jeweils mehr als 40% aller Aufgegriffenen. N i m m t man noch die spärlicheren Angaben für Vilshofen, Marquardtstein und Tölz hinzu, so ergeben sich immer noch mehr als 30%. Besonders aufschlußreich ist hier der Vergleich mit dem Wert für Vagierende aus dem >FernbereichNahbereichsFernbereichsüberregional< Vagierenden eher zu niedrig als zu hoch ausfallen mußte. Ich halte die Schlußfolgerung also für gerechtfertigt, daß etwa die Hälfte aller Vagierenden in Altbayern in der Mitte des 18. Jahrhunderts in einem Maße in die vagierende Unterschicht abgesunken war, daß eine Reintegration - sei es aus Gründen sozialer Ächtung oder fehlender persönlicher Neigung oder Fähigkeit - nahezu ausgeschlossen war. Vergegenwärtigt man sich die oben angestellten Überlegungen zum Gesamtumfang der vagierenden Unterschichten, erhält man einen Wert von ca. 4% bis 5% der Gesamtbevölkerung, die auf Dauer vagierten. Dabei war dieser Wert in Bayern sicher noch vergleichsweise niedrig. Wenn die einschlägigen Mandate auch nicht allzu strikt und nicht gleichförmig beachtet wurden, so boten sie doch die rechtliche Grundlage für eine restriktivere Politik den Vagierenden gegenüber. Die Resultate lassen sich aus den Tabellen ablesen. Die Zahl der Ausländer und der >FernbereichsFernbereichsAnhang< in Erscheinung. In Biburg waren 24,1% und in Moosburg 28,2% aller Aufgegriffenen mit näherer beruflicher oder sozialer Bezeichnung Soldaten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß mit der Spezifikation >Soldat< manch anderer Hinweis auf Herkunft oder Berufsausbildung verdeckt wurde. Der Abschied, die Entlassungsurkunde also, war ein markantes Dokument, gab seinem Inhaber bürokratische Identität, fiel dem zuständigen Beamten entsprechend auf und wurde zu Protokoll gegeben, ohne daß lange weitergefragt werden mußte. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß die Gruppe der Soldaten im Gegensatz zu anderen unter den Aufgegriffenen nahezu vollständig aufgeführt wurde. 6 3 Jedenfalls ist unzweifelhaft und auch einleuchtend, daß Soldaten immer relativ zahlreich unter den Vagierenden zu finden waren. Natürlich gab es Zeiten und Regionen, in denen Soldaten unter den Vagierenden nicht so deutlich in Erscheinung traten. So ist auffällig, daß sie in den Listen des österreichischen Schubs aus den 80er Jahren selten auftauchen. Das mochte zum großen Teil daher rühren, daß in der relativ friedlichen Phase nach den schlesischen Kriegen das soldatische Element schwächer wurde. N u n traten andere Spezifikationen, etwa Berufsbezeichnungen, die man vor oder nach der Militärzeit getragen hatte, in den Vordergrund. Beispielsweise wurde so ein bayerischer Deserteur, der zum Herbsthauptschub des Jahres 1792 gehörte, in der offiziellen Aufstellung als Friseur gefuhrt. Die Tatsache seiner Desertion wurde nur deswegen zusätzlich vermerkt, weil aus diesem Grund auf die Abschiebung nach Bayern verzichtet wurde. 6 4 Eine zweite Gruppe, die in den Aufstellungen besonders stark repräsentiert ist, sind die Abdecker. Hier fällt auf, daß sie in einigen Gebieten (Biburg, Marquardtstein) sehr zahlreich vertreten waren, in anderen dagegen überhaupt nicht (Moosburg, Vilshofen), ebensowenig in den Listen des österreichischen Bettelschubs. Unter Berücksichtigung der Aussagen anderer Quellen neige ich dazu, den Wert für Abdecker eher höher als zu niedrig anzusetzen. Aus Gründen, die noch darzulegen sind, tauchen sie derart oft im Zusammenhang mit Vagierenden auf, daß sie neben den Soldaten geradezu als die Vertreter der Schicht par excellence erscheinen. 65 Der Schluß liegt nahe, daß einzelne Gerichte schlichtweg die Selbstverständlichkeit von Abdeckern unter den Vagierenden nicht für erwähnenswert hielten. 6 6 Ähnliches, wenn auch in eingeschränktem Maße, dürfte auch für andere unehrliche Berufe wie zum Beispiel Hüter und Schergen gelten. Sie alle wurden durch die abwertende Klassifizierung als »unehrlich« in ein soziales Abseits gedrängt. 6 7 Das wurde von Seiten der Obrigkeit bereits recht frühzeitig als Ursache für die Entstehung sozialer Unruheherde erkannt. Es 36

gab folglich schon zu Anfang des 18. Jahrhunderts kaiserliche und landesherrliche Verordnungen, nach denen Unehrliche für ehrlich - das heißt insbesondere des Handwerks, der bürgerlichen Gewerbes und des Kriegsdienstes für fähig - erklärt wurden. Die praktische Durchführung dieser Verordnungen scheiterte jedoch immer wieder am Widerstand der ehrlichen Gewerbe. 6 8 In ihrer rechtlichen und sozialen Stellung ebenfalls eingeschränkt waren uneheliche Kinder 69 sowie die Angehörigen ausgesprochener Vagantenberufe - zum Beispiel Spielleute, Gaukler, Scherenschleifer - , die mit der Notwendigkeit zum Ortswechsel verbunden waren, sobald ein Ort keine Verdienstmöglichkeiten mehr bot. Überraschend ist die teilweise ungemein große Zahl der wegen Vagierens bestraften Handwerker. In Biburg waren fast ein Viertel und in Moosburg sogar nahezu die Hälfte aller Aufgegriffenen, über die Angaben zur sozialen Herkunft oder zum Beruf gemacht wurden, Handwerker. Ähnliches gilt auch und ganz besonders für die Aufstellungen nach dem österreichischen Bettelschub. 70 Auf die möglichen Gründe dafür wird noch ausführlich eingegangen. Hier sei lediglich das Stichwort von der »Krise des alten Handwerks« erwähnt 7 1 und die damit zusammenhängende Abschließungspolitik der Zünfte wie auch der Gesellenverbände. Überdies waren einige bedeutende Gewerbezweige - vor allem Tuch, Leinen und Metallwaren - an Großbetriebe, das heißt also an Manufakturen, verlorengegangen. 72 Bei den meisten vagierenden Handwerkern handelte es sich um Gesellen auf Wanderschaft, die schon über längere Zeit nicht mehr in regulärem Arbeitsverhältnis gestanden hatten und demnach über keine gültigen Papiere verfügten. Mit ihren alten Attestaten versuchten sie dennoch, sich auszuweisen, um so um die Karbatschstreiche herumzukommen. Deswegen dürfte ihre Gruppe - ähnlich wie die der Soldaten - annähernd vollzählig erfaßt sein. 73 Behandelt wurden sie wie gewöhnliche Vagierende, was durchaus den Gegebenheiten entsprechen konnte. Zu fragen ist jedoch, inwieweit sie bereits auf Dauer in die Schicht der Vagierenden abgesunken waren bzw. wie ausgeprägt ihre Möglichkeiten zur Reintegration in gesellschaftlich sanktionierte Lebens- und Arbeitsformen war. Unter diesem Aspekt sind gleichfalls die Tagwerker zu betrachten. In den Rechnungen des Gerichts Vilsbiburg sind sie sehr stark vertreten, in den anderen traten sie überhaupt nicht auf. Es dürfte aber kaum zu bezweifeln sein, daß ein Großteil der Vagierenden diesen bäuerlichen Unterschichten entstammte. 7 4 Es sei gewagt, die Aussagen der Tabelle II folgendermaßen zusammenzufassen und grob zu interpretieren: Unter den Vagierenden Anfang der 50er Jahre sind zwei relativ klar umrissene, umfangreiche Gruppen zu erkennen. Z u m einen die Soldatenund Abdeckersleute, zu denen noch eine Reihe Angehöriger weiterer unehrlicher bzw. spezifischer »Vaganten«-Berufe und >simple< Bettler 37

kamen - in dieser Gruppe sind wohl überwiegend die permanent Vagierenden zu finden; zum anderen eine insgesamt vergleichbar starke Gruppe von Personen, die zeitweilig, zum Teil auch auf Dauer aus bäuerlichen oder gewerblichen Unterschichten abgesunken waren. Hier mochte die Gelegenheit und Neigung zur Reintegration grundsätzlich stärker ausgeprägt sein; zugleich kam laufend Nachschub aus den seßhaften, aber ökonomisch anfälligen Unterschichten. Die Fluktuation war also gerade hier relativ groß. Die nicht eigens spezifizierten Personen in den Aufstellungen dürften sich ebenfalls auf diese beiden Hauptgruppen verteilen. Vermutlich schien es den abbuchenden Beamten unnötig, in jedem Fall detailliert aufzufuhren, wenn unter den Aufgegriffenen tatsächlich »Vagantengesindel« oder arbeitslose bzw. arbeitsuchende Tagwerker waren. Es war - wie schon angedeutet und wie noch weiter ausgeführt werden wird - selbstverständlich und machte, was Behandlung und Bestrafung anging, in der Regel auch keinen Unterschied. Die bisher vorgestellten Informationen ermöglichen, ein Bild der vagierenden Unterschichten zu zeichnen, das etwas detaillierter ist und über das grundlegende und nach wie vor zentrale Moment der vagierenden Lebensweise hinaus Einzelheiten erkennen läßt. Eine klare Grenze zu den seßhaften Unterschichten zu ziehen, bleibt nach wie vor schwierig. Man kann jedoch davon ausgehen, daß Mitte des 18. Jahrhunderts in Bayern etwa 8% der Gesamtbevölkerung weitgehend auf der Straße lebten, deswegen von der Obrigkeit kriminalisiert wurden, und daß ihr Anteil zum Ende des Jahrhunderts auf ca. 10% anstieg. In den kleinen Staaten des fränkischen und schwäbischen Kreises lagen die entsprechenden Werte um vielleicht 2% bis 3% höher. Schwankungen nach oben oder unten sind als sicher anzunehmen, können jedoch nicht nachgewiesen werden, ebensowenig eventuelle Verschiebungen oder abweichende Gewichtungen in der sozialen Zusammensetzung der vagierenden Bevölkerung. Im Gefolge von Kriegen und Krisen kam es sicherlich zu einem etwas stärkeren Anstieg der vagierenden Bevölkerung, wenn auch dieses Moment nicht zu hoch eingeschätzt werden darf. Mit größerer Wahrscheinlichkeit kann man von saisonalen Schwankungen ausgehen, wenn beispielsweise außerhalb der Arbeitsspitzen in der Landwirtschaft die Arbeitsplätze rar waren. Diese These wird durch zahlreiche Aussagen, die Wandernde und Vagierende im Verhör machten, bestätigt. 75 Damit ist wiederum das Moment der Fluktuation angesprochen. Etwa die Hälfte der Vagierenden war auf Dauer abgesunken; im Bereich der zweiten Hälfte spielte sich der Wechsel zwischen Absinken und Reintegration ab. Dieser Wechsel bedingt, daß gerade hier die Grenze zu den Seßhaften unscharf bleiben muß. Er legt jedoch auch den Schluß nahe, daß im Blick auf den gesamten Bearbeitungszeitraum ein weitaus größerer Teil der Bevölkerung als die erwähnten 8% bis 10% oder auch bis zu 13% mit der 38

vagierenden Lebensweise eigene konkrete Erfahrungen gemacht oder mit der Möglichkeit dazu gerechnet hatten bzw. hatten rechnen müssen. Damit erhöhte sich die Zahl derjenigen beträchtlich, die sich der Kontrolle des Staates entzogen oder doch entziehen konnten und gegebenenfalls wollten, was wiederum entsprechende politische und administrative Reaktionen verlangte. Diese grobe Skizze der vagierenden Unterschichten ist natürlich keinesfalls als starrer Maßstab zu sehen. Die gesamte Bevölkerungsgruppe war eben kein fester, scharf umrissener Körper mit eindeutigen Trennlinien nach außen oder im Innern. U m dieses Moment der Vielschichtigkeit deutlicher werden zu lassen, soll nun der Standpunkt des Beobachters verändert werden. Es genügt nicht mehr der bisherige Blick von außen, sondern man hat sich dem Untersuchungsgegenstand weiter zu nähern. Das Moment der disparaten sozialen Zusammensetzung kommt erneut zur Sprache, wenn im folgenden der Versuch gemacht wird, verschiedene Phasen des sozialen Abstiegs zu beschreiben.

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IV. Seßhaftes Leben - Wandern - Vagieren

1. Rechtliche und ökonomische Momente im Grenzbereich zwischen seßhafter und vagierender Lebensweise Die Menschen, von denen hier die Rede ist, stehen im Spannungsfeld zwischen den seßhaften, wandernden und vagierenden Lebensformen; die Ubergänge von einer Stufe zur anderen können nicht eindeutig fixiert werden. Es sei hier dennoch der Versuch unternommen, das Bild etwas detaillierter auszuführen, und zwar unter dem Aspekt der Subsistenzmöglichkeit der betreffenden bzw. betroffenen Personen, zunächst jedoch unter dem der Strafverfolgung. Konkret gefragt: bis zu welchem Punkt war ein Unterschichtangehöriger in der Lage, sich und gegebenenfalls seine Familie legal zu ernähren? Gelang ihm das durch Lohnarbeit, oder war er auch auf Almosen angewiesen, also auf das gewissermaßen legalisierte Betteln? Konnte er seine Arbeit an seinem festen Wohnsitz ausüben? Oder mußte er auf der Suche nach Beschäftigung oder Absatzmärkten für eigene Kleinprodukte oder Dienstleistungen den Heimatort verlassen? Und von welchem Moment an begann er, gegen rechtliche Normen zu verstoßen? Selbstverständlich waren Raub und Diebstahl kriminelle Delikte und konnten bestraft werden. Die Grenze verlief jedoch schon früher. Das Wandern von Ort zu Ort konnte wirtschaftlich sinnvoll sein - für den Wandernden selbst wie auch für die Volkswirtschaft insgesamt - , aber dennoch unter Strafe stehen. Und das Bitten um Almosen, etwa das Fechten eines Handwerksgesellen, mochte durchaus gesellschaftlichen Normen entsprechen, galt aber häufig trotzdem als Delikt, wenn nämlich keine ausdrückliche obrigkeitliche Erlaubnis dazu vorlag. Es ist nicht leicht, die aufgeführten Fragen eindeutig zu beantworten, und zwar aus verschiedenen Gründen. Z u m einen waren die Unterschiede im Bearbeitungsraum beträchtlich. Das Kurfürstentum Bayern war als relativ straff strukturierter Flächenstaat m i t - b e i aller Rückständigkeit-vergleichsweise effizienter Verwaltung und Wirtschaftsorganisation viel eher in der Lage und geneigt, rechtliche Normen zu formulieren und durchzusetzen als die Kleinstaaten Schwabens und Frankens. Aber auch das ist nur ein grobes Unterscheidungskriterium. Vorschriften und Erlässe wurden auch innerhalb Bayerns von Ort zu O r t unterschiedlich interpretiert und befolgt. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts konnten eventuelle Entwicklungen in verschiedenen Regionen unterschiedliche Richtungen einschlagen; schon ein Wechsel im Amt des Richters oder auch nur des Gerichtsdieners wirkte sich 40

beträchtlich aus. Selbst M a ß n a h m e n der Regierungen waren nicht i m m e r stringent; ihre Ergebnisse konnten objektiv im Widerspruch zur ursprünglich erklärten Intention der inneren Staatsbildung stehen. 1 Auf diese Probleme soll hier jedoch, wie eingangs unterstrichen, nicht näher eingegangen werden. Grundsätzlich läßt sich aus dem herangezogenen Quellenmaterial schließen, daß mobile Lebensweise nur mit obrigkeitlicher Legitimation gestattet war, die jeweils mit Zahlung einer Gebühr verbunden war und damit eine teilweise nicht unerhebliche Besteuerung bedeutete, und die nur begrenzte Gültigkeit hatte. Als solche Legitimation galten insbesondere: - D e r Paß, der v o m Heimatort oder -gericht ausgestellt w u r d e und in der Regel eine doppelte Funktion erfüllte. Z u m einen war er Beleg dafür, daß sein Träger tatsächlich an diesem O r t ansässig war, z u m anderen gab er häufig den G r u n d der Reise und auch die Reiseroute an. Zumindest was diese zweite Funktion anging, war die Geltungsdauer begrenzt. - D e r »Abschied«, das heißt die Arbeitsbestätigung der letzten Arbeitsstelle, der als Paß für die Zeit der Suche nach einer neuen galt und meistens nur eine Laufzeit v o n vier Wochen hatte. - Das »Handlungspatent«, das heißt eine Lizenz, als ambulanter Händler Waren anzubieten und zu verkaufen. Sie war meist nur für die voraussichtliche Dauer der A n - und Abreise gültig und häufig auch an die Einhaltung einer vorgeschriebenen Reiseroute gebunden. - D e r »Abschied« der Soldaten fällt in dieser Aufzählung aus dem Rahmen. Er dokumentierte nämlich strenggenommen nur den Status des Trägers bis z u m Zeitpunkt der Entlassung aus d e m Militärdienst, sagte aber nichts über die Zeit danach aus. Er konnte von Behörden als Legitimation für die Reise und auf d e m Weg v o m Entlassungs- z u m ursprünglichen Heimatort akzeptiert werden, vorzugsweise natürlich nur innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Entlassung. N e b e n den hier aufgezählten Legitimationen w u r d e jedes von einer Obrigkeit ausgestellte Papier als Hinweis für die Respektabilität des Trägers vorgelegt u n d teilweise auch anerkannt. Besonders zu nennen sind hier noch Empfehlungen und Erlaubnisschreiben für das Sammeln von Almosen 2 und vor allem die »Copulationsscheine«, also Heiratsurkunden. 3 N u r erwähnt sei in diesem Z u s a m m e n h a n g , daß alle derartigen Papiere relativ leicht zu fälschen waren.4 Bei den Behörden ist allgemein die Tendenz zu erkennen, die Vergabe von Reisepapieren restriktiv zu handhaben. Insbesondere Handlungspatente w u r d e n in Bayern gegen Ende des 18. Jahrhunderts sehr zurückhaltend vergeben und auf den Bereich einiger weniger Jahrmärkte beschränkt. 5 Das Hausieren, auch auf der H i n - und Rückreise, war gänzlich verboten, 6 ebenso natürlich das Betteln. Gelegentliche Klagen über freizügige Vergabe von Pässen durch einzelne Ä m t e r deuten ebenfalls auf die beabsichtigte schärfere Befolgung der Kontrollmaßnahmen gegenüber mobilen Bevölkerungstei-

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len allgemein hin. 7 U n t e r diesen Bedingungen waren natürlich selbst Wandernde mit gültigen Papieren, Menschen, die sich überhaupt nichts hatten zuschulden k o m m e n lassen, vor peinlichen, f u r ihren Ruf unter U m s t ä n d e n verhängnisvollen Nachforschungen nicht sicher. Sie konnten dadurch auf ihren Wanderungen, die zur Sicherung des Lebensunterhalts n o t w e n d i g waren, empfindlich behindert werden. Simon Brand8 z u m Beispiel war ein Tagwerker aus Arnoldsreuth im Bayreuthischen, der einen großen Ausschnitt aus d e m Spektrum möglicher Produktionsarbeiten und Dienstleistungen beherrschte und gerade wegen dieser Vielseitigkeit gute Chancen hatte, auch über die besonders kargen Wintermonate zu k o m m e n . Er ernährte sich mit Stricken und Korbflechten, vor allem aber mit Hüterdiensten an verschiedenen Orten. Als er auf d e m Weg nach N ü r n b e r g , w o er verschiedene, für seine Arbeit benötigte Waren einkaufen wollte, bei einem verwandten Hüter in der »Hirschen Hütte« nahe Ziegelstein übernachtete, genügte das, u m obrigkeitlichen A r g w o h n zu wecken. Die Behörden waren zu d e m Zeitpunkt besonders sensibel, weil sich kurz zuvor in der Gegend ein spektakulärer Überfall ereignet hatte. Die wahren Täter hatten sich offenbar tatsächlich länger bei Ziegelstein aufgehalten, konnten aber nicht gefaßt werden. O b es sich bei der Festnahme Brands nun u m eine außergewöhnliche Kompensationsaktion handelte oder nicht - er konnte als vorsichtiger M a n n ein ganzes Bündel einwandfreier Papiere vorweisen, rechnete also offenbar mit derartigen Zwischenfällen. N e b e n Arbeitsattestaten von seinen letzten Dienstorten konnte er auch ein D o k u m e n t vorlegen, demzufolge er tatsächlich in Arnoldsreuth ansässig war. Es gelang ihm, das N ü r n b e r g e r Schöffenamt von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen, und so w u r d e er nach einem T a g wieder entlassen. Da auch ihm Schwierigkeiten nicht erspart geblieben waren, läßt sich vorstellen, wie Personen, die über keinerlei - gültige! - Papiere verfugten, von den Sicherheitsbehörden von vornherein als »müßiges Gesindel« eingeschätzt wurden, sobald sie wandernd aufgegriffen wurden. Sie verübten das Delikt des dienstlosen Umherziehens über längere Zeiträume hinweg, vagierten also, und konnten deswegen bestraft werden. Verschärft w u r d e der V o r w u r f noch durch den U m s t a n d , daß das Betteln häufig als zusätzlicher Verstoß auftrat. Allerdings scheint das Vagieren, mit d e m ein Mensch sich weitgehend allen Kontroll- und Disziplinierungsabsichten entziehen konnte, der zentrale V o r w u r f gewesen zu sein; das Betteln w u r d e in erster Linie verfolgt, weil es eine der wichtigsten Subsistenzmöglichkeiten für Vagierende darstellte. 9 Sicherlich war man i m gesamten Bearbeitungszeitraum noch weit davon entfernt, derartige Rechtsgrundsätze einheitlich u n d den Buchstaben der Mandate entsprechend durchzuführen. Immerhin, die Möglichkeit dazu war gegeben. In der Praxis konnte das zu einem Konflikt fuhren zwischen einerseits mobiler Lebensweise, die traditionellen sozialen N o r m e n folgte

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und zugleich wirtschaftlich sinnvoll war, und andererseits sicherheitspolizeilichen M a ß n a h m e n . Das heißt, auch in Bayern, w o keine ausgesprochenen Wanderarbeiterströme auftraten, war die Mobilität z u m Beispiel von Gesellen oder von Kleinhändlern und Erntearbeitern wirtschaftlich sinnvoll und w u r d e in der Bevölkerung auch durchaus nicht negativ bewertet. Sie widersprach jedoch den Kontrollintentionen des Staates, w u r d e an zahlreiche formale und administrative Bedingungen geknüpft und, da diese nicht i m m e r hinreichend beachtet w u r d e n bzw. beachtet werden konnten, kriminalisiert. Die Strafen, die auf d e m Delikt des Vagierens standen, boten den Behörden die Möglichkeit zu drakonischer Härte. A m Anfang standen meist »constitutionsmäßige Karbatschstreiche«, also eine Prügelstrafe, die sich an der körperlichen Verfassung der Delinquenten orientierte - und nicht etwa an der Schwere des Vergehens. 1 0 Die nächste Stufe im vorgesehenen Strafkatalog war die Brandmarkung nach einer zweiten Festnahme; nach einer dritten konnte der damit als >incorrigibel< ausgewiesene Vagierende hingerichtet w e r d e n . 1 1 Die Todesstrafe wegen bloßen Vagierens w u r d e i m 18. Jahrhundert allerdings k a u m einmal ausgesprochen. In der Regel m u ß t e noch ein kriminelles Delikt - Raub oder Diebstahl - h i n z u k o m m e n . 1 2 Vor allem im späteren 18. Jahrhundert verhängte m a n in solchen Fällen bevorzugt längere Zucht- u n d Arbeitshausstrafen.13 Allen diesen Strafen, seien es nun Prügel, B r a n d m a r k u n g oder Freiheitsstrafen, war gemeinsam, daß sie für den Delinquenten gegebenenfalls einen zusätzlichen Stoß in Richtung auf die permanent vagierende Lebensweise bedeuten bzw. die Rückgliederung in ein seßhaftes oder doch den N o r m e n entsprechendes wanderndes Leben erschweren konnten. Arbeitshaus oder Freiheitsstrafen rissen ihn vollends aus seinem gewohnten Lebensrhythmus und waren überdies eine beträchtliche soziale Belastung. Gesellen verloren dadurch z u m Beispiel ihren berufsständischen Schutz durch Z u n f t und Gesellenverbände. Eine ähnliche Wirkung hatte die Prügelstrafe und in noch stärkerem Maße die B r a n d m a r k u n g . Karbatschstreiche konnten längere Krankheit bewirken; die N a r b e n waren zwar auf dem Rücken normalerweise unter der Kleidung verborgen, waren aber noch nach Jahren zu erkennen u n d wirkten bei einer möglichen späteren Kollision mit den Behörden strafverschärfend. 1 4 Die Identifikation als einschlägig Vorbestrafter w a r auch der erklärte Sinn der B r a n d m a r k u n g . Allerdings war man dazu übergegangen, die Marke nicht mehr - wie ursprünglich praktiziert - auf der Stirn aufzubringen, sondern an weniger exponierter Stelle, z u m Beispiel auf der Innenfläche der Hand, auf d e m A r m oder häufig auf dem Rücken. 1 5 Ü b e r die psychischen Folgen solcher entehrender Strafen kann nur spekuliert werden, zumindest als zusätzliches M o m e n t dürften sie ins Gewicht fallen. Die obrigkeitlichen Legitimationen zur mobilen Lebensweise waren, wie gesagt, in erster Linie an die Voraussetzung der Suche nach Arbeit bzw. nach Absatzmöglichkeiten geknüpft. Der Aspekt Arbeit scheint damit gut geeig-

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net, die Lage der Menschen im Grenzbereich zwischen seßhaften und vagierenden Unterschichten genauer darzustellen. Und zwar ist er in zweifacher Hinsicht von Relevanz: zum einen konnte eine im weitesten Sinne nicht befriedigende Arbeitssituation mittelbar oder unmittelbar zur Dienst- und Arbeitslosigkeit fuhren und damit den ersten Schritt zum Absinken bedeuten oder doch das Absinken beschleunigen; zum anderen ist zu fragen, inwieweit für den Vagierenden die Möglichkeit bestand, sich wenigstens teilweise von seiner Arbeit zu ernähren, bzw. ob er sein Einkommen aus Arbeit soweit steigern konnte und auch tatsächlich wollte, daß damit eine Entwicklung hin zur Reintegration eingeleitet wurde. Zu berücksichtigen ist zunächst, daß in der traditionellen Wirtschaftsgesinnung der alten Ständegesellschaft die Arbeitsamkeit schlechthin noch nicht als Tugend galt, 16 wenn auch der Staat manches tat, um sie als solche zu etablieren. Hier setzten die merkantilistischen Zwangs- und Lenkungsmaßnahmen ein, mit denen auch in Bayern 17 frühkapitalistischen Großbetrieben (Verlag, Manufaktur) die entsprechenden Arbeitskräfte zugeführt werden sollten. Der Staat selbst war es meist, der unmittelbar »opera publica« initiierte und durchführte, zum Beispiel Straßenbau oder Entwässerungsprojekte. Nicht selten wurden jedoch Institutionen wie Waisen-, Armen-, Zucht- und Arbeitshäuser privaten Unternehmern überlassen, 18 die auf eigene Rechnung wirtschafteten. Dennoch zeigten sich in dieser Praxis nicht nur die augenfälligen »ausbeuterischen« Tendenzen. Vielmehr ist hier ein moralisches, erzieherisches Moment unübersehbar; im Stich wort »Arbeitserziehung« lag die Propagierung eines »höheren Zwecks« der Arbeit. 1 9 Einschränkend sei angemerkt, daß die zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel nicht hinreichten und daß die Maßnahmen insgesamt - wenn überhaupt - zu spät griffen, das heißt in der Praxis allenfalls die Symptome überhandnehmenden Betteins und Vagierens bekämpfen konnten und dabei häufig noch das Moment der Kriminalität verstärkten. 20 Das bedeutet auch, daß die vagierenden Unterschichten insgesamt zunächst nicht allzu stark von den obrigkeitlichen Disziplinierungsanstrengungen tangiert wurden. Zucht- und Arbeitshäuser wurden zwar in größerer Zahl eingerichtet, Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen intensiviert etc., und dadurch griff man durchaus empfindlich in die Lebensrealität von Einzelpersonen ein. Tatsächliche Änderungen für die Schicht der Vagierenden insgesamt traten jedoch erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ein. 2 1 Die Tendenz war aber schon Mitte des 18. Jahrhunderts zu erkennen. In der zeitgenössischen Diskussion des Problems neigte man zu der traditionellen Auffassung, die das Vagieren als Folge der Faulheit und Neigung zum Müßiggang bei Angehörigen von Unterschichten allgemein verstand. Aus dieser Einschätzung folgte die erwähnte strikte Unterscheidung zwischen dem »starken Bettler« einerseits, der im Gegensatz zum »wahren Armen« andererseits imstande sein mußte, Arbeit auszuüben und sich damit zu ernähren. Daraus ergaben sich weitere grobe Unterschei44

dungskriterien. Da anerkannte »wahre Arme« Almosen von und in ihren Heimatgemeinden erhielten, blieben sie in der Regel am Ort. Das konnte dazu fuhren, daß Einheimische von den Justizbehörden nachsichtiger behandelt wurden, während man Fremde bereitwillig pauschal unter die Rubrik »starke Bettler« einordnete. 2 2 Maßgebend war fast ausschließlich die physische Leistungsfähigkeit. Die Frage nach möglicherweise fehlenden Arbeitsplätzen wurde selten, die nach kaum erträglichen Arbeitsbedingungen ohne nennenswerten sozialen Anreiz so gut wie überhaupt nicht gestellt. Noch weniger war man bereit, die »fehlende Bereitschaft und innere Möglichkeit, alte Lebensgewohnheiten aufzugeben«, das heißt sich einem neuen, planmäßigen System rationeller Verwertung von Arbeitskraft und -ertrag unterzuordnen, zu akzeptieren. 23 Es waren aber nicht nur die sich wandelnden Bedingungen der Arbeit in den frühkapitalistischen Großbetrieben, die allmählich begannen, die Lage auf dem Arbeitsmarkt zu bestimmen. Das Moment der Arbeitserziehung färbte auch auf die traditionellen Bereiche der Landwirtschaft und des Handwerks ab und verschärfte womöglich überhaupt den Druck auf diejenigen, die ausschließlich auf Lohnarbeit angewiesen waren.

