Medizin in Wien nach 1945: Strukturen, Aushandlungsprozesse, Reflexionen [1 ed.] 9783737013932, 9783847113935, 0001050262


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Medizin in Wien nach 1945: Strukturen, Aushandlungsprozesse, Reflexionen [1 ed.]
 9783737013932, 9783847113935, 0001050262

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© 2022 V&R unipress | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783847113935 – ISBN E-Lib: 9783737013932

650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert

Band 6

Hrsg. von Friedrich Stadler im Namen der »Universitären Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte, insbesondere im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums« und des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien« (Katharina Kniefacz und Herbert Posch) International Scientific Board: Walter Rüegg † (Universität Bern), Ehrenvorsitz; Gary B. Cohen (University of Minnesota); Pieter Dhondt (University of Eastern Finland); Mordechai Feingold (California Institute of Technology); Tibor Frank (Eötvös-Loránd-Universität Budapest); Maria Carla Galavotti (Universität Bologna); Michael Grüttner (Technische Universität Berlin); Konrad H. Jarausch (University of North Carolina); Trude Maurer (Universität Göttingen); Brigitte Mazohl (Universität Innsbruck); Sylvia Paletschek (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg); Ada Pellert (Deutsche Universität für Weiterbildung Berlin); Jirˇí Pesˇek (Karls-Universität Prag); Sheldon Rothblatt (University of California); Rudolf Stichweh (Universität Luzern/ Universität Bonn); Sonˇa Sˇtrbán´ová (Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik); László Szögi (Eötvös-Loránd-Universität Budapest); Heinz-Elmar Tenorth (Humboldt Universität Berlin)

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

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Birgit Nemec / Hans-Georg Hofer / Felicitas Seebacher / Wolfgang Schütz (Hg.)

Medizin in Wien nach 1945 Strukturen, Aushandlungsprozesse, Reflexionen

Mit Vorworten von em. o. Univ.-Prof. Dr. med. FRC Path. Helmut Denk (Altpräsident der ÖAW), Univ.-Prof. Dr. Heinz W. Engl (Rektor der Universität Wien) und Univ.-Prof. Dr. Markus Müller (Rektor der MedUni Wien) Mit 55 Abbildungen

V&R unipress Vienna University Press

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Dieser Band ist ein Projekt der Arbeitsgruppe Geschichte der Medizin und Medical Humanities, Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Kooperation mit der Medizinischen Universität Wien. Er wurde mit finanzieller Unterstützung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften), der Medizinischen Universität Wien, der Charité Universita¨tsmedizin Berlin und dem BMBF (Förderkennzeichen 01UL1907X) realisiert. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Wo nicht anders angegeben, ist diese Publikation unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitungen 4.0 lizenziert (siehe https://creative commons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/) und unter dem DOI 10.14220/9783737013932 abzurufen. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Allgemeines Krankenhaus Wien, Planungs- und Errichtungs-Aktiengesellschaft, Der Neubau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses, Juli 1978. Sammlung: Josephinum – Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, MedUni Wien, Signatur: MUW-DG-000105-0262-0003. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1393-2

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Inhalt

Geleitwort des Altpräsidenten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Geleitwort des Rektors der Universität Wien und des Rektors der Medizinischen Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Birgit Nemec / Hans-Georg Hofer / Felicitas Seebacher / Wolfgang Schütz Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

1. Universitätspolitische Kontinuitäten und Brüche Barbara Sauer / Ilse Reiter-Zatloukal Remigration nach Österreich ab Mai 1945 – Rahmenbedingungen und Karriereverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Herwig Czech Die Entnazifizierung der Wiener Medizinischen Fakultät im Kontext der österreichischen Medizin – zwischen personellen Kontinuitäten, konservativer Elitenrestauration und demokratischem Neubeginn . . . .

47

Jakob Lehne „Ein deplorabler Zustand“? – Das Wiener Institut für Geschichte der Medizin in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Linda Erker Ein Herr Karl im Ärztekittel. Der Chirurg Leopold Schönbauer und das Nachwirken des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

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6

Inhalt

Johannes Miholic Die Besetzung der II. Chirurgischen Lehrkanzel an der Universität Wien 1953 bis 1957. Ein beispielhaftes Berufungsverfahren im Kontext lokaler Kontinuitäten und Umbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Wolfgang Schütz / Markus Grimm Die Wiener Medizin in den jeweiligen Universitätsgesetzen bis zum Übergang von Medizinischen Fakultäten zu eigenen Universitäten . . . . 127

2. Strukturwandel in Lehre, Forschung und Praxisfeldern Daniela Angetter-Pfeiffer / Franz Kainberger Die Reform der ärztlichen Ausbildung von einem fächerorientierten zu einem integrierten Medizincurriculum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Wolfgang Schütz / Markus Müller Forschung – der mühsame Weg zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Tobias Reisch / Marcia R. Ferreira / Stefan Thurner Publikationstätigkeit und Rezeption der Wiener universitären Medizin im internationalen Kontext. Eine scientometrische Darstellung 1930 bis 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Katrin Pilz Anatomie – Animation – Audiovision: Medizinische Lehrfilme und die staatlichen Wissenschaftsfilminstitute 1945 bis 1970 . . . . . . . . . . . . 213 Daniela Angetter / Franz Kainberger Die Geschichte der Bildgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Carlos Watzka Labile Netzwerke und marginale Strukturen? Zur allmählichen Professionalisierung der Psychotherapie in Österreich und ihrer Verselbstständigung gegenüber der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Hannah Riedl / Thomas Stegemann „Wien, mit Medizin und Musik durch alte Tradition aufs engste verbunden …“ – Institutionalisierungsprozesse der Wiener Schule der Musiktherapie ab 1959 und die Bedeutung der Wiener Klinikvorstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

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7

Inhalt

3. Aushandlungsprozesse und soziale Bewegungen Michael Memmer Der Diskurs um die Impfpflicht – eine rechtshistorische Analyse . . . . . 303 Susanne Krejsa MacManus Medizin und der verbotene Schwangerschaftsabbruch in Österreich: 1945 bis 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Josef Hlade Die Beteiligung von ÄrztInnen an der Anti-AKW Bewegung. Vom Ärzte-Memorandum betreffend die Errichtung von Kernspaltungskraftwerken (1969) zur Aktion „Vorarlberger Ärzte gegen AKW“ (1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Elisabeth Seidl / Ilsemarie Walter Der lange Weg zur Etablierung der Pflegewissenschaft an österreichischen Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Marina Hilber Ein unerwarteter Erfolg? Die Geschichte der Poliomyelitis-Schutzimpfungen in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Thomas Rehor „Gegen das Sterben vor der Zeit“ – Die Gesundheitspolitik in der Ära Kreisky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

4. Lokale und globale Wissenstransfers Afsaneh Gächter Transnationale Bildungsräume der Pathologie: Das Wirken von Werner Dutz und Elfriede Dutz-Kohout an den Universitäten in Nordamerika, Iran und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Florian Bayer Die Etablierung der Wiener Nuklearmedizin im Kontext des Ost-West-Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Andrea Korenjak Musik, Medizin und Therapie in Wien um 1958: Internationale Beziehungen und Wissenstransfer zwischen Wien und den USA

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. . . . . 467

8

Inhalt

Franz Xaver Lackner The American Medical Association/Society of Vienna

. . . . . . . . . . . 491

Patrizia Giampieri-Deutsch Entwicklung der therapeutischen Beziehung in der Psychoanalyse und der Psychotherapie und ihre Auswirkungen auf die Medizin in Wien und in der Emigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Ina Friedmann „[…] wo nun auch in Salzburg, in Niederösterreich, in der Steiermark Ärzte aus meiner Schule und seit 1958 in Tirol ich selber diese Arbeit leisten“. Wien als Ausgangspunkt der österreichischen Nachkriegsheilpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Herbert Budka Von Kannibalen und wahnsinnigen Rindern. Erinnerungen an den österreichischen Beitrag zur Prionenforschung . . . . . . . . . . . . . . . 557

5. Ethik und Recht Christiane Druml Die Entwicklung ethischer Leitlinien für medizinisches Handeln seit dem Nürnberger Kodex, einschließlich der historischen Entwicklung von Ethikkommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Ulrich H.J. Körtner Das Wiener Institut für Ethik und Recht in der Medizin – Geschichte, Forschungsschwerpunkte und Vernetzungen . . . . . . . . . 591 Georg Psota / Simon Grisold Geschichte der Psychiatrie in Wien unter dem Aspekt medizinischer Ethik (Teil 1): Viele Wege zur Psychiatriereform . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Georg Psota / Susanne Schütt Geschichte der Psychiatrie in Wien unter dem Aspekt medizinischer Ethik (Teil 2): Viele Wege nach der Psychiatriereform . . . . . . . . . . . . . . 631 Henriette Löffler-Stastka / Karl Krajic Freiheit und Verantwortung? Arzt-Patient-Beziehungen im Spannungsfeld von technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen und persönlichen Bedürfnissen – Teil 1 . . . . . . . . . . 645

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9

Inhalt

Andreas Ronge Freiheit und Verantwortung? Arzt-Patient-Beziehungen im Spannungsfeld von technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen und persönlichen Bedürfnissen – Teil 2: eine ExpertInnen-Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669

6. Rezeptionen und Reflexionen David Freis Medizin und Gesundheit 2000: Die Zukunft der Medizin im Wien der späten 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 Georg Vasold „Sanierung von Gesellschaft und Stadt“. Die Siedlung Siemensstraße und Hans Strotzkas Studie zum gesunden Wohnen im Wien der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 Julia Rüdiger Zwischen ästhetischem Pragmatismus und moderner Funktionalität. Der Neubau des AKH in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 Gabriele Melischek Die Medizin in den Schlagzeilen der Kronen Zeitung 1959 bis 2019 . . . . 751 Tomoyo Kaba Die Bühnenrezeption von Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi in Wien 1965 bis 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 Barbara Graf Schneiden, Zerlegen, Zusammenfügen – Anatomische Gewänder: Eine Verortung aus künstlerischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809

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Geleitwort des Altpräsidenten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

„Die Wissenschaft des Menschen wurzelt in der Naturforschung“: Diese Feststellung Carl von Rokitanskys (1804–1874) ist nach wie vor ein aktuelles Motto der modernen Medizin. Viele Ereignisse haben mit ihren Höhen und Tiefen im Laufe der Zeit ihre Spuren in der Wiener (aber auch gesamtösterreichischen) Medizin hinterlassen. Die Beiträge in diesem Sammelband Medizin in Wien nach 1945. Strukturen, Transformationen, Reflexionen beleuchten die Entwicklungen und Transformationen der Wiener klinischen und wissenschaftlichen Medizin als Reaktion auf die vielfältigen Veränderungen und Herausforderungen in den Jahren vom Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 bis zur Gründung der Medizinischen Universität im Jahre 2004. Dieser Zeitraum war bisher nur bruchstückhaft und lokal fokussiert bearbeitet worden, der internationale Kontext fand wenig Beachtung. Das vorliegende Werk schließt diese Lücke. Um der Vielfalt der Thematik und den unterschiedlichen Betrachtungsweisen gerecht zu werden, konnten die Herausgeber Beiträge von zahlreichen Expertinnen und Experten aus den Bereichen der Medizin, der historischen Wissenschaften, Ethik, Soziologie, Kunstund Literaturwissenschaft gewinnen. Wichtige Themen betreffen die Folgen des Nationalsozialismus auf ethischem und personellem Gebiet und den Versuch der Bewältigung dieser „Altlast“ in allen Gesellschaftsbereichen sowie die Auswirkungen universitätspolitischer Maßnahmen mit Änderungen in der Universitätsorganisation, Errichtung der Medizinischen Universitäten sowie Reform des Medizincurriculums und der Lehrinhalte. Dadurch wurden die durch die Kriegs-und Nachkriegswirren gestörte Infrastruktur und der beträchtliche „intellektuelle Aderlass“ infolge der Vertreibung von Wissenschaftlern überbrückt, und die Modernisierung der Forschungspraxis und des klinischen Alltags wurde wesentlich vorangetrieben. Die Etablierung nationaler und internationaler Stipendienprogramme und der zunehmende Einsatz moderner Kommunikationsmittel erleichterten den Anschluss an die internationale Spitzenforschung und die Einbindung in internationale Forschungsnetzwerke. Daraus resultierte ein kontinuierlicher Wissens-

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Helmut Denk

zuwachs auf diagnostischen und therapeutischen Gebieten einzelner medizinischer Disziplinen. Den aufkommenden Liberalisierungstendenzen, getragen von diversen sozialen Bewegungen, folgte ein gesellschaftlicher Wertewandel, der auch in der Medizin seinen Niederschlag fand. Zusätzlich werden die in Wien traditionellen Beziehungen zwischen Medizin und Kunst und deren künstlerische und literarische Darstellungsformen sowie die Rezeption medizinischer Belange in den Medien besprochen und evaluiert. Im vorliegenden Werk ist es Herausgeber- und Autorenschaft in beeindruckender Weise gelungen, die vielfältigen Aspekte der Entwicklung der Wiener Medizin im Zeitraum von 1945 bis 2004 übersichtlich und lebendig darzustellen und aus Einzelbefunden ein informatives Ganzes zu schaffen. Helmut Denk Präsident der ÖAW von 2009 bis 2013 Obmann der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der ÖAW

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Geleitwort des Rektors der Universität Wien und des Rektors der Medizinischen Universität Wien

Nach Jahrzehnten, die von zerfallender Monarchie, Erstem Weltkrieg, Erster Republik, Ständestaat (Dollfuß/Schuschnigg-Regime) und Nationalsozialismus geprägt waren, lag die Wiener Medizin am Ende des Zweiten Weltkrieges am Boden. Auch die Chance eines Neuanfangs ließ man verstreichen. Denn den rückkehrwilligen Vertriebenen wurde die Remigration schwergemacht, und Entnazifizierungsverfahren verliefen derart glimpflich, dass ehemalige Nazis höchste akademische Ämter erlangten. Letztlich ist es Wien aber doch gelungen, eines der weltweit erfolgreichsten Gesundheitssysteme aufzubauen und in der medizinischen Forschung zumindest in einigen Bereichen wieder eine Spitzenstellung zu erlangen. Der Grund dafür liegt in den nach 1945 durchgehend herrschenden demokratischen Strukturen der Zweiten Republik und der damit einhergehenden offenen Gesellschaft im Sinne Karl Poppers. Die Einzelheiten und Facetten dieses Gelingens fasst der vorliegende Band nun erstmalig zusammen: seien es, einerseits, der Strukturwandel in Lehre und Forschung, die Entwicklung ethischer Leitlinien, der Wandel in der Arzt-Patienten-Beziehung sowie die Rückwirkung sozialer Bewegungen auf die Medizin (wie Schwangerschaftsabbruch, Mutter-Kind-Pass, Psychiatriereform, Akademisierung der Pflege); seien es, andererseits, aber auch die Reflexionen der Medizin auf andere Bereiche (Architektur, Literatur, Musik, visuelle Kunst). Gerade jene Phase der medizinischen Wissenschaft in den 1950er bis 1990er Jahren, die generell für die Wissenschaft eine hohe Prägekraft aufweist, ihre Netzwerke und Strukturen, wurden einer eingehenden Analyse unterzogen. Der untersuchte Zeitraum endet, wenn auch nicht abrupt, mit dem Jahr 2004, dem Jahr der Ausgliederung der Medizinischen Fakultät aus dem Verband der Universität Wien, aber auch dem Jahr der Ausgliederung der öffentlichen Universitäten aus der Bundeshoheit und der gleichzeitigen Errichtung eigener Medizinischer Universitäten mit voller Rechtsfähigkeit. Diese Zeit nach 2004 bis heute wurde bewusst für eigene, noch zu erstellende Abhandlungen sowohl der Universität Wien als auch der Medizinischen Universität Wien offengelassen.

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Heinz W. Engl / Markus Müller

In diesem Sinne danken die beiden Universitäten der ÖAW-Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften für diesen interdisziplinären Überblick zur Geschichte der vormaligen Medizinischen Fakultät der Universität Wien, die nicht nur durch diesen Sammelband repräsentiert wird, sondern auch durch das bereits 2018 erschienene Vorgängerwerk Strukturen und Vernetzung. Medizin und Wissenschaft in Wien 1848–1955. Heinz W. Engl Rektor der Universität Wien

Markus Müller Rektor der Medizinischen Universität Wien

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Birgit Nemec / Hans-Georg Hofer / Felicitas Seebacher / Wolfgang Schütz

Einleitung

Die wissenschaftlichen, politisch-rechtlichen, sozioökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen und internationalen Netzwerke der Universität Wien von 1848 bis zur Gegenwart liegen als Sammelband II der Serie 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch in das neue Jahrhundert vor.1 Für den Bereich der Medizin und medizinischen Wissenschaft in Wien wurden die Strukturen und Netzwerke im Sammelband V dieser Serie beschrieben, die Studien enden aber mit dem Staatsvertragsjahr 1955.2 Der noch fehlende Zeitraum vom Beginn der Zweiten Republik bis zur Gegenwart ist für die Medizin in Wien bisher nur bruchstückhaft erforscht, und wenn, dann vielfach lokal fokussiert. Es fehlt die exemplarische Analyse von lokalen Entwicklungen unter Berücksichtigung größerer, auch internationaler Kontexte, unter Einbezug interdisziplinärer Ansätze und vielfältiger theoretischmethodischer Herangehensweisen. Hier setzt der vorliegende Band an. Die Wiener Medizin, von schweren Belastungen aus der NS-Zeit geprägt, durchlief in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso tiefgreifende wie komplexe Wandlungsprozesse. Hierzu trugen neben wissenschaftlichen und technologischen Innovationen auch politische Strukturveränderungen, Aushandlungsprozesse zwischen AkteurInnen sowie sozioökonomische, rechtliche und kulturelle Einflüsse und Reflexionen bei. Die exemplarische Analyse dieser Entwicklungen steht im Mittelpunkt dieses Bandes, der den Fokus breit öffnen, eine Vielzahl von Themenfeldern in den Blick nehmen und eine erste Kartierungsleistung vollbringen möchte: Er versammelt hierzu über 40 Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen, insbesondere aus Medizin, Medizingeschichte, Zeitgeschichte, Architekturgeschichte, Film- und Mediengeschichte, Rechtsgeschichte, Ethik und Medizinethik, Philosophie, Psychiatrie, Psychothe-

1 Mitchell Ash/Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft (650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 2), Göttingen: V&R unipress 2015. 2 Daniela Angetter u. a. (Hg.), Strukturen und Vernetzung. Medizin und Wissenschaft in Wien 1848–1955 (650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 5), Göttingen: V&R University Press 2018.

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Birgit Nemec / Hans-Georg Hofer / Felicitas Seebacher / Wolfgang Schütz

rapie, Pflegewissenschaften, Soziologie, Musikwissenschaft und Literaturwissenschaft. Als Zeitraum der Untersuchung wurde das Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gründung der Medizinischen Universität Wien im Jahre 2004 gewählt. Die Begrenzung des untersuchten Zeitraums mit 2004 ist damit begründet, dass einerseits die Medizin ab diesem Zeitpunkt nicht mehr der Universität Wien angehörte, andererseits die Universitätslandschaft in Österreich mit dem in diesem Jahr in Kraft getretenen Universitätsgesetz 2002 (UG) einen radikalen Bruch zu den Jahrzehnten davor erfuhr,3 dessen Einfluss auf die Medizin und medizinische Wissenschaft einer eigenen Abhandlung bedarf. Daher werden die Gründe und Entwicklungen, die – im Zusammenhang mit dem UG – in der Ausgliederung der Universitäten aus der Bundeshoheit und der damit unmittelbar zusammenhängenden Gründung eigener Medizinischer Universitäten resultierten, in diesem Projekt noch als letzter und wesentlicher Veränderungsprozess im Hinblick auf die hiesige medizinische Forschungslandschaft behandelt. Untersuchungszeitraum und Anlage des Bandes legen es nahe, Perspektivierungen der neueren Zeitgeschichtsforschung aufzugreifen und mit spezifischen Fragestellungen und Herangehensweisen der Geschichte und Ethik der Medizin zu kombinieren.4 In den Jahrzehnten nach 1945 (und insbesondere nach 1955) konnten sich in Wien Medizin und medizinische Wissenschaft, ungeachtet der geografischen Lage an der Block-Grenze des globalen Kalten Krieges, unter vergleichsweise stabilen politischen Verhältnissen entwickeln. Zudem standen sie unter dem Einfluss einer demokratischen, zunehmend offeneren und kritischeren Gesellschaft, die eine Reflexion von Wertehaltungen und Normen (etwa bezogen auf Geschlecht oder auf Normen in der Forschungsethik) sowie von gewachsenen Strukturen und Praktiken forderte. Gleichzeitig zeigten sich auch in der Medizin neue, dynamische Wissens- und Handlungsfelder, nicht zuletzt durch internationale Vernetzungen und Transfers, die neben der Mobilität von Menschen und dem Transfer von Wissen und Praktiken eine Vielzahl von diagnostisch-therapeutischen Innovationen ermöglichten. Die 1959 in Wien unter den Auspizien des Council for International Organizations of Medical Sciences 3 Sigurd Höllinger/Stefan Titscher (Hg.), Die österreichische Universitätsreform: zur Implementierung des Universitätsgesetzes 2002, Wien: WUV Universitätsverlag 2003. 4 Marcus Gräser/Dirk Rupnow (Hg.), Österreichische Zeitgeschichte – Zeitgeschichte in Österreich. Eine Standortbestimmung in Zeiten des Umbruchs (Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek 41), Wien: Böhlau 2021. Zu den Herausforderungen der Zeitgeschichte der Medizin vgl. etwa Virgina Berridge, Contemporary History of Medicine and Health, in: Mark Jackson (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Medicine, Oxford: Oxford UP 2011, 117–132; Thomas Schlich, Zeitgeschichte der Medizin: Herangehensweisen und Probleme, in: Medizinhistorisches Journal 42 (2007), 269–298.

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Einleitung

(CIOMS) abgehaltene Konferenz zur Theorie und Praxis kontrollierter klinischer Studien verdeutlicht, dass hier neue (vor allem britische) Forschungsansätze verhandelt wurden und der Stadt die Rückkehr in internationale medizinischwissenschaftliche Netzwerke gelungen war.5 Die Geschichte der Medizin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist auch eine Erfolgsgeschichte, die in die unmittelbare Gegenwart führt. Diese Entwicklungslinien nicht für selbstverständlich zu nehmen, sondern historisch genau zu rekonstruieren und zu kontextualisieren, ihren Ausprägungen und Spezifika nachzugehen, markiert eine der aktuellen Herausforderungen der österreichischen Medizingeschichte. Vor diesem Hintergrund möchte sich dieser Band der Geschichte der Wiener Medizin seit 1945 aus einer doppelten Perspektive annähern: aus einer Nachgeschichte des Nationalsozialismus, die zugleich eine Vorgeschichte des Heute ist. Medizin und medizinische Wissenschaft waren, nicht zuletzt durch das moralische Trauma, das der Krieg und die nationalsozialistische Diktatur hinterlassen hatten, in zunehmendem Maße zur Selbstreflexion ihres Handelns und ihrer Ergebnisse angehalten. Zudem unterlagen sie nach einer goldenen Ära des Wachstums und dem „Ende der Zuversicht“, der ökonomischen Stagnation in den 1970er Jahren, nicht nur tiefgreifenden Aushandlungsprozessen von Wissen und Werten, sondern auch markanten strukturellen Transformationen.6 Zentrale Fragen zu Kontinuitäten, Brüchen und Transformationen der medizinischen Praxis und Forschungslandschaft in Wien nach Ende der NS-Zeit sowie zu den vielfältigen, sich aus den eben angesprochenen Wechselverhältnissen mit Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Kultur ergebenden Veränderungsprozessen sind bislang unbeantwortet geblieben. Davon ausgehend ergeben sich folgende übergeordnete Forschungsfragen: – Wie wurde mit den Folgen des Nationalsozialismus sowie der inkonsequenten „Entnazifizierung“ nach dem Kriegsende umgegangen? Inwiefern, wie lange und in welcher Intensität wirkten diese „Altlasten“ fort7, in lokalen medizinischen Mentalitäten, Forschungspraktiken und fakultätspolitischen Handlungsroutinen, aber auch in Hinblick auf die (nach 1945 nur sehr zögerlich wiederaufgenommenen) Verbindungen zu den Überlebenden und Vertrie5 Sheila M. Bird, The 1959 Meeting in Vienna on Controlled Clinical Trials – A Methodological Landmark, in: Journal of the Royal Society of Medicine 108 (2014), 372–375. 6 Frank Bo¨ sch, Umbrüche in die Gegenwart, in: Zeithistorische Forschungen 9 (2012) 1, 8–32; Anselm Do¨ ring-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom: Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen: V&R 2008; Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen: V&R 2008; Max Stadler/Nils Güttler/Niki Rhyner (Hg.), Gegen|Wissen, Zürich: Intercom Verlag 2020, I–V; Nils Güttler/Margarete Pratschke/ Max Stadler (Hg.), Wissen, ca. 1980 (Nach Feierabend: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 12), Zürich–Berlin: Diaphanes 2016. 7 Maria Grandner u. a. (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955 (Querschnitte 19), Wien–Innsbruck–Bozen: Studienverlag 2005.

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benen des NS-Regimes, in Hinblick auf den Neuaufbau von internationalen Kooperationen? Wie ist es der Wiener Medizin in den Nachkriegsjahrzehnten letztlich gelungen, trotz fehlender Infrastruktur und trotz der Vertriebenen aus medizinischer Wissenschaft und Ärzteschaft und – noch bis in die späten 1980er Jahre – nur wenig kompetitiver Forschung ein erfolgreiches Gesundheitssystem aufzubauen und in einigen Bereichen wieder in die internationale Spitzenforschung eingebunden zu sein? Welche Auswirkungen hatte der tiefgreifende gesellschaftliche Wandel in der Zweiten Republik, verbunden mit Kritik und dem Wunsch nach Partizipation an öffentlichen Institutionen und Leistungen, auf Medizin und medizinische Wissenschaft nach 1945? Welche Ausprägung hatten die international zu beobachtenden Liberalisierungstendenzen in den 1960er und 1970er Jahren, getragen von neuen sozialen Bewegungen (wie z. B. Frauenbewegung, Aktionskomitee zur Abschaffung des § 144, Psychiatriereform), in Aushandlungsprozessen? Welche Rolle spielte die weltweite Umweltbewegung? Inwiefern wurde bei den Entwicklungen in den einzelnen Bereichen von Medizin und medizinischer Wissenschaft in Wien auf lokale Strukturen und Traditionen zurückgegriffen, inwiefern auf internationale Modelle? Welche Rolle spielten Netzwerke, die Wien mit anderen Zentren der Forschung und medizinischen Praxis verbanden? Wie waren Entwicklungen in ethisch stark umstrittenen medizinischen Bereichen von den Strukturen in einem politisch in zwei Lager geteilten, katholischen Land geprägt? Welche Rolle nahmen öffentliche Debatten in Österreich sowie internationale Richtlinien und Tendenzen dabei ein?8 Warum wurde die Akademisierung der Pflege so lange vernachlässigt? Wie wurden medizinische Praxis und Wissenschaft in künstlerischen und literarischen Darstellungsformen reflektiert, popularisiert oder kritisiert? In welchem produktiven Wechselverhältnis standen die Bereiche, etwa im Fall der Neu-Etablierung der Kunsttherapie?

Der vorliegende Sammelband kann nur ein exemplarisches Bild der vielen hier genannten Facetten der Entwicklung der Wiener Medizin in den Jahren 1945 bis 2004 bieten. Themen wie In-vitro-Fertilisation, Sterbebegleitung oder Patientenverfügung bleiben hier noch weitgehend unberücksichtigt.

8 Maria Mesner, Geburten/Kontrolle – Reproduktionspolitik im 20. Jahrhundert, Wien: Böhlau 2010.

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Einleitung

Zur Operationalisierung und Gliederung des Bandes (1) Universitätspolitische Kontinuitäten und Brüche: Das erste Kapitel widmet sich zunächst den Belastungen und Nachwirkungen der NS-Zeit.9 Angesichts einer weitgehend nicht stattgefundenen Remigration und lascher Entnazifizierungsverfahren, beides eingehend erörtert, stand die schwierige Neupositionierung der Wiener Medizin im Fokus der Forschung. Beispielhaft erläutert wird dies anhand eines klinischen Berufungsverfahrens und der Nachkriegsgeschichte des Instituts für Geschichte der Medizin. Untersucht werden hierbei auch die jeweiligen Einflussnahmen personeller Netzwerke, informeller Beziehungen und politischer Schirmherrschaften. Gegen hartnäckige restaurative Tendenzen und wirksam arrangierte Narrative der Selbstentlastung setzten sich Erneuerungsbestrebungen und Neuaufbrüche nur langsam durch. Die biografische Fallstudie zu Leopold Schönbauer zeigt dies wie unter einem Brennglas. Erstmals beschrieben sind die Kontinuitäten und Brüche der Universitätsmedizin in den diversen Universitätsgesetzen bis zum derzeitigen Universitätsgesetz 2002, das schließlich zur Ausgliederung der Universitäten aus der Bundeshoheit und – damit einhergehend – zur Verselbstständigung Medizinischer Fakultäten als eigene Universitäten führte. (2) Strukturwandel in Lehre, Forschung und Praxisfeldern: Hier stehen Unterricht und Forschung in den jeweiligen Strukturmodellen der Medizinischen Fakultäten im Blickfeld, wobei den Phasen nach 1945 sowie Anfang der 1990er Jahre jeweils besondere Aufmerksamkeit zukommt. So war die 1995 abgeschlossene Übersiedelung in das neue AKH mit den dort vorhandenen großzügigen Forschungsflächen und Ressourcen mit wegweisenden Veränderungen verbunden.10 Leitende Forschungsfelder befassen sich mit: (a) institutionsgeschichtlichen Kontinuitäten und Brüchen an der Wiener Medizinischen Fakultät nach 1945; (b) dem Einfluss internationaler Entwicklungen auf die Medizin in Österreich und die Organisation der Universitäten; (c) den Auswirkungen des enormen Wissenszuwachses in der Medizin auf einzelne Disziplinen, Therapien und das Verständnis von Gesundheit und Krankheit, und hier insbesondere die erst spät einsetzende Professionalisierung der Psychotherapie; (d) Veränderungen in der Akzeptanz von Wissenschaft und Forschung innerhalb der Gesellschaft zwischen 1945 und 2004; (e) Bedeutung der Wiener Schule der Musik9 Sebastian Meissl u. a. (Hg.), Verdrängte Schuld – verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1986; Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Göttingen: V&R unipress 2014. 10 Markus Müller, The Aftermath of the „Anschluss“ on Austrian Medicine from 1945 to Today, in: Wolfgang Schütz u. a. (Hg.), „Anschluss“ March 1938: Aftermath on Medicine and Society, Wiener Klinische Wochenschrift 130 (2018), 333–335.

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therapie; (f) der Rekonstruktion technischer Entwicklungen (anhand der Radiologie und von Lehrfilmen) und daraus resultierenden Veränderungen im Medizinstudium. (3) Aushandlungsprozesse und soziale Bewegungen: Das dritte Kapitel wendet sich Wechselwirkungen von Medizin und dem sozialen Wandel zu, etwa am Beispiel der gesetzlichen Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs im Kontext eines gesellschaftlichen Wertewandels oder am Beispiel der Akademisierung der Pflege und Pflegeberufe durch die Etablierung der Pflegewissenschaften. Beleuchtet wird zudem die Rolle der Medizin im Zusammenhang mit großen ökonomischen und ökologischen Veränderungen, etwa die Beteiligung von ÄrztInnen an der Anti-AKW-Bewegung, der Wandel des Gesundheitswesens am Übergang von Budgetüberschüssen der 1960er und 1970er Jahren zu steigenden Defiziten, aber auch die Etablierung eines Mutter-Kind-Passes. Ein weiterer – unter dem Eindruck der Corona-Pandemie aktuell bedeutsamer – Schwerpunkt liegt auf dem Diskurs zur Impfpflicht sowie der Einführung und Rezeption der Polio-Schutzimpfung in der Wiener Bevölkerung. (4) Lokale und globale Wissenstransfers: Neben internationalen Wissenschaftsbeziehungen der Wiener Medizin und ihren transnationalen Bildungsräumen (mit Fokus auf Persien, Deutschland und die USA) untersuchen die Beiträge dieses Kapitels die Tätigkeit internationaler Vereinigungen (wie der American Medical Society in Wien), am Beispiel der Nuklearmedizin den Wissenschaftsaustausch zwischen Ost und West während des Kalten Krieges sowie anhand der Prionenforschung die Einbindung österreichischer Beiträge in internationale Forschungsnetzwerke und deren Nutzbarmachung für das öffentliche Gesundheitswesen. Interdisziplinäre Wissenstransfers beziehen sich auf das Einwirken der Psychoanalyse auf Medizin und Pflege, auf die Interdependenz von Wohnraum und Gesundheit, bewirken aber auch eine kritische Beleuchtung der österreichischen Sichtweise auf die Heilpädagogik und deren Einfluss auf den behördlichen Umgang mit Minderjährigen. (5) Ethik und Recht: Das fünfte Kapitel befasst sich mit der Frage nach Recht und Verantwortung in der Medizin, nach dem Wandel von Richt- und Leitlinien sowie mit der Rolle von ÄrztInnen als AkteurInnen und Verantwortliche in Forschung, klinischer Praxis und im Gesundheitswesen. Dabei sollen insbesondere die zunehmend aktueller gewordene Diskussion über die Beziehung von medizinischen und technologischen Entwicklungen und Ethik in der Medizin („responsible science“) und die Veränderungen im Arzt-Patienten-Verhältnis beleuchtet werden. Die behandelten Themenbereiche inkludieren die Entwicklung ethischer Leitlinien medizinischen Handelns seit dem Nürnberger Kodex, die historische Entwicklung von Ethikkommissionen sowie die Geschichte, die Schwerpunkte und die Vernetzungen des Wiener Instituts für Ethik und Recht in der Medizin. Besondere Beachtung finden die Wiener Wege zur Psychiatrie-

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Einleitung

reform und die weiteren Schritte nach der Reform, die mit Priorität unter dem Aspekt medizinischer Ethik erfolgten. (6) Rezeptionen und Reflexionen: Im abschließenden Kapitel wird einerseits die Medizin in Form von Schlagzeilen in einem Massenblatt beleuchtet, andererseits wird auf unterschiedliche künstlerische Darstellungsformen und Wahrnehmungen der Medizin eingegangen. In Anlehnung an die avantgardistischen Bewegungen der 1960/70er Jahre, in denen der Körper nicht nur als Objekt der Darstellung fungiert, sondern selbst zum Werkzeug, zum Material und zur Leinwand wird, wird dem Prinzip des Zeichnens und Schneidens als sezierendes und analysierendes Werkzeug nachgegangen. Behandelt werden Themen der Transformation zentraler medizinischer Orte aus ästhetischer, technischer und kunstgeschichtlicher Perspektive, etwa des Wiener AKH, oder die Rezeption von Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi in Wien nach 1945. In einem dritten Ansatz findet ein in den späten 1980er Jahren initiiertes Projekt zur Medizinischen Zukunftsforschung in Wien Erwähnung, das zum Ziel hatte, die zukünftigen Entwicklungen der Medizin zu prognostizieren und so die Reform der Ausbildung in den medizinischen Berufen und die Planung des städtischen Gesundheitswesens zu unterstützen. Beachtung finden in diesem Zusammenhang auch konkrete Anstrengungen, die in den „Reparaturjahren“ (Ingeborg Bachmann) der 1950er Jahre unternommen wurden, um aus Wien wieder eine gesunde und lebensfrohe Stadt zu machen.

Danksagung Unser Dank gilt zuerst dem ehemaligen Vorsitzenden der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Hermann Hunger, für die stete und wohlwollende Unterstützung sowie der dieser Kommission angehörenden Arbeitsgruppe für Geschichte der Medizin und Medical Humanities für die wissenschaftliche Kompetenz und das Engagement ihrer Mitglieder, einschließlich des Altpräsidenten der ÖAW und neuen Kommissionsobmanns, Helmut Denk. Ihre konstruktiven Ideen zum Zusammenführen der Interdisziplinarität, welche die Stärke der Arbeitsgruppe ausmacht, haben allesamt zum Entstehen und Werden dieses Sammelbandes entscheidend beigetragen.11 Stellvertretend für die groß-

11 AG „Geschichte der Medizin und Medical Humanities“, Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften, Österreichischen Akademie der Wissenschaften, URL: https://www.oeaw.ac.at/kgpw/arbeitsgruppen/geschichte-der-medizin-und-medical-human ities (abgerufen am 29. 10. 2021).

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zügige Unterstützung seitens der Medizinischen Universität Wien sei deren Rektor, Markus Müller, gedankt. Aus platztechnischen Gründen kann nicht allen MitarbeiterInnen und Institutionen, die am Entstehen dieses Bandes beteiligt waren, individuell gedankt werden. Stellvertretend bedanken wir uns bei den zahllosen Kontakt- und Auskunftspersonen im In- und Ausland, bei den MitarbeiterInnen in öffentlichen und privaten Bibliotheken und in Archiven, die in der Pandemiezeit in Ermöglichung des Zugangs besonders belastet waren. Für die unkomplizierte und kompetente Betreuung seitens des Verlags bedanken wir uns herzlich bei dem Projektleiter Oliver Kätsch. Unser Dank gilt schließlich allen AutorInnen dieses Bandes, ohne deren Einsatz, Fachkompetenz und Arbeitsfreude ein Unterfangen wie dieses mit seinen internationalen Ansprüchen und Standards nicht zu verwirklichen gewesen wäre. Trotz Corona-bedingter Einschränkungen und Belastungen haben sie die Beiträge engagiert und weitgehend zeitgerecht erstellt. Um die Aktualität und Relevanz dieser Publikation, die Einhaltung wissenschaftlicher Standards sowie die inhaltliche und formale Qualität der Beiträge zu gewährleisten, wurden die eingegangenen Manuskripte einem internationalen Peer-Review-Verfahren zugeführt. Wir danken all diesen GutachterInnen für die aufmerksame, kritische und konstruktive Durchsicht der Beiträge. Sie haben uns sehr geholfen, den Band zu verbessern.

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1. Universitätspolitische Kontinuitäten und Brüche

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Remigration nach Österreich ab Mai 1945 – Rahmenbedingungen und Karriereverläufe Remigration to Austria since May 1945 – Context and Career Paths Abstracts Der Beitrag beschäftigt sich vor dem Hintergrund der politischen Diskussionen betreffend die aus dem Exil zurückkehrenden ÖsterreicherInnen in der Nachkriegszeit schlaglichtartig mit der rechtlichen und faktischen Situation für remigrierende österreichische Ärzte und Ärztinnen. Nachweisbar kehrten aus ihren Aufenthaltsländern 250 MedizinerInnen nach Österreich zurück, also fast zehn Prozent der mehr als 2.600 Ärzte und Ärztinnen, die Österreich nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich verlassen hatten. Deren Schicksale wurden im Rahmen eines Projekts über die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung österreichischer Ärzte und Ärztinnen in der NS-Zeit untersucht und für diesen Beitrag erstmals kollektivbiografisch und statistisch ausgewertet. Ausgewählte Biografien zeigen die Bandbreite unterschiedlicher Ausgangslagen und Motivationen für die Entscheidung zur Remigration, wobei politische und private Gründe oftmals ebenso eine Rolle spielten wie mangelnde Möglichkeiten zur Ausübung des ärztlichen Berufs in den Aufnahmeländern oder zur Anknüpfung an die unterbrochenen Karrieren. Beleuchtet wird auch der Zusammenhang zwischen Exilland und Rückkehrentscheidung. Against the background of the political discussions concerning Austrians returning from exile in the post-war period, this article focuses on the legal and factual situation of Austrian doctors returning to Austria. There is evidence that 250 doctors returned to Austria from their countries of residence, i. e. slightly less than 10 percent of the roughly 2,600 doctors who left Austria after the ”Anschluss” to the German Reich. Their fates were investigated as part of a project on the disenfranchisement, expulsion and murder of Austrian doctors during the Nazi era and evaluated collectively and statistically for the first time in this article. Selected biographies show the range of different starting points and motivations for the decision to remigrate: political and private reasons often played a role, as did the lack of opportunities to practice medicine in the host countries or to resume an interrupted career. The connection between the country of exile and the return is also illuminated. Keywords Vertreibung, Ärzte/Ärztinnen, Medizin, Exil, Remigration, Nationalsozialismus Forced Migration, Physicians, Exile, Remigration, National Socialism

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Österreich als „erstes Opfer“ des Nationalsozialismus Österreich wurde von den Alliierten entsprechend der Moskauer Deklaration 1943, die den „Anschluss“ 1938 für „null and void“ erklärte und Österreich als erstes Opfer der NS-Aggression bezeichnete, nach Kriegsende als besiegtes und befreites Land behandelt. Die darin verankerte „Verantwortungs- bzw. Mittäterklausel“ versuchte man „zuerst zu entkräften und dann zu vergessen“.1 Durch die militärische Besetzung war Österreich aus Sicht der österreichischen Politik 1945 „macht- und willenlos“ geworden,2 und auf der Grundlage dieser völkerrechtlichen Einstufung als Okkupation „konnte nunmehr die staatstragende ‚Selbstinfantilisierung‘ vom ‚ersten Opfer der nationalsozialistischen Expansionspolitik‘ aufgebaut werden“.3 Die NS-Vergangenheit Österreichs wurde „externalisiert“ und die Zuschreibung als Nachfolgestaat des „Dritten Reichs“ weitgehend abgelehnt.4 Diese „Zauberformel“5 wurde freilich auch als Argument für die Abwehr von Entschädigungsleistungen an insbesondere jüdische Opfer eingesetzt. Die konkreten Maßnahmen für die Opfer des Nationalsozialismus spiegelten diese Position dann auch weitgehend wider, denn tatsächliche Entschädigungen wurden nur in geringem Ausmaß geleistet. Mit Ausnahme der Rückstellungsgesetze sahen nämlich alle anderen Maßnahmen bloß Pauschalzahlungen mit begrenzten Schadenshöhen und unter Abhängigkeit vom Einkommen der antragstellenden Person vor.6 Auch das 1945 erlassene Opferfürsorgegesetz hatte keine 1 Thomas Albrich, „Es gibt keine jüdische Frage“. Zur Aufrechterhaltung des österreichischen Opfermythos, URL: http://www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/albrich.pdf (abgerufen am 27. 9. 2021), 1–18, 1, Printversion: Rolf Steiniger (Hg.), Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – USA – Israel, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 1994, 147–166. 2 Unabhängigkeitserklärung 27. 4. 1945, StGBl. 1/1945. 3 Walter Manoschek, „Aus der Asche dieses Krieges wieder auferstanden“. Skizzen zum Umgang der Österreichischen Volkspartei mit Nationalsozialismus und Antisemitismus nach 1945, in: Werner Bergmann/Rainer Erb/Albert Lichtblau (Hg.), Schwieriges Erbe. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung 3), Frankf. a. M.–New York: Campus 1995, 49–64, 49. 4 So M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: Max Haller/Hans-Joachim HoffmannNowotny/Wolfgang Zapf (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankf. a. M.–New York: Campus 1989, 247– 264, 250–251. 5 Manoschek, Skizzen, 58. 6 Brigitte Bailer-Galanda, Die Opfergruppen und deren Entschädigung, URL: http://www.demo kratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/opfergruppen.pdf (abgerufen am 27. 9. 2021), 1–8, 2, Printversion: Politische Bildung (Hg.), Wieder gut machen? Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution (Informationen zur Politischen Bildung, Sonderbd.), Wien–Innsbruck: Studienverlag 1999, 90–96.

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Remigration nach Österreich ab Mai 1945

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Entschädigung für Vermögensverluste vorgesehen, sondern vielmehr bloße Fürsorgemaßnahmen. Darüber hinaus war es nur für politisch Verfolgte gedacht, während alle anderen Opfergruppen erst um ihre Anerkennung kämpfen mussten. So wurden die von den Nationalsozialisten als Juden/Jüdinnen Verfolgten überhaupt erst 1947 in das Gesetz einbezogen. Außerdem wurde die sogenannte „Wiedergutmachung“7 mit ihren beiden Säulen der Rückstellung und Opferfürsorge erheblich in die Länge gezogen,8 denn Wiederaufbau ging vor „Wiedergutmachung“,9 dies umso mehr, als bereits 1949 – nach nur zwei Jahren Anwendung des Nationalsozialistengesetzes von 1947 – auch bereits die meisten ehemaligen NationalsozialistInnen (1947 536.000 Registrierte) wieder zur Wahl zugelassen wurden und sich die Parteien um deren Stimmen mehr bemühten als um die der wenigen Juden/Jüdinnen in Österreich. Hatte die Volkzählung 1934 nämlich noch 191.481 jüdische Religionsangehörige in Österreich, davon 176.034 in Wien, ausgewiesen,10 so waren es nach Vertreibung und Shoa per 21. Dezember 1946 nur mehr 6.428. Von den rund 200.000 österreichischen „Juden“ und „Jüdinnen“ im Sinne der NS-Gesetze waren mehr als 65.000 deportiert und ermordet worden, ca. 110.000 lebten in aller Welt verstreut.11 1.096 Mitglieder der IKG Wien hatten die NS-Zeit in Österreich überlebt, geschützt durch „Mischehen“ oder als „U-Boote“, darüber hinaus einige Tausend, die als „jüdisch“ verfolgt worden waren, aber nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten.12

Rahmenbedingungen der Rückkehr von „EmigrantInnen“ Die Entscheidung für eine Remigration war abhängig primär von den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in den Exilländern, dem Alter der Betroffenen und Krankheiten sowie den Umständen betreffend Berufsausübung 7 Siehe zur Problematik des Begriffs ebd.,7, Fn. 3 mit Literaturhinweisen. 8 Robert Knight (Hg.), „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“. Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945 bis 1952 über die Entschädigung der Juden, Wien: De Gruyter 1988. 9 Dieter Stiefel, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2001, 221. 10 Andreas Weigl, Zahlen – Daten – Fakten. Die jüdische Bevölkerung der Republik Österreich 1933 bis 1938 in der Statistik, in: Gertrude Enderle-Burcel/Ilse Reiter-Zatloukal (Hg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2018, 136–149, 136. 11 Brigitte Bailer, „Alle haben gleich gelitten?“. Antisemitismus in der Auseinandersetzung um die sogenannte „Wiedergutmachung“, in: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, Wien: Picus 1995, 333–345, 333. 12 Helga Embacher, Eine Heimkehr gibt es nicht? Remigration nach Österreich, in: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.), Jüdische Emigration zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdischer Identität (Exilforschung 19), München: Edition text + kritik 2001, 187–209, 190.

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und Rückstellung entzogenen Vermögens. Daher waren auch die Rückkehrquoten aus den einzelnen Exilländern unterschiedlich hoch und reichten von 20 Prozent aus Shanghai bis zu 0,2 Prozent aus den USA.13 In Gemeinschaftstransporten aus Palästina und Shanghai waren bis Ende August 1947 1.620 Personen eingetroffen, 1.400 Einzelpersonen hatten beim Wanderungsreferat der IKG um Rückholung gebeten, und etwa 1.000 RückkehrerInnen waren aus England, Frankreich und sonstigen europäischen Ländern zurückgekommen.14 Wie die in Wien Überlebenden hatten die RückkehrerInnen gehofft, bald wieder in ihre alten Rechte eintreten zu können und ihr Vermögen zurückzuerhalten. Viele waren krank, arbeitsunfähig und auf Fürsorgeleistungen angewiesen, die zunächst primär von der im Wiederaufbau begriffenen IKG mit ausländischer Hilfe geleistet wurden. Diese berichtete: „Die im Sommer heimkehrenden KZler erfuhren keinerlei Hilfe und die im Herbst einsetzende Rückkehr jüdischer Emigranten aus europäischen Ländern war unbemerkt von der Öffentlichkeit und ohne jede Unterstützung vor sich gegangen. Die jüdischen Heime in der Seegasse, Augartenstraße und Tempelgasse waren von ihnen überfüllt.“15

Für die Politik waren diese RückkehrerInnen zumeist nicht von Interesse, nur ein einziges Mal wurde die Frage der Remigration im Ministerrat behandelt, und zwar im Februar 1946, als der Arbeitskräftemangel deutlicher wurde, weshalb Minister Karl Altmann (1904–1960) anregte, dass die Regierung „die in den verschiedenen Ländern der Welt befindlichen Emigranten auffordern“ sollte, „zurückzukommen, um sich für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen“.16 Dies geschah nicht, vielmehr meinte Kanzler Leopold Figl (1902–1965) über die RemigrantInnen: „Wenn sie zurückkommen, werden sie uns genauso willkommen sein wie alle anderen Österreicher. […] Alle, die Österreich als ihre Heimat ansehen, die zurückkommen und am Wiederaufbau Österreichs mithelfen wollen, sind uns willkommen, ganz gleich, welcher Religion sie angehören.“17

Es wurde aber nicht nur keine aktive Rückkehrpolitik betrieben, sondern den ExilantInnen wurde von Figl sogar unterstellt, dass es für sie „bequemer gewesen“ sei, „in den Klubsesseln draußen zu sitzen und abzuwarten in Schutz und Fürsorge, als hier in Österreich zu leiden für Österreich“.18 Alfons Gorbach 13 Ebd. 14 Helga Embacher, Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945, Wien: Picus 1995, 166. 15 Zit. n. Embacher, Neubeginn, 116. 16 Knight, Wortprotokolle, 152. 17 Ebd. 18 Das kleine Volksblatt, 22. 11. 1945, zit. n. Helmut Wohnout, Leopold Figl und das Jahr 1945. Von der Todeszelle auf den Ballhausplatz, St. Pölten–Salzburg–Wien: Residenz 2015, 144–145.

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Remigration nach Österreich ab Mai 1945

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(1898–1972) sprach den „Herren Emigranten“, die sich „beim ersten Kräuseln des blauen Ozeans auf Übersee in Sicherheit gebracht“ hatten, sogar das Recht ab, „in der Nationalsozialisten-Frage mitzureden“, mögen sie auch „noch so viel Moralinsäure verspritzen“, wüssten doch „Soldaten dieses Krieges“, „die draußen in härtester Prüfung ihren Mann gestanden“ hätten, „besser, was anständig ist“.19 Und noch in den 1970er Jahren fragte der ÖVP-Politiker Franz Soronics (1920–2009): „Wer ist der bessere Patriot – der, der in Österreich geblieben ist, oder der, der Österreich verlassen hat.“20 So trafen die Heimkehrenden nicht „auf ein ‚neues Österreich‘, sondern auf Kontinuität, nicht auf ein vom antisemitischen Virus gereinigtes Land, sondern auf Selbstgerechtigkeit der Ariseure, die das Geraubte als ihr Eigentum verteidigten, sowie auf eine Bürokratie und eine politische Elite, die dieser Haltung Vorschub leisteten und sich um die Sorgen und Wünsche der Rückkehrer nur wenig kümmerten“.21 Eine im August 1946 veröffentlichte Meinungsumfrage zeigte auf, dass insgesamt 46 Prozent der Bevölkerung einer Rückkehr von „Juden“ und „Jüdinnen“ nach Österreich ablehnend gegenüberstanden,22 was „sich auch auf Ebene der politischen Eliten und ihrer Politik widerspiegelte“.23 Nicht nur das gesellschaftliche, sondern auch das behördliche Klima, auf das NS-Verfolgte nach Kriegsende stießen, war also für diese oftmals – so verschiedene Aussagen Betroffener – mehr als desillusionierend. Die „Schikanen der Behörden waren allerdings“, so etwa Ruth Beckermann (geb. 1952), „nur ein milder Ausdruck der wahren Stimmung der Bevölkerung“.24 Wer aus dem Exil zurückkehrte, empfand die Situation sogar „häufig als bittere Groteske“ und war mit „bürokratischen Schikanen aller Art“ konfrontiert,25 zeigten doch die Behörden, die oft „starr nach den Buchstaben des Gesetzes (agierten)“,26 einen

19 Zit. n. Manfried Rauchensteiner, Die Zwei. Die große Koalition in Österreich 1945 bis 1955, Graz–Wien–Köln: Böhlau 1979, 134–135. 20 Zit. n. Manoschek, Skizzen, 58. 21 Christoph Reinprecht, Emigration, Rückkehr und Identität. Aspekte jüdischer Nachkriegsidentität in Österreich, in: Zeitgeschichte 18 (1990) 7/8, 235–244, 235. 22 Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien: Löcker 1993, 135. 23 Werner Koroschitz, „Wiedergutmachung“ und Restitution. Rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, in: Werner Koroschitz/Alexandra Schmidt/Verein Erinnern Villach (Hg.), Im besten Einvernehmen. Antisemitismus und NS-Judenpolitik im Bezirk Villach, Klagenfurt: Heyn 2014, 232–253, 232. 24 Ruth Beckermann, Unzugehörig – Österreicher und Juden nach 1945, Wien: Löcker 2005, 77. 25 Christoph Reinprecht, Zurückgekehrt. Identität und Bruch in der Biographie österreichischer Juden, Wien: Braumüller 1992, 29. 26 Andrea Strutz, Wieder gut gemacht? Opferfürsorge in Österreich am Beispiel der Steiermark, Wien: Mandelbaum 2006, 209.

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zumindest „unsensiblen Umgang“27 mit AntragstellerInnen und einen zumeist erschreckenden Mangel an Empathie. Auch hinsichtlich konkreter Rückkehraktivitäten waren oft massive Hürden zu überwinden. So hatte der Wiener Zahnarzt Felix Kohn (1912–2001), den es nach Harbin in China verschlagen hatte und der dort 1949 eine Emigrantin mit sowjetrussischem Pass geheiratet hatte, große Probleme bei der Abklärung der Frage der Staatsbürgerschaft seiner Ehefrau zwecks Rückkehr nach Österreich,28 denn generell blieben Staatsbürgerschaftsansuchen „oft monatelang unerledigt“.29 Aber auch bei größeren Gruppen Rückkehrwilliger machten die österreichischen Behörden Schwierigkeiten. Wie ein Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde über 852 Personen, die aus Shanghai zurückkommen wollten, überliefert, gelang es erst in „langen mühevollen Verhandlungen, […] bürokratische Bedenken des Ministeriums des Inneren und den antisemitisch gefärbten Widerstand verantwortlicher Funktionäre im Ministerium für Äußeres zu überwinden“.30 Besonders der hohe Ärzteanteil an den Shanghai-ExilantInnen wurde seitens der Regierung als bedenklich erachtet.31 Aber auch Transporte von RückkehrerInnen aus Palästina (174), Karaganda (208) und aus europäischen Exilländern trafen nun ein.32 War die Rückkehr einmal erfolgt, mussten die Betroffenen zunächst einmal „ins Rathaus, um sich wieder einmal registrieren zu lassen – diesmal bei der ‚Zentralstelle der Opfer des Naziterrors‘, wobei sie“, Beckermann zufolge, „zumeist mit der Frage begrüßt wurden ‚Sind Sie Jude oder Arier?‘“.33 Tatsächlich war schon am 15. April 1945 für die Stadt Wien im Rathaus eine Registrierungsstelle eingerichtet worden, denn v. a. zahlreiche aus den Lagern Entlassene mussten erfasst und versorgt werden. Ein im ehemaligen Rothschildspital im Sommer 1945 gebildetes „Internationales Komitee für jüdische KZ-ler und Flüchtlinge“ stellte Bescheinigungen für Verfolgte aus. Infolge des im Juli 1945 ergangenen Opferfürsorgegesetzes beendete die Zentralregistrierungsstelle ihre Tätigkeit, und es wurden in den Fürsorgeämtern der magistratischen Bezirksämter im Oktober 1945 Betreuungsstellen für die ehemaligen Konzentrations-

27 Koroschitz, „Wiedergutmachung“, 232. 28 Gabriele Anderl, Gestrandet in Harbin: Dr. Felix Kohn und seine jahrelangen Bemühungen um Repatriierung, in: Margit Franz/Heimo Halbrainer (Hg.), Going East – Going South. Österreichisches Exil in Asien und Afrika, Graz: Clio 2014, 655–659. 29 Gabriele Anderl, Der Weg zurück, in: Zwischenwelt 18 (2001) 2: „Little Vienna“ in Asien – Exil in Shanghai II, 47–53, 51. 30 Beckermann, Unzugehörig, 74. 31 Embacher, Neubeginn, 125. 32 Ebd., 127. 33 Beckermann, Unzugehörig, 72.

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lagerhäftlinge eröffnet.34 Die Unterstützungen durch diese Stellen waren allerdings zunächst nur den „Opfern des Kampfes um ein freies und demokratisches Österreich“ vorbehalten. Daher versuchten die meisten Überlebenden der Konzentrationslager nachzuweisen, dass sie nicht „nur“ aus „rassischen“, sondern auch aus politischen Gründen deportiert worden waren. Dafür dienten z. B. Bestätigungen der nunmehr wieder zugelassenen, im Nationalsozialismus verbotenen Parteien – insbesondere die KPÖ stellte diese recht großzügig aus –, bis das Opferfürsorgegesetz in dieser Hinsicht novelliert wurde. Generell hatten die RückkehrerInnen gehofft, ehebaldigst wieder in ihre Wohnungen einziehen zu können und zumindest Teile ihres geraubten Eigentums rückerstattet zu bekommen, was freilich nicht im erwarteten Umfang geschah. Als im Juli 1945 die Heimkehr von hunderten Überlebenden aus Theresienstadt bevorstand, weigerte sich das Staatsamt für Finanzen sogar, dem Wunsch der IKG Folge zu leisten, denjenigen unter ihnen, „welche über ertragbringende Vermögenswerte im Inland verfügen, deren Erträgnisse zur Gänze und in Anrechnung auf die ihnen in Zukunft kommende endgültige Wiedergutmachung auszufolgen“.35 So erging es auch einem im Sommer 1945 aus Theresienstadt zurückkehrenden Arzt, der um Ausfolgung seiner beschlagnahmten Wertpapiere und Versicherungspolizzen ersuchte, die sich noch in einem Sammeldepot der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ beim CreditanstaltBankverein befanden, „da er Geld benötige, um mit seiner Frau hier zu leben und seine Praxis als Orthopäde wieder eröffnen zu können“.36 Die Rückkunft zahlreicher völlig mittelloser RückkehrerInnen aus den KZ brachte dann aber letztlich insofern ein Umdenken, als im August 1945 der Staatssekretär für Finanzen wenigstens die Weisung erteilte, im Einzelfall eine Art Darlehen in der Maximalhöhe von 60 Prozent des Kapitalanspruchs zu gewähren.37 Außerdem mussten sich die aus rassistischen Gründen Verfolgten ihre Anerkennung erst erkämpfen, waren sie doch nicht nur vom Opferfürsorgegesetz zunächst ausgenommen, sondern auch der im März 1946 gegründete KZ-Verband nahm zunächst nur politisch Verfolgte auf, weshalb im selben Jahr ein

34 Brigitte Ungar-Klein, Schattenexistenz. Jüdische U-Boote in Wien 1938–1945, Wien: Picus 2019, 40, 43. 35 Clemens Jabloner u. a., Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich (Veröffentlichungen der Österr. Historikerkommission 1), Wien–München: Oldenbourg 2003, 292. 36 Brigitte Bailer, Entstehung der Rückstellungs- und Entschädigungsgesetzgebung. Die Republik Österreich und das in der NS-Zeit entzogene Vermögen (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 3), Wien–München: Oldenbourg 2003, 36. 37 Brigitte Bailer, Überlebende des Holocaust in der Zweiten Republik – eine Skizze, in: DÖW (Hg.), Feindbilder (Jahrbuch 2015), Wien: DÖW 2015, 113–139, 122. Weitere konkrete Beispiele finden sich in der Literatur bislang nicht.

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jüdischer KZ-Verband gegründet wurde.38 Besonders problematisch war, dass „Juden im Sinne der NS-Gesetze“ eine Amtsbescheinigung nach dem Opferfürsorgegesetz 1945, die Voraussetzung für einen Rentenbezug war, nur bekommen konnten, wenn der KZ-Verband eine Gefälligkeitsbestätigung ausstellte. „Warum wird von den Abstammungsverfolgten überhaupt politischer Einsatz verlangt“, fragte ein Referent bei einer Tagung des KZ-Verbandes 1947, „[w]ozu braucht ein abstammungsverfolgter KZler noch seine antifaschistische Gesinnung zu beweisen?“39

MedizinerInnen-Remigration Berufsspezifische Rahmenbedingungen der Rückkehr Obwohl in Wien nach Kriegsende ein massiver Ärztemangel herrschte, gab es auch betreffend Ärzte und Ärztinnen keine aktive Rückkehrpolitik seitens der Regierung. So meinte Karl Renner (1870–1950) im Oktober 1945 im österreichischen Kabinettsrat: „Wir haben nicht genug Ärzte. Die jüdischen Ärzte sind weg, die Naziärzte sind außer Dienst gestellt.“ Er knüpfte daran aber nicht die Forderung nach einem Rückkehraufruf an die ExilantInnen, sondern vielmehr nach einer Lockerung der Entnazifizierung. Dies zeigt „erschreckend deutlich“, so Albert Sternfeld (1925–2007), „die Einstellung ein halbes Jahr nach Kriegsende: die eindeutige Bevorzugung der ‚Naziärzte‘ gegenüber vertriebenen jüdischen Ärzten“.40 Die Entscheidung für oder gegen die Rückkehr nach Österreich fiel politisch aktiven Ärzten und Ärztinnen leichter, die, Michael Hubenstorf zufolge, auch oft mithilfe der Roten Armee, als Offiziere der Britischen Armee oder als Mitglieder des Freiheitsbataillons in Jugoslawien zurückkamen.41 Darüber hinaus spielten natürlich auch persönlich-familiäre Gründe eine Rolle, die Frage der Stellung im Exilland und der Staatsbürgerschaft. So erinnert sich der vor der Emigration in der Sozialdemokratie aktive Mattersburger Arzt Richard Berczeller (1902–1994): „Ich bin ja einer der ganz wenigen, der zurückgerufen wurde. Ich bin hingeflogen, hab es mir angeschaut. Es hat mir gefallen. Ich hätte eine ziemlich gehobene Stellung dort bekommen können, als Chef der Wiener Gebietskrankenkasse und eventuell burgen38 Embacher, Neubeginn, 105. 39 Forum Politische Bildung (Hg.), Wieder gut machen?, 99. 40 Albert Sternfeld, Betrifft: Österreich. Von Österreich betroffen, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2001, 70. 41 Michael Hubenstorf, Österreichische Ärzte-Emigration, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Bd. 1: 1930–1940, Wien– München: LIT 1987, 359–415, 389.

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ländischer Nationalratsabgeordneter. Da ist aber mein Bub schon Medizinstudent gewesen, und so ist es schwierig gewesen. Es haben praktische Momente eine Rolle gespielt – die Tatsache, daß man hier in Amerika eine Staatsbürgerschaft hat, eine Sicherheit und eine andere Atmosphere. […] Je mehr die Zeit vergangen ist, hat man immer mehr und mehr gesagt: ja warum sollte man wirklich weggehen. […] es hat keine violente Sehnsucht gegeben, um zurückzukommen.“42

Auch vonseiten der Ärztekammer gab es keine Aufforderung zur Rückkehr der Ärzte und Ärztinnen aus dem Exil. Allerdings verkündete zu Beginn des Jahres 1946 Präsident Hans Karmel (1893–1958), der während der NS-Zeit als „Mischling“ selbst zu den Verfolgten gezählt hatte, dass die „Wiener Ärzteschaft […] die heimkehrenden Kollegen, die sie im Ausland so würdig vertreten haben, kameradschaftlich unterstützen“ würde.43 Der neue Ärztekammerpräsident Alexander Hartwich (1888–1979) warnte allerdings im Jänner 1946 in einem Bericht zur „ärztlichen Situation in Wien“, den er auch nach London und New York sandte, um auf dies Weise „die meisten österreichischen Kollegen in England und den USA“ zu erreichen,44 vor einer Rückkehr. Hartwich, der in der NSZeit ebenfalls als „Mischling“ galt und in Wien die NS-Zeit hatte überstehen können, betonte darin, dass die „emigrierten Kollegen […] unvergessen“ seien und „breite Schichten der Bevölkerung […] ihnen während der ganzen Jahre nachgetrauert und sie vermißt“ hätten. Diese „jüdische Klientel“ sei aber durch „Auswanderung und Mord eliminiert“ worden. Auch müsse der Wohnungsmangel als „ungeheuer“ bezeichnet werden, weshalb er begonnen habe, „organisatorisch gewisse Vorbereitungen zu treffen, um heimkehrende Kollegen unterzubringen“. Ein „wirklicher Erfolg“ sei aber nicht zu erwarten, und es werde „in jedem einzelnen Fall Schwierigkeiten genug geben“. Die „heimkehrenden Kollegen“ könnten sich aber „unbedingt darauf verlassen, daß die Wiener Ärztekammer alles für sie tun wird, was in ihrer Macht steht“. Er wies aber darauf hin, dass leitende Stellen „fast ausnahmslos neu besetzt“ worden seien und nur „in ganz vereinzelten Fällen“ damit gerechnet werden könne, „daß eine solche Stelle – Chefarztposten, Primariat – für heimkehrende Ärzte in Betracht kommt“. Die Wiener Ärztekammer sei aber „vom besten Willen beseelt“ und werde die „heimkehrenden Emigranten herzlichst aufnehmen und für sie tun, was nur irgendwie möglich ist“. Dennoch würde der Existenzkampf „sehr hart“ werden. Daher riet er „den im Ausland tätigen Ärzten“ von einer Rückkehr ab und 42 Richard Berczeller, „Ich war ja einer der ganz Wenigen, den sie zurückgerufen haben …“, in: Adi Wimmer (Hg.), Die Heimat wurde ihnen fremd, die Fremde nicht zur Heimat, Wien: Verl. Gesellschaftskritik 1993, 218–222, 221. 43 Hans Karmel, Österreichische Ärztezeitung 1 (1946) 4, 11. 44 Renate Feikes, Exil der Wiener Medizin ab 1938, in: Sandra Wiesinger-Stock/Erika Weinzierl/ Konstantin Kaiser (Hg.), Vom Weggehen. Zum Exil von Kunst und Wissenschaft (Exilforschung heute 1), Wien: Mandelbaum 2006, 232–243, 240.

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empfahl „dringend“, „die in den Jahren der Emigration errungene Position weiter zu behalten“. Nur wenn ein „weiteres Verbleiben im Gastlande aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich sein oder werden sollte, wäre die Heimkehr in Betracht zu ziehen“.45 Zusätzlich zu den allgemeinen RückkehrerInnen hatten die aus dem Exil nach Österreich oder aus den Konzentrationslagern heimkehrenden Ärzte und Ärztinnen mit besonderen Problemen beim beruflichen Wiedereinstieg massiv zu kämpfen, denn sie waren nicht nur ihrer Wohnungen und Praxen, auf die das Dritte Rückstellungsgesetz keine Anwendung fand, sondern auch deren Einrichtung samt Geräten beraubt worden und in der Regel völlig mittellos. Ihnen wurden daher von der Ärztekammer Wien unbenutzte Räumlichkeiten zugewiesen, die allerdings offenbar vielfach unbrauchbar waren,46 ihre Wohnungsansuchen fielen hingegen nach den Wiener Regularien in die Dringlichkeitsstufe I.47 Im Rahmen der „Rückwandererfürsorge“ vergab die Stadt Wien auch zinsenlose sogenannte Fürsorgedarlehen, die vom Empfänger/von der Empfängerin in „angemessener Frist, zumeist in Raten, zurückzuerstatten“ waren. Im Zeitraum 1945 bis 1947 wurden etwa 39 Darlehen gewährt, wobei es sich „zum überwiegenden Teil um Rückwanderer“ handelte, „die vor allem als Ärzte, Zahnärzte, Dentisten u. a. in Wien ihre Existenz wieder aufrichten“ wollten.48 Die Ärztekammer richtete in weiterer Folge 1946 ein „WiedergutmachungsReferat“ ein (von dem allerdings keine Unterlagen überliefert sind).49 Dessen Aufgaben waren die Bereitstellung finanzieller und materieller Hilfe bei der Einrichtung von Praxen durch NS-geschädigte Ärzte und deren Wiedereinsetzung in ihre vor dem „Anschluss“ innegehabten Positionen, so überhaupt möglich. Außerdem sollten sie bei der Besetzung freier Stellen bevorzugt werden. Offenbar wurden NS-geschädigte Ärzte auch dann verständigt, wenn Praxen aufgrund des Nationalsozialistengesetzes, das Berufsausübungsverbote vorsah, frei wurden.

45 Alexander Hartwich, Zur Heimkehr der emigrierten Kollegen, in: Österreichische Ärztezeitung 1 (1946) 9/10, 7. 46 Dazu mit Beispielen Daniela Angetter/Christine Kanzler, „… sofort alles zu veranlassen, damit der Jude als Arzt verschwindet“. Jüdische Ärztinnen und Ärzte in Wien 1938–1945, in: Herwig Czech/Paul Weindling (Hg.), Österreichische Ärzte und Ärztinnen im Nationalsozialismus (Jahrbuch Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 2017), 47–66, 71. 47 Susanne Kowarc u. a., Arisierung und Rückstellung von Wohnungen in Wien (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 14), Wien–München: Oldenbourg 2004, 160. 48 Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung der Stadt Wien vom 1. April 1945 bis 31. Dezember 1947. Verwaltungsbericht, Wien 1949, 148, 151. 49 Ein Wiedergutmachungs-Referat in der Ärztekammer, in: Österreichische Ärztezeitung 9/10 (1946), 10–11; vgl. auch Feikes, Exil, 240.

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Die Wiener Ärztekammer kam diesen Aufgaben aber wohl nicht immer in zufriedenstellendem Maß nach, denn im März 1947 forderten politisch verfolgte Ärzte in einer Versammlung von der Standesvertretung die Einrichtung eines Wiedergutmachungsfonds, dem die Sühneabgaben50 der infolge des kurz davor vom Nationalrat beschlossenen Nationalsozialistengesetzes als NS-„belastet“ und -„minderbelastet“ eingestuften Ärzte und Ärztinnen zufließen sollten.51 So mancher Arzt oder manche Ärztin machte jedenfalls „schlechte Erfahrungen mit der Ärztekammer“ – wie etwa der Arzt Franz Hahn (1913–2000) nach seiner Rückkehr am 15. August 1945 nach Wien berichtete: „Ich komme zurück, ich habe keine Wohnung, nichts, ich habe kaum was zum Anziehen. Nun, wohin gehst Du, du bist Arzt? Immerhin habe ich in Wien promoviert. Ich gehe also in die Ärztekammer, zum Wohnungsreferenten. Der war sicher kein Antisemit, denn er hatte, glaube ich, eine jüdische Frau. Der sagte zu mir: ‚Herr Kollege, eine Wohnung kann ich Ihnen leider nicht vermitteln. Denn die haben wir auch nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, in welchem Bezirk Sie sich nicht niederlassen dürfen.‘ Können Sie sich das vorstellen? Ich habe ihn angegrinst und gesagt: ‚Und Sie glauben wirklich, daß ich als befreiter jüdischer KZ-ler im Jahr 1945, wenn ich eine Wohnung vom lieben Gott kriege in einem Bezirk, den Sie für mich sperren, daß ich mich um diese Sperre kümmern werde? Guten Tag‘.“52

Hahn konnte dann eine Tätigkeit „im kleinen jüdischen Spital in der Malzgasse“ aufnehmen.53 Einige MedizinerInnen, die als „Krankenbehandler“ überlebt hatten, wie Emil Tuchmann (1899–1976) und Fanny Reiter (1895–1972), konnten im öffentlichen Gesundheitswesen der Stadt Wien oder bei der Polizei Beschäftigung finden.54 Im Juni 1949 hielt der Bund sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus in einem Memorandum fest: „Von den 3.000 Ärzten lebt heute nur ein verschwindender Bruchteil, etwa 10 %, d.s. 300 Ärzte, die in ihre Heimat teils aus dem KZ, teils aus der Emigration zurückgekehrt sind. Trotz dieser relativ kleinen Anzahl sehen sich die heimkehrenden Ärzte vor die größten Hindernisse und Schwierigkeiten gestellt, wenn sie wieder versuchen wollen, auch nur die primitivsten Ansprüche, wie die Erlaubnis, wieder dort beginnen zu dürfen, wo sie vor elf Jahren ausgeschaltet wurden, verwirklicht zu sehen. Obwohl seinerzeit über dreitausend Wohnungen zwangsweise zur Verfügung gestellt werden mußten, muß heute jeder einzelne Heimkehrer […] monate-, ja jahrelang einen mühseligen, in vielen Fällen hoffnungslosen Kampf zur Rückeroberung einer Wohnung führen, die für Ärzte ja nicht nur das Dach über dem Kopf bedeutet, sondern ein

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Also einmalige oder laufende Geldzahlungen, vgl. BGBl. 45/1947. Wiedergutmachungsreferat, Österreichische Ärztezeitung 7 (1947), 77–78. DÖW (Hg.), Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, Wien: ÖBV 1992, 682. Ebd., 681. Angetter/Kanzler, Ärztinnen, 63.

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unbedingtes unerläßliches Existenzmittel zur Ausübung des Berufes im Interesse der Bevölkerung darstellt. […] Heute werden mehr denn je Ärzte gezwungen, die ihnen nach Naziärzten zugewiesenen Möbel, Ordinationen und Einrichtungen wieder zurückzugeben und sehen ihre Existenz neuerlich gefährdet. […] Die Gruppe der geschädigten Ärzte sieht sich veranlaßt, gegen diese neuerliche Benachteiligung von Naziopfern heftigst zu protestieren, nicht nur im Interesse der Naziopfer selbst, sondern im Interesse der Wahrung der Ehre und des kulturellen Standards des einst mit Recht auf seine Wiener Ärzte so stolzen österreichischen Staates.“55

Für von der Medizinischen Fakultät vertriebene Hochschullehrer stellte sich die Situation noch schwieriger dar als für niedergelassene MedizinerInnen, denn rückkehrwillige WissenschaftlerInnen konnten sich, da eine aktive Rückholungspolitik seitens des Ministeriums nicht stattfand, nur um eine allfällig freie Planstelle bewerben. Der zuständige, mächtige Sektionschef Otto Skrbensky (1887–1952) verhinderte allerdings erfolgreich Rückberufungen von Professoren aus dem Ausland und zog gegen Rückkehrwillige „[a]lle Register von fahrlässiger Verzögerung bis zur Hintertreibung und bewussten Fehlinterpretationen […], um die österreichische Eigenkultur auf konservativ-katholischer Basis zu schützen“.56 Erwünscht war nur die Rückkehr von Personen, die drei Charakteristika aufwiesen: „prominent, katholisch-konservativ bis -monarchistisch und arisch“.57 Diese politische Ausrichtung wurde in Wien auch etwa mit der Berufung von Leopold Arzt (1883–1955) an die Spitze der Medizinischen Fakultät deutlich, der als Protagonist des austrofaschistischen Regimes 1938 entfernt worden war.58 Erfüllten die „Emigranten“ nicht die gewünschten Voraussetzungen, zeigte die österreichische Bürokratie keinen Einsatz, ihnen die Rückkehr zu angemessenen Bedingungen zu ermöglichen, wie dies auch der vormalige Dozent für Kinderheilkunde der Universität Wien, Hans Mautner (1886–1963), erfahren musste. Er hatte in die USA flüchten und dort zunächst ab 1939 als Professor der Pharmakologie und Pädiatrie an der Middlesex University Medical School, ab 1945 als ärztlicher Direktor an der Wrentham State School arbeiten können. Seine Berufung auf eine Professur 1947 in Wien scheiterte nach einem Jahr Verhandlungen letztlich daran, dass das Finanzministerium seine Forde-

55 Memorandum vom 24. 6. 1949, zit. n. Herbert Exenberger/Johann Koß/Brigitte Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier. Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten in den Jahren 1938–1939, Wien: Picus 1996, 151. 56 Hans Pfefferle/Roman Pfefferle, Otto Skrbensky, URL: http://geschichte.univie.ac.at/de/per sonen/otto-skrbensky (abgerufen am 27. 9. 2021). 57 Christian Fleck, Autochthone Provinzialisierung, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996) 1, 67–92, 78. 58 Andreas Huber, Leopold Arzt, URL: https://geschichte.univie.ac.at/en/persons/leopold-arztuniv-prof-dr (abgerufen am 27. 9. 2021).

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rungen nach Ersatz der Übersiedlungsspesen und Anrechnung seiner Vordienstzeiten nicht zu erfüllen bereit war, sodass Mautner schließlich verzichtete.59 Während man also die Opfer schlecht behandelte, hatte man für die führenden Nationalsozialisten in der Ärzteschaft mehr Verständnis. So wurde Oskar Kauffmann (1898–1955), Landesärzteführer sowie Wiener Gauärzteführer und Planungsreferent des Reichsärzteführers Leonhard Conti (1900–1945), Präsident der Kärntner Ärztekammer, und Otto Planner-Plan (1893–1975), vormals Gauärzteführer und Gauamtsleiter, war ab 1955 im Vorstand der Wiener Ärztekammer.60

Rückkehrmotivation und Statistik aus kollektivbiografischer Sicht Angesichts der beschriebenen Situation in Österreich, über welche die meisten Rückkehrwilligen wenigstens teilweise informiert waren, und der Erfahrungen, die zur Flucht ab März 1938 geführt hatten, mag es erstaunen, dass überhaupt jemand eine Remigration erwog, umso mehr, nachdem ab Mai 1945 das gesamte Ausmaß des NS-Terrors evident wurde. Die Öffentlichkeit erfuhr nach Kriegsende vom industrialisierten Massenmord, untermauert von Bildern, die die Alliierten bei der Befreiung der KZs aufgenommen hatten und die durch Zeitungen, Wochenschauen und Plakate verbreitet wurden. Es war den Rückkehrwilligen auch bewusst, dass sie in bombengeschädigte Städte kommen würden, in denen es an Wohnungen, insbesondere solchen, die sich zur Ausübung der ärztlichen Praxis eigneten, ebenso mangelte sowie an allen Gütern des täglichen Bedarfs, dass die Infrastruktur schlecht oder manchmal gar nicht funktionierte und auch die Versorgung mit Medikamenten und sonstigen Medizinprodukten ein gravierendes Problem darstellte, wie dies z. B. im Film Der dritte Mann anhand der Penicillin-Lieferungen thematisiert wird. Darüber hinaus waren nicht nur die meisten ehemaligen (?) Nationalsozialisten nach wie vor anzutreffen, sondern auch all diejenigen, die nach dem „Anschluss“ von Beraubung und Entlassungen profitiert hatten sowie diejenigen, die in der englischsprachigen Forschung als bystanders bezeichnet werden. So bleibt also die Frage, warum überhaupt jemand zurückkam. Die Beschäftigung mit Motivationen hat immer ein spekulatives Element, dennoch lassen sich gewisse Linien anhand der ausgewerteten Biografien der RemigrantInnen abstecken, wie mittels einzelner repräsentativer Beispiele ge59 Ingrid Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955: Entnazifizierung, Personalpolitik und Wissenschaftsentwicklung, Diss., Wien 2013, 78. 60 Michael Hubenstorf, Vertreibung und Verfolgung. Zur Geschichte der österreichischen Medizin im 20. Jahrhundert, in: Das jüdische Echo 50 (2001), 277–288, 285.

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zeigt wird: Viele, die zurückkamen, hatten Angehörige in Österreich. So schildert beispielsweise Lutz Elija Popper (geb. 1938), dass seine Mutter Friederike, die als „Arierin“ ihrem „jüdischen“ Ehemann, dem Arzt Ludwig Popper (1904–1984), ins Exil gefolgt war, nach Ende der NS-Zeit zu ihrer in Wien zurückgebliebenen, alleinstehenden Mutter zurückwollte. Zudem war die Situation in Bolivien, wohin es die Poppers verschlagen hatte, in jedweder Hinsicht schwierig. Für eine Rückkehr nach Wien sprach im Fall dieser Familie auch, dass das im Jänner 1933 eingeleitete Habilitationsverfahren Ludwig Poppers an der Universität Wien 1938 abgebrochen worden war. Im Oktober 1947 zurückgekehrt, wurde er schließlich mit Dekret vom 15. Juni 1948 zum Universitätsdozenten für Interne Medizin habilitiert. Der Sozialdemokrat Popper arbeitete ab 1948 als Referatsleiter im Gesundheitsamt der Stadt Wien, bis er 1952 Primararzt im Krankenhaus der Stadt Wien-Lainz wurde, und zudem von 1948 bis 1969 als Leiter der Zentralambulanz für Betriebsfürsorge und Berufskrankheiten der Wiener Gebietskrankenkasse für Arbeiter und Angestellte.61 Hier zeigt sich auch ein weiterer Aspekt der Motivationen: Mitglieder politischer Parteien kehrten wesentlich häufiger zurück, sei es, dass sie dazu aufgefordert wurden, sei es, dass sie hofften, der Neubeginn würde sich mithilfe dieser Netzwerke leichter bewerkstelligen lassen. Schließlich spielten bei der Entscheidung zur Rückkehr auch wirtschaftliche Gründe eine nicht zu unterschätzende Rolle. Während es in den zahlenmäßig bedeutendsten Immigrationsländern USA und Großbritannien zwar nötig war, das ärztliche Diplom nostrifizieren zu lassen, und in Israel eine Warteliste für die Zulassung geführt wurde, war es in anderen Ländern wie z. B. Frankreich und den meisten lateinamerikanischen Staaten nahezu unmöglich, mit einem ausländischen Abschluss den ärztlichen Beruf auszuüben. Aus den USA kehrten folglich 3,3 Prozent, aus Großbritannien 10,1 Prozent, aus Israel 8,6 Prozent, aus Südamerika 17,6 Prozent und aus Frankreich 35 Prozent der geflüchteten MedizinerInnen zurück. Zumeist waren bei der Entscheidung zur Remigration mehrere der genannten Motive ausschlaggebend. Darüber hinaus spielte in vielen Fällen auch ein Motiv eine bedeutende Rolle, das im wissenschaftlichen Kontext oft unerwähnt bleibt, nämlich das Emotionale, schlicht Heimweh. Die Auswertung des diesem Beitrag zugrunde liegenden Projekts über die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung österreichischer Ärzte und Ärztinnen in der NS-Zeit ergibt folgende Zahlen: Von den 4.188 österreichischen Ärzten und Ärztinnen, deren Biografien untersucht wurden, flüchteten 2.603 nachweislich 61 Ludwig Popper/Lutz Elija Popper (Hg.), Bolivien für Gringos: Exil-Tagebuch eines Wiener Arztes, Oberwart: Edition Lex Liszt 2005; Ludwig Popper/Friederike Popper/Elija Lutz (Hg.), Briefe aus einer versinkenden Welt 1938/1939, Oberwart: Edition Lex Liszt 2016. Herzlichen Dank an Lutz E. Popper für die erhellenden und berührenden Gespräche!

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Remigration nach Österreich ab Mai 1945

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ab 12. März 1938. Davon waren 230 nicht mehr am Leben, als die Rückkehr nach Österreich möglich wurde. 101 wurden aus ihren Zufluchtsländern deportiert und ermordet, weitere 129 verstarben im Exil während oder kurz nach dem Ende der NS-Zeit. Es verbleiben also 2.373, wovon in 250 Fällen festgestellt werden konnte, dass sie ab Mai 1945 nach Österreich zurückkehrten, was 10,5 Prozent entspricht. In der Forschung wird zumeist von einer Rückkehrrate zwischen vier und sechs Prozent ausgegangen, was aber weder für die MedizinerInnen noch für die RechtsanwältInnen zutrifft. So flüchteten 1.210 der insgesamt 1.914 NSverfolgten österreichischen Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, von den 1.028, die nach Ende der NS-Zeit noch am Leben waren, kehrten 243 aus dem Exil zurück, das entspricht 23,6 Prozent. Es kehrten somit also rund zweieinhalb Mal so viele Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als Ärztinnen und Ärzte zurück. Über die Gründe für diesen eklatanten Unterschied kann nur spekuliert werden. Abgesehen von den zuvor genannten Motivationen, die für alle Geflüchteten infrage kamen, waren wahrscheinlich zwei Aspekte entscheidend: Einerseits war ein österreichischer Studienabschluss in Rechtswissenschaften in keinem Exilland verwertbar und daher die berufliche Neuetablierung wesentlich schwieriger als für Exilierte, die ein Medizinstudium absolviert hatten. Das zeigt sich konkret beispielsweise am Fall des Dr. Eduard Max Tiger (1906–1989), der in Wien zunächst Medizin studiert hatte, das Studium jedoch zugunsten eines Jus-Studiums abgebrochen hatte und Rechtsanwalt geworden war. Im englischen Exil schloss er sein Medizinstudium ab und arbeitete fortan als Arzt. 1956 kehrte er nach Wien zurück und war hier wieder als Rechtsanwalt tätig, bis er 1975 im 70. Lebensjahr auf die Ausübung verzichtete. Er starb 1989 in Stanmore. Hier zeigt sich auch ein Phänomen, das bei näherer Beschäftigung mit einzelnen Biografien immer wieder zu beobachten ist, nämlich dass einzelne Personen zwar zurückkehrten, in der Folge aber zwischen Österreich und ihrem Exilland „pendelten“ oder im Ruhestand wieder in einem anderen Land lebten, dies zumeist bei ihren mittlerweile erwachsenen Kindern. Ausschlaggebend für die Entscheidung über Verbleib im Exil oder Rückkehr nach Österreich waren zweifellos die Möglichkeiten der beruflichen Neuetablierung. Um wieder im ärztlichen Beruf tätig zu werden, war zwar in den meisten Exilländern ein Nostrifizierungsprozess zu durchlaufen, doch war es immerhin möglich, dann wieder zu praktizieren. Die Ausübung des Anwaltsberufs hingegen erforderte überall ein neuerliches Jus-Studium in vollkommen unterschiedlichen Rechtssystemen, eine neuerliche Anwaltsausbildung sowie die perfekte Kenntnis der Sprache des Aufnahmelandes. Ein weiterer Grund für die vergleichsweise sehr hohe Rückkehrrate unter den Rechtsanwälten (und einer Anwältin) dürfte in der sehr starken Politisierung dieser Berufsgruppe zu sehen sein und in dem damit verbundenen Wunsch, am Wiederaufbau eines demokratischen Österreich mit einem funktionierenden Rechtssystem mitzuwirken.

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Hinsichtlich der Rückkehr konnten im Verlauf des genannten Forschungsprojekts Ärzte und Ärztinnen in Österreich 1938–1945 folgende Zahlen ermittelt werden: USA 44 von 1.335 (3,3 %); Großbritannien 38 von 376 (10,1 %); Israel 18 von 210 (8,6 %); Südamerika 15 von 85 (17,6 %); Frankreich 28 von 80 (35 %); Australien 4 von 73 (5,5 %); Asien 43 von 69 (62,3 %); Benelux 4 von 32 (12,5 %;) Schweiz 6 von 30 (20 %); Kanada 1 von 28 (3,5 %); Italien 4 von 21 (19 %); Jugoslawien 3 von 18 (16,7 %); Mittelamerika 1 von 18 (5,5 %); Afrika 4 von 17 (23,5 %); Neuseeland 0 von 13; Ungarn 4 von 11 (36,3 %); Schweden 1 von 10 (10 %); andere europäische Länder 11 von 41 (26,8 %). Am höchsten war also der Anteil von RückkehrerInnen aus Asien (meist Shanghai), Südamerika, Frankreich und anderen europäischen Ländern.

Ausgewählte Biografien Im Folgenden werden einige Biografien vorgestellt, wobei für deren Auswahl einerseits den Ausschlag gab, dass diese im Unterschied zu vielen nur fragmentarisch rekonstruierbaren Schicksalen gut dokumentiert sind. Andererseits macht diese Zusammenstellung von Biografien die Vielfalt der konkreten beruflichen Ausgangslagen in Österreich und die Umstände der jeweiligen Fluchtvorgänge, die unterschiedlichen privaten Schicksale nach dem „Anschluss“, die geschlechtsspezifischen Dimensionen betreffend die Berufsausübungsmöglichkeiten im Exil sowie die verschiedenen Motivationen zur Rückkehr und die Schwierigkeiten der Anknüpfung an die unterbrochenen Karrieren sichtbar. Sie zeigt aber auch den (unfreiwilligen) Verbleib im Exilland und die ReEmigration nach einer gescheiterten „Heimkehr“. Etwas mehr als ein Jahr nach der im Mai 1947 erfolgten Rückkehr des ÄrzteEhepaares Weingarten schrieb Herbert Weingarten (1909–2000) an die für Opferfürsorge zuständige Wiener Magistratsabteilung: „Nachdem meine Frau [Klara] am 13. März 1938 gewaltsam aus ihrer Stellung am Rosenhügel entfernt worden war, wohnte sie bis Juni 1938 in meiner Wohnung III., Gerlgasse 16, ohne selbstverständlich irgendeinem Erwerb nachgehen zu können. Im Juni 1938 verließen wir gemeinsam Österreich, da durch die Naziinvasion meine Tätigkeit als praktischer Arzt unmöglich gemacht worden war. Wir blieben bis Ende 1938 in Frankreich, wo wir uns notdürftig über Wasser hielten von den Einkünften, die meine Frau mit der Pflege und Beaufsichtigung kleiner Kinder erzielen konnte. Für mich war in Frankreich keinerlei Erwerbsmöglichkeit vorhanden, so dass wir im Dezember 1938 nach Montevideo, Uruguay, Südamerika emigrierten. Dort konnte meine Frau nach Überwindung der größten Schwierigkeiten, die durch fehlende Sprachkenntnisse, ungewohntes Milieu etc. entstanden waren, nach etwa einem halben Jahre eine Stelle als Laborantin in dem Klinischen Laboratorium einer Krankenkasse bekommen. Ungefähr

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ein halbes Jahr später konnte ich in einer pharmazeutischen Fabrik eine Stelle als Ärztebesucher bekommen, und so gelang es uns durch angestrengte Arbeit gerade so viel zu verdienen, als wir zur Deckung der dringendsten Lebensnotwendigkeiten eben brauchten. Als durch den Zusammenbruch des Naziregimes die Möglichkeit vorhanden war, wieder in die Heimat und den akademischen Beruf zurückzukehren, benützten wir die erste Gelegenheit und unsere gesamten Ersparnisse, um die Rückreise nach Österreich anzutreten.“62

Herbert Weingarten konnte nach der Rückkehr seine 1938 unterbrochene Ausbildung zum Facharzt abschließen, eröffnete im November 1947 eine Praxis und wurde Leiter der urologischen Ambulanz im Sophienspital. Zudem fungierte er auch als Konsul von Uruguay in Wien. Klara Weingarten (1909–1973), die bereits 1938 ein Ansuchen um Anerkennung als Fachärztin gestellt und in Montevideo zuletzt als Assistenzärztin an der psychiatrischen Klinik gearbeitet hatte, erhielt nach der Rückkehr die Zulassung als Neurologin, wurde in der Folge Konsiliarprimaria am Hanusch-Krankenhaus, arbeitete zudem als unbezahlte Assistentin an der psychiatrisch-neurologischen Universitätsklinik, konnte sich 1956/ 57 habilitieren und wurde im April 1964 die erste außerordentliche Professorin für Neurologie in Österreich. Zu den auch außerhalb medizinischer Kreise bekannten Rückkehrern zählte der „Fußballdoktor“ Medizinalrat Emanuel Michl Schwarz (1878–1968). Offizier im Ersten Weltkrieg, Kurarzt und Vertrauensarzt der Wiener Haute Bourgeoisie pflegte er Fußballspieler kostenlos zu behandeln. „Dafür, so meinte er, würden ja ‚die Rothschilds und die Starhembergs‘ zahlen.“63 Ab 1931 fungierte er als Präsident des Wiener Fußballclubs Austria, bis er nach dem „Anschluss“ aus diesem Amt vertrieben wurde. Schwarz war zwar nach September 1938 als „Krankenbehandler für Juden“ zugelassen und in Wien 1 tätig, reiste jedoch im Mai 1939 zunächst mit Unterstützung des italienischen Verbandspräsidenten Giovanni Mauro nach Bologna aus. Von dort konnte er mit Unterstützung seiner Frau und einer Bürgschaft des FIFA-Präsidenten Jules Rimet weiter nach Paris gelangen, später nach Grenoble und in das westfranzösische Angoulême. Als Arzt durfte auch Schwarz in Frankreich nicht arbeiten, er konnte jedoch als Sportmasseur wenigstens zeitweise ein bescheidenes Einkommen erzielen. Im Juni 1940 erfolgte die Scheidung von seiner Ehefrau Leopoldine, sie hielten aber den Kontakt aufrecht. Wie nahezu alle Flüchtlinge in Frankreich wurde auch er in einem Internierungslager festgehalten, konnte jedoch flüchten und überlebte bis zur Befreiung. Seine Rückkehr nach Wien erfolgte bereits am 4. Dezember 1945 mit dem französischen Fußballteam, das zum ersten internationalen Sportereignis 62 Opferfürsorgeakten – Entschädigungen (E): Dr. Herbert Weingarten; Schreiben vom 2. 8. 1948. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), M.Abt. 208, A36. 63 Emanuel Schwarz, URL: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Emanuel_Schwarz (abgerufen am 30. 9. 2021).

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nach Kriegsende anreiste. Schwarz wurde wieder zum Präsidenten der Austria, erhielt 1948 den Titel Obermedizinalrat verliehen und 1964 das Goldene Ehrenzeichen der Republik Österreich. 1951 heirateten er und seine Ehefrau Poldi neuerlich. Idealtypisch für die bereits angesprochene verhältnismäßig häufige Remigration politisch Engagierter ist der Lebensweg der 1908 in Wien geborenen Gabriele Stern (1908–1993). Sie stand bereits seit Studientagen der Kommunistischen Partei nahe. Im April 1933 an der Wiener Universität promoviert, arbeitete sie ab Dezember 1933 als aspirierende Hospitantin im Lainzer Spital der Stadt Wien. Der übliche Aufstieg zu einer bezahlten Stelle blieb ihr als Frau, Jüdin und Kommunistin jedoch verwehrt: „Im Zuge der Februarereignisse wurde ich nicht mehr zum Dienst eingeteilt. Dadurch unterblieb die Ernennung zum Sekundararzt. Als Hospitantin gab es keine Bezüge. Nach Abschluß des Praktikums gab ich diese Stellung auf, heiratete den praktischen Arzt Dr. Kelen und richtete mir mit diesem eine Praxis […] ein.“64

Im Mai 1939 reiste sie nach England aus und konnte mit einem von einer Tante beschafften Affidavit im August desselben Jahres in die USA gelangen. Ihr in Czernowitz (Tscherniwzi) geborener Ehemann erhielt jedoch aufgrund der Quotenregelung kein Einreisevisum. „Ich brachte mich als Hilfsschwester und mit Hilfe eines Stipendiums fort. Erst nach Ablegung der erforderlichen Prüfungen konnte ich in den USA im Jahre 1941 die ärztliche Tätigkeit ausüben. Diese Tätigkeit bestand darin, daß man fallweise von der Flüchtlingsorganisation herangezogen wurde. Zwischendurch erhielt man eine Unterstützung. Das Einkommen als Hilfsschwester bestand manchesmal aus einem Taggeld von 1 $, meistens wurde aber nur die Verpflegung gegeben.“65

Im Dezember 1946 kehrte Gabriele Kelen mit einem französischen Repatriierungsschein nach Wien zurück. Ihre 1944 erfolgte Einbürgerung in die USA verschwieg sie dabei anscheinend wohlweislich – schließlich war die österreichische Staatsbürgerschaft wie auch schon bis März 1938 Voraussetzung für die Berechtigung zur Ausübung ärztlicher Praxis. Erich Kelen (1909–1961) kehrte ebenfalls im Spätherbst 1946 nach Wien zurück, doch wurde die Ehe wenige Monate später geschieden. Mit 1. Dezember 1948 ließ sich Gabriele Kelen im fünften Wiener Gemeindebezirk als Allgemeinmedizinerin nieder, erhielt nun auch Verträge mit den Krankenkassen und arbeitete zudem als Ambulatoriumsärztin der Gebietskrankenkasse. Sie verstarb 1993 als Gabriele Rischanek.66 64 Opferfürsorgeakten – Entschädigungen (E): Dr. Gabriele Rischanek, Niederschrift 3. 12. 1963. WStLA, M.Abt. 208, A36. 65 Ebd. 66 1956 heiratete sie Rudolf Rischanek, der 1986 verstarb. Danach erkrankte sie selbst schwer und lebte zuletzt in einem Pflegeheim für Ärztinnen in Wien. Katarina Holländer/Hanno

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Erich Kelen kehrte nach Wien zurück, obwohl ihm im englischen Exil die berufliche Etablierung einigermaßen gelungen war. 1948 schrieb er: „Nach der Machtergreifung der Nazis konnte ich meine ärztliche Praxis nicht mehr ausüben. Es gelang mir[,] illegal unter Zurücklassung meiner Einrichtung, Bücher etc. über die Schweizer Grenze zu entkommen. Erst im Jahre 1942 – also nach vier Jahren – bekam ich in England die Bewilligung, wieder als Arzt zu arbeiten. Bis dahin verfügte ich über gar kein Einkommen. – Abgesehen von diesen effektiven Verlusten, mußte ich nach meiner Rückkehr aus der Emigration im November 1946 wieder ganz von vorn anfangen, mir als Arzt eine Existenz zu schaffen, was gerade in diesem Beruf unter den heutigen Umständen (Wohnung, Einrichtung! etc.) besonders schwierig ist.“67

In Wien erhielt Kelen die Anerkennung als Facharzt für medizinische Laboruntersuchungen und wurde Leiter der Prosektur im Hanusch-Krankenhaus bis zur Zurücklegung dieser Stelle aus gesundheitlichen Gründen. Zudem arbeitete er als leitender Arzt des Labors der Gebietskrankenkasse und gab ab ca. 1953 gemeinsam mit Franz David (1900–1992), dem ärztlichen Direktor des HanuschKrankenhauses die Zeitschrift Der Volksarzt. Fragen des Gesundheitsdienstes der Sozialversicherung heraus. Er starb Ende 1961 im Alter von nur 52 Jahren. Obwohl sich unter den Zurückgekehrten viele politische Flüchtlinge befanden, die auch rassistisch verfolgt gewesen waren, konnten durchaus nicht alle, die das wünschten, nach dem Ende der NS-Zeit heimkehren. Der 1863 geborene Wilhelm Ellenbogen (1863–1951) war bereits 1919 als Kassenarzt der Arbeiterkrankenversicherung pensioniert worden und bis 1934 als praktischer Arzt tätig gewesen. Als prominentes Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und ab 1891 Leiter des Unterrichtsverbandes der Arbeiterbildungs- und Fachvereine Wiens wirkte er ab 1901 als Abgeordneter, zuerst im Reichsrat, später in der Nationalversammlung. Nach dem Ersten Weltkrieg Präsident der Staatskommission für Sozialisierung (1919), hatte Ellenbogen eine Reihe weiterer politischer Funktionen inne und konnte auf eine umfangreiche Vortrags- und Publikationstätigkeit verweisen. 1934 wurde er nach den Februarkämpfen verhaftet und im Anhaltelager Wöllersdorf interniert, 1935 wurde das Verfahren eingestellt. Nach dem „Anschluss“ war er neuerlich kurz in Haft und reiste am 1. Mai 1939 nach Paris aus. Dort war er Mitglied der sozialistischen Emigrantengruppe um Friedrich Adler. Nach Kriegsbeginn führte seine Flucht weiter nach Montauban in Südfrankreich und in der Folge mit seinen ebenfalls betagten Geschwistern Gisela und Leopold Ellenbogen zu Fuß über die verschneiten Pyrenäen, wo ihnen die illegale Überquerung der spanischen Grenze gelang. Die Reise Loewy (Hg.), Ein gewisses jüdisches Etwas. Ausstellungskatalog Jüdisches Museum Hohenems, Hohenems: Bucher 2010, 53–54. 67 Opferfürsorgeakten – Entschädigungen (E): Dr. Erich Kelen, Schreiben 22. 5. 1948. WStLA, M.Abt. 208, A36.

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führte weiter mit der Bahn über Madrid nach Portugal und schließlich mit dem Schiff von Lissabon in die USA. Am 13. Oktober 1940 traf Ellenbogen in New York ein. 1942 bis 1944 war er Mitglied des Advisory Board, 1943 bis 1945 Vorstandsmitglied des Austrian Labor Committee (ALC) und ab 1944 dessen Obmann. Auch fungierte er als Herausgeber der Austrian Labor Information und ab 1946 als Ehrenpräsident der American Friends of Austrian Labor. Sein Wunsch, nach Ende der NS-Zeit nach Österreich zurückzukehren, wurde von der damaligen Parteileitung nicht unterstützt. Ellenbogen starb am 25. Februar 1951 in New York City. Eine offizielle Aufforderung oder Einladung zur Rückkehr der Vertriebenen seitens des Nachkriegsösterreich gab es, wie bereits dargestellt, nicht, sieht man von Einzelfällen ab, wie z. B. bei Alexander Sarlai (1898–1989), der bis 1938 in Brunn an der Erlauf in Niederösterreich praktiziert hatte, zum evangelischen Glauben konvertiert und mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet war. Er hatte nach dem „Anschluss“ die Flucht nach China ergriffen und dort in einem Missionsspital gearbeitet. In einem mit 22. August 1946 datierten Schreiben des damaligen Präsidenten der Wiener Ärztekammer Alexander Hartwich heißt es: „Die Wiener Ärztekammer fordert hiemit Dr. Alexander Sarlai, derzeit Changli General Hospital Methodist Mission […] zur Wiederaufnahme der Tätigkeit in Österreich als Arzt an und bestätigt, daß die Rückkehr des Genannten im Interesse des österreichischen Staates gelegen ist; daß die Existenz des Obgenannten nach seiner Rückkehr gesichert erscheint; und daß seine Rückkehr im Interesse des öffentlichen Gesundheitsdienstes von wesentlicher Bedeutung ist.“68

Sarlai kehrte tatsächlich zurück und wurde Fürsorgearzt in seiner Geburtsstadt Oberwart. Es ist anzunehmen, dass diesem Einladungsbrief eine Korrespondenz vorangegangen war, die jedoch nicht erhalten ist. Trotz der zumeist bescheidenen Erwartungen der RemigrantInnen war die „Heimkehr“ nach Österreich vielfach mit Enttäuschungen verbunden, einige der (vermeintlich) Heimgekehrten konnten nicht mehr Fuß fassen und verließen das Land neuerlich. Der 1911 im ungarischen Kaba geborene Georg Biró (1911–nach 1977) promovierte am 15. Oktober 1937 und trat in die Ärztekammer ein. Er flüchtete am 11. August 1938 nach Zypern, wurde dort 1940 in einem Internierungslager angehalten und im Juni 1941 durch die britischen Behörden nach Palästina evakuiert. Im November 1949 kehrte er nach Österreich zurück und wurde neuerlich Mitglied der Wiener Ärztekammer. Nahezu drei Jahre später verließ er mit seinen Eltern Moritz und Josefa sowie seinem Bruder Stefan Biró das Land Richtung Kanada, wo sie am 22. August 1952 eintrafen. Biró lebte fortan

68 Opferfürsorgeakten – Entschädigungen (E): Dr. Alexander Sarlai, Schreiben von Dr. A. Hartwich, 22. 8. 1946. WStLA, M.Abt. 208, A36.

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Remigration nach Österreich ab Mai 1945

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in Toronto, Ontario, praktizierte als Allgemeinmediziner und wurde in der Folge eingebürgert.

„Schock der Remigration“ Wie dargestellt, fehlte in Österreich nach dem Ende der NS-Herrschaft, wie es Brigitte Bailer-Galanda mit Bezug auf Aussagen im Nationalrat trefflich formulierte, „jegliche Sensibilität für die besondere Situation der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, deren Probleme in bewährter NS-Diktion als ‚Judenfrage‘ apostrophiert wurden, die einer ‚gerechten Lösung und Behandlung zugeführt‘ werden müsse“.69 Für viele RückkehrerInnen war die Remigration daher eine tiefe und bittere Enttäuschung. Ihre Anhänglichkeit an die „alte“ Heimat wurde nicht erwidert und führte vielfach wohl zu einer regelrechten Retraumatisierung. Die Kunsthistorikerin Hilde Zaloscer (1903–1999) brachte den „Schock der Remigration“ auf den Punkt: „das voll Entsetzen erlebte Wiedersehen mit dem Land, das man hatte verlassen müssen, weil man unerwünscht war, und in dem sich nichts geändert hatte. Wo man ebenso unerwünscht war wie ehedem.“ Sie sei daher „nicht an der Emigration nach Afrika zerbrochen“, vielmehr: „Gebrochen hat mich die Re-Emigration nach Wien.“70

69 Brigitte Bailer-Galanda, Vergangenheitspolitik in Österreich, in: Heiner Timmermann (Hg.), Vergangenheitsbewältigung in Europa im 20. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin: LIT 2010, 63–73, 46. 70 Zit. n. Embacher, Eine Heimkehr gibt es nicht?, 199.

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Herwig Czech

Die Entnazifizierung der Wiener Medizinischen Fakultät im Kontext der österreichischen Medizin – zwischen personellen Kontinuitäten, konservativer Elitenrestauration und demokratischem Neubeginn The Denazification of the Vienna Medical Faculty in the Context of Austrian Medicine – Between Professional Continuities, Conservative Restauration and a Democratic New Beginning Abstracts Die Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus ist unter anderem durch einen sehr hohen Grad an politisch-ideologischer Durchdringung gekennzeichnet. Dies ist ablesbar nicht zuletzt an den hohen Anteilen von Mitgliedern der NSDAP und ihrer Gliederungen im ärztlichen Beruf, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universitäten. Nach der Befreiung vom NS-Regime stand die von den Alliierten in Gang gesetzte Entnazifizierung vor der schwierigen Aufgabe, eine personelle und ideologische Neuaufstellung der österreichischen Medizin auf demokratischer Grundlage zu gewährleisten. Wie die vorliegende Darstellung der Entnazifizierungspolitik in der österreichischen Medizin mit besonderer Berücksichtigung der Wiener Medizinischen Fakultät zeigt, wurde dieses Ziel nur in sehr eingeschränktem Maß erreicht, mit bis heute nachwirkenden Folgen. The history of medicine under National Socialism is marked by a high degree of politization and ideologization. This is evident, not least in the high numbers of doctors within the ranks of the Nazi Party and its divisions, both within and outside of universities. After the liberation from the Nazi regime, denazification, initiated by the Allied powers, stood before the daunting task of ensuring a complete reorganization of Austrian medicine based on democratic principles. The following analysis of denazification policies within Austrian medicine, with emphasis on the Viennese Faculty of Medicine, shows that this goal was reached only to a limited degree, with repercussions lasting to this day. Keywords Nationalsozialismus; Österreich; Zweiter Weltkrieg; Wiener Medizinische Fakultät; Universität Wien; Entnazifizierung National Socialism; Austria; World War II; Vienna Faculty of Medicine; Vienna University; Denazification

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Herwig Czech

Einleitung1 Angesichts der ab März 1938 durch das nationalsozialistische Regime veranlassten Vertreibungen sowie des hohen Anteils an NS-Parteigängern unter den zwischen 1938 und 1945 an der Wiener Medizinischen Fakultät Tätigen ist die Durchführung der Entnazifizierungspolitik nach der Befreiung 1945 von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Wiener Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg. Zur Diskussion steht dabei nicht nur die Frage nach dem Ausmaß personeller Kontinuitäten zur NS-Periode, sondern auch jene nach den jeweiligen Rollen der verschiedenen an dem Prozess beteiligten Akteure und Institutionen – die vier Besatzungsmächte, die österreichischen Behörden, politische Parteien und Organisationen, die Standesvertretung bis hin zu involvierten informellen Netzwerken. Obwohl die Entnazifizierung in Österreich seit Dieter Stiefels wegweisender Studie von 1981 Gegenstand zahlreicher zeitgeschichtlicher Studien war, bleibt der entsprechende Forschungsstand in Bezug auf die Medizin überschaubar.2 Dabei verdient das medizinische Feld aus mehreren Gründen eine detaillierte Betrachtung. Zum einen wies der ärztliche Berufsstand mit Abstand den höchsten Anteil an Mitgliedern in der NSDAP und anderen NS-Organisationen auf. Ermöglicht wurde diese radikale Nazifizierung zum einen durch bereits existierende starke antisemitische und deutschnationale Traditionslinien, zum anderen durch Ausschluss und Vertreibung der jüdischen ÄrztInnen 1938/39 – mit den stärksten Auswirkungen in Wien, wo diese einen Anteil von ungefähr zwei Dritteln ausmachten. Wie Michael Hubenstorf erhob, waren 60,4 Prozent der österreichischen Ärzte (und Ärztinnen) Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Organisationen gewesen (so waren 34,6 Prozent in der NSDAP und 30,2 Prozent – inklusive Anwärter – im Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund). Unter 1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung einer früheren Arbeit: Herwig Czech, Braune Westen, weiße Mäntel. Die Versuche einer Entnazifizierung der Medizin in Österreich, in: Herwig Czech/Paul Weindling (im Auftrag des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes) (Hg.), O¨ sterreichische A¨ rzte und A¨ rztinnen im Nationalsozialismus, Wien: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 2017, 179–201; zuvor bereits kürzer als Herwig Czech, „Man muss den Kopf abtreiben, damit nicht die Glieder wieder ¨ sterreich, in: Lucile nachwachsen“. Anmerkungen zur Entnazifizierung der Medizin in O Dreidemy u. a. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Bd. 1, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2015, 357–371. Dort findet sich auch die relevante Forschungsliteratur, für deren Nennung hier kein Platz ist. Als wichtigste Werke seien hier erwähnt Ingrid Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955. Entnazifizierung, Personalpolitik und Wissenschaftsentwicklung, Diss., Wien 2013 und Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren. Mit Professorenportraits, Göttingen–Wien: V&R unipress/ Vienna Univ. Press 2014. 2 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien–München–Zürich: Europaverlag 1981.

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Die Entnazifizierung der Wiener Medizinischen Fakultät

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den Männern waren 18,2 Prozent SA-Mitglieder, 8,2 Prozent gehörten der SS an. 11,6 Prozent der Ärztinnen waren Angehörige der NS-Frauenschaft.3 Mit dieser politischen Durchdringung eng verbunden war die zentrale ideologische und legitimatorische Bedeutung von Medizin und Biopolitik in Gestalt der NS-„Rassenhygiene“ mit ihren bekannten verbrecherischen Konsequenzen in Gestalt von zwangsweiser Sterilisation und Ermordung von hunderttausenden Menschen. Mediziner (und einige Medizinerinnen) waren an diesen Taten führend beteiligt. Ausgehend von diesen Tatsachen wäre für die Jahre nach 1945 ein zumindest ebenso radikaler Bruch in der Medizin zu erwarten wie 1938/39. Doch dem zumindest anfänglich durchaus vorhandenen Willen zu einer tiefgehenden Entnazifizierung standen wichtige Faktoren entgegen, nicht zuletzt die Notwendigkeit, die medizinische Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Die Durchsetzung der Entnazifizierung, die wie in anderen Gesellschaftsbereichen im Wesentlichen auf Druck der Besatzungsmächte vorangetrieben wurde, hatte vor dem Hintergrund einer sich durch Kriegsschäden an der Infrastruktur, Nahrungsmangel und Infektionskrankheiten stark zuspitzenden Krise der Gesundheitssituation der Bevölkerung zu erfolgen. Zwar stand bereits relativ bald nach der Befreiung eine mehr als ausreichende Zahl von MedizinerInnen zur Verfügung, häufig handelte es sich dabei jedoch um hastig für die Wehrmacht ausgebildete Jungärzte. Anerkannte SpezialistInnen in ihren jeweiligen Fächern waren viel schwerer zu ersetzen und konnten ihr Fachwissen, ihr gesellschaftliches Prestige, vorhandene Beziehungsgeflechte und den politisch zunehmend in den Vordergrund tretenden beginnenden Kalten Krieg dazu nutzen, viele der gegen sie ergriffenen Maßnahmen abzufedern oder rückgängig zu machen. Eine breitere öffentliche oder zumindest fachinterne Auseinandersetzung mit dem ideologischen Erbe des Nationalsozialismus und insbesondere mit den medizinischen Verbrechen (Mordaktionen gegen PsychiatriepatientInnen, Zwangssterilisierungen u. a.) hingegen erfolgte überhaupt nicht. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass eine systematische Rückholung der 1938 Vertriebenen ausblieb.

Entnazifizierung der Medizin – ein aussichtsloses Unterfangen? Der gemeinhin als „Entnazifizierung“ bezeichnete Vorgang war kein einheitlicher Prozess, sondern ein komplexes Geflecht aus zum Teil längerfristig geplanten, zum Teil ad hoc implementierten Maßnahmen, die auf unterschiedliche Akteure zurückgingen, auf vielfältige Widerstände und Vermeidungsstrategien 3 Michael Hubenstorf, Nazi Doctors in Vienna, Vortrag, gehalten am 16. 4. 2015 bei der Tagung „Austrian Physicians and National Socialism“ im Van-Swieten-Saal der MedUni Wien.

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trafen und die im Verlaufe der Zeit zunehmend von einer gegenläufigen Tendenz zur Reintegration der „Ehemaligen“ überlagert/konterkariert wurden. Auch wenn die großen, hauptsächlich durch die Gesetzgebung definierten Meilensteine gewisse Verallgemeinerungen über den Verlauf erlauben, treten durch die Untersuchung der konkreten Umsetzung in spezifischen gesellschaftlichen Feldern jeweils eigene Besonderheiten hervor. Aus der Sicht der Alliierten war die Entnazifizierung zunächst weniger eine gesellschaftspolitische als eine militärische Frage. Es ging darum, verbliebene Einflussmöglichkeiten der zerschlagenen NS-Strukturen zu zerstören, die Sicherheit der Besatzungstruppen zu gewährleisten und die Bildung eines nationalsozialistischen Untergrundes zu verhindern. Auch wenn sich die diesbezüglichen Befürchtungen letztlich nicht bewahrheiteten, blieb das Sicherheitsmotiv im Denken der verantwortlichen Besatzungsoffiziere weiterhin präsent und wurde paradoxerweise, nachdem der vollständige und unumkehrbare militärische Sieg außer Zweifel stand, häufig gegen eine zu radikale Umsetzung der Entnazifizierung ins Treffen geführt. Das Argument lautete nun, dass die Bildung einer Masse von permanent an den gesellschaftlichen Rand gedrängten ehemaligen Nationalsozialisten längerfristig zu einer Destabilisierung und Radikalisierung der österreichischen Nachkriegsgesellschaft führen würde und daher auch aus Sicherheitsgründen eine graduelle Reintegration angezeigt wäre.4 Dies kam im Dezember 1948 auch in einer offiziellen Stellungnahme des USamerikanischen Hochkommissars zum Ausdruck: „Denazification has progressed to the point where Nazi ideology does not constitute the principle [sic] threat to democratic government or to its institutions. To force denazification beyond a reasonable point might develop an unassimilable group, barred from normal participation in public life and private pursuits, which would be subversive in attitude.“5

Eine erste, nicht zentral gelenkte Welle der Entnazifizierung setzte bereits unmittelbar nach dem Ende der Kampfhandlungen ein. Dabei ergriffen unterschiedliche Akteure – Bezirkshauptmannschaften, Bürgermeister, Polizeistellen, Berufsorganisationen oder politische Parteien – die Initiative, um die Leitungsfunktionen in Krankenanstalten, Apotheken und ähnlichen Einrichtungen mit „österreichtreuen“ Personen zu besetzen und die bisherigen InhaberInnen dieser Stellen, die oft vor der heranrückenden Roten Armee geflüchtet waren, zu ersetzen. In den ersten Monaten nach der Befreiung bemühte sich das gesetzlich 4 „Denazification in Austria in Relation to the Treaty“, ohne Datum. National Records Administration (NARA), RG 260, 2077, Box 2, Folder „Denazification (Classified) Miscellaneous 1945–1948“. 5 Statement of U.S. Position on Denazification, 15. 12. 1948. NARA, RG 260, 2077, Box 2, Folder „Denazification (Classified) Miscellaneous 1949–1950“.

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zuständige Volksgesundheitsamt im Staatsamt für soziale Verwaltung, die Kontrolle über diese Vorgänge zu erlangen und eine Vollziehung der (zunächst nur in Ostösterreich gültigen) Bestimmungen (Verbotsgesetz und andere) sicherzustellen. Unter den ApothekerInnen sollten bereits zu diesem frühen Zeitpunkt „Illegale“ und „Ariseure“ durch öffentliche Verwalter ersetzt werden. Bei den ÄrztInnen hingegen drängte die Behörde angesichts des herrschenden Ärztemangels noch im Oktober 1945 darauf, „vorläufig […] noch zuzuwarten“.6 Ein wichtiges Instrument zur Entnazifizierung bildete auch das BeamtenÜberleitungsgesetz vom 22. August 1945. Es bestimmte die Auflösung und Neubildung aller Personalstände im öffentlichen Dienst. Nicht übernommen werden sollten demnach Personen, die nach dem 13. März 1938 in den öffentlichen Dienst eingetreten waren; somit waren sämtliche während der NS-Zeit an den Universitäten erfolgten Berufungen und Einstellungen – unabhängig von der Staatsbürgerschaft – grundsätzlich hinfällig. Das Gesetz schuf auch eine Grundlage für die berufliche Rehabilitierung der zwischen 1934 und 1938 aus politischen Gründen (ausgenommen nationalsozialistischer Betätigung) sowie ab März 1938 aus politischen oder rassistischen Gründen aus ihren Stellen Vertriebenen. Bei den einzelnen Personalentscheidungen hatte allen Erwägungen das „zwingende Staatsinteresse“ vorzugehen, „eine der Republik Österreich ergebene, nach Gesinnung und Haltung einwandfreie österreichische, demokratische Beamtenschaft zu schaffen“.7 Unter den Bediensteten der Stadt Wien waren grundsätzlich die „Illegalen“ (Nationalsozialisten, die zwischen 1933 und 1938 während deren „Verbotszeit“ Mitglieder der österreichischen NSDAP waren) im Juni 1945 außer Dienst gestellt und ihre Bezüge eingestellt worden, wobei nur in etwas weniger als der Hälfte der Fälle auch eine formale Lösung des Dienstverhältnisses erfolgt war. Von den „nicht illegalen“ ehemaligen Nationalsozialisten waren bis zum Februar 1946 nur knapp 18 Prozent gekündigt worden, ein Teil davon wegen Nichterscheinens zum Dienst im Zeitraum bis 30. April 1945. Angehörige dieser Gruppe mussten sich vor einer Sonderkommission verantworten, die über die politische „Tragbarkeit“ zu entscheiden hatte.8 Für „illegale“ NSDAP-Mitglieder bedeutete das Verbotsgesetz potenziell nicht nur die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst, sondern auch die Rechtsfolgen einer Verurteilung wegen Hochverrats. Das hieß für Medizinerinnen und Mediziner den Verlust des Doktorats und damit auch der Berechtigung zur Berufsausübung in freier 6 Aktenvermerk, 6. 10. 1945. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik (ÖstA, AdR), Bundesministerium für soziale Verwaltung (BMfsV), Volksgesundheit, 1945, Karton 1, 160096/ 45. Der Autor dankt Marion Zingler für ihre Hilfe bei den Recherchen in Wiener Archiven. 7 Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, 31. Stück, 30. 8. 1945. Gesetz vom 22. August 1945 zur Wiederherstellung österreichischen Beamtentums (Beamten-Überleitungsgesetz). 8 AV-8/46 Entnazifizierung. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), 1.5.3.A9.8, 1946.

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Praxis. Das Staatsamt für Volksgesundheit verzichtete jedoch zunächst darauf, diese Bestimmung umzusetzen, um die medizinische Versorgung nicht zu gefährden.9 Im Wiener Allgemeinen Krankenhaus waren noch im Jänner 1946 zahlreiche schwer belastete ehemalige Nationalsozialisten im Dienst, darunter „Illegale“ und frühere Mitglieder von SS und SA.10 Selbst wenn eine Entlassung erfolgte, bedeutete das nicht zwangsläufig ein Karriereende. So erhielt Ludwig Kraul (1892–1955), während des Kriegs Leiter der gynäkologischen Abteilung im Wilhelminenspital, nach seiner Entlassung eine neue Stelle als Primarius im Frauenhospiz der Wiener Gebietskrankenkasse.11 Kraul war einer der zur Durchführung von Zwangssterilisationen namentlich ermächtigten Ärzte gewesen; außerdem hatte er die Verantwortung für die gynäkologische Abteilung des dem Wilhelminenspital angeschlossenen Barackenspitals für ausländische Arbeitskräfte innegehabt, in dem Hunderte von Zwangsarbeiterinnen zu Abtreibungen genötigt worden waren.12 In den westlichen Besatzungszonen verfolgten die Alliierten ihre jeweils eigenen Entnazifizierungsprogramme, bei denen vor allem zu Beginn Fragen der militärischen Sicherheit im Vordergrund standen. Die entsprechenden Gesetze (Verbotsgesetz, Kriegsverbrechergesetz und Wirtschaftssäuberungsgesetz) wurden erst am 18. Dezember 1945 in ihrer Gültigkeit für Gesamtösterreich bestätigt.13 Der Chief Public Safety Officer des US-Elements der Alliierten Kommission hielt jedoch noch Anfang Dezember 1945 explizit daran fest, dass Ärztinnen und Ärzte in freier Praxis nicht von der Entnazifizierungspolitik betroffen sein sollten, sofern sie nicht ohnehin zu verhaften waren.14 Auch von den Bestimmungen des Wirtschaftssäuberungsgesetzes vom September 1945 blieben ÄrztInnen, ApothekerInnen und DentistInnen ausgenommen, wie das zuständige Bundes9 Staatsamt für soziale Verwaltung an Bürgermeister, 28. 9. 1945. WStLA, 1.5.3.A1.627, 1945, M.D.–741/45. 10 Headquarters United States Forces in Austria, Intelligence Summary, 26. 1. 1946. NARA, RG 260, 2118, Box 7, 11. 11 Polizeidirektion Wien, „Vorläufiger Auszug über den Stand der Säuberung in Ämtern und Behörden“, 27. 8. 1946. NARA, RG 260, 2077, Box 18, Folder „Reports Incoming/Monthly Special Reports 20.7“. 12 Herwig Czech, Zwangsarbeit, Medizin und „Rassenpolitik“ in Wien. Ausländische Arbeitskräfte zwischen Ausbeutung und rassistischer Verfolgung, in: Andreas Frewer/Günther Siedbürger (Hg.), Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von „Ausländern“ im Gesundheitswesen, Frankf. a. M.–New York: Campus 2004. 13 „Political Background of De-Nazification“, ohne Datum. NARA, RG 260, 2077, Box 2, Folder „Denazification Misc. 1947, Jan-June“. 14 Vienna, USACA, Internal Affairs Division, Public Health Branch an Military Government Land Salzburg, 1. 12. 1945. NARA, RG 260, 2077, Box 2, Folder „Denazification Misc. 1947, Jan-June“. Zur Entnazifizierung durch die US-Besatzungsmacht siehe bereits Oliver Rath¨ sterreich zwischen kontrollierter Revolution und kolb, U.S.-Entnazifizierungspolitik in O Elitenrestauration (1945–1949), in: Zeitgeschichte 11 (1983/84), 302–325.

