Mehr oder weniger?: Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung [1. Aufl.] 9783839427767

»More or less?« Ecological growth criticism opposes destructive dynamics of modern societies of industry and excess that

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German Pages 144 [138] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
1. Wachstum und sozioökologische Aufklärung
Ökologische Wachstumskritik als eine Modernekritik
Überblick
2. Die grüne Seele der Wachstumskritik – Thoreaus Walden reloaded
Motive der Wachstumskritik
Mehr oder weniger? – Lebensexperimente
Natur und Kultur – ein Fazit
3. Sozioökologie der Industriegesellschaft
Spätkapitalismus, Industriegesellschaft und ökologische Kritik
Dynamiken der Technologien
Konsequenzen industriellen Wachstums
4. Arbeit und Konsum in der Überflussgesellschaft
Industrialisierung, Arbeit und Konsum
Konsumkritik und Überflussgesellschaft
Überflussdynamiken
Überfluss – Begriff und historische Alternativen
Weniger oder mehr?
5. Steigerungsdiagnosen und Wachstumskritik
Steigerungen der Moderne
Gesellschaftstheorien als ökologische Kritik und Alternativentwürfe
6. Eine Verfahrenswissenschaft nachhaltiger En twicklung
Nachhaltige Entwicklung
Verfahrensrationalität, Verfahren und Verfahrenswissenschaft
7. Mittel oder Zwecke? Analyseperspektiven ökologischer Wachstumskritik
Mittel und Zwecke in den Wachstumsdebatten
Erneuerung einer klassischen Analyseperspektive
Wachstumskritik und die prozedurale Verknüpfung von Mitteln und Zwecken
8. Mehr oder weniger?
Anders und besser
Zur Demokratisierung sozioökologischer Alternativen
Literatur
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Mehr oder weniger?: Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung [1. Aufl.]
 9783839427767

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Stephan Lorenz Mehr oder weniger?

Sozialtheorie

Stephan Lorenz (PD Dr.) forscht und lehrt am Institut für Soziologie der Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Umwelt, Konsum, Ausgrenzung, qualitative Methodik und soziologische Theorie.

Stephan Lorenz

Mehr oder weniger? Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck Print-ISBN 978-3-8376-2776-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2776-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1

Wachstum und sozioökologische Aufklärung | 9 Ökologische Wachstumskritik als eine Modernekritik | 12 Überblick | 18

2

Die grüne Seele der Wachstumskritik – Thoreaus Walden reloaded | 21

Motive der Wachstumskritik | 22 Mehr oder weniger? – Lebensexperimente | 27 Natur und Kultur – ein Fazit | 34 3

Sozioökologie der Industriegesellschaft | 39 Spätkapitalismus, Industriegesellschaft und ökologische Kritik | 41 Dynamiken der Technologien | 46 Konsequenzen industriellen Wachstums | 53

4

Arbeit und Konsum in der Überflussgesellschaft | 57

Industrialisierung, Arbeit und Konsum | 58 Konsumkritik und Überflussgesellschaft | 61 Überflussdynamiken | 64 Überfluss – Begriff und historische Alternativen | 68 Weniger oder mehr? | 70 5

Steigerungsdiagnosen und Wachstumskritik | 75

Steigerungen der Moderne | 77 Gesellschaftstheorien als ökologische Kritik und Alternativentwürfe | 85

6

Eine Verfahrenswissenschaft nachhaltiger Entwicklung | 93

Nachhaltige Entwicklung | 94 Verfahrensrationalität, Verfahren und Verfahrenswissenschaft | 98 7

Mittel oder Zwecke? Analyseperspektiven ökologischer Wachstumskritik | 105

Mittel und Zwecke in den Wachstumsdebatten | 106 Erneuerung einer klassischen Analyseperspektive | 109 Wachstumskritik und die prozedurale Verknüpfung von Mitteln und Zwecken | 112 8

Mehr oder weniger? | 117 Anders und besser | 118 Zur Demokratisierung sozioökologischer Alternativen | 125 Literatur | 129

„Unsere

Erfindungen

sind

meist

schöne Spielsachen, die unsere Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ablenken. Sie sind nur verbesserte Mittel zu einem unverbesserten Zweck, der nur allzu leicht zu erreichen war.“ „Den Wert eines Gegenstandes macht aus, was ich hier das Leben nennen will, das man dafür eintauscht, sofort oder allmählich.“ HENRY DAVID THOREAU

1 Wachstum und sozioökologische Aufklärung „Ökologie ist nicht die Wissenschaft von der Natur, sondern das Nachdenken, der logos, darüber, wie man an erträglichen Orten zusammenleben kann.“ BRUNO LATOUR „Welche Wege die Moderne einschlägt, wieweit sie den Weg der Wiederverzauberung der Welt oder den Weg der instrumentellen Unterordnung der Natur geht, das hängt davon ab, welche ökologische Vernunft in der ökologischen Kommunikation dieser Gesellschaft zum Zuge kommen kann.“ KLAUS EDER

In den letzten Jahren ist die Wachstumsdebatte erneut entflammt. Ist mehr Wachstum nötig, um die Finanzkrise zu bewältigen, oder weniger, weil die Wachstumslogik erst in die Krise führte? Ist mehr Wohlstand für alle allein durch Wachstum möglich oder ist Wohlstandsver-

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zicht unausweichlich, weil weiteres Wachstum ökologisch nicht mehr durchzuhalten ist? Ist eine Postwachstumsgesellschaft wünschenswert oder der letzte realistische Ausweg vor der Katastrophe? In den aktuellen Auseinandersetzungen treffen unterschiedliche Debatten und Perspektiven auf das Wachstumsthema zusammen. Um die Differenzen zu verstehen, sind weitere Fragen zu stellen, etwa diese: Von welchen Prämissen wird ausgegangen, wenn Wachstum als einzige Rettung aus der Krise erscheint oder für die Wurzel allen Übels gehalten wird? Was ist mit Wachstum jeweils gemeint? Welche Art von Wohlstand wird erstrebt? Und welche Freiheiten werden durch Wachstum und Wohlstand, deren Einschränkungen oder Wandel befördert oder gefährdet? Die Finanzkrise konnte in weiten Teilen der Gesellschaft Zweifel daran wecken, inwiefern das (finanz-)ökonomische Wachstum zum allgemeinen Wohle beiträgt, führte es doch in ökonomische Turbulenzen und zunehmende soziale Polarisierung. Kritik daran bewegt sich aber zunächst in sozioökonomischen Fahrwassern und hat mit ökologischer Kritik noch wenig zu tun. Dennoch bietet die Krise auch den Akteuren ökologischer Kritik Gelegenheiten, sich öffentlich wachstumskritisch zu äußern. Um den spezifisch ökologischen Anliegen im Rahmen öffentlicher Finanzdebatten Gehör verschaffen zu können, muss deutlich herausgestellt werden, worum es ökologischer Wachstumskritik geht. Ich gehe davon aus, dass gerade das Kenntlichmachen der Besonderheiten der ökologischen Perspektive es letztlich ermöglichen wird, in einen qualifizierteren Dialog mit anderen Kritikperspektiven einzutreten. Eine Aufgabe dieses Buches besteht deshalb darin, die Kernanliegen ökologischer Wachstumskritik herauszuarbeiten. Man könnte dies nach vier Jahrzehnten „Ära der Ökologie“ (Radkau 2011) für unnötig erachten. Die neueren Debatten zeigen jedoch, dass es das offensichtlich nicht ist. Es scheint, dass sie sich immer wieder um ähnliche Punkte drehen, Bekanntes in Varianten verhandelt wird und die Konfliktlinien reproduziert werden. Wie Rebound-Effekte greifen, was Effizienz- von Suffizienzkonzepten unterscheidet und viele weitere Aspekte dieser Kritik müssen zweifellos geklärt werden. Doch fehlt eine Refle-

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xion der Perspektive ökologischer Wachstumskritik selbst. Die hier angestellten Überlegungen widmen sich deshalb ihren noch wenig geklärten Grundannahmen und versuchen sie soziologisch zu rekonstruieren: Was macht diese Kritikperspektive aus, was sind ihre zentralen Anliegen und wie unterscheidet sie sich damit von anderen Kritikperspektiven? Eng damit verknüpft ist das Anliegen des Buches, ökologische Wachstumskritik überhaupt zu einem soziologischen Thema zu machen, denn das war es bislang kaum. So lässt sich ökologische Wachstumskritik im Lichte soziologischer Analysen gesellschaftlicher Entwicklungsdynamiken reflektieren. Aber auch die Soziologie kann gewinnen, wenn sie Impulse ökologischer Wachstumskritik aufgreift. Für sie steht ein besseres sozioökologisches Verständnis davon in Aussicht, „wie man an erträglichen Orten zusammenleben kann“ (Latour 2008: 10). Diskussionen um ökologische Wachstumsgrenzen wurden bereits in den 1970er Jahren geführt. Schließlich gab es einige gute Gründe dafür, dass diese Debatte an Intensität verlor und Ende der 1980er Jahre von der Nachhaltigkeitsdebatte weitgehend abgelöst wurde (vgl. Huber 2011: 139ff.). Insbesondere konnte nie befriedigend geklärt werden, welches Wachstum – bei aller Kritik – unproblematisch oder sogar wichtig ist. Diskutiert wurde etwa qualitatives, entkoppeltes, sektorales oder selektives Wachstum. Die Idee „nachhaltiger Entwicklung“ bietet dagegen von vornherein ein umfassenderes Verständnis, weil ‚Entwicklung‘ begrifflich verschiedene Formen von Wachstum und Schrumpfung, Kontinuität und Wandel aufnehmen kann. Ein weiteres Anliegen des Buches ist es deshalb, mit den hier vorgeschlagenen soziologischen Analysen zur ökologischen Wachstumskritik an die Nachhaltigkeitsdebatte anzuschließen. Die Bedeutung der Kritik ist darin zu sehen, so die These, dass sie innerhalb einer insgesamt komplexeren Nachhaltigkeitsdiskussion auf wichtige Entwicklungsdynamiken aufmerksam macht, die Nachhaltigkeit gefährden. Damit kann sie Tendenzen im Nachhaltigkeitsdiskurs entgegentreten, die das harmonische Miteinander von Ökonomie, Ökologie und Sozialem

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behaupten, um ein ökonomisches und gesellschaftliches Weiter-so als nachhaltig ausgeben zu können (z.B. „Greenwashing“). Mehr noch wird zuweilen Wachstum sogar als notwendige Voraussetzung dafür gefordert, um überhaupt erst Nachhaltigkeitsmaßnahmen ergreifen zu können.1 Das Ziel dieses Buches ist es deshalb, durch die klärende Rekonstruktion der Kritikperspektive Impulse ökologischer Wachstumskritik für sozioökologische Forschungen zu nachhaltiger Entwicklung zu erschließen.

Ö KOLOGISCHE W ACHSTUMSKRITIK EINE M ODERNEKRITIK

ALS

Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, ökologische Wachstumskritik als eine spezifische Form der Kritik moderner Gesellschaften zu betrachten. Im Folgenden ist sie von anderen, nicht ökologischen Kritikperspektiven abzugrenzen sowie als Wachstumskritik innerhalb eines Spektrums ökologischer Kritiken zu kennzeichnen. Der Modernebezug ist das Gemeinsame einer Reihe unterschiedlicher Kritiken, die nicht völlig isoliert voneinander auftreten, sich aber jeweils bestimmten gesellschaftlichen (Teil-)Problemen widmen. Obwohl ökologische Kritik von fundamentaler Bedeutung ist, weil sie

1

So kommentierte das Bundesfinanzministerium das als Reaktion auf die Finanzkrise erlassene „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ (http://www. bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Steuern/ 2009-11-27-Wachstum.html, letzter Zugriff 19.12.2012): „Wir brauchen Wachstum, um schneller aus der Krise zu kommen. […] Die Krise hat gezeigt, dass langfristiges und nachhaltiges Denken und Handeln in den Märkten oftmals gefehlt hat. Wir brauchen eine Richtungsänderung zu einem Wirtschaften, das wieder stärker gesellschaftlichen Werten, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit gegenüber nachfolgenden Generationen verpflichtet ist. […] Gesundes Wachstum schafft die Möglichkeiten dazu.“

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nach den physischen Existenzgrundlagen von Menschen und Gesellschaften fragt, bleibt sie doch zugleich eine Kritikperspektive neben anderen. Ökologische Kritik ist zum Beispiel keine Verteilungskritik, auch wenn die Bearbeitung ökologischer Fragen häufig Fragen sozialer Ungleichheiten berührt. Sie ist keine Religionskritik, obwohl beides auf unterschiedliche Weise verknüpft werden kann – sie kann religiös motiviert sein und begründet werden (als Bewahrung der Schöpfung), umgekehrt kann Religion als Ursache für ökologische Gefährdungen gelten (i.S.v. Menschen machen sich als Krone der Schöpfung die Erde untertan). Ökologische Kritik ist auch keine feministische Kritik, wenngleich feministische Perspektiven wichtige Erkenntnisse zum Verhältnis von Natur und Kultur, besonders zur Problematisierung von vermeintlich natürlich geteilten Geschlechterrollen, geliefert haben (z.B. Naturbeherrschung als männlich, Sorge als ‚natürlicherweise‘ weiblich). Sie ist ebenso wenig Kapitalismuskritik, wie noch ausführlicher diskutiert wird (Kapitel 3). Menschen können ökonomisch ausgebeutet werden, ohne dass das mit Umweltbelastungen verbunden sein muss; es kann aber auch gerecht zugehen, bei hoher Umweltausbeutung. Dennoch tragen Kapitalismusanalysen zweifellos zur ökologischen Debatte bei. Die Eigenheiten ökologischer Kritik müssen verstanden werden, bevor auf ihre vermeintlichen Defizite verwiesen wird. Den ‚Ökos‘ wird etwa regelmäßig vorgehalten, dass sie in sozialen Fragen unsensibel seien. In der Tat sind bestimmte soziale Anliegen für ökologische Kritik nicht zentral, wie im Verlauf der Ausführungen noch deutlicher werden wird. Das betrifft gerade die Verteilung materiellen Reichtums. Man wird sich aber bei solchen Abgrenzungen vor Umkehrschlüssen hüten müssen. Dass Verteilung nicht zentraler Gegenstand ist, heißt nicht, dass sie für ökologische Themen völlig irrelevant wäre. Ebenso lässt sich ökologische Kritik im Kern nicht im politischen LinksRechts-Schematismus unterbringen. Das bedeutet freilich auch hier nicht, dass derartige politische Positionierungen für ökologische Probleme belanglos wären. Ganz im Gegenteil: Gerade weil es keine zwingende Verbindung gibt, kann es ebenso linke wie rechte ökologische

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Kritik geben.2 Ökologisch Engagierte sind nicht von vornherein vor ‚braunen‘ Positionierungen gefeit und werden sich in entsprechenden politischen Auseinandersetzungen dazu verhalten müssen. Neben den Abgrenzungen von nicht-ökologischen Perspektiven stellt sich die Frage, ob überhaupt von der ökologischen Kritik gesprochen werden kann. Gibt es überhaupt die eine ökologische Kritik oder handelt es sich vielmehr um ganz unterschiedliche ökologische Anliegen und Kritiken? Radkau (2011: 37) sieht zwar einige „Konstanten und Leitmotive“, die die Umweltdebatten der letzten Jahrzehnte und zum Teil darüber hinaus durchziehen. – Viele Umweltkonflikte sind historisch schon alt, andere, wie die um Atomkraft, aus naheliegenden Gründen relativ neu. Als Kennzeichen des Neuen an der ökologischen Krise seit etwa 1970 beschreibt Radkau (2007: 12f.) die globale beziehungsweise „Menschheitsdimension“, den Vernetzungscharakter der Bewegungen und ihre erreichte „politische Handlungsfähigkeit“. – Die Leitmotive ließen sich aber in „keiner Systematik“ unterbringen (Radkau 2011: 37). Tatsächlich gibt es ein breites und heterogenes Spektrum ökologischer Kritik, das von Wildnisbewahrung bis Stadtökologie, Tierschutz bis Anti-Atomkraftinitiativen, Vegetarismus bis zu Bürgerengagement gegen Fluglärm, von Verbraucherschutz bis zu Gesundheitsfragen reicht. Anders als bei Radkau geht es in den hier angestellten Überlegungen aber nicht um die Auszeichnung einer welthistorischen „Ära der Ökologie“, zu deren Charakterisierung alle diese Phänomene herangezogen werden müssten. Hier sollen vielmehr die Kernanliegen ökologischer Wachstumskritik genauer aufgeklärt werden. Als eine Form der Modernekritik reicht sie wiederum über Umweltfragen im engeren Sinne hinaus. Ökologische Kritik richtet sich auf das Mensch-Natur- oder Gesellschaft-Umwelt-Verhältnis. Aber schon diese basale Bestimmung bleibt in den Ökodebatten umstritten. Von einigen wird vielmehr geltend gemacht, dass mit solchen Kategorisierungen eine irreführende Grenzli-

2

Zum Thema der „Ökologie von rechts“ vgl. den Schwerpunkt der Zeitschrift Politische Ökologie 131 (2012).

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nie zwischen Natur und Gesellschaft gezogen wird. Von einer solchen Differenz auszugehen sei aber gerade das Problem moderner Naturdeutung. Die Natur erscheine so als etwas den Menschen Äußeres und objektiv Dingliches. Wachstumskritisch betrachtet liefert das die Gründe dafür, weshalb die ‚natürliche Umwelt‘ immer weiter rücksichtslos ausgebeutet werden kann. Die Distanzierung von Natur führte allerdings nicht nur, wenn auch dominant, zur Instrumentalisierung von Natur, sondern ermöglichte zugleich ihre zunehmende Moralisierung und Ästhetisierung (vgl. Gloy 1996, Hard 2005, Simmel 1984). Das Problem der Trennung von Natur und Gesellschaft besteht deshalb weniger in der Instrumentalisierung allein als vielmehr in den resultierenden Ambivalenzen der Naturverhältnisse: Instrumentelle Naturausbeutung besteht unvermittelt neben romantisierender (moralisierender, ästhetisierender) Naturverklärung (vgl. Eder 1988, Wiedenmann 1998). Fortschreitende Ausbeutung (wie falsche Verklärung) könne jedenfalls nur überwunden werden, so die kritische Perspektive auf die Natur-Gesellschaft-, Subjekt-Objekt-Kategorisierungen, wenn diese kategoriale Trennung überwunden wird. Der Herrschaftsanspruch über Natur kann nur unterlaufen werden, so diese Argumentation, indem die engen Verflechtungen von Natur und Gesellschaft aufgezeigt werden. Eine Natur hier und Gesellschaft da gibt es so nicht. Jeder ‚Eingriff in Natur‘ erweist sich als Eingriff in diese Vernetzungen, betrifft also zugleich ‚die Gesellschaft‘, die Eingreifenden selbst. Solche Vernetzungen machen eine Herrschaft über ‚die Natur da draußen‘ unmöglich. Doch auch diese Sicht bleibt nicht unbestritten. Andere plädieren dafür, die Differenz nicht aufzulösen. Sie gehen davon aus, dass Naturausbeutung gerade daraus resultiere, dass Natur nicht genügend als ‚das Andere‘ der Gesellschaft anerkannt wird. Aus dieser Sicht ist es geradezu vermessen, jegliches Naturphänomen als etwas zu deuten, bei dem Menschen immer schon ‚die Hand im Spiel‘ haben. Folglich wird umgekehrt argumentiert, dass Natur nur dann nicht im Sinne von Beherrschung begriffen werden kann, wenn sie in ihrer letztlichen Unverfügbarkeit, als Anderes, anerkannt wird. Es muss also eine moralisch wie faktisch anerkannte Grenze der immer weiter getriebenen Natur-

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zerstörung geben. Natur wird in ihrem Potenzial gesehen, immer wieder überraschend und unerwartet zu erscheinen und bleibt insofern (immer auch) außerhalb menschlichen Einflusses. Der Zugang zur Natur ist in dieser zweiten Perspektive dadurch begrenzt, dass sie stets über menschliche Möglichkeiten hinausweist und gegenüber deren Eingriffen unverfügbar bleibt. Menschen können ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören, aber nicht ‚die Natur‘. Nur die Anerkennung dieser Unverfügbarkeit macht einen respektvolleren Umgang mit Natur möglich. Im erstgenannten Fall resultiert die Forderung nach einem achtsamen Umgang mit Natur dagegen daraus, dass Natur und Gesellschaft jederzeit und überall verbunden sind. Menschen müssen sich deshalb mit ‚Natur‘ arrangieren. Eine ‚schwache‘ Unterscheidung zwischen Mensch und Natur behalten freilich auch solche Ansätze bei und sprechen deshalb von „Mitwelt“ statt Umwelt oder, wie Latour (2001), von „menschlichen und nicht-menschlichen Wesen“. Beide Positionen – Kritik der Trennung beziehungsweise Kritik der Nichtanerkennung des Anderen der Natur – schließen sich aber im Hinblick auf die hier interessierenden Wachstumsfragen nicht aus, vielmehr bedingen sie einander. Denn arrangieren muss man sich nur mit etwas, das bei aller Vernetzung eben nicht völlig verfügbar ist und insofern etwas Anderes, Äußeres bleibt.3

3

Beide Perspektiven müssen deshalb auch skeptisch gegenüber der sich seit einigen Jahren in den ökologischen Debatten ausbreitenden Rede vom Anthropozän bleiben. Die Annahme eines solchen ‚Zeitalters des Menschen‘ beruht darauf, dass der Einfluss der Menschen auf die natürliche Umwelt globale Ausmaße erreicht hat. Zwar soll diese Feststellung in der Regel dazu dienen eine besondere Verantwortung der Menschen für ökologische Belange zu begründen. Das kann sich aus den dargelegten Perspektiven allerdings leicht als eine erneuerte Hybris erweisen – die Welt retten zu wollen anstatt sich auf sie einzulassen. Plausibler ist die „Ära der Ökologie“, ein Ökozän gewissermaßen, wenn Öko nicht für natürliche Umwelt steht, sondern für Zusammenleben – und die normative Fassung dessen wäre ein Demoszän, also die erweiterte Demokratisierung, die ein sozioöko-

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Jenseits der getroffenen Abgrenzungen und der Relevanz des Naturverständnisses für Wachstumsfragen gehe ich für die genauere Bestimmung ökologischer Wachstumskritik von der Beobachtung aus, dass deren zentrale Motive zum einen als Wissenschafts- und Technikkritik, zum anderen als Konsumkritik auftreten. Damit korrespondiert wiederum ein Gesellschaftsverständnis, das moderne Gesellschaften vor allem als Industriegesellschaften und als Konsumgesellschaften – oder zugespitzt: als Überflussgesellschaften – betrachtet. So sehen beispielsweise die Herausgeberinnen des Bandes „Postwachstumsgesellschaft“ im rahmenden Vorwort die ökologischen Probleme von den „hochindustrialisierten Länder(n)“ ausgehen und schreiben: „Der Glaube an die Grenzenlosigkeit menschlicher Expansion und Bedürfnisse und das Vertrauen in die technische Machbarkeit blockieren die Einsicht, dass die natürlichen Ressourcen endlich und die Ökosysteme verletzlich sind und immer mehr Konsum kaum glücklicher macht“ (Seidl/ Zahrnt (Hg.) 2010: 9). Auch Paech (2012) diagnostiziert die Probleme als Resultate einer Wirtschaft, die er wesentlich als „Konsumwirtschaft“ deutet. Seine kritische Diagnose entwickelt er aus seiner Perspektive auf moderne „Industriestaaten“ und deren „permanenter Konsumsteigerung“ (ebd.: 56). Warum sind gerade Industrialisierung und Konsum so zentral? Industrialisierung steht für die technologische Gestaltung der NaturGesellschaft-Verhältnisse; egal in welchem Wirtschaftssystem oder in welcher Sozialordnung – es sind die Technologien, die unmittelbar die materialen ökologischen Verhältnisse bestimmen. Konsumkritik wiederum reflektiert Fragen des guten Lebens; nicht Produktivitätsfragen sind hier von Interesse, sondern Fragen danach, wozu produziert wird, was die Lebensziele und -zwecke sind, die ökonomisch und technisch realisiert werden sollen, was man ‚wirklich braucht‘. In den folgenden Kapiteln soll herausgearbeitet werden, welche Probleme diese Fokussierung ökologischer Wachstumskritik auf Konsum und Industrialisie-

logisches Zusammenleben „an erträglichen Orten“ (Latour) ermöglicht. Darum wird es in den letzten Kapiteln gehen.

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rung in den Vordergrund rückt und welche Konsequenzen daraus folgen.

Ü BERBLICK Ökologische Wachstumskritik wurde in einem ersten Zugriff als eine – im doppelten Sinne – Kritik moderner Gesellschaften gekennzeichnet, gewissermaßen als moderne Modernekritik. Das heißt, es geht um eine Modernekritik, die nicht hinter Moderne und Aufklärung zurück will, sondern eine andere Moderne anstrebt. Wenn ökologische Wachstumskritik eine moderne im genannten Sinne ist, dann tritt sie nicht erst in der „Ära der Ökologie“, also seit den 1970er Jahren, auf. Wie ich im zweiten Kapitel veranschaulichen will, finden sich die grundlegenden Kritikmuster tatsächlich weit früher. Ich gehe historisch zu einem Autor zurück, auf den häufig als Urvater der ökologischen Kritik verwiesen wird, nämlich Henry David Thoreau (1817-1862). An seinen Überlegungen lassen sich bereits wichtige Kriterien ökologischer Wachstums- als Modernekritik rekonstruieren. Auf dieser Basis lässt sich beobachten, wie die Kritikmuster in neueren Positionierungen aufgegriffen, fortgeführt oder auch variiert werden. Das macht es unter anderem möglich, Differenzen auch innerhalb des Ökodiskurses auszuweisen (i.S.v. inwieweit werden die Kriterien berücksichtigt oder nicht). Die ökologische Wachstumskritik wird seit den 1970er Jahren üblicherweise als Kritik an der Industrie- und Konsumgesellschaft formuliert – viel mehr als an der kapitalistischen Gesellschaft und der Arbeitsgesellschaft. Kapitel 3 widmet sich deshalb der Frage, inwiefern sich die Gesellschaftsperspektive der Industriegesellschaft von der der kapitalistischen Gesellschaft unterscheidet und was das für ihre jeweiligen Kritikperspektiven bedeutet. Daraufhin, in Kapitel 4, werde ich Arbeit und Konsum, arbeits- und konsumgesellschaftliche Perspektiven diskutieren, um die besondere Bedeutung der Konsumkritik herausstellen zu können.

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Schließlich wird, in Kapitel 5, ökologische Wachstumskritik noch einmal als Modernekritik reflektiert, indem sie im Lichte von Gesellschaftstheorien betrachtet wird. Was könn(t)en solche Theorien zu den heutigen (Post-)Wachstumsdebatten beisteuern? Auffallend ist, dass die Soziologie insgesamt wenig zu den Wachstumsdebatten beigetragen hat. Viel sichtbarer sind Beiträge aus Ökonomie, Politik, Naturwissenschaften oder von Intellektuellen, wie Ivan Illich und André Gorz. Mit ihrem reichen Fundus an Steigerungstheoremen in der Gesellschaftsanalyse kann die Soziologie zweifellos grundlegende Einsichten in die Wachstumsthematik liefern und deren Blickwinkel erweitern. Statt zu eng auf ökonomisches Wachstum zu blicken, wird es möglich, das Zusammenspiel mehrerer gesellschaftlicher Entwicklungsdynamiken zu untersuchen. Die daraus resultierenden Analysemöglichkeiten liegen aber noch weitgehend brach. Man könnte meinen, dass Fragen gesellschaftlicher Selbstgefährdung durch ökologische Probleme und deshalb auch Wachstumsfragen und solche zu nachhaltigen Entwicklungsmöglichkeiten angesichts ihrer fundamentalen gesellschaftlichen Bedeutung schon lange im Zentrum soziologischer Forschung stünden. Das ist aber keineswegs der Fall, vielmehr hinkt die Soziologie (besonders die universitäre) den Debatten hinterher. Wenn ein soziologischer Beitrag zur Qualifizierung der Wachstumsdebatten geleistet werden soll, muss, so die Annahme hier, zum einen ein reflektierter Anschluss an die umfassenderen Debatten zu nachhaltiger Entwicklung gefunden werden, zum anderen in diesem Rahmen eine geeignete, das heißt durch ökologische Wachstumskritik inspirierte Analyseperspektive aufgezeigt werden. Vorschläge dazu werden in den Kapiteln 6 und 7 unterbreitet. Es wird eine Verfahrensperspektive nachhaltiger Entwicklung skizziert, die es erlaubt, Wachstumseffekte in Mittel-Zweck-Relationen kritisch zu untersuchen. Ein zu enger Fokus auf Fragen nach mehr oder weniger, Wachstum oder kein Wachstum, wird sich im Gang der Überlegungen als zu einfach und deshalb durchaus irreführend für die Debatte erweisen. Im Kern richten sich ökologische Wachstumskritiken gegen die Verselbst-

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ständigung von im weiteren Sinne technischen Mitteln gegenüber Zwecken eines guten Lebens. Die prozedurale Rekonstruktion der Aushandlungsprozesse von Mittel-Zweck-Relationen wird deshalb als zentrale soziologische Aufgabe von wachstumskritisch angeregten Studien zu nachhaltiger Entwicklung herausgestellt und begründet. Wer und was ist an den Aushandlungsprozessen beteiligt und wie werden sie gestaltet? Neben solchen analytischen Beiträgen wird auch eine konstruktive soziologische Beteiligung an nachhaltiger Entwicklung möglich, vor allem in Form erweiterter Demokratisierungsvorschläge: Wer und was muss auf welche Weise berücksichtigt werden, um Zwecke bestimmen und geeignete Mittel dafür einsetzen zu können? Die hier vorgestellten Überlegungen gehen aus meinem Forschungsprojekt hervor, das sich aus umweltsoziologischer Perspektive dem sogenannten Bienensterben widmet. Es untersucht daran sowohl problematische Entwicklungsdynamiken, als auch Möglichkeiten nachhaltiger Entwicklung. Das Projekt wird für 36 Monate von der VolkswagenStiftung gefördert. Herzlich danken möchte ich meiner Projektmitarbeiterin Kerstin Stark für ihre Hinweise und Vorschläge zur Verbesserung des Textes sowie meiner studentischen Mitarbeiterin Carolin Neubert für ihre geduldige Formatierungsarbeit am Manuskript. Die Ausarbeitung zum Buch wäre ohne die zusätzliche Unterstützung durch das DFG-Kolleg „Postwachstumsgesellschaften“ am Jenaer Institut für Soziologie nicht möglich gewesen. Dazu zählen meine vom Kolleg im Sommersemester 2013 finanzierte Professurvertretung (Hartmut Rosa), die mir eine vertiefende Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Thematik erlaubte, sowie ein einmonatiges Fellowship des Kollegs zur Fertigstellung der Arbeit. Für ihre Diskussion einer Vorfassung des Manuskripts möchte ich den beteiligten Mitgliedern der internen Themengruppe des Kollegs danken. Mein besonderer Dank gilt Karin Scherschel für ihre wertvollen Anregungen und ihr beharrliches Insistieren auf Korrekturen. Für alle verbliebenen Unklarheiten liegt die Verantwortung bei mir.

2 Die grüne Seele der Wachstumskritik – Thoreaus Walden reloaded „Ich kann mir auch nichts Schöneres denken, als dass es so viele verschiedene Menschen wie nur irgend möglich auf der Welt gibt.“ „Mit überflüssigem Reichtum kann man nur Überflüssiges erwerben. Nichts von dem aber, was die Seele notwendig braucht, kann man mit Geld kaufen.“ HENRY DAVID THOREAU

Die Wirkungsgeschichte des Henry David Thoreau (1817-1862) setzte, anders etwa als die seines Zeitgenossen Karl Marx, recht spät ein. Einem breiteren Publikum wurde er durch Mahatma Gandhi und Martin Luther King bekannt, die sich auf ihn beriefen. Bürgerrechts-, Friedens- und Umweltbewegte griffen seine Ideen auf. Erstere rekurrierten insbesondere auf seine Schriften gegen Sklaverei und zu zivilem Ungehorsam, letztere vornehmlich auf Walden oder Leben in den Wäldern, worin er über seine zwei Jahre des Lebens in einer selbst erbauten Hütte am Waldensee schreibt. Thoreau gilt als eine Urgestalt ökologischer Kritik, als „the patron saint of American environmental

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writing“ (Buell 1995: 115) und als „the father of this century’s environmental movement“ (Bowdoin o.J.). In der deutschen Rezeption wurde gerade die ökologische Perspektive anfangs noch wenig beachtet. So schrieben noch Klumpjan/Klumpjan (1992: 138): „Eigenartiger Weise wurde Thoreau trotz der stark gewachsenen Umweltschutzbewegung bislang weder als Pionier der Ökologie noch als Kritiker der technisch-industriellen Zivilisation entdeckt.“ Ungeachtet anderer möglicher Bezüge auf Thoreau geht es im Folgenden um den Thoreau, der als Vordenker moderner ökologischer Wachstumskritik gelten kann, um die Frage, welche wachstumskritischen Motive bei ihm vorgedacht und formuliert werden.