2. Gesinde und Tagwerker Verdeutlicht und vertieft werden soll die vielschichtige Problematik zunächst am Beispiel der ländlichen Dienstboten oder des ländlichen Gesindes und der ihnen benachbarten Berufsgruppen. 2 4 Aus diesem sozialen Bereich stammte ein Großteil der Vagierenden. 2 5 Überdies lassen sich die hier auffälligen Momente der wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Beschränkung grundsätzlich auch auf unterbürgerliche Gruppen übertragen. Mit ländlichen Dienstboten sind zunächst die Personen gemeint, die frei, auf der Basis eines Dienstvertrages, für längere Zeit - in der Regel auf ein Jahr - auf einem landwirtschaftlichen Anwesen ihre Arbeitskraft gegen Bezahlung zur Verfügung stellten und während der Dauer des Arbeitsverhältnisses in Hausgemeinschaft mit dem Dienstherrn lebten. 2 6 Mit den benachbarten Berufsgruppen ist die breite Schicht der Tagwerkersleute gemeint, ein Begriff, auf den noch näher einzugehen ist. Lebens- und Arbeitsbedingungen des Gesindes waren geprägt durch die obrigkeitlichen Ehehaltenordnungen und durch die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Im 18. Jahrhundert wirkten diese beiden Einflüsse, grob gesprochen, entgegengesetzt. Die Obrigkeit nahm an sich eindeutig für den Dienstherrn Partei, den man - er war der wichtigste Steuerzahler - in die Lage versetzen wollte, gut und preiswert zu produzieren. Ihm wurde beispielsweise ein weitgehendes Zwangs- und Züchtigungsrecht zugestanden, zugleich wurden niedrige Lohntarife festgesetzt etc. Das verdeutlicht 45

die ökonomisch, sozial und rechtlich grundsätzlich eingeengte Situation der Dienstboten. Dem stehen die häufigen Klagen der Dienstherren über Unbotmäßigkeit des Gesindes gegenüber, über Forderungen nach mehr Lohn oder nach Vergünstigungen im Dienst. Das läßt darauf schließen, daß die Ehehaltenordnungen ihren Zweck nur teilweise erfüllten, weil ein eklatanter Mangel an Gesinde dessen prinzipiell eingeschränkte Stellung faktisch aufwertete. 27 Dieser Arbeitskräftemangel erklärt sich zum einen aus dem Umstand, daß die Bevölkerung im Bearbeitungszeitraum und Bearbeitungsgebiet überhaupt nicht oder nur sehr langsam anstieg. Nur 12% der Bevölkerung Bayerns gehörten dem Gesindestand an. 2 8 Zum anderen handelte es sich beim Gesinde nicht eigentlich um eine klar faßbare soziale Schicht, sondern eher um eine Altersgruppe. »Der Gesindedienst war Durchgangsstufe auf dem Weg zu einer anderen Lebens- und Arbeitsform.« 29 Das bestätigt der Blick auf die Altersstruktur. In der Oberpfalz und in Niederbayern waren 73% der Dienstboten jünger als 20 Jahre und nur 4% älter als 31 Jahre; 3 0 in anderen Teilen des Landes war das sicher nicht grundsätzlich anders. 31 Auf Dauer bot der Gesindedienst in der Tat wenig Anreiz. Zwar war man während der Dienstzeit als Angehöriger des Dienstherrenhaushalts in relativ gesicherter, allerdings auch sozial eingeschränkter Lage, doch blieb das Einkommen ausgesprochen bescheiden und reichte allenfalls für den Augenblick. 3 2 Im Krankheitsfall oder in plötzlich eintretenden, akuten Notzeiten mußten Bedienstete mit der sofortigen Entlassung rechnen; das machte ihre Existenz unsicher. 33 Darüber hinaus war im Gesindestand eine Eheschließung in der Regel ausgeschlossen. Die »selektive Bevölkerungspolitik« versuchte, Ehen zwischen Nichtbesitzenden zu verhindern, um dadurch die »Nahrungslosigkeit« dieser Menschen zu vermeiden. 34 Dieses Prinzip wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts zwar zunehmend brüchig, wie zum Beispiel Eheschließungen Vagierender beweisen, 35 für Bedienstete, die fest in Haushalt und Gemeinde des Arbeitgebers integriert waren, hatte es jedoch nach wie vor Bedeutung. Sozial aufsteigen konnte das Gesinde nur durch Übertritt in die Schicht der Inleute und Tagelöhner. Als solche waren sie von Weisungs- und Züchtigungsbefugnissen eines Dienstherren frei und hatten die Möglichkeit, eine obrigkeitliche Heiratserlaubnis zu erlangen. Der Wunsch zu heiraten war es denn auch häufig, der den Zeitpunkt des Statuswechsels bestimmte. Sozial war der Wechsel in die Tagwerkerschicht gewiß ein Aufstieg, ökonomisch nicht unbedingt. Häufig waren Bedienstete natürlich Kinder von Häuslern oder Söldnern und übernahmen nach dem Tod des Vaters die Stelle. Problematisch war die Situation für nichterbende Kinder oder für die zahlreichen Bediensteten, die aus anderen unterständischen Familien stammten. Die meisten dieser Personen konnten den Übertritt in die Tagwerkerschicht nur vollziehen, indem sie sich irgendwo »in die Herberg« begaben, das heißt als Inleute zur Miete wohnten und sich mit Taglohn- und 46

Nebenerwerbsarbeiten zu ernähren suchten. Hier konnte sich der beabsichtigte soziale Aufstieg durch wirtschaftliche Probleme z u m Abstieg in die Schicht der Vagierenden verkehren. Denn sich im Taglohn zu ernähren, verlangte Vielseitigkeit und die Bereitschaft, jederzeit alle nur denkbaren Arbeiten auszufuhren, und brachte dennoch kein regelmäßiges, festes u n d ausreichendes E i n k o m m e n . Teilweise scheiterte man schon auf der Suche nach einer geeigneten U n t e r k u n f t . So geschah es nicht eben selten, daß der Bauernknecht oder die Magd, die mit fortschreitendem Alter nicht mehr im Gesindestand verbleiben wollten, auf der Suche nach W o h n u n g und Arbeit den Heimatort verließen und damit - w e n n die Suche nicht bald Erfolg hatte - den ersten Schritt z u m Vagieren vollzogen hatten. Bei Frauen kamen noch zusätzliche Belastungen hinzu, die vor allem geschlechtsspezifisch bedingt waren. D a v o n war bereits die Rede. U n t e r diesen U m s t ä n d e n war es dann häufig nur mehr ein kleiner Schritt hin zur Kriminalität - meist zunächst Eigentumskriminalität mit Bagatellcharakter - , zu der auch einige der eher spärlichen Möglichkeiten zur Gelegenheitsarbeit herausforderten: Dienste als Magd, als Kellnerin oder Botengänge. Z w e i Jahre aus d e m Leben der Elisabeth Forsterin sind recht aufschlußreich. 3 6 Gebürtig war sie von Hirschau in der Oberpfalz; sie war ledig, hatte aber drei uneheliche Kinder. Sie hatte lange Zeit als Bedienstete gearbeitet, ging dann aber zu Gelegenheitsarbeiten über. 1790 w u r d e sie in Ingolstadt wegen Betrugs festgenommen. V o n dort aus n a h m man mit den Oberpfälzer Behörden Kontakt auf, u m ihre Angaben zu überprüfen. Es ergab sich, daß sie eindreiviertel Jahre zuvor auf einem Botengang einen Betrag von 1 Gulden 24 Kreuzern unterschlagen hatte, deswegen v o m Jägerkorps einem Vorläufer der späteren Gendarmerie - festgenommen u n d in N e u markt inhaftiert w o r d e n war. Nach neunwöchigem Arrest w u r d e sie wegen der Unterschlagung und wegen ihrer unehelichen Kinder auf ein Jahr ins Arbeitshaus nach A m b e r g verurteilt. Nach der Entlassung arbeitete sie zeitweilig in Weiden und i m nahegelegenen Kohlberg. Das letzte halbe Jahr vor ihrer erneuten Festnahme hielt sie sich meist in H e m a u bei Ingolstadt auf u n d ernährte sich nach ihren Angaben mit Spinnen und Botengängen, was wegen der bescheidenen Verdienstmöglichkeiten zumindest zeitweiliges Betteln n o t w e n d i g machte. Zwischendurch diente sie während der Faschingszeit in Ingolstadt als Kellnerin, k a m dann auch für einige Zeit bei einem Verwandten unter. Ein Blick auf die Karte zeigt, welche beträchtlichen Entfernungen die Frau zurückgelegt hat, vermutlich in Begleitung von mindestens zwei ihrer drei Kinder. Es ist sicher, daß sie auch während der Phasen der Dienstlosigkeit von Almosen leben mußte. Dabei hatte sie noch das Glück, wenigstens zeitweilig von Freunden und Verwandten a u f g e n o m m e n zu werden und gelegentlich durch deren Vermittlung Arbeit zu erhalten. Ü b e r einen solchen relativ breit gefächerten Rückhalt verfugte Eva Maria

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Weiningerin nicht, die in W e r n b e r g / O p f . als Diebin festgenommen wurde. Der Prozeß gegen sie w u r d e in A m b e r g gefuhrt. Sie hatte als Dienstmagd u n d Kellnerin beim Wernberger Gerichtsschreiber und Bierwirt gearbeitet und hatte nach Anklage ihres Dienstherrn vor allem durch Unterschlagungen aus der Bierkasse einen Schaden von ca. 50 Gulden angerichtet. 3 7 Die Einzelheiten über die Anklage und über Verfolgung und Festnahme der Flüchtigen sollen wieder weniger interessieren als die biographischen Angaben. Sie w a r eine 22jährige Tagwerkerstochter aus der Gegend von Regensburg, verheiratet mit Peter Schönberger, einem Deserteur eines dänischen Infanterieregiments. Ihre Ehe war in Kopenhagen vor einem lutherischen Geistlichen geschlossen worden. Im Juni 1756, also während der U n t e r s u chungshaft, w a r die Frau i m fünften M o n a t schwanger. Aus den Gerichtsunterlagen geht nicht hervor, daß sie zu ihren Eltern oder anderen V e r w a n d ten noch näheren Kontakt hatte. Sie gab an, sie hätte neun Jahre in Regensburg gearbeitet, dann zwei in Ingolstadt, w o sie auch ihren späteren M a n n kennengelernt hatte, und schließlich ein Jahr in Wernberg. Wie gesagt: sie war nun 22 Jahre alt, hatte also mit zehn Jahren begonnen zu dienen. Ihren M a n n hatte sie längere Zeit nicht gesehen, bis er nach seiner Desertion nach Wernberg k a m und wieder zu ihr stieß. Sie verließ auf sein Verlangen hin, offenbar ohne Einverständnis des Arbeitgebers, ihren Dienst, u n d daraus ergab sich dann der Diebstahlsvorwurf. Die Frau s t a m m t e eindeutig aus einer Unterschichtfamilie. D e n größten Teil ihres Lebens hatte sie in festen Diensten gestanden, wenn sie auch sicher zeitweilig umhergezogen war und gebettelt hatte - beispielsweise auf der Reise nach Kopenhagen. Möglicherweise hatte sie die Absicht gehabt, nun gemeinsam mit ihrem M a n n irgendwo ein »Häusel« zu mieten oder eine Inleute-Wohnung zu beziehen, u m sich mit Taglohnarbeiten zu ernähren. In diesem B e m ü h e n war sie gescheitert. Sie w u r d e wegen des Diebstahls mit der Ausweisung und Ablegen der U r f e h d e bestraft. Auf die in solchen Fällen mindestens übliche Prügelstrafe w u r d e wegen ihrer Schwangerschaft verzichtet. D a m i t erschöpft sich aber auch die Rücksichtnahme des Urteils. M a n hat sich zu vergegenwärtigen, daß ihr Kind im Spätherbst auf der Straße geboren werden mußte. Der Gesundheitszustand der Frau war schon während der Untersuchung nicht gut. Sie gab an, das Essen in der H a f t sei zwar ausreichend, »nur allein brauche sie das Aderlassen, indeme sie beständig durch die Nase bludet und die ganze Nacht nicht schlaffen kann«. 3 8 Vagierende Lebensweise, die Ehe mit einem Deserteur, ein auf der Straße geborenes Kind, ein angegriffener Gesundheitszustand und keine Bindungen an Familie oder Heimatort - unter solchen Voraussetzungen m u ß t e n eventuelle Reintegrationsbemühungen nahezu aussichtslos erscheinen. Was blieb, w a r die H o f f n u n g , sich bettelnd durchbringen zu können und vielleicht hier und da einmal, etwa in der Erntezeit, Gelegenheitsarbeiten zu b e k o m m e n . Die Regel w a r in solchen Fällen das permanente Leben auf der Straße. Die

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vagierende Frau schloß sich einem M a n n oder einer Gruppe an und trug einen wichtigen, meist den entscheidenden Teil zur Subsistenzsicherung bei, sei es durch Betteln, sei es durch Diebereien. 3 9 Die Regel waren aber auch zahlreiche Auseinandersetzungen mit den Seßhaften und vor allem mit den Behörden. Die Belastungen waren ungeheuer. Einerseits führte das dazu, daß zahlreiche, insbesondere j ü n g e r e Frauen versuchten, das reichhaltigere Arbeitsplatzangebot in der Stadt wahrzunehmen. Andererseits traten, wie gesagt, relativ selten Frauen auf, die als Einzelpersonen wandernd nach Arbeit suchen konnten. Sie w u r d e n in aller Regel unter kriminalisierenden Vorzeichen betrachtet und entsprechend behandelt - was zumindest bei der Arbeitssuche hinderlich war! Das zeigt das Beispiel der Anna Maria, alias Thekla Schusterin aus der H o f m a r k Arnsbach, die Anfang der 90er Jahre mehrfach d e m H o f m a r k s g e richt Au auffiel. 4 0 Im Juni 1791 w u r d e sie von Erding nach Au verbracht. Einem begleitenden »Vorweis«, also einer Art Laufzettel, ist zu entnehmen, daß ihr statt eines Heiratsguts die ständige U n t e r k u n f t bei ihrem Bruder, einem Schneidermeister in Arnsbach zugesagt w o r d e n war. Sie gab an, sich dort mit Stricken, Spinnen und Feldarbeit ernähren zu können - was bezweifelt werden m u ß . Sie w u r d e dennoch zu ihrem Bruder heimgebracht, der die Ü b e r n a h m e auch schriftlich bestätigte. Allerdings scheint er auf die ständige Anwesenheit seiner Schwester keinen großen Wert gelegt zu haben bzw. vermochte er nicht, sie daheim zu halten. Im folgenden Jahr w u r d e sie von Au wieder und mit einem ähnlich lautenden Vorweis heimgeliefert. U n d wieder ein Jahr später, 1793 also, w u r d e sie schließlich wegen Vagierens in Landshut zu einer nicht näher genannten Strafe verurteilt Und anschließend erneut über Au heimgeschickt mit der wiederholten A u f f o r d e rung, »das selbe sich in ehrl: Dienste begeben solle«. Das war eine sicher nicht übermäßig hilfreiche Anregung. Der Verdienst aus gelegentlichen Arbeiten reichte wohl k a u m hin, so daß sie auf das Wohlwollen ihres vermutlich auch nicht mit Reichtümern gesegneten Bruders angewiesen war - oder auf das Betteln! Die Situation auf d e m Arbeitsmarkt für ländliche Dienstboten läßt sich grob folgendermaßen skizzieren: Es bestand ein Mangel an Gesinde, weil ein derartiger Arbeitsplatz auf die Dauer unattraktiv war. Ehemalige Bedienstete füllten die Reihen der Tagwerker auf und waren damit zwar in einer sozial höheren Position als zuvor, m u ß ten sich jedoch mit Gelegenheits- bzw. Saisonarbeiten begnügen. Insbesondere außerhalb der Erntezeit war das Angebot an Arbeitsplätzen in diesem Bereich knapp. Die Lage w u r d e noch zusätzlich verschärft durch den U m s t a n d , daß im R a h m e n des - w e n n auch bescheidenen - Bevölkerungswachstums die Zahl der U n t e r schichtangehörigen proportional stärker anstieg als die der Bauern und Bürger.41 D a m i t bestand für Tagwerker in der Praxis w i e d e r u m häufig die N o t w e n digkeit, sich anderswo Arbeit zu suchen und dabei eventuell auch längere

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Wege zurückzulegen. Eine echte Alternative bot sich allerdings nur selten, weil die Situation in anderen, ökonomisch ähnlich strukturierten Gebieten grundsätzlich dieselbe war. Dadurch erhielten solche Wanderungen tatsächlich - und a u f j e d e n Fall in den Augen der Behördenvertreter - den Charakter von Bettelzügen. So beklagte 1786 der Landrichter von Schrobenhausen die große Zahl »der sogenannten fremden Schnitter zu Aernde Zeit«, die insbesondere von Schwaben u n d N e u b u r g her in seinen Gerichtssprengel kamen. Er mochte bei diesen Leuten kein echtes Bedürfnis nach Arbeit sehen. Die Erntezeit sei nur ein V o r w a n d , und die angeblich Arbeitsuchenden blieben in der Folge nur als »eine grosse Rotte Vaganten« im Lande. 4 2 Tatsächlich war es w o h l so, daß auch diejenigen, die Arbeit fanden, nur für den Augenblick in besserer Lage waren. Z u m einen w u r d e man vermutlich nur selten für die gesamte Erntezeit fest angestellt. Vielmehr war es die Regel, daß man an verschiedenen O r t e n hier und da jeweils einige Tage Arbeit hatte und die Zeit dazwischen auf der Suche, wandernd verbringen mußte. Z u m anderen reichte ja die relativ kurze Erntezeit insgesamt keinesfalls aus, u m Reichtümer anzusammeln oder auch nur bescheidene Reserven, von denen m a n den Rest der Zeit leben konnte. Viele der Erntearbeiter versuchten deswegen, die Rückkehr in den Heimatort hinauszuzögern, fragten unterwegs noch nach Gelegenheits- und Hilfsarbeiten, fanden sie gelegentlich auch, waren jedoch im Laufe d e r Z e i t zunehmend auf Almosen angewiesen. M a n hat sich dieses Betteln so vorzustellen, daß der Vorüberziehende nach Arbeit fragte und, sobald sie ihm aus Mangel an Bedarf verweigert wurde, u m ein Nachtlager, Essen oder auch u m Geld bat. 4 3 Die ansässige Bevölkerung sah in diesem Verhalten noch k a u m etwas Verwerfliches. Die Behörden allerdings betrachteten diese Entwicklung mit A r g w o h n , und dieser war insofern berechtigt, als hier in der Tat die unklare Grenze zwischen noch legalem Wandern und schon kriminellem Vagieren erreicht war. Darauf deuten auch zahlreiche Aussagen in den Gerichtsprotokollen hin, nach denen einzelne bei Bauern »in der Arndt geschnitten haben, und vielleicht anheur wider in ain: oder d e m andern O r t h Arbeith haben werden«, den Rest des Jahres aber »im Allmosen« sich aufhielten. 4 4 U n t e r diesen U m s t ä n d e n ist es nur einleuchtend, daß der Anteil der Tagelöhner so hoch war unter denjenigen, die A n f a n g der 1750er Jahre in den bayerischen Gerichten »mandatsmäßig« als Bettler und »Vaganten« aufgegriffen, mit Karbatschstreichen bestraft und in ihre Heimatorte zurückgeschickt wurden. In den drei Jahren von 1750 bis 1752 lag er i m Gericht Biburg bei 23% der Aufgegriffenen, für die Berufsangaben gemacht w u r d e n . 4 5 Ebenso erscheinen in sehr vielen Verhörsprotokollen Hinweise auf Taglohnarbeiten der Verhörten selbst oder ihrer Angehörigen. So gab Johann Bruner vor d e m Herrschaftsgericht U l m e r s d o r f 1789 an, daß seine Eltern Häusler gewesen seien und sich mit Tagwerksarbeit ernährt hätten,

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während der 55jährige Joseph Gruber sich selbst als »Taglohner« bezeichnete. 4 6 U n t e r den 1751 in der H o f m a r k Au Aufgegriffenen war Veith Humppelberger, ein »Tagwerckh von Langquarth«, und auch der Häusler und »Kürenfligger« (vermutlich Wannenflicker) Johann Rottengruber ernährte sich wahrscheinlich überwiegend i m T a g l o h n . 4 7