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ministerium für soziale Verwaltung in einem eigenen Erlass am 28. Oktober 1946 klarstellte.15 Das Volksgesundheitsamt hatte die Bestimmungen des Verbots- und des Kriegsverbrechergesetzes von Anfang an für unzureichend gehalten, um eine systematische Entfernung der NationalsozialistInnen aus dem Gesundheitsbereich zu gewährleisten.16 Daher sandte es im Oktober 1945 einen Entwurf für ein eigenes Verfassungsgesetz zur Begutachtung aus.17 Neben ÄrztInnen sollte das Gesetz auch PharmazeutInnen, DentistInnen, Hebammen und Krankenpflegepersonal betreffen, wobei als wichtigste Sanktion Berufsverbote von bis zu fünf Jahren vorgesehen waren. Der Entwurf enthielt allerdings auch die Möglichkeit, von einer Bestrafung abzusehen, wenn öffentliche Interessen oder besondere Verdienste der Betroffenen vorlagen. Damit hätte sich für das Volksgesundheitsamt ein erheblicher Ermessensspielraum eröffnet.18 Dieses angestrebte eigene Verfassungsgesetz für die Entnazifizierung in der Medizin kam letztlich nicht zustande, weil sich die drei großen Parteien – SPÖ, ÖVP und KPÖ – auf eine einheitliche Regelung im Rahmen des neuen Nationalsozialistengesetzes einigten, womit auch eine Novellierung des Verbots- und des Kriegsverbrechergesetzes verbunden war.19 Die am 17. Februar 1947 in Kraft getretene Fassung des Nationalsozialistengesetzes sah für „minderbelastete“ Ärzte ein Berufsverbot bis 30. April 1950 vor. Gleichzeitig wurde aber die Möglichkeit geschaffen, im Zuge eines Verfahrens vor einer der für diesen Zweck eingerichteten Kommissionen eine Ausnahme zu erreichen, womit dieser Maßnahme gleich vorweg die Zähne gezogen waren. Dazu kam eine Ausweitung der im § 27 des Verbotsgesetzes von 1945 vorgesehenen Möglichkeit für den Bundespräsidenten, „in Einzelfällen“ Ausnahmen von den Maßnahmen nach Artikel III und IV des Verbotsgesetzes zu gewähren. Diese Ausnahmebestimmung, die auf eine Initiative des späteren Bundespräsidenten Adolf Schärf zugunsten von Leopold Schönbauer (1888–1963) zurückging und daher als „Lex Schönbauer“ bekannt wurde, erwies sich als Rettungs-

15 Sicherheitsdirektion für das Bundesland Salzburg an die Bundespolizeidirektion Salzburg, 22. 11. 1946. NARA, RG 260, 2077, Box 2, Folder „Denazification Misc. 1947, Jan-June“. 16 Verfassungsgesetz über die Bereinigung der Berufsstände im Gesundheitsdienste, ohne Datum (1945). ÖstA, AdR, BMfsV, Volksgesundheit, 1946, Karton 12/Gesetze, V-13633/46. 17 Ärztekammer Wien an Volksgesundheitsamt, 27. 10. 1945 und 23. 4. 1946. ÖstA, AdR, BMfsV, Volksgesundheit, 1946, Karton 12/Gesetze, V-2.920/17/46 und V-16633/46. 18 Verfassungsgesetz über die Bereinigung der Berufsstände im Gesundheitsdienste, ohne Datum (1945). ÖstA, AdR, BMfsV, Volksgesundheit, 1946, Karton 12/Gesetze, V-13633/46. 19 Siehe zur Entwicklung dieser Gesetzgebung und zu vielen Themen rund um Entnazifizierung und juristische Ahndung von NS-Verbrechen: http://www.nachkriegsjustiz.at.

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anker für zahlreiche ehemalige Nationalsozialisten in deren Bemühen um eine Rehabilitierung.20 Bis zur Erlassung des Nationalsozialistengesetzes hatte außerhalb der für die juristische Ahndung der NS-Verbrechen eigens eingerichteten Volksgerichtsbarkeit keine eigene Instanz existiert, die ehemalige NS-ÄrztInnen mit Sanktionen hätte belegen können.21 Die niedergelassenen ÄrztInnen waren bis Herbst 1946 noch nicht einmal überprüft worden.22 Zwar verfügten die Ärztekammern über entsprechende Kommissionen (getrennt nach praktischen, Fach-, Zahnund SpitalsärztInnen), deren Befugnisse erschöpften sich jedoch in der Entlastung der nicht in den Nationalsozialismus Involvierten. Sanktionen gegen die Belasteten konnten sie nicht verfügen.23 Im Juli 1947 gab das Bundesministerium für soziale Verwaltung die Zusammensetzung der Kommissionen bekannt, die über die weitere Berufsausübung der nach dem neuen Nationalsozialistengesetz als „minderbelastet“ eingestuften ÄrztInnen, ZahnärztInnen und PharmazeutInnen entscheiden sollten. Diese standen unter dem Vorsitz von Bundesminister Karl Maisel (1890–1982), die Mitglieder wurden vom Ministerium, den Ärzte- bzw. Apothekerkammern sowie den drei im Parlament vertretenen Parteien nominiert.24 Bis zur Entscheidung der zuständigen Kommission konnte der Beruf weiter ausgeübt werden.25 Bis Ende Oktober 1947 hatten die neuen Kommissionen etwas mehr als 60 Prozent der anhängigen Fälle erledigt. Insgesamt hatten 2.837 minderbelastete ÄrztInnen und 676 PharmazeutInnen um ihre berufliche Rehabilitierung angesucht, davon 1.026 bzw. 282 in Wien. Die Ansuchen von 687 Wiener ÄrztInnen waren bis zum Berichtszeitpunkt erledigt, und zwar in 92 Prozent der Fälle positiv. Bei den PharmazeutInnen lag der Anteil mit 93 Prozent sogar noch etwas höher.26 Nur für die als „belastet“ eingestuften MedizinerInnen und PharmazeutInnen bedeutete das neue Verfassungsgesetz im Prinzip ein sofortiges Berufsverbot – 20 Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Jahrgang 1947, Stück 8, Nr. 25. Zum Fall Leopold Schönbauer und den Details des „Schönbauer-Paragrafen“ siehe den Beitrag von Linda Erker in diesem Band. 21 Social Administration Division, Public Health Sub-Committee, Minutes of the Session of 12th August 1946, 13. 8. 1946. TNA, FO 1020/2660. 22 ACA (British Element), Notes of joint Meeting of Health and Welfare Branches held at Allied Secretariat on 4th September, 1946. TNA, FO 1020/2660. 23 Social Administration Division, Public Health Sub-Committee, Minutes of the Session of 12. August 1946, 13. 8. 1946. TNA, FO 1020/2660. 24 Bundesministerium für soziale Verwaltung, 15. 7. 1947. NARA, RG 260, 2077, Box 22, Folder „Paragraph 19-Commissions“, Zl. V-80.999–21/47. 25 Bundesministerium für soziale Verwaltung an Landesregierungen und Wiener Magistrat, 9. 7. 1947. NARA, RG 260, 2077, Box 22, Folder „Paragraph 19-Commissions“, Zl. V-76.462–21/47. 26 Mitteilung über die Tätigkeit der gemäß § 2 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Nationalsozialistengesetzes […] errichteten Kommission bis einschließlich 31. Oktober 1947, 6. 11. 1947 [Eingangsstempel]. TNA, FO 1020/2757.

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für ÄrztInnen sollte dieses dauerhaft gelten, für die anderen Berufe bis zum 30. April 1955.27 Die starke Nazifizierung des ärztlichen Berufs sowie die große Bedeutung der medizinischen Versorgung hatten zur Folge, dass in keinem anderen Feld – mit Ausnahme der Führungsebenen in Industriebetrieben – vergleichbare Zahlen von ehemaligen NationalsozialistInnen tätig waren. Die schleppende Implementierung des Gesetzes hatte aber auch viel mit dem mehr oder weniger aktiven Widerstand auf den unteren Ebenen des Verwaltungsapparats in den einzelnen Bundesländern zu tun. Ein besonders eklatantes Beispiel ist die NS-Registrierungsbehörde in Klagenfurt, deren Leitung ein eigentlich mit Berufsverbot belegter ehemaliger Nationalsozialist innehatte, dessen Entfernung erst nach einer direkten Intervention des Bundeskanzleramts möglich war.28 Die routinemäßige Auswertung des Briefverkehrs durch die US-amerikanische Zensurstelle förderte Ende Februar 1947 eine verbreitete Unzufriedenheit mit dem Umstand zutage, dass nationalsozialistisch belastete Ärztinnen und Ärzte weiterhin in Spitälern arbeiten durften, während einfache ArbeiterInnen, Beamte und Angestellte von ihren Arbeitsstellen entfernt würden.29 Das Bundesministerium für soziale Verwaltung musste wiederholt feststellen, dass die Bestimmungen des NS-Gesetzes ignoriert wurden, insbesondere bei Berufsverboten für belastete ÄrztInnen und PharmazeutInnen; so waren in Amstetten im November 1947 noch alle Belasteten beruflich aktiv.30 Aber auch anderswo weigerten sich häufig die zuständigen Verwaltungsbehörden, gegen illegal praktizierende „Belastete“ vorzugehen.31 Eine entsprechende Erhebung des Wiener Gesundheitsamts ergab, dass es sich dabei nicht um einzelne Übertretungen handelte, sondern „um eine fast allgemeine Nichtbeachtung der gesetzlichen Vorschriften“. Der Leiter des Gesundheitsamts, Ehrenfried Lande (1896–1968), schätzte die Zahl der in Wien ansässigen, auf Dauer vom ärztlichen Beruf auszuschließenden Belasteten auf ungefähr 200. Weitere 500 minderbelastete ÄrztInnen hatten bis April 1950 ihre Tätigkeit einzustellen, da sie keine Ausnahmegenehmigung durch die Berufskommissionen erlangt hatten. Eine mögliche Gefährdung der medi-

27 BM f. soz. Verw. an Landesregierungen und Wiener Magistrat, 9. 7. 1947. NARA, RG 260, 2077, Box 22, Folder „Paragraph 19 – Commissions“, Zl. V-76.808–21/47. 28 ACA (British Element), „Denazification [im Scan unleserlich] to the Passing of Law No 25“, 31. 10. 1947. TNA, FO 1020/2271. 29 HQ Civil Censorship Group/Austria US APO 541, U.S. Army, Special Reports: Displaced Persons, Denazification and Internees Border Crossing and Smuggling, 28. 2. 1947. NARA, RG 260, 2077, Box 18, Folder „Reports Incoming/Monthly Special Reports 20.7“, 5. 30 Volksgesundheitsamt an Landeshauptmann Niederösterreich, 26. 11. 1947. ÖStA, AdR, BMfsV, Volksgesundheit, Karton 138 (1949), Mappe „Gesetze“, V-137427/47, Durchführung des NS-Gesetzes in Niederösterreich. 31 BMfsV, BM Maisel an Landeshauptmänner und Wiener Bürgermeister, 4. 10. 1947: Durchführung des Nationalsozialistengesetzes. TNA, FO 1020/2757.

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zinischen Versorgung sah Lande auch bei rigoroser Durchführung des Gesetzes weder bei den ÄrztInnen noch bei PharmazeutInnen oder DentistInnen.32 Die Schwierigkeiten bei der Entnazifizierung des Apothekenwesens lassen sich daran ablesen, dass das Ministerium für soziale Verwaltung von einem Anteil zwischen 60 und 90 Prozent an ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in der Branche ausging. Eine zu strenge Auslegung der Entnazifizierungsbestimmungen hätte demnach vor allem in der Provinz zur Schließung der Mehrzahl der Apotheken geführt.33 Auch bei den Hebammen stieß das Gesundheitsamt auf erhebliche Schwierigkeiten, ehemalige Nationalsozialistinnen, einschließlich der „Illegalen“, von der Berufstätigkeit auszuschließen. Bis zum Nationalsozialistengesetz von Februar 1947 war dafür keine eigene gesetzliche Handhabe gegeben, sodass auch die politisch schwer Belasteten oft ungehindert weiter praktizieren konnten.34

Die Medizinischen Fakultäten Die Entlassungswelle der Jahre 1938/39 (deren Korrektur 1945 versäumt wurde) bedeutete das Ende der Rolle Wiens als eines der weltweit bedeutendsten Zentren der Medizin, wobei allerdings bereits seit dem Ersten Weltkrieg ein zunehmender Bedeutungsverlust eingesetzt hatte.35 Zwischen April 1945 und Februar 1946 sank der Personalstand der Medizinischen Fakultät um 73 Prozent von 190 Professoren und Dozenten auf 51.36 Auf der höchsten wissenschaftlichen Ebene, bei den Vorständen der Kliniken und Institute, waren 1945 insgesamt 15 Positionen neu zu besetzen. In dieses Vakuum rückten vor allem Professoren und Dozenten katholisch-konservativer Prägung nach, die 1938/39 wegen ihrer politischen Nähe zum Austrofaschismus entfernt worden waren. Der neue Dekan Leopold Arzt (1883–1955) verkörperte diese 32 Gesundheitsamt Lande an Bürgermeister Körner, 7. 10. 1947. WStLA, 1.5.3.A1.664.1947, M.D. 2907/47. 33 Aktenvermerk vom 31. 3. 1946. ÖstA, AdR, BMfsV, Volksgesundheit, 1946, Karton 12/Gesetze, V-13633/46. 34 Gesundheitsamt Wien Dr. Lande an Bundesministerium für soziale Verwaltung, Volksgesundheitsamt, 11. 10. 1946. WStLA, 1.3.2.212.A1. 44. 1946, Mag.Abt.15-8788/46. 35 Michael Hubenstorf, Ende einer Tradition und Fortsetzung als Provinz. Die Medizinischen Fakultäten der Universitäten Berlin und Wien 1925–1950, in: Christoph Meinel/Peter Voswinckel (Hg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart: Verlag für Geschichte der Naturwiss. und Technik 1994, 33– 53, 35, 46. 36 Ingrid Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät 1945. Zwischen Entnazifizierung und katholischer Elitenrestauration, in: Sabine Schleiermacher/Udo Schagen (Hg.), Wissenschaft macht Politik. Hochschule in den politischen Systembrüchen 1933 und 1945 (Wissenschaft, Politik und Gesellschaft 3: Geschichte), Stuttgart: Steiner 2009, 247–262, 255.

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Kontinuität in besonderer Weise.37 Der vornehmliche Fokus auf die Spitzenebenen der akademischen Hierarchie birgt allerdings die Gefahr einer Verzerrung in der Einschätzung der Entnazifizierung an den Universitäten. So hatten bis November 1945 an der Wiener Universität zwar 27 Prozent der ordentlichen und 26 Prozent der außerordentlichen Professoren ihre Stellen verloren, bei den Assistenten betrug der Anteil jedoch nur drei Prozent.38 Ein universitätsspezifischer Mechanismus der Entnazifizierung ist in der automatischen Aberkennung aller während der NS-Zeit erlangten Habilitationen zu sehen. Die Betroffenen hatten um die Wiederverleihung der Venia Legendi anzusuchen, was in manchen Fällen (wie bei Hans Asperger, 1906–198039) reibungslos gelang, in anderen Fällen nur mit Verzögerungen oder über den Umweg einer zweiten Habilitation, wie im Fall des Psychiaters und Gutachters der „T4“-Tötungsaktion Hans Bertha (1901–1964).40 Die Lösung von während der NS-Zeit eingegangenen Dienstverhältnissen auf Basis des bereits erwähnten Beamten-Überleitungsgesetzes traf zahlreiche deutsche Staatsbürger, von den Professoren beispielsweise den (bereits ab Mai 1945 suspendierten) Medizinhistoriker Fritz Lejeune (1892– 1966), den Neurologen Oskar Gagel (1899–1978) sowie den Leiter des kurzlebigen Instituts für Rassenbiologie Lothar Loeffler (1901–1983).41 Im Sommer 1946 waren an der Wiener Medizinischen Fakultät 22 Prozent der Professorenstellen unbesetzt, in Graz sogar 53 Prozent.42 Wie Christian Fleck nachgewiesen hat, hätten die Entnazifizierungsmaßnahmen der ersten Nachkriegszeit im Prinzip die Möglichkeit einer radikalen personellen Erneuerung der österreichischen Universitäten eröffnet, vor allem durch das Potenzial der Vertriebenen von 1938/39. Soweit es ihnen gelungen war, beruflich wieder Fuß zu fassen – was keineswegs selbstverständlich war –, hatten diese in der Zwischenzeit internationale Erfahrungen gesammelt, und viele von ihnen hätte man mit 37 Ebd., 257–258. 38 Headquarters United States Forces in Austria, Special Report No. 2, The Ministry of Education and the Vienna Universities, 8. 11. 1945. NARA, RG 260, 2118, Box 6, Special Reports, 14. 39 Zu Aspergers ungebrochener Karriere vor, während und nach der NS-Zeit siehe Herwig Czech, Hans Asperger, National Socialism and „race hygiene“ in Nazi-era Vienna, in: Molecular Autism 9 (2018), 1–43. 40 Carlos Watzka, Die „Fälle“ Wolfgang Holzer und Hans Bertha sowie andere „Personalia“. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Grazer Psychiatrie 1945–1970, in: Virus – Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 14 (2016), 103–138. 41 Pfefferle/Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert, 171. Auf Antrag des Dekans der Medizinischen Fakultät Leopold Arzt gab es bereits am 23. 6. 1945 einen Beschluss auf Aberkennung der während der NS-Zeit erfolgten Berufungen und Habilitationen. Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955, 60. 42 Christian Fleck, Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Wien, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996), 67–92, 81.

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entsprechenden Angeboten wohl zu einer Rückkehr bewegen können. Diese Chance wurde jedoch zugunsten einer Restauration der konservativen Eliten der Zwischenkriegszeit und einer darauf folgenden schrittweisen Reintegration der ehemaligen NationalsozialistInnen vertan.43 Bereits 1947 öffnete eine Neueinstufung als „minderbelastet“ zahlreichen „Ehemaligen“ eine Tür zur beruflichen Rehabilitierung. Die für die Universitäten in der Steiermark zuständige britische Dienststelle in Graz beklagte sich im Juni 1947 bitter über die zahlreichen Ansuchen auf Wiedereinsetzung von Universitätslehrern.44 Auch an der Medizinischen Fakultät in Wien manifestierte sich der Trend zur Reintegration der ehemaligen NationalsozialistInnen in einer Unzahl an Ansuchen um die Wiederverleihung der Lehrbefugnis. Bis 1962 erreichten mindestens 50 Professoren und Dozenten auf diesem Weg eine Rehabilitierung.45 Trotz der zunächst relativ radikalen personellen Einschnitte an der Medizinischen Fakultät lässt sich daher auf längere Sicht eine bemerkenswerte Kontinuität feststellen. So waren 14 von 24 Professoren der ersten Nachkriegszeit (bis ca. 1950) bereits zwischen 1940 und 1944 an der Universität tätig gewesen. Dies traf auch auf 63 von 108 Privatdozenten zu.46 An der Universität Graz, die sich 1938 (vergeblich) um eine Umbenennung in „Adolf Hitler Universität“ bemüht hatte, wurden zwischen dem Beginn des Wintersemesters 1944/45 und dem 5. Mai 1946 ungefähr 75 Prozent der Universitätslehrer an der Medizinischen Fakultät aus ihren Stellen entfernt. Im Mai 1946 waren zwölf von 17 Lehrstühlen vakant oder nur provisorisch besetzt.47 Dennoch fanden sich noch im März 1947 mehrere ehemalige NSDAP-Mitglieder auf Lehrstühlen der Grazer Medizinischen Fakultät, da kein fachlich geeigneter Ersatz für sie gefunden werden konnte.48 An der Universitätsklinik hatten die Entlassungen bereits zu spürbaren Einschränkungen bei der Versorgung von PatientInnen geführt, unter anderem bei komplizierteren chirurgischen Ein-

43 Ebd. 44 H.Q. Civil Affairs (British Element), Land Steiermark CMF, Education Branch an ACA (British Element), Universities Branch, 23. 6. 1947. TNA, FO 1020/2603. 45 Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät 1945. Zwischen Entnazifizierung und katholischer Elitenrestauration, 257. 46 Ingrid Arias, Entnazifizierung an der Wiener Medizinischen Fakultät: Bruch oder Kontinuität? Das Beispiel des Anatomischen Instituts, in: Zeitgeschichte 31 (2004), 339–369, 347. Unklar ist das Verhältnis zwischen kontinuierlich Beschäftigten einerseits und nach anfänglichen Entnazifizierungsmaßnahmen Rehabilitierten andererseits. 47 ACA (British Element), H. Stott, Bericht über die Medizinische Fakultät Graz, Mai 1946. TNA, FO 1020/2644. 48 ACA (British Element), Education Division, Universities Branch, Report on the State of Denazification in and its Effects on the Medical Faculty of Graz University in March 1947, 1. 3. 1947; List of Professors, Dozents, Assistents, Volontärärzte and wissenschaftliche Hilfskräfte working in the Medical Faculty of Graz University as on 1st March 1947. TNA, FO 1020/2602.

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griffen.49 Eine mögliche Rückkehr der EmigrantInnen stand trotzdem nicht auf der Tagesordnung. Dem Verantwortlichen der britischen Besatzungsmacht für die öffentliche Sicherheit in der Steiermark zufolge war die Grazer Medizinische Fakultät nach wie vor „deutlich antijüdisch“ eingestellt und setzte keine Schritte, um die Vertriebenen zurückzuholen.50 Auch an der Medizinischen Fakultät in Innsbruck erfolgten 1945 auf den ersten Blick einschneidende Entnazifizierungsmaßnahmen. Insgesamt verloren 13 Professoren und Dozenten im Dezember 1945 aus politischen Gründen ihre Stellen. Eine Reihe von in der NS-Zeit politisch hervorgetretenen Personen überstand diese erste Welle allerdings unbeschadet, darunter der Dekan des Jahres 1938, Franz Josef Lang (1894–1975), sowie der Rassenhygieniker Friedrich Stumpfl (1902–1997), der erst im Juli 1947 auf Druck der französischen Besatzungsmacht seine Professur verlor.51 In die frei werdenden Stellen rückten zum Teil Persönlichkeiten nach, die 1938 wegen ihrer politischen Nähe zum Austrofaschismus ihre Stellen verloren hatten, was sich in die auch in Innsbruck zu beobachtende Tendenz einer Restauration der bürgerlich-konservativen Eliten der Zwischenkriegszeit einfügt. Aus „rassischen“ Gründen Verfolgte hatten demgegenüber deutlich geringere Chancen, ihre 1938 abgebrochenen Karrieren in Tirol fortsetzen zu können.52 Die Bemühungen um eine politische Bereinigung der Universitäten erstreckten sich von Anfang an auch auf die Studierenden. Die im August 1945 vom Staatsamt für Unterricht veröffentlichten Zulassungsrichtlinien für das Studienjahr 1945/46 enthielten detaillierte Ausschlusskriterien und regelten außerdem, dass die Hochschülerschaft weiterhin eine wichtige Rolle in der Abwicklung spielen sollte. Diese Richtlinien gingen in einer Reihe von Punkten über das Verbotsgesetz hinaus, sodass Studierende in manchen Fällen härter behandelt wurden als ihre Professoren.53 In Graz stießen die Entnazifizierungsbemühungen 49 ACA (British Element), H. Stott, Bericht über die Medizinische Fakultät Graz, Mai 1946. TNA, FO 1020/2644. 50 ACA (British Element), H. Stott, Bericht über die Medizinische Fakultät Graz, Anhang: Interview with Major Landy und Lt. Col Thompson, 10. 5. 1946. TNA, FO 1020/2644. 51 Peter Goller/Gerhard Oberkofler, Universität Innsbruck: Entnazifizierung und Rehabilitation von Nazikadern (1945–1950), Innsbruck: Bader 2003, 18–19. 52 Ebd., 32–34. Zur Entnazifizierung der Universität Innsbruck siehe nun ausführlicher Ina Friedmann/Dirk Rupnow, Entnazifizierung, Kontinuität und Schlussstrichmentalität: Die Universität Innsbruck von 1945 bis 1960, in: Margret Friedrich/Dirk Rupnow (Hg.), Geschichte der Universität Innsbruck 1669–2019, Bd. 1: Phasen der Universitätsgeschichte, Teilbd. 2: Die Universität im 20. Jahrhundert, Innsbruck: Innsbruck University Press 2019, 351–447. 53 Willi Weinert, Die Entnazifizierung an den österreichischen Hochschulen, in: Sebastian Meissl/Klaus-Dieter Mulley/Oliver Rathkolb (Hg.), Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, Wien: Verl. für Geschichte und Politik 1986, 254–269, 255–256.

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unter den Studierenden zum Teil auf heftige Widerstände. Die Verschärfung der Aufnahmebedingungen im Februar 1946 führte gar zu Streikvorbereitungen.54 Die Akademische Rundschau berichtete im März 1946 von Mitgliedern der ehemaligen SS-Ärztlichen Akademie, die in Stiefeln und Reithosen wieder an der Medizinischen Fakultät auftauchten.55 Nach den Zusammenstößen in Wien rund um die ÖH-Wahlen im November 1946, denen wiederholte neonazistische Provokationen bei Wahlversammlungen vorangegangen waren, verlangten die Alliierten einen neuen Anlauf zur politischen Überprüfung der Studierenden und eine konsequente Umsetzung der bestehenden Bestimmungen.56 Im Februar 1947 trat dann das neue Nationalsozialistengesetz in Kraft, demzufolge ab dem Sommersemester sowohl „belastete“ als auch „minderbelastete“ Personen bis 30. April 1950 vom Studium an einer Hochschule oder Universität auszuschließen waren.57 Bereits die Jugendamnestie 1948 brachte u. a. ein Ende des Ausschlusses aller „Minderbelasteten“ vom Studium mit sich.58

Versuch einer Bilanz Für die medizinische Lehre und Forschung bedeutete die Kombination aus konservativer Restauration, schleichender Rehabilitierung der „Ehemaligen“ und versäumter Rückholung der Vertriebenen eine Fortschreibung des 1938 vollzogenen intellektuellen Kahlschlags.59 Dieser Bedeutungsverlust markiert insbesondere in der Geschichte der Wiener medizinischen Schule(n) einen tiefen, bis heute spürbaren Einschnitt, der allenfalls noch mit der Berliner medizinischen Schule vergleichbar ist.60 54 Ebd., 258. 55 Zit. n. ebd., 258. 56 ACA, Executive Committee, Denazification of Vienna University and High Schools, Proposals by the various Elements of the Internal Affairs Directorate, concerning measures for the purging of High Schools of Nazi and Pan-Germanic Elements, 4. 12. 1946. TNA, FO 945/ 787. Zu den Krawallen siehe Andreas Huber, Studierende im Schatten der NS-Zeit. Entnazifizierung und politische Unruhen an der Universität Wien 1945–1950, in: Linda Erker u. a. (Hg.), Update! Perspektiven der Zeitgeschichte. Österreichische Zeitgeschichtetage 2010, Innsbruck: Studien Verlag 2012, 657–664. 57 Bundesministerium für Unterricht (gez. Hurdes) an Rektorate und Dekanate der österreichischen Hochschulen usw., 14. 3. 1947. TNA, FO 1020/2602, Zl. 13.178-III/7/47. 58 Weinert, Entnazifizierung, 257. 59 Diesen Sachverhalt hat Christian Fleck treffend als „autochthone Provinzialisierung“ bezeichnet (Fleck, Provinzialisierung). 60 An der Berliner medizinischen Fakultät wurden 1945 acht von 24 Ordinarien entlassen, ein geringerer Anteil als in Wien. Ein direkter Vergleich der späteren Rehabilitierungen wird durch den Umstand erschwert, dass ein Teil der in Berlin entlassenen Professoren in den

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Auch außerhalb der Universitäten zeigte sich nach der Befreiung, in welchem Ausmaß der Nationalsozialismus innerhalb des medizinischen Feldes, insbesondere bei der Ärzteschaft, hegemonialen Status erlangt hatte. So waren in Wien im Juni 1946 von 2.440 frei praktizierenden ÄrztInnen nach Erhebungen der Ärztekammer 1.341 ehemalige Mitglieder der NSDAP, was einem Anteil von 55 Prozent entspricht.61 Detailliertere Angaben zum gesamten Berufsstand berichtete das Sozialministerium Anfang August 1947 an die sowjetischen Besatzungsbehörden. Zu diesem Zeitpunkt waren von 3.335 in Wien ansässigen Ärztinnen und Ärzten 824 bekannte ehemalige Mitglieder und 242 ehemalige AnwärterInnen der NSDAP. 70 weitere hatten der SS, SA oder anderen Gliederungen angehört. Die Zahl der ehemaligen „Illegalen“ wurde mit 335 angegeben. Die geringe Anzahl ehemaliger SS-Angehöriger erklärt sich daraus, dass diese zum überwiegenden Teil bereits aufgrund des Verbotsgesetzes 1945 aus dem Beruf auszuscheiden hatten.62 In Wien durften nach dem Krieg nur 55 Prozent der Ärztinnen und Ärzte das Wahlrecht ausüben.63 In der Steiermark hingegen waren nach Schätzungen der britischen Besatzungsmacht 90 Prozent der Ärztinnen und Ärzte als ehemalige Nazis von den ersten Ärztekammerwahlen nach 1945 ausgeschlossen, nur zehn Prozent galten als unbelastet. Die Hälfte der Ehemaligen war nach Einschätzung des Berichterstatters bereits illegal in der NSDAP gewesen.64 In Oberösterreich waren nach der Schätzung eines Ärztekammerfunktionärs vom Sommer 1947 mindestens 60 Prozent der praktizierenden ÄrztInnen als ehemalige NationalsozialistInnen registriert. Im Mai 1947 waren laut Ärztekammer von 945 Ärztinnen und Ärzten ca. 700 Registrierungspflichtige; kein Einziger dieser Fälle war bis dahin von den Sonderkommissionen behandelt worden.65

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Westen abwanderte und daher für eine Wiedereinstellung in Berlin nicht mehr zur Verfügung stand. Andreas Malycha, Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit an der Medizinischen Fakultät der Berliner Universität in den Jahren von 1945 bis 1949, in: Sigrid Oehler-Klein/Volker Roelcke (Hg.), Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus (Pallas Athene 22: Wissenschaftsgeschichte), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, 147–167, 151, 167–168. Gesundheitsamt Wien, Dr. Lande an BMfsV, 17. 6. 1946. WStLA, 1.3.2.212.A1.39, 1946, Mag.Abt.15–4330/46. BMfsV, Khaum, an Gesundheitsabteilung der Alliierten Kommission für Österreich (Sowjetisches Element), 9. 8. 1947. TNA, FO 1020/2757. ACA (British Element), H. Stott, Unterlagen für die Vorbereitung eines Berichts über die Medizinische Fakultät Graz. TNA, FO 1020/2644. ACA (British Element), H. Stott, Bericht über die Medizinische Fakultät Graz, Mai 1946. TNA, FO 1020/2644. Monthly Denazification Report, Upper Austria, 25. 6. bis 25. 7. 1947. NARA, RG 260, 2077, Folder „Reports Incoming, Monthly, Upper Austria, Special Branch 20.5“.

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Auch am Beispiel Salzburgs werden die großen regionalen Unterschiede deutlich, die nicht zuletzt dadurch zustande kamen, dass viele politisch Belastete aus Ostösterreich bei Kriegsende Richtung Westen geflüchtet waren. Dort zog der US-amerikanische Militärgeheimdienst CIC im Mai 1947, drei Monate nach der Verkündung des Nationalsozialistengesetzes, eine ernüchternde Bilanz der Entnazifizierung der ärztlichen Profession. Zwei Jahre nach Kriegsende waren im Bundesland von 176 im öffentlichen Dienst tätigen ÄrztInnen immer noch 56 Prozent als politisch kompromittiert einzustufen („belastet“ oder „minderbelastet“). Bei den 154 Niedergelassenen war der Anteil mit 67 Prozent sogar noch höher. Selbst ehemalige SS-Angehörige und „Illegale“ waren unbehelligt und teilweise in leitenden Positionen in ihrem Beruf tätig, beispielsweise in der Landesheilanstalt Salzburg. Aufgrund des gesellschaftlichen Einflusses der Ärzteschaft stellte dies aus Sicht der Militärregierung eine potenzielle Bedrohung der gesamten Entnazifizierungspolitik dar.66 Zwar liegen nicht zu allen Bundesländern entsprechende Informationen vor, die erwähnten Beispiele verdeutlichen aber das Ausmaß des Problems. Laut einem Bericht des Bundeskanzleramts an die Alliierten waren im Juli 1946 in ganz Österreich 2.065 „minderbelastete“ ÄrztInnen (einschließlich ZahnmedizinerInnen) tätig, deren Fälle noch nicht von den Sonderkommissionen behandelt worden waren. Darüber hinaus waren dem Bundeskanzleramt 249 „belastete“ MedizinerInnen bekannt, die entgegen den Bestimmungen des neuen Nationalsozialistengesetzes noch praktizierten. Auch 489 „minderbelastete“ und 46 „belastete“ ApothekerInnen waren in ihrem Beruf tätig.67 Trotz der Einführung des Nationalsozialistengesetzes mit seinen neuen, restriktiven Bestimmungen gegen ÄrztInnen waren Ende August 1947 immer noch 180 „belastete“ und 1.460 „minderbelastete“ Personen beruflich tätig.68 Mit dem Amnestiegesetz 1948, das 90 Prozent der „Minderbelasteten“ betraf, kam auch die Tätigkeit der Sonderkommissionen, die erst 1947 mit dem Nationalsozialistengesetz überhaupt auf ÄrztInnen ausgedehnt worden war, zu einem abrupten Ende. Von 3.984 vor die Kommissionen gelangten Fällen waren bis dahin 3.014 (mehr als 75 Prozent) mit einer für die Betroffenen positiven Entscheidung erledigt wor-

66 CIC, De-Nazification Section, Land Salzburg Section, „The Medical Profession in Land Salzburg, Current Status under the National Socialist Law 1947“, 5. 5. 1947. NARA, RG 260, 2077, Box 2, Folder „Denazification Misc. 1947, Jan-June“. 67 Denazification Branch an Social Administration Division, 15. 7. 1947: Persons in prohibited professions (Law 25/1947). NARA, RG 260, 2077, Box 18, Folder „Reports Outgoing/Special Reports 21.7“, G-2. 68 ACA (British Element), „Denazification [im Scan unleserlich] to the Passing of Law No 25“, 31. 10. 1947. TNA, FO 1020/2271.

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den. Nur in 242 Fällen (sechs Prozent) war die berufliche Rehabilitierung verweigert worden, die übrigen Fälle blieben unerledigt.69 Auch wenn die Alliierten die Entnazifizierung als eines der wesentlichen Ziele der Besatzungspolitik betrieben und zu deren Durchsetzung auch immer wieder Druck auf die widerstrebende österreichische Politik und Verwaltung ausübten, so wirkten Erwägungen bezüglich der Versorgungssicherheit (in der Medizin ein besonders wichtiger Aspekt) sowie Rücksichten auf die Stimmung der Bevölkerung von Anfang an als Hemmschuh. Mit dem zunehmenden Auseinanderdriften der militärischen Bündnispartner und dem heraufziehenden Ost-WestKonflikt traten Überlegungen bezüglich der zukünftigen Rolle Österreichs in der Nachkriegsordnung zunehmend in den Vordergrund, was der Vorstellung einer nötigen Befriedung und Integration der „Ehemaligen“ in die gesellschaftliche und politische Nachkriegsordnung Vorschub leistete. Sobald die Mehrheit der „Ehemaligen“ das Wahlrecht wiedererlangt hatte, konnten diese als parteipolitisch ungebundene WählerInnen, um deren Stimmen ein regelrechter Wettlauf aller Parteien einsetzte, ihre Interessen immer schlagkräftiger – auch gegenüber den Opfern der NS-Verfolgung – durchsetzen. Die 1948 verkündete Amnestie markierte auch aus der Sicht vieler der damit befassten Angehörigen der Besatzungsmächte das Scheitern des jahrelangen Entnazifizierungsprogramms. Am 1. Juni 1948 verlangte der US-Vertreter im Allied Denazification Bureau von seinen Vorgesetzten in ungewöhnlich scharfen Worten, von seiner Verantwortung entbunden zu werden. Er wolle nicht länger „zu der Illusion beitragen, dass ein Entnazifizierungsprogramm abgeschlossen worden sei“.70 Mit der Amnestie waren die meisten der bis dahin verhängten Sanktionen hinfällig. Wem es bis zu diesem Zeitpunkt gelungen war, eine der zahlreichen Hintertüren und Ausnahmeregelungen zu nutzen, konnte fortan mit einer ungehinderten Fortsetzung der eigenen Karriere rechnen.71 Die Entnazifizierungsmaßnahmen der Jahre 1945 bis 1947 sind – trotz der in Detailfragen wie den hier behandelten weiterhin bestehenden Lücken – noch relativ besser erforscht als deren graduelle Rücknahme in den darauf folgenden Jahren. Solange keine detaillierten Studien über den langfristigen Verlauf bzw. die Nachwirkungen der Entnazifizierung vorliegen, ist es schwierig, empirisch gestützte, präzise Aussagen zu treffen. Fälle wie jene von Heinrich Gross (1915– 2005) oder dem bereits erwähnten Hans Bertha lassen aber doch den Schluss zu, dass die medizinische Profession keine Bedenken hatte, selbst in schwere Verbrechen verwickelte NS-Ärzte wieder in ihre Reihen aufzunehmen. Ein weniger 69 Director of Intelligence Bixel an Director USACA, Monthly Report on Denazification, 7. 8. 1948. NARA, RG 260, 2077, Box 14, „Denazification – Reports, outgoing“. 70 J.L. Zaring, Chief Denazification Section to Chief CIB, 1. 6. 1948: „Request for Relief from Assignment“. NARA, RG 260, 2077, Box 2, Folder „IA-DP Statistics“. 71 Arias, Entnazifizierung, 346.

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bekanntes Beispiel ist Oskar Kauffmann (1898–1955), der zwischen 1942 und 1945 einer der engsten Mitarbeiter von Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti (1900–1945) war. Conti erhängte sich am 6. Oktober 1945 in einer Gefängniszelle in Nürnberg; Kauffmann konnte 1954 zum Chefarzt der Klagenfurter Psychiatrie und zum Präsidenten der Kärntner Ärztekammer aufsteigen. Auch der ehemalige Wiener Gauärzteführer Otto Planner-Plann (1893–1975), um ein weiteres Beispiel zu nennen, hatte Anfang der 1950er Jahre wieder wichtige Funktionen in der Ärztekammer inne.72 Von einem radikalen Bruch mit der NS-Vergangenheit im Sinne einer „Stunde null“ kann also in der Medizin, wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, nur mit Einschränkungen die Rede sein. Zwar stoppte der alliierte Einmarsch die schlimmsten Auswüchse der Gewalt gegen Menschen, die in den Augen des Regimes als „minderwertig“ galten – so zum Beispiel in der Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling, in der der Arzt Emil Gelny (1890–1961) noch in den letzten Kriegstagen 149 Menschen eigenhändig ermordete.73 Auch die sogenannte Kindereuthanasie (beispielsweise in der Wiener Anstalt Am Spiegelgrund) kam mit der Befreiung zu einem Ende. Dem während der NS-Herrschaft als Teil des öffentlichen Gesundheitswesens geschaffenen rassenhygienischen Apparat entzogen die Besatzungsmächte die Grundlage, sodass die entsprechenden Aktivitäten praktisch unmittelbar mit der Befreiung eingestellt wurden. An der Medizinischen Fakultät ist in diesem Zusammenhang die Auflösung des wenige Jahre zuvor mit großem Aufwand gegründeten Instituts für Rassenbiologie zu nennen, unter dessen Dach eine Reihe von ideologisch für das Regime höchst relevanten Disziplinen zusammengefasst werden sollte, von anthropologisch orientierter „Rassenforschung“ bis zu der nach dem Krieg in der neu konstituierten Genetik aufgehenden Vererbungsforschung. Auf der ideologischen Ebene waren Rassenhygiene und Rassismus als Herrschaftsideologien diskreditiert und wurden aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verdrängt, ohne dass jedoch eine tatsächliche Auseinandersetzung mit deren ideengeschichtlichen Grundlagen und den menschenverachtenden Folgen stattgefunden hätte. Auf der personellen Ebene hingegen war der Bruch mit der Zeit vor 1945 wohl am schwierigsten zu vollziehen. Das auf diesem Gebiet von den Alliierten und den österreichischen Behörden Erreichte blieb ein Stückwerk, das schon bald unter dem Druck der „Ehemaligen“, die zurück in die Mitte (und zuweilen an die Spitze) der Gesellschaft drängten, wieder zu großen Teilen demontiert wurde. Ähnlich wie in Deutschland war die Entnazifizierung auch in Österreich häufig von einem Geist 72 Michael Hubenstorf, Vertreibung und Verfolgung. Zur Geschichte der österreichischen Medizin im 20. Jahrhundert, in: Jüdisches Echo 50 (2001), 277–288, 285. 73 Herwig Czech, Von der „Aktion T4“ zur „dezentralen Euthanasie“. Die niederösterreichi¨ hling und Ybbs, in: Jahrbuch des Dokuschen Heil- und Pflegeanstalten Gugging, Mauer-O mentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (2016), 219–266.

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durchdrungen, der mit dem Begriff der „Persilscheinkultur“ treffend charakterisiert werden kann – einem gemeinsamen Bestreben von Betroffenen und den für deren Beurteilung Verantwortlichen, durch die Akkumulierung von entlastenden Behauptungen die Bestrebungen einer konsequenten Entnazifizierung systematisch zu unterlaufen.74 Den Preis dafür bezahlten nicht zuletzt die Opfer medizinischer Verfolgung, denen bis in die 1990er Jahre jede gesellschaftliche Anerkennung ihrer Leiden verweigert wurde.

74 Vgl. Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955, 71.

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Jakob Lehne

„Ein deplorabler Zustand“1? – Das Wiener Institut für Geschichte der Medizin in der Nachkriegszeit „A deplorable state of affairs“? – The Institute for the History of Medicine in Vienna during the Post-War Era Abstracts Die Wiener medizingeschichtliche Forschung verfügte zu verschiedenen Zeiten des 20. Jahrhunderts über großes Renommee. In der Nachkriegszeit jedoch hatte sie einen schlechten Ruf, der sich auch in ihrer (teils nicht vorhandenen) historischen Aufarbeitung niederschlägt. Dieser Beitrag möchte eine erste Skizze dieser Periode medizingeschichtlicher Forschung liefern, die, dominiert von politischen und persönlichen Netzwerken (und Animositäten), auch einen faszinierenden Spiegel der österreichischen Politik der Nachkriegszeit darstellt. At different points of the 20th century, research into the history of medicine conducted in Vienna was highly reputable. The postwar period, however, has a particularly bad reputation, partly reflected in its (non-existent) historical reappraisal. This paper aims to provide a first sketch of this period of research in medical history, which, dominated by political and personal networks and (and animosities), also serves as a fascinating mirror of Austria’s postwar politics. Keywords Medizingeschichte, Historiografie, Nachkriegszeit, Max Neuburger, Erna Lesky, Leopold Schönbauer, Wien History of Medicine, Historiography, Post-war period (Austria), Max Neuburger, Erna Lesky, Leopold Schönbauer, Vienna

Die Vertreibung des Doyens der österreichischen Medizingeschichte, Max Neuburger (1868–1955), im Jahr 1938 und die Übernahme des Instituts für Geschichte der Medizin (IGM) durch Erna Lesky (1911–1986) im Jahr 1960 gelten als die großen Zäsuren der Wiener medizingeschichtlichen Forschung. Auch über die Arbeit der dazwischenliegenden Jahre herrscht in Fachkreisen Einigkeit. „Das Institut verkam“, schreibt der Schweizer Medizinhistoriker Marcel Bickel, von 1 Erna Lesky, Das Institut für Geschichte der Medizin der Universität Wien, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 23 (1976), 335–337, 335.

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einem „deplorablen Zustand“ berichtet Erna Lesky, und selbst wohlwollendere KritikerInnen orten, speziell in der Nachkriegszeit, „wenig konzentriert[e]“ Tätigkeit und eng beschränkte Interessen.2 Doch wer hinter solch einhelligen Meinungen einen gesicherten Forschungsstand vermutet, der irrt. Denn obwohl die zwei Jahrzehnte zwischen Neuburgers Vertreibung und der „Ära Lesky“ oft als negative Hintergrundfolie herhalten mussten, wurden sie noch nie eingehend beforscht. Dieser Beitrag soll nun einen ersten Schritt in dieser Richtung tun und eine kurze Zusammenschau einer Forschungsperiode liefern, die von mangelnder Institutionalisierung, politischen Verquickungen, desaströsen ökonomischen Verhältnissen, aber auch von faszinierenden Biografien und Netzwerken geprägt war.

Schwierige Grundlagen und sich verschlechternde Zustände Das Institut für Geschichte der Medizin in Wien wurde 1914 von Max Neuburger als weltweit eines der ersten derartigen Institute gegründet. Neuburger war ein international renommierter Pionier des Fachs, aber sowohl die Rahmenbedingungen als auch seine persönliche Disposition verhinderten eine starke institutionelle Verankerung der Medizingeschichte im Wiener Wissenschaftsbetrieb. Neuburger und seinen Unterstützern war es zwar gelungen, das Institut 1920 ins repräsentative Josephinum zu übersiedeln, doch der Ordinarius stand der Zukunft pessimistisch gegenüber, wie er dem deutschen Medizinhistoriker Karl Sudhoff (1853–1938) in einem Brief gestand: „Ich habe auf die Sache jahrelang Mühe gewendet, Zeit und Geld geopfert, meine Bibliothek geschenkt, nur jetzt, wo mein Ziel einigermaßen erreicht ist, kann ich doch dem ganzen keine rechte Freude abgewinnen.“3 Der lang geplante Aufbau eines Museums, den Neuburger alleine und unter großen Mühen bestritt, schritt zwar langsam voran, aber an weitere Projekte war nicht zu denken. Ein „allzu großer Pessimismus Neuburgers“ verhinderte weitere Initiativen, schrieb sein Kollege Isidor Fischer (1868– 1943), doch auch die finanziellen Rahmenbedingungen waren alles andere als 2 Marcel H. Bickel, Medizinhistoriker im 19. und 20. Jahrhundert: Eine vergleichend-biographische Betrachtung, in: Andreas Frewer/Volker Roelcke (Hg.), Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie: Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, 213–234, 228; Lesky, Das Institut für Geschichte der Medizin, 335; Karl Sablik, Zum Gang der medizingeschichtlichen Forschung in Wien seit 1945, in: Mensch – Wissenschaft – Magie. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 20 (2000), 53–58, 54; Michael Hubenstorf, Österreichische Ärzteemigration, in Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft 1: Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940, Münster: LIT-Verlag 2004, 359–415, 359. 3 Neuburger an Sudhoff, 26. 9. 1920 (Abschrift). Josephinum – Sammlungen der medizinischen Universität Wien (JSMUW), Archivaliensammlung (AS), AS-2069, 147.

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Das Wiener Institut für Geschichte der Medizin in der Nachkriegszeit

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rosig.4 Ein einziger Laborant unterstützte den Professor bei der Katalogisierung seiner in den 1930er Jahren auf 17 Räume angewachsenen Sammlung, doch zu einer genauen Aufarbeitung konnte es unter diesen Umständen nicht kommen.5 Diese Phase der ohnehin schon schleppend voranschreitenden Strukturierung wurde 1938 jäh beendet. Neuburger wurde aus „rassischen“ Gründen vertrieben, konnte aber im Jahr darauf durch die Intervention internationaler Granden der Medizingeschichte die Position eines Beraters der Wellcome Collection in London antreten.6 In Wien wurde mit Fritz Lejeune (1892–1966) ein neuer Professor inthronisiert. Dieser mochte zwar auf den Berufungslisten nur tertio loco aufgeschienen sein, doch seine niedrige Parteinummer und seine, wie er in seiner Bewerbung festhielt, „seit 1923 mit Unterbrechung in der Systemzeit“ bestehende Mitgliedschaft der NSDAP waren Qualifikation genug.7 Die gravierenden strukturellen Probleme des Instituts blieben ihm aber nicht verborgen. In einem ersten Bericht, in dem es natürlich auch um finanzielle Verhandlungen ging, zeigte er sich über den allgemeinen Zustand und die fehlenden Inventarlisten entsetzt.8 Hier lägen „viele tausende von Schriften völlig unkatalogisiert“ herum, das Ganze mache einen „verwahrlosten Eindruck“, und alles werde „langsam aber sicher verrotten, wenn nicht schleunigst Abhilfe geschaffen“ werden könnte.9 Lejeune schlug neben der Erhöhung des Etats und der Anstellung einer Schreibkraft auch die Schaffung einer Assistentenstelle vor, um die wissenschaftliche Aufarbeitung voranzutreiben und auf neue Grundlagen zu stellen.10

4 Isidor Fischer, Zur Gründung der Akademischen freien Vereinigung für medizinische Geistesgeschichte und praktische Medizin, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 7 (1932), 228–229, 229. 5 Fritz Lejeune, Bericht an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten Abt IV, Erziehung, Kultus und Volksbildung z. Hd. Von Ministerialrat Dr. B. David, 10. 3. 1939, 1–2; Archiv der Universität Wien (UAW), Med PA 316 – Fritz Lejeune, 31–35. 6 Zu diesen Interventionen siehe z. B. Henry Ernest Sigerist, Sigerist to Cushing, Baltimore?, 25 January 1939, in Marcel Bickel (Hg.), Henry E. Sigerist: Correspondences with Welch, Cushing, Garrison, and Ackerknecht, Bern u. a.: Peter Lang 2010, 87–88; Henry Ernest, Singer to Sigerist, Kilmarth, 11. January 1939, in: Marcel Bickel (Hg.), Correspondence: Henry E. Sigerist – Charles Singer 1920–1956 (Medical History, Supplement 30), London: Wellcome Trust Center for the History of Medicine at UCL 2010, 257. 7 Für das direkte Zitat siehe Lejeune, Lebenslauf, 3. UAW, Med PA 316, 16–18; für eine ausführliche Schilderung des Berufungsverfahrens und Lejeunes Karriere am Josephinum siehe Klaus Schmierer, Medizingeschichte und Politik: Karrieren des Fritz Lejeune in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 96), Husum: Matthiesen 2002, 147–177. 8 Protokoll betreffend die Übergabe des Instituts an den neu ernannten Vorstand, 22. 1. 1940. UAW, PA 316, 60. Fritz Lejeune an das Dekanat der hohen medizinischen Fakultät Wien, 25. 1. 1940. UAW, PA 316, 59. 9 Lejeune, Bericht an das Ministerium, 2–3. UAW, Med PA 316, 31–35. 10 Lejeune, Bericht an das Ministerium, 5. UAW, Med PA 316, 31–35.

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Von diesen großen Plänen wurde kaum etwas verwirklicht, ja die Zustände verschlechterten sich weiter, denn sowohl Lejeune als auch sein Assistent konnten sich dem Institut und den Sammlungen nicht vollinhaltlich widmen. Lejeune wurde zu Kriegsbeginn eingezogen und war danach in Wien mit der Leitung eines Lazaretts betraut.11 Sein Beitrag zur Ordnung des Instituts scheint darauf beschränkt gewesen zu sein, durch Anschaffungen von „arisiertem“ Material und Veräußerungen vor allem die Buchbestände weiter in Unordnung gebracht zu haben, sodass die Provenienz zahlreicher Bände bis heute nicht geklärt werden konnte.12 Auch sein 1941 bestellter Assistent, Theon Spanudis (1915–1986), war mit Nebentätigkeiten befasst, wobei diese nationalsozialistischen Klischees nur bedingt genügen.13 Spanudis war als griechischer Staatsbürger 1933 zum Medizinstudium nach Wien gekommen, hatte sich dort aber bald geisteswissenschaftlichen Tätigkeiten verschrieben. 1939 schloss er sich dem Kreis um August Aichhorn (1878–1949) an, der versuchte, das intellektuelle Erbe Sigmund Freuds (1856–1939) durch die NS-Zeit zu lavieren, und verkehrte vermehrt in künstlerischen Kreisen.14 Zwar publizierte er in der NS-Zeit zu relativ unverfänglichen Themen wie Die Schwalbe als Heilmittel in der Antike, doch aufgrund seiner Aktivitäten im Jahr 1946 – Mitinitiator der Neugründung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Autor von Überlegungen zum Surrealismus und Leiter einer Arbeitsgruppe zur „Ethnologischen Urgeschichte“ – lassen sich eine Entfernung von der Medizingeschichte und eine Distanz zu den politischen Ansichten seines Vorgesetzten konstatieren.15

11 Schmierer, Medizingeschichte und Politik, 147–169. 12 Zur Aufarbeitung der Bestände siehe u. a. Harald Albrecht/Bruno Bauer/Walter Menzel, Josephinische Bibliothek und medizinhistorische Bestände der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien, in: GMS Medizin – Bibliothek – Information 12 (2012) 1–2, 1–19; Walter Mentzel/Bruno Bauer, Opfer des NS-Bücherraubes – 10 Fälle aus medizinischen Bibliotheken in Wien: Provenienzforschungsprojekt an der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien, in: GMS Medizin – Bibliothek – Information. Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB) 8 (2008) 3, 1–19. 13 Zur Biografie Theon Spanudis’ siehe Hans Füchtner, Theon Spanudis und Solon Spanoudis. Zwei griechische Analysanden August Aichhorns in Brasilien, in: Werkblatt 57 (2006) 2, 82– 106; Alexander Emanuely, Theon Spanudis – Psychoanalytiker und Dichter in drei Welten. Vom Wiener Surrealismus zum brasilianischen Neoconcretismo, in: Zwischenwelt 30 (2013) 3–4, 54–59. 14 Zum Kreis um August Aichhorn siehe Mitchell G. Ash (Hg.), Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimen, Frankf. a. M.: Brandes & Apsel Verlag 2010. 15 Theon Spanudis, Die Schwalbe als Heilmittel der Antike, in: Die pharmazeutische Industrie (1943) 83–85, 99–102; Emanuely, Theon Spanudis, 55–56.

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Medizingeschichtliche Forschung außerhalb des Instituts Während in der NS-Zeit am Institut wenig und zu „österreichischen“ Themen gar nicht geforscht wurde, schrieb man anderswo die Geschichte der Wiener Medizin auf sehr unterschiedliche Weise fort. Sowohl Max Neuburger als auch Isidor Fischer, die beide nach Großbritannien emigriert waren, publizierten in den frühen 1940er Jahren englischsprachige Artikel und Bücher zur Wiener medizinischen Schule und ihren internationalen Verbindungen.16 Dabei stellt vor allem Max Neuburgers British Medicine and the Vienna School: Contacts and Parallels einen Meilenstein der österreichische Traditionslinien fortschreibenden Exilliteratur dar. Gleichzeitig tat sich der politisch umtriebige Chirurg Leopold Schönbauer (1888–1963) als Deuter der Wiener Medizingeschichte hervor, die er als „stolzen deutschen Kulturbesitz“ bezeichnete und ab den frühen 1940er Jahren öffentlichkeitswirksam in unterschiedlichen Zeitungen bearbeitete.17 Schönbauers Hauptaugenmerk galt, als Vorstand der I. Chirurgischen Klinik in Wien, insbesondere der Erinnerung an Theodor Billroth (1829–1894), zu dessen Todestag 1944 er nicht nur die Errichtung einer Statue im Alten AKH mitinitiiert, sondern auch eine große Publikation zur Geschichte der Medizin in Wien geplant hatte.18 Die Fertigstellung des Buchs verzögerte sich jedoch immer wieder, und später im IGM aufgegangene Korrespondenz zeigt die erschwerten Rahmenbedingungen und Schönbauers Verzweiflung über fehlendes bzw. nicht zum Druck freigegebenes Papier.19 Diese Umstände führten dazu, dass Das medizinische Wien, zu dem auch Lejeune beratend beitrug, schlussendlich nur in einer stark verkürzten Kriegsvariante bei Urban und Schwarzenberg erschien.20 Die inhaltliche Bewertung des Buchs ist seitdem nicht unumstritten. Nach 1945 galt Das medizinische Wien als heroische antinationalsozialistische Forschungsleistung, da vermeintlich insbesondere die Arbeit jüdischer ÄrztInnen im Detail geschildert worden sei.21 Einer genauen Überprüfung hält diese Aussage aber, wie Karl Sablik schön herausgearbeitet hat, nicht stand. Denn in der Ausgabe von 1944 fehlt jeglicher über den Index hinausgehender Verweis auf 16 Z. B. Isidor Fischer, British Medicine and the old Viennese School, in: Bulletin of the History of Medicine 11 (1942) 2, 174–181; Max Neuburger, British Medicine and the Vienna School: Contacts and Parallels, London: William Heinemann 1943. 17 Z. B. Wiener Medizinische Schule – stolzer deutscher Kulturbesitz. Ihr Wesen und ihre Entstehung, Kleine Volks-Zeitung, 3. 1. 1943; Die Wiener Schule in der deutschen Medizin, Neues Wiener Tagblatt, 24. 5. 1941; Van Swieten und seine Zeit, Völkischer Beobachter, 23. 1. 1944, 3. 18 Zur Statue siehe Oliver Rathkolb/Herbert Posch, Denkmal Billroth, in: Herbert Posch u. a. (Hg.), Vom AKH zum Uni-Campus, Wien: LIT-Verlag 2015, 64–67. 19 Das medizinische Wien (1. Aufl.), Korrespondenz. JSMUW, Institutsakten (IA), Ordner 1. 20 Leopold Schönbauer, Das medizinische Wien, Berlin–Wien: Urban & Schwarzenberg 1944. 21 Siehe Linda Erkers Beitrag in diesem Band, aber auch: Sablik, Zum Gang der medizingeschichtlichen Forschung in Wien seit 1945, 53.

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Freud, und auch Julius Tandler (1869–1936) kommt auf nicht mehr als „fünf nichtssagende Zeilen“.22 Dass es sich dabei um bewusste (Selbst-)Zensur gehandelt hat, steht beim Blick in die Korrespondenz außer Frage. So erhielt der Autor Ende 1943 relativ klare Instruktionen von Urban & Schwarzenberg: „Auf einen Punkt möchten wir uns erlauben noch besonders hinzuweisen. Es ist dies die heikle Judenfrage. Hier ist es vor allem Prof. Tandler, dessen Darstellung besondere Schwierigkeiten bietet. […] Ohne uns in dieser Sache in Ihre Autorenrechte zu mischen, möchten wir doch zur Erwägung stellen, ob nicht die gegenwärtige Fassung des Textes über Tandler gekürzt und noch mehr neutralisiert werden sollte.“23

In der Neuauflage von 1947 durften dann schon vorhandene Textstellen wieder in voller Länge vorkommen – Freud wurden nun vier, Tandler zwei Seiten gewidmet –, dafür unterließ man es, wohl auch aus politischen Gründen, wie Michael Hubenstorf moniert, das Buch um die Nazizeit zu erweitern und schloss wie in der ersten Auflage mit dem Jahr 1938.24 Doch die politischen Rahmenbedingungen lassen sich nicht nur am Inhalt des Buchs festmachen, auch die Frage der Autorschaft ist teilweise von ihnen überlagert. Denn Schönbauer, so der heutige Konsens, schrieb große Teile des Buchs nicht selbst, sondern überließ diese Aufgabe Marlene Jantsch (1917–1994), die er seit 1941 an seiner Klinik und dann als Privatassistentin aus eigener Tasche angestellt hatte.25 Dass Jantsch aufgrund ihrer jüdischen Vorfahren 1933 aus Deutschland geflohen und nur dank eines tschechoslowakischen Passes auch bei ihrem Medizinstudium in Wien nicht aufgefallen war, wusste Schönbauer. Nach einem Ariernachweis hatte er nie verlangt und darüber hinaus, so drückte sich Jantsch später aus, „geholfen wo er konnte“.26 Dafür habe er sie, die aus einer Verlegerfamilie stammte und der das Schreiben leichtfiel, eben „vorwiegend mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt“, eine Formulierung, die aus wissenschaftlicher Perspektive und vor dem politischen Hintergrund als zumindest euphe-

22 Ebd. 23 Neuner (Urban & Schwarzenberg) an Leopold Schönbauer, 7. 12. 1943. JSMUW, IA, Ordner 1, 185–186. 24 Michael Hubenstorf, Kontinuität und Bruch in der Medizingeschichte. Medizin in Österreich 1938 bis 1955, in: Friedrich Stadler (Hg.), Kontinuität und Bruch 1938–1945–1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte (Emigration – Exil – Kontinuität 3), Münster: LIT-Verlag 2004, 299–333, 304–305; Sablik, Zum Gang der medizingeschichtlichen Forschung in Wien seit 1945, 53. 25 Sablik, Zum Gang der medizingeschichtlichen Forschung in Wien seit 1945, 53; Sonia Horn, Jantsch, Marlene, geb. Ratzersdorfer, in: Brigitta Keintzel/Ilse Korotin (Hg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich: Leben – Werk – Wirken, Wien: Böhlau 2002, 333–334; Hubenstorf, Kontinuität und Bruch in der Medizingeschichte, 304. 26 Interview mit Dr. Marlene Jantsch, geführt von Dr. Gertraud Diem-Wille am 18. 6. 1991. JSMUW, AS, AS-6000-179, 2.

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mistisch zu bezeichnen ist.27 Denn hier wurde nicht nur akademisches Ghostwriting auf höchstem Niveau betrieben, die Tochter Marlene Jantschs, Christine Nowotny, erinnert sich auch an eine spätere Aussage ihrer Mutter, die den auf ihr lastenden Druck besser zu beschreiben scheint. Nämlich dass sie zu dieser Zeit „um ihr Leben geschrieben“ hätte.28

1945 als „Stunde null“? Als „routinierter Opportunist“ (Arias) überstand Schönbauer auch den nächsten Wechsel politischer Rahmenbedingungen im Jahr 1945 und wurde dank der später teils verbrämten Aktion der „Rettung des AKH“ schlagartig zu einer der wichtigsten Figuren im Wiener medizinischen Betrieb.29 Er avancierte rasch zum Direktor des Allgemeinen Krankenhauses, und seine medizingeschichtlichen Tätigkeiten schienen ihn auch für eine provisorische Leitung des IGM zu qualifizieren. Diese wurde ihm später auch übertragen, eine offizielle Dokumentation dieser Vorgänge sucht man freilich vergeblich. Der bisherige Leiter, Lejeune, erfuhr auf jeden Fall aus einem persönlichen Brief Schönbauers von seiner Suspendierung, die die Fakultät mit 10. Mai 1945 ausgesprochen hatte und gegen die er sich mehrere Monate lang vergeblich wehrte.30 Von einem brutalen Wechsel politisch verfeindeter Netzwerke konnte hier jedoch auf keinen Fall gesprochen werden. Mehrere Briefe Lejeunes an das Institut und die freundlichen Antworten des „Kollegen Schönbauer“ finden sich in der Institutskorrespondenz und auch, dass der ehemalige Lejeune-Schüler und spätere Leiter des IGM, Helmut Wyklicky (1921–2007), in dieser Zeit am Institut arbeitete, spricht für einen eher gemäßigten Leitungswechsel.31 Die Jahreswende 1945/46 markierte jedoch für Theon Spanudis, dessen Anstellung Ende 1945 nicht mehr verlängert wurde, und Marlene Jantsch, die ab 1. Jänner 1946 seinen Posten übernahm, den Anfang neuer Karrierewege. Spanudis blieb bis 1950 in Wien, wo er teils psychoanalytisch, teils wissenschaftlich

27 Interview mit Dr. Jantsch. JSMUW, AS, AS-6000-179, S.2. 28 Interview mit Dr. Christine Nowotny, geführt am 12. 10. 2020, Aufzeichnungen beim Autor. 29 Siehe den Beitrag Linda Erkers in diesem Band sowie Ingrid Arias, Die medizinische Fakultät von 1945 bis 1955: Provinzialisierung oder Anschluss an die westliche Welt?, in: Margarete Grandner/Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten: die Universität Wien 1945 bis 1955, Innsbruck: Studienverlag 2005, 68–88. 30 Schmierer, Medizingeschichte und Politik, 169–177. 31 Z. B. Fritz Lejeune an Vorstand des Instituts für Geschichte der Medizin (Schönbauer), 5. 4. 1950. JSMUW, IA, Ordner 3, 714; Leopold Schönbauer an Fritz Lejeune, 8. 5. 1950. JSMUW, IA, Ordner 3, 715; Gabriela Schmidt-Wyklicky, In memoriam Helmut Wyklicky, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 158 (2008) 23, 745–748.

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arbeitete und daneben zumindest ein Opernlibretto schrieb.32 Danach übersiedelte er nach Brasilien und trat als Psychoanalytiker und Dichter, später als erfolgreicher Kunstsammler in Erscheinung. Jantschs eigentliche Aufgabe war nach 1945 die Verwaltung des IGM und ihre eigene wissenschaftliche Arbeit, die sie nach einem klärenden Gespräch mit Schönbauer auch teilweise unter ihrem eigenen Namen veröffentlichte.33 Daneben freilich schrieb sie (und auch ihr Mann Hans Jantsch) weiter für Schönbauer. Aus dieser „Schreibwerkstatt“, im Rahmen derer die drei zu einem wöchentlichen Jour fixe zusammenkamen, gingen zahlreiche Publikationen hervor.34 Neben dem populärwissenschaftlichen Bestseller Gesünder leben – länger leben schrieb das Team – „zu den Ferien“, wie Jantsch später zu Protokoll gab – auch ein Lehrbuch für Chirurgie und wissenschaftliche Beiträge, die unter dem Namen Schönbauers veröffentlicht wurden.35 Wie weit diese Kooperation ging, zeigen auch die zahlreichen politischen Reden Schönbauers – von 1959 bis 1963 Abgeordneter zum Nationalrat (ÖVP) –, die sich in Manuskriptform im Nachlass Marlene Jantschs finden.36 Aber auch abgesehen von dieser eigenartigen Konstruktion war am Institut nach 1945 an „normale“ wissenschaftliche Arbeit nur bedingt zu denken. Eindringliche Briefe Schönbauers und Jantschs an vorgeordnete Dienststellen, die von mangelnden Heizmöglichkeiten und nicht behobenen Bombenschäden berichten, vermischen sich in der Institutskorrespondenz der 1940er Jahre mit steten Bitten um Unterzünder, Koks und Kohlenachschub.37 Aber auch die Bestellungen von tausenden Karteikarten und eine Aufnahme des Bestands, den Erna Lesky später ihrer Regentschaft zuschreiben sollte, lassen sich mit der Institutskorrespondenz belegen.38 Während Jantsch Schönbauers Vorlesungen schrieb – hier hatte sich wenig geändert –, führte dessen politischer Einfluss auf 32 Zu Spanudis weiterer Karriere siehe Füchtner, Theon Spanudis und Solon Spanoudis, 87–102; Emanuely, Theon Spanudis, 56–59. 33 Interview mit Dr. Jantsch. JSMUW, AS, AS-6000-179, 3. Siehe auch Sonia Horn, Gabriele Dorffner, „… männliches Geschlecht ist für die Zulassung zur Habilitation nicht vorgesehen“. Die ersten an der medizinischen Fakultät der Universität Wien habilitierten Frauen, in: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, Sonia Horn (Hg.), Töchter des Hippokrates. 100 Jahre akademische Ärztinnen in Österreich, Wien: ÖÄK-Verl., Pressestelle u. Verl. d. Österr. Ärztekammer 2000, 117–138, 137. 34 Leopold Schönbauer, Gesünder leben – länger leben, Wien–Stuttgart–Zürich: Europa-Verlag 1954; Interview mit Dr. Nowotny; Interview mit Dr. Marlene Jantsch, 1991. 35 Interview mit Dr. Jantsch. JSMUW, AS, AS-6000-179, 2. 36 Siehe hierzu den Nachlass Jantsch. JSMUW, AS, AS-6000, insbesondere AS-6000-212 und AS6000-376 bis AS-6000-387. 37 Leopold Schönbauer an Firma E. Cuchmarra, 28. 10. 1947 (Durchschlag). JSMUW, IA, Ordner 3, 226; L. Schönbauer an Daniel, 17. 11. 1955 (?). JSMUW, IA, Ordner 3, 241. 38 Siehe z. B. Marlene Jantsch an Ärztezentrale (Drucksortenverlag), 27. 11. 1949 (?) (Durchschlag). JSMUW, IA, Ordner 3, 1; Leopold Schönbauer an Della Torre & Dorfmeister, 20. 11. 1946 (?) (Durchschlag). JSMUW, IA, Ordner 3, 315.

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unterschiedlichen Ebenen zur steten Erweiterung der Sammlungen des Josephinums, die spätestens ab den 1950er Jahren auch teilweise der Öffentlichkeit zugänglich waren.39 Regelmäßige Führungen durch die Wachsmodellsammlung sind ab dieser Zeit verbucht, und das Museum war teilweise sieben Tage (!) die Woche geöffnet – nur unterbrochen durch behördliche Schließungen aufgrund akuter Einsturzgefahr.40 Auch neue MitarbeiterInnen konnten nun eingestellt werden, und Schönbauer und Jantsch publizierten nicht nur Einzelartikel und eine kurzlebige Forschungsreihe, sondern begannen auch die Arbeit an der 1950 gemeinsam herausgegebenen Autobiografie Wagner-Jaureggs.41

Neue Netzwerke Außerhalb des Instituts versuchten in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch andere WissenschaftlerInnen, wieder in der Medizingeschichte Fuß zu fassen und an ältere Netzwerke und Arbeiten anzuschließen. Neben dem Journalisten Hugo Glaser (1881–1976), der die NS-Zeit als „U-Boot“ überstanden hatte und 1947 eine Publikation der Zwischenkriegszeit unter dem neuen Titel Wiens große Ärzte veröffentlichte, ist im Besonderen der Zahnarzt und Medizinhistoriker Emanuel Berghoff (1896–1974) zu nennen.42 Dieser war ein ehemaliger Schüler Neuburgers, der während des Krieges nach eigenen Angaben zuerst als Arzt in Titos Partisanenarmee gearbeitet hatte, bevor er gefangen genommen und ins KZ Groß-Rosen deportiert worden war.43 Seine politischen Verbindungen – sein 39 Siehe z. B. einen Brief Schönbauers, in dem die Übergabe einer Büste Sallabas organisiert wird: L. Schönbauer an Joseph Hermann, 11. 11. 1948 (?). JSMUW, IA, Ordner 3, 512. 40 Marlene Jantsch an die Leitung der Landaufenthaltsaktion, 17. 5. 1950. JSMUW, IA, Ordner 3, 650. 41 Für einen Antrag zu einer neuen Planstelle siehe JSMUW, AS, AS-3627; Julius WagnerJauregg, Julius Wagner-Jauregg: Lebenserinnerungen, hg. von Leopold Schönbauer und Marlene Jantsch, Wien: Springer-Verlag 1950; Leopold Schönbauer, Die Bedeutung der österreichischen Chirurgie (Beiträge zur Geschichte der Medizin 1), Wien: Deuticke 1948. 42 Zu Hugo Glasers Biografie siehe Sandra Paweronschitz, Zwischen Anspruch und Anpassung: Journalisten und der Presseclub Concordia im Dritten Reich, Wien: Edition Steinbauer 2006; Hugo Glaser, Wiens große Ärzte, Wien: Wiener Volksbuchverlag 1947. Zu Emanuel Berghoff siehe Walter Mentzel, Aus den medizinhistorischen Beständen der UB MedUni Wien [61]: Emanuel Berghoff – Medizinhistoriker und Widerstandskämpfer. Herausgeber der Festschrift zum 80. Geburtstag von Max Neuburger im Jahr 1948, Teil 1, in: Van Swieten Blog, 19. 4. 2018, URL: https://ub.meduniwien.ac.at/blog/?p=30149 (abgerufen am 22. 9. 2021); Walter Mentzel, Aus den medizinhistorischen Beständen der UB MedUni Wien [62]: Emanuel Berghoff – Medizinhistoriker und Widerstandskämpfer. Herausgeber der Festschrift zum 80. Geburtstag von Max Neuburger im Jahr 1948, Teil 2, Van Swieten Blog, 26. 4. 2018, URL: https://ub.meduniwien.ac.at/blog/?p=30184 (abgerufen am 22. 9. 2021). 43 Diese Angaben finden sich in einem unbetitelten politischen Fragebogen der Ärztekammer. Personalakten: Berghoff, Emanuel 1. 1. 1896. Wiener Stadt und Landesarchiv (WStLA), Ärz-

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Name scheint in der Nachkriegszeit im kommunistisch dominierten Neuen Mahnruf auf – dürften einer potenziellen akademischen Karriere eher geschadet haben, seine Nähe zu Neuburger versuchte Berghoff aber immer besonders zu betonen.44 Schon 1947 sprach er in einer Sendung der RAVAG mit dem Titel Max Neuburger, ein österreichischer Gelehrter über seinen ehemaligen Lehrer und initiierte im selben Jahr eine Serie von Monografien, die unter dem Titel Wiener Beiträge zur Geschichte der Medizin bei Maudrich erschienen.45 Zwei der drei Bände – die Reihe wurde 1948 wieder eingestellt – trugen den Namen Neuburger sogar im Titel und waren damit explizite Versuche, die Netzwerke und Inhalte der Zwischenkriegszeit wieder aufleben zu lassen.46 Berghoff neigte auch in anderen Aspekten zur Wiederverwertung, sodass der Publikation dieser Forschungsreihe ein betont negatives Echo folgte. Gleich der erste Band stammte von Berghoff selbst und war eine Neuauflage einer kurzen Publikation aus dem Jahr 1946, gegen die der renommierte deutsche Medizinhistoriker Richard Koch (1882–1949) anscheinend berechtigte Plagiatsvorwürfe erhob.47 Im Jahr darauf veröffentlichte Berghoff zuerst eine stark hagiografisch angehauchte und aus unterschiedlichen Textfragmenten der vorhergegangenen Jahrzehnte bestehende Biografie Neuburgers und danach eine schon im Jahr 1938 zu Neuburgers 70. Geburtstag konzipierte Festschrift.48 Diese hatte Berghoff nach 1945 noch um einige Beiträge erweitert, sodass das Werk schlussendlich 91 Artikel aus unterschiedlichen Milieus und Zeiten enthält und damit, wie Michael Hubenstorf feststellte, auch „ein erstaunlicher Spiegel der damaligen medizinhistorischen Welt“ ist.49 Doch was aus heutiger Perspektive als erstes Wiederaufflackern einer internationalen Medizingeschichtsschreibung gesehen werden kann, wurde von zeitgenössischen BeobachterInnen deutlich negativer

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tekammer Wien, A1. Eine Anfrage des Autors beim Archiwum Muzeum Gross-Rosen w Rogoz´nicy bestätigte Berghoffs Angaben über seine Inhaftierung. Z. B. Die nazigeschädigten Ärzte kämpfen für ihr Recht, Der neue Mahnruf, 1. 2. 1951, 10. Die Ravag sendet, Wiener Kurier, 6. 2. 1947. Emanuel Berghoff, Max Neuburger, Werden und Wirken eines österreichischen Gelehrten (Wiener Beiträge zur Geschichte der Medizin 3), Wien: Maudrich 1948; Emanuel Berghoff (Hg.), Festschrift zum 80. Geburtstag Max Neuburgers: mit 91 internationalen medicohistorischen Beiträgen (Wiener Beiträge zur Geschichte der Medizin 2), Wien: Maudrich 1948. Emanuel Berghoff, Entwicklungsgeschichte des Krankheitsbegriffes (Wiener Beiträge zur Geschichte der Medizin 1), Wien: Maudrich 1947; Daniela Boltres/Frank Töpfer/Urban Wiesing, Richard Koch im Nationalsozialismus und in der sowjetischen Emigration, in: Medizinhistorisches Journal 41 (2006) 2, 182. Berghoff, Max Neuburger. Berghoff (Hg.), Festschrift zum 80. Geburtstag Max Neuburgers; Michael Hubenstorf, Eine „Wiener Schule“ der Medizingeschichte? – Max Neuburger und die vergessene deutschsprachige Medizingeschichte, in: Michael Hubenstorf u. a. (Hg.), Medizingeschichte und Gesellschaftskritik: Festschrift für Gerhard Baader (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 81), Husum: Matthiesen 1997, 246–289, 285.

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bewertet. Henry Sigerist (1891–1957), der damals vielleicht wichtigste Medizinhistoriker, äußerte sich privat nicht gerade schmeichelhaft: „Die Neuburger Festschrift finde ich im Allgemeinen sehr schlecht, ein Gulasch aus allen möglichen Resten, viel Beiträge und wenig Inhalt. Berghoff kam es nur auf die Masse an.“50 In dieser kritisierten, aber doch höchst internationalen Publikation fällt ein Beitrag der späteren Leiterin des IGM, Erna Lesky, aus zwei Gründen auf. Auf der einen Seite verweist der Titel Die Samentheorien in der hippokratischen Schriftensammlung auf ihre damaligen Forschungsinteressen und ihre aus diesem Grund schleppend voranschreitende Karriere.51 Denn mit Verweis auf eine (zu) philologische Zugangsweise blockierte Schönbauer alle Versuche Leskys – die er laut Jantsch „nicht estimiert[e]“ –, am IGM zu arbeiten.52 Auf der anderen Seite zeigt Leskys Engagement in diesem Band schon damals ihre Bereitschaft, Netzwerke aus unterschiedlichsten Bereichen zu nutzen. Denn bei aller „Beitragsoffenheit“ des Herausgebers war es doch klar, dass man Leskys sonstige Netzwerke mit Berghoffs nicht vergleichen konnte. Erna Lesky und ihr Mann Albin (1896–1981), der spätere Ordinarius für Altphilologie in Wien und wirkliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften, waren Mitglieder der NSDAP gewesen. Auch der mächtige Doyen der Medizingeschichte in Berlin, Paul Diepgen (1878–1966), der Lesky auf unterschiedliche Arten unterstützte, konnte zumindest als nationalkonservativ bezeichnet werden.53 Leskys dritter Förderer und späterer Dekan der Wiener Medizinischen Fakultät, Richard Bieling (1888– 1967), verfügte gar über eine belastete Vergangenheit als Oberstabsarzt und Hygieneberater der Wehrmacht, wo er auch in die Fleckfieberforschung eingebunden gewesen war.54

50 Henry E. Sigerist, Sigerist an Milt, Pura, 15. Februar 1949, in: Marcel Bickel (Hg.), Vier ausgewählte Briefwechsel mit Medizinhistorikern der Schweiz, Bern u. a.: Peter Lang 2008, 283–284, 284. 51 Erna Lesky, Die Samentheorien in der hippokratischen Schriftensammlung, in: Berghoff (Hg.), Festschrift zum 80. Geburtstag Max Neuburgers, 302–307. 52 Michael Hubenstorf, Von Erfolg und Tragik einer Medizinhistorikerin: Erna Lesky (1911– 1986), in: Christoph Meinel/Monika Renneberg (Hg.), Geschlechterverhältnisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik, Bassum–Stuttgart: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik 1996, 98–109, 101; Interview mit Dr. Marlene Jantsch. JSMUW, AS6000-, 2. 53 Zur politischen Einstellung Paul Diepgens siehe z. B. Florian Bruns/Andreas Frewer, Fachgeschichte als Politikum: Medizinhistoriker in Berlin und Graz in Diensten des NS-Staates, in: Robert Jütte (Hg.), Medizin, Gesellschaft und Geschichte (Jahrbuch des Instituts der Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung 24), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 151–180, 157–159. 54 Hubenstorf, Von Erfolg und Tragik einer Medizinhistorikerin, 102; Paul Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe, 1890–1945, Oxford: Oxford University Press 2000, 362.

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Die Rückkehr Neuburgers und eine neue Phase der Wiener Medizingeschichte Die (Re-)Etablierung ehemaliger Nationalsozialisten beschäftigte auch Max Neuburger, der sich Anfang der 1950er Jahre mit dem Gedanken trug, nach Wien zurückzukehren.55 1948 war er von London nach Buffalo, New York, übersiedelt, um näher bei seinem Sohn und dessen Familie zu sein, doch gelangweilt von der nicht stimulierenden Umgebung, tauschte er sich mit anderen EmigrantInnen über mögliche Rückkehroptionen aus.56 Die Entwicklung seiner familiären Situation, aber vor allem eine offizielle Bestätigung des Ministeriums, das ihm im Falle einer Rückkehr eine volle Pension zusicherte, überzeugten den mittlerweile fast 84-Jährigen, 1952 zu remigrieren.57 In Wien wurde er mit großem Trubel empfangen, wie er einer ehemaligen Kollegin an der Wellcome Collection berichtete: „After a very long and tiresome air travel, I have been welcomed by my friend Dr. Berghoff and I am lodging in a ‚pension‘ i. e. a boarding house for some time. Some famous Viennese doctors (‚professors‘) paid me visits and I had to speak by Radio. I have been officially wellcomed [sic] in the the [sic] Gesellschaft der Ärzte in Wien as one of the oldest members by the president.“58

Neuburgers Briefe aus dieser Zeit zeugen, trotz eines sich kontinuierlich verschlechternden Gesundheitszustands, von einer durchaus geglückten Reintegration mit zahlreichen gesellschaftlichen Ereignissen und Besuchen. Ja, diese letzte Wiener Phase ging auch mit neuen internationalen medizingeschichtlichen Publikationen einher, die er mithilfe Benno Juhns (1893–1966) bearbeitete.59 Doch von stiller, privater Arbeit konnte im umkämpften Feld der Wiener Medizingeschichte nicht die Rede sein, denn Emanuel Berghoff drängte seinen ehemaligen Lehrer zu beruflichen Interventionen, was neben anderen Ereignissen zu einer Verschlechterung ihres ehemals freundschaftlichen Verhältnisses führte. Berghoffs Enttäuschung über Neuburgers Zurückhaltung ließ er in einem Brief zu dessen 86. Geburtstag freien Lauf, wie Neuburger Juhn ausführlich berichtete: „Was mir dieser Mensch schon an Taktlosigkeiten, Hinterhältigkeiten, Vorwürfen und Zudringlichkeiten, sowie an damit verbundenen Aufregungen ansehen ließ, übersteigt schon jedes erträgliche Maß […]. Zu meinem Geburtstag hat er mir nun sein Meis55 Max Neuburger an Rosa Burstein, 30. 8. 1951. JSMUW, AS-3325-32. 56 Max Neuburger an Ernst Peter Pick, 3. 1950–3. 1952. JSMUW, AS-1799. 57 J. F. Fulton, Max Neuburger, in: Journal of the History of Medicine and Allied Science 10 (1955), 228–229, 229. 58 Max Neuburger an Rosa Burstein, 29. 6. 1952. JSMUW, AS, AS-3325-36, 1–2. 59 Hubenstorf, Eine „Wiener Schule“ der Medizingeschichte?, 289.

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Das Wiener Institut für Geschichte der Medizin in der Nachkriegszeit

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terstück überreicht, einen von Beleidigungen und Vorwürfen strotzenden Brief. Er hat es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Dozent für Geschichte der Medizin zu werden und ich kann und mag ihn auch nicht protegieren. Ich habe meine Gründe. Er hat sich zum Beispiel Originalzeichnungen von Hyrtl, die ihm von einer meiner Bekannten, der Frau Waldemar als Spende für das Institut für Geschichte der Medizin übergeben wurden, widerrechtlich selbst angeeignet und will sie trotz meiner wiederholten Aufforderung nicht herausgeben er [sic] werde sie erst dem Institut übergeben, bis er Leiter desselben geworden sei – nach meinem Dafürhalten also nie. Aber lassen wir dieses unerquickliche Thema. Wenn es mir gesundheitlich besser gehen wird, werde ich schon die geeigneten Schritte gegen ihn unternehmen.“60

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn weniger als vier Monate später war Neuburger tot und konnte sich gegen die nun einsetzende Vereinnahmung seines Erbes und Namens, die mit unterschiedlichen Strategien verfolgt wurde, nicht mehr wehren. Der ehemalige Lejeune-Schüler Wyklicky übernahm zusammen mit Berghoff (!) die Eintragung einer Österreichischen Gesellschaft für Medizingeschichte (Neuburger Gesellschaft), die sich in ihren Statuten an eine ähnliche Vereinigung aus den 1930er Jahren anlehnte und in den kommenden Jahren unterschiedliche Vorträge zu medizingeschichtlichen Themen organisierte.61 Der „offizielle“ Vertreter der Wiener Medizingeschichte, Schönbauer, der auch Neuburgers Totenrede gehalten hatte, widmete sich mit Jantsch der Aufarbeitung von Neuburgers Nachlass am IGM, wobei besonders die Beziehungen zum Leipziger Institut für Medizingeschichte im Vordergrund standen.62 Zweifellos am interessantesten war der Zugang Erna Leskys, die sich ganz auf Neuburgers internationales Renommee stützte. Ihr Nachruf erschien neben der Würdigung amerikanischer und englischer ForscherInnen als einziger österreichischer Beitrag in einer internationalen Zeitschrift, dem Bulletin et Mémoires de la Société Internationale d’Histoire de la Médicine, ein weiterer Schritt zur internationalen Repräsentation der österreichischen Medizingeschichte durch Erna Lesky.63

60 Neuburger an Juhn, 20. 12. 1954 (Abschrift). JSMUW, AS, AS-2820, 1. 61 Siehe hierzu den Akt im WStLA, M. Abt. 119, A33. Gelöschte Vereine: 2. Reihe: V/1146/1955, W1146/55. 62 Leopold Schönbauer/Marlene Jantsch, Verbindungen zwischen den medizingeschichtlichen Instituten in Leipzig und Wien, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig – Mathematisch Naturwissenschaftliche Reihe 5 (1955) 1–2, 27–31. 63 Erna Lesky, „Max Neuburger“, in: Bulletin et Mémoires de la Société Internationale d’Histoire de la Médicine 2 (1955), 41–46.

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Jantsch und der Beginn der Ära Lesky als Epilog Fast auf den Tag zwei Jahre nach Neuburgers Tod wurden Lesky und Jantsch in derselben Sitzung im Fach der Geschichte der Medizin habilitiert, doch diese scheinbare Gleichförmigkeit ihrer Karrieren verdeckt ihre höchst unterschiedlichen Zugänge.64 Wie Felicitas Seebacher herausgearbeitet hat, baute Lesky in den 1950er Jahren ihre innerakademischen Netzwerke beständig aus, während sich Jantsch auch in administrativen Angelegenheiten fast ausschließlich auf Schönbauers Einfluss verließ.65 Doch Schönbauer, der zu dieser Zeit, wie Jantsch sich später erinnerte, nach einem Schlaganfall „rasch abbaute“, konnte sie zwar im Habilitationsverfahren noch unterstützen, war aber danach keine große Hilfe mehr.66 Ob dies auch ein Grund für Jantschs vorsichtige „Doppelgleisigkeit“ – sie machte im Jahr 1958 die Facharztprüfung für Innere Medizin – war, lässt sich heute kaum mehr rekonstruieren. Fest steht, dass Lesky zu diesem Zeitpunkt eine Karriere als Ärztin längst ad acta gelegt hatte und sich ganz auf die Medizingeschichte konzentrierte. Obwohl Jantsch 1960 die offizielle Abschiedsrede auf Schönbauer im Institut hielt, was dieser mit den Worten „Du kannst ja sogar reden“ quittiert haben soll, wurde Lesky 1960 die (wenngleich unbesoldete) Leitung des Instituts übertragen.67 Leskys schon damals schwieriges Verhältnis zu Jantsch verschlechterte sich in den darauffolgenden Jahren deutlich. Die Direktorin drängte die habilitierte Assistentin, sich gänzlich der Geschichte der Medizin und ihren eigenen ehrgeizigen Plänen für das Institut zu widmen, was Jantsch mit Verweis auf ihre bisherige Abhängigkeitssituation von Schönbauer und ihrem Wunsch, nun eigener Arbeit nachzugehen, ablehnte.68 Lesky bestellte Jantsch, deren Vertrag jedes Jahr verlängert werden musste, in Folge zwar weiter, drohte ihr aber ein Ende ihrer Anstellung an.69 Als Leiterin des IGM beauftragte sie Jantsch, eine Überarbeitung der Wachsmodellsammlung durchzuführen und einen Katalog zu

64 Am 17. 3. 1957 hielten Lesky und Jantsch ihre Probevorlesungen, respektive zu den Themen „Wiener medizinische Fakultät und staatliche Gesundheitsbehörde“ und „Zur Geschichte der Anschauungen über die Epilepsie“. Siehe dazu JSMUW, IA, Ordner 46, 50–51. 65 Felicitas Seebacher, Erna Lesky, General and Diplomat. Networking as a Power Tool in the History of Medicine, in: The Circulation of Science and Technology: Proceedings of the 4th International Conference of the European Society for the History of Science: Barcelona, 18–20 November 2010, hg. von Antoni Roca-Rosell, Barcelona: Societat Catalana d’Història de la Ciència i de la Tècnica (SCHCT) 2012. 66 Interview mit Dr. Marlene Jantsch, 5. 67 Interview mit Dr. Marlene Jantsch, 4. 68 Erna Lesky an Jantsch, 15. 9. 1961. JSMUW, IA, Ordner 46, 42. 69 Erna Lesky an Jantsch, 27. 9. 1961. JSMUW, IA, Ordner 46, 46–47.

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erstellen, was diese zähneknirschend tat.70 Nach 15 Dienstjahren suchte Jantsch 1962, auch um sich aus Leskys Umklammerung zu lösen, um Übertragung in ein dauerndes Dienstverhältnis an.71 Lesky übermittelte dem damit befassten Komitee ihre ablehnende Meinung und verwies darauf, dass man die habilitierte Fachärztin auch in anderen Bereichen einsetzen könnte, etwa „im Bibliotheksdienst […], als Schul- oder Sportärztin“.72 Jantschs Gesuch wurde danach mit 27 zu drei Stimmen abgelehnt, und sie verließ das Josephinum, um an der Urologischen Klinik Rummelhardt zu arbeiten. Nun konnte Lesky, die unter ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bald als „General“ bekannt war, fast uneingeschränkt agieren.73 In beeindruckender Weise reformierte sie das Josephinum und das Institut, lukrierte Förderungen des Wellcome Trust, der Carnegie und der Mellon Foundation, organisierte eine Generalsanierung sowie neue Ausstellungen. 1966 wurde ihre ao. Professur in ein Ordinariat für Medizingeschichte umgewandelt.74 Neben diesen institutionellen Erfolgen prägte Lesky mit steter Publikationstätigkeit und Standardwerken auch die Historiografie ihres Fachs, ein Einfluss, der in Teilen bis heute anhält. Doch diese Erfolgsgeschichte hat ihre Schattenseiten. Dass die neue „Herrin“ des Josephinums eine unnachgiebige Vorgesetzte war, die an der Entwicklung ihrer MitarbeiterInnen wenig Interesse hatte, hat Felicitas Seebacher schon an anderer Stelle herausgearbeitet.75 Auch die klassische, auf männliche Einzelpersonen fokussierte Medizingeschichte, die Lesky in Wien tradierte, darf durchaus als überarbeitungswürdig gelten. Zu guter Letzt hat Leskys Anspruch, als Alleinerbin Neuburgers zu gelten und dies in unterschiedlicher Form immer wieder zu betonen, dazu geführt, dass das Vierteljahrhundert zwischen den beiden als blinder Fleck der Wiener Medizingeschichte gelten muss. Wie dieser kurze Überblick jener Zeit aber hoffentlich zeigen konnte, verdienen auch diese in der Historiografie bisher geschmähten Jahre eingehende historische Forschung, die auch zu einem tieferen Verständnis der Kontinuitäten und Brüche der Wiener Medizingeschichte beitragen kann.

70 Konrad Allmer/Marlene Jantsch, Katalog der josephinischen Sammlung anatomischer und geburtshilflicher Wachspräparate im Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Wien, Wien: Böhlau 1965; Interview mit Dr. Jantsch, 12. 71 JSMUW, IA, Ordner 46; UAW, Gesch.Z. 46 von 1962/63. 72 JSMUW, IA, Ordner 46. Siehe auch UAW, Gesch.Z. 46 von 1962/63. 73 Felicitas Seebacher, Erna Lesky, „Herrin“ der Sammlungen des Josephinums, in: Johannes Seidl/Ingrid Kästner (Hg.), Tauschen und Schenken. Wissenschaftliche Sammlungen als Resultat europäischer Zusammenarbeit (Europäische Wissenschaftsbeziehungen 20), Düren: Shaker Verlag 2020, 107–130. 74 Hubenstorf, Von Erfolg und Tragik einer Medizinhistorikerin, 102. 75 Seebacher, „Herrin“ der Sammlungen, 107–130.

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Ein Herr Karl im Ärztekittel. Der Chirurg Leopold Schönbauer und das Nachwirken des Nationalsozialismus A Herr Karl in a Doctor’s Smock. The Surgeon Leopold Schönbauer and the Aftermath of National Socialism Abstracts Leopold Schönbauer (1888–1963) war ein bekannter österreichischer Chirurg, der im April 1945 auch als „Retter des Wiener AKH“ bekannt wurde. Der Mythos, dass Schönbauer durch seinen Einsatz die Zerstörung des Krankenhauses in den letzten Kriegstagen verhindert habe, begründete unter anderem nach 1945 seinen hervorragenden Ruf trotz seiner Verstrickung in das NS-Regime: Schönbauer war Mitglied der NSDAP und förderndes Mitglied der SS gewesen. Er unterstützte auch die nationalsozialistische Gesundheitspolitik, und unter seiner Verantwortung wurden in seiner Klinik Zwangssterilisationen durchgeführt. Dank seiner Unentbehrlichkeit als Chirurg und seiner guten politischen Kontakte konnte er seine Karriere fortsetzen und zu neuen Höhenflügen ansetzen. Auf der Grundlage neu ausgewerteter Quellen wird Schönbauer in diesem Beitrag als akademischer und medizinischer Herr Karl charakterisiert – ein österreichischer Opportunist, der alle politischen Systemwechsel des 20. Jahrhunderts unbeschadet überstanden hat. Leopold Schönbauer (1888–1963) was a renowned Austrian surgeon who also became known as the „Savior of Vienna General Hospital“ in April 1945. The myth that Schönbauer’s efforts prevented the destruction of the hospital in the last days of the war established among other things after 1945 his outstanding reputation despite his involvement in the Nazi regime: Schönbauer had been member of the NSDAP and supporting member of the SS. He also supported Nazi health policy and under his responsibility forced sterilizations were performed at his clinic. Thanks to his indispensability as a surgeon and his good political contacts, he was able to continue his career and take it to new heights. Based on newly evaluated sources, this article characterizes Schönbauer as an academic and medical Herr Karl – an Austrian opportunist who managed to survive all political system changes in the 20th century unscathed. Keywords Leopold Schönbauer, Nationalsozialismus, Chirurg, Universität Wien, Entnazifizierung, politische Netzwerke, NS-Medizin, Allgemeines Krankenhaus, Zweite Republik, Erinnerungskultur, Ehrungspolitik, „Ehemalige“ Leopold Schönbauer, National Socialism, surgeon, University of Vienna, de-nazification, political networks, Medicine under National Socialism, General hospital, Second Republic, Memory Culture, Honour Policy, former national socialists

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„Selbst die unter uns, die nicht in der Nähe des Allgemeinen Krankenhauses wohnen, werden sich noch daran erinnern, wie in den damaligen Heeresberichten von den harten Kämpfen beim Allgemeinen Krankenhaus gesprochen wurde.“1 Mit diesem Satz begann die Tageszeitung Neues Österreich am 18. Mai 1945 einen dramatischen Bericht darüber, was rund um den 8. April im AKH geschehen war: Der Chirurg Leopold Schönbauer habe damals „5.000 Menschen, Kranke und Personal“, gerettet.2 Ein Mythos war geboren, und das befreite Wien hatte einen Helden im weißen Ärztekittel. Diese Geschichte der heldenhaften Rettung stand auch am Beginn seiner erfolgreichen Nachkriegskarriere – und das, obwohl Schönbauer Mitglied der NSDAP sowie förderndes Mitglied der SS gewesen war und entscheidende Karriereschritte in der Zeit des Nationalsozialismus gemacht hatte. 1945 wurde im Zuge der ersten Entnazifizierungsmaßnahmen der § 27, eine eigene Ausnahmebestimmung im NS-Verbotsgesetz, sogar umgangssprachlich nach ihm benannt: der „Schönbauer-Paragraf“. Aus der Ausnahme wurde die „§ 27 Methode“.3 Schönbauer selbst blieb bis zu seiner Pensionierung 1960 AKH-Direktor, wurde 1953 zum Rektor der Universität Wien gewählt und war von 1959 bis 1962 Nationalratsabgeordneter der ÖVP. Die Biografie des Chirurgen und Krebsforschers, der in Österreich die Neurochirurgie begründet hatte und daran beteiligt war, dass erstmals Tumore radioaktiv bestrahlt wurden, ist vielschichtig und aus heutiger Perspektive an vielen Stellen widersprüchlich. Dennoch wurde sie in der Öffentlichkeit lange auf eine kaum infrage gestellte Erfolgsstory reduziert. Medizinhistorisch liegt zu Schönbauer mittlerweile eine ganze Reihe von Arbeiten vor.4 Der Fokus der folgenden Darstellung liegt freilich weniger auf Schönbauers medizinischem Wirken als auf seiner „politischen“ Vita nach 1945 und dem Umgang mit seiner NS-Vergangenheit, der zugleich beispielhaft für die Integration „Ehemaliger“ in der Zweiten Republik steht. Ziel dieses Beitrags ist Ich danke für den kollegialen Austausch im Zuge der Recherchen und Texterstellung: Herwig Czech, Jutta Fuchshuber, Florence Klauda, Michael Hubenstorf, Johannes Miholic, Kathrin Raminger, Markus Reisner, Klaus Taschwer und Matthias Vigl. 1 Auf den Barrikaden von Wien, Neues Österreich, 18. 5. 1945, 2. 2 Ebd. 3 Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz, Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten, Wien: Czernin 2005, 77. 4 Vgl. u. a. Ingrid Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955. Entnazifizierung, Personalpolitik und Wissenschaftsentwicklung, phil. Diss., Wien 2013; Ingrid Arias, Felix Mandl. Chirurg im Wiener Gemeinderat/Leopold Schönbauer. Chirurg und Abgeordneter zum Nationalrat, in: Mitchell Ash/Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft (650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 2), Göttingen: V&R unipress 2015, 320–328; Claudia Spring, Zwischen Krieg und Euthanasie. Zwangssterilisationen in Wien 1940–1945, Wien: Böhlau 2009. Weitere Texte werden im Zuge des Beitrags angeführt.

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Ein Herr Karl im Ärztekittel. Der Chirurg Leopold Schönbauer

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es, die Komplexität Schönbauers Biografie herauszuarbeiten und zu zeigen, wo die Stärken der kritischen zeithistorischen Forschung liegen: im Aufspüren der vielfältigen Aspekte und Kontexte seiner Biografie, die es nötig macht, auch Widersprüche nebeneinander stehen lassen zu können. Nur so kann der bis dato eher eindimensionalen Betrachtung Schönbauers Neues hinzugefügt werden.

Schönbauers Karriere vor 1938 Leopold Schönbauer wurde 1888 in Thaya im Norden Niederösterreichs geboren. Der Sohn einer Arztfamilie maturierte am Gymnasium in Prachatitz (heute: Prachatice in Tschechien) und studierte an der Karl-Ferdinands-Universität (der Deutschen Universität) in Prag Medizin. 1914 schloss er das Studium sub auspiciis imperatoris ab. Nach kurzem Kriegsdienst und einer Schussverletzung 1915 führte ihn sein Weg an das Allgemeine Krankenhaus (AKH) in Wien, wo er Schüler des renommierten Chirurgen Anton von Eiselsberg wurde und damit quasi auch „Enkelschüler“ des preußisch-österreichischen Chirurgen Theodor Billroth. In diesem Umfeld habilitierte sich Schönbauer 1924. Im selben Jahr trat er einen von der Rockefeller Foundation geförderten, mehrmonatigen Studienaufenthalt in Boston bei Harvey Cushing an, dem Begründer der Neurochirurgie. 1933 erhielt er den Titel des außerordentlichen Professors. Parallel zu seiner akademischen Karriere machte sich der Chirurg auch außerhalb der Universität einen Namen. Schönbauer arbeitete nach dem Ersten Weltkrieg auch mit Vertretern des „Roten Wien“ eng zusammen. 1930 machte ihn Wiens Bürgermeister Karl Seitz zum Leiter der chirurgischen Abteilung im städtischen Krankenhaus Lainz. Seitz war es angeblich auch, der Schönbauer den Rat gab, die Klinik als „politikfreien Raum“ zu führen.5 Schönbauer kooperierte auch mit Julius Tandler, dem sozialdemokratischen Wiener Stadtrat und Professor für Anatomie. In Lainz übernahm Schönbauer ein Jahr später das strahlentherapeutische Institut mit Fokus auf die Behandlung von Krebs – eine der ersten Behandlungsstätten dieser Art weltweit.6 Nachdem Engelbert Dollfußim März 1933 das Parlament ausgeschaltet hatte, behielt Schönbauer seine Führungsposition in einer der Stadt Wien unterstellten

5 Leopold Schönbauer (1888–1963), Lebenserinnerungen. Josephinum – Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, MedUni Wien (MUW), Autographensammlung (AS), MUW-AS004455-209, in Folge als „Erinnerungen“ zitiert. 6 Zuvor hatte Schönbauer auf andere Primariate an Wiener Kliniken gehofft, aber zunächst keines erhalten. Schönbauer, Erinnerungen, 201–209. 1933 wurde in Lainz eine eigene Krebsberatungsstelle gegründet. Arias, Mandl/Schönbauer, 325.

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Einrichtung, die politisch „gesäubert“ wurde.7 Er galt weder als „Sozi“ noch „Nazi“ und konnte bleiben. In seinen kurz nach 1945 verfassten, unveröffentlichten Erinnerungen schreibt Schönbauer über die Zeit im „Roten Wien“ und anschließend im Austrofaschismus, dass er politisch nie auf der Seite der Herrschenden, sondern an deren Seite gestanden sei und durch sein medizinisches Können allein überzeugen musste. Ob diese selbstbewusste medizinische Einschätzung stimmt, müsste durch eingehendere Untersuchungen von Schönbauers medizinisch-chirurgischen Arbeiten überprüft werden. Seine Selbstdarstellung als apolitisch jedenfalls soll auf den folgenden Seiten mit Blick auf seine politischen Aktivitäten und Vernetzungen, die ihn alle politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts (1933, 1938, 1945) nahezu unbeschadet überstehen ließen, infrage gestellt werden.

Karrierefortschritte nach dem „Anschluss“ 1938 Nach dem „Anschluss“ war es für Schönbauer von Vorteil, kein politisch exponierter Anhänger des Austrofaschismus gewesen zu sein.8 Die Nationalsozialisten entließen knapp 300 Angehörige der Universität Wien. Die Medizinische Fakultät war besonders stark betroffen: Von den 321 habilitierten Lehrenden verloren 143 ihre Venia – zum überwiegenden Teil aus rassistischen Gründen und rund elf Prozent aus politischen Gründen.9 Einer jener Professoren, die aus politischen Gründen entlassen wurden, war der Chirurg Egon Ranzi. Er stand dem Dollfuß/Schuschnigg-Regime nahe und war 1937 zum Dekan gewählt worden. Von seiner Entlassung profitierte Schönbauer: Er wurde mit 50 Jahren am 1. April 1939 Ranzis Nachfolger im AKH. Am 2. Juni 1939 wurde Schönbauer zudem Stellvertreter von Dekan Eduard Pernkopf.10 Schönbauer und Pernkopf, der seit April 1933 illegales NSDAP-Mitglied war, kannten einander auch privat.11 Pernkopf war auch Amtskollege des Cousins 7 Ingrid Arias, „… und bietet gewähr, sich jederzeit rückhaltlos einzusetzen …“. Kontinuitäten und Brüche in den Karrieren des ärztlichen Personals im Altersheim Lainz 1938–1950, in: Ingrid Arias/Sonia Horn/Michael Hubenstorf (Hg.), „In der Versorgung“. Vom Versorgungshaus Lainz zum Geriatriezentrum „Am Wienerberg“, Wien: Verlagshaus der Ärzte 2005, 215–253, 224. 8 Im September 1938 war Schönbauer nach Prag berufen worden, trat die Stelle aber im Zuge der politischen Entwicklungen nicht an. 9 Klaus Taschwer, The Medical School of the University of Vienna before and after the „Anschluss“ 1938. Numbers and facts reflecting a dramatic decline, in: Wiener Klinische Wochenschrift. The Central European Journal of Medicine (2018), Volume: „Anschluss“ March 1938: Aftermath on Medicine and Society, 300–304. 10 Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Göttingen: V&R unipress 2014, 190. 11 Schönbauer, Erinnerungen, 216.

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Ein Herr Karl im Ärztekittel. Der Chirurg Leopold Schönbauer

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von Leopold Schönbauer: Der Jurist Ernst Schönbauer war nach dem „Anschluss“ zum Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät aufgestiegen. Er hatte sich als „Illegaler“ vor dem „Anschluss“ für die NS-Bewegung eingesetzt und war von 1924 bis 1930 Nationalratsabgeordneter für den deutschnationalen Landbund gewesen, eine antisemitische Bauernpartei, mit der auch Leopold Schönbauer sympathisierte.12 Der Chirurg stieg zügig nach dem „Anschluss“ die Karriereleiter nach oben, ohne zunächst NSDAP-Mitglied gewesen zu sein. Den Antrag auf Parteimitgliedschaft stellte er erst im April 1940,13 ab Juli 1940 war er auch offiziell Parteigenosse.14 Er selbst stellte es nach 1945 als Überraschung dar, überhaupt aufgenommen worden zu sein: „[I]ch bewarb mich um die Aufnahme zur Partei, hörte aber sehr bald, dass ich wahrscheinlich abgelehnt würde. Ich hätte zu viel auf dem Kerbholz: meine Beziehung zur sozialdemokratischen Partei, wenngleich ich kein Parteimitglied war, meine Freundschaft zu Tandler, mein freundschaftlicher Verkehr mit den Juden.“15

Zum Zeitpunkt seines Antrags auf NSDAP-Mitgliedschaft war er bereits knapp zwei Jahre – konkret seit 2. Juli 1938 – förderndes Mitglied der SS gewesen,16 sprich: Er unterstützte die NS-Kampforganisation finanziell, ohne für sie aktiv im Dienst zu sein, was „weder als völlig harmlos noch als schwer belastend, sondern allenfalls als Indiz individueller NS-Überzeugungen“ zu deuten ist.17 Nicht ganz einfach zu deuten sind auch Schönbauers zahlreiche weitere Aktivitäten während der NS-Zeit. Konkrete politische Äußerungen von ihm sind nicht zu finden. Seine Beurteilung durch die NS-Behörden fiel aber positiv aus. Im Jänner 1939 hieß es über ihn: „Derzeit ist er ein begeisterter Nationalsozialist“,18 und man hielt ihm zugute, dass er seinem bereits erwähnten Cousin Ernst Schönbauer sowie einer Nichte in deren Zeit als „Illegale“ geholfen hatte.19 12 Johannes Kalwoda, Ernst Schönbauer (1885–1966). Biographie zwischen Nationalsozialismus und Wiener Fakultätstradition, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2 (2012) 2, 282– 316. 13 Mikrofilm A3340/Leopold Schönbauer. Universität Wien, Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte, BDC, NSDAP Ortsgruppenkartei. 14 Gauakt 1416, Leopold Schönbauer, Mitgliedsnummer 8,121.441. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Zivilakten der NS-Zeit. 15 Schönbauer, Erinnerungen, 242. 16 Seit 2. Juni 1938 war er förderndes Mitglied der SS. Gauakt 1416, Schönbauer. ÖStA, AdR. 17 Bastian Hein, Elite für Volk und Führer? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925–1945 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 92, hg. vom Institut für Zeitgeschichte), München: Oldenbourg 2012, 170. 18 Gauakt 1416, Schönbauer, Vermerk, 7. 1. 1939. ÖStA, AdR. 19 A1 – Personalakt Leopold Schönbauer, Vermerk, 21. 11. 1946. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Ärztekammer Wien, A1.

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Darüber hinaus wurde vermerkt, dass er im Austrofaschismus zur Mitgliedschaft in der Vaterländischen Front (VF) gezwungen worden war und sein Sohn illegales HJ-Mitglied gewesen sei.20 Offensichtlich ist auch, dass er ohne dokumentierte NS-Loyalität 1939 wohl nicht zum Professor und Dekan-Stellvertreter aufgestiegen wäre. Schönbauer war somit bis 1945 Multifunktionär, und die Politik endete für ihn gewiss nicht am Spitalstor.

Abb. 1: Leopold Schönbauer in Uniform im Alter von 52 Jahren (1940).21

Zwangssterilisationen Ein besonders umstrittenes Kapitel, das in Schönbauers Verantwortungsbereich fiel, waren Zwangssterilisationen an seiner Klinik. Nachdem am 1. Jänner 1940 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ auch in der „Ostmark“ in Kraft getreten war, begannen in der zweiten Jahreshälfte die ersten Zwangssterilisationen. Die Operationen wurden von eigens dazu ermächtigten Ärzten durchgeführt. Die „chirurgische Unfruchtbarmachung an Männern“, konkret die Entfernung eines Stücks des Samenleiters,22 wurde in Wien an vier Stand20 Gauakt 1416, Schönbauer, Beurteilung, 27. 1. 1939. ÖStA, AdR. 21 Driak-Nachlass. Josephinum – Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, MUW-FOIR-003704-0023-001. 22 Spring, Zwischen Krieg und Euthanasie, 248.

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orten vorgenommen, einer davon war die I. Chirurgische Universitätsklinik im AKH. Die Verantwortlichen an den Spitälern sind in zwei Listen festgehalten. In diesen Dokumenten aus den Jahren 1940 und 1942 scheint auch Leopold Schönbauer auf.23 Die Namensnennung ist allerdings noch kein Beweis, dass er auch tatsächlich operiert hat,24 da die Operationsprotokolle der Kliniken in Wien aus der Zeit von 1938 bis 1945 nicht erhalten geblieben sind.25 Neben Schönbauer war zunächst auch sein Assistent Wolfram Sorgo berechtigt, Zwangssterilisationen unter anderem auch an männlichen Gefangenen der Justizverwaltung durchzuführen.26Auf Sorgo folgte in der zweiten Liste aus dem Jahr 1942 Paul Deuticke. Deuticke nahm zwischen dem 2. Dezember 1941 und dem 18. August 1942 eine erhebliche Zahl von Sterilisationen vor.27 Ein Briefwechsel legt nahe, dass Schönbauer solche Operationen in wenigen Fällen abgelehnt habe, und zwar aus Kapazitätsgründen.28 Die tatsächlichen Hintergründe dieser Kontroverse sind nicht geklärt. Gesichert ist, dass Schönbauer ermahnt wurde und er als Klinikverantwortlicher schriftlich betonte, dass „Unfruchtbarmachungen, die von Seiten der Justizverwaltung Wien-Niederdonau beantragt wurden“, nicht abgelehnt würden.29 Welche Verantwortung Schönbauer im Zuge der staatlich verordneten Verstümmelung durch Sterilisation angeblich „Erbkranker“30 trug, lässt sich nicht abschließend belegen. Unbestreitbar ist, dass er an der I. Universitätsklinik als deren Leiter dafür letztverantwortlich war.

23 Herwig Czech, Erfassung, Selektion und „Ausmerze“. Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspolitik“ 1938–1945 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte), Wien: Deuticke 2003, 77, Fn. 285. 24 Spring, Zwischen Krieg und Euthanasie, 241. 25 Ebd., 239. 26 Ebd., 242. 27 Michael Hubenstorf, Urologie und Nationalsozialismus in Österreich, in: Matthis Krischel u. a. (Hg.), Urologen im Nationalsozialismus. Zwischen Anpassung und Vertreibung, Bd. 1, Berlin: Hentrich & Hentrich 2011, 139–172, 161. 28 Nach der erzwungenen OP waren Männer zwischen zwei und zehn Tagen im Spital. Spring, Zwischen Krieg und Euthanasie, 250. 29 Schönbauer an Fuhs, 20. September 1944. ÖStA, AdR, Kurator, AZ 7113: 1940–1945, zit. n. Claudia Spring, „… völlig unter dem Eindruck der Todesstrafe“: „Freiwillige Entmannung“ nach dem nationalsozialistischen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: Zeitgeschichte 34 (2007) 5, 251–269, 260. 30 Herwig Czech, Erfassen, begutachten, ausmerzen: Das Wiener Hauptgesundheitsamt und die Umsetzung der „Erb- und Rassenpflege“ 1938 bis 1945, in: Heinz Eberhard Gabriel/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Vorreiter der Vernichtung? Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie in der österreichischen Diskussion vor 1938, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2005, 19–51, 36.

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Multifunktionär und Buchautor Schönbauer war aber nicht nur praktizierender Arzt und Klinikmanager, er war auch in etlichen Universitätsgremien vertreten und saß ab 1939 im Beirat der Hauptabteilung E (Gesundheitspolitik und Volkspflege) der Gemeindeverwaltung in Wien. Er reiste zwischen 1938 und 1945 viel und hielt unter anderem 1941 in Belgrad, Budapest, Sarajevo und Zagreb Vorträge.31 Von zahlreichen Vorträgen und öffentlichen Auftritten zeugen auch die Artikel des Gaupressearchivs, das erst kürzlich zugänglich gemacht wurde. Schönbauers Name findet sich auch auf der Teilnehmerliste einer Tagung in der Militärärztlichen Akademie in Berlin, zu der die Elite der NS-Ärzteschaft vom 24. bis 26. Mai 1943 eingeladen war. Ausgewählte Wehrmachtsärzte berichteten von Forschungen am Menschen.32 Karl Gebhardt, Chirurg und Leiter von medizinischen Versuchen im nationalsozialistischen Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, sowie Fritz Fischer präsentierten ihre Ergebnisse unter dem Titel „Besondere Versuche über Sulfonamidwirkung“.33 Bei diesen Versuchen wurden KZ-Häftlingen absichtlich schwere Verletzungen zugeführt, um sie anschließend mit Antibiotika zu behandeln. Ob Leopold Schönbauer an der Tagung auch tatsächlich teilnahm, ist bis jetzt nicht endgültig belegt.34 Dass die auf der Tagung präsentierten Forschungen brisant waren, zeigte sich spätestens im Nürnberger Ärzteprozess 1946: Gebhardt wurde wegen verbrecherischer chirurgischer Eingriffe und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und 1948 gehängt. Schönbauer wurde in der NS-Zeit auch ausgezeichnet: 1943 erhielt er das „Silberne Treuedienstabzeichen“ für 25 Dienstjahre, eine Ehrung, die nur an ausgewählte Personen verliehen wurde. Seine Konformität hinderte ihn allerdings auch nicht daran, mitunter eigenmächtig zu handeln: So setzte sich Schönbauer persönlich für einzelne MitarbeiterInnen ein, denen unter anderem aus rassistischen oder politischen Gründen die Lehrberechtigung entzogen worden war.35 31 Schreiben von Leopold Schönbauer an das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, 14. 1. 1941. Archiv der Universität Wien (UAW), Akt zum Rektorerinnerungszeichen, R.S. 230.1.6. 32 Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955, 86; Ernst Klee, Auschwitz, die NSMedizin und ihre Opfer, Frankf. a. M.: Fischer 2001, 201–202; Hans-Henning Scharsach, Die Ärzte der Nazis, Wien–München–Zürich: Orac 2000, 186. 33 Karl-Heiz Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Landsberg–Lech: Ecomed 1997, 137. 34 Arias vermerkt, dass Schönbauer im Frühjahr 1943 gemeinsam mit Lorenz Böhler, Viktor Orator und Gottfried Holler an der Fachtagung teilnahm. Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955, 87, Fn. 359. 35 Arias führt hier konkret Robert Oppolzer und Paul Huber an, die ihre Venia sowie Paul Fuchsig seinen Posten durch Schönbauers Interventionen wiedererlangten. Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955, 57 und 88.

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Widersprüchlich ist Schönbauers berufliche Beziehung zu seiner langjährigen Mitarbeiterin Marlene Jantsch (geb. Ratzersdorfer), die ab 1942 seine Privatassistentin war und etliche seiner Publikationen „vorbereitete“.36 Sie gilt als „‚Ghost-Writerin‘ des in Medizingeschichte nur eben dilettierenden Chirurgen Leopold Schönbauer“.37 Jantsch war gemeinsam mit ihrem Ehemann Hans Jantsch auch mehrheitlich für die Recherchen und Texte zu Schönbauers Werk Das Medizinische Wien verantwortlich. Im Vorwort dankte Schönbauer aber nur ungenau „Dr. Jantsch“.38 Diese Monografie erschien erstmals 1944 und wurde nach 1945 als Beweis für Schönbauers antinazistische Haltung herangezogen, weil im Buch zahlreiche Mediziner jüdischer Herkunft genannt wurden, auch solche, die 1938 entlassen worden waren. So wurden unter anderem der Medizinhistoriker Max Neuburger, die Anatomen Emil Zuckerkandl und Julius Tandler, die Nobelpreisträger Robert Bárány, Karl Landsteiner, Otto Loewi oder der Pharmakologe Ernst Peter Pick erwähnt. Nur im Namensverzeichnis findet sich hingegen Sigmund Freud, dessen Name auf der angeführten Seite aber fehlt. Schönbauer führte in seinen Nachkriegserinnerungen aus, dass so mancher Parteigenosse das Buch als „Judenalmanach“ ansah, und reklamierte damit erneut eine oppositionelle Haltung für sich.39 Von solcher „Opposition“ war freilich nicht die Rede, als Wiens Bürgermeister Hanns Blaschke 1944 im Zuge der Einweihung der Billroth-Statue im AKH Schönbauer öffentlich für das Werk dankte.40

36 Marlene Jantsch wurde im NS-Regime als „Mischling 2. Grades“ kategorisiert, sie selbst führte „evangelisch AB“ als ihr Glaubensbekenntnis an. Herbert Posch, Marlene Ratzersdorfer – Eintrag im Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, URL: https://gedenkbuch.univie.ac.at (abgerufen am 18. 10. 2021). Horn schreibt nichts über eine Verfolgungserfahrung. Sonia Horn, Marlene Jantsch, geb. Ratzersdorfer (1917–1994), in: Brigitta Keintzel/Ilse Korotin (Hg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2002, 333–334. Vgl. auch Felicitas Seebacher, Das Fremde im „deutschen“ Tempel der Wissenschaften. Brüche in der Wissenschaftskultur der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2011, 404. 37 Michael Hubenstorf, Von Erfolg und Tragik einer Medizinhistorikerin: Erna Lesky (1911– 1986), in: Christoph Meinel/Monika Renneberg (Hg.), Geschlechterverhältnisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik, Bassum–Stuttgart: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 1996, 98–109, 100. 38 Leopold Schönbauer, Das Medizinische Wien, Wien–Berlin: Urban & Schwarzenberg 1944, VII. 39 Schönbauer, Erinnerungen, 235. Johannes Miholic zitiert in seinem Beitrag die Tochter von Marlene Jantsch, Christine Nowotny. Sie erzählte, dass auch Leopold Arzt angeblich das Werk als „Judenalmanach“ bezeichnet hatte. Schönbauer erwähnt in seinen Erinnerungen den Urheber dieser Einschätzung nicht, aus dem Kontext heraus wird es nicht deutlich, dass Arzt es gewesen sei. 40 Billroth-Preis der Stadt Wien, Völkischer Beobachter, 7. 2. 1944, 4.

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Auch Ludwig Adamovich, erster Rektor der Universität Wien nach dem Kriegsende 1945, stilisierte das Buch bereits im Juni 1945 zu einer Heldentat und einem Beweis für Schönbauers Opposition zum NS-Regime.41 Ähnlich hieß es noch 2009 in der Zeitschrift Ärzte Woche über die Ausgabe von 1944: „Es ist vermutlich das einzige Werk aus jener Zeit, das die Forderungen der Nazis nach rassistischer Diskriminierung in Text und Abbildungen glatt ignorierte.“42 2018 schaffte es diese Aussage auch in den Historikerbericht der ÖVP.43

Kontinuitäten nach 1945 Vor allem war es die Erzählung von der „Rettung des AKH“, die Schönbauers Ansehen nach 1945 prägte. Dass es am besagten 8. April 1945 indes nicht ganz so dramatisch zuging, legen militärhistorische Forschungen nahe, die die Heldenhaftigkeit seines Engagements relativieren. Als Anfang April 1945 der Kampf um Wien begann, war das AKH bei Weitem nicht so relevant und umkämpft, wie auch im eingangs zitierten Zeitungsartikel behauptet wurde.44 Die Stimmung im AKH war aber gewiss sehr angespannt: Zu ihrer Sicherheit wurden PatientInnen in Luftschutzkeller verlegt, in denen auch die Bevölkerung aus der Umgebung Schutz suchte. Zur gleichen Zeit hatte sich im Spital eine Widerstandgruppe eingefunden, die den Krankenhauskomplex friedlich an die Befreier Wiens übergeben wollte. Ihre Mitglieder waren es auch, die am 8. April auf Schönbauer zugingen und ihn anstelle des Spitalsdirektors Viktor Satke aufforderten, die Leitung zu übernehmen. Bis hierher decken sich die vielen Erzählungen. Was danach genau geschah, ist nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren. Sogar in den Berichten, die dem über Jahre anwachsenden NS-Registrierungsakt Schönbauers beiliegen, widersprechen sich die Aussagen. Offensichtlich ist, dass Schönbauer Kontakt zur SS hatte, die es in Erwägung zog, „das Krankenhaus selber in die Verteidigung mitein41 A42 – NS-Registrierung: Leopold Schönbauer, 103-9/17-25: A42/109, Schreiben von Ludwig Adamovich, 2. 7. 1945. WStLA, M.Abt. 119. 42 Wolfgang Regal/Michael Nanut, Der „Retter des Allgemeinen Krankenhauses“, in: Ärzte Woche 22 (2009), URL: www.springermedizin.at/artikel/2925-der-retter-des-allgemeinen-kr ankenhauses (abgerufen am 7. 9. 2011, aktuell nicht mehr online, Kopie im Besitz der Verfasserin). 43 Michael Wladika, Zur Repräsentanz von Politikern und Mandataren mit NS-Vergangenheit in der Österreichischen Volkspartei 1945–1980. Eine gruppenbiographische Untersuchung, unveröffentlichtes Manuskript (hg. vom Karl von Vogelsang-Institut), April 2018, 106. URL: https://www.vogelsanginstitut.at/at/wp-content/uploads/2019/05/forschungsbericht.pdf (abgerufen am 18. 10. 2021). 44 Markus Reisner, Die Schlacht um Wien. Die Wiener Operation der sowjetischen Streitkräfte im März und April 1945, Berndorf: Kral 2020, 424–427.