M OTIVE

DER

W ACHSTUMSKRITIK

Es bietet sich an, dazu mit einer Passage aus „Walden oder Leben in den Wäldern“ zu beginnen, an der sich wichtige Kritikmotive anschaulich aufzeigen lassen (Thoreau 2009a: 50f.): „Sagt mir einer: ‚Mich wundert, daß Sie nicht Geld sparen. Sie reisen doch gern. Sie könnten heute mit der Eisenbahn nach Fitchbury fahren und sich das Land ansehen.‘ Ich bin aber klüger, denn ich weiß aus Erfahrung, daß man zu Fuß am schnellsten reist. Ich verabrede mit meinem Freund: Wir wollen probieren, wer zuerst da ist. Die Entfernung beträgt siebzig Meilen, das Fahrgeld neunzig Cent. Das ist fast ein Tagelohn; ich kann mich erinnern, daß die Arbeiter an ebendieser Strecke täglich sechzig Cent erhielten. Also, ich mache mich jetzt zu Fuß auf und komme vor Dunkelheit hin. Schon wochenlang bin ich zu Fuß gereist. Unterdessen hast du dein Fahrgeld verdient und kommst morgen irgendwann an, vielleicht auch noch heute abend, wenn du das Glück hast, rechtzeitig Arbeit zu bekommen. Statt nach Fitchbury zu wandern, arbeitest du den größten Teil des Tages hier. Folglich würde ich dir wahrscheinlich immer voraus sein, und wenn die Eisenbahn um die ganz Welt führe. Und was gar die Kenntnis des Landes und Erfahrungen dieser Art anlangt, müßte ich dich künftighin ganz links liegenlassen.

T HOREAUS W ALDEN

RELOADED

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Das ist das allgemeine Gesetz, dem kein Mensch je entrinnen kann. […] Wollte man eine Eisenbahn rund um die Welt bauen, die alle Menschen benutzen könnten, dann wäre das so gut, als ebnete man die ganze Erdoberfläche. Die Menschen ahnen dunkel, daß sie letzten Endes alle irgendwohin fahren werden, in kürzester Zeit und umsonst, dann nämlich, wenn man diese Geschäftigkeit mit Kapital und Schaufel lange genug fortsetzt. Wohl drängt die Menge zum Bahnhof, und der Schaffner ruft ‚Alles einsteigen!‘ Wenn aber der Dampf abgeblasen ist und sich der Rauch verzogen hat, wird sich zeigen, daß nur wenige fahren, die übrigen aber werden überfahren. Man wird dann von einem ‚bedauerlichen Unfall‘ sprechen – und das ist es ja auch. Ganz sicher darf schließlich fahren, wer sein Fahrgeld verdient hat. Wenn er so lange lebt, heißt das. Aber bis dahin hat er wahrscheinlich Leistungsfähigkeit und Reiselust verloren. So bringt man die besten Jahre seines Lebens damit zu, Geld zu verdienen, um in den wertlosesten eine fragwürdige Freiheit genießen zu können.“

Was sind die wichtigsten Aspekte der Thoreauschen Kritikperspektive? Die Eisenbahn steht für den technischen Fortschritt, der neue Freiheiten verspricht. Thoreau macht aber auf den ‚Preis‘ dieses Fortschritts aufmerksam, der beim Anpreisen des in Aussicht gestellten ‚Gewinns‘ ausgeblendet wird. Dabei ist sich Thoreau nicht zu schade, dies in Cents zu berechnen und sich in seiner Argumentation auf das Geschwindigkeitsversprechen als ‚Gewinn‘ einzulassen. Er zieht so das Ansinnen seines imaginären Gegenübers schon in dessen eigener Logik in Zweifel. Wichtiger noch ist der Einwand, dass sich mit der Fußreise gründlichere Einsichten in und Erfahrungen mit Land und Leuten verbinden. Diese lassen sich vom Zug aus nicht machen beziehungsweise beraubt man sich durch den Zug der Möglichkeiten der Fußreise. Statt unterwegs zu sein, muss man erst einmal Geld verdienen. Die Versprechen technischen Fortschritts werden damit als schon an sich zweifelhaft dargestellt. Sie sind es aber noch vielmehr dadurch, dass sie den Menschen ihrerseits etwas abverlangen, nämlich ‚entfremdende Arbeit‘, die von einer besseren Lebensweise abhält. Schließlich prognostiziert Thoreau die Konsequenzen einer eingelösten Realisierung der Versprechen von Fortschritt und Wohlstand durch „Kapital und

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Schaufel“, Lohnarbeit und Technik. Er ist sich sicher, dass dies für die meisten Menschen zu ihrem Nachteil sein wird, zweifellos nicht intendiert (als „Unfall“ erscheinend), aber doch mit dem eigenen Anteil daran, den falschen Versprechen unbedacht gefolgt zu sein. Selbst wenn eine Realisierung für alle gelänge, so doch nur um den Preis einer massiven Umgestaltung und ‚Einebnung‘ von Landschaft und Menschen. Hier klingt bereits der bekannte Slogan der Umweltbewegung an, dass es, wenn man überall hinfahren könne, sich nicht mehr lohnen werde, anzukommen. Und auch die Erkenntnisse von Hirsch (1978) sind bereits angelegt: Gerade dann, wenn alle dasselbe begehren, führt die Realisierung leicht dazu, dass das so Begehrte verschwindet. Der Stadtrand beispielsweise verknüpft nur so lange die Qualitäten von Stadtzugang einerseits und frischem Grün andererseits, wie nicht alle am Stadtrand leben. Ziehen aber immer mehr an den Rand, verlieren die Stadt und das Umland gleichermaßen. Ganz ähnlich ist die technisch erleichterte Mobilität nur erstrebenswert, wenn sie noch zu etwas anderem führt, als zur immer schon vorher angekommenen und überall gleichen, ‚einebnenden‘ technischen Infrastruktur der Bahnhöfe, Tankstellen, Flug- oder Parkplätze. Wie Thoreau am Zugverkehr, so hatten am Beispiel des Autos Ivan Illich und daran anschließend André Gorz (2009a: 58f.) entsprechend argumentiert, dass sich technische Fortschritte leicht als Illusion erweisen. Noch an der aktuellen Debatte um den Stuttgarter Bahnhofsbau („Stuttgart 21“) werden ähnliche Deutungen sichtbar. So wurde selbstkritisch bemerkt, dass gewissermaßen die Thoreau’sche Lektion nicht beachtet, nämlich nicht die richtige Kritik formuliert wurde. Anstatt sich in technischen Details zu verlieren, wäre es sinnvoller gewesen, das Wohlstandsversprechen zu hinterfragen: „Wenn es aber gar nicht um den Bahnverkehr ging, dann war etwas anderes entscheidend. Und das kann nur die Aufladung des Projekts mit den Begriffen Fortschritt und Wohlstand gewesen sein. Wir haben uns als Kopfbahnhofsverfechter nicht genügend Mühe gemacht, dieses große Märchen zu entlarven, und stattdessen lieber Züge in den Spitzenstunden gezählt“ (Palmer 2012).

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Die von Thoreau vorgetragene ökologische Kritik richtet sich nicht im engeren Sinne auf eine Zerstörung physischer Lebensgrundlagen, obwohl auch er Zeuge massiver Abholzung1 und Landschaftsveränderung durch den Eisenbahnbau in seiner unmittelbaren Umgebung wurde. Im globalen Sinne ist das aber erst eine Erfahrung mehr als hundert Jahre nach Thoreau. Für ihn stellt sich das Problem der Naturzerstörung nicht vorrangig als eines physischer Gefährdung dar. Vielmehr steht für ihn die Kritik an der Zerstörung oder ‚Einebnung‘ des menschlichen Erfahrungsraums im Vordergrund. Im weiteren Sinne – als Modernekritik – argumentiert Thoreau gegen die unreflektierten Versprechen technischen Fortschritts, den Verkauf von Arbeitskraft und die damit verknüpfte ökonomische Dynamik. Technischer Fortschritt erweist sich als Illusion, wenn der Blick auf den erhofften Wohlstand die zugleich mit hervorgebrachten Veränderungen und Anforderungen ausblendet. Und mit dem „Teufelskreis aus vermehrten Bedürfnissen – vermehrter Arbeit – erneut vermehrten Bedürfnissen usw. wollte Thoreau auf ein scharfsinnig erkanntes Grundproblem der Wachstumswirtschaft aufmerksam machen“ (Klumpjan/Klumpjan 1992: 64f.). Das Kernanliegen Thoreaus ist es, das Verhältnis von Mitteln und Zwecken zu hinterfragen. Wenn der Zweck die Freude am Reisen ist, dann ist die Eisenbahn nicht einfach aufgrund ihrer höheren Geschwindigkeit ein geeignetes oder sogar das beste Mittel. Bei genauerer Betrachtung wären technische Fortschritte oft „nur verbesserte Mittel zu einem unverbesserten Zweck“ (Thoreau 2009a: 50). Zudem können die Mittel eine Eigendynamik entwickeln, die ihrerseits Anforderungen stellt, welche durch die Menschen bedient werden müssen. Die Freiheit der Mobilität wird zum Trugschluss, wo sie von technischen Anforderungen und ökonomischen Zwängen abhängig wird. Während „in diesem verhältnismäßig freien Lande“ (Thoreau 2009a: 10), im

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Buell (1995: 119) notiert: “[…] the percentage of woodland in the town of Concord had steadily declined during Thoreau’s lifetime, reaching an alltime low of little more than 10 percent almost at the moment Thoreau penned this sentence“, das heißt in den 1840er Jahren.

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Amerika seiner Zeit, politische Unabhängigkeit erreicht sei, bliebe doch die Freiheit als „wahre Kultur und Menschlichkeit“ unentwickelt, „weil wir verbogen und beengt sind durch völlige Aufopferung an Handel und Wandel, an Industrie und Landwirtschaft. Dabei sind sie alle nur Mittel, nicht Zweck“ (Thoreau 2009b: 289). Mittel-Zweck-Relationen sind deshalb für technische Neuerungen ebenso zu hinterfragen wie für die damit verknüpften ökonomischen Aktivitäten und letztlich jede Art gesellschaftlicher Entwicklung, einschließlich akademischer Bildung: „So wie mit unseren Universitäten ist es mit hundert anderen ‚modernen Errungenschaften‘: wir täuschen uns. Nicht immer bedeuten sie tatsächlich einen Vorteil. Der Teufel verlangt von seiner ersten bis zur letzten Investierung Zins und Zinseszins auf Heller und Pfennig. Unsere Erfindungen sind meist schöne Spielsachen, die unsere Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ablenken“ (Thoreau 2009a: 49f.).

Thoreau kritisiert nicht Kapital- und Besitzakkumulationen als solche oder deren Gerechtigkeits- und Verteilungsaspekte. Er diskutiert sie unter der Perspektive ihrer Zwecke.2 Daran wird die Verbindung zur späteren Konsumkritik deutlich, denn, wie es Adam Smith formulierte, „Konsumtion ist der einzige Zweck aller Produktion“ (Smith o.J.: 679) – obwohl Konsumtion ihrerseits kein ‚Endzweck‘ ist, sondern wiederum der Lebensgestaltung dient. Wenn es Thoreau also um die Zwecke der Lebensgestaltung geht, so ist festzustellen, dass diese heute oft unausweichlich mit Konsum verknüpft sind. Insofern ist Konsumkritik näher an diesen Zwecken als Produktions-(Akkumulations-)Kritik. Mit fortschreitender Modernisierung wurde der marktförmig organisierte Konsum zum Normalmodus der Bedarfsdeckung. Konsumkritik kann deshalb kaum so weit hinter das Konsumieren zurückgehen oder dar-

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„Auf die Dauer erreichen die Menschen jedoch nur, wonach sie streben. Deshalb sollten sie besser nach einem hohen Ziel streben, und irrten sie gleich von Anbeginn“ (Thoreau 2009a: 28).

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aus heraustreten, wie es zu Thoreaus Zeiten noch möglich beziehungsweise selbstverständlich war (ähnlich verhält es sich mit der Technisierung). Sie steht aber in Thoreau’scher Tradition, indem sie nach dem Was und Wozu des Konsumierens und von da aus des Produzierens und der technischen Entwicklung fragt. „Thoreaus zentraler Einwand gegen die rastlose Geschäftstüchtigkeit seiner Landsleute lautete schlicht und einfach: ‚Es genügt nicht, fleißig zu sein; das sind ja auch die Ameisen; wozu seid ihr fleißig?’ Einem letzten Zweck diente der Fleiß der meisten Yankees offenbar nicht mehr, und ihr Bemühen um ständige Mehrung ihres Wohlstands kannte keine selbstgesetzte Grenze“ (Klumpjan/Klumpjan 1992: 61).

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– L EBENSEXPERIMENTE

Im letzten Zitat führen die Autoren mit ihrer Deutung allerdings zwei Aspekte zusammen – Selbstbegrenzung und letzte Zwecke –, die nicht notwendig zusammengehören. In Gesellschaften, die permanent ihre Optionen ausweiten, sind tatsächlich immer wieder Grenzen zu ziehen. Und solche „Selbstbegrenzung“ (Illich 1998) wird mit Bezug auf bestimmte Zwecke zu praktizieren sein. Letzte Zwecke sind dagegen in modernen Gesellschaften in einem für alle verbindlich vorgegebenen Sinne kaum noch denkbar. Sie können höchstens als Aushandlungsergebnisse vorgestellt werden, die in pluralen Gesellschaften aber üblicherweise räumlich, zeitlich und sozial von begrenzter Reichweite sein werden. Thoreau’schem Denken widerspricht das keineswegs. Mit seiner experimentellen Lebensweise vertritt er gerade keine letzten Zwecke. „Dieses Leben ist eben ein Versuch, den ich weitgehend noch vor mir habe. […] Habe ich irgendeine wertvolle Erfahrung gemacht – ich bin gewiß, dass mir meine Lehrer nichts davon gesagt haben. […] Die Fähigkeiten des Menschen hat man jedoch niemals gemessen, noch auch können wir aus der Ver-

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gangenheit erkennen, wozu der Mensch einmal imstande sein wird. […] Natur und Menschenleben sind so mannigfaltig, wie wir verschieden veranlagt sind“ (Thoreau 2009a: 13f.).

Thoreau tritt alles andere als rückwärtsgewandt auf. Er will mit seiner selbst erbauten Hütte am See nicht zurück in die Wildnis. Stattdessen lässt er sich in der Nähe seiner Stadt Concord nieder, bleibt in Verbindung mit den dort lebenden Menschen und beendet schließlich sein Hütten-Experiment nach zwei Jahren wieder, ohne dieses anderen zur Nachahmung anzuraten. „Ich möchte gar nicht, daß jemand aus irgendeinem Grunde meine Lebensweise annimmt. Es könnte ja sein, ich hätte eine andere gefunden, ehe er die alte erlernt hat. Ich kann mir auch nichts Schöneres denken, als daß es so viele verschiedene Menschen wie nur irgend möglich auf der Welt gibt“ (Thoreau 2009a: 68f.). 3

Ganz in diesem Sinne sind auch seine Bemerkungen zu lesen, in denen er ausführt, an welches Publikum er sich mit seinen Überlegungen wendet beziehungsweise an wen nicht. Er hat keineswegs den Anspruch, allen etwas sagen zu können, nicht denen, die mitten im Leben stehen und für ihre Angelegenheiten engagiert sind.4 Vielmehr richtet er sich an die Unzufriedenen und Klagenden, die aber die Möglichkei-

3

Vgl. (ebd.: 262): „Ich verließ die Wälder mit ebenso gutem Grund, als ich sie einstmals aufgesucht hatte. Vielleicht meinte ich, noch verschiedne Leben zu haben, die gelebt werden mussten, so daß ich nicht mehr Zeit auf dieses eine verwenden konnte.“

4

„Aber ich möchte nicht zwischen dem Menschen und seiner Berufung stehen. Wer das, was ich ablehne, mit Leib und Seele und Leben tut, dem sage ich: Fahre fort damit, auch wenn die Welt dein Tun böse nennt, und das wird sie wahrscheinlich tun“ (ebd.: 70f.).

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ten zur Veränderung und Besserung ihres Lebens nicht nutzen (vgl. ebd.: 19f., 68).5 Thoreau war kein Aussteiger, der sich einfach der Zivilisation entzogen hätte, sondern er erforschte praktisch-experimentell, wie sich besser leben lässt. Dabei folgte er mit seinem Leben in der Hütte am See der Strategie der Reduktion, des Weglassens. Er wollte herausfinden, was für menschliches Leben wichtig, vielleicht sogar unverzichtbar ist. Möglich werden sollte das, indem er das Überflüssige beiseite ließ, das ihn von solchen Erkenntnissen abhalten könnte.6 Eine solche experimentelle Prüfung und die Distanz zu den vorhandenen gesellschaftlichen Möglichkeiten ist überhaupt erst in der Moderne möglich und dort, wo eine Vielzahl von Dingen zugänglich und eine Pluralität an Optionen individuell erfahrbar wird. Früh antizipierte er die Herausforderungen der Überflussgesellschaft. Ihm ging es freilich nicht darum, Verzicht oder gar Armut per se als seelig machend zu predigen. „Auch der Weise, so hatte schon Diogenes gelehrt, isst Kuchen, wenn er ihn nur ebenso gut entbehren kann“ (Feldhoff 1989: 37). Thoreau ist nicht der Ansicht, dass man nur wenig besitzen müsse, um das Lebensglück zu gewinnen. Auch die

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„So stark ist unser Lebensdrang, dass wir unser Leben vergöttern und die Möglichkeit, es zu ändern, leugnen. Dies ist der einzig mögliche Weg, sagen wir. Doch es gibt so viele Wege als man Radien von einem Mittelpunkt aus ziehen kann“ (Thoreau 2009a: 15).

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Vgl. (ebd.: 89): „Irrtum häufen wir auf Irrtum, Stückwerk auf Stückwerk. Selbst unsere höchsten Kräfte verwenden wir auf überflüssige, vermeidbare Erbärmlichkeiten. […] Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit! […] Es gibt auf dem bewegten Meer des zivilisierten Lebens so viele Wolken, Stürme, Untiefen und tausend andere Dinge zu beachten, daß der Mensch aufpassen muß, wenn er leben und nicht untergehen will. […] Luxus und unbedachte Ausgaben, der Mangel an Voraussicht und einem würdigen Ziel richten die Nation ebenso zugrunde wie Millionen Familien im Land. Für beide Teile gibt es nur eine Rettung: strenge Sparsamkeit, ernste, mehr als spartanische Einfachheit des Lebens und ein erhabenes Ziel.“

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Reduktion war ihm Mittel für den Zweck. Bestimmte Lebensgrundlagen müssen sogar gesichert sein, um sich frei entfalten zu können: „Erst dann kann man versuchen, wirklich zu leben, wenn man von niedriger Plackerei befreit ist“ (Thoreau 2009a: 19).7 Freilich sieht er diese ‚Grundsicherung‘ unterhalb dessen als erfüllt an, was allgemein schon zu seiner Zeit als notwendiger Standard angenommen wird. Das elementar zu Sichernde ist für Thoreau bereits mit genügend Nahrung und Wärme beziehungsweise Schutz (Kleidung und Wohnraum) sowie einfachen Werkzeugen, mit denen man dies erreichen kann, gegeben. Er fordert zur genauen Prüfung auf, die durchaus räumliche und zeitliche Besonderheiten berücksichtigt, das heißt zu anderen Zeiten und an anderen Orten unterschiedlich ausfallen kann (vgl. ebd.: 16f., 28). Entscheidend bleibt aber die Aussage, dass allzu viele Dinge und soziale Vorgaben der freien Entfaltung des Einzelnen wie dem „Aufstieg der Menschheit“ (ebd.: 17) entgegenstehen können. Deshalb ist es vorteilhaft, auf deren Beschaffung und Erhalt wenige Energien zu verwenden. Doch ist es nicht das arme Leben an sich, das das Lebensglück schon erfüllt. Zudem bedarf es elementarer Sicherungen, um sich um die freie Entfaltung, das wirklich Wichtige, kümmern zu können. Zu diesem Wichtigen zählt für Thoreau eine zur Selbsterkenntnis befähigende Bildung.8 Stattdessen aber, so seine Wachstums-

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„Der arbeitende Mensch […] kann es sich nicht leisten, die natürlichsten Verbindungen mit den Menschen aufrechtzuerhalten; denn seine Arbeit würde dadurch an Marktwert verlieren. Er hat nur Zeit, Maschine zu sein“ (Thoreau 2009a: 10).

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„Es wird Zeit, daß wir statt der üblichen Schulen außerordentliche hätten und nicht unsere Erziehung abbrechen, wenn wir erwachsen sind. Unsere Dörfer sollten endlich Universitäten werden. […] Aber ach, das Vieh zu füttern und den Reichtum zu hüten, hält uns zu sehr von der Schule ab. […] Wenn es nötig ist, baut keine Brücke über den Fluß und macht einen Umweg! Überbrückt lieber den dunkleren Abgrund der Unwissenheit, in dem wir leben!“ (Thoreau 2009a: 108f.).

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kritik, würden die menschlichen Kräfte unnötig vergeudet und wirkten so mehr zum Schaden als zum Nutzen der Menschen.9 Dass es Fortschritte gibt und diese auch genutzt werden sollten, bestreitet er nicht, sondern kritisiert die Art und Weise, wie dies geschieht. „Zweifellos ist es aber besser, die, wenn auch teuer erkauften, Vorteile zu nützen, die Erfindungsgeist und Fleiß der Menschheit bieten. […] Mit etwas mehr Verstand könnten wir diese Dinge so verwenden, daß wir reicher würden als die Reichsten sind und die Kultur ein Segen wäre“ (ebd.: 39). Sofern die gesellschaftlichen Fortschritte den Menschen dienen, sind sie auch zu begrüßen. Stattdessen führten sie aber oft in (neue) Abhängigkeiten.10 Noch bei der Wohltätigkeit gegenüber Armen vermutet er fehlgeleitete Motive und Ansätze am Werke. Häufig ginge es den Wohltätern eher um das eigene Wohl und die Gewissenserleichterung, wodurch den Armen nicht nur nicht gehol-

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„Wer den halben Tag aus bloßer Liebe zum Wald darin spazieren geht, läuft Gefahr, als Landstreicher angesehn zu werden. Verbringt er aber den ganzen Tag als Spekulant, indem er diese Wälder schlägt und die Erde vor der Zeit kahl macht, dann wird er als fleißiger, unternehmender Bürger gepriesen. Hat denn eine Stadt kein anderes Interesse an ihren Wäldern, als sie abzuholzen?“ (Thoreau 2009b: 283). Obwohl hier Thoreaus Modernekritik im Vordergrund steht, ist doch zu berücksichtigen, dass er deshalb nicht ‚alte Zeiten‘ idealisiert. Vielmehr sieht er bestimmte Probleme deutlich früher angelegt, exemplarisch (Thoreau 2009a: 55f.): „An den Pyramiden ist nichts so erstaunlich, als daß sich so viele Menschen dazu hergaben, ein Grabmal für einen ehrgeizigen Hanswurst zu errichten. Klüger und menschlicher wäre es gewesen, ihn im Nil zu ersäufen und seinen Leichnam den Hunden preiszugeben. […] Viele interessieren sich nur dafür, wer denn die Baudenkmäler in West oder Ost errichtet habe. Mir dagegen wäre viel wissenswerter, wer in jenen Tagen nicht gebaut hat, wer über derlei Firlefanz erhaben war.“

10 „Ich kann von der Vorstellung nicht loskommen, daß die Menschen nicht so sehr ihre Herden halten, als daß viel mehr die Herden die Menschen halten“ (Thoreau 2009a: 53).

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fen sei. Wenn die allgemeine Lebensweise erst dazu führt, dass einige auf der Strecke bleiben, die Armutsprobleme also befördert werden, nützt ein bisschen Wohltätigkeit am Rande nichts.11 Besser wäre es, keine „Übel herbeizuführen“, sondern selbst ein würdiges Leben zu führen.12 Ein aktuelles Beispiel dafür ist schnell gefunden, wenn man an die massenhaft erzeugten Lebensmittelabfälle bei gleichzeitiger Armut und Ausgrenzung denkt. Statt den Menschen durch andere Produktions- und Konsumweisen tatsächlich Zugang zum gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, dienen die Überschüsse heute dazu, in großem Stil und in aller Welt wohltätige Lebensmittelhilfen zu organisieren (vgl. Lorenz 2014). Thoreaus Kritik an Reichtum und Armut ist nicht primär Verteilungskritik. Dass manche zu viel und andere (deshalb) zu wenig hätten, ist nicht sein zentraler Einwand. Seine Perspektive liegt quer dazu, weil sie jenseits der physischen Existenzsicherung das, was für Menschen wichtig ist, als in hohem Maße unabhängig von der Verfügbar-

11 „Tausende hacken an den Ästen des Bösen herum, nur einer trifft die Wurzel. Wer am meisten Zeit und Geld an die Bedürftigen wendet, hilft vielleicht durch seine Lebensweise am ehesten, das Übel herbeizuführen, das er vergeblich bekämpft. […] Da rühmt ihr euch, ein Zehntel eures Einkommens für wohltätige Zwecke auszugeben. Ihr solltet besser neun Zehntel darauf verwenden! Und damit Schluß. So aber erhält die Gemeinschaft nur den zehnten Teil ihres Eigentums zurück“ (Thoreau 2009a: 72). 12 „Man möchte sagen, auch die Propheten und Erlöser haben mehr die Angst der Menschen beschwichtigt, als ihre Hoffnungen bestärkt. Nirgendwo wird uns berichtet, daß jemand ganz einfach und unbändig zufrieden sei mit der Gabe des Lebens. Nirgends wird Gott wahrhaftig gepriesen. […] Lasst uns selbst zuerst einfach und natürlich sein und Leben in uns aufsaugen. Nicht Armenpfleger zu sein sei unser Ziel, sondern wir wollen danach streben, zu den Würdigsten auf dieser Welt zu gehören“ (Thoreau 2009a: 75).

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keit über materielle Güter betrachtet.13 Für diese Sicht stützt er sich auf seine experimentellen Erfahrungen in den zwei Jahren am Waldensee, in denen er gewissermaßen von der Hand in den Mund lebte. Ihm ist vollends bewusst, dass es für ein menschliches Leben mehr bedarf als des physischen Überlebens. Aber was das ist, ließe sich eben erst wirklich erkennen, so seine Annahme beim Walden-Experiment, wenn die materiellen Bedingungen auf ihr Minimum reduziert werden.14 Was sich dann als wichtig für Menschen erweist, beschreibt er mit Muße, Unabhängigkeit und insbesondere geistigen oder kulturellen Erfahrungsmöglichkeiten. Deutlich wird das besonders im Kapitel „Lesen“, in dem er Kenntnisse klassischer Sprachen und Werke als nahezu unumgänglich für die geistige Entwicklung der Menschen hält: „Wer nicht gelernt hat, die alten Klassiker im Original zu lesen, kann nur unvollkommene Kenntnis von der Geschichte des Menschengeschlechts haben“ (Thoreau 2009a: 103). Dies ist allerdings voraussetzungsreich. Soziologisch ist Bildung ebenso wie materielle Reichtumsverteilung als Ungleichheitsfrage zu thematisieren. Thoreau reflektiert seine sozialen und kulturellen Voraussetzungen, also zum Beispiel seine Kenntnis klassischer Sprachen, in Walden nicht als etwas, das er immer schon im Gepäck hatte als er sich – aus freien Stücken, nicht aus Not – auf den Weg in den Wald machte. Er stammt zwar nicht aus einer Intellektuellenfamilie und

13 Pointiert (Thoreau 2009a: 267): „Die Fenster des Armenhauses spiegeln die sinkende Sonne ebenso prächtig wie der Palast des Reichen, und der Schnee schmilzt im Frühling vor beider Türen gleichzeitig. Ich verstehe nicht, warum nicht ein ausgeglichenes Gemüt hier ebenso zufrieden leben kann wie in einem Schloß.“ „Oft werden wir daran erinnert, daß unsere Ziele die gleichen sein müssen und unsere Mittel im wesentlichen auch die gleichen sind, wenn uns der Reichtum des Krösus gegeben wäre. […] Mit überflüssigem Reichtum kann man nur Überflüssiges erwerben, Nichts von dem aber, was die Seele notwendig braucht, kann man mit Geld kaufen“ (ebd.: 268f.). 14 Für ein aktuelles Beispiel vgl. Magnason (2008: 11-14).

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wurde auch nicht in Reichtum, aber „in puritanisch gesicherter und doch fröhlich-weltoffner Atmosphäre“ groß (Feldhoff 1989: 11). Er genoss eine behütete Kindheit mit guter Schulbildung und studierte in Harvard. Seine protestantisch geprägte Mittelschichtsherkunft teilt er mit den Akteuren der auch in Deutschland im 19. Jahrhundert aufkommenden Lebensreformbewegung (vgl. Barlösius 1999: 118ff., Meyer-Renschhausen/ Wirz 2002: 98ff.). Nicht zuletzt lebte Thoreau in einem anregenden Umfeld, in der Stadt Concord, die ein Ausgangspunkt der amerikanischen Unabhängigkeitskämpfe gewesen war (Feldhoff 1989: 9f.), zu Thoreaus Zeiten aber friedlich und, nach Robbe (1905: V), „durch Emersons Aufenthalt […] gleichsam zum amerikanischen Weimar“ geworden war. Das alles liefert keine hinreichenden Erklärungen für Thoreaus großes Engagement für geistige Unabhängigkeit und für seine experimentelle Lebensweise, rückt ihn aber in einen historisch-kulturellen und sozialstrukturellen Zusammenhang.15

N ATUR UND K ULTUR –

EIN

F AZIT

Natur spielt für Thoreaus Denken und seine Wachstumskritik eine bedeutende Rolle, wodurch er der modernen ökologischen Kritik früh Ausdruck verlieh. „Der Sinn für das Schöne aber wird am besten im Freien geweckt, wo es kein Haus und keinen Hausbesitzer gibt“ (Thoreau 2009a: 38). Nicht nur die Besitzverhältnisse verstellen den Blick

15 Auch die protestantische Prägung ist nur ein Hinweis, nicht nur weil sich Thoreau als vehementer Kirchenkritiker äußert und andere religiöse Lehren studierte. Vielmehr lassen sich auch kritische Geister mit ähnlichen Perspektiven, aber mit katholischem (Ivan Illich) oder jüdischem (Erich Fromm) Elternhaus nennen. Laut Eder (1992) steht die (moderne) Gegenkultur sogar vor allem in jüdischer Tradition und im Gegensatz zur puritanischen.

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auf „das Schöne“, sondern ebenso das Haus selbst.16 Wie bereits gesehen, wendet er sich mit solchen Äußerungen nicht gegen jede materielle Entwicklung und idealisiert nicht die Natur oder ein ‚natürliches Leben‘ gegenüber der Gesellschaft. Im Gegenteil heißt es an anderer Stelle sogar: „Es ist das Kunstwerk, das dem Leben am nächsten steht“ (Thoreau 2009a: 102). Dennoch bietet ihm Natur eine Kontrastfolie für die von ihm diagnostizierten gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Natur macht für ihn Einsichten in ein unabhängiges und schönes Leben möglich und auch „wilde Völker“, die sich weniger von ihrer natürlichen Umwelt zu distanzieren suchen, betrachtet er als, in mancher Hinsicht, vorbildhaft.17 Dennoch ist Natur nicht das Ideal, zu dem es zurückzufinden gelte. Sie ist Inspirationsquelle für größere Unabhängigkeit, als sie die vermeintlich zivilisierte Kultur mit der Vermehrung von Dingen und ihrer großen Geschäftigkeit verwirklichen könnte. „Laßt uns danach trachten, nur einen Tag so überlegt zu leben wie die Natur! [...] Wenn die Maschine pfeift, so lasst sie pfeifen, bis sie heiser ist vor Anstrengung“ (Thoreau 2009a: 96). Natur vermittelt Bil-

16 „Freilich wußte die Kultur unsere Häuser zu verbessern, nicht aber in gleichem Maße die Menschen, die sie bewohnen“ (Thoreau 2009a: 34). Diese Beobachtung ist zweifellos aktuell. So heißt es bei Bullinger/Röthlein (2012: 264): „Denn die zentrale Frage für die Zukunft unserer Städte muss lauten: ‚Wie wollen wir in der Morgenstadt leben und arbeiten?‘ Wenn es uns gelingt, dafür ein gemeinsames und bedarfsorientiertes Leitbild zu entwickeln, werden wir diese Vision auch erreichen.“ Dies sind freilich die letzten Sätze ihres Buches. Ernst genommen müssten es die ersten sein. Auch hier wurde eine Vision ‚besserer Häuser‘ entworfen, bevor geklärt wurde, „wie wir leben wollen“, also welche Menschen sie bewohnen sollen. 17 „Wir könnten doch mit Vorteil die Sitten mancher wilden Völker nachahmen, denn sie schütteln wenigstens symbolisch alljährlich ihren Staub ab. Sie haben die richtige Vorstellung, mag auch die Verwirklichung fehlen“ (Thoreau 2009a: 65). Der letzte Teilsatz verdeutlicht, dass damit nicht einer Romantisierung von ‚edlen Wilden‘ das Wort geredet wird.