3. Hirten und Abdecker Ähnliches gilt auch f ü r andere Berufsgruppen, die i m Z u s a m m e n h a n g mit Bettlern und Vagierenden regelmäßig genannt werden, etwa die Hirten und Hüter. Sie w u r d e n v o n den Gemeinden eingestellt, u m entweder das Vieh der Bauern (meist Rinder oder Schweine) auf der Weide zu hüten oder aber die Feldsaat vor Wildverbiß zu bewahren (Feldhüter, Hirschhüter). Abgesehen von der berufsspezifischen Unehrlichkeit des Gewerbes trafen auf den Hüter noch weitere M o m e n t e zu, die ihn ebenso wie den Abdecker an die Grenze zwischen seßhaft-stabiler und vagierender Lebensweise stellten. Tatsächlich tauchen beide Berufsbezeichnungen sehr oft in Listen Vagierender auf, u n d gelegentlich verwischte sich auch die Grenze zwischen den Funktionen beider Berufsgruppen, wenn z u m Beispiel in kleineren Gemeinden nur ein Hüter ansässig war, der »auch den Wasenfall zu versehen« hatte. 4 8 So lagen die Behausungen der Hüter - bedingt durch ihre Aufgaben außerhalb oder doch an der Peripherie der Dörfer, genau wie die von Abdeckern oder Köhlern. Sie w u r d e n deshalb häufig als Nachtlager oder auch als Unterschlupf für längere Zeit von vorüberziehenden Vagierenden in Anspruch g e n o m m e n . Z w a r war die Beherbergung Fremder zumindest in Bayern grundsätzlich verboten bzw. w u r d e abhängig gemacht von der Erlaubnis durch die lokale Obrigkeit, 4 9 doch war Kontrolle gerade außerhalb der Ortschaften nicht immer möglich. Überdies mochte es B e w o h n e r n einsam liegender H ü t t e n schwer fallen, einer Gruppe Vagierender die U n t e r k u n f t einfach zu verweigern. Die Möglichkeit unmittelbarer Gewalta n w e n d u n g oder späterer Rache war nicht auszuschließen. O f t war man den A n k ö m m l i n g e n aber auch freundschaftlich oder gar verwandtschaftlich verbunden; das w a r vor allem bei unehrlichen Berufen häufig der Fall. M a n n a h m sie bereitwillig auf, riskierte damit allerdings auch Schwierigkeiten mit der arbeitgebenden Gemeinde, unter U m s t ä n d e n sogar den Verlust der Arbeitsstelle. Das Beispiel des Hirten von Kiemertshofen im Gericht Aichach macht das Problem deutlich und gibt zugleich Einblick in die Einstellung der Obrigkeit. 5 0 V o n d e m Hirten, der aus Sandizell im benachbarten Gericht Schrobenhausen zugewandert war, war bekannt, daß er in seiner abseits gelegenen Hütte oft Vagierenden U n t e r k u n f t bot; das w u r d e ihm schon übel angekrei51

det. Noch problematischer wurde seine Lage, als er 1786 seine eigene hochschwangere Schwester aufnahm, die ihrerseits mit dem Hüter von Großhausen verheiratet war - ein Hinweis auf die ausgeprägten verwandtschaftlichen Bindungen innerhalb der Berufsgruppe. Auf dem Rückweg gelang es der Frau nicht mehr, ihr eigenes Haus zu erreichen. Sie kam noch im Aichachischen nieder, in der Ortschaft Unterzeitlbach, die damit als Heimatort des Kindes galt und im Notfall für seine Versorgung zuständig war. Das Gericht Aichach nahm die Gelegenheit wahr, die Gemeinde Kiemertshofen anzuweisen, ihren Hirten zu entlassen und nach Sandizell zurückzuschicken. Die Tatsache, daß er schon vier Jahre lang in Kiemertshofen gearbeitet hatte, wirkte eher noch als zusätzliches Argument gegen ihn. Man wollte nämlich verhindern, daß »solch auswärttige Hirtens Leut das Domicilium . . . versizen und seiner Zeit dem Ghrt: mit der Verpflegung auf dem Halß fallen mögen«. 5 1 Hier treten also mehrere Momente gleichzeitig in Erscheinung. Einmal wollte man durch die Kontrolle von Beherbergungen das Vagierendenwesen unmittelbar einschränken. Z u m anderen bestand ein starkes Mißtrauen gegenüber dem ortsfremden Hirten - jedenfalls bei der Obrigkeit - , der durchaus zutreffend mit Vagierenden in Verbindung gebracht wurde. Die Absicht des Gerichts war eindeutig, seinen Sprengel von Vagierenden möglichst freizuhalten. Da man nun in den Nachbargerichten genauso dachte, lag hier - entgegen der ursprünglichen Intention - geradezu mit ein Grund für die Weiterexistenz vagierender Bevölkerungsgruppen. Man schickte sie ständig über Gerichts- und Staatsgrenzen an ihre Heimatorte zurück, die ihrer Versorgungspflicht nicht in ausreichendem Maße nachkommen konnten. In diesem speziellen Fall wurden also die erfolgreichen Reintegrationsbemühungen des Hirten per Gerichtsbeschluß zunichte gemacht, indem man ihn wieder auf die Straße setzte. Ein Hüter mußte sich der Tatsache schmerzlich bewußt sein, daß er über kurz oder lang selber in die Lage kommen konnte, um Obdach bitten zu müssen. Auch sein Beruf war grundsätzlich Saisonarbeit. Im Winter brauchte normalerweise weder Vieh auf die Weide getrieben noch das Feld vor Wildschäden geschützt zu werden. Hüter und Hirten mußten also die Zeit bis zum Frühjahr irgendwie anders überbrücken. In größeren Dörfern kam es vor, daß der Gemeindehüter im Winter mit Nachtwächters- oder irgendwelchen Hilfsdiensten betraut und so in einem festen Arbeitsverhältnis gehalten wurde, vor allem wenn er in der Gegend als zuverlässig galt. Diese Stellen nahmen dann meist nichterbende Bauernsöhne aus der Gegend ein, sofern sich ihnen nicht die Möglichkeit zur Einheirat bot. Gerade in solchen größeren Ortschaften brauchte der Hüter aber während des Sommers Knechte und Gehilfen, die ihm bei seiner Arbeit auf den doch relativ weitläufigen Feldern oder Weiden halfen. Diese Knechte - häufig waren es halbwüchsige Hirtenbuben, die ihren Dienst für kärgliche freie Kost und Logis verrichteten - konnten kaum damit rechnen, auch über den Winter 52

versorgt zu werden. Im Krankheitsfall blieb ihnen überhaupt keine Chance mehr, sich anders als mit Betteln durchzuschlagen. So gab 1785 ein 15jähriger i m N ü r n b e r g e r Schöffenamt zu Protokoll, er habe ein Jahr lang bei einem Hirten i m Würzburgischen gedient, anschließend noch eine Zeitlang in der N ä h e von Schweinfurt. »Weiln er aber 16 Wochen lang das Fieber gehabt, so hätte ihn der Hirt nicht mehr behalten, sondern fortgejaget und er sich mit Betteln fortgebracht.« 5 2 U n d der 17jährige Jacob Steffen arbeitete bei einem Hirten in Marrn, nahe der böhmischen Grenze; er bekam dann jedoch einen »offenen Schaden« am rechten Bein und verlor deswegen seine Arbeitsstelle. 5 3 U n t e r diesen U m s t ä n d e n war ein Vagierender noch vergleichsweise gut dran, der i m Verhör auf die Frage, w o m i t er sich ernährte, wahrheitsgemäß antworten konnte, »er habe durch sein ganzes Leben im S o m m e r gehüthet und i m Winter gebettelt«. 5 4 Häufiger und wohl auch zutreffender waren Aussagen, m a n habe hier und da gelegentlich gehütet, versuche ansonsten jedoch, auf jede denkbare Art sein Leben zu fristen - sei es durch Gelegenheitsarbeiten oder - vorwiegend - durch Betteln. Als ein Beispiel von vielen sei der 18- bis 20jährige Mathias Steindl genannt, der 1788 i m Verhör auf die Frage nach seiner Familie angab: »Seine Aeltern waren Hieters Leut und beede schon gestorben. Er habe einen einzigen Brueder, welcher in Keiserl: Diensten wäre.« Er selbst war ledig, arbeitete gelegentlich als Schweinehirt und Knecht und vergaß zunächst anzugeben, daß er gelernter Metzger sei, arbeitetete also offensichtlich nicht in diesem Beruf. In erster Linie vagierte und bettelte er. 5 5 Es läßt sich in der Tat generalisieren, daß solch ein Leben mit ständigen Ortswechseln verbunden war. Wie schon angedeutet, standen die Berufsgruppen der Hüter und Abdecker in ziemlicher N ä h e zueinander. »Abdeckersleute« tauchen fast in jeder Quelle auf, die sich mit Vagierenden befaßt. Was die Möglichkeit von Abdeckerssöhnen oder -knechten angeht, sich durch Arbeit in ihrem Gewerbe zu ernähren, so ist ihre Situation mit der der Hüter zu vergleichen. Bei der begrenzten und weitgehend festgelegten Gesamtzahl der A b d e k kereien oder Wasenmeistereien 5 6 blieb auch die Zahl der Arbeitsplätze i m großen u n d ganzen konstant. Die Betriebe ernährten normalerweise ohne Schwierigkeiten ihre Inhaber und deren Familien, sofern die Kinderzahl nicht zu groß war. Erwachsene Söhne konnten damit rechnen, als Knechte bei benachbarten, häufig auch verwandten Wasenmeistern u n t e r z u k o m men. Allerdings waren das meist nur Lösungen auf Zeit. Viele Abdeckersleute waren daher bei der Arbeitssuche auf Tätigkeiten angewiesen, die außerhalb ihrer H e r k u n f t oder Ausbildung lagen, meist aber gleichfalls als anrüchig galten: eben als Hirten und Hüter oder aber als Gerichtsdiener, Schergen bzw. meist als deren Knechte. Arbeitsverhältnisse auf Dauer waren aber auch hier wieder die Ausnahme, so daß ein mehr oder minder ausgeprägter Z w a n g z u m Ortswechsel, also z u m Vagieren u n d Betteln

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bestand. Aus diesem Grund ist es nur folgerichtig, daß bei den Behörden Gerichtsdienersknechte weit häufiger als Vagierende registriert wurden als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprach. 57 Wegen der Anrüchigkeit ihrer Herkunft war es nur selten möglich, Arbeit außerhalb des skizzierten Spektrums - etwa in der Landwirtschaft - zu bekommen, solange das Angebot an Arbeitskräften ausreichend war; und das war, wie gesagt, gerade im Bereich der Saisonarbeiten durchweg der Fall. Unter diesen Bedingungen gerieten die Abdeckersleute sukzessive immer stärker ins soziale Abseits, obwohl das Stigma der Unehrlichkeit 1772 laut Reichsgesetz aufgehoben wurde. 5 8 Ihr schlechter Ruf war geradezu sprichwörtlich. So war 1750 dem Landgericht Kötzting bekannt, daß unter »solchen Vaganten und sonderheitlich den s:v: Schindter Gesindt offtermahlen viell Ybels verborgen lige«. Im Zweifel seien derartige Leute zunächst einmal zur näheren Untersuchung »zu Verhaft sezen zu lassen«. 59 Unter den 1750 bis 1752 im Gericht Biburg aufgegriffenen Personen, bei denen Berufsangaben gemacht wurden, waren mehr als 10% Abdecker und deren »Anhang«. 60 Vagierende Abdecker waren derart häufig anzutreffen, daß sie auch als Vagierende schlechthin angesehen wurden. So wurde beispielsweise ein Hofmarksuntertan von Alhartsmaiß im Gericht Deggendorf1759 deswegen bestraft, weil er »ainig verdächtiges Abdeckher Gsindl« für mehrere Tage aufgenommen hatte. 61 Und in den Rechnungen des Pfleggerichts Marquardtstein von 1751 wurden neben 11 Personen »Abedeckergesindel« nur noch ein Spielmann und ein Schlossersohn aus dem Nachbargericht Kling näher spezifiziert. Insgesamt waren 49 Vagierende aufgeführt worden. 6 2 Es gab Kinder von Abdeckerfamilien, denen man mit einiger Sicherheit prophezeien konnte, daß sie als Vagierende enden würden. Die lückenhaften biographischen Angaben des Caspar Wallner lassen ein solches Schicksal erkennen. 63 Schon sein Vater hatte mehrfach den Wohnsitz gewechselt. Er konnte oder wollte offenbar nicht als Knecht auf dem Betrieb seines Bruders bleiben, der immerhin Wasenmeister in Regen war, sich also in vermutlich gesicherter wirtschaftlicher Lage befand. Auf der Suche nach Arbeit kam er mit seiner Frau nach Märckhlin (?) in Böhmen, wo der Sohn Caspar auf die Welt kam. Auch in Böhmen war die Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht grundsätzlich besser. Die Familie mußte sich zumindest zeitweilig mit Betteln ernähren und wurde daraufhin nach Bayern ausgewiesen. Nach dem Tod des Vaters zog der Sohn überwiegend allein durchs Land, verrichtete an verschiedenen Orten Hüter-, aber auch andere Gelegenheitsarbeiten. Er mußte allerdings zugeben, daß er, »wan er müssig [d. h. arbeitslos] worden, unlaugbahr den Betteln ergriffen«. Ansonsten hätte er nie etwas Unrechtes getan. Das Gericht in Kötzting konnte ihm auch kein Verbrechen nachweisen. Er wurde lediglich karbatscht und aus dem Gericht gewiesen. Dabei blieb die Frage offen, wohin er gehen sollte. Böhmen, wo er geboren war, hatte er verlassen müssen, hatte dorthin auch keinerlei Bezug; und in Bayern fühlte sich niemand fur ihn verantwortlich. Damit war er gewissermaßen zu 54

lebenslangem Vagieren verurteilt, auch wenn er wider Erwarten ein Bedürfnis nach seßhafter Lebensweise entwickelt hätte. Es sei hier daran erinnert, daß eine bevorzugte Dienstmöglichkeit, die sich Abdeckern bot, die Polizeiarbeit als Gerichtsdiener, Amtsknecht oder Scherge war. Infolgedessen konnte es leicht vorkommen, daß ein ehemaliger Abdecker gegen arbeitssuchende bzw. vagierende Berufsgenossen, Freunde oder Verwandte vorgehen mußte. Es mag offenbleiben, wie ernsthaft er dieser Aufgabe nachkam. Es war sogar nicht selten, daß ein Mann im Laufe der Zeit mehrfach seinen Status wechselte, vom verfolgten Vagierenden zum Verfolger Vagierender wurde und umgekehrt. 64 Der Gerichtsdienersohn Christoph Streitberger zum Beispiel, 65 in dessen Verwandtschaft vermutlich Abdecker oder Hüter zu finden waren, kam als 16jähriger von zuhause weg und arbeitete als Amtsknecht »in mehreren Orten, iedoch niemahls lang«. Den größten Teil der Zeit zog er bettelnd durch die Gegend um Velden, Ampfing und Mühldorf, das heißt durch die weitere Umgebung seiner Heimat, der Hofmark Zangberg. In dieser Gegend kannte er sich aus, hatte er möglicherweise Verwandte, die helfen konnten, kannte er Bauern, die Tagelöhner brauchten und Unterschlupf boten, war er den Gerichtsdienern, die deswegen vielleicht auch einmal ein Auge zudrückten, als ehemaliger Kollege bekannt. Sicherheit vor der Strafjustiz bot dieses Leben jedoch nicht. Im Gericht Biburg wurde Streitberger einmal als verdächtig festgenommen und bestraft. Nach einigen Jahren - so scheint es - wurde ihm seine Heimat dann doch zu eng bzw. der Boden unter den Füßen zu heiß. Er setzte sich in Richtung Süden ab, wurdejedoch in Graz aufgegriffen und durch den österreichischen Bettelschub wieder nach Hause transportiert. Hier wurde er wenig später erneut »wegen üblen Verdachts« festgenommen. Er konnte keiner kürzlich begangenen Verbrechen überführt werden, gestand jedoch unter der Folter zwei lange zurückliegende, geringfügige Straßenraubtaten (bei denen niemand verletzt worden war) und wurde dafür zum Tod durch das Schwert verurteilt. Offensichtlich ging das Gericht davon aus, daß er noch andere Straftaten begangen hatte, deren genauere Untersuchung man sich aus Kosten- und Zeitgründen sparen konnte. Es ist verständlich, daß die Effizienz der Polizeiarbeit darunter litt, wenn die Strafverfolger aus demselben Personenkreis stammten wie die Täter. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß ein solcher Amtsknecht, wenn er integer war, durch seine genaue Kenntnis des Milieus von großem Nutzen sein konnte. 66 In ähnliche Konflikte konnten Forstbedienstete kommen. Zu den Dienstaufgaben von Jägern gehörte auch die Teilnahme an Streifpatrouillen gegen Vagierende. Wurden sie zeitweilig dienstlos, standen sie plötzlich >auf der anderen Seitezünftige< Aufführung bestätigt wurden. Dieses Dokument galt ihm auf seiner weiteren Wanderung als Paß und Legitimation und war eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zu Vagierenden. Im Ideal56

und auch Normalfall konnte er so eine Reihe von Jahren und Dienstverhältnissen hinter sich bringen, bis er schließlich in seiner Heimat oder anderswo in feste Dienste trat, durch Heirat oder Erbschaft einen Betrieb ü b e r n a h m oder mit Erlaubnis der Behörden auf d e m Land einen neuen eröffnete. Allerdings bot oft auch der Status als selbständiger Handwerker keine materielle Sicherheit. Die kleinen Betriebe, in denen mangels entsprechender Aufträge oder wegen der Abschließungspolitik der Z ü n f t e der Meister selbst die einzige Arbeitskraft war, bewegten sich ständig am Rande des wirtschaftlichen Ruins. Solche einzelnen Meister konnten keinerlei Reserven sammeln, waren auf die unmittelbare Arbeitsleistung f ü r Fremde angewiesen und sind folglich eher mit Tagwerkern auf eine Stufe zu stellen als mit Inhabern von Betrieben, die auch Gesellen beschäftigten. Es war vor allem die Politik der Zünfte, die bewirkte, daß in der Regel die Zahl der einzelnen Meister die der Gesellen in Arbeit bei weitem ü b e r w o g . 7 1 Die Grenze zwischen H a n d w e r k e r - vor allem dem wandernden Gesellen - und Vagierendem konnte in der Realität leicht überschritten werden. Das Attestat w a r nur eine begrenzte Zeit gültig, in Bayern z u m Beispiel vier Wochen. Danach konnte auch der wandernde Handwerker als »gewöhnlicher Vagant« behandelt werden. Das war häufig der Fall und wird durch die erwähnten Gerichtsrechnungen eindrucksvoll belegt. 7 2 Auffällig ist, daß wandernde H a n d w e r k e r mit Affinität z u m Vagieren es nach Möglichkeit vermieden, die kleinen Territorien Frankens und Schwabens zu verlassen. D o r t w u r d e n ihnen nämlich in der Regel keine Schwierigkeiten gemacht. Die Reaktion aus d e m Gericht T ü r k h e i m auf einen Münchner Erlaß, den Bettel einzudämmen, zeigt das deutlich. T ü r k h e i m gehörte zwar zu Bayern, war j e d o c h ringsum von schwäbischen Herrschaften umgeben. Mit k a u m verhohlenem Sarkasmus meinte der Richter, m a n wisse inzwischen ja w o h l auch in München, daß T ü r k h e i m in Schwaben liege, »allwo höchstdero Armenanstalten ganz ohnmöglich in Erfüllung gebracht werden können«. Das gelte insbesondere, wenn es sich u m »durchreisend: oder hin: und widerlauffende H a n d w e r k s Bursche« handele; die seien so zahlreich, daß man sie »überall: mithin auch hier paßiren und betteln läst«. 7 3 In dieselbe Richtung deutet die Aussage des Konstanzer Gabriel, die in der Sulzer Steckbriefliste von 1801 zusammengefaßt wurde. Beschrieben w u r d e n 29 Bäckers- und Müllersknechte, die vor allem im südwestdeutschen R a u m bettelten, betrogen und stahlen. Darüber hinaus kannte der Informant noch »wenigsten 200 dergleichen vagirende B e k e n = und M ü l l e r = K n e c h t e . . ., die . . . von ihren Lehrjahren an lediglich nichts mehr arbeiten«, stattdessen umherzogen und Zehrpfennige einforderten. 7 4 Selbst w e n n die Zahlenangabe übertrieben sein sollte, zeigt sie doch eine insgesamt zutreffende Tendenz. Dabei m u ß selbstverständlich berücksichtigt werden, daß infolge der napoleonischen Kriege die Zahl der Entwurzelten besonders hoch gewesen sein dürfte. Natürlich gab es auch im schwäbischen oder fränkischen R a u m Behör57

den, die relativ strengen Grundsätzen folgten. Für das brandenburgansbachische Gericht R o t h beweisen das z u m Beispiel mehrere Attestate, die wegen Fechtens bestraften H a n d w e r k e r n a b g e n o m m e n wurden. In einem dieser D o k u m e n t e aus d e m Jahr 1781 ist sogar die Reiseroute eines Schneidergesellen durch den schwäbisch-fränkischen R a u m festgehalten. 7 5 Es datiert v o m 17. 4. 1781 und bestätigt, daß der Geselle sich in U n d i n g e n 14 Wochen lang in Dienst befunden hat. Auf seiner folgenden Wanderung w u r d e er mehrfach kontrolliert, suchte vielleicht auch u m Arbeit nach, und die lokalen Obrigkeiten zeichneten das Attestat ab: 7.5. 15.5. 9.6. 18.6. 20.6. 21.6.

Blaubeuren Augsburg Memmingen Aalen Bopfingen Oettingen

Der M a n n hatte offenbar ein Faible für Reichsstädte. D o r t hoffte er w o h l am ehesten auf Arbeit, die ihm zusagte. Zunächst ging er nach Augsburg, w a n d t e sich dann südwärts nach M e m m i n g e n und befand sich schließlich nach einem kleinen Abstecher nach Aalen auf direktem Weg nach N ü r n berg. Wie Karte 1 zeigt, wechselte er jedesmal die Richtung, wenn die Arbeitssuche in einer Reichsstadt erfolglos geblieben war, und m a r s c h i e r t e - gemächlich - in Richtung auf die nächste. Auffällig ist wieder, daß er sich auf die kleinen Staaten Schwabens und Frankens beschränkte, w o er bei Ä m t e r n u n d Behörden auf mehr Nachsicht zählen konnte. Die Rechnung ging jedoch nicht ganz auf, denn er w u r d e in Roth festgenommen. Zusätzlich z u m Mißerfolg bei der Arbeitssuche drohte ihm nun noch Bestrafung wegen Betteins und Vagierens. D a m i t bestand die Gefahr, daß er nun eher ungewollt den Schritt v o m wandernden Handwerker z u m Vagierenden vollzog. Je länger ein Handwerksgeselle dienstlos war, desto wichtiger w u r d e die Frage des Lebensunterhalts während der Wanderphasen. Er hatte zwar vielleicht einen Teil seines Verdienstes zurücklegen können, doch ist mehr als zweifelhaft, daß das Ersparte hinreichte, u m längere Zeit - zumal auf Reisen - davon leben zu können. Wenn er dann nicht irgendwoher, von Verwandten etwa, rechtzeitig Geld bekam, blieb i h m nur das Fechten und Betteln. Der Webergesell Carl Hubmeyer, der 1786 in N ü r n b e r g verhört w u r d e , 7 6 formulierte sogar den Grundsatz, »ein Handwerksbursche laße nicht gern wißen, daß er Geld habe und suche mit fechten und Almosen so lange [sich] fortzubringen, als es möglich«. Das Geld brauche er in erster Linie, u m seine Kleidung in Schuß zu halten, »damit er desto ehender bey einem Maister Arbeit b e k o m m e n und für keinen lüderlichen Kerl angesehen 58

Karte 1: Wanderweg eines Schneidergesellen von April bis Juni 1781

werde«. Unglücklicherweise werde das Fechten gelegentlich erschwert. Hubmeyer war aus dem Schwäbischen nach N ü r n b e r g g e k o m m e n und behauptete, daß m a n »daselbst [in Schwaben] keinen Zehrpfennig b e k o m m t , w e n n die Kundschaft nicht von einer Canzley ausgefertigt ist«. Also habe er sich von einem Kameraden eine >amtliche Bestätigung< auf sein Attestat setzen lassen, was ihm nun natürlich eine Zuchthausstrafe wegen Urkundenfälschung einbrachte. Der Geselle m u ß t e bei der Arbeitssuche ständig mit Mißerfolgen rechnen. In letzter Konsequenz führte das auch bei an sich Arbeitswilligen zu Konflikten mit der Obrigkeit. W u r d e er v o m Meister abgelehnt, blieb i h m keine Wahl als weiterzuziehen. Das geschah häufig, da, wie gesagt, die Zahl der Gesellenstellen limitiert war. Mit zunehmender Dauer der Wanderphase w u r d e n die Probleme i m m e r größer. Zünfte, Meister und Gesellenbruderschaften w u r d e n argwöhnisch; sie achteten auch sehr auf das Benehmen, auf die äußere Erscheinung und die Kleider des Bewerbers, die durch längeren Aufenthalt auf der Landstraße gelitten haben mochten. Die Aussage Hub-

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meyers zeigt, wie man dadurch zu kriminellen Kniffen gezwungen werden konnte. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, daß die Zahl der Gesellen, die nicht mehr nur wanderten, sondern schon vagierten, beachtlich hoch war. In den bayerischen Gerichten, vor allem in den an der schwäbischen Grenze gelegenen, wurden regelmäßig gezielte Patrouillen abgehalten. Während einer Streife Anfang Dezember 1786 wurden zum Beispiel im Gericht Aichach 14 Vagierende festgenommen, von denen 11 Handwerksgesellen waren, alle mit alten Kundschaften. Fünf waren so zerlumpt und abgerissen, daß der Gerichtsdiener ihre Chancen, Arbeit zu finden, als sehr gering einschätzte. Ähnlich war das Resultat einer etwa gleichzeitigen Streife des Gerichts Weilheim: von 11 Festgenommenen waren sieben Handwerksburschen mit ungültigen Papieren. 77 Vagierende Handwerker konnten versuchen, auf ihrer Wanderung durch freie Gelegenheitsarbeiten in ihrem erlernten Beruf ein wenig Geld zu verdienen. Allerdings wurden solche Versuche, die außerhalb jeder ständischen Kontrolle und in Konkurrenz zu lokalen Handwerkern unternommen wurden, von der Obrigkeit grundsätzlich mit starkem Mißtrauen betrachtet. In der Hofmark Alhartsmaiß wurde ein vagierender Schneider vom Sohn des Amtmanns daran gehindert, die Arbeit an einem Kleidungsstück fur einen Pfannenflicker fertigzustellen, weil »in der Hofmark selbsten sich ein Schneider Maister befändet«. 78 Zweifellos war jedoch der Handwerker, auch wenn er zeitweilig in die Schicht der Vagierenden absank, in einer potentiell besseren Lage als etwa ein vagierender Abdecker oder gar ein geborener Landstreicher. Er hatte seine handwerkliche Ausbildung, hatte eventuell auch noch berufsständische Kontakte und Verbindungen zu seiner Heimat und seiner Familie, die ihn im Notfall vor einem völligen Absinken bewahren oder doch die Reintegration ermöglichen konnten. Man kann also davon ausgehen, daß unter den vagierenden Handwerkern die Fluktuation besonders hoch war. Viele dürften nach einiger Zeit den Weg zurück in ein geregeltes Leben gefunden haben. Insgesamt scheint die zahlenmäßige Stärke der Gruppe der Handwerker, die sich mit dem Vorwurf des Vagierens auseinandersetzen mußten, relativ konstant gewesen zu sein. Ausgangspunkt war ziemlich eindeutig die Wanderung des Gesellen als Teil seiner Ausbildung. Das läßt sich jedenfalls aus dem Umstand schließen, daß auch in den 80er und frühen 90er Jahren der Anteil der Handwerker, die auf den österreichischen Bettelschub kamen, ungemein hoch war. 7 9 Abgesehen von der Knappheit der Stellen ist als ein Grund dafür anzunehmen, wenn auch nicht zu belegen, daß viele Gesellen das ungebundene Leben auf der Straße der Disziplin, Ordnung und Arbeit im Haushalt und Betrieb eines Meisters vorzogen. Dabei dachten sie zunächst vielleicht nur an eine begrenzte Zeit vagierender Lebensweise. Tatsächlich gibt es jedoch nicht wenige Beispiele für ein Absinken auf

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Dauer. Am Anfang stand häufig ein einschneidendes Ereignis, das die Reintegration ausschloß. Das Beispiel einer Freiheits- oder Leibesstrafe wurde bereits erwähnt, es gab aber auch andere markante Einschnitte. Der Schuster Kristian David Lehmann aus Dresden zum Beispiel hatte sich nach einigen Jahren Arbeit in seinem erlernten Handwerk entschlossen, Soldat zu werden. Nach seiner Entlassung nach ca. achtjährigem Militärdienst hatte er sich nach seiner eigenen Aussage vor dem oberösterreichischen Gericht Ulmerfeld »durch freywilliges Allmosen von guten Leuten ernähret«. In seinem Beruf konnte er nicht mehr arbeiten, »weil ich kein Werkzeug habe und daher keine Arbeit bekommen«. 8 0 Ähnlich folgenreich wie der Soldatendienst konnte eine unerlaubte Eheschließung oder auch mehrfache Bestrafung wegen »Leichtfertigkeit« - das heißt außerehelichem Geschlechtsverkehr - sein. In den bayerischen Gerichtsrechnungen werden derartige Beispiele relativ häufig genannt. Die Missetäter mußten eine Ehrenstrafe - meist am Pranger - ausstehen und wurden anschließend fur einige Jahre oder auf Dauer des Heimatgerichts oder auch des Landes verwiesen. Diese Probleme gab es aber natürlich nicht nur für Personen aus dem Handwerkerstand. 81 Häufig wirkten sie generell als letzter Stoß, daß Menschen, die auf unterster sozialer und wirtschaftlicher Stufe standen, die Grenze zum Vagieren überschritten.