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zubeziehen“.45 Belegt ist auch, dass es Kontakt zu sowjetischen Truppen gab. Wie die Verhandlungen liefen und wer bzw. welche Gruppe(n) aus dem AKH daran beteiligt war(en), lässt sich nicht mehr eindeutig feststellen. Gesichert ist, dass Schönbauer daran mitwirkte, das AKH im April 1945 durch die Tage des Kampfs um Wien und vor allem durch die ersten Nachkriegswochen zu führen. Aussagen wie „er allein war es, der wenige Stunden später mit aller Entschiedenheit den Eroberern entgegengetreten war, um sie mit vollem Erfolg in ihre Schranken zu weisen“46, gehören aber eher in den Bereich der Legendenbildung. Die Erzählung selbst schaffte es dennoch in den 1980er Jahren in die breitenwirksame Dokumentarfilmreihe Österreich II von Hugo Portisch.47

Registrierung oder Nicht-Registrierung, das ist hier die Frage Dass Schönbauer am 8. April 1945 von der Widerstandsgruppe und auch von der Belegschaft zum Direktor des AKH gewählt wurde,48 entließ ihn nicht aus der Pflicht, sich als eines von knapp 700.000 NSDAP-Mitgliedern in Österreich zu registrieren. Gleichzeit musste an der Universität Wien politisch geprüft werden, ob er als ehemaliges Parteimitglied weiter unterrichten und an der Universitätsklinik arbeiten durfte. Schönbauer versuchte alles, um erst gar nicht auf den Listen der registrierungspflichtigen NationalsozialistInnen aufzuscheinen: Das erste, verpflichtend auszufüllende „Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten“ gab Schönbauer nie persönlich ab. Er schickte seinen Mitarbeiter Adolf Zottl vor, der im Auftrag von Schönbauer die Angaben unterschrieb, dass der Chirurg ab 1. Juli 1940 bis April 1945 Anwärter auf die Mitgliedschaft der NSDAP gewesen war, aber kein Parteimitglied.49 Diese Angabe war nicht korrekt: Schönbauer hatte mit 1. Juli 1940 den Status eines Parteigenossen erlangt. Dass er bei der Frage nach der SS-Mitgliedschaft Nein antwortete, ist hingegen formal richtig – da er eben nur förderndes (FM) und nicht wirkliches Mitglied war.50 45 Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, Wien: Amalthea 2015, 176. 46 Nachruf auf Leopold Schönbauer von Paul Fuchsig, in: Die Feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1963/64, Wien: Universität Wien 1964, 64– 66, 65. 47 Interview mit Franz Krejca, ca. 1980/1985, ZG 143 (Zeitgeschichte-Interview für Österreich II). ORF, Multimediales Archiv, siehe Transkript, 4; Hugo Portisch/Sepp Riff, Österreich II. Die Wiedergeburt unseres Staates, Wien: Kremayr & Scheriau 1985, 92–94. 48 Manuskript von Fritz Helmer, Die Rettung des Allgemeinen Krankenhauses, 7. UAW, Akad. Senat 200. Helmers Manuskript ist mit der nötigen Quellenkritik zu lesen. 49 NS-Registrierung, Schönbauer, Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten im Sinne des Art. II. des Verfassungsgesetzes vom 8. Mai 1945, ST.G.Bl. Nr. 13, über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz), ohne Datum. WStLA. 50 PA L. Schönbauer, Personalblatt vom 11. 5. 1945, fol. 69. UAW, Med. Fak.

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Am 2. Juli 1945 füllte Schönbauer erneut eine Meldung aus.51 Diesmal richtete er auch ein Schreiben an die Provisorische Staatsregierung und ersuchte um Befreiung von der Registrierung.52 Anders als im Meldeblatt gab er nun seine Mitgliedschaft korrekt an: „Ich war seit 1. Juli 1940 einfaches Parteimitglied.“53 Beigelegt waren dem Brief je ein Entlastungsschreiben von Paul Grüneis,54 einem Mitglied der oben genannten AKH-Widerstandgruppe, sowie von Leopold Arzt,55 der 1936/37 Rektor der Universität Wien war und nach der Befreiung Wiens Dekan der Medizinischen Fakultät wurde. Dazu kam die bereits erwähnte Bestätigung Ludwig Adamovichs.56 Schließlich war dem Konvolut noch ein Schreiben des damaligen Staatssekretärs Adolf Schärf beigelegt.57 Der spätere Bundespräsident der Republik Österreich (SPÖ, 1957–1965) war vom 3. bis zum 10. April 1945 Patient Schönbauers gewesen.58 Schärf führte im Empfehlungsschreiben mit Blick auf die Apriltage 1945 im AKH aus: „Dieser Vorfall ist es gewesen, der bei der Schaffung des Verbotsgesetzes in der prov. Regierung zur Einführung des Artikels 27 geführt hat, der in eingeweihten Kreisen geradezu ‚Schönbauer-§‘ heißt.“59 In seinen lebensgeschichtlichen Erinnerungen ergänzte Schärf: „Man war im Kabinettsrat der Meinung, daß diese Ausnahmebestimmung nur außerordentlich selten angewendet werden solle, jedenfalls aber auf den Mann, der die Veranlassung zu ihr gewesen war.“60 Diese Zeugnisse und Unterstützungen zeigten Wirkung: Im Sommer 1945 vermerkte der Wiener Magistrat, dass man aufgrund der Empfehlungsschreiben 51 NS-Registrierung, Schönbauer, Meldung an das Magistratische Bezirksamt für den 18. Bezirk, 2. 7. 1945. WStLA. 52 NS-Registrierung, Schönbauer, Schreiben von Schönbauer an die Provisorische Staatsregierung in Wien, 2. 7. 1945. WStLA. 53 Ebd. 54 NS-Registrierung, Schönbauer, Schreiben von Paul Grüneis, vermutlich Juni 1945. WStLA. 55 NS-Registrierung, Schönbauer, Schreiben von Leopold Arzt, 1. 7. 1945. WStLA. 56 NS-Registrierung, Schönbauer, Schreiben von Ludwig Adamovich, 2. 7. 1945. WStLA. 57 NS-Registrierung, Schönbauer, Schreiben von der Staatskanzlei, Staatssekretär Adolf Schärf, 5. 7. 1945. WStLA. 58 Adolf Schärf, Erinnerungen aus meinem Leben, Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung 1963, 176. 59 Adolf Schärf, zit. n. Karl F. Stadler, Adolf Schärf. Mensch, Politiker, Staatsmann, Wien– München–Zürich: Europaverlag 1982, 187. 60 Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung 1945–1955. Das erste Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung 1955, 145. Letztlich sollten aber allein in Wien 86 Prozent aller Registrierungspflichtigen einen Antrag auf Entregistrierung stellen, um Berufsverboten und Sühnezahlungen über die Hintertür zu entgehen. Ingrid Arias, Die Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955, in: Margarete Grandner/Gernot Heiß/Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945–1955, Innsbruck–Wien: Studien Verlag 2005, 68–88, 71; Winfried R. Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS-Verbrechen, in: Emmerich Tálos u. a. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich 1938–1945. Ein Handbuch, Wien: ÖBV & HPT 2000, 852–883, 858.

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Schönbauer von der Registrierung als Nationalsozialist ausnehmen und stattdessen der § 27 des Verbotsgesetzes angewendet werden sollte.61 Im Gesetz hieß es kurz und bündig: „Ausnahmen von der Behandlung […] sind im Einzelfalle zulässig, wenn der Betreffende seine Zugehörigkeit zur NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK) niemals mißbraucht hat und aus seinem Verhalten noch vor der Befreiung Österreichs auf eine positive Einstellung zur unabhängigen Republik Österreich mit Sicherheit geschlossen werden kann: darüber entscheidet die Provisorische Staatsregierung.“62

Schönbauers Name stand auf einer Liste von zehn Personen, die 1945 als Erste entregistriert werden sollten, doch Staatssekretär Leopold Figl, so Adolf Schärfs Darstellung, verweigerte die Unterschrift.63 Also blieb Schönbauer vorerst registrierter Nationalsozialist. Als Hochschullehrer und als Arzt hätte dies eigentlich schwerwiegende Folgen für ihn bedeutet: 75 Prozent der HochschullehrerInnen an der Medizinischen Fakultät durften nach dem Kriegsende vorerst nicht mehr unterrichten, da sie als belastet galten,64 und Schönbauer hätte von der Ausübung des Ärzteberufs gesperrt werden können. Doch Schönbauer, der 1945 zusätzlich noch interimistisch die Leitung des Instituts für die Geschichte der Medizin übernahm,65 konnte auf die Rückendeckung des Bundesministeriums für Unterricht zählen, und das Berufsverbot wurde einfach nicht auf Schönbauer angewendet.66 Er wurde von der Sonderkommission an der Universität Wien als „tragbar“ eingestuft, und so führte ihn die Hochschule 1946 bereits als „pardoniert“, obwohl es noch keinerlei Entscheidung im Fall der Entregistrierung gab.67 Erst mit 27. März 1946 enthob ihn das Ministerkomitee im Bundeskanzleramt formal, beließ ihn aber gleichzeitig „bis auf Weiteres“ im Dienst, denn an der Universität hatte Schönbauer vollen Rückhalt.68 Nicht einmal

61 NS-Registrierung, Schönbauer, Vermerk des Wiener Magistrat als Landeshauptmannschaft (Verwaltungsgruppe VII – Abteilung 2), 16. 8. 1945. WStLA. 62 Staatsgesetzblatt 13/1945 vom 6. 6. 1945, § 27. 63 Neugebauer/Schwarz, Der Wille zum aufrechten Gang, 50–51. 64 Michael Hubenstorf, Tote und/oder lebendige Wissenschaft: Die intellektuellen Netzwerke der NS-Patientenmordaktion in Österreich, in: Eberhard Gabriel/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Von der Zwangssterilisation zur Ermordung. Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien, Teil 2, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2002, 237–404, 344. 65 Vgl. dazu den Beitrag von Jakob Lehne in diesem Band. 66 Ingrid Arias, Entnazifizierung an der Wiener Medizinischen Fakultät: Bruch oder Kontinuität? Das Beispiel des Anatomischen Instituts, in: Zeitgeschichte 31 (2004) 6, 339–369, 362, Fn. 18. 67 Pfefferle/Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert, 90, 182–183. 68 Ebd., 191.

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der Kompromiss, dass „Belastete“, die weiter unterrichten durften, zumindest nicht namentlich im Vorlesungsverzeichnis geführt wurden, galt für ihn.69 Dass Schönbauer von der Universität und vom Ministerium „gehalten“ wurde, lag auch daran, dass nicht zuletzt an der Medizinischen Fakultät größte Personalnot herrschte. Viele der Lehrenden waren politisch ähnlich schwer belastet (konkret waren 24 von 29 Medizinprofessoren NSDAP-Mitglieder oder Parteianwärter gewesen) und/oder Deutsche, die nach der „Befreiung“ 1945 sofort entlassen wurden.70 Hatte die Fakultät 1927 noch 75 ordentliche und außerordentliche Professoren sowie 264 habilitierte DozentenInnen, sanken diese Zahlen nach 1945 auf unter 20 bzw. unter 100. Zwar kamen von den britischen und USAlliierten konkrete Vorschläge und Listen mit Namen von vertriebenen WissenschafterInnen, die man zurückholen sollte. Doch diese Remigration scheiterte aus verschiedenen Gründen fast völlig.71 Eines der „hausgemachten“ Probleme war, dass diese Rückholung von rechtskonservativen antisemitischen Netzwerken absichtlich hintertrieben wurde, um die Chancen von gut vernetzten „Ehemaligen“ wie Schönbauer zu erhöhen. Im Februar 1947 trat dann das „Nationalsozialistengesetz“ in Kraft, das zwischen minderbelasteten und belasteten Personen unterschied. Zudem setzte es den Bundespräsidenten anstelle der provisorischen Regierung zur Erteilung von Ausnahmen nach dem § 27 ein. Eine Passage in diesem Gesetz war für Schönbauer besonders relevant: Von der Registrierung als Nationalsozialist sollte ausgenommen werden, wer „mit der Waffe in der Hand in den Reihen der alliierten Armeen gekämpft“72 hatte. Schon drei Tage nach der Veröffentlichung des Gesetzes stellte Schönbauer einen neuen Antrag. Im Juni 1947 entschied Bundespräsident Karl Renner offiziell, Schönbauer von den Bestimmungen der Artikel III und IV des Verbotsgesetzes 1947 auszunehmen – nicht aber von gewissen Sühnemaßnahmen.73 Schönbauer erhielt offiziell den § 27, aber nicht im vollen Umfang, er blieb registrierter Nationalsozialist.74

69 Christian Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration. US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Neuorientierung österreichischer Wissenschaft 1941–1955, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2014, 353; UAW, Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien für das Sommersemester 1945, o.S. 70 Pfefferle/Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert, 264. 71 Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien: Czernin 2015, 249–272. 72 BGBl. 25/1947 vom 17. 2. 1947, Abschnitt I. § 4 (5), f. 73 NS-Registrierung, Schönbauer, Eidesstattliche Erklärung von Fritz Straka, Kurt Fochen, Rudolf Wagner, 21. 4. 1947. WStLA; NS-Registrierung, Schönbauer, Schreiben vom Bundesministerium für Inneres, 7. 7. 1947. WStLA. 74 NS-Registrierung, Schönbauer, Meldeblatt zur Verzeichnung des Nationalsozialisten gemäß § 4 des Verbotsgesetzes 1947. WStLA.

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Was nun folgte, war eine Reihe von Beschwerden, Ablehnungen der Einsprüche und erneuten Beanstandungen der Ablehnungen.75 Schönbauer führte von Brief zu Brief energischer den im „Nationalsozialistengesetz“ eingeführten Ausnahmegrund „Kampf in den Reihen der alliierten Truppen“ an, um von der Registrierung befreit zu werden. Er deutete seine Beteiligung an der „Rettung des AKH“ als einen solchen Kampf und führte nun gemeinsam mit weiteren Persilscheinen an, dass er Streifendienste „mit der Waffe in der Hand“ geleistet hatte, mit der Pistole in der Tasche mit der SS verhandelt und dabei sein Leben für ein freies Österreich aufs Spiel gesetzt hatte. Deutlich wird, wie sich die Darstellung an die neuen Gesetzesformulierungen anpasste (in den Berichten 1945 war davon noch nicht die Rede). Schönbauer sprach sogar persönlich in der Beschwerdekommission vor, die im Mai 1948 abschließend festhielt, dass man seinen bewaffneten Einsatz sehr schätze, aber ihn nicht als Kampf in den Reihen der Alliierten anerkennen könne.76 Damit schien auch diese Intervention ihr Ziel verfehlt zu haben. Im April 1948 wurde die vorzeitige Beendigung der im „Nationalsozialistengesetz“ vorgesehenen Sühnefolgen für minderbelastete Personen durch das „Amnestiegesetz“ beschlossen.77 Im Juni 1948 wurde Schönbauer daher vom Unterrichtsministerium offiziell wieder zum ordentlichen Professor ernannt und erhielt das seiner Funktion entsprechende, kurzzeitig jedoch gekürzte Gehalt.78 In der gesamten Zeit seit April 1945 war Schönbauer nicht nur „nicht entfernt“ worden, sondern auch Direktor des AKH geblieben. Das alles gelang, obwohl er immer wieder auch öffentlich kritisiert wurde. Im Oktober 1946 etwa veröffentlichte die Zeitung Welt am Abend, geführt von den französischen Alliierten, unter der Überschrift Denazifizierte Aerzteschaft heftige und vor allem gut informierte Kritik an Schönbauer im Kontext der Zwangssterilisationen. Hier hieß es: „Man sollte nun glauben, daß ein solcher ‚Arzt‘, wenn er außerdem noch der NSDAP als Vollmitglied angehört hat, sich als förderndes Mitglied der SS bezeichnete, noch anderen NS-Organisationen beigetreten war, unter den Nazi nach Entfernung eines verdienten Oesterreichers eine Universitätsklinik zugewiesen bekam, ja sogar im späteren Verlauf zum Rat der Stadt Wien in der Naziverwaltung erhoben wurde, daß ein solcher ‚Arzt‘ nach dem Zusammenbruch auf der Stelle von seinem Posten enthoben worden wäre. Aber dem ist nicht so! Dieser Herr hat nach wie vor seinen Lehrstuhl inne, und während der Student sorgfältig überprüft wird, scheint die politische Vergangenheit

75 PA L. Schönbauer, Bescheid der Einspruchskommission für den 18. Bezirk, 27. 1. 1948, fol. 74. UAW, Med. Fak. 76 NS-Registrierung, Schönbauer, Schreiben vom Bundesministerium für Inneres, Beschwerdekommission, 19. 5. 1948. WStLA. 77 BGBl. 99/1948 vom 5. 6. 1948. 78 PA L. Schönbauer, Schreiben vom Bundesministerium für Unterricht, 30. 6. 1948, fol. 78. UAW, Med. Fak.

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dieses Erziehers der studierenden Jugend bei guten Beziehungen keine Rolle zu spielen.“79

Eine Reaktion auf diese Anschuldigung ist nicht bekannt. Der Artikel ist nicht in einer der Personalakte zu Schönbauer abgelegt worden, und somit ist nicht einmal klar, ob ihn jemand in der Universitätsverwaltung wahrgenommen hat. Wenig überraschend blieb der Beitrag folgenlos. Schönbauer und seine KollegInnen mussten sich nach Kriegsende auch nicht für Zwangssterilisationen vor Gericht verantworten.80

Schönbauer und die „Ehemaligen“ Verständnisvoll und fast entschuldigend schrieb Marlene Jantsch 1968 über Schönbauers Verhalten im Nationalsozialismus: „Seiner dem Tagesgeschehen entrückten Haltung entsprach es, dass er durchaus bereit war, mit den Machthabern des Dritten Reichs zusammenzuarbeiten, so lange es ihm für die Klinik und ihre Patienten gut schien.“81 Dem steht gegenüber, dass Schönbauer durchaus ausgeprägte Karriereambitionen hatte und zu deren Erfüllung Kontakte sowohl zu (ehemaligen) Austrofaschisten wie auch zu Nationalsozialisten pflegte. Nach der Kriegsniederlage setzte er sich zudem für nationalsozialistisch belastete Mitarbeiter und Kollegen ein – ob aus Freundschaft und/oder ideologischen Gründen, kann hier nicht geklärt werden. So wurde er initiativ, als es darum ging, für den Historiker Heinrich Srbik, den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften von 1938 bis 1945, jene Pensionszahlungen zu reklamieren, die ihm durch die Entnazifizierungsmaßnahmen gestrichen worden waren.82 Ähnlich war es im Fall des Professors Viktor Christian. Für das ehemalige illegale NSDAP-Mitglied, das in den letzten Kriegstagen kurz Rektor der Universität Wien gewesen war, lobbyierten neben Schönbauer noch andere rechtsnationale Professoren, die mit dem Nationalsozialismus zumindest sympathisiert hatten: Wilhelm Czermak, Gustav Entz und Richard Meister.83 79 Denazifizierte Aertzeschaft, Welt am Abend, 1. 10. 1946, 2. 80 Spring, Zwischen Krieg und Euthanasie, 262. 81 Manuskript Marlene Jantsch, Leopold Schönbauer (13.XI.1888–11.IX.1963) österreichischer Chirurg. MUW-AS-003651-0008-002. 82 Die Intervention lief angeblich über Schönbauers ehemaligen Patienten Oskar Helmer (SPÖ). Manfred Stoy, Kleine Mitteilungen. Aus dem Briefwechsel von Wilhelm Bauer, Teil 1, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108 (2000), 376–398, 391; Karl Hartleb, Vom Landbund zum Heimatbund. Stocker und Hartleb (1946–1948), Manuskript vom 9. Juni 1949, 5. URL: https://www.stocker-verlag.com/fileadmin/user_upload/fil e.pdf (abgerufen am 18. 10. 2021). 83 Manfred Stoy, Aus dem Briefwechsel von Wilhelm Bauer, 395–396.

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Abb. 2: Leopold Schönbauer (1951).84

In den 1950er Jahren war Schönbauer auch ein gern gesehener Gast im Rahmen von Veranstaltungen deutschnationaler Burschenschaften.85 Im Studienjahr 1953/54 wurde er Rektor und war damit nach 1945 das erste ehemalige NSDAPMitglied in dieser Funktion.86 Aus dem Rektorat heraus pflegte er seine politischen Kontakte offen und nahm im Dezember 1953 an der rechten „Heldengedenkfeier“ in der Universitätsaula teil.87 Er stellte auch die Antrittsvorlesung des NS-belasteten Theaterwissenschafters Heinz Kindermann unter seinen persönlichen Schutz und publizierte zudem in der einschlägigen Zeitschrift Die Aula.88

84 Josephinum – Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, MUW-FO-IR-003704-0003001. 85 Margit Reiter, Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ, Göttingen: Wallstein 2019, 261. 86 Er sollte freilich nicht die letzte Magnifizenz mit brauner Vorgeschichte bleiben. Der Letzte war der Neurologe Franz Seitelberger, ehemaliges SS-Mitglied und Rektor von 1975 bis 1977. 87 Bernhard Weidinger, „Im nationalen Abwehrkampf der Grenzlanddeutschen“. Akademische Burschenschaften und Politik in Österreich nach 1945, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2014, 78. 88 Leopold Schönbauer, Die gewonnenen Jahre, in: Die Aula. Monatsschrift Österreichischer Akademikerverbände 4 (Jänner 1954) 4, 1.

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Treu blieb er auch den beiden NS-Rektoren der Universität Wien, Fritz Knoll und Eduard Pernkopf. Trotz ihrer hohen Funktionen zur Zeit des Nationalsozialismus und ihrer illegalen Parteimitgliedschaft bei der NSDAP vor 1938 wurden beide ehemaligen Magnifizenzen nur als minderbelastet eingestuft. Die Rückkehr an ihre Professuren scheiterte zwar; doch sie konnten ihre akademischen Arbeiten wieder aufnehmen und dabei auch auf Schönbauer zählen.89 1959 unterstützte Schönbauer dann auch die Initiative, die Namen von Fritz Knoll und Eduard Pernkopf in die sogenannte Rektorentafel im Hauptgebäude am Ring nachtragen zu lassen. Dieser Vorstoß aus extrem rechter Seite hatte Erfolg: 14 Jahre nach Kriegsende erhielten Knoll und Pernkopf mithilfe des Akademischen Senats einen Ehrenplatz auf der prominenten Gedenktafel.90 Rektor Tassilo Antoine konnte das Einmeißeln der Namen im Herbst 1959 verkünden. Der Gynäkologe war nicht nur Medizinerkollege von Pernkopf, sondern in den 1940er Jahren als Verantwortlicher für Zwangsterilisationen an Frauen am AKH nominiert gewesen.91 Schönbauer trat auch als Fürsprecher Sigbert Ramsauers auf, des berüchtigten Arztes der Konzentrationslager Dachau, Mauthausen und Loibl.92

Schönbauer und die (Ehrungs-)Politik Schönbauer zog es in den 1950er Jahren immer mehr in die Politik – und er war damit in seinem Fach keine Ausnahme. Der Chirurg Burghard Breitner kandidierte 1951 für den Verband der Unabhängigen (VdU) als Parteiungebundener für das Amt des Bundespräsidenten und verlor gegen Theodor Körner (SPÖ). Breitner war bereits 1932 der NSDAP beigetreten, 1933 trat er aus, um nach dem „Anschluss“ erneut Mitglied zu werden.93 Nach der Gründung der FPÖ 1956 wollte die Partei 1957 für den nächsten Präsidentschaftswahlkampf einen eigenen Kandidaten nominieren. War Breitner 1951 noch gegen die ÖVP angetreten, 89 Linda Erker, Die Rückkehr der „Ehemaligen“. Berufliche Reintegration von früheren Nationalsozialisten im akademischen Milieu in Wien nach 1945 und 1955, in: Zeitgeschichte 44 (2017) 3, 175–192, 180–181. 90 Linda Erker, Die Universität Wien im Austrofaschismus. Österreichische Hochschulpolitik 1933 bis 1938, ihre Vorbedingungen und langfristigen Nachwirkungen, Göttingen: V&R unipress 2021, 254–260. 91 Czech, Erfassung, Selektion und „Ausmerze“, 77, Fn. 285. 92 Lisa Rettl/Peter Pirker, Ich war mit Freuden dabei. Der KZ-Arzt Sigbert Ramsauer – Eine österreichische Geschichte, Wien: Milena 2010, 282. 93 Margit Reiter, Denazification – Reintegration – Political Fields of Action: NS-tainted Doctors after 1945, in: Wiener Klinische Wochenschrift. The Central European Journal of Medicine (2018), Volume: „Anschluss“ March 1938: Aftermath on Medicine and Society, 310–314, 312– 313.

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vereinten sich diesmal die Freiheitlichen mit der Volkspartei und nominierten gemeinsam den Chirurgen Wolfgang Denk als Gegenkandidaten zu Adolf Schärf. Denk war langjähriger Wegbegleiter und lokaler Konkurrent Schönbauers;94 er hatte im Nationalsozialismus die II. Chirurgische Klinik und damit die Schwesterinstitution zu Schönbauers I. Chirurgischer Klinik im AKH geführt. Kurz wurde auch eine Kandidatur Schönbauers in der Presse kolportiert. Der Unfallchirurg Lorenz Böhler, ab Februar 1938 NSDAP-Mitglied, sollte Teil seines Personenkomitees sein.95 Die prononcierten Rechten Fritz Stüber und Ernst Schönbauer zählten ebenfalls zu den Unterstützern Schönbauers als dritter Kandidat. Doch es kam nicht zur Kandidatur.96 Wäre Schönbauer in den Wahlkampf gezogen, wäre er gegen seinen ehemaligen Patienten und politischen Fürsprecher sowie seinen Kollegen angetreten. Letztlich sollte Denk dem SPÖKandidaten Adolf Schärf unterliegen. Schönbauers politische Karriere nahm zu diesem Zeitpunkt dennoch Fahrt auf. Als im März 1958 mit Anton Reinthaller der erste Obmann der FPÖ verstarb, wurde der Chirurg als möglicher Nachfolger gehandelt.97 Ein Jahr später ließ sich Schönbauer von der ÖVP als „nationaler Quereinsteiger“ bei den niederösterreichischen Landtagswahlen aufstellen. Man sah in ihm den „bekanntesten und fähigsten Vertreter der National-Freiheitlichen“, wie es in der ÖVP-Wahlkampfzeitung hieß.98 Anstatt nach der Wahl in den Landtag einzuziehen, wurde er Abgeordneter im Nationalrat und wirkte dort für die ÖVP von Juni 1959 bis Dezember 1962. Er war Mitglied im Ausschuss für soziale Verwaltung sowie für Unterricht.99 Schönbauer erhielt nach 1945 viel öffentliche Anerkennung sowie zahlreiche Ehrungen.100 Warum ausgerechnet Wolfang Denk 1958 den Antrag auf Verlei94 95 96 97

Vgl. dazu den Beitrag von Johannes Miholic in diesem Band. Denk reist durch alle Bundesländer, Die Presse, 22. 2. 1954, 3. Diese Woche Entscheidung Schönbauers, Die Presse, 24. 2. 1957, 7. Michael Wladika, Die NS-Vergangenheit der Funktionäre von VdU und FPÖ, in: Freiheitliches Bildungsinstitut (Hg.), Bericht der Historikerkommission. Analysen und Materialien zur Geschichte des Dritten Lagers und der FPÖ, Wien: Edition K3-Gesellschaft für Sozialpolitische Studien 2019, 39–91, 82. 98 ÖVP-Wahlkampfzeitung Niederösterreichische Heimatzeitung, April 1959, zit. n. Christian Klösch, Das „nationale Lager“ in Niederösterreich 1918–1938 und 1945–1996, in: Stefan Eminger/Ernst Langthaler (Hg.), Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd. 1: Politik, Wien– Köln–Weimar: Böhlau 2008, 565–600, 594–595. 99 Index zu den Stenografischen Protokollen des Nationalrates und des Bundesrates für die IX. GP – Personenregister B – Dr. Leopold Schönbauer, URL: https://www.parlament.gv.at/P AKT/VHG/IX/WD/WD_00179/imfname_264397.pdf (abgerufen am 18. 10. 2021). 100 Schönbauer erhielt unter anderem den Preis der Stadt Wien für Naturwissenschaften (1950), das Große silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (1954), den Ehrenring der Stadt Wien (1958), das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1958), die Billroth-Medaille der Gesellschaft der Ärzte in Wien (1959), ein BronzeRelief neben der Büste seines Lehrers Eiselsberg in einem Hörsaal (1960), ein Ehrengrab auf

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hung des Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst – Österreichs höchste Auszeichnung für Wissenschafter – an Schönbauer stellte, muss wie so vieles Spekulation bleiben.101 Dass ihr Verhältnis nicht das Beste war, zeigen die Erinnerungen Schönbauers wie auch der Beitrag von Johannes Miholic in diesem Band. Ehrungspolitik ist indes immer auch Interessenpolitik. Und dabei stand bis in die 1970er Jahre eine Wiedereingliederung der „Ehemaligen“ auf der wissenschaftspolitischen Agenda, was einerseits Ergebnis der Konsolidierung alter rechtskonservativer Netzwerke war und diese andererseits weiter stärkte.102

Resümee In seinen unveröffentlichten Erinnerungen präsentiert sich Schönbauer als Mediziner durch und durch. Diese Selbstdarstellung sollte letztlich auch dazu dienen, sein offensichtliches Engagement für den Nationalsozialismus kleinzureden. Kontrastiert man diese apolitische Selbstdarstellung mit den verfügbaren Quellen zur Biografie Schönbauers, zeigt sich eine erstaunliche politische Vernetzung, die selbstverständlich nicht vor dem Spitalstor haltmachte. Er schaffte es, in beiden Diktaturen und in der Ersten wie in der Zweiten Republik zu reüssieren. An seinem Beispiel lässt sich nachvollziehen, wie sich nach 1945 halb Österreich als Opfer und/oder Widerstandskämpfer verstand.103 Anhand seiner Vita bekommt man auch eine Vorstellung davon, wie ein „routinierter Opportunist“104 aussehen kann und welche Vorteile es hatte, situationselastisch zu bleiben. Dass Schönbauer viel Österreichisches prototypisch verkörperte, machte auch Helmut Qualtinger in seinem Programm Blattl vorm Mund zum Thema.105 Wenige Jahre später, 1961, provozierte Qualtinger mit einem ganzen Stück, einem

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dem Zentralfriedhof (1963), eine Gedenktafel im Alten AKH (1981), eine Gedenk-Briefmarke der Österreichischen Post (1988), und nach ihm wurden der Dr.-Leopold-Schönbauer-Hof im 14. Wiener Gemeindebezirk sowie eine Straße in Waidhofen an der Thaya benannt. Eine Büste in der Neurochirurgischen Klinik im AKH erinnert ebenfalls an ihn. Archiv der ÖAW, Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, Karton 1, 1958, zit. n. Klaus Taschwer, Ehre, wem Ehre nicht unbedingt gebührt. Zur staatlichen Ordenspolitik Österreichs unter besonderer Berücksichtigung des Ehrenzeichens und des Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst, in: Alexander Pinwinkler/Johannes Koll (Hg.), Zuviel der Ehre? Interdisziplinäre Perspektiven auf akademische Ehrungen in Deutschland und Österreich, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2019, 307–345, 326. Taschwer, Ehre, wem Ehre nicht unbedingt gebührt, 308. Arias, Die Wiener Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955, 90. Ebd., 85. Carl Merz/Helmut Qualtinger, Österreichs goldene 50er Jahre. Das Beste aus dem „Blattl vorm Mund“. Ausgewählt von Brigitte Sinhuber-Erbacher, Wien–München: Amalthea 1984, 65; Michael Horowitz, Helmut Qualtinger, Wien: Pichler 1996, 22 und 80.

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Ein Herr Karl im Ärztekittel. Der Chirurg Leopold Schönbauer

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fiktiven Monolog eines opportunistischen Mitläufers kleinbürgerlicher Natur. Wie viel Schönbauer im Herrn Karl steckt und wie viel vom Herrn Karl in Schönbauer, möge dahingestellt bleiben. Das Leben und Wirken des Chirurgen hätte jedenfalls genügend Stoff für ein ähnliches Stück geboten.

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Die Besetzung der II. Chirurgischen Lehrkanzel an der Universität Wien 1953 bis 1957. Ein beispielhaftes Berufungsverfahren im Kontext lokaler Kontinuitäten und Umbrüche The appointment of the University of Vienna’s Second Chair of Surgery during 1953–1957 among local continuities and upheavals Abstracts Als 1953 an der Universität Wien der Nachfolger der Lehrkanzel für Chirurgie II ausgewählt werden sollte, favorisierte eine Fakultätsmehrheit die Berufung von Rudolf Nissen. Dieser hatte 1933 aus rassistischen Gründen Berlin verlassen müssen und in der Folge akademische Stellen in Istanbul, New York und Basel innegehabt. Nissen machte aber einen Neubau der Klinik zur Bedingung, worüber lange verhandelt wurde, und lehnte schließlich ab. Einer kleinen, konservativ-klerikal vernetzten Gruppe mit großem Rückhalt im Ministerium gelang es schließlich, den lokalen Hubert Kunz durchzusetzen, obwohl dessen Publikationen in der bibliometrischen Analyse die schwächsten aller Bewerber waren. The Vienna University’s second chair of surgery was to be filled in 1953 when appreciation of scientific proficiency clashed with local conservative continuities that prevailed in the ministry of education. A faculty majority initially favored Rudolf Nissen, ousted from Berlin in 1933 for racist reasons, who had chaired academic institutions in Istanbul, New York and Basle. However, Nissen would accept the appointment under the condition of a new building only. Following endless negotiations, he declined. Localism and the reluctance to appoint returning emigrés, however, favored the past head’s protégé Hubert Kunz, who eventually prevailed, although of modest scientific record. Keywords Chirurgie, Medizinische Fakultät Wien, Paternalismus, Antisemitismus, Berufungsverfahren, Zitationsanalyse, Bibliometrie surgery, medical faculty Vienna, paternalism, anti-semitism, academic appointment, citation analysis, bibliometrics

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Die Besetzung von Lehrkanzeln in Österreich blieb nach 1945 nicht unberührt von konservativen Kontinuitäten, die bis in die „langen 1950er Jahre“ herrschten.1 Dem Wunsch der Professorenkollegien nach Anschluss an das internationale Niveau durch Berufungen aus dem Ausland begegnete das Ministerium bisweilen mit der Bevorzugung von InländerInnen, die weniger kostspielige Bedingungen stellten und mitunter die paternalistische Gunst einer Gesinnungsgemeinschaft besaßen.2 Wiederholt sind die Besonderheiten damaliger Berufungen aufgezeigt worden.3 Die Besetzung der II. Chirurgischen Lehrkanzel der Universität Wien – 1953 bis 1957 – zeigt beispielhaft damals wirkende Kontexte und Einwirkungen. In der Entwicklung der sich ab 1900 formenden Disziplinen Thoraxchirurgie und Neurochirurgie war man in Wien nicht mehr unter den Pionieren. Die Neurochirurgie wurde durch Harvey Cushing (1869–1939) in den USA begründet, und Operationen am offenen Brustkorb begannen durch Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) in Deutschland. Deren wichtiges Hilfsmittel, die intratracheale Intubation, wurde erst 1947 aus Großbritannien nach Wien reimportiert.4 Es war daher an der Zeit, als das Professorenkollegium (Kollegium) 1953 von dem zu wählenden Klinikchef einen Schwerpunkt in der Thoraxchirurgie verlangte. Die beiden chirurgischen Universitätskliniken in Wien wurden nach 1945 von Wolfgang Denk (1882–1970) und Leopold Schönbauer (1888–1963) geleitet, die beide Schüler Anton von Eiselsbergs (1860–1939) waren. Die Rivalität beider Ordinarien, die sich bei Disputen in den Fachgesellschaften Wiens zeigte, wurde von einem Zeitgenossen als „geradezu peinlich“ empfunden.5 Denk wirkte schon 1 Ingrid Arias, Die Wiener medizinische Fakultät von 1945–1955. Entnazifizierung, Personalpolitik und Wissenschaftsentwicklung, phil. Diss., Wien 2014, 150; Thomas König, Heinrich Drimmel und die österreichische Hochschulpolitik in der Nachkriegszeit, in: Johannes Feichtinger/Jan Surman/Petra Svatek (Hg.), Wandlungen und Brüche. Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte, Göttingen: V&R unipress 2018, 383–389; Oliver Rathkolb, Hans J. Morgenthau und das Österreich-Problem in der letzten Phase der Truman-Administration 1951/52, in: Emil Brix u. a. (Hg.), Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung. Gerald Stourzh zum 60. Geburtstag, Graz: Styria 1981, 277–298, 284; Klaus Taschwer, The 1938 Anschluss and the decline at the University of Vienna’s medical school, in: Ethics, Medicine and Public Health 12 (2020), URL: https://doi.org/10.1016/j.jemep.2019.100432 (abgerufen am 22. 11. 2021). 2 Arias, Medizinische Fakultät, 150–161. 3 Christian Fleck, Über die Rolle von bedeutender Intelligenz, hingebendem Fleiß und liebenswürdigen charakterlichen Anlagen als Qualifikationen für wissenschaftliche Karrieren in Österreichs Zweiter Republik, in: Feichtinger/Surman/Svatek (Hg.), Wandlungen, 391–399; Christian Fleck, Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1997) 1, 67–92. 4 Otto Mayrhofer, Intratracheale Narkose, Wien: Deuticke 1949; Victor Eisenmenger, Zur Tamponade des Larynx nach Prof. Maydl, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 43 (1893), 199. 5 Kurt Keminger, Das Kropfspital in Rudolfsheim, Wien: Maudrich 1990.

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thoraxchirurgisch, während Schönbauer, inspiriert durch einen Gastaufenthalt 1924 bei Cushing, Neurochirurgie betrieb – dies aber erst ab 1930, nach dem Abgang von der Klinik Eiselsbergs, der die Operationen von Hirntumoren an niemand anderen abgab.6 Beiden Ordinarien war es trotz unterschiedlicher Nähe zu den Machthabern gelungen, mehrere Regimewechsel zu überstehen. Denk blieb 1938 unbehelligt und galt 1945 als unbelastet. Schönbauer wurde trotz Mitgliedschaft in NSDAP und SS7 nach 1945 als Retter des Allgemeinen Krankenhauses pardoniert. Wolfgang Denks enthusiastisch geschilderte Erfahrungen beim Besuch in den USA nach 19458 demonstrierten auch den Wert von Anschauung und praktischem Unterricht besonders in operativen Disziplinen. Damals wurde auf dem Kontinent erkannt, wie sehr sich Thorax- und Herzchirurgie jenseits des Atlantiks entwickelt hatten. Aufgeschlossenheit für Berufungen aus dem Ausland hätte der durch Umbrüche und Auszehrung schwer getroffenen Fakultät gutgetan. Einsicht dafür zeigte Denk jedoch kaum, als er in den Ruhestand trat. Leopold Schönbauer begann während des Krieges auch zur Medizingeschichte zu publizieren. Er beschützte die rassistisch gefährdete Ärztin Marlene Jantsch, geb. Ratzersdorfer (1917–1994) an der Klinik und ließ sie mit ihrem Mann, Hans Jantsch (1918–1994), das während des Krieges massenhaft geübte Modell Zwangsarbeit – vergleichsweise milde – emulierend, das Buch Das medizinische Wien verfassen, in welchem jüdische ÄrztInnen (auch in der ersten Auflage von 1944) anerkennend gewürdigt werden.9 Für den Dermatologen Leopold Arzt (1883–1955) – Fakultätskollege von Schönbauer, Mitglied der CVVerbindung Norica und des Geheimbunds Deutsche Gemeinschaft10 – war das Buch „der reinste Judenalmanach“.11 Schönbauer ermöglichte – auch das damals noch ungewöhnlich – die Habilitierung von vier Frauen an der medizinischen Fakultät,12 Marlene Jantsch und Erna Lesky (1911–1986) für Geschichte der

6 Leopold Schönbauer, Lebenserinnerungen, unveröffentlichtes Typoskript 1945. MUW-AS004455. 7 Gauakt. Nr. 1416, Leopold Schönbauer. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), 02. Zu Schönbauer vgl. den Aufsatz von Linda Erker in diesem Band. 8 Hubert Kunz, Professor Denk und der Wiederaufbau der österreichischen Medizin ab 1945, in: Die Furche 13 (1957) 16, 3. 9 Leopold Schönbauer, Das Medizinische Wien, 1. Aufl., Wien: Urban & Schwarzenberg 1944. In dieser ersten Auflage fehlen im Text einige Namen, die trotz Nennung im Personenregister nach nationalsozialistischer Ideologie rassistisch verfemt waren. Dennoch waren die verbliebenen Personen jüdischer Herkunft noch zahlreich genug, um Antisemiten zu irritieren. 10 Andreas Huber/Linda Erker/Klaus Taschwer, Der Deutsche Klub, Wien: Czernin 2020. 11 Diesen Kommentar kolportierte Jantsch im Familienkreis. Interview mit Dr. Christine Nowotny, geb. Jantsch, geführt am 6. 11. 2019, Bänder beim Autor. 12 Arias, Medizinische Fakultät, 150–161.

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Medizin, Elisabeth Winkler für (plastische) Chirurgie und Klara Weingarten (1909–1973) für Neurologie.13 Vor der Nachbesetzung eines Lehrstuhls lag es am Kollegium (Anhang A), dem Unterrichtsministerium KandidatInnen vorzuschlagen, das üblicherweise einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin auswählte. Freie Stellen wurden damals nicht ausgeschrieben. Die verbindliche Ausschreibung war zwar eine Forderung der SPÖ zum Hochschulgesetz 1955, wurde aber von der Ministerialbürokratie erfolgreich abgewehrt, die offenbar Transparenz und Machtverlust scheute.14

Das Wagnis, Rudolf Nissen unico loco vorzuschlagen Am 19. November 1952 bestimmt das Kollegium Schönbauer, Fellinger, Hoff, Antoine, Schlander, Lauda und Erlacher zu Mitgliedern der Berufungskommission (Kommission). Als diese am 4. Februar 1953 zusammentritt, empfiehlt Wolfgang Denk, 71 Jahre alt, der im Sommer zurücktreten will, es solle ein Thoraxchirurg nachfolgen. Er zählt als Kandidaten die „Ausländer“ Rudolf Nissen und Ernst Derra auf und bezeichnet seinen Schüler Hubert Kunz (1895– 1979) als „geeignetsten Inländer“.15 Am Ende dieser ersten Sitzung der Berufungskommission weist der Dekan noch „auf die Verschwiegenheitspflicht gemäß der Weisung des Rektors“ hin. Vom Dekan beauftragt, nennt Schönbauer bereits am 6. Februar 1953 seine Auswahl der Kandidaten, die um Lebenslauf und Publikationen angeschrieben werden: Nissen, Derra, Spath, Kunz, Huber, Oppolzer und Mandl (vgl. Anhang B). Felix Mandl war nach seinen Publikationen der mit Abstand bedeutendste Inländer, galt aber mit 62 Jahren als „schon etwas alt“16. Die Publikationslisten, zwischen 27 und 295 Publikationen pro Bewerber, langten innerhalb von zwei Wochen ein.

13 Personalakt (PA) Marlene Jantsch, PA Erna Lesky, PA Elisabeth Winler, PA Klara Weingarten. Archiv der Universität Wien (UAW), Medizinische Fakultät (Med. Fak.). 14 Thomas König, Die Entstehung eines Gesetzes. Österreichische Hochschulpolitik in den 1950er Jahren, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23 (2012) 2, 57. 15 Denk schlug 1939 die Kandidaten für die I. Chirurgische Klinik in Wien vor, neben Martin Kirschner und Schönbauer auch den damals 44-jährigen Kunz, der ihn 1928 nach Graz begleitet hatte. PA Leopold Schönbauer. UAW, Med. Fak. 16 Med. Dek. 123 von 1952/3. UAW. Das bei Mandl bemängelte Alter stellte drei Jahre später kein Hindernis dar, als Hubert Kunz im gleichen Alter berufen wurde. Dazu Franz Werfel in der 1936 spielenden Novelle: „[…] konnte es nicht unterlassen, ein Scherzwort zu zitieren, das in gewissen Kreisen der Stadt im Schwange war: ‚Jawohl, meine Herren! Früher war er zu jung für ein Ordinariat. Jetzt ist er zu alt. Und zwischendurch hatte er das Pech, Abraham Bloch zu heißen […]‘.“ Franz Werfel, Eine blassblaue Frauenschrift, Buenos Aires: Ed. Estrellas 1941.

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In Google Scholar17 konnten zwischen 84 Prozent (Derra) und 32 Prozent (Kunz, Huber) der von den Bewerbern aufgelisteten Arbeiten gefunden werden (Tabelle I), wobei abgedruckte Vorträge in dieser Suchmaschine oft nicht aufscheinen. Felix Mandl konnte 13 Arbeiten vorlegen, die mehr als 25-mal zitiert wurden, davon fünf über die Entfernung eines endokrin aktiven Tumors der Nebenschilddrüse, die er als Erster 1926 beschrieben hat. Sieben weitere Publikationen behandelten die Infiltration des Nervus Sympathicus. Rudolf Nissen legte neun ebenso anerkannte (>25 Zitate) Schriften vor, von denen sechs die Thoraxchirurgie betrafen; darunter den Bericht über die erste erfolgreiche Entfernung eines ganzen Lungenflügels im Jahr 1931. Derra, Oppolzer und Spath folgen, was das Gewicht ihrer Publikationen betrifft, mit deutlichen Abständen. Schönbauer beurteilte den damaligen Nachwuchs relativ unabhängig von etwaigen Vorbehalten, die nach 1945 gegen Ausländer, Remigranten und auch „Reichsdeutsche und Preußen“ vorherrschten.18 Tab. 1: Die in Google Scholar gefundenen eingereichten Publikationen der Bewerber und ihre Zitationen bis 2020 Autor

Anzahl angegebene Arbeiten

In Google Scholar gefunden (%)

Summe Zitate

Nissen

144

80 (55 %)

804

Zitate pro Publikation: Median (25.–75. Zentile) 5 (2–12)

Mandl Derra

295 74

122 (41 %) 62 (84 %)

1088 252

2 (1–5) 3 (1–7)

Spath Oppolzer

57 27

23 (40 %) 12 (44 %)

67 57

3 (1–4) 2 (1–8)

Kunz Huber

81 44

26 (32 %) 14 (32 %)

52 42

2 (0–4) 3 (1–5)

In der Sitzung des Professorenkollegiums am 22. April 1953 wird erstmals über die Besetzung gesprochen. Schönbauer kontaktiert mittlerweile Nissen, der Wien besucht und die Klinik besichtigt. Die Berufungskommission bespricht am 20. Juni 1953 die weitere Forderung Nissens nach einem eigenen Laboratorium. Schönbauer erwähnt die Kritik an dem baulichen Zustand und will den „Neubau der chirurgischen Kliniken an 17 Die Publikationen, welche die Bewerber in ihren Listen angegeben hatten, wurden in Google Scholar gesucht und die Anzahl ihrer Zitierungen notiert. Auf andere Datenbanken wie Science Citation Index und Scopus wurde verzichtet, nachdem diese – zumindest für den Zeitraum vor 1950 – sich als weniger ergiebig herausgestellt hatten als Google Scholar. Allfällige Unschärfen dieses Vorgehens sollten sich auf alle Bewerber gleichermaßen verteilen. 18 Katharina Prager/Wolfgang Straub (Hg.), Bilderbuch-Heimkehr? Remigration im Kontext, Wuppertal: Arco 2017.

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oberster Stelle urgieren“.19 Erlacher spricht sich für eine Verschiebung der Besprechung aus, „sonst heißt es, ‚es gäbe auch billigere‘“, und weist so auf die finanziellen Nebenwirkungen von Auslandsberufungen hin, was ein zeitgemäßes Thema war.20 In der Kommission wird am 30. Juni 1953 Nissens erster Brief verlesen, in dem er die Attraktivität der Lehrkanzel aus historischen Gründen betont, zumal er sich „durch die lange Zugehörigkeit zur Sauerbruch’schen Klinik zu den Epigonen der Billroth’schen Schule in weitestem Sinne zählen“ dürfe. „Es ist mir klar, dass ich die Aufmerksamkeit der Berufungskommission mit Einzelheiten belaste, die gewöhnlich zwischen den Berufenen und dem Ministerium diskutiert werden. Da aber die Kommission wohl guten Grund hat, von diesem Modus abzugehen, muss ich zum mindesten in großen Zügen die Änderungen darstellen, die mir für eine befriedigende Erfüllung des Lehramtes wesentlich erscheinen.“

Offenbar will die Kommission noch vor Beschluss des Besetzungsvorschlags eine Zusage von Nissen bekommen – man befürchtete insgeheim wohl eine Absage. Nissen zögert aber mit einer vorläufigen Zusage und erwartet die Zusicherung eines Neubaus.21 Gerade diese wird ihm beharrlich vom Unterrichtsministerium verweigert. Sein Zögern und das der Kommission lähmen die beherzte Idee, nur Nissen – primo et unico loco – vorzuschlagen, gegen die sich bald Kräfte regen, die lieber keinen „Fremden“ haben wollen. Schönbauer agiert energisch und spricht mit Bürgermeister und Finanzstadtrat, die viel Verständnis gezeigt hätten; im Finanzministerium sei man aber ablehnend gewesen, habe den Baubestand als gut und den Neubau als nicht notwendig bezeichnet.22 Beim tags darauf am 1. Juli 1953 tagenden Kollegium ist von der Besetzung noch nicht die Rede, aber es wird laut Protokoll die supplierende Leitung der Klinik durch Georg Salzer (1903–1995)23, Denks ersten Oberarzt, beschlossen. Dennoch schreibt – unklar von wem gedrängt – Dekan Hermann Chiari bereits am 4. Juli an den Minister, dass Denk im Wintersemester die Klinik leiten soll,

19 Zur Thematik der Neubaupläne für das AKH siehe Viktor Kraft, Gedanken zum Neubau des Allgemeinen Krankenhauses, in: Ferdinand Lettmayer (Hg.), Wien um die Mitte des XX. Jahrhunderts. Ein Querschnitt durch Landschaft, Geschichte, soziale und technische Einrichtungen, wirtschaftliche und politische Stellung und durch das kulturelle Leben, Wien: Verlag für Jugend und Volk 1958, 554ff. 20 Arias, Medizinische Fakultät, 189. 21 Mit der Forderung folgte er dem Beispiel von Martin Kirschner, der bei seiner Berufung nach Heidelberg 1933 erfolgreich den Neubau der Klinik gefordert hatte. 22 Dies wirft m. E. ein bezeichnendes Licht auf Macht und Hybris der hohen Beamten im Finanzministerium, die sich ein Urteil über die Hinlänglichkeit von Klinikbauten anmaßten. 23 Salzer wurde erst später für die Berufung ins Gespräch gebracht. Habilitation im März 1945, leitete nach dem Abgang Denks supplierend die Klinik.

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was dann auch geschieht und dessen weiteren Einfluss auf den Berufungsprozess sichert. Anfang Juli spricht der Dekan beim Unterrichtsminister vor und sendet ihm eine Denkschrift zum Neubau der beiden chirurgischen Kliniken. Darin werden insgesamt 500 Betten gefordert, wobei die noch auszulagernden Spezialdisziplinen inbegriffen sind. Dekan im Studienjahr 1953/54 ist der Pharmakologe Franz Brücke (1908– 1970), der sich sehr für die Berufung Nissens einsetzt. Brücke ersucht am 16. Oktober 1953 Nissen um eine Zusage im Falle eines Rufs. Im Kollegium werden die Neubaupläne besprochen. Nissen antwortet am 11. November 1953 und wiederholt die Forderung eines Neubaus: „Eine Klinik, wie sie mir vorschwebt, sollte auch in ihrer baulichen Organisation den Gedanken weitgehender Spezialisierung wiedergeben. Nur wenn man […] Orthopädie, Urologie, Neurochirurgie, Thoraxchirurgie und plastischer Chirurgie ein gewisses Eigenleben gestattet, kann man heute den Fortschritten gerecht werden, die diese Spezialdisziplinen erreicht haben. […] Nur in dieser Konstruktion lässt sich die notwendige Überwachung einer chirurgischen Arbeit durchführen, die durch die Aufteilung in Sondergebiete die Gefahr eines Auseinanderstrebens in sich trägt. Das hat sich – vielleicht mehr in wissenschaftlicher als praktischer Hinsicht – als der größte Nachteil einer Auflösung der Chirurgie in Einzelfächer erwiesen. Eine Änderung meines Arbeitsfeldes hätte nur einen Sinn, wenn sich diese Reorganisation der Chirurgie durchführen ließe. In Wien sind, wie ich glaube, die personellen Voraussetzungen dafür vorhanden. Jeder, der die Verhältnisse kennt, ist angetan von der guten Qualität der jüngeren Generation von Chirurgen. Was noch fehlt, ist ein Arbeitsplatz, der die Entwicklung der Talente erleichtert.“

Die etwas feuilletonistische Erörterung der Spezialgebiete und die vermessene Forderung ihrer sofortigen Neuorganisation sind nicht die Zusage, auf welche die Kommission gewartet hat. In immer dringlicheren Anfragen wird eine positive Antwort Nissens urgiert. Am 18. November 1953 tagt das Kollegium. Die Quellen sind fragmentarisch, und man ahnt, dass sich gegen das Vorhaben der Kommission, Nissen als einzigen Kandidaten vorzuschlagen, Widerstand regt. Es werden Stimmen laut, Nissen würde auch bei bewilligter Finanzierung des Neubaus nicht kommen. Zur Überraschung Schönbauers, der mittlerweile Rektor ist und wohl von der Berufungsagenda etwas entfernt, taucht ein Besetzungsvorschlag mit mehreren Namen auf, den er nicht kannte. Im Kollegium werden Fragen nach Nissens überragender Qualifikation laut. Lauda schlägt vor, den Primo-et-unico-locoVorschlag in einer Probeabstimmung zu testen. Diese wird von Leopold Arzt, der einen Verstoß gegen die Geschäftsordnung bemüht, geschickt hintertrieben. Dekan Brücke schreibt noch am selben Tag dringlich an Nissen, eine Zusage zu machen.

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Als die Berufungskommission am 2. Dezember 1953 tagt, muss sie sich damit begnügen, Nissens Antwort abzuwarten. Auch als das Kollegium am 16. Dezember zusammentrifft, liegt noch keine Antwort vor. Inzwischen wird beschlossen, eine Antwort telegrafisch zu urgieren. Die Kommission hört am 7. Januar 1954 das Referat Schönbauers und beschließt einstimmig, einen Primoet-unico-loco-Vorschlag für Nissen auszuarbeiten. Am selben Tag schreibt Arzt an Dekan Brücke und erinnert – „in Ergänzung unseres Gesprächs“ – an Probleme bei der Berufung von Ausländern, das Steuerrecht, devisenrechtliche und Fragen der Staatsbürgerschaft betreffend. Diese Einwände wurden häufig vorgebracht, wenn es darum ging, Berufungen aus dem Ausland oder die Rückkehr vertriebener ProfessorInnen zu behindern.24 Nissen antwortet Anfang Januar 1954, er denke „ernstlich daran […] zu kommen […]“, aber der Brief enthält dennoch keine klare Zusage. Er wünsche vor der Erstellung eines Vorschlags mit dem Minister selbst zu reden. Aber der wiederholt erhobene Wunsch einer Einladung wird vom Ministerium hinhaltend überhört. Schönbauer fasst die Antworten von fünf angesprochenen deutschen und Schweizer Chirurgen – Bauer, Heidelberg; Frey, München; v. Redwitz, Bonn; v. Haberer, Köln (bis 1945), und Brunner, Zürich – zusammen und nennt Nissen, Derra, Mandl und Spath als die geeignetsten. Nissen wird als der „unbestritten Bedeutendste“ hervorgehoben, den seine internationalen Kontakte und Erfahrungen im Spitalsbau besonders auszeichnen. Daher empfiehlt Schönbauer Nissen primo et unico loco vorzuschlagen. Erstaunlicherweise äußert Schönbauer in der Kommission am 14. Jänner 1954 Bedenken zu dem Unico-loco-Vorschlag, es sei mit einem Separatvotum zu rechnen, und Fellinger pflichtet ihm bei. Sodann verliest Schönbauer sein Referat. In der Diskussion wird gefordert, Nissens herausragende Stellung im Referat deutlicher zu betonen; einzig Erlacher verlangt Kunz besser darzustellen. Die verbesserte Version, der Primo-et-unico-loco-Vorschlag von Nissen, wird von der Kommission mit sechs zu einer Stimme beschlossen. Das Kollegium bestätigt den Vorschlag am 27. Jänner 1954 mit 19 zu sieben Stimmen und einer Enthaltung und sendet ihn an das Ministerium. Am 4. Februar 1954 wird ein Separatvotum nachgereicht, unterzeichnet von sieben Mitgliedern des Kollegiums: Denk, Arzt, Zacherl, Schwarzacher, Hauer, Knoflach und Siedek – überwiegend aus dem katholisch-konservativen Lager. Die Ablehnung des im Kollegium mit mehr als zwei Dritteln der Stimmen beschlossenen Vorschlags wird damit begründet, „dass […] ein unico loco Vorschlag eine ungerechtfertigte Benachteiligung hervorragender österreichischer Anwärter und eine Schädigung des österreichischen Nachwuchses“ bedeute, 24 Arias, Medizinische Fakultät, 189.

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weshalb zusätzlich Derra und Kunz vorgeschlagen werden. Mandl wird nicht genannt, obwohl der wissenschaftlich mit Abstand profilierteste Inländer, aber ein 1938 rassistisch Vertriebener und Remigrant und zudem noch Sozialdemokrat.25 Schönbauer ersucht am 3. Februar 1954 Nissen um detaillierte Vorschläge für den Neubau. Die Bedeutung des Sondervotums spielt er herunter und weist darauf hin, dass von den sieben Unterzeichnern vier im nächsten Jahr dem Kollegium nicht mehr angehören werden. Nissen antwortet am 14. Februar, er sei enttäuscht über die Aktion von „Herrn Denk“. Man werde verstehen, dass er große Bedenken habe, sich in eine Atmosphäre zu begeben, die ausgesprochen „hostile“ Elemente enthalte. Am 26. Februar 1954 sendet Nissen wunschgemäß ein zweiseitiges Exposé mit seinen Vorstellungen zum Neubau. Gefordert werden 250 bis 275 Betten, ein Operationstrakt mit fünf bis sechs Operationsräumen und eine Aufwachstation mit vier Betten und 20 Betten für Patienten mit cardio-respiratorischen Problemen nach intrathorakalen Eingriffen. Die Privatstation des Chefs sollte mit 15 Einbettzimmern mit Nassräumen sowie 15 Zweibettzimmern ausgestattet sein. Für das Ambulatorium stelle er sich zwei Operationsräume, fünf Krankenbetten für nächtliche Aufnahmen, mehrere Untersuchungsräume sowie einen kleinen Hörsaal vor. Mit dem Ambulatorium sollte die Abteilung für Röntgendiagnostik verbunden sein, mit Einrichtungen für Herzkatheter, Angiographie und Lungenfunktionstests. Auf der Wunschliste stehen weiters ein Laboratorium, Forschungsräume für die AssistentInnen, Tieroperationsräume und Ställe auch für große Tiere. Es folgen endlich Angaben über die Ausstattung der Pflegeeinheiten, Lagerräume und eines Hörsaals. Dieses Papier sendet Schönbauer Ende Februar 1954 an den Ministerialrat Heinrich Drimmel26 (1912– 1991), der die Agenda der Hochschulberufungen von Sektionschef Otto Skrbensky27 (1887–1952) nach dessen Tod übernommen hatte. Lauda schreibt beschwichtigend an Nissen und versichert ihn, das Sondervotum sei nur ergangen, um Kränkungen vom österreichischen Nachwuchs fernzuhalten. „Wenn Denk bei diesen Ausführungen sehr warm für seinen Schüler und langjährigen Mitarbeiter, Prof. Kunz […], eingetreten ist, so bedeutet dies keineswegs eine ableh-

25 Fleck, Autochthone Provinzialisierung, 79: „Allzu fremd sollten die Heimkehrer […] nicht sein. Vor allem sollten sie der politischen Rechten nahestehen und keine Juden sein.“ 26 Jurist, CV Verbindung Norica, im Ständestaat und ab 1946 im Unterrichtsministerium unter Otto Skrbensky, ab 1952 dessen Nachfolger; von Julius Raab (1891–1964, CV Norica Wien) am 1. 11. 1954 zum Unterrichtsminister ernannt. Siehe auch König, Heinrich Drimmel, 383. 27 Margarete Grandner, Otto Skrbensky, in: Lucile Dreidemy u. a. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Bd. 1, Wien: Böhlau 2015, 519–532.

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nende Stellungnahme oder irgendwie ungünstige Kritik oder gar hostile Einstellung Ihnen gegenüber.“

Man könne es Denk nachfühlen, „dass er […] versucht, seinem liebsten Schüler eine Kränkung zu ersparen“. Lauda geht auf Gerüchte über Wiener Briefe nach Basel ein, denen „eine ablehnende Meinung sogar in der Schweiz zu verbreiten […] gelegen gewesen wäre. Es müssen übrigens noch Dinge gewesen sein, die außerhalb der Ingerenz des Professorenkollegiums spielen und mit Prof. Denk und seinen Freunden nicht zusammenhängen. […] Einen derartigen hinterhältigen Schritt macht weder Denk noch einer seiner Freunde. Obwohl die Kollegiumssitzungen geheim sind, so sickert doch das Meiste durch und Intriganten wissen sich ‚Material‘ zu verschaffen und verwenden es manchmal in schamloser Weise.“

Es fällt schwer, Einflussversuche Denks „und seiner Freunde“ nicht doch für wahrscheinlich zu halten. Am 5. März 1954 dankt Brücke Lauda für dessen „loyalen“ Brief an Nissen, räumt aber ein, dass die Chancen, den Ordinarius aus Basel zu bekommen, nicht sehr groß seien. Die Situation dort sei für ihn ja sehr günstig. „Nach wie vor aber stehe ich auf dem Standpunkt, dass die Fakultät alles tun muss, um ihn zu gewinnen, damit sie sich in keinem Fall später Vorwürfe zu machen hätte“. Am 17. März 1954 beschließt das Kollegium, Denk – inzwischen 72 – auch im Sommersemester die Klinik leiten zu lassen. Am 29. März 1954 antwortet Nissen an Lauda: „Vielleicht ist es für Sie schwer, sich in die Lage von jemandem hineinzudenken, der als Fremder in Ihr Land kommt, noch dazu nach Wien, das in der akademischen Chirurgie seit Billroths Tod mit Erfolg aus dem Nachwuchs seiner eigenen Landeskinder schöpfen konnte. Ich müsste damit rechnen, hochgespannte und berechtigte Forderungen zu enttäuschen; das lässt sich kompensieren durch den Beweis ernsthafter Anstrengungen, wenn das Wirkungsmilieu von Wohlwollen getragen ist. Es ist drum nicht so sehr die Tatsache des Sondervotums, die mich erschreckt hat – ich habe ein wahrscheinlich überlebhaftes Rechtsgefühl und bin immer schnell dabei, auch die andere Seite zu sehen – erst als ich feststellen musste, dass einige auf weite Publizität hinzielende Personen für die Verbreitung des Vorliegens eines Sondervorschlags sorgten, kamen mir ernsthafte Zweifel, ob ich in der Lage sein würde, eine verantwortungsvolle und schwierige Arbeit in einer Atmosphäre zu beginnen, die durch die ablehnende Haltung einiger einflussreicher Fakultätsmitglieder belastet ist.“28

Obwohl keine Quellen vorliegen, ahnt man, dass in Briefen bis in die Schweiz verbreitet wurde, gegen Nissen gäbe es Vorbehalte in Wien. Nissen hatte in Basel

28 Med. Dek., 123 von 1952/53. UAW.

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eine funktionierende Klinik, und die Studentenschaft liebte ihn.29 Vieles sprach dafür, dass er die günstigeren Bedingungen in Basel nicht verlassen würde. Im Juni 1954 schreibt Ministerialrat Drimmel an Nissen und schlägt ein Gespräch in der Schweiz vor. Man trifft einander – Nissen kam aus St. Moritz – am 24. Juli 1954 auf dem Bahnhof in Sargans. Das Gespräch findet während einer mehrstündigen Autofahrt nach Basel statt, wo Drimmel auch die Klinik besichtigt. Über diese Gespräche verfasst Drimmel einen eloquenten Bericht.30 Eingangs wird Nissen als „Persönlichkeit“ dargestellt, „deren Qualitäten sich um ein bedeutendes über den Durchschnitt der Wiener Medizinischen Fakultät erheben. Er hat im alten Preussen im Frieden und im Krieg eine Erziehung genossen […].“ Es stehe fest, dass er „an der Wiener medizinischen Fakultät eine ganz hervorragende Rolle spielen und dem Ansehen der alten Billroth’schen Lehrkanzel neuen Glanz zu verleihen“ imstande wäre. Drimmel führt aus, dass Nissen mit allen Kräften danach strebe, die Lehrkanzel und die neue Klinik „zu ergattern“, und dass für Nissen vor allem der „Firmenwert“ der Lehrkanzel besonders attraktiv sei, „im Hinblick auf die von ihm in Wien erwartete Privatpraxis. Diese chirurgische Privatpraxis ist der Angelpunkt des ganzen Unternehmens.“ Der Besuch der Basler Klinik überzeugt Drimmel, „dass die Wiener Lokalitäten und Ausstattung nur inferior“ seien. Nissen bestehe auf der Übernahme einer neu zu errichtenden Klinik, wofür er ein Jahr Bauzeit annehme, während Drimmel von zwei bis drei Jahren ausgeht. Damit sei „die Unmöglichkeit einer Berufung Nissens offenbar geworden“. Drimmel spielt im Gespräch etwas skeptisch auf Nissens Alter – 58 Jahre – an, und ob er nach mehrjähriger Bauzeit noch bereit sei, von Neuem anzufangen. Wohl um Drimmels Ernsthaftigkeit des Vorschlags zu testen, fragt Nissen, ob er seine Dienstbehörde von der möglichen Veränderung informieren solle; das verneint der Ministerialrat. Drimmel: „Als ich diese Frage verneinte, hatte ich den bestimmten Eindruck, dass Professor Nissen wusste, woran er bei uns ist.“ Im dichten Gewebe des Textes erscheinen antipreußische und auf Geschäftssinn anspielende („Firmenwert“, „Angelpunkt Privatpraxis“) Topoi ebenso wie dunkle Andeutungen einer „Gemeinschaft“, die entschlossen ist, den österreichischen Nachwuchs nicht durch die Berufung Fremder beschädigen zu lassen. Drimmel schließt im Bericht, wegen der Erwartung, eine schlüsselfertige Klinik vorzufinden und aufgrund der Weigerung des Ministeriums, einen so langen Schwebezustand zu akzeptieren, sei „die Absage an Nissen … unvermeidlich geworden“. Die Möglichkeit eines Kompromisses bei beidseits gutem Willen wird nicht erwogen. 29 Rudolf Nissen, Helle Blätter, dunkle Blätter: Erinnerungen eines Chirurgen, Stuttgart: DVA 1969, 354. 30 Wiederbesetzung der II: Chirurg Klinik. ÖStA, AdR, BMU, AE 97458/ I-2/55.

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Drimmel scheint nach dem Gespräch mit Nissen entschlossen, dessen Bewerbung abzulehnen. Anschließende Verhandlungen mit den anderen im Separatvotum Genannten waren nun vorstellbar. Abgesehen von Derra wäre so Kunz als Option verblieben, was den Akteuren um Denk wohl ein willkommener Ausgang erschien. In der Fakultät ahnt man die Absicht und reagiert mit Nachdruck. Dekan Brücke schreibt am 24. September 1954 an Drimmel, man sei „in höchsten Regierungskreisen31 der Meinung das Ministerium […] werde beim Scheitern der Verhandlungen mit Nissen […] direkt und ohne die Fakultät zu befragen auf das seinerzeitige Minderheitenvotum zurückgreifen“. Dagegen protestiert Brücke und erinnert auch daran, dass Kunz gerade am grauen Star operiert worden war. Bereits vier Tage nach seiner Ernennung zum Unterrichtsminister am 5. November 1954 schreibt Drimmel an Nissen, dass es angesichts der Forderung eines Neubaus der Unterrichtsverwaltung „versagt bleiben muss, Sie für die Wiener medizinische Fakultät zu gewinnen […]“. Am selben Tag teilt er auch dem Dekanat mit, dass „eine Berufung des Professors Nissen leider nicht in Betracht“ komme.

Ein Zwischenspiel hoffnungsvoller Gespräche Das Kollegium der Fakultät, dem das Ministerium den Unico-loco-Vorschlag ablehnend zurückgegeben hatte, beschließt am 17. November 1954 beharrend, Nissen noch einmal einzuladen, in der Hoffnung, er würde die Übernahme eines Provisoriums noch vor der Fertigstellung erwägen. Am 19. November 1954 ergeht ein handschriftlicher kurzer Brief Nissens an Brücke, der letzte Satz in Drimmels Brief sei eindeutig. Er schreibt am 24. November 1954 erneut, er schließe aus dem Brief Drimmels, dass die Verhandlungen damit beendet seien und lehne weitere Verhandlungen mit Fakultätsmitgliedern ab „geschweige denn einen erneuten Besuch der Klinik […]“. In der Kommission protokolliert Brücke am 15. Dezember 1954 resigniert, dass Schönbauer einen neuen Vorschlag ausarbeiten solle: „1) Mandl, 2) Kunz, Spath, 3) Huber, Oppolzer, Salzer.“ Schönbauer aber hält an seiner Auswahl fest und erstellt am 7. Jänner 1955 ein neues Referat, in dem er noch einmal Nissen an erster Stelle reiht. Kommission und Kollegium beschließen im Januar bzw. im Februar den zweiten Vorschlag: 1) Nissen, 2) in alphabetischer Reihenfolge Kunz, Mandl, Spath und keine dritte Position. Mit diesem Beharren der Fakultät konfrontiert, scheint Minister Drimmel Gesprächsbereitschaft zu zeigen. Er schreibt am 22. März 1955 an Nissen, teilt den neuerlichen Vorschlag mit und 31 Med. Dek., 123-1952/53. UAW. Brücke erläutert nicht, wer diese Regierungskreise sind.

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fragt – vielleicht etwas brüsk – „ob Sie allenfalls jetzt geneigt wären Ihre seinerzeit geäußerten Bedingungen zu modifizieren und bereit wären ohne Aufschub, das heißt schon vor Sicherstellung bzw. Fertigstellung des geplanten Neubaues […] eine Berufung nach Wien anzunehmen“. Nissen schreibt an Brücke über den Brief Drimmels, den er mehr als „eine Abschreibung denn als Ermunterung“ empfinde. Er verstehe die neuerliche Anfrage des Ministers als lediglich dem Wunsch entsprungen, den Fakultätsvorschlag formal korrekt zu behandeln. Am 1. April 1955 unterrichtet Schönbauer Nissen über die rezenten Entwicklungen. „Obwohl wir […] nur wenig Hoffnung haben, daß Sie doch noch den Ruf nach Wien annehmen werden […] habe besonders ich darauf gedrungen, Sie nochmals primo loco zu nennen und die Fakultät hat dem zugestimmt. Ich wiederhole, dass es der größte Wunsch der Majorität der Fakultät wäre, Sie für hier zu gewinnen. Wie schon das letzte Mal, hatte ich bei meiner mündlichen Unterredung nicht den Eindruck, dass das Ministerium eine Ablehnung wünschen würde, obwohl ich, wie gesagt nicht hinter die Kulissen blicken kann und obwohl natürlich der an Sie gerichtete Brief [Drimmels] mit der Frage, ob Sie bereit wären noch vor der Sicherstellung einen Ruf anzunehmen, nicht sehr ermutigend ist. Nun, wir haben ja inzwischen von vielen Leuten gehört, dass Sie die ausgezeichnete Position in Basel nicht aufgeben wollen und man kann das verstehen, obwohl […].“32

Schönbauer betont, dass die Verhandlungen zum Neubau weiter gediehen sind, „doch sehe ich aus dem Schreiben des Ministers, dass offenbar auch jetzt von einer ‚Sicherstellung‘ nicht die Rede ist, was mich offen gesagt wundert“. Es scheinen aus dem Ministerium unterschiedliche Signale zu kommen. Schönbauer versucht Nissen zu einem neuerlichen Besuch der Klinik zu bewegen. Das Jahr 1955 bringt günstige Rahmenbedingungen, den Staatsvertrag, das Ende der alliierten Besatzung und mehr Geld für die Hochschulen.33 Im Professorenkollegium sitzt am 27. April 1955 erstmals Josef Böck (1908– 1985)34, der gerade aus Graz zum Ordinarius für Augenheilkunde II berufen worden war. Er wird ein Jahr später von Schönbauer als Urheber von Gerüchten genannt, die Spath herabsetzen. Zur Besetzung der II. Chirurgischen Klinik wird protokolliert: „Decan: Verliest Brief Nissens und erörtert Neubau der chir. Kli-

32 Med. Dek., 123-1952/53. UAW. 33 Am 27. Oktober 1954 verkündet Finanzminister Kamitz im Parlament ein um 150 Millionen Schilling höheres Hochschulbudget für das Jahr 1955, aus dem 46 neue Ordinariate und insgesamt 1.000 neue Planstellen finanziert werden sollen. URL: https://www.parlament.g v.at/PAKT/VHG/VII/NRSITZ/NRSITZ_00046/imfname_158496.pdf (abgerufen am 22. 11. 2021). 34 Seiner Berufung nach Wien folgt im Mai 1955 der Tod von Leopold Arzt. Dessen Einfluss in CV und Fakultät sollte später auf Böck übergehen.

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nik.“ Die Stimmung für Nissen scheint zu schwinden. „Fellinger: Situation ist verfahren, seinerzeit ja unico loco Nissen! Hält es nicht für aussichtsreich.“ Nissen schreibt am 9. Juni 1955 an Schönbauer – „im Anschluss an unsere Unterredung in Genf“ – und signalisiert Kompromissbereitschaft trotz zurückhaltenden Tenors des Ministeriums, was Bautermin und Finanzierung betrifft: „Ich glaube indessen zusagen zu können, wenn die Neubaupläne soweit gediehen und genehmigt sind, dass der Bauabschluss sich zeitlich mit einiger Sicherheit voraussehen lässt.“ Am 11. Juni 1955 schreibt Brücke an Drimmel: Nissen würde nach Wien kommen, „wenn das Ministerium sein Interesse an einem derartigen Besuch […] bekunden würde“. Der Herr Minister wisse, „dass diese Angelegenheit für mich immer eine Herzenssache gewesen ist […] im Interesse der Fakultät“. Drimmel antwortet am 14. Juni 1955, er würde sich freuen, mit Nissen zu sprechen und ihn über den neuesten Stand der Neubaupläne zu informieren. Fellinger schreibt am 29. Juli 1955 an Nissen, die Gelder für den Neubau seien genehmigt – durch eine Besserung der Finanzen des Bundes und wirksame Interventionen Schönbauers bei Bundeskanzler und Finanzminister. Die guten Nachrichten dieses Sommers scheinen das Gesprächsklima zu fördern. Mitte August 1955 antwortet Nissen an das Dekanat, er habe mit dem Minister Gespräche im September vereinbart. Brücke schreibt allen Professoren, man möge dazu beitragen, den Besuch erfolgreich und für den Bewerber angenehm zu gestalten. Die Gespräche Nissens im Ministerium finden am 23. September 1955 statt, und Drimmel beschreibt sie in einem Brief vom 17. November 1955 als „erfreulich“. Es habe am 7. Oktober 1955 die erste Sitzung des Koordinationsausschusses für den Neubau der II. Chirurgischen Klinik stattgefunden. Demnach „wurde die Fakultät beauftragt, […] Pläne für die Neubauarbeiten auszuarbeiten“. In einem handschriftlich korrigierten Entwurf dieses Briefes35 formulierte Drimmel zwei Tage vorher die Chancen auf einen baldigen Neubau noch sehr hinhaltend: Mit der Fertigstellung könnte erst in einigen Jahren nach Abschluss der Planungsvorarbeiten gerechnet werden. Der dann gesendete Brief ist verbindlicher abgefasst. Im Finanz- und Budgetausschluss des Nationalrats, so Drimmel, habe er am 15. November das Interesse des Ministeriums an Nissens Berufung „vor aller Öffentlichkeit bekundet. Ich bitte Sie also, überzeugt zu sein, daß ich trotz mancher versuchter Einwirkungen nach wie vor mein Vertrauen in Ihre Kandidatur setze.“ Drimmel schreibt, „eine positive Entschlussfassung“ (Nissens) „würde zweifellos auch der Forcierung des Klinikenneubaus zugutekommen“. Es wäre ihm recht, wenn Nissen „bis Weihnachten wissen ließe, woran wir mit Ihrer Kandidatur sind“.36 35 ÖStA, AdR, BMU, AE 97.458/ I-2/55. 36 ÖStA, AdR, BMU, AE 97.458/ I-2/55.

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Nissen antwortet „schweren Herzens“37 am 20. Dezember 1955, er bedaure, absagen zu müssen. Mit Übernahme der Lehrkanzel würde er gemäß einer rezenten Anfrage im State Department die amerikanische Staatsbürgerschaft verlieren, die er aus familiären Gründen behalten möchte. Am 4. Januar 1956 wird das Professorenkollegium aufgefordert, einen neuen Besetzungsvorschlag zu machen.

Die kleinere Lösung Am 14. Jänner 1956 ergeht an Drimmel ein Brief des Salzburger Chirurgen Erwin Domanig (1898–1985), der wohl von Landeshauptmann Josef Klaus (1910–2001) zur Frage der Berufung angesprochen worden war. Angesichts der neuen Lage nach Abschluss des Staatsvertrags, so Domanig, und des nun beschlossenen Klinikneubaus könne man tatsächlich und „mit Erfolg danach streben, eine überragende chirurgische Persönlichkeit zu gewinnen“.38 Das Professorenkollegium berät am 25. Jänner 1955 über neue Kandidaten. Man einigt sich darauf, nur „Inländer“ vorzuschlagen. Das hohe Alter gegenwärtiger Ordinarien in Deutschland – man dachte nur an „herausragende“ Personen – sei unattraktiv, und man könne ihnen nur niedrigere Gehälter als in Deutschland bieten, so Schönbauer. Am 10. April 1956 schlägt er in einem neuen Referat an erster Stelle und alphabetisch Kunz, Mandl und Spath vor, wobei Spath in der Begründung der Vorzug vor den anderen gegeben wird, zumal er in zwei Vorschlägen im Ausland schon genannt war. Nach knapp zwei Wochen, am 23. April 1956, scheinen die Anhänger von Kunz Aufwind zu bekommen, und Schönbauers Einfluss scheint zu schwinden. Es wird in der Kommission über das neue Referat Schönbauers, der an der Sitzung nicht teilnimmt, nicht abgestimmt; die Entscheidung über die zu Nominierenden, so Dekan Antoine, sei dem Kollegium vorbehalten.39 Akteure im Hintergrund zielen nun auf eine Verhinderung Spaths, des nach Mandl in seinen Veröffentlichungen besten Inländers, der schon sieben Jahre die Grazer Klinik geleitet hatte. Es zirkulieren Gerüchte, Spath fehle das Talent zu lehren, und er könne seine Klinik nicht in Ordnung halten, begleitet von dem Argument, nur ein „Wiener“ könne den Neubau überwachen. Schönbauer besorgt Stellungnahmen von vier Ordinarien in Graz, die den Gerüchten entgegentreten, kann damit aber Spath nicht durchsetzen. 37 Nissen, Helle Blätter, 353. 38 ÖStA, AdR, BMU, AE 25.089. I/2-56. Domanig nennt hier – neben Kunz – die Professoren Zenker in Marburg, Wanke in Kiel, Kraus in Freiburg und Nuboer in Utrecht. 39 Med. Dek., Zl. 123 von 1952/53. UAW.

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Eine Mehrheit des Kollegiums regt am 2. Mai 1956 einen Zweiervorschlag mit Kunz und Mandl ohne Spath an. Schönbauer soll „nun hoffentlich zum letzten Mal“, so Dekan Antoine, einen Vorschlag verfassen, „im Sinne des gestrigen Kollegiumsbeschlusses“, also ohne Spath. Schönbauer lehnt das Ansinnen ab und erinnert an Spaths rezente Rufe nach Deutschland. Der Orthopäde Erlacher, schon früher ein Fürsprecher von Kunz, stellt sich als Autor des nunmehr letzten Vorschlags zur Verfügung. Am 6. Juni 1956 beschließt das Professorenkollegium mit 20:1 Stimmen bei zwei Enthaltungen den Vorschlag 1) Kunz, Mandl, 2) Huber, 3) Salzer. Schönbauer hatte zuvor erklärt, er werde eine „Leerstimme“ abgeben.40 Mit wem verhandelt wurde, geht aus den Ministeriumsakten nicht hervor. In seinem Buch schreibt Nissen, Kunz habe sich der Wertschätzung des Ministeriums und des Ministers erfreut.41 Am 30. Oktober 1956 teilt Drimmel dem Dekan mit, das Ministerium habe Kunz ausgewählt. Er tritt im Februar 1957 als Vorstand der II. Chirurgischen Universitätsklinik an.

Anhang A: Das Professorenkollegium der Wiener Medizinischen Fakultät im Studienjahr 1952/5342 – Tassilo Antoine (1895–1980), Frauenheilkunde und Geburtshilfe I, o. Prof. seit 1943. Davor in Innsbruck (o. Prof. 1940); NSDAP-Mitglied seit 1941; 1945 Sonderkommission: „tragbar“. Wiederernennung zum o. Prof. im Oktober 1949. Dekan 1955/56. – Leopold Arzt (1883–1955), I. Hautklinik, o. Prof. seit 1926. CV Norica, vor dem „Anschluss“ mehrmals Dekan und 1936/37 Rektor. 1938 enthoben und sechs Monate in Haft, Dekan 1945–1947. Trat als Dekan zurück, nachdem ein Brief in die USA zu einer parlamentarischen Anfrage geführt hatte: „[…] trotzdem vermutet wird, dass der Eingeladene Jude, ja sogar Sozialist sei […].“ Das Professorenkollegium wählte daraufhin einen aus „Abstammungsgründen seines Lehramts entsetzten Professor“ zum Dekan […],43 so die Antwort des Ministers. 40 Sitzungsprotokolle des Professorenkollegiums 1955/56, S 52.91.8. UAW, Med. Fak. 41 Nissen, Helle Blätter, 353. 42 Wenn nicht anders angegeben, sind die biografischen Angaben in den Anhängen folgenden Quellen entnommen: Arias, Medizinische Fakultät; Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 (Schriften des Archivs der Universität Wien 18), Göttingen: V&R unipress 2014; 650 plus – Geschichte der Universität Wien, URL: https://geschichte.univie.ac.at/de/personen (abgerufen am 20. 6. 2021). 43 Zit. n. Fleck, Autochthone Provinzialisierung, 79.

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– Richard Bieling (1888–1967), Hygiene, o. Prof. seit 1952. Dekan 1956/57. 1939 Arzt der Wehrmacht, Kontaktmann für Fleckfieber zur Heeressanitätsinspektion, fraglich in Fleckfieberversuche im KZ Buchenwald involviert.44 – Franz Brücke (1908–1970), Pharmakologie, o. Prof. seit 1948, seit 1946 Institutsleitung; Dekan 1953/54. – Hermann Chiari (1897–1969), Pathologie, o. Prof. seit 1936. Dekan 1951–1953. – Wolfgang Denk (1882–1970), Chirurgie II, o. Prof. seit 1931. Davor in Graz (o. Prof. 1928). Wurde 1938 von den neuen Machthabern nicht behelligt. Denk schlug 1935 und 1937 – wenngleich erfolglos – Felix Mandl für die ao. Professur vor.45 – Fritz Driak (1900–1959), Zahnheilkunde, o. Prof. seit 1952,46 Habilitierung 1938 scheiterte am Einspruch des NS-Dozentenführers. 1945 habilitiert und Leiter des Zahnärztlichen Instituts, 1949 ao. Prof. – Karl Fellinger (1904–2000), Innere Medizin II, o. Prof. seit 1946. CV-Verbindung Norica, Venia Legendi 1938 politisch entzogen und entlassen. November 1945 ao. Prof. – Heinrich v. Hayek (1900–1969), Anatomie, o. Prof. in Wien seit 1952. 1929– 1935 Rostock; 1935 Berufung an die Tungchi-Universität Schanghai, 1938– 1952 Ordinarius in Würzburg. – Hans Hoff (1897–1969), Neurologie/Psychiatrie, o. Prof. seit 1950. 1938 rassistisch vertrieben, Emigration nach Bagdad (Prof. an der Royal Medical School), 1942 New York, 1949 Rückkehr nach Wien. – Karl Kundratitz (1889–1975), Kinderheilkunde, o. Prof. seit 1949. Als Leiter des Leopoldstädter Kinderspitals 1938 entlassen, weil mit rassistisch Verfemter verheiratet. Habilitation 1938 abgelehnt, erfolgte erst 1946. – Ernst Lauda (1892–1963), Innere Medizin I, seit 1946 o. Prof. Dekan 1949/50. 1934–1945 Vorstand der II. Medizinischen Abteilung am Kaiser-Franz-Joseph-Spital. – Viktor Patzelt (1887–1956), Histologie, o. Prof. seit 1933. NSDAP-Anwärter 1938, Mitglied ab 1944, laut Sonderkommission September 1945 „tragbar“, Wiedernennung Februar 1950. – Arnold Pillat (1891–1975), Augenklinik I, o. Prof. seit 1944. Davor Graz (o. Prof. 1936). Mehrere NS-Mitgliedschaften. August 1945 enthoben, Enthebung widerrufen, Sonderkommission September 1945: „tragbar“. Enthebung durch die Alliierten November 1946, 1947/48 „dauernde Wiederverwendung“, Wiederernennung zum o. Prof. Juni 1948. 44 Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich: wer war was vor und nach 1945, Frankf. a. M.: Fischer 2005, 48f. 45 PA Felix Mandl 336, Fol. 13 und 20. UAW, Med. Fak. 46 Sitzungsprotokolle des Professorenkollegiums. UAW, MED, S 52.88.1.

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– Leopold Schönbauer (1888–1963), Chirurgie I, o. Prof. seit 1939. Promotion 1913 in Prag, ab 1914 an der Klinik Eiselsberg. Habilitation 1924, ao. Prof. 1933. September 1938 Ruf an die Universität in Prag. Laut Gauakt Mitglied der NSDAP seit 1940 und „förderndes Mitglied“ der SS. Im April 1945 von einer Widerstandsgruppe zum Direktor des Allgemeinen Krankenhauses ernannt, dessen militärische Besetzung durch SS und die Rote Armee er verhinderte;47 „enthoben und bis auf weiteres belassen“ März 1946, Wiederernennung zum o. Prof. Mai 1948, Rektor 1953/54.48 Ab 1945 Vorstand des Instituts für Geschichte der Medizin (bis Sommersemester 1960). – Gustav Schubert (1897–1976), Physiologie, o. Prof. seit 1950 nach einer kontroversiellen Entscheidung im Professorenkollegium. Davor in Prag (o. Prof. 1941–1945). 1942 Mitglied der NSDAP.49 – Walter Schwarzacher (1892–1958), Gerichtsmedizin, o. Prof. seit 1946. 1932 Ordinarius in Heidelberg, ab 1936 in Graz, 1938 politisch entlassen, 1945 wiedereingesetzt. – Franz Seelich (1902–1985), Medizinische Chemie, o. Prof. seit 1949. 1940–1945 Abteilungsleiter am Kaiser Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem. – Albert Wiedmann (1901–1970), Dermatologie II, o. Prof. seit 1950. 1944 im Widerstand verhaftet, März 1945 wegen Hochverrats zum Tod verurteilt. Opake Quellenlage zu angeblicher NS-Mitgliedschaft und rassistisch bemängelter Abstammung.50 – Hans Zacherl (1889–1968), Frauenheilkunde und Geburtshilfe II, o. Prof. seit 1948. Davor o. Prof. in Innsbruck 1931 und in Graz von 1935 bis 1938; christlichsozial, September 1938 in Graz aus politischen Gründen in den Ruhestand versetzt.51 Als ao. Professoren: – Philipp Erlacher (1886–1980), Orthopädie, ao. Prof., Primarius im Orthopädischen Spital der Stadt Wien-Speising. – Fritz Hauer (1889–1961), Physik für Mediziner, tit. ao. Prof., zuvor Hofrat im Patentamt.

47 Eröffnung des AKH Oktober 1998, Ktn. 734, Manuskript von Fritz Helmer, Die Rettung des Allgemeinen Krankenhauses. UAW, AS, S 200. 48 Pfefferle/Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert, 328. 49 Arias, Medizinische Fakultät, 176. 50 Ebd. 51 Gabriele Czarnowski, Österreichs „Anschluss“ an Nazi-Deutschland und die österreichische Gynäkologie, in: Christoph Anthuber u. a. (Hg.), Herausforderungen: 100 Jahre Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Stuttgart: Thieme 2012, 138–148, 140.

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– Josef Georg Knoflach (1896–1966), Chirurg, Habilitation 1936 bei Ranzi, ab 1937 Primarius am Sophienspital, 1940 entlassen, 1945 wiedereingesetzt. – Felix Mainx (1900–1983), Allgemeine Biologie, o. Prof. seit 1949.52 – Emil Schlander (1888–1978), HNO, 1938 enthoben, ab 1940 Venia Legendi entzogen und entlassen, 1945 als Vorstand der I. Klinik für HNO eingesetzt, die er bis 1959 leitete. – Hans Siedek (1908–1999), Innere Medizin I, Dr. med. habil. 1940, Privatdozent ab 1944 an der I. Medizinischen Universitätsklinik. Sonderkommission 1945: „tragbar“. Habilitation von 1944 durch Hurdes anerkannt, ao. Prof. ab April 1954, ab 1954 Vorstand im Wilhelminenspital. – Erich Zdansky (1893–1978), Radiologie, habilitiert 1933, 1939 Venia widerrufen, wieder verliehen 1945, ao. Prof. ab 1947, o. Prof. 1952.

Anhang B: Die eingeladenen Bewerber53 – Rudolf Nissen (1896–1981), Sohn eines Chirurgen in Neisse, Schlesien. 1914– 1918 Feldunterarzt; Promotion 1920. Ab 1921 in München bei Ferdinand Sauerbruch. Habilitation 1926, mit Sauerbruch 1927 Wechsel an die Berliner Charité, ao. Professur 1930. Erste erfolgreiche Resektion eines ganzen Lungenflügels 1931. Aufgrund rassistischer Verfolgung 1933 Emigration von Berlin nach Istanbul (Prof. für Chirurgie), 1939 Boston/New York (leitende Funktionen am Jewish Hospital Brooklyn sowie am Maimonides Medical Center, NY), ab 1952 Ordinarius in Basel.54 – Ernst Derra (1901–1979), Promotion 1927. Ab 1929 Chirurgische Universitätsklinik Bonn (v. Redwitz), dort Habilitation 1936. 1937 Mitglied der NSDAP. 1945 Leiter der Abteilung für Chirurgie am Marienhospital Bonn. 1946 o. Prof. für Chirurgie in Düsseldorf.55 Derra führte zwischen 1949 und 1950 mehrere

52 Wie auch Zdansky in den Protokollen des Professorenkollegiums 1952/53 noch als ao. Prof. geführt. UAW, MED, S 52.88.1. 53 Wenn nicht anders angegeben, wurden die biografischen Daten folgender Website entnommen: 650 plus – Geschichte der Universität Wien, URL: https://geschichte.univie.ac.at/de /personen (abgerufen am 20. 6. 2021). 54 Udo Schagen, Wer wurde vertrieben? Wie wenig wissen wir? Die Vertreibungen aus der Berliner Medizinischen Fakultät 1933. Ein Überblick (Stand: 9/2018), in: Sabine Schleiermacher/Udo Schagen (Hg.), Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus, 2., als E-Book und PDF-Dokument 2019 überarb. Aufl., URL: https://charite.zeit-archiv.de (abgerufen am 20. 6. 2021), 61; Nissen, Helle Blätter. 55 Astrid Wolters, Die Entnazifizierung an der Medizinischen Akademie Düsseldorf, in: Wolfgang Woelk u. a. (Hg.), Nach der Diktatur. Die Medizinische Akademie Düsseldorf 1945, Essen: Klartext 2003, 103; Ralf Forsbach, Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“, München: Oldenbourg 2006, 383.

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erste Operationen an Herz und großen Gefäßen durch. 1955 erste offene HerzOP in Deutschland. Franz Spath (1899–1984),56 CV Austria, Graz, Promotion 1922, 1924 Universitätsklinik in Graz bei Hans v. Haberer, 1934 Habilitation und Primarius der II. Chirurgischen Abteilung, 1937 ao. Prof., 1938 enthoben, Haft, von August 1939 bis Mai 1945 Militärdienst als Arzt, nach Kriegsgefangenschaft 1946 wiedereingesetzt, 1948 o. Prof., 1962 erste Operation mit Herz-Lungen-Maschine in Österreich. Hubert Kunz (1895–1979), als Medizinstudent 1914–1917 in Marinespitälern in Pola. Ab September 1917 vom Marineministerium der Klinik Eiselsberg zur „Dienstleistung und Ausbildung zugeteilt“. Promotion 1920 in Innsbruck, ab 1927 an der Klinik Eiselsberg, 1928 Assistent. 1928 mit Wolfgang Denk nach Graz, 1929 habilitiert. Supplierende Leitung der Grazer Klinik 1931–1932. 1939 apl. Prof., der 1945 aberkannt wurde. 1939 Anwärter der NSDAP.57 1933–1943 Vorstand im Wilhelminenspital, ab 1943 in Lainz. 1949 als Privatdozent wieder zugelassen. 1950 ao. Prof. Als o. Prof emeritiert 1966. Robert Oppolzer58 (1899–1972), Promotion 1925, habilitiert 1936, 1940 Venia Legendi rassistisch entzogen, 1945 wieder verliehen. Paul Huber59 (1902–1975), Promotion 1925, ab 1927 an der Klinik in Innsbruck bei Ranzi. Mit diesem 1932 nach Wien, dort unter Schönbauer bis 1945. 1937 Habilitation. Lehrbefugnis aus politischen Gründen 1940 entzogen, 1942 unterstützt von Schönbauer wieder verliehen. 1945 ao. Prof., ab 1956 Ordinarius in Innsbruck. Felix Mandl (1892–1957), 1914–1918 im Feld, das letzte Jahr in einer Sanitätsambulanz. Promotion 1919, anschließend an der II. Chirurgischen Univ.Klinik unter Julius Hochenegg. 1923 Assistent, 1928 Habilitation. Die von Wolfgang Denk beantragte Verleihung der ao. Professur wurde 1936 und im Januar und Februar 1938 abgelehnt.60 Mandl leitete 1932–1938 die chirurgische Abteilung des Canning-Child-Spitals und Forschungsinstituts. Rassistisch vertrieben, emigrierte er nach Palästina und leitete die Chirurgische Klinik an der Hadassah-Universität in Jerusalem. Ab 1947 Vorstand der Chirurgie im Kaiser Franz-Joseph-Spital, 1948 ao. Prof.; 1926 weltweit erste Resektion einer Nebenschilddrüse wegen Überfunktion.

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URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Spath (abgerufen am 21. 6. 2021). PA Hubert Kunz. UAW, Med. Fak. URL: https://ub.meduniwien.ac.at/blog/?p=1194 (abgerufen am 20. 6. 2021). URL: https://gedenkbuch.univie.ac.at/index.php?id=435&person_single_id=34206 (abgerufen am 20. 6. 2021). 60 PA Felix Mandl. UAW, Med. Fak.

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Epilog Die Wiener Kliniken mussten nach 1945 erkennen, dass sich die Chirurgie des Thorax, des Herzens und der großen Gefäße in Übersee mächtig entfaltet hatte. Sosehr man den dringenden Aufholbedarf erkannte, so hoch war aber der Anspruch der Fakultät, nur „herausragende Persönlichkeiten“ zu berufen.61 Der prekäre Bauzustand und der bescheidene finanzielle Anreiz wurden übersehen. Eine für Österreich beispielhafte Selbstbezogenheit, jüngst als „Solipsismus“62 herausgestellt, dürfte hier gewaltet haben. Die Erwartung, internationale Berühmtheiten würden sich um „Billroths Lehrkanzel“ reißen,63 passte zum Mythos der Medizinischen Schule, der gerade nach 1945 dem neu konstruierten Österreichbild angehörte.64 Nissen war vom Billroth-Mythos angetan,65 und das bescheidene Salär hätte ihn nicht abgeschreckt. An der Fakultät hätte er die Loyalität der wichtigen Ordinarien genossen, was ihm aus der Distanz wohl nicht bewusst war. Umso sensibler reagierte er auf die Ablehnung einer kleinen paternalistischen Gruppe. Die entschlossene Haltung der Fakultät dagegen leitete eine Phase weiterer Versuche ein, beflügelt durch die ab 1955 besseren Bedingungen. Drimmel war nun durchaus gesprächsbereit, und es fanden Verhandlungen statt. Der junge Minister nutzt gar das Vorhaben, eine internationale Berühmtheit für die Universität zu gewinnen, um im Parlament seine Politik herauszustreichen. Für Nissen war aber trotz lockender Billroth-Patina ein mehrjähriges Provisorium abschreckend und die Situation in Basel zu gut, um den Ruf nach Wien anzunehmen. Seine Absage kam nicht überraschend. Sie hätte nicht den Verzicht auf Auslandsberufungen bedeuten müssen. Die vom späteren Bundeskanzler Josef Klaus inspirierte Ermunterung für Auslandsberufungen im Brief von Domanig weist auf die späteren Reformer in der Volkspartei hin.66 Die gescheiterte Berufung Nissens begünstigte betont lokale Lösungen. Während Schönbauer Spath favorisierte, meinten die Befürworter von Kunz, es müsse ein „Wiener“ sein. Schönbauer sah sich von seinen früheren Verbündeten zusehends verlassen und resignierte.

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Med. Dek. 123 von 1952/53. UAW. Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2005, Wien: Zsolnay 2005, 24. Fleck, Autochthone Provinzialisierung, 79. Erna Lesky, Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert (Studien zur Geschichte der Universität Wien 6), Graz–Köln: Böhlau 1965; Rathkolb, Republik, 25. 65 Nissen, Helle Blätter, 353: Cushing habe einmal die Berufung auf Billroths Lehrstuhl als das „Blaue Band der Chirurgie“ bezeichnet. 66 Josef Klaus, Macht und Ohnmacht in Österreich. Konfrontationen und Versuche, Wien: Molden 1971.

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Johannes Miholic

Unter Hubert Kunz erfolgte der Umbau mit neuen Operationsräumen samt Intensivstation, aber nicht die Profilierung zur Thoraxchirurgie. Diese hatte Georg Salzer 1957 nach dem frei gewordenen Lainz mitgenommen.67 Die von der Fakultät ersehnte Herzchirurgie kam erst zur vollen Entfaltung, nachdem 1967 Jan Navrátil (1908–1992) aus Brünn berufen worden war. Wissenschaftlicher Wagemut lebte auf. Ein neues Gebiet, die Entwicklung künstlicher Organe für den Kreislauf, beförderte die Klinik an die vorderste Front wissenschaftlicher Innovation, und noch einmal umstrahlte Billroths ehemaligen Lehrstuhl die Aura der „Welt von Gestern“ eines multiethnischen Reichs.68

67 Ernst Wolner, persönliche Mitteilung vom 19. 11. 2020. 68 Tatjana Buklijas, Surgery and national identity in late nineteenth-century Vienna, in: Studies in History and Philosophy of Science Part C: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38 (2007) 4, 756–774, 756.

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Die Wiener Medizin in den jeweiligen Universitätsgesetzen bis zum Übergang von Medizinischen Fakultäten zu eigenen Universitäten The Role of Viennese Medicine within the Respective University Acts until the Transition of Medical Schools to Medical Universities Abstracts Bis zur Übersiedelung der Wiener Universitätskliniken in das Neue Allgemeine Krankenhaus Anfang der 1990er Jahre gab es bloß Vereinbarungen über die Leistung des Bundes an die Universitätsspitäler betreibende Bundesländer bezüglich des Mehrbedarfs dieser Spitäler für das gleichzeitige Betreiben von Lehre und Forschung („Klinischer Mehraufwand“). Erst danach gab es gesetzliche Sonderbestimmungen für Medizinische Fakultäten, im Jahr 2000 erhielten diese auch vom Bund gesondert zur Universität zugewiesene Finanzmittel, eine Maßnahme, die mit der Vollrechtsfähigkeit der Universitäten (ab 2004) nicht mehr kompatibel war. Da auch die Errichtung einer Teilkörperschaft dieser Universitäten mit dem jeweiligen Krankenanstaltenträger zum Betreiben der Universitätsmedizin nicht absehbar war, war die notwendige Budgethoheit der Medizinischen Fakultäten nur durch deren Ausgliederung als eigene Universitäten gewährleistet. Until the relocation of the Viennese Medical School to the New General Hospital at the beginning of the 1990s, the Austrian Federation replaced the federal states which were running university hospitals the excess figure of these hospitals for the simultaneous operation of teaching and research. Only thereafter, statutory provisions for the university’s clinical departments were established, and in the year 2000 medical schools also received their financial allocation from the federal government separated from the university, a measure, however, which was no longer compatible when the Austrian universities – from 2004 – became legal entities of public law. Since the establishment of a subentity of these universities with the respective hospital provider to operate university medicine neither can be foreseen, the necessary budget sovereignty of the university medical schools was only possible by outsourcing them as separate universities. Keywords Hochschullehrer-Dienstrecht – Klinischer Mehraufwand – Medizinische Fakultät – Medizinische Universitäten – Professor ordinarius – Universitätsgesetz 2002 – UniversitätsOrganisationsgesetz – Universität Wien Assistant Professors – Medical School – Medical Universities – Tenured Professors – University of Vienna – Universities Act 2002 – University Organization Act

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Bis zum Jahr 2004 lag die Entscheidungskompetenz für die Universitäten bei der Republik Österreich, korrekt beim Bund, wenn man die föderalistische Struktur der Republik in Betracht zieht. Bereits in der Monarchie, nämlich seit dem Revolutionsjahr 1848 und der damals verkündeten Lehr- und Lernfreiheit, dann in der Ersten Republik und im Ständestaat sowie die ersten Jahrzehnte in der Zweiten Republik waren die Bundeskompetenzen für die Universitäten in einem Unterrichtsministerium aufgehoben, ab dem Jahr 1970, dem Beginn der vier Kreisky-Kabinette1, in einem eigenen Ministerium für Wissenschaft und Forschung. Nach den drei SPÖ-Alleinregierungen gab es ab 1983 nur mehr Koalitionsregierungen, die bis zum Jahr 1997 ein eigenes Wissenschafts- und Forschungsressort beibehielten, dann wurden Wissenschaft und Forschung während der SPÖ-ÖVP-Koalition 1996 bis 2000 mit den Verkehrsagenden (!) zusammengelegt. In den beiden ÖVP-FPÖ-Koalitionen von 2000 bis 2002 und 2003 bis 2007 befanden sie sich wieder – wie früher – mit den Schulagenden in einem gemeinsamen Ministerium („Bildungsministerium“). Dieser stetige Wechsel währt bis heute.

Universitäten im Zeitraum 1945 bis 1975 Das erste Organisationsrecht für Universitäten aus dem Jahr 1873, noch Hochschulorganisationsrecht genannt,2 galt in seinen Grundzügen über 100 Jahre, genau bis 1975, lediglich 1955 wurde es in einem Hochschulorganisationgesetz (HOG)3 leicht modifiziert. Es war eine reine „Ordinarienuniversität“, da die Akademischen Senate der Universitäten und deren Fakultätskollegien – wie das der Medizin – ausschließlich aus ordentlichen Professoren („Professores ordinarii“ – sie unterschieden sich durch die noch heute vom Bundespräsidenten ernannten „Titularprofessoren“) zusammengesetzt waren. Sie konnten zwar nicht über das Gedeihen ihrer Universität entscheiden, sondern waren bloß befugt, als „Professorenkollegium“ durch Mehrheitsbeschlüsse an das Unterrichtsministerium Anträge zu stellen. Jeder ordentliche Professor, zugleich auch Klinik- oder Institutsvorstand, war Mitglied dieses Kollegiums, Vorsitzender war der aus dessen 1 Bruno Kreisky regierte 1970–1971 mit einem SPÖ-Minderheitskabinett, von 1971–1983 dreimal mit einer SPÖ-Alleinregierung. 2 Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 5: Von 1918 bis zur Gegenwart, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1988, 449. 3 Bundesgesetz vom 13. Juli 1955 über die Organisation der wissenschaftlichen Hochschulen (Hochschul-Organisationsgesetz), BGBl. Nr. 154/1955; Thomas König, Die Entstehung eines Gesetzes: österreichische Hochschulpolitik in den 1950er Jahren, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 12 (2012) 2, 57–81.

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Mitte für jeweils ein Jahr gewählte Dekan. Jeder Ordinarius hatte Forschungsund Lehrfreiheit, im Rahmen derer er vor allem an Ressourcen interessiert war, die ihm persönlich zur Verfügung standen, die Entwicklung der Universität, zu der er gehörte, stand nicht in seinem beruflichen Mittelpunkt. Der Konnex zwischen finanziellen Ressourcen und der Leistung der einzelnen Ordinariate war eher unscharf. Personengruppen unterhalb der Ordinarien, also wissenschaftliche Assistenten (der „Mittelbau“) und Studierende, hatten keinerlei Einfluss. Das Schicksal der Universitätsassistenten lag bezüglich deren Aufnahme und Weiterbestellung bloß im Ermessen ihres Institutsleiters. Ein eigenes Hochschulassistentengesetz4 sah ausschließlich befristete Dienstverhältnisse vor. Die Stellen wurden zwar öffentlich ausgeschrieben, die Auslese traf das Professorenkollegium in der Regel auf Vorschlag des zuständigen Institutsleiters, und dieses beantragte sodann beim Ministerium die Aufnahme als Beamte auf Zeit. Einen Antrag an das Professorenkollegium auf Verlängerung eines Dienstverhältnisses für Assistenten konnte aber nur der zuständige Ordinarius stellen. Durch bloßes Unterbleiben einer Antragstellung konnte daher das Auslaufen eines Vertrags bewirkt werden. Die Ordinarien selbst wurden auf Basis eines Besetzungsvorschlags aus drei Personen, den eine vom Professorenkollegium gebildete Berufungskommission erstellte, vom zuständigen Bundesminister berufen. Die so Berufenen leiteten in lose strukturierter Ansammlung existierende und unterschiedlich ausgerichtete Institute, oft waren es Minieinrichtungen. Ebenso nutzten die Ordinarien ihre wissenschaftliche Freiheit und Lehrfreiheit weitgehend unabhängig voneinander aus, Koordination unter ihnen gab es nur wenig. Ihr Beitrag zum Studium wurde überwiegend „als Investition in das individuelle Verständnis der Welt und weniger als zeiteffiziente Vorbereitung auf eine erfolgreiche Berufslaufbahn ihrer Schüler [Anm.: der Studierenden] gesehen“5. Der Begriff von Universitätsinstituten als „Elfenbeinturm“ und die negative Konnotation mit dem Begriff „Ordinarius“ stammten aus dieser Zeit.6 Ordinarii waren Beamte, blieben aber bis zum 70. Lebensjahr im Amt, gingen dann nicht in Pension, sondern emeritierten, was bedeutete, sie wurden ihrer Forschung- und Lehrpflichten enthoben, durften diese Tätigkeiten aber weiterhin ausüben. 4 Bundesgesetz vom 11. Juli 1962 über das Dienstverhältnis der Hochschulassistenten, wissenschaftlichen Hilfskräfte, Demonstratoren und Vertragsassistenten (Hochschulassistentengesetz 1962), BGBl. Nr. 216/1962. 5 Markus F. Hofreither/Stefan Vogel, Wissenschaft als Beruf im Wandel universitärer Organisationsformen, in Ika Darnhofer/Hans K. Wytrzens/Christoph Walla (Hg.), Alternative Strategien für die Landwirtschaft, Wien: Facultas 2006, 189–202. 6 Manfried Welan, Aus dem Elfenbeinturm, Wien: Eigenverlag Univ. Prof. Dr. Manfried Welan 1989.

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Medizinische Fakultäten Anders als im Krankenanstaltenrecht, in dem sich seit dem KAG 19207 Bestimmungen für Krankenanstalten, die „zugleich dem Unterricht an medizinischen Fakultäten dienen“, fanden,8 gab es damals in den gesetzlichen Regelungen für Universitäten noch keine Sonderregelungen für die drei Medizinischen Fakultäten der Universitäten Wien, Graz und Innsbruck. Da die Institute und Kliniken (die organisationsrechtlich Institutscharakter hatten) ohnehin direkt vom Ministerium finanziert wurden, war es zunächst auch nicht notwendig. Im KAG 1920 und den entsprechenden Landeskrankenanstaltengesetzen gab es hingegen Regelungen über die Abgeltung des Mehraufwands vom Bund an die jeweiligen Bundesländer, der diesen für das gleichzeitige Betreiben von Lehre und Forschung in ihren mit den Medizinischen Fakultäten assoziierten Krankenanstalten, dem Allgemeinen Krankenhaus Wien (AKH), dem Landeskrankenhaus in Graz und dem in Innsbruck, entsteht („Klinischer Mehraufwand“). Diese Bestimmung war in Wien für die Dauer der Übernahme der Betriebsführung des AKH durch den Bund nach dem Fondskrankenanstaltengesetz9 (1925 bis 1939) obsolet. Im Jahr 1956 wurde das Bundeskrankenanstaltengesetz10 vom Nationalrat verabschiedet, in dem neben anderen Regelungen zu Universitätskliniken in § 55 auch der klinische Mehraufwand verankert ist. Dieser ist unterteilt in die Abgeltung der laufenden Kosten, die der Bund dem jeweiligen Bundesland zu ersetzen hat, und die Errichtungs- und Investitionskosten, das sind Kosten für Gebäude, Medizintechnik (später auch EDV) und Infrastruktur, die einerseits der Substanzerhaltung der Krankenanstalt dienen (Ersatzinvestitionen), andererseits als Neuinvestitionen notwendig sind, um auf dem Stand der medizinischen Entwicklung zu bleiben. Der laufende klinische Mehraufwand wurde nie berechnet, sondern nach Implementierung des Bundeskrankenanstaltengesetzes mit etwa 20 Prozent der laufenden Kosten, die der Krankenanstalt entstehen, politisch geschätzt und bewegt sich bis heute in diesem Bereich. Da alle vom Bund finanzierten Universitätsärzte auch für die Krankenbehandlung zuständig waren und sind 11 und damit die Mehrkosten der Krankenanstalten bereits dadurch mehr als abgedeckt 7 Gesetz über die Errichtung, die Erhaltung und den Betrieb öffentlicher Heil- und Pflegeanstalten (Krankenanstaltengesetz), StGBl. Nr. 327/1920. 8 Karl Stöger, Schriftenreihe Recht der Medizin, Bd. 26: Krankenanstaltenrecht, Wien: Manz’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung 2008, 61–67. 9 Bundesgesetz vom 18. Juli 1924, betreffend die Verwaltung der Wiener öffentlichen Fondskrankenanstalten (Fondskrankenanstaltengesetz), BGBl. Nr. 255/1924. 10 Bundesgesetz vom 18. Dezember 1956 über Krankenanstalten (Krankenanstaltengesetz, KAG), BGBl. Nr. 1/1957. 11 in Wien sämtliche, in Graz und Innsbruck knapp 50 % der Ärzte.

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waren, handelt es sich beim klinischen Mehraufwand letztlich um eine Querfinanzierung des Bundes für die routinemäßige Krankenversorgung, für die ausschließlich die Länder zuständig wären. Dies führte mehrfach zu politischen Auseinandersetzungen und Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, der für Streitigkeiten zwischen Gebietskörperschaften zuständig ist, wo der Bund aber nie als Gewinner hervorging (zuletzt 1991).12 Immerhin gibt es nun seit 2017 jene Verordnung über den Kostenersatz aus den Bedürfnissen von Lehre und Forschung im klinischen Bereich von Universitäten (KMA-Verordnung)13, die bereits seit 1957 (!) im KAG vorgesehen war. Allerdings kommen die Berechnungsgrundsätze der Verordnung nicht zur Anwendung, soweit und solange eine eigene Vereinbarung zwischen Bund bzw. Universität einerseits und dem für die betreffende Krankenanstalt zuständigen Land bzw. Rechtsträger andererseits über Angelegenheiten des Klinischen Mehraufwands besteht, was an allen Standorten der Fall ist.

Universitätsorganisationsgesetz (1975) und Hochschullehrer-Dienstrecht (1988) Am 11. April 1975 wurde im Nationalrat nur mir den Stimmen der SPÖ, damals im Besitz der absoluten Mehrheit, eines der umstrittensten und längst diskutierten Gesetze der Zweiten Republik beschlossen, das Universitätsorganisationsgesetz (UOG), später UOG 75 genannt.14 Die Stellung der Professoren wurde empfindlich geschwächt, die bisherige Ordinarienuniversität zur Gruppenuniversität: Kollegialorgane und Kommissionen waren viertelparitätisch besetzt, nämlich 50 Prozent Professoren und je 25 Prozent Mittelbau und Studierende, einige Kommissionen, wie Studienkommission und Instituts- bzw. Klinikkonferenzen, sogar drittelparitätisch, d. h. Professoren, Mittelbau und Studierende hatten dort den jeweils gleichen Stimmenanteil. Da in den meisten Gremien auch zumindest ein Vertreter des allgemeinen Universitätspersonals vertreten war, waren die Professoren durchwegs in der Minderheit. Auch wenn nun Mittelbau und Studierende als eigene Interessengruppen legitimiert wurden, und das in weitaus höherem Ausmaß als im Ausland, die drei Gruppierungen konnten in 12 Etwa Entscheidungstext Verfassungsgerichtshof A39/85, 26. 6. 1991; Gerhard Aigner/Maria Kletecka-Pulker/Michael Memmer, Handbuch Medizinrecht, Wien: Manz’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung 2016, IV.7.8. 13 Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft über den Kostenersatz aus den Bedürfnissen von Lehre und Forschung im Klinischen Bereich von Universitäten (KMA-Verordnung), BGBl. II Nr. 70/2017. 14 Bundesgesetz vom 11. April 1975 über die Organisation der Universitäten (Universitätsorganisationsgesetz, UOG), BGBl. Nr. 258/1975.

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ihrer Gesamtheit trotzdem nicht mehr als die Professoren davor allein: Anträge an das Ministerium stellen, wo die eigentliche Entscheidung über Universitäten lag, auch über Detailveränderungen (wie Auflassung oder Gründung von Instituten). Da immer ein Kompromiss unter den drei Interessengruppierungen gefunden werden musste, resultierte daraus in der Regel ein nicht finanzierbarer „Wunsch ans Christkind“, und das Ministerium folgte solchen Anträgen schon naturgemäß nur in der Minderzahl. Letztlich blieb die eigentliche Macht innerhalb der Universität weiterhin bei den durchwegs als Institutsleiter fungierenden Ordinarien, vor allem bei jenen, die sich zum jeweiligen Bundesminister und zur ministeriellen Administration den besten Zugang verschaffen konnten. Ihren Einflüsterungen wurde gerne gefolgt, der Begriff der „Minoritenplatzschleicher“15 war geboren. Aufgrund des durch das UOG erstarkten Mittelbaus und der Studierendenvertretungen haben bisweilen nun auch diese wirksame Einflüsterer hervorgebracht. Deren Einfluss verhielt sich nicht immer proportional zu ihrer wissenschaftlichen oder studentischen Leistung. Eine weitere Misere bestand darin, dass das Hochschulassistentengesetz – unabhängig vom UOG – weiterhin gültig war, allerdings mit dem Unterschied, dass den Antragstellern zwecks Verlängerung ihres Assistenten-Dienstverhältnisses Parteienstellung zukam und eine Personalkommission, in der die Professoren ebenfalls in der Minderheit waren, darüber entschied. Die Folge war ein permanenter „Verlängerungsautomatismus“, bisherige Ausnahmefälle wurden zu Regelfällen. Das Ministerium konnte bei diesem Treiben aus drei Gründen nur tatenlos zusehen, wiewohl es dafür selbst mitverantwortlich war: (1) Gemäß Entscheid des Verwaltungsgerichtshofs lag die Entscheidung für Weiterbestellungen im autonomen Bereich der Universitäten, somit bei den Personalkommissionen.16 (2) Eine Verlängerung über das 14. Dienstjahr hinaus erforderte eine vorherige Habilitation, es genügte aber eine gleichzuhaltende wissenschaftliche Eignung; ob Letztere gegeben war, entschied wiederum die Personalkommission. (3) Nach 20 anrechenbaren Dienstjahren war der Assistent – nun vom Ministerium – in ein definitives Dienstverhältnis zu übernehmen („Pragmatisierung“) oder in den Ruhestand zu versetzen. Für eine so hohe Zahl Mitte 40Jähriger war eine Frühpensionierung dann politisch keinesfalls opportun.

15 Gemäß der Adresse des für Wissenschaft und Forschung ressortierenden Ministeriums: Minoritenplatz 4, 1014 Wien. 16 Entscheidungstext Verwaltungsgerichtshof, GZ 12/3273/80, 18. 5. 1981.

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Im Jahr 1988 wurde im Rahmen des Beamten-Dienstrechts ein eigenes Hochschullehrer-Dienstrecht geschaffen,17 demzufolge ein Assistent nach vier Jahren in ein zunächst provisorisch-definitives und bei Vorliegen einer Habilitation oder – wiederum (!) – einer gleichzuhaltenden Eignung innerhalb der nächsten sechs Jahre in ein definitives Dienstverhältnis übernommen werden konnte. Auch wenn die Entscheidung an beiden Schnittstellen nun wieder beim Ministerium lag, konnte diese „Reform“ die mit Implementierung des UOGs begonnene Versteinerung des wissenschaftlichen Universitätspersonals aber nicht aufhalten, denn in der Regel beantragten die Personalkommissionen an beiden Schnittstellen die Übernahme. Nicht nur machte das Ministerium von der ihm vom Gesetzgeber übertragenen Bedarfsprüfung nach den ersten vier Jahren keinen Gebrauch, es konterkarierte sogar die Personalkommissionen in den wenigen Fällen, in denen diese bereit waren, eine negative Entscheidung zu treffen.18 Eine Besonderheit stellte § 31 UOG dar, da er an Intransparenz wenig zu wünschen übrig ließ. Es konnten sich Habilitierte aus allen inländischen Universitäten um eine unbestimmte Anzahl von Außerordentlichen-ProfessorenPlanstellen bewerben, „die dann in einer Art kameralistischem Verfahren, welches jedem geheimen Rat zur Ehre gereicht hätte, besetzt wurden“19. Ein Teil dieser Professuren ging an durchwegs qualifizierte Personen, die auch in einem Wettbewerbsverfahren ihre Chance gehabt hätten, ein Teil aber an – in der Regel leitende – Mittelbaufunktionäre oder in der Gunst einflussreicher Institutsvorstände stehende Assistenten, die in einem Wettbewerbsverfahren mit Qualifikationsüberprüfung eher chancenlos gewesen wären. In einer Dienstrechtsreform 199720 wurden diese außerordentlichen Professoren den aus einem internationalen Wettbewerbsverfahren hervorgegangenen ordentlichen Professoren überhaupt gleichgestellt, das Epitheton „ordentlich“ abgeschafft. Den frei gewordenen Titel „außerordentlicher Universitätsprofessor“ erhielten dafür sämtliche an Universitäten beschäftigte Habilitierte.

17 Regelung des Dienstrechtes der Hochschullehrer, der Bediensteten des wissenschaftlichen Dienstes und der Mitarbeiter im Lehrbetrieb an Universitäten und Hochschulen im BeamtenDienstrechtsgesetz 1979, im Gehaltsgesetz 1956, im Vertragsbedienstetengesetz 1948 und im Bundes-Personalvertretungsgesetz, BGBl. Nr. 148/1988. 18 Franz Marhold, Das Universitätslehrerdienstrecht 2001 im Kontext der Universitätsreform, in: Sigurd Höllinger/Stefan Titscher (Hg.), Die österreichische Universitätsreform, Wien: WUV Universitätsverlag 2004, 287–301. 19 Ebd. 20 Bundesgesetz, mit dem das Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979 (2. BDG-Novelle 1997) [, …] geändert werden, BGBl. I Nr. 109/1997.