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der, die gesellschaftliche Probleme veranschaulichen lassen.18 Letztlich sollte freilich die Kultur entwickelt werden und den Menschen größere geistige Unabhängigkeit ermöglichen; das ist gewissermaßen die „menschliche Natur“, die es zu entwickeln gelte. Darin ist er von einem großen Optimismus, dass nämlich alle ihr individuelles, ihrer ‚Natur‘ entsprechendes Leben führen könnten und gerade dann gerechte Verhältnisse herrschen würden.19 Zusammenfassen lassen sich die Ausführungen im Hinblick auf die Thoreausche Wachstumskritik wie folgt. Die physischen Lebensbedingungen der Menschen sind relativ einfach zu sichern. Dies steht in einem drastischen Gegensatz zur Geschäftigkeit und technischen Entwicklungsdynamik der Gesellschaft. So erweist sich der Großteil dieser Aktivitäten im Überlebenssinne als nicht notwendig. Die gute Nachricht daran ist, dass es grundsätzlich ein hohes Maß an Gestaltungsfreiheit gibt, ein hohes Maß an freien Kapazitäten, die dafür genutzt werden können, das kulturelle Leben der Menschen, ihre Muße, Unabhängigkeit und freie Entfaltung zu befördern. Allerdings, so Thoreaus Kritik, geschieht gerade das nicht. Stattdessen folgt die Entwicklungsdynamik falschen Zielen beziehungsweise konzentriert sich vor allem auf ökonomische und technische Mittel, anstatt auf bedeutende kulturelle Zwecke aus zu sein. So werden die Zwecke nicht nur nicht erreicht, sondern die Expansion der Mittel steht einer Zielorientierung sogar im Wege, generiert vermeintliche Sachzwänge, so dass die Menschen in immer größerer Abhängigkeit stehen, statt Unabhängigkeit zu erreichen.

18 „Während wir mancherlei Sitten und Gebräuche befolgen, lehren wir einander nicht Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, wie selbst die Tiere sie zeigen, noch Beständigkeit und Verlässlichkeit wie die Felsen“ (Thoreau 2009b: 288). 19 „[…] in allen Verhältnissen soll er [der Mensch, S.L.] sich behaupten, indem er den Gesetzen seiner Natur gehorcht, die ihn niemals mit einer gerechten Regierung in Konflikt bringen werden, wenn er eine solche finden sollte“ (Thoreau 2009a: 261).

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Natur spielt in diesen Betrachtungen eine besondere Rolle, weshalb Thoreau für eine ökologische Wachstumskritik interessant ist. Natur ist für ihn eine wichtige Referenz. Sie ist der Hort wilden, unabhängigen Lebens und Inspirationsquelle für Schönheit und geistiges Leben. Allerdings will Thoreau nicht zurück zur Natur. Kultur und menschliches Leben wertet er potenziell höher, freilich kritisiert er, dass diese Möglichkeiten nicht genutzt würden. Statt ein unabhängigeres Leben zu führen, verfängt sich die Kultur in selbst erzeugten Zwängen. Die Natur ist solange Quell unabhängigen Lebens, wie es den Menschen nicht gelingt, ihre kulturellen Möglichkeiten zu nutzen. Natur soll Thoreau zufolge durchaus gestaltet und die materielle Kultur entwickelt werden, dabei aber der geistigen Kulturentwicklung entsprechen, das heißt, den menschlichen Zielen verpflichtet bleiben. Thoreau forderte seine Zeitgenossen auf, sich mit ihren gesellschaftlichen Möglichkeiten und Realitäten genauer auseinanderzusetzen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Seine eigenen Antworten darauf mögen heute an manchen Stellen etwas pathetisch klingen und – soziologisch betrachtet – zu individualistisch gedacht erscheinen. Doch beanspruchte er nicht, letztgültige Antworten auf die Herausforderungen der angebrochenen Moderne zu geben. Wie seine Wirkungsgeschichte in späteren sozialen Bewegungen belegt, resultiert sein Einfluss viel mehr aus seinem Vorbild einer unkonventionellen und experimentellen Lebensweise, die sich gegen falsche Autoritäten und Fortschrittsversprechen wendet und stattdessen nach freiheitlichen Alternativen sucht. Er trifft deshalb eher bei den Akteuren einer emanzipativen Kritik als bei denen sozialer Verteilungskritik auf Resonanz.20

20 Man mag hier an die Unterscheidung von ‚Künstlerkritik‘ und ‚Sozialkritik‘ bei Boltanski/Chiapello (2003) denken. Allerdings, wie die bisherigen Ausführungen zeigten und die folgenden weiter zeigen werden, ist Thoreaus Kritik weniger als eine am ‚Geist des Kapitalismus‘, denn als Modernekritik aufzufassen. Sie steht auch nicht einfach im Widerspruch zu sozialen Fragen, definiert sie aber anders als Verteilungskritik; dazu Näheres in den folgenden Kapiteln.

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Seine kritischen Diagnosen bieten darüber hinaus Anregungen für die heutigen (Post-)Wachstumsdebatten. Thoreaus Verdienst besteht zweifellos darin, früh Kritikmuster artikuliert zu haben, die bis heute immer wieder im Kontext ökologischer Wachstumskritik vorgetragen werden, ob sich die Kritisierenden dabei nun explizit auf ihn beziehen oder nicht. Neben einzelnen Kritiken an Ökonomie, Wissenschaft, Technik und Politik besteht die wichtigste und übergreifende Aufgabe demnach darin, die Mittel-Zweck-Relationen genau zu prüfen. Das ist unter den heutigen Bedingungen pluraler Gesellschaften, die in viel höherem Maße das soziale Leben über ökonomische und technische Mittel gestalten, nicht leichter geworden. Der immer wieder erschallende Ruf nach Vereinfachung und Entschleunigung klingt dabei ebenso überzeugend wie abstrakt beziehungsweise im Konkreten häufig ratlos. Hier liegt die aufklärende Aufgabe sozialwissenschaftlicher Forschung. Sie wird zeigen müssen, wo Ziele zum Schaden anderer verfolgt werden, wo der Fokus auf die Mittel die Ziele ganz aus dem Blick geraten lässt und wo mehr damit gewonnen wäre, destruktive Dynamiken zu stoppen, als mit großem Aufwand zu versuchen, den selbst verursachten Schäden reparierend hinterherzulaufen. Darauf wird im Kapitel über Mittel und Zwecke ausführlicher eingegangen.

3 Sozioökologie der Industriegesellschaft „Gerecht wäre eine Gesellschaft, in der die Freiheit des einen nur durch das Recht eines anderen auf die gleiche Freiheit eingeschränkt werden könnte. Eine Vorbedingung für eine solche Gesellschaft ist die Vereinbarung, Werkzeuge nicht zuzulassen, die schon kraft ihrer spezifischen Eigenschaften eine solche Freiheit unmöglich machen würden.“

I VAN I LLICH

In Thoreaus Wachstumskritik findet sich noch keine ausgeprägte Trennung zwischen gewinnorientierter Geschäftigkeit einerseits und Technisierung andererseits. Beides wird gleichermaßen als „nur Mittel, nicht Zweck“ (Thoreau 2009b: 289) betrachtet. Deshalb wird ihre problematische Verfolgung als Selbstzweck kritisiert. Die ökologische Wachstumskritik seit den 1970er Jahren trat, so wurde eingangs festgestellt, nicht als Kapitalismuskritik, sondern vor allem als Industrialisierungskritik (sowie als Konsumkritik, vgl. Kapitel 4) auf. Warum könnte es sinnvoll sein, überhaupt eine solche Unterscheidung zwischen Kapitalismus und Industrialismus zu treffen? Die öko-

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logische Wachstumskritik der letzten Jahrzehnte stärker an die Deutung der Industriegesellschaft zu knüpfen als an die der kapitalistischen Gesellschaft ist historisch sogar naheliegend. Offensichtlich waren ökologische Probleme nicht nur im kapitalistischen Westen zu beobachten, sondern ebenso in den realsozialistischen Ländern des Ostens. Diese verfolgten ihr eigenes Wachstumsprogramm, in Systemkonkurrenz zum Westen. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt der Industriegesellschaften auf beiden Seiten entfaltet eine eigene Dynamik, für die die potenzielle Forcierung durch Marktkonkurrenz oder durch staatliche Planungen sekundäre Größen sind. Pointiert: Die ökologischen Probleme wären auch dann noch nicht gelöst, wenn die des Kapitalismus gelöst wären. Freilich sollte das nicht zu dem Umkehrschluss führen, dass die kapitalistische Ökonomie für ökologische Fragen irrelevant wäre. Nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz ist ihre zunehmende Bedeutung für ökologische Fragen sogar offenkundig. Aber insofern Kapitalismuskritik heute wieder eine gewisse Konjunktur hat, scheint es gleichwohl sinnvoll, sie durch die Industrialismusperspektive zu ergänzen und deren Besonderheiten herauszustellen. Das ist keine ideologische Frage (vgl. Lange 2011: 33), sondern hat seine Gründe in der Sache.1 Im Folgenden sollen zuerst die Unterschiede von Kapitalismus und Industrialismus herausgearbeitet werden, um dann zu klären, warum für die ökologische Wachstumskritik die Perspektive der Industriegesellschaft im Vordergrund steht und inwiefern dabei sowohl technikoptimistische als auch technikskeptische Positionen vertreten werden.

1

Die Gegenüberstellung von Kapitalismus versus Industrialismus muss hier notwendigerweise recht schematisch und entsprechend zugespitzt erfolgen, was für die hiesigen Zwecke auch ausreicht. Hinzuweisen ist dennoch auf neuere und differenziertere Kapitalismusdebatten, wie sie insbesondere am Jenaer DFG-Kolleg „Postwachstumsgesellschaften“ geführt werden, initiiert durch die Arbeit von Dörre/Lessenich/Rosa (2009).

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S PÄTKAPITALISMUS , I NDUSTRIEGESELLSCHAFT UND ÖKOLOGISCHE K RITIK Ausdrücklich kapitalismuskritische Perspektiven sind in der ökologischen Wachstumskritik eher selten zu finden. Eine solche Position nimmt Altvater (2011) ein. „[…] wer von der Akkumulation des Kapitals nicht reden will, soll zum Wachstum schweigen“ (ebd.: 9). Bei dieser Äußerung hat er „Postwachstumstheoretiker“ im Blick, die „von Akkumulation des Kapitals keine Ahnung (haben) und auch nichts damit zu tun haben (wollen)“, namentlich werden Herman Daly (1991), Nico Paech (2009a, b) und Tim Jackson (2009) genannt (Altvater 2011: 10). Diese Abgrenzung macht umgekehrt deutlich, dass Altvater mit deren Positionen ebensowenig zu tun haben will. Er nimmt die typischerweise von der Kapitalismuskritik vertretene Perspektive ein, die die gesellschaftliche Dynamik und die damit hervorgebrachten Wachstumsprobleme vor allem von der produktiven Seite der Ökonomie und dabei insbesondere der Kapitalakkumulation her denkt (Konsum ist darin üblicherweise keine als relevant erachtete Größe): „Denn Kapitalismus, damit er funktioniert, heißt nun einmal Erzeugung von Profit, und Profit ist immer Wachstum. Vereinfachend, aber nicht verfälschend kann man sogar sagen, die Wachstumsrate ist letztlich mit der Profitrate identisch“ (ebd.). Inwiefern Profit allerdings ein ökologisches Problem ist, ist damit noch nicht gesagt. Aber auch wenn man in der Triebkraft der Profitmaximierung eine entscheidende Rolle bei der Erzeugung ökologischer Probleme sieht, stellt sich doch die Frage, ob mit deren Beseitigung die ökologischen Probleme gelöst wären. Bei genauerer Betrachtung erweist sich das kapitalismus- und wachstumskritische Bild bei Altvater als weniger eindeutig. „Denn der kapitalistische Produktionsprozess ist immer etwas Doppeltes – einerseits Akkumulation von Kapital, also Wertbildung und Verwertung. Darin ist auch immer ein Wachstum impliziert […]. Zum anderen findet im Produktionsprozess die Transformation von Stoffen und Energie statt. Das ist ein quali-

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tativer Prozess. Da wächst nämlich überhaupt nichts. Nur wird alles qualitativ verändert und leider zumeist zum Schlechteren – für uns Menschen – hin. Sonst hätten wir die Umweltprobleme nicht, die mit dem Wachstum verbunden sind“ (ebd.: 2).

Einerseits sieht Altvater „Umweltprobleme […] mit dem Wachstum verbunden“, andererseits entstehen sie aber gerade da, wo nach seiner Analyse „überhaupt nichts wächst“. Und an anderer Stelle heißt es wiederum: „Bis zur industriellen Revolution gab es fast kein Wachstum in der Welt“ (ebd.: 17), womit das Wachstum letztlich doch viel stärker an industrielle Entwicklungen statt an Kapitalakkumulation geknüpft wird. Wenn hier der Beobachtung nachgegangen werden soll, dass die ökologische Wachstumskritik vor allem als Kritik der Industriegesellschaft und typischerweise nicht als Kapitalismuskritik auftritt, dann muss diese Unterscheidung aufgeklärt werden. Denn das wird sie in den Debatten, wie letztlich auch bei Altvater, eher selten oder wenig stringent. So entsteht leicht eine Verwirrung darüber, was unter Kapitalismus oder Industrialismus zu verstehen ist und was daran jeweils kritisiert wird. Ein Grund für die unklaren Bestimmungen – jedenfalls in den neueren Debatten – dürfte im Wegfall der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West liegen, der den Sinn für die Differenz von Industrialismus und Kapitalismus eher schwächt. Doch bereits André Gorz (2009) formulierte seine „politische Ökologie“ ausdrücklich als Kapitalismuskritik, in der er aber Kapitalismus und Industriegesellschaft weitgehend in eins setzt.2 Umgekehrt nimmt Hubers (2011) „Ökologische Modernisierung“ explizit die Perspektive der Industriegesellschaft ein, fasst darunter aber auch (wenn nicht Kapitalakkumulation so doch) Marktprozesse. Der Autor bestimmt industrielle Produktivität durch „die Produktivkräfte der Wissenschaft und Technik, das heißt, durch die fortlaufende Modernisierung von Technologie, Qualifikation, Or-

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„Nur auf dieser Basis ist die Industrialisierung, das heißt die Akkumulation des Kapitals möglich gewesen“ (Gorz 2009b: 45).

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ganisation, also Entwicklung der operativen und anderer effektuativer Kapazitäten wie Märkte, Finanzwesen, Verwaltungs- und Managementstrukturen“ (ebd.: 163). Noch Märkte und Verwaltung erscheinen so als abgeleitete Größen der Industrialisierung. Ivan Illich vertritt hingegen eine Industrialismusperspektive in Abgrenzung zur Kapitalismusperspektive. Er gehört zu den frühesten Analytikern in den Wachstumsdebatten. Seine „Selbstbegrenzung“ erschien zuerst 1973, also im Jahr nach dem viel populäreren, aber ganz anders ausgerichteten „Grenzen des Wachstums“-Bericht (Meadows u.a. 1972). Illich hatte für seine „politische Kritik der Technik“ und „politische Ökologie“ (1998: 8) geltend gemacht, dass für die Probleme des „Industriezeitalters“ die (kapitalistischen oder sozialistischen) Eigentumsverhältnisse von nachgeordneter Bedeutung sind (ebd.: 11f., 47f.). Die Industriegesellschaften hätten nämlich technische und institutionelle Werkzeuge – „als Mittel zum Zweck“ (ebd.: 47) – geschaffen, die sie nicht mehr kontrollieren könnten, so dass sich die MittelZweck-Relationen destruktiv auswirken würden. Dabei sei es egal, ob diese Mittel als privates oder vergesellschaftetes Eigentum auftreten, denn: „Man kann nicht Eigentümer eines Werkzeugs sein, über das man keine Kontrolle hat“ (ebd.: 48). Deshalb ist das Erschließen seiner Arbeit als kapitalismuskritische zwar nicht ganz falsch, aber zumindest unzureichend (vgl. Boltanski/ Chiapello 2003: 188, 619). Das Verständnis der Werkzeuge in der Industriegesellschaft – und folglich auch der Wachstumsbegriff – sind bei Illich sehr weit gefasst. Darunter fallen nicht zuletzt institutionelle Werkzeuge, wie er sie insbesondere anhand der Medizin und der Bildung analysierte. Der Untersuchung der Werkzeuge widmet er seine ganze Aufmerksamkeit, weil diese von entscheidender Bedeutung dafür sind, ob Menschen schöpferisch tätig werden können (dafür führt er den Begriff „konvivial“ ein) oder in Abhängigkeiten stehen. „Werkzeuge sind dann konvivial, wenn sie jedem, der sie benutzt, die bestmögliche Gelegenheit bieten, die Umwelt mit den Ergebnissen seiner Visionen zu bereichern“ (ebd.: 47). Die bisher skizzierten Positionen zeigen bereits, dass Industrialismus und Kapitalismus analytisch auseinander gehalten werden müs-

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sen, wenn ihre jeweilige Relevanz für ökologische Fragen beurteilt werden soll. Giddens (1997) trifft in dieser Sache eine klare Unterscheidung. Beides sind für ihn eigenständige, wenngleich miteinander verknüpfte Dimensionen des Modernisierungsprozesses. Kapitalismus ist gekennzeichnet durch Privatbesitz an Produktionsmitteln gegenüber besitzloser Lohnarbeit. Er operiert relativ unabhängig von politischen Institutionen und wird über den Wettbewerb auf Märkten koordiniert. Der Industrialismus ist dagegen durch den energiegetriebenen Einsatz von Maschinen bestimmt3 sowie durch umfassende Arbeitsteilungen. Allerdings ist beim Maschineneinsatz nicht nur an rauchende Schlote zu denken, sondern ebenso an elektronische Maschinisierung, besonders an die neueren Kommunikationstechnologien. Die Industriegesellschaft ist deshalb kein historisch überholtes Konzept. Dagegen spricht zum einen, dass bestimmte industrielle Fertigungen lediglich in andere Erdteile verlagert wurden und nur deshalb in den westlichen Ländern als weniger relevant erscheinen. Zum anderen führt Huber überzeugend gegen einen zu eng verstandenen Industriebegriff an (2011: 140): „Heute sind Landwirtschaft und Dienstleistungen genau so industrialisiert wie die Industrie. […] Der Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft ist ebenfalls nur möglich aufgrund einer anhaltend gesteigerten industriellen Produktion und Produktivität, der viele Dienstleister rückverstärkend direkt zuarbeiten. Keine Gesellschaftsformation war jemals so energie-, ressourcen- und senkenintensiv wie die fortgeschrittene Industriegesellschaft als Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft.“

Es sind Ressourcen-, Energie- und Maschineneinsatz, die den Industrialismus als „Bündnis von Wissenschaft und Technik“ (Giddens 1997: 81) ausmachen und dadurch die Mensch-Natur-, Gesellschaft-UmweltBeziehungen gestalten. Dem Kapitalismus kommt in dieser Hinsicht

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Pohlmann (1997: 14) benennt als „die drei Fundamentaltechnologien der Industrialisierung“ die Technologien der Maschine, der Chemie und der Elektrizität.

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lediglich eine mittelbare Rolle zu. Entsprechend sind bei Giddens (ebd.: 196) die Problemfelder und Akteursgruppen unterschieden. Dem Industrialismus ordnet er unter den sozialen Bewegungen die ökologischen zu, während es die Arbeiterbewegungen sind, die für ihre Interessen im Kapitalismus kämpfen. Allerdings wäre es wiederum verkürzt, allein die ökologischen Probleme mit dem Industrialismus zu verknüpfen. Wissenschaft und Technik prägen auch in hohem Maße die ‚innergesellschaftlichen‘ Verhältnisse und rufen ebenso soziale Probleme hervor. Industrialismus und Kapitalismus in ihren Eigenheiten und ihrem Zusammenspiel zu verstehen, war deshalb bereits am Vorabend der „Ära der Ökologie“ (Radkau 2011) ein soziologisches Thema. So widmete sich der Soziologie-Kongress 1968 der Frage nach „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“ (Adorno (Hg.) 1969). Adorno (1969: 18) unterscheidet im Anschluss an die Marx’sche Terminologie zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Der Entwicklungsstand der Produktivkräfte, das heißt die Durchdringung der Gesellschaft mit Technik und technischer Rationalität, rechtfertige die Deutung der Gesellschaft als Industriegesellschaft. Allerdings beschreibe das nicht nur den so erreichten und weit verbreiteten materiellen Wohlstand, sondern erfasst auch das zugleich hervorgebrachte zerstörerische Potenzial der Technik; gedacht ist hierbei seinerzeit besonders an das atomare Wettrüsten.4 Für die Gesellschaftsanalyse reiche dies aber noch nicht. Denn zugleich ist die Gesellschaft eine kapitalistische (geblieben), weil die Produktionsverhältnisse durch Tauschwert und Profitinteressen bestimmt und davon die Bedürfnisse „total gesteuert“ seien. Während Marx davon ausgegangen war, dass die Fortentwicklung der Produktivkräfte auch die Produktionsverhältnisse ändern werde, sei es vielmehr genau andersherum gekommen. Die Produktionsverhältnisse dominieren die Produktivkräfte – auch

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„Eingeschlossen von einem Horizont, in dem jeden Augenblick die Bombe fallen kann, hat noch das üppigste Angebot an Konsumgütern etwas von Hohn“ (ebd.: 22).

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wenn die derart massiv durchgesetzte Herrschaft ihrerseits, wie Adorno einräumt, nur durch die industrielle Entwicklung möglich wurde. Seine Kritik richtet sich also dagegen, die industriellen Produktivkräfte, die die affluent society (Galbraith 1998) ermöglicht haben, als gesellschaftlich bestimmend aufzufassen und dabei die nach wie vor herrschenden kapitalistischen (oder auch realsozialistischen) Produktionsverhältnisse auszublenden. Diese Nichtberücksichtigung wird von Adorno, weil „vollends zur zweiten Natur geworden“ (ebd.: 22), vielmehr als Herrschaftseffekt, als „Schein“ (ebd.: 25) verstanden und damit als Beleg für die Durchsetzung und als Garant der Fortdauer dieser Herrschaft (vgl. aktuell in diesem Sinne: Brand 2012: 12). Auch wenn Adornos Unterscheidung von Kapitalismus und Industriegesellschaft analytisch hilfreich ist, können seine Konsequenzen daraus in ökologischer Hinsicht nicht überzeugen. Dem ist im Folgenden nachzugehen.

D YNAMIKEN

DER

T ECHNOLOGIEN

Inwiefern lassen sich die Überlegungen Adornos auf ökologische Kritik beziehen? Wie in der Kapitalismuskritik üblich, denkt Adorno die Gesellschaft primär von der Art und Weise ihrer Produktionsverhältnisse her. In seinen Überlegungen ist sogar ein gewisser Technikoptimismus angelegt – sofern nur die Produktionsverhältnisse die richtigen wären, wäre auch Technik fortschrittlich5, statt, wie insbesondere in der Situation des Kalten Krieges, vor allem zerstörerisch. Die ökologische Wachstumskritik richtet sich dagegen tatsächlich weniger auf die Produktionsverhältnisse (Kapital versus abhängige Arbeit). Sie denkt ökonomisch typischerweise vom Konsum her, das heißt, sie betrachtet die Produktion zuerst als Quelle für Konsumoptionen und als Mittel für

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„Nicht die Technik ist das Verhängnis, sondern ihre Verfilzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, von denen sie umklammert wird“ (Adorno 1969: 19).

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Zwecke der Lebensgestaltung (worauf in Kapitel 4 noch einzugehen sein wird). Und sie steht Wissenschaft und Technik deutlich kritischer gegenüber. Denn darin werden eigene Dynamiken erkannt, die in der Kapitalismuskritik nicht aufgehen, nicht berücksichtigt werden oder darin möglicherweise sogar unkritisch als fortschrittlich begrüßt werden. Aber worin liegt diese Industrialisierungsskepsis begründet? Inwiefern kann die wissenschaftlich-technische Entwicklung (die Produktivkräfte) zum Ausgangspunkt einer eigenständigen Kritikperspektive – neben der Kapitalismusperspektive – genommen werden? Dass moderne Wissenschaft dynamisch ist, ist kaum erstaunlich. Mit jeder Antwort wirft sie neue Fragen auf und kommt damit an kein Ende. Sie ist als moderne Wissenschaft auf „exponentielles Wachstum“ angelegt und „wahrscheinlich die am schnellsten wachsende Institution überhaupt“ (Weingarten 2003: 35f.). Technik entfesselt ebenso eigene Dynamiken, gerade im Zusammenspiel mit den modernen (Natur-)Wissenschaften. „Der technische Fortschritt macht Wachstum eigentlich erst möglich, denn wären wir auf Muskelkraft von Menschen und Tieren angewiesen, wäre das Wachstum viel geringer“ (Hinterberger u.a. 2009: 45). Und die ökologischen Folgen wären zweifellos überschaubarer. Technik ist kulturell attraktiv (wie Geld), das heißt, im Allgemeinen wird in der ‚westlichen Kultur‘ angenommen, dass mehr und neue Technik anzustreben sei, ohne dass dies ökonomisch motiviert sein muss. Damit ist ein Verbesserungsversprechen verknüpft. Wie Geld, nur konkreter, verspricht Technik Problemlösungen und kreative Neuerungen, die das Leben verbessern. Geld und ökonomische Kalkulation setzen zwar Anreize für technologische Entwicklungen, können sie aber nicht selbst erfinden – und entscheidende Innovationen entstehen nicht notwendig dort, wo sie mit viel Geld gesucht werden. Wie beim Geld nimmt man auch Konkurrenzvorteile durch mehr beziehungsweise bessere Technik an; technische Innovation kann sogar – muss freilich nicht – bei minimalem Startkapital reich und berühmt machen (Garagenstories). Im Allgemeinen verschafft neuere und aufwendigere Technologie ökonomische, aber ebenso politische und militärische

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Überlegenheit, so dass permanente technische Entwicklung angestrebt wird (auch in nicht kapitalistischen Ländern). Darüber hinaus bringen technische Entwicklungen – bei Haushaltsgeräten ebenso wie bei Fertigungstechnologien und Infrastrukturen für Mobilität und Kommunikation – eigene strukturelle ‚Zwänge‘ hervor: Zum einen setzen sie neue Standards und machen sichtbar, was möglich ist sowie darüber hinaus potenziell noch realisiert werden könnte oder sogar ‚müsste‘. Sie zeigen damit einen Quasi-Mangel an, also einen vermeintlichen Mangel, der aus Menge und Vielfalt, nicht aus Not resultiert: Gerade weil so vieles noch möglich und erreichbar erscheint – man denke an Beispiele aus der Medizin – kann man sich mit dem Erreichten nicht zufrieden geben. Oder, im konkurrierenden Vergleich: Weil die anderen schneller reisen, zu ferneren Planeten aufbrechen, höhere Häuser bauen oder kleinere Elektronik verarbeiten können, will man ebenfalls weiter forschen und entwickeln, selbst wenn es ganz unwirtschaftlich ist. Zum anderen schafft Technik Folgeprobleme, die dann wiederum technisch ausgeräumt werden, was freilich erneute Folgen zeitigt, welche neuer technischer Lösungen bedürfen usw. Letzteres findet sich in Illichs Werkzeuge-Kritik ebenso analysiert wie im „Nebenfolgen“Theorem von Beck (1996), der „Hybridenvermehrung“ bei Latour (1998) oder dem Rekurs auf Pandora bei Sennett (2008) – auf diese Autoren wird in den folgenden Kapiteln näher eingegangen. Die Behauptung, dass ökologische Wachstumskritik in dieser Form kritisch gegenüber wissenschaftlich-technischer Entwicklung auftritt, bedarf der Präzisierung. Wird doch auch im Ökodiskurs das Feld ökotechnischer Innovationen bestellt, sei es seit den frühen 1980er Jahren als Ökologische Modernisierung oder neueren Datums als Green New Deal oder ähnlicher Konzepte. In gewisser Hinsicht ist es durchaus plausibel und geradezu unumgänglich, da nach Problemlösungen zu suchen, wo man auch das Entstehen der Probleme vermutet. Wenn sie also in der Technologie liegen, dann bedarf es anderer Technologien und anderer Umgangsweisen damit, die diese Probleme nicht erzeugen. In diesem Sinne muss man Illichs (1998) Auseinandersetzung mit Werkzeugen lesen. Er befasste sich damit, wie Werkzeuge beschaffen

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sein müssen, damit sie von allen Menschen schöpferisch genutzt werden können, ohne im Zuge der Nutzung Abhängigkeiten und Privilegien zu schaffen. Ähnlich sind die neueren Arbeiten Sennetts (2008, 2012a) ausgerichtet. Diese Autoren denken die Werkzeuge von den sozialen und physischen Bindungskräften her, die sie entfalten können. Sie betrachten Arbeit deshalb nicht als das, was zur Inklusion in die Arbeitsgesellschaft und Wachstumsmaschinerie führt, weshalb diese am Laufen gehalten werden müssen. Stattdessen loten sie aus, wie Menschen in der Arbeit und durch die Arbeit ihre Lebensverhältnisse selbst bestimmen können. Freilich sind die Debatten und Konzepte nicht immer in diesem Sinne angelegt, sondern schlagen offensichtlich auch in gesteigerte Technikgläubigkeit oder -hoffnungen um. Wenn wir nur die richtige Technologie hätten, wäre alles gut… Eine solche Sicht kann aus der Angst vor einer ökologischen Katastrophe motiviert sein. Weil die ökologische Gefährdung so überwältigend erscheint, muss eine ‚saubere‘ Lösung her, die gewissermaßen auf einen Schlag die Probleme aus der Welt räumt. Denkt man an die Atomkrafteuphorie einiger ökologischer Vordenker (vgl. Radkau 2011: 109ff.), wird die Fragwürdigkeit solcher Hoffnungen schnell deutlich. Die saubere Lösung führte direkt in radioaktive Folgelasten, die neben den bereits eingetretenen Schäden (vgl. Tschernobyl, Fukushima) als strahlender Abfall noch vielen Generationen aufgebürdet werden. Aber auch die qualifizierte Ökologische Modernisierung folgt einem technikoptimistischen Entwicklungskonzept. Huber (2011) grenzt sich zwar seinerseits von einfachen ‚Effizienzstrategien‘ ab. Diese gehen davon aus, dass ökologische Probleme durch die gesteigerte technische Effizienz, also vor allem durch den deutlich reduzierten Energie- und Ressourceneinsatz bei gleichem oder sogar gesteigertem Output, gelöst werden können. Auf der anderen Seite lehnt er die Suffizienzstrategie kultureller Genügsamkeit ab, die die ökologischen Probleme darin begründet sieht, dass Wohlstand typischerweise als materieller Wohlstand gedeutet wird. Da ihm Suffizienz in erster Linie als Verzicht erscheint und nur als Minderheitenposition vertreten werde, könne sie kaum realistische Lösungen für die

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ökologischen Probleme der Industriegesellschaften bieten. Aus Hubers Perspektive ist deshalb die technische Erneuerung im Sinne der Ökologischen Modernisierung der realistischere Weg. Damit versucht er freilich, wie schnell deutlich wird, kulturelle Fragen mit technischen Mitteln zu umgehen. So meint er (Huber 2011: 163f.): „Seit der Wachstumstheorie nach Solow, wie ergänzungsbedürftig sie sein mag, ist bekannt, dass der Löwenanteil des Zuwachses an industrieller Produktivität, und damit Zuwachs an Wohlstand, nach Solow zu 88%, hervorgebracht wird durch die Produktivkräfte der Wissenschaft und Technik […]. Nur 12% des Wohlstands der Industrieländer stammen aus anderen als technologischen Quellen.“

Eine solch genaue prozentuale Bestimmung hängt ab von der Definition und Operationalisierung von Wohlstand und bleibt deshalb Zahlenzauber. Man denke nur an Konzepte, wie den heute hoch geschätzten Zeitwohlstand, für den Technik unnötig oder möglicherweise eher ein Hindernis ist (z.B. permanente Erreichbarkeit über Mobiltelefone) – wie viele Prozentpunkte von den zwölf verbliebenen mag man dem zugestehen? Darüber hinaus spielen Rechte, politische Beteiligungsmöglichkeiten und soziale Zugehörigkeiten eine große Rolle für den Wohlstand – wie viele Prozentpunkte verbleiben dafür noch?6 Zudem müsste die Gegenrechnung aufgemacht werden, für wie viele Einschränkungen von Wohlstand, für wie viele Gefahren, Unsicherheiten und Ängste technologische Entwicklungen verantwortlich sind (Straßenverkehr, Atomenergie, Gentechnik …). Die Ökologische Modernisierung vertritt einen techniklastigen Ansatz. Kulturelle Auseinandersetzungen sollen technisch substituiert werden; sinngemäß: Weil die dominierenden Handlungsorientierungen materialistisch und auf Wachstum aus sind, sind suffiziente Strategien

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Vgl. auch die breite Diskussionen zu neuen Wohlstandsindikatoren jenseits des Bruttoinlandsprodukts; für einen Überblick vgl. Pennekamp (2011: 1622).