5. Mobile Berufe Allen bisher aufgeführten Personen- und Berufsgruppen ist gemeinsam, daß die Arbeit - wenn überhaupt - an einem bestimmten Ort ausgeübt wurde, also mit einer Phase der Seßhaftigkeit verbunden war. Das Wandern oder Vagieren beschränkte sich in der Regel auf die Zeitabschnitte zwischen den Arbeitsperioden. Dabei ist allerdings häufig festzustellen, daß die Phasen der Unstetigkeit insgesamt die weitaus längere Zeit in Anspruch nahmen, weil entsprechende Arbeitsplätze eben rar waren bzw. wenig Neigung bestand, sich in feste Dienste zu begeben. Daneben gab es noch zahlreiche Tätigkeiten, die die mobile Lebensweise gewissermaßen zur Voraussetzung hatten: Hausierer, Spielleute, Gaukler, Komödianten,62 Taschenspieler, aber auch Korbflechter, Löffelschnitzer, PfannenJlicker, Scherenschleifer etc. Es lag in der Natur dieser Berufe, daß man weiterziehen mußte, sobald ein Ort mit einer Ware oder Dienstleistung, für die nur eine begrenzte Nachfrage bestand, versorgt war. Die Listen der bayerischen Gerichte nennen überraschenderweise kaum Angehörige dieser Gruppe. Das hat seinen Grund zunächst darin, daß, wie schon erwähnt, die Ausgabe der notwendigen Pässe äußerst repressiv gehandhabt wurde. Und bevor man sich ohne Legitimation auf den Weg machte und damit illegal 61

wurde, versuchte man, sich an seinem Heimatort mit Gelegenheitsarbeiten zu ernähren, solange es ging. Viele der genannten Tätigkeiten wurden überdies nicht von Angehörigen spezifischer Berufe oder sozialer Gruppen ausgeübt. Es ist offensichtlich, daß vor allem die Handarbeiten in Perioden der Arbeitslosigkeit von fast allen Angehörigen der Unterschichten ausgeübt werden konnten und auch wurden. In einem agrarisch strukturierten Land bestand ein klarer Zusammenhang zwischen der mehr oder minder offenen saisonalen Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft und einem Anwachsen gewerblicher Kleinwirtschaft auf dem Land. 83 In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Personen von Interesse, die neben der Produktion auch und vor allem den Vertrieb der Waren durchführten. Tagwerker stellten Körbe her, Hüter arbeiteten als Besenbinder, Abdekkerknechte produzierten Lederwaren aus Abfällen, die ihnen im Beruf in die Hände kamen, und sie alle übernahmen selbst den Verkauf ihrer Produkte. Nachfrage nach solchen Waren wie auch nach den Dienstleistungen war vorhanden; es wurde also eine volkswirtschaftlich relevante Aufgabe erfüllt. Es ist nicht zu übersehen, daß hier für weite Teile der Unterschichtbevölkerung eine anerkannte, akzeptable, wenn auch allenfalls knapp ausreichende Möglichkeit der Subsistenzsicherung lag. Allerdings war der Markt eben nicht unbegrenzt aufnahmefähig, zumal die Zahl derjenigen, die sich mit solchen Arbeiten versuchten, relativ groß war. Mancher Produzent war darum gezwungen, seine Ware zunächst in Nachbarorten anzubieten. Da auch dort die Konkurrenz beträchtlich war, trat zweierlei ein: er mußte seinen Wanderradius auf der Suche nach neuen Absatzmärkten erweitern, also längere Zeit auf der Straße leben, und er war gezwungen, bei nicht ausreichendem Verkaufserlös nebenher Almosen zu erbitten, also zu betteln. Damit war er der diffusen Grenze zur vagierenden Lebensweise schon recht nahe gekommen; Produktion und vor allem das Anbieten derartiger Waren bekamen zumindest zeitweilig die Funktion eines Alibis. 84 Das Vagieren und Betteln sollte damit vor den mißtrauischen Augen der Obrigkeit gerechtfertigt werden. In etwas modifizierter Form gilt das auch fur das Musizieren. Musikanten, die ihre Kunst hauptberuflich ausübten, waren selten. Gelegenheiten, zum Tanz aufzuspielen, waren nicht so zahlreich, daß ein Mensch oder gar eine Familie von den Einkünften leben konnte, zumal die erforderlichen Patente bezahlt werden mußten und das eine nicht unbeträchtliche Besteuerung bedeutete. Musizieren - jedenfalls auf dieser Ebene - war deshalb in der Regel eine Nebenbeschäftigung, die neben anderen Arbeiten, etwa als Bediensteter oder Tagwerker, ausgeübt wurde. 8 5 Im wesentlichen gab es zwei Möglichkeiten: Man ging irgendwelchen mehr oder minder festen Arbeiten nach und spielte auf, sobald sich am Ort oder in der näheren Umgebung Gelegenheit dazu bot. Oder man fand in einer Heimatgemeinde als Musikant kein ausreichendes Einkommen und dehnte dann seine Wanderungen auf der Suche nach Festlichkeiten, zu denen Musikanten gesucht 62

wurden, auf einen größeren regionalen Bereich aus. D a m i t konnte die Grenze zur vagierenden Lebensweise praktisch überschritten sein. Zugleich trat m a n in Konkurrenz nicht nur zu den zahlreichen anderen vagierenden Musikanten, auf die mancher Spitzname hinweist, sondern auch zu Einheimischen. U n d bei den grundsätzlich begrenzten Einkommensmöglichkeiten bedeutete jeder Verlust eines Auftrages eine empfindliche Einschränkung. So ist es durchaus verständlich, daß 1784 in N ü r n b e r g einige einheimische Musikanten vier vagierende Spielleute aus Regensburg zu verprügeln suchten, weil sie ihnen ein Engagement weggeschnappt hatten. 8 6 U n t e r den auf Dauer Vagierenden waren relativ häufig Kombinationen von Musikanten mit ausgesprochenen >VagantenberufenGalanteriewarenAlibiberufe< gelang w o h l mehr schlecht als recht, zumal eben für die meisten der aufgeführten Tätigkeiten k a u m einmal obrigkeitliche Patente gewährt w u r d e n . 9 2 Irgendwelche Papiere waren aber gerade bei den relativ a u f m e r k samen bayerischen Polizeibehörden notwendig, wenn man längere Zeit ungeschoren bleiben wollte. So w u r d e am 24. 4. 1751 i m Pfleggericht Kling Johannes Hueber und sein >Anhang< Maria aufgegriffen, die angaben, sich unter anderem mit Besenbinden ernährt zu haben. Bei Gericht stand man dieser Behauptung skeptisch gegenüber. Als sich dann noch herausstellte, daß Hueber zwar verheiratet war, jedoch nicht mit seiner Begleiterin, hat m a n beide, »weillen sich sonst nichts verdechtiges bey ihnen erfunden . . ., zur Ersparrung der Uncossten sogleich in das Arbeith Haus nacher Burghausen . . . yberlifert«. 9 3 Im Gericht Aichach w u r d e Ende August 1786 die Familie Wertauer aus Burglengenfeld in der Pfalz-Neuburg, die mit einem Schleifkarren unter63

wegs war, v o m Gerichtsdiener beim Betteln festgenommen. Da kein Patent vorgelegt werden konnte, w u r d e n die Wertauers an ihren Heimatort zurücku n d zur Handarbeit angewiesen. Sollten sie sich nochmals aufgreifen lassen, w ü r d e der Schleifkarren konfisziert w e r d e n . 9 4 Das hätte dann jegliche Möglichkeit z u m ehrlichen Broterwerb zunichte gemacht. Auch viele Hausierer und ambulanten Händler fielen unter diese Kategorie. A m gleichen T a g wie die Wertauers w u r d e in Aichach die Hausiererin Maria Kunzin aus O b e r a m m e r g a u mit Sohn und Tochter wegen Betteins vorgeführt. Sie verfügte sogar über ein gültiges Handlungspatent »aufkurze Waar«, m u ß t e also vor kurzem erst eine Regierungsstelle von ihrer Respektabilität überzeugt haben. In Aichach wurden allerdings nur »einige geringe geistliche Bilder bey ihr erfunden«. Ihre gesamte Ware war nur drei bis vier Gulden wert. D e r Handel war neben dem Betteln eindeutig von untergeordneter Relevanz. Betteln und Hausieren wurden ihr verboten, andernfalls sollte »ihr nicht nur das Patent abgenohmen, sondern sich auch als eine Vagabundin angesehen werden«. 9 5 Ganz allgemein war es für Beamte nur schwer vorstellbar, daß sich ein ambulanter Händler zugleich gut und ehrlich ernähren konnte. Das geht aus einem Verhörsprotokoll des Hofmarksgerichts Blumental v o m 15. 5. 1786 h e r v o r . 9 6 Verhört w u r d e der Weber und Häusler Martin Eberle, d e m allzu enger Kontakt mit d e m Hausierer Joseph Settele und »anderen verdächtigen Leuten« nachgesagt wurde. Es ergab sich, daß Settele mit Hosenfell (?), Schnupftüchern und gelegentlich auch mit »gesulzten Zeugen« (?) handelte. Das klang nicht eben so, als hätte man damit besondere Reichtümer erwerben können. Dennoch hätten die Händler Eberle gegenüber geäußert, »daß, w e n n das Hausieren noch in Oestreich gienge, sie sich keine bessere N a h r u n g wünschen könnten«. Einer aus der Gruppe hatte angeblich mit einem Kapital von 130 Gulden angefangen »und n u n m e h r schon 800 f. eroberet«. Ungläubige Nachfragen des A m t s m a n n s verraten seine massiven Zweifel. Ähnliche Zweifel rief die vielfältig verwickelte Geschichte u m Wolfgang Troglauer hervor, der 1790 in Forchheim inhaftiert w u r d e . 9 7 Im Laufe der U n t e r s u c h u n g gab er zu Protokoll, daß er gelernter Weber sei, nun aber schon seit längerer Zeit »einen Handel mit Gallanterie« führte. Sein Warendepot - 25 bis 30 Gulden i m Wert - hatte er im »Grauen Wolf«, einer Wirtschaft in N ü r n b e r g . Er war mit einer gewissen Barbara Grasserin aus B a m b e r g verheiratet und konnte auch in der Tat eine Ehebescheinigung aus der N ü r n b e r g e r Vorstadt Gostenhof vorlegen. Nachforschungen in N ü r n berg ergaben, daß i m »Grauen Wolf« nur mehr eine kleine Schachtel mit Gläsern hinterlegt war; eine große, wohlversperrte T r u h e war einige Zeit zuvor von der Ehefrau abgeholt worden. Das fachte den A r g w o h n weiter an, so daß m a n den Gefangenen noch zusätzlich der Beteiligung an einem Uhrendiebstahl verdächtigte. Dieser Verdacht konnte nicht bestätigt w e r den, da nähere Informationen fehlten. So m u ß t e Troglauer nach immerhin

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zwei Monaten Untersuchungshaft in Forchheim entlassen werden, da ihm auch sonst nichts Unrechtes nachgewiesen werden konnte. 98 Normalerweise bewegte sich der Geschäftsumfang fahrender Händler, Hausierer etc. - wie die Beispiele zeigen - in einem ausgesprochen bescheidenen Rahmen. Das verweist auf die Alibifunktion des Gewerbes, jedenfalls in solchen Fällen. 1758 wurden in Hilpoltstein einige des Diebstahls verdächtige Vagierende verhört. Einer von ihnen, Friedrich Müller, 19- bis 20jähriger Sohn eines abgedankten Soldaten, ernährte sich nach eigenen Angaben mit »Knöpfhandeln«. Dabei blieb unklar, ob er die Knöpfe selbst herstellte oder sie nur vertrieb. Aufjeden Fall können die regulären Erträge nicht sehr hoch gewesen sein. Einer seiner Gefährten, Johann Seelmann, Sohn eines Webers, übte den Beruf eines Wurzelgrabers aus, bot also vermutlich Wurzeln zu Heilzwecken a n . " Diese Beispiele beziehen sich auf Personen, die offenbar nicht nur permanent vagierten, sondern schon der Gaunerschicht zuzuordnen sind. Gelegentlich versuchten Vagierende das Hausieren mit Schmuggel oder sonstigen illegalen Praktiken zu verbinden. Damit war dann die Grenze zwischen Subsistenzsicherung durch Arbeit und kriminellen Broterwerb vollends überschritten. Dieser Aspekt soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft und nur durch ein Beispiel aus dem Gericht Wolfratshausen beleuchtet werden. Vom Sauerlacher Amtmann wurde Ende März 1750 eine Christina Dollin aus der Au bei München »weegen verbottenen Tobacc tragen und Haußieren« angehalten und »alß eine Contrabandiererin« festgenommen. 100 Dieses Tabaktragen und -verkaufen verstieß gegen Monopole der staatlich kontrollierten und geforderten Tabakindustrie und des Handels. Dennoch - oder vielleicht gerade deswegen - gab es zahlreiche Vagierende, die sich auf diese Weise zu ernähren suchten, dabei aber eben mit dem Gesetz in Konflikt kamen. 101 Zusammenfassend sei festgestellt, daß der eine oder andere Angehörige der genannten >Vagantenberufe< vielleicht die Möglichkeit hatte, durch Ausübung seines Berufs seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Relativ leicht mag das solchen ambulanten Händlern gefallen sein, die über ein gewisses Grundkapital verfugten und denen es gelungen war, die Hürde der Gewährung eines obrigkeitlichen Handelspatents zu überwinden. Auf sie traf dann aber das bei Unterschichtangehörigen ständig begegnende Moment der akuten wirtschaftlichen Notlage nicht zu. Anderen mochte es gelingen, durch Anbieten von Waren oder Dienstleistungen hier und da einen zusätzlichen Kreuzer zu ergattern; zur Subsistenzsicherung reichte das jedoch nur in den seltensten Fällen. Nicht selten hatten die >Vagantenberufe< die Funktion, den ständigen Ortswechsel zu begründen. In jedem Dorf am Wege bot man seine Dienste oder Waren an. Akzeptierten die Einheimischen - um so besser, lehnten sie ab, konnte man beiläufig um ein Stück Brot oder ein wenig Geld bitten, häufig durchaus mit Erfolg. 102 Die Behörden konnte man allerdings selten täuschen. Die große Zahl 65

(vorgeblich) ambulanter Berufstätiger führte dazu, daß die notwendigen Patente i m m e r restriktiver gewährt wurden und damit auch tatsächlich lebensfähige, sinnvolle, wirtschaftlich tragbare und erträgliche U n t e r n e h m u n g e n erschwert, z u m Teil auch kriminalisiert wurden. Das läßt sich jedenfalls für Bayern generalisieren. Andernorts, vor allem in kleinen reichsritterschaftlichen Territorien, versuchte man, gerade Hausierern eine gewisse, begrenzte Möglichkeit zur sozialen und wirtschaftlichen Integration zu bieten. Allerdings hatte man dabei primär das eigene Staatssäckel im Auge. U m die Einkünfte aus Kopfsteuern und anderen Abgaben zu vermehren, w u r d e n heimatlose Leute angesiedelt und so reguläre A r m e n k o lonien gegründet. Böden und Verkehrslage derartiger Siedlungen waren natürlich nicht von erster Qualität. Die Angesiedelten konnten sich folglich k a u m am O r t selbst ernähren. Schon deshalb waren sie weitgehend dazu gezwungen, ihre alte E r w e r b s f o r m beizubehalten, eben in vielen Fällen den Hausiererhandel. Bezeichnenderweise nannte man derartige Siedlungen auch »Hausierergemeinden«. 1 0 3 Immerhin waren diese Menschen nun in einer rechtlich besseren Lage als zuvor. Sie waren an einem O r t ansässig, hatten einen Paß von einer Herrschaft und eventuell auch ein Handlungspatent. Daß dieses Patent in den Nachbarstaaten anerkannt wurde, ist allerdings nicht in j e d e m Fall anzunehmen. Die restriktive Haltung Bayerns in dieser Frage ist oben schon erwähnt worden.

6. Vagierende von Geburt Der direkteste und eindeutigste Weg in die Schicht der Vagierenden war der durch die Geburt; er w a r zugleich eine Einbahnstraße. Eine Eingliederung in >normale< gesellschaftliche Z u s a m m e n h ä n g e war so gut wie ausgeschlossen. In manchen Fällen ist aber nur mit Vorbehalt festzustellen, daß man es tatsächlich mit einem Vagierenden von Geburt zu tun hat. Es ist nicht i m m e r klar, ob eine Person, von der in den Quellen die Rede ist, auf einer legalen Reise oder Wanderung geboren w u r d e oder ob es sich u m ein Kind Vagierender handelt. M a n kann davon ausgehen, daß seßhafte Familien in gesicherter wirtschaftlicher Lage ihre Kinder in der Regel am Heimatort zur Welt brachten. Auf der anderen Seite ist die Sachlage eindeutig, wenn es in einem Verhörprotokoll beispielsweise heißt, der Befragte sei irgendwo auf d e m Feld unehelich geboren w o r d e n . 1 0 4 Auch wenn j e m a n d angab, er »seye 3 Stundt von Constanz gebürttig, ein Soldaten Khindt«, dann liegt die V e r m u t u n g nahe, daß er dort auf die Welt g e k o m m e n ist, als seine Eltern gerade vorüberzogen, u n d daß er den N a m e n des Geburtsortes nicht mehr wußte, weil er praktisch nie dort gelebt hat. 1 0 5 Das heißt aber nicht, daß alle Personen, die im Verhör einen Geburtsort angeben konnten, aus dort

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tatsächlich ansässigen Familien waren. Häufig waren sie nur auf der Durchreise geboren w o r d e n oder gehörten zumindest der Bevölkerungsgruppe an, die i m Grenzbereich zwischen Wandern und Vagieren lebte, s t a m m t e n auch nicht selten aus anrüchigen Berufen. Es sei hier nur an die Großhausener Hirtin erinnert, die i m Nachbargericht Aichach niederkam. 1 0 6 Von den geborenen Vagierenden lebten selbstverständlich besonders viele permanent auf der Straße. M a n kann in diesen Fällen k a u m von einem Absinken sprechen; m a n vagierte v o m T a g der Geburt an. Kinder, die auf der Straße geboren, von Vagierenden erzogen und auf die speziellen Gegebenheiten des Lebens auf der Straße vorbereitet w o r d e n waren, konnten w o h l nur selten eine Lebensauffassung entwickeln, die den sozialen moralischen und rechtlichen N o r m e n der Seßhaften entsprach. 1 0 7 Gelegentlich blieben Kinder Vagierender allein, weil sie erkannt hatten, daß sie dann weniger A r g w o h n , vielleicht auch mehr Mitleid erweckten. Z u m Teil spezialisierten sie sich darauf, den Aberglauben in der Bevölkerung auszunutzen. Im Pfleggericht Deggendorf w u r d e im Dezember 1751 der »Böhmb Pettlpuebe« Wolfgang Weber wegen »tentierter Abprennung, dan verybten Sackhgreiffen und Diebstahls willen, dan verdächtiger Hexerey« festgenommen. D e r V o r w u r f der Hexerei bezog sich auf seine Behauptung, ein Wettermacher zu sein. 1 0 8 G r u n d für die Festnahme war aber offensichtlich der eindeutig kriminelle Tatbestand der versuchten Brandstiftung wie auch des Taschendiebstahls. Er war z u m Zeitpunkt seiner Festnahme ganze 12 Jahre alt. Z u m Prozeß w u r d e er nach Straubing transportiert, über das Urteil ist nichts bekannt. 1 0 9 O h n e eindeutige strafrechtliche K o m p o n e n t e war der ansonsten ähnliche Fall des j u n g e n Wettermachers Johann Jacob Siemerth, der 1750 in Kötzting verhaftet wurde. Wegen seiner Jugend sah man von einer Bestrafung ab und schickte ihn stattdessen für eineinviertel Jahre in das Franziskanerkloster nach C h a m . D o r t sollte ihm als Gegenmittel z u m Aberglauben »geistliche Disziplin« beigebracht werden. 1 1 0 Soziale Kontakte, die solche Kinder hatten oder anknüpften, beschränkten sich weitgehend auf Menschen in ähnlichen Lebensumständen. Hinsichtlich der Subsistenzsicherung waren sie weitestgehend auf Bereiche angewiesen, die als illegal galten. Es ist deswegen kein Zufall, daß sich in erster Linie aus dieser Gruppe die kriminelle Gaunerbevölkerung herausbildete. Kinder, die hier hineingeboren wurden, w u r d e n in ihrer sozialen Randstellung - sofern überhaupt möglich - noch weiter bestätigt und verstärkt. Teilweise durchliefen sie eine regelrechte Ausbildung, 1 1 1 w u r d e n auch wohl speziell eingesetzt. Beispielsweise waren es oft nicht ausgewachsene Kinder oder Halbwüchsige, die durch besonders enge Außenfenster oder in die Wände gebrochene Ö f f n u n g e n einsteigen und ihren Komplizen die T ü r e n öffnen k o n n t e n . 1 1 2 Eine G r u p p e Vagierender, die 1754 in N ü r n b e r g festgenommen wurde, bietet das typische Bild einer Gaunerfamilie und dokumentiert zugleich den O r t solcher Menschen zwischen Landstraße und Richtplatz. 1 1 3 Da war 67

zunächst Anton Büttner, alias »Schwäbel Toni«, alias Johann Höst, 24Jahrealt, Sohn eines 20 Jahre zuvor als Dieb gehängten ehemaligen schwäbischen Soldaten. Er w a r verheiratet und hatte Frau und Kind bei sich. A u ß e r d e m Joseph Schejjher, 19 bis 20 Jahre alt, ledig, Sohn eines Tagwerkers, der vor etwa lOJahren ebenfalls als Dieb gehängt w o r d e n war. Diese beiden w u r d e n n u n ihrerseits wegen Diebstahls z u m Strang verurteilt und hingerichtet. Weiterhin gehörten zu der Gruppe: die Mutter von Schejjher; die W i t w e des Bruders von Büttner, der wiederum seinerseits in Schwaben als Dieb gehängt w o r d e n war. Diese beiden Frauen waren erst vor kurzem mit Prügel bestraft w o r d e n und wurden nun »auf ewig« ins Zuchthaus verurteilt; die 14jährige unehelich geborene Schwester von Büttner; der 11- bis 12jährige Bruder Schejfhers. Hier ist das Schicksal von drei Generationen Vagierender zu erkennen. Die Väter waren wegen einiger beinahe zwangsläufig verübter Diebereien hingerichtet worden. Die Söhne hatten nie die Gelegenheit b e k o m m e n , sich in einen normalen Arbeits- u n d Lebensprozeß zu integieren, und endeten ebenfalls am Galgen. U m die Chancen der von ihnen hinterlassenen Kinder i m Alter von 14 Jahren abwärts stand es nicht eben besser. In der Regel w u r d e n solche Waisen fur eine gewisse Zeit in Klöstern, Waisenhäusern, gelegentlich in Arbeitshäusern oder auch bei Privatleuten untergebracht, w o sie dann einer >christlichen< Erziehung unterzogen w u r d e n . 1 1 4 Waren sie alt genug, zogen sie auf eigene Faust weiter. In j e d e m Fall aber blieb der Makel ihrer H e r k u n f t an ihnen haften. Ergänzt w u r d e die Gaunerbevölkerung natürlich noch durch Menschen, die den längeren Prozeß des Absinkens aus anderen Unterschichtgruppierungen durchlaufen hatten. Eine Gaunergruppe aus Mittelfranken ist ein gutes Beispiel für eine solche Gemeinschaft Vagierender unterschiedlicher Herkunft. Im Z u s a m m e n h a n g mit den Fahndungen nach Mitgliedern der sogenannten »Eyerguxen-Bande« w u r d e n einige Personen 1785 in Hilpoltstein festgen o m m e n und wenig später zur näheren Untersuchung nach N ü r n b e r g ü b e r f u h r t . 1 1 5 Es handelte sich eher u m Randfiguren der Bande. Jedenfalls konnte ihnen außer Betteln und Vagieren nichts Strafbares nachgewiesen werden. Die Gruppe bewegte sich bevorzugt in den Territorien des fränkischen Kreises, w o die obrigkeitlichen M a ß n a h m e n gegen Vagierende k a u m finanziert und wegen der Kleinräumigkeit der Region auch schlecht organisiert w e r d e n konnten. Die Informationen aus den Untersuchungsunterlagen lassen die einzelnen Personen, ihre Lebensumstände u n d ihren Werdegang recht plastisch hervortreten. Der 27jährige Sebastian Heidel (auf Karte 2 mit Η bezeichnet), H ü t e r und Soldatensohn, z u m Beispiel nannte folgende Orte, an denen er sich aufgehalten und zeitweilig gearbeitet hatte: Rosstal (Geburtsort), Bühl, Fürth,

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Η Κ Μ *

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Bayreuth

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Kfsm.

Bayern

Karte 2: Zeitweilige Aufenthaltsorte der sog. »Eyerguxen«-Bande

Zerzabelshof (vermutlich nahe Nürnberg), Beerbach, Ziegelstein, 1 1 6 Allmoshof, Feucht, Marktschorgast, Bamberg (Zuchthausstrafe) und Hilpoltstein. D e r 19- bis 20jährige Knopfhändler Friedrich Müller (M) stammte aus Pilsen in B ö h m e n . Trotz seiner Jugend hatte er schon zwei Jahre zuvor in Fürth eine Soldatentochter geheiratet, die sich zur Zeit der Untersuchung in V o r d o r f bei Wunsiedel aufhielt. Der 22- bis 23jährige Balthasar Kraus (K) war in Forchheim geboren, diente zeitweilig ebendort, aber auch nahebei in Kirchehrenbach, in Dietshofen bei Leutenbach und - schon weiter entfernt i m sulzbachischen Waldthurn. Zeitweilig bettelte er an der böhmischen Grenze. D e r 24jährige Wurzelgraber und Weberssohn Johann Seelmann (S) s t a m m t e aus dem A m t Bechhofen. Seine Frau war verstorben, sein Kind hielt sich bei seiner Mutter in K e m n a t h auf. Die 25- bis 26jährige Anna Margaretha Frankin (F) w a r ein uneheliches Soldatenkind und gab an, vor allem im Bayreuthischen zu betteln.