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Medizinische Fakultäten Wie im HOG davor hatten die Medizinischen Universitäten auch im UOG zunächst keinen Sonderstatus. Einen solchen erhielten sie erst 198821 als Vorbereitung für die Übersiedelung der Wiener Fakultät in das neue Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien (Neues AKH); dieselben Maßnahmen galten auch für die Medizinischen Fakultäten in Graz und Innsbruck. Die bis dahin in Wien bestehenden Doppelkliniken (s. S. 175, Tab. 2) wurden abgeschafft. Im Einvernehmen mit dem Rechtsträger der Krankenanstalt – der Stadt Wien – war ein Strukturplan für Universitätskliniken zu erstellen, der alle Gebiete der unmittelbaren Patientenversorgung abzudecken hatte, für die mittelbare Patientenversorgung (Labormedizin, Pathologie etc.) waren klinische Institute zu errichten. In diesem Zusammenhang wurde auch erstmals gesetzlich determiniert, dass zu den Dienstpflichten der Ärzte an Medizinischen Fakultäten zusätzlich die Patientenversorgung gehört, die mit Forschung und Lehre gemeinsam zu betreiben ist. Universitätskliniken konnten in klinische Abteilungen gegliedert sein, welche den Status einer Krankenabteilung mit der Letztverantwortung für die Betreuung ihrer PatientInnen innehatten (im Gegensatz zu Forschung und Lehre, die im Wesentlichen Aufgaben der Gesamtklinik waren). Als Leiter von Kliniken und klinischen Abteilungen kamen nur Professoren, die auch die zugehörige Facharztbefugnis besaßen, infrage. Klinische Abteilungen galten eigentlich der Abdeckung sämtlicher ärztlicher Sonderfächer und Additivfächer (die es damals noch gab), ihre tatsächliche Zahl war aber viel größer. Eine sachliche Begründung gab es dafür nicht, vielmehr sollten alle zu diesem Zeitpunkt im Dienststand befindlichen Universitätsprofessoren, sowohl ordentliche als auch außerordentliche (§ 31–) Professoren, auf diese Weise eine Leitungsfunktion erhalten. Von structure follows strategy war damals keine Rede, weshalb einige dieser klinischen Abteilungen später von den Medizinischen Universitäten im Rahmen ihrer Eigenständigkeit wieder abgeschafft wurden.

21 Bundesgesetz vom 13. Dezember 1988, mit dem das Universitäts-Organisationsgesetz (UOG) und das Krankenanstaltengesetz (KAG) geändert werden, BGBl. Nr. 745/1988.

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Universitätsorganisationsgesetz 1993 (UOG 93) und Universitätslehrer-Dienstrecht 2001 Das UOG 9322 wurde an den Universitäten sukzessive, abhängig von ihrer Größe, eingeführt, an den großen Universitäten, wie der Universität Wien, erst mit Beginn des Jahres 2000, wo es daher nur vier Jahre in Kraft war. Es übertrug den Universitäten Verantwortung für ihr zugeteiltes Budget und für die Berufungen von Professoren und stärkte somit die Stellung des Rektors. Volle Rechtsfähigkeit bekamen die Universitäten aber keine, eine Teilrechtsfähigkeit (s. S. 181) haben die Universitäten bereits 1988 – noch im Rahmen des UOG 75 – erhalten. Die Regelungen für die Medizinischen Fakultäten wurden vom UOG 75 übernommen, es gab aber im Vergleich zum UOG 75 zwei wesentliche zusätzliche Sonderbestimmungen23: (1) Sie erhielten ein von der übrigen Universität getrenntes, d. h. eigenes, Budget, und (2) für den klinischen Bereich gab es den Posten eines Vizedekans. Eine mit dem Organisationsrecht verträgliche Personalrechtsreform fand auch im Rahmen des UOG 93 nicht statt. Erst nach Antritt der ÖVP-FPÖ-Koalition im Februar 2000 (Kabinett Schüssel I) war absehbar, dass den Universitäten volle Rechtsfähigkeit verliehen werden soll, und es ging als Vorbereitung für das Wirksamwerden des Universitätsgesetzes 2002 (UG) mit dem Universitätslehrer-Dienstrecht 200124 tatsächlich eine wesentliche Dienstrechtsreform vonstatten. Mit dieser sollte erreicht werden, dass die Versteinerung und Überalterung des Mittelbaus vor Implementierung des UG mit 1. Jänner 2004, als nur mehr privatrechtliche Dienstverhältnisse möglich waren, zumindest gebremst wird. Es sah statt des Beförderungsprinzips kompetitive Verfahren in jeder Stufe der Karriere vor. Nach erlangter Promotion folgte ein Zwei-Säulen-Modell: Aufnahme zunächst als Assistent in ein vierjähriges vertragliches Bundesdienstverhältnis (Säule I), danach – ebenfalls in einem Wettbewerbsverfahren – Übernahme in ein weiteres, ebenfalls vierjähriges Dienstverhältnis (Säule II). Eine weitere Verlängerung war nicht möglich, womit hoch qualifizierten Assistenten die Perspektive auf eine weitere Laufbahn an der Universität genommen wurde. Für neu berufene Professoren waren ebenfalls nur mehr vertragliche Bundesdienstverhältnisse möglich. Aus Vertrauensschutzgründen gab es aber großzügige Übergangsregelungen für Assistenten in einem vorherigen Beam22 Bundesgesetz über die Organisation der Universitäten (UOG 1993), BGBl. Nr. 805/1993. 23 Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Universitäten (UOG 1993), BGBl. I Nr. 99/1997. 24 Bundesgesetz, mit dem das Beamten-Dienstrechtgesetz 1979 [, …] geändert werden (Dienstrechts-Novelle 2001 – Universitäten), BGBl. I Nr. 87/2001; Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Universitätslehrer-Dienstrecht 2001, Wien: Manz’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung 2001, 1–34.

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tendienstverhältnis. Nur die vorher zeitlich befristeten Assistenten konnten nicht mehr in ein provisorisch-definitives Dienstverhältnis übergeleitet werden. In bestehende provisorisch-definitive und definitive Beamten-Dienstverhältnisse wurde hingegen nicht eingegriffen. Auch Beförderungen von provisorisch-definitiv Gestellten in definitiv Gestellte (aufgrund von Habilitation oder gleichzuhaltender Eignung dieser Assistenten) waren und sind bis heute noch möglich. Der Steuerungseffekt für die später eigenständigen Universitäten war damit sehr verlangsamt.

Medizinische Fakultäten werden eigene Universitäten Mit dem Universitätsgesetz 2002 (UG)25 erlangten die Universitäten als juristische Personen öffentlichen Rechts Autonomie und eine unternehmensähnliche Struktur. So notwendig dieser Reformschritt für die Stärkung der internationalen Reputation unserer Universitäten auch war, so wird noch immer beklagt, dass damit die vielbeschworene Mitbestimmung von Studierenden und Mittelbau als Kernreform des UOG 75 dahin war, ohne dass es sie allerdings je gegeben hätte. Denn da die Universitäten davor keine Rechtspersonen waren, konnten im Rahmen dieser Mitbestimmung bloß Anträge an den eigentlichen Rechtsträger, den zuständigen Bundesminister, gestellt werden, denen er ohnehin nur bedingt nachkam. Im UG obliegt nun die gesamte Budget- und Personalverantwortung der Universität, an deren Spitze ein aus Rektor und mehreren Vizerektoren zusammengesetztes Rektorat steht und als dessen Aufsichtsorgan der Universitätsrat fungiert. Die Mitbestimmung der Universitätsangehörigen beschränkte sich auf Aufgaben, die dem Senat obliegen: Mitwirkung bei der Wahl des Rektors, Bestellung von 40 bis 44 Prozent der fünf, sieben oder (maximal) neun Mitglieder des Universitätsrats, Erstellung der Satzung, Erlassung der Curricula von Studien und Lehrgängen. Hier mündet die paritätische Mitbestimmung (die Professorenvertreter stellen nur die Hälfte der Senatsmitglieder) aber – im Gegensatz zu UOG 75 und UOG 93 – tatsächlich in konkrete Ergebnisse und nicht in Anträge. Die Universitäten sind nun auch Arbeitgeber und haben deutlich erhöhte Möglichkeiten und Flexibilität bei der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und im Personalmanagement. Für das neu aufgenommene Personal gelten das Angestelltengesetz und der seit 1. Oktober 2009 in Kraft befindliche UniversitätenKollektivvertrag. Für die in einem Beamten- oder Vertragsbedienstetenverhältnis stehenden MitarbeiterInnen gelten die Regelungen des öffentlichen Dienstrechts weiter. Ein wesentlicher Kern des Universitäten-Kollektivvertrags ist die Etablie25 Bundesgesetz über die Organisation der Universitäten und ihrer Studien (Universitätsgesetz 2002, UG), BGBl. I Nr. 120/2002.

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Die Wiener Medizin in den jeweiligen Universitätsgesetzen

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rung eines leistungsorientierten Karrieremodells mit sogenannten Qualifizierungsvereinbarungen, dessen Eckpunkte zwar einheitlich für alle österreichischen Universitäten gelten, diesen aber Spielräume lassen, um je nach Universität, Standort, Erfordernissen und Rahmenbedingungen eigenständige Laufbahnschemata zu entwickeln.26 Es besteht kein Anspruch auf eine solche Laufbahnstelle, allerdings führt die Erfüllung der in der kompetitiv vergebenen Qualifizierungsvereinbarung festgelegten Leistungsziele zu einem unbefristeten Arbeitsverhältnis als assoziierte Universitätsprofessorin oder assoziierter Universitätsprofessor. Daneben gibt es nun nach dem UG verschiedene Berufungsverfahren für Universitätsprofessuren. Die Universitätsmedizin ist im UG in Form Medizinischer Universitäten repräsentiert, eine Besonderheit der internationalen Universitätsszene. Denn in anderen Ländern kommen eigene Medizinische Universitäten nur vereinzelt vor, wie beispielsweise das Karolinska Institut in Stockholm oder die Medizinische Hochschule Hannover, beides höchst angesehene Einrichtungen mit internationaler Reputation. Ansonsten handelt es sich zwar um im Universitätsverband eingebettete Medizinische Fakultäten oder Fachbereiche, die Medizin hat in der Regel aber immer eine hohe Eigenständigkeit, die durch effiziente Strukturmodelle mit dem Krankenanstaltenträger schon damals, Anfang der 2000er Jahre, bedingt war und weiterhin ist.27 Tabelle 1 gibt eine Übersicht:28 Tab. 1: Strukturmodelle für das einer Universität angeschlossene Krankenhaus Strukturmodell Krankenhaus gehört zur Universität

Beispiele Karolinska Institut, Stockholm Medizinische Hochschule Hannover

Krankenhaus und Universität bilden Teilkörperschaft öffentlichen Rechts (Integrationsmodell) Kooperation zweier juristischer Personen öffentlichen Rechts, Universität und Krankenhaus (Kooperationsmodell)

Universitätsmedizin Berlin Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Amsterdam University Medical Center Universitätsklinikum Heidelberg Klinikum der Universität München

Kooperation zwischen Universität und Medizinische Universitäten in Österreich einer Krankenhaus-Holding*) *) In Österreich 2004: KAGES (Steiermärkische Krankenanstaltengesellschaft) und Tirol Kliniken (früher TILAK); in Wien war und ist die Stadt selbst Rechtsträger für das AKH. 26 Walter J. Pfeil, Personalrecht der Universitäten, Wien: Manz’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung 2010, 292–303. 27 Ralf Heyder/Rüdiger Strehl, Universitäre Krankenhausträger, in: Jürg F. Debatin u. a. (Hg.), Krankenhausmanagement, Berlin: Medizinisch-wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2013, 35–46. 28 Wolfgang Schütz, Eintritt nur nach Aufruf, Wien: Manz’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung 2017, 36.

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Die in Tabelle 1 genannte Struktur für die Universitätsmedizin in Österreich existiert erst seit wenigen Jahren (in Wien seit 2016) und ist per se nicht optimal, da die Universitätsspitäler in Wien (AKH Wien), Graz (LKH Graz) und Innsbruck (LKH Innsbruck) keine selbstständigen Rechtskörper sind. Sie gehören einem übergeordneten Verbund an, das LKH Graz der KAGES (Steiermärkische Krankenanstalten GmbH), das LKH Innsbruck den Tirol Kliniken, und das AKH Wien wird wie alle Spitäler der Stadt Wien von dieser selbst geführt. Jede Medizinische Universität in Österreich hat somit keinen direkten Vertragspartner, sondern immer nur einen teilzuständigen Partner, bis hin zu einem ganzen Bundesland (der Stadt Wien). Bis zum Zeitpunkt der Ausgliederung im Jahr 2004 und noch viele Jahre danach – für Wien bis 2016 – gab es aber überhaupt keine Zusammenarbeitsstruktur zwischen den universitären medizinischen Einrichtungen und dem jeweiligen Krankenanstaltenträger. Die sowohl im UG als auch in den Krankenanstaltengesetzen vorgesehene Zusammenarbeitsvereinbarung beschränkte sich in dieser Phase im Wesentlichen auf Finanzierungsfragen im Zusammenhang mit dem gesetzlich vom Bund zu leistenden Klinischen Mehraufwand.

Gründe für die Ausgliederung Medizinische Fakultäten hatten bereits vor der Ausgliederung einen budgetären Sonderstatus innerhalb ihrer Universitäten, da die Universitätsärzte auch in der Krankenversorgung des zugehörigen Universitätsspitals mitwirken müssen und auch das Investitions- und Sachmittelbudget zu großen Teilen – im Sinne der gemeinsamen Betreibung von Krankenversorgung, Forschung und Lehre – gebunden war. Aus diesem Grund konnte das Budget einer Medizinischen Fakultät nicht der Disposition des Rektors der zugehörigen Universität unterliegen, und deshalb bekamen die Medizinischen Fakultäten in Österreich schon vor ihrer Ausgliederung (auf Grundlage des UOG 93) ein eigenes Budget, getrennt von den anderen Teilen der Universität, zugewiesen. Mit der Autonomie der Universitäten, als diese eigene Rechtspersonen wurden, wäre ein gesondertes Budget für eine Medizinische Fakultät nur dann möglich gewesen, wenn die für die Gesamtuniversität nicht disponiblen Mittel in eine von Universität und Krankenhaus gebildete Gesellschaft geflossen wären, die es aber – im Gegensatz zu ausländischen Modellen – nicht gab. Die notwendige Budgethoheit für die Universitätsmedizin konnten daher nur eigenständige Medizinische Universitäten gewährleisten. Eine Positionierung im Zusammenwirken mit dem Träger der assoziierten Krankenanstalten war auch leichter als eigene Universität möglich denn als Teil einer Universität. Auch wenn diese Argumente zwi-

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Die Wiener Medizin in den jeweiligen Universitätsgesetzen

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schenzeitlich durch den Gesetzgeber29 mit der Ermöglichung der Schaffung von Medizinischen Fakultäten innerhalb einer Universität relativiert worden zu sein scheinen, so sind sie dennoch weiterhin maßgeblich. Hinzu kam, dass zwei wesentliche Altlasten, mit denen die anderen Universitäten nach der Ausgliederung mühsam zu kämpfen hatten, für die Medizinischen Universitäten in geringerem Ausmaß (a) bis gar nicht (b) zutrafen: (a) Die personelle Versteinerung aufgrund des bis 2001 durchgängigen Beförderungsprinzips von Assistenten bis hin zur Pragmatisierung war an Universitätskliniken deutlich weniger ausgeprägt. Denn Ärzte fanden nach Abschluss der Facharztausbildung einkommensstärkere Beschäftigungen außerhalb der Universität, sei es Niederlassung und/oder Primar- bzw. Oberarztpositionen in Krankenhäusern. (b) Alle Universitäten mussten Doktoratsstudien gemäß der dreistufigen Bologna-Architektur einführen, nämlich dass Studierende mit Erstabschluss als „early-stage researcher“ tätig sind und mit einem PhD abschließen. Die Universitäten hatten hier große Mühe, ihre jahrzehntelang nach dem LehrerSchüler-Prinzip gepflegten Doktoratsstudien („Doktorvater“) auf das neue System umzustellen. Da Medizinstudierende im Rahmen des bis 2001 geltenden Studiengesetzes Medizin per se mit einem Doktorat abschlossen,30 gab es in der Medizin gar keine Doktoratsstudien. Medizinische Universitäten konnten daher ihre mit den Bologna-Kriterien kompatiblen Doktoratsstudien rasch aufbauen, ohne dass Umstellungsbelastungen deren Etablierung verzögerten. Die Ausgliederung der Medizin führte teilweise zu hitzigeren Diskussionen als die Autonomiewerdung der Universitäten selbst. Es wurde gewettert, die Medizin werde den Anschluss an die anderen Wissenschaften verlieren, in welche sie vorher angeblich so gut eingebettet war, auch Kooperationen mit den durch die anderen Fakultäten repräsentierten Disziplinen würden erschwert und daher die Medizin auf das Niveau einer Fachhochschule reduziert, es gebe für Medizinische Universitäten keinerlei internationale Beispiele und wenn nur schlechte aus den ehemaligen kommunistischen Oststaaten, es trete ein schwerer Traditionsbruch ein, und es müsse außerdem ein zusätzlicher Verwaltungsapparat aufgebaut werden.

29 Bundesgesetz, mit dem das Universitätsgesetz 2002 geändert wird, BGBl. I Nr. 176/2013. 30 Auch das von den Universitäten im Rahmen des Universitätsstudiengesetzes erstellte und mit dem Wintersemester 2002/03 begonnene Diplomstudium der Humanmedizin wird aus formalen Gründen nicht mit dem Magisterium, sondern mit einem „Doktor der gesamten Heilkunde“ abgeschlossen. Ein PhD im Rahmen der Bologna-Architektur muss aber zusätzlich erworben werden.

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Heute, 18 Jahre nach Inkrafttreten des Universitätsgesetzes 2002, kann allerdings niemand mehr bei objektiver Bewertung der Fakten behaupten, dass sich eine dieser Befürchtungen bewahrheitet hätte. Die Entwicklung der Medizinischen Universitäten, ihr Forschungsoutput, die Zahl internationaler Toppublikationen, das jährlich zunehmende Drittmittelaufkommen und die Zahl der nationalen und internationalen Kooperationen sprechen für sich. Aber insbesondere auch die Zusammenarbeit zwischen Universität Wien und Medizinischer Universität Wien ist enger, als sie davor unter den Fakultäten war. Beispiele sind die bereits 2005 gegründeten Max Perutz Labs31, das Institut für Ethik und Recht in der Medizin (S. 591) und die seit 2011 etablierten interuniversitären Forschungs-Cluster32. Letztlich ist die Selbstständigkeit der Universitätsmedizin in Wien nicht zuletzt aufgrund ihrer enormen Größe – sie hat über 5.500 MitarbeiterInnen, bildet mehr Medizinstudierende aus als jede andere europäische Universität mit medizinischer Fakultät und beanspruchte vor der Ausgliederung nahezu die Hälfte des Budgets der Universität Wien – bei universitärer Vollrechtsfähigkeit alternativlos.

31 Max Perutz Labs Vienna, URL: https://www.maxperutzlabs.ac.at/ (abgerufen am 27. 9. 2021). 32 Interuniversity cluster projects, University of Vienna and Medical University of Vienna, URL: https://cognitivescience.univie.ac.at/news-media/details/news/interuniversity-cluster-projec ts-university-of-vienna-and-medical-university-of-vienna/?cHash=34ddb929151f39927b1f2 a95b3d07959&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News (abgerufen am 27. 9. 2021).

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2. Strukturwandel in Lehre, Forschung und Praxisfeldern

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Daniela Angetter-Pfeiffer / Franz Kainberger

Die Reform der ärztlichen Ausbildung von einem fächerorientierten zu einem integrierten Medizincurriculum The move of medical training from a subject-oriented to an integrated medical curriculum Abstracts Die Entwicklung der prägraduellen Lehre kann – mit jeweils wesentlichen Änderungen – in drei Phasen untergliedert werden. (1) Nach 1945 stand die Pflege traditioneller Unterrichtskonzepte im Zentrum, (2) ab den 1960er Jahren die Entstehung einer Massenuniversität und gleichzeitig eine Trendwende durch das Studiengesetz Medizin, (3) ab den 1990er Jahren das Reformwerk des Medizincurriculums Wien (MCW). Bis zum Inkrafttreten des MCW wurden Lerninhalte vorwiegend von den Professoren der großen medizinischen Fächer vorgegeben, jeweils für ihr eigenes Fach und mit einem traditionell hohen Anteil morphologischer Inhalte, Spezialfächer wurden erst spät zugelassen. Bei der didaktischen Methodik stand der Unterricht in Vorlesungen stark im Vordergrund, ergänzt durch einen kontinuierlich steigenden Anteil von Praktika und Seminaren. The development of pre-graduate teaching can be divided into three phases, each with significant changes. (1) After 1945, the focus was on the cultivation of traditional teaching concepts, (2) from the 1960s onwards the change to a mass university and at the same time a trend reversal through the Study Act on Medicine, and (3) from the 1990s the reform of the Medical Curriculum Vienna (MCW). Before Implementation of the MCW the learning content presented mainly by professors of the major medical disciplines, but only for his own discipline and with a traditionally high proportion of morphological content, special disciplines were only admitted at a late stage. In terms of didactic methodology, the focus was strongly on teaching in lectures, supplemented by a continuously increasing proportion of practice elements and seminars. Keywords Studienordnung, Studiengesetz Medizin, Studienplanreform, medizinisches Curriculum Curriculum, Study Act on Medicine, curriculum reform

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Daniela Angetter-Pfeiffer / Franz Kainberger

Einleitung Die prägraduelle medizinische Ausbildung in Österreich ist im Zeitraum von 1945 bis zur Gründung der Medizinischen Universität Wien im Jahr 2004 von drei wesentlichen Komponenten geprägt. 1. Die gesetzlichen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen wurden durch die allgemeinen universitären Verwaltungsreformen mit dem Hochschulorganisationsgesetz (HOG 1955)1, dem Universitätsorganisationsgesetz (UOG) aus dem Jahr 19752 und dem Universitätsgesetz (UG) von 20023 definiert, speziell in der Medizin durch die Studienordnung Medizin von 19034, die Studienreformen mit dem Allgemeinen Hochschulstudiengesetz (AHStG) von 19665 und dem Studiengesetz Medizin von 19736. Durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union erfolgte die Integration in den europäischen Hochschulraum. 2. Bei den Lehrinhalten wurden die Traditionen aus dem späten 19. Jahrhundert übernommen und bis 2002 (!) weitgehend beibehalten. Dies bedeutete eine starke Betonung der medizinischen Grundlagen und einen hohen Anteil der morphologischen Fächer, d. h. von Anatomie und Histologie über pathologische Anatomie bis zur Chirurgie und Gerichtsmedizin. Ab 2002 wurde die inhaltliche Ausrichtung nach Fachdisziplinen weitgehend verlassen und durch ein integriertes und interdisziplinär gestaltetes Konzept ersetzt. 3. Ebenso war die didaktische Methodik jahrzehntelang von den Traditionen des 19. Jahrhunderts geprägt. Durch die steigende Zahl an Studierenden wurden Grenzen erreicht, da sich die Universität Wien ab den 1970er Jahren zu einer klassischen Massenuniversität entwickelt hatte. Die Wissensvermittlung fand in Vorlesungen statt und wurde in den ersten beiden Studienabschnitten durch Praktika – vor allem anatomische Sezierkurse – und durch freiwillige 1 Bundesgesetz über die Organisation der wissenschaftlichen Hochschulen (Hochschul-Organisationsgesetz), ausgegeben am 14. August 1955, BGBl. Nr. 154/1955. 2 Universitäts-Organisationsgesetz, ausgegeben am 13. Mai 1975, BGBl. 258/1975. 3 Bundesgesetz über die Organisation der Universitäten und ihre Studien (Universitätsgesetz 2002) sowie Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Universitäten und des Bundesgesetzes über die Organisation der Universitäten der Künste, ausgegeben am 9. August 2002, BGBl. I Nr. 120/2002. 4 Erlaß des Ministers für Cultus und Unterricht im Einvernehmen mit dem Ministerium des Inneren vom 22. April 1902; Erlaß des Ministers für K. u. U. vom 8. Mai 1903, Z15.345, MVB 1903/30, Instruktionen zur medizinischen Rigorosenordnung, in: Leo Beck von Mannagetta/ Carl von Kelle (Hg.), Die österreichischen Universitätsgesetze. Sammlung der für die österreichischen Universitäten gültigen Gesetze, Verordnungen, Erlässe, Studien- und Prüfungsverordnungen usw., Wien: Manz 1906, 896. 5 Bundesgesetz vom 15. Juli 1966 über die Studien an den wissenschaftlichen Hochschulen (Allgemeines Hochschul-Studiengesetz), BGBl. Nr. 177/1966. 6 Bundesgesetz vom 14. Februar 1973 über die Studienrichtung Medizin, BGBl. Nr. 123/1973.

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Die Reform der ärztlichen Ausbildung

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Famulaturen in Spitälern ergänzt. Der Praktikumsanteil wurde 1979 leicht erhöht und erst ab 2001 mit der curricularen Reform deutlich gesteigert.

1945 bis 1960er Jahre: Pflege traditioneller Unterrichtskonzepte Rahmenbedingungen Im Jahr 1945 und zehn Jahre später, 1955, fanden zwei zeitlich unabhängige, aber inhaltlich stimmige Ereignisse statt, welche die medizinische Ausbildung in Wien für die nächsten Jahrzehnte beeinflussten sollten. Anfang Mai 1945 trat die bis 1938 gültige, aus der Habsburgermonarchie stammende Studienordnung Medizin7 gemäß den Bestimmungen des Rechtsüberleitungsgesetzes 19458 wieder in Kraft. Dabei handelte es sich allerdings nicht um die Richtung, die seit Mitte der 1930er Jahre durch mehrfache Reformen eingeschlagen worden war. Denn die von 1902 stammende und 1903 geringfügig adaptierte Studienordnung Medizin war 1935 zur Anpassung der Rigorosenordnung geändert worden9 und dann noch einmal 1937, als die Einführung eines „praktischen Jahres“ beschlossen wurde. Diese letzte Novelle10 trat wegen des „Anschlusses“ an das Deutsche Reich jedoch nicht mehr in Kraft. Von 1938 bis 1945 wurde nach dem Studienplan des Deutschen Reichs unterrichtet. Wie von Matthias Köhler anhand einer Analyse der Vorlesungsverzeichnisse im Detail ausgeführt wird,11 gab es – abgesehen von politisch motivierten Lehrinhalten – eine Reihe von damals wie heute modernen Themen, teilweise entstanden in der Weimarer Republik. Dazu gehörten ein pharmakologischer Schwerpunkt mit Botanik, Toxikologie und naturgemäßen Heilmethoden mit praktischen Übungen, eine von der allgemeinen Chirurgie getrennt 7 Erlaß des Ministers für Cultus und Unterricht im Einvernehmen mit dem Ministerium des Inneren vom 22. April 1902; Erlaß des Ministers für K. u. U. vom 8. Mai 1903, Z15.345, MVB 1903/30, Instruktionen zur medizinischen Rigorosenordnung, in: Beck von Mannagetta/von Kelle (Hg.), Österreichische Universitätsgesetze, 896. 8 Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945 über die Wiederherstellung des Rechtslebens in Österreich (RechtsÜberleitungsgesetz – R-ÜG), StGBl. 1945/6, § 1–2; Universitäts-Organisationsgesetz, ausgegeben am 13. Mai 1975, BGBl. Nr. 258/1975. 9 Damals entfielen die allgemeine Biologie als obligates Haupt- und Prüfungsfach beim ersten Rigorosum sowie die allgemeine und experimentelle Pathologie beim zweiten Rigorosum. Vgl. Verordnung des mit der Leitung des Bundesministeriums für Unterricht betrauten Bundeskanzlers betreffend die teilweise Abänderung der Verordnung vom 14. April 1903, RGBl Nr. 102 (medizinische Rigorosenordnung), BGBl 1935/329. 10 Medizinische Rigorosenordnung, 1937, 412, zit. n. Matthias Köhler, Das Medizinstudium im Nationalsozialismus. Änderungen in Studienplan und Lehrveranstaltungsangebot an der Universität Wien, phil. Dipl.-Arb., Wien 2013, 45. 11 Köhler, Das Medizinstudium im Nationalsozialismus, 149, 170–171.

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dargestellte Unfallchirurgie und Orthopädie, ein radiologischer Unterricht unter dem Titel „Medizinische Strahlenkunde“, Zahnmedizin, sozialmedizinische Aspekte wie Sozialversicherung und Begutachtung, ärztliche Rechts- und Standeskunde sowie Prävention in Form von Arbeits-, Sport- und Wehrphysiologie. Auch eine Dissertation musste verfasst werden. Man entschied sich 1945 jedoch für die altösterreichische Studienordnung Medizin, die dann bis 1979 in unveränderter Form beibehalten wurde. Denn man wollte sich vom aufoktroyierten deutschen Studienplan befreien und war zudem bestrebt, den leuchtenden Vorbildern der sogenannten Zweiten Wiener Medizinischen Schule nachzueifern. Auch war die österreichische Studienordnung, wie Erna Lesky (1911–1986) ausführte12, noch immer stark geprägt von der im Revolutionsjahr von den Studenten geforderten Lehr- und Lernfreiheit, ein Gegensatz zum in Wien als bürokratisch empfundenen deutschen System. 1955 wurde mit dem Hochschulorganisationsgesetz (HOG, 1955) die notwendig gewordene Definition der universitären Strukturen und Prozesse geschaffen und die traditionelle Ordnung bewusst zementiert. Eine Reform war weder von den Universitäten und anderen Interessenvertretungen wie der Ärztekammer noch von der Regierung erwünscht.13 Paradigmatisch für dieses Denken stellte Richard Meister (1881–1964) als Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Referent der Rektorenkonferenz 1953 fest: „Ein Neubau der Organisation der Hochschulen und ihrer akademischen Behörden erscheint als nicht notwendig.“14

Lerninhalte Das Medizinstudium war in drei Abschnitte gegliedert, im ersten mit den Fächern Physik, Chemie, Anatomie, Histologie und Physiologie als Vorklinik, im zweiten mit den Fächern Pathologie, Pharmakologie und Hygiene sowie im dritten Abschnitt mit den klinischen Fächern und Gerichtsmedizin. Stark betont wurden morphologische Themen, vor allem die Anatomie.15 Dies entsprach der 12 Erna Lesky, Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert, Graz–Köln: Hermann Böhlaus 1965, 125, zit. n. Köhler, Das Medizinstudium im Nationalsozialismus, 153. 13 Richard März, A scientific approach to the reform of a medical curriculum, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 168 (2018) 11, 274–279. 14 Richard Meister, Die Frage der Hochschulreform in Österreich von den geschichtlichen und zeitbedingten Voraussetzungen her. Vortrag, gehalten am 19. Juni 1953 vor dem Beratungskreis für Fragen der Hochschulreform der Wiener Katholischen Akademie, Wien 1953, 9, zit. n. Thomas König, Die Entstehung eines Gesetzes: Österreichische Hochschulpolitik in den 1950er Jahren, in: ÖZG 23 (2012) 23, 57–82. 15 Daniela Angetter, „Die Tiefen der Medizin bleiben also denjenigen verborgen, die die Naturwissenschaft nicht kennen“. Studienordnungen, Universitätsreformen und Fragen nach

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seit dem späten 18. Jahrhundert und dann in der sogenannten Zweiten Wiener Medizinischen Schule intensiv gepflegten Tradition, klinische Befunde mit der Anatomie zu korrelieren. Die Macht dieser Tradition, festgeschrieben in der Studienordnung von 1903, bestimmte das Studium bis 1979 und danach indirekt bis zur Jahrtausendwende. Dazu ist in der Medizin, in der seit jeher Traditionen durch steile Hierarchien und familienähnliche Lehrer-Schüler-Bindungen gepflegt werden, der damals generelle gesellschaftliche Konsens zur Wichtigkeit einer humanistischen und philosophischen Bildung zu berücksichtigen. Zum Ausdruck kam dies in einer betonten Pflege der lateinischen Sprache – bis in die 1950er Jahre gab es Primarärzte, die ihre klinischen Visiten zeitweise in Latein abhielten – und den Nachwirkungen eines im 19. Jahrhundert einige Zeit lang im ersten Semester abgehaltenen Philosophicums. Noch heute ist eine Zusatzprüfung Latein mit Grammatik- und Vokabeltest vor Abschluss des ersten Studienabschnitts verpflichtend zu absolvieren, falls es nicht ausreichend im Gymnasium unterrichtet worden ist.16

Medizindidaktik Die dominierende Unterrichtsform war die Vorlesung, persönlich abgehalten vom jeweiligen Ordinarius. Hier wurden Lehrmeinungen – im ursprünglichen Sinn dieses Wortes – vermittelt. Die Inhalte der Vorlesung waren nicht nur theoretisch, denn wer als Hochschullehrer anerkannt sein wollte, musste physikalische oder chemische Versuche demonstrieren, anatomische oder pathologische Präparate in diesem Rahmen sezieren. Auch die Vorstellung von PatientInnen, das Zeigen einfacher klinischer Untersuchungen oder chirurgischer Eingriffe wie einer Tracheostomie gehörten zum Alltag des Lehrbetriebs, der in den dafür mit steilen Sitzreihen und Hygieneeinrichtungen ausgestatteten Hörsälen stattfand. Durch die Struktur der Doppelkliniken des Alten AKH wetteiferten die Professoren um große Hörerzahlen, und auch die übrigen akademischen Lehrer waren bemüht, sich durch einen guten Besuch ihrer „Dozentenvorlesungen“ einen akademischen Ruf zu erwerben. Während in den ersten beiden Studienabschnitten nach einem Lehrplan strukturiert unterrichtet wurde, wurde im dritten Abschnitt die gelebte Praxis an einer Klinik simuliert – man würde es heute Apprenticeship-Learning bezeichnen – d. h. die Auswahl dem Wert eines geistes- und naturwissenschaftlichen Grundlagenwissens für das Medizinstudium, in: Daniela Angetter u. a. (Hg.) Strukturen und Netzwerke. Medizin und Wissenschaft in Wien 1848–1955, Göttingen: V&R unipress 2018, 156–178, 176–177. 16 Zusatzprüfung Latein, URL: https://www.meduniwien.ac.at/web/studium-weiterbildung/an meldung-zulassung/diplomstudien-human-und-zahnmedizin/zusatzpruefungen/zusatzpru efung-latein/ (abgerufen am 24. 9. 2021).

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der unterrichteten Krankheitsbilder hing davon ab, welche PatientInnen gerade stationär aufgenommen waren. Der Anästhesist Franz X. Lackner erinnert sich, dass während seiner klinischen Studienzeit in den Jahren 1958 bis 1963 in den Fächern Innere Medizin und Psychiatrie PatientInnen in ihren Betten in den Hörsaal gebracht, dort untersucht und exploriert wurden. Damit lag ein Schwerpunkt des Unterrichts auf der Arzt-Patienten-Beziehung, sodass dieses ganz zentrale Lernziel jedes Medizinstudiums auf diese Weise erreicht werden konnte. Die Patientendemonstrationen mussten von einem meist für ein Semester nur für diese Aufgabe abgestellten sogenannten Vorlesungsassistenten minutiös vorbereitet werden, damit die Präsentation lehrbuchmäßig ablief und die Studierenden den Prüfungsstoff in ihren Mitschriften systematisch erfassen konnten. Zum Vorlesungsassistenten ernannt zu werden, bedeutete in der Regel, durch die Nähe zum Chef an seiner großen Erfahrung teilhaben zu dürfen und daher einen Karrieresprung vor sich zu haben, konnte aber, falls man die Erwartungen nicht erfüllte, rasch in der vorzeitigen Entlassung aus dieser Funktion enden. Auch die Rigorosumsprüfungen bestanden aus einem praktischen und einem theoretischen Teil, nämlich zuerst der Befragung und Untersuchung einer Patientin oder eines Patienten auf der Station, dann der Vorstellung und Interpretation dieses „Falles“, gefolgt von Theoriefragen. Eine Anonymisierung (wie durch Augenbinden) gab es, indem die Namenstafeln am Kopfende entfernt wurden.17 Insgesamt bot das Medizinstudium eine Vielfalt freier Gestaltungsmöglichkeiten oder anders formuliert: Den Charakter der „Verschulung“ gab es nicht. Sofern die Studierenden interessiert und die Professoren engagiert waren, funktionierte diese Form der Ausbildung gut, vor allem bei den beiden Internisten Ernst Lauda (1892–1963) und Karl Fellinger (1904–2000). In Erinnerung bleibende Vorlesungen wie die des Chirurgen Burghard Breitner (1884–1956) in Innsbruck, der vor seinem Medizinstudium als Dramaturg gearbeitet hatte und in seiner Vorlesung für sein Schauspiel Applaus erntete, gab es in Wien nur wenige, dazu gehörten die des Psychiaters Hans Hoff (1897–1969). Praktika gab es hauptsächlich an der Anatomie mit dem Knochenkolloquium und zwei langen Sezierkursen, dann in Histologie und in geringerem Ausmaß in Chemie und Physiologie, danach wieder mit starker Betonung auf das Sezieren in der Pathologie und im dritten Studienabschnitt in den sogenannten kleinen Fächern wie HNO und Augenheilkunde. Klinisch-praktische Erfahrungen wurden in verschiedenen Krankenhäusern als freiwillige Famulatur erworben. Ihre Effizienz hing stark von der individuellen Motivation der Beteiligten ab, ein Faktum, das sich bis in die 1990er Jahre nachweisen ließ.18 Arnulf Frisch (1926– 17 Auskunft per E-Mail von Franz X. Lackner am 6. 11. 2020 sowie am 7. 11. 2020, Aufzeichnung bei der Autorin. 18 Interview mit Richard März, geführt am 19. 11. 2020, Aufzeichnungen bei der Autorin.

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2018) sagt über diese Zeit, „es war für den Studenten völlig selbstverständlich, alles daranzusetzen, möglichst frühzeitig und möglichst lange während der Ferien famulieren zu dürfen“.19 Diese Form des Lernens passte gut zum damaligen Zeitgeist mit dem Verständnis der medizinischen Tätigkeit als Berufung. Als Lehrmittel waren neben den klassischen anatomischen Präparaten auch in Wien vor allem in den 1920er Jahren erstellte Lehrfilme vorhanden. Exemplarisch seien hier Lehrfilme von Operationen bei Lungentuberkulose und am Thorax, angefertigt im Wilhelminenspital,20 sowie neun zwischen 1922 und 1923 produzierte Lehrfilme von Friedrich Dimmer (1855–1926) über verschiedene Augenoperationen,21 aber auch Lehrfilme, die unter dem Gynäkologen Wilhelm Weibel (1876–1945), dem Chirurgen Anton Freiherr von Eiselsberg (1860–1939), dem Orthopäden Adolf Lorenz (1854–1946) und dem Unfallchirurgen Lorenz Böhler (1885–1973) entstanden sind, genannt.22 Einige Institute, vor allem das für Pathologie, verfügten auch über Museen, in denen meist außergewöhnliche Präparate als Anschauungsmaterial zu Lernzwecken gesammelt wurden, dazu gehörten vor allem Moulagen. Üblicherweise wurden solche Sammlungen als Ergänzung zum regulären Unterricht herangezogen. Theodor Henning (1897–1946), der das Wiener Institut für Moulagen und Gesichtsprothesen führte, hatte 1939 seine letzte Moulage angefertigt, und die Integration von Sammlungen in den medizinischen Unterricht ging seit dieser Zeit allmählich zurück.23 Weiters wurden Lehrbücher geschrieben. Dazu gehörten die von Ernst Lauda24 und Karl Fellinger25 herausgegebenen mehrbändigen Bücher über Innere Medizin. Vor allem Lauda konnte mit seinem ernsthaften Interesse an der ärztlichen Ausbildung seine Schüler inspirieren, sodass an der I. Medizinischen Universi19 Arnulf Fritsch, Das Ende der Gesamtchirurgie, in: Karl H. Spitzy/Inge Lau (Hg.), Van Swietens Erbe. Die Wiener Medizinische Schule heute in Selbstdarstellungen, Wien: Verlag Wilhelm Maudrich 1982, 103–108. 20 Frank Krogmann, Walzel von Wiesentreu (Valcel-Viesentreu) Peter (Petr), in: Österreichisches Biografisches Lexikon ab 1815 (ÖBL), 2. überarb. Aufl., online, URL: https://www.biogra phien.ac.at/oebl/oebl_W/Walzel-Wiesentreu_Peter_1882_1937.xml (abgerufen am 24. 9. 2021). 21 Frank Krogmann, Friedrich Dimmer, in: ÖBL ab 1815, URL: https://www.biographien.ac.a t/oebl/oebl_D/oebl_D_2/Dimmer_Friedrich_1855_1926.xml (abgerufen am 24. 9. 2021). 22 Katrin Pilz, Lorenz Böhlers Filme zur Unfallmedizin und Orthopädie. Debatten um Operationstechniken, Therapieformen, Konkurrenz und transnationale Wissensvermittlung, in: Angetter u. a. (Hg.), Strukturen und Netzwerke, 736–761, 741–742. 23 Johanna Emmerling, Die Geschichte der Moulagensammlung der Hautklinik Erlangen, phil. Diss., Nürnberg 2013, 58. 24 Ernst Lauda, Lehrbuch der inneren Medizin, 3 Bde., Wien: Springer-Verlag 1949–1951, https://www.springer.com/de/book/9783662372944. 25 Karl Fellinger u. a. (Hg.), Lehrbuch der Inneren Medizin, 2 Bde., Wien: Urban & Schwarzenberg 1951.

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tätsklinik die Lehrtätigkeit nachhaltig verankert war, später (bis Ende der 1980er Jahre) getragen von Erwin Deutsch (1917–1992), Karl Hermann Spitzy (1915– 2013), Kurt Moser (1925–2018) und einigen anderen, noch später von Wolfgang Graninger (geb. 1948). Bekannt ist auch der von Eduard Pernkopf (1888–1955) verfasste Atlas Topographische Anatomie des Menschen. Atlas der regionärstratigraphischen Präparation. Sowohl durch die Präparationstechnik Pernkopfs als auch die grafisch-künstlerische Gestaltung sind die Abbildungen dieses Werks bis heute von höchster Qualität, jedoch wurde bereits unmittelbar nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich moniert, dass hier NS-Opfer für die Anfertigung der Zeichnungen missbraucht worden waren.26 In dem ab 1997 an der Universität Wien durchgeführten Senatsprojekt Untersuchungen zur Anatomischen Wissenschaft in Wien 1938–1945 konnten diese Vermutungen bestätigt werden.27

1960er bis 1980er Jahre: Eine kleine Reform trägt der Massenuniversität Rechnung Rahmenbedingungen Ab den 1960er Jahren zeigte sich, dass das Medizinstudium in seiner starr an den Traditionen und Vorbildern der sogenannten Zweiten Wiener Medizinischen Schule festhaltenden Form die Grenzen erreicht hatte. Georg Geyer (1922–2013), Vorstand der II. Medizinischen Universitätsklinik, sagte dazu 1982, es „hat sich in Wien die Art des Lehrbetriebes im Verlaufe des letzten Vierteljahrhunderts nicht wesentlich verändert. Die dominierende Veranstaltung des Lehrbetriebes ist immer noch die ‚klinische Hauptvorlesung‘, in welcher die Wissensvermittlung durch ‚frontalen‘ Unterricht erfolgt. Offenbar ist diese Art von Wissensvermittlung unter den Studenten nicht mehr sehr gefragt und wird für nicht sehr effizient gehalten. Nur ein Bruchteil der Inskribierten (wenige Prozente!) besucht diese Vorlesung regelmäßig.“28

Dazu war man mit einer deutlichen Zunahme der Studierendenzahl konfrontiert. Um das Angebot an Studienplätzen zu vergrößern, wurde zwar im Allgemeinen

26 Z. B. Reinhard Putz/Reinhard Pabst (Hg.), Sobotta Atlas of Human Anatomy, 2 Bde., 12. Aufl., Baltimore: Williams & Wilkins 1997. 27 Gustav Spann, Untersuchungen zur anatomischen Wissenschaft in Wien 1938–1945. Senatsprojekt der Universität Wien, Wien: Universität Wien 1998; Daniela Claudia Angetter, Anatomical Science at University of Vienna 1938–45, in: The Lancet 355 (2000) 9213, 1454–1457. 28 Georg Geyer, Die Ökonomie der manuellen Befunderhebung, in: Spitzy/Lau (Hg.), Van Swietens Erbe, 13–20.

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Hochschulstudiengesetz (AHSTG, 1966)29 die Wiedererrichtung einer Medizinischen Fakultät an der Universität Salzburg verankert, der Bau der nötigen vorklinischen Institute scheiterte jedoch an den nötigen Finanzmitteln. Es gab auch, allerdings nur unausgereifte und nicht belegte, Überlegungen, eine Medizinische Fakultät im Krankenhaus Lainz zu gründen, die, dem politischen Proporzsystem der damaligen Zeit folgend, als „rote“ Fakultät der Gemeinde Wien ein Gegenpol zur „schwarzen“ Universität des Bundes hätte sein sollen. Ab den 1970er Jahren wurde durch die Generation der Babyboomer die Wiener Medizinische Fakultät geradezu überrollt. In ganz Österreich stieg nun die Zahl der Medizinstudierenden sehr stark an, teilweise um bis zu 18 Prozent jährlich. 1979 studierten rund 14.500 Personen in Österreich Medizin, der überwiegende Teil in Wien. Von jetzt an war das Leben der Studierenden bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts geprägt von den Charakteristika der Massenuniversität, d. h. Warteschlangen, teilweise mit nächtlichem Campieren vor den Instituten in der Währinger Straße, Praktika in zu großen Gruppen und einer weitgehenden Abkopplung der in den Lehrveranstaltungen angebotenen Lerninhalte von den bei den Prüfungen verlangten. Die Regelstudiendauer von zehn Semestern konnte zunächst noch weitgehend eingehalten werden, es kam jedoch bald zu einer kontinuierlich steigenden durchschnittlichen Studiendauer von 14 bis 16 Semestern. Das Platzproblem war eklatant und konnte auch durch Umbauarbeiten, die schon in den 1950er Jahren eingesetzt hatten, nicht behoben werden.30 Dies bedingte nicht nur ein sinkendes Renommee der Wiener Medizinischen Fakultät im internationalen Vergleich, sondern auch eine Drop-outRate der Studierenden von bis zu 50 Prozent.31 Als man mit dem Studiengesetz Medizin 197332 gegenzusteuern versuchte und die für die Umsetzung nötige Studienordnung Medizin 197833 ein Jahr später, nämlich 1979, in Kraft trat, hatte der Ansturm der Babyboomer die Universität längst erreicht. Angesichts dessen wurde das neue Gesetz an den Medizinischen Fakultäten begrüßt und auch ein Diskussionsprozess in Gang gesetzt. So wurden einige Jahre später im Zuge einer Umfrage von AbsolventInnen der Medizinischen Fakultäten in Österreich das ungleiche Verhältnis von theoretischer und praktischer Ausbildung sowie die mangelnde Prüfungsvorbereitung negativ 29 Martin Lischka, Zur Bedeutung des IAE für die Studienreformdiskussion in Österreich, in: Peter Saladin/Hans Jörg Schaufelberger/Peter Schläppi (Hg.), „Medizin“ für die Medizin. Arzt und Ärztin zwischen Wissenschaft und Praxis (Festschrift für Hannes G. Pauli), Basel–Frankf. a. M.: Helbing & Lichtenhahn 1989, 161–170, 161. 30 Tilman J. Elliger, Die Medizinerausbildung in Österreich. Analyse eines Studienganges in seinem historischen und sozialen Kontext, München: Profil Verlag 1986, 69–72. 31 Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), Die Reform des Medizinstudiums. Unterlagen zur Vorbegutachtung 1990, Wien 1990, 8. 32 Elliger, Die Medizinerausbildung, 36. 33 Studienordnung für die Studienrichtung Medizin, BGBL. Nr. 156/1978.

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beurteilt.34 Die von der Ärztekammer monierte Beschränkung der Studienplätze für MedizinstudentInnen wurde im Rahmen der oben angeführten Umfrage abgelehnt. Nichts an Aktualität eingebüßt hatte die bereits im 19. Jahrhundert jahrzehntelang geführte Diskussion, ob der Mediziner/die Medizinerin die Universität als Fachkraft verlassen sollte, ausgerüstet mit all den Fähigkeiten, die zur Berufsausübung benötigt werden, oder akademisch gebildet und nur mit der Kenntnis ausgestattet, wie man sich praktisches Wissen selbst aneignet.35 Eine gewisse erste Reformbereitschaft war ab den 1960er Jahren spürbar.36 Im AHSTG 1966 wurde nun auf die Grundsatzfrage eingegangen, ob der Zweck eines Studiums die wissenschaftliche Ausbildung oder die Berufsausbildung sein sollte, und dafür im I. Abschnitt § 1 (2) der Begriff „Berufsvorbildung“ eingeführt.37 Dazu hieß es im § 1 des Studiengesetzes Medizin von 1973: „Die Studienrichtung Medizin ist im Sinne der Grundsätze und Ziele des Allgemeinen Hochschul-Studiengesetzes, BGBl. Nr. 177/1966 zur Entwicklung der medizinischen Wissenschaften, zum Zwecke der wissenschaftlichen Ausbildung für den ärztlichen Beruf sowie der Vorbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu gestalten.“38

In dieser Studienreform wollte man, wie es Martin Lischka formulierte, ein Studium einrichten, das auf die nachfolgende berufliche Tätigkeit ausgerichtet ist, also eine möglichst breite wissenschaftliche Berufsausbildung vermitteln, „die aber ausdrücklich getrennt von der nachfolgenden praktischen Ausbildung konzipiert wurde“.39 Die Änderung der Verwaltungsstrukturen und der lokalen Entscheidungsprozesse – es musste gemäß UOG an jeder Medizinischen Fakultät eine paritätisch zusammengesetzte Studienkommission eingerichtet werden – wurde nur zögerlich und kritisch aufgenommen. Die Gestaltungsmöglichkeiten an den

34 Jürgen M. Pelikan u. a., Medizinstudenten in Österreich – Absolventenbefragung. Soziale Rekrutierung, Studienverlauf, Beurteilung des Studiums und verschiedener Reformalternativen, Einstellungen zur Medizin, zum Patienten und zur Gesundheitspolitik, Ausbildungs- und Berufspläne. Endbericht, Wien: Österreichische Gesellschaft für Medizinsoziologie in Zusammenarbeit mit dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Medizinsoziologie 1983, I-7-1-10. 35 Erna Lesky, Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert (Studien zur Geschichte der Universität Wien 6), Graz–Köln: Böhlau 1965, 301. 36 Elliger, Die Medizinerausbildung, 34–35. 37 Bundesgesetz vom 15. Juli 1966 über die Studien an den wissenschaftlichen Hochschulen (Allgemeines Hochschul-Studiengesetz), BGBl. Nr. 177/1966. 38 Bundesgesetz vom 14. Februar 1973 über die Studienrichtung Medizin, BGBl. Nr. 123/1973. 39 Martin Lischka, Ärzte-Aus-Bildung: Wir brauchen einen strukturellen Neubeginn, in: Franz Haslinger (Hg.), Arztbild von morgen (Kongressband 35. Internationales Karwochenseminar, 24. bis 29. 3. 1991, Grünau/Almtal), Wien: Internationale Mediziner Arbeitsgemeinschaft Österreich 1991, 49–59, 50. Vgl. Elliger, Die Medizinerausbildung, 39.

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Universitäten waren weiterhin begrenzt, da sie Bundeseinrichtungen blieben, wenngleich mit einem autonomen und einem übertragenen Wirkungsbereich.40 Trotz der Bedingungen der Massenuniversität gelang mit dem Studiengesetz und der Studienordnung Medizin der 1970er Jahre eine erste, wenn auch insgesamt bescheidene Trendwende.41

Lerninhalte In dem nun ein Jahr länger, nämlich zwölf Semester dauernden Studium wurden neue Fachgebiete eingeführt, vor allem Medizinische Psychologie und Radiologie mit Strahlenschutz. Große Fachbereiche wie Neurologie und Psychiatrie oder Pathologie und Pathophysiologie wurden ab nun getrennt unterrichtet. Die Spezialisierung in der Medizin war jahrelang unterdrückt worden und verlief daher um die 1970er Jahre disruptiv. Es gab jetzt über 100 ProfessorInnen, deren Fächer nicht ausreichend in der Lehre abgebildet waren, und man war auf der Suche nach Lösungen. Einzelne führten das tradierte Modell der Vorlesung persönlich und teils aufopfernd weiter wie Erwin Deutsch, der sagte: „Man muß sich eben für den Gedanken der Einheit der Inneren Medizin entsprechend stark machen und darf nicht zu irgendwelchen Konzessionen bereit sein. So lange ich noch existiere, werde ich das zu tun trachten.“42

Deutsch, selbst ausgebildeter Radiologe und Labormediziner, brachte auch diese technischen Fächer in seinen Unterricht ein. Die meisten Vorlesungen wurden unter Spezialisten aufgeteilt, was eine Aufsplitterung der Lerninhalte und eine „Aufblähung“ des Lernstoffs zur Folge hatte – ein Faktum, vor dem viele seit Jahren gewarnt hatten. Nach wie vor wurde die Lehrtätigkeit neben Klinik und Forschung ausgeübt, sodass es eine Tatsache war, „daß Angehörige des medizinischen Lehrkörpers […] weit weniger Zeit für die Studenten aufwenden können als Angehörige anderer Fakultäten. Daraus ergibt sich, daß die medizinischen Fakultäten im Effekt an Lehrpersonal schlechter ausgestattet sind als die übrigen [Fakultäten].“43

40 Thomas Maisel, Universitas semper reformanda. Universitätsreformen vom späten 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert 1849–2004, URL: https://geschichte.univie.ac.at/de/themen/uni versitas-semper-reformanda (abgerufen am 24. 9. 2021). 41 Verordnung: Studienordnung für die Studienrichtung Medizin, ausgegeben am 14. September 1978, BGBl. Nr. 473/1978. 42 Erwin Deutsch-Kempny, Wie das UOG ein Planbild zerstörte, in: Spitzy/Lau (Hg.), Van Swietens Erbe, 7–12. 43 Zit. n. Elliger, Die Medizinerausbildung, 69.

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Medizindidaktik Neu war das Konzept, dass es für jedes Fach ein verpflichtendes Praktikum geben sollte, was größtenteils umgesetzt wurde. Auch eine 16-wöchige Pflichtfamulatur wurde eingeführt. Der Prüfungsmodus bestand weiterhin aus Einzelprüfungen, weil es für die Studierenden einfacher wäre, sich beim Lernen auf jeweils ein Fach zu konzentrieren. Neu waren auch eine verpflichtende wissenschaftliche Wahlfachausbildung und die Möglichkeit einer freiwilligen Dissertation (die von engagierten Studierenden gelegentlich wahrgenommen wurde).44 Die Mehrzahl der didaktischen Maßnahmen war allerdings darauf ausgerichtet, die Nachteile der Massenuniversität abzufangen. Gemäß der Studienordnung Medizin wurde vor allem an der Anatomie begonnen, mit Tests die Qualität des Unterrichts zu erhalten. „Mit der Einführung einer Aufnahmsprüfung in den Sezierkurs im Jahre 1972 wurde den Studenten eine interne Hürde in den Weg gelegt. Bestand man die Prüfung nicht, musste man entweder das Studium abbrechen oder so lange die Prüfung versuchen, bis man sie erfolgreich abgeschlossen hatte. Mittels Multiple-Choice-Tests gelang es später, eine große Anzahl an Studenten gleichzeitig zu prüfen. Diesbezüglich wurde von den Professoren eine Bestätigung verlangt, dass sie das Multiple-Choice-Testverfahren bewältigen können.“45

Mit sehr modernen medizindidaktischen Maßnahmen versuchte man, das Studium individueller zu gestalten, konkret Lerninhalte, die sich aus Büchern problemlos aneignen ließen, im Unterricht zu straffen, von den Studierenden mehr Eigeninitiative während des Lernprozesses zu erwarten, sodass sich die Rolle der Lehrenden von reinen Vortragenden zu Unterstützenden beim Lernprozess zu wandeln begann. Um gerade Erstsemestrige zu fördern, ihnen den Einstieg in das Medizinstudium zu erleichtern und ihnen das „Erlernen des Lernens“ beizubringen, wurden Tutorien eingerichtet. In diversen Veranstaltungen und Kleingruppengesprächen gaben höhersemestrige Studierende Tipps, damit sich StudienanfängerInnen rascher im Studienalltag zurechtfanden.46 Ausländische curriculare Designs, wie das in Maastricht während dieser Zeit entwickelte Progress-Testing, scheinen allerdings an der Wiener Medizinischen

44 Lischka, Ärzte-Aus-Bildung, 50–51, 53; Medizinische Fakultät der Universität Wien (Hg.), Das neue Wiener Curriculum Modell, Wien o. J., 1–23, 3–4; Elliger, Die Medizinerausbildung, 39– 42. 45 Telefonisches Interview mit Martin Lischka, geführt am 3. 11. 2020, Aufzeichnungen bei der Autorin. 46 Österreichische Mediathek, audiovisuelles Archiv – Technisches Museum Wien, Von Tag zu Tag – Situation der Medizinstudenten heute, Interview mit Martin Lischka, Kompaktkassette, 30 Min., Wien 1979, 00:00–00:12:40 Min.

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Fakultät nicht thematisiert worden zu sein.47 Lehrbücher wurden nur vereinzelt verfasst, dazu gehörten ein kleines, wegen seiner grafischen Gestaltung gern angenommenes EKG-Lehrbuch und die Übersetzung eines amerikanischen Physiologiebuchs.48 Einige Professoren beschäftigten sich mit der Nutzung neuer Medien. Einer der Ersten war der Anatom Werner Platzer (1929–2017), der in den 1960er Jahren für die Sezierkurse mit Unterstützung des Unterrichtsministeriums professionell gestaltete Lehrfilme erstellte, unter anderem mit Schauspielern des Burgtheaters als Sprechern.49 Der Internist Erwin Deutsch stattete seinen Hörsaal an der I. Medizinischen Universitätsklinik mit Kameras und Monitoren aus, damit die Studierenden „hautnah“ die Erzählungen der PatientInnen sowie die klinischen Untersuchungstechniken erleben konnten. Um die mit der damaligen Technologie auftretenden Totalreflexionen des Lichts der starken Operationsleuchten zu vermeiden, trat er in der grünen Arbeitskleidung der OP-Bereiche und Intensivstationen auf und leitete somit die allmähliche Abkehr vom weißen Mantel als traditionellem und symbolbehaftetem Kleidungsstück der ÄrztInnen ein. In diesem neuen Umfeld des Einsatzes technischer Innovationen entstand auch die von Karl Fellinger, dem Vorstand der II. Medizinischen Universitätsklinik, moderierte populärwissenschaftliche, im ORF ausgestrahlte Fernsehserie Der gläserne Mensch.50 Auf Initiative des Internisten Karl Hermann Spitzy wurde ein Konzept eines Hörsaalzentrums im Neuen AKH mit einem – allerdings nie genutzten – Fernsehstudio entwickelt.

47 René A. Tio u. a., The progress test of medicine: the Dutch experience, in: Perspectives on Medical Education 5 (2016) 1, 51–55. 48 Friedrich Kaindl/Paul Kühn, Elektrokomikographie, 1. Aufl., Wien: Egermann-Verlag 1969; William Francis Ganong, übers. und unter Mitarbeit von Wilhelm Auerswald/Bernd Binder/ Johann Mlczoch, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, 4. Aufl., Berlin: Springer-Verlag 1979. 49 Festabend: 175 Jahre Gesellschaft der Ärzte in Wien. Medizin in Bild & Film: Moderner Film trifft auf filmische Pionierarbeiten in der Medizin, URL: https://www.billrothhaus.at/inde x.php?option=com_content&task=view&id=350&Itemid=1&func_com=1 (abgerufen am 24. 9. 2021). 50 Werner E. Gerabek, Fellinger Karl, in: ÖBL ab 1815, URL: https://www.biographien.ac.at/oebl /oebl_F/Fellinger_Karl_1904_2000.xml (abgerufen am 24. 9. 2021).

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1990er Jahre bis 2004: Das Medizincurriculum Wien (MCW) Rahmenbedingungen Die Rahmenbedingungen änderten sich ab nun aufgrund mehrerer Entwicklungen signifikant, und es ist einer sich ab Mitte der 1990er Jahre bildenden Gruppe von Reformern anzurechnen, dass die dadurch entstehenden Chancen voll ausgenutzt wurden, um mit dem im internationalen Vergleich – wenn man das damals gebräuchliche SPICES-Modell nach Harden51 (student-centered, problem-based, integrated, community-based, elective-oriented, systematic) heranzieht – sehr innovativen Medizincurriculum Wien (MCW) das alte, in die Jahre gekommene Medizinstudium abzulösen. Eine Arbeitsgruppe aus Maastricht (NL)52 schrieb dazu, dass nach einer langen, reformhemmenden Einschränkung der universitären Autonomie gesetzliche Lockerungen für Veränderungsprozesse nicht ausreichen, sondern ein hohes Reformbedürfnis, verantwortungsvolle Führungspersönlichkeiten und visionäre „Change Agents“ ebenfalls vorhanden sein müssen. Durch den 1995 erfolgten EU-Beitritt Österreichs waren nicht nur EU-Richtlinien zu beachten, wie die damit notwendig gewordene Teilung des bisherigen Medizinstudiums in die Studienrichtungen Human- und Zahnmedizin, sondern man wurde auch Teil des europäischen Hochschulraums, in dem der BolognaProzess53 inklusive der Anrechenbarkeit der Lehrveranstaltungen definiert wird und die Teilnahme am Erasmus- und an zahlreichen anderen Austauschprogrammen möglich ist. Kurz vorher gab es noch eine Reform des Universitätsorganisationsgesetzes im Jahr 199354, mit der die Universitäten mehr Freiheiten, wenngleich noch keine volle Rechtsfähigkeit erhielten und die Position einer Studiendekanin/eines Studiendekans eingeführt wurde. Die Amtsinhaber bis zur Neugründung der Medizinischen Universität Wien, Astrid Kafka-Lützow (1937–2018) und Kurt Kletter (geb. 1945), engagierten sich stark in der Studienreform. Mit dem Universitätsstudiengesetz 199755 war erstmals eine Gestaltung der Studienpläne 51 Ronald M. Harden/Susette Sowden/W. R. Dunn, Educational strategies in curriculum development: the SPICES model, in: Medical Education 18 (1984) 4, 284–297. 52 Marielle Jippes u. a., Impact of national context and culture on curriculum change: A case study, in: Medical Teacher 35 (2013) 8, 661–670. 53 Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Der Europäische Hochschulraum – Bologna-Prozess, URL: https://www.oesterreich.gv.at/themen/bildung_und_neue_m edien/universitaet/Seite.160125.html (abgerufen am 24. 9. 2021). 54 Bundesgesetz über die Organisation der Universitäten (UOG 1993), ausgegeben am 1. Oktober 1994, BGBl. Nr. 805/1993. 55 Bundesgesetz, mit dem das Universitäts-Studiengesetz geändert wird, ausgegeben am 27. Februar 1998, BGBl. Nr. 38/1998.

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durch die Universitäten selbst möglich, sodass nun auch das Medizinstudium in ein Diplom- und in Doktoratsstudien gegliedert wurde.56 Das umfangreiche Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebot inkludiert mittlerweile Doktorats- und PhD-Programme, Masterstudiengänge, medizinische Informatik sowie eine Reihe postgradualer Universitätslehrgänge.57 Für die Neuordnung der Lehre in Wien bedeutsam war die Übersiedelung der Kliniken vom Alten ins Neue AKH in den Jahren 1993 bis 1995, die mit einer grundlegenden Neustrukturierung der klinischen Organisation verbunden war. Die Doppelkliniken wurden zusammengeführt und zentrale Einrichtungen neu geschaffen wie die Notfallmedizin, ein Operationstrakt und für die Lehre das Institut für medizinische Aus- und Weiterbildung (IMAW). Dessen erster Leiter, Martin Lischka, etablierte die sich allmählich als neue Disziplin entwickelnde Medizindidaktik in Wien. 1995 fand die erste österreichische medizindidaktische Fachtagung in Graz, die „Grazer Konferenz“, statt.58 Medizindidaktische Kongresse werden seither jährlich in Österreich abgehalten, bald entstand eine enge Kooperation mit der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA), in der auch eine österreichische Sektion gegründet wurde, und mit der Association for Medical Education in Europe (AMEE), deren Jahreskongress 2019 in Wien abgehalten wurde. Sehr bald wurde auch der Kontakt zur Österreichischen Ärztekammer gesucht, und dieser wird seither von den jeweils zuständigen universitären Gremien zur Abstimmung der prä- und postgraduellen Lehre weiter gepflegt. Innerhalb der Studienkommission, geleitet vom Histologen Rudolf Mallinger (geb. 1956), und einer assoziierten Arbeitsgruppe Medizincurriculum Wien (MCW)59 begann ab 1997 ein großer Reformprozess, der vom jungen Dekan Wolfgang Schütz (geb. 1948), dem Herausgeber dieses Sammelbandes, maßgeblich unterstützt wurde. Im Studienjahr 2001/2002 wurde mit einem Probebetrieb, dem MCW150, mit 150 freiwilligen Studierenden begonnen. Im darauffolgenden Studienjahr 2002/2003 begann der Vollbetrieb, und die erste Phase der Entwicklung des neuen Curriculums war abgeschlossen. Ab 2004, nach der Neugründung der Medizinischen Universität Wien, wurden die Reformer der 1990er Jahre teilweise von neuen, mehr operativ agierenden Teams abgelöst, so jenem um Kurt Kletter in dessen Funktion als Curriculumdirektor für Humanmedizin – diese neue Position war aus der des Studiendekans hervorgegangen. 56 Richard März u. a., Ein neuer Stundenplan für die Wiener Medizinische Fakultät: Erstellung eines Qualifikationsprofils als erster Schritt, in: Medizinische Ausbildung 18 (2002), 38–39, URL: https://wiev1.orf.at/stories/231320 (abgerufen am 24. 9. 2021). 57 Medizinische Universität Wien (MedUni Wien), Allgemeine Infos, URL: https://www.mawz.a t/medizinische-universitaet-wien-meduni-wien/ (abgerufen am 24. 9. 2021). 58 Grazer Konferenz, URL: https://grazconference.at/ (abgerufen am 24. 9. 2021). 59 Die Projektgruppe MCW: Mitglieder und ihre Kompetenzen, in: MCW-NewsLetter 1 (1998), 3.

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Wichtig war, dass der Studienbetrieb aus den Strukturen des AKH formal herausgelöst und in einer Art „Medical School“ dem Rektorat unterstellt wurde. Das Lehrpersonal ist nun für klar beschriebene Funktionen und in einem vereinbarten zeitlichen Ausmaß dem Unterricht zugeordnet. Ergänzend wurden an einigen Kliniken Abteilungen für Lehre und Medizindidaktik eingerichtet, und es zeigte sich, dass in diesen Fächern überaus effizient das neue Unterrichtskonzept unterstützt wurde.60 Noch nicht gelöst werden konnte das Problem der Massenuniversität, denn ein geregeltes Aufnahmeverfahren wurde in Österreich erst im Jahr 2006 eingeführt. Erst dann konnte die Drop-out-Rate von 50 auf etwa zehn Prozent gesenkt werden. Unabhängig davon wurden in einer prospektiven Studie als Erfolgsfaktoren das männliche Geschlecht, Deutsch als Muttersprache und ein guter Schulerfolg vor dem Studium, daraus abgeleitet auch die persönliche Reife und die intrinsische Motivation identifiziert.61 Eine Zeitzeugin beschrieb die Situation folgendermaßen: „Die ersten Lehrveranstaltungen im ersten Abschnitt waren völlig überlaufen. Wir sind in den Vorlesungen auf den Stufen und am Gang gesessen. Die Matrikelnummer hat damals eine Rolle bei der Verteilung der LV62-Plätze gespielt, deshalb haben einige meiner KollegInnen die Nacht vor dem Start der Immatrikulationsfrist vor der Uni verbracht. […] Physik und Chemie waren ganz am Anfang des Studiums und waren extrem schwierig. Multiple Choice Prüfungen mit 4 oder 5 Antwortmöglichkeiten, die sich kaum unterschieden haben. Die Durchfallquote war riesig. […] Bis auf wenige Ausnahmen war der ganze erste Abschnitt darauf ausgelegt, so anstrengend wie möglich zu sein. […] Nach den großen Drop-Out-Prüfungen war in den Hörsälen auf einmal jede Menge Platz.“63

Lerninhalte Das ursprüngliche Ziel war, die ganzheitliche Betrachtung des gesunden und kranken Menschen unter Berücksichtigung von Lebensweisen, Umwelt- und Sozialfaktoren mehr in den Vordergrund zu stellen sowie die praktische Aus60 Jakob Lehne/Peter Husslein/Petra Kohlberger, Die Frauenheilkunde in Wien von ihren Anfängen bis in die Jetztzeit, in: Speculum – Zeitschrift für Gynäkologie und Geburtshilfe 37 (2019) 3 (Ausgabe für Österreich), 3–23. 61 Oskar Frischenschlager/Gerald Haidinger/Lukas Mitterauer, Factors associated with academic success at Vienna Medical School: prospective survey, in: Croatian Medical Journal 46 (2005) 1, 58–65. 62 Gemeint sind Lehrveranstaltungsplätze. 63 Gregor Schwayer, Medizin und das Kreuz mit den Aufnahmetests, 3. 10. 2018, URL: https:// www.dasgrad.com/ausgabe/artikel/medizin-und-das-kreuz-mit-den-aufnahmetests/ (abgerufen am 24. 9. 2021).

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Die Reform der ärztlichen Ausbildung

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bildung und den Willen zur Weiterbildung noch mehr zu fördern.64 Die im SPICES-Modell65 nach Harden definierten Kriterien für die Ausrichtung von Medizincurricula wurden in Wien besonders strikt umgesetzt. Man orientierte sich an europäischen Entwicklungen, vor allem an Liverpool und an Amsterdam. Wie an vielen anderen Universitäten bestand das nun entwickelte Curriculum aus einer horizontalen und einer vertikalen Gliederung.66 Neue und starke Akzente setzte man durch die Einführung einer ärztlichen Gesprächsführung, des problemorientierten Lernens (POL), eine Ausweitung des Umfangs der klinischen Untersuchungstechniken und drei systematisch-aufbauende Module zum Erlernen wissenschaftlichen Arbeitens (Special Study Modules, SSMs). Mit ihnen und mit der für das Abfassen der Diplomarbeit eingeplanten Zeit war nun knapp ein ganzes Semester für wissenschaftliche Ausbildung reserviert.67 Mit einem verpflichtenden Ultraschallkurs war die Medizinische Universität Wien weltweit unter den Ersten.68 Neu war auch die Einführung des Fachs Allgemeinmedizin in den Pflichtunterricht, gleichzeitig mit der Neugründung eines gleichnamigen Instituts und Manfred Maier (geb. 1951) als erstem Leiter. Human- und Zahnmedizin waren in drei Abschnitte gegliedert, wobei der erste nur ein Jahr dauert, unter anderem um ZahnmedizinerInnen eine umfassende Ausbildung in ihrer Fachrichtung zu bieten.69 Im zweiten Abschnitt werden die einzelnen Organsysteme als Blöcke und – als sich über das gesamte Semester erstreckende „Lines“ – klinische Untersuchungstechniken unterrichtet.70 Durch diese rasterartige Planung des interdisziplinären Unterrichts kam es zu einer systematischen Abgleichung der Lerninhalte und im Rahmen dieses Prozesses zu einer Reduktion der Morphologie zugunsten einer ganzheitlichen Betrachtung der Medizin. Damit gelang es auch, wichtige interdisziplinäre Themen wie das Schmerzmanagement in der prägraduellen Lehre zu verankern. Der dritte Abschnitt war für den klinischen Unterricht konzipiert und mit zwei Jahren Dauer deutlich länger als international üblich. Insgesamt betrug der Anteil verpflichtender Lehrveranstaltungen 75 Prozent des Gesamtvolumens. Ergänzt wurde es durch 15 Prozent Wahlpflichtelemente und zehn Prozent Freifächer.

64 Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), Die Reform des Medizinstudiums, 48. 65 Harden/Sowden/Dunn, Educational strategies, 284–297. 66 Study-Guide N202, Curriculum der Humanmedizin der Medizinischen Universität Wien, URL: https://studyguide.meduniwien.ac.at/curriculum/n202-2020/?state=0-96163-5939/dipl omstudium-humanmedizin (abgerufen am 24. 9. 2021). 67 März, A scientific approach to the reform of a medical curriculum. 68 Martin Altersberger u. a., Student Perceptions of Instructional Ultrasound Videos as Preparation for a Practical Assessment, in: Ultrasound International Open 5 (2019) 3, E81–E88. 69 Das neue Wiener Curriculum Modell, 5–6. 70 Ebd.

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Daniela Angetter-Pfeiffer / Franz Kainberger

Bald stellte sich heraus, dass die neuen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und die interdisziplinäre Gestaltung zu einem jahrelangen Prozess des Hineinund Zusammenwachsens der jeweils beteiligten Fächer führten. Das Interesse an einem Sezierkurs war groß, weiters wurden Module für klinisches Denken und für apparative Diagnostik71 geschaffen (fallbasiertes Lernen, spezielle diagnostische Fertigkeiten und interdisziplinäre Fallkonferenzen). Ein Meilenstein war die Definition eines Qualifikationsprofils, in dem die großen Zielsetzungen des MCW gebündelt dargestellt waren und mit dem nun ein kompetenzorientiertes Curriculum vorlag.72 Es war gleichzeitig die Basis für eine Reihe moderner edukativer Programme in den folgenden Jahren.73

Medizindidaktik Ausgehend vom Qualifikationsprofil wurden nun die zu erwerbenden Kompetenzen definiert: hinsichtlich des Kompetenzlevels anhand der in ihrer ersten Version vierstufigen Miller-Pyramide74, hinsichtlich der Methodik mit dem Modell der Trias „Knowledge – Skills – Attitudes“, d. h. Wissen wurde in Vorlesungen vermittelt, Fertigkeiten (Skills) in Seminaren und Praktika; ärztliche Haltungen (Attitudes) waren eher implizit integriert. Von externen Beratern des British General Medical Council und aus der Schweiz, vornehmlich vom Institut für Medizinische Lehre (IML) in Bern,75 wurden Lernzielkataloge empfohlen wie der international sehr beachtete Schweizer Lernzielkatalog76. Weiters wurden ab 2005 Logbücher mit Listen der zu erreichenden Kompetenzen für die Famulatur und die klinischen Praktika erstellt.77 Die Logbücher wurden ein zentrales Element des klinischen Prüfens, und dieses Konzept wurde auch von anderen In-

71 Franz Kainberger/Kurt Kletter, Radiologie in einem prägraduellen problembasiert-integrierten Medizincurriculum, in: Rofo 179 (2007) 11, 1137–1144. 72 März u. a., Ein neuer Stundenplan für die Wiener Medizinische Fakultät, 38–39, URL: https:// www.meduniwien.ac.at/web/studium-weiterbildung/diplomstudium-humanmedizin/studie nziel-qualifikationsprofil/ (abgerufen am 24. 9. 2021). 73 Angelika Hofhansl u. a., „To be a good doctor“: Wie werden Medizinstudierende auf die Zukunft vorbereitet?, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 165 (2015) 5–6, 83–85. 74 George E. Miller, The assessment of clinical skills/competence/performance, in: Academic Medicine 65 (1990) 9 suppl., S63–S67. 75 Interview mit Richard März. 76 Ralph Bloch/Hans Bürgi, The Swiss catalogue of learning objectives, in: Medicine Teacher 24 (2002) 24, 144–150. 77 Kurt Kletter u. a. (Hg.), Klinisches Logbuch für Studierende der Medizin, Wien: Verlag der Gesellschaft der Ärzte 2005.

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Die Reform der ärztlichen Ausbildung

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stitutionen übernommen.78 Später konnte gezeigt werden, dass das sogenannte fallbasierte Trainieren des klinischen Denkens, wie es in Wien gelehrt wurde, mit einem signifikanten Lernerfolg verbunden war.79 Der ursprüngliche Gedanke, den Unterricht mit vielen Praktika in kleinen Gruppen abzuhalten, ließ sich zum Teil realisieren. Für den dritten Abschnitt wurden mit allen qualifizierten Krankenanstalten in und um Wien Verträge abgeschlossen und eine fünfwöchige Rotation, Tertiale genannt, etabliert. Die Prüfungen waren geplant als eine Mischung von mündlichen Testaten während der Seminare und Praktika mit am Jahresende stattfindenden summativen Prüfungen (SIPs) in schriftlicher Form als Multiple-Choice-Tests. All dies konnte mit großem organisatorischem Aufwand realisiert werden. Die Administration wurde digitalisiert mit einer eigenen Homepage. Einige Jahre nach Start des neuen MCW entstand für einen Teil der Module eine Buchreihe im FacultasVerlag.80 Technologische Innovationen gab es bereits kurz nach Einleitung dieser Reform mit einem von Oliver Findl (geb. 1968) entwickelten, preisgekrönten ELearning-Programm für Augenheilkunde.81 Am IMAW wurde 1992 ein Computer-Lernstudio eingerichtet. Ab 1996 wurden SimulationspatientInnen, d. h. im Darstellen klassischer Krankheitsbilder trainierte SchauspielerInnen, regelmäßig eingesetzt. Der hohe Anteil an Frontalvorlesungen konnte nur zögerlich und in kleinen Schritten leicht reduziert werden, auch weil viele Lehrende sich dieser historischen Tradition nach wie vor verpflichtet fühlten. Weil die Integration in den europäischen Hochschulraum durch Schwierigkeiten bei Erasmus- und anderen Austauschprogrammen kompliziert war, wurden die letzten drei Studienjahre von 2009 bis 2015 unter der Curriculumdirektorin Anita Rieder entsprechend angepasst.

78 NÖ Landeskliniken-Holding (Hg.), „Logbuch“ für TurnusärztInnen, URL: https://www.ots.a t/presseaussendung/OTS_20080229_OTS0069/logbuch-fuer-turnusaerztinnen (abgerufen am 24. 9. 2021). 79 Andrea Praschinger/Stefan Stieger/Franz Kainberger, Diagnostic grand rounds in undergraduate medical education, in: Medical Education 41 (2007) 11, 1107–1108; Stefan Stieger u. a., Diagnostic grand rounds: a new teaching concept to train diagnostic reasoning, in: European Journal of Radiology 78 (2011) 3, 349–352. 80 Facultas-Buchreihen, URL: https://www.facultas.at/verlag/medizin_naturwissenschaften/bu chreihen#Medizin_Curriculum_Wien (abgerufen am 24. 9. 2021). 81 Oliver Findl, Lernprogramme/Didaktik, URL: https://www.yumpu.com/de/document/read/ 664442/lernprogramme-ubersicht-pdf-download-augenarzt-praxis-univ- (abgerufen am 24. 9. 2021).

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Daniela Angetter-Pfeiffer / Franz Kainberger

MCW: Zusammenfassung und Ausblick Bis 2004 wurde eine beachtliche Studienreform zustande gebracht. Es dauerte etwa 14 Jahre (wenn man die Zeit vom Beginn des MCW150 bis zur abgeschlossenen Implementierung des Klinisch-praktischen Jahres heranzieht), bis in diesem disruptiven Prozess der Umgestaltung nach Jahrzehnten des Reformstaus die bestehenden Strukturen mit den neuen Unterrichtsformen zusammengeführt werden konnten. Beobachtet man die gegenwärtigen Diskussionsprozesse an dieser Universität, wie sie 2019 im White Paper Lehre82 zusammengefasst wurden, so kann daraus eine Reihe sich ergebender Chancen für die Medizin in einer Wissensgesellschaft abgeleitet werden.83 Mit einer Fokussierung auf professionelles ärztliches Handeln, d. h. auf das klinische Denken (Clinical Reasoning), die Integration der Medical Humanities, die Förderung einer Sicherheitskultur, die stärkere Betonung des Präventionsgedankens im Rahmen einer betont forschungsgeleiteten Lehre, bekommt das Wiener Medizincurriculum schärfere Akzente und Konturen. In dieser Weise lebt dieses curriculare Reformwerk weiter, indem die sich stetig wandelnden Fortschritte der Medizin dynamisch in den Unterricht eingebracht werden können.

82 Markus Müller/Anita Rieder (Hg.), Weißbuch Lehre. Wie die MedUni Wien den aktuellen Herausforderungen in der Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern von morgen begegnet. Wien: Eigenverlag 2019, URL: https://t3-web.meduniwien.ac.at/fileadmin/content/k ommunikation/newsletter/2019/12_Dezember_16/MedUni_WhitePaper_Lehre_A4_Screen. pdf (abgerufen am 24. 9. 2021). 83 Markus Müller, Medical school education at the turning point, in: Wiener Klinische Wochenschrift 130 (2018) 7–8, 227–229.

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Forschung – der mühsame Weg zurück Research – the arduous path back

Abstracts Nach dem durch den Nationalsozialismus bedingten endgültigen Niedergang der Wiener Universitätsmedizin wurde die Chance eines Neuanfangs nach Kriegsende nicht genutzt. Die Besetzung von Lehrstühlen erfolgte politisch motiviert, vielfach auch mit Personen, die durch eine NS-Vergangenheit belastet waren, zusätzlich verhinderte die Struktur einer „Ordinarien-Universität“ die Entfaltung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Die Folge war ein anhaltender Geist der Ignoranz gegenüber kompetitiver internationaler Forschung, insbesondere im klinischen Bereich. Erst nach der 1995 abgeschlossenen Übersiedlung aller Kliniken in das Neue Allgemeine Krankenhaus, wo erstmals auch eigene Forschungsflächen zur Verfügung standen, gelang der Umschwung. Er wurde zusätzlich beschleunigt, als nun auch Berufungen zunehmend aufgrund wissenschaftlicher Qualität und nicht anderer Kriterien erfolgten. After the decline of the formerly leading Viennese Medical School due to National Socialism, the opportunity of a new beginning after World War II was not used. The filling of professorships was politically driven, persons with a Nazi burden often achieved senior positions. In addition, a university structure solely geared towards full professors prevented the development of the next generation of academics. The result was a spirit of ignorance of competitive international research that influenced untainted professors as well and continued until the late 1980s, particularly in patient-oriented research. Not until 1995, when the clinical departments of the medical school had been relocated to the new general hospital, a turnaround occurred mainly because for the first time large spaces for research were available and the appointment of professors increasingly happened due to their scientific qualifications and not to other criteria. Keywords Allgemeines Krankenhaus Wien – Wiener Medizinische Schule – Entnazifizierung – Forschungs-Output – Impact Factor – Klinische Forschung – Medizinische Fakultät – Teilrechtsfähigkeit – Universität Wien Clinical Research – Denazification – Impact Factor – Partial Legal Capacity – Medical Faculty – Research Output – University of Vienna – Vienna General Hospital – Viennese Medical School

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Der Niedergang Auch wenn die Blütezeit der Wiener Medizin 1938 mit dem Anschluss an Nazideutschland jäh beendet wurde, setzte ihr Niedergang – und damit das Ende der Zweiten Medizinischen Schule – schon früher ein. Ihren Höhepunkt hatte sie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Die Medizinische Fakultät der Universität Wien im Jahr 1907 (s. Abb. 1) war mit 63 Professoren und 159 Dozenten eine der weltweit größten, und ein überaus dichtes Netzwerk von medizinischen Einrichtungen und akademischen Instituten im sogenannten „Medizinerviertel“ (das Dreieck Universität Wien am Ring, Allgemeines Krankenhaus in der Alserstraße und die medizinisch-theoretischen Institute in der Währinger Straße) förderte auf fruchtbarste Weise die Zusammenarbeit unter den Ärzten sowie von Medizin und den Naturwissenschaften.1 Vier Nobelpreisträger (Robert Bárányi, 1876–1936; Julius Wagner-Jauregg, 1857–1940; Karl Landsteiner, 1868–1943; Otto Loewi, 1873–1961) gingen aus der Wiener Medizinischen Schule hervor 2 sowie eine Reihe für den Nobelpreis mehrmals nominierter Ärzte (u. a. Sigmund Freud, 1856–1939; Hans Horst Meyer, 1853–1939; Adolf Lorenz, 1854–1946; Clemens von Pirquet, 1874–1929),3 und die 1904 gegründete American Medical Association of Vienna ermöglichte tausenden Medizinstudierenden und Jungärzten aus den USA den Besuch postgradueller Kurse in Wien – also das Umgekehrte von heute (s. S. 491). Bis 1938 war bereits viel von dieser Exzellenz verloren gegangen, zum einen Teil bedingt durch die politische und ökonomische Krise des verbliebenen „Monarchierests“ Österreich, zum anderen Teil war sie von den Universitäten und ihren Repräsentanten selbst verschuldet, da immer weniger das wissenschaftliche Leistungsprinzip im Vordergrund stand, sondern Rassismus und die politische Einstellung. Stefan Zweig (1881–1942) beschrieb diesen Zustand bereits früh, als er noch selbst Student gewesen war (1900–1904): „Die meisten dieser ‚Helden‘ wussten genau, … daß ein paar Schmisse auf der Stirne ihnen bei einer Anstellung einmal förderlicher sein konnten, als was hinter dieser Stirne war“;4 er und andere vermieden, „um jeder Begegnung mit diesen tristen Helden zu entgehen“, die Aula der Universität und wählten zu deren Betreten lieber die „unscheinbare Hintertür“ in der Reichsratsstraße.

1 Maria Rentetzi, The city as a context of scientific activity: Creating the Mediziner-Viertel in finde-siècle Vienna, in: Endeavor 28 (2004) 1, 39–44. 2 Otto Loewi wurde 1905 Mitarbeiter von Hans Horst Meyer in Wien und 1909 an die Universität Graz berufen, wo er die mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Arbeiten durchführte. 3 Daniela Angetter, Die österreichischen Medizinnobelpreisträger, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2003. 4 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, Frankf. a. M.: Fischer Verlag 1970, 117.

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Forschung – der mühsame Weg zurück

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Die Zunahme des Antisemitismus, der also schon ab dem Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere unter deutschnationalen Studierenden weitverbreitet war, wurde von 1918 bis 1938 zunehmend bedrückend, das wissenschaftliche Ethos korrodierte, und die österreichischen Universitäten waren somit für den „Anschluss“ ideologisch gerüstet. Ein Übriges tat die „Entwissenschaftlichung“ der Medizin durch das Dollfuß/Schuschnigg-Regime unmittelbar davor: Reduzierung der Hochschullehrer (umso auch regimekritische Lehrende auf legalem Weg ihrer Ämter zu entheben), Berufungen, die Vaterlandstreue und christliche Gesinnung voraussetzten, Abschaffung der Biologie als Pflichtfach aus religiösen Gründen.5

Abb. 1: Lehrkörper der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Dargestellt ist die Zahl der Universitätsprofessoren („professors“) und der Universitätsdozenten („lecturers“) von 1881 bis 1977 (© Klaus Taschwer, Abdruckgenehmigung).

Das Naziregime führte schließlich an der Medizinischen Fakultät zu einer Vertreibung von mehr als der Hälfte des ohnehin schon dezimierten Lehrkörpers, der größte Exodus einer Fakultät im deutschsprachigen Raum.6 Bis Kriegsende

5 Klaus Taschwer, The Medical School of the University of Vienna before and after the „Anschluss“ 1938. Numbers and facts reflecting a dramatic decline, Wiener Klinische Wochenschrift 130 (2018) Suppl. 5: „Anschluss“ March 1938: Aftermath on Medicine and Society, 300– 304; Stephan Neuhäuser, „Wer wenn nicht wir“ – 1934 begann der Aufstieg des CV, in: Stephan Neuhäuser (Hg.), „Wir werden ganze Arbeit leisten“. Der austrofaschistische Staatsstreich 1934, Norderstedt: Books on Demand 2004, 65–140. 6 Karl Mühlberger, Vertriebene Intelligenz 1938. Der Verlust geistiger und menschlicher Potenz an der Universität Wien 1938–1945, Wien: Archiv der Universität Wien 1993.

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war der Lehrkörper auf einen Tiefststand von 24 Professoren,7 bis 1949 gar von 23 Professoren und 93 Dozenten gesunken (Abb. 1).8

Stille Amnestie der Nachkriegszeit Unmittelbar nach Kriegsende waren 21 der noch vorhandenen 24 ordentlichen Professoren der Medizinischen Fakultät durch ein Verfahren zur Entnazifizierung belastet, weil sie selbst NSDAP-Mitglieder waren oder versucht hatten, es zu werden, 17 davon wurden rasch aus der Universität entfernt (vier trotz Belastung belassen),9 sodass ein kompletter Neustart, eine „Stunde null“, möglich schien. So gab es zu Beginn des Jahres 1946 Bemühungen, die vertriebenen Wissenschaftler zurückzuholen. Die US-amerikanischen und britischen Alliierten gaben dem Unterrichtsministerium und dem Rektorat der Universität Wien die Namen der in ihre jeweiligen Länder vertriebenen Wissenschaftler bekannt, darunter 159 rückkehrwillige Emigranten der Medizinischen Fakultät. Eine Remigration kam allerdings nie in Gang. Die meisten Vertriebenen wollten – aufgrund der politischen, aber auch ökonomischen Verhältnisse in ihrem Heimatland – gar nicht zurück, und diejenigen, die es wollten, wurden durch die Art der Einladung eher abgeschreckt.10 Auch die Ärztekammer empfahl ihren geflohenen Kollegen: „Es kann den im Ausland tätigen Ärzten nur dringend geraten werden, die in den Jahren der Emigration errungene Position weiter zu behalten.“11 Daran änderte auch ein Aufruf des Wiener Kulturstadtrats Viktor Matejka (1901–1993), KPÖ, nichts, der die Emigranten über den Rundfunk zur Rückkehr aufforderte. Als einziger späterer Klinikleiter folgte Hans Hoff (1897–1969, von 1950 bis 1969 o. Universitätsprofessor für Psychiatrie und Neurologie) diesem Aufruf.12 Vielmehr verlief der 1946 einsetzende Prozess der Entnazifizierung im akademischen Milieu in Wien besonders glimpflich,13 an der Medizinischen Fakultät 7 Christian Fleck, Autochthone Provinzialisierung: Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996) 1, 67–92. 8 Taschwer, March 1938. 9 Fleck, Autochthone Provinzialisierung. 10 Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität von 1944 in den Nachkriegsjahren, Göttingen: Vienna University Press 2014, 63–72. 11 Peter Malina/Wolfgang Neugebauer, NS-Gesundheitswesen und Medizin, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien: ÖBV und HPT 2000, 696–720. 12 PeoplePill, Hans Hoff (Psychiatrist), URL: https://peoplepill.com/people/hans-hoff-2/ (abgerufen am 28. 9. 2021). 13 Linda Erker, Die Rückkehr der „Ehemaligen“. Berufliche Reintegration von früheren Nationalsozialisten im akademischen Milieu in Wien nach 1945 und 1955, in: Zeitgeschichte 44 (2017) 3, 175–192.

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waren innerhalb kurzer Zeit sieben als minderbelastet eingestufte Professoren wieder im Amt.14 Qualifizierte, die nicht belastet waren, gab es kaum. Die Folge war der in Abb. 1 gezeigte historische Tiefstand an ordentlichen und außerordentlichen Professoren sowie an Dozenten im Jahr 1949. Die Nachkriegsjahre waren daher vielmehr als Fortsetzung des 1938 (und auch bereits die Jahre davor) vollzogenen „intellektuellen Kahlschlags“ denn als das Nützen der „Stunde null“ zu betrachten (s. S. 47) und haben den wissenschaftlichen Wiederaufstieg der medizinischen Wissenschaft im Land um einen beträchtlichen zusätzlichen Zeitraum verzögert. Aus Tabelle 1 ist zu ersehen, dass noch in den 1950er- und 1960er-Jahren belastete Professoren berufen wurden. Sie blieben eine Berufungsspanne und somit teilweise bis in die 1980er Jahre in ihren Ämtern als Klinik- bzw. Institutsvorstände, wobei einige noch zusätzlich mit dem Dekans- und Rektorsamt gewürdigt wurden. Es muss allerdings auch erwähnt werden, dass keinesfalls alle von diesen wissenschaftlich unterdurchschnittlich agierten. Als politische Wendehälse sonder Zahl („Waldheim-Syndrom“) bewirkten sie allerdings ein einer positiven Entwicklung der Fakultät abträgliches Klima des Opportunismus.15 Tab. 1. Nach Kriegsende berufene Professoren mit NS-Belastung, die teilweise bis in die 1970er und 1980er Jahre im Amt blieben

Richard Bieling* (1888–1967)16 Arnold Pillat (1891–1975)17 Heinrich von Hayek (1900–1969)18 Leopold Breitenecker (1902–1981)19

Ordentlicher Universitätsprofessor für Hygiene 1951–1959, Dekan 1956/57 Augenheilkunde 1947–1963, Dekan 1957/58 Anatomie 1952–1969, Dekan 1960/61

Alfred Pischinger (1899–1983)20

Gerichtliche Medizin 1959–1972, Dekan 1964–1966 Histologie und Embryologie 1958–1970

Karl-Hermann Spitzy (1915–2013)21 Leopold Schönbauer (1888–1963)22

Chemotherapie 1973–1987 Chirurgie 1945–1960, Rektor 1953/54,

14 Pfefferle/Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert, 169–206, 192. 15 Albert Einstein: „Most people say it is the intellect which makes a great scientist. They are wrong: It is character“, URL: https://www.brainyquote.com/quotes/albert_einstein_121099 (abgerufen am 28. 9. 2021). 16 Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, 2. Aufl., Frankf. a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2007. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 650 plus – Geschichte der Universität Wien, Leopold Schönbauer, URL: https://geschichte.uni vie.ac.at/de/personen/leopold-schonbauer-o-prof-dr-med (abgerufen am 23. 9. 2021).

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(Fortsetzung)

Tassilo Antoine (1895–1980)23 Erna Lesky (1911–1986)24 Hans Strotzka (1917–1994)25

Ordentlicher Universitätsprofessor für Gynäkologie und Geburtshilfe 1943–1967, Dekan 1955/56, Rektor 1959/60 Geschichte der Medizin 1966–1979 Tiefenpsychologie und Psychoanalyse (1971–1986)

Victor Patzelt (1887–1956)26 Ernst Georg Mayer (1893–1969)27

Histologie und Embryologie 1950–1956 Röntgenologie 1955–1964 (bis 1961 ao. Prof.)

Gustav Schubert (1897–1976)28 Herbert Kraus (1910–1975)29

Physiologie 1950–1968 Neurochirurgie 1964–1975 Orthopädie 1967–1982 Kieferchirurgie 1958–1971 (bis 1962 ao. Prof.)

Karl Chiari (1912–1982)30 Rudolf Ullik (1900–1996)31 Franz Seitelberger (1916–2007)32 Hans Asperger* (1906–1980)33

Neurologie 1964–1987, Dekan 1974/75, Rektor 1974–1977, Kinderheilkunde 1962–1977

* Gehörten keiner NS-Organisation an, Bieling war aber in Fleckfieberversuche im KZ Buchenwald involviert, Asperger hat Kinder an die „Kindereuthanasie“-Abteilung Am Spiegelgrund auf dem Anstaltsgelände der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof (das heutige Otto-Wagner-Spital in Wien) überwiesen, wohl wissend, was dort mit ihnen geschehen würde.

23 650 plus – Geschichte der Universität Wien, Die Entnazifizierung der Professorenschaft, URL: https://geschichte.univie.ac.at/de/artikel/die-entnazifizierung-der-professorenschaft-der-un iversitat-wien (abgerufen am 23. 9. 2021). 24 650 plus – Geschichte der Universität Wien, Erna Lesky, geb. Klingenstein, URL: https://ge schichte.univie.ac.at/de/erna-lesky (abgerufen am 23. 9. 2021). 25 650 plus – Geschichte der Universität Wien, Hans Strotzka, Prof. Dr., URL: https://geschich te.univie.ac.at/de/personen/hans-strotzka-univ-prof-dr-med (abgerufen am 23. 9. 2021). 26 Pfefferle/Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. 27 Ebd. 28 Anschreiben zur Aufnahme in die NSDAP vom 30. März 1942, Kopie im Besitz der Verfasser. 29 Antrag auf Nachsicht der Sühnefolgen, Bundesministerium für Inneres vom 3. Juni 1947, Kopie im Besitz der Verfasser. 30 Karl Chiari, Angaben über die Zugehörigkeit zur NSDAP, ausgefüllt und unterschrieben am 24. Mai 1938, Kopie im Besitz der Verfasser. 31 Rudolf Ullik, Politischer Fragebogen, ausgefüllt und unterschrieben am 12. Oktober 1946, Kopie im Besitz der Verfasser. 32 Michael Martin, Heiner Fangerau, Axel Karenberg, Österreichische Neurologen unter dem Hakenkreuz: Julius Wagner-Jauregg – Walther Birkmayer – Franz Seitelberger, in: Der Nervenarzt 91 (2020) 1, 100–108. 33 Herwig Czech, Hans Asperger, National Socialism, and „race hygiene“ in Nazi-Era Vienna, in: Molecular Autism 9 (2018) 29, URL: https://doi.org/10.1186/s13229-018-0208-6 (abgerufen am 28. 9. 2021).

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Erschwerend kam hinzu, dass bis Ende der 1960er Jahre der politische Katholizismus und der 1934 mit der Etablierung des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes gegründete Österreichische Cartellverband (CV) Spitzenpositionen in Ministerien und Universitäten besetzten und zur Selbstprovinzialisierung letzterer wesentlich beitrugen.34 Der erste Nachkriegsdekan der Medizinischen Fakultät, Leopold Arzt (1883–1955), war zwar kein Nazi, aber als Christlichsozialer Mitglied des antisemitischen Netzwerks Deutsche Gemeinschaft und einflussreicher Mitspieler bei zahlreichen politisch motivierten Professorenbesetzungen.35

Medizinische Forschung im Wien der 1950er bis 1980er Jahre Insbesondere in den angelsächsischen Ländern erlebte die medizinische Forschung in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende einen beeindruckenden Aufwärtstrend, zu dem viele der besten Köpfe, die aus Österreich 1938 und danach – oft noch im Kindesalter – vertrieben worden waren, einen wesentlichen Beitrag leisteten. So erhielten Max F. Perutz (1914–2002) im Jahr 1962 und Eric Kandel (geb. 1929) im Jahr 2000 den Nobelpreis. Perutz gründete 1947 in Cambridge, UK, das erste molekularbiologische Laboratorium, aus dem 15 Mitarbeiter, darunter James Watson, Francis Crick und Fred Sanger, und ebenfalls elf Alumni, die dort gearbeitet haben, als spätere Nobelpreisträger hervorgingen.36 Über den Kardiologen Eugene Braunwald (geb. 1929), Mitverfasser von Harrison’s Principles of Internal Medicine, des bedeutendsten Textbuchs für Innere Medizin, schrieb Tom Lee eine Biografie, in der die Entwicklung der Medizin für diesen Zeitraum eindrucksvoll beschrieben wird.37 In Österreich hingegen (und damit auch in Wien) erschien die ersten vier Jahrzehnte nach Kriegsende nur wenig Originalliteratur zu hypothesengetriebener Forschung, die einem Vergleich mit dem damaligen internationalen Standard standhielt. Wesentliche Aussagen über diesen Zeitraum liefert der Beitrag von Thurner u. a. zu einer mit szientometrischem Zugang ermittelten „Publikationstätigkeit und Rezeption der Wiener universitären Medizin im internationalen Kontext“ (S. 185):

34 Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus – Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien: Czernin 2015, 263; Neuhäuser, „Wir werden ganze Arbeit leisten“. 35 Andreas Huber, Linda Erker, Klaus Taschwer, Der Deutsch Klub – Austro-Nazis in der Hofburg, Wien: Czernin 2020, 89–299; Pfefferle/Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert, 169–206. 36 LMB Nobel Facts – MRC Laboratory of Molecular Biology, URL: https://www2.mrc-lmb.ca m.ac.uk/achievements/lmb-nobel-prizes/nobel-facts/ (abgerufen am 28. 9. 2021). 37 Tom Lee, Eugene Braunwald and the Rise in Modern Medicine, Boston: Harvard University Press 2013.

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– Ein Aufholprozess in Richtung internationaler Standards ist vor 1980 kaum nachweisbar und setzt erst Mitte der 1990er Jahre deutlich sichtbar ein. – Der extreme Anstieg an hochzitierten Arbeiten, der ab den frühen 1990er Jahren an Spitzenuniversitäten zu beobachten war, findet in Wien nicht statt. – Im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Ländern steigt der Anteil englischsprachiger Publikationen nur sehr langsam an – von zehn Prozent Anfang der 1960er Jahre auf 80 Prozent bis zum Jahr 1990. – Interinstitutionelle Zusammenarbeit wurde vor 2000 gleichsam verschlafen. – Ein signifikanter Teil der Wiener wissenschaftlichen Aktivität ging auf Lehrjahre ihrer Wissenschaftler an renommierten ausländischen Universitäten zurück. Eugene Garfield (1925–2017), der Begründer des Science Citation Index ISI, wies noch 1990 darauf hin, dass die medizinische Forschung in Österreich, gemessen an der Anzahl der Zitierungen, deutlich hinter vergleichbaren Ländern, wie z. B. der Schweiz oder Finnland, zurückliegt, teilweise dadurch begründet, dass hier noch fast ein Fünftel aller medizinischen Publikationen auf Deutsch erschien.38 Davor aber ist die Repräsentanz englischsprachiger wissenschaftlicher Journale von einem niedrigen Niveau ab Mitte der 1960er Jahre nur langsam, wenn auch immerhin regelmäßig gestiegen. Auch die deutschsprachigen Referenzen in deutschsprachigen Journalen haben in diesem Zeitraum deutlich abgenommen, zieht man die Wiener Klinische Wochenschrift als Referenz einer österreichischen Zeitschrift heran.39 Von Bernd Binder (1945–2010), dem ehemaligen Leiter des Zentrums für Physiologie und Pharmakologie der Medizinischen Universität Wien und einer ihrer herausragenden Forscherpersönlichkeiten, wurde seit 1987 an der Wiener Medizinischen Fakultät regelmäßig eine Analyse des wissenschaftlichen Outputs vorgenommen, dabei die einzelnen Kliniken und Institute miteinander verglichen, und später wurden auch Vergleiche mit anderen österreichischen und ausländischen Fakultäten gezogen.40 Bibliografischer Maßstab für die Qualität eines Publikationsorgans war der Impact-Faktor, definiert als Quotient aus der Anzahl der Zitate von Arbeiten in einer Zeitschrift und in allen anderen Zeit38 Eugene Garfield, A citation analysis of Austrian medical research and Wiener klinische Wochenschrift, in: Wiener Klinische Wochenschrift 103 (1991) 11, 318–325. 39 Fernando A. Navarro, The language of medicine in Austria (1920–1995), in: Wiener Klinische Wochenschrift 108 (1996) 12, 363–369. 40 Bernd Binder, Medizinische Forschung in Österreich 1987–2002 (unveröffentlichte Daten), zugehörige Diapositive im Besitz des Zentrums für Physiologie und Pharmakologie (Institut für Gefäßbiologie und Thromboseforschung) der Medizinischen Universität Wien; ORF, Neues aus der Welt der Wissenschaft, URL: https://sciencev1.orf.at/news/77145.html (abgerufen am 28. 9. 2021).

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schriften während der vorangehenden zwei Jahre und der Anzahl der Artikel derselben Zeitschrift in den vorangehenden zwei Jahren. Der Impact-Faktor hat sich neben anderen Messkriterien (Zitierrate, Hirsch-Index) in der wissenschaftlichen Welt als bibliografisches Qualitätskriterium für die Publikationen eines Autors/ einer Autorin oder einer Institution – zusätzlich zu dem schon lange bestehenden Peer-Review-Verfahren – etabliert. Umstritten waren damals der Impact-Faktor und andere bibliometrische Kriterien vornehmlich unter Wissenschaftlern des Mittelmaßes, kaum in der Spitzenforschung.41 Der Erstautor dieses Artikels erinnert sich noch an die erstmalige Präsentation zum Forschungs-Output der Institute und Kliniken anhand des Parameters „ImpactFaktor“ in der ehrwürdigen Gesellschaft der Ärzte im Jahr 1987. Das Verfahren stieß beim Großteil der anwesenden Professoren, inklusive des ebenfalls anwesenden Wiener Gesundheitsstadtrats, der selbst habilitierter Arzt war, auf heftige Ablehnung. Sie unterlagen noch der illegitimen Selbstprojektion, sich noch in der Kontinuität der glorreichen Wiener Medizinischen Schule zu befinden und als Professoren die – wenn auch nur formal – Bestqualifizierten zu sein (als Beispiel für die angebliche Unwichtigkeit eines Publikationsorgans wurde Gregor Mendel herangezogen, der seine Vererbungsregeln in einem Kirchenblatt publiziert habe). Aus demselben Grund waren auch Forschungsaufenthalte von Mitarbeitern im Ausland zur Förderung internationaler Zusammenarbeit keinesfalls die Regel, vereinzelt wird sogar noch heute dagegen gewettert. So muss im Karrieremodell für wissenschaftliche MitarbeiterInnen explizit darauf hingewiesen werden, dass ein zumindest sechsmonatiger durchgehender Forschungsaufenthalt im Ausland notwendig ist, um eine Qualifizierung für eine unbefristete Stelle als ProfessorIn gemäß § 99 Abs. 5 UG zu erlangen.42 Als Folge all dessen lagen im Jahr 1985 für Österreich die Zitierungen pro Publikation (relative citation impact) auf dem Gebiet der klinischen Medizin noch 40 Prozent unter dem internationalen Durchschnitt.43

41 Zunehmend bestimmen auf die Zitierrate abzielende bibliometrische Kriterien für wissenschaftliche Journale heute deren kommerziellen Erfolg, insbesondere von Spitzenjournalen, was die Gefahr wissenschaftlicher Fehlentwicklungen in sich birgt. 42 Interne Ausschreibung für die Karrierevereinbarung, in: Personal-Mitteilungsblatt der Medizinischen Universität Wien 7, ausgegeben am 12. 2. 2020, 4–5. 43 Christopher King, Austrian Science: Ascendant in Impact, in: Science Watch® Newsletter, Thomson Reuters, URL: http://archive.sciencewatch.com/ana/fea/pdf/09sepoctFea.pdf (abgerufen am 23. 9. 2021).

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Ursachen des Rückstands Die Ursachen des Rückstands, den die Wiener Medizinische Fakultät in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende vor allem in der klinischen Forschung auswies, sind vielfältig und nicht nur mit dem erwähnten historischen Narrativ der Wiener Medizinischen Schule, das die Professorenschaft so lange vor sich hertrug, zu erklären. Diese sind: 1. Internationale Abschottung. Sie ist, erstens, auf die Berufung ehemaliger aktiver Nationalsozialisten als ordentliche Professoren und somit als Klinikund Institutsvorstände zurückzuführen; solche Berufungen waren nicht nur Folge der äußerst glimpflichen Entnazifizierungen während der Jahre nach Kriegsende, sondern setzten sich noch bis in die 1970er Jahre fort (s. Tab. 1). Nicht von allen, aber von vielen dieser Ex-Nazis in Führungspositionen war keine Internationalisierung der Forschung zu erwarten, und sie fand auch nicht statt. Umgekehrt waren in Österreich organisierte internationale Tagungen von Absagen ehemals Emigrierter betroffen.44 Die internationale Abschottung ist aber, zweitens, auf die Protagonisten des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes zurückzuführen, die auch nach 1945 für Berufungen von ihresgleichen sorgten, bei denen die wissenschaftliche Qualität nicht entscheidendes Kriterium war (s. o.). 2. HOG und UOG. Das bis 1975 geltende Hochschul-Organisationsgesetz (HOG) für die Universitäten aus dem Jahr 1955 war ausschließlich auf die Professoren zugeschnitten, jeder Professor war gleichzeitig Klinik- oder Institutsleiter (s. S. 128), Assistenten – obwohl im kreativen Alter – konnten sich kaum wissenschaftlich entfalten. Die Finanzierung von Forschung und Lehre durch das Unterrichtsministerium erfolgte nicht über die Universität oder gar Fakultät, sondern gemäß den Wünschen dieser Professoren und deren Einfluss auf das Ministerium. Eine Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Organisationseinheiten einer Universität fand daher in der Forschung und in der Lehre eher untergeordnet statt. Die „alte Garde“ – die Professoren aus den Jahren 1949 und davor – hatten sich bei der Gesetzeswerdung des HOG durchgesetzt und konnten so ihre Vormachtstellung für weitere Jahre zementieren. Das unter der ersten sozialistischen Alleinregierung folgende Universitätsorganisationsgesetz (UOG) des Jahres 1975 schwächte zwar die Macht der Professoren zugunsten des Mittelbaus und der Studierenden, stärkte aber nicht die ohnehin mageren und zusätzlich insuffizienten, weil institutszentrierten Finanzierungsströme vom Ministerium an die Universitäten. Auch Drittmittel im Rahmen von Forschungsaufträgen, Spenden oder Hinterlassenschaften konnten nur Professoren in ihrer Vorstandsfunktion 44 David W. Weiss, The Significance of Gestures, in: Moment 14 (1989) 2, 20–25, 54–55.

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über auf ihren Namen laufende Bankkonten akquirieren und die Gelder im eigenen Ermessen zuteilen. Wesentlicher Makel im Zuge des UOGs aber war das auf das Assistentengesetz 1962 folgende und das dieses ablösende Hochschullehrer-Dienstrecht 1988, das über die Pragmatisierung eines Großteils der Mittelbauangehörigen zu einer „Versteinerung“ des wissenschaftlichen Personals an den Universitäten führte (s. S. 132).45 3. Doppelkliniken. In Anlehnung an die noch aus der Zeit der Monarchie stammende Struktur des zuständigen Universitätsspitals, des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) der Stadt Wien, wurden alle großen bettenführenden Kliniken doppelt geführt. Ausnahmen waren nur die Kinderklinik und die Neurologisch-Psychiatrische Klinik (bis 1970 noch ein gemeinsames ärztliches Sonderfach). Diese Doppelkliniken waren aber keineswegs komplementär, d. h. sie ergänzten sich nicht gegenseitig, sondern hatten weitgehend dasselbe Leistungsspektrum, agierten daher eher als interne Konkurrenten. In der Lehre konnten die Studierenden wählen, an welcher Klinik sie lernen und Prüfungen ablegen wollten. Auch hatte jede Klinik ihre eigene Radiodiagnostik und ihr eigenes diagnostisches Labor. Hinzu kam, dass in den 1970er Jahren Disziplinen wie Gastroenterologie und Hepatologie (diese sogar als Doppelklinik), Kardiologie und Chemotherapie aus dem Verband der Medizinischen Kliniken (= Kliniken für Innere Medizin) herausgelöst worden waren und zu eigenen Kliniken wurden, obgleich sie Teildisziplinen der Inneren Medizin waren und sind. Ein derart sorgloser Umgang mit teuren medizinischen Ressourcen wurde erst Anfang der 1990er Jahre im Zuge der Übersiedelung in das neue AKH abgeschafft. Es gab dort keine Doppelkliniken mit vergleichbarem Leistungsspektrum mehr (das galt auch für die vier Kliniken für Innere Medizin, die nun in Patientenbetreuung, Forschung und Lehre ein streng komplementäres Leistungsspektrum aufwiesen), und alle diagnostischen Leistungen (aus Radiologie, Pathologie, Labormedizin, Blutgruppenserologie, Mikrobiologie und Virologie) waren in Form eigener Kliniken bzw. klinischer Institute zentralisiert. Große Kliniken waren – der zunehmenden Spezialisierung in der Medizin Rechnung tragend – in klinische Abteilungen mit eigens zugeteilten Betten und Ambulanzen gegliedert. Forschung und Lehre waren aber Aufgaben der Gesamtklinik und sind es noch heute. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Struktur der bettenführenden 45 Bundesgesetz vom 11. Juli 1962 über das Dienstverhältnis der Hochschulassistenten, wissenschaftlichen Hilfskräfte, Demonstratoren und Vertragsassistenten (Hochschulassistentengesetz 1962), BGBl Nr. 216/1962; Regelung des Dienstrechtes der Hochschullehrer, der Bediensteten des wissenschaftlichen Dienstes und der Mitarbeiter im Lehrbetrieb an Universitäten und Hochschulen im Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979, im Gehaltsgesetz 1956, im Vertragsbedienstetengesetz 1948 und im Bundes-Personalvertretungsgesetz, BGBl. Nr. 148/ 1988.

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Kliniken im Alten AKH (Alserstraße, Spitalgasse)46 und im Neuen AKH (Währinger Gürtel).47 4. Mangelnde Infrastruktur. Bereits die Jahre nach 1918 waren gekennzeichnet durch Armut, labile politische Verhältnisse und fehlende Investitionen in die Forschungsinfrastruktur. Letzteres hielt auch nach 1945 noch viele Jahre an und wird in der Autobiografie von Karl Fellinger (1904–2000, nahezu drei Jahrzehnte lang Leiter der II. Medizinischen Universitätsklinik und Rektor 1964/65) anlässlich des 600-Jahr-Jubiläums der Universität Wien 1965 anschaulich beschrieben:48 „[…] durch eine Indiskretion bekam ich den Durchschlag des Berichts der Amerikaner, […] da hieß es zum Beispiel, dass meine Klinik in beklagenswert primitivem Einrichtungszustand sei, […] dass unter den gegebenen Umständen […] ein Wiedererstarken der Wiener Kliniken kaum zu erwarten sei“. Fellinger, einer der wenigen unbelasteten Professoren, weil er 1938 „politisch auf der falschen Seite“ gestanden war und deshalb seine Leitungsstellung verloren hatte, war führender Proponent für ein neues Universitätsspital („Neues AKH“), das aber für seine endgültige Inbetriebnahme – also bis alle Kliniken übersiedelt waren – noch bis 1995 warten musste (s. u.). 5. Fehlendes Interesse in der Bevölkerung für Wissenschaft und Forschung. Wissenschaft und Forschung sowie deren Förderung waren nach 1945 für viele Jahre „in keiner Weise […] eine Priorität der Politik“.49 Der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) als wesentliche Förderinstitution der Grundlagenforschung wurde bezeichnenderweise erst 1967 gegründet, sein deutsches Pendant, die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG), bereits 1951. Die Forschungsquote, als Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) in Prozent des Bruttoinlandsprodukts, lag ab 1970 (dem Zeitpunkt, ab dem die Erhebung auf die Klassifikation und Methodik des Frascati-Manuals ausgerichtet war) bis Anfang der 1990er Jahre unter 1,5 Prozent50 (2019, zum Vergleich, betrug sie 3,18 Prozent). Auch wurde in Österreich wenig Hightech-Industrie aufgebaut, wobei die Ursachen bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückreichen. Denn der „MonarchieRest“ Deutsch-Österreich, die Erste Republik, hatte die ursprünglichen Industriegebiete der Monarchie zum Großteil verloren und wurde zunächst als gar nicht lebensfähig angesehen. Damit fehlte auch ein Großteil der ehema46 47 48 49

Personalstandsverzeichnis der Universität Wien 1990/91. Personalstandsverzeichnis der Universität Wien 1998/99. Karl Fellinger, Arzt zwischen den Zeiten, Wien: Paul Zsolnay Verlag 1984, 23. Rupert Pichler/Michael Stampfer/Reinhold Hofer, Forschung, Geld und Politik. Die staatliche Forschungsförderung in Österreich 1945–2005, Innsbruck–Wien–Bozen: Studienverlag 2007, 363. 50 Ebd., 44.

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ligen Industriellen, und im Gefolge des NS-Einmarschs 1938 wurden auch die wenigen noch verbliebenen, meist jüdischen Unternehmen enteignet und deren Besitzer vertrieben. Während des Zweiten Weltkriegs errichteten die Nationalsozialisten zum Antrieb der Kriegsmaschinerie rohstoffverarbeitende Betriebe zur Erzeugung von Stahl und Aluminium und zum Raffinieren von Erdöl. Diese Betriebe wurden nach dem Krieg mangels eigener Unternehmerstruktur allesamt verstaatlicht. Denn das kleine Österreich hatte im Verhältnis zu anderen Industrieländern keine nennenswerte Infrastruktur und auch wenig Industriellenfamilien, die ihre Industrien manchmal über Generationen weiterentwickelt haben könnten. Erschwerend kam hinzu, dass die sowjetischen Besatzer noch bestehende Industrieanlagen zum Teil demontiert und abtransportiert hatten. Die Folge war ein lang anhaltender Rückstand Österreichs in den Ausgaben der Unternehmen für Forschung und Entwicklung, wie im ersten Strategiepapier des im Jahr 2000 gegründeten Rats für Forschung und Technologieentwicklung in Österreich aufgezeigt wurde.51 Tab. 2. Struktur der bettenführenden Universitätskliniken vor und nach deren Übersiedelung vom Alten ins Neue AKH vor der Übersiedelung

nach abgeschlossener Übersiedelung 1995 (Zahl der Klinischen Abteilungen** in Klammern) Innere Medizin I (3) I. Medizinische Universitätsklinik II. Medizinische Universitätsklinik Innere Medizin II (2) I. Universitätsklinik für Gastroenterologie Innere Medizin III (3) u. Hepatologie Innere Medizin IV (3) II. Universitätsklinik für Gastroenterologie Chirurgie (6) Frauenheilkunde (5) u. Hepatologie Dermatologie (3) Kardiologische Universitätsklinik Hals-, Nasen- u. Ohrenkrankheiten (2) Universitätsklinik für Chemotherapie Kinderheilkunde (3) I. Chirurgische Universitätsklinik Neurologie (2) II. Chirurgische Universitätsklinik Psychiatrie (2) I. Universitätsklinik für Unfallchirurgie Augenheilkunde und Optometrie II. Universitätsklinik für Unfallchirurgie I. Universitäts-Frauenklinik Kinderneuropsychiatrie II. Universitäts-Frauenklinik Unfallchirurgie I. Universitäts-Hautklinik Orthopädie II. Universitäts-Hautklinik Urologie I. Universitätsklinik für Hals-, Nasen- u. Mund-, Kiefer- u. Gesichtschirurgie Neurochirurgie Ohrenkrankheiten

51 Austrian Research Council, Nationaler Forschungs- und Innovationsplan, 3.12 2002, URL: https://www.rat-fte.at/files/rat-fte-pdf/NFIP_20021203.pdf (abgerufen am 28. 9. 2021).

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(Fortsetzung) vor der Übersiedelung

nach abgeschlossener Übersiedelung 1995 (Zahl der Klinischen Abteilungen** in Klammern)

II. Universitätsklinik für Hals-, Nasen- u. Ohrenkrankheiten I. Universitäts-Augenklinik II. Universitäts-Augenklinik Orthopädische Universitätsklinik Urologische Universitätsklinik Universitätsklinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie Neurochirurgische Universitätsklinik Universitätsklinik für Anästhesie u Allgemeine Intensivmedizin Universitäts-Kinderklinik Psychiatrische Universitätsklinik* Neurologische Universitätsklinik* Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters * Bis 1970 Psychiatrisch-Neurologische Universitätsklinik, als beide noch ein gemeinsames Sonderfach waren. ** Ärztlichen Sonder- und (damaligen) Zusatzfächern gem. ÄrzteG Rechnung tragend (aber nicht nur – s. dazu S. 134), sind bestimmte Kliniken in klinische Abteilungen untergliedert. Diese entsprechen Abteilungen von Krankenanstalten mit eigenen Betten und Ambulanzen, deren LeiterInnen haben die ärztliche Letztverantwortung.

Es gab auch Ausnahmen Der bis in die späten 1980er Jahre anhaltende bescheidene Zustand der Wiener Medizin in Wissenschaft und Forschung bedeutet nicht, dass es nicht doch eine Reihe herausragender Einzelleistungen gab, von denen exemplarisch gerade deshalb die beiden folgenden erwähnt sein sollen, weil deren Forschungsergebnisse für PatientInnen unmittelbare Auswirkungen hatten. Dem Pharmakologen Oleh Hornykiewicz (1926–2020) gelang es Anfang der 1960er Jahre, den Mangel an Dopamin in einer bestimmten Gehirnregion (der Substantia nigra) als auslösende Ursache für die Erkrankung am Morbus Parkinson zu identifizieren.52 In der Klinik erbrachte daraufhin die Substitution von 52 Herbert Ehringer/Oleh Hornykiewicz, Distribution of noradrenaline and dopamine (3-hydroxytyramine) in the human brain and their behavior in diseases of the extrapyramidal systems, in: Klinische Wochenschrift 38 (1960) 12, 1236–1239, https://doi.org/10.1007/B F01485901 (abgerufen am 28. 9. 2021).

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Dopamin, als dessen die Blut-Hirn-Schranke überwindende Vorstufe L-DOPA verabreicht, eine markante Linderung der Krankheitsbeschwerden, und dies war die Grundlage für die moderne Parkinson-Therapie.53 Hornykiewicz wurde dafür mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen und hätte ihn im Jahr 2000 fast erhalten, das Komitee gab aber drei anderen Hirnforschern den Vorzug. Die Folge war eine internationale Protestaktion, die über 230 Wissenschaftler unterschrieben.54 Der Neurologe Walther Birkmayer (1910–1996), der Hornykiewicz’ Entdeckung erstmals klinisch umsetzte, wies allerdings eine Nachkriegskarriere als vormaliger Nationalsozialist auf.55 Trotzdem wurde er 1954 mit dem Primararztposten im Krankenhaus Lainz bedacht, war noch in den 1980er Jahren populärer Fernsehdoktor in der Sendung Seniorenclub und wie der langjährige Gerichtspsychiater Heinrich Gross (1915–2005) auch Mitglied des Bundes Sozialistischer Akademiker, der diesen dunklen Teil seiner Vergangenheit erst spät dokumentierte.56 Von dem 1967 aus Brünn an die II. Chirurgische Universitätsklinik berufenen Herzchirurgen Johann Navrátil (1909–1992, Nachfolger von Hubert Kunz, s. S. 126) wurde das Wiener Kunstherzprogramm initiiert, das 1986 in den ersten klinischen Einsatz eines Kunstherzens mündete.57 Es war mit Klappen und einer pulsierenden Membran einem Herzen nachempfunden und wurde als Totalherzersatz implantiert. Als Weiterentwicklung wurde 1999, weltweit überhaupt erstmalig, ein Patient mit einer Rotationspumpe, die einen gleichmäßigen Blutfluss erzeugt, nach Hause entlassen, 2006 wurde eine Rotationspumpe mit hydromagnetischer berührungsloser Lagerung implantiert. Heute ist es aufgrund jüngster Innovationen möglich, die Pumpleistung des Kunstherzens an den physiologischen Bedarf anzupassen. Bisher wurden in Wien über 500 Kunstherzen eingesetzt, wenn PatientInnen sich im Endstadium einer Herzschwäche befinden und eine rechtzeitige Transplantation wegen des Mangels an Spenderherzen nicht möglich ist, und zwischenzeitlich stellt ein Kunstherz auch eine dauerhafte Option dar. 53 Walther Birkmayer/Oleh Hornykiewicz, The L-3,4-dioxyphenylalanine (DOPA)-effect in Parkinson akinesia, in: Wiener Klinische Wochenschrift 73 (1961) 45, 787–788. 54 Ali H. Rajput, An open letter to the Committee on the Nobel Prize in Medicine, in: Parkinsonism Related Disorders 7 (2001) 2, 149–155. 55 Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich; Herwig Czech/Lawrence A. Zeidman, Walther Birkmayer, Co-describer of L-Dopa, and his Nazi connections: victim or perpetrator?, in: Journal of the History of the Neurosciences 23 (2014) 2, 160–191. 56 Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz, Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten, hg. vom Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen (BSA), Wien: Czernin Verlag 2005. 57 Gabriele Dorffner/Walter M. Wallner, Kein Puls und doch am Leben – 50 Jahre Kunstherzforschung in Wien, Wien: Ludwig-Boltzmann-Institut für kardiovaskuläre Forschung 2020.