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abwegig und technische Lösungen die realistischere Alternative. Aber auch die daran geknüpfte Konsistenzstrategie bedarf eines gehörigen Optimismus: „Ökologische oder metabolische Konsistenz zielt weniger darauf ab, an der Verbesserung der Wirkungsgrade alter Technologien und Produktlinien zu arbeiten, als vielmehr, Strukturwandel zugunsten neuer Arten von Technologien, Produkten und Praktiken zu befördern, die den industriellen Metabolismus möglichst störungsfrei in die Stoffkreisläufe und Ökosysteme der Natur einbetten“ (Huber 2011: 172).

Das klingt gut, setzt aber als tatsächliche Option zum einen voraus, dass in diesem Sinne gewissermaßen auf Bestellung passgenaue strukturelle Innovationen abruf- und umsetzbar sind. Zum anderen wird angenommen, dass diese neuen Technologien sich auch langfristig als ökologisch ‚einfügsam‘ erweisen würden, was gerade wegen ihres Neuigkeitscharakters aber kaum abzusehen ist. Darüber hinaus geht diese Strategie davon aus, dass im Wesentlichen die technische Lösung die ökologische Entlastung schultert, wobei die Anwendung der Technologien als Handlungspraxis eine untergeordnete Größe bleibt.7 Schließlich bleibt die soziale Rolle der Technologien unterbelichtet:

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Auch das Metabolismus-Konzept der Ökologischen Modernisierung muss annehmen, dass die Technologien tatsächlich im Sinne der vorgesehenen ‚Einbettung‘ eingesetzt werden. Insofern trifft hier in ähnlicher Weise zu, was üblicherweise kritisch gegenüber der Effizienzstrategie geltend gemacht wird, dass nämlich nach sogenannten Rebound-Effekten (z.B. kann der Einsatz von Technik gerade deshalb zunehmen, weil sie sparsamer ist, was aber die ökologischen Effekte unterlaufen kann) und Folgeproblemen zu fragen ist. Dafür ist das anvisierte ‚Einfügen in den natürlichen Metabolismus‘ kein ausreichendes Kriterium: Tiere etwa sind prinzipiell zweifellos Teil dieses Stoffwechsels, dennoch stellt Tierhaltung vielerorts ein Problem für die ökologischen Zusammenhänge dar, z.B. durch klimarelevantes Methan.

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Selbst wenn sie ihre ökologische Rolle erfüllt, bleibt sie sozial nie neutral. Eine Gesellschaft, die ihre Energie durch Atomkraft sichert, erfordert andere soziale Infrastrukturen (v.a. im Hinblick auf einzurichtende Sicherheiten) als eine, die regenerative Energien nutzt. Aber auch im letzteren Fall macht es einen Unterschied, ob beispielsweise die Energien über Großanlagen zentralistisch organisiert werden (Offshore-Windkraft und Solarenergie aus der nordafrikanischen Wüste) oder ob vor allem regionale Lösungen gefunden werden. Solche gesellschaftlichen Konsequenzen technologischer Werkzeuge im Sinne Illichs werden typischerweise nicht reflektiert, wenn die neuen ökotechnologischen Möglichkeiten angepriesen werden. Verallgemeinernd kann man sagen, dass jede Form von Nutzung (denn das ist der Sinn von Nutzung) notwendigerweise selektiv ist, das heißt bestimmte sozioökologische Zusammenhänge begünstigt und dadurch andere vernachlässigt oder einschränkt. ‚Konsistenz‘ kann also prinzipiell nur selektiv gelingen und taugt nicht zum Heilsversprechen. Berücksichtigt man die genannten Aspekte, ist ein Ansatz Ökologischer Modernisierung nicht realistischer als die als „suffizienzmissionarisch“ (Huber 2011: 179) geschmähten Ideen, die auf kulturelle Durchsetzung hoffen. Es fehlt dem Ansatz erstens an der Berücksichtigung soziokultureller Entwicklungsaspekte. Zweitens werden die Ungewissheiten technologischer Entwicklung (Nebenfolgen, Hybriden etc.) nicht systematisch einbezogen und damit ökologische wie soziale Folgeprobleme riskiert. Schließlich wird man berücksichtigen müssen, dass die fraglos ebenfalls wichtige Suche nach technischen Lösungen ökonomische, soziale und zeitliche Ressourcen bindet, die wenigstens teilweise mit kulturellen Strategien konkurrieren, also alternative Anstrengungen im ungünstigen Fall verhindern. Wo die ökologische Kritik, bei aller nötigen Auseinandersetzung mit technologischen Entwicklungsmöglichkeiten, sich mit ihren Debatten auf dem technischen Feld verliert, gehen ihr zentrale Impulse ökologischer Wachstumskritik verloren. Diese Erkenntnis wurde oben exemplarisch von Palmer (2012) zitiert – in der Auseinandersetzung um den Stuttgarter Bahnhofsbau fiel dem Zählen von Zügen die Aus-

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einandersetzung mit Fragen des Wohlstandsverständnisses zum Opfer. Derselben Intuition folgt auch Loske (2012: 40), wenn er schreibt: „Wenn ökologische Politik vor allem bedeutet, technische Innovationen in Gang zu setzen, dann verliert sie über kurz oder lang ihre Seele.“ Gegenüber der technikoptimistisch gewendeten Technikkritik muss eingewendet werden, dass sie zu sehr die Mittel fokussiert und die Ziele aus den Augen verliert. Die zentrale Frage ist nicht, was technisch noch alles möglich wäre, denn das ist nur eine Beschäftigung mit den Mitteln. Vernachlässigt wird dabei schnell die Frage nach dem Wozu der technischen Expansion oder Verbesserung. Diese wird in der Konsumkritik gestellt, die näher an Fragen nach den Zwecken ist, weil sie gewissermaßen die Prozesse vom Ende her denkt. Die Ökologische Modernisierung argumentiert dagegen, dass der Einfluss des Konsumverhaltens auf ökologische Zusammenhänge oft gering ist. Ob man etwas mehr oder weniger Strom verbraucht, mag in den Auswirkungen ökologisch weniger gravierend sein als die Frage nach seiner technischen Erzeugung, also ob dieser Strom aus Kohle oder Sonnenenergie gewonnen wurde. Je nach Handlungsfeld werden die Einflussmöglichkeiten variieren. Entscheidend bleibt aber, dass technologische Entwicklungen die Fragen nach dem Wozu nicht beantworten und ersetzen können. Während der Fokus auf die produktiven und technischen Mittel lediglich die Prozesse optimieren kann, werden diese durch die Thematisierung von Zielen und Zwecken ganz in Frage gestellt. Pointiert: Etwas nicht zu verwenden gefährdet ökologische Zusammenhänge weniger als jede noch so optimierte, aber bloß selbstzweckhaft angetriebene Nutzung.

K ONSEQUENZEN INDUSTRIELLEN W ACHSTUMS Die Ausführungen zu Kapitalismus und Industrialismus können nun im Hinblick auf ökologische Wachstumskritik zusammengefasst werden. Für ökologische Fragen ist der Industrialismus unmittelbar relevanter, weil hier die materiellen Gesellschaft-Umwelt-Beziehungen durch wis-

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senschaftlich-technischen Zugriff gestaltet werden und dabei eigene Dynamiken entfalten. Deshalb wäre es eine Illusion zu glauben, die ökologischen Gefährdungen ließen sich durch Kapitalismusanalyse adäquat erfassen und gegebenenfalls durch Überwindung des Kapitalismus auflösen. Der Kapitalismus ist aber insofern von Bedeutung als die Produktionsverhältnisse starke Motive dafür liefern, die problematischen industriellen Umweltbeziehungen anzutreiben.8 Dazu gehört wesentlich das Profitmotiv, weil die Umweltausbeutung Gewinne verspricht, insbesondere wo sie nichts kostet. Erleichtert wird dies durch die Ausgestaltung der Eigentumsrechte, die die private Nutzung von Ressourcen auf Gemeinkosten erlaubt (Hoffmann/Scherhorn 2012: 41). Aber auch das Befrieden von Konflikten zwischen Kapital und Arbeit durch Umweltnutzung ist ein solches Motiv. Solange auf Kosten der Umwelt beiden Seiten Gewinne zuwachsen, der gesellschaftliche Wohlstand für alle gesteigert werden kann, sind die Interessenkonflikte weitgehend befriedet. Die Verteilungskritik steht in der Versuchung, ihre Probleme auf eine Weise zu lösen, die in der ökologischen Kritik besonders problematisiert wird, nämlich durch technologischen Fortschritt. Umgekehrt werden diejenigen, die ökologische Kritiken vertreten, möglicherweise sozialen Ausgleich hintanstellen, wenn dieser den Umweltverbrauch erhöht. Darin liegt ein großes Konfliktpotenzial zwischen Akteuren unterschiedlicher Kritikperspektiven, etwa Gewerkschaften und Umweltorganisationen. Schnittmengen und Einigungs-

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Zu vermerken bleibt, dass nicht allein der Kapitalismus Industrialisierungsprozesse antreibt (vgl. dazu auch Kapitel 5). Eder (1988) beschrieb in seiner kultursoziologischen Analyse moderner Esskulturen den massiv gesteigerten Fleischkonsum als Folge der Demokratisierung – einer Demokratisierung im Stile der dominanten „carnivoren“ modernen Kultur und ihrer Macht- und Verwertungsinteressen, der über den ‚Geist des Kapitalismus‘ (vgl. Eder 1992) hinausweist. Ähnlich lässt sich eine solche Demokratisierung auch für Techniknutzung behaupten: alle sollen an den Verwertungstechnologien teilhaben können.

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möglichkeiten gibt es aber durchaus, etwa im Punkt Arbeitszeitverkürzungen (vgl. Massarat 2009, van Treeck 2012). Der Industrialismus besteht aber nicht nur im Umweltzugriff, sondern gestaltet auch die ‚Binnenverhältnisse‘ der Gesellschaft durch Technisierung und Verwissenschaftlichung. Dadurch werden Abhängigkeiten hervorgerufen, die kaum zu hintergehen sind – man stelle sich das gesellschaftliche Leben ohne Telefone, Computer, Autos … vor. Ausstiegsoptionen sind schwer zu realisieren, weil sie den Zugang zum vorherrschenden gesellschaftlichen Leben verschließen. Darüber hinaus hängt auch die Art und Weise der gesellschaftlichen Teilhabe von den gesellschaftlich dominierenden Technologien, den Werkzeugen im Sinne Illichs, ab – sind sie für die Menschen nach eigenen Vorstellungen nutzbar oder stehen sie unter privater, expertokratischer oder/und bürokratischer Kontrolle? So wie die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben durch den Zugang zu Technologien und technischen Infrastrukturen bedingt ist, werden Ausstiege aus kapitalismuskritischer Perspektive schließlich dadurch erschwert, dass die ökonomische Reproduktion für die meisten Menschen vom Verkauf der Arbeitskraft und damit verkoppelten Einkommen und sozialer Sicherung abhängt. Industrialismus und Kapitalismus sind analytisch zu unterscheiden, wirken gesellschaftlich allerdings zusammen. Sie je für sich zu kritisieren oder verändern zu wollen greift deshalb letztlich zu kurz: Alternativen sind nicht abzusehen, wenn es nur um die ‚bessere‘ Technik geht beziehungsweise wenn es allein darum geht, dass für ‚alle‘ ein größerer Gewinn herausspringen soll. Diese Engführungen können möglicherweise dann verlassen werden, wenn sie in Zweck-Mittel-Relationen reflektiert werden, wenn Wissenschaft, Technik und Ökonomie als Mittel zum Zweck analysiert werden und nicht als selbstverständlicher Selbstzweck. Darauf komme ich im Mittel-Zweck-Kapitel zurück.

4 Arbeit und Konsum in der Überflussgesellschaft „Ein Mensch ist um so reicher, je mehr Dinge zu entbehren er sich leisten kann. Man möchte sagen, auch die Propheten und Erlöser haben mehr die Angst der Menschen beschwichtigt, als ihre Hoffnungen bestärkt. Nirgendwo wird uns berichtet, daß jemand ganz einfach und unbändig zufrieden sei mit der Gabe des Lebens.“ HENRY DAVID THOREAU

Ökologische Wachstumskritik besteht nicht allein in Industrialismuskritik, sondern tritt ebenso als Konsumkritik auf. Sie grenzt sich damit ebenfalls von den Kapitalismuskritiken ab, insofern diese sich vor allem mit Kapitalakkumulation und dem Konflikt von Kapital und Arbeit befassen. Allerdings hat sie, als emanzipatorische Modernekritik, selbst einen kritischen Blick auf Arbeitsbedingungen, die hier aber vor allem als industrialisierte beobachtet werden. Darauf werde ich zuerst eingehen, bevor ich zur Konsumkritik übergehe.

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I NDUSTRIALISIERUNG , ARBEIT

UND

K ONSUM

In den Überlegungen zum Industrialismus wurden bislang die Aspekte von Wissenschaft und Technik, mit ihrer materiellen Formung der Gesellschaft-Umwelt-Verhältnisse, wegen ihrer besonderen Relevanz für die ökologische Wachstumskritik, berücksichtigt. Die mit dem Industrialismus einhergehenden Gestaltungen der industriellen Arbeitsteilung wurden aber noch vernachlässigt. Bleibt man bei der analytischen Unterscheidung von Kapitalismus und Industrialismus, ergeben sich auch hier unterschiedliche Perspektiven. Die Kapitalismuskritik richtet sich vorrangig auf die Produktionsverhältnisse, also die Asymmetrie zwischen Kapitalbesitz und ökonomisch abhängiger (wenngleich formal freier) Arbeit. Industriell ist die Arbeit dagegen im Hinblick auf ihre Zergliederung nach Kriterien wissenschaftlich-technischer Rationalität. Die Kritik an fremdbestimmter Arbeit ist in diesem letzteren Sinne weniger eine Herrschaftskritik der Besitzverhältnisse als vielmehr die der durch diese Rationalität fremdbestimmten Anpassung an die Maschinerie. Denn der Maschine „starres Bewegungsmuster diktiert die produktiven Restfunktionen des Arbeiters“ (Pohlmann 1997: 83) und verhindert so eine qualifizierende und selbstbestimmte Entfaltung. Gemeint ist aber nicht nur, erstens, die unmittelbare Anpassung an maschinelle Abläufe, sondern darüber hinaus, zweitens, die quasi-maschinelle Rationalisierung der Arbeitsorganisation und -abläufe selbst, wie sie mit dem Taylorismus in der Breite durchgesetzt wurde. Das mag sich unter zeitgenössischen Bedingungen und ausgefeilteren Managementmethoden differenzierter darstellen, gilt aber im Kern nach wie vor – die Arbeitsabläufe waren nie verwissenschaftlichter als heute. Schließlich, drittens, handelt es sich um eine Kritik des Ersetzens menschlicher Tätigkeiten durch Technologien. Werkzeuge sollen Menschen nicht einfach Arbeit abnehmen, sondern ihre Tätigkeiten unterstützen. Im Blick auf die Arbeitsbedingungen können kritische Perspektiven auf Kapitalismus und Industrialismus eine Schnittmenge finden. Denn eine Beschränkung menschlicher Möglichkeiten kann sowohl aus

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dem Verkauf der Arbeitskraft als auch aus deren Einfügung in industriell rationalisierte Abläufe resultieren – beides hängt in der realen Arbeitswelt eng zusammen, ist aber analytisch Zweierlei. Eine Differenzierung und Spezialisierung von Tätigkeiten befördert nicht die Vielfalt von Menschen in dem Sinne, wie sie sich Thoreau vorstellte, als er meinte, dass es so viele verschiedene Menschen wie nur möglich geben solle. Bei ihm hieß es deshalb (Thoreau 2009b: 284): „Das Ziel des Arbeitenden sollte nicht sein, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder eine einträgliche Arbeit zu finden, sondern eine bestimmte Arbeit gut zu tun. […] Man soll niemals jemanden anstellen, der einem die Arbeit um des Geldes willen macht und nicht aus Liebe zur Arbeit.“ Arbeit um ihrer selbst Willen gut zu machen und dies zum Kriterium alternativer gesellschaftlicher Entwicklungsoptionen zu nehmen, hat zuletzt Richard Sennett zum zentralen Anliegen seiner neueren Schriften erhoben (Sennett 2008, 2012a). Er verknüpft damit ebenso soziale wie ökologische Anliegen, die in einer neuen materiellen Kultur zusammenfinden sollen, worauf im nächsten Kapitel näher eingegangen werden wird. Fragen nach sinnvollen und befriedigenden Tätigkeiten in einem guten, von verschiedensten Zwängen befreiten Leben bilden Kernfragen verschiedenster emanzipativer Modernekritiken. Darin liegt auch die erste Verbindung zwischen Industrialismuskritik und Konsumkritik. Für die Konsumkritik ist nicht zuerst von Interesse, wie typischerweise für die Kapitalismuskritik, ob man im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit genügend vom gesellschaftlichen Reichtum abbekomme, sondern inwiefern Möglichkeiten der Lebensgestaltung offen stehen. Für die Kapitalismusanalyse bilden, wie Fulcher schreibt (2007: 17), die Löhne das „Zentrum des Konflikts zwischen den Besitzern des Kapitals und jenen, die, wie Karl Marx es formulierte, nur ihre ‚Arbeitskraft‘ besaßen“. In Fulchers Ausführungen, als einschlägigem Beispiel für Kapitalismusanalyse, tauchen zwar Konsum und die damit verknüpften Wahlfreiheiten an verschiedenen Stellen auf, und er schildert diese sogar als sehr einflussreich auf gesellschaftliche Entwicklung. So

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heißt es beispielsweise zum Zusammenbruch des Staatssozialismus Ende der 1980er Jahre (ebd.: 143): „In Russland und Osteuropa stieg der Erwartungsdruck, weil in einer Welt zunehmender Kommunikationsverbindungen die Menschen nicht von der individualistischen Konsumkultur des Westens abgeriegelt werden konnten. Die Volkswirtschaften, die unter den Zwängen des Staatssozialismus arbeiteten, konnten aber diese Erwartungen nicht erfüllen […].“

Dennoch führt das den Autor nicht dazu, die Konsumerwartungen und deren Relevanz für die gesellschaftlichen Entwicklungsdynamiken genauer auszuarbeiten (und auch nicht die der Kommunikationstechnologien). Gerade hier liegt aber ein Ansatzpunkt ökologischer Wachstumskritik als Konsumkritik. Sie fragt nach der Bedeutung des Konsums für die Lebensgestaltung der Menschen, danach, welche Hoffnungen und Ansprüche sich auf Konsum richten – und inwiefern beziehungsweise wodurch sie eingelöst werden können oder nicht. Nicht allein in der Industrialisierung der Arbeit, sondern auch, zweitens, in der Industrialisierung der Produktionsprozesse und der Produkte liegt eine Verbindung zur Konsumkritik. Auch hierfür ist zentral, dass Möglichkeiten der Lebensgestaltung als eingeschränkt wahrgenommen werden, weil Industrialisierung die Konsumoptionen vorgibt. Die Produktpaletten mögen heute sehr vielfältig sein, sie werden aber von wenigen global players dominiert. Es ist eine Vielfalt, die industrielle Konzentrationsprozesse voraussetzt, was eine ganz anders geartete, nämlich lokale Vielfalt verhindert. Darüber hinaus werden die Undurchschaubarkeit und Unhintergehbarkeit industrieller Angebote kritisiert. Wie zum Beispiel Lebensmittel synthetisiert werden und welche Wege ihre Bestandteile global zurücklegen, ist ihnen beim Kauf und Essen kaum anzusehen und bietet zudem Anlass, ihre gesundheitlichen Konsequenzen und den mit ihrer Erzeugung verbundenen Ressourcen- und Energieeinsatz zu hinterfragen. Ein anderes Beispiel ist die Technikabhängigkeit des Alltagslebens. Ohne ein gewisses technisches Equipment kann man kaum am gesellschaftlichen Leben

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teilnehmen, was zur permanenten Auseinandersetzung mit deren ‚Updates‘ nötigt oder eben, wenn man nicht mithalten kann, zur Ausgrenzung vom gesellschaftlichen Leben führt. Der technologisch orientierte Ökodiskurs befördert dies seinerseits durchaus. Er beweist, dass es ökologischer sei, das Geschirr von ökozertifizierten Spülautomaten reinigen zu lassen als von Hand; er zeigt, dass die Energiewende am besten von Ökotechnikern zu meistern ist; und er zählt „Züge in den Spitzenstunden“ (s.o., S. 24).

K ONSUMKRITIK UND Ü BERFLUSSGESELLSCHAFT Konsumkritik denkt die ökonomischen und technischen Prozesse, so wurde bereits bemerkt, gewissermaßen von ihrem Ende, also vom Sinn und Zweck des Konsumierens her. Die Frage ist dabei nicht, ob man sich das leisten kann, was sich andere leisten, ob man genauso viel oder mehr als andere konsumiert oder ob man die neuesten Konsumstandards erfüllt, sondern ob und wozu man das Konsumierte braucht, ob und inwiefern es menschliche Fähigkeiten befördert oder ersetzt. In der fortgeschrittenen Konsumgesellschaft ist grundlegende Kritik am (marktförmig organisierten) Konsumieren sicherlich schwierig, denn ganz ohne diesen Konsum wird man heute kaum auskommen. Konsumkritik besteht deshalb großenteils darin, kritisch zu konsumieren und sozioökologische Kriterien bei der Nachfrage zu berücksichtigen. Für die ökologische Wachstumskritik stehen dabei nicht Risikofragen im Vordergrund, seien es gesundheitliche oder umweltbezogene.1 Der Blick auf Thoreau zeigt, dass dies eine verkürzte Deutung wä-

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„An den industriellen Ausbeutungsdiskurs, der unser Naturverhältnis bislang beherrscht hat, kann der ökologische Belastungsdiskurs, der die Natur nach dem ihr Zuträglichen beurteilt, nahtlos anschließen. Denn beiden Diskursen über die Natur ist eine spezifische Erfahrungsweise der Natur eigen: Natur wird als ein Objekt menschlicher Bedürfnisse wahrgenommen. Die aus dem Belastungsdiskurs sich ergebende ökologische Vernunft führt des-

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re. Sicher sind die ökologischen Gefährdungen heute fundamentaler und haben globale Dimensionen erreicht. Aber für ökologische Modernekritik Thoreau’scher Prägung sind bloße, aus Sicherheitsrisiken resultierende Vermeidungsstrategien in Überlebensfragen nicht entscheidend, sofern sie nicht mit für Menschen förderlichen Zwecken verknüpft werden. Deshalb ist beispielsweise nicht jede Entscheidung für ökologische Produkte als ökologische Konsumkritik aufzufassen, sofern nämlich nicht alternative Möglichkeiten des nicht oder anders Konsumierens mitbedacht werden (vgl. Lorenz 2005, 2007a). Konsumkritik als ökologische Wachstumskritik richtet sich gegen zu viel Konsumieren, sowohl an schierer Menge als auch im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit des Angebots und des Vordringens konsumierbarer Optionen in nahezu allen Lebensbereichen. So wie sich die Industrialisierungskritik gegen eine Verwissenschaftlichung und Technisierung menschlichen Lebens und Erlebens wendet, so die Konsumkritik gegen deren Kommerzialisierung. Ökologische Wachstumskritik sensibilisiert dafür, inwiefern Technik und Konsum in modernen Gesellschaften die Begegnungen mit Mensch und Natur mehr verhindern als ermöglichen. Dazu sei noch einmal an den Slogan der Umweltbewegungen erinnert, dass es sich, wenn man überall hinfahren könne, nicht mehr lohnen werde, noch anzukommen, weil nämlich die Verkehrs- und Konsuminfrastruktur dann immer schon da und immer dieselbe ist. Üblicherweise wird die Deutung der Gesellschaft als Konsumgesellschaft historisch mit dem Erreichen des Massenkonsums seit den 1950er Jahren in Westeuropa, in den USA bereits eher, assoziiert. Die Konsumgeschichte und die historische Konsumsoziologie sehen deren Anfänge allerdings schon im 17. und 18. Jahrhundert (Schrage 2009, Torp/ Haupt 2009). Oder anders formuliert, die Anfänge des marktvermittelten modernen Konsums liegen da, wo auch die Anfänge moderner Gesellschaften liegen. Deshalb trägt eine Unterscheidung, bei der die Arbeitsgesellschaft historisch von der Konsumgesellschaft ab-

halb keineswegs zu einem ‚anderen‘ Umgang mit der Natur“ (Eder 1988: 9).

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gelöst wird, nur bedingt. Überzeugender ist es, arbeits- und konsumgesellschaftliche Deutungen als unterschiedliche Perspektiven auf dieselbe gesellschaftliche Entwicklung aufzufassen. Wurde doch auch die Arbeitsgesellschaft als „Lohnarbeitsgesellschaft“ erst in der Nachkriegszeit durchgesetzt (Castel 2000). Und bis heute wird man nicht behaupten können, dass Arbeit weniger gesellschaftliche Bedeutung zukommt als Konsum. Nicht nur, weil soziale Sicherungen und gesellschaftlicher Status weiterhin in wesentlichen Aspekten an Berufspositionen geknüpft sind, sondern auch, weil es offensichtlich ein verbreitetes Anliegen ist, statt weniger lieber mehr zu arbeiten, um mehr konsumieren zu können (vgl. Ransome 2006). Was sich aber historisch gewandelt hat, ist das Konsumverständnis selbst. Stand zunächst die Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse, der basic needs, für möglichst viele Menschen im Vordergrund, so änderte sich das in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Zunehmend erlangte Wahlfreiheit die Bedeutung des zentralen Bezugspunktes im Konsum (Hilton 2008). Statt das Notwendige einzulösen, wird Konsum jetzt zum Medium der Optionen und Wünsche, die als flexibilisierte Angebote zur Wahl stehen und auf die flexibel zugegriffen werden kann. – Festzuhalten ist, dass das zugleich die Basis dafür bietet, kritisch konsumieren zu können. – Dieses Konsumverständnis liefert damit das Paradigma für die Vorstellungen vom heutigen modernen Leben insgesamt, für das Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten zentrale Bedeutung gewonnen haben, sei es im Berufsleben, bei der Wahl von Partner- wie Freundschaften, der religiösen Praxis oder politischer Meinungen. Vor diesem Hintergrund erscheint als zeitdiagnostischer Begriff der der Überflussgesellschaft – in Abgrenzung von der Notwendigkeitsgesellschaft – umfassender als die Begriffe Arbeits- oder Konsumgesellschaft. Im Vergleich zur frühen Fassung des Überflusses (Galbraith 1998) muss dessen Verständnis allerdings qualifiziert werden. Denn der frühe Begriff war wesentlich dadurch bestimmt, dass die erreichten Produktionskapazitäten als die basic needs reichlich erfüllend registriert wurden. Die zunehmende Bedeutung von Wahlfreiheiten in der Lebensgestaltung wurde dabei noch nicht berücksichtigt. – Nicht zu-

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letzt deshalb wurde auch nicht gesehen, dass Armutsprobleme keineswegs als nahezu überwunden gelten konnten, sondern dass sich soziale Ungleichheits- und Ausgrenzungsverhältnisse in der Überflussgesellschaft neu formieren (vgl. Lorenz 2012a: 64ff.) – Mein Vorschlag ist deshalb, heute vom flexiblen Überfluss beziehungsweise der flexibilisierten Überflussgesellschaft zu sprechen (ebd.: 59ff.).

Ü BERFLUSSDYNAMIKEN Der flexibilisierte Überfluss entwickelt eigene Dynamiken, die sich weder auf Kapitalakkumulation noch auf die genannten Muster der Industrialisierung reduzieren lassen. Solange eine Gesellschaft durch verbreiteten Mangel gekennzeichnet ist, ist das Streben nach Wohlstandsvermehrung unmittelbar einsichtig. Die Frage ist aber, warum die Steigerungsantriebe nicht irgendwann versiegen. Warum setzt nicht bei einem bestimmten Wohlstandsniveau Bedürfnisbefriedigung ein? Warum gibt es Tendenzen, lieber mehr zu arbeiten, um mehr konsumieren zu können, anstatt das Streben nach noch mehr materiellem Wohlstand einzustellen, mit dem Erreichten zufrieden zu sein? Warum grenzt die bloße Andeutung von vermindertem Konsum in der öffentlichen Kommunikation für manche geradezu an Freiheitsberaubung? Warum hat sich die in den 1950er Jahren naheliegende Vermutung von Riesman (1973b: 269) offensichtlich nicht bestätigt, „daß Leute, die sich einmal an die Normen des gehobenen Mittelstandes gewöhnt haben, im allgemeinen die Begeisterung für das bedenkenlose Geldausgeben für Konsumgüter verlieren“? Antworten darauf müssen, für eine erste Gruppe von Gründen, zwei zusammengehörige Aspekte berücksichtigen. Zum einen stellt sich die Frage danach, was im Überfluss dennoch fehlt, also inwiefern es gleichwohl neue Arten von Mangel gibt. Zum anderen ist Hinweisen auf Neues und Mögliches zu folgen, das als attraktiv und deshalb erstrebenswert erscheint. Man kann metaphorisch fragen (Bauman 2003:

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98): „Wohin laufen sie und vor was laufen sie davon?“, die Konsumentinnen und Konsumenten. In modernen Gesellschaften fallen vormalige Restriktionen weg, die der Lebensweise im Allgemeinen und dem Konsum im Besonderen Orientierung gaben. Tradierte Verhaltensnormen und mit steigendem Wohlstand auch materielle Not können keine verbindlichen Anleitungen mehr dafür begründen, wie zu konsumieren ist beziehungsweise nicht konsumiert werden darf. Dadurch wird vieles möglich – nur keine verlässliche Orientierung. Es besteht sozusagen Mangel an Notwendigkeit. Durch den ‚Verlust’ solcher Notwendigkeit macht sich eine grundlegende Orientierungs- und Entscheidungs-Unsicherheit bemerkbar, die in modernen Gesellschaften nicht letzt- und allgemeingültig aufgelöst werden kann und deshalb subjektiv nicht immer leicht zu ertragen ist. In dieser ‚Mangel‘-Hinsicht können Wachstum und Konsum leicht zum Selbstzweck werden. Wenn die Ziele unklar bleiben, hält man sich an die Mittel, an den Vollzug. Solange man sich auf das Weitermachen, das Mitrennen im Konsum, konzentriert, erfährt man die Gewissheit der ‚Handlungszwänge‘, die sich aus dieser Entwicklungsdynamik, dem Dranbleiben-müssen ergeben (vgl. Lorenz 2005: 91ff., 2007a). Es werden gewissermaßen viele kleine Notwendigkeiten erzeugt – z.B. als Moden, als Konsumstandards, als Qualitätsnormen oder Mindestausstattung – die bedient werden ‚müssen‘. Da sie bald überholt sind, müssen sie immer wieder erneuert werden.2 Während so gesehen der Wegfall von Mangel und Notwendigkeit zur Optionensteigerung treiben kann, so gilt auch umgekehrt, dass die Vielfalt einen spezifischen Mangel hervorbringt. Überfluss steht für eine Optionenvielfalt, die über die Befriedigung elementarer Bedürfnisse und Notwendigkeiten hinausreicht. Dabei greift aber, was bereits im Zusammenhang mit Technologien festgestellt wurde: Je mehr Optionen sichtbar werden, umso mehr wird damit auch deutlich, was noch

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Das ist natürlich nur ein Typus von Umgangsmöglichkeiten mit den genannten Unsicherheiten, ideologische Festlegung wäre ein anderer. In Lorenz (2005, 2007a) habe ich vier Typen unterschieden.