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Die 21- bis 22jährige Anna Elisabetha Mayerin (Ma) schließlich, ebenfalls eine Soldatentochter, war in Berneck geboren worden. Sie diente einige Jahre bei einem Bäcker in Eger, w u r d e dann von einem Bäckergesellen schwanger und bettelte seither. Wie Karte 2 zeigt, konzentrierten sich die Mitglieder dieser G r u p p e weitgehend auf den oberfränkischen Raum, vor allem auf die Gebiete der Reichsstadt N ü r n b e r g , des Bistums Bamberg und des Fürstentums Brandenburg-Bayreuth. Gelegentlich kamen sie natürlich auch nach B ö h m e n , in das seit 1777 bayerische Pfalz-Sulzbach sowie in die Oberpfalz. M a n kann allerdings feststellen, daß sie die Territorien der größeren Flächenstaaten nach Möglichkeit mieden. Die härteren Maßnahmen, die man schon seit langem etwa in ober- und niederbayerischen Gerichten Vagierenden gegenüber durchsetzte, suchte man auch in der Oberpfalz durchzufuhren - infolge der geographisch-politischen Lage allerdings mit etwas geringerer Wirkung. Es w a r a u f j e d e n Fall ratsam und für erfahrene Vagierende, wie wir sie hier vor uns haben, auch selbstverständlich, sich als Vagierender auf die kleinen ober- und mittelfränkischen Staaten zu beschränken, w o man in der Regel erst dann Schwierigkeiten mit den Behörden bekam, w e n n ein konkreter Verdacht wegen einer Straftat bestand. Das w a r in diesem Beispiel der Fall. Die Art der Verbindung der genannten Personen zur »Eyerguxen-Bande« soll hier jedoch weniger interessieren. 1 1 7 Die Informationen und Protokolle lassen aber noch weitere Schlußfolgerungen hinsichtlich der Prägung des einzelnen durch H e r k u n f t und Beruf zu. Zugleich lassen sich Phasen des Absinkens erkennen. Heidel und Kraus hatten sich zeitweilig durch Hüter-, Bauernknechts- oder sonstige Dienste ernähren können, und zwar in erster Linie wieder in der näheren U m g e b u n g ihrer Heimatorte. Heidel hielt sich also vorwiegend in der N ä h e N ü r n b e r g s und Kraus in der N ä h e Forchheims auf. Im Winter, w e n n z u m Beispiel Hüterdienste nicht benötigt wurden, dürften sie gelegentlich gebettelt haben. Jedoch erst als sie längere Zeit keine Arbeit m e h r fanden bzw. nicht m e h r in feste Dienste treten mochten, entfernten sie sich weiter von zu Hause. Kraus fand auf der Wanderung zeitweilig Dienst in Waldthurn, hatte allem Anschein nach also nicht von heute auf m o r g e n mit seinem bisherigen Leben brechen wollen. Als er dann jedoch Fieber bekam und nicht mehr arbeiten konnte, blieb ihm nur die Möglichkeit des Betteins an der nahegelegenen böhmischen Grenze. Während der Phasen des dienstlosen Umherziehens w a r die Gefahr, irgendwie auffällig zu werden, naturgemäß besonders groß, selbst in dem zu der Zeit relativ lauen obrigkeitlichen Klima Frankens. So erstaunt es nicht, daß Heidel in Marktschorgast im Bayreuthischen, also recht weit von zu Hause entfernt, nach einer Schlägerei mit einem Abdecker (!) erstmals inhaftiert und auf ein Jahr ins Zuchthaus nach B a m b e r g geschickt wurde. In einem stabileren sozialen und Dienstverhältnis als Heidel und Kraus stand zumindest zeitweilig Anna Elisabetha Mayerin. Als sie dann jedoch nach

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drei Jahren Gesindedienst unehelich schwanger wurde, sah sie offenbar nur mehr die Alternative Betteln. Bei ihr ist damit eine eindeutige Ursache f ü r den Wechsel der Lebensweise erkennbar. Das bestätigt die zuvor angestellten Überlegungen über die besonders gefährdete Situation von Frauen an der Grenze z u m Absinken in die Schicht der Vagierenden. 1 1 8 Bei Friedrich Müller und Anna Margaretha Frankin war die Ausgangslage eindeutig. Ein Soldatensohn, der nicht wußte, ob sein Vater noch lebte, seinerseits mit einer Soldatentochter verheiratet, Knopfhändler von B e r u f das klingt nach einem >klassischen< Vagierenden. U n d die Frau gab an, sie »seye bey Ammerstatt ohnweit Bamberg auf d e m Feld unehel: gebohren worden, u n d solle ihr Vater ein kayl: Soldat gewesen seyn und Hanns Frank geheißen haben«. Es ist nur folgerichtig, daß sie als einzigen E r w e r b das Betteln angab. Diese beiden waren also ohne jeden Zweifel geborene Vagierende. In der Behandlung durch die Justiz w u r d e n allerdings keine nennenswerten Unterschiede gemacht. Auch von Elisabetha Hartmannin, angeblich verheiratete Sommerin, die sich zeitweilig auch Elisabetha Hackerin, vulgo »Kartenschlager Lisi« nannte, sind in ähnlicher Weise einige Stationen ihres Lebens bekannt g e w o r d e n . 1 1 9 Auch sie vagierte permanent, hielt sich aber ganz offenbar Zeit ihres Lebens im mittel- u n d oberfränkischen R a u m auf, ohne jemals einen festen Wohnsitz zu haben, gehörte also zur Gruppe der Vagierenden mit starker Bindung an die Heimatregion. Beim Blick auf Karte 3 fällt auf, daß ihr Wandergebiet fast identisch war mit d e m der vorher genannten Gruppe. 1773 war Elisabeth vermutlich irgendwo im Fränkischen als Tochter eines abgedankten Soldaten und einer aus Altdorf gebürtigen Z i m m e r m a n n s t o c h t e r geboren w o r d e n . 1 2 0 Das erste Mal fiel sie auf, als sie etwa 1791 oder spätestens Anfang 1792. in Pegnitz zusammen mit ihrer Mutter, ihrer jüngeren Schwester und ihrem Bruder f e s t g e n o m m e n und wegen Gänsediebstahls und Hehlerei auf einige Zeit ins Zuchthaus nach Bayreuth gebracht w u r d e . 1 2 1 Ihre Mutter starb während dieser Haftzeit. Kurz vor oder kurz nach dieser Episode wollte Elisabeth auch zeitweilig bei einem Bauern in Poppenreuth in der Oberpfalz in Diensten gestanden haben, was allerdings von den Behörden nicht nachgeprüft wurde. Im August 1792jedenfalls w u r d e sie zusammen mit ihrem vorgeblichen E h e m a n n Caspar Sommerer und noch einigen anderen Vagierenden in Betzenstein verhaftet. Nach längeren Verhören gab der weniger standfeste Sommerer schließlich zu, daß sie beide nicht, wie behauptet, vor drei M o n a t e n in Neunkirchen in der N ä h e von Weiden geheiratet hatten, sondern daß »er nicht länger als 4 Wochen bey derselben sich befinde«. 1 2 2 D a m i t w a r der Tatbestand des »hurenweis« Zusammenlebens gegeben. Die Strafe, die gegen die beiden verhängt wurde, ist nicht exakt überliefert. Sommerer sollte zusammen mit seiner Begleiterin den kaiserlichen Werbern übergeben werden. Wenn er dort nicht a n g e n o m m e n wurde, dann sollte sie erneut ins Zuchthaus geschickt werden! Hier sollte also durch die Verurtei-

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Η = Hartmannin S -

Sommerer

\ Mgft. Bayreuth \ \

Hst. Bamberg

I Sch warzcnbergf' ! ι

Böhmen S ι t* \

H(1791/92) p . >s ο jJ \ V VBAYREUTHr K e m n a t h " V / A 0H(1791/92) \ / \ / / \ Oberpfalz / I ' J V"* \ V /

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Mgft. Ansbach

Kfsm. Bayern

Karte 3: Zeitweilige Aufenthaltsorte der Elisabetha Hartmannin und ihres Partners Caspar Sommerer

lung des Mannes z u m Militärdienst in erster Linie die als gefährlicher eingeschätzte Frau möglichst billig ausgeschaltet w e r d e n . 1 2 3 Wie d e m auch sei, sonderlich erfolgreich war die Strafmaßnahme nicht. Schon ein Jahr später w u r d e Elisabeth Hartmann, diesmal in Begleitung mehrerer anderer Frauen u n d Kinder, erneut in Betzenstein aufgegriffen und, da m a n sich ihrer noch gut erinnerte, sofort ohne nähere Untersuchung ins Zuchthaus nach N ü r n b e r g gebracht. 1 2 4 Ein letztes Mal hört man von ihr in einer Anfrage des Gerichts Schnaittach an das Schöffenamt N ü r n b e r g aus d e m Jahre 1800: eine 16köpfige Bande war dort - nur wenige Stunden südlich von Betzenstein - gefangengenommen worden. U n t e r ihnen waren Elisabeth Hartmann, dann »ein gewißer Niklas Hartmann,125 sogenannter grummauligter Kartenschlager Nicki«, offenbar ihr Bruder, u n d »ein gewisserJohann Somerer, vulgo Schinderhanns«, in dem m a n w o h l einen Bruder des vorgeblichen Ehemans v o n Elisabeth sehen kann. 1 2 6 M a n darf als sicher annehmen, daß die Frau

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n u n m e h r als »incorrigible Vagantin« auf Dauer ins Zuchthaus verurteilt wurde.

7. Soldaten Es w u r d e v o r n bereits daraufhingewiesen, daß unter den Vagierenden sehr viele Soldaten - Entlassene mit Abschiedsurkunde oder Deserteure - zu finden waren. Die Gründe dafür sind einleuchtend. Soldaten hatten vor allem in Kriegszeiten jahrelang ohne festen Wohnsitz gelebt, hatten neue moralische Kriterien akzeptiert bzw. akzeptieren müssen, hatten eventuelle Bindungen an Heimat u n d Familie verloren und waren unter U m s t ä n d e n neue persönliche Bindungen eingegangen, die auch aus dem U m f e l d des Soldatenlebens herrühren mochten. Sehr viele Soldaten waren schon vor Beginn ihres Dienstes in die Schicht der Vagierenden abgesunken. Sie hatten das H a n d geld, das ihnen der Werber bot, als letzte Rettung aus akutem Elend gesehen und waren zugleich für den Augenblick geschützt vor möglichen gerichtlichen Verfolgungen. O d e r aber sie waren vor Gericht einer Straftat überfuhrt w o r d e n , die nicht ausreichte, sie z u m T o d e zu verurteilen. Da die Kapazität der Arbeits- und Zuchthäuser begrenzt war, w u r d e n sie dann häufig »ad militiam condemniert«. 1 2 7 M a n kann also hinsichtlich des Soldatenstandes weniger von einem Beruf sprechen; es handelte sich eher u m einen Lebensabschnitt, der wegen seiner besonderen Bedingungen - Unstetigkeit und Gewalt - in spezifischer Weise prägen u n d deswegen als besonders einschneidende Zäsur im Leben eines Menschen wirken konnte. D e r Militärdienst konnte auch unmittelbar zu körperlichen Schäden führen, die Arbeitsunfähigkeit zur Folge hatten. 1775 w u r d e in der österreichischen Herrschaft Ulmerfeld ein invalider Vagierender, der dort schon mehrfach aufgefallen war, verhört. Es handelte sich u m den 50jährigen Tagwerkerssohn Andreas Gänger aus Schwaben, verheiratet, ohne Beruf. Er war 1752 österreichischer Soldat geworden u n d 1768 als Invalide entlassen w o r d e n . Er zog dann nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, wieder in seine Heimat. N a c h so vielen Jahren hatte er ohnehin keine engere Beziehung mehr dorthin. Stattdessen hielt er sich in der Gegend Ulmerfeld auf und ernährte sich teils durch Viehhüten - dabei war seine Behinderung von geringer Bedeutung - teils auch durch Betteln. 1 2 8 Natürlich w u r d e das finanzielle M o m e n t nie aus den Augen verloren, wenn m a n sich anwerben ließ; Sicherung des Lebensunterhalts war bei Unterschichtangehörigen i m m e r das zentrale Problem. So gab die vagierende Bettlerin Maria Buchnerin 1752 an, daß ihr M a n n i m m e r wieder Soldatendienste a n g e n o m m e n hätte, »und w a n n sie ein wenig etwas gehabt, wäre er wieder desertiert«. 1 2 9 Hier hatte der Militärdienst also den Stellen73

wert einer Gelegenheitsarbeit und wurde nur von Zeit zu Zeit angenommen. Allerdings war dieses Vorgehen nicht ohne Risiken. Auch in Friedenszeiten standen auf Desertion empfindliche Strafen, und gleichgültig, ob man ihre Vollstreckung erlitt oder ob man das Land verließ, um ihnen zu entgehen - die Zäsur konnte dadurch vollends zum biographischen Bruch werden. Das in der Hofmark Au mit dem verdächtigen Vagierenden und Deserteur Adam Gerstenberger geführte Verhör aus dem Jahre 1774 gibt nicht nur einen Einblick in den sarkastisch eingefärbten Wortwitz des Delinquenten, sondern auch in verschiedene Aspekte eines mehr oder minder typischen Lebenslaufs. Es sei deswegen ausfuhrlich dargestellt. 130 Gebürtig war Gerstenberger von Amberg in der Oberpfalz. Sein bereits verstorbener Vater hatte als Gärtner in Freising gearbeitet, seine Mutter lebte immer noch dort. Sie hörte auf den Namen »Dürcken Clara«, er selbst wurde der »Dürck« genannt. 1 3 1 Diese Spitznamen und der Hinweis auf die beträchtliche Ortsveränderung lassen schon auf den Status der Eltern als zumindest zeitweilig Vagierende schließen, die schließlich doch die Wiedereingliederung bewerkstelligt hatten. Der Sohn allerdings war bald erneut abgesunken. So antwortete er auf die Frage nach seinem Wohnort: »Seyn Heimat und Aufenthalt seye aller Orthen, zu Freysing aber derfe er sich nicht sechen lassen, weillen er [dort] ein Grenadier gewesen und desertiert wäre.« Antwort auf die Frage nach dem Beruf: »Seye seiner Profession ein Gartner, er ernähre sich [aber] mit Betlen und dessen Weib mit Stricken.« Auf die Frage, ob er Vermögen habe oder eine Erbschaft zu erwarten sei, antwortet er: »Habe nichts in Vermögen und eben sovill zu hoffen.« Die Frage nach bisherigen Festnahmen beantwortet er zwangsläufig etwas ausführlicher, wenn auch vermutlich noch nicht erschöpfend: »Da er von Freysing desertiret, seye er nacher Salzburg und habe sich alldorth als Solldat engagieren lassen. [Er sei] aber von dorten wiederumben entwichen und nacher Freysing, weillen von dem alldasig gdisten Lands-Fürsten Pardon ausgeschriben worden, zurückgekhert und [wurde] 4 Wochen in das Amtshaus gesteckt, sohin wiederumben entlassen und ihme auf 3 Jahr lang die Stadt verwiesen.« In der Antwort auf die Frage nach seinem Gesundheitszustand fand er wieder zur gewohnten Kürze zurück: »Da fehle nichts, er seye schon gesund und ohne Leibs Mängl.« Das war ja auch in der Tat Voraussetzung für einen Mann, der bei Bedarf in wechselnde Militärdienste trat, um für den Moment sein Auskommen zu haben. Neben der Desertion wurde ihm offensichtlich noch anderes vorgeworfen, da man ihn trotz des bischöflichen Pardons längere Zeit in Freising in Haft behalten und anschließend des Landes verwiesen hatte. Auch die biographischen Daten seiner mitgefangenen Frau Anna Maria - es gab übrigens Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ehe - erhärten den Schluß, daß man es hier mit einem »Vagantenpaar« zu tun hatte, das endgültig abgesunken war. Sie selbst war unehelich geboren worden. Ihr

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Vater w a r ein Amtsknecht in Regensburg gewesen und ebenso wie die Mutter schon verstorben. Beide waren ursprünglich lutherisch gewesen, die Mutter konvertierte jedoch später. Das war eine häufig geübte Praxis unter Vagierenden. 1 3 2 Als Konvertitin konnte sie mit wohlwollender Almosenvergabe vor allem in geistlichen katholischen Territorien rechnen. Überdies hatte sie damit eine Erklärung dafür, w a r u m sie nicht mehr an ihren lutherischen - Heimatort zurückkonnte, hoffte w o h l auch auf besondere Nachsicht des katholischen Untersuchungsbeamten. Anna Maria Gerstenberger legte im Verhör jedenfalls Wert auf die Feststellung, daß sie »kathollisch erzogen worden«. Auch das bewegte Leben von Michael Beyer war maßgeblich von wechselnden militärischen Diensten u n d Funktionen geprägt. Er k a m 1769 als 45j ähriger wegen eines Wäschediebstahls in Gerolfingen in H a f t . 1 3 3 Sein Schicksal und das Los seiner Familie lassen in exemplarischer Weise Phasen des Absinkens aus einer zunächst relativ gesichert erscheinenden bürgerlichen Existenz erkennen. Er stammte aus einer nicht unbedingt wohlhabenden, aber doch seßhaften Familie. Offenbar war er schon mehrfach z u m i n dest zeitweilig in den Status eines mehr oder minder kriminellen, auf jeden Fall aber schlitzohrigen Vagierenden abgesunken, hatte jedoch i m m e r wieder den Schritt zurück in eine halbwegs >normale< Existenz vollzogen. Seine Angaben i m Verhör könnten als Romanvorlage herhalten. 1 3 4 Bis zu seinem 16. Lebensjahr arbeitete er in der Ziegelhütte seines Vaters in Ehingen mit, erlernte dann in N ü r n b e r g das Bäckerhandwerk und ging anschließend zur österreichischen Armee, in der er als Feldbäcker und Marketender insgesamt drei Jahre lang diente. Nach Kriegsende 1745 135 arbeitete er w i e d e r u m eineinhalb Jahre bei seinem Vater in Ehingen. D a n n w u r d e er erneut Soldat, diesmal in seiner Heimat Brandenburg-Ansbach, und zwar fur weitere dreieinhalb Jahre. Etwa 1750 erhielt er seinen Abschied und ging darauf nach Holland, w o er als Reiter in die leichte Kavallerie des Prinzen von Haag eintrat. D o r t hielt es ihn allerdings nur ein dreiviertel Jahr, bis er dann »samt Pferdt, Sattel und Zeug« desertierte - das Protokoll vermerkt, daß der Inquisit sich an dieser Stelle seiner Aussage das Lachen nicht verkneifen konnte. Nach der Desertion begab er sich auf kürzestem Weg zur französischen Armee, w o er die Ausrüstung für 60 Gulden versilberte und anschließend ein weiteres dreiviertel Jahr als Marketender diente. Danach, also etwa 1752, kehrte er in seine Heimat zurück und versuchte nun, sein bisher unstetes Leben in geordnetere Bahnen zu lenken. O f f e n b a r hatte er als Marketender auch ein gewisses Grundkapital erwirtschaftet. Er heiratete und bewirtschaftete nacheinander mehrere Ziegelhütten i m Fränkischen. Sein Abstieg w u r d e eingeleitet durch einen Prozeß mit einer Frau aus Ansbach, mit der er früher sowohl ein Verhältnis als auch Geschäftsverbindungen unterhalten hatte. Er verlor durch den Gerichtsentscheid sein ganzes V e r m ö g e n sowie die Mitgift seiner Frau. Schließlich k a m er Ende der 50er Jahre nach Gerolfingen, w o er Handel mit Flachs, Werg, 75

Schmalz u n d Trockenobst trieb. Das brachte allem Anschein nach nicht viel ein. Überdies war seine Familie beachtlich angewachsen; 1769 war seine Frau mit d e m 11. Kind schwanger. Auch die Ü b e r n a h m e eines Steinbruchs in Gerolfingen half i h m nicht aus den Schulden heraus. Da er schon zuvor zwei kleine Diebstähle begangen hatte, w u r d e er nach der Untersuchung von 1769 der ansbachischen Lande verwiesen. 1 3 6 D a m i t war die eher unfreiwillige H i n w e n d u n g z u m Leben als Vagierender bereits faktisch vollzogen. Das gilt auch und insbesondere für die größtenteils noch minderjährigen Kinder. Die Familie wollte sich allerdings noch nicht damit abfinden. Sie versuchte zunächst, den Ausweisungsbeschluß zu ignorieren und zog nach Wassertrüdingen. Es gab nun jedoch keine Möglichkeit mehr, sich ehrlich zu ernähren. 1770 folgten weitere Anklagen wegen Diebstahls, die dann zu einer sechsjährigen Zuchthausstrafe für den Vater mit anschliessender Verweisung aus dem gesamten Gebiet des Fränkischen Kreises führten. Die Frau sollte das Land nach abgeschworener U r f e h d e zusammen mit den Kindern sofort verlassen. Hinsichtlich des ältesten, 16jährigen Sohnes w u r d e geprüft, ob er z u m Soldatendienst tauglich war. Eine positive Entscheidung hätte ihm möglicherweise eine ähnliche Biographie wie die seines Vaters eingebracht. 1 3 7 Schließlich w u r d e von der Zuchthausstrafe für Vater Beyer abgesehen und allgemein auf Landesverweisung f ü r die ganze Familie entschieden. M a n wollte Frau und Kindern nicht für sechs Jahre den >Ernährer< n e h m e n . 1 3 8 O b für Beyer tatsächlich irgendeine Möglichkeit bestand, unter den gegebenen U m s t ä n d e n nochmals eine ehrliche, stabile Existenz aufzubauen, m u ß allerdings stark bezweifelt werden. Faktisch bedeutete das Urteil, daß n u n m e h r eine 13köpfige Sippe Vagierender zusätzlich auf die Straße geschickt wurde.

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V. Kampf ums Überleben. Alltag auf der Straße

1. Beziehungen und soziale Kontakte Die F o r m des Lebens als Vagierender wirkte sich auch auf die Art u n d Weise aus, in der persönliche Beziehungen geknüpft und unterhalten wurden. U m g e k e h r t konnte auch eine obrigkeitlich nicht sanktionierte Beziehung, eine Eheschließung zumal, geradezu der Anlaß z u m Einstieg in die vagierende Lebensweise werden.

Gaunerhochzeit Die erste These illustriert plastisch das Verhör des »Stuz Ärmbl« Christoph Tanner (offenbar w a r der M a n n armamputiert), der 1744 im Münchener Gefängnis Falkenturm saß. Im Z u g e weiterer Untersuchungen w u r d e ein Protokollauszug seines Verhörs an das Landgericht Dachau übersandt. 1 In d e m Protokoll geht es insbesondere u m die Ehe, die der Delinquent kurz vor seiner Festnahme mit einer gewissen Amalia Weissin geschlossen hatte. Kennengelernt hatte er sie einige Jahre zuvor in Warttenberg, w o er als Pechler bei der Herstellung von Seilen, sie als Strickerin gearbeitet hatten. Damals standen sie noch in keiner näheren Beziehung zueinander. Die Frau hätte vielmehr »umb einen T a m b o u r unter dem Remondischen caresiert«. M a n begegnete sich 1743 im Moosburgischen wieder. Die Weggefährtin seiner Frau dort, eine Amtmannstochter und Frau eines Scherenschleifers, schlug i h m vor, Amalia doch zu heiraten. Bei diesem Vorschlag ging es weniger u m den männlichen Schutz, den eine vagierende Frau benötigen mochte, sondern w o h l in erster Linie u m den Anschein von Respektabilität, den eine mit Brief und Siegel legal geschlossene Ehe den Behörden gegenüber bot. Himmelhochjauchzende Liebe war es in diesem Fall w o h l nicht. Jedenfalls äußerte Stuz Ärmbl seine Begeisterung über den Vorschlag ungekünstelt zurückhaltend: »Mir ist es recht, w a n sye die Erlaubnus herausbringet.« Amalia und ihre Freundin besorgten tatsächlich eine Heiratserlaubnis des Bistums Freising, w o solch ein D o k u m e n t allem Anschein nach einfacher zu erlangen war als in den umliegenden bayerischen Territorien, zumal i m Jahre 1743. Die T r a u u n g mit zahlreichen geladenen Gästen fand dann in Wolframsdorf i m Gericht M o o s b u r g statt, die Feier anschlies77

send i m Wirtshaus in Dietenhausen. Der Bräutigam hielt sich übrigens beim Tanzen zurück, »weill ers verödet«. Die Harmonie des Augenblicks mochte auch der A m t m a n n von Langenbach nicht stören, der während der Feier an der Spitze einer Streife auftauchte. Er erklärte, »den Ehrentag« der Brautleute respektieren zu wollen. Es seien zwar einige Verdächtige unter den Gästen, aber die werde m a n schon noch ein andermal erwischen. Bei Brautleuten und Gästen handelte es sich offensichtlich u m permanent Vagierende, die nur gelegentlich Arbeit fanden oder annahmen. Das geht auch aus den Berufsbezeichnungen im Protokoll hervor: Pfannenilicker, Soldat, Hausierer, Schleifer, Amtsknecht etc. Die Gruppe oder doch die meisten ihrer Mitglieder gehörten recht eindeutig zu der im Laufe des 18. Jahrhunderts sukzessive anwachsenden Gaunerschicht mit starker krimineller Komponente. Deswegen w u r d e sie auch v o m Gericht Dachau mit d e m zu der Zeit in der Region auftretenden »Räubergesindel« in Verbindung gebracht. Aus d e m Protokoll läßt sich ersehen, wie weit man sich unter Vagierenden zumindest dieser Kategorie von gesellschaftlich, jedenfalls aber obrigkeitlich sanktionierten Vorstellungen hinsichtlich der Ehe entfernt hatte. Z u einer Zeit, da die Gerichte einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit den verschieden schweren Fällen von Unzucht - angefangen v o m intendierten >Fensterln< bis hin z u m wiederholten außerehelichen Verkehr mit den entsprechenden Folgen - widmeten, schlossen hier zwei Vagierende den >Bund fürs Leben< in einer Art und Weise, die besonders in der Formulierung des männlichen Hauptbeteiligten satirische A u s f o r m u n g e n hatte. Zwangsläufig hatte m a n andere Maßstäbe in Fragen der Moral, der Religion und der materiellen Absicherung. Das waren aber gerade die Kriterien, nach denen sich die Obrigkeit bei der Erteilung oder Verweigerung der Heiratserlaubnis richtete. 2 Erhielt ein Vagierendenpaar wider Erwarten die Erlaubnis — und noch aus der Aussage des Stuz Armbl kann m a n seine Überraschung darüber erkennen - dann feierte man das Fest vordergründig nach den N o r m e n der etablierten Gesellschaft. Bier w u r d e getrunken, Brot gegessen, z u m Tanz aufgespielt. Braut und Bräutigam zogen sich »umb Bettzeit« zurück, wie man es von ihnen erwartete. Die Gäste blieben noch eine Zeit beisammen - und verübten anschließend noch in derselben Nacht einen Einsteigediebstahl. Das war zumindest der A r g w o h n des Gerichts. So ein Fest wollte schließlich finanziert sein. Vor diesem - letztlich unbewiesenen, aber nicht unwahrscheinlichen - Hintergrund gewinnt die v o r n e h m e Zurückhaltung des A m t m a n n s von Langenbach am »Ehrentag« der Brautleute noch eine zusätzliche pikante Note. Die obrigkeitliche Heiratserlaubnis war Voraussetzung für die Eheschließung. V o n immenser Bedeutung für Vagierende war dann der T r a u - oder »Kopulationsschein«, den der Pfarrer, der die Ehe geschlossen hatte, ausstellte. Vagieren u n d Betteln allein standen schon unter Strafe; wenn man dann noch »hurenweis« zusammenlebte, konnte das mögliche Strafen

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empfindlich steigern. Der Trauschein hatte, wie gesagt, darüber hinaus die Funktion, allgemein als Paß und als Beleg dafür zu wirken, irgendwann einmal zur Eheschließung obrigkeitlich zugelassen, das heißt eben wirtschaftlich und sozial als halbwegs stabil anerkannt worden zu sein. 3 U m so bedauerlicher war es natürlich, w e n n ein an sich gültiger T r a u schein wertlos war, weil er unter Vorlage eines gefälschten Passes auf einen falschen N a m e n ausgestellt war. In einem vorliegenden Beispiel sah sich das Paar gezwungen, später auch noch den Trauschein auf den richtigen N a m e n fälschen zu lassen, als es in Gegenden zurückkehren wollte, in denen der M a n n allgemein bekannt w a r . 4

Verlust des Partners N e b e n Nützlichkeitserwägungen bei der Eheschließung hat aber sicher auch die emotionale Bindung an den Partner oder die Partnerin eine Rolle gespielt. Insbesondere bei Angehörigen von Unterschichten - vor allem bei Vagierenden, die unter d e m Vorzeichen sozialer Geringschätzung, materieller N o t u n d der D r o h u n g obrigkeitlicher Verfolgung leben mußten - war dieses M o m e n t vermutlich von großer Bedeutung. Die Quellen sagen hierüber allerdings nur selten direkt etwas aus. Es fiel Richtern und Beamten schwer, bei Personen, denen sie allgemein Müßiggang, Faulheit, Liederlichkeit oder noch Schlimmeres vorwarfen und die sie deswegen verfolgten, Anzeichen für >positive< Regungen wie Liebe, Trennungsschmerz und Treue zu erkennen, zu akzeptieren und dann am Ende gar noch in Protokollen oder Gerichtsbüchern unmittelbar festzuhalten. Im Gegenteil m a n sah in Ehen und erst recht natürlich in eheähnlichen Verbindungen zwischen Vagierenden geradezu ein Indiz für Verworfenheit und Sittenlosigkeit. Das zeigt beispielsweise die Reaktion der Obrigkeit auf das erschütternde Schicksal einer Frau, die 1752 im Landgericht R o t h festgenommen w u r d e . 5 Die »liederliche Dirne und Vagantin Maria Buchnerin« hatte den Bettelvogtsknecht, der sie als H u r e tituliert hatte, weil sie ein Kind bei sich trug, einen »Maulaffen und Rozlöffel« genannt. Ihr »grausames Geschrey« mäßigte sie auch nach E r m a h n u n g des Kastners nicht. Im Verhör ergab sich, daß sie eine aus A u g s b u r g stammende Soldatentochter war, 28 Jahre alt, und seit fünf Jahren mit einem gewissen Hans Peter Buchner verheiratet. Ihr M a n n n a h m i m m e r wieder Soldatendienste an und desertierte regelmäßig, sobald es i h m tunlich erschien. Jetzt hatte sie ihn jedoch seit zweieinhalb Jahren nicht mehr gesehen — so sagte sie aus und »fängt darüber an zu weinen«. Auch eine frühere Beziehung hatte ein unglückliches Ende gehabt: ihr damaliger Partner Leopold Baum, mit dem sie zwei Kinder hatte - beide waren gestorben - war i m Schwäbischen hingerichtet worden. Sie selbst ernährte sich »mit Betteln, ehrlich und redlich«, 6 und zwar zog sie durch den ganzen 79

schwäbisch-fränkischen Raum. Zehn Jahre zuvor, also als Achtzehnjährige, war sie in Sigmaringen gebrandmarkt, ihre damaligen Begleiter »wären gehenckt und gerädert worden«. Löst man sich von der trockenen Aussage des Protokolls und versetzt sich in die Situation der Frau, dann wird ihre bedrückende Lebensgeschichte noch deutlicher. Sie hatte vermutlich von klein auf vagiert, meist im Verband größerer Gruppen, die einen sozialen Rahmen und ein gewisses Maß an Schutz boten. Beides verlor sie auf schreckliche Weise als junges Mädchen, erlitt dabei überdies noch die schmerzhafte und diskrimierende Strafe der Brandmarkung. In der Erkenntnis, daß größere Gruppen meist auch größere Aufmerksamkeit der Gerichte erregten, zog sie von da an mit einzelnen Partnern umher. Auch dabei hatte sie kein Glück; einer ihrer männlichen Begleiter wurde hingerichtet, einen zweiten hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen, fürchtete vielleicht, daß er sie verlassen hatte oder auch daß er nicht mehr lebte. Das Gericht in Roth registrierte ihre Tränen mit Erstaunen und wertete ihren Gefühlsausbruch dem Bettelvogtsknecht gegenüber eher als Ruhestörung. Tatsächlich waren beide Reaktionen der Frau Resultat der ständigen Anspannung und Belastung, die sie allein, ohne jede Hilfe tragen mußte. Und ein Ausweg war nicht in Sicht. Gemessen an ihren schrecklichen Erfahrungen war die Strafe diesmal noch vergleichsweise milde; sie zu erdulden, mochte ihr schon fast zur Routine geworden sein. Nach zwei Wochen Haft bekam sie eine Tracht Prügel und wurde nach abgeschworener Urfehde des Landes verwiesen.