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Das Neue AKH – ein Mikrokosmos medizinischer Forschung Die Entstehungsgeschichte des Neuen AKH am Währinger Gürtel ist an mehreren Stellen nachzulesen (s. auch S. 737), auch weil inmitten der Bauphase, im Jahr 1980, der bis dahin größte Bauskandal der Zweiten Republik aufgedeckt wurde.58 Der Regierungsbeschluss für den Bau geht in das Jahr 1955 zurück, die veranschlagten Kosten waren eine Milliarde Schilling, die veranschlagte Bauzeit zehn Jahre. Tatsächlich wurde erst in den 1970er Jahren mit dem Bau begonnen, als erste Klinik war 1993 die Physikalische Medizin übersiedelt, als letzte die Frauenklinik zwei Jahre später. Die Gesamtkosten betrugen schließlich 43 Milliarden Schilling, bis heute im internationalen Vergleich eine Rekordsumme für ein Krankenhaus. Wesentlich war auch der Beschluss der Kostenteilung, nämlich dass Bund und Stadt Wien sich zu je 50 Prozent die Errichtungskosten teilten, ein bis 2015 gültiger Schlüssel für jegliche Renovierungen und bauliche Anpassungen. Für nach Fertigstellung anfallende Ersatz- und Neuinvestitionen betreffend Medizintechnik und EDV galt ein Bund/Land-Finanzierungsschlüssel von 40/60. Für die medizinische Forschung in Wien brachte die Übersiedelung einen Umbruch. Eine Analyse des österreichischen Forschungsoutputs im Bereich der Biomedizin59 zeigte für die Jahre 1991 bis 2000 einen stärkeren Anstieg innerhalb dieses Jahrzehnts als repräsentative Vergleichsländer (Abb. 2), wobei 60 Prozent des Outputs auf Wien entfielen. Auch die Forschungskultur hat sich dabei zunehmend einem international üblichen Niveau angepasst: Der Anteil an Publikationen in deutschsprachigen Journalen betrug 1991 noch 20 Prozent (und hier überwiegend aus dem klinischen Bereich) und sank bis 2000 auf acht Prozent. Umgekehrt waren die Akquisition von Drittmitteln für die publizierten Arbeiten, insbesondere aus dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), sowie der Anteil an Publikationen in Spitzenjournalen deutlich gestiegen. Die Interpretation dieser Daten wird allerdings dadurch erschwert, dass ein Drittel des Outputs nicht den Medizinischen Fakultäten zuzurechnen war, sondern auch anderen Fakultäten und nicht-universitären Forschungsinstitutionen wie dem Institut für Molekulare Pathologie (IMP, s. u.). Mit diesen Ergebnissen im Einklang stehen die Analysen von Bernd Binder (s. o.), der den Forschungsoutput Österreichs und der EU-Länder im Jahr 1994 miteinander verglichen hat.60 Damals hinkte Österreich sowohl bei der Gesamtzahl der wissenschaftlichen Publikationen im Bereich der Biomedizin als auch bei den Publikationen in biomedizinischen Spitzenjournalen (diese sind 58 Alfred Worm, Der Skandal. AKH: Story, Analyse, Dokumente. Europas größter Krankenhausbau, Wien: Orac 1981. 59 Austrian biomedical research outputs, 1991–2000, hg. vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (bm:bwk), Wien: Ciber 2002. 60 Binder, Medizinische Forschung in Österreich 1987–2002.

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Abb. 2: Publikationen zur Medizin 1991–2000. Gezeigt ist der rollierende Dreijahresdurchschnitt für die Länder Schweden, Schweiz, United Kingdom, Deutschland, Israel und Österreich (Ländercodes nach ISO 3166, für UK und DE zur Vergleichbarkeit durch „5“ dividiert). Das Verhältnis* „96–00/91–95“ repräsentiert das Verhältnis „Prozent des Weltdurchschnitts des jeweiligen Landes für die Jahre 1996–2000“ zu „Prozent des Weltdurchschnitts des jeweiligen Landes für die Jahre 1991–1995“ (© Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Abdruckgenehmigung).

definiert in der Legende zu Abb. 3) nicht nur den wesentlich größeren EUStaaten, sondern auch den meisten vergleichbarer Größe noch deutlich hinterher (Abb. 3). Auch hier betrug der Anteil Wiens etwa 60 Prozent (Daten von 1988– 1993), wobei auch auf die außeruniversitären Forschungsinstitutionen, wie das seit 1985 von Boehringer Ingelheim betriebene IMP, hingewiesen wird, dessen Forschungsoutput damals den der stärksten universitären Institute um das Dreifache überragte.61 Am auffallendsten war aber die Steigerung der wissenschaftlichen Qualität klinischer Forschung, also des Herzstücks der Universitätsmedizin, die im Zeitraum 1985 bis 2008 anhand der Zitierungen pro Publikation ermittelt wurde.62 Im Jahr 1985 lag Österreich hier noch 40 Prozent unter dem internationalen Durchschnitt (s. o.), bis Anfang der 1990er Jahre in etwa im Durchschnitt. Innerhalb der letzten Messperiode von 2004 bis 2008 lag Österreich schließlich 29 Prozent über dem Weltdurchschnitt, die EU-Länder in ihrer Gesamtheit lagen nur neun Prozent darüber. Für Publikationen zur klinischen Forschung war innerhalb Österreichs in erster Linie (zumindest für den Zeitraum bis 2002) die Universitätsmedizin in Wien verantwortlich.63

61 Ebd. 62 King, Austrian Science. 63 Binder, Medizinische Forschung in Österreich 1987–2002.

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Abb. 3: Gesamt- und Spitzenpublikationen zur Medizin in den Ländern der EU 1994. Gesamtzahl der wissenschaftlichen Publikationen (linke Ordinate) des Jahre 1994 aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sowie jener, die 1995 der EU beitraten (AT, SE, FI). Rechte Ordinate: Publikationen in biomedizinischen Spitzenjournalen, definiert als Journale mit einem ImpactFaktor innerhalb der obersten zehn Prozent jeder Disziplin. Ländercodes nach ISO 3166 (© Zentrum für Physiologie und Pharmakologie [Institut für Gefäßbiologie und Thromboseforschung] der Medizinischen Universität Wien, Publikationsgenehmigung).

Ursachen des Erfolgs Eigene Forschungsflächen. Mit der Übersiedlung in das neue Haus am Währinger Gürtel standen den Kliniken mit einem Schlag 16.000 Quadratmeter an Forschungsflächen zur Verfügung, und diese Möglichkeit wurde optimal genutzt. Ebenso wurde und wird das große Gebäude geschätzt, in dem alle Kliniken untergebracht waren (obwohl es berechtigte Stimmen für eine Pavillonbauweise gab, wo z. B. der Ausbreitung von Seuchen innerhalb einer Krankenanstalt eher Einhalt geboten werden kann). Für ein Gedeihen der Forschung ist eine spontane Kommunikation von wissenschaftlichen MitarbeiterInnen unterschiedlicher Fachrichtungen hingegen ein idealer Humus, und der ist eher gewährleistet, wenn sie alle unter einem gemeinsamen Dach tätig sind. Gleichzeitig hat auch die Zahl nicht-ärztlicher wissenschaftlicher MitarbeiterInnen – zuerst überwiegend über Drittmittel finanziert, später auch auf universitären Planstellen – sukzessive zugenommen. Zunehmende Internationalisierung der Berufungen. In vermehrtem Maß wurden Professuren auch aus dem Ausland besetzt, wenngleich Hausberufungen noch bis 2004, als die Universitäten Vollrechtsfähigkeit erlangten, nichtsdestoweniger dominierten. Ebenso gaben zunehmend Leistungskriterien, wie die

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Einbindung in die internationale Forschung, als wesentliches Qualifikationsprinzip den Ausschlag und weniger die intra- und extramuralen Beziehungen eines Bewerbers/einer Bewerberin. Auf S. 105 findet man ein eindrucksvolles Beispiel für die Berufungspolitik der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Teilrechtsfähigkeit. Im Jahr 1987 ermöglichte der damalige Wissenschaftsminister Hans Tuppy (geb. 1924) den Organen der Universitäten, damit auch Instituten und Universitätskliniken, eine Teilrechtsfähigkeit. Sie erlaubte es diesen Organen, im eigenen Namen sowohl Forschungsaufträge abzuschließen (entgeltliche Rechtsgeschäfte) als auch Hinterlassenschaften anzunehmen (unentgeltliche Rechtsgeschäfte) und die eingenommenen Mittel, soweit sie der wissenschaftlichen Forschung dienten, im eigenen Ermessen zu verwenden.64 Diese Mittel unterlagen damit auch nicht der Kameralistik, d. h. ein Überschuss war mit Jahresende nicht verloren. Davor konnte nur die Republik Österreich als Rechtsträger der Universitäten solche Rechtsgeschäfte abschließen. Insbesondere für klinische Prüfungen von Arzneimitteln und Medizinprodukten oder allgemein neuen diagnostischen oder therapeutischen Methoden, die überwiegend Auftragsforschung darstellen, war die Teilrechtsfähigkeit der Kliniken von unschätzbarem Wert. Interdisziplinarität. Das Arbeiten der Kliniken unter einem gemeinsamen Dach, aber auch die neue klinische Struktur mit Abschaffung der vorher bestehenden Doppelkliniken (s. Tab. 2) förderten die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Darauf aufbauend nahmen auch die Kooperationen auf internationaler Basis zu,65 woraus ein weiterer Qualitätsschub in den wissenschaftlichen Publikationen resultierte. Dadurch gelang es auch, in den Jahren bis zur Ausgliederung der Universitäten aus der Bundeshoheit und der damit verbundenen Verselbstständigung der Medizinischen Fakultäten als eigene Universitäten ein Forschungsprofil mit vier Schwerpunktfeldern aufzubauen, die auch die Grundlage für den ersten Entwicklungsplan der neuen Medizinischen Universität Wien in der Forschung bildeten:66 Allergologie/Immunologie/Infektiologie, Onkologie, Neurowissenschaften und Vaskuläre Medizin. Keine vorbelasteten Leitungsorgane mehr. Anfang der 1990er Jahre waren Professoren mit NS-Vorbelastung, auch solche, die keine Nazifunktionen innehatten, aber nichtsdestoweniger mit dieser Ideologie sympathisierten, nicht mehr im Amt. Wie lange sich dieses Sympathisantentum noch gehalten hat, sieht 64 Bundesgesetz vom 15. Dezember 1987, mit dem das Universitäts-Organisationsgesetz geändert wird (UOG-Novelle 1987), BGBl Nr. 654/1987; Gerald Bast/Karl Vodrazka, Universität und Drittmittel, hg. vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien: Österreichische Rektorenkonferenz 1990. 65 Austrian biomedical research outputs, hg. vom bm:bwk. 66 Entwicklungsplan der Medizinischen Universität Wien, Mitteilungsblatt, Studienjahr 2005/ 2006, Medizinische Universität Wien, Hg., 2006, 10. Stück.

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man daran, dass 1988, 50 Jahre nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, an den Universitäten keinerlei offizielle Kundgebungen anlässlich dieses Gedenkens abgehalten wurden. Zumindest nennenswerte Initiativen (wenn auch nicht auf Rektors-, Senats- oder Dekansebene) verdankt die Universität Wien u. a. dem Engagement einzelner Historiker, das in die beiden Bände Vertriebene Vernunft67 und die Ringvorlesung Die Universität Wien 1938– 1945, festgehalten in der Publikation Willfährige Wissenschaft, mündete.68

Resümee Die Wiener Universitätsmedizin verpasste mit Gründung der Zweiten Republik – nach dem zunehmenden Verfall des Leistungsprinzips während der Ersten Republik, der Dollfuss/ Schuschnigg-Diktatur und schließlich des Nationalsozialismus – die „Stunde null“ für einen Wiederaufbau. Folgende Gründe waren dafür maßgebend: (1) Den während der Zeit des „Anschlusses“ Vertriebenen wurden – wenn überhaupt – bloß halbherzige Angebote zur Rückkehr unterbreitet, die den Eindruck erweckten, dass man sie schlichtweg gar nicht zurückholen wollte.69 Vielmehr bewirkte ein weitgehend versagender Prozess der Entnazifizierung, dass ehemals aktive Nationalsozialisten bis in die 1970er Jahre als ordentliche Universitätsprofessoren neu berufen wurden. Erst 1990, anlässlich ihres 625-jährigen Bestehens, gedachte die Universität Wien auch offiziell in Form einer Publikation, die 1993 ergänzt und überarbeitet wurde, ihrer Vertriebenen.70 Am 13. März 1998 veranstaltete die Medizin als am schwersten betroffene Fakultät ein Gedenksymposium für die 60 Jahre davor Vertriebenen ihres Lehrkörpers und ihrer Studierenden und ließ anlässlich dieses Gedenkens in den Arkaden der Universität Wien eine Gedenktafel errichten71 (und zehn Jahre später ein weiteres Mahnmal an ihrem neuen Standort, Spitalgasse 23, bereits als eigene Universität). (2) Die Dominanz von politischem Katholizismus und des CV führte zu politisch motivierten Berufungen. 67 Friedrich Stadler, Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930/1940, Wien: Jugend und Volk 1987; Friedrich Stadler, Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien: Jugend und Volk 1988. 68 Gernot Heiss, Siegfried Mattl, Sebastian Meissl, Edith Saurer, Karl Stuhlpfarrer, Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938–1945, Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 43, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1989. 69 Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert, 45–92. 70 Mühlberger, Dokumentation „Vertriebene Intelligenz 1938“. 71 Wolfgang Schütz, The Medical Faculty of the University of Vienna 60 Years Following Austria’s Annexation, Perspectives in Biology and Medicine 43 (2000) 3, 389–396.

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(3) Eine katastrophale Unterdotierung der Universitäten erschwerte eine kompetitive Berufungspolitik zusätzlich; (4) Strukturelle Missstände, wie eine weitgehende „Ordinarien-Universität“ (HOG und Assistentengesetz) und danach (UOG und HochschullehrerDienstrecht) eine Pragmatisierungswelle des Mittelbaus, raubten jungen Forschenden die Chance auf eine eigenständige wissenschaftliche Entwicklung. In den 1990er Jahren schließlich war nicht nur der Geist der „Ehemaligen“ allmählich erloschen, auch in der Berufungspolitik setzte sich zunehmend das Leistungsprinzip durch, die im Jahr 1988 eingeführte Teilrechtsfähigkeit für die Institute und Kliniken wirkte sich in hohem Maße unterstützend auf die klinische Forschung aus. Aber erst die Übersiedlung des gesamten klinischen Bereichs in das Neue AKH in den Jahre 1993 bis 1995, wo erstmals dem ärztlichwissenschaftlichen Personal auch ausreichend Forschungsflächen zur Verfügung standen, konnte tatsächlich dazu genutzt werden, nicht nur sukzessive eine Anbindung an die internationale Spitzenforschung zu erreichen, sondern auch ein eigenes Forschungsprofil zu entwickeln. Wir danken Herwig Czech für die kritische Durchsicht des Manuskripts.

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Publikationstätigkeit und Rezeption der Wiener universitären Medizin im internationalen Kontext. Eine scientometrische Darstellung 1930 bis 2020 Publication Activity and Reception of University Based Medical Research in Vienna. A Scientometric Presentation 1930–2020 Abstracts Die Arbeit zeigt, (i) wie die katastrophalen Auswirkungen der politischen Entwicklungen der 1930er und 1940er Jahre den Standort Wien von seiner weltweit führenden Stellung in die Marginalität führten; (ii) einen publikatorischen Aufholprozess an die Weltspitze, der bis heute andauert und in einigen Fachgebieten auch gelungen ist; (iii) die späte Umstellung auf die Publikationssprache Englisch; (iv) Veränderungen in den interuniversitären Kooperationsnetzwerken, insbesondere deren explosionsartige Verdichtung seit 2000; (v) historische Veränderungen in der Zusammensetzung einzelner Disziplinen und die zunehmende internationale Bedeutung der Wiener Institute; (vi) die Mobilität von AutorInnen von und nach Wien, die im internationalen Kontext diskutiert wird. Alle Analysen basieren auf der Publikationsdatenbank Dimensions.ai. The paper shows (i) the disastrous effects of the political developments of the 1930s and 1940s, which lead Vienna from a once world-leading position to marginality; (ii) a publication process of catching up with the world leaders which continues to this day and has been achieved in some disciplines; (iii) the transition to English as the language of publication; (iv) changes in inter-university cooperation networks, especially their explosive densification since 2000; (v) the historical changes in the composition of disciplines and the increasing international relevance of Viennese institutes; (vi) the mobility of authors to and from Vienna, which is discussed in an international context. All analyses are based on the publication database Dimensions.ai. Keywords Scientometrie, wissenschaftliche Produktion, Publikationssprache, akademische Mobilität, Kooperationsnetzwerke, quantitative Medizingeschichte, Zitationsanalyse Scientometrics, Scientific production, Language of publication, academic mobility, cooperation-networks, quantitative medical history, Citation analysis

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Einleitung Am 1. Oktober 1990 hielt Eugene Garfield (1925–2017), der Gründer des ISI Science Citation Index, in der Gesellschaft der Ärzte Wien den Vortrag A citation analysis of Austrian medical research and Wiener Klinische Wochenschrift.1 Darin legte er dar, dass die medizinische Forschung in Österreich, gemessen an der Anzahl der Zitate, deutlich hinter vergleichbaren Ländern, wie z. B. der Schweiz oder Finnland, zurücklag. In einer Zeit, in der die bedeutendste wissenschaftliche medizinische Zeitschrift Österreichs, die Wiener Klinische Wochenschrift, noch auf Deutsch erschien, betonte er die Bedeutung von Englisch als Lingua franca der Wissenschaft und schlug vor, dem globalen Trend von internationalen, kollaborativen Studien zu folgen, um zu größerer internationaler Wahrnehmung zu gelangen. Hatte Herr Garfield recht? Wurde die Wiener medizinische Forschung zu wenig wahrgenommen, weil zu viel auf Deutsch publiziert wurde? Wie viel wurde 1990 tatsächlich auf Deutsch publiziert? Arbeiteten Wiener ForscherInnen im Vergleich zu anderen weniger intensiv zusammen, und inwiefern war die Produktivität in Wien anders als in anderen Institutionen und Ländern? Wie sieht es heute aus? Wer beeinflusst die Wiener medizinische Forschung, und wen beeinflussen die Wiener Forschenden? Wie mobil sind Wiener ForscherInnen? Wie verändern sich Fachrichtungen über die Jahrzehnte? Wie ist Wien im internationalen Vergleich einzuordnen? Wie beeinflussen äußere, geschichtliche Ereignisse das Wissenschaftsgeschehen? Wie findet Globalisierung statt? Macht Wien mit bei der Globalisierung der Wissenschaft? Und wie veränderte sich das alles im Laufe des letzten Jahrhunderts? In diesem Beitrag versuchen wir, mithilfe einer Zitationsanalyse der universitären medizinischen Forschung in Wien von 1930 bis 2020 Antworten auf diese Fragen zu geben, Trends nachzuzeichnen und im internationalen Kontext einzuordnen. Wir untersuchen anhand der medizinischen Forschung an der Universität Wien, dem Allgemeinen Krankenhaus in Wien und der Medizinischen Universität Wien (als Nachfolgeinstitution der Medizinischen Fakultät der Universität Wien seit 2004) die allgemeine Entwicklung der Wissensproduktion seit 1930. Um diese besser einordnen zu können, diskutieren wir eine Reihe von scientometrischen Kennzahlen im direkten Vergleich mit der medizinischen Forschung dreier anderer Universitäten: mit der Universität Harvard als einer der weltweit führenden Institutionen, mit der Karolinska in Schweden als einer der führenden nicht englischsprachigen Institutionen in Europa und der niederländischen Universität Utrecht, einer guten kontinentaleuropäischen Universi1 Eugene A. Garfield, A citation analysis of Austrian medical research and Wiener klinische Wochenschrift, in: Wiener Klinische Wochenschrift 103 (1991) 11, 318–325.

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tät.2 Die Universitäten wurden aufgrund ihrer internationalen Stellung am Ende des untersuchten Zeitraums ausgewählt. Im QS World University Ranking 2020 für Medizin belegt Harvard den ersten Platz, Karolinska den fünften Platz und Utrecht fällt, so wie Wien, in den Bereich 51 bis 100.3 Natürlich gab es zu Beginn des Prognosezeitraums andere, bedeutende Zentren der medizinischen Forschung. Die Auswahl gemäß der heutigen internationalen Stellung erlaubt es uns, den Weg der genannten Institutionen zu ihrer heutigen Bedeutung nachzuvollziehen. Durch den limitierten Umfang dieser Arbeit müssen wir uns auf einige wenige Institutionen beschränken. Wir gehen jedoch davon aus, dass die gewählten Institutionen ein repräsentatives Vergleichsbild ergeben. Der Wissenschaftsbetrieb hat sich im letzten Jahrhundert dramatisch verändert. Universitäre und außeruniversitäre Forschung sind im Umfang immens stark angewachsen, was sich in der Anzahl der Arbeiten, der AutorInnen und deren Kooperationen widerspiegelt. Seit den 1980er Jahren ermöglicht die Digitalisierung ein völlig andersartiges Arbeiten als zuvor, vor allem was die Verfügbarkeit von Neuerungen, Literaturrecherche und neue Möglichkeiten der Kommunikation und Kooperation betrifft. Insbesondere wird mithilfe der Scientometrie auch die Erforschung des Prozesses der Wissensproduktion selbst möglich,4 auch wenn die Gründung der Scientometrie durch Eugene Garfield in den 1960er Jahren erfolgte. Obwohl diese Veränderungen im Schaffen von wissenschaftlich Neuem global stattfinden, gibt es dennoch regionale und zeitliche Besonderheiten in der Art und Weise, wie wissenschaftlich gearbeitet wird und wie diese Arbeiten vom Rest der Welt rezipiert werden. Scientometrische Analysen liefern kein vollständiges Bild der Wissensproduktion und leiden an einer Reihe von Problemen und Schwachpunkten, die bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen sind. Zu diesen Problemen zählen zum Beispiel fehlende Publikationen in Datenbanken, Änderungen der Namen von Institutionen, Kliniken und Instituten, Doppelaffiliationen von AutorInnen, Doppeleinträge, verschiedene Schreibarten von Namen, die schlechte Datenlage zu Beginn des 20. Jahrhunderts und viele mehr. Auch ist es scientometrischen Analysen natürlich nicht möglich, auf den Inhalt des produzierten Wissens zu schließen oder festzustellen, welche Arbeiten ein Feld letztlich wei2 Bei Harvard und Utrecht handelt es sich um Volluniversitäten, bei Karolinska um eine reine medizinische Universität und in Wien bis 2004 um eine Fakultät einer Volluniversität und ab da um eine medizinische Universität. Um einen fairen Vergleich zu ermöglichen, beschränken wir uns, wie noch detaillierter erläutert wird, bei allen Universitäten auf Publikationen auf dem Fachgebiet der Medizin. 3 QS World University Ranking 2020, URL: https://www.topuniversities.com/university-ranking s/university-subject-rankings/2020/medicine (abgerufen am 21. 9. 2021). 4 Santo Fortunato u. a., Science of science, in: Science 359 (2018) 6379, eaao0185; Albert-László Barabási, The Formula: The Universal Laws of Success, Boston: Little, Brown and Company 2018.

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tergebracht haben. Das bedeutet, dass man sich nicht zu sehr auf die folgenden absoluten Zahlen verlassen sollte, da diese oft nicht nur von den Details in der Definition der Kennzahlen, den Details der Datenbank und den Details der Datenabfrage abhängen, sondern auch von historischen und zeitlichen Besonderheiten bestimmt sind. Doch auch die Gewichtung solcher Einschränkungen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Wir versuchen dennoch, zumindest ein Bild der wichtigsten Trends der Wissensentwicklung der Wiener medizinischen Forschung zwischen 1930 und 2019 nachzuzeichnen. Mit diesem Beitrag wollen wir aufzeigen, wie das Werkzeug der scientometrischen Analyse für eine Vielzahl von historischen Fragestellungen im Zusammenhang mit räumlich und zeitlich aufgelöster Wissensproduktion genutzt werden kann. Im Folgenden können wir unter anderem zeigen, dass in der Folge von Austrofaschismus, Nationalsozialismus und später des Zweiten Weltkriegs die Wiener medizinische Forschung von einer international führenden Position in die Marginalität geführt wurde, die lange angedauert hat. Wir finden, dass der Wechsel der Publikationssprache auf Englisch die Grundlage für den deutlichen Anstieg der internationalen Wahrnehmung bildet. Wir sehen die Auswirkungen des Computers auf das Forschungsgeschehen seit den 1980er Jahren ebenso wie den Beginn der Globalisierung des Wissenschaftsbetriebs ab etwa 2000. Dem vorausgehend finden wir einen allgemeinen rapiden Anstieg der Mobilität von ForscherInnen seit 1990, der etwa 2005 abbricht und seitdem leicht rückläufig ist. Schließlich können wir rekonstruieren, welche Institutionen in welchen Forschungsfeldern zu welcher Zeit international führend waren und sind.

Datengrundlage Die folgende Studie basiert auf dem Dimensions.ai-Datensatz5, zur Verfügung gestellt durch das Centre for Science and Technology Studies (CWTS) der Universität Leiden,6 mit Stichtag 1. April 2020. Er enthält, ähnlich wie das ISI Web of Science oder Scopus, eine Reihe von Metainformationen zu möglichst allen wissenschaftlichen Publikationen seit 1665. Die Dimensions.ai-Datenbank unterscheidet sich aber von den Konkurrenzprodukten in Umfang, Struktur und Möglichkeiten. Während ISI Web of Science und Scopus ihren Schwerpunkt auf von ExpertInnen kuratierte Artikel legen, legt Dimensions.ai Wert auf einen 5 Dimensions, Linked Research Data from Idea to Impact, URL: https://www.dimensions.ai (abgerufen am 21. 9. 2021). 6 Dimensions ist ein Produkt von Digital Science, CWTS erlaubt uns freundlicherweise den Zugang zu einer Offline-Version der Dimensions-Datenbank, die CWTS mit Stand April 2020 von Digital Science zu Verfügung gestellt bekommen hat.

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Publikationstätigkeit und Rezeption der Wiener universitären Medizin

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möglichst vollständigen Überblick über die Forschungslandschaft.7 Dimensions.ai basiert auf einem Grundgerüst der Crossref- und Pubmed-Datenbanken und erweitert diese mittels Künstlicher Intelligenz um Zusatzinformationen wie zum Beispiel Fachbereiche, Zitate, AutorInnen und Institutionen.8 Zu den Metainformationen gehören auch die Global Research Identifier Database (GRID)9, harmonisierte Affiliationsdaten sowie eindeutige Autor-Identifikationsnummern nach dem Researcher-ID-System von Thomson Reuters.10 Diese eindeutigen Identifikationskennzahlen versuchen, die korrekte Zuschreibung von wissenschaftlichen Arbeiten zu vereinfachen. Außerdem enthält Dimensions.ai Daten zu Projektfinanzierung, Patenten, Datensätzen und klinischen Studien, die wir hier nicht analysieren. Die von Dimensions.ai verwendeten Fachbereichskategorien entsprechen dem System der Australian and New Zealand Standard Research Classification.11 Aus den Daten können weitere Kennzahlen abgeleitet werden, wie zum Beispiel der Zu- und Abgang von ForscherInnen in bestimmten Regionen. Im Vergleich zu z. B. Scopus hat Dimensions.ai eine größere Abdeckung in Bezug auf Publikationen, aber eine etwas schlechtere in Bezug auf Zitate. Martijn Visser, Nees Jan van Eck und Ludo Waltman12 vergleichen mehrere Datenbanken und finden in Scopus 27 Millionen Einträge im Vergleich zu 36,1 Millionen in dimensions.ai (Web of Science: 22.9 Mio.). Dafür enthält Scopus 205 Millionen Zitate im Vergleich zu 189,7 Millionen in Dimensions.ai (Web of Science: 169,9 Mio.). Die Abdeckung zu den einzelnen Publikationen variiert abhängig von der Fachrichtung, nimmt jedoch in der Vergangenheit tendenziell zu.13 Dafür nimmt die Qualität der Metadaten für ältere Publikationen ab.14

7 Martijn Visser, Nees Jan van Eck, Ludo Waltman, Large-scale comparison of bibliographic data sources: Scopus, Web of Science, Dimensions, Crossref, and Microsoft Academic, in: Quantitative Science Studies 2 (2021) 1, 20–41. 8 Daniel W. Hook, Simon J. Porter, Christian Herzog, Dimensions: building context for search and evaluation, in: Frontiers in Research Metrics and Analytics 3 (2018) 23, 1–11. 9 Global Research Identifier database (GRID), URL: https://www.grid.ac/ (abgerufen am 21. 9. 2021). 10 Web of Science ResearcherID, URL: https://www.researcherid.com (abgerufen am 21. 9. 2021). 11 Australian and New Zealand Standard Research Classification (ANZSRC), URL: https:// www.abs.gov.au/ausstats/[email protected]/0/5D99AEA1DD8AA8E0CA2574180005421C?Opendocu ment (abgerufen am 21. 9. 2021). 12 Visser, van Eck, Waltman, Quantitative Science Studies. 13 Peter Olesen Larsen, Markus von Ins, The rate of growth in scientific publication and the decline in coverage provided by Science Citation Index, in: Scientometrics 84 (2010) 3, 575– 603; Tove Faber Frandsen u. a., PubMed coverage varied across specialties and over time: a large-scale study of included studies in Cochrane reviews, in: Journal of Clinical Epidemiology 112 (2019) 8, 59–66.

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Konkret verwenden wir Publikationen, die geografisch, inhaltlich (auf der Ebene von Fachbereichen) und zeitlich aufgelöst werden können. Das ermöglicht den Vergleich der Wiener medizinischen Forschung in einem internationalen Kontext. Im Folgenden identifizieren wir alle Publikationen in der Dimensions.ai-Datenbank, die zwischen 1930 und 2020 am Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, an der Universität Wien und, ab 2004 deren Nachfolgeuniversität, der Medizinischen Universität Wien, entstanden sind. Wir beschränken uns bei allen untersuchten Institutionen auf Publikationen in der Kategorie „11 Medical and Health Science“, um nicht-medizinische Publikationen auszuschließen. Um datentechnischen Problemen vorzubeugen, die durch die Abspaltung der Medizinischen Universität von der Universität Wien 2004 entstehen könnten, schließen wir Forschung in der Kategorie 11, die an der Universität Wien durchgeführt wird, auch nach 2004 mit ein. Kategorie 11 schließt Publikationen aus medizinnahen Fächern wie Genetik, Biomedizinische Technik, nicht medizinspezifische Molekularbiologie oder Medizingeschichte aus. Zuerst werden alle den genannten Institutionen mittels GRID-Identifikationsnummern zugeordneten Publikationen identifiziert; diese dienen dann als Grundlage für die folgenden Analysen. In Wien wird seit jeher medizinische Forschung auch außerhalb des Allgemeinen Krankenhauses und der Universität Wien praktiziert. Die Einschränkung auf die universitäre Forschung inklusive des angeschlossenen Allgemeinen Krankenhauses erlaubt jedoch eine saubere Definition und stellt einen Kern der Wiener medizinischen Forschung dar, der repräsentativ für die Entwicklungen in Wien insgesamt steht. Wenn im Folgenden von der „Wiener medizinischen Forschung“ die Rede ist, ist diese hier genannte Definition gemeint. Der Beobachtungszeitraum wurde gewählt, um die Auswirkungen und Folgen der Ereignisse und Politik der 1930er und 1940er Jahre abbilden zu können. Die Blütezeit der medizinischen Forschung der beiden Wiener Medizinischen Schulen lag zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und dem frühen 20. Jahrhundert und ist in der vorliegenden Analyse nicht erfasst. Im nächsten Schritt werden die Zitate der identifizierten Papiere, Bücher und Tagungsbeiträge ermittelt. Diese geben Aufschluss über Wahrnehmung und Rezeption der an den verschiedenen Institutionen produzierten Arbeiten im internationalen Umfeld. Es wird nachvollziehbar, wer wen wahrnimmt und möglicherweise beeinflusst. Wir aggregieren diese Informationen auf Fachrichtungen, Institutionen und Länder. Mit den entsprechenden Autorenlisten können so auch Veränderungen der interinstitutionellen und internationalen Zusammenarbeit im Detail nachvollzogen werden. Weiters kann durch das zeitliche 14 Dies ist exemplarisch erkennbar am Namensfeld für AutorInnen. So sind für Publikationen aus dem Jahr 2016 98 Prozent der AutorInnen namentlich bekannt, während dieser Wert 1960 unter 80 Prozent liegt und in den 1940er Jahren um die 70 Prozent beträgt.

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Erscheinen und Verschwinden von Autorenaffiliationen ein Bild der Mobilität von WissenschafterInnen gezeichnet werden.

Kennzahlen und Limitationen Die hier verwendeten Kennzahlen sind großteils selbsterklärend. Die Anzahl der Publikationen pro Jahr, die an einer Institution entstehen, enthält Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften, Buchkapitel und Tagungsberichte. Die Anzahl der aktiven AutorInnen ist die Zahl der AutorInnen, die der untersuchten Institution zugeordnet sind und im gegebenen Jahr auf mindestens einer Publikation aufscheinen. Die Verteilung der Anzahl Zitate pro Publikation folgt einem Potenzgesetz.15 Daraus folgt, dass das arithmetische Mittel stark von Ausreißern beeinflusst wird. Daher verwenden wir für die Darstellung der Zitate pro Publikation nicht den Mittelwert, sondern den Median als robuste Kennzahl. Die AutorInnen pro Publikation sind der Mittelwert der Zahl der AutorInnen auf einer Publikation, die einer Institution zuzuordnen ist. Die Publikationen pro AutorIn sind die Anzahl der Publikationen, die ein Autor oder eine Autorin in einem Jahr im Schnitt aufweist. Die Institutionen pro Publikation sind der Mittelwert der verschiedenen Institutionen (harmonisiert nach der GRID-Identifikationsnummer), die auf einem Artikel angeführt sind, die Länder pro Publikation sind die mittlere Anzahl unterschiedlicher Länder, die auf einer Publikation erfasst sind. Eine Publikation kann also aus mehreren Ländern stammen. Wir rechnen die Zitierungen anteilsweise nach AutorInnen und Ländern. Wird also eine Publikation mit zum Beispiel fünf AutorInnen aus unterschiedlichen Ländern zitiert, wird für jedes Land ein Fünftel der Zitierung gerechnet. Der H-Index gibt an, wie viele Publikationen (H), die in einem gegebenen Jahr produziert wurden, im Folgezeitraum bis zum April 2020 gleich oft oder öfter als H-mal zitiert wurden. Ein H-Index von 28 für Wien im Jahr 1980 bedeutet, dass von den 136 von Wiener Institutionen damals produzierten Publikationen 28 mindestens 28 Zitate aufweisen. Für einige Daten wird das Dreijahresmittel angegeben, um kurzfristige Schwankungen auszugleichen. Der Wert der topzitierten Arbeiten gibt an, wie oft die in einem Jahr verfassten Papiere seit Entstehung bis April 2020 zitiert wurden. Wir sehen uns das bestzitierte Prozent der Arbeiten an (99%-Quantil) – das bedeutet, wie oft das beste eine Prozent der Arbeiten an einer Institution mindestens zitiert worden ist. 15 Sidney Redner, How popular is your paper? An empirical study of the citation distribution, in: The European Physical Journal B-Condensed Matter and Complex Systems 4 (1998) 2, 131– 134.

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Die Mobilität der WissenschaftlerInnen und die Netzwerkdarstellungen müssen näher erläutert werden. Für die Analyse der Mobilität zählen wir die Anzahl der AutorInnen, die mit einer Wiener Affiliation publiziert haben und im Folgenden (oder einem späteren) Jahr mit einer ausländischen Affiliation publizieren. Diese Zahl nennen wir „Abgang WissenschaftlerInnen“. „Zugang WissenschaftlerInnen“ bedeutet die Zahl der AutorInnen, die erst mit einer ausländischen Affiliation publiziert haben und im Folgenden (oder einem späteren) Jahr mit einer Wiener Adresse publizieren. Es wird jeweils der Zeitpunkt der letzten bzw. ersten Publikation an der untersuchten Institution für die Darstellung in den Abbildungen verwendet. Um die Kooperationsnetzwerke darzustellen, werden alle Universitäten und Institutionen (auch Spitäler) identifiziert, die mit einer Wiener Institution gemeinsam Publikationen in einem bestimmten Zeitraum hervorgebracht haben. Diese Universitäten bzw. Institutionen sind die Knotenpunkte des Netzwerks. Wenn diese im gegebenen Zeitraum mehr als eine Publikation gemeinsam publizieren, werden sie durch eine „Kante“ miteinander verbunden. Das so entstehende Netzwerk zeigt die Kooperationsbeziehungen der mit Wien in Verbindung stehenden Institutionen. Die Position der Knoten in der Darstellung wurde durch den Force-and-Spring-Algorithmus ermittelt. Dabei wird angenommen, dass sich Knoten abstoßen, während Kanten anziehende Federn darstellen. Stark zusammenhängende Knoten werden so in räumlicher Nähe dargestellt. Die vorliegende scientometrische Analyse weist einige Beschränkungen auf. Die Abdeckung der verwendeten Datenbank Dimensions.ai ist nicht vollständig, das gilt besonders für ältere Publikationen und deren Referenzen. Die Einträge der Datenbank sind nur bedingt vergleichbar mit denen anderer Datenbanken wie dem ISI Web of Science oder Scopus. Weiters sind nicht alle Kennzahlen von gleicher Qualität. Insgesamt sind aufgrund dieser Limitationen die absoluten Zahlenwerte mit Unsicherheiten behaftet, ein relativer Vergleich zwischen den Institutionen sollte aber verlässlich möglich sein. Einige Gegenproben mit anderen Datenquellen legen nahe, dass die Angaben der Realität entsprechen. Zum Beispiel stehen den 3.067 aktiven AutorInnen der Medizinischen Universität Wien 2019 4.288 Stimmberechtigte bei der Betriebsratswahl für das wissenschaftliche Personal gegenüber. Der Impact-Faktor von österreichischen medizinischen Fachartikeln lag im Jahr 1995 bei 2,6,16 wir ermitteln auf Basis unserer verwendeten Daten für den Zwei-Jahres-Impact-Faktor einen Wert von 2,75. Wir

16 Giuseppe Sandro Mela, Marco Amedo Cimmino, Donatella Ugolini, Impact assessment of oncology research in the European Union, in: European Journal of Cancer 35 (1999) 8, 1182– 1186.

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finden durchwegs gute Übereinstimmung mit den Daten des Leiden Rankings17 in Bezug auf die institutionellen Leistungsindikatoren. Ein weiteres potenzielles Problem stellt die Zuordnung von Arbeiten nach der Neugründung der Medizinischen Universität Wien im Jahr 2004 dar. Diesem Problem konnten wir begegnen, indem wir zum einen die Universitätskennzahl der Medizinischen Universität bereits vor 2004 in die Suchanfrage eingebunden haben und zum anderen auch nach 2004 weiterhin Forschung der Kategorie „11 Medical and Health Sciences“ der Universität Wien in die Auswertung einbinden. In den entsprechenden Zeitreihen finden wir keine nennenswerten Sprünge oder Inkonsistenzen. Es muss nicht eigens betont werden, dass Medizinische Fakultäten und Universitäten andere und durchaus wesentlichere Erfolgskriterien als Zitate besitzen. Diese waren jedoch nicht Ziel dieser Studie.

Ergebnisse Publikationen und Zitate In Abb. 1(a) sieht man die Entwicklung der Anzahl der Publikationen, die in der Wiener medizinischen Forschung seit 1930 pro Jahr entstanden sind (blau), im direkten Vergleich mit den Universitäten Harvard (grün), Karolinska (gelb) und Utrecht (rot). Der Einsatz zeigt die Periode 1930 bis 1970 im Detail. Klar sichtbar ist, dass Wien 1930 mit etwa 50 Publikationen pro Jahr im Vergleich zu diesen drei Institutionen führend war und wohl auch international eine Spitzenstellung innehatte. Diese Produktivität reduziert sich in den folgenden Jahren drastisch und bricht ab dem „Anschluss“ 1938 zunehmend zusammen, bis bei Kriegsende keine einzige Publikation pro Jahr mehr entsteht. Alle Institutionen folgen einer annähernd exponentiellen Wachstumskurve, 2019 publiziert Harvard etwa 10.100 Arbeiten, Wien etwa 3.600. Die Zunahme der Publikationstätigkeit folgt der Anzahl der aktiven AutorInnen, die in Abb. 1(b) zu sehen sind. Während diese Zahl in Wien ab 1980 von 227 bis 2019 auf etwa 3.500 ansteigt, werden in Harvard mehr als doppelt so viele AutorInnen aktiv. Wien ist von den aktiven AutorInnen her in etwa vergleichbar mit Utrecht, Karolinska hatte bis etwa 2000 einen identischen Zuwachs wie Harvard, ab dann aber eine deutlich schwächeren. Karolinska rangiert 2019 bei etwa 5.300 AutorInnen. Bemerkenswert ist hier der Zeitraum zwischen 1930 und 17 CWTS Leiden Ranking, Karolinska Institutet, URL: https://www.leidenranking.com/Ranking /University2020?universityId=684&fieldId=1&periodId=5&fractionalCounting=1&perform anceDimension=0&rankingIndicator=pp_top10&minNPubs=100 (abgerufen am 21. 9. 2021).

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Abb. 1: Scientometrische Kennzahlen der medizinischen Forschung in Wien (blau) im Vergleich mit Harvard (grün), Karolinska (gelb) und Utrecht (rot). (a) Anzahl der Publikationen seit 1930. (b) Zunahme der Zahl der aktiven AutorInnen. (c) Anteil der englischsprachigen Publikationen. (d) Zitate pro Publikation (Median).

1955, der im Insert in Abb. 1(b) dargestellt ist. Wien nimmt 1930 noch die Rolle der Institution mit den meisten aktiven AutorInnen ein, verliert diese aber in den 1930er und 1940er Jahren. Es dauert bis in die späten 1950er, bis die Zahl der aktiven AutorInnen von 1930 wieder erreicht ist. In einer Analyse des Personalstands der ProfessorInnen und DozentInnen der Medizinischen Fakultät zeigt Klaus Taschwer, dass diese Entwicklung noch dramatischer ist. Bei Betrachtung eines längeren Betrachtungszeitraums wird erkennbar, dass der Personalstand bereits ab den 1920ern sinkt und erst 1970 dieses Niveau wieder erreicht.18 Im selben Zeitraum, in dem in Wien die Zahl der aktiven AutorInnen abnimmt, nimmt sie in Harvard und Karolinska stark zu und wird von Wien nie wieder eingeholt.

18 Klaus Taschwer, The 1938 Anschluss and the decline at the university of Vienna’s medical school, in: Ethics, Medicine and Public Health 12 (2020) 100432.

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Abbildung 1(c) zeigt den Anteil der in englischer Sprache verfassten Publikationen. In Wien wird bis 1960 praktisch ausschließlich auf Deutsch publiziert. Zu Kriegsende kommt es zu einer kurzfristigen Zunahme englischsprachiger Arbeiten, die ab dem Ende der Besatzungszeit wieder auf unter zehn Prozent zu Beginn der 1960er Jahre abfällt. Ab dieser Zeit setzt eine allmähliche Zunahme der englischsprachigen Publikationen ein. Der Übergang ist erst im Jahr 2000 abgeschlossen, als mehr als 90 Prozent erreicht werden. In Harvard wird naturgemäß fast ausschließlich auf Englisch publiziert, ebenso in Schweden. In Utrecht, das zu Beginn der 1940er Jahre einen starken englischsprachigen Anteil hatte, kommt es während und nach den Kriegsjahren zu einer Abnahme dieses Anteils, der ab den frühen 1950er Jahren wieder zunimmt und ab 1960 bei fast 100 Prozent bleibt. In Abb. 1(d) werden die Zitate pro Publikation dargestellt. Gezeigt wird hier nicht der Mittelwert, sondern der Median, da es ansonsten – wie bereits erwähnt – bei dieser Kennzahl zu großen statistischen Ausreißern kommt. Das Maximum der Zitate pro Publikation wird im Jahr 2003 erreicht. Der Abfall der Kurve nach 2003 spiegelt die Tatsache wider, dass jüngere Publikationen noch weniger Zitate haben. Harvard dominiert klar mit einem Median von 39 Zitaten pro Publikation im Jahr 2003. Wien liegt etwa bei der Hälfte, Karolinska und Utrecht befinden sich zwischen Harvard und Wien.

Kooperation Abbildung 2 zeigt Kennzahlen zur Kooperation von ForscherInnen. In Abb. 2(a) ist die Zahl der AutorInnen pro Publikation dargestellt. Man erkennt deutlich den internationalen Trend von Einzelautorschaften bis Mitte der 1950er Jahre. Die Anzahl der AutorInnen pro Publikation steigt ab dann bis heute kontinuierlich an und nimmt ab 2000 noch einmal verstärkt zu. In Schweden sind schon ab 1940 durchschnittlich zwei AutorInnen auf den Publikationen zu finden. Der steigende Verlauf ist in den verschiedenen Institutionen ähnlich, derzeit stehen auf einer Publikation etwa zehn AutorInnen. Die Anzahl an Publikationen pro AutorIn, siehe Abb. 2(b), hat im Gegensatz zu den AutorInnen pro Publikation weniger stark zugenommen. Bis etwa 1980 findet sich jeder Autor/jede Autorin im Schnitt auf 1,4 Publikationen pro Jahr. In Karolinska sind es ab 1960 mit etwa zwei deutlich mehr. Ansonsten ist die Situation in allen Institutionen ähnlich. In den 1990er Jahren begann die Anzahl der jährlichen Publikationen pro AutorIn stark zu steigen und liegt derzeit bei 1,9 bis 2,1 Arbeiten. In Abb. 2(c) sieht man die Anzahl der Institutionen pro Publikation. Bis 1970 stammt eine Publikation im Normalfall von AutorInnen nur einer Institution.

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Nur Harvard-Publikationen verzeichnen bereits hier mehrere Institutionen. Auch in dieser Kennzahl ist ein stetiger Anstieg der Zusammenarbeit feststellbar mit einem massiv verstärkten Anstieg ab dem Jahr 2000. Auffallend ist, dass Wien von 1980 bis 2000 einen verstärkten Trend zu mehreren Institutionen nicht mitmacht und deutlich hinter den anderen Institutionen zurückbleibt. Wiener Forschende arbeiten also deutlich länger allein für sich. Ein Effekt des EU-Beitritts Österreichs 1995 ist hier nicht nachweisbar – jedenfalls nicht sofort. Die Grenze von zwei Institutionen pro Publikation wurde erst kurz nach 2000 durchbrochen. Bemerkenswert ist auch, dass Harvard als Top-Institution ab den Kriegsjahren bis in die 1960er Jahre einen deutlich höheren Wert als die anderen Universitäten hatte.

Abb. 2: Zusammenarbeit in der universitären Medizin. (a) AutorInnen pro Publikation. (b) Anzahl an Publikationen pro AutorIn. (c) Anzahl der Institutionen pro Publikation. (d) Anzahl der Länder pro Publikation.

Abbildung 2(d) zeigt die Anzahl der Länder pro Publikation. Wieder ist ein stetiger Anstieg feststellbar, der sich ab dem Jahr 2000 stark beschleunigt. Die Zwei-Länder-Marke wurde erst etwa 2010 überstiegen, wobei bemerkenswert ist,

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dass Harvard in Bezug auf internationale Kooperation hinter den europäischen Universitäten zurückbleibt und auch gegenwärtig noch unter dem Wert von zwei Ländern pro Publikation liegt. In Zusammenschau mit den Resultaten in Abb. 2 (c) heißt das, dass verstärkt nationale Kooperationen eingegangen werden, was mit der Größe der USA im Vergleich zu den anderen untersuchten Ländern erklärbar ist. Der Trend zu internationaler Kooperation ist aber auch in Harvard steigend. Die interinstitutionelle Kooperation der Wiener Medizin wird in Abb. 3 als Kooperationsnetzwerk für drei Beobachtungsperioden, (a) 1930–1940, (b) 1965– 1975 und (c) 2000–2010 dargestellt. Knoten entsprechen den Institutionen, die mit Wiener Institutionen innerhalb der Periode gemeinsame Publikationen produziert haben. Wenn zwei Institutionen gemeinsame Arbeiten produzieren, sind sie miteinander durch eine „Kante“ verbunden. Die Kanten zwischen den Organisationen sind nach der Anzahl der gemeinsamen Publikationen gewichtet. Die Knotengröße repräsentiert die Anzahl der jährlichen Publikationen. Die Farbe zeigt die sieben wichtigsten Länder im Zeitraum 2000 bis 2010. In den 1930er Jahren, Abb. 3 (a), enthält das Kooperationsnetzwerk nur vier Knoten und sechs Kanten, wobei die stärksten Verbindungen zur Universität Breslau (damals Deutschland) und zur Tohoku-Universität in Japan bestehen.19 Im Zeitraum 1965 bis 1975, Abb. 3(b), wird das Netzwerk deutlich dichter und enthält bereits 151 Organisationen und 8.970 Kanten. Zur deutlicheren Darstellung stellen wir nur die Kanten mit mehr als fünf Publikationen pro Jahr dar (das dargestellte Netzwerk zeigt somit nur 137 Knoten und 2.844 Kanten). Das Netzwerk der 2000er Jahre, Abb. 3(c), enthält 3.263 Knoten und 1,6 Millionen Kanten und wurde zur besseren Darstellung auf mindestens 20 Publikationen pro Jahr gefiltert (damit enthält die Abbildung 220 Knoten und 5.864 Kanten). Man beobachtet also ein explosives Anwachsen der Kooperationsnetzwerke. Gleichzeitig werden diese auch dichter. Die durchschnittliche Anzahl von Kanten pro Institution beläuft sich in den 1930er Jahren auf drei, auf 119 in den 1960er Jahren und auf 997 in den 2000er Jahren. Erstaunlicherweise finden sich Harvard und Utrecht erst im Zeitraum 2000 bis 2010 im Kooperationsnetzwerk von Wien. In der Periode 1965 bis 1975 gab es also noch keine Kooperationen von Wiener Institutionen mit Harvard oder Utrecht. Zusätzlich zur steigenden Internationalisierung erkennt man, dass nationale Kooperationen relativ stark sind. Zudem lassen sich sprachlich zusammenhängende Bereiche, wie US-GB oder AT-DE-CH, feststellen. 19 Die Verbindung zu Japan mag an dieser Stelle überraschen, ist aber auch andernorts belegt. Vgl. Bernhard Leitner, Psychiatrie und Neurologie zwischen Wien und Tokyo. Zur Rolle eines transnationalen Netzwerkes in der Entwicklung der akademischen Medizin in Japan circa 1900, in: Daniela Angetter u. a. (Hg.), Strukturen und Netzwerke – Medizin und Wissenschaft in Wien 1848–1955, Göttingen: V&R unipress 2018, 533–556.

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Abb. 3: Vergleich des Kooperationsnetzwerks der Wiener Medizin für die Perioden (a) 1930– 1940, (b) 1965–1975 und (c) 2000–2010. Dargestellt sind Institutionen, die im angegebenen Zeitraum eine oder mehrere gemeinsame Publikationen mit Wien veröffentlichen. Die Kanten zwischen den Institutionen geben die Anzahl der gemeinsamen Publikationen wieder. Die Knotengröße repräsentiert die Anzahl der jährlichen Publikationen.

Wer dominiert? H-Index und meistzitierte Arbeiten In Abb. 4 diskutieren wir Kennzahlen, um die Rezeption der Arbeiten und deren Einfluss abzuschätzen. Abbildung 4(a) zeigt den Dreijahresmittelwert des HIndex für die untersuchten Institutionen von 1930 bis 2020; das Insert vergrößert den Zeitraum von 1930 bis 1960. Wie dort sichtbar wird, hatte die Wiener medizinische Forschung zu Beginn des Untersuchungszeitraums einen höheren HIndex als die anderen Institutionen und war vergleichbar mit Harvard. Der Wert begann Mitte der 1930er Jahre rasch zu fallen. Karolinska schloss etwa 1950 zu Harvard auf, erlebte aber in der zweiten Hälfte der 1980er einen deutlich schwächeren Anstieg. Harvard steigt seitdem extrem stark an. In Abb. 4(b) sind die topzitierten Publikationen im 0.99-Quantil dargestellt. Angegeben ist, wie oft das eine Prozent der meistzitierten Papers mindestens zitiert wurde („niedrigster Wert“). Dieser Wert misst den Erfolg der sogenannten Leuchtturm-Artikel einer Institution und unterliegt relativ starken Schwankungen. Bis in die 1980er Jahre konnten Harvard und Karolinska noch ähnlich erfolgreiche Arbeiten produzieren (von 200 Zitaten pro Top-Arbeit 1930 auf 400 im Jahr 1980). Ab 1980 stieg der Wert für Harvard auf uneinholbare 800 Zitate für ein Prozent der meistzitierten Papers. Karolinska blieb bei etwa 400. Seit Mitte der 2000er Jahre liegen Wien, Karolinska und Utrecht in etwa gleichauf bei rund 400. Abbildung 4(c) zeigt die meistzitierten Publikationen pro Universität und Jahr. Die meistzitierte Arbeit stammt aus Harvard und wurde beinahe 25.000-mal zitiert. Es ist klar ersichtlich, dass Harvard im Vergleich mit den anderen drei Institutionen das 20. Jahrhundert dominiert, nur in wenigen Ausnahmen konnte Karolinska die meistzitierte Arbeit eines Jahres produzieren. Ganz besonders fällt diese Dominanz in den 1980er Jahren auf, in denen Harvard vermutlich von

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einem vorausgegangenen strategischen Aufbau von Talenten profitierte. Ab 2000 kann auch Utrecht vereinzelt die meistzitierte Arbeit produzieren. Im Jahr 2009 hat Wien, erstmalig seit 194020, die meistzitierte Arbeit geliefert21. Die meistzitierten Arbeiten in allen Wissensgebieten werden von Richard van Noorden, Brendan Maher und Regina Nuzzo genannt.22

Abb. 4: Erfolg/Einfluss, gemessen an Zitaten. (a) H-Index der untersuchten Institutionen von 1930 bis 2020; das Insert zeigt den Zeitraum von 1930 bis 1960. (b) Zitate der meistzitierten Publikationen im 0.99-Quantil. Angegeben ist der niedrigste Wert des einen Prozents der meistzitierten Arbeiten. (c) Die meistzitierte Publikation eines Jahres; das Insert zeigt den Zeitraum 1930 bis 1950.

Internationale Wahrnehmung Wer zitiert die Wiener Forschung? Wen zitieren die WienerInnen? In Abb. 5 verfolgen wir die Frage nach der gegenseitigen internationalen Wahrnehmung. In Abb. 5(a) sieht man die Antwort auf die Frage: AutorInnen welcher Länder zitieren Wiener universitäre Medizin? Farblich dargestellt ist die Herkunft dieser Arbeiten. Der Anteil der österreichischen (blau) und deutschen (orange) Zitate nimmt – ausgehend von einem Anteil von ca. 50 Prozent in den Vorkriegsjahren – über ein vorübergehendes Maximum in den 1940er und 1950er Jahren stark ab und pendelt sich heute bei etwa 15 Prozent ein. Der Anteil der Zitate aus den USA 20 Es handelt sich um Heribert Konzett, Richard Rössler, Versuchsanordnung zu Untersuchungen an der Bronchialmuskulatur, in: Naunyn-Schmiedeberg’s Archives of Pharmacology 195 (1940) 1, 71–74. 21 Es handelt sich um Roger Stupp u. a., Effects of radiotherapy with concomitant and adjuvant temozolomide versus radiotherapy alone on survival in glioblastoma in a randomised phase III study: 5-year analysis of the EORTC-NCIC trial, in: The Lancet Oncology 10 (2009) 5, 459– 466. An dieser Studie war das University Medical Center Utrecht beteiligt. Im Jahr 2010 war wieder Wien führend, jedoch ohne Kollaboration mit einer anderen der untersuchten Institutionen: Daniel Aletaha u. a., Rheumatoid arthritis classification criteria: an American College of Rheumatology/European League Against Rheumatism collaborative initiative, in: Arthritis & Rheumatism 62 (2010) 9, 2569–2581. 22 Richard van Noorden, Brendan Maher, Regina Nuzzo, The top 100 papers, in: Nature 514 (2014) 7524, 550–553.

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(grün) und Großbritannien (rot) ist bis in die 1980er Jahre (mit Unterbrechung während des Zweiten Weltkriegs) relativ konstant bei etwa einem Drittel und nimmt dann leicht ab. Der Anteil der anderen Länder der Welt nimmt stark zu (braun). Wer zitiert die Medizin aus Harvard? Abbildung 5(b) gibt darüber Aufschluss. Harvard wird zum Großteil von anderen US-Arbeiten zitiert. Der hohe Anteil an Zitaten aus den USA nimmt von über 60 Prozent zu Beginn des Untersuchungszeitraums ab und stabilisiert sich gegenwärtig bei über 40 Prozent. Auch hier manifestiert sich der allgemeine Trend, dass der Anteil der Zitate aus anderen Ländern zunimmt.

Abb. 5: Internationale Wahrnehmung von Wissen. (a) Wer zitiert die Wiener Medizin? Farben zeigen die Herkunft der Arbeiten, die Wiener Arbeiten zitieren. (b) Wer zitiert Medizin aus Harvard? (c) Wer zitiert Medizin aus Karolinska? (d) Wen zitieren die in Wien produzierten Arbeiten? (e) Wen zitieren die Arbeiten aus Harvard? (f) Wen zitieren die Arbeiten aus Karolinska?

Abbildung 5(c) zeigt, wer die Medizin des Karolinska-Instituts zitiert. Dank Schwedens relativ beschränktem Sprachraum publizierte das Institut schon früh überwiegend auf Englisch. Der Anteil der Zitate aus Schweden sinkt von einem deutlich niedrigeren Niveau (20 %) auf gegenwärtig zehn Prozent. Auch hier nimmt der Anteil der Zitate aus den USA leicht ab, der vom Rest der Welt deutlich zu. Aus welchen Ländern werden AutorInnen in den in Wien produzierten Arbeiten zitiert? Abbildung 5(d) zeigt, dass inländische Arbeiten 1930 noch zu 40 Prozent im eigenen Land zitiert werden, 2020 waren es nur mehr fünf Prozent.

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Der Anteil der zitierten Arbeiten aus den USA nimmt gegenüber Arbeiten aus dem Rest der Welt seit 1980 stark – und zunehmend – ab. Bemerkenswert ist ein vorübergehender Anstieg der zitierten Arbeiten aus den USA zulasten der Zitate aus Deutschland und Österreich in den 1950er Jahren. Auffallend ist auch, dass man an Harvards Medical School über lange Strecken mehr schwedische Arbeiten zitiert als deutsche. Wissenschaftliche Arbeiten aus Harvard zitieren überwiegend Arbeiten aus den USA, wie in Abb. 5(e) ersichtlich ist. Der Anteil der zitierten Arbeiten aus den USA sank bis zuletzt zugunsten von Arbeiten aus dem Rest der Welt. Nichtsdestotrotz stammen immer noch über 50 Prozent der zitierten Arbeiten aus den USA. Und aus welchen Ländern werden AutorInnen in den in Karolinska produzierten Arbeiten zitiert? Hier stieg zunächst der schwedische Anteil an zitierten Arbeiten auf bis zu 50 Prozent, um 1970 auf zehn Prozent in den 2010er Jahren zu sinken, siehe Abb. 5(f). Auch hier nimmt die Bedeutung des Rests der Welt zu. Klar erkennbar ist auch für Karolinska ein Überhang an schwedischen Arbeiten bis etwa 2000.

Fachrichtungen und Forschungsfelder Hier diskutieren wir die Zusammensetzung der Publikationstätigkeit nach Forschungsfeldern der untersuchten Universitäten. In der Publikationsdatenbank Dimensions.ai werden den einzelnen Publikationen Forschungsfelder zugeordnet. Daraus ergibt sich, welche Fachrichtungen wie stark zum Publikationsgeschehen einer Institution beitragen. Das wiederum erlaubt ein Bild der fachlichen Entwicklung der Universitäten im Zeitverlauf. Man erkennt, welche Fachrichtungen neu hinzukommen oder aussterben und wie sich die relative Bedeutung der Fachrichtungen verschiebt. In Abb. 6 ist die relative Zusammensetzung der publizierten Arbeiten nach Forschungsfeldern dargestellt. Wir vergleichen die Entwicklungen in (a) Wien, (b) Karolinska, (c) Harvard und (d) Utrecht. Die Legende beginnt mit der unten dargestellten Fachrichtung (Kardiologie) und endet mit der oben aufgetragenen Fachrichtung (Public Health). In den letzten Jahrzehnten sind in allen Institutionen ähnliche Tendenzen bei der Zusammensetzung erkennbar, mit klarer relativer Dominanz der „Klinischen Wissenschaften“. Diese sind in der Publikationsdatenbank als Sammelbegriff für verschiedene klinische Gebiete definiert und umfassen Fächer wie Anästhesiologie, Dermatologie, Orthopädie und Chirurgie.23 Das Verschwinden von Fä23 Die vollständige Liste: Anaesthesiology, Clinical Chemistry (diagnostics), Clinical Microbiology, Dermatology, Emergency Medicine, Endocrinology, Gastroenterology and Hepatology, Geriatrics and Gerontology, Infectious Diseases, Intensive Care, Medical Genetics, Nephrology

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Abb. 6: Zusammensetzung der Publikationstätigkeit der untersuchten Universitäten nach Forschungsfeldern für (a) Wien, (b) die Karolinska-Universität, (c) Harvard und (d) Utrecht. Die Legende beginnt mit der unten aufgetragenen Fachrichtung (Kardiologie) und endet mit der oben dargestellten Fachrichtung (Public Health).

chern wie der medizinischen Physiologie ist klar sichtbar; ebenso die relative Zunahme der Bedeutung von Public Health, die in Wien eine eher unterdurchschnittliche Entwicklung zeigt. Auch ist die relative Zunahme der Bedeutung der Onkologie in Wien erkennbar, ein Trend, der in den anderen Institutionen nicht erkennbar ist. Für Wien und Utrecht ist auch der Einbruch der Publikationstäand Urology, Nuclear Medicine, Orthopaedics, Otorhinolaryngology, Paediatrics, Pathology, Physiotherapy, Podiatry, Psychiatry, Radiology and Organ Imaging, Rehabilitation and Therapy, Rheumatology and Arthritis, Surgery, Venereology, Clinical Sciences not elsewhere classified.

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tigkeit während des Zweiten Weltkriegs ablesbar, lediglich das Feld „Klinische Wissenschaften“ war noch vertreten. Internationale Rolle der einzelnen Fachgebiete In Abb. 7 vergleichen wir die Zitate pro Publikation nach Fachbereich und Universität für die drei Perioden (a) 1930–1940, (b) 1965–1975 und (c) 2000– 2010. Die vertikale, gestrichelte Linie gibt den jeweiligen Durchschnitt (über alle Fachrichtungen) der Zitate pro Universität für die jeweilige Periode an. Von 1930 bis 1940 war Wien in den Bereichen Pharmakologie und Klinische Wissenschaften im Vergleich zu den anderen drei Universitäten führend, Abb. 7 (a). In diesem Zeitraum war auch der Universitätsdurchschnitt mit Karolinska und Utrecht vergleichbar. Bemerkenswert ist bereits die Führungsrolle von Harvard, die aber noch bei Weitem nicht in allen Bereichen etabliert ist. Interessant auch, dass Harvard Themen verfolgte, die an europäischen Universitäten damals eine eher geringere Rolle spielten – wie Neurowissenschaften, Diätologie, Public Health, Pädiatrie oder Sportmedizin. Diese Fachbereiche gehen mitunter auf wissenschaftliche Errungenschaften außerhalb der USA zurück, wurden aber dort laut unserer Analyse erfolgreicher betrieben. So wurden zum Beispiel die Neurowissenschaften in Europa entwickelt und mit ihren Ausprägungen gerade auch in Wien erfolgreich verfolgt.24 Für seine Verdienste auf dem Feld der Pädiatrie wurde Clemens von Pirquet, der zwischen 1908 und 1910 an der JohnsHopkins-Universität in Baltimore wirkte (um danach wieder nach Europa zurückzukehren), mehrmals für den Nobelpreis nominiert; und als Pionier der Orthopädie sei Adolf Lorenz erwähnt, der ausgiebige Reisen in die USA unternahm.25 1965 bis 1975 war Wien nur mehr in der Onkologie international kompetitiv und in allen anderen Bereichen deutlich abgeschlagen, Abb. 7(b). Auch im Universitätsdurchschnitt liegt Wien deutlich zurück. Es festigt sich die Rolle Harvards als die internationale Top-Universität mit Stärken im gesamten Spektrum. Nur vereinzelt ist Karolinska führend. Erst in der Zeit von 2000 bis 2010, Abb. 7(c), wird Wien wieder in mehreren Bereichen kompetitiv. Die mittlere Anzahl an Zitaten bleibt aber immer noch in allen Bereichen hinter Harvard zurück. Bemerkenswert ist die Dominanz von 24 Hier sind stellvertretend Sigmund Freud, einer der meistzitierten Wissenschaftler aus Wien, und Julius Wagner-Jauregg, der 1927 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde, zu erwähnen; Kurt A. Jellinger, Kurze Geschichte der Neurowissenschaften in Österreich, in: Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 10 (2009) 4, 5–13. 25 Adolf Lorenz, Ich durfte helfen. Mein Leben und Wirken, Leipzig: L. Staackmann 1937, 163– 173; Klaus Taschwer, Adolf Lorenz’ letzte Lebensjahre, Nachwort, in: Adolf Lorenz: Ich durfte helfen. Mein Leben und Wirken, Neuaufl., Wien: Czernin 2017, 413–439.

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Harvard in nahezu jedem Fachbereich. In den Neurowissenschaften, der Immunologie und Ophthalmologie ist Wien der Anschluss aber gelungen. Der Universitätsdurchschnitt hat den Anschluss zumindest an die europäische Spitze geschafft.

Abb. 7: Vergleich der Zitate pro Dokument nach Forschungsbereich und Universität 1930–1940, 1965–1975 und 2000–2010. Die gestrichelte Linie zeigt den Durchschnitt der Universität. (a) 1930–1940. (b) 1965–1975. (c) 2000–2010.

Mobilität Abschließend diskutieren wir die Mobilität von WissenschaftlerInnen. Aus welchen Ländern kommen WissenschaftlerInnen, die vorher in anderen Ländern publiziert haben? Wohin gehen WissenschaftlerInnen, die zuerst in Wien gearbeitet haben? In Abb. 8 stellen wie den Ab- und Zugang von AutorInnen von und nach Wien grafisch dar. AutorInnen werden über die auf ihren Publikationen angegebenen Affiliationen Institutionen bzw. Ländern zugeordnet. Ein Abgang (Zugang) nach Wien besteht, wenn die Zuordnung zu einer Wiener Universität erlischt (erstmals auftritt). Der Wert wird im Jahr der späteren Publikation

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Abb. 8: Ab- und Zugang von WissenschafterInnen von und nach Wien (a) und (d), Harvard (b) und (e) sowie Karolinska (c) und (f). Zielländer für Wien sind Österreich, Deutschland und die USA. Man beachte die unterschiedliche Skalierung der Ordinaten in (a), (b) und (c).

dargestellt. Der Beobachtungszeitraum ist auf 1980 bis 2019 eingegrenzt. In früheren Jahren ist die Datenqualität mangelhaft. Abbildung 8(a) zeigt die Abgänge von Wien. Die bedeutendsten Zielländer sind Österreich, Deutschland und die USA. Wir beobachten einen generellen Anstieg der Mobilität von den 1980ern von unter 50 AutorInnen auf etwa 500 um das Jahr 2000, eine wirklich steile Zunahme ist aber erst ab Mitte der 1990er Jahre zu beobachten. 2004/2005 erfolgt ein sprunghafter Anstieg auf ca. 1.200 Abgänge. Dieser Anstieg kann nur zu einem kleinen Teil mit der Gründung der Medizinischen Universität Wien 2004 und der damit verbundenen Neuzuordnung von WissenschaftlerInnen in Zusammenhang gebracht werden. Ein Teil der Zunahme geht nach Deutschland, ein wichtiger Teil in den Rest der Welt. Ab 2005 ist ein stagnierender bzw. rückläufiger Trend in den Abgängen bemerkbar. Die Zugänge nach Wien sind in Abb. 8(d) sichtbar. Auch hier entfällt der Großteil der Mobilität auf den deutsch- bzw. englischsprachigen Raum. Der sprunghafte Verlauf der Zugänge 2004/2005 ist ähnlich zu den Abgängen in Abb. 8(a), das Maximum liegt bei etwa 1.000 Zugängen. Seit 2005 stagniert die Zahl der Zugänge nach Wien etwa bei 900 pro Jahr. Die Abb. 8(b) und 8(e) zeigen die Situation in Harvard, für Karolinska die Abb. 8(c) und 8(f). Auffällig ist, dass Harvard und Karolinska weiterhin steigende Mobilitätszahlen zu verzeichnen haben, mit besonderem Gewicht auf dem Rest der Welt. In Karolinska fällt mehr als die Hälfte der Zu- bzw. Abgänge auf den Rest der Welt. Wenn man den Rest der Welt nicht berücksichtigt, zeigt Karolinska

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ab 2005 ein ähnliches Plateau an Zu- und Abgangszahlen wie Wien auf, siehe Abb. 8(c) und 8(f). Auffallend ist auch ein vorübergehender Einbruch der Zusowie Abgänge in Wien und Karolinska während der 2010er Jahre, der in Harvard nicht feststellbar ist.

Diskussion In diesem Beitrag zeigen wir globale Entwicklungen der Publikationstätigkeit und Rezeption der Wiener medizinischen Forschung in den letzten 90 Jahren. Wir stellen die massiven globalen Veränderungen in der wissenschaftlichen Produktion und Publikationstätigkeit sowie der interinstitutionellen und internationalen Zusammenarbeit dar. Wir sehen Effekte der Digitalisierung zum Beispiel durch die Einführung des Science Citation Index in den späten 1980er Jahren. Eindrucksvoll ist die explosionsartige Intensivierung von Kooperation und wissenschaftlicher Globalisierung, die ab den frühen 2000er Jahren voll einsetzt. Wir zeigen die historischen Veränderungen der Zusammensetzung der medizinischen Fachgebiete an den Universitäten und die vollkommen veränderte Mobilität von AutorInnen. Im internationalen Vergleich reflektieren wir die Position der in Wien entstandenen medizinischen Arbeiten. Unter anderem präsentieren wir Kennzahlen, die erlauben, sich den folgenden Fragen zu nähern: War die Produktivität in Wien grundlegend anders als in anderen Institutionen und Ländern? Wurde die Wiener Forschung zu wenig wahrgenommen, weil lange auf Deutsch publiziert wurde? Oder waren dafür andere historische Gründe wichtiger? Wann konnte Wien nach dem Krieg wieder zu europäischen Standards aufschließen? Haben Wiener ForscherInnen im historischen Vergleich weniger kooperiert als anderswo? Wer beeinflusst die medizinische Forschung in Wien und wen beeinflussen die WienerInnen? Wie unterscheidet sich die Mobilität der Wiener ForscherInnen von der anderer ForscherInnen? Verändern sich die Fachrichtungen in Wien anders als anderswo? Die in diesem Zusammenhang gezeigten Darstellungen erlauben auch einige Interpretationen im Hinblick auf geschichtliche Einflüsse.

Niedergang: Austrofaschismus – NS-Zeit – Zweiter Weltkrieg In unserer Analyse sehen wir die katastrophalen Auswirkungen der Politik und Entwicklungen der 1930er und 1940er Jahre. Die Vertreibung jüdischer und politisch unliebsamer KollegInnen von österreichischen Universitäten fand

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durchaus schon vor 1938 statt.26 Das ist in der Analyse klar ersichtlich. Die Faktoren dafür sind bekannt: eine nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend nicht leistungsbasierte Personalpolitik, harte Einsparungswellen 1934/35 (Kündigungen von bis zu 25 Prozent der Belegschaft) und 1938 die größte Entlassungswelle, die es je an einer Medizinischen Fakultät gegeben hat, mit dem Verlust von mehr als 50 Prozent aller Lehrenden.27 Ausgehend von einer weltweit führenden Stellung zu Beginn des Beobachtungszeitraums 1930 sank die Anzahl der Wiener Publikationen, seit 1938 noch einmal dramatisch, bis auf null (!) Publikationen zu Kriegsende. Der medizinische Wissenschaftsstandort Wien wurde dadurch in die absolute Marginalität geführt, in der er lange verharrte. Mitte der 1950er Jahre haben Harvard und Karolinska massiv an Publikationstätigkeit zugelegt, als Wien (und Utrecht) kaum Veränderung erkennen lassen. Eine ausgesprochene Tragik weisen die „Säuberungen“ 1938 in Bezug auf Fachgebiete auf. Wie Michael Hubenstorf in mehreren Arbeiten zeigt, waren jüdische ForscherInnen besonders in jüngeren Fächern vertreten, die – in der universitären Hierarchie zunächst wenig etabliert – eine vielversprechende wissenschaftliche Zukunft hatten. So waren beispielsweise Psychiatrie, Neurologie, Neuropathologie, allgemeine Pathologie, Pharmakologie oder Pädiatrie von besonders vielen Entlassungen betroffen (teilweise über 90 Prozent), während damals klassische Fächer wie Anatomie und Chirurgie deutlich weniger betroffen waren.28 Als Gründe für den Niedergang in Wien sind nicht nur die rassistisch und politisch motivierten Entlassungen der 1930er Jahre zu nennen, sondern nach 1945 wurde die Chance für einen Neuanfang vergeben, wie Wolfgang Schütz und Markus Müller in ihrem Beitrag (siehe S. 163) eindrücklich darstellen. Die nicht konsequente Entnazifizierung, die nicht geschehene Remigration von vertrie26 Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien: Czernin 2015; Klaus Taschwer, Geheimsache Bärenhöhle. Wie ein antisemitisches Professorenkartell der Universität Wien nach 1918 jüdische und linke Forscherinnen und Forscher vertrieb, in: Regina Fritz/Grzegorz Rossolin´ski-Liebe/Jana Starek (Hg.), Alma Mater Antisemitica, Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939 (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien 3), Wien: New Academic Press 2016, 221–242. 27 Taschwer, Anschluss and the decline. 28 Michael Hubenstorf, Ende einer Tradition und Fortsetzung als Provinz: Die Medizinischen Fakultäten der Universitäten Berlin und Wien 1925–1950, in: Christoph Meinel/Peter Voswinckel (Hg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus: Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart: GNT 1994, 33–53; Michael Hubenstorf, Vertriebene Medizin – Finale des Niedergangs der Wiener Medizinischen Schule?, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Bd. 2, Wien– München: Jugend & Volk 1988, 766–793; Michael Hubenstorf, Medizinische Fakultät 1938– 1945, in: Gernot Heiß (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1989, 233–282.

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benen WissenschaftlerInnen sowie die politischen und ökonomischen Einschränkungen der Nachkriegszeit sind nur einige der Gründe, die die beiden Autoren herausarbeiten. Die Anzahl der Professuren und DozentInnen erreichte erst in den 1970er Jahren wieder das Niveau der 1920er Jahre.29

Aufholjagd Der Aufholprozess, um an europäische Standards anschließen zu können, der vor 1980 kaum nachweisbar ist, dauert bis heute an. In einigen Fachgebieten ist dieser Anschluss zweifellos erfolgt. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass Wien ab den 1990er Jahren beginnt, den internationalen Trends zu folgen, und sukzessive aufschließt. Zu diesen Trends gehört auch die Zusammensetzung der Fachrichtungen an den Universitäten. Ab 2000 beteiligt sich Wien wieder eindeutig am europäischen Rennen. Die Analyse der Ursprungsländer von Zitaten zeigt, dass die USA Wien zunehmend wahrnehmen. Umgekehrt nimmt der US-Zentrismus der Wiener Forschung, der seit den 1960er Jahren vorherrschte, allmählich ab. Andere Regionen werden relativ zu den USA wichtiger. Die Wiener Selbst- und Deutschland-Zentriertheit nimmt drastisch ab. Dass diese zu Kriegsbeginn noch bei fast 50 Prozent lag (80 Prozent inklusive Deutschland) und heute bei fünf Prozent (knapp 15 Prozent inklusive Deutschland), zeigt den Unterschied im Selbstverständnis des Wissenschaftsbetriebs von damals und heute deutlich. Wien greift später als andere auf neu verfügbare digitale Mittel zurück. Insbesondere die Erfindung des Science Citation Index hat die Art und Weise, wie publiziert wird, nachhaltig verändert. Um die Anzahl an Publikationen und Zitaten zu maximieren, ergibt sich für WissenschaftlerInnen der Anreiz, an mehreren Arbeiten mitzuschreiben statt Einzelautorschaften zu produzieren. Kollaborationen erhöhen auch die Sichtbarkeit der eigenen Arbeiten. Wien folgt diesem Modus zu publizieren, insbesondere der interinstitutionellen Kollaboration, erst spät. Der extreme Anstieg an viel zitierten Arbeiten, den Harvard und etwas schwächer auch Karolinska in den frühen 1990er Jahren vormachen, findet in Wien nicht statt. Diesbezüglich hat Eugene Garfield in seinem Vortrag in der Wiener Gesellschaft der Ärzte recht behalten. In Utrecht ist dieser Aufschwung zeitverzögert kurz vor 2000 sichtbar. Die Rückkehr an die Weltspitze ist Wien nicht gelungen. Diese wird heute nach wie vor von Institutionen wie Harvard dominiert. Sehr wohl aber haben einige Fachrichtungen aufgeschlossen, sind sichtbar und zum Teil auch in der inter-

29 Taschwer, Anschluss and the decline.

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nationalen Spitze. Zu nennen sind hier die Neurowissenschaften, die Immunologie und die Ophthalmologie.

Englisch als Basis für globale Wahrnehmung Die Umstellung der Publikationssprache von Deutsch auf Englisch vollzieht sich zwischen 1960 und 2000, also vor dem Beginn des Aufholprozesses. Das indiziert deutlich, dass ohne englische Publikationstätigkeit kein Anschluss möglich war. Der Umstieg auf Englisch war also die Voraussetzung, um zu europäischen Standards aufzuschließen. Der deutsche Sprachraum war inzwischen zu klein und insgesamt vermutlich zu marginal, um relevante Sichtbarkeit zu generieren. Um vergleichbare Zitationszahlen zu bekommen, waren größere „Wissenschaftsmärkte“ notwendig. In Wien wurden Anfang der 1960er Jahre 75 Prozent der Arbeiten auf Deutsch publiziert und um 1990, als Garfield seine Kommentare zur Erhöhung der Sichtbarkeit machte, immer noch 20 Prozent. Einen deutlichen Hinweis dafür, dass Englisch die Sichtbarkeit von Arbeiten tatsächlich erhöht, liefert die Beobachtung, dass englischsprachige Wiener Arbeiten im Zeitraum 1960 bis 1990 im Schnitt 21,7-mal zitiert wurden, deutschsprachige aber nur 4,5mal. Ein interessantes Detail findet sich in der relativen Anzahl der englischsprachigen Publikationen in Wien, die nach Kriegsende rapide von quasi null Prozent auf über 20 Prozent ansteigt. Mit dem Ende der Besatzung 1955 geht der Anteil wieder auf unter zehn Prozent zurück. Das zeigt, dass entweder die Besatzung direkten internationalisierenden Einfluss auf die Wiener Forschung gehabt hat, oder dass nach Besatzungsende wieder vermehrt „Deutschgesinnte“ in entsprechende Stellen gerückt bzw. rehabilitiert wurden. Wissenschaft war bereits vor Beginn des Untersuchungszeitraums zum Teil globalisiert, es gab regen internationalen Austausch. Nur gab es damals nicht nur eine Lingua franca, sondern vier davon: Englisch, Französisch, Deutsch und Russisch.30 Die Wissenschaftssprache Englisch war aber Voraussetzung für eine zunehmende wissenschaftliche Zusammenarbeit, Mobilität und für die zweite wissenschaftliche Globalisierung im 20. und 21. Jahrhundert.

30 Michael Gordin, Scientific Babel. How Science Was Done before and after Global English, Chicago: University of Chicago Press 2015.

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Globalisierung der Forschung ab 2000 – Wien macht mit Neue Formen der Zusammenarbeit kündigten sich an mehreren Stellen an. Kooperationen zwischen AutorInnen, Institutionen und Ländern nahmen zu. Auf den globalen Wandel des Wissenschaftsbetriebs wurde bereits hingewiesen. War die Einzelautorschaft bis tief in die 1950er Jahre Standard, sind heute im Schnitt zehn AutorInnen pro Publikation üblich. Und war bis 1960 im Normalfall eine Institution pro Publikation vertreten, so waren es 2000 zwei, und heute sind es fünf und mehr. Eine Wiener Besonderheit im Hinblick auf die interinstitutionelle Zusammenarbeit ist, dass diese vor 2000 lange quasi verschlafen wurde. Bis 2000 waren im Schnitt 1,5 Institutionen an einer Publikation beteiligt, andere Institutionen lagen da längst bei zwei. Der Anschluss an den internationalen Trend erfolgte aber schnell und war etwa 2003 erreicht. In der internationalen Zusammenarbeit war Wien im europäischen Trend. Harvard hatte und hat weniger internationale Kooperationspartner als europäische Institutionen. Hatten die mit Wien kollaborierenden Institutionen in den 1930er Jahren laut Dimensions untereinander weniger als zehn gemeinsame Papiere, waren es im Zeitraum 2000 bis 2010 1,6 Millionen. Diese Explosion der Kooperationsnetzwerke, die man als wissenschaftliche Globalisierung bezeichnen könnte, setzt ab 2000 schlagartig ein. Der globale Trend zur Teamarbeit beginnt zwar schon in den 1950er Jahren, aber erst im 21. Jahrhundert wird die typische Publikation auch multiinstitutionell und multinational. Interessant ist, dass sich die Produktivität pro AutorIn global in den letzten 90 Jahren nicht ganz verdoppelt, von 1,4 Artikeln pro Jahr auf derzeit ca. zwei. Die wissenschaftliche Globalisierung geht mit einer zunehmenden Mobilität der AutorInnen einher. Zunehmende Mobilität setzt schon seit 1980 ein und nimmt global, auch in Wien, graduell zu. Mit dem EU-Beitritt Österreichs 1995 nimmt die Menge der von Wien abgehenden AutorInnen tatsächlich kräftig zu. Bei Zugängen setzt eine Vergrößerung der Menge bereits kurz vor 1995 ein. Mobilität im Sinne von Zu- und Abgängen nimmt bis etwa 2005 zu, seitdem stagnieren die Werte. Als möglichen Grund sehen wir hier nicht nur äußere politische Umstände wie den EU-Beitritt, sondern auch eine Umstellung in der Personalpolitik. Wie Wolfgang Schütz und Markus Müller in ihrem Beitrag darlegen, hat sich seit den 1980ern ein Kulturwandel vollzogen. Waren damals Forschungsaufenthalte im Ausland noch nicht erwartet, sind sie heute eine notwendige Voraussetzung für eine Professur gemäß § 99 Abs. 5 Universitätsgesetz an der Medizinischen Universität Wien (siehe S. 171). Im selben Zeitraum, so argumentieren die beiden Autoren, hat sich eine Professionalisierung und Internationalisierung der Berufungen an der Medizinischen Universität Wien vollzogen (siehe S. 180). In Harvard und Karolinska nimmt die Mobilität weiterhin ungebremst zu. Dieser Umstand könnte im Zusammenhang damit stehen,

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dass Harvard und Karolinska in internationalen Rankings auf Führungsplätzen liegen und daher beliebt für Postdoc-Aufenthalte sind. Wien hat gemäß seiner Größe zu europäischen Standards aufgeschlossen, hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, wieder an der Spitze mitzuwirken, und ist in manchen Fachgebieten nach einer Unterbrechung von beinahe 100 Jahren wieder führend. Wien nimmt an der Globalisierung in vollem Umfang teil. Wir schließen mit einigen „take home messages“ der Studie. – Ein Aufholprozess in Richtung internationaler Standards – insbesondere in Bezug auf die Rezeption der Wiener Forschung – ist vor 1980 kaum nachweisbar und setzt erst Mitte der 1990er Jahre deutlich ein. – Im Gegensatz zu anderen Ländern steigt der Anteil an englischsprachigen Publikationen sehr langsam: von zehn Prozent Anfang der 1960er auf über 90 Prozent zu Beginn der 2000er Jahre. Karolinska und Utrecht überschreiten die 90-Prozent-Schwelle schon Jahrzehnte früher. – Der extreme Anstieg an viel zitierten Arbeiten, der ab den frühen 1990er Jahren besonders an Spitzenuniversitäten (insbesondere in Harvard) zu beobachten ist, findet in Wien nicht statt. – Interinstitutionelle Zusammenarbeit fand vor 2000 quasi nicht statt. Unterschiede zwischen den untersuchten Institutionen in Bezug auf intra- und interinstitutionelle sowie internationale Kooperationen sind kaum erkennbar. – Die Zu- beziehungsweise Abgänge von WissenschaftlerInnen von und nach Wien nehmen in den 1990er und zu Beginn 2000er Jahre stark zu, sie stagnieren seit Mitte der 2000er Jahre. In Harvard und Karolinska ist eine ungebrochene Zunahme der Mobilität beobachtbar. Ein signifikanter Teil der Wiener wissenschaftlichen Mobilität scheint auf „Auslandslehrjahre“ der WissenschaftlerInnen zurückzugehen, während Harvard und Karolinska stark für die Welt ausbilden. Wir danken Herwig Czech und Wolfgang Schütz für Diskussion und wertvolle Anregungen sowie Klaus Taschwer für zahlreiche hilfreiche Kommentare. Der Beitrag wurde teilweise durch das FWF Projekt I 3073 unterstützt.

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Katrin Pilz

Anatomie – Animation – Audiovision: Medizinische Lehrfilme und die staatlichen Wissenschaftsfilminstitute 1945 bis 19701,2 Anatomy – Animation – Audiovision: Medical Educational Films and the State Scientific Film Institutes, 1945–1970 Abstracts Die Geschichte der Wiener anatomischen Präparationsfilme der Zweiten Republik ist eng verbunden mit der Produktion anatomischer Lehrfilme in der Zwischenkriegszeit und einschlägigen Persönlichkeiten der NS-Zeit wie Eduard Pernkopf (1888–1955). Kontinuitäten und Brüche entlang institutioneller medizinwissenschaftlicher Filmproduktionen und -zirkulation zeigen die Filme des Anatomen Werner Platzer (1929–2017), die noch heute in der anatomischen Lehre genutzt werden. The history of Viennese anatomical dissection films of the Austrian Second Republic is closely linked to previous production of anatomical educational films in the interwar period and relevant personalities of the Nazi era, such as Eduard Pernkopf (1888–1955). Continuities and breaks along institutional medical science film productions and circulation are evident by the films of the anatomist Werner Platzer (1929–2017), which are still used in anatomical teaching today. Keywords Anatomie, Wissenschaftsfilm, Medizinfilm, Lehrfilm, Unterrichtsfilm, audiovisuelle Lehre, Präparation, Pernkopf, Schrott, Hayek, Platzer, Staatliche Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm (SHB) Anatomy, scientific film, medical film, educational film, audiovisual education, dissection, Pernkopf, Schrott, Hayek, Platzer, International Scientific Film Association (ISFA)

1 This research was funded in whole by the Austrian Science Fund (FWF) P 32343-G. 2 Wenn im folgenden Text die männliche Schreibweise verwendet wurde, dann sind der Autorin in diesen Fällen keine weiblichen Personen bekannt, und es handelt sich tatsächlich um männliche Personen. Dies soll auch auf die marginale Repräsentation von weiblichen Akteuren sowohl in der Geschichte der Anatomie als auch der wissenschaftlichen Kinematografie hinweisen.

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Katrin Pilz

Am XVIII. internationalen Kongress der International Scientific Film Association (ISFA) in Athen 1964 wurde der anatomische Lehrfilm Präparation des Gehirnes von oben (A 1964)3 mit einem Ehrendiplom prämiert. Wissenschaftlicher Filmautor war der Anatom Werner Platzer (1929–2017), der in Zusammenarbeit mit einem Team der 1945 gegründeten Staatlichen Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm (SHB)4 eine Serie an Präparationsfilmen am Anatomischen Institut der Universität Wien herstellte.5 Bereits in den Jahren zuvor waren Filme aus seiner Lehrfilmserie auf internationalen Fachtagungen ausgezeichnet worden: 1962 am Kongress der International Scientific Film Association (ISFA) in Warschau6 und 1963 bei einem Filmfestival in Rom, auf dem Platzers Filme „für den wissenschaftlichen Wert und die klare filmische Dokumentation“7 gelobt wurden. Im Beiblatt des Films fasst Platzer den Inhalt folgendermaßen zusammen: „Die schichtweise Präparation eines Gehirnes von oben her an einer nicht fixierten Leiche wird sowohl an einem Präparat als auch an schematischen Darstellungen gezeigt. Die einzelnen Abschnitte der Präparation werden jeweils durch einen Trickteil eingeleitet.“8

Die erste Einstellung des 15 Minuten langen ersten Filmteils blendet nach den einführenden Titeln ein auf einem dunklen Untergrund liegendes Gehirn aus der Vogelperspektive ein. Der Schädelteil ist dabei geöffnet und gibt den Blick auf das unversehrte, noch von der Dura Mater, der Hirnhaut, bedeckte Präparat frei. Parallel zum Sprecherton, der die Dura Mater beschreibt, sieht man die Hände des Präparators Platzer, die mit einem Skalpell als Zeigestab die genannte Region in der Aufsicht am Präparat präsentieren. Damit wird der Eindruck geweckt, der Präparator blicke selbst durch die Kamera und vollziehe unmittelbar darunter die Arbeitsschritte der Sektion. Um diese Wirkung zu erzeugen, wurde eine spezielle Konstruktion für diese Art der Aufnahmen entwickelt und hier von den SHB-Mitarbeitern Dankward G. Burkert (geb. 1922) und Elinor Pavlousek be3 Werner Platzer, Präparation des Gehirnes von oben, P: SHB, 16 mm, Farbe, Magnetton, 2 Teile, 232 m und 131 m, ca. 28 Min., A 1964 (gesichtete VHS-Kopie). Kopie des Ehrendiploms. Audiovisuelles Archiv der Österreichischen Mediathek (AV ÖM), ÖWF Filmproduktionsakt, CTf 1092/XVI. Wenn nicht anders angegeben, sind die thematisierten Filme nicht digitalisiert bzw. online abrufbar und im Archiv vor Ort einzusehen. 4 Adolf Hübl, 20 Jahre SHB-Filmproduktion 1945–1965 der Bundesstaatlichen Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm, in: Sehen und Hören. Beiträge zur Pädagogik der audiovisuellen Bildungsmittel (1965) 17, 21–32. 5 Werner Platzer, Präparation des Gehirnes von oben, in: Mitteilungen der Abteilung Wissenschaftlicher Film (1964) 5, 1. 6 Prämierter Film „Präparation des Canalis inguinalis und des Funiculus spermaticus“. Internationale Anerkennung für Österreich, in: Sehen und Hören (1962) 2, 18. 7 Ankauf von Filmen, in: Mitteilungen der Abteilung Wissenschaftlicher Film (1963) 2, 3. 8 AV ÖM, ÖWF Filmproduktionsakt, CTf 1092/XVI.

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Anatomie – Animation – Audiovision

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dient.9 Das Bild wird ausgeblendet, es folgt ein Schnitt auf die gleiche Ansicht auf das mit Titeln beschriftete, aus Papier oder Karton hergestellte Schnittpräparat, das wie eine dreidimensionale Animation im Filmbild erscheint und in den folgenden Einstellungen von dessen Hersteller, dem akademischen Maler Ludwig Schrott (1906–1970), „seziert“ wird. Diese systematische und klare visuelle Aufbereitung von Filmen für den anatomischen Unterricht schloss an eine Lehrtradition am Wiener Anatomischen Institut an, die auch in internationalen wissenschaftlichen und populären Projektionsräumen Resonanz erfuhr und durch die Auszeichnung der Filme gewürdigt wurde. Der folgende Beitrag diskutiert entlang ausgewählter Filme, wie eng die Geschichte der Wiener wissenschaftlichen Filmproduktion mit den seit dem Ersten Weltkrieg vor allem staatlich organisierten Filmstellen der Unterrichtsministerien verbunden war, und analysiert den didaktischen Wert solcher Lehrfilme. Im ersten Teil werden die wesentlichen Zusammenhänge, Infrastrukturen und Beweggründe der Filmproduktionen, der involvierten Personen und Institute vorgestellt. Danach wird eine Auswahl an Filmen mit Blick auf ihre Inhalte und Verfahren – Animation und Audiovision – vor dem Hintergrund der anatomischen Produktionspraxis näher betrachtet. Mit dieser Zusammenführung von Film-, Bild- und Textquellen sollen aber auch Fragen zur „Konstruktion von Sichtbarkeiten“10 und Praktiken des Sehens,11 also Darstellungsstrategien und ihre epistemischen Potenziale, reflektiert werden.

Herz und Hirn Filme über die Herz- und Hirnpräparation waren in der medizinischen Forschung und Lehre traditionell besonders beliebt, nicht zuletzt, weil diese visuell sehr eindrucksvoll sind und auch Laien und noch unerfahrenen StudentInnen ein gutes Bild über Funktion und Struktur der zentralen Organe vermitteln.12 Dies wird auch anhand des vielfältigen Interesses wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Kreise erkennbar, in denen diese Art von Filmen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zirkulierte.13 Der erste dokumentierte Wiener 9 Ebd. 10 Martina Heßler (Hg.), Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München: Wilhelm Fink Verlag 2006. 11 Marita Sturken/Lisa Cartwright, Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture, Oxford: Oxford University Press 2009. 12 Vinzenz Hediger, Gene, Gehirn, Archiv. Über den Ort der menschlichen Natur im Humanethologischen Filmarchiv, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 8 (2017) 2, 11–28. 13 Oliver Gaycken, Informative beauty. Anatomical Animation by Frank Armitage, U.S. National Library of Medicine Bethesda, Medicine on Screen – Films and Essays from NLM, 2016,

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medizinische Lehr- und Forschungsfilm wurde am Physiologischen Institut von den experimentellen Pathologen Salomon Stricker (1834–1898) und Ludwig Braun (1867–1936) 1896 gedreht und zeigt die Herzbewegungen bei einer Vivisektion eines Hundes.14 Einer der ersten nach dem Zweiten Weltkrieg von der Staatlichen Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm (SHB) und ihrem Leiter Adolf Hübl (1895–1966) produzierten wissenschaftlichen Filme war der 1950 am Pharmakologischen Institut der Universität Wien aufgenommene Film Das Starlingsche Herz- und Lungenpräparat nach der Modifikation von Starling und Vissher (A 1950)15, der ebenso eine Operation an Herz und Lunge eines Hundes zeigt. Die wissenschaftliche Leitung übernahmen der Kardiologe Fritz Kaindl (1922–2015) und der Pharmakologe Franz von Brücke (1908–1970). Einer der erfolgreichsten Filme in Platzers Produktionsserie war Präparation des Gehirnes von oben. Der Vorspann zeigt, wie in den Vorschriften der SHB festgelegt, einen Kader mit dem Logo „SHB Film Wien“ sowie das in Rot hinterlegte und mit Sezierinstrumenten gestaltete Logo „Anatomie Wien. Vorstand: Univ. Prof. Dr. Dr. H. Hayek“. Die Kameramänner waren Dankward G. Burkert, der die 1962 gegründete Abteilung Wissenschaftlicher Film der SHB leitete, und Elinor Pavlousek, der dort als wissenschaftlicher Kameramann angestellt war. Den Trick, also Animationen, Zeichnungen und Schnittmodelle, fertigte wie in allen frühen Sezierfilmen Platzers Ludwig Schrott, Sprecher war Hans Lazarowitsch, der vor allem aus der Nachrichtensendung Zeit im Bild im Österreichischen Rundfunk (ORF) bekannt war.

URL: https://medicineonscreen.nlm.nih.gov/2019/01/23/informative-beauty-anatomical-ani mation/ (abgerufen am 5. 10. 2021). 14 Katrin Pilz, Hearts and Brains in Motion: Medical Animated Film as a Popular and Controversial Medium for Education and Research, in: Wiener Klinische Wochenschrift. The Central European Journal of Medicine 132 (2020) Suppl. 1, S52–S56, S54–S55. 15 Fritz Kaindl, Beiblatt zum Unterrichtsfilm C 1007/1–3. „Das Starlingsche Herz- und Lungenpräparat nach der Modifikation von Starling und Vissher“. Bundesstaatliche Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm. 1–10. Filmdatei 1. Teil, siehe URL: https://www.mediathek.a t/atom/018AA027-181-01823-00000484-0189A3E5 (abgerufen am 5. 10. 2021).

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Filmausschnitt 1: Präparation des Gehirnes von oben (A 1964)

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Von Eduard Pernkopf zu Werner Platzer: ein filmvisuelles Netzwerk – die Vorgeschichte anatomischer Filmproduktionen im Wien der 1920er und 1930er Jahre Um den Produktionskontext dieser bis in die 1990er Jahre international erfolgreich vertriebenen anatomischen Lehrfilme nachvollziehen zu können, muss der Blick zunächst zurück in die 1920er Jahre gerichtet und die Genese des anatomisch filmvisuellen Hochschulunterrichts in Verbindung mit staatlichen Filmstellen dargestellt werden. Auf der 56. Versammlung der Anatomischen Gesellschaft, die im April 1959 in Zürich stattfand, beschrieb Platzer seine Motivation zur Herstellung von Filmen für die universitäre Lehre mit folgenden Worten: „Wenn vor rund 30 Jahren Eduard Pernkopf vor dem Forum der anatomischen Gesellschaft Präparationsfilme vorführte, so waren dies die ersten Filme dieser Art überhaupt. Es wurden damals eine Reihe von Filmen hergestellt, die heute allerdings nur mehr historischen Wert besitzen. Mein Chef Prof. v. Hayek, regte an, diese Tradition fortzuführen, und so entschloß ich mich, eine Serie von Präparationsfilmen zu beginnen. […] Meine Absicht ist es, Präparationsfilme für den Unterricht herzustellen, die die Arbeit im Präpariersaal im Rahmen geeigneter Vorlesungen ergänzen können. Um ein optimales Verständnis zu erzielen, erscheint mir die Erfüllung von 3 Bedingungen notwendig: erstens sollen übermäßige Längen vermieden werden, zweitens ist eine klare und übersichtliche Präparation notwendig, daher erfolgt ein schichtweises Abtragen der Gebilde, und drittens halte ich eine schematische Erklärung der Präparation für ganz besonders wichtig. Daher werden schematische Darstellungen eingefügt, die den einzelnen Präparationsschritten möglichst genau entsprechen.“16

Platzer bezieht sich hier auf den Anatomen Eduard Pernkopf (1888–1955): Dieser nutzte seine Filme nicht nur für den Unterricht, sondern führte sie – wie im zeitgenössischen Umgang mit wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrfilmen üblich17 – auch bei Fachtagungen und wissenschaftlichen Zusammenkünften vor, um aktuelle Forschung, Lehrmethoden und Operations- sowie Präparationstechniken mittels filmischer Evidenz kommunizierbar zu machen. Nach eigenen Angaben begann Pernkopf 1927 gemeinsam mit seinem Kollegen Gustav Schmeidel (1895–1939)18 mit der Produktion anatomischer Prä16 Werner Platzer, Präparation des Sulcus bicipitalis medialis ein Lehrfilm, in: Sonderabdruck Verhandlungen der Anatomischen Gesellschaft auf der 56. Versammlung in Zürich vom 8. bis 12. April 1959, 469. 17 Scott Curtis, Dissecting the Medical Training, in: Marta Braun u. a. (Hg.), Beyond the Screen: Institutions, Networks and Publics of Early Cinema, New Barnet: John Libbey 2012, 161–167. 18 Mediathek Naturwissenschaften Zeitschrift Eintrag, URL: https://www.biographien.ac.at/oe bl/oebl_S/Schmeidel_Gustav_1895_1939.xml (abgerufen am 5. 10. 2021). Vgl. Eduard Pernkopf, Worte, dem Andenken an Professor Dr. G. Schmeidel gewidmet, in: Wiener Klinische Wochenschrift 52 (1939) 42, 949–950.

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parationsfilme. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits Experte im Feld der Anatomie: Er hatte sich 1921 habilitiert und war seit 1927 als ao. Professor tätig.19 Damit standen ihm viele Ressourcen für die Erstellung der kostspieligen Filmserie zur Verfügung, die auf 35 Millimeter gedreht wurde.20In den 1920er Jahren wurden an den Wiener Universitätskliniken überwiegend chirurgische Operationsfilme produziert.21 Bei einer Sitzung des Vereins Wiener Anatomen Ende 1927 betonte Pernkopf explizit die Vorteile kinematografischer Aufnahmen, mehr noch als für die chirurgische für die anatomische Lehrpraxis: „Vor allem konnte man die Gewinnung klarer Bilder voraussetzen, schon aus dem einfachen Grunde, weil die präparatorische Arbeit, besonders die regionäre Präparation, an einer Fläche vollzogen und die eben freigelegte Stelle keineswegs durch die im Lichtbild schwarz erscheinenden Blutmassen verdeckt wird. Schon diese Ueberlegungen, vor allem aber der Umstand, daß bei dem Mangel an anatomischem Studienmaterial nach allen Möglichkeiten gefahndet werden muß, um den Unterricht, besonders in der topographischen Anatomie, anschaulich zu gestalten, veranlaßten mich, die anatomische Präparation im kinematographischen Bilde aufzunehmen;“22

Mit Schmeidel, der vor allem für die technische Ausführung verantwortlich war und als Kameramann agierte, stellte er bis Anfang der 1930er mindestens 26 Filme her, die die schichtweise Präparation unterschiedlicher Körperregionen in Aufsicht und Nahaufnahme demonstrierten.23 Pernkopf verwendete sie in seinen Lehrveranstaltungen, und ab dem Wintersemester 1929/30 hielt er mit Schmeidel eine Vorlesung mit dem Titel Die anatomische Präparation im Film als Ergän-

19 Hermann Chiari, Eduard Pernkopf Nachruf, in: Sonderabdruck aus dem Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 105 (1955), 400–408, 400; 650 plus – Geschichte der Universität Wien, Eduard Pernkopf, Prof. Dr., URL: https://geschichte.univie.a c.at/de/personen/eduard-pernkopf-prof-dr (abgerufen am 5. 10. 2021). 20 Ansuchen Finanzierung für die „Pernkopf Filme“ durch Hochstetter, in: Schreiben Ferdinand Hochstetter an das Unterrichtsministerium und die Medizinische Fakultät der Universität Wien, 22. 2. 1928. Archiv der Universität Wien (AUW). 21 Katrin Pilz, Re-Edited Medical Films in Vienna. Vom „physiologischen Theater“ zum chirurgischen Filmset und „orthopa¨ dischen Filmzirkus“, in: Delia González de Reufels u. a. (Hg.), Film als Forschungsmethode. Produktion – Geschichte – Perspektiven, Bremen: Bertz + Fischer 2018, 91–100. 22 Eduard Pernkopf, Die anatomische Präparation in Laufbildern. Ein Lehrfilm, vorgeführt von Eduard Pernkopf. Einleitender Vortrag gehalten in der am 6. Dezember 1927 stattgefundenen Sitzung des Vereines „Wiener Anatomen“, in: Wiener Klinische Wochenschrift 52 (1927), 1642–1643, 1642. Siehe auch Berichte Vereinigung Wiener Anatomen 1927: Herr E. Pernkopf demonstriert kinematographische Filmaufnahmen, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 9 (1928), 298. 23 SHB Verzeichnis, historische Filme: Österreichisches Bundesinstitut für den Wissenschaftlichen Film (ÖWF) (Hg.), Teilverzeichnis M – Medizin, Veterinärmedizin, Psychologie, Wissenschaftliche Filme, Wien 1985. Vgl. handschriftliche Liste von Adolf Hübl. AV ÖM, ÖWF Filmproduktionsakt, Cf 1092/I.

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zungskolleg zur topographischen Anatomie,24 die, nachdem Pernkopf 1933 die Leitung des II. Anatomischen Instituts übernommen hatte, Wilhelm Wirtinger (1893–1945) weiterführte. Der überzeugte Nationalsozialist Pernkopf, der 1938 zunächst Dekan und 1943 bis 1945 Rektor der Medizinischen Fakultät war, ist international vor allem für seinen auflagenstarken Atlas Topographische Anatomie des Menschen25 bekannt. Wie Forschungen der letzten Jahre belegten, sind darin auch Abbildungen von Opfern des NS-Regimes enthalten. Sie wurden unter Pernkopfs Regie angefertigt und noch nach Kriegsende publiziert.26 Weniger bekannt sind seine anatomischen Lehrfilme und deren Verwendung im Hochschulunterricht.27 Platzer hatte Pernkopfs Filme im Rahmen seiner anatomischen universitären Ausbildung gesehen. Über die Zusammenarbeit mit Pernkopf an dessen Atlas wurden auch zukünftige Arbeiten an einer neuen Filmserie in den 1950er Jahren ermöglicht. Die Kooperation mit Schrott und das Einrichten eines kleinen Filmstudios auf Anregung und Unterstützung Hayeks am Anatomischen Institut zeigen zudem die Weiterführung wissenschaftlicher Praktiken und Techniken, wie sie in Pernkopfs Filmen angewandt worden waren. Platzer setzte die filmische Visualisierung der Schichtpräparation fort, griff die wissenschaftlich-künstlerische Gestaltung von Pernkopfs Filmen auf und entwickelte diese weiter. Platzer wurde 1929 in Frauenthal zu Laßnitz in der Steiermark geboren und kam 1947 zum Medizinstudium nach Wien. Er promovierte 1953 und war danach am Anatomischen Institut Wien, das von 1952 bis 1969 von Heinrich Hayek (1900–1969) geleitet wurde,28 tätig. 1961 habilitierte er sich in Anatomie und lehrte als Dozent am Institut.29 Seine Forschungsschwerpunkte lagen in der vergleichenden Anatomie. Bis heute ist er zudem bekannt für die Einführung 24 AUW, Vorlesungsverzeichnis 1929/30. 25 Eduard Pernkopf, Topographische Anatomie des Menschen: Lehrbuch und Atlas der Ragionärstratigraphischen Präparation, Berlin–Wien–Innsbruck: Urban & Schwarzenberg 1937– 1952. 26 Howard A. Israel, The Nazi Origins of Eduard Pernkopf ’s Topographische Anatomie des Menschen: The Biomedical Ethical Issues, in: The Reference Librarian 29 (1998) 61–62, 131– 146; Daniela Angetter, Anatomical science at University of Vienna 1938–45, in: The Lancet 355 (2000), 1454–1457; Chris Hubbard, Eduard Pernkopf ’s atlas of topographical and applied human anatomy: The continuing ethical controversy, in: The Anatomical Record 265 (2001) 5, 207–211; Herwig Czech/Erich Brenner, Nazi victims on the dissection table – The Anatomical Institute in Innsbruck, in: Annals of Anatomy 226 (2019), 84–95, 85. 27 Katrin Pilz, Medical Motion – Early medical film practice framing clinical specialisation, public health, and visual modernity in Vienna and Brussels. 1900–1938 (unveröffentlichtes Manuskript), Kapitel III. 28 Werner Platzer, Professor Heinrich Hayek, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 119 (1969) 44, 741–742. 29 Nachruf der Anatomischen Gesellschaft, URL: https://anatomische-gesellschaft.de/?post=tra uermeldung-prof-werner-platzer (abgerufen am 5. 10. 2021).

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audiovisueller Medien im Hochschulunterricht am Institut in Wien und später in Innsbruck. Bevor Platzer in den späten 1950er Jahren Assistent Hayeks wurde, assistierte er 1949 Pernkopf, der nach seiner Internierung im Lager Glasenbach (1945–1947)30 seine Kontakte an der Medizinischen Fakultät nutzte, um an der Neuauflage seines anatomischen Atlas zu arbeiten, bei der redaktionellen Arbeit. Nach eigenen Angaben motivierte ihn vor allem die großzügige Bezahlung zur Mitarbeit. In einem Interview über seine Erinnerungen an Pernkopf im Jahr 2012 äußerte er sich zu seiner Mitarbeit an dem Atlas: „I believe this is the best-illustrated anatomy material existing in the world. […] while working on the new edition of his Atlas, I noticed that 40 % of the pictures still had a swastika. I re-made all these illustrations and removed the swastika from the figures. The Americans deny this, although it is the truth.“31

Aus heutiger Perspektive war dieser Versuch der „Korrektur“ nicht ausreichend für die kritische Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Präparations- und Illustrationsmaterial. Eine eingehende Aufarbeitung des Umgangs mit diesen von der medizinhistorischen Forschung lange Zeit ignorierten Lehrbildern steht trotz einiger in den letzten Jahren publizierter Texte und Projekte nach wie vor aus.32

Die (Bundes-)Staatliche Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm und ihre Produktion medizinisch-wissenschaftlicher Lehrfilme33 Bereits in der Zwischenkriegszeit gab es eine rege staatliche Produktion medizinischer Filme. Die Staatliche Filmhauptstelle (FHS, 1919–1924) produzierte unter der Leitung prominenter Wiener Kliniker die erste systematische Serie an medizinischen Lehrfilmen.34 Der Bestand der 1924 liquidierten FHS, darunter 30 Margit Reiter, Denazification–Reintegration–Political Fields of Action: NS-tainted Doctors after 1945, in: Wiener Klinische Wochenschrift 130 (2018) Suppl. 5, S310–S314, S311; Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz, Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Integration ehemaliger Nationalsozialisten, Wien: Czernin Verlag, 214– 305. 31 Seyed Hossein Aharinejad/Stephen W. Carmichael, First hand accounts of events in the laboratory of Prof. Eduard Pernkopf, in: Clinical Anatomy 26 (2013), 297–303, 301–303. 32 Herwig Czech u. a., The Medical University of Vienna and the legacy of Pernkopf ’s anatomical atlas: Elsevier’s donation of the original drawings to the Josephinum, in: Annals of Anatomy 237 (2021) 151693. 33 Adolf Hübl, 20 Jahre SHB-Filmproduktion 1945–1965 der Bundesstaatlichen Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm, in: Sehen und Hören (1965) 17, 21–32, 31–32. 34 Katrin Pilz, Der schwangere Frauenkörper in der frühen Wiener Kinematografie, in: Werner Michael Schwarz/Ingo Zechner (Hg.), Die helle und die dunkle Seite der Moderne, Wien– Berlin: Turia + Kant 2014, 145–151; Walter Mentzel, Schlagwort-Archive: Guist Gustav, Van

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auch die medizinische Filmserie, ging später in den 1929 gegründeten Österreichischen Filmdienst, der 1930 mit der Lichtbildstelle zusammengeschlossen wurde und als Österreichische Lichtbild und Filmdienst (ÖLFD, 1930–1938) dem Unterrichtsministerium unterstand, über. Nach dem Anschluss 1938 ging der gesamte ÖLFD-Bestand inklusive der Medizinfilme an das Archiv der Reichsanstalt für den Unterrichtsfilm (RFdU, später RWU, 1934–1945).35 Die SHB wurde im Jahr 1945 gegründet und war, wie zuvor der ÖLFD, dem Unterrichtsministerium unterstellt. Und wie der ÖLFD, als dessen direkte Nachfolgerin sich die SHB verstand,36 hatte sie die Produktion und den Vertrieb von Lichtbildern und Unterrichtsfilmen für den Schul- und Hochschulunterricht sowie die Volksbildung zum Ziel.37 Der Leiter der SHB, Adolf Hübl, der in der Volksbildungs- und Lehrfilmbewegung der Zwischenkriegszeit sehr aktiv gewesen war,38 hatte bereits in den 1930er Jahren Projektionen und Evaluierungen von medizinischen Filmen durch Experten an den Wiener Kliniken am ÖLFD arrangiert. Er sah, nicht zuletzt aufgrund des systematischen Aufbaus wissenschaftlicher Filmorganisationen im Ausland, die Notwendigkeit, den wissenschaftlichen – und darunter vor allem den medizinischen – Film institutionell auch im Rahmen der SHB zu organisieren.39 Da Hübl als gründendes Mitglied die österreichischen Wissenschaftsfilmproduktionen bei der ISFA (1947–1992) vertrat und die SHB die Aktivitäten des internationalen wissenschaftlichen Filmarchivs Encyclopaedia Cinematographica (EC, 1952–1992)40 in Göttingen ab 1957 mitorganisierte, waren es in der unmittelbaren Nachkriegszeit (insbesondere ab Gründung der ISFA) diese Organisationen, die den internationalen Austausch über die Verwendung vergangener sowie gegenwärtiger wissenschaftlicher Filme und deren Produktion sicherten. Hübl übernahm hier auch die

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Swieten Blog, Universitätsbibliothek Medizinische Universität Wien, URL: https://ub.meduni wien.ac.at/blog/?tag=guist-gustav (abgerufen am 5. 10. 2021). Verordnungsblatt vom 15. 12. 1938, Übernahme OeLFD Institution/Bestände RWU. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Volksbildung Film, Karton 502, Sign. 2D2, 1938–1940. Johann Haustein, Die oberste Unterrichtsbehörde und das Lichtbild- und Filmwesen in Österreich, in: Egon Loebenstein (Hg.), 100 Jahre Unterrichtsministerium 1848–1948. Festschrift des Bundesministeriums für Unterricht in Wien, Wien: ÖBV 1948, 313–320, 318–319. Raimund Warhanek (Hg.), Sonderausgabe 1945–1970, 25 Jahre Bundesstaatliche Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm, in: Sehen und Hören (1970) 48, 153–184, 153. Personalakt Hübl Adolf. AT-OeStA, Archiv der Republik (AdR), UWFuK, BMU, PA, Sign. 15; G. Buckland-Smith, Obituary: Hofrat Dr. Adolf Hübl, in: Audio-Visual Media 1 (1967), 3–4; Raimund Warhanek, Hofrat Professor Dr. Adolf Hübl, in: SHB-Film-Post (1961) 89, 1–3. AUW, Senatsakten, 1930er–1940er. Dankward G. Burkert/Erika Maletschek, Die Encyclopaedia Cinematographica und ihr österreichisches Vollarchiv, in: Johann Schrodt/SHB (Hg.), Audio-visuelle Medien in Unterricht und Bildung. Festschrift 1945–1974, Wien: Bundesstaatliche Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm 1974, 18–19. Vgl. Mitteilungen der Abteilung Wissenschaftlicher Filme, Rubrik zu den Aktivitäten des österreichischen Archivs der EC.

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Rolle des Vermittlers.41 In den folgenden Jahren nahmen österreichische Wissenschaftler regelmäßig an internationalen Tagungen teil, wie beispielsweise an jenen der ISFA, der Filmabteilung des British Council, des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU, 1946) in München und des Instituts für den Wissenschaftlichen Film (IWF, 1953/56–2010) in Göttingen, die einen Schwerpunkt auf die medizinische Filmvermittlung legten.42 Die SHB stellte ihr Studiokino („Tonkinosaal“) Lehrenden der Medizinischen Fakultät für ihre Filmvorlesungen kostenlos zur Verfügung. Dieses Angebot wurde zunächst aber nur verhalten genutzt.43 Unter anderem, weil viele der älteren medizinischen Filme, die in der SHB archiviert waren bzw. in einzelnen medizinischen Instituten lagerten, das Format Normalfilm/35 mm hatten und daher nicht auf den Schmalfilmprojektoren vor Ort projiziert werden konnten. Dazu zählten bspw. die Serie der aus den 1920er Jahren stammenden FHS-Produktionen, einige von der ÖLFD verliehene medizinische Filme aus den 1930er Jahren und auch die 26 Präparationsfilme von Pernkopf und Schmeidel.44 Bis in die frühen 1950er Jahre waren in den Filmverzeichnissen der internationalen Institute, wie des British Council, der ISFA und des IWF keine eigens produzierten anatomischen Präparationsfilme dokumentiert. In diesem Zeitraum wurden anatomische semiprofessionelle Filme international auch anderswo produziert und sind in den Verzeichnissen nicht dokumentiert, da sie lediglich in lokalen Instituten genutzt wurden.45

41 Schreiben der ISFA (verfasst von Sekretär L. Huppert London) vom 23. 8. 1947 an das Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Wien (gerichtet an Universitätslehrende und klinische Institute) mit der Bitte um Austausch von Filmlisten und Informationen zur Nutzung etc. AUW, Medizinische Dekanat Akten, Zl. 231 ex 1946–47. 42 Gotthard Wolf, Der wissenschaftliche Film in Deutschland, Wuppertal–Elberfeld: Lucas 1957; ders., Der wissenschaftliche Dokumentationsfilm und die Encyclopaedia Cinematographica, München: Barth 1967. 43 Schreiben der SHB (gezeichnet Adolf Hübl) an die Medizinische Fakultät der Universität Wien vom 21. 5. 1947. AUW, Medizinische Dekanat Akten, Zl. 231 ex 1946–47. 44 Filme 388–413, in: Schreiben des Dekanats der medizinischen Fakultät der Universität Wien an Adolf Hübl vom 16. 4. 1947. AUW, Medizinische Dekanat Akten, Zl. 231 ex 1946–47. 45 Z. B. in Heidelberg. Sara Doll, Muskeln, Blut und Entwicklung. Der filmische Lehrapparat der Heidelberger Anatomie, in: Philipp Osten u. a. (Hg.), Das Vorprogramm. Lehrfilm/Gebrauchsfilm/Propagandafilm/unveröffentlichter Film in Kinos und Archiven am Oberrhein 1900–1970, Heidelberg/Straßburg: A25 Rhinfilm 2015, 285–297, 294–296. Auch in Würzburg wurden ab den 1970ern anatomische Präparationsfilme produziert. Vgl. Sabine Schlegelmilch: Objekte in Bewegung: der Präparatefilm in der Anatomie, in: Sara Doll/Karen Nolte, Der medizinische Blick. Abbildungen in der Heidelberger Anatomie, Berlin: Springer (erscheint 2022). Vgl. Institut für den Wissenschaftlichen Film (Hg.), Gesamtverzeichnis der Wissenschaftlichen Filme 1954, Göttingen 1954; Filmverzeichnis des British Council 1947 und des Cambridge University Educational Film Council 1951. AUW, Medizinische Dekanat Akten, Zl. 231 ex 1946–47.

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Nach diesen, in den ersten Jahren der SHB von Hübl in Kooperation mit den internationalen Wissenschaftsfilmassoziationen und der Medizinischen Fakultät der Universität Wien betreuten Aktivitäten war es vor allem das 1955 initiierte Förderprogramm der SHB, das eine systematisch „weitgehende[r] Berücksichtigung des wissenschaftlichen Films“ innerhalb der Dienststelle anregte und die Medizinische Fakultät sowie ihre Instituts- und Klinikvorstände aufforderte, sich nicht nur der Verwendung, sondern auch der Produktion medizinischer Forschungs- und Lehrfilme zuzuwenden. „Die Mitwirkung der Lehrkanzelvorstände bei der Filmherstellung“ sollte hier automatisch „wissenschaftliche Echtheit und [den] Wert der Aufnahmen“46 garantieren.47 Diese Programme, die auch an das Anatomische Institut kommuniziert und von Hayek als entgegengenommen unterzeichnet worden sind, sind wohl auch der Grund, warum dieser an seinen Assistenten Platzer herantrat, um ihn zur Produktion einer Serie von Präparationsfilmen zu animieren.48

Werner Platzer und die SHB-Präparationsfilme Nachdem Platzers Zusammenarbeit mit der SHB für die Erstellung einer neuen Sezierfilmserie, die als „wissenschaftliche Lehrfilme“, „anatomische Hochschullehrfilme“ und „beleuchtete Präparationsfilme“ bezeichnet wurden, feststand, produzierte er im März 1959 mit verhältnismäßig bescheidenen Mitteln der Filmtechnik den ersten Farbfilm mit dem Titel Präparation des Sulcus bicipitalis medialis, der die Präparation der Haupt-Gefäß-Nerven-Straße des Oberarms zeigt. Am Anatomischen Institut in der Währinger Straße 13 war für diese Zwecke an der rechten Garderobenstiege ein kleines Filmstudio eingerichtet worden. Zudem stellten Hayek und Platzer eine Arbeitsgruppe bestehend aus Studenten und Assistenten zusammen, um in Zusammenarbeit mit dem filmtechnischen Team der SHB die kurzen Lehrfilme herstellen zu können. Diese sollten Platzers stratigrafische topografische Präparationstechnik, die wiederum in der Tradition von Hochstetters und Pernkopfs Techniken der Präparation

46 Schreiben der SHB Unterrichtsministerium, Unterrichtsfilme, Zl. 86167/I-2/54, an das Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, gerichtet an die Vorstände der Kliniken und Institute der Fakultät; es wurde ursprünglich von der „Österreichische Arbeitsgemeinschaft der Hochschulreferenten (Zweig des ISFA)“ der SHB-Film versandt. AUW, Dekanatsakt 1955. 47 Adolf Hübl, Austria as Producer of Educational and Scientific Films – Österreich als Hersteller von Unterrichts- und Lehrfilmen – L’Autriche en tant que productrice de films d’enseignement et de films scientifiques, in: Filmkunst – Zeitschrift für Filmkultur und Filmwissenschaft (Sonderheft 15: österreichischer Kulturfilm) (1960) 31, 14–16. 48 Liste Unterschriften der jeweiligen Institutsleiter. AUW, Dekanatsakt 1955.