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alles möglich wäre. In der Überflussgesellschaft ist es nicht einfache Bedürfnisbefriedigung, die das Handeln orientiert, sondern es geht darum, dem Möglichen zu folgen. Während Bedürfnisse befriedigt werden können und deshalb begrenzt sind, gilt das für Wünsche nicht (vgl. Bauman 2003). Wünschen kann man sich immer noch etwas – je mehr Möglichkeiten sich auftun, desto mehr beflügelt das die Wünsche. Es ist diese Grenzenlosigkeit selbst, die ihren eigenen Mangel mit sich bringt, einen Quasi-Mangel, der nicht aus der Not, sondern aus der Vielfalt resultiert. Wenn es immer mehr Optionen gibt, dann gibt es auch immer mehr solche, die (noch) nicht genutzt sind, die aber gewissermaßen genutzt werden wollen. Wählt man weiter das, was man immer gewählt hat, wenn es doch so viel Neueres und – woran immer bemessen – Besseres gibt? Unter ökologischen Gesichtspunkten ist von zusätzlicher Relevanz, dass durch Wahlfreiheit auch Überschüsse und Abfälle gesteigert werden. Wo viel gewählt werden kann, wird auch viel abgewählt – je mehr gekauft wird, umso mehr bleibt übrig. Über Konsum- und Lebensoptionen informieren nicht nur reale und virtuelle Verkaufsauslagen oder Werbung, sondern gerade die Mitmenschen, die solche Optionen nutzen. Im sozialen Vergleich kommt es zu einem dynamischen Zusammenspiel von Differenz und Gleichheit, Abgrenzung und Zugehörigkeit, sowohl in hierarchischer als auch in horizontaler Hinsicht. Darin findet sich die zweite Gruppe von Gründen dazu, was zur Steigerungsdynamik im Überfluss beiträgt. Obwohl es in den reichen Ländern starke materielle Ungleichheiten gibt, gelten die Menschen als politische Bürgerinnen und Bürger in der Demokratie als prinzipiell Gleiche. Einerseits gibt es ein Distinktionsstreben, die eigene Statusposition von anderen abzugrenzen (Bourdieu 1999). Andererseits gibt es keine prinzipiellen Gründe für die Statusunterschiede, so dass der soziale Aufstieg allen offen stehen muss. Das Rezept, die resultierenden Konflikte zu befrieden, lautet bekanntlich Wirtschaftswachstum. Es soll – vermittelt über den Wohlfahrtsstaat – den nicht Privilegierten Wohlstandsgewinne ermöglichen, ohne den Privilegierten Optionen für Wohlstandssteigerungen zu nehmen – die von diesen zu weiterer Distinktion genutzt werden. Aber auch der horizontale

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Vergleich, auf gleicher Statusebene, befördert die Konsumdynamik. Einerseits ‚müssen‘ dabei die aktuellen Konsumstandards erfüllt werden; um dazuzugehören, ist eine gewisse materielle Ausstattung, die Berücksichtigung modischer Trends und der Anschluss an technische Neuerungen erforderlich. Andererseits zielen Individualisierungsbestrebungen darauf, sich zu unterscheiden und dies über individuelle Konsumentscheidungen sichtbar zu machen; auch Statusgleiche möchten sich nicht im selben T-Shirt begegnen. Wie bereits ersichtlich wurde, ist die Optionenvielfalt nicht einfach etwas, womit die Konsumierenden seitens der Produzierenden konfrontiert werden, was also einseitig von den Produzierenden ausgeht. Wahlmöglichkeiten werden in der Überflussgesellschaft seitens der Produktion, aber wesentlich auch durch eigene Dynamiken des Konsums vorangetrieben. Je mehr Not und Mangelbeseitigung an Bedeutung verloren, umso mehr kamen Konsumentinnen und Konsumenten tatsächlich in Wahlpositionen. Und je mehr Wahlmöglichkeiten im flexiblen Überfluss an Bedeutung gewinnen, umso mehr werden sie erwartet. Konsum ist deshalb auch nicht nur als kulturelle Kategorie ästhetischer Lebensstilisierung aufzufassen. Er wirkt zugleich als ökonomische Nachfrage und nimmt seiner flexibilisierten Form nach Einfluss auf die Produktion, indem er flexibilisierte Angebote, also reiche Wahlmöglichkeiten, einfordert. Insofern ist Konsum einflussreich, und es versteht sich nicht von selbst, dass die Produzierenden ihre Waren verkaufen können. Das ist freilich zugleich Anreiz für die Unternehmen, ihre Einflussversuche gegenüber den Konsumentinnen und Konsumenten – Werbung, Kaufanreize und ausgeweitete Angebote – zu verstärken, damit ihre Produkte gekauft werden und nicht die der Konkurrenz. Daraus ergibt sich einerseits eine prinzipiell vorhandene, aber recht abstrakte ‚Konsummacht‘ gegenüber der Produktion. Faktisch stehen freilich häufig gut organisierte und ressourcenstarke Unternehmensinteressen vereinzelt Konsumierenden ohne viel Einfluss gegenüber.

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Ü BERFLUSS – B EGRIFF UND HISTORISCHE ALTERNATIVEN Ökologische Wachstumskritik als Konsumkritik richtet sich gegen Art und Konsequenzen des Überflusses. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Überfluss ein relationaler und doppeldeutiger Begriff ist (vgl. Lorenz 2009a, 2012a: 31ff.). Doppeldeutig ist er, weil er sowohl auf das Üppige verweist, auf Fülle im positiven Sinne, aus der sich schöpfen lässt, als auch auf das Überflüssige, das unnötige Zuviel. Überfluss befreit also von Notwendigkeiten und materiellen Restriktionen, aber er kann ebenso neue Belastungen mit sich bringen. Das können Orientierungsprobleme und ‚Reizüberflutung‘ im Überangebot sein, das sind in ökologischer Hinsicht hoher Ressourcen- und Energieverbrauch einerseits und Entsorgungsanforderungen andererseits. Relational ist der Überflussbegriff, weil er immer in Abhängigkeit von Mangel, Genügen oder Notwendigem steht – was für manche noch notwendig erscheint, ist für andere längst überflüssig. Vorschläge alternativer Lebensweisen richten sich deshalb typischerweise gegen den als unnötig oder gar destruktiv wahrgenommenen Überfluss der ‚Wegwerfgesellschaft‘. Sie suchen nach der „Befreiung vom Überfluss“, von diesem Überfluss, während sie gleichwohl ein reicheres Leben im Sinne von ‚weniger ist mehr‘ in Aussicht stellen, zum Beispiel einen größeren ‚Zeitwohlstand‘ (vgl. Paech 2012).3 Derartiges hatte bereits Thoreau (2009a: 269) im Sinne: „Mit überflüssigem Reichtum kann man nur Überflüssiges erwerben. Nichts von dem aber, was die Seele notwendig braucht, kann man mit Geld kaufen.“

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„[…] zumal Lebenszufriedenheit auch auf zwischenmenschlichen Beziehungen, der Integrität des sozialen Umfeldes, Anerkennung eigener Fähigkeiten, Selbstwirksamkeit, Gesundheit, Sicherheit sowie auf einer als intakt empfundenen Umwelt gründet. Eine Glück stiftende Ausschöpfung derartiger Potenziale erfordert kein Geld, sondern Zeit“ (ebd.: 126).

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Kritisiert wird der Überfluss, der von den gesellschaftlichen Wachstumsdynamiken hervorgebracht wird, der aus angehäuften Mitteln besteht, aber keine den Menschen dienliche Zwecke (jenseits materiellen Wohlstands) erfülle oder diese sogar gefährde. Aber welche Alternativen gibt es dafür? Im historischen und soziokulturellen Vergleich zeigt sich, dass Überfluss sehr unterschiedlich gedeutet werden kann und verschiedenste Formen des Umgangs mit Überfluss gefunden wurden. Ob solche Vergleiche Vorbilder für neue Umgangsweisen auf dem Weg in ‚Postwachstumsgesellschaften‘ bieten können, mag umstritten bleiben. Doch dokumentiert der Vergleich immerhin, dass es Alternativen geben kann. Gerade die Gesellschaften, die ihren Überfluss qua Geburt oder Stand nur privilegierten Minderheiten zugänglich machten, sind wenig attraktiv als positive Vorbilder, können allerdings auch nicht umstandslos als Überflussgesellschaften gelten. Dagegen hatte Sahlins (1972) die originäre Überflussgesellschaft bereits bei den Jägern und Sammlern ausgemacht. Bedürfen diese doch nach seiner Analyse zur alltäglichen Reproduktion weniger Zeit als die Menschen in den Industriegesellschaften. Entscheidend dafür ist zum einen, dass Jäger und Sammler ihre Bedürfnisse mit relativ einfachen Mitteln befriedigen, die weitgehend allen zugänglich sind, so dass es keine derart ausgeprägten materiellen Ungleichheiten gibt, wie in ‚entwickelten‘ Kulturen. Außerdem sieht Sahlins zwei grundlegende Möglichkeiten Wohlstand zu erreichen. Ein hoher Wohlstand ist sowohl durch hohe Produktivität als auch durch geringe Bedürfnisse und Wünsche zu erreichen. Während moderne Überflussgesellschaften die erste Variante verfolgen, realisieren Jäger und Sammler die Letztere. Ein anderes Beispiel bieten sogenannte archaische Gesellschaften, wie sie von Mauss (1990) beschrieben wurden. Hier werden durchaus „Überschüsse angehäuft, die selbst nach europäischen Maßstäben sehr groß sind“ (ebd.: 166). Aber sie werden regelmäßig auf rituelle Weise verausgabt, verteilt oder zerstört. Soziale Anerkennung gewinnen nicht die, die möglichst viel horten, sondern diejenigen, die zu solchen Anlässen möglichst viel verausgaben und sich damit materiell arm ma-

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chen. So kommt es zu keiner permanenten Akkumulation von Reichtum und zu keinen immer weiter kumulierenden Ungleichheiten. Ähnliches hatte bereits Thoreau beobachtet und „die Sitten mancher wilden Völker“ als nachahmungswürdig betrachtet, die „wenigstens symbolisch alljährlich ihren Staub ab(schütteln)“, indem sie alten Hausrat und Kleidung verbrennen und nach einem Fasten das neue Jahr mit neuen Dingen beginnen (Thoreau 2009a: 65). Sich von Altem zu trennen, wird dabei als eine Art seelischer Reinigungsprozess aufgefasst, der die Lebensverhältnisse regelmäßig durchlüftet. Ob aus solchen Beispielen tatsächlich etwas für eine neue Überflusskultur unter zeitgenössischen Bedingungen zu lernen ist,4 die den sozialen und ökologischen Herausforderungen der Zeit gerecht werden können, wird genauer Analysen bedürfen. Denn es könnten sich auch gegenläufige Effekte bemerkbar machen, wie beispielsweise der Kleidersammlungseffekt: Man schafft Platz im Schrank – um diesen mit Neuestem wieder füllen zu können. Mit solch einer regelmäßigen ‚rituellen Reinigung‘ kann die Wachstumsgesellschaft zweifellos gut leben. Eine andere Strategie könnte sein, nicht den Exzess, die Verausgabung und Verschwendung zu zelebrieren, sondern freiwillig gewählten Mangel, als eine Übung in der Konzentration auf Fragen nach dem Wichtigen, als Möglichkeit, sich über Ziele zu verständigen, aus dem Hamsterrad der Mittel herauszutreten. Praktische Beispiele lassen sich dafür durchaus finden, zum Beispiel als Aus- und Fastenzeiten, Sabbaticals und Ähnliches.

W ENIGER

ODER MEHR ?

Die soziokulturellen Vergleiche zeigen aber auch, dass Reduktion, Verzicht und Weniger nicht Zwecke an sich sind. Wo die ökologische

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Vgl. zu aktuellen Auseinandersetzungen mit der Frage, „was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können“ (aber auch: was besser nicht) Diamond (2012).

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Konsumkritik auf per se weniger statt mehr aus ist, verwechselt sie Mittel und Zwecke. Neue Überflusskulturen im Sinne sozioökologischer Wachstumskritik werden sicher mit weniger materiellen Dingen auskommen und dies als Befreiung, nicht als Verzicht, Beraubung oder Einschränkung betrachten. Entscheidend dafür ist aber nicht so sehr das Weniger an sich, als das Erreichen eines sinnvollen Umgangs mit den Dingen. „‚Small‘ ist keineswegs zwangsläufig ‚beautiful‘; aber wohl bisweilen ‚intelligent‘“ (Offe 1986: 116). Auch hier darf Thoreau als Beispiel dienen, nämlich erneut mit seiner experimentellen Lebenshaltung. Das Wenige ist für ihn nicht letztes Prinzip, sondern ein Mittel, das als solches keine letzte Notwendigkeit und Gültigkeit haben kann. Zweifellos plädiert auch Thoreau für Einfachheit als hilfreich, aber als Mittel, um sich auf die Lebenszwecke konzentrieren zu können. Sehr anschaulich können die Schilderungen des Kulturanthropologen Miller (2010a) deutlich machen, inwiefern eine Überflusskultur mehr auf einen sinnstiftenden Umgang mit den Dingen aus sein muss als auf bloßes Weglassen. Er beschreibt in seinem Buch „Der Trost der Dinge“ anhand kurzer Portraits, wie sich verschiedenste Menschen in einem Londoner Straßenzug in ihren Wohnungen einrichten und wie sie sich mit Dingen umgeben oder auf die sie umgebenden Dinge beziehen. In den ersten beiden Kapiteln stellt Miller die „Leere“ (2010b) der „Fülle“ (2010c) gegenüber. Im ersten wird George vorgestellt, der in einer äußerst spärlich bestückten Wohnung lebt, sehr einsam und ohne Energien für die Gestaltung seines Alltags. Die äußere Kargheit der Wohnung korrespondiert beim Protagonisten der Geschichte mit der inneren Leere und bringt eine gewisse Leblosigkeit zum Ausdruck. Mrs. und Mr. Clarke dagegen, die Miller im Kapitel „Fülle“ beschreibt, sind in ihrem Alltag von tausenden von Dingen umgeben, denen sie liebevolle Aufmerksamkeit und Pflege angedeihen lassen. Jedes Ding hat seinen Platz oder seine Zeit – beschrieben werden unter anderem die Weihnachtsvorbereitungen –, seine Geschichte, seinen Sinn. Sie sind eingewoben in ein vielgestaltiges Sozialleben, weil die Clarkes „in der Fülle ihres Alltags ebenso fürsorglich mit Menschen wie mit Ob-

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jekten umgehen – und beide Seiten von der Vermischung dieser Sphären profitieren“ (2010c: 48). Man kann das als ein Beispiel für eine Überflusskultur deuten, die mit Wegwerfgesellschaft nichts zu tun hat, in der ein Reichtum an Dingen auch einen Reichtum des Lebens darstellt und weit von den Pathologiediagnosen der Konsumkritik entfernt bleibt. Das umgehende Schreckgespenst ökologischer Wachstumskritik kommt als grauer Kargheitsapostel daher und wurde von den politischen Gegnern oft genug so, in Sack und Asche, karikiert – wozu ihnen freilich mitunter auch Gelegenheit geboten wird. Viel bedeutsamer und zahlreicher sind aber die Suchbewegungen nach alternativen Lebensentwürfen und neuen Wohlstandsmodellen, die sicher mit weniger Dingen auskommen, aber vor allem andere Beziehungen zu ihnen entwickeln. Das bloße Weniger ist hier keineswegs letzter Sinn und Zweck. Wenn man mit Thoreau so etwas wie einen letzten Zweck formulieren wollte, dann wäre es jedenfalls nicht, dass man zwanghaft wenig haben solle, sondern etwas von der Art, dass die verschiedensten Menschen „ganz einfach und unbändig zufrieden sei(en) mit der Gabe des Lebens“ (2009a: 75). In neuen Überfluss- oder Wohlstandskonzepten werden sich Arbeit und Konsum, Herstellen und Verwenden viel weniger auseinander dividieren lassen. Sie werden vielmehr auf neue Weisen zu verknüpfen sein, die sich an Fragen nach gewählten Zielen und dafür geeigneten Mitteln orientieren. Das trifft häufig, auch in der Soziologie, auf arbeitsteilige Perspektiven, die sich in derart getrennten Sphären bewegen – die einen beschäftigen sich mit Konsumkultur, die anderen mit Arbeitsverhältnissen, die einen mit ökologischer Konsumkritik, die anderen mit Kapitalismuskritik, die einen sind daran interessiert, wie und wofür Menschen ihr Geld ausgeben, die anderen an der Generierung von Einkommen und sozialen Sicherungen. Vor diesem Hintergrund scheinen besonders solche Phänomene interessant, die quer zu diesen Trennungen liegen. Ein Beispiel ist die Vergabe von Zertifizierungen und Produktsiegeln, jedenfalls dort, wo sie nicht selbst nur sehr selek-

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tiv ausgerichtet sind. Produktsiegel können im Konsum über die Arbeitsbedingungen ebenso informieren wie über verbraucherschutzrelevante und ökologische Kriterien und müssen die Akteure dieser Felder zusammenbringen. In der Regel aus zivilgesellschaftlichen Initiativen hervorgehend, können solche Zertifizierungen freilich nur ein Zwischenschritt sein. Symbolisieren sie doch, dass sozioökologische Kriterien zunächst eine Besonderheit darstellen, wo sie perspektivisch die Regel werden sollen. Sie müssen also über Information und Symbolik eine sozioökologische Kultur und entsprechende Gewohnheiten und Praktiken befördern, aber auch zu institutionell gesicherten und rechtlich verbindlichen Standards führen. Wenn solche und ähnliche Zusammenhänge analysiert werden, lassen sich auch die darin vollzogenen Zweck-Mittel-Relationen kritisch beurteilen. Sie können an diesen und anderen Phänomenen empirisch rekonstruiert werden. Konzeptuelle Grundlagen dafür werden in den Kapiteln 6 und 7 gelegt.

5 Steigerungsdiagnosen und Wachstumskritik „Denkbar, daß die gegenwärtige Gesellschaft einer in sich kohärenten Theorie sich entwindet.“ THEODOR W. ADORNO „Doch wir haben noch nicht versucht, überhaupt keinen Herrn zu haben.“ BRUNO LATOUR

Nachdem ökologische Wachstumskritik zum einen als Industrialisierungskritik, zum anderen als Konsumkritik näher bestimmt wurde, kehrt dieser Abschnitt zu der Ausgangsannahme zurück, dass sie in umfassenderer Perspektive als eine Modernekritik aufzufassen ist. Insofern sich die soziologische Gesellschaftstheorie mit modernen Gesellschaften befasst, stellt sich die Frage, wie sie ihrerseits Probleme analysiert oder analysieren könnte, die von der ökologischen Wachstumskritik thematisiert werden. Die Ausgangsbeobachtung war, dass sich die Soziologie kaum um ökologische Wachstumsfragen gekümmert hat. Wenn man an die in den 1970er Jahren virulenten Wachstumsdebatten denkt, wird man sie kaum mit der Soziologie, mit bekannten soziologischen Namen oder Stellungnahmen, verbinden. Mit wichtigen Ausnahmen, auf die noch

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einzugehen sein wird, hat sich das auch in der Folge so fortgesetzt. Das trifft selbst für die Umweltsoziologie zu, die sich über die letzten gut zwei Jahrzehnte (im deutschen Sprachraum, in den USA bereits länger) in mancher Hinsicht etabliert hat.1 Die wichtigste theoretische Frage der Umweltsoziologie war bisher, wie sie sich ‚Natur‘ als soziologischen Forschungsgegenstand – disziplinär und interdisziplinär – erschließen soll (vgl. Brand/ Kropp 2004, Groß 2006). Tatsächlich ist das auch für die Wachstumsdebatten eine wichtige Frage, weil davon abhängt, wie die Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungsdynamiken in den sozioökologischen Zusammenhängen zu verstehen sind. Wachstumsdebatten sind aber kein wichtiges Thema der Umweltsoziologie geworden. Auch wo sie auf die marxistische Theorietradition zurückgreift, richtet sich ihr Interesse nicht auf Wachstumsdynamiken (Kapitalakkumulation), sondern auf das durch Arbeit vermittelte Metabolismus-Konzept im dialektischen Verhältnis von Natur und Gesellschaft (vgl. Grundmann 1997, Groß 2001: 33ff., Dunlap 2011). Insofern die Umweltsoziologie sich an vielfältigen, häufig inter- und transdisziplinären (damit vor allem außeruniversitären) Forschungen zu sozioökologischen und Nachhaltigkeitsfragestellungen beteiligt,2 kann man sagen, dass sie schon viel weiter als die älteren Wachstumsdebatten ist, weil sie in diesen Forschungszusammenhängen konkrete Nachhaltigkeitsaufgaben bearbeitet. Aber der Verzicht auf das Wachstumsthema nimmt ihr kritische Impulse und Orientierungen. Dabei sind die Gesellschaftstheorien der Soziologie reich an Steigerungstheoremen, also an Analysen und Diagnosen, die sich mit gesellschaftlichen Entwicklungsdynamiken und daraus folgenden Problemen befassen. Deshalb könnte die Soziologie grundsätzlich zweifel-

1

Beispielsweise findet sich auch in dem aktuellen und sehr umfassend angelegten „Handbuch Umweltsoziologie“ (Groß (Hg.) 2011) kein Eintrag, der die Wachstumskritik als wichtiges Thema der Umweltsoziologie resümieren würde.

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Die Nachhaltigkeitsforschung konzipiert sich in Teilen ausdrücklich als kritische Wissenschaft (vgl. Jahn 2013).

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los etwas aus diesem Fundus zu den ökologischen Wachstumsdebatten beitragen. Ein soziologischer Beitrag muss einerseits darin bestehen, diese Debatten gesellschaftstheoretisch einzuordnen, also zu klären, was eigentlich das Spezifische an ökologischer Wachstumskritik ist, worauf sie sich bezieht, worauf nicht und in welchem Verhältnis sie zu anderen kritischen Perspektiven steht. In den bisherigen Ausführungen zu Industrialisierung und Konsum sollten dazu einige Anregungen geliefert werden. Zum anderen wäre zu prüfen, inwiefern die verfügbaren soziologischen Steigerungstheoreme für die Qualifizierung ökologischer Wachstumsdebatten, nämlich als Modernekritik, nutzbar gemacht werden könnten. Dazu können in den folgenden Ausführungen nur ansatzweise einige Vorüberlegungen angestellt werden. Eine leitende Annahme ist, dass sich ökologische Wachstumskritik nicht in der Kritik ökonomischen Wachstums erschöpfen kann,3 sondern dass die ökologische Krise sich aus mehreren und umfassenderen gesellschaftlichen Dynamiken und deren Zusammenwirken speist.

S TEIGERUNGEN

DER

M ODERNE

Wenn ökologische Wachstumskritik als Modernekritik verstanden wird, wie eingangs postuliert, dann ist die grundlegendste Perspektive auf Steigerungen die der Modernisierung. Die Soziologie als Fach wird weitgehend – explizit oder implizit – von der Beschäftigung mit modernen Gesellschaften getragen und kann selbst als eine Erfindung dieser aufgefasst werden. Die Unterscheidung moderner von vormodernen oder traditionalen Gesellschaften gehört zu den Grundoperationen der Soziologie. Das wird auch immer wieder kritisiert. Die Modernisierungsannahme oder -unterstellung erscheint als zu fortschrittsoptimis-

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Je grundlegender die ökologische Ökonomie ansetzt, desto mehr wird sie sich dessen bewusst. So stützt sich beispielsweise auch Paech (2005) auf einige soziologische Steigerungstheoreme, namentlich von Gerhard Schulze (1992 u.a.), Peter Gross (1994) sowie Ulrich Beck (1986 u.a.).

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tisch, zu eurozentrisch, zu sehr auf Abgrenzung von anderen Gesellschaften aus oder als zu vereinnahmend und die eigenen Entwicklungen als generelle oder wenigsten generell wünschenswerte behauptend. Aber noch die Kritiken bestätigen doch oft, dass die als modern deklarierten Gesellschaften als etwas Besonderes, wenn auch nur als besonders kritisierungsbedürftig betrachtet werden. Man denke hier etwa an die Schrift Latours, „Wir sind nie modern gewesen“ (Latour 1998), in der er gerade auf wirkmächtige Eigenheiten moderner Gesellschaften aufmerksam macht. Die ökologische Wachstumskritik nimmt Besonderheiten an, die sich insbesondere an den Naturdeutungen und Gesellschaft-Umwelt-Verhältnissen festmachen lassen. Probleme werden vor allem auf Entwicklungsdynamiken zurückgeführt, aber es wird auch angenommen, dass es alternative Gestaltungsmöglichkeiten gibt, die gleichwohl als moderne Alternativen aufzufassen sind. Spricht man von Steigerungen, begibt man sich auf ein vages Gelände. Glaubt man den Medien, dann finden ständig Steigerungen statt: alles nur Erdenkliche wird geradezu täglich noch schneller, noch mehr, noch dramatischer usw. Das funktioniert auch bei negativen Steigerungen, wenn also etwas ‚immer mehr abnimmt‘, weniger wird etc. Die Sozialwissenschaften sind sicher nicht immer frei von ähnlichen Rhetoriken und Deutungen. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich häufig eher um eine Frage der Perspektive. Nimmt die Individualisierung der Menschen zu – oder nehmen bestimmte soziale Bindungen in modernen Gesellschaften ab? Oder aber ändern sich einfach die Sozialbeziehungen? Man wird also genau prüfen müssen, was es mit den proklamierten Steigerungen auf sich hat. Fängt man in der Soziologie einmal damit an, nach Steigerungsannahmen Ausschau zu halten, dann wird man sie schnell als allgegenwärtig wahrnehmen. Das liegt im Kern daran, dass sich die Soziologie eben mit modernen Gesellschaften beschäftigt. Als Gegensatz zu traditional geprägten Gesellschaften werden moderne als nicht-festgelegte, zukunftsoffene Gesellschaften aufgefasst. Sie sind also per definitionem dynamisch. Wie aber diese moderne Gesellschaftsentwicklung, die Modernisierung, zu verstehen ist, was sie antreibt und was genau

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eigentlich angetrieben wird, in welcher Weise und mit welcher Relevanz für die Gesellschaften beziehungsweise die Menschen, das kann doch sehr stark variieren. Je nachdem wird man auch unterschiedliche Kritikperspektiven damit verbinden. Dies soll hier exemplarisch veranschaulicht werden. Einen Vorschlag zur Systematisierung der vielgestaltigen Modernisierungsansätze haben van der Loo und van Reijen (1997) vorgelegt. Für ihre Systematisierungskriterien stützen sie sich wiederum auf Parsons und unterscheiden als wichtigste Dimensionen der Modernisierung: Rationalisierung, Differenzierung, Individualisierung und Domestizierung. Diesen Unterscheidungen lassen sich verschiedene Ansätze und Autoren zuordnen, etwa Simmel der Individualisierung, Weber der Rationalisierung oder Luhmann der Differenzierung. Van der Loo/van Reijen berücksichtigen bei ihrer Darstellung, dass die genannten Dimensionen nicht unumstritten geblieben sind. Sie versuchen, dem konzeptionell gerecht zu werden, indem sie die moderne Gesellschaftsentwicklung als paradoxe fassen, das heißt darin gegenläufige Entwicklungen berücksichtigen. „Der Standpunkt, den wir in diesem Buch untermauern wollen, ist, daß es sich weniger um zwei entgegengesetzte Prozesse handelt als vielmehr um zwei Seiten derselben Modernisierungsmedaille“ (van der Loo/van Reijen 1997: 37). Genauer sehen sie solche Paradoxien in allen vier genannten Dimensionen. Im Bereich der Differenzierung beobachten sie eine paradoxe Entwicklung zwischen Fragmentierungen in immer kleinere gesellschaftliche Teilbereiche oder Einheiten einerseits, die aber andererseits auch zu neuen, größeren Integrationen führen. In der Wissenschaft etwa nahm die Untergliederung in Teildisziplinen zu, doch gibt es auch immer wieder Integrationsbestrebungen in Richtung interdisziplinärer Forschung und größerer Forschungsorganisationen. Bezüglich der Rationalisierung sehen die Autoren die Paradoxie in Pluralisierung einerseits und Generalisierungen andererseits. Es gibt also zum einen immer mehr Spezialisierungen oder Subkulturen, zum anderen neue übergreifende, abstraktere Rationalitäten, etwa als umfassende theoretische Paradigmen, um beim Beispiel Wissenschaft zu bleiben. Individualisierung äußert

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sich in persönlich erlebten Freiheiten, als Befreiung aus überkommenen Vorgaben von Religion, Moral oder staatlicher Autorität, aber sie kann auch zu Verlusten sozialer Verbindlichkeit und zur Ohnmacht gegenüber undurchschaubaren gesellschaftlichen Verhältnissen führen. Domestizierung bedeutet wiederum, dass sich Menschen von den Naturgewalten immer unabhängiger machen, während sie sich zugleich in neue Abhängigkeiten von den Technologien begeben, die diese Beherrschung ermöglichen. Trotz der postulierten Paradoxien handelt es sich um eine recht optimistische Perspektive auf Modernisierung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese Paradoxien lediglich unterhalb der vier Dimensionen eingeführt werden. Diese Dimensionen selbst leiden bei den Autoren keineswegs unter Widersprüchlichkeiten. Prozesse etwa der Irrationalisierung statt Rationalisierung, der Entdifferenzierung statt Differenzierung, neue Vergemeinschaftungen statt bloßer Individualisierungen oder ‚Verwilderungen‘ statt immer weiter fortschreitender Domestizierung sind konzeptuell nicht vorgesehen. Die Modernisierungsprozesse über solche Dimensionierungen zu beschreiben mag hilfreich sein, um bestimmte gesellschaftliche Entwicklungsprozesse zu verstehen. Aber was treibt diese prinzipiellen Entwicklungstendenzen selbst an? Warum werden sie immer weiter fortgesetzt? Bislang wurden die Steigerungsdimensionen der Modernisierung nur benannt ohne anzugeben, welche Kräfte diese immer weiter treiben. Könnte man sie nicht einfach abstellen, wenn sie denn zu sozioökologischen Problemen führen? Offensichtlich ist das nicht so einfach, was heißt, dass es starke kulturelle und strukturelle Gründe für die Fortsetzung geben muss. Für die Kapitalismusperspektive scheinen die Dinge offener zu Tage zu liegen. Auf der Handlungsebene gilt das Gewinnstreben als starker Antrieb. Historisch ist das aber keineswegs selbstverständlich, denn die Anerkennung des Profitstrebens als allgemein legitimes Handlungsmotiv setzte sich erst in der modernen Gesellschaft durch, bedarf also kultureller Voraussetzungen. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Rationalisierung im wissenschaftlich-technischen Sinne. Erst im Ausgang des Mittelalters wird es allmählich mög-

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lich, Natur als den Menschen äußeres Objekt zu betrachten, das der Erkenntnisneugier und instrumentellen Nutzung, dem beherrschenden Zugriff, offen steht. Einmal in Gang gesetzt, erweist sich diese Rationalität beziehungsweise die fortgesetzte Rationalisierung als starkes Handlungsmotiv im modernen Leben – wer sie in Frage stellt, setzt sich dem Verdacht der Irrationalität aus und wird folglich nicht ernst genommen. Neben den kulturellen Motiven gibt es auch strukturelle Antriebe, die wiederum als Handlungsanreize oder Handlungsdruck sichtbar werden. Wettbewerb ist ein solcher starker, oft selbstzweckhaft operierender Antrieb in modernen Gesellschaften. Dieser kommt deshalb nicht an ein Ende, weil es in ihm „letztlich nicht darum (geht), ein bestimmtes absolutes Ziel zu verwirklichen, sondern darum, besser, schneller, profitabler, schöner etc. als die Konkurrenz zu sein“ (Rosa 2006: 94). Allerdings tritt Wettbewerb auch sehr unterschiedlich ausgestaltet, insofern nicht immer nur selbstzweckhaft auf und kann entsprechend differenzierte Konsequenzen haben. Sennett (2012a: 103ff.) beschreibt typische Unterschiede, die sich im Spannungsfeld von Konkurrenz und Kooperation erkennen lassen. Dazu gehören Win-winKonstellationen ebenso wie Nullsummen- oder Winner-takes-it-allKonstellationen. Ob beziehungsweise für wen Konkurrenz vorteilhaft oder nachteilig ist, kann deutlich variieren. In der kapitalistischen Ökonomie wirkt die Konkurrenz als struktureller Akkumulationsantrieb und treibt permanent zur dynamischen Fortentwicklung. Ähnlich trifft für weitere Entwicklungsdynamiken in modernen Gesellschaften zu, dass sie sich, einmal in Gang gekommen, eigendynamisch fortsetzen. Sie bringen also ihre Antriebe selbst mit sich oder hervor. Rosa (2005) beschreibt dies für die Beschleunigung als einem fundamentalen Prinzip moderner Gesellschaftsentwicklung. Die technische Beschleunigung sieht er dabei als eine von drei Dimensionen der Beschleunigung. Im Gegensatz dazu wird Beschleunigung zwar auch durch „äußere Motoren“ zusätzlich forciert, nicht zuletzt durch die kapitalistische Ökonomie. Allerdings ist sie darauf „gar nicht mehr unmittelbar angewiesen“. Denn grundsätzlich setzt sich Beschleunigung

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als modernes Entwicklungsprinzip eigendynamisch durch, wobei strukturelle und kulturelle Aspekte in einem „sich selbstantreibenden Prozess“ zusammenwirken (ebd.: 471). Inwiefern die weiteren Dimensionen der Modernisierung beziehungsweise die modernen Gesellschaften insgesamt solche Entwicklungsdynamiken aufweisen, die sich selbst antreiben, müsste detaillierter untersucht werden. Hier geht es aber nur darum, plausibel zu machen, dass die Soziologie gesellschaftliche Entwicklungsmuster kennt, wie sie ähnlich von ökologischer Wachstumskritik behauptet werden. Dass es sich dabei um eigendynamische Entwicklungen handelt, heißt nicht, dass sie als unbeeinflussbare Strukturzwänge aufzufassen sind, die für Gestaltungsansprüche unzugänglich wären. Sie realisieren sich immer über gesellschaftliche Deutungen und Institutionen, die prinzipiell hinterfragt und verändert werden können – was wiederum nicht bedeutet, dass dies leicht wäre.4 Zu berücksichtigen ist außerdem, dass solche Entwicklungsdynamiken nicht per se Anlass zur Kritik sind. So kann die Demokratisierung der Gesellschaften ebenfalls dazu führen, die weitere Demokratisierung voranzutreiben und höhere Ansprüche an politische Freiheiten und Beteiligungsmöglichkeiten zu stellen. Kritische Positionierungen können sich also nicht in der Feststellung von Eigendynamiken allein erschöpfen, sondern müssen darüber hinaus qualifiziert werden. An den vielen „-ierungen“ innerhalb des Rahmens der Modernisierung sieht man bei van der Loo und van Reijen gut die den verschiedenen Dimensionen zugrunde liegenden Steigerungsannahmen. Deshalb eignet sich der Ansatz zur Anschauung für die hiesigen Zwecke. Doch

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Der Verweis auf die Studien zum „Neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/ Chiapello 2003) mag diese Schwierigkeiten andeuten. Die institutionelle Gestalt des Kapitalismus muss zwar gerechtfertigt (oder sogar attraktiv) sein, um genügend Menschen zum Mitmachen zu motivieren. Das heißt aber nicht, dass sich die Verhältnisse bei Unzufriedenheit spontan und unproblematisch ändern ließen. Und selbst wenn Kritik zu Veränderungen führt, sind es möglicherweise andere als die intendierten.