Strafen

Die beiden letzten Beispiele illustrieren besondere Aspekte partnerschaftlicher Beziehungen unter Gaunern bzw. permanent Vagierenden. Hier ging es objektiv um Sicherung und Organisation des Lebens auf der Straße, wenn auch starke Gefühlsbindungen zu erkennen sind. Bei Personen, die eher den seßhaften Unterschichten zuzuordnen waren, lagen die Dinge etwas anders. Es gab zahlreiche Paare, die wegen unerlaubter Eheschließung oder wegen »Leichtfertigkeit« für eine bestimmte Zeit oder auch für immer ihres Heimatortes oder auch des Landes verwiesen wurden und häufig erst dadurch auf die Straße kamen. Diese Strafmaßnahme war allgemein bekannt, muß also von den Betreffenden mehr oder minder bewußt in Kauf genommen worden sein. Blieb es bei der Ausweisung aus dem Heimatort beispielsweise in ein benachbartes Gericht und hatte man dort Verwandte oder andere Kontakte, dann mag eine Ansiedlung als Tagwerker oder Landhandwerker durchaus möglich gewesen sein. Auf diese Weise konnten Unbemittelte geradezu gezielt die Hürde der obrigkeitlichen Eheerlaubnis unterlaufen. 7 Wenn man solche Verbindungen jedoch nicht hatte, allgemein 80

nicht in bestem Ansehen stand oder wenn noch irgendein strafverschärfendes Moment hinzukam, mußte man mit der Landesverweisung rechnen. Das führte meist zwangsläufig zur Aufnahme der vagierenden Lebensweise. 8 Im Gericht Vilshofen, das an der Grenze zum Bistum Passau lag, wurden 1750 die Anlieferung und Ausweisung folgender einschlägig belasteter Personen aus innerbayerischen Gerichten registriert: - 12.1. Mathias Hamberger, Abdecker aus Gerzen wegen unerlaubter Eheschließung. - 12. 1. Maria Schweighamberin, ledige Bauerntochter aus Pischlsdorf, in Landau wegen Incestus ( = Unzucht) verurteilt. - 28. 1. Joseph Pruner, ohne Berufsangabe, aus Locham, in Mitterfels wegen Incestus verurteilt. - 6. 5. Catharina Schrafstöttin, ledige Schneidertochter aus Niederaltaich, in Hengersberg wegen viermaliger Leichtfertigkeit verurteilt. - 6. 7. Joseph Hueber, Schmiedsohn aus Volbach, in Dingolfing wegen viermaliger Leichtfertigkeit verurteilt. - 9. 9. Andreas Schmidt, armer Schusterssohn aus Reisbach, wegen unerlaubter Eheschließung in Dingolfing verurteilt. Schmidt kehrte wenig später ohne Erlaubnis zurück, »weilen sein Weib krankh liget«, und wurde am 4. 11. erneut ausgewiesen. Die Frau war offenbar wegen ihres angegriffenen Gesundheitszustandes nicht bestraft worden. - 16. 9. Johann Mayer, Weberssohn aus Baumgarten, und seine Frau Agnes, in Landau wegen unerlaubter Eheschließung verurteilt. - 6. 11. Leopold Wagner mit Frau und drei Kindern, vagierender Abdecker, in Straubing wegen unerlaubter Eheschließung verurteilt. Dieses Paar konnte also keinen »Kopulationsschein« vorweisen, lebte aber offenbar schon seit Jahren zusammen. 9 In dieser Aufzählung begegnen nicht nur >Unehrliche< (Abdecker). Für sie bedeutete die Strafe der Landesverweisung eine ernsthafte Beeinträchtigung. Für die Delinquenten aus der Bauern- und Handwerkerbevölkerung jedoch war sie mit einer besonders rigorosen Änderung des Lebenszusammenhangs verbunden und konnte durchaus der erste Schritt zu andauernder vagierender Lebensweise sein. Kamen verschiedene Momente zusammen - zum Beispiel ein Leichtfertigkeitsverbrechen mit den besonderen Bedingungen einer Kriegs- oder Krisenlage - , dann konnten die Folgen für die Betreffenden besonders ernst sein. Am 4. 2. 1798 wurde in Oßlatzhausen ein Verdächtiger durch gerade in der Gegend stehende kaiserliche Soldaten festgenommen und dem Gericht Au übergeben. Verdächtig hatte er sich gemacht, weil er beim Wirt von Oßlatzhausen im Bett des Knechts schlafend angetroffen wurde. Später stellte sich heraus, daß er überdies mit einem der Soldaten Streit gehabt hatte: er hatte einen Tambour geduzt, der ihm daraufhin ins Gesicht schlug. 81

Vermutlich w a r das der wahre Grund für die Festnahme. Der mangelnde Respekt einem militärischen Dienstgrad gegenüber konnte eben gerade in Kriegszeiten einschneidende Folgen haben. Es handelte sich u m Johannes Weingartner, 24 Jahre alt, aus Untergeroldshausen im Pfleggericht Pfaffenhofen, den Sohn eines Schneidermeisters. Seine Eltern waren tot und hatten ihm eine bescheidene Erbschaft von 15 Gulden hinterlassen. Da er keinen Beruf erlernt hatte, arbeitete er als Bauernknecht. Er war allerdings seit längerem dienstlos. Das bedeutete vermutlich, daß der Gesindedienst mit seiner eingeschänkten Rechtslage, geringem sozialen Ansehen und beschränktem E i n k o m m e n i h m auf die Dauer nicht mehr zusagte. Im weiteren Verlauf des Verhörs stellte sich endlich heraus, weswegen Weingartner sich seit längerem in Oßlatzhausen aufgehalten hatte. Er war bereits einmal wegen Leichtfertigkeit mit der Wirtstochter bestraft worden, zuvor schon einmal wegen desselben Delikts in M ü n c h e n und im übrigen auch schon einmal wegen Schlägerei. M a n kann also von der tröstlichen Gewißheit ausgehen, daß er auch d e m beleidigten T a m b o u r seinen Schlag zurückgezahlt hatte. Die mehrfache Unbotmäßigkeit Weingartners sollte empfindlich gestraft werden: sechs Jahre Militärdienst. Z u seinem Glück war er jedoch zu klein gewachsen, so daß das Leibregiment, d e m er angeboten wurde, ihn nicht als Rekruten akzeptierte. Er w u r d e demnach mit »ernstl: Auftrag« entlassen, sich endlich ehrliche Arbeit zu suchen. 1 0 Weingartner war trotz seiner m o m e n t a n e n Dienstlosigkeit sicher noch nicht auf Dauer abgesunken und w a r nun auch der einschneidenden Erfahrung des Militärdienstes - und einer möglichen Desertion - entgangen. Bei i h m zeichnete sich die Wahrscheinlichkeit einer Wiedereingliederung recht deutlich ab. Für Menschen, die auf Dauer abgesunken waren, w a r die Situation problematischer. Konnte m a n Vagierenden außer etwa einem Diebstahl noch Leichtfertigk e i t oder U n z u c h t nachweisen, dann ließ sich nach den etablierten moralischen Kriterien das Bild einer völlig verderbten Person zeichnen, der gegenüber jede denkbare Milde unangebracht war. U n d der Nachweis der Liederlichkeit w a r meist einfach zu führen, da Vagierende in der Tat sexuell freizügiger lebten oder aber weniger Möglichkeiten oder auch Verlangen danach hatten, ihre Freizügigkeit zu kaschieren. Der 1744 wegen Diebstahls in M ü h l d o r f am Inn festgenommene Caspar Peisensteiner gab an, er sei sechs Jahre zuvor in Dachau »wegen eines Menschen« - d. h. wegen einer Frau - in Haft g e k o m m e n . Der Scharfrichter gab ihm neun Streiche mit der Spießrute auf den Rücken, »damit er den Ehebruch, massen er schon verheyrathet ware, bekhennen solle«. Tatsächlich gestand er die U n t a t ein »wegen Schmerzen der Streich. Er habe aber solchen [Ehebruch] nicht begangen, ob er schon im Rausch das Mensch hierzu angemuethet«. 1 1 1752 w u r d e im Pfleggericht Mering die Wasenmeisterstochter Mechthild Clingenstainerin aus der H o f m a r k Tutzing im Gericht Weilheim festgenom82

men. Sie wurde unter anderem deswegen sofort ins Arbeitshaus nach München geliefert, »weillen selbe in ihrem noch zumahl ledigen Standt 6 Künder erzaigt und jedoch niemahlen abgestrafft worden sein solle«. Überdies bestand noch der Verdacht, daß ihr Stiefvater, ein Knecht beim Wasenmeister in Mering, einer der Kindsväter war. Der Verdacht wurde zwar nicht bestätigt, zeigt jedoch, mit welchem Argwohn die Frau und der Berufsstand der Abdecker betrachtet wurden. 1 2 Übrigens wirft das Beispiel auch ein Licht auf den Stand der inneren Staatsbildung in Bayern in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Den rechtlichen und moralischen Normen folgend hätte die erste uneheliche Geburt die sofortige Bestrafung der Mutter und - soweit eruierbar - des Vaters nach sich ziehen müssen, unter Umständen verbunden mit einer anschließend zugestandenen Heiratserlaubnis. In der Hofmark, wo auch noch partikulare Hoheitsrechte des Hofmarksinhabers Bestand hatten, reagierte man offensichtlich eher gelassen, auch als sich die offensichtlichen Beweise fur andauerndes Fehlverhalten im Laufe der Jahre häuften. Festnahme und Bestrafung der Missetäterin wurden bemerkenswerterweise auch im benachbarten Pfleggericht Mering, das direkt der Regierung in München untergeordnet war, veranlaßt.

2. Krankheit - Depression - Tod Wenn unter den Vagierenden auch jüngere Menschen überwogen, wie aus der Altersverteilung hervorging, so gab es doch zahlreiche alte, kranke, schwache und behinderte Personen insbesondere unter denjenigen, die auf Dauer abgesunken waren. Dabei ist die Frage nicht in jedem Fall mit letzter Konsequenz zu beantworten, inwieweit Alter oder Krankheit - damit Arbeitsunfähigkeit - zum Absinken gefuhrt bzw. inwieweit das Vagieren oder die obrigkeitliche Reaktion darauf den körperlichen und gesundheitlichen Zustand negativ beeinflußt hatten. Die Auswertung der Quellen unter diesem Aspekt wirft ein Licht auf eines der bedrückendsten Momente im Leben der Vagierenden. Nicht in jedem Fall, doch sehr häufig waren Krankheit und Depression und ein elender Tod am Straßenrand oder auch von eigener Hand Stationen bzw. der Endpunkt in der Karriere eines Vagierenden.

Alt, schwach,

bresthaft

Die Rechnungsbücher der Gerichte gestatten einen ersten, wenn auch sehr bürokratisch-nüchtern gefärbten Einblick. Unter den zahlreichen Festnahmen und Bestrafungen vorüberziehender Vagierender werden nicht selten 83

Personen aufgeführt, die aus eigener Kraft nicht mehr weiterkonnten. Dabei ist erneut zu berücksichtigen, daß sicher nur die gravierenderen Fälle Eingang in die Protokolle und Aufstellungen fanden. 1756 w u r d e in Vilsbiburg die »verwittibte alte Musicantin« Elisabeth Püncklin aus Bayrisch H o f bei Regensburg registriert. Sie hatte drei Wochen lang in Biburg krank gelegen und konnte auch nach der Genesung nicht aus eigener Kraft weitergehen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, was der Protokollführer unter »Genesung« verstand. Die Frau m u ß t e jedenfalls auf einem Karren ins Nachbargericht Geisenhausen transportiert werden, von w o aus sie am 24. 1. 1756 weiter in Richtung N o r d e n geschickt w u r d e . 1 3 Ähnlich verfuhr m a n 1754 mit der »presthafften Catharina Amanin«, die aus d e m Pfalz-Neuburgischen gebürtig war. Aufgegriffen w o r d e n war sie im Salzburgischen T i t t m o n i n g , von w o aus sie in Richtung Heimat geschickt wurde. Im bayerischen Gericht Geisenhausen war die Frau derart entkräftet, daß sie »weder gehen noch selbsten essen« konnte. Ihr w u r d e dennoch keine R u h e gegönnt. M a n setzte sie auf ihren eigenen Handwagen, auf d e m sie ihre wenigen Habseligkeiten mit sich führte, und brachte sie damit nach M o o s b u r g , d e m nächsten Gericht auf d e m Wege. 1 4 Die Frau war übrigens in der Gegend nicht unbekannt. Einige Jahre zuvor, 1750, wird sie bereits in den Rechnungen des Gerichts Osterhofen aufgeführt. 1 5 Auch damals war sie nach Hause zurückgeschickt w o r d e n . Aus den beiden Vorgängen und der Beschreibung der Frau ergibt sich, daß sie permanent vagierte. Der Begriff »nach Hause« ist demnach mit starker Einschränkung zu verwenden. In ihrem Heimatort w u r d e sie nur gesehen, wenn sie wieder einmal von Polizeibehörden dort abgeliefert wurde. Selbstverständlich war man dort auch nicht traurig, wenn sie bald darauf wieder davonzog. So ersparte man sich die Aufgabe, auf irgendeine Weise für sie sorgen zu müssen. Ihr Rücktransport 1754 war vermutlich ihr letzter - sofern sie ihn überlebte. Andere Berichte werfen auf M a ß n a h m e n der Behörden den Vagierenden gegenüber ein w o m ö g l i c h noch düstereres Licht. So konnte es beispielsweise geschehen, daß benachbarte Gerichte sich aus Kostengründen weigerten, kranke Bettler aufzunehmen und weiterzuliefern. Verpflegung, Pflege u n d gegebenenfalls Bestattung eines Vagierenden verursachten Kosten, die m a n zu sparen gedachte. Das letzte Gericht, in dessen O b h u t sich die Betreffenden befanden, konnte sich dann veranlaßt sehen, die Hilflosen irgendwo i m Wald auszusetzen, u m sie so elend sterben zu lassen. 1 6 1751 w u r d e in C h a m der Verdacht geäußert, eine gewisse Agnes Rittmeisterin trage auf ihrem Rücken die Brandmarke »B«. Damit hätte ihr als Rückfalltäterin eine schwerere Strafe gedroht, denn sie war gerade wieder von Teisbach aus als vagierende Bettlerin an ihren Heimatort C h a m zurückverwiesen worden. Eine Ü b e r p r ü f u n g des Sachverhalts war also notwendig, und man hat »nit ermanglet. . ..dieselbe. . . durch die hiesige 2 Baader 1 7 ordentlich visitiren zulassen«. Es ergab sich jedoch, daß sie kein

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Brandmal trug, sondern daß »die sich gezaigte Masen [Narbe] ein verhalltes Geschwehr seye«. 1 8 Damit war der Fall für den Richter erledigt. Für ihn war die Frage uninteressant, welch ein Geschwür das gewesen sein mochte, dessen Narbe man bei flüchtiger Ansicht für eine Brandmarke halten konnte. Ü b e r den allgemeinen Gesundheitszustand auffälliger Vagierender wurde kein überflüssiges Wort verloren, und die Möglichkeit, daß Strafmaßnahmen ihn noch weiter verschlechterten, war ohnedies jedermann klar. Es ist einleuchtend, daß unter den Bedingungen des Lebens auf der Straße die Gefahr relativ groß war, sich eine Krankheit oder Verletzung zuzuziehen. Sie wurde nicht nur durch die Härte von Strafen und Haftbedingungen, sondern beispielsweise auch dadurch noch vergrößert, daß man als Soldat verwundet wurde. Damit war dann ein weiteres, zusätzliches Moment eingetreten, das eine Neueinordnung in einen normalen Lebens- und Arbeitsprozeß erschwerte, wenn nicht unmöglich machte. Allenfalls bestand dann die Möglichkeit, unter Umständen im Heimatort - so vorhanden - als »wahrer Armer« anerkannt und unterstützt zu werden. Es ist allerdings fraglich, ob das als Lebensperspektive sonderlich attraktiv war.

Folgen von Strafen Ein gewisser Mathias Praidtsameter gab an, 1 9 er sei eine Zeitlang in Dachauer Untersuchung gelegen, »massen man ihne bezichtiget, [daß er] einem Mezger von Crandtsperg ein Pferdt solle gestollen haben, deme aber nicht also gewesen«. Während der Haft habe ihn die »hizige Krankheit« befallen, die Füße seien ihm »aufgebrochen«, und er habe längere Zeit an Krücken gehen müssen. Glücklicherweise fand er bei zwei Bauern im Gericht Friedberg Aufnahme. Da er nicht gehen konnte, versorgte ihn seine Mutter mit Essen. Praidtsameter konnte sich noch glücklich schätzen, daß es überhaupt Leute gab, die ihn trotz gerichtlichen Verbots aufnahmen und sich auch sonst um ihn kümmerten. Hier liegt, wie gesagt, sicher ein Grund für den engen Familienzusammenhalt, der unter Vagierenden bestand. Die Mutter war j a vermutlich auch eine Vagierende; zumindest hatte sie keine Wohnung, in der sie ihren Sohn hätte pflegen können. Geradezu exemplarisch erscheinen die fragmentarischen biographischen Angaben des 1780 in Hilpoltstein wegen eines kleinen Diebstahls inhaftierten Johann Kaltensperger.20 Er war Sohn eines Abdeckers und abgedankten Soldaten, selbst Abdecker von B e r u f (daher sein Spitzname Schinderhannes), verheiratet, vier Kinder, arbeitete zeitweilig als Hirschhüter, stellte gelegentlich Lederarbeiten her (vor allem Handschuhe und Beutel), 2 1 ging aber auch hier und da zugegebenermaßen auf den Bettel. Er war nicht gravierend vorbestraft. Jedenfalls fand der Scharfrichter bei einer Untersuchung keine Brandmarke an seinem Körper. Er wurde auf unbestimmte Zeit ins

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Zuchthaus verurteilt. Im Juni 1782 floh er aus der Haft, wurde aber im August desselben Jahres erneut eingefangen. Im Frühjahr 1784 bat er um Entlassung mit der Begründung, er wolle seine Familie mit Feldarbeit ernähren - was ihm wohl nur schwerlich gelungen wäre. Die Bitte wurde jedenfalls vom Rat der Stadt Nürnberg abgelehnt. Am 17. 5. 1786 wurde er dann jedoch entlassen - aus Gesundheitsgründen. Damit hatte sich der Kreis endgültig geschlossen. Vorher war der Mann offenbar noch willens und auf jeden Fall physisch in der Lage gewesen, seine Familie durch Arbeit zu ernähren. Nun, nachdem seine Gesundheit in sechsjähriger Haft ruiniert war, hatte er überhaupt keine andere Möglichkeit mehr, als bettelnd umherzuziehen und eventuell auch zu stehlen.

Etwas schwach im Verstand Auch Menschen mit mehr oder minder starker geistiger Behinderung traten gelegentlich in Erscheinung. Michael Stölzl beispielsweise war Sohn eines Webers und Leerhäuslers aus Unterschönbach im Gericht Aichach. 1786 wurde über ihn folgendes zu Protokoll gegeben:22 er hatte das Schusterhandwerk gelernt, war nach seiner Ausbildung jedoch jahrelang »auf dem Betl herumgeloffen«, und zwar vorwiegend in der Nachbarschaft. Schließlich kam er zum Gericht und bat um die Ausstellung eines Passes für eine Reise nach Rom; vermutlich beabsichtigte er eine Pilgerfahrt. Das Papier wurde ihm verweigert. Stattdessen nahm man ihn in Arrest und prüfte die Frage, »ob er dann gar keiner Arbeith nachkommen könne«. Es ergab sich, daß er neben dem Schusterhandwerk - von dem man annahm, daß er es in den Jahren des Vagierens verlernt hatte - noch »der meisten Baurn Arbeith kündig seye, und obwohlen er etwas einfältig und in den Verstand etwas schwach ist, so hat er doch genugsam Leibeskräften, einer Arbeith vorzustehen und sich ehrl: fortzubringen«. Man mochte den Mann also nicht ohne weiteres als arbeitsunfähig ansehen, ihn noch weniger als »wahren Armen« einstufen. Er wurde in seinen Heimatort zurückgeschickt; das Betteln und Vagieren wurde ihm unter Androhung einer Zuchthausstrafe verwiesen. Seine Chancen, sich durch Arbeit zu ernähren, schätzte man allerdings doch nicht so ganz hoch ein. Da überdies seine Eltern zwar noch am Leben, aber unvermögend waren und »der Vater schon eine Stiefvater ist«, wurden der Gemeinde Schönbach und dem Einödbauern vom nahegelegenen Mitlham aufgetragen, ihn zu ernähren, »weilen sie ohne daß niemand in der gralmäßigen Betl Verpflegung haben«. 23 Dabei nahm das Gericht übrigens gern die Gelegenheit wahr, dem Mitlhamer Bauern eins auszuwischen, der ihm schon lange ein Dorn im Auge war. Er hatte auf seinem einzeln stehenden Hof schon mehrfach Verdächtige aufgenommen und wurde im selben Jahr 1786 abermals denunziert, daß häufig ein des Wilddiebstahls beschuldigter Jägerbursche bei ihm einkehre. 24 86

Hier k a m also mit Michael Stölzl ein Vagierender in den Genuß der lokalen Armenunterstützung, doch in erster Linie deshalb, weil sein Heimatort sonst niemanden unterstützte, weniger weil er als bedürftiger »wahrer Armer« anerkannt wurde. Sonderlich viel Mitleid hatte man in Aichach jedenfalls nicht mit d e m Mann. Wegen seines bisherigen Lebenswandels w u r d e er »abgestraft mit 12: constitutionsmässigen Karbatschstreichen ad Bosteriora«. Immerhin kann noch davon ausgegangen werden, daß Stölzl eine gewisse Chance hatte, im Rahmen von Heimatgemeinde und Verwandtschaft ein hinreichendes A u s k o m m e n zu finden. Wenn sich eine Geisteskrankheit in eher aggressiver F o r m äußerte, war es problematischer, vor allem w e n n es sich auch noch u m einen Fremden handelte. Das oettingische O b e r v o g t a m t Diemantstein registrierte am 15. 1. 1752 einen Vorfall mit einem Tiroler Vagierenden. Rochus Flögel, »mente captus«, hatte auf der Landstraße ein 14jähriges Mädchen »gewaltsam angegriffen und/: zwar ohne Tentirung stupei:/ in die Scham gebissen«. Z w a r w u r d e hier der Geisteszustand des Vagierenden berücksichtigt und angenommen, daß er keine Verletzung des Mädchens beabsichtigt hatte. Dennoch w u r d e er mit - nur - 50 Stockschlägen bestraft und anschließend über die Grenze abgeschoben. 2 5

Krankheit als Alibi? Krankheiten und Gebrechen werden auch in einem Protokoll erwähnt, das Mitte des Jahrhunderts in der H o f m a r k Au über eine Gruppe Vagierender angelegt w u r d e . 2 6 Allerdings haben sie hier - ähnlich wie einige der mobilen Berufe - offenbar z u m Teil Alibifunktion und sollten in erster Linie bei Behörden und Bevölkerung Mitleid und Verständnis wecken. Andree Greissl und seine Frau waren durchaus gesund und rüstig. Er selbst war aus D o r f e n gebürtig, seine Frau ein Soldatenkind aus Rädlsberg (?). Ihre B e g r ü n d u n g für das angeblich nur zeitweilige Vagieren läßt auf Phantasie schließen: sie seien nach N e u m a r k t in die Oberpfalz gegangen, »umb eine Erbschafft zu erhollen« - leider vergeblich. Z w e i andere, ältere Mitglieder der G r u p p e befanden sich dagegen angeblich aus Gesundheitsgründen auf d e m Weg zur Wieskirche. Maria Riemerin war eine s t u m m e W i t w e aus B ö h m e n , die hoffte, durch eine solche Wallfahrt ihre Sprache wiederzuerhalten, u n d Johann Rehrl aus Lappach in der Oberpfalz gab an, auf der Wies für seine Gesundung von schwerer Krankheit danken zu wollen. Einige Jahre später erhoffte sich auch der 23jährige Soldatensohn Sebastian Achterland aus Fürstetten i m Gericht M o o s b u r g Heilung von einer Wallfahrt auf die Wies. Er »seye mit der schweren Kranckheit behafftet«. Weiter gab er an, er »seye keiner Profession kündtig und ernähre sich dermahlen mit dem Betteln«. 2 7 Sicher dürfen hier tatsächlich religiöse Motive nicht außer acht gelassen 87

werden. Auch litten gerade Angehörige von Unterschichten infolge der häufig ungenügenden Ernährung, der bedenklichen Arbeits- und Wohnbedingungen und der fehlenden bzw. unerschwinglichen medizinischen Versorgung unter verschiedenen Krankheiten. Man kann die aufgeführten Personen also nicht pauschal als Simulanten abtun. Wie schon gesagt wurde, werden in den Quellen immer wieder Personen mit Defekten aufgeführt: »kranck«, »verdorben«, »presthafft«, »blind« etc. Auch Spitznamen wie »stumpfarmiger Zimmermann«, »grummauligter Nicki« und »Stuz Ärmbl« deuten auf Unfälle oder Krankheiten hin. 2 8 Verständlicherweise suchten diese Menschen Trost und Hilfe auf jede erdenkliche Art und Weise, und eine Wallfahrt mochte sich da durchaus anbieten. Dennoch - es ist wohl kein Zufall, daß an solchen Wallfahrtsorten mit besonders großzügigen Almosen zu rechnen war. Dementsprechend waren Wallfahrten häufig als Zeitpunkte verstärkten Auftretens Vagierender bekannt. 29