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menschlicher Körperregionen stand, demonstrieren.49 Für diesen Zweck wurde eine eigene Auflagevorrichtung entwickelt, die es Platzer erlaubte, nah an der Kamera und mit geringer Entfernung zum Leichenmaterial zu präparieren und jeden Schnitt klar sichtbar zu machen. Eine mit dem Mikroskop verbundene Aufnahmeart ermöglichte zudem die Sichtbarmachung mikroskopischer Präparierung im Film.50

Filmausschnitt 2: Werner Platzer in Die Präparation des Mittel- und Innenohres (A 1965)

49 Interview mit Wilhelm Firbas, geführt am 18. 3. 2021, Audioaufnahme bei der Autorin. 50 Werner Platzer, Der anatomische Hochschullehrfilm, seine Bedeutung und Aufgabe im modernen Unterricht, in: Bundesstaatliche Hauptstelle für Wissenschaftliche Kinematographie (Hg.), Wissenschaftlicher Film in Forschung und Lehre 1962–1972, Wien 1973, 101– 102.

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Die SHB trug „alle Kosten der Herstellung des Filmes, und zwar Kameramann, Licht, Kopieranstalt, Schnitt usw.“ und legte u. a. fest, dass „im Vorspann […] nach einer in jedem einzelnen Fall zu treffenden Vereinbarung das Institut und die wissenschaftliche Leitung in entsprechender Weise genannt“ und „die Hauptstelle als Produzent und der Kameramann angeführt“ werden. Außerdem bestimmte sie, dass „das antragsstellende Institut […] kostenlos eine Kopie des Filmes mit dem Recht der Vorführung im Rahmen des Hochschulunterrichtes innerhalb von Österreich“51 erhalten sollte. Platzer und Hayek hatten zunächst den Plan, pro Jahr etwa drei bis vier Präparationsfilme herzustellen. Insgesamt waren 30 bis 40 vorgesehen, die die gesamten menschlichen Körperregionen behandeln sollten. Von 1959 bis 1960 stellten sie sogar sieben Filme her. Hayek und Hübl versandten diese ersten Filme an Kollegen im Ausland und fragten bei internationalen Medizinischen Universitäten und Lehrkliniken an, ob sie Interesse an einem Ankauf der Filme hätten. Dem Film wurden instruktive Texte zur Erklärung der dargestellten Präparation in mehreren Sprachen (Englisch und Französisch) beigelegt. Das Department of Medical Illustration des Guy’s Hospital in London zeigte sich sehr interessiert, schreckte aber von den Ausleih- bzw. Ankaufgebühren zurück und bat um Reduzierung der Preise.52 Eine Transaktion kam letztendlich nicht zustande. Ein ausführlicheres Feedback erhielt die SHB in Form eines Berichts von E. J. Mauthner zugesandt, der mit The Bergman Associates in New York korrespondierte, um einige Sezierfilme an einschlägige U.S. Medical Schools zu verleihen und zu verkaufen. Dieser Bericht enthielt Ratschläge und Wünsche, die vor allem formale, technische und visuelle Aspekte betrafen. So hieß es z. B.: „Dieselbe wird als ausgezeichnet bezeichnet, mit dem einzigen Einwande, dass dieselbe etwas zu kontrastreich ist und dass der Demonstrator manchmal im Schatten arbeitet. Man rät die Schatten etwas aufzuhellen […]. Die Titel werden als zu klein und schwer leserlich empfunden. Die Karten sind zu klein und nicht immer parallel zu dem Bildkader und untereinander. Man rät, Titel auf Celluloid zu verwenden und sie zum oberen Rand des Bildkaders zu placieren. Eine Kamera mit besserer Festhaltung des Films (Registrierklauen) wäre empfehlenswert. In den Kopien ‚atmet‘ das Bild zu viel.“53

Mauthner erklärt die Lehrfilme für MedizinstudentInnen in den USA als nicht geeignet, doch werden sie für bereits ausgebildete ChirurgInnen oder PathologInnen empfohlen. Außerdem wurde der SHB nahegelegt, die Filme für den internationalen Vertrieb als Tonfilme mit Sprechtext in unterschiedlichen 51 Blatt „Bedingungen für die Herstellung eines Hochschulfilmes durch die Bundesstaatliche Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm“. AV ÖM, ÖWF Filmproduktionsakten, Cf 1092/I. 52 Schreiben C.E. Engel an Adolf Hübl vom 12. 3. 1960. AV ÖM, ÖWF Filmproduktionsakt, Cf 1092/I. 53 Schreiben E. J. Mauthner an die SHB vom 7. 4. 1961. ÖWF Filmproduktionsakt, Cf 1092/I.

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Sprachen zu produzieren. Nach der Fertigstellung dieser ersten Serie gab es, wohl auch wegen der vielen zu optimierenden Punkte, eine längere Pause, bevor Platzer mit der Produktion einer weiteren Serie begann. Der nächste Film wurde 1962, sechs weitere 1963 produziert.54

Animierte Anatomie – schematische und animierte Bildverfahren als epistemische Wissenseinheit Die Dramaturgie der Filme folgt seit der professionelleren zweiten Produktionsfolge meist demselben Schema:55 Um einen Überblick über das filmische Präparationsthema zu geben, wird zunächst das echte menschliche Leichenpräparat, das Organ oder die im Folgenden zu präparierende Körperregion gezeigt, die dann mit einer schematischen anatomischen Zeichnung derselben überblendet wird. Der Wechsel zwischen Menschenpräparat, gemaltem Schichtpräparat und laufender Animation ist fließend. Der wissenschaftliche Maler und Illustrator Schrott hatte bereits bei Pernkopfs Atlas, nicht aber bei dessen Filmen mitgearbeitet. In Platzers von der SHB produzierten Filmen wurden gezeichnete Schemata, Animationen und anatomische Schnittmodelle prominent inszeniert. Platzer war während seiner Arbeit an der Neuauflage von Pernkopfs Atlas mit dem medizinischen Maler in Kontakt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Schrott bereits eine lange Karriere am Anatomischen Institut hinter sich, die auch während des Kriegs ungebrochen blieb.56 Bei den Medizinern war er beliebt und bekannt für seine kühl sachlichen und naturgetreuen Illustrationen, die von Leichenpräparaten abgezeichnet waren und keine – wie bei manch anderen an der Fakultät tätigen wissenschaftlichen Malern – romantisierenden, idealisierenden Abbildnisse darstellten.57 Im Gegensatz zu vielen seiner medizinischen Kollegen ist sein professioneller Werdegang nur lückenhaft dokumentiert.58 54 Filmverzeichnisse des BMWF und des IWF aus dem Jahr 1985. 55 Siehe z. B. auch den Film Werner Platzer, Die Präparation des Mittel- und Innenohres, P: SHB, 16 mm, Farbe, Magnetton, ca. 22 Min., A 1965. URL: https://www.mediathek.at/portaltreffe r/atom/018AA117-061-01973-00000484-0189A3E5/pool/BWEB/ (abgerufen am 7. 10. 2021). AV ÖM, ÖWF Filmproduktionsakt, CTf 1092/XV. 56 Sabine Hildebrandt, The Anatomy of Murder: Ethical Transgressions and Anatomical Science during the Third Reich, New York–Oxford: Berghahn 2016, 278. 57 Interview mit Wilhelm Firbas. 58 Ingrid Schnell, Der Einfluss der Medizin und Anatomie auf die Kunst in Wien im 19. Jahrhundert, 1850–1914, med. Diss., Wien 2013. Ludwig Schrott, wissenschaftlicher Maler, Honorarnote vom 16. 5. 1963 „Für die zeichnerische Gestaltung, technische Lösung und Durchführung des Trick-Schemas zum wissenschaftlichen Film ‚Präparation des Gehirnes von oben‘ […]“. AV ÖM, ÖWF Filmproduktionsakt, CTf 1092/XVI.

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Für die moderne Produktion der Sezierfilme entwickelte Schrott zusammen mit Platzer multimediale und -dimensionale Darstellungsformen in Form von Zeichnungen, Schnittmodellen und Animationen, die neben den Leichenpräparaten auch eingezeichnet, beschnitten, präpariert und seziert werden konnten. Die Schnittmodelle werden in den Filmen oft von sichtbar älteren Händen, im Vergleich zu denen von Platzer, präpariert. Hier sieht man Schrott selbst bei der Präparation der von ihm entworfenen anatomischen Schichtmodelle. Traditionell wurden in der visuellen Medizingeschichte komplexe und nur schwer mit apparativen Visualisierungstechnologien darstellbare Vorgänge und Körperfunktionen mithilfe schematischer Zeichnungen veranschaulicht.59 Seit den 1920er Jahren fanden animierte Zeichnungen auch in populärwissenschaftlichen Aufklärungs- und medizinischen Lehrfilmen Verwendung.60 Für die VermittlerInnen stand hier die Anschaulichkeit im Vordergrund. Im anatomisch visuellen Anschauungsunterricht dienen schematische Darstellungen der Verdeutlichung feiner und farblich unterschiedlicher organischer Materialtäten, um z. B. die Trennung von Sehnen zu visualisieren. Sie erfüllen somit die Funktion einer didaktischen Darstellungstechnik und dienen nicht lediglich der begleitenden Illustration. Sie erheben aber auch den Anspruch der visuellen Objektivierung und Standardisierung, was in der medizinischen Visualisierung jedoch nur scheinbar möglich ist.61 Bei der Präparierung des im Film eingezeichneten Schichtmodells geht die animierte Bewegung von den Händen des Präparators aus, während bei der vollständigen Trickfilmanimation jeweils die gezeichneten wechselnden Lagen und Gewebeschichten selbst bewegt dargestellt werden. Neben der den mechanisch produzierten Bildern oftmals automatisch zugeschriebenen Evidenzmacht, die die Medienwissenschaftlerin Kirsten Ostherr als „Epistemologien der medizinischen Animation“ bezeichnete, wurden animierte Sequenzen oft lediglich als Aufwertung der technologischen und didaktischen Vorzüge des Films behandelt, die weder wissenschaftliche Authentizität zu besitzen schienen noch einen rein wissenschaftlichen Mehrwert hatten.62 In den grafischen und Echtbild-Sequenzen hat die klare Anschauung höchste Priorität. Der oder die ZuseherIn sollte nicht zuletzt den Eindruck gewinnen, mithilfe der Animationstechnik visuell durch den Körper oder die Körperregion 59 Tatjana Buklijas, Cultures of Death and Politics of Corpse Supply, in: Bulletin of History of Medicine 82 (2008) 3, 570–607; Birgit Nemec, Norm und Reform. Anatomische Körperbilder in Wien um 1925, Göttingen: Wallstein Verlag 2020. 60 Pilz, Hearts and Brains in Motion, 54–56. 61 Lorraine Daston/Peter Galison, Objectivity, New York: Zone Books 2010, 86. 62 Kirsten Ostherr, International animation. Aesthetics at the WHO. To your health (1956) and the global film corpus, in: Christian Bonah/David Cantor/Anja Lauko¨ tter (Hg.), Health education films in the twentieth century, Rochester: University of Rochester Press 2018, 279– 302, 281–282.

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Filmausschnitt 3: Präparation des Gehirnes von oben (A 1964)

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reisen zu können. Im Film Präparation des Gehirnes von oben gelang dies besonders eindrucksvoll: Die Frische und Verletzbarkeit des Hirnpräparats sind beim Abtragen der jeweiligen Schichten auch für Laien gut sichtbar. Nicht zufällig war dieser Film, neben jenem, der die Präparation des Herzens zeigt, der ertragreichste unter den Sezierfilmen der SHB.63 Nicht nur medizinische Hochschulen oder wissenschaftliche Filminstitutionen waren an den Präparationsfilmen interessiert, sondern auch Fernsehsender, die ihr populärwissenschaftliches Programm illustrieren wollten: etwa der Bayerische Rundfunk, der 1965 die Verwendung von Ausschnitten aus dem Film für die Sendereihe Vorlesungen von Professor Schäfer anfragte.64 Dankward G. Burkert, der Leiter der wissenschaftlichen Filmabteilung der SHB, betonte in Hinblick auf solche Anfragen stets, dass die Lehrfilme primär für den Hochschulunterricht und wissenschaftliche Fachleute, die „medizinisch-fachliche Verantwortung“ tragen, intendiert seien. Er bat daher stets um eine Begründung für die Verwendung in einem populärwissenschaftlichen Format.65

Audiovision – die umstrittene Entwicklung des medizinischen Tonlehrfilms Neben den Techniken der multimedialen Animation betrat die sogenannte Audiovision als neuer Medienverbund die Bühne internationaler Filmbildung. Während Platzers erste Filme noch stumm waren, wurden sie ab 1963 mit Magnetton hergestellt. Dies war, wie zuvor erwähnt, nicht zuletzt durch Kollegen der medizinfilmischen Fachgemeinschaft aus dem Ausland angeregt worden. Obwohl sich der Tonfilm im kommerziellen Film- und Kinowesen bereits in den 1930er Jahren etabliert hatte, sprachen die AkteurInnen, die sich mit Forschungs- und Lehrfilmen beschäftigten, dem Ton lange Zeit jeden Mehrwert ab. Dies hatte unterschiedliche Gründe: Einerseits waren diese eng an die medizinischen und wissenschaftlichen FilmautorInnen gebunden, die Laufbilder bevorzugt selbst vorstellten und während der Projektion im Lehrsaal live dazu

63 Verkäufe „Präparation des Gehirnes von oben“, CTf 1092/XVI, ab 1965 bis 1990er, u. a. IWF Göttingen, Cinémathéque Scientifique Internationale Bruxelles, Universität des Saarlandes, Norsk Dokumentarfilm, Prof. Frick München, Istanbul Medical Service, USA Medical Education. AV ÖM, ÖWF Filmproduktionsakt, CTf 1092/XVI. Wissenschaftliche Filme aus Österreich in den USA, in: Mitteilungen der Abteilung Wissenschaftlicher Film (1967) 9, 4. 64 Schreiben des Bayerischen Rundfunks – Anstalt des Öffentlichen Rechts an die Bundesstaatliche Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm, 5. 1. 1965, Betr. Ihren Film „CTf 1092/ XVI Präparation des Gehirnes von oben“, Anfrage Verwendung Auszüge aus dem Film für die Sendereihe Vorlesungen von Professor Schäfer. 65 Schreiben Mairlot und Burkert 1964. AV ÖM, ÖWF Filmproduktionsakt, CTf 1092/XVI.

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sprachen. Dahinter stand einerseits die Angst vor Kontrollverlust ebenso wie davor, dass durch die automatische Einspielung erklärender Texte die Ausführungen und das Wissen des Lehrenden obsolet werden könnten. Die integrierten Tonspuren drohten so, den Lehrenden zu ersetzen. Andererseits hielt sich das hartnäckige Argument, dass auf die Intonation und Sprachmelodie der gesprochenen Erläuterungen geachtet würde.66 Der oder die VorführerIn von Lehrbildern und -filmen war sowohl in der Volksbildung als auch in der Hochschulbildung eng an das Unterrichtssetting gebunden. So riet man sogar davon ab, SprecherInnen im Film zu inkludieren. Eine emotionale Stimme würde die Objektivität der Lehrbilder beeinträchtigen. Die Studierenden im klinischen Auditorium sollten daher keinen Ton zu hören bekommen, verband man mit Ton zu dieser Zeit doch immer noch Unterhaltung, die man im Lehrfilm unbedingt zu vermeiden suchte. Spätestens seit den 1960er Jahren waren audiovisuelle Medien allerdings nicht mehr aus der Lehre wegzudenken,67 und audiovisuelle Technologien wurden systematisch verbreitet.68 Österreichische HochschullehrerInnen rund um die seit 1972 als eigenständige Dienststelle bestehende Bundesstaatliche Hauptstelle für Wissenschaftliche Kinematographie (BHWK) sowie HochschullehrerInnen, die mit der SHB zusammenarbeiteten, wie Platzer69 oder der Pflanzenphysiologe Walter G. Url (1929– 2021) 70, setzten sich für den Umbau der Hörsäle und die Integration audiovi66 Franz Hubalek, Audiovisuelle Lehrmittel in Österreich – Audio-visual Educational Aids in Austria, in: Filmkunst – Zeitschrift für Filmkultur und Filmwissenschaft (1962) 38, 17–18/V; Tätigkeitsbericht 1965–66, in: Mitteilungen der Abteilung Wissenschaftlicher Film (1967) 9, 2; Film im Unterricht – Films for Education – Les films d’enseignement: Filme der S.H.B.-Film, in: Filmkunst – Zeitschrift für Filmkultur und Filmwissenschaft (1967) 49, 5 (Titelbild), 15–16; Neueste Produktionen der Bundesstaatlichen Hauptstelle für wissenschaftliche Kinematographie Wien, in: Filmkunst (1973) 62, 16; Franz Hubalek, 20 Jahre Aktion „Der gute Film“ – 20 years oft he action „The good film“ – 20 année de l’action „Der gute Film“, in: Filmkunst – Zeitschrift für Filmkultur und Filmwissenschaft (1976) 73, 5–6, 9. 67 Franz Hubalek, Unterrichtsfilm in Österreich – The Educational Film in Austria – Le Film éducatif en Autriche, in: Filmkunst – Zeitschrift für Filmkultur und Filmwissenschaft (1967) 49, 15–16. 68 Bundesstaatliche Hauptstelle für wissenschaftliche Kinematographie – 10 Jahre Arbeit für den wissenschaftlichen Film, in: Filmkunst – Zeitschrift für Filmkultur und Filmwissenschaft (1972) 60, 6, 8. 69 Werner Platzer, Die audiovisuellen Hilfsmittel, in: Mitteilungen der Abteilung Wissenschaftlicher Film (1963) 3, 8–11; ders., Der anatomische Hochschullehrfilm, seine Bedeutung und Aufgabe im modernen Unterricht, in: Bundesstaatliche Hauptstelle für Wissenschaftliche Kinematographie (Hg.), Wissenschaftlicher Film in Forschung und Lehre 1962–1972, Wien 1973, 101–102; ders., Die audiovisuellen Medien im Universitätsunterricht. Unter besonderer Berücksichtigung der Medizin, in: Edith Stumpf-Fischer (Hg.), Der wohlinformierte Mensch. Eine Utopie, Graz: Akademische Druck- u. Verlagsanstalt 1997, 417–421. 70 Walter G. Url, Prinzipien mediengerechter Gestaltung von Unterrichtsräumen (1992), URL: https://cius.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/inst_cius/Url_pdf/1992_mediengerechte_ge staltung_von_unterrichtsraeumen.pdf (abgerufen am 7. 10. 2021); ders., Zur Integration des

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sueller Anlagen ein. Nicht zuletzt, weil die Universitäten zunehmend mehr StudentInnen unterrichten mussten, gewannen die AV-Medien für die theoretischen Erläuterungen und zur Ergänzung des praktischen Unterrichts an Bedeutung und erhielten strukturelle Förderungen durch das Unterrichtsministerium. Auch die SHB führte 1974 in einer eigenen Abteilung das AV-Zentrum für audio-visuelle Medien in Unterricht und Bildung ein.71 Werner Platzer wählte für seine Filme bewusst prominente Schauspieler und Fernsehsprecher, die den erklärenden Text einsprachen: Neben Hans Lazarowitsch war in einem seiner Filme der Schauspieler Ernst Meister (1926–1986) zu hören.72 In der Praxis wurde der zum Filmbild passende erklärende Audioton im Universitätshörsaal allerdings nur zeitweise genutzt. Anatomisch Lehrende wie Wilhelm Firbas (geb. 1939) drehten diesen nämlich nach wie vor meist ab, um selbst zu sprechen. Bei Bedarf wurde der Film auch angehalten, um im Standbild Einzelheiten zu erklären und Details bei den Studierenden abzufragen. Diese Vorführpraxis wird nach wie vor angewandt, um die StudentInnen an komplexe Sezierschritte heranzuführen. Die audiovisuellen Präparationsfilme wurden also mehrheitlich eingesetzt, um einen zusätzlichen Eindruck zu der meist bereits im Seziersaal erfahrenen praktischen Übung zu erhalten und das Erfahrene gemeinsam mit den Lehrenden im Projektionsraum Hörsaal zu wiederholen. Eine weitere Praxis war, die Filme vor dem praktischen Sezierkurs zu zeigen, um den Studierenden einen ersten Überblick über das bald am Präparat praktisch zu erlernende anatomische Handwerk zu geben.73 Seit den 1920er Jahren begründete man die Notwendigkeit der Akquirierung von Geldern zur Herstellung und zum Ankauf visueller, seit den 1960ern audiovisueller Unterrichtfilme mit dem Mangel an „Humanmaterial“ und dem für Studierende an den anatomischen Instituten limitierten Zugang zu den praktischen Sezierkursen.74 Neben diesen praktischen Argumenten ging es vielen

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Films in den Hochschulunterricht, in: Wissenschaftlicher Film in Forschung und Lehre, 111– 113. Schrodt/SHB (Hg.), Audio-visuelle Medien in Unterricht und Bildung, 22–26. Die Präparation des Mittel- und Innenohres. Interview mit Wilhelm Firbas. Das Anhalten des Filmes und Ausschalten des Audiotons ist in der Vorführpraxis des Hochschullehrfilms und Volksbildungsfilms aller Epochen gängige Praxis, vgl. Schrodt/SHB (Hg.), Audio-visuelle Medien in Unterricht und Bildung; Franz Hubalek u. a., Schulbau und Audio-Visuelle Medien (Sehen und Hören Schriftenreihe 7), Wien: Bundesstaatliche Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm. Zentrum für audio-visuelle Medien in Unterricht und Bildung 1975. Anregung anatomische Lehrfilme aus Leichenmangel: Prof. Dr. Dr. H. Hayek, Vorstand d. Anatom. Inst. d. Univ. Wien, Teilnahme am Jahreskongress der Anatomischen Gesellschaft in Mexiko (23./28. Juli 1966) (Vorführung wiss. Filme österr. Herkunft in Mexiko), Reisebeihilfe. ÖStA, AdR, BMUK, SM 186, B. H. f. Lichtbild u. Bildungsfilm in Wien, Juni 1966, GZl. 55.268/ II-3/66.

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technophilen Lehrenden in der Medizin aber auch um ein fortschrittsgewandtes Prestige, das durch die Nutzung audiovisueller Medien gestärkt zu sein schien.

Medizinethische Debatten zur „Verfilmung“ von Humanpräparaten und PatientInnen Die in den anatomischen Filmen Pernkopfs und Platzers zu sehenden präparierten Leichen stammten aus dem Depot, das dem Anatomischen Institut für die Lehre und Forschung zur Verfügung stand. Es waren üblicherweise Personen, die ihre Körper für wissenschaftliche Zwecke freigegeben hatten. Auch heute werden diese sogenannten Körperspenden nicht nur für die Sezierkurse an der Medizinischen Universität, sondern auch für bildgebende Verfahren und die Erstellung anatomisch-visueller Datenbanken genutzt. Die SpenderInnen erhalten vorab keine genauen Informationen dazu, für welche Art der wissenschaftlichen Verfügung ihre Körper genutzt werden könnten. Die Auswahl der in Platzers Filmen dargestellten Leichen und Präparate ist bislang nur lückenhaft dokumentiert. Allerdings wird die für die filmische Präparation von Organen, wie des Herzens und des Gehirnes, notwendige „Frische“ von Anatomen wie Firbas hervorgehoben.75 Mit der Digitalisierung und Aufnahme der Filme in die Lehrdatenbanken der Medizinischen Universität Wien (MUW) wurde, wohl auch um einen pietätvollen Umgang zu gewährleisten, die rückwirkende Anonymisierung von Leichen, deren Gesicht in Platzers Filmen erkennbar ist, angeregt.76 In aktuellen Debatten zur medizinhistorischen Erforschung derartiger Filmquellen werden neben ihrer Herstellung, Nutzung und Überlieferung auch medizinethische Fragen erörtert.77 In jüngster Zeit, aber auch im zeitgenössischen Produktionskontext wurden die Darstellbarkeit von und der Umgang mit lebenden PatientInnen sowie pathologischen Präparaten aus ethischer und patientenrechtlicher Perspektive ambivalent diskutiert. Dem Nutzen für die Wissenschaft steht die menschengerechte Behandlung gegenüber. Sowohl die medizinische als auch die geisteswissenschaftliche Forschung sind daher dazu angehalten, den eigenen Umgang mit derartigen visuellen Quellen und ihren Einsatz in der Wissenschaftskommunikation und -vermittlung kritisch zu hinterfragen, um eine Reproduktion belasteter Bilder zu vermeiden. Daher wird es weiterhin notwendig sein, zu diskutieren, welche Rolle die Darstellbarkeit, das 75 Interview mit Wilhelm Firbas. 76 Kommunikation der ÖM mit der MUW bei der Übergabe der anatomischen Filmkopien 2010. 77 Sabine Schlegelmilch (Hg.), Film als medizinhistorische Quelle, in: Medizinhistorisches Journal 52 (2017) 3, 100–115; Denise Madsack/Monika Weber, Analoge Lehrfilme in der Medizin: Benutzen versus Bewahren? Ein Projektbericht aus dem Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt, in: Medizinhistorisches Journal 52 (2017), 116–147.

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rückwirkende möglicherweise Verschleiern, die visuelle Konstruktion des Arzt/ Ärztin-PatientInnen-Verhältnisses bei der Frage nach Consent spielt und wie der medizinische Film diesbezüglich zu behandeln ist.78 Fragen nach dem „medizinischen Blick“79, nach der Normierung und Pathologisierung gesunder und kranker Körper, nach der Konstruktion von Sichtbarkeiten und klinischen Befunden demonstrieren, was diese von der Geschichtswissenschaft lange unbeachteten Filmquellen über Machtverhältnisse, Politiken des Bildhaften und die Bedeutung von visuellen Vermittlungsstrategien verraten.80

Ausblick Platzer selbst nutzte die Präparationsfilme lange Zeit für seine Wiener Vorlesung über „Anatomische Präparation im Film“, die Firbas nach Platzers Berufung an die Universität in Innsbruck 1968 fortführte.81 Während Platzer die Filme auch in Innsbruck in der Lehre einsetzte, führte er seine aktive Filmproduktion allerdings nicht systematisch fort. 1970 bis 1976 drehte er noch drei Präparationsfilme,82 allerdings ohne Mitwirkung der SHB. Von den ursprünglich geplanten 40 Filmen, die die Präparation aller wesentlichen menschlichen Körperregionen abdecken sollten, wurden zumindest 24 fertiggestellt. Platzers Filme werden von Lehrenden wie Firbas nach wie vor für Überblicksvorlesungen verwendet: So kommt Die Präparation des Gehirnes von oben unverändert zum Einsatz. Im Gegensatz zu schnell überholten chirurgischen Operations- und Behandlungsmethoden gelten anatomische Präparationstechniken als besonders nachhaltig. Seit 2011 stehen die Filme digitalisiert auch dem MUW-Lehrmittelarchiv und 78 In der Forschung zu medizinischen Kolonialfilmen, NS-Medizinfilmen und deren Filmexperimenten ist dies bereits zum Teil geschehen und vordergründiges Thema. Vgl. Karl L. Rost, Sterilisation und Euthanasie im Film des „Dritten Reiches“: nationalsozialistische Propaganda in ihrer Beziehung zu rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Staates, Husum: Matthiesen 1987, 145–150; Ulf Schmidt, Medical Films, Ethics, and Euthanasia in Nazi Germany: The History of Medical Research and Teaching Films of the Reich Office for Educational Films/ Reich Institute for Films in Science and Education 1933–1945, Husum: Matthiesen 2001. 79 Sabine Schlegelmilch, Die Konstruktion des Patienten/der Patientin: Blickkonzepte in Filmdokumenten des klinischen Alltags, in: Wilfried Köpke/Peter Stettner (Hg.), Filmerbe. Non-fiktionale historische Bewegtbilder in Wissenschaft und Medienpraxis, Köln: Herbert von Halem Verlag 2018, 60–79. 80 Kirsten Ostherr, Medical Visions: Producing the Patient through Film, Television, and Imaging Technologies, Oxford: Oxford University Press 2013; Christian Bonah/Anja Laukötter (Hg.), Body, Capital, and Screens: Visual Media and the Healthy Self in the 20th Century, Amsterdam: Amsterdam University Press 2020. 81 Interview mit Wilhelm Firbas. 82 Institut für den Wissenschaftlichen Film IWF (Hg.), Verzeichnis der Wissenschaftlichen Filme Medizin, Göttingen: Dieterichsche Universitäts-Buchdruckerei 1985, 1–3.

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Datenbanken zur Verfügung und können von Studierenden online abgerufen werden.83 Während die historischen und neu produzierten anatomischen Präparationsfilme meistens nur für die Universitäten und deren Angehörige zugänglich sind, können mehrere Lehrvideos zur Präparationslehre des Instituts für Klinisch-Funktionelle Anatomie der Medizinischen Universität Innsbruck ohne Zugangsbeschränkungen auf YouTube abgerufen werden.84 1972 wurde die Abteilung Wissenschaftlicher Film der SHB als Bundesstaatliche Hauptstelle für Wissenschaftliche Kinematographie (BHWK) in eine eigenständige Dienststelle umgewandelt. Der Leiter war auch hier Dankward G. Burkert. Neben der Medizin waren die zentralen Fachgebiete Zoologie, Pflanzenphysiologie, Biologie, Tierheilkunde, Psychologie, Pädagogik, Völkerkunde und Ethnografie, Mathematik, Physik und Landwirtschaft. 1984 erfolgte die Umbenennung in Österreichisches Bundesinstitut für den wissenschaftlichen Film (ÖWF). Als dieses 1997 aufgelöst wurde, ging der gesamte Filmbestand – inklusive der Rechte – an die Österreichische Mediathek über: Dort können Platzers Filme nach wie vor angesehen werden.85

83 Korrespondenz mit Peter Ploteny von der ÖM. 84 URL: https://www.youtube.com/results?search_query=Institut+für+Klinisch-Funktionell e+Anatomie&sp=EiG4AQHCARtDaElKemRJcnpGQnJuVWNSWVlXTXp3eGlIS1k%253D, https://www.youtube.com/watch?v=bo9Nl4uqTls (abgerufen am 7. 10. 2021). 85 Verena Kubicek, Die ethnologische Filmsammlung des Österreichischen Bundesinstituts für den wissenschaftlichen Film (ÖWF), ÖM, URL: https://www.mediathek.at/wissenschaft-al s-film/das-projekt-wissenschaft-als-film/die-ethnologische-filmsammlung-des-oewf/ (abgerufen am 7. 10. 2021).

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Daniela Angetter / Franz Kainberger

Die Geschichte der Bildgebung The History of Biomedical Imaging

Abstracts In den Jahren nach 1945 war die bildgebende Diagnostik im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) auf 16 kleine und mittelgroße, vielfach konkurrierende Einheiten aufgesplittert. Ultraschall und Nuklearmedizin wurden in ihren Anfängen meist noch von Nichtradiologen betrieben. Mitte der 1960er Jahre wurde ein Lehrstuhl für Nuklearmedizin geschaffen, für die Strahlentherapie sogar eine eigene Klinik. Mit der Übersiedelung ins Neue AKH (1993) wurde die zersplitterte medizinische Bildgebung in zwei eigenen Universitätskliniken, für Radiologie und für Nuklearmedizin, zusammengeführt. Danach fand ein innerer Strukturwandel statt: Die Integration eines Magnetresonanzinstituts und eine Reorganisation der Abteilungsstrukturen inklusive der Nuklearmedizin mündeten letztlich in einer einzigen Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin. In the years after 1945, biomedical imaging in the Vienna General Hospital was fragmented into up to 16 small and medium-sized, often competing units. In their early days, ultrasound and nuclear medicine were mostly practices by non-radiologists. In the mid 1960es, a chair for nuclear medicine as well as an own department for radiotherapy were established. Over the course of translocation into the new general hospital (1993) the fragmented imaging units were brought together into two departments, for biomedical imaging as well as for nuclear medicine. From now on, an internal structural change took place, namely the integration of a magnetic-resonance institute and a departmental reorganization including nuclear medicine resulting in a one and only department for biomedical imaging and image-guided therapy. Keywords Radiografie, kardiovaskuläre Radiologie, interventionelle Radiologie, Nuklearmedizin, Computertomografie, Magnetresonanztomografie, digitale Radiologie, Allgemeines Krankenhaus Wien Radiography, cardiovascular radiology, interventional radiology, nuclear medicine, computed tomography, magnetic resonance tomography, digital radiology, Vienna General Hospital

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Einleitung Im Jahr 1896 wurden an der II. Medizinischen Universitätsklinik sowie an der Wiener Poliklinik die ersten Röntgenanlagen in Betrieb genommen.1 Erstere wurde 1898 zur Röntgenzentrale des AKH Wien erhoben und gilt als Vorläufer des späteren Zentralröntgeninstituts der Universität Wien. Daneben existierten an den drei medizinischen und zwei chirurgischen Universitätskliniken des AKH kleine Röntgenzimmer.2 1904 wurde die medizinische Radiologie als eigenständige Disziplin anerkannt.3 Schließlich dauerte es bis zum Jahr 1947, bis die Wiener Medizinische Fakultät das Zentralröntgeninstitut zum Universitätsinstitut und Extraordinariat bzw. 1955 zum Ordinariat erhob.4 In Innsbruck wurde 1954 ein Extraordinariat errichtet, das 1960 in ein Ordinariat umgewandelt wurde.5 An der Karl-FranzensUniversität in Graz erfolgte die Errichtung eines Lehrstuhls für medizinische Radiologie 1958.6 Mit nun allmählich verfügbaren neuen Technologien begann man in Wien ab der Mitte der 1950er Jahre mit Nuklearmedizin und Ultraschall, in den 1970er Jahren mit der Computertomografie (CT), ab den 1980er Jahren mit der Magnetresonanztomografie (MRT) und den aus der Angiografie hervorgegangenen interventionell-radiologischen Techniken sowie ab den 1990er Jahren mit digitaler und computerassistierter Radiologie. Die Strahlenexposition war anfänglich durch die langen Durchleuchtungszeiten und den Umgang mit offenen Radionukliden, später durch die Computertomografie vor allem beim chirurgischen und radiologischen Personal hoch, ebenso bei vielen PatientInnen. Obwohl Strahlenschäden seit Jahrzehnten bekannt waren und die führenden Fachvertreter in Wien Konzepte zur Prävention entwickelten, wurden sie in Anbetracht der großen diagnostischen Möglichkeiten lange als vertretbares Übel angesehen. 1 Erich Deimer, Das Röntgeninstitut der Wiener Allgemeinen Poliklinik, in: ders. (Hg.), Chronik der Allgemeinen Poliklinik in Wien im Spiegel der Medizin- und Sozialgeschichte, Wien: Verlag Dieter Göschl 1989, 212–223, 212. 2 Daniela Angetter, Guido Holzknecht. Leben und Werk des Pioniers der österreichischen Röntgenologie, Wien: Werner Eichbauer Verlag 1998, 36–37; Herbert Pokieser, Vom Röntgenlabor zur Universitätsklinik für Radiodiagnostik in Wien, in: Hellmuth E. Ellegast/HansDieter Kogelnik/Erich Strasser (Hg.), Hundert Jahre medizinische Radiologie in Österreich, Wien–München–Bern: Maudrich 1995, 75–107, 75–77, 84. 3 Angetter, Holzknecht, 49. 4 Pokieser, Vom Röntgenlabor zur Universitätsklinik, 83–84. 5 Erich Pirker, Radiologie in Tirol, in: Ellegast/Kogelnik/Strasser (Hg.), Hundert Jahre medizinische Radiologie, 127–132, 128. 6 Herbert Schreyer/Erich Vogler, Geschichtliche Entwicklung des Zentralröntgeninstitutes des Landeskrankenhauses Graz sowie der Universitätsklinik für Radiologie der Karl-FranzensUniversität Graz, in: Ellegast/Kogelnik/Strasser (Hg.), Hundert Jahre medizinische Radiologie, 119–125, 119.

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Erst durch das Strahlenschutzgesetz im Jahr 1969 – Jahre später als in den anderen deutschsprachigen Staaten – kam es zu einem Umdenken. Mit heutiger Kenntnis der Wirkung ionisierender Strahlung ist die Dunkelziffer an in den späten 1940er bis in die 1980er Jahre durch ionisierende Strahlung mitverursachten Todesfällen höher einzuschätzen, als es damals bekannt war, weil die wissenschaftlichen Daten fehlten, um zwischen den oft erst im höheren Lebensalter auftretenden Tumorerkrankungen und der ursächlich beteiligten Strahlenexposition Bezüge herzustellen. Dass Radiologen durch Strahlenschäden verstarben, war allerdings in Wien nach 1945 viel seltener der Fall (oder bekannt) als in den Jahren zuvor. Namentlich bekannt sind Bruno Kothny (1887– 1961), Leiter des Ambulatoriums der Wiener Verkehrsbetriebe, mit metastasierendem Strahlenkrebs an beiden Händen und Robert Lenk (1885–1966), bis 1938 Leiter des Röntgeninstituts der Arbeiterkrankenkasse Wiens, mit einem Strahlenulkus am linken Bein, das amputiert werden musste. Auch bei Bertrand Psenner (1909–1986) kann angenommen werden, dass seine zum Tod führende lymphoretikuläre Systemerkrankung durch zu hohe Strahlenbelastung mitverursacht war.7 Anhand des Standardwerks Hundert Jahre medizinische Radiologie in Österreich, bearbeitet von Hellmuth Hubert Ellegast, Horst Dieter Kogelnik und Erich Strasser, aus dem Jahr 1995, des Beitrags von Herbert Pokieser, Holzknecht und die weitere Entwicklung der Radiologie in Österreich, in Daniela Angetters 1998 erschienenen Monografie Guido Holzknecht. Leben und Werk des Pioniers der österreichischen Röntgenologie, der einen Ausblick auf die Entwicklung der Radiologie bis in die Anfänge des 21. Jahrhunderts bietet, sowie herausragender Publikationen Wiener RadiologInnen lassen sich für die klinische Bildgebung, ihre Forschung und Lehre im Entwicklungszeitraum von 1945 bis 2004 drei große Phasen mit fließenden Übergängen beschreiben. Die technologischen Innovationen der einzelnen Verfahren der Bildgebung werden exemplarisch anhand der Leistungen von Fachvertretern veranschaulicht.8 In den Jahren zwischen 1945 und 1954 waren die Strukturen und Netzwerke stark von den großen und mittelgroßen Kliniken des AKH Wien dominiert, denen radiologische Einheiten, meist „Stationen“ genannt, zugeordnet waren. Im Zentralröntgeninstitut lag ein starker Fokus auf der dynamischen Darstellung des Herzens und der Diagnostik des Schädels, beides eine Weiterführung von wissenschaftlichen Schwerpunkten vor allem seit den 1920er Jahren. Ab Mitte der 1950er Jahre bis 1992 fanden im AKH Forschung und Lehre klinisch interdisziplinär in den jeweiligen Arbeitsbereichen der insgesamt bis zu 16 parallel aktiven radiologischen Einheiten, in denen teilweise nur eine oder 7 Persönliche Erinnerung von Franz Kainberger aus seiner Zeit als Assistenzarzt. 8 Karl Heinz Tragl, Chronik der Wiener Krankenanstalten, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2007.

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wenige Personen tätig waren, statt. Hier sind die internistischen und chirurgischen Universitätskliniken, das Zentralröntgeninstitut sowie die Kliniken für Frauenheilkunde, Kardiologie, Neurochirurgie, Neurologie, Orthopädie, Kieferchirurgie, Pädiatrie, Psychiatrie, Unfallchirurgie und Urologie zu nennen. In dieser Zeit entstanden an der I. und II. Medizinischen Universitätsklinik, am Zentralröntgeninstitut sowie an den Kliniken für Kardiologie und Neurologie auch nuklearmedizinische Arbeitsbereiche.9 Mit der Besiedlung des Neuen AKH wurden 1991 all diese Einheiten zu zwei großen Universitätskliniken vereinigt, eine für Radiodiagnostik und eine für Nuklearmedizin, die dann 2015 zu einer gemeinsamen Klinik zusammengeführt wurden. Ausgehend von der Radiologie wurde 2014 der interdisziplinäre Imaging-Cluster der Medizinischen Universität Wien gegründet, um die Forschungsaktivitäten zu koordinieren.10 Internationalen Entwicklungen folgend, hat sich innerhalb dieses Gesamtzeitraums das Berufsbild der RadiologInnen und der RadiologietechnologInnen stark gewandelt. Ab den 1980er Jahren wurden etwa zwei Drittel der bis dahin praktizierten Untersuchungen durch Schnittbildverfahren ersetzt. Zwar steht die Nutzung von Technologien nach wie vor im Zentrum der Tätigkeit, aber der Kontakt mit PatientInnen ist durch Ultraschall und interventionelle Verfahren stärker geworden, und die zunehmend intensivere interdisziplinäre Kommunikation erfordert eine Subspezialisierung mit entsprechenden Herausforderungen im Healthcare-Management dieser Disziplinen. Ein spezieller Aspekt betrifft die Bezüge der Radiologie zur Kunst. Die Nutzung der Röntgenstrahlen zu künstlerischen Zwecken oder in der Naturforschung hatte in Wien sehr früh, nämlich 1896 um den Chemiker und Fotografen Josef Maria Eder (1855–1944), begonnen.11 Nach 1945 gab es eine Reihe ähnlicher Aktivitäten, wenngleich deutlich weniger als in den USA, wie es kürzlich vom Kunsthistoriker Thomas Zaunschirm (geb. 1943) in seinem Buch X-Ray Art – Röntgenkunst beschrieben wurde.12 Zu den österreichischen Künstlern gehörten der Bildhauer Hans Kupelwieser (geb. 1948), der einen Betonblock mit einem darin versteckten Kreuzschlüssel ausstellte, und der Wiener Radiologe Werner Schuster (geb. 1957) mit naturalistischen röntgenfotografischen Dokumenten und Motiven zu Eros und Tod – ein in diesem Genre vielfach wiederkehrendes

9 Herbert Pokieser, Holzknecht und die weitere Entwicklung der Radiologie, in: Ellegast/Kogelnik/Strasser (Hg.), Hundert Jahre medizinische Radiologie, 156–166. 10 Medical Imaging Cluster (MIC). Medizinische Universität Wien, URL: https://cluster.meduni wien.ac.at/mic/ (abgerufen am 21. 9. 2021). 11 Josef Maria Eder/Eduard Valenta, Versuche über die Photographie mittelst der Röntgen’schen Strahlen, Wien: Verlag R. Lechner 1896. 12 Thomas Zaunschirm, X-Ray Art – Röntgenkunst, Wien: Eigenverlag 2021.

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Motiv. Später, ab 2013, wurden diese künstlerischen Aktivitäten an der Universität für angewandte Kunst im Institut für Art and Science weiterentwickelt.13

1945 bis 1954 Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1938 und der damit verbundene Braindrain an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien trafen auch die ohnehin im Vergleich zu anderen Fächern eher klein aufgestellte Radiologie schwer. Prominente Vertreter wie Jonas Borak (1893–1949), Felix Fleischner (1893–1969), Robert Lenk, Arthur Schüller (1874–1957), Gottwald Schwarz (1880–1959) oder Max Sgalitzer (1884–1973) wurden aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus ihren Positionen entfernt und in die Emigration gezwungen,14 Siegmund Kreuzfuchs (1878–1942) in das KZ Dachau deportiert,15 der an der Wiener Poliklinik tätige Robert Kienböck (1871–1953) zwangspensioniert. Die beiden wissenschaftlichen Gesellschaften, die Wiener sowie die Österreichische Gesellschaft für Röntgenkunde, wurden aufgelöst.16 Von 1938 bis 1945 leitete Ernst Georg Mayer (1893–1969) das Zentralröntgeninstitut, nachdem er bereits von 1931 bis 1935 mit der provisorischen Leitung dieses Instituts betraut gewesen war, bis Wolfgang Wieser (1887–1945) als Vorstand berufen wurde. Als Wieser 1937 aufgrund von politischen und wissenschaftlichen Differenzen mit dem damaligen Rektor der Universität Wien, Leopold Arzt (1883–1955), seinen Posten als Vorstand des Zentralröntgeninstituts kündigte und letztlich am 22. April 1938 aus politischen Gründen seines Amts enthoben und von der Universität Wien vertrieben wurde,17 übernahm Mayer, ab 1938 Mitglied der SA, ab 1940 der NSDAP und Dozent neuer Ordnung, zunächst erneut die provisorische Leitung und wurde 1941 mit dem Titel eines außerplanmäßigen Professors zum definitiven Leiter bestellt. In dieser Phase konnte Mayer modernere diagnostische und therapeutische Instrumente beschaffen.18 1944 erhielt er eine 13 Virgil Widrich, Art & Science, URL: https://www.dieangewandte.at/institute/bildende_und _mediale_kunst/art__science (abgerufen am 24. 9. 2021). 14 Pokieser, Vom Röntgenlabor zur Universitätsklinik, 83. 15 Siegmund Kreuzfuchs. ÖStA, AdR, BMF, VVSTA., V.A., Zl. 30.464. 16 Hellmuth H. Ellegast, Die Wiener Gesellschaft für Röntgenkunde, in: Ellegast/Kogelnik/ Strasser (Hg.), Hundert Jahre medizinische Radiologie, 227–232. 17 Gertrude Enderle-Burcel, Mandatare im Ständestaat 1934–1938. Christlich – ständisch – autoritär. Biographisches Handbuch der Mitglieder des Staatsrates, Bundeskulturrates, Bundeswirtschaftsrates und Länderrates sowie des Bundestages, Wien: Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes 1991, 263. Siehe auch Andreas Huber, Wolfgang Wieser, URL: https://gedenkbuch.univie.ac.at/?id=index.php?id=435&no_cache=1&person_single_id=34 137 (abgerufen am 24. 9. 2021). 18 Pokieser, Vom Röntgenlabor zur Universitätsklinik, 83.

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Planstelle als ao. Professor an der Universität Wien, mit der Auflage, besonderen Wert auf die Medizinische Strahlenkunde zu legen.19 Mayer wurde 1945 seines Amts enthoben und im November von britischen Behörden verhaftet. Nach dem Nationalsozialistengesetz galt er 1947 als „belastet“, 1948 erfolgte die Einstufung als „minderbelastet“, nachdem seine Verzeichnung als SA-Sturmführer gestrichen worden war. Die Jahre 1948 bis 1954 verbrachte er als Vortragender in Südamerika.20 In der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihrem Ressourcenmangel – von 1945 bis Ende 1947 war Ludwig Psenner supplierender Leiter des Instituts – hatte man in Wien den Anschluss an die internationalen Entwicklungen in der Radiologie verloren. Vieles an Fachwissen war verloren gegangen, und der früher regelmäßige Austausch mit KollegInnen innerhalb Österreichs sowie im deutschsprachigen Raum war angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse problematisch. Viele junge Ärzte verließen Österreich, einer von ihnen war Kurt Amplatz (1924–2019), der in Minnesota tätig war und nach dem einige interventionell-radiologische Instrumente benannt wurden.21 Im AKH wurde mit der Berufung von Erich Zdansky (1893–1978) 1947 ein Extraordinariat für Radiologie begründet und somit das Zentralröntgeninstitut zum Universitätsinstitut erhoben, das 1953 nach Guido Holzknecht (1872–1931) benannt wurde. Unter Zdansky erfolgte nicht nur eine umfassende Modernisierung seines Instituts, insbesondere durch die räumliche Ausweitung, die Anschaffung moderner Gerätschaften für Tomografie und Röntgenkinematografie, sondern auch der Beginn der Isotopendiagnostik.22 Des Weiteren forschte Zdansky intensiv zur Angiokardiografie, und mit dem aus dieser Technik gewonnenen Wissen war es ihm möglich, das Wissen über die Erkrankungen des Herzens weiterzuentwickeln. In gleicher Weise gelang es ihm, die komplexen Verläufe und Formen der Lungentuberkulose anhand ihres Erscheinungsbildes auf Röntgenbildern neu zu interpretieren und zu klassifizieren.23 Diese damals modernen Themen wurden im AKH auch von anderen Arbeitsgruppen, vor

19 Von der Universität Wien, Znaimer Tagblatt, 2. 11. 1944, 4. 20 Archiv der Universität Wien, MED PA 343 Mayer, Ernst Georg, 1940–1969 (Akt); Pokieser, Vom Röntgenlabor zur Universitätsklinik, 83; Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Göttingen: V&R unipress 2014, Register, besonders auch 330. 21 Jane E. Brody, Scientist at work: Kurt Amplatz; At 79, a Pioneer of Heart Devices Is Not About to Quit Tinkering, URL: https://www.nytimes.com/2003/09/09/science/scientist-work-kur t-amplatz-79-pioneer-heart-devices-not-about-quit-tinkering.html (abgerufen am 24. 9. 2021). 22 Pokieser, Vom Röntgenlabor zur Universitätsklinik, 83–84. 23 Erich Zdansky, Röntgendiagnostik des Herzens und der Großen Gefäße, Wien: Springer 1939, 2. Aufl. 1949, 3. Aufl. 1962; ders., Die Entwicklung der Lungentuberkulose im Röntgenbild, Wien: Springer 1949; ders., Röntgenpathologie der Lungentuberkulose, Wien: Springer 1968.

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allem an den großen medizinischen Kliniken aufgegriffen.24 Das fehlende Interesse an einer Kooperation mit den Radiologen – auch die nicht erfolgte Einrichtung einer von der Medizinischen Fakultät ursprünglich zugesagten Bettenstation – führte dazu, dass Zdansky 1954 eine Berufung nach Basel annahm.25 Für die damals neue Isotopendiagnostik wurden an diversen Kliniken Labors gegründet, unter anderem von Hans Hoff (1897–1969) an der Neurologie und Psychiatrie, das jedoch nie richtig in Betrieb genommen werden konnte.26 Generell fehlte in Wien der Wille, Synergien durch fachübergreifende Kooperationen zu nutzen, vielmehr setzte man auf eine sich aus dem Wettstreit zwischen den einzelnen Kliniken erhoffte kreative Rivalität. Immer wieder aufflammende Diskussionen dazu wurden von den meinungsbildenden Chefs nur ungern zugelassen.27 Aus der Durchsicht der deutschsprachigen Literatur geht hervor, dass Wien in der Entwicklung der kardiovaskulären und pulmologischen Röntgendiagnostik ab nun den Anschluss verlor. Kurzeitig übernahm wiederum Ludwig Bertrand Psenner die Leitung des Instituts, ehe er 1955 von Ernst Georg Mayer abgelöst wurde, der 1950 die Wiederzulassung als Privatdozent für medizinische Radiologie erhalten hatte. In seiner praktisch dritten Amtszeit trug Mayer zur Etablierung der für diese erste Periode der Radiologie nach 1945 signifikanten Beschäftigung mit der Radiologie des Schädels bei. Neben der otologischen und rhinologischen Röntgendiagnostik im Kindes- und Erwachsenenalter befasste er sich mit der Schädeldiagnostik.28 Seine 1930 im Springer-Verlag erschienene Otologische Röntgendiagnostik galt als Standardlehrbuch. Mayers Name ist aber auch eng mit der Erarbeitung von Maßnahmen zum Strahlenschutz verbunden.29 Gemeinsam mit dem Leiter der Röntgentechnischen Versuchsanstalt Jaroslav Zˇakovsky (1905–1972) als Koautor bearbeitete er 1950 die bereits zwölfte Auflage der Anordnung der normalisierten Röntgenaufnahmen … mit einem Abschnitt Expositionsnormung … und einem Kapitel Strahlenschutz in medizinischen Röntgenbetrieben, die er nach Leon Lilienfeld (1869–1938), dem Herausgeber der ersten Auflage, übernommen hatte. Nach Mayers Emeritierung 1964 übernahm Psenner erst die supplierende und ab 1968 als ordentlicher Professor die Leitung 24 Friedrich Kaindl, Wo Billroth irrte, in: Karl H. Spitzy/Inge Lau (Hg.), Van Swietens Erbe. Die Wiener Medizinische Schule heute in Selbstdarstellungen, Wien: Verlag Wilhelm Maudrich 1982, 55–60; Karl Fellinger/Eva Mannheimer/Herbert Vetter, The radioiodine plasma test. in: Wiener Zeitschrift für Innere Medizin und ihre Grenzgebiete 34 (1953), 359–374. 25 Pokieser, Vom Röntgenlabor zur Universitätsklinik, 84. 26 Persönliche Kommunikation des Autors Franz Kainberger mit Robert Schigutt, Juli 2021, Unterlagen bei FK. 27 Kaindl, Wo Billroth irrte, 55–60. 28 Ernst Georg Mayer, Diagnose und Differentialdiagnose in der Schädelröntgenologie, Wien: Springer 1959. 29 Ernst Georg Mayer, in: Ellegast/Kogelnik/Strasser (Hg.), Hundert Jahre medizinische Radiologie, 299–301.

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des Instituts für Radiodiagnostik. Psenners wissenschaftliche Schwerpunkte waren ebenfalls das Schädelskelett, dazu die Radiotherapie der Erkrankungen des Nervensystems.30 So arbeitete er am zweiten Band des Handbuchs der Medizinischen Radiologie31 mit. Gemeinsam mit dem Spezialisten für Hals-NasenOhren-Heilkunde Otto Novotny (1911–1997) verfasste er 1953 Die Röntgentherapie in der Oto-Rhino-Laryngologie. Einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung der Radiologie in Österreich nach 1945 leistete auch die Österreichische Röntgengesellschaft (ÖRG).32 Die Gesellschaft, die die Aus- und Weiterbildung sowie die Einführung und Erhaltung von größtmöglichen Qualitätsstandards als ihr Hauptanliegen betrachtete, bemühte sich zudem, das radiologische Netzwerk in Österreich, aber auch international, zu reorganisieren und sah sich verantwortlich für den Strahlenschutz der RadiologInnen und PatientInnen. Als Verbandsorgan wurde 1948 die Fachzeitschrift Radiologica Austriaca ins Leben gerufen, die 20 Jahre später aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt werden musste. Seit 1976 ist die Zeitschrift Fortschritte aus dem Gebiet der Röntgenstrahlen das offizielle wissenschaftliche Journal der ÖRG.33 Der von dieser Gesellschaft abgehaltene jährliche Röntgenkongress fand auch immer wieder in Wien statt, die letzten Male mit Gerhard Lechner (1937–2017) als Kongresspräsident in den Jahren 1987 und 1999.

1960er Jahre bis zur Umsiedelung in das Neue Allgemeine Krankenhaus In Europa hatten sich mittlerweile einige namhafte radiologische Zentren etabliert, und zwar dort, wo es unter politisch ruhigen Verhältnissen und mit finanzieller Unterstützung der öffentlichen Hand herausragenden Radiologen gelang, mit jeweils neuester gerätetechnischer Ausstattung ihren Teams gute Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Solche europäischen radiologischen Schulen entwickelten sich in Zürich und Bern, in Lund, in Tübingen und etwas später in München, während es in Österreich in Graz gelang.

30 Ludwig Bertrand Psenner, Differentialdiagnose der Erkrankungen des Schädelskeletts, Stuttgart: Thieme 1973. 31 Alois Beutel u. a., Handbuch der Medizinischen Radiologie. Encyclopedia of Medical Radiology, Bd. 2: Röntgendiagnostik des Schädels. Roentgen Diagnosis of the Skull, Berlin– Göttingen–Heidelberg: Springer 1963. 32 Heutiger Name: Österreichische Röntgengesellschaft – Gesellschaft für medizinische Radiologie und Nuklearmedizin. 33 Die Geschichte der Österreichischen Röntgengesellschaft, URL: https://www.oerg.at/wir-ue ber-uns/geschichte/ (abgerufen am 21. 9. 2021).

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In Wien gab es neben dem Zentralröntgeninstitut mit dem Ordinariat sechs klinische Röntgenstationen, namentlich an der I. und II. Medizinischen sowie an der I. und II. Chirurgischen Klinik, an der Frauenklinik und ab 1973 an der Kinderklinik, die allesamt von Radiologen geleitet wurden. Zusätzlich existierten in Wien weitere Röntgenbereiche ohne Abteilungsstatus und ohne Röntgenologen in den Leitungsfunktionen. Es ist bezeichnend für die damalige Denkweise, dass der Vorstand der Kinderklinik, Ernst Zweymüller (1917–2014), von einem Traditionsbruch sprach, weil er „seine“ Radiologie, die seit Jahrzehnten von Pädiatern betrieben worden war, nun in die Hände eines Radiologen legte, ohne dafür eine Abteilung zu gründen.34 Solche Einrichtungen befanden sich an den Kliniken für Kardiologie, Urologie, Orthopädie, Zahnklinik und Kieferchirurgie, an der I. und II. Unfallchirurgie, der Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, teils mit sehr komplexen Versorgungsstrukturen, indem spezielle Untersuchungen oder Fragestellungen auf der einen oder anderen dieser Einrichtungen gebündelt wurden. An der Universitätsklinik für Kardiologie wurde die konventionelle Röntgendiagnostik (Radiografie) von Ernst Kotscher (1924–1984) und Elvira Lobenwein-Weinegg – der ersten habilitierten Radiologin gemeinsam mit Anna Jenny-Stangl, Leiterin der Röntgenstation der II. Chirurgischen Universitätsklinik und eine der ersten Radiologinnen am AKH – sowie später von Gerald Seidl (1943–2020) und ihren Teams betrieben, während nach einer gemeinsamen Initialphase die Kardioangiografien nur noch von Kardiologen durchgeführt wurden.35 Am Zentralröntgeninstitut verblieben nunmehr die röntgendiagnostischen Bereiche der Haut-, der Augen- sowie der Hals-NasenOhrenerkrankungen.36 Die zersplitterte radiologische Struktur in 16 mehr oder weniger große Einrichtungen innerhalb des AKH war für die klinische Versorgung und die Forschung nicht förderlich. Im nationalen Vergleich zeigte sich bald, dass die homogen strukturierten radiologischen Einheiten vor allem an der Universität Graz, aber auch in Salzburg, mit Abstand erfolgreicher waren im Vergleich zu den kleinteiligen Strukturen in Wien oder Innsbruck, wo teilweise beachtliches Expertenwissen bestand, das aber in Summe kaum wahrgenommen und auch nicht gefördert wurde. Besonders behindert wurde die Ausbildung, da jungen ÄrztInnen eine Rotation zwischen den Stationen kaum möglich war, deren Stammpersonal in einem Konkurrenzverhältnis stand und deshalb nur wenig systematisch betriebene Forschungsleistungen erbringen konnte, obwohl das Bemühen oft enorm war. Bis in die 1970er Jahre existierte kein radiologischer Nachtdienst.37 34 Ernst Zweymüller, Verunsicherte Forschung durch Besserwisser, in: Spitzy/Lau (Hg.), Van Swietens Erbe, 67–70. 35 Pokieser, Vom Röntgenlabor zur Universitätsklinik, 88–89. 36 Ebd., 89. 37 Ebd.

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Herausragend in dieser Zeit war Hellmuth Ellegast (1920–1997), der 1964 die Leitung der Radiologie an der I. Medizinischen Klinik vom Internisten Erwin Deutsch (1917–1992), dem späteren Klinikvorstand, übernommen hatte, schwerpunktmäßig Skelettradiologie betrieb und seine persönlichen internationalen Kontakte für die Wahrnehmung dieser Disziplin nutzte. Technische Neuerungen wurden nach dem Engagement des jeweiligen Klinikvorstands eingeführt. Auch an der I. Medizinischen Universitätsklinik, wo gegen Ende der 1960er Jahre die Angiografie – um Jahre später als an anderen österreichischen Spitälern und international – etabliert wurde, gab es diesbezüglich eine hemmende Konkurrenzsituation zwischen der radiologischen und den kleinen internistischen Arbeitsgruppen. 1963 wurde eine Mammografie an der I. Chirurgischen Klinik und 1976 die erste Computertomografie an der Neurologie installiert und von Neurologen betrieben.38 Am Zentralröntgeninstitut wurde die Schädeldiagnostik von Guido Canigiani um die Radiologie der Kiefer und Zähne erweitert und somit, aufbauend auf der Tradition seit Arthur Schüller, umfassend klinisch und wissenschaftlich abgedeckt. Erich Emmerich Deimer (geb. 1925), der 1967 von Psenner an das Zentraldiagnostische Institut für Radiologie geholt worden war, führte die Röntgenuntersuchungen des Magen-Darm-Trakts sowie die Kontrastuntersuchung des Mediastinums ein. Weiters befasste er sich mit der Morphologie und Kybernetik der Portalgefäße. 1975 führte er die ersten angioplastischen Eingriffe, u. a. bei einer ÖsphagusvarizenBlutung, durch.39 Ein relevanter Strukturwandel fand mit der Abtrennung der Strahlentherapie und der Erhebung einer der nuklearmedizinischen Stationen zu einem Ordinariat statt, weil zwei neue medizinische Fächer mit eigener Facharztausbildung und neuen Fachgesellschaften entstanden. 1969 erfolgte die Trennung der Universitätsklinik für Strahlentherapie und Strahlenbiologie vom Zentralröntgeninstitut, wobei die strahlentherapeutische Einrichtung für die Frauenkliniken weiter bestehen blieb. Während im angloamerikanischen Raum Radiologische Diagnostik und Strahlentherapie bereits nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend autonome Fächer geworden waren, erfolgte diese Entwicklung in Westeuropa erst in den 1970er Jahren. Wien war hier mit der Gründung einer Universitätsklinik für Strahlentherapie und Strahlenbiologie im Jahr 1969 die erste Universität in Österreich. In Graz wurde eine Abteilung für Strahlentherapie 1973 gegründet und im Jahr 2000 zu einer Klinik umgewandelt, in Innsbruck wurde eine Klinik 1985 eingerichtet.40 38 Ebd., 90. 39 Tragl, Chronik, 335. 40 Pirker, Radiologie, 130; Universitätsklinik für Radiologie, URL: https://www.uniklinikumgra z.at/radiologie (abgerufen am 21. 9. 2021).

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Karl-Heinz Kärcher (1923–2009) wurde zum ersten Klinikvorstand in Wien ernannt. Zu seiner Zeit stand für die Strahlentherapie ein Gammatron zur Verfügung bzw. wandte man die konventionelle Röntgentherapie an. Kärcher, der sich in seinen Forschungen den durch ionisierende Strahlen ausgelösten biologischen Effekten an Haut und Schleimhäuten widmete, sich aber auch für die Therapie mit schnellen Elektronen und anderen hochenergetischen Strahlen interessierte, konnte in Wien nun Pionierarbeit leisten. Unter seine Ägide wurde noch im November 1969 der erste Kreisbeschleuniger in Betrieb genommen, 1972 ersetzte er das veraltete Telekobaltgerät durch ein Gammatron III, und 1974 eröffnete er eine klinische Bettenstation inklusive Strahlenschutzbetten und einen Operationsraum für Brachytherapie.41 Erfolgreich zeigte er sich zudem in der Ausbildung von Strahlentherapeuten, deren Wirkkreis sich nicht nur auf Wiener Spitäler erstreckte, sondern sich auch auf die Besetzung von Posten in den Bundesländern positiv auswirkte. So entstanden strahlentherapeutische Einrichtungen in Klagenfurt, Salzburg und Linz.42 Darüber hinaus gründete Kärcher die Arbeitsgemeinschaft für strahlentherapeutische Onkologie, reorganisierte die Fachausbildung und war mit Herbert Pokieser (1930–1999) daran beteiligt, dass im Medizinstudium das Prüfungsfach „Radiologie und Strahlenschutz“ gesetzlich verankert wurde. Gerda Hohenberg und etwas später Annemarie-Ulrike Schratter-Sehn (geb. 1955) waren die ersten an dieser Klinik tätigen Ärztinnen. Kärchers Nachfolger Richard Pötter (geb. 1948) und sein Team befassten sich mit der Brachytherapie von gynäkologischen Tumoren sowie den Uveamelanomen des Auges, mit der Neutronen-Radiotherapie und der 3-DBehandlungsplanung mit Magnetresonanz (MR). Dabei war Pötter auch stets die Qualitätssicherung in der Radioonkologie ein wichtiges Anliegen. Er wurde 1993 an die Klinische Abteilung für Teletherapie der Universitätsklinik für Strahlentherapie und Strahlenbiologie berufen. Die Klinische Abteilung für Brachytherapie führte Wolfgang Seitz (geb. 1944).43 Die Nuklearmedizin entwickelte sich am AKH seit den 1950er Jahren vor allem an den Kliniken für Innere Medizin I und II, während sie international gesehen meist an radiologischen Institutionen durchgeführt wurde. Nach Auskunft von Hans Frischauf (1915–2015) war der Beginn vor dem Ersten Weltkrieg durch eine Radiumstation charakterisiert.44 Karl Fellinger (1904–2000) gründete 1953 mit seinen Mitarbeitern Herbert Vetter (1920–2009) und kurze Zeit später Rudolf Höfer (geb. 1923) ein Isotopenlabor und publizierte selbst über Schilddrüsen41 Tragl, Chronik, 182–183. 42 Karl Heinz Kärcher, Gründung und Aufbau einer Klinik für Strahlentherapie und Strahlenbiologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, in: Ellegast/Kogelnik/ Strasser (Hg.), Hundert Jahre medizinische Radiologie, 109–117, 113–114. 43 Tragl, Chronik, 214. 44 Hans Frischauf, Die gebändigte Strahlung, in: Spitzy/Lau (Hg.), Van Swietens Erbe, 299–302.

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erkrankungen. 1969 gründete Höfer gemeinsam mit Fellinger45 die Österreichische Gesellschaft für Nuklearmedizin, 1973 wurde er zum Leiter der neu errichteten Abteilung für Nuklearmedizin an der II. Medizinischen Universitätsklinik und 1983 zum ordentlichen Professor für dieses Fach ernannt. Sein Nachfolger ab 1998 war Robert Dudczak (geb. 1944), dessen Forschungen zum diagnostischen und therapeutischen Einsatz von radioaktiven Isotopen mehrfach preisgekrönt sind.46 Bei der Besiedelung des Neuen AKH wurde die bereits von Zdansky etwa 40 Jahre zuvor geforderte Bettenstation eröffnet. Der Nuklearmedizin zugeordnet ist ein Zyklotron zur Herstellung von Radiopharmaka mit einer von Kurt Kletter (geb. 1945) ab Ende der 1990er Jahre geleiteten Arbeitsgruppe von Radiochemikern und -pharmazeuten, durch die diese Klinik eine der leistungsstärksten Einheiten in Europa wurde und aus der später durch Fusion mit dem 2008 von Thomas Helbich (geb. 1963) gegründeten präklinischen Imaging-Lab (PIL) die wissenschaftlich hochaktive Abteilung für molekulare und strukturelle präklinische Bildgebung (PIL/EXPNUC) hervorging.47 International federführend war man in Wien in der Ultraschalldiagnostik, u. a., weil engagierte junge Ärzte mit den kostengünstigen kleinen Geräten im kleinteiligen System der vielen Röntgenstationen innovativ tätig sein konnten. Nachdem 1937 der Neurologe Karl-Theo Dussik (1908–1968) gemeinsam mit seinem Bruder, einem Physiker, die Technik des Echolots erstmals in der Medizin angewendet hatte, wenige Jahre später kriegsbedingt nach Bad Ischl gegangen und Mitte der 1950er Jahre in die USA emigriert war, blieben die Kontakte und das Interesse an dieser Technik in Wien dennoch bestehen. Der Gynäkologe Alfred Kratochwil (geb. 1928) erlangte international große Anerkennung mit seinen Publikationen über die Plazenta und beschäftigte sich, die Grenzen seines Fachgebiets überschreitend, mit vielfältigen Fragestellungen der Ultraschalldiagnostik. Ausgehend von der I. Medizinischen Universitätsklinik unter Heinrich Czembirek (geb. 1941)48 beschäftigten sich zunehmend alle Röntgenstationen mit Ultraschall, sodass das AKH ab Mitte der 1980er Jahre als Zentrum wahrgenommen wurde. Forschungsschwerpunkte waren der Doppler-Ultraschall für die Gefäßdiagnostik, wobei Radiologen der II. Medizinischen Universitätsklinik ab 1987 weltweit bei den Ersten waren, die Farbdoppler-Ultraschall anwandten. An dieser Abteilung wurde zur gleichen Zeit auch, erstmals in 45 Werner E. Gerabek, Karl Fellinger, in: Österreichisches Biografisches Lexikon ab 1815 (ÖBL), 2. überarb. Aufl., online, URL: http://www.biographien.ac.at/oebl?frames=yes (abgerufen am 24. 9. 2021). 46 Tragl, Chronik, 215. 47 Abteilung für molekulare und strukturelle präklinische Bildgebung (PIL/EXPNUC), URL: https://radnuk.meduniwien.ac.at/forschung/pil/ (abgerufen am 24. 9. 2021). 48 Josef Deutinger/Eberhard Merz, Ein Ultraschallpionier feiert seinen 80. Geburtstag!, in: Ultraschall in der Medizin 29 (2008), 314.

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Österreich, die breite Anwendung der Muskel-Skelett-Sonografie gestartet, nachdem Ende der 1970er Jahre der Orthopäde Reinhard Graf (geb. 1946) mit einfachen technischen Mitteln die Ultraschalldiagnostik der Säuglingshüftdysplasie entwickelt hatte.49 Die Ultraschalldiagnostik des Halses wurde im Zentralen Institut für Radiodiagnostik und hier vor allem von Norbert Gritzmann (geb. 1959) und Franz Frühwald (geb. 1955) vorangetrieben. Der nächste Schritt des Strukturwandels fand ab Ende der 1970er Jahre statt, als die konkurrierenden Röntgenstationen begannen, zusammenzufinden, weil durch den Prozess der Spezialisierung in der Medizin eine komplette Neuordnung des Systems der Doppelkliniken mit ihren immer wirkungsloser agierenden kleinen Untereinheiten erforderlich wurde. Entgegen dem trotzdem stattfindenden teils massiven Widerstand wurde für das Neue AKH eine für damalige Verhältnisse modernste architektonische Lösung für eine radiologische Klinik geplant mit in Summe viel kürzeren Wegen als im Alten AKH zum Erreichen der teuren Großgeräte, die nicht mehr an jeder Klinik einfach aufgestellt werden konnten. Innerhalb der Radiologie fand die Integration über Aus- und Fortbildungsprogramme statt, ab Ende der 1970er Jahre mit von Ernst Kotscher initiierten Abendvorlesungen, die dann von Konrad Brezina (1923–1999) in Kotscher-Kurs umbenannt wurden und bis heute weiterlaufen. Ab Anfang der 1980er Jahre gründete Heinrich Czembirek ein Ultraschall-Symposium, aus dem ab 2000 das bis heute jährlich stattfindende Wiener Radiologische Symposium hervorging.50 Ab Ende der 1980er Jahre wurden in den von Herwig Imhof (geb. 1943) gestarteten MR-Kursen Hunderte von RadiologInnen im deutschen Sprachraum ausgebildet. Parallel dazu gab es von Herbert Pokieser, nachdem er 1980 Vorstand des Zentralen Instituts für Radiodiagnostik (ZIR) geworden war, wöchentliche Falldiskussionen, ein Ausbildungssystem mit spitalsinterner Rotation, und es wurde allmählich eine anfänglich auf freiwilliger Basis stattfindende Facharztprüfung eingeführt. Für RadiologietechnologInnen wurde ab den 1990er Jahren von Helga Fischer (geb. 1941) ein ähnliches Fortbildungskonzept etabliert. Im Sog dieser Dynamik wurden am ZIR alle Verfahren auf den neuesten Stand gebracht, sodass Forschung auf internationalem Niveau möglich war, und es entstand eine zunehmend engere Kooperation mit den Röntgenstationen an den einzelnen Kliniken, an denen unterschiedliche Themenschwerpunkte bearbeitet wurden: Gerhard Lechner, Reinhart Waneck (geb. 1945) und ihr Team an der 49 Franz Kainberger u. a., Sonography of the Achilles tendeon and its bursa, in: Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen und der bildgebenden Verfahren (Rofo) 148 (1988) 4, 394– 397; Reinhard Graf, The diagnosis of congenital hip – joint dislocation by the ultrasonic Combound treatment, in: Archives of Orthopaedic and Trauma Surgery 97 (1980) 2, 117–133. 50 Franz Kainberger/Wolfgang Schima/Gerhard Lechner (Hg.), Radiologie aktuell.at. Wiener Radiologisches Symposium, Wien: Maudrich 2000.

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I. Chirurgischen Universitätsklinik zur gastrointestinalen Bildgebung und der Diagnostik von Knochentumoren, Herbert Schratter (geb. 1918) und später Florian Grabenwöger (geb. 1951) an der II. Chirurgischen Universitätsklinik zu Herz- und Thoraxerkrankungen, Heinrich Czembirek und danach Dimiter Tscholakoff (geb. 1955), Gerhard Wittich (geb. 1952), Erich Salomonowitz (geb. 1950), Gerhard Mostbeck (geb. 1956) u. a. an der I. Medizinischen Universitätsklinik zu einem sehr breiten Spektrum internistischer Erkrankungen, Gerald Seidl an der II. Medizinischen Universitätsklinik mit einem Schwerpunkt auf rheumatologisch-osteologische und sportmedizinische, nephrologische und pulmologische Erkrankungen, Georg Wolff (geb. 1940) an den Frauenkliniken, Erwin Schindler (1940–2003) an der Neurochirurgie und Walter Ponhold (geb. 1945) an der Kinderklinik. In dieser begann man auch aktiv, den Kontakt zu international tätigen Radiologen mit Bezug zu Österreich zu suchen. Den Anfang machte Hellmuth Ellegast, der das jährliche Symposium Radiology Today in Salzburg mit hochkarätigen ReferentInnen veranstaltete. Nach Wien wurden neben Kurt Amplatz auch der spätere U.S.-Amerikaner Hans Herlinger (1935– 2006), nach dem die Dünndarm-Kontrastuntersuchung (Herlinger-Sellink-Passage) benannt war und der Österreich 1938 hatte verlassen müssen, oder der in Ontario/Kanada tätige Steirer Harald Stolberg (1925–2005) eingeladen.51 In dieser Phase des Strukturwandels spielte die Etablierung der Magnetresonanztomografie (MRT) ab Beginn der 1980er Jahren eine besondere Rolle. Wegen der Komplexität dieses Verfahrens war jedoch viel klinische Forschung mit Industriekooperation nötig, und da es in Österreich keine Hersteller gab, fand sie – nachdem in Innsbruck wegen seiner relativen Nähe zu Siemens in Erlangen gestartet worden war – in Wien ab 1986 im Rudolfinerhaus statt. Im AKH wurde 1987 ein interdisziplinäres MR-Institut unter der Leitung des Radiologen Herwig Imhof gegründet, da in Anbetracht der hohen Kosten nur ein Gerät finanzierbar war und in dieser MR-Institut der Medizinischen Fakultät genannten Einrichtung die beteiligten Kliniken erstmals auf dem Gebiet der Radiologie kooperieren mussten.52

51 Hans Herlinger/Laurel Marshfield, A Dream Surpassing Every Impasse. Becoming a Doctor Against All Odds: As an Austrian Jew, On the Eve of World War II, A Memoir, Bloomington: Xlibris 2005. 52 Pokieser, Vom Röntgenlabor zur Universitätsklinik, 99.

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1990er Jahre bis 2004 Im internationalen Kontext der Radiologie war Wien nach Jahrzehnten wieder attraktiv geworden. Nicht nur das Leitungspersonal, auch viele Oberärzte hatten auf ihren Gebieten einen Namen und durch Auslandsaufenthalte internationale Erfahrung. Dazu kamen politische Aspekte: Zum einen hatte die Medizinindustrie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs großes Interesse an den osteuropäischen Märkten und war auf der Suche nach einem günstigen Standort. Zum anderen war die europäische radiologische Community durch rivalisierende Gruppen uneinig, wohin die Entwicklung des Fachs gehen sollte – und die Wiener Radiologie, noch zu klein für eine machtvolle Rolle, wurde ein idealer Partner. So gelang es Herbert Pokieser, den Europäischen Radiologenkongress (ECR) nach Wien zu holen, der seit 1991 hier jährlich abgehalten wird und mittlerweile zu einem der weltweit größten seiner Art wurde, sodass Wien als radiologische Hauptstadt Europas wahrgenommen wird.53 Mit der 1991 beginnenden und bis 1994 dauernden Übersiedelung des AKH aus den alten Gebäuden in das neue Haus war der äußere Strukturwandel der bildgebenden Diagnostik abgeschlossen, indem die beiden Kliniken für Radiologie und Nuklearmedizin nebst zahlreichen anderen neuen Kliniken und Instituten begründet wurden. An der Radiologie war nach Herbert Pokieser Gerhard Lechner von 1994 bis 2004 Klinikvorstand. Nun entstanden wertvolle Synergieeffekte, und das Neue AKH war mit den modernsten Geräten ausgestattet, sodass sehr bald dynamische Arbeitsgruppen auf internationalem Niveau publizieren konnten. So wurde von Herwig Imhof und seinen Teams ein neues, bis heute gültiges Konzept zur Osteonekrose und Arthrose entwickelt und von Stephan Grampp (geb. 1963) mit der Knochendichtemessung die osteologische Forschung neu belebt. Von Christian Herold (geb. 1955), Alexander Bankier (geb. 1962) und Cornelia Schäfer-Prokop (geb. 1959) wurde die hochauflösende Computertomografie der Lunge etabliert. Von Johannes Lammer (geb. 1951) und Thomas Rand (geb. 1963) wurden die vaskulären Interventionen und die bildgesteuerte minimalinvasive Gewebebiopsie und Drainage weiterentwickelt. Die dreidimensionale Bildgebung wurde erst von Dominik Fleischmann (geb. 1964), dann von Christian Loewe (geb. 1971) und parallel in mehreren Arbeitsgruppen gemeinsam mit Medizinphysikern und Technikern eingeführt. In der gastrointestinalen Radiologie wurde von Michael Fuchsjäger (geb. 1970) ein neues Symptom zur Erkennung des Darmverschlusses, von der Gruppe um Wolfgang Schima (geb. 1963) und Peter Pokieser (geb. 1960) Formen von Schluckstörungen durch aufwendige Videoanalysen beschrieben sowie von 53 European Congress of Radiology, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/European_Congress_ of_Radiology (abgerufen am 24. 9. 2021).

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Georg Wolff und Thomas Helbich die Mammografie zu einer Einheit für Women’s Imaging ausgebaut. In der Neuroradiologie entwickelte sich mit der fetalen Bildgebung um Daniela Prayer (geb. 1956) ein anerkannter Schwerpunkt, von Christian Nasel (geb. 1967) wurden für die Schlaganfalldiagnostik moderne Standards gesetzt. Matthias Prokop (geb. 1960) verfasste ein Standardwerk über Computertomografie.54 Ab 2001 begann auch auf Initiative von Robert Dudczak ein kleines Team von Nuklearmedizinern und einem Radiologen mit dem gemeinsamen Befunden hybrider Bildgebungsverfahren, damals einer Kombination aus CT und SPECT, eine Vorarbeit für die spätere Zusammenlegung in eine gemeinsame Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin.55 Ein Meilenstein war die Installierung eines 7-Tesla-MR-Geräts im Jahr 2004. Die aus dem ehemaligen MR-Institut hervorgegangene Forschungsgruppe, seit 2000 unter der Leitung von Siegfried Trattnig (geb. 1959) als Radiologen und Ewald Moser (geb. 1952) als Medizinphysiker, bearbeitete neben präklinischer Grundlagenforschung zahlreiche Projekte zur morphologischen Strukturanalyse und zur biochemischen Bildgebung. Die Kooperation mit der Medizinphysik fand wie in den 1950er Jahren vor allem auf dem Gebiet des Strahlenschutzes statt und war ab 1980 wiederbelebt worden. Bereits in den 1980er Jahren entstand international mit der digitalen und computerassistierten Radiologie ein neues Forschungsgebiet. Am AKH gab es Anfang der 1990er Jahre, bis heute kaum beachtet, die weltweit ersten Versuche mit digitaler Spracherkennung (weil die zuständige Abteilung der Firma Philips in Wien ansässig war und als Testpersonen die RadiologInnen mit ihrem damals nur aus wenigen tausend Worten bestehenden Sprachschatz wählte). Ab Mitte der 1990er Jahre begannen Forschungsprojekte zur computerassistierten Diagnostik durch verschiedenartige Verknüpfungen der Bilddaten mithilfe der jeweils besten Programmierlösungen.56 Sie führten 2006 mit Unterstützung der Technischen Universität Wien zur Gründung des Computational-Imaging-Research-Labors (CIR-Lab). Schon viele Jahre zuvor und dann später war dieses Team an einer Reihe von EU-Projekten und anderen Forschungskooperationen beteiligt, unter anderem an der Entwicklung eines strahlungsarmen Röntgendetektors, der Mustererkennung von Gelenk- und Knochenerkrankungen und

54 Mathias Prokop u. a., Ganzkörper-Computertomographie, 2. Aufl., Stuttgart: Thieme-Verlag 2006. 55 Franz Kainberger u. a., Hybrid imaging for endocrine diseases: new perspective, in: Wiener klinische Wochenschrift 115 (2003) Suppl. 2, 87–90. 56 Marius Wick u. a., The „X-Ray RheumaCoach“ software: a novel tool for enhancing the efficacy and accelerating radiological quantification in rheumatoid arthritis, in: Annals of the Rheumatic Diseases 62 (2003) 6, 579–582.

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der Grundlagenforschung in Imaging Informatics.57 Später sollten daraus Artificial-Intelligence-Projekte zur Hirn- und Lungendiagnostik, die wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehende Spin-off-Firma Contextflow und eine Professur für Machine-Learning and Medical Imaging entstehen.58 Durch die in den folgenden Jahren kontinuierliche Entwicklung dieser Klinik war es 2021 möglich, beim internationalen Schanghai-Universitätsranking 2018 zum ersten Mal den beachtenswerten 25. Platz für den Bereich „Medical Technology“ zu erreichen.

Röntgenologische Forschung in Wien außerhalb des Allgemeinen Krankenhauses International beachtet wurde die 1953 von Lorenz Böhler (1885–1973) in dem später nach ihm benannten Unfallkrankenhaus herausgegebene Ausgabe der Hefte zur Unfallheilkunde mit dem Titel Berichte über die in den Jahren 1926– 1950 im Wiener Unfallkrankenhaus erzielten Behandlungsergebnisse, in der begonnen wurde, die nach eigenen Angaben 1,5 Millionen Röntgenbilder im Kontext mit klinischen Resultaten wissenschaftlich aufzuarbeiten. Nach ihm sind die Böhler’sche Entenschnabelfraktur und der Böhler-Winkel des Fersenbeins sowie eine Reihe unfallchirurgischer Stabilisierungs- und Operationsverfahren benannt. Im Krankenhaus Lainz stand die radiotherapeutische Einrichtung ab 1956 in einem starken Konkurrenzverhältnis zu den Röntgeneinrichtungen im AKH. Diese Sonderabteilung für Strahlentherapie wurde nach den Vorbildern des Curie-Instituts in Paris und dem Radiumhemmet in Stockholm 1931 auf Initiative von Julius Tandler (1869–1936) errichtet und war als einzige Radiologiestation mit einer Radiumkanone ausgestattet. Zusätzlich wurden eine physikalisch-technische Versuchsanstalt, ein Fotolabor und eine eigene Werkstätte eingerichtet.59 Der Behandlungsschwerpunkt lag auf der gynäkologischen Brachytherapie, der radiochirurgischen Behandlung von Karzinomen im Mundsowie im HNO-Bereich und der Spickung von urologischen Karzinomen. Unter Karl Wasserburger (1904–1973) und seinem Nachfolger Gerhard Alth (1932– 2018) sowie ab 2001 unter Tomas-Hendrik Knocke-Abulesz (geb. 1958) wurden 57 Michael Gruber u. a., Musculoskeletal imaging with a prototype of a photon-counting detector, in: European Radiology 22 (2012), 205–210. 58 Spin-Off „contextflow“ der Medizinischen Universität Wien erhält „Seed Investment“, in: Universität, Medizin & Wissenschaft, Organisation, URL: https://www.meduniwien.ac.at/web /ueber-uns/news/detailseite/2018/news-im-maerz-2018/spin-off-contextflow-der-medizinis chen-universitaet-wien-erhaelt-seed-investment/?L=3 (abgerufen am 24. 9. 2021). 59 Irene Atefie, Julius Tandler. Anatom und Gemeindepolitiker, Dipl.-Arb., Wien 2012, 103.

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mit modernsten Geräten innovative Therapien wie die österreichweit erstmals angewandte Ganzkörperbestrahlung zur Knochenmarkstransplantation durchgeführt. Die Abteilung für diagnostische Radiologie am Krankenhaus Lainz war die größte in Österreich, trotzdem gab es daneben kleinere Einheiten an internistischen und chirurgischen Abteilungen. An einer war Friedrich Olbert (1920–2019) tätig, der den nach ihm benannten Katheter für Gefäßuntersuchungen entwickelte.60 Im Donauspital wurde unter Walter Hruby (geb. 1947) 1991 das weltweit erste voll digitalisierte Zentralröntgeninstitut errichtet und mit einem Picture Archiving and Communication System (PACS) ausgestattet.61 Unter Lothar Wicke (geb. 1941) wurde im Rudolfinerhaus 1986 österreichweit das erst MRT-Gerät in Betrieb genommen.62

Ausblick Die Geschichte der Radiologie in Wien während den knapp 50 Jahren vor Gründung der Medizinischen Universität Wien zeigt, in welch hohem Ausmaß dezentrale, nicht aufeinander abgestimmte Strukturen die Aktivitäten guten und sogar exzellenten – in Bezug auf den Strahlenschutz nicht selten hohe Risiken eingehenden – Personals hemmen und wie systematisch-angepasste Strukturen fördernd wirken können. Aus dem Blickwinkel des Managements in der Radiologie war die bildgebende Diagnostik des 20. Jahrhunderts geprägt von der Etablierung neuer Verfahren, die vor allem in der Anfangsphase, weil kostenmäßig leistbar, überall aufgestellt wurden. Ab Mitte der 1970er Jahre war dies mit den teuren Großgeräten und der zunehmenden Komplexität der Diagnostik nicht mehr möglich, und dieser Trend setzt sich seither kontinuierlich fort. Zwar gibt es seit dem Ende dieses Beobachtungszeitraums bis 2004 keine substanziell neuen Modalitäten zusätzlich zur Nutzung von ionisierenden Strahlen, Magnetfeldern und Ultraschallwellen, aber das Wachstum des Wissens in der Radiologie vermehrt sich exponentiell. Die erste Herausforderung ist, ein systematisches und offensiv vorangetriebenes Wissensmanagement in dieser sehr speziellen Expertenorganisation zu betreiben mit einer Subspezialisierung, die in 60 Friedrich Olbert u. a., Percutaneous transluminal angioplastic intervention in the area of the distal abdominal aorta as well as in the area of the pelvic vessels-indications, technic and results (the Olbert catheter system), in: Die Medizinische Welt 34 (1983) 6, 180–183. 61 Tragl, Chronik, 640–641. 62 Österreichische Mediathek, audiovisuelles Archiv – Technisches Museum Wien, 6-03078 _a_k02, Von Tag zu Tag: Pressekonferenz zum ersten Magnetresonanztomographiegerät im Rudolfinerhaus, Mp3-Audiodatei, 30 Min., Wien 1986, 00:00–00:10 Min.

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der inneren Struktur und Organisation mit frei agierenden Arbeitsbereichen und einer flachen Hierarchie abgebildet sein soll. Die Beteiligung an der Entwicklung und Implementierung von Digital-HealthTechnologien, inklusive Artificial Intelligence, in der sich mit hoher Geschwindigkeit laufend ändernden internationalen Wettbewerbssituation ist die zweite Herausforderung. Während die Inanspruchnahme radiologischer Leistungen früher stark von der subjektiven ärztlichen Entscheidung und dem Grad der klinischen Erfahrung abhing, wurden ab 2001 Leitlinien publiziert und mittlerweile als computergestützte Decision-Support-Systeme verfügbar gemacht, die für alle häufigen und typischen klinischen Szenarien nutzbar sind. Trotzdem steigt die Zahl der Indikationen zur Bildgebung weiter an, zumal mit Low-doseund Ultra-low-dose-Techniken sowie kürzer werdenden MR-Untersuchungszeiten das Risiko und der Aufwand immer geringer werden, während der potenzielle Nutzen steigt. Denn die Sicherheit medizinischer Diagnosen ist einfach größer, wenn etwas im Wortsinn „schwarz auf weiß“ belegt ist. Zusätzlich können heute aus Bilddaten Merkmale extrahiert werden, die weit über die mit dem Auge sichtbaren Veränderungen hinausgehen.

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Labile Netzwerke und marginale Strukturen? Zur allmählichen Professionalisierung der Psychotherapie in Österreich und ihrer Verselbstständigung gegenüber der Medizin Unstable Networks and Marginal Structures? On the Gradual Professionalization of Psychotherapy in Austria and its Independence from Medicine Abstracts Psychotherapie war lange ein weitgehend vernachlässigtes Teilgebiet innerhalb der europäischen Medizin. Eine Veränderung hierin begann sich um 1900 vor dem Hintergrund umfassender gesellschaftlicher Transformationen abzuzeichnen. Dennoch begann eine einigermaßen „öffentliche“ Debatte über eine etwaige Verselbstständigung der Psychotherapie als autonome Profession, zumindest im österreichischen Fall, erst im Laufe der 1970er Jahre. Allerdings intensivierte sie sich in den 1980ern deutlich, was 1990 zu ihrer rechtlichen Anerkennung und Regulierung als unabhängige, quasiakademische Profession durch das österreichische Parlament führte. Von da an wuchs die psychotherapeutische Gemeinschaft schnell, wenn auch das Problem einer prekären Integration in das öffentliche Gesundheitswesen bestehen blieb. Psychotherapy, for more than two millenia, was a quite neglected branch within European academic medicine. This began to change around 1900 due to vast societal transformations. Still, at least in the Austrian case, a somewhat public debate on psychotherapy possibly becoming an independent profession within the health care system started only during the 1970es, but became very intense in the 1980es, leading to the legal recognition and regulation of it as an autonomous, quasi-academic profession by the Austrian parliament in 1990. Thenceforth, the psychoptherapeutic community grew rapidly, although the problem of precarious integration into the public health system remained. Keywords Psychotherapiegeschichte, Professionalisierung, Professionssoziologie, Österreich, 20. Jahrhundert history of psychotherapy, professionalisation, sociology of professions, Austria, 20th century

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Einführendes Die Psychotherapie zählt zu jenen wissenschaftlichen und therapeutischen Fachgebieten mit Wurzeln in der Medizin, für die speziell für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vielerorts ein Verselbstständigungsprozess zu konstatieren ist. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist dieser Prozess in Österreich bereits abgeschlossen, weil der Beruf PsychotherapeutIn 1991 gesetzlich als weitgehend unabhängige Profession konstituiert und reguliert wurde. Zugleich blieb Psychotherapie (im Folgenden: „PT“ bzw. „pt.“ für „psychotherapeutisch“) als Behandlungsform aufgrund einer suboptimalen Verankerung im Gesundheitswesen deutlich benachteiligt, mit negativen Folgen für die Professionsangehörigen, insbesondere aber für ihre KlientInnen. Im Rahmen der 50. ASVG-Novelle von 1992 ist zwar eine Gleichstellung der PT mit körpermedizinischen Therapien erfolgt, sie ist daher theoretisch eine im Bedarfsfall hürdenfrei zu finanzierende Pflichtleistung der Krankenversicherungsanstalten. Doch die mangelnde Kooperation zwischen Letzteren und den Berufsvereinigungen der PsychotherapeutInnen blockierte bisher eine Realisierung dieser politischen Vorgabe. Die einzelnen Bundesregierungen bemühten sich wenig, das entstandene Patt zwischen den beiden Stakeholdern aufzulösen.1 Der Weg der PT zum eigenständigen Berufsstand wird nachfolgend geschildert, wobei eine professionssoziologische Perspektive Anwendung findet.2 Es sei betont, dass die hierbei naheliegende Frage nach den Ursachen der anhaltenden – politischen wie gesellschaftlichen – Geringschätzung von PT gegenüber anderen Heilverfahren zwar aufgeworfen, aber nicht beantwortet werden kann. Als eine allgemeine „Hintergrundbedingung“ muss wohl der Umstand gelten, dass die europäische Kultur von ihren antiken Anfängen an nicht nur eine massive Spaltung zwischen Materiellem und Mentalem kennt, sondern das Mentale als eine opake, für fehlerfreies Erkennen unzugängliche Seinsdomäne begreift. Diese epistemische Grunddisposition prägte auch die „schulmäßige“ europäische Medizin.3 So blieb das auf die psychisch-mentale Ebene bezogene Gebiet der Heilkunde in der europäischen Kultur bis in die Moderne hinein wenn auch

1 Rechnungshof Österreich, Bericht des Rechnungshofes. Versorgung psychisch Erkrankter durch die Sozialversicherung (Reihe BUND 2019/8), Wien: Eigenverlag 2019. Siehe auch Marie-Theres Egyed, Vernichtende Rechnungshofkritik an Versorgung psychisch Kranker, Der Standard, 1.3. 2019, Online-Ausgabe, URL: https://derstandard.at/2000098798041/Vernichtende-Rechnungshof kritik-an-Versorgung-psychisch-Kranker (abgerufen am 22. 11.2021). 2 Die Auseinandersetzung des Verfassers mit dieser Thematik in Vorbereitung des vorliegenden Bandes wurde dankenswerterweise von der ÖAW durch einen Werkvertrag gefördert. 3 Karl Rotschuh, Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart: Hippokrates 1978; Roy Porter, The Greatest Benefit to Mankind, London: Harper Collins 1997.

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keineswegs inexistent, so doch klar „unterbelichtet“.4 Mit der Erfindung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud (1856–1939) kam es hier um 1900 zu einer Zäsur; der Impuls zu einer verstärkten Zuwendung zum Seelenleben als Schlüssel für die Erklärung und Behandlung von Krankheitserscheinungen, denen die somatologische Medizin nicht beikommen konnte, wurde im öffentlichen, intellektuellen Diskurs rasch und breit aufgegriffen. Dagegen stieß dieser Versuch, einen „psychologisch“ orientierten Zweig innerhalb der professionellen Medizin zu etablieren, dort auf überwiegende Ablehnung;5 wenngleich diese angesichts der neuen Herausforderung zunehmend selbst trachtete, mentale Aspekte der Krankheitsentstehung und -behandlung in ihre Theorien und Praktiken zu integrieren.6 Obwohl die ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts für die interne Theoriebildung der Psychoanalyse, die Ausdifferenzierung verschiedener tiefenpsychologischer Schulen und die Formierung ihrer jeweiligen pt. Praktiken sehr bedeutsam waren, ergaben sich in dieser Phase im Hinblick auf die öffentliche und rechtliche Anerkennung der PT in Österreich als „gültiges“ heilkundliches Paradigma – innerhalb oder außerhalb der Medizin als Mutterdisziplin – kaum Fortschritte. Demgemäß war die Praxis der Psychoanalyse in Österreich vor 1938 weitestgehend eine Art Privatpraxis für ökonomisch distinguierte und in der Regel sehr gebildete Hilfesuchende, wenn man/frau von einigen bemerkenswerten, v. a. von VertreterInnen der Individualpsychologie getragenen sozialen Initiativen im „Roten Wien“ der 1920er Jahre absieht.7 Mehr noch als in anderen Bereichen der Heilkunde brachte dann die NS-Gewaltherrschaft 1938 bis 1945 eine Zerstörung des Entstandenen: So wurden 99 von 102 Mitgliedern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung – um hier nur die größte und wichtigste Institution anzusprechen – aus Österreich vertrieben.8 Das Ende des NS-Regimes 1945 bedeutete daher keineswegs eine „Stunde null“, auch was ablehnende Einstellungen gegenüber Psychoanalyse/PT in breiten Bevöl4 Heinz Schott/Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie, München: Beck 2006; Wolfgang Schmidbauer, Vom Umgang mit der Seele. Entstehung und Geschichte der Psychotherapie, Frankfurt a. M.: Fischer 2000. 5 Henri Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, Zürich: Diogenes 2005 [engl. Original 1970]; Franz Alexander/Sheldon Selesnick, Geschichte der Psychiatrie, Zürich: Diana 1969 [engl. Original 1966]. 6 Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2004; Volker Roelcke, Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790–1914), Frankf. a. M.–New York: Campus 1999. 7 Bernhard Handlbauer, Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie Alfred Adlers, Wien: Geyer 1984; Wolfgang Huber, Beiträge zur Geschichte der Psychoanalyse in Österreich, Wien–Salzburg: Geyer 1978. 8 Wiener Psychoanalytische Vereinigung (Hg.), Trauma der Psychoanalyse? Die Vertreibung der Psychoanalyse aus Wien 1938 und die Folgen, Gießen: Psychosozial-Verlag 2016.

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kerungsteilen betraf – Einstellungen, welche die nationalsozialistische „Bewegung“ massiv intensiviert hatte. Auf diesen sehr ungünstigen Vorbedingungen sowohl innerhalb des wissenschaftlichen Systems als auch in der öffentlichen Wahrnehmung mussten die nach 1945 wieder einsetzenden Bemühungen um eine Reetablierung von PT9 in Österreich aufbauen, sodass sich durchschlagende Erfolge erst langfristig einstellten.10 Diese Entwicklungen werden nun für folgende Aspekte des Professionalisierungsprozesses erörtert:11 Entwicklung eigenständiger Ausbildungseinrichtungen; Entwicklung eigenständiger Fachdiskurse; Entwicklung berufsständischer Organisationen und Interessenvertretungen; Entwicklung eines spezifischen, eigenständigen und einheitlichen Berufsbildes; Realisierung der staatlichen Anerkennung als eigenständiger Beruf; Entwicklung der Anzahl der Berufsangehörigen.

Die Herausbildung eigenständiger psychotherapeutischer Ausbildungseinrichtungen in Österreich PT als professionelles Handlungssystem entwickelte sich in Österreich nach 1945 zunächst vornehmlich im Bereich der therapeutischen Praxis sowie in den hierauf fokussierenden Ausbildungen.12 Dennoch blieb die PT-Szene in Österreich lange, bis in die 1970er Jahre, überschaubar und wurde weitgehend über kleine, eher informelle Netzwerke organisiert. Das ist unter anderem daran er9 Auf eine nähere Befassung mit dem Begriff „Psychotherapie“ muss in diesem Beitrag verzichtet werden. Hingewiesen sei auf die wirkmächtige Definition Strotzkas: „Psychotherapie ist eine Interaktion zwischen einem oder mehreren Patienten und einem oder mehreren Therapeuten (auf Grund einer standardisierten Ausbildung), zum Zwecke der Behandlung von Verhaltensstörungen oder Leidenszuständen (vorwiegend psychosozialer Verursachung), mit psychologischen Mitteln ([…] durch Kommunikation, vorwiegend verbal oder auch averbal), mittels einer lehrbaren Technik, einem definierten Ziel und auf der Basis einer Theorie des normalen und abnormen Verhaltens.“ Hans Strotzka, Psychotherapie und Tiefenpsychologie. Ein Kurzlehrbuch, Wien–New York: Springer 1982, 1. 10 Hinsichtlich der Auswirkungen politischer, aber auch ökonomischer Faktoren auf die Etablierung bestimmter pt. Angebote von ÄrztInnen als reguläre Krankenversicherungsleistungen in den Nachkriegsjahrzehnten in Deutschland siehe Volker Roelcke, Psychotherapy between Medicine, Psychoanalysis and Politics: Concepts, Practices and Institutions in Germany, c. 1945–1992, in: Medical History 48 (2004), 473–492. 11 Zum sozialwissenschaftlichen Konzept von „Profession“ vgl. Michaela Pfadenhauer, Professionen, Wiesbaden: Springer 2003; zur Professionalisierung der Psychotherapie in Deutschland Michael Buchholz, Psychotherapie als Profession, Gießen: Psychosozial-Verlag 1999. 12 Gerhard Stumm u. a. (Hg.), Psychotherapie in Österreich, Wien: ÖH 1983; Gerhard Stumm (Hg.), Handbuch für Psychotherapie und psychologische Beratung, Wien: Falter 1988 (und dessen Folgeauflagen 1992–1996).

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kennbar, dass kaum schriftliche Eigendarstellungen publiziert wurden, auch nicht zur Orientierung für potenzielle AusbildungsinteressentInnen. Die personellen Netzwerke blieben dabei, gerade im Ausbildungsbereich, in hohem Grad voneinander isoliert – entlang der vor 1938 entstandenen Schulendifferenzen, aber auch entlang von berufspolitischen und/oder persönlichen „Verwerfungslinien“.13 Vereinsmäßig organisierte Ausbildungseinrichtungen waren in der zweiten Hälfte der 1940er sowie in den 1950er Jahren nur die von wenig verbliebenen ProponentInnen wieder ins Leben gerufene Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV), der gleichfalls reaktivierte Verein für Individualpsychologie (VIP) sowie der noch informell verfasste, neu gegründete Arbeitskreis für Tiefenpsychologie (später ÖAKTP). Erst Ende der 1950er Jahre trat zu dieser psychodynamisch ausgerichteten Trias ein weiterer Verein hinzu, der Österreichische Arbeitskreis für Gruppendynamik und Gruppentherapie (ÖAGG, 1959). Neben ÄrztInnen richtete er sich – im Gegensatz zu den bis dahin bestehenden Einrichtungen – ausdrücklich auch an Angehörige anderer, PT-affiner Berufe. Bezeichnend für die weiterhin geringe Wachstumsdynamik des Berufsfelds ist, dass bis zur Entstehung einer weiteren Ausbildungseinrichtung wieder zehn Jahre vergingen: 1969 wurde die Österreichische Gesellschaft für Autogenes Training und allgemeine Psychotherapie (ÖGATAP) gegründet.14 Ganz anders dagegen die 1970er Jahre, die auch für Österreich zutreffend als Phase eines ersten PsychoBooms charakterisiert werden können. 1971 entstand die Österreichische Gesellschaft zur Förderung der Verhaltensforschung, -modifikation und Verhaltenstherapie (ÖGVT), 1973 die Österreichische Gesellschaft für Gruppendynamik und Gruppenpädagogik (ÖGGG) sowie die Österreichische Gesellschaft für wissenschaftliche, klientenzentrierte Psychotherapie und personenorientierte Gesprächsführung (ÖGWG), 1975 der Arbeitskreis für Individuelle und Kollektive Emanzipation, und 1976 wurden mit der Arbeitsgruppe für Verhaltensmodifikation (AVM), der Internationalen Arbeitsgruppe für Gruppenanalyse (IAGA) und der Österreichischen Gesellschaft für körperbezogene PT (ÖGKPT) gleich drei einschlägige Ausbildungseinrichtungen gegründet. 1977 kam die Österreichische Arbeitsgruppe für Sozialtherapie hinzu, 1979 die Arbeitsgruppe Personenzentrierte Gesprächsführung (APG) und 1980 die Österreichische Ar-

13 Dies stellte u. a. deutlich fest: Strotzka, Psychotherapie und Tiefenpsychologie, 274. 14 Stumm u. a. (Hg.), Psychotherapie in Österreich, bes. Bd. 2, 16–40, 95–115, 168–174; Gerhard Stumm, Zur Geschichte der Psychotherapie in Österreich, in: Elisabeth Jandl-Jager/Gerhard Stumm (Hg.), Psychotherapie in Österreich. Eine empirische Analyse der Anwendung von Psychotherapie, Wien: Deuticke 1988, 166–196.

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beitsgruppe für Analytische Psychologie nach C. G. Jung (ÖAAP) – um hier nur die eindeutig der PT im engeren Sinn gewidmeten Vereinigungen zu nennen.15 Abgesehen von den unterschiedlichen inhaltlichen und methodischen Ausrichtungen kam den verschiedenen hier genannten Arbeitsgruppen, Gesellschaften usw. auch in quantitativer Hinsicht in der Ausbildungstätigkeit verschieden große Bedeutung zu: Die erste umfassende empirische Erhebung von Stumm für die frühen 1980er Jahre wies AIKE (Arbeitskreis für individuelle und kollektive Emanzipation), ÖAGG und ÖGWG mit insgesamt jeweils mehr als 400 Mitgliedern (Lehrende, AbsolventInnen und KandidatInnen) als die dahingehend bedeutendsten aus, gefolgt von ÖGATAP und ÖAKTP (ca. 300 bzw. 250 Mitglieder), während die Mitgliederzahlen der meisten übrigen Vereinigungen, einschließlich WPV und VIP, lediglich zwischen 50 und 130 lagen, in einigen Fällen noch darunter. Ebenso gestalteten sich die Anforderungen an Ausbildungswillige, etwa hinsichtlich Zugangsbedingungen, Ausbildungsumfang und -dauer, sowie nicht zuletzt die Ausbildungskosten sehr unterschiedlich. Die meisten Vereinigungen setzten allerdings ein abgeschlossenes Studium oder eine andere abgeschlossene Berufsausbildung mit psychosozialem Bezug voraus. ÖGVT, ÖGATAP und ÖGKPT beschränkten den Kandidatenkreis auf ÄrztInnen und/oder PsychologInnen. Die vorgesehene Ausbildungsdauer betrug damals meist drei bis fünf Jahre; die privat zu finanzierenden Ausbildungskosten waren in der Regel beträchtlich und reichten teils bis zu mehr als 100.000 österreichischen Schillingen, was in etwa einem durchschnittlichen Jahreseinkommen entsprach.16 Im Laufe der 1980er Jahre traten zu den bereits genannten Vereinen noch etliche neue hinzu, darunter mehrere systemisch orientierte, wie die Österreichische Arbeitsgruppe für systemische Therapie und systemische Studien (ÖAS), die Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE), der Österreichische Arbeitskreis für Gestalttheoretische Psychotherapie (ÖAGP) und die Österreichische Gesellschaft für Transaktionsanalyse (ÖGTA), um hier lediglich Einrichtungen zu nennen, die bis dahin in Österreich nicht repräsentierte, aber international bedeutende pt. Schulen vertraten.17 Trotz dieser enormen Vielfalt der Ausbildungslandschaft und des notorisch bestehenden, vielfältigen fachlichen Dissenses bestand Ende der 1980er Jahre doch bereits ein Minimalkonsens der meisten Institutionen hinsichtlich der Ausbildungsgestaltung: „Von nahezu allen Vereinigungen wird der Standpunkt 15 Stumm u. a. (Hg.), Psychotherapie in Österreich, bes. Bd. 2; Stumm, Zur Geschichte der Psychotherapie, 186. 16 Michael Mesch, Die Löhne und Gehälter nach Wirtschaftsklassen 1980–91, in: Wirtschaft und Gesellschaft 19 (1993) 3, 265–289, 271. 17 Beatrix Wirth, Kurzbeschreibung psychotherapeutischer Ausbildungsinstitutionen, in: Stumm (Hg.), Handbuch 1988, 99–118; Martin Voracek/Gerhard Stumm, Kurzbeschreibung psychotherapeutischer Ausbildungsinstitutionen, in: Stumm (Hg.), Handbuch 1996, 97–118.

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vertreten, daß die Elemente Selbsterfahrung, Theorie und Praxis unter Supervision unerläßlich sind.“18 Diesem Umstand kam insofern besondere Bedeutung zu, als damals ja die Bemühungen um eine staatliche Anerkennung der PT als Profession bereits in eine entscheidende Phase getreten waren. Diesem Ziel diente auch die in einer der frühen Publikationen zur „PT-Szene“ in Österreich explizit getroffene Feststellung: „Insgesamt läßt sich sagen, daß es derzeit keine Berufsausbildung […] gibt, die auf eine psychotherapeutisch/psychologisch beratende Tätigkeit ohne eine Zusatzausbildung in einem psychotherapeutischen Verein ausreichend vorbereitet.“19

Diese Feststellung richtete sich vor allem gegen den zu diesem Zeitpunkt, 1988, noch massiven Widerstand vieler MedizinerInnen und namentlich der Österreichischen Ärztekammer gegen die Etablierung von PT als eigenständige Profession. Die zugrunde liegende Problematik formulierten Gerhard Stumm (geb. 1950) und Elisabeth Jandl-Jager (geb. 1948) pointiert, aber sicherlich adäquat den damaligen Einstellungsrealitäten so: „So wenig Ärzte psychologisches Denken in der Praxis der Medizin berücksichtigen oder sich gar für Psychotherapie interessieren, so selbstverständlich scheint es für viele dieser Ärzte zu sein, daß nur das Medizinstudium […] die entscheidende Voraussetzung für die Ausübung von Psychotherapie darstellt.“20

Die 1991 trotz der angesprochenen Widerstände erfolgte Schaffung eines von der Medizin, aber auch von der Psychologie als Studienvoraussetzung unabhängigen Curriculums in der pt. Ausbildung stellte eine bedeutende Zäsur da. Insbesondere bestand nun das Erfordernis für die Ausbildungsvereine, ihre einschlägige Tätigkeit, zumindest auf einem rudimentären Niveau, zu formalisieren, um eine behördliche Anerkennung zu erlangen. Bis 2004 erreichten dies in Österreich, auf Basis von Gutachten des PT-Beirats, 20 verschiedene Schulen und eine noch größere Zahl von Ausbildungsinstitutionen.21 In der Mitte der 2000er Jahre kam es schließlich – etwa zeitgleich zur Ausgliederung der Medizinischen Fakultäten aus den bisherigen Gesamtuniversitäten und deren Konstituierung als eigenständige Medizinische Universitäten – zu einer Intensivierung der Bemühungen um eine vollständige Akademisierung der PT. Daraus resultierte zunächst die

18 Wirth, Kurzbeschreibung, 99. 19 Gerhard Stumm/Elisabeth Jandl-Jager, Erlernter Beruf und die Ausübung von Psychotherapie, in: Jandl-Jager/Stumm, Psychotherapie in Österreich, 69–88, 83. 20 Stumm/Jandl-Jager, Erlernter Beruf, 70. 21 Dave Karloff, Psychotherapieforschung in Österreich, eine deskriptive Studie zur österreichischen Psychotherapieforschung von 1977 bis 2003, Hamburg: Kovac 2005, 83.

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Gründung der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien, die nach staatlicher Akkreditierung im Jahr 2005 ihren Betrieb aufnahm.22 Im Hinblick auf den Ausbildungsaspekt kann demnach von der Erlangung eines vollen Professionsstatus durch die PT in Österreich gesprochen werden, wenn auch die erste, entscheidende Etappe auf diesem Weg erst 1991 – mehr als 45 Jahre nach dem Ende von NS-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg – mit der staatlichen Ausbildungsanerkennung und -regulierung im Rahmen des Psychotherapiegesetzes (PsthG) definitiv erreicht wurde. Der zweite zentrale Schritt, der Prozess der Akademisierung, konnte bis zum Ende der hier betrachteten Periode (2004) gerade erst eingeleitet werden. Tab. 1: Staatlich anerkannte psychotherapeutische Verfahren mit Ausbildungseinrichtungen in Österreich, Ende 2004, und Zuordnung zu Orientierungen (nach Karloff, Psychotherapieforschung, 83) Methode Analytische Psychologie

Abk. AP

Or. TPO

Methode Abk. Integrative Gestalttherapie IG

Or. HEO

Autogenes Training Daseinsanalyse

AT DA

TPO TPO

KIP KP

TPO HEO

Dynamische Gruppen-PT

DG

TPO

KBT

TPO

Existenzanalyse

EA

HEO

Katathym Imaginative PT Klientenzentrierte PT Konzentrative Bewegungstherapie Personenzentrierte PT

PP

HEO

EA und Logotherapie Gestalttheoretische PT

EL GTP

HEO HEO

Psychoanalyse Psychodrama

PA PD

TPO HEO

Gruppenpsychoanalyse

GP

TPO

SF

SYO

Hypnose

HY

TPO

TA

TPO

Systemische Familientherapie Transaktionsanalytische PT

Individualpsychologie IP TPO Verhaltenstherapie VT VTO HEO = Humanistisch-Existenzielle Orientierung; SYO = Systemische Orientierung; TPO = Tiefenpsychologische Orientierung; VTO = Verhaltenstherapeutische Orientierung

Entwicklung eigenständiger psychotherapeutischer Fachdiskurse Die Bildung einer eigenständigen Profession ist nicht denkbar ohne das Entstehen eines nach außen, gegenüber den Wissensbeständen anderer Professionen abgrenzbaren „Sonderwissens“, also eines gesonderten Fachdiskurses. Im Falle des Wissens- und Handlungsfelds PT war es aber lange fraglich, ob es 22 Alfred Pritz u. a. (Hg.), Universitäres Psychotherapiestudium. Das Modell der Sigmund Freud Privatuniversität, Lengerich: Pabst 2020.

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gelingen würde, einen gemeinsamen Diskurs zu schaffen, welcher imstande sein würde, die unterschiedlichen schulenspezifischen Diskurse zu integrieren. Dies erschien vielen AkteurInnen aus dem Feld als unumgänglich für ihre berufspolitischen Ziele. Kaum vorstellbar – und für viele auch nicht wünschenswert – war, dass die verschiedenen pt. Schulen einzeln, jeweils für sich, gesellschaftliche und staatliche Anerkennung finden könnten, dass also etwa PsychoanalytikerInnen, TransaktionsanalytikerInnen, Gesprächs- oder VerhaltenstherapeutInnen usw. je eigenständige berufliche Identitäten, professionelle Strukturen usw. entwickeln und diese erfolgreich sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch im Rechtssystem etablieren könnten. Zur Darlegung, wann ein dementsprechender, allgemeiner pt. Diskurs in Österreich entstanden ist, ist im vorliegenden Kontext die Publikationstätigkeit in Betracht zu ziehen, obwohl gerade im Feld der PTunmittelbaren, persönlichen Vernetzungs- und Diskursaktivitäten (Vorträge, Seminare usw.) besonderer Wert zukam. Dieser Aktivitätsbereich hat aber den Nachteil, speziell für die ersten Nachkriegsjahrzehnte ungleich lückenhafter dokumentiert zu sein als die einschlägig relevanten Druckwerke, die ja anhand von Bibliothekskatalogen, Datenbanken usw. vergleichsweise einfach recherchiert werden können. Auch hinsichtlich Publikationen zeigt sich aber für die Zeit bis 1960 ein sehr „beredtes Schweigen“, sobald spezifisch nach Beiträgen zu einer pt. Berufsidentität und ähnlichen Fragen gesucht wird. Diese waren in aller Regel „kein Thema“.23 Daran änderte sich auch in den 1960er Jahren wenig, wenngleich hierzu immerhin schon kurze, programmatische Artikel von Hans Hoff (1897–1969) – der Zentralgestalt der Wiener Psychiatrie von Beginn der 1950er bis Ende der 1960er Jahre24 – sowie von Hans Strotzka (1917–1994) vorgelegt wurden.25 Letzterer gilt zu Recht als 23 Dies im Gegensatz zur Erörterung von konkreten psychotherapeutischen Behandlungstechniken, ihren spezifischen Anwendungsbedingungen und -ergebnissen und verwandten Themen, die verständlicherweise als Auseinandersetzung mit der eigentlichen beruflichen Haupttätigkeit, unabhängig von der betrachteten Periode, stets das Hauptthema der meisten dem Gebiet der PT zuzurechnenden Publikationen darstellten. 24 Hans Hoff, Bedeutung und Notwendigkeit eines Psychotherapeutischen Lehrinstituts, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 18/19 (1961), 315–316; Hans Strotzka, Tradition und Zukunft der Psychotherapie im Rahmen der Wiener Medizinischen Fakultät, in: Universität Wien (Hg.), Aufgaben der Universität Wien in Gegenwart und Zukunft. Aufsätze zur 600Jahrfeier, Wien: Notring 1965, 140–146. 25 Siehe zu dessen Biografie und Œuvre Ingrid Arias, Hans Hoff (1897–1969) – Remigrant und Reformer? Neue Impulse oder Kontinuität in der Psychiatrie nach 1945?, in: Eberhard Gabriel u. a. (Hg.), Gesellschaft und Psychiatrie in Österreich 1945 bis ca. 1970 (Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 14), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2016, 177–190, sowie nunmehr Eberhard Gabriel, „… trotzdem ich … vielleicht die Rolle eines Filmstars in anderen Ländern habe …“. Hans Hoff (1897–1969), Professor für Psychiatrie und Neurologie in Wien 1950–1969, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 25 (2019), 337–364.

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Begründer der modernen Sozialpsychiatrie in Österreich. Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade dieser politisch sozialdemokratisch orientierte Mediziner und Tiefenpsychologe sich intensiv auch mit der Frage nach der künftigen Gestaltung pt. Versorgungsangebote für die „breite Bevölkerung“ beschäftigt hat.26 Tatsächlich stammen die prominenteren Beiträge zum Thema der Professionalisierung von PT in Österreich während der 1970er Jahre durchwegs aus dem Institut für Tiefenpsychologie und Psychotherapie, das Strotzka mit einer kleinen Gruppe von „MitstreiterInnen“ 1971 an der Universität Wien begründet hatte.27 Hierzu zählen insbesondere die Monografie Psychotherapie und soziale Sicherheit, ein pt. Lehrbuch sowie eine auf Fragen der Professionalisierung fokussierende Festschrift anlässlich von Strotzkas 60. Geburtstag.28 Erst für die 1980er Jahre lässt sich ein deutlicher Anstieg von Anzahl und Umfang von Publikationen zur Professionsfrage beobachten. Weiterhin stammten die zentralen Schriften vornehmlich aus Strotzkas Institut – so neben dem schon erwähnten, bei Springer erschienenen Kurzlehrbuch mehrere Sammelbände zu Orientierungsfragen der Profession. Nun erschienen auch erste Übersichtspublikationen zur PT-Szene in Österreich. Für die noch marginale Stellung innerhalb der Academia ist bezeichnend, dass die ersten dieser Handreichungen für AusbildungsinteressentInnen von der ÖH der Universität Wien verlegt wurden. 1988 erschienen dann die Ergebnisse der ersten groß angelegten, noch in „Eigenregie“ des Instituts für Tiefenpsychologie erstellten Bedarfs- und Angebotsanalyse zur PT in Österreich. Immerhin aber erschien dazu eine im Wissenschaftsverlag Deuticke verlegte Kurzfassung29 eines sehr umfangreichen, bis heute nur als Typoskript vorliegenden Texts.30 Im selben Jahr wurde im Falter-Verlag, für den Wissenschaftsbetrieb eher randständig, dafür aber publikumswirksam, die Erstauflage des Handbuchs für Psychotherapie und psychologische Beratung publiziert. Für das damals virulente Thema der Genese eines gemeinsamen Selbstverständnisses wichtig waren auch zwei vom Psychiater und Individualpsychologen Gernot Sonneck (geb. 1942) für den damals gerade konstituierten Dachverband der Österreichischen Psychotherapeutischen Vereinigungen herausgegebene Konferenzbände: Der Krankheitsbegriff in der Psy26 Siehe dazu Nadine Hauer, Hans Strotzka. Eine Biographie, Wien: Holzhausen 2000. 27 Elisabeth [Jandl-]Jager, Zur Psychotherapieversorgung in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 3 (1977) 3/4, 133–137. 28 Hans Strotzka, Psychotherapie und soziale Sicherheit, München: Kindler 1972; Hans Strotzka (Hg.), Psychotherapie: Grundlagen, Verfahren, Indikationen, München u. a.: Urban & Schwarzenberg 1974; Alois Becker/Ludwig Reiter (Hg.), Psychotherapie als Denken und Handeln, München: Kindler 1977. 29 Jandl-Jager/Stumm (Hg.), Psychotherapie in Österreich. 30 Elisabeth Jandl-Jager u. a. (Hg.), Psychotherapeutische Versorgung in Österreich (Schriftenreihe des Instituts für Tiefenpsychologie und Psychotherapie der Universität Wien 7), Wien: Typoskript 1987 (3 Bde. in 6 Teilen).