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ist das soziologische Steigerungsarsenal damit keineswegs erschöpft. Zu sehen war dies an Rosas (2005) Beschleunigungstheorie ebenso wie an Baumans (2003) fluider Moderne und deren Konsumismusdiagnose. Und mit Giddens (1997) wurde bereits eine andere Systematisierung von Moderne-Dimensionen eingeführt (Kapitel 3). Das alles belegt aber nur, wie reichhaltig die Analysemittel für gesellschaftliche Steigerungen in der Soziologie sind – und wie wenig sie bislang für sozioökologische Analysen genutzt werden. Mehr noch: Ansätze soziologischer Modernetheorie führen oft an den aufgezeigten Grundproblemen ökologischer Kritik vorbei. Die Sozialwissenschaften leiden in weiten Teilen an einem fachlich habitualisierten Unverständnis für sozioökologische Zusammenhänge, weil sie historisch ihre Eigenständigkeit gerade in Abgrenzung von den Naturwissenschaften gewannen. Sie reklamierten einen eigenen Forschungsbereich (das Soziale, die Gesellschaft) und überließen den Naturwissenschaften die Natur. Aus dem resultierenden Unverständnis heraus setzen sie zur Bearbeitung ökologischer Probleme oft nur weiter auf forcierte technische Innovationen, ohne ausreichend zu bedenken, dass und warum gerade diese Anlass zu ökologischer Kritik und Besorgnis bieten.5 Wie können nun die gesellschaftstheoretischen Steigerungskonzepte für die Qualifizierung ökologischer Wachstumskritiken genutzt werden? Sie können dies zum einen vermittelt über die oben ausgeführten Industrialismus- und Konsumanalysen. Rationalisierung etwa wird dann zum ökologischen Problem, wenn sie durch Technologien sozioökologische Zusammenhänge gefährdet. Differenzierung und Individualisierung können dann problematisch werden, wenn sie etwa den Konsum multiplizieren, und Domestizierung, wenn sie tatsächlich eine

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Zu sehen war dies oben bereits an Adorno (1969). Aber bis heute findet sich diese Art Technikoptimismus oder, wenn man so will, Technikfatalismus, als letzter und alternativloser Ausweg, die Probleme der Modernisierungspfade ökologisch zu retten; vgl. etwa Münch (2009), Schulze (2009: 173).

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Naturbeherrschung durchsetzt, statt nach einem Zusammenleben „an erträglichen Orten“ (Latour) zu suchen. Sie können dies zum anderen, indem sie das Verständnis für gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken befördern und für daraus resultierende Probleme sensibilisieren. Das wird im folgenden Abschnitt exemplarisch konkretisiert. Es können aber auch einige allgemeine Problemmuster benannt werden. Dazu gehört die Verselbstständigung von Entwicklungsprozessen, die nicht mehr den intendierten oder wenigstens erhofften Zielen dient, sich aber auch Korrekturen entzieht.6 Anders gesagt können die Voraussetzungen des Erfolges nicht mehr kontrolliert werden, weil unerwartete Nebenfolgen zu bearbeiten oder neue Abhängigkeiten entstanden sind – die Automobilität beispielsweise verschafft viele Freiheiten, legt aber auch auf die dafür nötige Infrastruktur fest (vgl. Offe 1986: 104). Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es mehrere solcher Dynamiken in modernen Gesellschaften gibt, die untereinander nicht per se harmonieren, so dass sich zusätzliche Koordinationsprobleme stellen. Von Eigendynamiken zu sprechen heißt nicht, um dies noch einmal zu betonen, dass es keine Einflussmöglichkeiten darauf gebe. Sie bedürfen immer der kulturellen und institutionellen Realisierung, sind

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Deutlich wurde das an den dargelegten Technologie- und Überflussdynamiken. Ein bekanntes Beispiel ist der ‚freie Markt‘; frei heißt dabei, dass er sich historisch aus feudalen Abhängigkeiten löst, sich dadurch eigendynamisch entfalten kann und dass dies letztlich das materielle Wohl aller befördern soll. Diese Freiheit braucht aber Grenzen. Zum einen, um überhaupt wirksam werden zu können, zum Beispiel durch Verhinderung von Monopolbildung. Zum anderen, um Übergriffe auf nicht-ökonomische gesellschaftliche Bereiche zu verhindern, zum Beispiel in der Politik (Korruption) oder in Gesundheit und Pflege. Bekanntlich sind solche Grenzziehungen aber gegenüber der Eigendynamik ‚des Marktes‘ sehr schwer durchzusetzen. Ähnliches gilt für die ‚Wissenschaftsfreiheit‘ (Rationalisierung) die aus ihrer Expansionsdynamik heraus immer wieder Anlässe für Grenzverhandlungen bietet (Stichwort Ethikkommissionen).

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deshalb prinzipiell veränderbar. Wie die Wachstumsdebatten zeigen, wird dagegen häufig genug Unveränderbarkeit und das weitere Bedienen oder sogar Forcieren der Dynamiken („Wachstumsbeschleunigungsgesetz“) beschworen. Zweifellos gibt es genügend Illusionen und Interessen, die vom ‚Weiter so‘ profitieren. Darüber hinaus vermittelt das ‚Weiter so‘ auch Gewissheiten, deren Infragestellung verunsichern würde. Denn die Moderne bietet keine letzten Gewissheiten und macht den Menschen individuell wie kollektiv Selbstbestimmung – und folglich Selbstbegrenzung – zur Aufgabe. Die Behauptung, unter gesteigerten Anstrengungen so weiter machen zu müssen wie bisher, kann dann auch als Ausflucht dienen, sich der „Furcht vor der Freiheit“ (Fromm 1989) nicht aussetzen zu müssen. Es ist nicht zuletzt eine sozialwissenschaftliche Aufgabe, der reklamierten Alternativlosigkeit entgegen zu treten und sich an der Ausarbeitung von Alternativen zu beteiligen.

G ESELLSCHAFTSTHEORIEN ALS ÖKOLOGISCHE K RITIK UND ALTERNATIVENTWÜRFE Ökologische Probleme und Wachstumsfragen auf gesellschaftstheoretischer Ebene untersuchen die Arbeiten von Ulrich Beck seit der „Risikogesellschaft“ (1986), die Moderne-Analysen Bruno Latours (1998, 2001) sowie die noch nicht abgeschlossene Trilogie Richard Sennetts zum „Handwerk“ (2008, 2012a). Becks Analysen können insofern als originäre ökologische Wachstumskritik gelten, als er eine industrieund konsumgesellschaftliche Perspektive einnimmt. Tschernobyl wurde für ihn zum Paradefall der „Nebenfolgen“ des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts. Darüber hinaus betont er die Bedeutung des Konsums neben der Rolle der Arbeit.7 Die ausgeprägte Risikoperspek-

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„Es handelt sich also um einen Freisetzungsschub, der nicht in, sondern außerhalb der Erwerbsarbeit die Lebensbedingungen der Menschen in Bewegung gesetzt hat. Die neuen materiellen und zeitlichen Entfaltungsmög-

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tive auf gesellschaftliche Entwicklungen dagegen mag zwar einerseits zeithistorisch verständlich sein. Zeitbezogen kann man sie, Mitte der 1980er Jahre, sogar als eine bereits moderierte Fassung katastrophischer Deutungen der ökologischen Krise betrachten, wie sie beispielsweise auch Illich (1998: 149ff.) nicht fremd waren. Denn Risiken lassen sich – mehr oder weniger – kalkulieren, man kann sie eingehen oder vermeiden. Sie eröffnen Handlungsspielräume, wo Katastrophenszenarien häufig nur ein Entweder-Oder zulassen. Andererseits reduziert die Risikoperspektive die mit Thoreau herausgearbeiteten Anliegen ökologischer Wachstumskritik, die auf die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten zielen (bei Illich heißt das: die konviviale Gesellschaft), tendenziell auf Vermeidungsstrategien. Auch bei Latours politischer Ökologie überrascht nicht, dass er seine Modernekritik aus der Wissenschafts- und Techniksoziologie heraus entwickelte (wobei Konsum für ihn bislang keine große Rolle spielt). Es ist die unaufhaltsam wuchernde „Hybridenvermehrung“, das heißt vor allem die Vermehrung wissenschaftlich-technisch hervorgebrachter ‚Dinge‘, die modernen Gesellschaften ökologisch zum Verhängnis wird. Denn diese Technologien sind mit modernen Mitteln, namentlich mit moderner Rationalität der Naturbeherrschung, nicht kontrollierbar. Hervorgebracht zum gesellschaftlichen Nutzen, führen sie in sozioökologischen Zusammenhängen zu unvorhergesehenen problematischen Effekten. Latour weist nun darauf hin, dass Technologien nie ganz zu kontrollieren sind, aber paradoxer Weise würde gerade die – so gar nicht zum modernen Selbstverständnis passende – Anerkennung dieser prinzipiellen Unkontrollierbarkeit eine gewisse Kontrolle und Begrenzung möglich machen. „Je mehr man sich verbietet, die Hybriden zu denken, desto mehr wird ihre Kreuzung möglich“ (Latour 1998: 21) – je mehr man also an moderner KontrollRationalität festhält und Problemlösungen auf dieser Basis forciert,

lichkeiten treffen zusammen mit den Verlockungen des Massenkonsums und lassen die Konturen traditionaler Lebensformen und Sozialmilieus verschwinden“ (Beck 1986: 124).

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desto mehr steigert man die Probleme weiter. Hybriden zu denken heißt, die Technologien in ihren sozioökologischen Zusammenhängen zu betrachten. Weil sie in solche Zusammenhänge eingewoben sind, können sie nicht, wie es moderne Rationalität meinte, als isolierte und deshalb beherrschbare Entitäten begriffen werden. Erkennt man an, dass Technologien vielfältige gesellschaftliche wie physische Effekte haben, dass sie vielfältig ‚vernetzt‘ sind, dann wird man nie nur ihren in Aussicht stehenden Gewinn im Blick haben. Stattdessen wird man sie immer aufwendigen Prüfungen unter Beteiligung möglichst vieler Aspekte und Akteure unterziehen und dadurch die Chance bekommen, ihre Ausbreitung und unliebsame Überraschungen mit ihnen zu vermindern. Die Probleme des Massen-Individualverkehrs beispielsweise sind solange unlösbar, wie das Auto nur als isoliertes technisches Vehikel betrachtet wird, das dem jeweiligen Nutzungsinteresse dient. Dabei braucht das Auto eine eigene Infrastruktur und viel Platz, der zum Beispiel nicht mehr als Spielplatz oder öffentlicher Raum zur Verfügung steht (Elkins 2004). Es braucht Erdöl, chemische Industrie und Luft, die die Abgase aufnimmt. Es erfordert nicht zuletzt Leistungsmerkmale und entsprechendes Design, um im sozialen Statusgefüge erscheinen zu können. Schließlich fordert es nicht nur, sondern setzt zusätzlich Anreize, etwa Arbeits- und Wohnort trennen zu können. Nur wenn berücksichtigt wird, wie einflussreich das Auto ist, was es neben seinen Fahrdiensten für einzelne Menschen noch alles im sozioökologischen Zusammenleben beeinflusst und verändert, nur dann werden sich auch tragfähige Umgangsweisen damit entwickeln lassen. Diese müssen gewissermaßen Zugeständnisse machen, müssen ganz im Thoreau’schen Sinne anerkennen, dass der Nutzen einen ‚Preis‘ hat, der sich nicht allein in Euro und Cent bemessen lässt, sondern die Lebensweise und Lebensqualität viel umfassender betrifft. Allerdings kommt eine solche Anerkennung der prinzipiellen Unbeherrschbarkeit dem Eingeständnis gleich, dass die modernen Gesellschaften ihrer kultivierten Art von Rationalität nicht genügen können, die genau eine solche Beherrschbarkeit behauptet und fordert. Mit dem

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„Parlament der Dinge“ unterbreitet Latour dagegen einen Vorschlag, wie die Begründung und – zumindest theoretisch – auch Umsetzung einer anderen politischen Ökologie aussehen kann. Mit dieser soll es möglich sein, die ökologischen Gefährdungen der wissenschaftlichtechnischen Wachstumsdynamik zu demokratisieren, das heißt, deren Steigerungs-‚Automatismus‘ einzuhegen. Mehr Akteure einzubeziehen und Neuerungen aufwendiger zu prüfen ist die Aufgabe – und nicht aus Handlungsdruck die möglichst weiter forcierte technische Innovation, die nur erwartbar weitere Nebenfolgen und neue unkontrollierbare Hybriden erzeugt.8 Man denke an Energiesparlampen, die plötzlich wegen ihres Quecksilbergehalts als Sondermüll entsorgt werden müssen, oder an die Filterung von Abgasen, die die Menschen heute statt mit ‚dicker‘ Luft mit Feinstaub konfrontiert. Es geht auch nicht nur darum, eine physiologisch andere Art von Technologie zu entwickeln, wie es die Ökologische Modernisierung anstrebt, sondern zentral wäre gerade ein anderes Verständnis von und ein anderer Umgang mit Technologien – das wäre eine umfassende ökosoziale Modernisierung. In den Arbeiten Sennetts steht der dritte Band zum „Umwelthandwerk“ (2008: 24f.) noch aus. Doch das gesamte dreiteilige Buchprojekt zielt darauf, die materielle Kultur moderner Gesellschaften besser zu verstehen (Sennett 2008, 2012a, vgl. Lorenz 2010a, 2012b). Wie Latour will auch Sennett nicht bei der Kritik stehen bleiben, sondern Lösungsperspektiven entwickeln, die „das materielle Leben humaner gestalten“ lassen könnten (2008: 18). Dazu wird es, laut Sennett, darauf ankommen, das Herstellen von Dingen, den Umgang damit und die dazu notwendigen Fertigkeiten besser zu verstehen:

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„Anstatt die Dichotomien von Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, Produktionssystem und Umwelt zu ‚überwinden‘, um so schnell wie möglich einen Ausweg aus der Krise zu finden, hätte man im Gegenteil die Bewegung verlangsamen, suspendieren, hätte man sich Zeit nehmen müssen, um diese Dichotomien gleichsam wie ein Maulwurf zu untergraben. […] Für eine politische Philosophie der Wissenschaft muß man sich Zeit nehmen, um keine zu verlieren“ (Latour 2001: 11).

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„Ich lege das Schwergewicht deshalb auf Fertigkeiten und Kompetenz, weil die moderne Gesellschaft meines Erachtens dazu geführt hat, dass die Menschen in der alltäglichen Lebensführung über weniger Fertigkeiten verfügen. Wir haben sehr viel mehr Maschinen und Apparate als unsere Vorfahren, aber wir wissen weniger als sie, wie wir guten Gebrauch davon machen können. Wir haben dank der modernen Kommunikationsmittel mehr zwischenmenschliche Kontakte, aber wir wissen nicht so recht, wie man gut kommuniziert. Praktische Fertigkeiten bringen nicht das Heil, sondern sind nur Werkzeuge, doch ohne sie bleiben Fragen nach Sinn und Wert bloße Abstraktionen“ (Sennett 2012a: 11).

Latour wie Sennett holen historisch weit aus und rekonstruieren die Ursprünge moderner Irrungen und Missverständnisse bereits in der Antike: Für Latour (2001) ist es Platons Höhlengleichnis, das einen grundlegenden Konflikt zwischen Gesellschaft und Natur, zwischen politischer Gestaltung und wissenschaftlichem Wahrheitsanspruch inszeniert; für Sennett (2008) ist es Pandora, die schon in dieser Zeit die Verlockungen wie auch die Gefahren des Hervorbringens technischer Neuerungen und verheißungsvoller Dinge verkörpert. Beiden Autoren geht es darum, die ausgedachten, konstruierten und produzierten Dinge, mit denen die Menschen leben, an sinnstiftende Vernetzungen oder Kultivierungen zu knüpfen und lernoffene Verfahrensweisen vorzuschlagen, wie dies gelingen kann. Latour lässt sich dabei von „parlamentarisch“-demokratischen Verfahren inspirieren (wer und was ist noch und wie zu berücksichtigen), während Sennett die Arbeits- und Herstellungsweisen des Handwerks als beispielhaft rekonstruiert, die „Technik als kulturelles Problem und nicht als geistlose Praxis“ (Sennett 2008: 19). Sennett präferiert eher informelle praktische Verfahrensweisen (vgl. Lorenz 2012b). Latour nimmt dagegen Anleihen bei formalen Verfahren. „Noch nie hat die Einrichtung eines Rechtsstaats das Leben derer vereinfacht, die sich an die Erleichterungen des Polizeistaats gewöhnt hatten. Und so wird auch die Vorstellung eines ‚Rechtsstaats der Natur‘, eines due process für die Entdeckung der gemeinsamen Welt, nicht das Leben derer erleichtern, die vor-

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gaben, alle Propositionen, deren Aussehen ihnen nicht passte, in die Inexistenz des Irrationalen verstoßen zu können. Sie müssen nun argumentieren und zusammensetzen […]. In Zukunft muss man miteinander auskommen“ (Latour 2001: 279).

Ganz explizit hatte schon Illich auf Recht und formale Verfahren gesetzt und vertrat sogar die „These […], daß jede Revolution scheitern muß, bei der man sich nicht formaler und politischer Verfahren bedient“ (Illich 1998: 148, vgl. dazu insgesamt ebd.: 138ff.). Wie später Habermas (1994) vertraut er darauf, dass etwas den Strukturen sprachlicher Verständigung Vergleichbares auch in rechtliche und politische Verfahren eingelassen ist.9 Diese Konzepte und Überlegungen sind also nicht darauf aus, aus einer Expertenposition heraus substanzielle Vorschläge zu machen, wie ökologische Probleme zu lösen sind. Sie schlagen vielmehr experimentelle und lernorientierte Verfahrensweisen vor, wie in praktischen Aushandlungsprozessen der materiellen Kultur und politischen Ökologie bessere, wenn man so will: nachhaltigere, Problemlösungen gefunden werden könnten. Solche Verhandlungskonzepte sehen die sozioökologische Problemlage zugleich dramatischer und weniger dramatisch: dramatischer, weil derartige Aushandlungen immer stattfinden und immer ökologische Konsequenzen haben – weniger, weil dies

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Illich (1998: 157): „[…] darüber hinaus müssen sie [gemeint sind für eine konviviale Gesellschaft Engagierte; S.L.] darauf vorbereitet sein, ein gesellschaftliches Werkzeug zu nutzen, mittels dessen festgelegt werden kann, was für alle gut genug ist. Es muß sich hierbei um ein Werkzeug handeln, das, wie die Sprache, bei allen Ansehen genießt; ein Werkzeug, das, wie die Sprache, nicht deshalb an Wirksamkeit verloren hat, weil es in jüngster Zeit zu bestimmten Zwecken missbraucht wurde; ein Werkzeug, das, wie die Sprache, eine Grundstruktur besitzt, die sich auch bei mißbräuchlicher Verwendung nicht vollkommen korrumpieren läßt. Wie ich schon dargelegt habe, kann es sich bei diesem Werkzeug nur um die formale Struktur von Politik und Recht handeln.“

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gerade die Normalität und Selbstverständlichkeit der materiellen Kultur und politischen Ökologie ausmacht. Man kann ökologische ‚Eingriffe‘ und Veränderungen nicht vermeiden, sondern muss sich immer in Beziehung zur Umwelt oder Mitwelt setzen, kann diese Beziehungen folglich aber auch verändern und verbessern. Ein solches ‚Aushandlungskonzept‘ liegt quer zu Verzicht, Begrenzung oder Wachstum, sondern sucht im selbstverständlichen Wandel nach der besseren materiellen Kultur, die mehr ‚Dinge‘ umfassender berücksichtigt, sie für humane Zwecke nutzt, aber ihre Wirkungsmacht nicht unterschätzt und nicht auf die falschen Verheißungen der Pandora hereinfällt. Dies könnte man als Leitgedanken für eine nachhaltige Entwicklung begreifen.

6 Eine Verfahrenswissenschaft nachhaltiger Entwicklung

„Die modernen Erfahrungswissenschaften und eine autonom gewordene Moral (vertrauen) nur noch der Rationalität ihres eigenen Vorgehens und ihres Verfahrens – nämlich der Methode wissenschaftlicher Erkenntnis oder dem abstrakten Gesichtspunkt, unter dem moralische Einsichten möglich sind. Die Rationalität [...] hängt ab von der Vernünftigkeit der Prozeduren, nach denen man Probleme zu lösen versucht – empirische und theoretische in der Gemeinschaft der Forscher und im organisierten Wissenschaftsbetrieb, moralisch-praktische Probleme in der Gemeinschaft der Bürger eines demokratischen Staates und im Rechtssystem.“ (Habermas 1992: 42)

Wenn also eine nachhaltige Entwicklung die sozioökologischen Vernetzungen von vielfältigsten Aspekten und Akteuren berücksichtigen muss, dann benötigt sie dafür geeignete Umgangsweisen. Die im letzten Abschnitt vorgestellten Ansätze zielen denn auch nicht darauf, substanzielle Lösungen der ökologischen Krise zu präsentieren, weil diese in Aushandlungsprozessen erst gefunden werden müssen. Sie lenken den Blick auf die Verfahrensweisen, insbesondere Steigerungsdynamiken, die die Probleme hervorbringen, und machen ihrerseits Vorschläge, wie die Verfahrensweisen zu ändern oder zu erneuern wären, um bessere Problembearbeitungen zu erreichen. Es lohnt sich deshalb, wenigstens einen exkursorischen Blick darauf zu werfen, was eine solche

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Verfahrensperspektive bedeutet, wie sie sich begründen lässt und wie sie sich in die Debatte um nachhaltige Entwicklung einführen ließe. Ich sehe in dieser Perspektive – bei allen Besonderheiten – die Verbindung der diskutierten Autoren, von Thoreau über Illich bis hin zu den Gesellschaftsanalysen von Latour und Sennett. Neben allen Unterschieden liegt die Gemeinsamkeit im Blick auf zukunfts- und lernoffene Entwicklungsmöglichkeiten, die Vielfalt zulassen ohne damit Beliebigkeit zu meinen. Thoreau wurde deshalb nicht als Prediger bestimmter Positionen eingeführt, denn er forderte dazu auf, sich mit eigenen Zielen und den Möglichkeiten ihrer Realisierung und Verbesserung auseinanderzusetzen. Eine experimentelle Lebensweise in seinem Sinne nimmt Lebensbedingungen nicht einfach hin, sondern gestaltet sie mit. Sie lässt sich auf etwas ein, nicht weil es das Einzige und Wahre ist, sondern weil es eine Möglichkeit ist, „ganz einfach und unbändig zufrieden (zu) sei(n) mit der Gabe des Lebens“ (Thoreau 2009a: 75). Er kritisierte die ökonomisch und technisch verengte Art und Weise gesellschaftlicher Neuerungen und rief zugleich zu einer freieren Lebensweise auf. Daran lässt sich Latours (2002: 366) Statement anschließen: „wir haben noch nicht versucht, überhaupt keinen Herrn zu haben“, sowie seine Kritik daran, dass die Berufung auf ‚die Natur‘ die politische Ökologie blockiert. Er schlägt aber auch „parlamentarische“ Verfahrensweisen vor, welche die sozioökologischen Aushandlungsprozesse demokratisieren können (Latour 2001). Ähnlich rekonstruiert Sennett (2008, 2012a) am Vorbild des Handwerks Kriterien dafür, wie die praktischen Verfahrensweisen der materiellen Kultur zu erneuern wären, statt in den destruktiven ökonomisch-technischen Entwicklungsdynamiken gefangen zu bleiben.

N ACHHALTIGE E NTWICKLUNG Warum sollten diese Überlegungen in die Diskussionen zu nachhaltiger Entwicklung einfließen? Wie eingangs bereits bemerkt, gehe ich davon aus, dass nachhaltige Entwicklung ein umfassenderes Konzept

V ERFAHRENSWISSENSCHAFT

NACHHALTIGER

E NTWICKLUNG | 95

ist. Die Wachstumsdebatten haben heute wieder Konjunktur, müssen aber doch schnell an Grenzen stoßen. Sie sind da wichtig, wo es um Analyse und Kritik destruktiver Steigerungsdynamiken geht. Jenseits davon hat man es aber immer mit Entwicklungen und Veränderungen zu tun, die sich nicht ohne weiteres auf Fragen von mehr oder weniger, wachsen oder nicht wachsen, reduzieren lassen. Man darf davon ausgehen, dass immer etwas mehr, anderes weniger wird, dass das eine wachsen soll, anderes nicht – sowohl im engeren ökonomischen Sinne als auch und erst recht bei einem umfassenderen Ansatz. Deshalb wurden schon verschiedenste Versuche unternommen, Konzepte sektoralen, qualitativen oder entkoppelten Wachstums zu entwerfen (vgl. Huber 2011: 139ff.), das heißt, die zu abstrakte Wachstumsfrage zu spezifizieren. Der Nutzen der Wachstumsdebatte liegt vor allem darin, dass sie gewissermaßen als ein kritisches Schwungrad wirken kann, wenn sie der nachhaltigen Entwicklung Richtung und den nötigen Antrieb verleiht. Der Begriff ‚nachhaltige Entwicklung‘ steht bereits seit längerer Zeit in der Kritik. Er könne keine geeignete Basis für Überlegungen zu gesellschaftlicher Erneuerung (mehr) bieten, weil er viel zu diffus und beliebig verwendet werde. Zweifellos ist es richtig, dass sich Nachhaltigkeit einem inflationären Gebrauch ausgesetzt sieht und die Literatur dazu längst unübersichtlich geworden ist. Das spricht freilich auch dafür, dass nachhaltige Entwicklung heute in der Breite so ernst genommen wird, dass verschiedenste Akteure davon ausgehen müssen, sich ohne eine positive Selbstdarstellung als nachhaltig Imageschäden einzuhandeln. So gesehen ist der Streit um das Konzept und sein irreführender Gebrauch Teil der ‚normalen‘ öffentlichen Auseinandersetzung geworden, wie er auch um andere Ideen geführt wird, etwa um Demokratie, Menschenrechte oder Gerechtigkeit. Üblicherweise führen aber Auseinandersetzungen darüber, was das richtige Verständnis von Demokratie sein soll, oder auch der offensichtliche Missbrauch des Labels nicht dazu, von demokratischen Ideen abzurücken. So scheint es doch sinnvoller, den öffentlichen wie wissenschaftlichen Streit auszutragen und entsprechende Kriterien und Maßstäbe für nachhaltige Ent-

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wicklung einzufordern,1 als sich an der leicht zu habenden Kritik an Nachhaltigkeit, damit aber auch an der Preisgabe von deren Chancen, zu beteiligen. Wie der Begriff ‚nachhaltige Entwicklung‘ bereits ausdrückt, handelt es sich um ein Entwicklungskonzept. Das prädestiniert es für die Betrachtung unter der Verfahrensperspektive.2 Bevor diese dargelegt wird, sollen aber die Merkmale nachhaltiger Entwicklung genauer bestimmt werden. Ich gehe davon aus, dass Dreierlei zentral ist für die Bestimmung von nachhaltiger Entwicklung. •





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Zum einen ist es der Aspekt der Ungewissheit in zeitlicher Perspektive (offene Zukunft): Es geht um Wege in die Zukunft, wobei zu berücksichtigen ist, dass diese Zukunft zwar mehr oder weniger begründet antizipiert, aber nicht genau vorhergesagt werden kann. Die Zukunft kann weder von einem transzendenten Punkt aus, noch von einer empirischen Analyse der Gegenwart her präzise abgeleitet werden. Sie bleibt abhängig nicht zuletzt davon, wie sie heute gedeutet und gestaltet wird. Damit hängt eng der zweite Punkt zusammen, dass nachhaltige Entwicklung zugleich eine gewollte ist, die von nicht-nachhaltiger Entwicklung zu unterscheiden sein muss (Gestaltungsanspruch). Das Dritte ist der Integrationsanspruch nachhaltiger Entwicklung, der üblicherweise durch die Trias von Ökologie, Sozialem und Ökonomie zum Ausdruck gebracht wird. Umweltsoziologisch wird man einfach von sozial-ökologischen Zusammenhängen sprechen können, die für nachhaltige Entwicklung zu berücksichtigen sind.

Als eigenes Beispiel der empirischen Rekonstruktion einer Nutzung der Nachhaltigkeitsidee für die Unternehmenskommunikation, vgl. Lorenz (2012a: 249ff.).

2

Zu Bezügen in der Diskussion, Nachhaltigkeit prozedural und als ‚regulative Idee‘ statt substanziell aufzufassen, vgl. Grunwald/ Kopfmüller (2006: 40f.).