Tod Über den >alltäglichen< und darum vielleicht besonders bitteren Tod Vagierender machen die Quellen nur sparsame Angaben, durch deren Interpretation jedoch manches zu erschließen ist. Stichproben in Pfarrmatrikeln bayerischer Pfarreien gestatten knappe Einblicke in Schicksale, die überwiegend von Armut und Elend bestimmt waren. In ihrer lakonischen Kürze sind diese Notizen besonders erschütternd. Im Sterbebuch von Taufkirchen ist zum Beispiel unter dem 21. 5. 1751 der Tod des ehemaligen Soldaten Georg Veicht verzeichnet - nach einem äußerst ärmlichen Leben, das reich nur an Hunger gewesen war. 3 0 Im Juli desselben Jahres wurde dort eine ledige Frau namens Elisabeth begraben. Familienname und Alter waren unbekannt. Sie war also mit großer Wahrscheinlichkeit eine ortsfremde Vagierende. 31 In Wörth an der Donau starb am 7. 1. 1751 die 30jährige Magdalena Seidlin am Schlagfluß. Sie habe »aus Nachlässigkeit« im Walde ihren Wohnort gehabt, eine Feststellung, die nicht eben auf seßhafte Lebensweise schließen läßt. Als Beruf wurden Dienstleistungen, vermutlich Gelegenheitsarbeiten, angegeben. 32 Und am 10. 3. 1781 starb in Eggenfelden eine gewisse Magdalena im Alter von 69 Jahren. Auch ihr Familienname war zunächst unbekannt. Sie wurde am 12. 3. begraben. Erst später ergab sich, daß sie Baumgartner hieß und aus Trittenprein gebürtig war. Die knappe Schlußbemerkung, daß die Beerdigung gratis vollzogen wurde, weist daraufhin, daß die Frau eine Bettlerin war, die sich trotz hohen Alters und offenbar angegriffener Gesundheit noch zum Almosensammeln hatte aufmachen müssen. 33 Über die letzten Stunden vieler Vagierender sind nicht einmal derartig spärliche Informationen bekannt. Es wurde allenfalls einmal registriert, daß

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irgendwo »auf d e m Lerchenanger ein Bettelmann gestorben seye« und daß der U n t e r b e a m t e für diese Meldung eine Gebühr von 20 Kreuzern erhalten hatte. 3 4 Im S o m m e r 1772 w u r d e nach Hagenbüchach im Gericht M a r k t Erlbach eine tote Bettlerin auf d e m Feld gefunden. Bewohner der umliegenden D ö r f e r hatten sie zuvor »aufn Betteln sehr krafftlos und elend h e r u m g e hen sehen«. Immerhin w u r d e der T o d der Frau untersucht. M a n stellte die natürliche Todesursache fest und veranlaßte die Beerdigung, »ehrlich, jedoch in der Stille«. 35 N o c h erschütternder sind Hinweise auf Selbstmorde Vagierender. Diese häufig auch nur beiläufigen Bemerkungen zwingen dazu, das gelegentlich verklärende Bild v o m >freien Vagantenleben< zu korrigieren. Statt des lustigen Müßiggangs, der von Beamten unterstellt wurde, war das Leben dieser Menschen oft von Verzweiflung und Depression geprägt. So ist in der Mitterfelser Gerichtsrechnung der lakonische Hinweis auf den »an einem P ü r c k e n p a u m b sich selbst erhenckhten Petl K e r l . . . Georg Probst« zu lesen. D e r Selbstmord w u r d e auch in erster Linie registriert, weil er U n k o s t e n verursacht hatte, die natürlich abgebucht werden m u ß t e n . 3 6 Ebenso w u r d e i m A m t O b e r n d o r f und St. Ottilienberg 1750 »ein vagierender Kerl an einem B a u m hangendt gefundten«. Die Leiche m u ß t e zwei Tage lang bewacht werden, bis eine Amtsperson sie begutachtet hatte. Das Protokoll vermerkt, daß die Wächter während des Wartens beachtliche 2 Gulden u n d 36 Kreuzer verzehrten. 3 7 Die Nachbarschaft des Toten scheint also ihren Appetit nicht sonderlich gestört zu haben.

3. Der Schritt z u m Gauner Bei den meisten der bisher aufgeführten Beispiele kann durchaus davon ausgegangen werden, daß die genannten Vagierenden gelegentlich D i e b stähle oder andere eher geringfügige Straftaten verübt hatten. Vagieren und Betteln allein standen schon unter Strafe, w u r d e n durch die Obrigkeit kriminalisiert, so daß es wenig Unterschied zu machen schien, wenn m a n sich noch irgendwelche Bagatellstraftaten zuschulden k o m m e n ließ. K a m es indes einmal zu einer Untersuchung oder gar zu einer Verurteilung, dann war die Möglichkeit zur Reintegration in weite Ferne gerückt - sofern Vagierende überhaupt die Absicht dazu hatten. Hier war die nächste Stufe des Absinkens erreicht, nämlich hin zur Schicht der Gauner, deren Lebensweise eindeutig kriminell war. Wie schon eingangs gesagt, soll das M o m e n t der Kriminalität nicht in den Mittelpunkt dieser Untersuchung gestellt, darf andererseits aber auch nicht völlig außer acht gelassen werden. D e n n kriminelle H a n d l u n g und Kriminalisierung stellten kritische M o m e n t e i m Leben Vagierender dar.

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Gelegenheit macht Diebe Zweifellos darf die Grenze zwischen >normalen< Vagierenden und Gaunern wieder nicht zu strikt gezogen werden. Das beweisen Einzelbeispiele. Die Gelegenheitsdiebin Seraphina Löin fand so aus besonderen Gründen noch ausgesprochen milde Richter und konnte den weiteren Abstieg vermutlich noch verhindern. 3 8 Sie w u r d e 1765 im Augsburgischen, im D o r f Schlipsheim, das z u m Stift z u m Heiligen Kreuz gehörte, festgenommen, als sie gerade das Haus des jüdischen Krämers Mayer Samuel verlassen hatte. Im Verhör gab sie an, sie stamme aus Saulgau, sei mit einem Schulmeister verheiratet, und »weilen sie elend und kranck seye, m ü ß e sie eben d e m Almosen nachgehen«. Sie war noch nie inhaftiert, stand überhaupt noch nie vor der Obrigkeit, »außer wie sie geheyrathet habe«. Diesmal jedoch hatte sie ein Stück Zwillich aus einem Wirtshaus gestohlen und der Jüdin verkauft. Den Diebstahl verübte sie angeblich auf Aufforderung eines unverheirateten Württemberger Vagierendenpaars, von dem die Frau schwanger war. Die beiden, die sie nicht näher kannte, halfen einem Bauern bei der Ernte. Sie versprachen, ihr die Beute später abzukaufen, hielten jedoch die Verabredung nicht ein. Deswegen verkaufte sie den Stoff für 30 Kreuzer an die Jüdin, o b w o h l er mindestens das Zweieinhalbfache wert war. Die Hehlerin wußte, daß die Ware gestohlen war. Seraphina Löin hatte ihr »auf Befragen, ob es [das Zwillich] hiesig seye, gesagt, zum Fenster darff sie es nicht aushencken, w o r a u f die Jüdin gesagt, sie wolle es schon aufheben«. In dieser geistlichen Herrschaft verfuhr man mit der Diebin glimpflich, da »sie Überhaupts eine elende Person, als ist ihr der Arrest zur Strafe angerechnet . . . worden«. Sie sollte sich jedoch einige Tage später wieder beim A m t melden für den Fall, daß sich noch Weiterungen ergeben hätten. Die Hehlerin w u r d e zur Zahlung von drei Gulden verurteilt, was ebenfalls eine vergleichsweise milde Strafe war.

Praxis der Gerichte Zeugnisse für eine solch bescheidene A h n d u n g eines Diebstahls sind allerdings eher die Ausnahme. Häufiger sind Hinweise auf ein Absinken v o m simplen Vagierenden über Bagatelldiebstähle und ihre harte Bestrafung bis hin zur Bandenkriminalität, wenn auch meist nicht der Punkt festgemacht werden kann, an dem es keine Rückkehr mehr gab. M a n kann davon ausgehen, daß kleinere Gelegenheitsdiebstähle in der Praxis ziemlich zahlreich waren, jedoch nicht bekannt wurden. In den Quellen w u r d e n sie ja in der Regel erst registriert, w e n n es zu Untersuchungen bzw. zu Verurteilungen kam. O b w o h l relativ häufig Verordnungen erlassen wurden, die den Prozeßablauf straffen und damit die Dauer und die Kosten beschränken sollten, waren

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derartige Untersuchungen doch meist eine langwierige Angelegenheit. Das belegen entsprechende Klagen, die gelegentlich von Delinquenten, häufiger von Regierungsbeamten kamen. Mittel zur Wahrheitsfindung waren Verhöre der Angeklagten selbst wie auch eventueller Zeugen, die sich in der Regel auf den konkreten, gerade anstehenden Verdacht bezogen. Schon diese Verhöre konnten sich über längere Zeiträume hinziehen. N o c h zeitraubender war die K o m m u n i k a t i o n mit anderen Ämtern und Gerichten, die sich meist aus den Angaben der Verdächtigen und der Zeugen ergaben. Der untersuchende Beamte fragte zunächst i m Heimatort an und erhielt von dort Informationen über H e r k u n f t und Leumund des Angeklagten, über mögliche Vorstrafen, über ähnliche Anfragen anderer Gerichte, bei denen m a n sich dann noch nach den näheren U m s t ä n d e n zu erkundigen hatte, etc. Teilweise konnte so der Lebenslauf eines Vagierenden über Jahre hinweg rekonstruiert werden, soweit er gerichtsnotorisch war. Vorstrafen oder auch nur Auffälligwerden konnten bei der aktuellen Strafzumessung von beträchtlicher Bedeutung sein. Es ist bei der Durchsicht derartiger Gerichtsunterlagen recht eindeutig zu erkennen, daß die Absicht, Vagierende unschädlich zu machen, zumindest gleichwertig neben der stand, einen Dieb oder Räuber zu überfuhren und zu verurteilen. Wurde irgendwo ein Diebstahl oder Einbruch angezeigt, versuchte m a n sofort, der gerade die Gegend durchstreifenden Vagierenden habhaft zu werden, auch w e n n es ansonsten keine konkreten Hinweise auf ihre Täterschaft gab. »Wegen üblen Verdachts« war dann häufig die Formel, mit der die Festnahme begründet wurde. U n d wenn es auch nicht gelang, die gerade anstehende Straftat nachzuweisen, so konnte man doch davon ausgehen, daß nahezu jeder Vagierende etwas Justiziables zu verbergen hatte. M a n m u ß t e ihn dann nur z u m Geständnis bewegen, was unter den Bedingungen der H a f t und der Praxis des Verhörs unter der Folter durchaus nicht selten Erfolg hatte, und konnte ihn dann als sozialen Schädling vermittels Arbeits-, Freiheits- oder auch Todesstrafe eliminieren. Voraussetzung w a r natürlich, daß der betreffende Richter zu einer solchen Untersuchung qualifiziert, daran interessiert und nicht durch andere Aufgaben überlastet war. Beispiele, bei denen Festnahme, Untersuchung und Verurteilung nach dem beschriebenen Muster abliefen, sind in den Quellen zahlreich zu finden. So w u r d e der ehemalige T a g w e r k e r Peter Allmannspeckh von einer Streife als Vagierender im Gericht Leonsberg 1750 festgenommen; ein besonderer Verdacht gegen ihn bestand nicht. Die Nachforschungen ergaben lediglich, daß er 15 Jahre zuvor (!) in Deggendorf neun Monate in Untersuchung gestanden hatte und schließlich z u m Pranger, z u m Urfehdeschwur und zur Landesverweisung verurteilt w o r d e n war. Diesmal bekam er - in erster Linie wegen der gebrochenen U r f e h d e - dieselbe Strafe zudiktiert. 3 9 Hans Georg Lang, Bürger und Bäcker aus Roding in der Oberpfalz w u r d e Mitte Juli 1751 in Hengersberg wegen Diebstahls in H a f t g e n o m m e n . Im

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Verlauf einer etwa vierwöchigen, eher noch oberflächlich geführten U n t e r suchung w u r d e festgestellt, daß er schon 1739 in Wetterfeld eine U n t e r s u chung wegen Diebstahls über sich hatte ergehen lassen müssen. In den folgenden Jahren war er zeitweilig in Straubing, W ö r t h und Abbach im Gefängnis. Angesichts dieser Erkenntnisse mochte m a n bei Gericht auch zwei Arbeitsattestaten keinen Glauben schenken, die Lang bei sich führte. Sie w u r d e n als »bedenklich«, also möglicherweise gefälscht, eingestuft. Eine intensivere Untersuchung schien unnötig, zumal die eher bescheidenen Delikte, die i h m v o r g e w o r f e n wurden, die Todesstrafe nicht gerechtfertigt erscheinen ließen, wenn sie auch nach dem Buchstaben des Gesetzes möglich gewesen wäre. Lang w u r d e diesmal lediglich an den Pranger gestellt, gebrandmarkt und anschließend ins Arbeitshaus nach München geschickt. 4 0 Hier war also ein Handwerker, für den ja, wie gesagt, die Möglichkeiten zur Reintegration noch relativ günstig standen, auf Dauer abgesunken in die kriminelle Gaunerschicht. Häufiger waren natürlich Kriminalfälle, in die Personen aus den unterbäuerlichen Schichten verwickelt waren. In den frühen 70er Jahren w u r d e in N ü r n b e r g den beiden Dieben Johann Emmert und Jacob Wagner der Prozeß gemacht. 4 1 Emmert, 36Jahre alt, war zwar aus dem nahegelegenen Langenzenn gebürtig, gab jedoch an, daß seine Eltern an verschiedenen O r t e n gelebt und i m Taglohn gearbeitet hätten. Der Vater war schon lange tot, die Mutter lebte noch und »gehe nach ihrem Brod aufs Betteln und wäre schon etl. 80 Jahr alt«. 4 2 Er hatte mehrere Schwestern, die ihrerseits alle mit Tagelöhnern verheiratet waren, eine von ihnen, Anna, mit d e m mitgefangenen Wagner. Bei diesem entsprach die Berufsbezeichnung Tagelöhner gewiß nicht der ganzen Wahrheit. Sein Spitzname war »Sachsen Schwager«, was auf sächsische H e r k u n f t u n d auf die Wahrscheinlichkeit hinweist, daß er als Vagierender g e k o m m e n u n d nun im mittelfränkischen R a u m hängengeblieben war. Allein die Tatsache, daß er überhaupt einen solchen Spitznamen trug, läßt auf einen Vagierenden schließen. Emmert gab weiterhin an, er sei drei Jahre lang Soldat gewesen, sein Abschied sei i h m jedoch gestohlen worden. Für den untersuchenden Beamten lag der Verdacht auf Desertion nahe. Solche Informationen geben einen Einblick in eine Gruppe mehr oder minder permanent Vagierender, von denen sich einzelne gelegentlich durch Tagwerkerarbeiten noch zusätzlich zu ernähren suchten. Z w e i von ihnen waren n u n einiger Diebstähle überführt worden. Straftaten und Lebensläufe hätten durchaus für die Todesstrafe ausgereicht, wie zahlreiche ähnlich gelagerte Beispiele zeigen. Im fortschreitenden 18. Jahrhundert w u r d e in solchen Fällen jedoch zunehmend auf eine Zuchthaus- oder Arbeitshausstrafe erkannt, wobei die N u t z u n g der Arbeitskraft des Delinquenten ein zentrales M o t i v war.

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Gaunerprofis Auch in Steckbrieflisten gesuchter Banditen finden sich Angaben über Beruf, H e r k u n f t - auch Spitznamen sind hier, wie gesagt, relevant - , die verschiedene Stufen des Absinkens der vagierenden Gauner erkennen lassen. 4 3 Wenn z u m Beispiel ein »aus Öestereich gebürtiger Mihi Knecht«, der 38jährige Tiroler Georg Flamertiner, in der Oberpfalz als Bandit, Räuber und M ö r d e r gesucht wurde, dann kann man annehmen, daß er seine Laufbahn als Wanderbursche begann und dann Schritt für Schritt absank. Sein Komplize, der Abdecker 4 4 »Schnitter Lippl«, hatte sich außer in seinem anrüchigen Gewerbe auch als Erntearbeiter versucht, bevor er sich der Bande anschloß. U n d der ebenfalls aus Tirol stammende Andre Probst trug den Spitznamen »Spielgraf«, hatte also einmal eine gewisse Reputation als Musikant erlangt. Organisations- und Verhaltensmuster krimineller Banden im 18. J a h r hundert sind schon an anderer Stelle ausgiebig diskutiert worden, ebenso wie die entsprechenden staatlichen G e g e n m a ß n a h m e n . 4 5 Darauf soll hier nicht näher eingegangen werden. Was im hier zur Erörterung stehenden Z u s a m m e n h a n g v o n Interesse ist und w o f ü r noch einige Beispiele vorgestellt w e r d e n sollen, ist die gewissermaßen zwangsläufige Kriminalität Vagierender und ihre Bestrafung. Im Gericht Teisbach w u r d e 1750 ein Prozeß gegen ein »Vaganten«-Paar g e f ü h r t . 4 6 D e r M a n n , Lorenz Crammer, vulgo »Schinder Lenzl«, war schon einmal einschlägig vorbestraft und w u r d e diesmal wegen gebrochener U r f e h d e und Unzucht gebrandmarkt und zusammen mit seinem »Anhang« Anna Maria Heinzlin auf ewig des Landes verwiesen. Beide hatten zu einer »Banda D i e b s = u n n d Raubgesinndls beiderlei Geschlechts« gehört, die sich »auf dennen Granizen zwischen dennen Ghrtern Gerichtern Teyspach, Dinglfing unnd B y b u r g sambt dennen darunter vermischter ligenten H o f märchen« aufhielt. Mit diesem Standort hatte die G r u p p e den Weitblick bewiesen, der bei >gelernten< Gaunern vorausgesetzt werden kann. An den Grenzen verschiedener Gerichtssprengel konnte man sich durch kurze Märsche d e m unmittelbaren Zugriff des zuständigen Richters entziehen. Verfolgungsmaßnahmen m u ß t e n zwischen den Nachbarn abgesprochen werden, was wiederum Zeit kostete, meist auch nicht geheim blieb und somit die Flucht oder andere geeignete Gegenmaßnahmen ermöglichte. Eine Streifpatrouille, die in Teisbach am 14. 11. 1749 durchgeführt wurde, hatte entsprechend bescheidenen Erfolg: nur der erwähnte Schinderlenzl »sambt seinem Schleppsack . . . und einem P / j ä h r i g e n Künd« wurden festgenommen. D e r Prozeß gegen das Paar brachte - außer den offensichtlichen Vergehen, nämlich Vagieren, U n z u c h t und gebrochene U r f e h d e nichts zutage. Z w a r w u r d e Crammer als »beschraitter Dieb« bezeichnet, doch schien er in der Bande von eher marginaler Bedeutung zu sein. Zweifellos hatte er jedoch seine Erfahrungen als vagierender Gauner

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gemacht und beherzigt. M a n konnte ihm nichts nachweisen; Zeugen für einen Diebstahl gab es nicht. Laut Halsgerichtsordnung konnte ein Verdächtiger dann nur auf sein eigenes Geständnis hin verurteilt werden. Ein solches Geständnis durfte v o m Gericht zunächst im »peinlichen Verhör« erzwungen werden, also unter der Folter, m u ß t e anschließend jedoch in einem »gütlichen Verhör«, also ohne Z w a n g und Fesseln, v o m Angeklagten bestätigt werden. Praktisch bedeutete das, daß der Inquisit nur der Folter widerstehen mußte, u m früher oder später freigelassen zu werden. »Nur« ist in diesem Z u s a m m e n h a n g natürlich ein Euphemismus, doch ist zu bedenken, daß d e m Verdächtigen die Grundsätze der Halsgerichtsordnung bekannt waren, daß er also wußte, welche Belohnung ihn erwartete. Das mochte seine Standhaftigkeit noch erhöhen. Crammer und seine Partnerin waren sich als langjährige Vagierende und Gauner der Chancen und Gefahren vollauf b e w u ß t und blieben schweigsam. Crammer w u r d e an zwei Tagen - ein Tag Pause lag dazwischen - der Spießrutentortur unterworfen, einer Prügelfolter, die man auf einen Bock geschnallt erdulden mußte. Das Protokoll vermerkt resigniert, daß er die Hiebe »ohne sonderliche Schmerzen Bezaigung unnd Vergiessung eines Zächers, mithin ganz leicht überstanden«. Anna Maria Heinzlin wollte man mit Daumenschrauben z u m Geständnis bewegen, doch war sie »so wenig als der verhaffte Lenz zu einer Bekandnus« zu bewegen. Daher also die relativ glimpfliche Strafe. Z u r selben Kategorie von Gaunern gehörte eine Gruppe von acht Vagierenden, gegen die Anfang 1750 in A m b e r g eine Untersuchung gefuhrt w u r d e . 4 7 Außer Vagieren, z u m Teil im Wiederholungsfall, konnte ihnen nichts Gravierendes nachgewiesen werden, o b w o h l den beiden männlichen Gruppenmitgliedern gegenüber ebenfalls die T o r t u r angewandt wurde. Sie w u r d e n an den Pranger gestellt, gebrandmarkt, mit Ruten ausgehauen und nach abgeschworener U r f e h d e des Landes verwiesen. Die Frauen kamen objektiv zwar etwas glimpflicher davon, dennoch wird die Ausweglosigkeit ihrer Lage besonders deutlich. Elisabetha Weissin, die sogenannte »Dunckhl Lisi«, w u r d e an den Pranger gestellt und dann mit in den Nacken gesteckter Rute als D r o h u n g für den Wiederholungsfall ausgewiesen. Bei Maria Anna Pürmännin, »insgemain die alte Schnurerin und Böhm Andl genant«, w u r d e das Rutenausstreichen tatsächlich ausgeführt, da sie bereits die U r f e h d e abgelegt und gebrochen hatte. Auch die »unterschidlich erwachsenen Mägdlein« (von der Tochter der Weißist das Alter mit 13Jahren angegeben) w u r d e n mit Prügeln ausgewiesen. Derartige Strafen hatten ausschließlich Abschreckungs- und Vergeltungscharakter. Sie dokumentierten außerdem noch Vorstrafen - N a r b e n von Rutenstreichen, Brandmarken - und belasteten den Täter bei späteren Prozessen zusätzlich. So gesehen, fungierten sie gewissermaßen als Meilensteine auf d e m Weg z u m Zuchthaus bzw. z u m Richtplatz. Die Möglichkeit einer Resozialisierung w u r d e nahezu völlig zerstört. Verließ man tatsächlich

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das Land, konnte das die Situation nicht nennenswert verbessern, da das Vagieren anderswo ebenfalls unter Strafe stand. Abgesehen davon hatten gerade vagierende Frauen die Neigung, sich im engeren Bereich ihrer Heimatregion aufzuhalten. So auch die Böhm Andl. Sie w u r d e 1751, also kurz nach ihrer A m b e r g e r Untersuchung, in Auerbach erneut als U r f e h d s brecherin inhaftiert, jedoch - vermutlich aus Gesundheitsgründen - kurz darauf wieder entlassen. 4 8 Die Frau hatte in der Tat keine andere Möglichkeit, als bis zu ihrem - natürlichen oder gewaltsamen - T o d weiter durch die Oberpfalz zu wandern.

Karrieren Im S o m m e r 1751 w u r d e n im Landgericht Roth zwei j u n g e Männer verhaftet, als sie versuchten, gestohlenes Kupfer an einen Juden zu verkaufen. 4 9 Auch bei ihnen lassen sich aus Verhören und Gerichtskorrespondenzen die Biographien teilweise rekonstruieren, insbesondere die spätere Phase der Entwicklung v o m vagierenden Bettler zum Dieb und gelernten Gauner. Hannß Michel Fuchs war etwa 1730 in Stopffenheim geboren worden. Sein Vater, der 1749 verstorbene Fallknecht Sebastian Fuchs w a r Vetter des Fallmeisters (= Wasenmeisters) von Stauff und hatte sich, wie auch zwei seiner Brüder, mit Schuhriemenmachen, Hirschhüten und anderen Gelegenheitsarbeiten ernährt. Das waren bekanntlich Tätigkeiten, die sehr häufig von Vagierenden ausgeübt wurden. Die leibliche Mutter war schon vor längerer Zeit gestorben, den genauen Zeitpunkt konnte er nicht mehr nennen. Die Stiefmutter war jedoch noch am Leben. »Ja! Sie habe ihren Vatter selber nicht gekennet, seine Stieff Mutter.« Nach dem T o d e der leiblichen Mutter begann Fuchs mit zwei verwandten »Kerln« und einer alten Frau zusammen seine Laufbahn auf der Straße. A m Beispiel des Caspar Wallner ist bereits gezeigt worden, daß man bei solchen H e r k u n f t s - und Familienverhältnissen nicht viele Alternativen hatte. Die Gruppe zog vor allem durch das Gebiet des Bistums Eichstätt. Später war Fuchs eine Zeitlang Soldat, ansonsten habe er sich »sein Lebtag mit Betteln ernährt«. Im Laufe der U n t e r s u c h u n g w u r d e allerdings der Verdacht geäußert, daß er, wie auch sein mitgefangener K u m p a n , zeitweilig Wilddiebstahl betrieben hatte. Dieser andere, Peter Singer, war 23Jahre alt und stammte aus N e u m a r k t in der Oberpfalz. Sein Vater, ein ehemaligen Soldat, lebte als Hirte in der N ä h e von Roßtal südwestlich von N ü r n b e r g , die Mutter war verstorben, die Stiefmutter noch am Leben. Einige seiner Brüder waren Soldaten, die Schwestern arbeiteten als Dienstboten, mehrere Geschwister waren aber auch verschollen. 5 0 Singer zog zeitweilig mit einer gewissen Margaretha Laum als Gefährtin durchs Land, mit der er zwei Kinder hatte. Sie waren nirgends getraut worden, o b w o h l sie deswegen »an vielen Orten gewesen« - auch eine schöne B e g r ü n d u n g für das Vagieren. Als 15jähriger, also 1743, war er 95

Soldat bei den Spaniern geworden. »Er seye in Pavia 5 1 von denen königl: Osterreichl: gefangen worden, da er sich mit dem Durchgehen ranzioniert [ = erlöst], weil viel 100 durchgegangen.« Damit war erklärt, weswegen er keinen Abschied vorweisen konnte. Die Aussage der beiden, daß der Kupferdiebstahl die erste Unrechte Tat in ihrem Leben gewesen sei, konnte nicht widerlegt werden. Es hat überdies den Anschein, als sei es zu einer gewissen Solidarisierung zwischen untersuchendem Richter u n d Angeklagten gegenüber d e m jüdischen Hehler g e k o m m e n . 5 2 A u f j e d e n Fall schien der Richter v o n H u m o r u n d C h a r m e des Fuchs beeindruckt gewesen zu sein, die auch im Verhörsprotokoll ihren Niederschlag fanden. Auf die Frage, w a r u m er sich bei der Festnahme »so entsetzlich gewehret« habe, antwortete der Delinquent augenzwinkernd: »Ja! Wann der Vogel i m Häußle ist, w ä r er halt gern draus.« Daraus erklärt sich wohl auch die vergleichsweise glimpfliche Strafe. Beide w u r d e n des Landes verwiesen, Singer zuvor gebrandmarkt, während der j ü n g e r e Fuchs mit d e m Staupenschlag d a v o n k a m . 5 3 In den folgenden Jahren durchlief Fuchs verschiedene Stadien der Professionalisierung als Gauner. Wahrscheinlich waren er und sein Partner aber auch in R o t h schon unterschätzt worden. Im Mai 1756 k a m jedenfalls eine Anfrage aus N e u m a r k t nach Roth; 5 4 dort war ein verdächtigerJohann Michel Lang inhaftiert, der eindeutig mit Fuchs identisch war. Singer w u r d e in diesem Schreiben als »Thonhauser Peter«, also mit einem eindeutigen »Vaganten«-Spitznamen, bezeichnet. U n d wieder ein Jahr d a r a u f h a t t e m a n in Heidenheim in Erfahrung gebracht, »wie der pto. furti allhier inhaftirte Schinder Michel vor etlichenjahren zu R o t h unter d e m N a m e n HannßMichael Fuchs ausgepeitschet worden. Allhier nennet er sich Anton Weinmann, zu M o n h e i m hat er Hannß Michel Treu und zu N e u m a r c k Hannß Michel Lang geheißen. . . « 5S N a m e n sind Schall und Rauch, vor allem fur einen vagierenden Gauner, der versuchen mußte, den Nachforschungen der Justizbehörden zu entgehen. D e r Abschluß einer Karriere, wie Fuchs sie eingeschlagen hatte, konnte ein Ende sein, wie es der 72- bis 73jährige Franz Ludwig, alias »Schinder Franzi« 1765 in A m b e r g auf dem Richtplatz erleiden mußte. Seine Urgicht, also die Urteilsbegründung, bietet ebenfalls Einblick in ein bewegtes »Vaganten«Leben. 5 6 Ludwig s t a m m t e an sich aus Scheyern i m bayerischen Landgericht Landsberg. Nach d e m T o d seines leiblichen Vaters, von d e m nichts Näheres bekannt ist, heiratete seine Mutter den Abdecker von U m m e r s d o r f im Gericht V o h b u r g . D u r c h diese Verbindung geriet auch der Sohn »unter allerhandt lüderliche Cammerathschaft« und k a m so auch zu seinem Spitznamen. Zeitweilig führte er fälschlicherweise den Familiennamen seines Stiefvaters, öxl, und zwar »weillen er unter seinem rechten Z u n a h m e n Ludwig aisschon vor viellen Jahren zu Saz im Königreich B ö h m e n dess Bettlens halber gefänglichen innengelegen und bey seiner erfolgten Entlassung auf d e m Buckl mitls eingeschröpften Buchstaben gezeichnet . . .