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chotherapie sowie Das Berufsbild des Psychotherapeuten – Kosten und Nutzen der Psychotherapie. Beide erschienen bei Facultas, einem auch aus Sicht der medizinischen Wissenschaft „legitimen“ Verlag.31 Die Serie professionsbildender Publikationen setzte sich im Verlauf der 1990er weiter fort. Erwähnt seien hier die zeitweilig nahezu jährlich neu herausgebrachten Fassungen des genannten Handbuchs durch Gerhard Stumm, Beatrix Wirth (geb. 1956) u. a., die von Sonneck gemeinsam mit dem Juristen Michael Kierein und dem Psychologen, Pädagogen und Psychotherapeuten Alfred Pritz (geb. 1952) sehr zeitnah nach Inkrafttreten des Psychotherapiegesetzes herausgegebene kommentierte Textedition,32 der ganz auf die „Standortbestimmung“ von PT als eigenständige wissenschaftliche Disziplin fokussierende Sammelband Psychotherapie – eine neue Wissenschaft vom Menschen (1996)33 und eine 1999 erschienene Einführung in die Psychotherapie. Eine besondere Stellung bei der Identitätsstiftung für zahlreiche neu angehende PsychotherapeutInnen nahm das ebenfalls von Sonneck initiierte Publikationsprojekt Bibliothek Psychotherapie ein, das innerhalb von nur zwei Jahren (1995/96) in sechs Bänden mit je ca. 200 bis 400 Druckseiten realisiert und von Facultas verlegt wurde. Es fungierte u. a. als Basislektüre für das in der Zwischenzeit eingerichtete pt. Propädeutikum, den für KandidatInnen aller Schulen verpflichtenden „Vorbereitungslehrgang“ vor dem Fachspezifikum.34 In den 1990er Jahren wurde vom österreichischen Wissenschaftsministerium zudem eine erste Evaluation der Psychotherapie als neue wissenschaftliche Disziplin in Auftrag gegeben. Sie wurde von einem von der Psychiaterin und Psychoanalytikerin Marianne Springer-Kremser (geb. 1940) geleiteten Team an der Wiener Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie durchgeführt, die aus dem Institut für Tiefenpsychologie hervorgegangen war. Zu diesem Zeitpunkt konnte bereits auf fast 500 wissenschaftliche Publikationen verwiesen werden, die unter Beteiligung österreichischer AutorInnen bzw. Institutionen entstanden

31 Gernot Sonneck (Hg.), Der Krankheitsbegriff in der Psychotherapie, Wien: Facultas 1989; Gernot Sonneck (Hg.), Das Berufsbild des Psychotherapeuten – Kosten und Nutzen der Psychotherapie, Wien: Facultas 1990. 32 Michael Kierein/Alfred Pritz/Gernot Sonneck, Psychologengesetz – Psychotherapiegesetz. Kurzkommentar, Wien: Olms 1991. 33 Alfred Pritz (Hg.), Psychotherapie – eine neue Wissenschaft vom Menschen, Wien: Springer 1996. 34 Gernot Sonneck (Hg.), Bibliothek Psychotherapie, Wien: Facultas 1995–1996: Bd. 1: Corina Ahlers u. a., Einführung in die Psychotherapie; Bd. 2: Gertrude Bogyi u. a., Psychologie für Psychotherapeuten; Bd. 3: Markus Hochgerner u. a., Anwendungen der Psychotherapie; Bd. 4: Elmar Etzersdorfer u. a., Medizinische Grundlagen der Psychotherapie; Bd. 5: Renate Hutterer-Krisch u. a., Psychotherapie als Wissenschaft – Fragen der Ethik; Bd. 6: Maria Homm u. a., Rahmenbedingungen der Psychotherapie.

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und fachlich klar der PT zuordenbar waren (wenn auch oft nicht ausschließlich, sondern gleichzeitig zu Psychologie und/oder Medizin zuordenbar).35 Gegen Ende der hier betrachteten Periode erstellte Dave Karloff (geb. 1973) erneut eine umfassende bibliometrische Auswertung und konnte mithilfe der Datenbank PSYNDEX für den Zeitraum von 1977 bis 2003 in Österreich über 1.800 auf PT bezogene Publikationen nachweisen – bei deutlich ansteigender Tendenz des Publikationsvolumens insbesondere bis um 2000.36 Das Erscheinen zweier Nachschlagewerke österreichischer Provenienz am Beginn des 21. Jahrhunderts weist sodann auf das Erreichen eines neuen Niveaus der Professionsetablierung und damit auch auf einen zunehmenden Orientierungsbedarf innerhalb des Felds der PT hin: Direkt zur Jahrtausendwende erschien beim Verlag Zweitausendeins mit 854 Druckseiten das erste genuine Wörterbuch der Psychotherapie in deutscher Sprache.37 Hierauf folgte 2005 ein Personenlexikon der Psychotherapie mit fast 300 Einträgen.38 Auch für diesen Teilbereich von Professionalisierung ist der Befund somit eindeutig: Nach einer etwa 20-jährigen weitestgehenden Stille – 1945 bis 1965 – und einer ebenfalls ca. 20-jährigen Übergangsphase verstärkter, aber immer noch in Umfang und Außenwirkung recht begrenzter publikatorischer Aktivitäten der pt. Community erfolgte mit der staatlichen Anerkennung von 1990/91 ein Durchbruch hin zu einer breiteren Rezeption in der österreichischen Öffentlichkeit sowie eine massive Ausdehnung des fachinternen Diskurses.

Entwicklung berufsständischer Organisationen und Interessenvertretungen Ein prägnantes Kriterium für den erfolgreichen Abschluss eines Professionalisierungsprozesses ist das Vorhandensein einer oder mehrerer berufsständischer Organisationen bzw. Interessenvertretungen. Da hier die PT in ihrer Gesamtheit Thema ist, soll an dieser Stelle nur das Entstehen der schulenübergreifenden Dachorganisationen in diesem Bereich innerhalb Österreichs skizziert werden: Die erste bekannte Initiative kam in diesem Fall nicht aus Wien, sondern aus Graz, und zwar vom Mediziner, promovierten Psychologen und Tiefenpsychologen Erich Pakesch (1917–1979), der das bereits 1969, also etwas vor dem Wiener 35 Marianne Springer-Kremser u. a., Zum Stand der wissenschaftlichen Psychotherapie, Wien: BMWF 1994, 26. 36 Karloff, Psychotherapieforschung, bes. 147–162. 37 Gerhard Stumm/Alfred Pritz (Hg.), Wörterbuch der Psychotherapie, Frankf. a. M.: Zweitausendeins 2000. 38 Gerhard Stumm u. a. (Hg.), Personenlexikon der Psychotherapie, Wien–New York: Springer 2005.

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Pendant, ins Leben gerufene Institut für medizinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Graz leitete.39 Es entstand ein zunächst ganz informelles Netzwerk unter Beteiligung bedeutender Proponenten aus verschiedenen pt. Schulen – neben Strotzka und Pakesch waren der Pädagoge und Individualpsychologe Oskar Spiel (1892–1961), der Psychoanalytiker und damalige Direktor des „Steinhof“, Wilhelm (Graf zu) Solms-Rödelheim (1914–1996), der Psychoanalytiker und Gruppentherapeut Raoul Schindler (1923–2014) und der Arzt Günter Bartl (geb. 1930), ein Proponent des Autogenen Trainings, involviert. Schon bald erfolgte die Festlegung auf das gemeinsame Ziel, einen Dachverband für psychotherapeutische Vereinigungen zu gründen, der sodann eine „gesetzliche[] Regelung […] insbesondere für nichtärztliche Therapeuten“ forcieren sollte.40 Aber erst 1982 konnte die geplante gemeinsame Interessenvertretung tatsächlich als Dachverband (mit dem Status eines Vereins) initiiert werden; die beteiligten Verbände waren anfangs WPV, VIP, ÖAKTP, ÖAGG, ÖGATAP, ÖGVT sowie ÖGWG und APG sowie der Österreichische Verein für Kinder- und Jugendpsychotherapie. Strotzka wurde zum Vorsitzenden gewählt.41 Die sofort initiierten Verhandlungen über ein Psychotherapeutengesetz scheiterten jedoch zunächst am massiven Widerstand der ärztlichen Standesvertreter. Ende der 1980er erzielten schließlich Schindler, der Nachfolger Strotzkas, und Pritz, damals stellvertretender Vorsitzender des Dachverbands, mit der Anbahnung des Psychotherapiegesetzes den entscheidenden professionspolitischen Durchbruch zur staatlichen Anerkennung der PT als eigenständiger Beruf.42 Anschließend trat an die Stelle des Dachverbands der 1992 offiziell gegründete Österreichische Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP), eine staatlich anerkannte Interessenvertretung, bei der die Mitgliedschaft für die Professionsangehörigen allerdings – im Gegensatz etwa zur Ärztekammer – freiwillig blieb (2009 entstand mit der Vereinigung Österreichischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, VÖPP, ein zweiter derartiger pt. Berufsverband).

39 Hans Strotzka, Kurzgeschichte des Dachverbandes Österreichischer Psychotherapeutischer Vereinigungen, in: Sonneck (Hg.), Krankheitsbegriff, 5; Erich Pakesch, Zur Geschichte der klinischen Psychiatrie in der Steiermark, in: Norbert Geyer (Hg.), 100 Jahre Landes-Sonderkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Graz/Steiermark 1874–1974, Graz: Eigenverlag 1974, 15–20, 20. 40 Strotzka, Kurzgeschichte, 5. 41 Stumm u. a. (Hg.), Psychotherapie in Österreich, Bd. 2, 189. 42 Alfred Pritz, Jenseits von Standespolitik: Ein Psychotherapiegesetz und ein Psychologengesetz wurden verabschiedet, in: Sonneck (Hg.), Berufsbild des Psychotherapeuten, 81–84.

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Entwicklung eines spezifischen, eigenständigen und einheitlichen Berufsbildes Für die Wahrnehmung der PT als eigenständiger Beruf war die Entstehung eines spezifischen, von bereits bestehenden Professionen differenten Berufsbilds die notwendige Bedingung. Die Vielfalt der „Quellberufe“, aus denen sich in den Jahrzehnten vor 1990 jene Personen rekrutierten, die bereits PT praktizierten – neben ÄrztInnen und PsychologInnen sind hier v. a. PädagogInnen und LehrerInnen, SozialarbeiterInnen und SoziologInnen, TheologInnen und PhilosophInnen zu nennen –, scheint schließlich auch eine gesetzliche Regelung betreffend die erforderlichen Vorqualifikationen im Psychotherapiegesetz befördert zu haben, die sehr liberal ausfiel. Insbesondere fand dabei keine Zugangsbeschränkung auf ÄrztInnen und/oder PsychologInnen statt. Das ist insofern sehr bemerkenswert, als diese beiden konkurrierenden Vorschläge in den Jahrzehnten davor als die aussichtsreichsten Gestaltungsvarianten galten und zudem in den meisten europäischen Staaten, die das Feld der PT überhaupt staatlich reguliert hatten, eine dieser Varianten der Zugangsrestriktion festgelegt wurde.43 Insbesondere viele ÄrztInnen der 1950er bis 1970er Jahre konnten sich (soweit sie sich überhaupt mit PT befassten, was nur eine Minorität tat, vor allem PsychiaterInnen, NeurologInnen und AllgemeinmedizinerInnen) weder eine andere künftige Gestaltung von pt. Berufsausbildung und -ausübung vorstellen noch eine verstärkte Berücksichtigung in der medizinischen Grund- sowie Facharztausbildung. Dies galt sogar lange für den damaligen Hauptprotagonisten der pt. Professionalisierung in Österreich, Hans Strotzka. Er propagierte zwar schon früh und vehement, auf Teamwork verschiedener Berufsgruppen im psycho- und soziotherapeutischen Bereich zu achten, und erklärte das in seinem einflussreichen Lehrbuch von 1974, Psychologen, Pädagogen und psychiatrische Sozialarbeiter, „bei dem gegebenen Psychotherapiebedarf“ für unverzichtbar.44 Jedoch blieben seine diesbezüglichen Vorstellungen offenkundig einem damals noch weitgehend unangefochtenen, oftmals sogar unreflektierten ärztlichen Dominanzmodell im Gesundheitswesen verhaftet.45

43 Aida Tanios/Alexander Grabenhofer-Eggerth, EWR-Regelungen Psychotherapie, Klinische Psychologie, Gesundheitspsychologie, Musiktherapie, Wien: BMG 2018; Alfred Pritz (Hg.), Globalized Psychotherapy, Wien: Facultas 2002. 44 Hans Strotzka, Psychotherapieausbildung, in: Strotzka (Hg.), Psychotherapie: Grundlagen, Verfahren, Indikationen, 142. 45 Eliot Freidson, Professional Dominance. The Social Structure of Medical Care, Chicago: Aldine 1970; Marian Döhler, Die Regulierung von Professionsgrenzen. Struktur und Entwicklungsdynamik von Gesundheitsberufen im internationalen Vergleich, Frankf. a. M.: Campus 1997.

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So sind auch die Darlegungen Strotzkas im Kurzlehrbuch von 1982 zu erklären, in dem er den Weiterbestand einer „Monopolisierung [der Pt] in der Medizin“ argumentativ zu verteidigen versucht.46 Im Rahmen der Tätigkeit des damals gerade gegründeten und von Strotzka präsidierten Dachverbands änderten sich seine Auffassungen in den folgenden Monaten aber deutlich: In einem von ihm herausgegebenen Konferenzband mit dem programmatischen Titel Psychotherapie heute und morgen proklamierte er als Ideallösung künftiger Berufspraxis zunächst eine Integration nichtärztlicher pt. Tätigkeit im Rahmen von „interdisziplinären, methodenpluralistischen Teams“, wenngleich unter ärztlicher Leitung, präsentierte zugleich aber den zu diesem Zeitpunkt höchst innovativen Vorschlag der „Schaffung eines eigenen akademischen Berufes eines Psychotherapeuten“, dessen basale Ausbildungsinhalte etwa gleichgewichtig medizinische, psychologische und sozialwissenschaftliche Kompetenzen vermitteln sollten. Anschließend sollte ein praxisbezogenes „Spezialtraining“ im Rahmen jeweils schulenspezifischer Lehrgänge der verschiedenen Ausbildungsinstitutionen erfolgen.47 Die zweistufige und multiparadigmatische Grundstruktur der PT-Ausbildung gemäß Psychotherapiegesetz 1991 findet sich demnach hier bereits skizziert. Wie wenig die traditionelle Vorstellung von PT als Teilgebiet des Arztberufs den damaligen, wenn auch mangels staatlicher Regulierung extralegalen pt. Behandlungsrealitäten entsprach, zeigte die bereits erwähnte umfassende Studie des AutorInnenteams um Elisabeth Jandl-Jager. Es wurden für das Erhebungsjahr 1985 in Österreich etwas mehr als 1.200 im engeren Sinn als PsychotherapeutInnen tätige Personen eruiert, die ungefähr 37.500 KlientInnen behandelten – immerhin 0,5 Prozent der damaligen österreichischen Bevölkerung.48 Etwa 80 Prozent waren NichtmedizinerInnen, vorwiegend PsychologInnen (ca. 45 %), PädagogInnen und LehrerInnen (ca. 20 %), SozialarbeiterInnen oder TheologInnen ( je ca. 8 %).49 Diese brisanten Befunde hatten erhebliche professionspolitische Bedeutung. Nun war klar, dass ein weiteres Festhalten des Gesetzgebers am damals formal auch für die PT noch bestehenden ärztlichen Behandlungsmonopol bzw. an dessen realer Durchsetzung „das bereits jetzt unzureichende Angebot um etwa 80 % reduziert“ hätte.50 Weitere Publikationen pt. Provenienz griffen diese Thematik auf, so die 46 Strotzka, Psychotherapie und Tiefenpsychologie, 28. 47 Hans Strotzka, Rückblick und Ausblick, in: Hans Strotzka (Hg.), Psychotherapie heute und morgen, Wien: Facultas 1983, 5–12, 9. 48 Germain Weber, Ausgewählte Kennwerte der psychotherapeutischen Versorgung Österreichs im internationalen Vergleich, in: Jandl-Jager/Stumm (Hg.), Psychotherapie in Österreich, 48– 68, 56f. 49 Stumm/Jandl-Jager, Erlernter Beruf, 69–88. 50 Ebd., 85.

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beiden Konferenzbände des Dachverbands von 1989 und 1990/91. In Letzterem konstatierte Sonneck, selbst Arzt, nüchtern: „Wie wenige [derzeit in Ausbildung befindliche] Ärzte werden also Psychotherapie auch ausüben? […] [So können] die ärztlichen Vertreter des Gesundheitssystems eine adäquate, flächendeckende psychotherapeutische Versorgung hoher Qualität nicht gewährleisten […] und selbst radikalste Änderungen der medizinischen und ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung [würden] frühestens 15 Jahre nach Inkrafttreten einer solchen utopischen Reform zum Tragen kommen.“51

Zu diesem Zeitpunkt erfolgten gerade die politischen Weichenstellungen zur Etablierung der PT als eigenständiger Beruf unter weitgehender Loslösung von der Medizin im institutionellen Sinn. In fachlich-inhaltlicher Hinsicht, aber auch durch erhebliche personelle Überlappungen aufgrund von Mehrfachqualifikationen blieb die PT als Handlungsfeld auch gemäß Psychotherapiegesetz sowohl der Medizin wie der Psychologie eng verbunden.

Realisierung der staatlichen Anerkennung als eigenständiger Beruf Auf die Ausgestaltung des PT-Berufs im Rahmen des Psychotherapiegesetzes kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Zusammenfassend im Hinblick auf die professionssoziologisch wichtigsten Aspekte ist festzuhalten: Das Gesetz von 1990 übertrug die Organisation der pt. Ausbildung, einschließlich deren Qualitätssicherung, in die Kompetenz des über Ausbildungsvereine organisierten Berufsstands selbst, legte hierfür aber Rahmenbedingungen fest. Sie betreffen das Mindeststundenausmaß für Lehrgänge, die mit insgesamt etwas über 1.300 Stunden (ca. 88 Semesterwochenstunden) im Propädeutikum sowie 1.900 Stunden (ca. 127 Semesterwochenstunden) im Fachspezifikum festgesetzt wurden (PsthG 1990, §§ 3 u. 6).52 Dementsprechend veranschlagen die meisten Ausbildungsträger zumindest eine drei- oder vierjährige, oftmals aber auch eine fünf- oder sechsjährige Regeldauer für die gesamte Ausbildung,53 die sich aber, etwa für AbsolventInnen des Psychologiestudiums, durch Anrechnung bereits absolvierter Ausbildungsteile erheblich verkürzen kann. Das Gesetz selbst sieht lediglich das erwähnte Mindeststundenausmaß vor, unter detaillierter Festlegung der zu belegenden Gegenstände, aber keine Mindestdauer der Ausbildung. Weitere zentrale Regulierungen des Psychotherapiegesetzes waren die 51 Gernot Sonneck, Zur Identität des Psychotherapeuten, in: Sonneck (Hg.), Krankheitsbegriff, 61–67, 65. 52 Kierein/Pritz/Sonneck, Psychologengesetz – Psychotherapiegesetz. 53 Martin Voracek/Gerhard Stumm, Kurzbeschreibung psychotherapeutischer Ausbildungsinstitutionen, in: Stumm (Hg.), Handbuch 1996, 97–118.

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Einführung eines Prozederes für die staatliche Anerkennung pt. Methoden sowie konkreter Ausbildungseinrichtungen (§§ 4 u. 7), die Etablierung eines Psychotherapiebeirats als staatlich autorisiertes Organ zur fachlichen Beratung der Bundesregierung (§§ 20–22), die Beschränkung des Rechts auf Führung der Berufsbezeichnung PsychotherapeutIn auf AbsolventInnen der anerkannten Ausbildungsgänge (mit großzügigen Übergangsbestimmungen für damals bereits pt. berufstätige Personen; §§ 13 u. 26), die Festschreibung von spezifischen Berufspflichten angesichts der besonderen Verantwortung den KlientInnen gegenüber (§§ 14–16, näher ausformuliert 1993 in einem gesonderten Berufskodex) und die Einführung einer bei der Bundesregierung zu führenden Psychotherapeutenliste als öffentlich einsehbares Register aller in Österreich „zur selbständigen Ausübung der Psychotherapie berechtigten Personen“ (§ 17). Wesentliche Kriterien der soziologischen Professionstheorie zur Erlangung eines Professionsstatus waren somit realisiert, wenn auch die PT in Österreich damit nicht als akademischer Beruf im engeren Sinn konstituiert war, da der Ausbildungsabschluss nicht per se mit der Verleihung eines staatlich anerkannten akademischen Titels einhergeht. Erst am Ende der hier betrachteten Periode wurde mit der Schaffung von psychotherapiewissenschaftlichen Studiengängen diesem – professionssoziologischen wie professionspolitischen – Manko erfolgreich entgegengewirkt. Hinzuweisen bleibt auch darauf, dass die PT für ihre spezifischen Kompetenzen kein striktes Monopol erlangt hat; vielmehr gibt es erhebliche Überlappungen mit den Berufsbildern Klinische/r PsychologIn bzw. GesundheitspsychologIn – Berufe, die auf Basis eines abgeschlossenen Psychologiestudiums sowie anschließender Fachausbildung unabhängig von einer Qualifikation in PT ausgeübt werden können. Der gesetzliche Rahmen wurde 1990 zeitgleich mit dem Psychotherapiegesetz durch das Psychologengesetz geschaffen. In der sozialen Realität gerade der 1990er und 2000er Jahre überlappen sich die beiden Berufsgruppen aber erheblich, indem vielfach eine Doppelqualifikation erworben wurde.54 Zudem übten (und üben) weiterhin auch zahlreiche ÄrztInnen, die in ihrer primären Berufsidentität als MedizinerInnen wahrgenommen werden, auch pt. Tätigkeiten aus. 2004 wurde innerhalb des ärztlichen Weiterbildungssystems der Ausbildungsgang für psychotherapeutische Medizin (PSY-III-Diplom) realisiert.55

54 Joachim Hagleitner/Manfred Wilinger, Psychotherapie, Klinische Psychologie, Gesundheitspsychologie. Berufsgruppen 1991–2007, Wien: ÖBIG 2008. 55 ÖÄK (Hg.), ÖÄK-Diplomrichtlinie Psychotherapeutische Medizin, Wien: ÖÄK 2004, online abrufbar, URL: https://www.arztakademie.at/fileadmin/template/main/OeAeKDiplomePDF s/Diplom-Richtlinien/RL05_PSYIII.pdf (abgerufen am 22. 11.2021).

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Entwicklung der Anzahl der Berufsangehörigen HeilerInnen für psychische Leiden genießen allgemein einen besonderen, ambivalenten Ruf,56 der sicherlich dazu beitrug, den gesellschaftlichen Anerkennungsprozess einschlägiger Professionen – und damit, etwas paradoxerweise, auch ihre bedarfsdeckende quantitative Verbreitung – zu erschweren. Gleichzeitig besteht spätestens seit Entstehung der modernen Industriegesellschaften und den damit einhergehenden Individualisierungs- und Isolierungsprozessen ein erheblicher, mehr oder weniger stetig wachsender Bedarf an Hilfestellungen bei seelischen Leiden und mentalen Erkrankungen. Dies führt nicht zuletzt die pt. Berufs- und Behandlungsstatistik eindrücklich vor Augen. Die schon mehrfach erwähnte Pionierstudie kalkulierte für 1985 insgesamt etwa 100.000 Menschen in Österreich, die im Laufe dieses einen Jahres von gesamt ca. 2.200 BehandlerInnen mit hoher oder mittlerer pt. Qualifikation in verschiedenen Segmenten des Gesundheitswesens hätten betreut werden sollen.57 1991, im Jahr des Inkrafttretens des Psychotherapiegesetzes, hatten freilich erst ca. 950 Personen das nun gesetzlich vorgesehene, förmliche Anerkennungsverfahren als PsychotherapeutIn erfolgreich abgeschlossen. In den darauffolgenden Jahren kam es dann aber, allen Schwierigkeiten zum Trotz, zu einem rapiden Anwachsen der professionellen Community: 1993 wies das Psychotherapeutenregister bereits mehr als 3.400 Berufsangehörige aus, 1998 mehr als 5.000, im Jahr 2005 dann mehr als 6.000 (mittlerweile, 2020, sind es deutlich mehr als 10.000).58 Im Verlauf dieses Anstiegs kam es insbesondere zu einem Wachstum des professionellen Angebots im freiberuflich-niedergelassenen Bereich, während im stationären und extramuralen Bereich ebenfalls ein in Relation aber geringerer Ausbau des pt. Angebots stattfand. Auch die regionale Versorgungslage blieb weiter höchst unterschiedlich. Sichtbar wird dies etwa in einer Darstellung in einer ÖBIGPublikation zur Berufsstatistik, die zugleich auch die diesbezüglichen Veränderungen im Gesamtzeitraum 1991 bis 2007 visualisiert.

Schlussbemerkung Ab der gesetzlichen Verankerung des Berufsfelds „Psychotherapie“ in Österreich mit dem 1991 in Kraft getretenen Psychotherapiegesetz weist die Zahl der PsychotherapeutInnen einen dynamischen Wachstumsprozess auf, welcher der 56 Martin Poltrum/Bernd Rieken (Hg.), Seelenkenner, Psychoschurken. Psychotherapeuten und Psychiater in Film und Serie, Berlin: Springer 2016. 57 Gerhard Stumm, Angebot und Bedarf an Psychotherapie in Österreich, in: Jandl-Jager/ Stumm (Hg.), Psychotherapie in Österreich, 89–120, bes. 95–101. 58 Hagleitner/Wilinger, Psychotherapie, bes. 23 sowie Tabelle 1 A-1 im Anhang.

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Abb. 1: PsychotherapeutInnen in Relation zur Einwohnerzahl nach Bundesländern, 1991–2007 (aus: Hagleitner/Wilinger, Psychotherapie, Karte 1 im Anhang).

schon vorher enormen Nachfrage dennoch kaum gerecht werden kann. Auch die Problematik der mangelhaften Integration des fachlichen Newcomers ins öffentliche Gesundheitswesen blieb bestehen, und das gesundheitspolitische Ziel einer sozialversicherungsrechtlichen Gleichstellung einer pt. Behandlung mit einer medizinischen wurde nicht realisiert. KlientInnen von PT blieben „PatientInnen zweiter Klasse“, die besonders lange Wartezeiten auf „Behandlungsplätze“, unverhältnismäßig hohe Selbstkostenanteile und unwürdige Überprüfungsprozeduren hinsichtlich „sozialer Bedürftigkeit“ zu ertragen hatten, wenn sie PTals Krankenversicherungsleistung in Anspruch nehmen wollten. Daran hat sich bis dato (2022) nichts Substanzielles geändert.

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„Wien, mit Medizin und Musik durch alte Tradition aufs engste verbunden …“1 – Institutionalisierungsprozesse der Wiener Schule der Musiktherapie ab 1959 und die Bedeutung der Wiener Klinikvorstände „Vienna, by old traditions closely connected with medicine and music“ – Institutionalization Processes of the Viennese School of Music Therapy from 1959 onwards and the Importance of the Department Heads of Vienna Hospitals Abstracts Im Jahr 1959 wurde der „Sonderlehrgang für Musikheilkunde“ als erste akademische Musiktherapie-Ausbildung Europas an der heutigen mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien eingerichtet. Das vorliegende Buchkapitel rückt die institutionelle Zusammenarbeit mit drei Wiener Kliniken – „Klinik Hoff“, „Rosenhügel“ und „Steinhof“ –, an denen die ersten musiktherapeutischen Praktika stattfanden, in den Fokus. Insbesondere werden die Rollen und die Bedeutung von Otto Hartmann, Hans Hoff, Andreas Rett, Erwin Ringel, Raoul Schindler und Wilhelm Solms-Rödelheim als Wegbereiter für die Etablierung und Theoriebildung der Wiener Schule der Musiktherapie beleuchtet. In 1959, the first academic music therapy training in Europe, called ”Sonderlehrgang für Musikheilkunde”, was established at the mdw – University of Music and Performing Arts Vienna. This book chapter focuses on the institutional cooperation with three Viennese hospitals – ”Klinik Hoff”, ”Rosenhügel” and ”Steinhof” –, where the first music therapy internships took place. In particular, we highlight the roles and importance of Otto Hartmann, Hans Hoff, Andreas Rett, Erwin Ringel, Raoul Schindler and Wilhelm SolmsRödelheim as pioneering physicians for the establishment and theory building of the Viennese School of Music Therapy. Keywords Wiener Schule der Musiktherapie; Geschichte der Musiktherapie; künstlerische Therapien; Psychiatriereform Viennese school of music therapy; history of music therapy; arts therapies; antipsychiatry

1 Editha Koffer-Ullrich, zit. nach Karin Mössler, Wiener Schule der Musiktherapie. Von den Pionieren zur dritten Generation (1957 bis heute) (Wiener Beiträge zur Musiktherapie 8), Wien: Praesens Verlag 2008, 19.

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Dieser Beitrag zur Geschichte der Musiktherapie in Wien reiht sich ein in die Arbeiten von Manuela Schwartz2 und Andrea Korenjak3, die den musikalischen Einsatz in psychiatrischen Kliniken vor 1960 untersuchten, sowie die Forschungen von Elena Fitzthum4 und Karin Mössler5, die sich dezidiert mit der Entwicklung und der Ausbildungshistorie der Wiener Schule der Musiktherapie auseinandergesetzt haben.6 Ziele des Beitrags sind es, 1. Einblick in die Vernetzungen zwischen Medizin und Wiener Musiktherapie ab 1959 zu geben, 2. den Einfluss der ersten medizinischen VertreterInnen aus den Fachrichtungen Psychiatrie, Psychosomatik sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bezug auf die lokale Entstehung und Entwicklung der Theoriebildung der Wiener Schule der Musiktherapie darzustellen sowie 3. mögliche Rückwirkungen auf das medizinische System durch den Einbezug von Musiktherapie zu diskutieren. Methoden: Basierend auf umfassenden Recherchen wurden ausgewählte Literatur und Archivmaterial aufbereitet und analysiert sowie ein Interview mit Otto Hartmann geführt7. Zur Einordnung der Entwicklungen, welche die Musiktherapie in Österreich seit der Gründung der akademischen Ausbildung 1959 genommen hat, scheint es zielführend zu sein, zunächst einleitend den Stand der Musiktherapie in der Gegenwart zu skizzieren.

2 Manuela Schwartz, Und es geht doch um die Musik: Zur musikalischen Heilkunde im 19. und 20. Jahrhundert (Teil 1 & 2), in: Musiktherapeutische Umschau 33 (2012) 2 & 4, 113–125, 333– 348. 3 Andrea Korenjak, From moral treatment to modern music therapy: On the history of music therapy in Vienna (c. 1820–1960), in: Nordic Journal of Music Therapy 28 (2018) 5, 341–359. doi.org/10.1080/08098131.2018.1467481. 4 Elena Fitzthum, Von den Reformbewegungen zur Musiktherapie. Die Brückenfunktion der Vally Weigl (Wiener Beiträge zur Musiktherapie 5), Wien: Edition Praesens 2003. 5 Mössler, Wiener Schule der Musiktherapie. 6 Elena Fitzthum/Karin Mössler, Wiener Schule der Musiktherapie, in: Hans-Helmut DeckerVoigt/Eckhard Weymann (Hg.), Lexikon der Musiktherapie, 3. Aufl., Göttingen: Hogrefe 2021, 675–680. 7 Interview mit Otto Hartmann, geführt am 12. Februar 2020, Interview-Aufnahme bei der Autorin Hannah Riedl.

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„Wien, mit Medizin und Musik durch alte Tradition aufs engste verbunden …“

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Musiktherapie 2021: ein gesetzlich anerkannter Gesundheitsberuf Nach jahrzehntelanger Vorbereitung auf berufspolitischer Ebene wurde im Jahr 2008 das „Bundesgesetz über die berufsmäßige Ausübung der Musiktherapie“ – kurz Musiktherapiegesetz (MuthG) – erlassen, wodurch die Profession der MusiktherapeutInnen als gesetzlich anerkannter Gesundheitsberuf in Österreich etabliert wurde.8 Im MuthG, § 6 (1), findet sich die folgende Definition und Berufsbeschreibung: „Die Musiktherapie ist eine eigenständige, wissenschaftlich-künstlerisch-kreative und ausdrucksfördernde Therapieform. Sie umfasst die bewusste und geplante Behandlung von Menschen, insbesondere mit emotional, somatisch, intellektuell oder sozial bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, durch den Einsatz musikalischer Mittel in einer therapeutischen Beziehung zwischen einem (einer) oder mehreren Behandelten und einem (einer) oder mehreren Behandelnden mit dem Ziel 1. Symptomen vorzubeugen, diese zu mildern oder zu beseitigen oder 2. behandlungsbedürftige Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern oder 3. die Entwicklung, Reifung und Gesundheit des (der) Behandelten zu fördern und zu erhalten oder wiederherzustellen.“9 „Die Ausübung des musiktherapeutischen Berufs“ umfasst nach § 6 (2) die o.g. Tätigkeiten, insbesondere zum Zweck der 1. 2. 3. 4. 5.

Prävention einschließlich Gesundheitsförderung, Behandlung von akuten und chronischen Erkrankungen, Rehabilitation, Förderung von sozialen Kompetenzen einschließlich Supervision sowie Lehre und Forschung.“

Im dritten Absatz dieses Paragrafen wird abschließend konstatiert: „Die berufsmäßige Ausübung der Musiktherapie ist den Musiktherapeuten (Musiktherapeutinnen) vorbehalten. Anderen Personen als Musiktherapeuten (Musiktherapeutinnen) ist die berufsmäßige Ausübung der Musiktherapie verboten.“ Voraussetzung für die Aufnahme einer musiktherapeutischen Berufsausübung ist die Eintragung in die MusiktherapeutInnen-Liste, die vom österrei-

8 Monika Geretsegger, Geschichte der Musiktherapie in Österreich, in: Decker-Voigt/Weymann (Hg.), Lexikon der Musiktherapie, 211–216. 9 Musiktherapiegesetz (MuthG), BGBl. I Nr. 93/2008, URL: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFa ssung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20005868 (abgerufen am 5. 12. 2020).

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chischen Gesundheitsministerium geführt wird.10 Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Aufsatzes waren 465 zur Berufsausübung der Musiktherapie berechtigte Personen in der Liste eingetragen (Stand: 27. September 2021). Somit gehört Österreich – zusammen mit Estland, Lettland und dem Vereinigten Königreich – zu den wenigen europäischen Ländern, in denen die Ausübung des Musiktherapieberufs gesetzlich geregelt ist.11 Ergänzend zum Musiktherapiegesetz wurden 2016 die Ethik- und Berufsrichtlinie12 und 2019 die Musiktherapie-Ausbildungsverordnung13 veröffentlicht. Diese drei Dokumente – das Musiktherapiegesetz, die Ethik- und Berufsrichtlinie sowie die Ausbildungsverordnung – bilden eine gesetzliche Verankerung von Mindeststandards in Ausbildung und Ausübung der musiktherapeutischen Profession und gewährleisten somit den Schutz von PatientInnen und eine Qualitätssicherung in Praxis, Lehre und Forschung. Musiktherapeutische Behandlungen werden in stationären und ambulanten Einrichtungen sowie im niedergelassenen Bereich in freier Praxis angeboten. Die Tätigkeitsfelder decken ein großes Spektrum an Indikationen und Altersgruppen ab: Dieses reicht von der Neonatologie bis hin zur Arbeit mit PatientInnen mit demenziellen Erkrankungen und Musiktherapie im Hospiz. Traditionell ist die Musiktherapie in Österreich jedoch v. a. in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen verortet. Eine Berufsgruppenumfrage aus dem Jahr 2018 bestätigte dies, da etwas mehr als die Hälfte aller Arbeitsstellen in den Bereichen Erwachsenenpsychiatrie und -psychosomatik sowie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. dem Bereich der Entwicklungsförderung angesiedelt sind.14 Der Fokus auf diese drei Arbeitsfelder lässt sich historisch durch die Schwerpunkte der musiktherapeutischen Ausbildung in Wien erklären, die im Folgenden dargestellt werden soll.

10 MusiktherapeutInnen-Liste, URL: http://musiktherapie.ehealth.gv.at/ (abgerufen am 27. 9. 2021). 11 Persönliche Mitteilung von Melanie Voigt (EMTC Vice President) an Thomas Stegemann am 5. 11. 2020. 12 Ethik- und Berufsrichtlinie – Richtlinie des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz für Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten, 2016, URL: https://www.oebm.org/media/ethik-_und_berufsrichtlinie_stand_08.05.2020_muth.p df (abgerufen am 27. 9. 2021). 13 Musiktherapie-Ausbildungsverordnung, 2019, URL: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFass ung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20010636 (abgerufen am 27. 9. 2021). 14 Eva Phan Quoc u. a., Zur beruflichen Situation von Musiktherapeut.innen in Österreich: Ergebnisse einer Online-Umfrage, in: Musiktherapeutische Umschau 40 (2019) 3, 236–248.

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Überblick über die Entwicklung der Wiener Musiktherapie-Ausbildung Ein Zitat der Ausbildungsgründerin Editha Koffer-Ullrich lautet: „Wien, mit Medizin und Musik durch alte Tradition aufs engste verbunden, ist berufen, dazu einen besonderen Beitrag zu leisten. Zum Vorteil der leidenden Menschen sollen in unserer Heimatstadt beide Disziplinen in Theorie und Praxis, im Krankenhaus und in der Forschung zusammenwirken.“15 Diese Vision konnte mit der Etablierung klinischer Praktika im Rahmen der Musiktherapie-Ausbildung an Wiener Kliniken umgesetzt werden. Im Jahr 1959 startete nach längeren Vorbereitungen der erste Sonderlehrgang für Musikheilkunde (s. S. 467). Die damalige Presseaussendung der Musikakademie lautete: „Im Zusammenwirken mit der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Musikheilkunde veranstaltet die Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien ab 12. Oktober 1959 einen auf vier Semester berechneten Lehrgang für Musikheilkunde. Der Lehrgang wird eingeleitet mit einer vierwöchigen Vorlesungsreihe (5 Doppelstunden wöchentlich) über die Lehre der Harmonik (Rudolf Haase). Anschließend wird in je drei Doppelstunden pro Woche über folgende Themen vorgetragen werden: Psychologie, Psychiatrie, Logopädie, Akustische Physiologie, Soziologie, Harmonik, musiktheoretische Grundlehre (theoretische Musikheilkunde) und praktische musikelementare Pädagogik. An den Besuch des viersemestrigen Lehrganges soll sich eine sechsmonatige klinische Praxis anschließen. […] [Hervorhebung durch die AutorInnen]“16

In diesem Sinne wurden Musiktherapie-Studierende im Wintersemester 1961/62 das erste Mal in der Praxis – unter Betreuung der Musiktherapeutin Prof. Editha Koffer-Ullrich und begleitet von Medizinern – aktiv musiktherapeutisch tätig.17 Die Verbindung zwischen theoretischen Grundlagen und der praktischen Anwendung ist bis heute erhalten geblieben, sie bildet das Fundament der Ausbildung und wird auch in der Musiktherapie-Ausbildungsverordnung entsprechend vorausgesetzt. Die Wiener Musiktherapie-Ausbildung durchlief nach ihrer Gründung bis heute unterschiedliche Phasen und strukturelle Veränderungen (siehe Tabelle 1):

15 Editha Koffer-Ullrich, zit. nach Mössler, Wiener Musiktherapie, 19. 16 Pressenotiz, Ankündigung – Lehrgang für Musikheilkunde, 21. 9. 1959. mdwA, 3913/59. 17 Gertraud Joham beschreibt den Beginn der Praktika mit 1962/63, merkt jedoch an, dass in dem Jahr die offizielle Lehrbeauftragung der an den Praktikumsstellen tätigen MusiktherapeutInnen erfolgte und die Angaben geringfügig abweichen könnten, wie dies hier bestätigt wird. Gertraud Joham, Zur Musiktherapieentwicklung und -ausbildung an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, Dipl.-Arb., Wien 1999, 6.

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Tab. 1: Strukturelle Phasen der Musiktherapie-Ausbildung Wien seit 195918 Bezeichnung Sonderlehrgang für Musikheilkunde

Zeitraum 1959/60–1970

Leitung* Editha Koffer-Ullrich

Lehrgang für Musiktherapie

1970/71–1992

Kurzstudium Musiktherapie

1992/93–2003

Alfred Schmölz Medizinische Leitung: Wilhelm Solms-Rödelheim (1973–1975) Otto Hartmann (1975–1992) Erwin Ringel (1973–1988) Andreas Rett (1970–1990) Keine mth. Leitung (bis SoSe 1993) Lothar Imhof (WS 1993/94 bis SoSe 1995) Keine mth. Leitung (WS 1995/96 bis SoSe 2003)

Diplomstudium Musiktherapie

2003/04–2020 (auslaufend bis 2024)

Bachelor-/ Masterstudium Musiktherapie

seit 2020/21

Keine mth. Leitung (WS 2003/04 bis WS 2010/11) Thomas Stegemann (ab SoSe 2011) Thomas Stegemann

Doktoratsstudium (PhD) seit 2014/15 Thomas Stegemann Musiktherapie * Sofern keine „Medizinische Leitung“ angegeben ist, handelt es sich um die musiktherapeutische Leitung der Ausbildung.

Auffallend ist im Hinblick auf die unterschiedlichen Entwicklungsphasen einerseits, dass es zwischen 1992/93 und 2011 keine konstante musiktherapeutische Leitung gab19 und dass davor im Lehrgang zusätzlich zur musiktherapeutischen Leitung durch Alfred Schmölz auch eine medizinische Leitung eingerichtet war.

18 Hannah Riedl/Katharina Pfeiffer/Thomas Stegemann, Phasen der Musiktherapie-Ausbildung in Wien, in: Institut für Musiktherapie (Hg.), Tagungsband 60 Jahre und (k)ein bisschen weise. Musiktherapie-Ausbildung an der mdw 1959–2019, Wien: Eigendruck (pub mdw) 2020, 92–93, URL: https://pub.mdw.ac.at/publications/0f41d939-64d1-4b5a-abb9-b778c1195dfe/ (open access verfügbar, abgerufen am 10. 8. 2020). 19 In der Zeit von 1992 bis 2011 wurde die Ausbildung organisatorisch v. a. von Gertraud BerkaSchmid und Angelika Hauser-Dellefant vom Institut für Musik- und Bewegungserziehung weitergeführt. Vgl. dazu Elena Fitzthum, 60 Jahre und (k)ein bisschen weise – Zur Geschichte der Musiktherapie an der mdw, in: mdw-Webmagazin, 27. 9. 2019, URL: https://www.md w.ac.at/magazin/index.php/2019/09/27/60-jahre-und-kein-bisschen-weise-zur-geschichte-d er-musiktherapie-an-der-mdw/ (abgerufen am 22. 12. 2020).

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Diese Doppelleitung wurde obligat, nachdem es Auseinandersetzungen, Diskussionen und Überlegungen rund um die Weiterführung, Fragen der institutionellen Anbindung (es gab Bestrebungen, die musiktherapeutische Ausbildung an die Medizinische Fakultät anzugliedern) und Umstrukturierung des Sonderlehrgangs in einen Lehrgang im Zuge der Hochschulreform gegeben hatte.20 Den langen Prozess abschließend – die Ausbildung verblieb institutionell an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien in einer engen Kooperation zur Medizin – hieß es dazu: „Die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit der Medizinischen und der Philosophischen Fakultät der Universität Wien ist ohne Zweifel dringend geboten. Die Leitung des Lehrganges war schon bisher bestrebt, jede Möglichkeit einer Intensivierung der Kooperation mit den fachlich in Betracht kommenden Universitätskliniken sowie mit anderen Krankenhäusern und den zuständigen Instituten der Philosophischen Fakultät zu nutzen. In Hinkunft soll dem Umstand, daß die Musiktherapie interdisziplinären Charakter besitzt und der Musiktherapeut nur unter ärztlicher Leitung und Kontrolle tätig werden darf, auch durch die Bestellung eines ärztlichen Leiters des Lehrganges Rechnung getragen werden.“21

Diese gemeinsame Leitung der Ausbildung durch die Professionen Musiktherapie und Medizin hatte u. a. zur Folge, dass ein vertiefter inhaltlicher Austausch – auch im Rahmen von Abschlussprüfungen und durch die Doppelbetreuung von wissenschaftlichen Abschlussarbeiten22 – stattfand und somit ein wechselseitiges Lernen möglich wurde. Insbesondere dieses Handlungs- und Resonanzfeld in Wien – Musik als Therapie in der Medizin – wird in der Folge beleuchtet, und die Einflüsse seitens der Mediziner, die zu Beginn der Ausbildungsgenese von großer Bedeutung waren, werden in den Fokus genommen.23

Exkurs: Situation der Psychiatrie um 1960 Um die Verdienste um die Implementierungs- und Integrationsprozesse von Musiktherapie an psychiatrische Kliniken der in Folge dargestellten Mediziner kontextualisieren zu können, soll die Situation der Psychiatrie um 1960 in

20 Näheres bei Joham, Musiktherapieentwicklung Wien, 30–38. 21 Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung an das Rektorat der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, Dokument vom 14. 11. 1972. mdwA, MH2, 4763/72. 22 Hannah Riedl, „Wissend und Suchend in den Beruf entlassen“. Die Abschluss- und Diplomarbeiten der Wiener Musiktherapie-Ausbildung. Analyse zu inhaltlichen und formalen Aspekten. Dipl.-Arb., Wien 2014. 23 Die inhaltlichen und methodischen Einflüsse seitens der MusiktherapeutInnen, die sich durch diese unterschiedlichen strukturellen Phasen und den wechselnden Leitungs- und Lehrkörper ergaben, untersuchte Mössler. Mössler, Wiener Musiktherapie.

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Österreich und speziell in Wien kurz umrissen werden. Raoul Schindler reflektiert dazu: „Rückblickend scheint der Aufschwung der Gruppenpsychotherapie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg paradox, speziell in einem deutschsprachigen Land wie Österreich. Die Psychiatrie mußte sich erst vom nachhängenden Ruf der wissenschaftlichen Euthanasie befreien und die Psychotherapie vom erzwungenen Exodus der Psychoanalytiker. Das Anstaltswesen stand unter der berechtigten Anklage der sogenannten Antipsychiatrie, dem Vorwurf inhumaner Schockbehandlung und fixierender Institution.“24

Zu den üblichen Behandlungsformen in Wien gehörten um 1950/60 noch die von Schindler angesprochenen Behandlungen sowie nach wie vor die Durchführung von neurochirurgischen Maßnahmen (Lobotomien). Das psychoanalytische Wissen hatte sich noch nicht wieder in der klinischen Praxis durchgesetzt, wie dies in Amerika zur selben Zeit bereits der Fall war.25 Zudem war die Verfügbarkeit der heutzutage nicht mehr wegzudenkenden Psychopharmaka noch jung, die ersten Präparate wurden erst mit Beginn der 1950er Jahre zugelassen.26 Die Situation für psychisch kranke PatientInnen kann demnach wie folgt umrissen werden: „Viele psychisch Kranke und Behinderte lebten damals unter elenden, zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen. Knapp 60 Prozent der Patienten fristeten dort mehr als zwei Jahre ihres Lebens. Fast 40 Prozent waren in Schlafsälen mit mehr als elf Betten untergebracht – für ihre persönlichen Habseligkeiten stand oftmals nur eine Schachtel unter dem Bett zur Verfügung. Die hygienischen Verhältnisse waren unzumutbar, die Personaldecke dünn, Möglichkeiten zur Nachsorge kaum vorhanden.“27

In diesen Versorgungsstrukturen in Wien begann sich eine neue Therapieform – die Musiktherapie – zu etablieren. Kritisch reflektierend schreiben Thomas Stegemann und Paul Plener zur Wechselwirkung zwischen Psychopharmaka und Musiktherapie, dass „der Einbezug der Musiktherapie in das psychiatrische Behandlungsrepertoire in Verbindung mit den damals neuen therapeutischen

24 Raoul Schindler, Österreichische Impulse zur Gruppenpsychotherapie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Georg Gfäller/Grete Leutz (Hg.), Gruppenanalyse, Gruppendynamik, Psychodrama, Heidelberg: Mattes 2006, 68–72, 68. 25 Katharina Kniefacz, Hans Hoff, Prof. Dr., URL: https://geschichte.univie.ac.at/de/personen /hans-hoff-prof-dr (abgerufen am 1. 11. 2020). 26 Heinz Katschnig/Werner Schöny/Elmar Etzersdorfer, Die psychiatrische Versorgung in Österreich zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Ullrich Meise/Friederike Hafner/Hartmann Hinterhuber (Hg.), Die Versorgung psychisch Kranker in Österreich – Eine Standortbestimmung, Wien: Springer 1991, 3–16. 27 Petra Bühring, Psychiatrie-Reform: Auf halbem Weg stecken geblieben, in: Deutsches Ärzteblatt 98 (2001) 6, URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/25936/Psychiatrie-Reform-Auf -halbem-Weg-stecken-geblieben (abgerufen am 7. 12.2020).

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Möglichkeiten [stand], die sich infolge der positiven Effekte der Medikation ergaben“.28 Die Bewegung der Antipsychiatrie, ausgehend vom Trienter Psychiater Franco Basaglia (1924–1980), wirkte stark nach Österreich hinein und mündete in die Psychiatriereform, die sich ab Mitte der 1970er Jahre durchsetzte, um die Situation für psychisch Erkrankte zu verbessern. Dies brachte v. a. die Veränderung mit sich, dass die psychiatrische Versorgung gemeindenaher gestaltet und in allgemeinmedizinische Kliniken inkludiert wurde.29 Bis heute hat sich viel in der psychiatrischen Versorgungsstruktur verändert, wie z. B. auch die Schaffung des eigenen Sonderfachs für Kinder- und Jugendpsychiatrie (seit 2007),30 dennoch ist die angestoßene Entwicklung bei Weitem noch nicht abgeschlossen, insbesondere was den Abbau des Stigmas psychischer Erkrankungen insgesamt in der Gesellschaft betrifft.31

Einfluss der Medizin auf die Musiktherapie in Wien Für die klinisch-praktische Ausbildung von angehenden MusiktherapeutInnen mussten Lern- und Praxismöglichkeiten gefunden werden. Im Studienjahr 1961/62 wurden die ersten zwei Praktikumsstellen für Musiktherapie-Studierende eingerichtet, ab 1964/65 folgte die dritte Stelle an den folgenden Wiener Kliniken: 1. Psychiatrisch-Neurologische Universitätsklinik („Klinik Hoff“) – ab 1961/62 Bereiche: Psychiatrie und Psychosomatik Medizinische Akteure: Hans Hoff und Erwin Ringel 2. Kinderklinik Lainz bzw. Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder im Pavillon 17 des Altersheims Lainz („Rosenhügel“) – ab 1961/62 Bereich: Entwicklungsgestörte Kinder Medizinischer Akteur: Andreas Rett 3. Wiener Landes-Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof („Steinhof“) – ab 1964/65 Bereiche: Psychiatrie und Psychiatrische Rehabilitation Medizinische Akteure: Otto Hartmann, Raoul Schindler, Wilhelm SolmsRödelheim 28 Zu den gegenseitigen Einflüssen vgl. Thomas Stegemann/Paul Plener, Musiktherapie und Psychopharmakotherapie, Teil 1: Allgemeine Einführung in das Thema, in: Musiktherapeutische Umschau 41 (2020) 2, 140–151, 145. 29 Katschnig/Schöny/Etzersdorfer, Die psychiatrische Versorgung in Österreich, 1991. 30 Leonhard Thun-Hohenstein, Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich. Der Versuch der Zusammenschau einer langen Entwicklung, in: Neuropsychiatrie 31 (2017) 3, 87–95. 31 Kampagne der Psychosozialen Dienste in Wien (PDS), URL: https://darueberredenwir.at/ (abgerufen am 8. 12. 2020).

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Die Zusammenarbeit zwischen diesen drei Kliniken und den dort tätigen Medizinern mit der Musiktherapie-Ausbildung erfolgte auf unterschiedlichen Ebenen: – Institutionelle Kooperation – Medizinische Leitung des Lehrgangs – Aktive Lehrtätigkeit – Betreuung von wissenschaftlichen Abschlussarbeiten – Publikationstätigkeit Die unterschiedlichen Beteiligungen sollen nun für jeden der medizinischen Vertreter im Einzelnen mit seinem jeweiligen Hintergrund und Bezug zur Musiktherapie dargestellt werden. Bis heute sind alle drei Praktikumsorte Teil der klinischen Ausbildung angehender MusiktherapeutInnen aus Wien – eine bewährte und synergistische Zusammenarbeit, die einerseits den Musiktherapie-Studierenden die praktische Ausbildung ermöglicht und andererseits für die Kliniken ein kostenfreies zusätzliches Therapieangebot bedeutet.

Psychiatrisch-Neurologische Universitätsklinik („Klinik Hoff“) Hans Hoff (1897–1969) Hans Hoff war ein österreichischer Psychiater und Neurologe und zum Zeitpunkt der Gründung der Musiktherapie-Ausbildung Vorstand der PsychiatrischNeurologischen Klinik am Allgemeinen Krankenhaus Wien (AKH), im Volksmund auch „Klinik Hoff“ genannt. Hoff stimmte von Beginn an zu, ein Praktikum für Studierende des Sonderlehrgangs für Musiktherapie an seiner Neurologisch-Psychiatrischen Universitätsklinik einzurichten, war er ja auch bei der Einrichtung desselbigen im Vorfeld von großer Bedeutung (s. S. 467). Katharina Kniefacz schreibt in einer Kurzdarstellung über Hoff: „Hoff galt in den 1960er-Jahren als einer der prominentesten Wiener Psychiater. An seiner Klinik förderte er unterschiedliche Ansätze, neben der Psychoanalyse und zahlreichen sozialpsychiatrischen Projekten [wie Musiktherapie, Anm. d. AutorInnen] auch repressive, gewaltsame und heute als inhuman abgelehnte Methoden wie Elektroschocks, Neurochirurgie (Lobotomie) oder die ‚Malariatherapie‘ seines ehemaligen Lehrers Julius Wagner-Jauregg.“32

Diese Diskrepanz, einerseits aus heutiger Sicht menschenunwürdige Behandlungen und andererseits eine „sanfte“ und im wissenschaftlichen Sinne damals 32 Kniefacz, Hans Hoff.

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noch nicht erforschte Therapieform, nämlich Therapie mit und durch Musik, in derselben Klinik anzuwenden, lässt die Frage zu, wie so etwas gleichzeitig unter einem Dach existieren konnte.33 Einerseits ist der Biografie von Hoff zu entnehmen, dass er sich in der Emigration in den Vereinigten Staaten in New York zwischen 1942 und 1949 vermehrt mit Psychiatrie/Psychotherapie und weniger mit Neurologie auseinandergesetzt hatte, fasziniert von der völlig anderen Haltung in den USA psychisch Kranken gegenüber im Vergleich zu den europäischen Ländern.34 In einem Vortrag, den er 1950 vor dem Verein für Individualpsychologie in Wien gehalten hatte, betonte er, dass „Gruppentherapie, Psychodrama und Musiktherapie [Heraushebung durch die AutorInnen] in Amerika angewendet [werden]“.35 Weiters gilt es darauf hinzuweisen, dass Hoff persönlich von Hans Sittner (1903– 1990), dem damaligen Präsidenten der Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien, kontaktiert wurde, da auch dieser während einer Studienreise in den USA Musiktherapie kennengelernt hatte (s. S. 467). Demnach bestand durch diese beiden Persönlichkeiten schon zu diesem Zeitpunkt ein erster inhaltlicher und institutioneller Austausch zwischen Psychiatrie und Musik. Insofern kann man spekulieren, dass Hoff selbst innerpsychisch einen Spagat überbrücken musste, um ab 1949 wieder in Wien an einer Psychiatrischen Klinik tätig zu sein, die sich jedoch – bedingt durch die Folgen des Nationalsozialismus – in einem gänzlich anderen Milieu und einer anderen Entwicklungsphase befand als die vergleichbaren Institutionen, die er in Amerika kennengelernt hatte. Demnach ist es umso nachvollziehbarer, dass der Vorschlag zu einem Musiktherapie-Angebot – noch dazu für die Klinik kostenlos, da sie im Rahmen der Ausbildung erfolgte – bei ihm auf fruchtbaren Boden fiel. Zu Beginn leitete von musiktherapeutischer Seite die Violinistin Editha Koffer-Ullrich (1904–1990) das Praktikum in der Psychiatrie, ab 1965 kam der Musiktherapeut und spätere Leiter der Ausbildung Alfred Schmölz (1921–1995) im Bereich der Psychosomatik dazu. Diese Zusammenarbeit zwischen der Wiener Musiktherapie-Ausbildung und der Psychosomatischen Station am Wiener AKH besteht bis heute: Einmal in der Woche findet zu Studiensemesterzeiten eine Gruppenmusiktherapie statt, die Studierenden nehmen an den Teambesprechungen teil und werden von ärztlicher Seite in einem medizinischen Se-

33 Es ist jedoch einem Briefwechsel zwischen dem schwedischen Musiktherapeuten Aleks Pontvik und Hans Sittner/Hans Hoff zu entnehmen, dass Sittner und Hoff nicht gewillt waren, „etwas in Wien aufzuziehen, was nicht hieb- und stichfest ist“. Dennoch waren die Erfahrungen mit Musiktherapie damals noch sehr neu. Zit. n. Joham, Musiktherapieentwicklung Wien, 22. 34 Hanns-Dieter Kraemer, Hans Hoff 1897–1969: Leben und Werk, Diss., Mainz 1976. 35 Ebd., 16.

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minar begleitet.36 Hoff „begleitete“ als Klinikvorstand die Musiktherapie in Wien bis zu seinem Tod 1969. Bedeutung und Rolle von Hans Hoff für die Wiener Musiktherapie: 1. Wegbereiter für die Gründung der Ausbildung und Netzwerkfunktion 2. Ermöglicht die erste musiktherapeutische Praktikumsstelle in der Psychiatrie und Psychosomatik 3. Publiziert zu Erfahrungen mit Musiktherapie (s. S. 296)

Erwin Ringel (1921–1994) Erwin Ringel war ein österreichischer Psychiater und Neurologe sowie Individualpsychologe. Er war ein engagierter und „kämpferischer“ Mediziner: Er baute ab 1948 das erste Selbstmordverhütungszentrum Europas im Rahmen der Caritas Wien auf, leitete von 1953 bis 1964 die Frauenabteilung an der PsychiatrischNeurologischen Universitätsklinik und gründete 1954 die erste psychosomatische Station in Österreich, ebenfalls an der „Klinik Hoff“, und vieles mehr.37 Ringel, ein bekennender Musikliebhaber, war bestrebt, „eine Brücke zwischen der Psychiatrie und allen möglichen Formen der Kunst, vor allem des Theaters, der Bildhauerei und der Musik, zu schaffen. Ich betrachte die Kunst als wertvolle Ergänzung des emotionalen Bereiches“, wie er in einem gemeinsamen Interview mit Alfred Schmölz um ca. 1970 festhielt.38 Im Rahmen der Musiktherapie-Ausbildung begleitete er von 1965 bis 1968 das klinische Praktikum in der Psychosomatik durch seine Vorlesung an der „Klinik Hoff“. Er wollte dies jedoch ehrenamtlich und ohne eine formale Bindung an die Universität tun.39 1973 stieg er wieder offiziell – auf Honorarbasis – in die Lehrund auch Leitungstätigkeit des Lehrgangs für Musiktherapie bis 1988 ein. Ihm folgte Peter Gathmann (geb. 1943) nach. In seinem späten Werk Unbewußt – höchste Lust. Oper als Spiegel des Lebens erwähnt Ringel die Musiktherapie als Behandlungsform beiläufig zwischen Zeilen über die Zauberflöte: 36 Detailliertere Einblicke in die Zusammenarbeit auf der Psychosomatik-Station bei Peter Gathmann, „Learning by Doing“: Eine psychosomatische Station als musiktherapeutisches Lernfeld, in: Dorothee Storz/Dorothea Oberegelsbacher, Theorie und klinische Praxis (Wiener Beiträge der Musiktherapie 3), Wien: Praesens 2003, 176–189. 37 StiftungsFonds Erwin Ringel Institut, Erwin Ringel, URL: http://www.erwinringel.at/ (abgerufen am 25. 11. 2020). 38 Musik als Beitrag zur Heilung. Die Wiener Integrierte Musiktherapie, gemeinsames Interview mit Alfred Schmölz, muss dem Inhalt nach zwischen 1970 und 1974 datiert sein. mdwA, MH1, o.Z. 39 Erwin Ringel an Editha Koffer-Ullrich, Brief vom 6. 12. 1965. Personalakt Erwin Ringel, mdwA, 2115.

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„Die Musik hat ja viele Dimensionen; eine vertikale, weil sie wie sonst nichts auf der Welt imstande ist, Emotionen aus der tiefsten Tiefe unserer Seele emporzureißen; dann eine Dimension, die über unser kleines Menschsein zum Himmel hinaufführt, zum Göttlichen […]; und dann eine dritte, die man als horizontale oder auch soziale, therapeutische Dimension bezeichnen könnte (Musiktherapie spielt bei der Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen eine wesentliche unterstützende Rolle).“40

Bedeutung und Rolle von Erwin Ringel für die Wiener Musiktherapie: 1. Medizinischer Leiter der Musiktherapie-Ausbildung im Lehrgang 1973–1988 2. Lehre: Psychosomatik-Vorlesung 1965–1968 sowie 1973–1988

Kinderklinik Lainz bzw. Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder im Pavillon 17 des Altersheims Lainz („Rosenhügel“) Andreas Rett (1924–1997) Andreas Rett, geboren in Deutschland, kam für sein Medizinstudium nach Innsbruck.41 Er wurde v. a. für die Beschreibung des Rett-Syndroms bekannt. Seine NS-Vergangenheit sowie seine Haltung behinderten Menschen gegenüber wurden kritisch untersucht und beschrieben.42 Er wurde Facharzt für Neuropädiatrie und gründete 1959 eine Abteilung für hirngeschädigte Kinder am Lainzer Krankenhaus in Wien („Rosenhügel“), deren Vorstand er im Jahr 1966 wurde. In seiner neu gegründeten Station im Lainzer Pavillon 17 ermöglichte er Editha Koffer-Ullrich, mit den jungen PatientInnen Musik zu machen: „Based on the concept that hearing was the last preserved sensory capacity of a dying person, he believed that persons with disabilities could be therapeutically reached through music. In the late 1950s he began to incorporate both occupational and music therapy in his habilitative programs.“43

Es folgte die Einrichtung eines Praktikums für Musiktherapie-Studierende Anfang der 1960er Jahre, das nach Koffer-Ullrich langjährig von der auf Retts 40 Erwin Ringel, Unbewußt – höchste Lust. Oper als Spiegel des Lebens, Wien: Kremayr und Scheriau 1990, 332–333. 41 Andreas Rett, URL: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Andreas_Rett (abgerufen am 6. 12. 2020). 42 Ernst Berger, Die Kinderpsychiatrie in Österreich 1945–1975 – Entwicklungen zwischen historischer Hypothek und sozialpsychiatrischem Anspruch, in: VIRUS – Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, Bd. 14: Schwerpunkt: Gesellschaft und Psychiatrie in Österreich 1945 bis ca. 1970, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2016, 239–248. 43 Gabriel Ronen/Bernard Dan/Walter Stögmann, From Eugenic Euthanasia to Habilitation of „Disabled“ Children: Andreas Rett’s Contribution, in: Journal of Child Neurology 24 (2009) 1, 115–127, 121.

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Station angestellten Musiktherapeutin Albertine Wesecky (1923–2010) geleitet wurde. Aus dieser Zusammenarbeit sind auch gemeinsame Publikationen hervorgegangen (s. S. 297). Rett übernahm von 1970 bis 1990 eine der medizinischen Leitungsfunktionen und eine Lehrposition für die Musiktherapie-Ausbildung. Ihm folgte Ernst Berger (geb. 1946) nach. Rett selbst hatte einen persönlichen Bezug zur Musik, er spielte Akkordeon – zur Weihnachtsfeier sogar auf der Station im Krankenhaus.44 Bedeutung und Rolle von Andreas Rett für die Wiener Musiktherapie: 1. Ermöglicht die erste musiktherapeutische Praktikumsstelle in der „Pädiatrie“ (heute: Kinder- und Jugendpsychiatrie) 2. Medizinischer Leiter der Musiktherapie-Ausbildung (1970–1990) 3. Lehre: Einführung in die Kinderheilkunde (1970–1990) 4. Co-Betreuer von 14 wissenschaftlichen Abschlussarbeiten 5. Publiziert zu Erfahrungen mit Musiktherapie (s. S. 297).

Wiener Landes-Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof („Steinhof“) Das Praktikum „Am Steinhof“ wurde 1964 unter der Direktion von Dr. Wilhelm Podhajsky (1902–1994) eingerichtet.45 Die mit der Musiktherapie-Ausbildung direkt kooperierenden Ärzte waren Otto Hartmann, Raoul Schindler und Wilhelm Solms-Rödelheim. Otto Hartmann (geb. 1924) Otto Hartmann war Mediziner, Psychiater und Neurologe sowie Psychoanalytiker. Im Zweiten Weltkrieg gelang ihm 1945 die Flucht aus Billroda, einem Nebenlager von Buchenwald. Er absolvierte das Medizinstudium in Wien, machte die Facharztausbildung für Psychiatrie und Neurologie, arbeitete danach für ein Jahr am Institut für Soziologie bei Prof. August Maria Knoll (1900–1963) und anschließend 1953 ein Jahr in der „Klinik Hoff“. Hartmann verstand sich jedoch stets als Praktiker und verließ die Universitätsklinik, da er merkte, dass „die Veröffentlichung als Allerwichtigstes“ nicht seinen Prioritäten entsprach.46 Er wechselte an die Psychiatrie „Am Steinhof“ und setzt sich von da an für ein breites und kreatives Therapieangebot für seine PatientInnen ein. Inspiriert durch Besuche von Institutionen in den USA, Holland und England, die in 44 Persönliche Mitteilung von Elena Fitzthum an Thomas Stegemann am 25. 11. 2020. 45 Editha Koffer-Ullrich, Musiktherapie – ein neues Hilfsgebiet der Medizin, in: Moderne Krankenpflege, Sonderdruck, Stuttgart: Kohlhammer 1968, 1. 46 Hartmann, Interview, 2020.

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puncto Behandlungsangebot Österreich voraus waren (Stichwort: Psychiatriereform), scheute er keine bürokratischen Hürden, um seine Visionen für die Rehabilitation psychisch Kranker umzusetzen.47 In der Österreichischen Ärztezeitung gab er dazu 1979 – mit Unterstützung von Heinrich Donat48 – eine Spezialausgabe mit dem Titel Wege aus dem Irr-Garten. Die Rehabilitation psychisch Kranker49 heraus. In diesem Band skizzierte er sein Idealkonzept der psychiatrischen Rehabilitation, in dem Musiktherapie einen Teil der medizinischen Betreuung darstellte, und welche Bausteine darin enthalten sein sollten. Hartmann wurde von Sittner und Koffer-Ullrich in Kontakt mit der Musiktherapie gebracht, und da er sonst keinerlei psychosoziale Therapiemöglichkeiten für seine PatientInnen zur Verfügung hatte, nahm er im Februar 1965 den Lehrauftrag im Rahmen des Musiktherapie-Studiums gern an. Von musiktherapeutischer Seite begleiteten Ilse Castelliz (1914–2012), Stella Mayr (1924–2013), Carlies Leitzinger (geb. 1945) und Dorothee Storz (geb. 1953) die Studierenden unter Hartmanns Primariat bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1992.50 Die Einführung in der Klinik verlief jedoch nicht ohne Spannungen: „Im Spital hat man gesagt: ‚Jetzt will er die Leute mit Singen gesund machen!‘ Es musste ja plötzlich ein Patient ausgesucht werden, es musste ein Pfleger herunterkommen, das waren ja alles Störungen. Der ist ja sonst nie aus dem Pavillon herausgekommen [der Patient, Anm.]. […] Bei den Patienten wiederum hat sich das wie ein Lauffeuer verbreitet: Wennst zum Hartmann auf den Pavillon kommst, kannst aussi geh’n!“51

Für die Pflegenden ein Zusatzaufwand, für die PatientInnen eine Ausgangszeit, da die Musiktherapie an einem anderen Pavillon innerhalb des Krankenhausgeländes stattfand. Die Musiktherapie ist seit ihrer Einführung durch Otto Hartmann mit einer Praktikumsstelle in der heutigen Klinik Penzing etabliert. Hartmann beeinflusste die inhaltliche Ausrichtung der Wiener Schule der Musiktherapie stark durch seine medizinisch-psychoanalytische Haltung. Eine ehemalige Absolventin sagte dazu in einem Vortrag, Otto Hartmann habe „sein psychiatrisches Primariat für die Begegnung mit PatientInnen geöffnet, uns sensibilisiert für Übertragung und Gegenübertragung, für den Wert des Analy-

47 Hartmann, Interview, 2020. 48 Heinrich Donat war auch ab 1976 in der Musiktherapie-Ausbildung tätig. 49 Otto Hartmann (Hg.), Wege aus dem Irr-Garten. Die Rehabilitation psychisch Kranker, in: Österreichische Ärztezeitung, Spezialausgabe (1979). 50 Hannah Riedl/Hanna Paulmichl-Fak/Thomas Stegemann, Entwicklung der Praktika im Rahmen der Musiktherapie-Ausbildung in Wien, in: Institut für Musiktherapie (Hg.), Tagungsband 60 Jahre, 94–95, URL: https://pub.mdw.ac.at/publications/0f41d939-64d1-4b5a -abb9-b778c1195dfe/ (open access verfügbar, abgerufen am 27. 9. 2021). 51 Hartmann, Interview, 2020.

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Abb. 1: Musikwagen vor dem Rehabilitationszentrum von Otto Hartmann, © Dorothee Storz

tischen in der Arbeit mit Psychotikern. Das ist ein nicht hoch genug einzuschätzendes und dankbar zu würdigendes Verdienst.“52 Bedeutung und Rolle von Otto Hartmann für die Wiener Musiktherapie: 1. Lehre: Klinisches Praktikum, Vorlesung Psychiatrische Rehabilitation (1965– 1992) 2. Medizinischer Leiter der Musiktherapie-Ausbildung (1976–1992) 3. Co-Betreuer von 19 wissenschaftlichen Abschlussarbeiten

52 Dorothea Oberegelsbacher, 40 Jahre Musiktherapie in Österreich, Zur Entwicklung einer Therapieform, Vortrag am 13. 12. 1999 beim 4. Musiktherapie-Jour-fixe des Wiener Instituts für Musiktherapie.

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Raoul Schindler (1923–2014) Raoul Schindler war Psychiater und Neurologe sowie Psychoanalytiker in Wien. Er ist weltbekannt für sein gruppendynamisches Rangmodell, und er gründete den bis heute bestehenden Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik (ÖAGG). Von Beginn des Sonderlehrgangs an waren die Musiktherapie-Studierenden verpflichtet, seine Vorlesung zur „Geistespathologie“ zu besuchen. Im Jahr 1964 erhielt er offiziell einen Lehrauftrag der Musikakademie und betreute von da an die Musiktherapie-Studierenden einerseits vorbereitend zum Thema der Psychiatrie und Gruppendynamik sowie im klinischen Praktikum bei den Teambesprechungen auf der Station.53 Unter Schindlers Primariat betreute Georg Weinhengst (1918–2003) als musiktherapeutische Leitung des Praktikums die Studierenden.54 Schindler blieb konstanter Begleiter bis 1992. In einem Beitrag zu den psychologischen Grundlagen von Musik und Bewegung schrieb Schindler zur Musiktherapie: „Die Technik der Musiktherapie […] ist jedoch keinesfalls einfach. Wir dürfen z. B. nicht in den Fehler verfallen, Stimmungen mit gegenteiligen Motiven bekämpfen zu wollen, etwa dem Depressiven lustige Musik zu verordnen. Der Depressive wird in seiner Bedrücktheit für die lustige Musik gänzlich unzugänglich sein, ja er wird dieses Nichtmitgehen-Können fühlen und als Bestätigung seines Elends werten. In der Musiktherapie spricht man daher von einem sogenannten Iso-Gesetz: Man muß versuchen, der Stimmung des Kranken zu begegnen. Musiktherapie ist daher keineswegs einfach und muß sehr sorgfältig gelernt werden, soll sie nicht in Scharlatanerie ausarten und eher Schaden als Nutzen ausrichten.“55

Bedeutung und Rolle von Raoul Schindler für die Wiener Musiktherapie: 1. Lehre: Psychiatrie, Einführung in die Propädeutik der Gruppendynamik, klinisches Praktikum (1964–1992) 2. Co-Betreuer von vier wissenschaftlichen Abschlussarbeiten 3. Publiziert zu Erfahrungen mit Musiktherapie (S. 296)

53 Eine genaue Aufschlüsselung des Fächerspiegels findet sich bei J. Joham, Musiktherapieentwicklung, Wien: Springer 1999. 54 Näheres zu dieser Zusammenarbeit bei Mössler, Wiener Musiktherapie, 134–135. 55 Raoul Schindler, Psychologische Grundlagen von Musik und Bewegung, in: Kurt Pahlen (Hg.), Musiktherapie, München: Heyne 1973, 107–116, 114.

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Wilhelm Solms-Rödelheim (1914–1996) Wilhelm Solms-Rödelheim stammte aus Straßburg, wuchs in Deutschland auf und studierte Medizin in Frankfurt, Freiburg und Heidelberg. Er wurde Psychiater und Neurologe, später auch Psychoanalytiker. Er kam 1945 am Ende des Zweiten Weltkriegs wegen einer Hepatitis-Erkrankung nach Wien zur Ausheilung und erhielt die österreichische Staatsbürgerschaft. Hier arbeitete er zunächst mit Hans Strotzka (1917–1994) im Kopfverletzten-Lazarett und begann anschließend an der Psychiatrischen Universitätsklinik als Facharzt. Diese verließ er jedoch 1959 nach Kontroversen mit Hans Hoff.56 Im Jahr 1968 wurde er als Nachfolger von Wilhelm Podhajsky zum Direktor des Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt Wien Baumgartner Höhe (vormals Klinik Am Steinhof) bestellt.57 Solms-Rödelheim übernahm ab 1973 sowohl einen Lehrauftrag als auch eine medizinische Leitungsfunktion neben Andreas Rett und Erwin Ringel. Er legte beide Funktionen jedoch bereits 1975 nach inhaltlichen Unstimmigkeiten im Zuge einer Abschlussprüfung wieder zurück und übergab die medizinische Leitung an Otto Hartmann, der als Lehrender ja bereits seit 1965 mit der Musiktherapie verbunden war.58 Bedeutung und Rolle von Wilhelm Solms-Rödelheim für die Wiener Musiktherapie: 1. Medizinischer Leiter der Musiktherapie-Ausbildung (1973–1975) 2. Lehre: Psychiatrische Rehabilitation (1973–1975) 3. Co-Betreuer einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit

Überblick über die weitere Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen Musiktherapie und Medizin in Wien Hans Strotzka, ein bedeutender österreichischer Sozialpsychiater, übte aufgrund seiner Lehre und Konzepte auch wesentlichen Einfluss auf die Musiktherapie in Wien aus, da seine Vorlesungen zur Entwicklungspsychologie und Tiefenpsychologie von 1972 bis 1987 eine verpflichtende theoretische Grundlage für die Musiktherapie-Studierenden des Lehrgangs darstellten.59 Er kooperierte jedoch nie formal mit der Musikakademie.60 56 Sabine Zaufarek, Wilhelm Graf Solms zu Rödelheim – Chronologie, URL: https://www.psyal pha.net/de/biografien/wilhelm-graf-solms-roedelheim/wilhelm-graf-solms-roedelheim-chr onologie (abgerufen am 15. 12. 2020). 57 Personalakte Wilhelm Solms-Rödelheim, Lebenslauf. mdwA. 58 Solms-Rödelheim an Alfred Schmölz, Brief vom 12. 6. 1975. mdwA, MH2, 2712/75. 59 Joham, Musiktherapieentwicklung Wien.

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Die in diesem Beitrag dargestellten Mediziner wurden im Lauf der Zeit von anderen MedizinerInnen abgelöst, die hier nur kurz erwähnt werden können. Zu diesen sind u. a. zu zählen: Ida Cermak (1917–1993), Heinrich Donat (geb. 1942), Peter Gathmann (geb. 1943), Heinz Krisper (Lebensdaten unbekannt), Alfred Oppolzer (geb. 1950), Ernst Berger sowie Rainer Fliedl (geb. 1956) und Klaus Vavrik (geb. 1961).61 Die drei oben genannten Kliniken blieben konstant bis heute als praktische Ausbildungsinstitutionen für die Musiktherapie bestehen. Ab 1985 setzte eine Erweiterung der stationären psychiatrischen bzw. psychosomatischen Institutionen (Universitätsklinikum Tulln, Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien, Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien) und Arbeitsfelder ein, zuerst durch die Integration von Musiktherapie in das Sozialpsychiatrische Zentrum Braungasse (aufrecht bis 1996). Hinzu kamen ab 1992 nach und nach die Bereiche Kinderpsychosomatik (AKH Wien), Sonder- und Heilpädagogik an einer Schule (Zennerstraße Wien), Neurologie (AKH Wien), Geriatrie und Gerontopsychiatrie (Pflegewohnheim Simmering), Intensivmedizin (AKH Wien), pädiatrische Onkologie (St. Anna Kinderspital) sowie der Bereich Migration und Trauma (Integrationshaus Wien).62

Einfluss der Musiktherapie auf die Medizin in Wien Von der Kooperation zwischen der Medizin und der Musiktherapie hat vermutlich die Profession Musiktherapie mehr profitiert als die Medizin, da sie sich eine klinisch differenzierte Anwendung erarbeiten konnte. Doch welchen Einfluss könnte die Musiktherapie auf die Medizin – ausgehend von den besprochenen Musiktherapie-Praktika an den Wiener Kliniken – gehabt haben? Anhand einiger Zitate aus der damaligen Zeit von den Medizinern selbst soll ein Eindruck davon gegeben werden, was diese neue Behandlungsform im Kontext der Psychiatrie zu bewegen vermochte.

60 An der mdw ist keine Personalakte zu Hans Strotzka angelegt. 61 Details bei Joham, Musiktherapieentwicklung Wien. 62 Riedl/Paulmichl-Fak/Stegemann, Entwicklung der Praktika.

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1963: Erfahrungen mit Musiktherapie an einer psychiatrischen Klinik – Gastager und Hoff Hans Hoff und Heimo Gastager (1925–1991, Psychiater an der Landesnervenklinik Salzburg) beschreiben, wie die Musiktherapie als Behandlungsform an der „Klinik Hoff“ in Wien eingeführt wurde und dass „die Einbeziehung der Musiktherapie in die psychiatrische Behandlung eine wertvolle Bereicherung unseres therapeutischen Rüstzeugs dar[stellt]“.63 Zur Stellung der Musiktherapie in der Medizin meinen sie: „[S]o besteht u. E. kein Zweifel, dass es sich um eine eigenständige Therapieform handelt, welche von der Schulmedizin durchaus akzeptiert werden kann, sofern sie sich, wie alle anderen Behandlungsmethoden, in den Gesamtbehandlungsplan einfügt.“ Speziell die „Wiener Schule“ [Wiener Schule der Musiktherapie, Anm. d. AutorInnen] wird dahingehend gewürdigt, als sie „den Standpunkt einer multifaktoriellen Genese von psychischen Erkrankungen einnimmt“ und „zur Synthese von Anschauungen beigetragen [hat], welche sich noch vor nicht allzu langer Zeit gegenseitig ausschließen wollten, wie vor allem die Frage der Psychogenese und der Somatogenese“.64 Dass eine exotische und neuartige Therapieform im Kontext einer Psychiatrie, die sich zeitgleich Methoden wie Elektroschocks und Lobotomie bediente, solch behandlungsrelevante Impulse gegeben hat, erscheint bemerkenswert, wie auch am Ende des Artikels festgehalten wird: „Zusammenfassend möchten wir feststellen, daß durch die Einbeziehung der Musiktherapie die therapeutischen Möglichkeiten in der Psychiatrie eine wertvolle Bereicherung erfahren haben. Vor allem sehen wir darin eines der Tore, welche uns den Zugang zum psychotisch gestörten Menschen ermöglichen.“65

1973: Psychologische Grundlagen von Musik und Bewegung – Schindler „Musiktherapie ist eine Hilfstherapie, zumeist eingebaut in ein psychotherapeutisches Therapiekonzept. Es ist nicht zu erwarten, daß Musik allein Komplexe aufzulösen vermag. Aber sie hat ohne Zweifel ein großes Aufgabengebiet in der Vorbereitung der Kranken, in der Aufschließung zu jener gelösten Stimmung, in der sie der notwendigen inneren Schau und Erkenntnis zugänglich sind.“66

63 Heimo Gastager/Hans Hoff, Erfahrungen mit Musiktherapie an einer psychiatrischen Klinik, in: Ärztliche Praxis 15 (1963) 6, 1507–1508, 1508. 64 Ebd., 1508. 65 Ebd., 1508. 66 Schindler, Psychologische Grundlagen, 115.

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Der musiktherapeutische Einsatz wird sowohl bei Hoff als auch bei Schindler als ein methodisch möglicher psychotherapeutisch orientierter Zugang zum psychisch kranken Menschen gewürdigt, der das Behandlungsrepertoire hilfreich ergänzt und der ärztlichen Behandlung neuen Handlungsspielraum einräumt.67

1973: Musiktherapie bei entwicklungsgestörten Kindern – Rett „Das hirngeschädigte Kind ist zu körperlichen Leistungen eher bereit, wenn gezielte musikalische Unterstützung gegeben wird. Viele motorische Leistungen bei bewegungsgestörten Kindern können so verbessert oder erstmals produziert werden. Es scheint, daß auch hier Musik in erster Linie Hemmungen vermindert, also eine Hilfestellung im Überwinden von an sich möglichen, aber nicht in die Realität umsetzbaren Aktivitäten fördert.“68

In diesen Zeilen wird ein verhaltenstherapeutisch-funktioneller Ansatz der Musiktherapie beschrieben und gewürdigt, der auch der Arbeitsweise von Koffer-Ullrich und Wesecky zugeschrieben wird.69 In Publikationen von Rett und Wesecky ist dazu Näheres nachzulesen.70

Exkurs: Die musiktherapeutische Arbeit mit den englischen Handglocken Otto Hartmann bringt im Interview71 die englischen Handglocken (engl.: musical handbells) zur Sprache, die er als behandelnder Arzt so geschätzt hatte für die unkomplizierte Bildung eines Gruppengefühls unter den PatientInnen, und bedauert, dass sie „nicht modern“72 geworden sind. Historisch ist der musiktherapeutische Einsatz der englischen Handglocken dem in Amerika lebenden Ärzte-Ehepaar Martha Brunner-Orne (1894–1982) 67 Die Degradierung der Musiktherapie zu einer „Dosenöffnertherapie“, die dazu dient, PatientInnen für die „echte“ Therapie vorzubereiten, wie es in der weiteren Geschichte der Musiktherapie oftmals heißen wird, erscheint in diesen Zeilen nicht vordergründig, sondern das Kooperative und wie die unterschiedlichen Ansätze einander ergänzen können steht im Vordergrund. 68 Andreas Rett, Musiktherapie bei entwicklungsgestörten Kindern, in: Pahlen (Hg.), Musiktherapie, 184–188, 185. 69 Mössler, Wiener Schule der Musiktherapie. 70 Andreas Rett/Albertine Wesecky, Musiktherapie bei hirngeschädigten-entwicklungsgestörten Kindern, in: Gerhart Harrer (Hg.), Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsychologie, Stuttgart: Gustav Fischer 1975. 71 Hartmann, Interview, 2020. 72 Ebd.

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und Frank Orne (1893–1965) zu verdanken, da sie diese in den Krankenhauskontext eingeführt hatten,73 und wieder einmal war es Koffer-Ullrich, die das Wissen um dieses Instrumentarium von ihrer Amerika-Reise mit nach Wien brachte.74

Abb. 2: Englische Handglocken75

Diese Handglocken kamen v. a. in den Zeiten des Sonderlehrgangs zum Einsatz, und zur Spielweise dieser Glocken schreibt Rita Egger (1924–2020): „Englische Handglocken […] sind Glocken mit einem Stiel oder Handgriff, die leicht genug sind, um in der Hand gehalten und angeschlagen zu werden. Ihr Klöppel schwingt nur in einer Ebene und wird durch eine federnde Halterung nach dem Anschlag vom Glockenmantel entfernt, so daß der Ton frei ausschwingen kann.“76

73 Martha Brunner-Orne/Frank Orne, Englische Handglocken und ihre Verwendung in der psychiatrischen Klinik, in: Hildebrand Teirich (Hg.), Musik in der Medizin. Beiträge zur Musiktherapie, Stuttgart: Fischer 1958, 98–103. 74 Joham, Musiktherapieentwicklung Wien, 20. 75 Aus Rita Egger, Beim Glockenspiel die dunklen Gedanken vergessen, Die Praxis der Englischen Handglocken und anderer Eintoninstrumente in der Musiktherapie, Innsbruck: Wort und Welt Verlag 1981, 4. 76 Ebd., 7.

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Hinsichtlich des musiktherapeutischen Einsatzes der Handglocken beschreibt sie unterschiedliche Themen und Ziele, die damit angeregt werden können und die es „mit dem aufgeschlossenen Arzt […] innerhalb eines Behandlungsplanes sinnvoll anzuwenden“77 gilt: 1. Konzentrations-, Ordnungs- und Gesellschaftsspiele 2. Improvisation 3. Spiel nach Buchstabenvorlagen 4. Spiel nach Notenvorlagen Hartmann bezieht sich in seiner Schilderung darauf, dass es mit den Handglocken „ganz einfach [ist], man kann sagen ‚Du bist A, Du bist Cis‘, und dann deutet sie [die Musiktherapeutin, Anm. der AutorInnen] auf den [Patienten, Anm.]“.78 Auch Hoff sprach sich explizit für die Verwendung der Handglocken aus, da „dieses Instrumentarium besonders geeignet als Mittel non-verbaler gruppenbildender Kommunikationsförderung [sei]“, und Schindler konstatierte, dass mit ihnen „völlig isolierte und introvertierte schizophrene Defekte hier ihren Weg in eine Gemeinschaft fanden“.79

Zusammenfassung Abschließend soll noch einmal festgehalten werden, dass die Kooperation zwischen Medizin und Musiktherapie in Wien ab 1959 auf den folgenden Ebenen erfolgte: 1. Strukturell/institutionell: – Wegbereitung und Mithilfe zur Einrichtung der Ausbildung (Hoff) – Zurverfügungstellung von Praktikumsstellen an Wiener Kliniken (Hoff, Rett, Schindler, Hartmann) – Co-Leitung der Ausbildung zwischen 1970 und 1992 (Hartmann, Rett, Ringel, kurz: Solms-Rödelheim) 2. Inhaltlich: – Lehrtätigkeit in der Musiktherapie-Ausbildung (Hartmann, Rett, Ringel, Schindler) – Co-Betreuung von wissenschaftlichen Abschlussarbeiten (Hartmann, Rett, Schindler) 77 Ebd., 9. 78 Hartmann, Interview, 2020. 79 Hans Hoff und Raoul Schindler, zit. nach Egger, Beim Glockenspiel die dunklen Gedanken vergessen, 8.

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– Publikationen/Berichte über Musiktherapie: selbstständige und ggf. mit MusiktherapeutInnen gemeinsam (Hoff, Rett, Schindler) Die Vernetzung mit der Medizin hat die Entwicklung der Musiktherapie bis zu ihrer heutigen Professionalisierung sehr unterstützt, da einerseits differenzierte Erfahrungen in der Praxis, integriert in einen gegenseitigen Austausch, gemacht werden konnten und damit ein breiter Erfahrungsschatz für die heutige Eigenständigkeit der Disziplin erworben werden konnte. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Bedeutung der oben ausführlich vorgestellten Mediziner für die theoretischen Konzepte und die Methodenlehre der Wiener Schule der Musiktherapie insgesamt in der Wegbereitung zu einem psychotherapeutischen Therapieverständnis liegt: Bis auf Rett brachten sie vor allem Impulse und Konzepte aus der Psychoanalyse, der Individualpsychologie sowie Ansichten der Sozialpsychiatrie (Stichwort: „psychiatrische Rehabilitation“) ein. Diese Ansätze – basierend auf der konstanten Zusammenarbeit an den drei dargestellten Kliniken und den personellen Beziehungen – bilden bis heute das theoretische Fundament der Wiener Musiktherapie, das sich stets weiterentwickelt, jedoch in dieser Verwurzelung auch im neu eingerichteten BA-/MA-Curriculum wiederzufinden ist.80 Das an den Anfang gestellte Zitat von Koffer-Ullrich aufgreifend, kann in Bezug auf die Musiktherapie(-Ausbildung) in Wien konstatiert werden, dass diese von Beginn an durch die Kooperation von MedizinerInnen und MusiktherapeutInnen entscheidend geprägt wurde und – vice versa – durchaus auch die Musiktherapie Einfluss auf die medizinischen Institutionen genommen hat. Zum Ausblick auf die weitere Entwicklung schließen wir mit einem Zitat des US-amerikanischen Psychologen James Hillman (1926–2011): „Die Zukunft der Medizin als Heilkunst liegt in der Reaktivierung der Künste.“81

80 Curriculum der Musiktherapie-Ausbildung, URL: https://www.mdw.ac.at/mth/studium/ (abgerufen am 20. 12. 2020). 81 James Hillman, zit. nach Tonius Timmermann/Dorothea Oberegelsbacher, Praxisfelder und Indikation, in: Hans-Helmut Decker-Voigt/Dorothea Oberegelsbacher/Tonius Timmermann, Lehrbuch Musiktherapie, 3. Aufl., München: Ernst Reinhardt 2020, 21–26, 21.

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3. Aushandlungsprozesse und soziale Bewegungen

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Der Diskurs um die Impfpflicht – eine rechtshistorische Analyse The discourse about compulsory vaccination – a legal historical analysis Abstracts Seit 1945 ist in Österreich immer wieder die Einführung einer Impfpflicht diskutiert worden. Die damals angestellten Erwägungen waren aber nicht neu; die Debatte über die Impfpflicht hatte bereits im 19. Jahrhundert begonnen und war seitdem beständig fortgeführt worden. Eine Analyse aller in Österreich erlassenen Impfgesetze zeigt, dass – mit Ausnahme des Pockenschutzgesetzes, das während der Besetzung durch die Alliierten verabschiedet worden ist – nie eine allgemeine Impfpflicht eingeführt worden ist. Vielmehr hat Österreich bei Impfungen immer am Prinzip der Freiwilligkeit festgehalten. Dies, ebenso wie die Maßnahmen, die im Laufe der Geschichte getroffen worden sind, um die Impfbereitschaft der Bevölkerung zu sichern, thematisiert der vorliegende Beitrag. Since 1945, the introduction of compulsory vaccinations has been subject to discussion in Austria. The arguments presented in this debate, however, were not new, for they date back to the 19th century. Save for the compulsory smallpox vaccination, which was decreed during the time of occupation by the Allies, there have never existed compulsory vaccinations in Austria. Rather than imposing compulsory vaccinations on its population, Austria has always stood by the principle of voluntary vaccinations. In addition to these topics, this contribution demonstrates how the Austrian government has incentivised people over time to opt for being vaccinated. Keywords Pockenschutzimpfung – Impfpflicht – Impfaktionen – Impfschadengesetz – Patientenautonomie Keywords: Smallpox vaccination – compulsory vaccination – vaccination campaigns – Vaccination Damage Act – patient’s autonomy

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Michael Memmer

In der Zeit von 1945 bis heute wurde immer wieder die Einführung einer Impfpflicht gefordert; die rechtswissenschaftliche Literatur hat sich in der jüngsten Vergangenheit insbesondere mit grundrechtlichen Fragen einer Impfpflicht auseinandergesetzt.1 Dabei ist die Diskussion in Bezug auf die Impfpflicht so alt wie die Idee der Schutzimpfung selbst. Ein Blick zurück in die Geschichte der Schutzimpfungen und Impfgesetze2 zeigt, dass das Thema „Impfpflicht – Ja oder Nein“ bereits im 19. Jahrhundert heftige Kontroversen ausgelöst hat. Ein Impfzwang im Sinne einer Zwangsimpfung, also einer „gewaltsamen Nöthigung oder mit polizeilicher Assistenz vorgenommenen Impfung“3, hat in Österreich nie bestanden. Bei der Impfpflicht ist zwischen einer indirekten Impfpflicht, bei der die Zuerkennung bestimmter finanzieller Unterstützungen oder die Teilnahme an bestimmten Veranstaltungen von einer Impfung abhängig gemacht wird, und einer direkten, bei der die Ablehnung der Impfung mit einer Verwaltungsstrafe verbunden ist, zu unterscheiden. Ziel dieses Beitrags ist es aufzuzeigen, wie sich diese Diskussion entwickelt hat und wie diese Entwicklung den Disput nach 1945 beeinflusst hat.

Die Wurzeln der Impfdiskussion im beginnenden 19. Jahrhundert Bereits wenige Monate nach Bekanntwerden der Jenner’sche Vakzination gegen Pocken setzte sich der niederösterreichische Protomedicus Pasqual Joseph von Ferro (1753–1809) als höchster Sanitätsbeamter für eine Verbreitung der Schutzimpfung in Österreich unter der Enns ein.4 Am 20. März 1802 wurde durch ein Circular der niederösterreichischen Landesregierung die Kuhpockenimp1 Z. B. Christian Kopetzki, Impfpflicht und Verfassung, in: Recht der Medizin 24 (2017) 2, 45; Wolfgang Kröll, Schutzimpfungen – rechtliche, ethische und medizinische Aspekte, in: Journal für Medizin- und Gesundheitsrecht 2 (2017) 1, 62–63; Sebastian Allerberger, Impfpflicht vor Schuleintritt und Grundrechte, in: Zeitschrift für Gesundheitsrecht 3 (2018) 3, 102–108; Anja Krasser, Zur grundrechtlichen Zulässigkeit einer Impfpflicht, in: Recht der Medizin 27 (2020) 4, 136–142. 2 Impfungen, wie z. B. gegen Tollwut, Diphtherie oder Masern, die nicht in Spezialgesetzen geregelt wurden, bleiben in diesem Beitrag außen vor. 3 Joseph von Schneller, Entwurf eines Impfgesetzes für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, in: Allgemeine Wiener medizinische Zeitung 18 (1873), 359–360, 371–372, 383–384, 394–395 und 407–408, 383. 4 Hierzu insb. Heinz Flamm/Christian Vutuc, Geschichte der Pocken-Bekämpfung in Österreich, in: Wiener klinische Wochenschrift 122 (2010) 265–275; Heinz Flamm, Die Geschichte der Staatsarzneikunde, Hygiene, Medizinischen Mikrobiologie, Sozialmedizin und Tierseuchenlehre in Österreich und ihrer Vertreter, Wien: ÖAW 2012, 143–148; Michael Memmer, Die Geschichte der Schutzimpfungen in Österreich. Eine rechtshistorische Analyse, in: Gerhard Aigner u. a. (Hg.), Schutzimpfungen – Rechtliche, ethische und medizinische Aspekte, Wien: Verlag Österreich 2016, 7–36 (mit weiterer Literatur).

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fung allgemein bekannt gemacht und „als ein sicheres Verwahrungsmittel gegen die natürlichen Blattern“ empfohlen.5 Mittels Hausbriefen und Aufrufen sollte die Bevölkerung von der Kanzel herab und bei Taufen an ihre elterliche Pflicht erinnert werden, ihre Kinder impfen zu lassen. Entgegen den Bemühungen der Ärzte griff die Impfbegeisterung nicht auf die Bevölkerung über. Ein weiteres Circular der niederösterreichischen Landesregierung vom 25. Dezember 18056 forderte alle Eltern und Vormünder zur Impfung ihrer Kinder auf. Bald trat neben die Aufforderung die Drohung, die 1808 in den mittelbaren Zwang mündete.7 Ungeimpfte wurden von Stipendien bzw. von der Aufnahme in Versorgungsanstalten und Waisenhäuser ausgeschlossen, später wurde auch noch der Entzug der Armenunterstützung verfügt. Damit wurde ein indirekter Impfzwang eingeführt. Ob der Staat Eltern verpflichten müsse, ihre Kinder impfen zu lassen, war von Anfang an umstritten. 1811 wurde eine solche allgemeine Impfpflicht von Kaiser Franz I. selbst – wegen der Unsicherheiten, die mit der Pockenimpfung verbunden waren – abgelehnt: „Bevor die gänzliche Überzeugung nicht vorhanden ist, dass die Vaccination ganz vor den natürlichen Pocken schütze, kann von Seiten des Staates nicht zwangsweise vorgegangen werden.“8 Ein Impfzwang hätte massiv in die im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB)9 grundgelegten Freiheitsrechte des/der Einzelnen eingegriffen. § 16 ABGB bestimmt, dass „jede Person angeborne und schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte [hat]“. Dazu führte Franz von Zeiller (1751–1828), einer der Väter des ABGB, aus: „So ist jeder Mensch als eine Person zu betrachten; er darf nicht, gleich einer Sache, als Mittel zu beliebigen Zwecken anderer gebraucht werden. […] Die allgemeinen Rechte der Menschen gründen sich auf die natürliche Fähigkeit, sein eigenes Wohl wahren und befördern zu können.“10

Ein Eingriff des Staates in diese Persönlichkeitsrechte war (und ist auch heute noch) nur innerhalb enger Grenzen erlaubt. 5 Sr. k.k. Majestät Franz des Zweyten politische Gesetze und Verordnungen für die Oesterreichischen, Böhmischen und Galizischen Erbländer (PGS), Bd. 17, Wien: Hof- und StaatsDruckerey 1806, Nr. 22; vgl. auch Hofkanzlei-Dekret (HfKD), 21. Februar 1812, abgedruckt in: Joseph Kropatschek/Wilhelm Goutta, Sammlung sämmtlicher politischer und Justiz-Gesetze, Bd. 31, Wien: Geistinger 1815, Nr. 57, 128. 6 Anhang zur Wiener Zeitung (1805) 104, 5613. 7 So der in der Vorschrift 1808 enthaltene Aufruf an die Eltern: HfKD 28. Jänner 1808 = PGS, Bd. 30, Nr. 11, auch abgedruckt in Medicinische Jahrbücher des k.k. österreichischen Staates 1 (1812), 29. 8 Zit. n. F. Presl, Zur Geschichte der Impfung in Österreich, in: Wiener klinische Wochenschrift 1 (1888) 34, 703–705, 705. 9 Das ABGB war am 1. Jänner 1812 in Kraft getreten. 10 Franz von Zeiller, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, Bd. 1, Wien: Geistinger 1811, 103, 107.

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Die Impfdiskussion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Impfskepsis nach wie vor groß. Religiöse Motive, die fehlende Kenntnis der medizinischen Zusammenhänge, Impfdurchbrüche und die Übertragung von Krankheiten (wie z. B. Syphilis) hatten zur Ablehnung der Arm-zu-Arm-Impfung geführt.11 Der anlässlich der geplanten Revision der Impfvorschriften vorgelegte Gesetzesentwurf des Wiener Hof- und Stadtphysikus Alois Stuhlberger (1794–1861) löste eine intensive Impfpflicht-Debatte aus.12 Die Befürworter einer Impfpflicht sprachen sich für einen direkten Impfzwang aus, wonach jede und jeder im Lande geimpft sein müsse und dies durch gesetzliche Regelungen durchzuführen sei. Zur Stützung ihrer Forderung verwiesen die Befürworter auf ausländische Vorbilder wie Preußen und Frankreich und die geringeren Infektionszahlen in Ländern oder Armeen mit Impfpflicht, womit aus ihrer Sicht die Effektivität der Impfung außer Streit stand.13 Außerdem hatte sich nach Meinung der Verfechter einer direkten Impfpflicht der in Österreich geltende indirekte Impfzwang als unwirksam erwiesen, weil sich die Sanktionen bei einer Weigerung auf die Entziehung von Benefizien (wie z. B. Stipendien, Armenunterstützung) bezogen und dies nur eine Minorität der Bevölkerung berührt hatte.14 Die Gruppe der Impfpflichtgegner war inhomogener als jene der Befürworter: Neben einigen Vertretern, die generell eine Impfung bekämpften, weil sie die Wirkung der Impfung anzweifelten oder sie aus religiösen Gründen ablehnten,15 wurde von anderen die Wirkung der Pockenschutzimpfung zwar außer Streit gestellt, eine Impfpflicht aber abgelehnt. Die Argumente der Impfpflichtkritiker lagen im juristischen und im psychologischen Bereich. So wurde das in § 16 ABGB verankerte Selbstbestimmungsrecht in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt: 11 Schneller, Entwurf eines Impfgesetzes, 359–360. Siehe auch Memmer, Die Geschichte der Schutzimpfungen in Österreich, 13–15, 28–35. 12 Ebd., 19–23. 13 Z. B. Gustav Wertheim, Protokoll der Sitzung vom 21. October 1864, in: Wochenblatt der Zeitschrift der k.k. Gesellschaft der Ärzte in Wien 20 (1864), 410–412, 410; Heinrich Auspitz, Über die Impffrage, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 23 (1873) 2, 31–35; Schneller, Entwurf eines Impfgesetzes, 360, 372; Leopold Oser, Ueber die Nothwendigkeit eines neuen Impfgesetzes für Oesterreich, in: Vierteljahresschrift für Dermatologie und Syphilis 7 (1880), 27–49, 29–32; Moriz Kaposi, Zur Bekämpfung der Blattern, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 35 (1885) 48, 1482–1483; Hermann Fröhlich, Militärmedicin. Kurze Darstellung des gesamten Militär-Sanitätswesens, Braunschweig: Verlag Friedrich Wreden 1887, 459. 14 Memmer, Die Geschichte der Schutzimpfungen in Österreich, 15. 15 Ebd., 28–35; Katharina Süß, Impfen: Ja oder Nein? Eine historische Betrachtung der Impfdebatte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum im Vergleich zur Gegenwart, in: historiaPLUS 6 (2019), 151–182.

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„Wenn aber irgendein Recht den stolzen Titel eines angeborenen verdient, so ist es wohl das, welches wir in der Verfügung über unseren Körper, über unser Fleisch und Blut in Anspruch nehmen. [Durch dieses Persönlichkeitsrecht] ist auch der wohlmeinendsten Absicht des Gesetzgebers eine natürliche Grenze gesetzt und nur auf einem Umwege durch das Medium einer moralischen Eroberung wird er sich unserer Ansicht nach dieses Gebietes bemächtigen dürfen.“16 „Der Staat [soll] zur Durchführung einer Maßregel den direkten Zwang nur dann in Anwendung bringen, wenn er hierzu durch eine große Nothwendigkeit aufgefordert wird, wenn andere Mittel fehlen, und wenn der angestrebte Erfolg durch die Zwangsmaßregel unzweifelhaft erreicht werden kann.“17

Die Bedingungen für einen Impfzwang waren jedoch nach Ansicht vieler Landesstellen nicht gegeben, „weil einerseits nach dem Gutachten aller Aerzte die Impfung keinen unbedingten Schutz gegen die Blatternseuche gewährt, und weil andererseits die genaue Befolgung der bereits bestehenden bezüglichen Vorschriften geeignet sei, der immerhin höchst wohltäthig wirkenden Impfung die mögliche Ausbreitung zu verschaffen“.18

Daneben waren es psychologische Argumente, die ins Treffen geführt wurden. Manche Kritiker sahen in einem Impfgesetz sogar eine in Bezug auf die Impfbereitschaft kontraproduktive Maßnahme: „Bedenkt man […], dass gerade da sich die grösste Renitenz kundgibt, wo Zwangsmassregeln stattfinden, so dürfte man gewiss der Ansicht beipflichten, dass die Einführung des directen Impfzwangs nicht zu empfehlen sei.“19

Außerdem war klar, dass eine direkte Impfpflicht allenfalls zu einer Strafe, nicht aber zu einer Impfung führt, weshalb auch über eine direkte Impfpflicht keine Erhöhung der Durchimpfungsrate erzielbar erschien.20 Eine Einigung der Befürworter und Kritiker der Impfpflicht war, zumal auf verschiedenen Ebenen argumentiert wurde, nicht möglich. Die Bruchlinie zog sich nicht nur quer durch die Bevölkerung, sondern auch quer durch die Erb16 Gustav Wertheim, Gutachten der k.k. Gesellschaft der Aerzte in Angelegenheit der Vaccinationsgesetzgebung, in: Wochenblatt der Zeitschrift der Gesellschaft der Aerzte 21 (1865) 2, 9–13. 17 Kärntner Landesausschuss, Sitzung am 10. Oktober 1864, zit. n. Klagenfurter Zeitung, 24. 10. 1864, 972. 18 Ebd. 19 Josef Herzog, Bericht Wissenschaftliche Plenarversammlung des Doctoren-Collegiums, in: Allgemeine Wiener medizinische Zeitung 9 (1864), 206; Oser, Nothwendigkeit eines neuen Impfgesetzes, 48. 20 Schneller, Entwurf eines Impfgesetzes, 383: „Streng genommen ist eine Geldstrafe doch kein Ersatz für die Impfung.“ Joseph von Schneller (1814–1885), der für die direkte Impfpflicht eintrat, hatte im Auftrag des Obersten Sanitätsrats einen Gesetzesentwurf zur allgemeinen Impfpflicht ausgearbeitet.

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lande. Von allen Landesstellen der Monarchie sprachen sich in den 1860er Jahren nur Salzburg, Schlesien, Dalmatien und die Bukowina für einen Impfzwang aus, alle anderen Kronländer traten dagegen auf.21 Das Ministerium beschloss schließlich auf der Grundlage der vorgelegten Stellungnahmen, den Antrag auf Einführung des Impfzwangs nicht weiter zu verfolgen. Man hielt an der Freiwilligkeit der Impfung fest, wollte aber verstärkt darauf hinwirken, „dass die Impfung zugänglicher und zweckentsprechender gemacht werde“.22 Dementsprechend sah man als Mittel zur Bekämpfung der Impfskepsis neben der Bereitstellung eines sicheren Impfstoffs (in Form animaler anstatt humanisierter Lymphe) die Aufklärung an: „Um das Vertrauen zur Impfung zu wecken und zu beleben, wird es Sache der Aerzte, Schullehrer, Seelsorger und Gemeindevertreter, sowie einflussreicher Persönlichkeiten überhaupt sein, durch Lehre und Beispiel, nöthigenfalls durch ernsthafte Zureden besondere die Eltern im Interesse der Gesundheit ihrer Kinder für die Impfung zu gewinnen. Die Presse kann hier noch durch Kalender, Zeitungen, Flugblätter im geeigneten Momente ein Uebriges thun.“23

Das Epidemiegesetz 1913 Ab den 1880er Jahren wurde immer öfter der Ruf nach einem modernen Epidemiegesetz laut. Anfangs wollte man noch eine Impfpflicht in das Gesetz einfügen,24 nahm jedoch bald wegen der diesbezüglich heftigen Kontroversen davon Abstand, weil sonst die dringenden legislativen Maßnahmen in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten verzögert worden wären.25 Das im April 1913 verabschiedete Epidemiegesetz (EpiG) sah schließlich keine Impfpflicht vor. Durch den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verlor das Gesetz seine Gültigkeit; es wurde mit Verordnung vom 14. Juli 193926 durch das deutsche Reichsseuchengesetz27 ersetzt. Nach dem Krieg wurde das Epidemiegesetz 1913 mit dem Rechts-Überleitungsgesetz (R-ÜG) 194728 wieder mit einigen Abänderungen und Ergänzungen in Kraft gesetzt. Neu war u. a. § 17 Abs. 3, der nach der 21 Ebd. Vgl. z. B. auch Neue Freie Presse, 23. 10. 1864, 2. 22 Erlass des Staatsministeriums 17. November 1865, Z. 509, zit. n. Schneller, Entwurf eines Impfgesetzes, 383. 23 Ebd. 24 Regierungsvorlage (RV) Nr. 88 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Herrenhauses des Reichsrats (BlgHH), XVIII. Session, 1908, 116–117. 25 Ebd. Vgl. auch Ausschussbericht (AB) 48 BlgHH, XIX. Session, 1909, 15. 26 dRGBl. 1939, S. 1261 und Gesetzblatt für das Land Österreich 1939/936. 27 dRGBl. 1900, S. 306. 28 BGBl. 151/1947.

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Wiederverlautbarung des Gesetzes als Epidemiegesetz 1950 noch heute (in teilweise sprachlich modifizierter Form) in Geltung ist: „Für Personen, die sich berufsmäßig mit der Krankenbehandlung, der Krankenpflege oder Leichenbesorgung beschäftigen, und für Hebammen ist die Beobachtung besonderer Vorsichten anzuordnen. Für solche Personen können Verkehrs- und Berufsbeschränkungen sowie Schutzmaßnahmen, insbesondere Schutzimpfungen, angeordnet werden.“29

Es handelt sich um eine lex specialis für den im Gesetz beschriebenen Personenkreis; gerechtfertigt ist die Zulässigkeit einer Anordnung von Schutzimpfungen durch den Umgang dieser Berufsgruppen mit vulnerablen Personen. § 17 Abs. 3 setzt aber einen konkreten Anlassfall, also das Auftreten einer meldepflichtigen Krankheit, voraus; eine vorsorgliche Impfung kann nicht angeordnet werden.30 2006 wurde diese Bestimmung um einen Abs. 4 ergänzt, wonach im Fall des Auftretens einer meldepflichtigen Erkrankung die Bezirksverwaltungsbehörde im Einzelfall für bestimmte gefährdete Personen die Durchführung von Schutzimpfungen oder die Gabe von Prophylaktika anordnen kann, wenn dies zum Schutz vor einer Weiterverbreitung der Krankheit unbedingt erforderlich ist.31 Auch hier muss ein konkreter Anlassfall gegeben sein, die Anordnung einer präventiven Impfpflicht oder des Nachweises eines bestimmten Immunstatus kann auf dieser gesetzlichen Grundlage nicht erfolgen. Zudem kann die Behörde nur eine Behandlungspflicht anordnen, nicht aber eine Zwangsbehandlung. Bei der Verweigerung der angeordneten Behandlungspflicht können Quarantänemaßnahmen und allenfalls die Einleitung eines Verwaltungsstrafverfahrens in Betracht kommen.32

Das Militärimpfgesetz 1938 Das erste Impfgesetz in Österreich war das Gesetz über die militärische Impfpflicht33, das 1938, also mehr als ein Jahrzehnt nach den letzten Pockenfällen im Jahr 1923, verabschiedet wurde. Der Anlass war die Weigerung mehrerer Rekruten, sich impfen zu lassen, da sie nach dem Untergang der Monarchie eine Weitergeltung des 1886 erlassenen § 16 des Reglements für den Sanitätsdienst in 29 Art. II Z 5 lit. g BGBl. 151/1947. 30 Ines Wünsch-Brandner/Kristin Grandl-Eder, Gesetzlich verpflichtende Impfungen für das Personal in Krankenanstalten, in: Journal für Medizin- und Gesundheitsrecht 4 (2019) 2, 81– 86, 81, 83. 31 EpiG-Novelle, BGBl. I 2006/114. 32 Initiativantrag Abg. Dr. Erwin Rasinger (geb. 1952) u. a., IA 822/A, 22. GP, 3; Lisa Cohen, Die Strafbarkeit von Masernpartys, Wien: Manz 2020, 26–27. 33 BGBl. 56/1938.

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Abrede stellten.34 Beim Militärimpfgesetz nutzte die Regierung die Befehlsstruktur im Heer und ging über den Willen des einzelnen Soldaten hinweg, da mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Verweigerung einer Impfung nach den Straf- und Disziplinarvorschriften zu ahnden war.35 Anders als in der Dienstvorschrift 1886 wurde nicht nur die Pockenschutzimpfung, sondern eine allgemeine Impfpflicht realisiert.36 Normadressaten des Militärimpfgesetzes waren außerdem nicht nur die Soldaten, sondern auch alle Zivilisten, die in der Heeresverwaltung tätig waren. Der Bundeskulturrat37 hatte sogar verlangt, „auch die im gemeinsamen Haushalt lebenden Personen [zu] verhalten […], sich den notwendigen Schutzimpfungen zu unterziehen, soweit es die Bekämpfung auftretender Seuchen erfordert“,38 da ja bei einer Infektion alle anderen mit der betroffenen Person in Kontakt gekommenen Familienangehörigen, nämlich auch gesunde Heeresangehörige, in Quarantäne zu verweisen wären.39 Dieser Ergänzungsvorschlag wurde aber im Bundesministerium für Landesverteidigung (BMLV) verworfen, da der zu erfassende Personenkreis „praktisch und verwaltungsmäßig“ kaum einzugrenzen gewesen wäre und zudem den Rahmen eines Militärimpfgesetzes völlig überschritten hätte.40 Vermutlich hätte sich bei der Ausdehnung der Impfpflicht im Sinne des Bundeskulturrats die Umsetzung des Gesetzes verzögert, da Familienangehörige natürlich nicht mit den Mitteln des militärischen Disziplinarrechts hätten belangt werden können. So kam man 1937 zur Überzeugung, dass „eine solche Verpflichtung […] zweifellos nur durch ein allgemeines Impfgesetz geschaffen werden“ könne.41

Die Vorbereitung eines allgemeinen Impfgesetzes 1937/38 Deshalb wurde vom Sozialministerium der Entwurf eines Bundesgesetzes über Schutzimpfungen gegen Blattern und andere übertragbare Krankheiten ausgearbeitet und vom Obersten Sanitätsrat positiv begutachtet. In der parlamentarischen Diskussion wurde betont, dass sich ein allgemeines Impfgesetz „bereits

34 35 36 37 38 39 40 41

Stenographische Protokolle des Bundestages, 52. Sitzung, 1938, 727. § 2 MilImpfG. Vorlage des Bundesregierung 221/Ge, Erl. 2. Der Bundeskulturrat war in Österreich von 1934 bis 1938 eines der vorberatenden Organe der Bundesgesetzgebung. Freigutachten des Bundeskulturrats vom 14. Jänner 1938 zur Vorlage BReg 167/Gu, Aktenzahl: BMLV AE 4063-RB/38. Vgl. auch Vorlage BReg 221/Ge, Erl. 3. Vorlage BReg 221/Ge, Erl. 3. Ebd. Ebd.

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in einem vorgeschrittenen Stadium der Behandlung befinde“;42 die Realität sah allerdings wohl anders aus. In einer Amtserinnerung vom 29. November 1937 wurde vermerkt: „Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Erlassung eines Gesetzes über eine allgemeine Impfpflicht infolge Schwierigkeit der Materie in absehbarer Zeit nicht zu verwirklichen ist“;43 als Zeithorizont nannte man im Ministerrat den Herbst 1938.44 Bundeskanzler Kurt Schuschnigg (1897–1977) erklärte, sich die Einführung einer allgemeinen Cholera- oder Typhusimpfung nicht vorstellen zu können.45 Auch der zuständige Bundesminister Josef Resch (1880–1939) betonte, „dass eine allgemeine zwangsweise Einführung dieser Impfungsarten nicht angedacht sei; nur bei Gefahr im Verzug sollte das Volksgesundheitsamt eine allgemeine Impfpflicht für solche Krankheiten festsetzen können“.46 Der „Anschluss“ Österreichs beendete schließlich die Arbeiten an einem allgemeinen Impfgesetz.47 Am 14. Juli 1939 wurde per „Verordnung zur Einführung reichsrechtlicher Vorschriften zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten in der Ostmark“, dRGBl I, S. 1261, das deutsche Impfgesetz von 1874 und damit der Impfzwang in der nunmehrigen Ostmark in Kraft gesetzt.

Der Sonderfall: Bundesgesetz über Schutzimpfungen gegen Pocken 1948 Nach 1923, selbst während des Zweiten Weltkriegs, gab es in Österreich keine Pockenerkrankungen;48 trotzdem behielt Österreich nach 1945 zunächst die reichsdeutschen Impfgesetze bei. 1948 wurde mit dem Bundesgesetz über die Schutzimpfungen gegen Pocken49, das sich am Entwurf des Jahres 1937 anlehnte, die reichsrechtliche Vorschrift ersetzt. Die Notwendigkeit des Impfgesetzes stand außer Frage, das Festhalten an der Impfpflicht war aber nicht allgemeiner Konsens. Als Gründe für die Impfpflicht wurden einerseits die zunehmende Impfmüdigkeit, die Fehlvorstellung, durch die zahlreichen Impfungen während des Dritten Reichs ohnedies noch immer

42 Ebd. 43 BMLV AE. 146.370/RB.37. 44 Gertrude Enderle-Burcel/Alexandra Neubauer-Czettl (Hg.), Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik IX/8, Wien: Verlag Österreich 2013, 438. 45 Ebd., 439. 46 Ebd. 47 Ebd., 438, Fn. 65. 48 Marius Kaiser, Eduard Jenner und sein Einfluß auf die Blatternschutzimpfung in Österreich, in: Wiener klinische Wochenschrift 58 (1946), 301–305 und 317–321, 321; Marius Kaiser, Pocken und Pockenschutzimpfung, Wien: Springer 1949, 90. 49 BGBl. 156/1948.

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geschützt zu sein, und das allmähliche Verblassen der Vorstellung von der Gefährlichkeit der Krankheit genannt. Andererseits bestand die Gefahr der Einschleppung durch die Zunahme des Reiseverkehrs. Der Ausschussbericht präzisiert: Zunahme des Reiseverkehrs „vor allem auch der Alliierten in Österreich“.50 Die Besetzung Österreichs durch die alliierten Mächte war wohl ausschlaggebend, wie die Rede des Abgeordneten Bruno Pittermann (1905–1983) am 30. Juni 1948 im Nationalrat nahelegt: „Man muss vor allem bedenken, dass die Einschleppung von Krankheiten in Österreich heute nicht mehr so unter der Kontrolle der österreichischen Gesundheitsbehörden steht wie früher einmal.“51

Die österreichischen Behörden hatten keine Zwangsmittel gegenüber Besatzungssoldaten. Diese besondere Situation wurde bspw. auch anlässlich der Einführung der Polio-Impfung in die Diskussion eingebracht: In den Jahren 1945 bis 1950 grassierte in Niederösterreich der Typhus, infolge der Besetzung konnten aber nur sehr schlecht Maßnahmen gegen diese Krankheit ergriffen werden.52 Das Instrumentar von Isolierungs- und Desinfektionsmaßnahmen, das in der Ersten Republik immer wieder als Alternative zur Impfpflicht genannt worden war,53 stand während der Besatzungszeit nicht uneingeschränkt zur Verfügung. Daher sah man 1948 „gesundheitspolitisch keinen anderen Weg […], als die österreichische Bevölkerung selbst durch Schutzimpfungen zunächst gegen die Blattern zu immunisieren“.54 Ab 1948 mussten alle Kinder bis längstens zum 31. Dezember des auf die Geburt folgenden Jahres gegen Pocken geimpft werden. Außerdem bildete das Pockenschutzgesetz die Grundlage für mögliche Notimpfungen bei einem drohenden Auftreten von Pocken. Nur wer nicht ohne Gefahr für sein Leben oder seine Gesundheit geimpft werden konnte, war von der Impfpflicht befreit, ebenso jene Personen, die längstens vor fünf Jahren geimpft worden waren oder längstens vor zehn Jahren eine Pockenerkrankung überstanden hatten.55 Die veränderte weltweite epidemiologische Lage führte dazu, dass von 1977 bis 1980 die Impfpflicht per Gesetz ausgesetzt wurde;56 eine vollständige Durchimmunisierung der Bevölkerung schien angesichts der nahen Ausrottung der Po50 51 52 53

AB 651 BlgNR 5. GP, 1. Stenographische Protokolle des Nationalrates (StProtNR) 5. GP, 84. Sitzung, 2401. Abg. Dr. Oswald Haberzettl (1892–1981), StProtBR, 167. Sitzung, 3981. Abg. Dr. Anton Jerzabek (1867–1939), StProtAH, XXI. Session, 1912, 5333: „Ich erinnere Sie weiters daran, wie vor einigen Jahren in Wien Blattern eingeschleppt wurden und es doch nicht zu einer Epidemie gekommen ist, weil man eben die notwendigen Vorsichtsmaßregeln auch auf Grund der alten Vorschriften treffen konnte.“ 54 StProtNR 5. GP, 2401. 55 Nähere Vorschriften wurden per Verordnung BGBl. 7/1949 und BGBl. 134/1960 erlassen. 56 BGBl. 167/1977 und BGBl. 563/1978.

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cken nicht mehr notwendig.57 Von einer Aufhebung des Impfgesetzes sah man damals aber noch ab, um im Bedarfsfall rasch einen kollektiven Impfschutz der Bevölkerung erreichen zu können.58 Erst nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 8. Mai 1980 die weltweite Ausrottung der Pocken erklärt und den Staaten die Aufhebung der Impfpflicht empfohlen hatte, wurde der Impfzwang in Österreich mit 31. Dezember 1980 abgeschafft.59

Das Tuberkulose-Impfgesetz Zeitnah zum Pockenschutzgesetz wurde das Bundesgesetz über Schutzimpfungen gegen Tuberkulose (Tbc)60 beschlossen, das sich in seiner Vorgeschichte und in der inhaltlichen Ausgestaltung aber deutlich von diesem unterschied. Bald nach der Veröffentlichung der Arbeiten von Albert Calmette (1863–1933) erörterte die österreichische Sanitätsverwaltung die Einführung der BCG-Impfung. Im Mai 1928 nahm aber die Gesellschaft der Ärzte von einer Empfehlung bezüglich einer Einführung der BCG-Impfung Abstand.61 Das in der Literatur ausführlich beschriebene Lübecker Impfunglück, bei dem 77 Kinder gestorben und weitere 100 zum Teil schwer erkrankt waren, beendete vorerst diese Diskussion. Die Einführung eines BCG-Impfstoffs wurde damit für viele Jahre gestoppt.62 Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Tbc-Sterblichkeit deutlich zurück.63 Trotzdem wurde an den damaligen Bundesminister für soziale Verwaltung, Karl Maisel (1890–1982), eine Anregung der WHO in Bezug auf die BCG-Schutzimpfung herangetragen, da man eine Umkehrung dieses Trends befürchtete.64 Mit einem Impfgesetz sollten jene Bevölkerungsgruppen erfasst werden, „die zufolge ihres Berufes oder durch die gegebenen Umstände mit an Lungen- und Kehlkopf-Tbc-Erkrankten in engerer Berührung stehen“.65 Zwar standen die

57 RV 439 Beilage zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates (BlgNR) 14. GP, Erl. 1. Zu den diesbezüglichen Bemühungen der WHO siehe Christian Vutuc/Heinz Flamm, Dreißig Jahre weltweite Ausrottung der Pocken durch die Weltgesundheits-Organisation, in: Wiener klinische Wochenschrift 122 (2010), 265–275; Flamm, Geschichte der Staatsarzneykunde, 147. 58 RV 1004 BlgNR 14. GP, Erl. 1. 59 BGBl. 583/1980. 60 BGBl. 89/1949. 61 Marius Kaiser/Franz Puntigam, Die Organisation der BCG-Impfung in Österreich, Wien: Hollinek 1950, 3. 62 Hanna Jonas, Das Lübecker Impfunglück 1930, Diss., Lübeck 2017. 63 Kaiser/Puntigam, BCG-Impfung, 3. 64 RV 800 BlgNR 5. GP, Erl 4. 65 Erlass des BMS, 28. März 1949, Zl. V-54.013-19/49, zit. n. Kaiser/Puntigam, BCG-Impfung, 7.