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Der letzte Punkt besagt einerseits, dass es sich nicht nur um ein ökologisches Konzept im engeren Sinne handelt, also darum Umweltprobleme zu bearbeiten. Die weiterreichende Einsicht von Nachhaltigkeit ist, dass ‚die Natur‘ keine letzten Maßstäbe dafür liefern kann, was ‚die Gesellschaft‘ tun soll. Vielmehr sind Lösungen für ökologische Probleme immer auch abhängig von gesellschaftlichen Problemdeutungen und politisch Gewolltem. Nachhaltigkeit weist also über Umweltfragen hinaus. Andererseits bilden diese dennoch, auch vor dem Hintergrund der Herkunft des Begriffs (vgl. Grober 2012), den zentralen Bezugspunkt. Dagegen alles erdenklich positiv Konnotierte und Gewollte unter Nachhaltigkeit abhandeln zu wollen, überfordert das Konzept und führt nur erwartbar dazu, das, was eigentlich einen Integrationsgewinn bringen sollte, doch wieder zu separieren. Die Tendenzen dazu sind etwa an den Spezialpublikationen zu beobachten, die zu unterschiedlichen ‚Dimensionen‘ von Nachhaltigkeit vorliegen – neben der ökologischen auch zu sozialer, ökonomischer oder kultureller Nachhaltigkeit. Mit dem Integrationsanspruch wird also dafür plädiert, die Verbindungen zu anderen Problemfeldern und Ideen, wie Demokratie oder Gerechtigkeit, zu knüpfen, aber nicht dafür, Nachhaltigkeit als allumfassendes Metakonzept aufzubauen. Geht man von den drei genannten Kennzeichen nachhaltiger Entwicklung aus, dann ergeben sich daraus Anforderungen an einen geeigneten Forschungsansatz. Er muss zukunftsoffene, gleichwohl gerichtete und intendierte Prozesse erfassen, und er muss außerdem integrierend anschlussfähig sein an andere Fach- wie Alltagsperspektiven. Diese Anforderungen gelten ebenso für die Wachstumskritik, wobei hier die analytisch-kritische Sicht dominiert, während nachhaltige Entwicklung insgesamt stärker konstruktiv, das heißt auf Problembearbeitungen und Entwicklungsoptionen ausgerichtet sein muss. Einlösen kann die Anforderungen ein prozeduraler Forschungsansatz. Im Folgenden werden dazu einige Grundlagen dargelegt. Auf dieser Basis kann im siebten Kapitel die weitere Diskussion ökologischer Wachstumskritik aufbauen.

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V ERFAHRENSRATIONALITÄT , V ERFAHREN V ERFAHRENSWISSENSCHAFT

UND

Wenn ein soziologischer Beitrag zu den Nachhaltigkeitsdebatten im Allgemeinen und den Wachstumsdebatten im Besonderen vor allem in der Rekonstruktion von und gegebenenfalls Vorschlägen zu Verfahrensweisen besteht, dann ist die Soziologie als Verfahrenswissenschaft gefragt und bedarf einer entsprechenden methodologischen Fundierung, einer prozeduralen Methodologie (vgl. Lorenz 2007b, 2009b, 2013). Dazu ist zu klären, was mit Verfahren und Verfahrensrationalität gemeint ist. Das Eingangszitat des Kapitels von Habermas (1992: 42) verdeutlicht, dass es sich bei Verfahrensrationalität um die grundlegende Form von Rationalität jeglicher Wissenschaft in modernen Gesellschaften handelt. Wenn dies zum Ausgangspunkt des methodologischen Zugangs gemacht werden kann, dann müssen sich damit auch die Verfahrensweisen nachhaltiger Entwicklung rekonstruieren und zudem auf ihre Rationalität hin überprüfen lassen. Deutlicher wird das noch, wenn auch die drei genannten Merkmale nachhaltiger Entwicklung – offene Zukunft, Gestaltungsanspruch und Integrationsanspruch – ihre Entsprechung in der Struktur des Forschungsansatzes finden. Dann lässt sich nämlich von einem Rekonstruktionsansatz sprechen, bei dem die Strukturen der Forschungsmethodik denen der Operationsweisen des Untersuchungsgegenstands korrespondieren, so dass die empirisch vorgefundenen Aushandlungs- oder Konstruktionsprozesse rekonstruiert werden können. Im Eingangszitat sind dazu die wesentlichen Punkte benannt. Rationalität bestimmt sich nicht dadurch, dass etwas präzise aus Bekanntem und Gegebenem nur noch abgeleitet wird. Vielmehr verschiebt sie sich hin zu den Vorgehensweisen, den Verfahren, in grundsätzlich zukunftsoffenen Entwicklungsprozessen. Zu sehen ist außerdem, dass Habermas dies nicht nur für die Soziologie oder Philosophie reklamiert, ja nicht einmal nur für die Wissenschaften, egal ob Natur- oder Sozialwissenschaften, sondern noch darüber hinaus, namentlich für Moral,

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Politik und Recht. So zeigt sich zum einen, dass damit auch normative und politische Gestaltungsfragen in den Blick genommen werden können. Zum anderen ist die nicht auf die Wissenschaften beschränkte Grundlegung von Rationalität die Basis einer transdisziplinären (integrativen) Perspektive (und Rationalität). Das gilt erst recht, wenn man die Verfahrensperspektive mit Latour (2001) noch mehr, nämlich zu einem „Parlament der Dinge“ ausweitet. Darin sind es verschiedene „Berufsstände“, die an der gemeinsamen „Baustelle“ arbeiten; diese Baustelle lässt sich hier als nachhaltige Entwicklung bezeichnen. Und die Wissenschaft arbeitet daran in formal gleicher Weise, nämlich verfahrensförmig, wie dies für die Ökonomie, die Politik, die Moral, das Recht oder die Kunst gilt. Die Verfahrensperspektive wird so zur Basis aller sozioökologischen Aushandlungen gemacht. – Der Verfahrensansatz erfüllt folglich alle genannten Anforderungen, die sich aus den Merkmalen nachhaltiger Entwicklung ergeben. Verfahren sind, abstrakt gesprochen, strukturierte und strukturierende Prozesse des Lernens, Entscheidens und Hervorbringens (Lorenz 2009b). In modernen Gesellschaften können sie ihre Resultate nicht aus unhinterfragbar Vorgegebenem ableiten, insbesondere nicht aus religiösen (Gott), metaphysischen (transzendente Vernunft)3 oder natürlichen (Naturgesetze) Letztbezügen. Sie müssen darauf aber auch nicht zurückgreifen, sondern organisieren vielmehr Relationalität durch das Verknüpfen oder Trennen von Bezügen, von Relationalem – nicht beliebig, aber zukunfts- und möglichkeitsoffen, denn Verfahren können immer wieder neu eröffnet werden. Die politische Wahl ist dafür ein Beispiel: Das Wahlverfahren stellt die Auswahlschritte bereit, durch die aus einer Reihe von Kandidierenden einer oder eine ausgewählt

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Im prozeduralen Ansatz bleibt die idealisierte Verfahrensperspektive das unausweichlich transzendente Moment. Habermas (1994: 19) spricht von einer „innerweltlichen Transzendenz“ als notwendiger Bedingung für Lernprozesse. Man könnte auch sagen, dass Kritik am faktisch Gegebenen nur möglich ist, wenn die Vorstellungskraft und ihre (materialen und medialen) Ausdrucksformen idealisierend darüber hinausreichen können.

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wird. Die Entscheidung ist nicht aus Gegebenem nur abzuleiten oder durch die Verfahrensstruktur selbst schon genau determiniert; fest steht zunächst nur, dass es zu einer Entscheidung, einer Festlegung kommen wird. Schließlich gehört zur Verfahrensweise politischer Wahlen, dass diese regelmäßig wiederholt werden, so dass die Wahl in der nächsten Runde wieder anders ausfallen kann. In jedem Verfahren müssen folglich immer vier Aufgaben bearbeitet werden: es muss, erstens, Offenheit für das Neue, Unbekannte, das noch unbestimmte Bezugsproblem gewährleisten; es muss, zweitens, verschiedenste Verhandlungen, Prüfungen, Selektionen ermöglichen, um dann, drittens, eine Entscheidung, ein Ergebnis, eine Bestimmung festzulegen; diese Festlegung ist aber grundsätzlich, viertens, als Zwischenergebnis eines reflexiven Lernprozesses zu verstehen, das heißt, das Verfahren darüber kann wieder eröffnet werden und das Ergebnis sich durch erneute Prüfungen anders darstellen. Verfahren im hier besprochenen Sinne sind keineswegs immer schon etablierte, formale und institutionalisierte Verfahrensweisen. Es zählen ebenso alle informellen Verfahrensweisen dazu. Während Illich und Latour vor allem Anleihen bei den formalen politischen und rechtlichen Verfahren nehmen, sind die Arbeiten von Sennett, seine Rekonstruktionen handwerklicher Arbeit, ein Beispiel für stärker informell orientierte Verfahrensweisen. Damit macht er Vorschläge zur Beförderung einer materiellen Kultur, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglicht. Jedenfalls sind alle gesellschaftlichen Verhandlungen um nachhaltige Entwicklung, formelle wie informelle, in Verfahrensperspektive zu untersuchen. Der große Vorzug von Verfahren ist, dass sie ohne letzte Gewissheiten auskommen und dennoch nicht in Beliebigkeit verfallen. Und das ist doch auch die formulierte Erwartung an eine nachhaltige Entwicklung: dass sie zukunftsoffen, aber nicht chaotisch oder bloß zufällig ist; dass in ihrer Gestaltung eine gewisse Rationalität zum Zuge kommen kann, die sie zum Lernprozess macht und von nicht-nachhaltiger Entwicklung unterscheidet; dass sie dafür entscheidende Verbindungen knüpfen, integrieren kann.

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Soziologie als Verfahrenswissenschaft eignet sich deshalb dazu, nachhaltige Entwicklung als einen solchen verfahrensförmigen Prozess zu untersuchen. Ohne letzten Ankerpunkt, von dem aus die ‚richtigen‘ Entscheidungen hergeleitet werden könnten, ist nachhaltige Entwicklung als Lernprozess zu rekonstruieren und zu gestalten. Als Wissenschaft operiert die Soziologie dabei grundsätzlich in gleicher Weise, nämlich verfahrensrational. Sie ist dadurch auch in der Lage, eine integrative Perspektive in transdisziplinärer Forschung einzunehmen, wobei integrativ in doppeltem Sinne zu verstehen ist: Sie beobachtet und analysiert die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse nachhaltiger Entwicklung (als Verfahrensweisen), reflektiert sich dabei aber zugleich als (durch diese Analysen) selbst an den gesellschaftlichen Aushandlungen beteiligten Akteur, muss also ihren Part in den Verhandlungen nachhaltiger Entwicklung mitberücksichtigen. Am Beispiel der Klimawandeldebatten, die hier als Teil nachhaltiger Entwicklung aufgefasst werden können, habe ich an anderer Stelle die Vorzüge der methodologischen Verfahrensperspektive dargelegt (Lorenz 2013). Soziologisch gibt es beispielsweise keine Möglichkeit, das Ziel, den globalen Temperaturanstieg unter zwei Grad Celsius zu halten, auf der Ebene der Beschreibung physischer Zusammenhänge zu bestätigen oder in Frage zu stellen. Dazu fehlen der Soziologie die Mittel – die sie auch nicht braucht, denn dafür gibt es andere Wissenschaften, die damit entsprechende Erfahrungen gemacht und sich die nötigen Kompetenzen angeeignet haben. Das wird seitens der Soziologie anerkannt. Dennoch ist das 2°C-Ziel für die Soziologie nicht einfach eine externe Vorgabe, sondern Teil der gesellschaftlichen Aushandlungen zum Umgang mit Klimawandelphänomenen. Es ist folglich als ein Zwischen- und Teilergebnis dieser Aushandlungen aufzufassen und kann deshalb daraufhin befragt werden, wie diese Aushandlungen verlaufen (sind), welche Verfahrensweisen zum Einsatz kamen oder ausgeschlossen wurden. Die drei Kennzeichen nachhaltiger Entwicklung resultieren auch in den Klimawandeldebatten in entsprechenden Herausforderungen: dem Umgang mit Unsicherheit, der Politisierung von Natur und den Ver-

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schiebungen gesellschaftlicher Differenzierungslinien. Die Verfahrensperspektive bietet darauf geeignete methodologische Antworten. Für den Umgang mit Unsicherheit sind Verfahren gewissermaßen gemacht. Es ist, wie gezeigt, gerade ihre Aufgabe, Ungewissheiten in Lernprozesse zu überführen. Mit der Formulierung von Zwischenergebnissen, etwa dem 2°C-Ziel, bieten Verfahren die nötige Handlungsorientierung, ohne dies als letzte Gewissheit zu behandeln. Für die Politisierung von Natur, das heißt dafür, Natur ‚verhandelbar‘ zu machen, sei hier nur noch einmal auf die Bezüge zum ‚parlamentarischen‘ Modell Latours verwiesen, auf die prozeduralen Vorschläge zur Demokratisierung sozioökologischer Aushandlungen. Als Beispiel für Verschiebungen gesellschaftlicher Differenzierungslinien, das heißt für neue Integrationsanforderungen, kann die Neuverhandlung disziplinärer Zuständigkeiten in den Wissenschaften angeführt werden. Mit der transdisziplinären Verfahrensperspektive erweist sich auch hier das Konzept einer Verfahrenswissenschaft als methodologisch tragfähiger Forschungsansatz. Was macht nun die Verfahrensperspektive auch zu einer kritischen? Sie eröffnet die Möglichkeit, ‚bloße‘ Prozesse oder Abläufe und deren Beobachtung als Lernprozesse zu begreifen. Denn: Faktische Prozesse verlaufen ja keineswegs immer in der Weise des allgemeinen (und idealisierten) Verfahrensmodells. Dieses fungiert deshalb auch als Folie dafür, die Verfahrensrationalität der Prozesse nachhaltiger Entwicklung zu überprüfen. Nachhaltige Entwicklung beziehungsweise nicht-nachhaltige Entwicklung kann nur kritisiert werden, wenn es dafür Maßstäbe, Kriterien gibt. Ausgehend davon, dass nachhaltige Entwicklung verfahrensrational verlaufen sollte, also als ein demokratischer Lernprozess, bietet das Verfahrensmodell auch die Kriterien an, die Rationalität der Entwicklung zu beurteilen und gegebenenfalls auf ihre Defizite aufmerksam zu machen. Denn vor dem Hintergrund des Verfahrensmodells kann immer gefragt werden, ob die vier genannten Verfahrensaufgaben auch erfüllt werden oder ob sie – aufgrund entsprechender Interessen-, Macht- und Ressourcenkonstellationen oder auch kultureller Deutungsmuster – umgangen, blockiert oder unterlau-

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fen werden. So ist insbesondere zu fragen: Wer und was ist am Verfahren beteiligt oder davon ausgeschlossen – und warum? Welche Chancen der Artikulation gibt es? Welche Prüfungen und Verhandlungen werden initiiert oder unterlassen? Führt das zu verbindlichen Ergebnissen? Und inwiefern werden diese zugleich als Zwischenergebnisse und damit als Ausgangspunkt reflexiver Lernprozesse verstanden? Welche Möglichkeiten sind vorgesehen, das Verfahren wieder zu eröffnen? Von dieser kritischen Perspektive aus ist nun auch zu sehen, inwiefern eine Verfahrenswissenschaft über die Möglichkeit verfügt, selbst neue Verfahrensweisen vorzuschlagen. Die Soziologie kann sich als praktisch-konstruktiver Akteur an den Verhandlungen nachhaltiger Entwicklung beteiligen, aber eben nicht vorrangig durch substanzielle Problemlösungen. Vielmehr wird der Umgang mit diesen Problemen untersucht und auf Verkürzungen, Einschränkungen und Blockaden hingewiesen. Dies kann zugleich den Blick für alternative Wege und umfassendere Beteiligungsmöglichkeiten öffnen. Die Soziologie als Verfahrenswissenschaft kann also vor allem prozedurale Vorschläge zur Verbesserung nachhaltiger Entwicklung unterbreiten. Mit dieser Skizze eines prozeduralen Forschungsansatzes kann im Folgenden die Diskussion der ökologischen Wachstumskritik fortgesetzt werden, die sich damit als prozedurale Analyse von MittelZweck-Relationen reformulieren lässt.

7 Mittel oder Zwecke? Analyseperspektiven ökologischer Wachstumskritik

„Es gibt hervorragende Gründe, nicht Mittel und Zwecke zu verwechseln und nicht Einkommen und Vermögen für sich genommen als wichtig anzusehen, sondern sie abhängig davon zu bewerten, ob und wie viel sie dazubeitragen, dass Menschen ein gutes und lebenswertes Leben verwirklichen können.“ AMARTYA SEN „Hier soll einzig dafür plädiert werden, Ziele und Mittel nicht zu verwechseln.“ REINHARD LOSKE

In den vorgetragenen Überlegungen zur ökologischen Wachstumskritik wurde von der Beobachtung ausgegangen, dass in deren Debatten typischerweise Industrialisierungs- und Konsumkritiken besonders vertreten werden. Ökologische Wachstumskritik weist außerdem über Umweltfragen im engeren Sinne hinaus und ist umfassender als eine Form von Modernekritik aufzufassen, so das Plädoyer, das sich bereits auf

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den als Urgestalt ökologischer Kritik geltenden Thoreau berufen kann. Ein zentrales Kritikmuster, das sich durch die Ausführungen, Reflexionen und Referenzen zieht, so mein Schluss, ist die Frage nach MittelZweck-Relationen. Hierin scheint mir der wichtigste Schlüssel zum Verständnis ökologischer Wachstumskritiken – als Modernekritik – zu liegen. Denn die Gefährdungen des Wachstums haben „einen gemeinsamen Nenner, nämlich die destruktive Umwandlung von Mitteln zu Zwecken“ (Illich 1998: 77). Deshalb ist nun die Frage zu stellen, in welches Verhältnis sich die sozialwissenschaftliche Forschung zu einer solchen Kritikperspektive rücken lässt.

M ITTEL UND Z WECKE IN DEN W ACHSTUMSDEBATTEN Die Wachstumsdebatten zeigen, dass die Pfade der Mittel-ZweckRelationen nicht leicht zu entwirren sind. Selbst wo kritische Stellungnahmen aufgerufen werden, erscheint Wachstum häufig selbst als Ziel statt als Mittel. So fragte die New York Times: „But is there a point at which nations should no longer strive to grow? What would be a better goal?“ (http://www.nytimes.com/roomfordebate/2013/01/16/whengrowth-is-not-a-good-goal, 21.1.13). Immerhin wird hier nach Zielen gefragt. Allerdings müsste geklärt werden, wieso Wachstum überhaupt als Ziel erscheinen kann beziehungsweise was mit welcher Art von Wachstum erreicht werden soll und was damit tatsächlich zu erreichen ist oder was nicht. Dass die Verwicklungen der Mittel-Zweck-Relationen häufig nur schwer zu überblicken sind, ist wohl auch ein entscheidender Grund für die Versuche, diese Debatten möglichst zu umschiffen oder zu verkürzen. Dass etwa Effizienzkonzepte und Ökologische Modernisierung sich auf technologische Mittel konzentrieren und damit die Frage nach kulturellen und politischen Zwecken vermeiden wollen, wurde bereits dargelegt. Ähnliches findet sich in ökonomischen Positionierungen der Wachstumsdebatten. Auseinandersetzungen darüber, was politisch ge-

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wollt ist, werden dann vornehmlich als „ideologische Stellungskämpfe“ (Paqué 2012: 19) wahrgenommen. Um zu tatsächlichen „Verbesserungen der Gesellschaft“ zu gelangen, müssten vielmehr pragmatische Kosten-Nutzen-Kalküle zum Zuge kommen (ebd.: 18). Dabei wird freilich unterstellt, dass für alle völlig klar sei, was ‚Verbesserungen‘ sind – und das ist es eben nicht. Erst wenn man die Ziele kennt, kann man überlegen, wie diese mit kostengünstigen Mitteln erreicht werden beziehungsweise was sie wem wert sind. Oder anders formuliert: Ästhetisch, politisch und ethisch Gewolltes kann man zwar daraufhin prüfen, wie dies jeweils kostengünstig umzusetzen ist, man kann solche Ziele aber nicht ökonomisch setzen. Ökonomische Entscheidungen und Kosten-Nutzen-Kalküle bilden nur einen Aspekt in Mittel-ZweckRelationen und zum wichtigsten werden sie nur, wenn alles andere schon entschieden ist oder als festgelegt behauptet werden kann. Vermeintlich pragmatische Kosten-Nutzen-Kalküle können politische Auseinandersetzungen über Zielsetzungen jedenfalls nicht ersetzen. Die ökologische Kritik wiederum neigt dazu, auf möglichst einfache und ‚kleine‘ Mittel zu setzen. Das hat seine Berechtigung darin, dass gerade einfache und unspezifische (Hand-)Werkzeuge einen breiten und kreativen Einsatz erlauben, der tendenziell allen zur Verfügung steht, so Illich wie Sahlins und Sennett. Das heißt, sie bleiben typischerweise eher in einem den Menschen dienlichen Sinne kontrollierbar; sie vermeiden sozialen Ausschluss und Privilegierung ebenso wie sie in ihren Umwelteffekten nachvollziehbar bleiben. Das Einfache, Kleine, Weniger ist dabei selbst ein Mittel, das den Zwecken des guten Lebens dient. Zur problematischen Verkürzung kann das werden, wenn die Einfachheit und Askese selbst zum Ziel erklärt wird, weil dann ebenfalls die Orientierung zwischen Mitteln und Zwecken verloren geht. – Ökologischer Landbau ist in vieler Hinsicht keineswegs einfacher und der Schienenverkehr, der heute auch von der Wachstumskritik üblicherweise begrüßt wird, ist alles andere als klein. In gewisser Hinsicht ist Technik, sind Werkzeuge, nie einfach. Technologien sind Mittel für bestimmte Zwecke; ökologische Kritik richtet sich folglich gegen Technologien als Selbstzweck, die Men-

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schen zu Sklaven der Maschine machen. Dennoch ist Technik nie nur Mittel zum Zweck in einem schlichten, eindimensionalen Sinne: sie gestaltet das soziale Zusammenleben zugleich mit, nimmt Einfluss darauf. Auto oder Mobiltelefon dienen nicht nur dem Transport von A nach B beziehungsweise dem Telefonieren, sondern nehmen Einfluss auf Lebensweisen und Sozialbeziehungen, zum Beispiel im Hinblick auf Erreichbarkeit und Verfügbarkeit über größere räumliche Distanzen. Das allein ist aber nicht das Problem, sondern erwartbar, ‚normal‘. Weil die Effekte weit über die technischen Zwecke hinausreichen, kann weder der Technikoptimismus behaupten, man habe die Technik im Griff, noch ist ein Technikskeptizismus sinnvoll, der nur dann Technik zulassen will, wenn sie ‚wirklich sicher‘ ist – weil man sich über die Konsequenzen von Technik im Vorhinein kaum in jeder Hinsicht sicher sein kann. Verkehrstechnik, Infrastrukturen, Kommunikationstechnologien, Energiesysteme – sie haben das gesellschaftliche Leben in den letzten Jahrzehnten verändert. Ihre Zweck-MittelRelationen sind aber nach wie vor wenig erschlossen und darin ist das Hauptproblem im sozialen Verständnis und gesellschaftlichen Umgang mit den Technologien zu sehen. Wie für die Technik gilt heute auch für den Konsum, dass er einen Großteil der Lebensgestaltung prägt. Technik wie Konsum sind in einer Weise allgegenwärtig, wie es zu Thoreaus Zeiten kaum denkbar war. Aktuelle ökologische Kritik wird dieser Bedeutung von Konsum und Technik gerecht werden müssen und das heißt, dass nach ihren Zweck-Mittel-Relationen zu fragen ist. Vereinfachung ist unter diesen Vorzeichen nur eine Möglichkeit, Zweck-Mittel-Relationen zu verbessern und sogar gegenteilige Strategien sind vorstellbar (z.B. buycott statt boycott). Jedenfalls besteht Anlass, sich an der Suche nach zukunftsoffenen Problemlösungen zu beteiligen. Sozialwissenschaftliche Forschungen, die Impulse ökologischer Wachstumskritik aufgreifen wollen, werden sich deshalb der Analyse von Zweck-Mittel-Relationen widmen müssen.

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E RNEUERUNG EINER KLASSISCHEN ANALYSEPERSPEKTIVE Für die Soziologie handelt es sich bei solchen Analysen keineswegs um ein neues Unterfangen. Ganz im Gegenteil kann man sagen, dass die Analyse von Mittel-Zweck-Relationen schon zu den Gründungsanliegen des Fachs gehörte. Für Max Weber stand, in seinen frühen wissenschaftstheoretischen Überlegungen zur „‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (Weber 1991, original 1904), die Frage nach Mittel-Zweck-Relationen im Zentrum der Forschung. Denn: „Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ‚Zweck‘ und ‚Mittel‘“ (ebd.: 24). Die sozialwissenschaftliche Analyse kann nach Weber die (politische) Praxis in dreierlei Hinsicht beurteilen und gegebenenfalls kritisieren. Er unterscheidet entsprechend in eine technische Kritik, das heißt die Frage nach der Tauglichkeit der Mittel für die angestrebten Zwecke (wobei er auch die Nebenfolgen im Blick hat1); eine Aufklärung über die nicht immer verstandene Bedeutung der gewollten Zwecke selbst; schließlich die Klärung, inwiefern die kulturellen Zwecksetzungen, das Gewollte, in sich kohärent sind oder untereinander im Widerspruch stehen. Im gegebenen Kontext muss freilich in zweierlei Hinsicht über Weber hinausgegangen werden. Zum einen geht es nicht mehr, wie in der Gründungszeit der Soziologie, zuvorderst um den Ausweis der Besonderheiten sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektiven in Abgrenzung zu naturwissenschaftlichen. Wichtiger ist es in Zeiten ökolo-

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„Wir können weiter, wenn die Möglichkeit der Erreichung eines vorgestellten Zwecks gegeben erscheint, natürlich immer innerhalb der Grenzen unseres jeweiligen Wissens, die Folgen feststellen, welche die Anwendung der erforderlichen Mittel neben der eventuellen Erreichung des beabsichtigten Zweckes, infolge des Allzusammenhanges alles Geschehens, haben würde“ (Weber 1990: 25, Hervorhebung im Original).

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gischer Krise, sozioökologische Zusammenhänge erschließen zu können. Zum anderen werden auch die Zweck-Mittel-Analysen umfassender, und das soll in der hier verfolgten Perspektive heißen: prozedural, gefasst werden müssen; denn nur in Verfahrensperspektive können sie als Relationen in Lernprozessen untersucht werden. Bei näherer Betrachtung erweisen sich nämlich Zweck-Mittel-Relationen häufig als äußerst vielschichtig und verschlungen. Hinweise darauf finden sich bereits bei Simmel – in doppelter Hinsicht, denn seine Reflexionen sind auch Beleg dafür, wie man sich in den Verwicklungen von Mitteln und Zwecken verirren kann. Simmel (2000: 190f.) schreibt: „Das ungeheure, intensive und extensive Wachstum unserer Technik, – die durchaus nicht nur die Technik materieller Gebiete ist –, verstrickt uns in ein Netzwerk von Mitteln und Mitteln der Mittel, das uns durch immer mehr Zwischeninstanzen von unseren eigentlichen und endgültigen Zielen abdrängt. Hier liegt die ungeheure innere Gefahr aller hochentwickelten Kulturen, das heißt der Epochen, in denen das ganze Lebensgebiet von einem Maximum übereinandergebauter Mittel bedeckt ist. Das Aufwachsen gewisser Mittel zu Endzwecken mag dieser Lage eine psychologische Erträglichkeit verschaffen, macht sie aber in Wirklichkeit immer sinnloser.“

Wie das Zitat sehr deutlich macht, trägt Simmel nicht nur eine Analyse vor, sondern er knüpft daran eine kulturpessimistische Krisendiagnose. Die kulturellen Entwicklungen treiben nach seiner Auffassung die Gesellschaft mit Notwendigkeit immer weiter auseinander, in fortschreitende Zersplitterung. Deshalb bedürfe es „fortwährende(r) Gegenwirkungen“ um zumindest ein „Gleichgewicht“ zu halten (ebd.: 200). Seine Ausführungen gipfeln darin, den Krieg (der Text wurde 1916 publiziert) als ‚Ausdruck des Lebens‘ zu behaupten. Denn es sei der Krieg mit „seiner vereinheitlichenden, vereinfachenden, auf einen Sinn konzentrierten Kraft“ (ebd.: 201), der das Leben auf seine elementaren (Überlebens-)Zwecke zurückführe. Er nennt seinen martialischen und nationalistischen Ausweg aus der proklamierten Krise zwar tragisch, behauptet aber gleichwohl: „Darüber aber, daß […] der Krieg jene po-

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sitive Bedeutung für die Kulturform hat, unabhängig von seiner Zerstörung von Kultursubstanz, ist mir kein Zweifel“ (ebd.: 198f.).2 Vereinheitlichung ist das Gegenteil von der experimentellen Lebensweise Thoureaus und seiner zukunftsoffenen Vorstellung, dass es „nichts Schöneres“ gebe, „als daß es so viele verschiedene Menschen wie nur irgend möglich auf der Welt gibt“ (Thoreau 2009a: 68f.). Gleichwohl drängt sich die Frage auf, was denn als wichtige Zwecke gelten kann und was nicht und wie sich das entscheiden lässt? Und kann dazu wissenschaftlich überhaupt etwas gesagt werden? Falls dies eigens erwähnt werden muss: Ganz sicher nicht in dem Sinne, dass aus soziologischer oder sonstiger wissenschaftlicher Perspektive solche Zwecke gesetzt werden könnten, soweit bereits die Weber’sche Erkenntnis. Die analytische Aufgabe besteht vielmehr gerade darin, sich an der Aufklärung gesellschaftlicher Zwecksetzungen zu beteiligen und die sozioökologischen Mittel-Zweck-Relationierungen zu rekonstruieren. Weil die Relationen keinen einfachen Kausalitäten, sondern recht verschlungenen Pfaden folgen, dürfte das schwierig genug sein. Sie entstehen in Aushandlungsprozessen und stehen dabei in Abhängigkeiten von Deutungsperspektiven, Ressourcen- und Machtverteilungen, die Zugangsmöglichkeiten zu diesen Aushandlungen eröffnen oder verschließen. Dies berücksichtigend kann sich die Soziologie, statt in Simmel’schen Kulturpessimismus zu verfallen, neben den Rekonstruktionen mit eigenen Vorschlägen an den Debatten um Mittel und Zwecke, das heißt an der Gestaltung nachhaltiger Entwicklungen beteiligen. Das werden aber, wie die vorangegangenen Kapitel zeigten, weniger substanzielle Aussagen dazu sein, was erreicht werden muss, als es sich vielmehr um Verfahrensvorschläge handeln wird, wie geeignete Lösungen gefunden werden könnten. Vor allem prozedurale Hinweise (einschließlich Zugang zu und Beteiligungsoptionen an den Verfahren) zu entwickeln, heißt in keiner Weise, dass blutleere Verfahren sachli-

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Zu ergänzen in diesem Zusammenhang ist, dass Weber sich ganz ähnlich kriegsbegeistert positionierte (vgl. Bruhns 2012).

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che Auseinandersetzungen ersetzen sollen. Verfahren sind nur die Basis oder der Rahmen, in dem die Dinge, die Konzepte und Themen verhandelt werden – gerade darin ist der sozialwissenschaftliche Beitrag zu suchen. Ein Verfahren ohne Inhalt ist sinnlos, aber Vorschläge in der Sache müssen sich auf verfahrensförmig organisierte Verhandlungen stützen, um zu einem gut begründeten und legitimen Ergebnis kommen zu können.

W ACHSTUMSKRITIK UND DIE PROZEDURALE ANALYSE VON M ITTELN UND Z WECKEN Ökologische Wachstumskritik richtet sich gegen ‚automatisierte‘ Entwicklungsdynamiken und deren Zerstörung von Natur und Kultur sinnund dinghaft verknüpfenden Lebenszusammenhängen. Darüber hinaus ist die ‚grüne Seele‘ der Wachstumskritik darauf aus, „ganz einfach und unbändig zufrieden (zu) sei(n) mit der Gabe des Lebens“ (Thoreau 2009a: 75). Darin liegt freilich eine gewisse Paradoxie, denn Kritik ist das Gegenteil von unbändiger Zufriedenheit. In der Nachhaltigkeitsdebatte hat dies Pfütze (2002: 116) als Paradoxie der Sorge um der Sorglosigkeit willen vorgetragen: „Wenn wir also von Nachhaltigkeit reden, reden wir im Grunde davon, dass irgendwann Schluss damit sein könnte, weil wir an die Nutzungsgrenzen von Natur und Umwelt stoßen. Nachhaltiges Leben wäre mithin sorgloses Leben. […] Wenn aber schon so harmlose Dinge wie Essen und Trinken, Spielen im Freien oder Schwimmen im Fluss zum Problem werden und bewusster Vor- und Nachsorge bedürfen, dann wird Nachhaltigkeit zum Paradox: Wir müssen uns um etwas sorgen, was eigentlich sorgenfreie Grundlage aller Sorgfalt ist; – schlimmer noch: Wir verwenden große pädagogische und rationale Sorgfalt darauf, uns und den Kindern Sorglosigkeit abzugewöhnen. Wir passen auf, lesen Beipackzettel und Warentests, trennen den Müll, schärfen den Kindern Vorund Rücksicht ein – und träumen dabei vom Ideal regenerativer Nachhaltigkeit.