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worden«. Deswegen und weil er auch schon anderswo mehrfach aufgefallen war, w a r eine N a m e n s ä n d e r u n g zweckmäßig. Die frühesten Diebstähle, die er eingestand, datierten aus dem Jahr 1725. Ludwig hatte lange Zeit geleugnet, hat dann aber nach mehreren gütlichen u n d peinlichen Verhören schließlich doch genügend eingestanden, u m z u m T o d durch das Schwert und zu anschließender Radbrechung verurteilt zu werden.

Kleine Tat und große Strafe Einen Hinweis auf die mögliche Rigorosität der Strafverfolgung, w e n n vagierende Lebensweise mit nur geringfügiger krimineller Aktivität zusammentraf, bietet die A m b e r g e r Urgicht des Thomas Albrecht, vulgo »BettlThoma«, v o m 15. 3. 1768. 5 7 Die Angaben zur Person konnten auf viele Vagierende passen: 29 Jahre alt, Tagwerkerssohn aus dem Bayreuthischen, Konvertit, ohne Beruf, verheiratet, fünf Kinder. Er gestand einen Diebstahl ein, den er vor neun Jahren verübt und der ihm überdies nur äußerst bescheidene Beute gebracht hatte. Das reichte gleichwohl für die Verurteilung z u m T o d durch das Schwert. Nach diesen Maßstäben gemessen, hätte so ziemlich jeder Vagierende hingerichtet werden müssen, u n d in der Tat k o m m t m a n hier der Intention der Mandatspolitik recht nahe. Offensichtlich w u r d e die Ehe mit seiner Frau Dorothea noch strafverschärfend gewertet. Aus ihrer Urgicht v o m 8. 4. 1768 geht hervor, daß sie 36 Jahre alt und in Gröbenstetten in der Oberpfalz unehelich geboren w o r d e n war. Bei ihr handelte es sich ganz eindeutig u m eine geborene »Vagantin«. Das zeigte auch ihr Verhalten während der Untersuchung. Im Gegensatz zu ihrem M a n n gestand sie erst nach mehreren peinlichen Verhören, und ihr Prozeß dauerte deswegen entsprechend länger. Sie w u r d e einen knappen M o n a t nach ihrem M a n n enthauptet. 5 8 Es bedarf keiner phantasievollen Anstrengungen, u m sich auszumalen, wie die von vornherein bescheidenen Chancen der fünf hinterlassenen Kinder des Paares auf ein stabiles und auskömmliches Leben aussahen. 5 9 Der 53jährige Johann Georg Bauer w u r d e am 2. 3. 1772 wegen Schweinediebstahls und diverser kleinerer Delikte hingerichtet. 6 0 Auch er war primär ein Vagierender, der zunächst seine Einkünfte aus Betteln u n d Gelegenheitsarbeiten durch Diebstähle zu verbessern suchte. Schon 1763 war er in Schnaittach inhaftiert worden, vor allem deswegen, weil er ein »Petschier Stöckl«, also einen Knüppel, der als Waffe dienen konnte, bei sich geführt hatte. Er w u r d e damals an seinen Geburtsort zurückverwiesen mit der E r m a h n u n g , »das auf weiteres h e r u m Vagiren gegen ihme wie gegen andere Vaganten verfahren werden würde«. Diese E r m a h n u n g w u r d e nun, neun Jahre später, ebenso strafverschärfend interpretiert wie der U m s t a n d , daß er

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schon einmal zu zwei Jahren Schanzarbeit verurteilt worden, jedoch nach sechs M o n a t e n wieder entwichen war. 1781 w u r d e der 27jährige Georg Philipp Pösl als Dieb in A m b e r g gehängt. Sein Spitzname »Geigerbub« läßt auf den Sohn eines Musikanten schließen; als Beruf gab er »Strohkastimacher« an. 6 1 Der 1768 zusammen mit seinem Komplizen Johann Ehrbauer gehängte Conrad Göck gab an, er sei »unwissend w o , wie er aber von seiner Mutter vernohmen, unter freyen H i m m e l gebohren« w o r d e n . 6 2 Laut Urteil v o m 9. 7. 1754 w u r d e die 42jährige Anna Margaretha Sujfherin in N ü r n b e r g enthauptet. 6 3 Sie hatte einen Kleiderdiebstahl begangen, also sicher keinen großen Schaden angerichtet. Immerhin konnten ihr noch einige frühere Bagatelldiebstähle nachgewiesen werden, so daß es unnötig war, noch lange in ihrer Vergangenheit nachzuforschen. Es w u r d e nur festgestellt, daß sie die Tochter eines ehemaligen Soldaten war, selbst einen Soldaten geheiratet hatte, von d e m sie angeblich verlassen w o r d e n war. Sie hinterließ zwei - vermutlich inzwischen herangewachsene - Kinder, v o n denen eines unehelich geboren war. Der einige Wochen zuvor enthauptete Joseph Pfister64 hatte offenbar ernsthaft versucht, der N o t w e n d i g k e i t z u m kriminellen Broterwerb durch die A n n a h m e der verschiedensten Dienste und Arbeiten zu entgehen. Er war 30 bis 31 Jahre alt, Bauernsohn aus der N ä h e von Schwäbisch G m ü n d , hatte aber nichts geerbt. Er gab an, gelernter Leinweber zu sein und sich auch mit d e r B a u e r n u n d Tagwerkarbeit beschäftigt zu haben. Außerdem diente er zeitweilig als Fuhrknecht u n d als Soldat bei der französischen und österreichischen Armee. Er w u r d e wegen einiger Diebstähle und wegen Streunerei verurteilt. Dasselbe Los aus denselben Gründen erlitt 1753 in Markt Erlbach der j u n g e Vagierende Georg Lorenz Nasio.6S Im Urteil w u r d e bemerkenswerterweise unterstrichen, er habe »als ein junger starcker Kerl zu dergleichen bößen und schändlichen Lebens Art durch keine N o t h sich getrungen gesehen. . .« Mit diesem Satz sind nicht die Gründe und Bedingungen des Lebens als vagierender Gauner, w o h l aber die Intentionen der Strafverfolgung zutreffend charakterisiert. Bei all diesen Beispielen, die noch beliebig fortgesetzt werden könnten, ist eindeutig, daß wirtschaftliche Zwangslagen zusammen mit den E i g e n t ü m lichkeiten des Vagierens - Verfolgung durch die Behörden, Gesellschaft und Vorbild anderer Vagierender, Stellung als sozialer Außenseiter - die kriminellen Handlungen, meist Eigentumsdelikte mit Bagatellcharakter, hervorgerufen hatten. Eliminiert w u r d e n durch die Vollstreckung der Todesurteile einige Mitglieder der vagierenden Gaunerbevölkerung. Zugleich zerstörte m a n damit vollends die eventuell noch vorhandenen Möglichkeiten der hinterlassenen Kinder, sich jemals in die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen einzuordnen, 6 6 erhöhte also faktisch die Zahl der Vagierenden. Auf der anderen Seite gelang es relativ selten, >hochqualifizierte< Banditen und Kapitalverbrecher, die häufig ebenfalls aus der Schicht der Vagierenden stammten, zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Personen sahen sich selbst in

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der Regel in einer klaren Gegenstellung zur etablierten Gesellschaft. Ihre kriminellen Aktionen waren deshalb geplant, sorgfältig vorbereitet und wurden meist nach bewährten und perfektionierten Mustern ausgeführt. Damit befanden sie sich gegenüber den relativ schwerfälligen Verfolgungsbehörden im Vorteil und konnten sich - zu Recht - verhältnismäßig sicher fühlen. 6 7 Die vergleichsweise harmlosen Vagierenden dagegen traf die ganze Härte des Gesetzes.

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VI. Zusammenfassung

Die vagierenden Unterschichten sind nicht eindeutig als geschlossene soziale Gruppe zu definieren und ebensowenig nach außen hin exakt zu begrenzen. Das hat seinen Grund darin, daß Klassifizierungskriterien aus den Quellen nicht zweifelsfrei hergeleitet werden können und daß eine beträchtliche Fluktuation zwischen den seßhaften, wandernden und vagierenden Teilen der Unterschichten stattfand. Primär handelte es sich beim Vagieren um eine Lebensform, die von Angehörigen der Unterschichten insgesamt zeitweilig und teilweise auch wiederholt praktiziert wurde. Unter ihnen gab es eine starke Gruppe, die ständig in dieser Lebensform existieren mußte und permanent auf der Straße lebte. Die Betrachtung kann sich deshalb nicht auf die Vagierenden allein beschränken, sondern sie hat die benachbarten sozialen Bereiche mobiler Berufe und seßhafter Unterschichten einzubeziehen. Am eindeutigsten den vagierenden Unterschichten zuzuordnen sind Personen, die in den Status hineingeboren wurden, also in erster Linie Kinder von Vagierenden selbst. Ihnen fehlte der Bezug zu einem Heimatort mit dem damit verbundenen Schutz und in der Regel jede legale Existenzmöglichkeit. Für sie war es nahezu ausgeschlossen, ein Leben nach den geltenden sozialen Normen zu fuhren. Der größere Teil der Vagierenden allerdings war aus Unterschichtberufen abgesunken, die hauptsächlich oder ausschließlich auf äußerst karge Einkünfte aus häufig unregelmäßiger Lohnarbeit angewiesen waren. Sehr viele Menschen mußten sich auf diese Weise ernähren und schafften es auch, sich mit Hilfe von Verwandten oder der Heimatgemeinde und durch eigene Findigkeit und Flexibilität über die besonders harten Wintermonate zu bringen. Allerdings konnten schon geringfügige Verdienstausfälle sie unter die Grenze des Existenzminimums drücken. Wirtschaftliche N o t zwang sie dann dazu, auf der Suche nach Arbeit oder Absatzmärkten für ihre Waren oder Eigenprodukte ihrer Heimatorte zu verlassen. Hatten sie bei der Suche nicht bald Erfolg, waren sie für ihren Lebensunterhalt zunehmend auf Almosen angewiesen. Damit kam zu dem Delikt des dienstlosen Umherziehens noch das des Betteins hinzu, jedenfalls nach den Maßstäben der Obrigkeit war die Grenze zur vagierenden Lebensweise überschritten. Die Kriminalisierung verstärkte die Tendenz zum weiteren Absinken erheblich. Als besonders anfällig galten die Angehörigen mobiler Berufe wie Hausierer, Musikanten, Komödianten, Scherenschleifer, Pfannenflicker usw. Bei ihnen war ständiger Ortswechsel ohnehin Erfordernis des Berufs. Z u m Vagieren war es häufig nur ein kleiner Schritt. 100

Unter den seßhaften Unterschichten waren die breite Schicht der Tagwerkerleute gefährdet, außerdem Handwerksgesellen, aber auch einschichtige Meister. Eine Sonderstellung nahmen die mnehrlichen Leute< ein, vor allem Abdecker und Hirten. Sie erscheinen in den Akten der Behörden weit überproportional als Vagierende. Ähnliches gilt für Personen mit geminderter rechtlicher Stellung, zum Beispiel unehelich Geborene. Bei ihnen allen begünstigte die Anrüchigkeit ihres sozialen Status zusätzlich zur wirtschaftlichen Not den Schritt in die vagierende Lebensweise. Oft standen einschneidende Erlebnisse und persönliche Erfahrungen am Beginn des sozialen Abstiegs bzw. beschleunigten ihn. Häufig sind Hinweise auf den Militärdienst, durch den Menschen aus ihrem normalen Lebenszusammenhang gerissen wurden, und auf außerehelichen Geschlechtsverkehr bzw. Eheschließung ohne obrigkeitliche Erlaubnis. Das waren Delikte, die unter der Strafe der Landesverweisung stehen konnten. Auf jeden Fall war es schwierig, nach solchen Lebensabschnitten und Ereignissen den Weg zurück in ein den gesellschaftlichen Normen entsprechendes Leben zu finden. Da schon die Grenze zwischen vagierender, wandernder und seßhafter Lebensweise diffus bleibt, muß es problematisch sein, Angaben über den Umfang der vagierenden Unterschichten zu machen. Folgt man den obrigkeitlichen Kriterien, nach denen jeder einige Zeit dienstlos Umherziehende, der gelegentlich um Almosen bat, dazu zu zählen war, dann erhält man für die Zeit um 1750 einen geschätzten Anteil von etwa 8% der Gesamtbevölkerung Bayerns, die zur gleichen Zeit vagierten. Dieser Wert stieg gegen Ende des Jahrhunderts auf etwa 10% an. In den kleinen Staaten Schwabens und Frankens verlief die Entwicklung ähnlich, doch lagen die entsprechenden Werte hier etwa 2% bis 3% höher als in Bayern. Der Anstieg verlief nicht linear. Kriege und ökonomische Krisen bewirkten ein stärkeres Anwachsen, wenn dieser Einfluß auch nicht überschätzt werden darf. Zu Schwankungen kam es insbesondere im saisonalen Wechsel; konkrete Zahlenangaben über ihren Umfang können aus den Quellen jedoch nicht abgeleitet werden. Wenn man die Bevölkerungsgruppe, die nach obrigkeitlichen Maßstäben vagierte, näher betrachtet, kommt man zu dem Ergebnis, daß sie nur etwa zur Hälfte von permanent Vagierenden gebildet wurde. Die andere Hälfte setzte sich aus Personen zusammen, die phasenweise vagierten und also nicht auf Dauer abgesunken waren. Sie hatten und nutzten die Gelegenheit zur Reintegration und gehörten gewissermaßen einem gesellschaftlichen Grenzbereich zwischen vagierender und wandernder Lebensweise an. Das damit angesprochene Moment der Fluktuation am unteren Ende des sozialen System bewirkte, daß weite Teile der Unterschichtbevölkerung eigene Erfahrungen mit dem Vagieren gemacht hatten oder doch ständig mit der Möglichkeit konfrontiert waren, auf der Straße leben zu müssen. Der Kampf um die Existenz und ums Überleben war es, der das Leben auf 101

der Straße prägte. Möglichkeiten der Subsistenzsicherung unterwegs waren Lohnarbeit, der Verkauf häufig selbst angefertigter Waren, Bettelei und Diebstahl, der meist Bagatellcharakter trug. Die Grenze zwischen gesellschaftlich und rechtlich akzeptiertem Wandern und dem illegalen und geächteten Vagieren war, wie gesagt, fließend. Sie ist etwa an dem Punkt anzusetzen, an dem das Moment des bettelnden Umherziehens das der Suche nach Arbeit oder Absatzmärkten überwog. Dann wurde objektiv und nicht nur nach den Maßstäben der Behörden der qualitative Schritt ins Vagieren vollzogen. Die Arbeit trat als reine Subsistenzmöglichkeit zurück und gewann häufig deutlich Alibicharakter; Wanderungen konnten damit erklärt und legitimiert werden. Auf dieser Ebene erscheinen zunehmend Berufsbezeichnungen wie »Strohkastimacher« und »Wurzelgraber«, die eher exotisch anmuten. Nach derartigen Dienstleistungen bestand wohl eine gewisse Nachfrage; die Einkünfte daraus reichten allerdings kaum jemals hin, um einen Mann oder gar eine Familie zu ernähren. Die Notwendigkeit zu illegalem Broterwerb, zu dem schon das Betteln zählte, war offensichtlich. Unter solchen Umständen mußten Strategien entwickelt werden, die den Vagierenden das Leben und Überleben in einem sozialen Raum ermöglichen konnten, der außer durch die ökonomische Zwangslage noch durch obrigkeitliche Nachstellungen und soziale Ächtung geprägt war. Die gesellschaftliche Randstellung wurde durch enge Kontakte und persönliche Bindungen innerhalb der vagierenden Bevölkerung selbst soweit wie möglich kompensiert. Die Art und Weise, in der zwischenmenschliche Beziehungen gelebt wurden, stand häufig zu den üblichen moralischen Normen in deutlichem Widerspruch. Darauf weisen die zahlreichen unerlaubten Eheschließungen und Hinweise auf freizügige Mann-Frau-Beziehungen sowie eine beträchtliche Anzahl unehelicher Geburten hin. In weniger stark ausgeprägter Form tritt dieses Moment auch bei den nichtvagierenden Unterschichten auf. Z u m Leben auf der Straße gehörte außerdem die Beherrschung verschiedener mehr oder minder ausgefeilter Finten und Kniffe, die zum Teil direkt in kriminelle Praktiken hineinreichten. Konvertiten beispielsweise hatten gute Möglichkeiten, in katholischen Staaten glimpflich behandelt zu werden. Es gab sie unter Vagierenden verhältnismäßig häufig. Kenntnisse von Wallfahrtsorten und -terminen waren hilfreich, da die obrigkeitliche Kontrolle durch die große Zahl der Besucher nicht mehr zu leisten war und zudem von christlich-milde gestimmten Wallfahrern großzügige Almosen zu erwarten waren. Die Grenze zur Kriminalität war bei Diebstahl, aber auch bei der Fälschung von Pässen, Attestaten usw. endgültig überschritten. Hier war der Anschluß an die überwiegend kriminelle vagierende Gaunerbevölkerung hergestellt, in der es Fachleute in allen einschlägigen Disziplinen, auch im Paßfälschen, gab und wo man Kinder regelrecht in die Feinheiten des Überlebens auf der Straße und im Verhalten der Obrigkeit gegenüber einwies. 102

Die Existenz solcher antistaatlicher Überlebensstrategien und Organisationsmomente läßt darauf schließen, daß unter Vagierenden ein eigenständiges, von der N o r m abweichendes Bewußtsein zumindest rudimentär vorhanden war, das allerdings aus obrigkeitlichen Quellen nicht zweifelsfrei belegt werden kann. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß es permanent Vagierenden oder gar Vagierenden von Geburt gelungen wäre, sich in anerkannte wandernde oder seßhafte Lebensformen einzuordnen. Diese Möglichkeit stand allein zeitweilig Abgesunkenen offen, die sich noch nicht allzuweit von den herrschenden sozialen Normen entfernt hatten. Aber auch in solchen Fällen war eine dauerhafte Einordnung selten zu erreichen. Das lag an den begrenzten Alternativen, die die traditionelle Wirtschafts- und Sozialverfassung bot. Die Folge war ein ständiger Wechsel zwischen Integration und Desintegration. Die für Vagierende naheliegende Übernahme mobiler Tätigkeiten Hausieren, Musizieren, Scherenschleifen usw. - wurde von der Obrigkeit durch die restriktive Erteilung der notwendigen Lizenzen erschwert bzw. faktisch verhindert. Auch die Arbeitsmöglichkeiten im eher traditionellen Rahmen der Landwirtschaft und des Gewerbes boten keine langfristigen Lösungen. Der Umstand, daß hier wirtschaftlich hinreichende und sozial befriedigende Arbeitsstellen fehlten, hatte ja viele Menschen überhaupt erst auf die Straße getrieben. Der Beginn einer neuen Entwicklung zeichnete sich mit der Einführung neuer Großproduktionsformen ab, nämlich der Manufakturen und des Verlagswesens. Allerdings reichte die Zahl der so geschaffenen Verdienstmöglichkeiten im 18. Jahrhundert nicht aus. Sie waren zudem auch äußerst niedrig entlohnt und konnten allenfalls als zusätzliche nebenberufliche Alternative gesehen werden. Der Staat verstärkte die hier erkennbare Tendenz durch Maßnahmen zur Arbeitserziehung. Konkret unternahm er den Versuch zur zwangsweisen Eingliederung Vagierender in den Arbeitsprozeß beispielsweise durch ihren Einsatz bei Straßen- und Kanalbauprojekten oder bei der Trockenlegung von Moorgebieten. Auch die Einrichtung der Zucht- und Arbeitshäuser ist in diesem Kontext zu verstehen. Alle diese Maßnahmen griffen zu spät und waren zu bescheiden angesetzt, um ein derart umfassendes ökonomisches und soziales Problem wie das der Vagierenden lösen zu können. Stärker in den Vordergrund rückte folglich der ohnehin ständig vorhandene Zwangsund Strafcharakter, der sich mit dem alten Prinzip der Eliminierung der Vagierenden als soziale Schädlinge verband. Für den einzelnen Vagierenden bedeutete das eine Zunahme des ohnehin schon beträchtlichen obrigkeitlichen Drucks.

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Anhang

Α. Tabellen Tabelle Ρ »Wahre Arme« im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung 1. Altbayern 1782 (Rentämter München, Straubing, Burghausen) Gesamtbevölkerung »Wahre Arme« Gerichtsdiener Wasenmeister Tagwerker 1

815195

100,00%

15231

1,90%

736

0,10%

294

0,04%

30239

3,70%

Herausgezogen aus HStA München GR 290/1 u. Gr. 290/4.

2. München 1781 Gesamtbevölkerung

37840

100,0%

»Wahre Arme«

1275

3,4%

»Arme Seelen«"

891

2,4%

»dienstsuchende Menscher« b

168

0,4%

46

0,1%

müßige u. verdächtige

• 5,8%

Personen ' Bezieht sich auf »wahre Arme« in kirchlichen Stiftungen. b »Mensch« = Frau. Unter ihnen waren 17 schwanger.

3. Pfalz-Neuburg

1780/81 1780"

Gesamtbevölkerung

87271

»Wahre Arme« (%)

1917

'

1781 87190 (2,2)

1841

(2,1)

Für das Jahr 1780 sind die Angaben für die Pflegämter Burgheim, Burglengenfeld, Hemau, Laaber und Velburg unvollständig. Es wurden dann die entsprechenden Werte des Jahres 1781 eingesetzt. Beschränkt man sich für 1780 auf die Pflegämter mit vollständigen Angaben, ergeben sich folgende Werte: Gesamtbevölkerung »Wahre Arme«

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60830 1403 ( = 2,3%)

Tabelle II" A u f g e g r i f f e n e Vagierende in bayerischen Landgerichten 1750-1752 (Geschlechtsverteilung u. soz. H e r k u n f t / B e r u f ) Biburg

Moosburg

Vilshofen

Marquardt-

Tölz

stein 1750-52 % Gesamtzahl

1750

%

1750

134 = 100,0 163 = 100,0 46 =

%

1750-51 %

100,0 65 =

1750-52 %

100,0 120 = 100,0

davon: Männer

62 =

46,3

81 =

49,7 33 =

71,7 28 =

43,1

39 =

32,5

Frauen

67 =

50,0

66 =

40,5 11 =

23,9 33 =

50,8

71 =

59,2

Kinder

5 =

3,7

16 =

6,1

10 =

8,3

9,8

2 =

4,4

4 =

A n g a b e n über soziale Herkunft/Beruft Gesamtzahl

87 = 100,0

78 = 100,0 15

15

16

11

1

2

10

davon: Abdecker m. Anh.

9 = 10,4

-

-

Soldaten m. Anh.

21 = 24,1

22 = 28,2

9

Gerichtsdiener/ Schergen m. Anh.

2 =

2,3

Hüter m. Anh.

-

-

5 =

6,4

1

2 =

2,3

4 =

5,1

1 =

1,3

-

-

-

Spielleute, Taschenspieler u. ä.

1

Tagwerker, Söldner, Inleute m. Anh.

20 = 23,0

Handwerker

21 = 24,1

38 = 48,7

-

-

-

1

-

3

Anh. v. H a n d werkern

4 =

4,6

6 =

7,7

-

1

-

Sonstige

8 =

9,2

2 =

2,6

4

-

2

* Herausgezogen aus StA Landshut, Gerichtsrechnungen Biburg 1750-52, Moosburg 1750, Vilshofen 1750; StA Obb München, Gerichtsrechnungen Marquardtstein 1750-51, Tölz 1750-52. b In der Regel überwiegt bei den Angaben das Moment der sozialen Herkunft bzw. Stellung vor dem der konkreten Berufsausübung. Das gilt insbesondere für Soldaten und Angehörige unehrlicher Berufe; hier wurde in den Quellen wie auch in der vorliegenden Tabelle nicht unterschieden zwischen den Berufs- oder Standesvertretern selbst und ihrem »Anhang«, also in der Regel den mitreisenden Angehörigen. Ähnliches gilt für Tagwerker; bei ihnen mußte noch jedes Familienmitglied im Taglohn mitarbeiten und war damit auch berufstätig. Bei den Handwerkern dagegen ist eine Unterscheidung sinnvoll, da sie aufgrund mitgeführter Attestate eindeutig als Berufsgruppe zu definieren sind. Die Rubrik »Anhang von Handwerkern« bezieht sich auf Personen, die aus Handwerkerfamilien stammten oder mit Handwerkern verheiratet waren, den Beruf selbst jedoch nicht ausübten.

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