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Das ist zwar paradox, aber auch das Schöne an ihr: Sie ist ein Element des Widerstands gegen die düstere Prophetie der angeblich unaufhaltsamen Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch uns selbst. Die Unbekümmertheit, mit der die Menschen jahrhundertelang ihre Abfälle ins Wasser gekippt und in die Luft geblasen haben, ist nämlich nachhaltig attraktiv. Das ist kein Freibrief, so weiter zu machen, aber rechtfertigt auch nicht die Diktatur der Sorge, die unter Umweltaktivisten verbreitet ist. Die Utopie der Sorglosigkeit ist nach wie vor idealer Fluchtpunkt der Nachhaltigkeit.“

Die kritische Perspektive speist sich durchaus aus utopischen Motiven und kann deshalb nicht passiv bleiben, sondern muss danach streben, die Lebenswelten sinnstiftend zu gestalten, sie mit eigenen Ideen zu bereichern (Illich). Diese Ideen betreffen gleichermaßen Ziele wie Mittel, beides muss entwickelt werden. Für analytische Beiträge zu diesen Debatten erwächst daraus die Aufgabe, dass sie sich auf die Rekonstruktion von Mittel-Zweck-Relationen einlassen müssen. Wie könnte das aussehen? (vgl. Lorenz 2010b, 2013). Wie Zwecke der Mittel bedürfen, um sie zu erreichen, so nehmen alle Mittel Einfluss darauf, inwiefern diese Zwecke realisiert werden. Mittel und Zwecke sind dabei nicht immer leicht zu identifizieren und einander eindimensional zuzuordnen, sondern müssen in ihren Wechselwirkungen verstanden werden. Bei aller Vehemenz seiner Kritik hat bereits Thoreau darauf hingewiesen: „Der Teufel verlangt von seiner ersten bis zur letzten Investierung Zins und Zinseszins auf Heller und Pfennig“ (Thoreau 2009a: 50). Positiv gewendet heißt das für Thoreau (ebd.) aber zugleich, dass sich nicht nur Mittel, sondern auch Zwecke verbessern lassen. Illich wollte dies im angestrebten institutionellen Wandel berücksichtigt wissen und meinte (1998: 158), „daß die institutionelle Revolution ein Werkzeug bleibt, dessen Ziele im Prozeß des Handelns deutlich werden“. Gerade weil Werkzeuge immer Einfluss auf das nehmen, was erreicht werden soll und kann, und weil dieser Einfluss kaum in jeder Hinsicht von Beginn an vorhersehbar ist, hatte sich Illich so intensiv mit den Werkzeugen befasst. Gerade deshalb

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sucht auch Sennett in den Arbeitsweisen des Handwerks3 Möglichkeiten einer materiellen Kultur, die zu Neuerungen kommen kann, ohne dabei die technische Entwicklung von ethischen Fragen zu entkoppeln. In kontinuierlichen und gründlichen Arbeitsprozessen können sie stattdessen kleinteilig und reversibel aneinander gebunden werden. Gerade deshalb fasst auch Latour Technik und überhaupt die ‚Dinge‘ nicht bloß als passgenau einzufügende „Zwischenglieder“ auf, als vorgefertigte Puzzleteile für die von ihm beschriebenen „Netzwerke“, „Kollektive“ oder „Versammlungen“. Vielmehr sind sie als „Mittler“ aufzufassen (Latour 2007: 66ff.), die als solche in den Vernetzungen von Menschen und nicht-menschlichen Wesen immer etwas ändern. Sie müssen deshalb im „Parlament der Dinge“ verhandelt und zur Abstimmung gestellt werden. Das Beck’sche Nebenfolgen-Theorem gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang, erfasst ihn aber nur zum Teil. Es geht davon aus, dass die Mittel, die zu den Erfolgen der Moderne führen, diesen noch ganz andere und unerwartete Konsequenzen aufbürden. Die Zwecke werden damit freilich nicht selbst hinterfragt, sondern die Probleme eben nur als die Nebeneffekte ihrer Realisierung thematisiert. Als weiter reichend könnten sich die Überlegungen Becks (2007: 378ff.) in der „Weltrisikogesellschaft“ erweisen, worin er Basisprinzipien der Modernisierung von modernen Basisinstitutionen unterscheidet. Beides gerät in der reflexiven Moderne in Konflikt, etwa wenn, so ein Beispiel (ebd.: 382), das Prinzip der „wissenschaftlich-technischen Rationalität“ die Institution der „Vollbeschäftigungsgesellschaft“ unterläuft, weil es Arbeitskraft wegrationalisiert. Folglich müssen in der Risikogesellschaft die Institutionen erneuert oder ersetzt und gegebenenfalls auch die Prinzipien überdacht werden. Die Ausführungen bleiben bei Beck allerdings noch im Exemplarischen und bedürfen der Konkretisierung.

3

Was auch Illich durchaus im Sinne hatte: „Die meisten Handwerkzeuge bieten sich für den konvivialen Gebrauch geradezu an, es sei denn, der Zugang zu ihnen wird durch institutionelle Regelungen vorsätzlich eingeschränkt“ (Illich 1998: 43).

M ITTEL

ODER

ZWECKE? | 115

Daran lassen sich dann zweifellos Fragen nach Mitteln und Zwecken knüpfen. Kritisch lässt sich all das jedenfalls nur diskutieren, wenn die entsprechenden Mittel-Zweck-Relationen im Hinblick auf ihre Verfahrensrationalität rekonstruiert und hinterfragt werden. Mittel können sich als ungeeignet erweisen, sie können ungewollte Nebenfolgen haben, unerwartete Möglichkeiten eröffnen oder auch in ihrem Operieren den Blick auf die Zwecke ganz verstellen. Die Zwecke selbst können sich über die Zeit als Illusionen oder auch als Zwischenstationen weiterer Ziele herausstellen. Sie erscheinen aus neu entwickelten Perspektiven in einem anderen Licht. Und diese neuen Perspektiven entstehen erst durch die Verwendung der Mittel oder das Erreichen von Zielen. An konkreten sozioökologischen Problemen können Mittel und Zwecke prozedural in ihren Relationen analysiert werden. So lassen sich Ursachen, Folgen, Nebenfolgen und Folgefolgen oder Ursachenursachen berücksichtigen. Vor allem bedeutet die Verfahrensperspektive, dass diese Relationen als in zukunftsoffenen Prozessen sich entwickelnde betrachtet werden, dass die Ungewissheiten dieser Offenheit konzeptuell berücksichtigt werden und dass sich dadurch Chancen auf Lernprozesse eröffnen lassen (vgl. Lorenz 2009b). Wachstumskritiken setzen da an, wo sich gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken unhinterfragt auf problematische Ziele richten beziehungsweise ganz darin aufgehen, bloße Mittel zu reproduzieren und zu steigern, ohne überhaupt darüber hinausweisende Zwecke zu verfolgen. Solche Dynamiken können vieles in der natürlichen Umwelt zerstören, wenn auch nicht ‚die Natur‘. Gefährdet sind gegebenenfalls gesellschaftliche Reproduktionsbedingungen und die physischen Existenzgrundlagen für Menschen. Was möglich, gewollt oder unerträglich ist, bedarf der andauernden Erkundungen und Aushandlungen. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass konkrete sozioökologische Probleme, etwa Klimawandelphänomene, sich für Menschen in sehr ungleicher Weise auswirken. Ökologische Wachstumskritik kann sich auch deshalb keinesfalls in Risikoanalysen und Gefährdungsvermeidung erschöpfen, sondern fragt nach demokratischer Verteilung und Beteili-

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gung an Gestaltungsfragen nachhaltiger Entwicklung. Mittel-ZweckRelationen prozedural zu bestimmen, heißt, eine Demokratisierungsperspektive einzunehmen. Damit ist anerkannt, dass es sowohl um Fragen von Verfahrensschritten geht als auch notwendig um die der Möglichkeiten von Verfahrensbeteiligung. Wie am Beispiel politischer Wahlen bekannt, nimmt nicht zuletzt die Wahlbeteiligung (wer und wie viele) Einfluss darauf, wie das Abstimmungsergebnis ausfällt. Manchen Ergebnissen kommt eine geringe, anderen eine hohe Wahlbeteiligung bestimmter Gruppen von Wählerinnen und Wählern zugute. Ebenso wird die Abstimmung über Mittel und Zwecke auch von den Beteiligungsmöglichkeiten und deren Nutzung beeinflusst.4 Die Aufgabe, möglichst viele und unterschiedliche (sozioökologische) Akteure und Aspekte zu berücksichtigen, ist Teil des Verfahrens und deshalb auch Gegenstand der prozeduralen Analyse.

4

Das Latour’sche Verfahren beispielsweise sieht deshalb im „Parlament der Dinge“ ausdrücklich eine „einbeziehende Gewalt“ vor.

8 Mehr oder weniger? „Die Fähigkeiten des Menschen hat man jedoch niemals gemessen, noch auch können wir aus der Vergangenheit erkennen, wozu der Mensch einmal imstande sein wird.“ HENRY DAVID THOREAU

Wachstumskritik ist darauf angelegt, das Mehr zu kritisieren, das aus gesellschaftlichen Entwicklungsdynamiken resultiert, die sich nicht (mehr) zureichend kontrollieren lassen. Wie an verschiedenen Stellen diskutiert wurde, liegt die Alternative aber nicht einfach darin, sich im Weniger einzurichten beziehungsweise dies nun als Ziel auszuflaggen. Die Frage nach mehr oder weniger, wachsen oder nicht wachsen, wurde deshalb im Gang der Ausführungen in die nach Mittel-ZweckRelationen transferiert. In modernen Gesellschaften lassen sich letzte Zwecke in einem für alle verbindlichen Sinne kaum festlegen. Und ganz sicher kann darüber nicht in Kategorien eines bloßen Mehr oder Weniger befunden werden. Das entbindet allerdings nicht davon, überhaupt Mittel und Zwecke zu bestimmen, sondern macht dies vielmehr zur dauerhaften Aufgabe in Lernprozessen. Das bedeutet für ökologische Wachstumskritik, vor allem Mittel und Zwecke der Industrialisierung und des Konsums aufzuklären; für sie als Modernekritik muss es aber ums Ganze gehen, das heißt um Fragen nach der besseren Gesellschaft. In den Überlegungen wurde versucht, sowohl das Spezifische

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der ökologischen Wachstumskritik als auch das Allgemeine der Modernekritik aus- und zusammenzuführen. Das macht mitunter vielleicht die Abgrenzung schwierig, was noch Ökokritik ist und was bereits als eine darüber hinaus geteilte Perspektive gelten muss. Dieser etwas unbestimmte und fließende Übergang ist aber zugleich die Voraussetzung dafür, Anknüpfungsmöglichkeiten zu eröffnen, etwa an kapitalismusund verteilungskritische, demokratiebezogene, feministische, menschenrechtliche oder andere Debatten. Mir ging es darum, den Beitrag ökologischer Wachstumskritik als kritische Perspektive auf moderne Gesellschaftsentwicklungen herauszuarbeiten, um auf dieser Basis besser mit anderen kritischen Perspektiven ins Gespräch kommen zu können. Während öffentlich weiter zwischen den Positionen der Wachstum Befürwortenden und Wachstum Kritisierenden gestritten wird, kommt die Diskussion doch immer wieder auch zu dem Punkt, dass es letztlich nicht nur um quantitatives Mehr oder Weniger gehen kann, sondern darum, etwas anders und möglichst besser zu machen. Eigentlich wäre das Anlass genug, den Blick über die Konfliktlinie von wachsen oder nicht wachsen hinauszulenken und tatsächlich mit der Diskussion von Mitteln und Zwecken zu beginnen. Diese müsste sich dann zunächst darum drehen, was unter „anders“ und „besser“ zu verstehen sein soll und wonach sich das beurteilen lässt. Doch scheint es einfacher zu sein, die rhetorischen Mehr- versus Weniger-Positionen zu verteidigen, als politische Debatten über die bessere Gesellschaft zu führen.

ANDERS

UND BESSER

In den ökologischen Debatten verläuft der Konflikt – schematisch zugespitzt – zwischen einem technikoptimistischen Hedonismus und einer technikskeptischen Konsumkritik. Auf Seiten des technikoptimistischen Hedonismus geht man davon aus, dass man mit grünen, das heißt ressourcen-, energie- und schadstoffarmen, Technologien im Großen und Ganzen an den Lebensweisen der westlich modernisierten Gesell-

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schaften festhalten könne. Man möchte keine andere Gesellschaft, sondern dieselbe in grün. Auf der Seite der technikskeptischen Konsumkritik verspricht man sich (und anderen) mehr durch weniger, das heißt mehr Lebensqualität durch weniger materiell bemessenen Wohlstand, mehr Zeit und eine lebenswertere Umwelt durch weniger Verbrauch und reduzierte Bedürfnisse. Einigkeit scheint sich vordergründig einzustellen, wenn man die einen fragt, woher sie ihren Technikoptimismus nehmen, die anderen, woraus sie ihre Hoffnung auf einen kulturellen Wandel speisen – dann hört man nämlich oft dieselbe Antwort: es gebe gar keine Alternative. Die technikoptimistischen Hedonisten, die sich näher am dominierenden Selbstverständnis moderner Gesellschaften bewegen, warnen davor, dass mit riskierten ökologischen Problemen auch moderne Freiheiten und Wohlstand auf dem Spiel stünden. Die technikskeptische Konsumkritik äußert sich aus ihrer kulturellen Minderheitenposition heraus in der Regel defensiver. Sie macht geltend, dass technologische Alternativen allein nicht ausreichen, um Naturverbrauch und Naturzerstörung soweit einzudämmen, wie es für das menschliche Überleben nötig sei. Soziologisch kann nicht im substanziellen Sinne entschieden werden, welches die richtige Position ist. Es kann zunächst festgestellt werden, dass dies der Punkt ist, an dem die Diskussion abgebrochen, die Visiere heruntergeklappt, die Zugbrücke hochgezogen wird. Denn hier werden die Fragen nach gewollten Zwecken und geeigneten Mitteln suspendiert und ersetzt durch Alternativlosigkeit, die sich auf die Behauptung letzter Naturnotwendigkeiten stützt. Aber solche Behauptungen sind im Allgemeinen so plausibel wie sie im Besonderen fragwürdig sind. Plausibel ist, dass die physischen Lebensgrundlagen für Menschen nicht beliebig und unbegrenzt zur Verfügung stehen. Im Besonderen sagt das aber noch wenig. Selbst ein Globalphänomen wie der Klimawandel, um dieses Beispiel noch einmal aufzugreifen, ist zum einen mit Prognoseunsicherheiten behaftet und wirkt sich zum anderen für Menschen sehr unterschiedlich aus. Prognoseunsicherheiten sind kein Grund, nichts zu tun, aber auch keine Basis für Gewissheiten über letzte Naturnotwendigkeiten und entsprechende Alternativlosig-

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keit. Sie sind Grund genug, das Visier offen zu lassen und die sozioökologischen Zusammenhänge weiter zu erkunden; das Zwei-GradZiel als Handlungsorientierung etwa kann sich über die Zeit als tragfähig, überzogen oder zu unambitioniert erweisen. Außerdem sind die Auswirkungen globaler Erwärmung regional sehr unterschiedlich und die Möglichkeiten, darauf zu reagieren, stehen in Abhängigkeit von kulturellen Deutungen und sozial verfügbaren Ressourcen. Auch der Klimawandel gibt also keineswegs konkrete und vorbestimmte Handlungen vor, sondern verweist auf differenzierte Umgangsweisen. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist die Bezugnahme auf alternativlose Naturnotwendigkeit ein Hinweis darauf, dass den jeweiligen Positionierungen letzte Gültigkeit zugesprochen wird. Sie werden damit der Debatte entzogen, was letztlich Handlungsoptionen einschränkt. Neben der Klärung, wie dies geschieht (Rekurs auf letzte Notwendigkeit), ist soziologisch zu fragen, warum das geschieht und welche Mittel-Zweck-Relationen dem zugrunde liegen: Welches sind die angenommenen letzten Zwecke, die nicht aufgegeben werden sollen, etwa weil sie für das soziale Selbstverständnis von großer Bedeutung sind; welches sind die Mittel, an denen unbedingt festgehalten werden soll, zum Beispiel weil sie eigene Interessen privilegieren; welche Handlungsoptionen werden damit aufgegeben – und wie lassen sich möglicherweise neue Handlungsoptionen erschließen? An der Konstellation von technikoptimistischem Hedonismus gegenüber technikskeptischer Konsumkritik ist im Übrigen auch zu sehen, inwiefern in den ökologischen Debatten soziale Fragen im Sinne klassischer Ungleichheitsfragen typischerweise ausgeblendet werden. Wer dieselbe Gesellschaft in grün will, sieht die sozialen Probleme als weniger gravierend an und blickt eher aus einer gesicherten oder privilegierten Position in die soziale Welt. Die anderen suchen ihr Glück in der Nische. Sie halten die Konflikte nicht für relevant, weil es ihnen um ganz anderes geht. Sie haben wenig Sinn für Verteilung und entsprechende Konflikte, weil sie alternative Lebensweisen anstreben, in denen solche Konflikte idealerweise keine besondere Rolle spielen. Damit verschwindet die Dominanz von Macht und Ressourcen in der

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gesellschaftlichen Entwicklung allerdings nicht, sondern dieses Feld wird nur anderen überlassen.1 Mehr noch: Die alternativen NischenEntwicklungen werden gern als Innovationsquelle wissenschaftlichtechnischer wie ökonomischer Entwicklungen genutzt. So verlieren sie leicht ihren alternativen Charakter und beflügeln gegebenenfalls weitere Wachstumsprozesse.2 In der politischen Kommunikation wird vom technikoptimistischen Hedonismus betont, dass man nicht Verzicht fordere, weil das ja abschrecken könnte. Deshalb werden auch kulturellen Ansätzen der Änderung des Handelns in Richtung Suffizienz kaum Erfolgsaussichten eingeräumt. Suffizienz steht hier für Verzicht, was nicht nur als unattraktiv, sondern mehr noch, wenn politisch vertreten, als bevormundend, als Verbot, als Freiheitsbeschränkung wahrgenommen wird. Die Suffizienzvertretenden dagegen stellen lieber den Gewinn an Lebensqualität heraus, der aus suffizienter Lebensweise resultiere. Aber auch wo das für sie zutrifft, lässt sich in pluralen Gesellschaften daraus kein allgemeines Gesetz des besseren Lebens ableiten. Ob man mit weniger

1

In dieser Gegenüberstellung grüner Positionen sind Ähnlichkeiten zur Unterscheidung einer politischen von einer sozialen Linken zu erkennen, wie sie Sennett (2012a) trifft. Sennett selbst sympathisiert mit der sozialen Linken, die einem Bottom-up-Weg gesellschaftlicher Veränderung folgt (im Gegensatz zum Top-down-Ansatz großer politischer Organisationen), und reproduziert damit bis in die sozialwissenschaftlichen Analysen hinein das Problem, wie er im Interview – etwas vage – einräumt: „Ich glaube immer noch an eine Politik von unten, aber ich sehe auch, dass sie wahrscheinlich politisch nicht viel verändern kann“ (Sennett 2012b).

2

Im weiteren Sinne lässt sich hier noch einmal auf Boltanski/Chiapello (2003) verweisen. Aktuelle Beispiele finden sich auch, wenn man die Entwicklungen des Tauschens und Teilens hin zu einer sogenannten „share economy“ beobachtet; vgl. dazu vor allem ökonomische Beispiele bei Denon/Valadon (2013) und wissenschaftlich-technische unter dem Titel „Nutzen ist das neue Haben“ bei der Fraunhofer IAO, http://www.iao. fraunhofer.de, 5.12.2013.

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oder mehr glücklicher wird, ist in vieler Hinsicht Geschmackssache und lässt sich nicht für alle verbindlich festschreiben, ohne tatsächlich zur Freiheitsbeschränkung zu werden. „Small is beautiful?“ Für manche ja, für andere nicht. Gerade weil das Glück nicht am materiellen Wohlstand (allein) hängt, kann auch dessen bloße Reduktion nicht glücklich machen. Der Rekurs darauf, „was wir wirklich brauchen“, macht die Sache nicht besser. Denn diese Frage ist schnell beantwortet, wie schon die Walden-Experimente Thoreaus und nachfolgender Reduktionskünstler zeigen. Für das physische Überleben braucht es letztlich wenig, aber die eigentlich entscheidenden Fragen sind damit eben nicht beantwortet, sondern fangen erst an. Es sind die Fragen nach den Zielen und Zwecken und deren angemessener Umsetzung. Denn die Reduktion ist nur das Mittel, den Blick von vermeintlichen Handlungszwängen und möglicherweise desorientierenden Gewohnheiten lösen zu können. Das verschafft dann die Freiheit, neu über vielleicht wichtigere Ziele nachzudenken, sich neu zu orientieren. Wenn dagegen nur das Wenige statt das Viele gefeiert wird, entzieht sich das genauso den Anforderungen dieser Freiheit. Deshalb ist Suffizienz, Genügsamkeit, nicht als bessere Alternative, als besseres Leben (oder Lebensstil) misszuverstehen. Es handelt sich vielmehr tatsächlich, wie in den Nachhaltigkeitsdebatten zum Teil verhandelt, um eine Strategie, um ein Mittel, nicht einen Zweck.3 So verstanden dient Suffizienz dazu, herauszufinden, was ‚anders‘ und ‚besser‘ zu machen wäre. Ein politisch geeigneter Weg zur Förderung des kulturellen Wandels wird deshalb auch nicht darin liegen, anderen unbedingt das Weniger schmackhaft zu machen, sondern wird es da

3

Die Konsistenzstrategie im Sinne von Hubers (2011) Ökologischer Modernisierung oder auch zugespitzt auf „Intelligente Verschwendung“ (Braungart/McDonough 2013) ist eine andere Strategie in der nachhaltigen Entwicklung. Allerdings wird dabei eine Klärung von Mittel-Zweck-Relationen weitgehend vermieden; die Konsistenzstrategie widmet sich vor allem den technischen Problemen der Annäherung an ein gesetztes Ziel, nämlich der Schließung von Stoffkreisläufen.

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fördern, wo es ansatzweise stattfindet beziehungsweise wo damit experimentiert wird. Und fördern heißt dann vor allem, es nicht zu bestrafen, sondern in der Gesellschaft als gleichberechtigte Option zuzulassen. Dies entspricht den Vorschlägen zur Ermöglichung der „Nulloption“ (Offe 1986) oder der Forderung nach einem „Recht auf Suffizienz“: „Niemand soll immer mehr haben wollen müssen“ (von Winterfeld 2002: 31). Politisch würde es dabei also darum gehen, Handlungshindernisse abzubauen und Lebensexperimente zu ermöglichen, die sich auf Reduktions- beziehungsweise Ausstiegsstrategien einlassen – und auf diese Weise dazu beitragen, neue gesellschaftliche Entwicklungsoptionen hervorzubringen. Die Frage danach, „was man braucht“, ist also zunächst eine Ausschlussmethode, die es ermöglichen kann, sich von Gewohntem, aber möglicherweise Überflüssigem und Hinderlichem zu distanzieren. Sie kann darüber hinaus interessant werden, wenn sie dann gewissermaßen nach vorn gewendet wird, sich also auf die Suche nach neuen, besseren Zwecken richtet – was man stattdessen braucht. Die Frage nach dem „Brauchen“ kann dabei vor Beliebigkeit und Willkür bewahren, ist aber doch weiter zu verstehen als eine des Wollens, des Erkundens, des Gestaltens, der Möglichkeiten: welche Ziele, welcher Wohlstand, welche Freiheit, welche gesellschaftliche Teilhabe und -nahme, welche sozioökologischen Lebensformen? Technologische Fragen orientieren sich dann nicht an Machbarkeit, wie in den Debatten zu ökologischen Innovationen dominierend, aber auch nicht nur an Reduktion. Technologien sind daraufhin zu prüfen, wie sie eingesetzt werden, welche Zugangsmöglichkeiten sie für wen bieten oder ernötigen, welche Privilegien, Abhängigkeiten, Optionen, Freiheiten sie eröffnen oder verschließen, inwiefern und durch wen sie sozial zu kontrollieren sind. Ob Stromerzeugung bei drastisch vermindertem CO2-Ausstoß technisch möglich ist, ist eine Frage, die aber sozial nie neutral bleibt, weil sich mit veränderten technischen Lösungen die Zugänglichkeit und deren ‚Kosten‘ ebenfalls verändern. Ob Energieversorgung von Bürgerinnen und Bürgern selbst in die Hand genommen, staatlicher Verwaltung oder großen gewinnorientierten Un-

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ternehmen überlassen wird, ergibt unterschiedliche Interessenkonstellationen und damit auch andere Umgangsweisen mit Energie. Zu einfach wäre es, dies allein als Ungleichheits- und Verteilungsfrage (Gewinner und Verlierer) zu betrachten. Obwohl dies nicht unwichtig ist, wie die aktuellen Diskussionen um Strompreise und die relativ höhere Kostenbelastung ärmerer Haushalte zeigt. Die sozialen Konsequenzen von Technologien gehen aber darin nicht auf. Auch wenn alle kostenlos Strom beziehen könnten und (theoretisch) alle Folgekosten einkommens- und vermögensgerecht verteilt werden könnten, bliebe eine Gesellschaft, die ihre Energie vor allem atomar erzeugt eine andere als eine solare, weil die Technologie selbst eigene Anforderungen an Infrastruktur, Arbeitsteilung, Sicherungen und Umweltgestaltung stellt; wobei diese Unterscheidung noch zu grob ist, weil auch solare Energieversorgung zentralistisch in großem Stil oder lokal realisiert werden kann. Zudem ist zu fragen, was eine gerechte Kostenverteilung im Katastrophenfall überhaupt sein soll, sei es bei einem atomaren GAU, im Hinblick auf Klimawandel oder andere Phänomene. Bei ökologischen Problemen können ‚Kosten‘ entstehen, die nicht ausgeglichen werden können. Verluste von Menschenleben oder gesundheitliche Beeinträchtigungen, ausgestorbene Arten, unwiederbringlich zerstörte Habitate oder verbrauchte Ressourcen gehören dazu. Doch geht es auch nicht nur darum, ob bestimmte (technologische) Möglichkeiten überhaupt genutzt werden oder aufgrund ihrer Implikationen ganz gemieden werden sollten. Vielmehr muss im Mittelpunkt stehen, wie Mittel-ZweckRelationen verbessert werden können – Entweder-oder-Entscheidungen kann es dabei zweifellos geben (Stichwort Atomausstieg), im Übrigen wird aber zu klären sein, wie alternative Möglichkeiten abzuwägen und abzustimmen sind. Auch moderne Mobilitätsoptionen und Kommunikationsmöglichkeiten lassen sich hinterfragen – sind sie alle sinnvoll und wünschenswert, wenn man ihre Konsequenzen mit bedenkt? Trotzdem wird letztlich eher im Vordergrund stehen, wie sich Mobilität und Kommunikation realisieren lassen und nicht ob.

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Z UR D EMOKRATISIERUNG SOZIOÖKOLOGISCHER A LTERNATIVEN Technologische Veränderungen und ein Wandel des gesellschaftlichen Lebens gehen Hand in Hand. Deshalb sind sozioökologische Zukunftsaufgaben, wie etwa die Energiewende, immer auch als Demokratisierungsaufgaben aufzufassen, in denen auf breiter und heterogener Beteiligungsbasis herausgefunden wird, was (Zwecke) wie (Mittel) zu erreichen ist beziehungsweise erreicht werden soll und welche Konsequenzen von wem getragen werden müssen. Hier sind von Beginn an auch Fragen ungleicher Verteilung von größter Wichtigkeit, weil man nicht davon ausgehen kann, dass bei den angestrebten Lösungen alle immer und gleichermaßen gewinnen. Verteilung ist dann nicht das primäre Problem, aber ein notwendiges, abgeleitetes Beteiligungsproblem. Demokratisierung hat in den Ausführungen eine umfassendere Bedeutung angenommen, weil sie auch meint, die ‚natürliche Umwelt‘ besser zu repräsentieren – siehe die Ausführungen zur materiellen Kultur und zur politischen Ökologie („Parlament der Dinge“), die in dieser Richtung wichtige Anregungen liefern. Repräsentieren ist hier nicht in bloß additivem Sinne gemeint (one man one vote). Pointiert meint sie einen Sinn dafür und die Berücksichtigung davon, dass sich alles ändert, wenn sich etwas ändert. Es bezeichnet nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität von Beteiligung. Für entsprechende Analysen wurde eine prozedurale Perspektive auf nachhaltige Entwicklung vorgeschlagen und diskutiert. Auch wenn Wachstumskritik im vorgestellten Sinne nicht dazu führt, nur gegenteilig auf Reduktion und Weniger zu setzen, so werden zu alternativen sozioökologischen Entwicklungen doch in mancher Hinsicht Strategien der Selbstbegrenzung gehören. Begreift man diese als modern-aufklärerisches Anliegen, dann wird sie dort ins Spiel kommen, wo sie Freiheitsgewinne und Selbstbestimmung in Aussicht stellen kann. Auch Strategien des Kontrollgewinns durch Anerkennung von Kontrollgrenzen gehören in diesen Zusammenhang. Denn Einflussmöglichkeiten auf Entwicklungsdynamiken schwinden nicht zu-

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letzt dann, wenn uneinlösbare Beherrschungsansprüche durch eine immer stärkere Forcierung immer weiterer Beherrschungsversuche aufrechterhalten werden müssen. Gerade dadurch gehen die Möglichkeiten verloren, auf Veränderungen zu reagieren und Korrekturen vorzunehmen. Das Problem einer Selbstbegrenzung im modern-aufklärerischen Sinne liegt freilich auf der Hand: Im Grunde braucht man schon ein hohes Maß an Selbstkontrolle, um sich diese verschaffen zu können – hier dürfte eine zentrale Schwierigkeit liegen, aus destruktiven Wachstumsdynamiken ‚auszusteigen‘. Die Aufgaben einer sich von ökologischer Wachstumskritik inspirieren lassenden Sozialwissenschaft, wie sie hier herausgearbeitet wurden, lassen sich nun zusammenfassen. Für ihre Bearbeitung eignet sich insbesondere eine prozedurale Analyseperspektive, die deshalb im vorliegenden Text vertreten und diskutiert wurde. Die zentralen Aufgaben liegen allgemein formuliert darin: •





Mittel-Zweck-Relationen zu rekonstruieren und zur Aufklärung darüber beizutragen: in Industrialisierungsprozessen, im Konsum und in modernen Gesellschaften insgesamt ihr Zustandekommen zu analysieren: im Hinblick auf die Verfahrensweisen und die Beteiligungen daran beziehungsweise die Ausschlüsse davon sowie deren Ursachen und Folgen (Deutungsblockaden, Interessenkonstellationen, Macht- und Ressourcenungleichgewichte, Abhängigkeiten) Vorschläge zur Demokratisierung von Zielfindungen und geeigneten Zweck-Mittel-Relationen zu entwickeln (wer/was kann wie berücksichtigt werden).

Es wäre von beiderseitigem Nutzen, wenn sich die (universitäre) Soziologie stärker an den Nachhaltigkeitsdebatten beteiligen würde. Für die Soziologie müsste es im eigenen Interesse liegen, Fragen nach gesellschaftlicher Selbstgefährdung und nach sozioökologischen Alternativen zu einem zentralen Forschungsfeld des Fachs zu machen. Zugleich würden die Nachhaltigkeitsdebatten durch soziologische Expertise

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zweifellos gewinnen, das gilt für die Bearbeitung von Einzelproblemen ebenso wie für die Einbindung von Entwicklungsoptionen und -strategien in Erkenntnisse über gesellschaftliche Zusammenhänge und Dynamiken, wie sie nur durch soziologische Analyse zu gewinnen ist.

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