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klassischen Methoden der Tbc-Bekämpfung zur Verfügung, man wollte aber die Bekämpfung über eine Immunisierung forcieren. Beim Tbc-Impfgesetz wurde jedoch auf einen Zwang wie bei der Pockenschutzimpfung verzichtet: Jegliche BCG-Impfung sollte ausschließlich aufgrund freiwilliger Meldung des oder der zu Impfenden oder seines/ihres Vertreters erfolgen.66 Wie schon im 19. Jahrhundert galt auch jetzt ganz klar der Grundsatz: „Durch Freiwilligkeit wird der Gesundheitswille gestärkt, durch Zwang geschwächt.“67 Aus diesem Grund regelte das Gesetz nur die Rahmenbedingungen der Impfung, wie z. B. die ausschließliche Herstellung des Impfstoffs durch die Bundesstaatliche Impfstoffgewinnungsanstalt in Wien. Hier hatte man offensichtlich noch immer den Lübecker Impfunfall und jenen in Baden bei Wien, wo 1930 bei einer Diphtherie-Impfung in einem Kinderheim sechs Kinder wegen einer Toxinvergiftung gestorben waren,68 vor Augen. Weiters wurden die Lieferung der hergestellten Vakzine ausschließlich in Originalpackung unter Angabe einer Verwendungsfrist, die Aufbewahrung möglichst im Kühlschrank oder in einem kühlen Keller, die Beseitigung eines nicht benötigten Impfstoffs noch am Tag der Öffnung eines Impfstofffläschchens sowie das Verbot, solche Impfstoffreste zu lagern und am nächsten Tag zu verwenden, festgeschrieben. Die ÄrztInnen wurden verpflichtet, die laufende Nummerierung und Angabe der Impfportionen, den Tag der Herstellung, das Ende der Verwendungsfrist sowie Tag und Ort der Verwendung aufzuzeichnen. Die Kosten für die Impfung wurden vom Staat getragen.69 Außerdem musste ein Impfling, wenn in seiner Umgebung eine Infektionsquelle vorlag, vor und nach der Impfung abgesondert werden, weil man befürchtete, dass die Impfung durch solche Fälle diskreditiert würde, „weil erstens dadurch der Eindruck der Wertlosigkeit der Impfung und zweitens die Meinung entstehen könnte, dass der Erkrankte durch die Impfung selbst angesteckt wurde“.70 Um eine Diskreditierung der Impfung zu verhindern, wurde zunächst die Befugnis zur Vornahme der Impfung auf hierfür ermächtigte ÄrztInnen eingeschränkt.71 Erst in der Neufassung des Tbc-Impfgesetzes 1969 wurde dies fallengelassen, da zu diesem Zeitpunkt die Impfung bereits als medizinisches

66 RV 800 BlgNR 5. GP, Erl. 4. 67 Kaiser/Puntigam, BCG-Impfung, 4. 68 Ebd., 3. Zum Diphtherieunfall in Baden siehe E. Seligmann/H. Happe, Stand der aktiven Schutzimpfung gegen Diphtherie, in: Wolfgang Weichardt (Hg.), Ergebnisse der Hygiene, Bakteriologie, Immunitätsforschung und experimentellen Therapie, Berlin: Springer 1930, 637–697. 69 RV 800 BlgNR 5. GP, Erl. 4. 70 AB 811 BlgNR 5. GP, 1. Ebenso der Berichterstatter Abg. Hans Jiricek (1888–1959), StProtNR 5. GP, 3041, und Abg. Franz Mellich (1891–1954), StProtBR, 41. Sitzung, 708. 71 Kaiser/Puntigam, BCG-Impfung, 4.

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Allgemeinwissen galt, das nicht mehr in einer besonderen Ausbildung vermittelt werden musste. Im Durchführungserlass zum Tbc-Impfgesetz wird ein der damaligen Verwaltung wichtiger Punkt deutlich: „Für die Durchführung der allgemeinen Impfung ist […] eine gute Aufklärung der Bevölkerung unerläßlich.“72 Der Information der Bevölkerung kam entscheidende Bedeutung zu. Es wurde sogar ein eigenes Informationsblatt publiziert, das zur Verteilung kommen sollte. Darüber hinausgehend organisierte die staatliche Verwaltung eine Aufklärungskampagne: ÄrztInnen wurden durch Fachzeitschriften informiert, die Landessanitätsdirektion hatte die Lehrpersonen durch den Landesschulrat auf die Impfaktion aufmerksam zu machen und für die Mitarbeit zu gewinnen.73 Die in einem Gemeindegebiet niedergelassenen ÄrztInnen und LehrerInnen wurden als InformationsvermittlerInnen zu Informationsgesprächen eingeladen. Das Österreichische Jugendrotkreuz informierte die Schülerinnen und Schüler in den Pflichtschulen; unterstützt wurde die Aktion durch das Verteilen von Löschblättern, die den Aufdruck enthielten: „Schütze Dich vor Tuberkulose! Lass Dich impfen!“ Zusätzlich zu Plakataktionen wurden von den leitenden Medizinalbeamten Aufklärungsartikel in den Tageszeitungen publiziert und Vorträge via Radio gehalten. 1969 wurde die Regelung aus dem Jahr 1949 durch ein neues Bundesgesetz über Schutzimpfungen gegen Tbc74 ersetzt. Anstelle einer weitreichenden Novellierung hatte man sich wegen der besseren Lesbarkeit für ein neues Gesetz entschieden, wobei man sich an der Regelung der Schutzimpfungen gegen übertragbare Kinderlähmung aus dem Jahr 1960 orientierte, natürlich unter Beachtung der Besonderheiten der Tbc-Impfung und unter Berücksichtigung des Fachgutachtens des Obersten Sanitätsrats. Diesem entsprechend ließ man z. B. den Vorbehalt bezüglich der Erzeugung des Impfstoffs fallen, von nun an durften alle vom Bundesministerium zugelassenen Impfstoffe verwendet werden. Dadurch wollte man der Entwicklung der medizinischen Wissenschaft auf dem Gebiet des Impfwesens Rechnung tragen.75 Keine Diskussion gab es in Bezug auf die Freiwilligkeit der Impfung: „Hier muss einem psychologischen Faktor Rechnung getragen [werden], dass nämlich jene Impfung, die gewissermaßen behördlich empfohlen oder gar verordnet wird, die also auf dem Umweg über beamtete Ärzte geht, da und dort […] auf Widerstand, auf Ressentiments, auf Vorbehalte stößt, während die Ausdehnung der Prophylaxe in die ärztliche Ordination den Arzt auch verstärkt interessiert und verpflichtet, aufklärend zu 72 Erlass des BMS vom 28. März 1949, Zl. V-54.013-19/49, abgedruckt in Kaiser/Puntigam, BCGImpfung, 7. 73 Ebd., 8. 74 BGBl. 66/1969. 75 RV 987 BlgNR 11. GP, Erl. 4.

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wirken, seinem Patienten, den er vielleicht Jahre oder Jahrzehnte kennt, die Vorteile dieser Prophylaxe nahezubringen und damit natürlich der Prophylaxe auf breitester Basis in die Hand zu arbeiten.“76

Anstelle einer Impfpflicht setzte man – wie schon 1949 – auf Aufklärung und Information; das Prinzip der Freiwilligkeit und die Patientenautonomie standen außer Streit. 1993 wurde das Tbc-Impfgesetz aufgehoben, da die BCG-Impfung „nicht ungefährlich und mit einer Reihe von schweren, in seltenen Fällen sogar tödlich verlaufenden Komplikationen behaftet“ war.77 Zudem wies Österreich bereits eine sehr geringe Tbc-Durchseuchung auf, wobei dank des medizinischen Fortschritts eine Erkrankung sehr aussichtsreich behandelt werden konnte. Andere Staaten, etwa Schweden, hatten aufgrund der Kosten-Nutzen-Analyse schon Jahre zuvor Massenimpfungen ausgesetzt.78 Selbst der Oberste Sanitätsrat hatte sich bereits 1989 und 1991 für eine Einstellung der BCG-Impfungen im Säuglingsalter ausgesprochen.79 Der österreichische Gesetzgeber reagierte aber erst 199380 und setzte von nun an auf eine verstärkte Früherkennung tuberkulöser Erkrankungen.81 Die Aufhebung des Gesetzes war aber mit Kritik verbunden, da damit auch jene Bestimmung entfiel, wonach „das Ministerium Sorge dafür zu tragen [habe], dass die Bevölkerung regelmäßig über Wesen und Gefahren der Tbc sowie über das richtige hygienische Verhalten durch Druckwerke, Filme und so weiter aufgeklärt wird“.82 Gerade diese Streichung widersprach den Bemühungen, durch eine gute Informationspolitik die Freiwilligkeit und Impfbereitschaft zu fördern. Entscheidend waren hier meines Erachtens wohl finanzielle Überlegungen und die Verlockung von Einsparungen im öffentlichen Bereich. Es zeigt sich, dass der Kostenfaktor im öffentlichen Impfwesen zunehmend an Bedeutung gewann.

76 Abg. Dr. Otto Scrinzi (1918–2012), StProtNR 11. GP, 11116. Vgl. auch RV 987 BlgNR 11. GP, Erl. 3. 77 RV 977 BlgNR 18. GP, Erl. 5. 78 Ebd. 79 Zwischenzeitlich, nämlich 1990, waren aufgrund einer falschen Dosierung des Impfstoffs mehrere Kinder zu Schaden gekommen. 80 Aufhebung des Impfgesetzes mit Art. III BGBl. 344/1993. 81 RV 977 BlgNR 18. GP, Erl. 5. 82 Ebd.

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Das Bundesgesetz über öffentliche Schutzimpfungen gegen übertragbare Kinderlähmung Als drittes Impfgesetz der Zweiten Republik wurde 1960 das Bundesgesetz über öffentliche Schutzimpfungen gegen übertragbare Kinderlähmung83 beschlossen. Die Zahl der durch das Poliomyelitis-Virus ausgelösten Erkrankungen,84 die in vielen Fällen zu Dauerschäden führten, und die im Vergleich zu anderen endemischen Infektionskrankheiten hohe Sterblichkeitsquote veranlassten die Regierung zum Handeln, zumal sich gezeigt hatte, dass durch aktive Schutzimpfungen die Anfälligkeit der Bevölkerung weitgehend herabgesetzt und das Auftreten von Dauerlähmungen stark vermindert werden konnten.85 Die Impfung gegen Kinderlähmung sollte in Form von öffentlichen, von den Gesundheitsbehörden organisierten Impfaktionen erfolgen.86 Dazu musste aber erst eine für das ganze Bundesgebiet einheitliche Rechtsgrundlage geschaffen werden.87 Ein zweiter Grund für die Erlassung eines Spezialgesetzes war der ins Auge gefasste Impfstoff. Auf Anraten des Obersten Sanitätsrats hatte sich die Regierung für die Immunisierung mit Lebendviren anstelle der in Österreich bis zu diesem Zeitpunkt angewandten Impfung mit abgetöteten Erregern entschieden. Der orale Impfstoff war von Albert Sabin (1906–1993) gerade entwickelt worden und hatte gegenüber dem von Jonas Salk (1914–1995) entwickelten Impfstoff, der in drei Teilimpfungen gespritzt werden musste, den Vorteil, dass es nach dem Verschlucken „zu einer Vermehrung der Krankheitserreger im Darm [kommt]. Die Behandelten scheiden einige Zeit, ca. sechs Wochen, diese Krankheitserreger aus; während dieser Zeit werden aber im Blut Antistoffe gebildet, und die Darmschleimhaut wird resistent gegen den Krankheitserreger.“88 Damit bot der Impfstoff von Sabin einen Schutz vor Ansteckung, bei Salk war nur ein Schutz vor Erkrankung und Lähmung, nicht aber vor Ansteckung gegeben.89 Eine Immunisierung mit Lebendviren bot außerdem nicht nur einen individuellen Schutz, 83 BGBl. 244/1960. 84 RV 185 BlgNR 9. GP, Erl. S 3. 1947 gab es 3.508 Erkrankungen und 315 Todesfälle, 1948 1.064 Erkrankungen und 77 Tote, 1955 1.018 Erkrankungen und 102 Todesopfer, 1961 starben noch 27 Kinder. 1962, also zwei Jahre nach Einführung der Schutzimpfung, gab es nur mehr vereinzelte Erkrankungen, aber keinen Todesfall. Vgl. Abg. Anna Elisabeth Haselbach (geb. 1942), StProtBR, 498. Sitzung, 21604, und Abg. Ilona Graenitz (geb. 1943), StProtNR 17. GP, 6057. 85 RV 185 BlgNR 9. GP, Erl. 3, und AB 297 BlgNR 9. GP, Erl. 1. 86 Ebd. 87 Es waren bereits vor 1960 Schutzimpfungen mit abgetöteten Poliovirusstämmen, meist auf Basis von Erlässen der Landesregierungen, durchgeführt worden. Vgl. Abg. Haberzettl, StProtBR, 167. Sitzung, 3982. 88 Ebd. 89 Wenngleich damals positive Erfahrungen für den Impfstoff sprachen, so gab es auch international Stimmen, die zur Vorsicht mahnten. Vgl. ebd., 3983.

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sondern war auch geeignet, durch die Zirkulation des Impfvirus weite Kreise der Bevölkerung gegen die übertragbare Kinderlähmung zu immunisieren.90 Bei all diesen Vorteilen war der Impfstoff nach Sabin außerdem billiger.91 Eine Schutzimpfung mit Lebendviren verlangte aber eine zeitliche Koordination, die nur mit der Festsetzung fester Impftermine durch das BMS zu gewährleisten war.92 „Um jederzeit einem in der Praxis etwa auftretenden Zweifel hinsichtlich der Wirksamkeit und Unschädlichkeit eines Impfstoffes Rechnung tragen zu können“,93 durfte nur ein Impfstoff verwendet werden, der vom Bundesministerium zugelassen worden war; die Impfung selbst war von eigens bestellten ImpfärztInnen vorzunehmen. Angesprochen sind hier die Sicherheit des Impfstoffs und das Vermeiden von Bedenken in Bezug auf dessen Sicherheit. Die Impfbereitschaft sah der Gesetzgeber durch zwei Maßnahmen gewährleistet. Zum einen wurde auf die Freiwilligkeit gesetzt, eine Impfpflicht wurde kategorisch ausgeschlossen.94 Wie die Berichterstatterin im Nationalrat, die Abgeordnete Rosa Rück (1897–1969), festhielt, war mit der Freiwilligkeit selbstverständlich eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung durch die dafür maßgeblichen Stellen über den Schutz, den diese Impfung mit sich brachte, verbunden.95 Solche Informationen schienen den ParlamentarierInnen damals wichtig, um den Zweck dieses Gesetzes, nämlich die Zahl der Erkrankungen auf ein Mindestmaß herabzusetzen, zu erreichen. Auch der Abgeordnete Oswald Haberzettl (1892–1981) betonte die Bedeutung der Information: „Dazu muss eine große Werbung einsetzen, alle Stellen des Staates, der Länder und Gemeinden, die gesamte Öffentlichkeit muss mithelfen, die Ärzte, die Lehrer, die Bürgermeister und […] die Presse.“96

In seiner Rede griff Haberzettl aber auch auf eine Strategie zurück, die schon bei der Einführung der Pockenimpfung, 150 Jahre zuvor, verwendet worden war: Man müsse an das Gewissen der Eltern appellieren und „ihnen vor Augen führen, welche Schuld sie auf sich laden, wenn sie das versäumen, ihre Kinder erkranken, dauernd gelähmt bleiben oder sterben“.97

90 91 92 93 94 95 96 97

AB 297 BlgNR 9. GP, Erl. 1. StProtBR, 167. Sitzung, 3982. AB 297 BlgNR 9. GP, Erl. 2. Abg. Rosa Rück, StProtNR 9. GP, 1755. AB 297 BlgNR 9. GP, Erl. 1. Abg. Rosa Rück, StProtNR 9. GP, 1755. StProtBR, 167. Sitzung, 3983. Ebd. Einige Jahre später zeigte Abg. Graenitz den m. E. richtigen Weg auf: „Wir sollten die Möglichkeiten der Schutzimpfung nutzen, nicht aus Angst vor der Krankheit, sondern aus dem Wunsch, gesund zu bleiben.“ (StProtNR 17. GP, 6058). Es scheint aber Fakt zu sein, dass „die Österreicherinnen und Österreicher nur dann zur Impfung oder Nachimpfung gehen, wenn ihnen Angst vor der Krankheit gemacht wird“ (ebd., 6057).

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Die zweite wesentliche Maßnahme war die Übernahme der Kosten der Schutzimpfung für Impflinge bis zum 21. Lebensjahr durch die öffentliche Hand. Damit sollte die Jugend möglichst lückenlos erfasst werden. Ein Problem dabei war die begrenzte Haltbarkeit des Impfstoffs. Zu viel gelieferte Mengen konnten weder an den Hersteller zurückgegeben noch für spätere Impfaktionen aufbewahrt werden; der nicht benötigte Impfstoff musste entsorgt werden. War zu wenig Impfstoff angeschafft worden, konnten nicht alle Impfwilligen geimpft werden, da ein kurzfristiges Nachbestellen unmöglich war. Auch die Hersteller hielten aus wirtschaftlichen Gründen den Impfstoff wegen der begrenzten Lagerungsfähigkeit nicht vorrätig. Um dem Dilemma „Zuviel bzw. Zuwenig“98 zu entkommen, mussten sich Impfwillige entsprechend einer Novelle im Jahr 196499 acht Wochen vor der Impfaktion anmelden; zwar war eine Impfung ohne Voranmeldung möglich, aber nur, falls am Ende der Impfaktion noch Impfstoff vorrätig war. Durch diese Voranmeldungen wollte man eine möglichst genaue Übersicht über die benötigte Impfstoffmenge erhalten. Diese Verwaltungsmaßnahme stellte natürlich eine Erschwernis für die Bevölkerung dar, schien aber 1964 aus finanziellen Aspekten unverzichtbar. Letztlich erwies sich diese Regelung aber keineswegs als kostensenkend, da der Verwaltungsaufwand stieg und die Einsparung ausblieb. Daher wurde diese Regelung 1970100 wieder zurückgenommen; stattdessen wurden alle AmtsärztInnen zu ImpfärztInnen erklärt, um auf diese Weise den Verwaltungsaufwand zu senken. 1988 wollte die Regierung zusätzlich das Alter jener Personen, die eine Schluckimpfung kostenlos erhalten sollten, vom 21. auf das 19. Lebensjahr senken; begründet wurde dies mit der bereits erfolgten Herabsetzung der Mündigkeitsgrenze.101 Mit der Selbstständigkeit – so die Argumentation102 – übernehmen junge Erwachsene auch die Sorge um die eigene Gesundheit. Die Sorge um die Gesundheit und die Übernahme der Kosten sind aber zwei verschiedene Aspekte. Im Gesundheitsausschuss wurde dieser Vorschlag deshalb gekippt und dem Nationalrat ein Abänderungsantrag vorgelegt, wonach aus gesundheitspolitischen Gründen die Kostenübernahme bis zum 21. Lebensjahr beibehalten werden sollte.103 So wurde es dann auch letztlich im Nationalrat beschlossen.104 Eine Einsparung sah man ohnedies durch das Nachrücken geburtenschwacher Jahrgänge und den vor98 99 100 101 102

Abg. Anna Czerny (1902–1992), StProtNR 10. GP, 2969. BGBl. 150/1964. BGBl. 346/1970. RV 48 BlgNR 12. GP, Erl. 2f. Z. B. Abg. Rosemarie Bauer (geb. 1944), StProtNR 17. GP, 6059; ebenso Abg. Rosa Gföllner (1921–2001), StProtBR, 498. Sitzung, 21603. 103 AB 489 BlgNR 17. GP, Erl. 1. 104 In der Diskussion wurde aber von manchen Abgeordneten darauf hingewiesen, „dass dies in Zukunft natürlich nicht in allen Bereichen seine Fortsetzung finden kann!“. Z. B. Abg. Bauer, StProtNR 17. GP, 6059.

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rangigen Einsatz von AmtsärztInnen gegeben.105 Außerdem kam es durch die sinkende Zahl von Erkrankungen zu einer Kostenersparnis; dieses Faktum wurde aber in der Diskussion nur ansatzweise vorgebracht.106 Hier zeigt sich, dass zunehmend Kostenargumente in die Impfdiskussion, bei der in früheren Jahrzehnten ausschließlich die Erhaltung der Volksgesundheit im Fokus gestanden hatte, einflossen. Gleichzeitig ist aber in dieser Zeit ein Nachlassen der Impfbereitschaft festzustellen, wofür mehrere Gründe erkennbar waren und sind: Vielfach wurde die Gefahr unterschätzt, weil nur ältere StaatsbürgerInnen noch erlebt hatten, „wie die heimtückische Krankheit zugeschlagen hat, wie Kinder und Jugendliche […] von der Krankheit gesundheitliche Schäden davongetragen haben, die ihr Leben verändert und es ihnen unmöglich gemacht haben, am Sport und an den Freizeitvergnügungen […] teilzunehmen“.107 Dazu kam die Bezeichnung „Kinderlähmung“, die viele Erwachsene dazu verleitete, nur die Gefahr einer Ansteckung für Kinder zu sehen und nicht auf den eigenen Impfschutz zu achten. Außerdem verstärkte der Tourismus in Länder, in denen Polio noch verbreitet war, das Risiko einer Infektion.108 Gerade dieser Gefahr, ausgelöst durch den beginnenden Wohlstand, wollte das Gesetz Rechnung tragen, indem es 1988 in Ausnahmefällen die Gabe des oralen Impfstoffs auch außerhalb der Impfsaison zuließ.109 Prinzipiell hielt man jedoch am Grundsatz der festen Impftermine fest; die Vergangenheit hatte gezeigt, dass fixe Impfaktionen mit „werbewirksam angekündigten öffentlichen Impfterminen“ zu einer hohen Impfbeteiligung geführt hatten.110 1992 wurde die gesetzliche Vorgabe in Bezug auf den Impfstoff gestrichen.111 Damit wurde die Möglichkeit geschaffen, jenen Personen, für die der vorgegebene Impfstoff kontraindiziert war, eine Alternative entsprechend dem Stand der medizinischen Wissenschaft zu eröffnen. Zudem unterlag ohnedies jeder Impfstoff als Arzneimittel den strengen Zulassungsvorschriften des Arzneimittelgesetzes, weshalb weitere gesetzliche Vorgaben nicht länger notwendig erschienen. Die nachfolgenden Novellen griffen nicht inhaltlich in die bestehende 105 Ebd. 106 Abg. Graenitz, StProtNR 17. GP, 6058. Vgl. auch Abg. Haselbach, die aufzeigte, dass um den Gegenwert eines einzigen eingesparten 14-tägigen Spitalsaufenthalts eines Patienten ca. 30.500 Portionen Impfstoff hätten finanziert werden können (StProtBR, 498. Sitzung, 21605). Treffend ist auch ihre Aussage „Sparen ist gut, aber Geld sinnvoll eingesetzt, nämlich zur besseren Gesundheitsvorsorge, ist einfach besser“. (ebd.) 107 Ebd., 6057. Vgl. auch Abg. Haselbach, StProtBR, 498. Sitzung, 21605. 108 Ebd. 109 Es war auch vor 1988 möglich gewesen, außerhalb der Impfaktionen geimpft zu werden, allerdings musste in diesen Fällen auf die Salk-Impfung zurückgegriffen werden. 110 Abg. Gföllner, StProtBR, 498. Sitzung, 21603. 111 BGBl. 462/1992.

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Regelung ein, sondern bewirkten bloße Anpassungen. Das vorrangige Ziel war es nun, ein weiteres Sinken der Impfbereitschaft zu stoppen. 2002 wurde das Polio-Impfgesetz aufgehoben, da es in Österreich seit den 1980er-Jahren keinen Polio-Fall mehr gegeben hatte.112 Durch die Umstellung der Immunisierung von Polio-Oralimpfstoff auf inaktivierte Polio-Vakzine erübrigte sich die Organisation von Impfterminen, das Polio-Impfgesetz verlor seinen Anwendungsbereich.113 Würde wider Erwarten ein Polio-Fall eintreten, bräuchte man für die notwendige Impfung keine spezialgesetzliche Regelung, das österreichische Recht würde eine solche Impfung abdecken.114 Ein weiterer Auslöser für den Entfall der Polio-Impfung war sicherlich auch die im Juni 2002 erfolgte Erklärung der WHO, dass die Europäische Region frei von Poliomyelitis sei. Dies spiegelt sich aber überraschenderweise nicht in den Gesetzesmaterialien wider.

Das Impfschadengesetz Bei allen Impfungen können in seltenen Fällen unerwünschte Wirkungen auftreten, die gemeinhin als „Impfschäden“ bezeichnet werden. Da Schutzimpfungen nicht nur den Geimpften schützen, sondern auch im Interesse einer effizienten Gesundheitsvorsorge sind, muss in diesen Fällen auch die Allgemeinheit angesichts des „Aufopferungsmotivs“115 für die Folgen unerwünschter Reaktionen – seien sie durch das Impfprodukt, seien sie durch einen Impfanwendungsfehler bedingt – aufkommen. 1973 wurde zu diesem Zweck das Impfschadengesetz116 erlassen, das die Übernahme der Behandlungs- bzw. Rehabilitationskosten, ein Pflegegeld und eine Beschädigtenrente ermöglicht. Ein Schmerzensgeld ist nicht vorgesehen. Den Hintergrund für dieses Gesetz bildete die 1973 noch verpflichtende Pockenschutzimpfung. Die Durchimpfung der Bevölkerung gegen die Pocken war zum einen die einzige Möglichkeit, das Auftreten dieser Krankheit zu verhindern, zum anderen konnte durch die Impfung eine Gesundheitsschädigung, wenn auch nur in seltenen Fällen, nicht ausgeschlossen werden. Das Pockenimpfgesetz hatte zwar in § 14 Abs. 1 lit. c eine Verpflichtung des Staates zu einer Entschädigung vorgesehen, das Ausmaß der Entschädigung war aber im Gesetz 112 113 114 115 116

RV 950 BlgNR 21. GP, Erl. 3. Ebd. Ebd. RV 105 BlgNR 18. GP, Erl. 5. BGBl. 371/1993. Zahlen in Bezug auf die von 1973 bis 2020 geleisteten Entschädigungen finden sich in den Erläuterungen zur Verordnung über empfohlene Impfungen, BGBl. II 577/2020.

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nicht festgelegt worden. Daher musste ein Geschädigter oder eine Geschädigte den Zivilrechtsweg beschreiten, was sowohl für den Kläger/die Klägerin wie auch für den Beklagten, die Republik Österreich, mit einem erheblichen Aufwand verbunden war. Hier sollte das Impfschadengesetz Abhilfe schaffen, indem es einen Ersatzanspruch für Schäden, die infolge einer im Interesse der Allgemeinheit gesetzlich verankerten Impfung eingetreten waren, festlegte. 1973 wurden im Impfschadengesetz allerdings nur die Pockenschutzimpfung und die Impfung gemäß § 17 Abs. 3 EpiG einer Regelung zugeführt. Diese Einschränkung hatte in der parlamentarischen Diskussion heftige Kritik ausgelöst, weil etwa die Polio-Impfung, die von den Gesundheitsbehörden propagiert und in den Schulen fast lückenlos durchgeführt wurde, nicht erfasst war. Ebenso wenig kam Militärangehörigen, die sich wegen eines UN-Auslandseinsatzes impfen lassen mussten, dieser Schutz zu. Gleiches galt für BeamtInnen, FunktionärInnen und freiwillige HelferInnen, die sich bestimmten Schutzimpfungen unterziehen mussten.117 Eine wesentliche Veränderung brachte die Novelle 1991. Nunmehr wurden auch Schutzimpfungen, die in der Verordnung zur Abwehr einer Gefahr für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung im Interesse der Volksgesundheit118 empfohlen und die im Mutter-Kind-Pass genannt wurden, in das Impfschadengesetz miteinbezogen. Damit hoffte man, der sinkenden Impfbereitschaft durch eine finanzielle Absicherung im Schadensfall entgegenwirken zu können.119 Außerdem sollte durch die Aufnahme von bestimmten Impfungen in die Verordnung ihre Wichtigkeit betont werden.

Impfempfehlungen und Impfplan Immer wieder war in der parlamentarischen Diskussion aus Anlass eines Spezialgesetzes ein allgemeines Impfgesetz gefordert worden, „das alle Impfungen auf freiwilliger Basis“, wie z. B. die FSME-Impfung, umfassen sollte.120 Verwirklicht wurde ein solches Gesetz aber nie. Im Gegenteil, in der Diskussion wurde dieses Anliegen von Bundesminister Anton Proksch (1897–1975) zurückgewie117 Abg. Marga Hubinek (1926–2016), StProtNR 13. GP, 7188, und Abg. Scrinzi, ebd., 7190. 118 Der Verordnungsweg wurde gewählt, um rascher auf internationale Entwicklungen und eine geänderte Prophylaxe durch Schutzimpfungen reagieren zu können. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Novelle zur Verordnung über empfohlene Impfungen im Dezember 2020, als die Covid-19-Impfung noch vor Beginn des Impfstarts in die Verordnung aufgenommen worden ist: BGBl. II 526/2006 i. d. F. BGBl. II 577/2020. 119 AB 117 BlgNR 18. GP, Erl. 1. 120 So z. B. Abg. Haberzettl, StProtBR, 167. Sitzung, 3983. Vgl. auch Abg. Dr. Josef Lackner (geb. 1937), StProtNR 17. GP, 6061.

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Der Diskurs um die Impfpflicht – eine rechtshistorische Analyse

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sen: „Wir brauchen nicht erst ein eigenes Impfgesetz, das alle freiwilligen Impfungsmöglichkeiten umfasst.“121 Proksch hielt die damals bestehenden Regelungen – meines Erachtens zutreffend – für ausreichend; eine entsprechende Vorsorge und die gesetzlichen Möglichkeiten, dann einzugreifen, wenn es notwendig war, waren gegeben. Die 1970er-Jahren brachten zudem eine Wende: An die Stelle der Impfgesetze traten Impfempfehlungen. 1959 hatte die Wiener Medizinische Wochenschrift eine erste allgemeine Impfempfehlung veröffentlicht.122 Anlässlich der Einführung des Mutter-Kind-Passes im Jahr 1974 wurde eine Einführungsbroschüre aufgelegt, in der auch Impfempfehlungen ausgesprochen wurden. Die Verbindung dieser Empfehlungen mit dem Mutter-Kind-Pass förderte die Akzeptanz der Impfungen, zumal die Auszahlung der Geburtenbeihilfe (und später die volle Auszahlung des Kinderbetreuungsgeldes) an das Einhalten bestimmter Untersuchungen geknüpft worden war. Der Mutter-Kind-Pass brachte auch Ordnung in die Durchführung der Impfungen. Der erste vom Obersten Sanitätsrat beschlossene Impfplan wurde Anfang 1984 veröffentlicht.123 Entsprechend der Verfügbarkeit neuer Impfstoffe bzw. Impfstoffkombinationen wurde der Impfplan unter Berücksichtigung der Epidemiologie immer wieder überarbeitet. 2010 wurde der Impfausschuss des Obersten Sanitätsrats durch das Nationale Impfgremium, das nach § 8 Bundesministeriengesetz als Kommission zur fachlichen Beratung des für die Gesundheit zuständigen Ministers/der zuständigen Ministerin oder des zuständigen Ministeriums eingerichtet ist, abgelöst. Die Haupttätigkeit des Impfgremiums umfasst die Erstellung und laufende Weiterentwicklung der Impfempfehlungen für Österreich. Um sicherzustellen, dass die Empfehlungen immer dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Kenntnis entsprechen, wird der Impfplan jährlich überprüft und die aktualisierte Fassung meist im Jänner des Folgejahres veröffentlicht. Wenn es geboten ist, kann eine Überarbeitung aber auch während des Jahres erfolgen. Ziel ist es, interessierten ÄrztInnen sowie Impfwilligen einen Überblick über aktuell zur Verfügung stehende und empfohlene Impfungen zu geben.

121 StProtBR, 167. Sitzung, 3983. 122 E. G. Huber, Current vaccination problems, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 109 (1959), 569–571. 123 Ingomar Mutz/Diether Spork, Geschichte der Impfempfehlungen in Österreich, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 157 (2007), 94–98, 96.

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Michael Memmer

Resümee und Ausblick Die seit 1945 geführte Diskussion um die Impfpflicht ist durch die lange Geschichte des österreichischen Impfwesens, das von Beginn an durch eine Freiwilligkeit in Bezug auf die Impfung gekennzeichnet war, geprägt. Eine Zwangsimpfung hat es in der österreichischen Geschichte nie gegeben. Nur in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts war ein indirekter Impfzwang verwirklicht worden; auch vor einer öffentlichen Anprangerung impfunwilliger Eltern schreckte man nach Einführung der Pockenimpfung nicht zurück. Letztlich haben aber diese Sanktionen nicht zu einer Steigerung der Durchimpfungsrate geführt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Impfbereitschaft trotz indirekter Sanktionen so weit gesunken, dass der Ruf nach einem allgemeinen Impfgesetz laut wurde. Die Forderung nach einer Impfpflicht ist während der 200-jährigen Impfgeschichte immer wieder erhoben worden – wobei aber oft nicht klargestellt wurde, ob ein direkter oder indirekter Impfzwang gemeint war. Ebenso vehement wurde eine solche mit juristischen und psychologischen Argumenten abgelehnt, wobei die Ablehnung einer Impfpflicht keineswegs mit einer Ablehnung der Impfungen per se korrelierte. Da BefürworterInnen und KritikerInnen einer Impfpflicht auf unterschiedlichen Ebenen argumentierten, ist es nie zu einem Ende dieser Diskussion gekommen. In der Zeit nach 1945 gab es nur ein einziges Mal eine Impfpflicht bezüglich der Pocken, die aber vor allem der Besetzung Österreichs durch die Alliierten und dem eingeschränkten Handlungsspielraum der österreichischen Behörden geschuldet war. Ein Schutz der Bevölkerung konnte nur über eine Impfung erreicht werden. Die beiden anderen Impfgesetze der Zweiten Republik – das Tbc- und das Polio-Impfgesetz – verwirklichten wieder das Prinzip der Selbstbestimmung. Auch in der Covid-19-Pandemie hat sich die Bundesregierung bislang gegen einen Impfzwang ausgesprochen und „immer wieder unterstrichen, dass es keine allgemeine Impfpflicht geben wird. Die Regierung setzt auf Freiwilligkeit und Aufklärung.“124 Wie sich der Diskurs um die Impfpflicht in Zukunft gestalten wird, wird sich wohl 2021 im Rahmen der Covid-19-Impfung zeigen. Das Manuskript wurde im Dezember 2020 abgeschlossen. Aus diesem Grund ist das im Jänner 2022 beschlossene Covid-19-Impfpflichtgesetz nicht Inhalt dieses Beitrages.

124 So z. B. Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) (Hg.), FAQ: COVID-19 Impfung, 29. 12. 2020, 4.

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Susanne Krejsa MacManus

Medizin und der verbotene Schwangerschaftsabbruch in Österreich: 1945 bis 2004 Medicine and the forbidden Abortion in Austria: 1945–2004

Abstracts In diesem Aufsatz soll der Zusammenhang zwischen dem gesetzlich verbotenen und auch heute noch nur unter Bedingungen straffrei gestellten Schwangerschaftsabbruch und der österreichischen Medizin untersucht werden. Nach der Definition von Abtreibung werden die Felder aufgelistet, in denen ausgebildete oder in Ausbildung begriffene MedizinerInnen legal oder illegal involviert sein konnten. Näher eingegangen wird auf gerichtliche Gutachtertätigkeit, Abtreibungen nach Vergewaltigungen durch Besatzungssoldaten (nach 1945), Einführung der Fristenlösung (1975) sowie den medikamentösen Abbruch mit Mifegyne (1999). We analyse the connection between the termination of pregnancy which has been illegal and is even now only under conditions excluded from punishment and the Austrian medicine. After the definition areas are listed, in which licenced doctors or doctors still qualifiying could have been involved either legally or illegally. A closer look is made into the following fields: Forensic experts, abortions after rape by allied soldiers (1945f.), the introduction of time limit solution for the termination of pregnancy called „Fristenlösung“ up to the 14th week of pregnancy (1975), and medical abortion with Mifegyne. Keywords Abtreibung, Gerichtsmedizin, Gutachter, Strafprozesse, Besatzungssoldaten, Fristenlösung, Mifegyne Abortion, Forensic Medicine, Court Experts, Criminal Case, Allied Soldiers, Time Limit Solution for the Termination of Pregnancy, Mifegyne „Können Sie wirklich von mir verlangen, daß ich meine ganze Existenz aufs Spiel setze? Ich kann es nicht. Frau Schmidt, ich darf und kann es nicht. Und ich kann Sie nur aus aller Kraft davor warnen, sich Pfuschern anzuvertrauen. Ich sehe täglich zu viel Elend dieser Art.“1

Die Einladung an die Autorin, an der vorliegenden Rückschau auf die Entwicklung der Medizin in Wien mitzuwirken, führte zur Überlegung, ob eine in 1 Vicki Baum, stud. Chem. Helene Willfüer, München: Heyne 1956, 81–82.

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Susanne Krejsa MacManus

Österreich bis 1975 verbotene und auch heute noch nur unter Bedingungen straffrei gestellte Handlung einen Zusammenhang mit der (akademischen, offiziellen) Medizin haben kann. Um diese Frage beantworten zu können, scheinen drei Untersuchungsschritte sinnvoll: einerseits die Untersuchung der straf- und medizinrechtlichen Situation auf Basis einer klaren Definition, zweitens der Blick auf internationale Konstellationen – falls möglich und sinnvoll – und drittens die Prüfung der gesellschaftlichen Realitäten. Da der Terminus „Schwangerschaftsabbruch“ nach den Erfahrungen des Museums für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch (MUVS) sowohl im Untersuchungszeitraum als auch bei heutigen LeserInnen unterschiedlich verstanden wird, soll zuerst eine Abklärung erfolgen: Heute nicht mehr gebräuchlich, aber historisch noch präsent sind die Umschreibungen „peinlicher Eingriff“, „verbotener Eingriff“ und „Schwangerschaftsunterbrechung“. Die heute gebräuchlichen und medizinisch korrekten Termini „Schwangerschaftsabbruch“, „vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft“ und die Kurzform „Abtreibung“ werden zwar gemeinhin verstanden, doch besteht nach den Beobachtungen des MUVS über den Inhalt der Begriffe Unklarheit bzw. Unvollständigkeit im öffentlichen Diskurs. Sie werden im Folgenden gleichberechtigt eingesetzt. Um irrige Interpretationen auszuschließen, erfolgt nachfolgend eine Klarstellung: Einerseits geht es um die absichtliche vorzeitige Beendigung einer (ungewollten) Schwangerschaft; eingeschlossen ist aber auch die sogenannte verschleppte oder verspätete Abtreibung2 entweder als Neonatizid oder als „Neugeborenenweglegung“.3 Für die Prüfung der möglichen Relevanz für MedizinerInnen ist aber auch der bloße Versuch eines Schwangerschaftsabbruchs einzubeziehen. Dazu kommen Eingriffe oder Abtreibungsversuche bei Frauen, bei denen eine Schwangerschaft nur vermutet wird, aber nicht bewiesen ist. Ein Vergleich der Situation Österreichs mit internationalen Konstellationen im Beobachtungszeitraum von 1945 bis 2004 würde angesichts der Allgegenwärtigkeit des Themas den Rahmen dieses Beitrags sprengen und vom Fokus Österreich wegführen. Ein Herausgreifen einzelner Länder wäre willkürlich und wissenschaftlich nicht argumentierbar. Daher soll stattdessen auf den von Florian Willems geschaffenen Terminus „Abtreibungstourismus“4 verwiesen wer2 Susanne Krejsa MacManus/Christian Fiala, Fristenlösung – In der Not benutzen die Verzweifelten Malvenwurzeln, in: ÄrzteWoche 25 (2019). 3 Claudia Klier, Challenges in the prevention of neonaticide and infant abandonment, Adressing Filicide, Key note, Melbourne, 13.–14. November 2019. 4 Nach Florian Willems, „Schwangerschaftsabbruchtourismus“. Frauen und ÄrztInnen unterwegs in Europa, URL: https://www.yumpu.com/de/document/read/21308345/schwangerschaf tsabbruchstourismus-florian-willems-abtreibung (abgerufen am 7. 6. 2021).

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Medizin und der verbotene Schwangerschaftsabbruch in Österreich: 1945 bis 2004

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den: „Frauen, die es sich leisten konnten, sind schon immer zum Abbruch ins Ausland gefahren, wenn dieser Eingriff in ihrem Land verboten war.“5 Mit anderen Worten: Abhängig von der jeweiligen politischen Lage und daraus folgenden gesetzlichen Bestimmungen war Abtreibung in anderen Ländern möglich, schwierig oder verboten; eine Darstellung dieser Auf-und-ab-Bewegungen entspricht eher einer politischen als einer medizinhistorischen Fragestellung und soll daher hier nicht durchgeführt werden. Für die Prüfung der tatsächlichen Beteiligung von MedizinerInnen am Schwangerschaftsabbruch in der Zeit von 1945 bis 2004 soll nachfolgend die gesellschaftliche Realität beleuchtet werden: Abtreibungen (Selbst-, Fremd- und ärztliche Abtreibungen) waren bis zur Einführung effektiver Verhütungsmethoden in den 1960er Jahren häufig. Zahlen aus dem Jahr 1955 sprechen beispielsweise von jährlich bis zu ca. 300.000 Abtreibungen in Österreich.6 Daraus ist ablesbar, dass gesetzliche Einschränkungen oder Verbote die Lebensrealität der MedizinerInnen sowie der betroffenen Frauen zwar beeinflussen, aber nicht außer Kraft setzen können. Nach der Darstellung der Grundlagen soll das zur Verfügung stehende Material beschrieben werden, bevor auf die Beantwortung der Fragestellung eingegangen wird. Für die Sichtung der Sekundärliteratur konnte auf die Bibliothek des MUVS zurückgegriffen werden. Sie enthält nahezu die gesamte vorhandene einschlägige Literatur in mehreren Sprachen und enthält medizinische, medizinhistorische, politische, sozialpolitische und literarische Werke. Die Bestände werden laufend und systematisch erweitert. Das ebenfalls vom MUVS geführte Archiv orientiert sich primär an den Erfordernissen der Objektsammlung und der Wissensvermittlung, enthält aber auch wesentliche Bestände in Zusammenhang mit einschlägig tätigen WissenschafterInnen, MedizinerInnen, KonstrukteurInnen und PionierInnen sowie ZeitzeugInnen. Eine wichtige Quelle ist weiters das Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA) bis etwa 1966. Angesichts der Fülle und Unterschiedlichkeit des auswertbaren Materials sowie aufgrund von erfolgten Skartierungen ist eine systematische Erfassung und/oder Auswahl nicht möglich, vielmehr können nur Stichproben oder eine Weiterverfolgung zufällig bekannt gewordener Umstände durchgeführt werden. Fast alle in Strafprozessakten enthaltenen Schriftstücke wurden von Amtspersonen verfasst, sodass weder die angeklagten MedizinerInnen noch 5 Museum für Schwangerschaft und Verhütung. Museumstour, URL: https://www.muvs.org/de /museum/tour/ (abgerufen am 7. 6. 2021). 6 Otto Tschadek, zit. n. Hellmut Andics, „Wenn das so weitergeht, wird Anno Domini 2300 der letzte Österreicher zu Grabe getragen“, Bild-Telegraph, 29. 10. 1955, 9.

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Susanne Krejsa MacManus

die angeklagten Frauen und HelferInnen persönlich und in ihrer eigenen Diktion zu hören sind.7 Ähnliches gilt auch für das Archiv der Republik (AdR) des Österreichischen Staatsarchivs (ÖStA), das Niederösterreichische Landesarchiv (Außenstelle Bad Pirawarth), Archiv Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA). Agentur- und Zeitungsmeldungen konnten von der ONB-Datenbank ANNO – AustriaN Newspapers Online (bis 1946) sowie ab 1955 aus dem Archiv der Austria Presse Agentur (APA) abgerufen werden. Es wird festgehalten, dass auf den Schutz personenbezogener Daten strikt geachtet wurde. Aus den geschilderten Quellen lässt sich erkennen, in welcher Weise ausgebildete oder in Ausbildung begriffene MedizinerInnen mit Schwangerschaftsabbrüchen jeglicher Form konfrontiert oder in diese involviert waren. Nachfolgend ein knapper Überblick über die tatsächlichen Arbeitsfelder, von denen anschließend einige herausgegriffen und vertieft werden. Bis zur Einführung der Fristenlösung (1975) mussten Frauen häufig medizinisch versorgt werden, deren Gesundheit und Leben durch laienhafte und ungeeignete Methoden oder Umstände (z. B. Antibiotikamangel) beschädigt worden waren. Bei unterlassener Anzeige konnte es zu rechtlichen Konsequenzen für die behandelnden MedizinerInnen kommen. Weiters befanden sich unter den durch Strafprozesse bekannt gewordenen illegalen „AbtreiberInnen“ selbst auch ÄrztInnen (aktiv oder pensioniert) und Studierende der Medizin. Angehörige oder AbsolventInnen medizinischer Fakultäten wurden auch als Sachverständige oder Gutachter bei Gerichtsprozessen zu Abtreibung, Neonatizid und Neugeborenenweglegung befragt. Angehörige der Medizin nahmen unterschiedliche Positionen gegenüber dem Verlangen auf Schwangerschaftsabbruch ein – z. B. ablehnend, duldend, aktiv ausführend, konservativ-katholisch geprägt, völkisch und/oder national beeinflusst, sozial orientiert, mitleidsvoll, für oder gegen das Selbstbestimmungsrecht von Frauen engagiert oder auch eine (riskante) Einkommensquelle nützend. Mitunter waren auch hier die Grenzen nicht eindeutig. Wenn eine medizinische Indikation vorlag, durften Schwangerschaftsabbrüche von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt werden. Ebenfalls legal war der Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer zu erwartenden schweren Behinderung des Kindes sowie bei Mädchen unter 14 Jahren. Die ausführliche Beleuchtung dieser Aufgaben und Interventionen von MedizinerInnen im Zeitraum 1945 bis 1975 wird im vorliegenden Beitrag durch 7 Susanne Krejsa MacManus/Christian Fiala, Abtreibungen vor Gericht: Macht und Ohnmacht durch Sprache. Richter und Angeklagte agieren in unterschiedlichen Sprachwelten, in: Wiener Geschichtsblätter 75 (2020) 4, 269–279.

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Medizin und der verbotene Schwangerschaftsabbruch in Österreich: 1945 bis 2004

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mehrere spezifische Aspekte ergänzt, ohne die die Darstellung nicht komplett wäre. Dazu gehört der auf die Jahre 1945 bis ca. 1946 begrenzte medizinische Einsatz von Schwangerschaftsabbrüchen nach Vergewaltigungen durch Besatzungssoldaten. Ebenfalls nicht fehlen dürfen in der vorliegenden Zusammenschau standespolitische Diskussionsthemen: etwa die Entstehung, Diskussion und Durchführung der sogenannten Fristenlösung 1975. Dabei handelte es sich um die Einführung der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs unter bestimmten Rahmenbedingungen, die von der Ärzteschaft unterschiedlich angenommen wurde. Besprochen wird auch die Entwicklung und Zulassung der medikamentösen Methode des Schwangerschaftsabbruchs Ende der 1990er Jahre.

MedizinerInnen als GerichtsgutachterInnen (1945 bis 1975) Das umfangreichste Aufgabengebiet für Angehörige der Medizin bestand in der Rolle als GerichtsgutachterInnen, damit das Gericht die folgenden gesetzlich erforderlichen Fragen beantworten konnte:8 Handelte es sich um eine (nur) versuchte oder eine erfolgte Abtreibung? Wurde eine geeignete oder eine ungeeignete Methode angewandt? War die Frau überhaupt schwanger oder glaubte sie nur, schwanger zu sein?9

Dazu mussten ihnen Aussagen, Fakten und Informationen zur Verfügung stehen, die aber von den Angeklagten aus Eigeninteresse oder Unwissenheit nicht geliefert werden konnten. Wie sich aus den ausgewerteten Strafprozessakten erkennen lässt, stammte die Mehrheit der Betroffenen aus einem bildungsfernen Milieu und lieferte gerade im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs nur wenige belastbare Fakten.10 Auch hängt es vom Wissensstand der involvierten Frau ab, ob sie den Unterschied zwischen Verhütung und Abtreibung kennt,11 ob sie also bewusst einen Schwangerschaftsabbruch angestrebt oder, ihrer Meinung nach, eine Maßnahme gesetzt hat, damit die ausbleibende Periode wieder einsetzt. „Es ist oft schwierig, sich ein Bild zu machen von den Vorstellungen und Kenntnissen der Frauen auf geburtshilflich-gynäkologischem Gebiet.“12

8 § 145 StGB.: „Ist die Abtreibung versucht, aber nicht erfolgt, so soll die Strafe auf Kerker zwischen sechs Monaten und einem Jahre ausgemessen; die zustande gebrachte Abtreibung mit schwerem Kerker zwischen einem und fünf Jahren bestraft werden.“ 9 Krejsa MacManus/Fiala, Abtreibungen vor Gericht, 269. 10 Ebd. 11 Gertrud Basten, Was denken und wissen weibliche erwachsene Personen von der Fruchtabtreibung?, Diss., Bonn 1949, 5. 12 Ebd.

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Susanne Krejsa MacManus

Aber auch das Verständnis für die und die Bewertung der möglicherweise strafmindernden Motive für einen Schwangerschaftsabbruch stellten für das Gericht eine schwer zu bewältigende Herausforderung dar: „Wie stellt ein 34jähriger Jurist fest, ob sich eine Frau, die unerwünscht schwanger geworden ist, in einer schweren Notlage befindet? Er stellt einen Katalog von Fragen zusammen – nach den familiären Verhältnissen, den Eltern, Freunden, dem Ehemann und, falls mit diesem identisch, dem ‚Erzeuger‘, nach Einkommen und Schulden, nach den Bedingungen am Arbeitsplatz und entscheidet dann: Notlage oder nicht.“13

Um diese Distanz zwischen Gericht und Angeklagten zu überbrücken, ist seit 1873 die Heranziehung ärztlicher GutachterInnen in Strafverfahren in der österreichischen Strafprozessordnung (StPO) verankert.14 GutachterInnen bzw. Gerichtssachverständige werden vom Gericht nach eigenem Gutdünken bestellt. Sie geloben, sich in ihrem Gutachten an wissenschaftliche Präzision und moralische Integrität zu halten.15 Ab 1953 gibt es „gerichtlich beeidete Sachverständige“, deren Namen im Österreichischen Amtskalender veröffentlicht werden, aber im Wesentlichen nur für Wien (später auch für große Teile Niederösterreichs und des Burgenlandes) gelten. Für das Fach Geburtshilfe und Frauenheilkunde waren im Jahr 1953 nur zwei Namen aufgelistet: Julius Petzold (1892– 1971) und Vilma (Wilhelmine) Schrattenbach (1899–1991). Für das Fach Gerichtsmedizin waren es sechs Namen (Leopold Breitenecker (1902–1981), Wilhelm Holczabek (1918–2001), Walter Schwarzacher (1892–1958), Franz Stanka (geb. 1897), Karl Szekely (gest. 1974) und Norbert Wölkart (1921–1991). Wie erwähnt konnten Gerichte aber frei entscheiden, welche ExpertInnen sie als GutachterInnen heranzogen. Die Aufgabe der GutachterInnen ist die Beratung des Gerichts zur Entscheidungsfindung; sie können nur Empfehlungen aussprechen. Dazu vergleichen sie die Unterlagen, Stellungnahmen und Aussagen der Angeklagten und sonstiger Involvierter, denn: „Es ist die Aufgabe der Sachverständigen, auf Grund ihrer medizinischen und psychologischen Fachkenntnisse ihr Gutachten abzugeben.“16 Herausgefunden werden sollte beispielsweise, „[…] ob die Curettagen lediglich eine Schwangerschaftsunterbrechung tarnen sollten und ob medizi13 Hans Holzhaider, Prozess gegen einen Paragrafen, Süddeutsche Zeitung, 4. 1. 2021. 14 Wilhelm Holczabek, Das ärztliche Gutachten als Grundlage richterlicher Entscheidungen, in: Forschung und Praxis der Begutachtung 55 (1999), 10. 15 Vgl. § 1 Eidesablegungsgesetz von 1868: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden einen reinen Eid, daß ich den Befund und mein Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln der Wissenschaft […] abgeben werde; so wahr mir Gott helfe!“ Gesetz vom 3. Mai 1868 zur Regelung des Verfahrens bei den Eidesablegungen vor Gericht, für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, URL: https://alex.onb. ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb&datum=18680004&seite=00000067 (abgerufen am 21. 11. 2021). 16 Basten, Fruchtabtreibung, 5.

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Medizin und der verbotene Schwangerschaftsabbruch in Österreich: 1945 bis 2004

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nisch ein Nachweis darüber vorliegt, dass die Fehlgeburten auf künstlich-mechanischem Wege erfolgten“.17 In vielen Fällen sind die Beweise nicht eindeutig, weshalb Gutachter häufig darauf verwiesen, dass sie nur Hinweise geben, aber dem Gericht die Entscheidung nicht abnehmen könnten: „Es muß […] der Beweiswürdigung des Gerichtes überlassen bleiben, welcher Darstellung Glauben zu schenken ist und ob verbotene Eingriffe lediglich unter Vorspiegelung einer medizinischen Indikation gesetzt worden sind.“18 Nicht außer Acht zu lassen ist, dass Gutachter mitunter mehr oder weniger direkt versuchten, Kollegen zu entlasten. Sie erklärten, „daß wir den beschuldigten Ärzten eine goldene Brücke gebaut haben und die Staatsanwaltschaft aufgrund unseres Gutachtens nur nach § 357a StG.19 angeklagt hat“.20 Obwohl Schwangerschaftsabbrüche anatomisch zur Gynäkologie und Geburtshilfe zählen, wurden in Strafprozessen in erster Linie Gerichtsmediziner als Gutachter herangezogen. Die Gründe dafür waren zum einen in der Tatsache zu finden, dass der Schwangerschaftsabbruch – weil verboten – nicht im Curriculum der Gynäkologie und Geburtshilfe enthalten war. Zum anderen geht es um die Kommunikation mit dem Gericht. Dies schilderte schon 1878 der Wiener Gerichtsmediziner Eduard von Hofmann (1837–1897): „Erstens, dass die Anwendung medicinischer Kenntnisse in foro ein volles Verständnis des Zweckes verlangt, zu welchem man dieser Kenntnisse bedarf, dass zweitens die Anwendung dieser Kenntnisse formell in bestimmter Weise erfolgen muss, wenn sie dem Richter verwerthbar sein soll, und dass drittens eben aus der eigenthümlichen, durch bestimmte Rechtsfälle dictirten Anwendung medicinischen Wissens Gesichtspunkte und Fragen sich ergeben, die ganz specifischer Art und der sonstigen Aufgabe und Richtung der Heilkunde in der Regel vollkommen fremd sind.“21

Neben ihrer Ausbildung hatten GerichtsmedizinerInnen auch das nötige Anschauungsmaterial – im Gegensatz zu GynäkologInnen und GeburtshelferInnen: 17 Gutachten vom 8. 12. 1956, Vr 1648/1956, 2.3.4.A11. Landesgericht für Strafsachen, Vr-Strafakten, 1851–1950 (1920–1937 LGSt I und LGSt II), (1951), 1953–1968, Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA). 18 Gutachten vom 17. 2. 1956, Vr 856/1955, 2.3.4.A11. WStLA. 19 § 357a StGB. 1937: „Ein Arzt, der in der Absicht, von einer Schwangeren eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Lebensgefahr oder Gefahr dauernden schweren Schadens an der Gesundheit abzuwenden, an der Schwangeren eine Handlung, wodurch eine Fehlgeburt eingeleitet oder die Frucht im Mutterleib getötet werden soll, vornimmt oder dazu rät, ohne sich vorher in gewissenhafter Weise, sofern aber darüber besondere Vorschriften bestehen, auf die darin bestimmte Art überzeugt zu haben, dass eine solche Gefahr wirklich besteht, macht sich eines Vergehens schuldig und wird das erste Mal mit Arrest von einem bis zu sechs Monaten, bei Wiederholung aber mit Untersagung der Praxis für bestimmte Zeit oder für immer bestraft, wenn die vermeintliche Gefahr nicht bestanden hat.“ 20 Leopold Breitenecker, 21. 1. 1957, Vr 1356/1955, 2.3.4.A11. WStLA. 21 Eduard Hofmann, Lehrbuch der Gerichtlichen Medicin. Mit besonderer Berücksichtigung der deutschen und österreichischen Gesetzgebung, Wien: Urban & Schwarzenberg 1878, 3.

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Susanne Krejsa MacManus

„Da kriminelle Fruchtabtreibungen häufig zum Tode führen, hat man oft Gelegenheit, den Abortus aus dem Leichenbefunde zu erkennen.“22 An dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts geändert: „Gerichtsmediziner sind aufgrund ihrer Ausbildung und aufgrund ihrer täglichen Routine mit den Bedürfnissen und Anforderungen der Gerichte sehr vertraut. Mit anderen Worten, sie formulieren im Allgemeinen sehr verständliche und klare Befunde, sodass sich das Gericht auskennt und keine weiteren Rückfragen erforderlich sind.“23

Gerichte konnten in der Auswahl ihrer Gutachter frei entscheiden. Sie konnten also beispielsweise Klinikvorstände oder andere Mitglieder der Universität Wien in Leitungspositionen heranziehen, auch wenn diese keine gerichtlich beeideten Sachverständigen waren. Ein Beispiel dafür ist Hans Zacherl (1889–1968), Ordinarius an der II. Wiener Universitäts-Frauenklinik, dessen „Gutachten“ bei einem Strafprozess allerdings eher seine weltanschauliche Meinung als eine medizinische Sachverhaltsdarstellung wiedergibt: „Der den katholischen Kreisen [Nahestehende] vertrat in seinem Gutachten die Auffassung, eine Abtreibung sei nur dann zu rechtfertigen, wenn sie die einzige Möglichkeit darstelle, das Leben der Kindesmutter zu erhalten.“24 Dem gegenüber habe der Gerichtsmediziner Holczabek eine Schwangerschaftsunterbrechung dann für gerechtfertigt gehalten, wenn der Mutter infolge der Entbindung schwere gesundheitliche Schäden erwachsen würden.25 Dem Gericht stand noch eine weitere Möglichkeit offen, sich medizinisch beraten zu lassen: „Bis 1993 gab es in der StPO (§ 126 Abs. 2) unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, das Gutachten einer Medizinischen Fakultät einzuholen, an dessen Erarbeitung u. U. auch Gynäkologen beteiligt gewesen sein konnten. Allerdings wurde davon nur sehr selten Gebrauch gemacht.“26

Auch finden sich in Strafprozessakten vereinzelt Vertreter anderer medizinischer Berufe wie Amtsärzte oder Internisten, die beigezogen wurden, um vorgeblich 22 Anton Haberda/Eduard Hofmann/Julius Wagner-Jauregg, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin mit gleichmäßiger Berücksichtigung der deutschen und österreichischen Gesetzgebung, Berlin–Wien: Urban & Schwarzenberg 1927, 215. 23 Georg Bauer (Gerichtsmediziner), persönliche Mitteilung, Wien, 5. 2. 2020. 24 Diskussion über Paragraph 144 – Gericht fällte einen Freispruch, Neuer Kurier, 9. 11. 1955, 4. 25 Ebd. 26 Stefan Pollak (Gerichtsmediziner, Freiburg), persönliche Mitteilung, 24. 3. 2019. „Ein Fakultätsgutachten war seinerzeit die letzte Gutachtenmöglichkeit bei umstrittenen oder widersprüchlichen Gutachten. Das war dann endgültig und overruled alles andere. Beauftragt wurde eine vom Gericht als zuständig erachtete Fakultät, die dann alles Weitere intern regelte. Normalerweise wurde das Fakultätsgutachten von einem oder mehreren entsprechenden Spezialisten vorbereitet und dann vom Fakultätskollegium abgesegnet.“ sowie Herbert Budka (1992–1999 Mitglied der Kurie Professoren des Kollegiums der Medizinischen Fakultät der Universität Wien), persönliche Mitteilung, 20. 8. 2019.

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Medizin und der verbotene Schwangerschaftsabbruch in Österreich: 1945 bis 2004

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internistische Indikationen für einen Schwangerschaftsabbruch zu „entschleiern“, also aufzuzeigen, dass es sich dabei um ein nicht nach medizinischen Gesichtspunkten zustande gekommenes Gutachten handelte. Ein Beispiel dafür ist die Zuziehung des Internisten Karl Fellinger, Ordinarius der II. Medizinischen Universitätsklinik Wien. Er urteilte über die Entscheidung eines Kollegen: „Eine solche irrtümliche Annahme ist günstigstenfalls nur unter der Voraussetzung denkbar, dass sich der untersuchende Arzt mit der Patientin nur flüchtig diagnostisch beschäftigte, den Fall kaum sorgfältig überlegt hat, daher die naheliegenden Untersuchungsmethoden, die den Fall unschwer als harmlos abgeklärt hätten, verabsäumt hat.“27

Die geschilderte Aufgabe als GutachterIn ist ein vorhersehbarer Teil der Berufsausübung relevanter medizinischer Disziplinen. Anders verhält es sich mit der Heranziehung in Krisensituationen, wie sie beispielsweise nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs entstanden. Auch dazu liegen bisher noch wenige Forschungsergebnisse vor.

Medizinische Hilfe nach Vergewaltigungen durch Besatzungssoldaten (1945–1946) „Nach Angaben Wiener Ärzte sollen [alleine] in den drei Wochen nach dem sowjetischen Einmarsch 87.000 Wienerinnen von Sowjetsoldaten vergewaltigt worden sein.“28 Daraus resultierende Schwangerschaften waren für die meisten Frauen unerträglich: Einerseits hinsichtlich der Erklärung gegenüber den noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrten Ehemännern, andererseits hinsichtlich der in der Bevölkerung ideologisch infiltrierten Abscheu vor „Kindern des Feindes“29, also „Russenkindern“30 und „Negerkindern“31. ZeitzeugInnenberichte erwähnen Selbstmorde oder Selbstmordgedanken in Zusammenhang mit Vergewaltigungen.32

27 Karl Fellinger, Gutachten, 21. 1. 1957, Vr 1356/1955, 2.3.4.A11. WStLA. 28 Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München: Carl Hanser Verlag 2006, 36. 29 Barbara Stelzl-Marx/Silke Satjukow (Hg.), Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland (Kriegsfolgen-Forschung 7), Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2015, 44. 30 Ebd., 304. 31 Österreichs schwarze Besatzungskinder, URL: https://www.derstandard.at/story/2000127119 708/oesterreichs-schwarze-besatzungskinder (abgerufen am 2. 6. 2021). 32 Verena Weninger, Suizid und Vergewaltigung von Frauen 1945 in Wien, Dipl.-Arb., Wien 2015.

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So berichtete beispielsweise die Tochter einer Interviewten, „dass ihre Mutter nach einer Vergewaltigung sich selbst und ihrer Tochter die Pulsadern aufschnitt. In letzter Minute konnten der Selbstmord und der Tod des Mädchens verhindert werden. Bis heute kann ihre Mutter nicht darüber sprechen.“33 Eine andere vergewaltigte Frau nimmt nur wegen ihrer drei Kinder Abstand von einem Selbstmord: „Wenn ich ein Dirndl gewesen wär, ohne Kinder, hätte ich mich eh erschossen.“34 Angesichts der großen Zahl von aus Vergewaltigungen resultierenden unerwünschten Schwangerschaften musste eine Lösung gefunden werden. Allerdings war der Schwangerschaftsabbruch im Jahr 1945 verboten. Ob eine spontane Novellierung der Gesetzeslage mit Einführung einer sozialen Indikation möglich gewesen wäre, wurde von verschiedenen Stellen unterschiedlich eingeschätzt: „Im Ministerium für soziale Verwaltung und damit sehr wahrscheinlich auch im Volksgesundheitsamt wurde […] erwartet, dass eine Reformierung der gesetzlichen Grundlagen für den Schwangerschaftsabbruch in unmittelbarer Zukunft bevorstünde, daß eine Liberalisierung der geltenden Regelung durchsetzbar sein würde.“35

Auch in der Steiermark rechnete man mit einer [baldigen] gesetzlichen Regelung „zur Abhilfe [dieses] Notstandes“36. Da bis dahin Lösungen gesucht werden mussten, sahen sich die Ärzteschaft sowie Gesundheits- und SozialpolitikerInnen gezwungen, den betroffenen Frauen zu helfen, ohne jedoch die ÄrztInnen der Gefahr einer Verurteilung wegen eines verbotenen Schwangerschaftsabbruchs auszusetzen. Zunächst erhielten alle Vorstände von gynäkologischen Abteilungen sowohl vom Sozialministerium als auch vom Gesundheitsamt der Stadt Wien mündlich die Ermächtigung, im Falle von Vergewaltigungen einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen.37 Doch bereits am 3. Juli 1945 kam es zu einer wegweisenden Besprechung im Rahmen des Ministeriums für soziale Verwaltung. Teilnehmer waren der Chef der Wiener Gerichtsmedizin, Fritz Reuter (1875–1959), die Gynäkologen Tassilo Antoine (1895–1980), Chef der I. Universitäts-Frauenklinik Wien, Heinrich Kahr (1888–1947), Vorstand der II. Universitäts-Frauenklinik Wien, Maximilian Ap33 Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich – Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955, Wien: Böhlau 2012, 471. 34 Ebd., 472. 35 Maria Mesner, Frauensache? Zur Auseinandersetzung um den Schwangerschaftsabbruch in Österreich, Wien–München: Jugend und Volk Verlagsgesellschaft 1994, 43. 36 Rundschreiben der Provisorischen Steiermärkischen Landesregierung an alle Gesundheitsämter betreffend Schwangerschaftsunterbrechungen aus gesundheitlichen oder anderen Gründen, 26. 5. 1945, abg., in: Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx/Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955, (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Sonderbd. 5), Graz–Wien– München: Oldenbourg 2005, Dok. Nr. 118. 37 Verantwortung des angeklagten Arztes, Vr 4718/46, 2.3.4.A11. WStLA.

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felthaller (1893–1956), Wilhelminenspital, Julius Richter (1878–1958), Krankenhaus Wieden, und Hans Heidler (1889–1955), Semmelweis-Frauenklinik, sowie Tarbuk38 als Vertreter der Wiener Ärztekammer. Entsprechend ihrer erzielten Regelung durften an den Wiener öffentlichen Krankenanstalten bei den betroffenen Frauen kostenlos Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden, jedoch sollten in den Krankengeschichten die Worte „Russen“ oder „Vergewaltigung“ keinesfalls aufscheinen.39 Eine mögliche politische Begründung für dieses Verschweigen gibt Verena Weninger. Sie vergleicht die Situation Österreichs mit jener Ostdeutschlands: „Die Sowjetsoldaten waren als Befreier anzusehen, Kritik an den Vergewaltigungen wurde im Keim erstickt und sofort unterbunden. Die These, dass Vergewaltigungen aus Angst vor einem Bruch der freundschaftlichen Beziehungen nicht öffentlich thematisiert wurden, gilt wohl auch für Österreich. Österreich war nach dem Krieg auf die Gunst der Alliierten angewiesen. Es war vor allem die Sowjetunion, die sich für einen selbständigen Staat Österreich einsetzte.“40

So wurde also für den (kostenlosen) Schwangerschaftsabbruch die folgende Formulierung vereinbart: „Patientin wird aus gesundheitlichen Gründen und kriegsbedingter Notlage zur Schwangerschaftsunterbrechung aufgenommen.“41 Um die durchführenden ÄrztInnen von juristischen Konsequenzen freizuhalten, war jedoch eine ausführliche schriftliche Indikationsstellung erforderlich.42 Die erzielte Vereinbarung wurde nur einem beschränkten Adressatenkreis zugänglich gemacht und nicht veröffentlicht.43 Bis Ende 1945 holten einige Krankenanstalten wie etwa die Frauenklinik Gersthof zu ihrer eigenen Absicherung zusätzlich eine Bestätigung der Wiener Ärztekammer ein: „Am 31. Dez. 1945 wurden wir von der Ärztekammer schriftlich verständigt, daß ein weiterer Auftrag für die Ausstellung einer solchen Bestätigung nicht mehr vorliege, die Entscheidung den Kliniken daher selbst überlassen sei. Am 31. März 1946 erging die Weisung, daß nunmehr die Univ. Frauenkliniken und das Krankenhaus Lainz derartige Schwangerschaftsunterbrechungen durchführen durften.“44

Die Frauenklinik Gersthof verlangte weiters eine eidesstattliche Erklärung der Patientinnen, dass sie durch eine Vergewaltigung von einem russischen Soldaten schwanger geworden seien. Dabei berief sich die Klinik auf eine entsprechende 38 Keine weiteren Informationen verfügbar. 39 Dr. Dinnabier/Landesgericht für Strafsachen Wien an das Gesundheitsamt der Stadt Wien vom 11. 6. 1946 zu einem Bescheid von 1945, BM für soziale Verwaltung, Sektion V. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Gruppe 03, Karton 11. 40 Weninger, Suizid und Vergewaltigung, 53. 41 Dr. Dinnabier. ÖStA, AdR, Gruppe 03, Karton 11. 42 Mesner, Frauensache?, 39–40. 43 V-45.701-21/46, Staatsamt für soziale Verwaltung. ÖStA, AdR, Gruppe 03, Karton 14. 44 Verantwortung des angeklagten Arztes J. K., Vr 4718/46, 2.3.4.A11. WStLA.

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Weisung der Ärztekammer Wien. Bei einer Rückfrage des Landesgerichts Wien im Zuge eines Strafprozesses bestritt die Ärztekammer jedoch, jemals eine derartige allgemeine Weisung an die Ärzte gegeben zu haben.45 Wie Zeitzeuginneninterviews zeigen, war der Bevölkerung trotz der offiziellen Verheimlichung das Wissen über die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs bekannt geworden. So erhielt etwa eine Betroffene von einer Bekannten den Hinweis, „daß sie in dieser Sache [Vergewaltigung durch Russen] ohne weiteres in jedes Spital gehen könne, wo ihr auch in diesem Falle geholfen werden wird. Ich sagte ihr auch, dass mir das Wiednerspital und Allgemeine Krankenhaus bekannt ist, dass man dort solche Frauen annimmt.“46

Auch andere Informationsquellen werden in Berichten erwähnt: „Tatsache ist, daß in den ersten Monaten nach Kriegsende in den Wiener Krankenhäusern Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen wurden, und daß Frauen über diese offiziell geduldete, aber nicht durch das Gesetz gedeckte Maßnahme mit Plakaten informiert wurden.“47

Diese Kenntnis nützten auch Frauen, deren Schwangerschaft nicht das Resultat einer Vergewaltigung durch Soldaten war. Beratungsstellen gaben dazu inoffiziell Empfehlungen ab: „Als wir bereits im Hofraume der Frauenklinik waren, teilte mir D. mit, daß ich [laut Beratungsstelle] anzugeben hätte, daß meine Schwangerschaft durch einen Russen herrühre.48 Als ich in der Aufnahmekanzlei der Frauenklinik war, wurde mir nahegelegt, daß ich eine eidesstattliche Erklärung darüber abgeben müsse, daß ich von einen ‚Stuprun‘ [sic!] vergewaltigt worden bin.“49

Wurde die falsche Behauptung aber aufgedeckt, etwa durch eine Anzeige, bekam auch der Arzt oder die Ärztin rechtliche Schwierigkeiten, der oder die sich auf die Angabe der Frau verlassen hatte.50 Die Besprechungsprotokolle vom 3. Juli 1945 geben auch Einblick in die beengten organisatorischen Möglichkeiten im Vergleich zum Bedarf an Schwangerschaftsabbrüchen: So waren etwa an der II. Universitäts-Frauenklinik rund 50 Betten ausschließlich für Schwangerschaftsabbrüche reserviert; zwischen 21. Mai und 3. Juli 1945 waren bereits 273 entsprechende Eingriffe durchgeführt 45 Alexander Hartwich, 4. 6. 1946, Vr 4718/46, 2.3.4.A11. WStLA. 46 Zeugenaussage der Angeklagten vom 21. 11. 1946, Vr 896/1945, 2.3.4.A11. WStLA. 47 Irene Bandhauer-Schöffmann/Ela Hornung, Vom „Dritten Reich“ zur Zweiten Republik, in: David F. Good/Margarete Grandner/Mary Jo Maynes (Hg.), Frauen in Österreich. Beiträge zu ihrer Situation im 19. und 20. Jahrhundert, Wien u. a.: Böhlau 1994, 225–246, 232. 48 Angaben der Beschuldigten vom 17. 5. 1946, Vr 4718/46, 2.3.4.A11. WStLA. 49 Ebd. 50 Vr 4718/46, 2.3.4.A11. WStLA.

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worden. Im Krankenhaus Wieden mussten täglich zwölf bis 14 Eingriffe vorgenommen werden, eine weitere Ausweitung war kapazitätsmäßig nicht möglich. Ähnlich war die Situation an der I. Universitäts-Frauenklinik. Lediglich das Wilhelminenspital mit 74 Betten hatte noch Erweiterungsmöglichkeiten, benötigte aber zusätzliches Personal. Die Semmelweis-Klinik konnte 20 bis 30 ihrer 150 Betten für Schwangerschaftsabbrüche reservieren. Um den Bettenmangel zu beheben, wurden im Mai 1946 alle geburtshilflich-gynäkologischen Abteilungen öffentlicher Krankenhäuser sowie das Frauenhospiz der Wiener Gebietskrankenkasse in das Programm einbezogen.51 Die Wiener Regelung hatte auch Einfluss auf andere Bundesländer, zum Beispiel auf das Burgenland: „Etwa im Juni 1945 kam eine Kommission vom Gesundheitsamt in Wien I, Hanuschgasse 3, ins Spital nach Eisenstadt zur Besichtigung. […] Wir brachten mit den Herren verschiedene Angelegenheiten des Spitals zur Sprache und fragten u. a. auch, ob man bei den Vergewaltigungen Abtreibungen vornehmen könne. Die Herren äußerten ihre Meinung, dass man in solchen Fällen die Abtreibungen schon durchführen könne. Man solle das nur machen, ohne Aufsehen zu erregen.“52

In der Steiermark „gab die provisorische Steiermärkische Landesregierung am 26. Mai 1945 Abtreibungen ‚bis zur gesetzlichen Regelung durch die österreichische Bundesregierung‘ frei. [Dadurch waren sie aus] ‚ethischer Anzeige bei erwiesenen Notzuchtfällen‘ möglich, [wenn] ‚mit Sicherheit oder großer Wahrscheinlichkeit ein Notzuchtakt begangen‘ worden war.“53

Ähnlich wie in Wien durfte der Eingriff nur in öffentlichen Krankenanstalten vorgenommen werden; die Kosten trug die Krankenkasse oder die Landesregierung. Für alle am Prüfungs- und Feststellungsverfahren beteiligten Personen bestand die Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit. Zwischen Anfang Juni 1945 und Ende Dezember 1945 wurden rund 635 Schwangerschaftsabbrüche nach angezeigten Vergewaltigungen durchgeführt.54 Eine weitere Aufgabe in Zusammenhang mit Vergewaltigungen fiel den Amtsärzten zu. „Soferne das Verbrechen erwiesen oder auf Grund der gepflogenen Erhebungen mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist“, mussten sie den betroffenen Frauen eine Bescheinigung ausstellen, um ihnen damit das

51 52 53 54

V-45.701-21/46, Staatsamt für soziale Verwaltung. ÖStA, AdR, Gruppe 03, Karton 14. Vernehmung W.B., 24. 7. 1947, Vr 4005/1945, 2.3.4.A11. WStLA. Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich, 475. Lukas Schretter, LBI für Kriegsfolgenforschung, persönliche Mitteilung, 10. 5. 2021.

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Recht auf öffentliche Fürsorgeleistungen zu sichern, wenn sie das Kind zur Welt brachten.55 Entgegen den erwähnten Erwartungen einer baldigen Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs dauerte es 30 Jahre, bis im Zuge der Strafrechtsreform eine Neugestaltung erfolgte. Da zur politischen und sozialen Diskussion bereits umfangreiche Untersuchungen vorliegen,56 fokussiert sich die folgende Darstellung auf Reaktionen und Stellungnahmen der Ärzteschaft. Dazu wird selten genutztes, weil nur mit Sondererlaubnis zugängliches Material der Austria Presse Agentur herangezogen, das sowohl Eigenberichte als auch bezahlte Aussendungen enthält.

Die Position von Ärztinnen und Ärzten zur Fristenlösung (bis 1975) Eine generelle Aufstellung der Ärztinnen und Ärzte, die entsprechend der Fristenlösung handelten, lässt sich nicht erstellen, da der Schwangerschaftsabbruch nicht meldepflichtig war und auch heute nicht ist. Auch ist der Umstand zu berücksichtigen, dass keine Ärztin und kein Arzt zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs verpflichtet ist, selbst wenn es der Gesundheitszustand der Patientin dringend erfordern würde. Entsprechend einer Agenturmeldung wurde bereits von Jänner bis März 1975 die Zahl von 674 Schwangerschaftsabbrüchen in denjenigen Wiener Krankenanstalten durchgeführt, die sich der Fristenlösung verpflichtet fühlten: die Semmelweis-Klinik, das Wilhelminenspital und die Rudolfstiftung. Allerdings erreichten sie damit bereits ihre Kapazitätsgrenze. Der Wiener Gesundheitsstadtrat Alois Stacher (1925–2013) bemühte sich daher um eine Erweiterung dieser Abteilungen. Die übrigen Krankenhäuser der Gemeinde Wien (KH Lainz, Elisabeth-Spital, Franz-Josef-Spital, Frauenklinik Gersthof) führten hingegen nur (sehr wenige) Schwangerschaftsabbrüche im Sinne einer von ihnen nicht näher definierten „Indikationenlösung“ durch.57 Der ÖVP-Pressedienst sprach im Gegensatz dazu von 3.000 Abtreibungen und berief sich auf Schätzungen von „mehreren [ungenannten] Vorständen von gynäkologischen Kliniken in Wien und Umgebung“. Diese wären „übereinstim55 Befürsorgung bei Vergewaltigungen, V-1584-20/46, Staatsamt für soziale Verwaltung. ÖStA, AdR, Gruppe 03, Karton 12. 56 Siehe z. B. Raimund Sagmeister, Fristenlösung – Wie kam es dazu?, Salzburg: Universitätsverlag Anton Pustet 1981; Erich Grießler, „Policy Learning“ im österreichischen Abtreibungskonflikt, Wien: Institut für Höhere Studien (IHS) 2006; Silvia Grillenberger, Eine Chronologie der Frauenbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich, Dipl.-Arb., Wien 1989. 57 674 Schwangerschaftsunterbrechungen, APA 0155, 7. 3. 1975.

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mend [der] Ansicht, dass die Fristenlösung zu einer weiteren Verminderung des ohnehin geringen Geburtenüberschusses in Österreich führen werde“.58 Dem widersprach der Wiener Gynäkologe Alfred Rockenschaub (1920–2017), Leiter der Ignaz-Semmelweis-Frauenklinik in Wien: „Über die Auswirkungen der Fristenlösung auf die Geburtenrate kann derzeit überhaupt noch keine Aussage gemacht werden. […] Der Verlauf der Geburtenrate ist in den Bundesländern, in denen von den Behörden und Ärzten das Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch missachtet wird, nicht anders als in Wien.“59

In den Jahren 1927 bis 1937 oder 1947 bis 1957 habe es, ohne Pille und ohne legalisierten Schwangerschaftsabbruch, ähnliche Schwankungen gegeben.60 Hingegen warnte der Neuropädiater Andreas Rett (1924–1997), 1975 Chef der Abteilung für Kinder mit Entwicklungsstörungen am Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel: „Je früher nach einem Abortus eine neuerliche Empfängnis stattfinde, desto grösser sei die Gefahr einer Schädigung des Kindes.“61 1977 war die Fristenlösung ein Schwerpunktthema des 22. Internationalen Ärzte-Fortbildungskongresses in Bad Gastein. Hugo Husslein (1908–1985), Vorstand der II. Universitäts-Frauenklinik Wien, bedauerte, dass durch die Fristenlösung „die erfolgreich angelaufene Beratung der Bevölkerung über Familienplanung und Empfängnisverhütung zunichte gemacht werde.“62 Im selben Jahr veranstaltete die Österreichische Gesellschaft für Kinderheilkunde ein internationales Symposion über Geburtenrückgang in Wien. Obwohl sich Kurt Baumgarten (1926–2021), Primarius der geburtshilflich-gynäkologischen Abteilung des Wilhelminenspitals, als Anhänger der Fristenlösung bezeichnete, empfahl er bei dieser Veranstaltung Schwangerschaftsabbrüche nur in Spitälern, dafür kostenlos und mit einem zweitägigen Krankenstand verbunden.63 Dazu ist zu sagen, dass die meisten der Betroffenen Spitalsaufenthalt und Krankenstand scheuten, weil sie die Beendigung ihrer Schwangerschaft ohne Wissen von Partnern/Familie/FreundInnen/NachbarInnen/ArbeitgeberInnen vornehmen wollten. Die auf den ersten Blick fortschrittliche Lösung der Kostenfreiheit wäre daher nur wenigen Frauen zugutegekommen. Auf diese Scheu der Frauen vor dem Gang ins Spital machte Rockenschaub selbst ein Jahr später beim Symposion der Gesellschaft für Angewandte Sozialmedizin und Schwangerenhilfe aufmerksam: Seiner Beobachtung nach gingen in Wien noch immer rund zwei Fünftel der Frauen in teure Privatpraxen (bis zu 58 59 60 61 62 63

Bevölkerungsentwicklung in Österreich beängstigend, APA 0206, 1. 4. 1975. Parteiaussendung: Fristenlösung und Geburtenrate, APA 0241, 28. 4. 1975. Ebd. Gehirngeschädigte: Neue Anstalt auf dem Rosenhügel eröffnet 1, APA 0145, 5. 6. 1975. Ärzte diskutieren Fristenlösung, APA 0115, 17. 3. 1977. Prim. Baumgarten für Änderung der Fristenlösung, APA 0196, 19. 11. 1977.

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10.000 österreichische Schillinge pro Eingriff 64), in den Bundesländern wären es sogar noch mehr.65 Konfessionell geprägte ÄrztInnen kritisierten die Fristenlösung auch noch fünf Jahre nach ihrer Einführung, wie zum Beispiel Heribert Berger (1921–1999), Chef der Innsbrucker Kinderklinik. Er bezeichnete sie als „menschliche Katastrophe“. Seiner Ansicht nach würden in Österreich „pro Jahr mehr Kinder abgetrieben als zur Welt kommen. In Tirol werden im Jahr nicht einmal mehr 8.000 Kinder geboren. Aber nicht allein die Zahl sei erschreckend, sondern auch die Art, wie die Kinder getötet würden, sei furchtbar.“66

Ob Berger die Embryonen67 bzw. Föten tatsächlich „Kinder“ nannte oder ob es sich dabei um eine journalistische Interpretation handelte, ist unklar. Auch die Plattform Ärzte für das Leben war der Meinung: „Abtreibung ist Mord und bleibt Mord, auch wenn dieser Mord – wie derzeit in Österreich – dreihundertmal täglich mit Billigung des Gesetzgebers verübt wird.“68 Folglich verlangte deren Obmann, der Anatomiedozent Johann Wilde, die ersatzlose Streichung des Fristenlösungsgesetzes. Es blieb nicht bei Demonstrationen und sogenannten Sühnewallfahrten, sondern es kam auch wiederholt zu Attacken gegen ÄrztInnen, die in ihrer Praxis Schwangerschaftsabbrüche durchführten, und zu Störungen der SPÖ-Maifeiern.69 1984, neun Jahre nach Einführung der Fristenlösung, zog Alfred Rockenschaub Bilanz: „Es ist von einer ‚Fristenregelung‘, nicht aber von einer ‚Fristenlösung‘ die Rede. Von einer ‚Lösung‘ sind wir leider noch weit entfernt. […] In Österreich kommt weiterhin auf eine Geburt eine Schwangerschaftsunterbrechung [sic!]. […] In den vergangenen zehn Jahren hat sich am ‚Verhütungsverhalten‘ der Österreicher nichts geändert. […] Positiv ist [aber], daß die Frauen nicht mehr mit Gefängnisstrafen rechnen müssen.“70

Die Anzahl der Geburten betrug laut Statistik Austria in diesem Jahr 89.234. Gegen diese „verantwortungslose Art des Umgangs mit unrealistischen Abtreibungszahlen“ wehrten sich die Vorstandsmitglieder der Österreichischen Ge64 Umgerechnet auf heutige Währung beliefen sich die Kosten auf etwa € 2.060, bei Berücksichtigung des Kaufkraftverlusts sogar auf das Doppelte. Der wöchentliche Durchschnittslohn im Jahr 1976 lag bei 2.502 Schilling. URL: https://unsere.arbeiterkammer.at/5-kapitel-die -70er-und-80er/ (abgerufen am 21. 11. 2021). 65 Abtreibungen: Aufklärung noch immer kaum wirksam 1, APA 0182, 17. 10. 1978. 66 Prof. Berger: Fristenlösung „Menschliche Katastrophe“, APA 0125, 13. 3. 1980. 67 Medizinische Terminologie: ‚Embryo‘: 3.–11. Schwangerschaftswoche, ‚Fötus‘: 11. Schwangerschaftswoche bis zur Geburt, ‚Kind‘: ab der Geburt. 68 Ärzte-Plattform verlangt Abschaffung der Fristenlösung, APA 0170, 18. 4. 1980. 69 Kundgebung um die Fristenlösung 2, APA 0148, 28. 12. 1980; Kundgebung auf dem „Hügel der ungeborenen Kinder“, APA 072, 28. 12. 1981; Demonstration der ‚Plattform Ärzte für das Leben‘, APA 0108, 1. 5. 1982. 70 Rockenschaub: Die Fristenlösung ist eine halbe Sache 1, APA 0044, 17. 2. 1984.

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sellschaft für Familienplanung, Marianne Springer-Kremser (geb. 1940, Ärztin und Psychotherapeutin), Elisabeth Jandl-Jager (geb. 1948, Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin) sowie der Gynäkologe Adolf Beck (geb. 1939):71 Vielmehr sei von einer Größenordnung von ca. 15.000 Schwangerschaftsabbrüchen auszugehen. Ähnlich wie schon bei der Darstellung zur Fristenlösung erwähnt, erhielten auch bei der Einführung der Methode des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs die Wortmeldungen von VertreterInnen politischer, religiöser und ideologischer Bewegungen die hauptsächliche (mediale) Aufmerksamkeit. Im vorliegenden Beitrag soll daher ein erster Versuch unternommen werden, den Ablauf sowie ärztliche Standpunkte und Aktivitäten aufzuzeigen, um so eine Basis für nachfolgende tiefergehende Untersuchungen zu schaffen.

Einführung des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs (1999) „Trotz Golfkrieg, Geiselbefreiung, Wahlkampf – das politisch heftigst diskutierte Thema in Österreich war letzte Woche eine kleine ‚Pille‘. RU 486, die sogenannte ‚Abtreibungs-Pille‘, erregt derzeit die Gemüter“, schrieb die Tageszeitung Kurier am 2. September 1990.72 Einer der ärztlichen ProtagonistInnen war der Allgemeinmediziner und VP-Gesundheitssprecher Erwin Rasinger (geb. 1952), der sich zwar gegen Schwangerschaftsabbrüche aussprach, aber sie akzeptierte: „Die meisten Frauen leiden doch seelisch und treiben nicht so einfach ab.“73 Darüber hinaus verwies er darauf, dass andere Indikationen des Medikaments bedeutend häufiger genutzt würden als die Abtreibungsfunktion, beispielsweise „hilft [es] bei Brustkrebs oder kann Frauen fruchtbar machen“.74 Daraufhin verlor er für einige Monate seine Funktion als Gesundheitssprecher des ÖVP-Nationalratsklubs und wurde von seiner Partei zum „gewöhnlichen“ Abgeordneten degradiert.75 Neun Jahre später, im Jänner 1999, wurde die seit 1988 in Frankreich und Großbritannien erhältliche Abtreibungspille schließlich unter dem Namen Mifegyne in Österreich zugelassen. In einer heftigen Diskussion nützten kirchliche und konservative Stellen den Anlass, die Fristenlösung neuerlich zu attackieren.

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Schwangerschaftsabbruch: „Keine Meldepflicht – Keine Zahlen“, APA 0071, 5. 2. 1984. Kurier, 2. 9. 1990. „Kämpfe bis aufs Letzte“, Kurier, 28. 8. 1990, 2. Ebd. Sepp Leodolter, persönliche Mitteilung, 30. 9. 2020.

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Dagegen gingen die Positionen von Ärztinnen und Ärzten in der allgemeinen Aufregung beinahe unter. Hauptbefürworter der Einführung von Mifegyne war der Wiener Gynäkologe Alfred Rockenschaub. Er hatte sich bereits im Jahr 1993 geäußert: „Wenn die Frau glaubt, schwanger geworden zu sein, dann nimmt sie diese Pille und das Ei kann sich nicht einnisten. Da könnte man sich viel ersparen – etwa die Schuldgefühle.“76 Die Österreichische Ärztekammer (ÖÄK) bezeichnete die Entscheidung für oder gegen Mifegyne als Gratwanderung. Den Schwangerschaftsabbruch sehe man als nicht wünschenswerten Weg an, andererseits müsse man sich der gesellschaftlichen Realität stellen und die Situation der Frauen sehen. Positiv an der sogenannten Abtreibungspille sei die Tatsache, dass dieser Eingriff unter Aufsicht eines klinischen Arztes vorgenommen werde.77 Nach ihrer Sitzung vom 20. Jänner 1999 veröffentlichte die ÖÄK eine Resolution.78 Darin wird der Schwangerschaftsabbruch im Vergleich zur Empfängnisverhütung als weniger erwünschte Methode dargestellt, aber als gesetzlich und gesellschaftlich gegeben akzeptiert. Das gelte entsprechend auch für die behördliche Zulassung des Arzneimittels Mifegyne zum medikamentösen Schwangerschaftsabbruch. Weiters wurde der Ärzteschaft darin eine personelle Trennung zwischen Beratung und Ausführung und der Frau eine ausreichende Bedenkzeit nach der Beratung empfohlen. Schließlich solle die Bevölkerung eine umfassende Information und Aufklärung über Methoden der Empfängnisverhütung erhalten. Nicht akzeptabel wäre es nach Ansicht der Ärztekammer, wenn die Ärzteschaft zu Schwangerschaftsabbrüchen gezwungen oder bei Verweigerung bestraft werden könnte. Tags darauf gab Peter Safar (1952–2008), Primarius der Abteilung für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Krankenhaus Korneuburg, bekannt, dass das Präparat nach Erteilung der Einfuhrgenehmigung durch das Gesundheitsministerium eingetroffen und ab sofort verfügbar sei.79 In einer Stellungnahme sprach sich die Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe für den Einsatz des neuen Medikaments aus: „‚Mifegyne‘ stellt eine ‚schonende‘ pharmakologisch induzierte Variante dieser Indikation [Schwangerschaftsabbruch] dar, ist in anderen europäischen Ländern zum Teil seit einigen Jahren in Verwendung und hat dort zu keiner nennenswerten Zunahme der Schwangerschaftsabbrüche geführt.“

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„Der weibliche Körper als Schlachtfeld“, APA 0047, 22. 6. 1993. Mifegyne: Ärztekammer gegen Bestrafung der Ärzte, APA 0167, 13. 1. 1999. Ärztekammer zu Mifegyne, OTS0112 5 II 0163 NAE001 CI, 20. 1. 1999. Krankenhaus Korneuburg kann „Mifegyne“ anbieten, APA0484 3 II 0236, 21. 1. 1999.

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Medizin und der verbotene Schwangerschaftsabbruch in Österreich: 1945 bis 2004

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Unterstützung kam vom Wiener Gynäkologen Johannes C. Huber (geb. 1946) sowie von Wolfgang Walcher (Lebensdaten unbekannt), Leiter der Familienplanungsstelle der gynäkologischen Universitätsklinik Graz.80 Auch andere Krankenanstalten bemühten sich vor der allgemeinen Zulassung um die Versorgung mit Mifegyne, wofür Peter Husslein (geb. 1952), Vorstand der Universitätsfrauenklinik Wien, Forschungszwecke geltend machte: „Wir brauchen das Präparat zur Wehen- und Brustkrebsforschung.“81 Bezüglich des Einsatzes zum Schwangerschaftsabbruch schrieb er: „[Es] wird vom Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, daß ein Schwangerschaftsabbruch zwar in jedem Fall ein Unrecht darstellt, die Gesellschaft aber zur Kenntnis nehmen mußte, daß es Situationen gibt, in denen er offenbar nicht vermeidbar ist. […] Es kann schließlich nicht unser Ziel sein, den Schwangerschaftsabbruch so gefährlich, problematisch und unangenehm wie möglich zu machen, damit er nicht in Anspruch genommen wird.“82

Der Kreis der zur Abgabe Berechtigten ist beschränkt: „Mifegyne und Prostaglandin-Analogstoffe dürfen […] ausschließlich von Ärzten verordnet werden, die an einem staatlichen oder privaten Krankenhaus oder Zentrum (mit offizieller Ermächtigung zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen) tätig sind.“ Dadurch waren niedergelassene ÄrztInnen von der Verwendung von Mifegyne ausgeschlossen, wodurch sich einige von ihnen „in [ihren] verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten auf Erwerbsfreiheit und auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt [fühlten], weil ihnen in [ihrer] privaten Praxis im niedergelassenen Bereich die Verabreichung der Arzneispezialität Mifegyne verwehrt ist bzw. die Verordnung ohne sachlichen Grund zwischen […] privaten und öffentlichen Krankenanstalten einerseits und niedergelassenen Ärzten andererseits differenziert, obwohl allen Ärzten die risikoreichere chirurgische Durchführung des Schwangerschaftsabbruches gestattet ist.“83

Ihren Anfechtungen wurde allerdings nicht stattgegeben. Erst viel später, nämlich im Jahr 2020, wurde diese Einschränkung vom Gesundheitsminister aufgehoben.84 80 Abtreibung: Österreichs Gynäkologen 2 – Warnung vor Gesetzesänderung, APA0329 5 II 0467, 29. 1. 1999. 81 Abtreibung: Weitere Spitäler beantragen Mifegyne-Import, APA0077 5 II 0220, 30. 1. 1999. 82 Claudia Semrau/Ute Watzlawick, Mifegyne®: pro und contra Abtreibungspille, Wien–München–Bern: Maudrich 1999, 7–8. 83 V15/02, 26. 11. 2002, Beschluss des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), URL: https://www.ris.b ka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Vfgh&Dokumentnummer=JFT_09978874_02V00015_00 (abgerufen am 21. 11. 2021). 84 „Das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen, kurz BASG, hat den Antrag auf Zulassung der ‚Abtreibungspille‘ Mifegyne durch niedergelassene Gynäkologen im Juli 2020 genehmigt“, URL: https://www.imabe.org/imabeinfos/mifegyne (abgerufen am 21. 11. 2021).

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Susanne Krejsa MacManus

Ich danke Mag.a Katrin Pilz, Ludwig Boltzmann Institute for Digital History (LBIDH), DDr. Christian Fiala, MUVS, Dr. Jakob Lehne, Josephinum Wien, und Dr.in Felicitas Seebacher für ihre wertvolle Unterstützung bei Erstellung meines Beitrags.

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Josef Hlade

Die Beteiligung von ÄrztInnen an der Anti-AKW-Bewegung. Vom „Ärzte-Memorandum betreffend die Errichtung von Kernspaltungskraftwerken“ (1969) zur Aktion „Vorarlberger Ärzte gegen AKW“ (1977) The participation of physicians in the anti-nuclear movement. From the „Ärzte-Memorandum betreffend die Errichtung von Kernspaltungskraftwerken“ (1969) to the action „Vorarlberger Ärzte gegen Atomkraftwerke“ (1977) Abstracts Dieser Aufsatz versucht, einen Überblick über die ambivalente Rolle von ÄrztInnen innerhalb der Anti-AKW-Bewegung zu geben. Auf der Seite der AtomkraftgegnerInnen wird zunächst auf die beiden Pioniere, Rudolf Drobil und Alfred Tisserand, eingegangen. Während die beiden früh vor der Gefahr der Nutzung von Atomenergie warnten, gab es auch zahlreichen ÄrztInnen, welche die Nutzung öffentlich als gesundheitlich unbedenklich einstuften, darunter auch der österreichische Nuklearmediziner Herbert Vetter (1920–2009), der auf die Bedeutung der friedlichen Nutzung hinwies. Schließlich soll exemplarisch für die Beteiligung von ÄrztInnen an der breit aufkommenden Anti-AKW-Bewegung ab Mitte der 1970er Jahre auf die Initiative „Vorarlberger Ärzte gegen AKW“ eingegangen werden. Insgesamt ist es also wichtig, die Ereignisse im Gesamtkontext zu sehen, der davon geprägt war, die friedliche Nutzung der Kernenergie den möglichen Gefahren entgegenzustellen. This essay tries to give an overview on the ambivalent relationship between doctors and the anti-nuclear movement in Austria. On the one hand, the focus lies on the two pioneers of the movement, Rudolf Drobil and Alfred Tisserand. While these two warned very early about the potential danger, other medical professionals saw no concerns associated with its use. Among them was the Austrian nuclear medicine Herbert Vetter (1920–2009), who pointed out the importance of its peaceful use. Finally, the initiative „Vorarlberger Ärzte gegen AKW“ will be discussed as an example of the participation of doctors during the broadly emerging anti-nuclear movement from the mid-1970s. Thus, it is important to see the events in their overall context, which was characterized by opposing the peaceful use of nuclear energy to the possible dangers. Keywords Anti-AKW-Bewegung, Zwentendorf, Rudolf Drobil, Alfred Tisserand, Aktion „Vorarlberger Ärzte gegen AKW“ Anti-nuclear movement, Zwentendorf, Rudolf Drobil, Alfred Tisserand, Aktion „Vorarlberger Ärzte gegen AKW“

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Josef Hlade

Ziel dieses Aufsatzes ist es, einen kurzen Überblick über die durchaus ambivalente Rolle von ÄrztInnen innerhalb der Anti-AKW-Bewegung zu geben. Ein Aufsatz mit diesem Fokus existiert derzeit noch nicht, obwohl die Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten in einigen Fachpublikationen bereits behandelt wurde. Christian Forstner bezeichnet die österreichische Anti-AKW-Bewegung grundsätzlich als ein bisher „unbearbeitetes Forschungsfeld“,1 dies ist umso bemerkenswerter, als das Interesse an der Kernenergiekontroverse in den letzten Jahren, insbesondere vor dem Hintergrund der Katastrophe von Fukushima, international wieder in den Vordergrund gerückt ist, wie die recht stark gewachsene Anzahl an Publikationen zeigt, und im internationalen Rahmen die Anti-AKW-Bewegung ein recht gut untersuchtes Forschungsfeld darstellt.2 Als Grundlage des Beitrags wird auf zeitgenössische Dokumente, wie Zeitungsberichte und andere Druckmedien, sowie auf Audiomaterial zurückgegriffen. Der Aufsatz konzentriert sich auf einige Fallbeispiele, die gut dokumentiert sind. In den späten 1960er Jahren waren es vor allem Pioniere wie Rudolf Drobil (gest. 1984) oder Alfred Tisserand (1912–1989), die vor den gesundheitlichen Auswirkungen der Atomkraft warnten. Als die Protestbewegung breite Bevölkerungsgruppen erfasste, gab es auch unter ÄrztInnen umfangreich angelegte Initiativen. Diese müssen im Gesamtkontext gesehen werden, der, wie bereits angedeutet wurde, von einem ambivalenten Verhältnis zwischen MedizinerInnen und der Atomkraft geprägt ist. Gerade ÄrztInnen wurden unter den WissenschaftlerInnen herangezogen, um für die bedenkenlose Nutzung der Atomenergie zu argumentieren, und sahen sich wie der Nuklearmediziner Herbert Vetter (1920–2009) teilweise verpflichtet, auf die Bedeutung der fried1 Christian Forstner, Kernphysik, Forschungsreaktoren und Atomenergie. Transnationale Wissensströme und das Scheitern einer Innovation in Österreich, Wiesbaden: Springer 2019, 221. 2 Arne Kaijser u. a. (Hg.), Engaging the Atom. The History of Nuclear Energy and Society in Europe from the 1950s to the Present (Energy and Society Series), Morgantown: West Virginia University Press 2021; Natalie Pohl, Atomprotest am Oberrhein. Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970–1985), Stuttgart: Steiner Verlag 2019; Astrid M. Eckert, West Germany and the Iron Curtain: Environment, Economy, and Culture in the Borderlands, Oxford: University Press 2019; Fred Pearce, Fallout: Disasters, Lies, and the Legacy of the Nuclear Age, Boston: Beacon Press 2018; Dolores L. Augustine, Taking on Technocracy. Nuclear Power in Germany, 1945 to the Present, New York–Oxford: Berghahn 2018; Arne Kaijser/Jan-Henrik Meyer (Hg.), Siting Nuclear Installations at the Border, in: Journal for the History of Environment and Society 3 (2018), Special issue, 1–178; Maria del Mar Rubio Varas/Jimmy De la Torre (Hg.), The Economic History of Nuclear Energy in Spain: Governance, Business and Finance, London: Palgrave 2017; Claudia Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg: Ärzte in der anti-atomaren Friedensbewegung der 1980er Jahre, Göttingen: Wallstein 2016. Zur Lage in Österreich vgl. insbesondere Silke Fengler/Carola Sachse (Hg.), Kernforschung in Österreich: Wandlungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes 1900– 1978, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2012; Silke Fengler, Kerne, Kooperation und Konkurrenz: Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950), Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2014.

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Die Beteiligung von ÄrztInnen an der Anti-AKW-Bewegung

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lichen Nutzung hinzuweisen, hatten sie ja auch beachtenswerte Erfolge im Bereich der Nuklearmedizin verzeichnen können.3 Ein abschließendes Kapitel soll sich dann nach der Darstellung der Pioniere der Rolle von ÄrztInnen innerhalb der breit aufkommenden Anti-AtomkraftBewegung widmen, wie sie sich im Vorfeld der Volksabstimmung formierte.4 Der Fokus liegt exemplarisch auf der Aktion „Vorarlberger Ärzte gegen AKW“, die nicht nur gegen die Inbetriebnahme von Zwentendorf, sondern vor allem auch gegen die Errichtung des Schweizer AKW Rüthi gerichtet war, das an der Grenze zu Vorarlberg geplant war. Mit Unterstützung der Vorarlberger Nachrichten schloss sich eine breite Bewegung von ÄrztInnen zusammen.5 Der Blick auf die Ereignisse in Vorarlberg ist deshalb wichtig, weil dort bereits eine lange Tradition bestand, der Protest gegen das AKW Rüthi eine wichtige Pionierfunktion in Österreich übernahm, und sich Vorarlberg letztlich auch während der Ereignisse rund um Zwentendorf unter den Bundesländern besonders hervortat. Die Vorgänge können im Sinn des Aufkommens einer kritischen sozialen Bewegung verstanden werden, die sich insbesondere gegen Ende der 1970er Jahre und Anfang der 1980er Jahre im Zusammenhang mit der von den Universitäten ausgehenden „Krise der Vernunft“ formierte. Max Stadler, Nils Güttler, Niki Rhyner u. a. verwenden den Ausdruck „Gegenwissen“, mit dem das den sozialen Bewegungen zugeschriebene Narrativ der „Wissenschaftsfeindlichkeit“ überwunden werden soll.6 Es handelt sich in gewisser Weise um ein „Wissen von unten“, das mit Zweifeln an Hierarchien und Machtverhältnissen (ExpertInnen), an der Objektivität wissenschaftlicher Aussagen und an aktuellen Werten in Verbindung gebracht werden kann und von kritischen sozialen Bewegungen aufgegriffen wurde.7 Im vorletzten Abschnitt wird auf eine Studie von Helga Nowotny (geb. 1937) eingegangen, die sich mit dem Diskussionsverhalten von ExpertInnen während der Informationskampagne der österreichischen Regie3 Vgl. in diesem Band Florian Bayer, Die Etablierung der Wiener Nuklearmedizin im Kontext des Ost-West-Konflikts. 4 Florian Bayer/Ulrike Felt, Embracing the „Atomic Future“ in Post-World War II Austria, in: Technology and Culture 60 (2019) 1, 165–191. 5 Peter Weish, Zwentendorf aus der Sicht eines Zeitzeugen, in: Karl Brunner/Petra Scheider (Hg.), Umwelt Stadt: Geschichte des Natur- und Lebensraumes Wien, Wien: Böhlau 2005, 384– 390, 385. 6 Ein solches, auch auf die hier geschilderten Ereignisse eher ungeeignetes Narrativ wird starkgemacht von Detlef Siegfried/David Templin (Hg.), Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980: Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert, Göttingen: V&R unipress 2019. 7 Max Stadler/Nils Güttler/Niki Rhyner (Hg.), Gegen|Wissen, Zürich: Intercom Verlag 2020, I–V; Nils Güttler/Margarete Pratschke/Max Stadler (Hg.), Wissen, ca. 1980 (Nach Feierabend: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 12), Zürich–Berlin: Diaphanes 2016; Nils Güttler, „Hungry for Knowledge“: Towards a Meso-History of the Environmental Sciences, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 42 (2019) 2–3, 235–258.

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rung über das Für und Wider der Atomenergienutzung aus wissenschaftssoziologischer Perspektive beschäftigte, die im Oktober 1976 gestartet worden war. Nowotny gilt als Pionierin des „alternativen Wissens“ als Untersuchungsgegenstand der Bildungs- und Wissenschaftsforschung.8 In diesem Sinne fungierten die in Österreich stattfindenden Proteste bereits als einer der ersten Untersuchungsgegenstände dieses Forschungsfelds, der in diesem Aufsatz nun erneut in den Fokus einer solchen Betrachtung gerät.

Ärztinnen und Ärzte und die Anti-AKW-Bewegung: Ein gespaltenes Verhältnis ÄrztInnen können keinem der beiden Lager – weder den GegnerInnen noch den BefürworterInnen der Nutzung von Atomkraft – zugeschlagen werden. Im Rahmen der teilweise erbittert geführten Debatte waren ÄrztInnen auf beiden Seiten sozusagen an vorderster Front vertreten. AtomkraftgegnerInnen kritisierten es scharf, dass vor allem politisch tätige ÄrztInnen als BefürworterInnen auftraten und gesundheitliche Bedenken beiseiteschoben. So stand zum Beispiel Richard Piaty (1927–2014), von 1974 bis 1986 Präsident der Österreichischen Ärztekammer und ÖVP-Gesundheitspolitiker, in der Kritik, weil er die wirtschaftlichen Vorteile in den Vordergrund rückte.9 Der Chef der Kärntner Ärztekammer von der SPÖ, Hadmar Sacher (geb. 1920), hat laut Oberösterreichischen Nachrichten noch zum Jahrestag der ZwentendorfAbstimmung die Äußerung getätigt: „So lange abstimmen, bis Ja zur Atomkraft kommt.“10 Ähnliche Äußerungen hörte man im Vorfeld der Volksabstimmung auch von der SPÖ-Ministerin für Gesundheit und Umweltschutz Ingrid Leodolter (1919– 1986), die letztlich für die Genehmigung von Zwentendorf zuständig war: „Die Brennstäbe sind völlig ungefährlich, die kann man ja angreifen.“11 Und schon 1974 hieß es von ihrer Seite aus gegenüber dem Profil über die Gesundheits-

8 Stadler/Güttler/Rhyner (Hg.), Gegen|Wissen, IV/7. Vgl. auch Helga Nowotny/Hilary Rose (Hg.), Counter-Movements in the Sciences. The Sociology of the Alternatives to Big Science, Bd. 3, Dordrecht: Springer Netherlands 1979. 9 „Die Sorge des Piaty um die Zwentendorf-Milliarden ist nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Ärzten widerlich.“ Werner Vogt, Profil, 4. 7. 1978. 10 Schlagzeile der Oberösterreichischen Nachrichten, 6. 11. 1980, über Äußerungen des Präsidenten der Kärntner Ärztekammer Hadmar Sacher zum ersten Jahrestag der ZwentendorfAbstimmung. 11 Ingrid Leodolter, zit. n. Profil, 6. 1. 1978.

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Die Beteiligung von ÄrztInnen an der Anti-AKW-Bewegung

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verträglichkeit und die Höhe der Strahlendosis: „Als Ärztin habe ich mit höheren Dosen zu tun gehabt. Ich habe mir da den Röntgenschurz umgebunden.“12 Diese Meinung wurde von WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen unterstrichen. Ein prominentes Beispiel ist der Pionier der österreichischen Nuklearmedizin Herbert Vetter, auf dessen Initiative die Gründung des ersten Isotopenlabors an der II. Medizinischen Universitätsklinik Wien zurückging und der in den 1960er Jahren schließlich zur International Atomic Energy Agency (IAEA) wechselte.13 1983 verfasste er das umfangreiche Buch Zwickmühle Zwentendorf: Ein Arzt untersucht die Kernenergie, in dem er für die zivile Kernkraftnutzung argumentierte. Sein „ärztliches Anliegen“ war es, herauszustellen, dass „die weithin verbreitete Angst vor den friedlichen Anwendungen der Kernenergie […] ohne sachliche Grundlage und Berechtigung“ sei.14 Andererseits waren ÄrztInnen bereits in den 1960er Jahren unter den Ersten, die vor den Gefahren der Atomenergie warnten. Rudolf Drobil hatte schon 1969 im Namen der Niederösterreichischen Ärztekammer ein Memorandum betreffend die Errichtung von Kernspaltungskraftwerken veröffentlicht.15 Der Linzer Allgemeinmediziner Alfred Tisserand war ein weiterer Pionier der Anti-AKWBewegung und wurde später nicht zu Unrecht von seinem Mitstreiter Friedrich Witzany (geb. 1940) als „Nestor der Anti-Atom-Bewegung in Oberösterreich“ bezeichnet,16 weil er ab 1973 zunächst vehement gegen die Errichtung des AKW in Stein/St. Pantaleon in der Nähe von Enns eingetreten war und später im oberösterreichischen Raum einen wichtigen Beitrag zur Mobilisierung gegen die Inbetriebnahme von Zwentendorf leistete. Insgesamt ist es wichtig, die österreichische Bewegung in internationale Ereignisse einzuordnen. Für die österreichischen ProtagonistInnen lassen sich so etwa Verbindungen zu den deutschsprachigen Nachbarländern nachzeichnen. In diesem Sinn war die Vorarlberger Bewegung stark in länderübergreifende Initiativen eingebunden, an der sich ProtagonistInnen aus Liechtenstein und der 12 Ingrid Leodolter, zit. n. Profil, 18. 1. 1974. 13 Florian Bayer, Nuklearmedizin zwischen Ost und West. Das Isotopenlabor an der II. Med. Univ.-Klinik Wien im internationalen Kontext. Projektbericht zur Geschichte des Bad Gasteiner Symposions: Radioaktive Isotope in Klinik und Forschung. Durchgeführt im Auftrag und Rahmen des Vereins zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte. Preprint 2017. Vgl. auch Alexander von Schwerin, Österreich im Atomzeitalter: Anschluss an die Ökonomie der Radioisotope, in: Fengler/ Sachse (Hg.), Kernforschung in Österreich, 367–394, 371–375. 14 Herbert Vetter, Zwickmühle Zwentendorf: Ein Arzt untersucht die Kernenergie, Wien: Ueberreuter 1983, Klappentext. 15 Memorandum betreffend die Errichtung von Kernspaltungskraftwerken, Sonderdruck, in: Österreichische Ärztezeitung 25 (1970) 20, 2430–2442. 16 Friedrich Witzany, Ein Denkmal für Alfred Tisserand, in: Heimo Halbrainer/Elke Murlasits/ Sigrid Schönfelder (Hg.), Kein Kernkraftwerk in Zwentendorf. 30 Jahre danach, Weitra: Verlag der Provinz 2008, 62–65, 62.

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Ostschweiz beteiligten. Die Schweizer Anti-AKW-Bewegung, wie sie sich ab Mitte der 1970er Jahre auch gegen weitere geplante Atomkraftwerke formierte, wurde auch in weiterer Folge von internationalen AktivistInnen, etwa aus Ländern wie Deutschland und Österreich, unterstützt.17 Hervorzuheben ist unter anderem der Protest gegen das AKW Kaiseraugst. Bereits im Mai 1970 formierte sich das Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen das Atomkraftwerk Kaiseraugst (NAK), später Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke (NWA) gegen die Errichtung des Kraftwerks, im April 1975 besetzten schließlich 15.000 AktivistInnen für insgesamt elf Wochen das Baugelände. In Deutschland wurde ab dem 18. Februar 1975 der Bauplatz des AKW Wyhl, wiederum mithilfe internationaler Unterstützung, blockiert. Keinesfalls unterschätzen sollte man hierbei auch das Medieninteresse und die damit verbundene Berichterstattung in der österreichischen Presse über die Ereignisse in den Nachbarländern.18 Die länderübergreifenden Vernetzungen zwischen den AktivistInnen lassen sich anhand der beteiligten Organisationen nachzeichnen. So wies der in den Protesten in Österreich wesentlich engagierte Bund für Volksgesundheit (BfV) eine enge Verbindung zum Weltbund zum Schutze des Lebens (WSL) auf, dessen Gründung auf Günther Schwab (1904–2006) zurückging. Schwab hat den für die Anti-AKW-Bewegung bedeutenden Roman Morgen holt dich der Teufel verfasst. Trotz verschwörungstheoretischer Tendenzen – Radkau spricht beispielsweise von einer „dämonischen Horrorshow“19 – und der Tatsache, dass man eine Nähe zur Blut-und-Boden-Ideologie ausmachte,20 wurde sein Roman zu einer Art „Kampfschrift“ und „frühester Keimzelle der Anti-Atomkraft-Bewegung“, die bedeutende Argumente des späteren Diskurses vorwegnahm.21 Wesentlich ist es, darauf hinzuweisen, dass sowohl der Bund für Volksgesundheit als auch der Weltbund zum Schutze des Lebens Teil der ökologischen Rechten waren.22 Richard Soyka (1895–1975), die Gründungsfigur des Bundes, zeichnete sich durch eine Nähe zur völkischen Bewegung und zum Nationalsozialismus aus; außerdem kann man bei seiner Argumentation gegen die Nutzung der Kernenergie Ähnlichkeiten zur NS-Rassenhygiene festmachen. Sein Sohn 17 Anna Rösch-Wehinger, Die Grünen in Vorarlberg: von den sozialen Bewegungen zur Partei, Salzburg: Studien Verlag 2009, 81–84. 18 Georg Friesenbichler, Unsere wilden Jahre. Die Siebziger in Österreich, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2008, 164. 19 Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie: Eine Weltgeschichte, München: C. H. Beck 2011, 122. 20 Jan Grossarth, Waldseele, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. 5. 2015, 6. 21 Radkau, Ökologie, 118; ders., Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek: Rowohlt 1983, 445. 22 Bernhard Natter, Die ‚Bürger‘ versus die ‚Mächtigen‘ – Populistischer Protest an den Beispielen Zwentendorf und Hainburg, in: Anton Pelinka (Hg.), Populismus in Österreich, Wien: Junius 1987, 151–170, 151.

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Walther Soyka (1926–2006) war 1973 in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelt, wo er sich gemeinsam mit dem Verleger Roland Bohlinger (1937–2013) für das der völkischen und antisemitischen Sekte der Ludendorffer nahestehende Institut für biologische Sicherheit engagierte. Bohlinger erlangte Bekanntheit, weil er Thies Christophersens Die Auschwitz-Lüge (1973) vertrieb.23 Gleiches gilt für Alfred Tisserand und seine MitstreiterInnen aus dem Umfeld des Österreichischen Naturschutzbundes, die ebenfalls zu den ökologischen Rechten gezählt werden. Tisserand war bereits seit 1934, vor dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland 1938, Mitglied der in Österreich zum damaligen Zeitpunkt illegalen SA und NSDAP; während des Zweiten Weltkriegs war er als Assistent Ernst Kortschaks Teil des medizinischen Stabs der Hermann-Göring-Werke. Kortschak wurde von ehemaligen Häftlingen als besonders brutal beschrieben.24 Später fungierte Tisserand als Propagandaleiter im NSDAP-Amt für Volksgesundheit.25

Pioniere der Anti-AKW-Bewegung in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren: Rudolf Drobil, Walther Soyka und das Ärzte-Memorandum betreffend die Errichtung von Kernspaltungskraftwerken Rudolf Drobil war einer der Pioniere der Anti-AKW-Bewegung. Drobil war praktischer Arzt und Alternativmediziner. Im Zusammenhang mit der AntiAKW-Bewegung trat er 1969 zum ersten Mal in Erscheinung. Drobil und seine Mitstreiterin, die an der Universität Wien lehrende Zoologin Gertrud Pleskot (1913–1978), tauchten Anfang des Jahres 1969 in der Sprechstunde des damaligen niederösterreichischen Landeshauptmanns Andreas Maurer (1919–2010) auf, um ihre Einwände gegen die Errichtung des geplanten Atomkraftwerks vorzubringen. Das Gespräch zog sich hinaus und wurde schließlich aufgrund der begrenzten Zeit einer solchen Sprechstunde abgebrochen, ohne dass ein Konsens zustande gekommen wäre. Drobil wurde von Maurer aufgefordert, seine Einwände schriftlich vorzulegen. Das regte Drobil schließlich zu dem gegen den Bau von Zwentendorf gerichteten Memorandum betreffend die Errichtung von 23 Forstner, Kernphysik, 55–56; David Kriebernegg, Braune Flecken der Grünen Bewegung. Eine Untersuchung zu den völkisch-antimodernistischen Traditionslinien der Ökologiebewegung und zum Einfluss der extremen Rechten auf die Herausbildung grüner Parteien in Österreich und in der BRD, Dipl.-Arb., Graz 2014, 150–152; Johannes Straubinger, Naturkatastrophe Mensch. Ende oder Wende, Salzburg: BoD 2009, 65–75. 24 Karl Fallend, Zwangsarbeit – Sklavenarbeit in den Reichswerke Hermann Göring am Standort Linz (auto-)biographische Einsichten, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2001, 286–297. 25 Kriebernegg, Braune Flecken, 171.

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Kernspaltungskraftwerken an. Er legte es dem Vorstand der Niederösterreichischen Ärztekammer vor. Hier kam ihm die Abwesenheit des damaligen Ärztekammerchefs zugute, der seinem Vorhaben kritisch gegenüberstand. Die Niederösterreichische Ärztekammer befürwortete die Drucklegung, was seine Verbreitung sicherlich unterstütze.26 Am 26. März 1969 erschien zunächst eine Kurzfassung des Memorandums und am 25. Oktober 1970 die vollständige Version in der Österreichischen Ärztezeitung.27 Das Memorandum wurde einer breiteren Öffentlichkeit schließlich durch das Erscheinen in den St. Pöltner Nachrichten bekannt, die Übersendung des Textes an die Austria Presse Agentur (APA) brachte keine weiteren Erfolge. Zu seiner Bekanntheit trug dann auch noch die von Richard Soyka herausgegebene Zeitschrift Gesundes Leben bei, die Sonderabdrucke in Umlauf brachte. Das Memorandum wurde insgesamt von 63 namhaften ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterschrieben.28 Zur etwa gleichen Zeit trat auch der Bund für Volksgesundheit in Erscheinung. Unter der Leitung Walther Soykas, des ältesten Sohns Richard Soykas, und unter Beteiligung Adolf Ursprungers (1939–2006), eines Funktionärs des Weltbunds zum Schutze des Lebens, forderte der Bund bereits im Juni 1969 ein Volksbegehren betreffend die Errichtung des Kraftwerks und hatte eine Unterschriftenaktion gestartet. Im Sommer 1970 folgte eine von Ursprunger organisierte Sternfahrt nach Zwentendorf, bei der rund 200 TeilnehmerInnen verzeichnet werden konnten.29 Als Soyka am 7. März 1972 an der Anhörung bezüglich des Genehmigungsverfahrens des AKW als Vertreter der AnrainerInnen teilnehmen wollte und hierzu 902 Einspruchsvollmachten vorlegen konnte, wurde er trotz der Einwilligung der Ministerin Leodolter des Saales verwiesen, weil aufgrund des erst drei Jahre zuvor verabschiedeten Strahlenschutzgesetzes AnrainerInnen keine Parteistellung zukam.30 Am 6. September 1970 versammelten sich ca. 200 bis 300 Menschen zu einer Protestkundgebung auf dem Baugelände in Zwentendorf. Eigentlich keine große Zahl, hatten sich doch zu den etwa zur gleichen Zeit stattfindenden Protestmärschen in Feldkirch in Vorarlberg insgesamt 20.000 TeilnehmerInnen eingefunden, um gegen die Errichtung des Schweizer AKW Rüthi zu protestieren.31 Drobil und seine MitstreiterInnen argumentierten im Memorandum betreffend die Errichtung von Kernspaltungskraftwerken, dass das Risiko den Nutzen 26 27 28 29

Alexander Tollmann, Desaster Zwentendorf, Wien: Eigenverlag 1983, 60. Memorandum, 2430–2442. Tollmann, Desaster Zwentendorf, 50–52. Othmar Pruckner, Eine kurze Geschichte der Grünen. Ereignisse, Persönlichkeiten, Jahreszahlen, Wien: Ueberreuter 2005, 14. 30 Kurier, 8. 3. 1972, 7. 31 Natter, Die ‚Bürger‘, 153.

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der Atomkraft weit übersteigen würde. So könne ein Erdbeben nicht gänzlich ausgeschlossen werden, und ein Restrisiko für das Eintreten einer Katastrophe bliebe letztlich immer vorhanden. Zu bedenken sei allgemein, dass die an die Umwelt abgegebene Radioaktivität in den Lebewesen anreichere. Als unbedenkliche Alternative sei Wasserkraft zu favorisieren. In diesem Memorandum wurde insbesondere vor der Schädigung des Erbguts durch ionisierende Strahlung gewarnt. Dies sei vor allem an den Folgen der Atombombenabwürfe von Nagasaki und Hiroshima ersichtlich geworden: WissenschaftlerInnen, die als Erste mit Röntgenstrahlen und radioaktiven Stoffen gearbeitet haben, seien ebenfalls zu frühen Opfern geworden. Das Memorandum forderte außerdem eine Einbeziehung von KernphysikerInnen und AtomtechnikerInnen, welche die Planung des Kraftwerks überwachen sollten, und externe Gutachten von MedizinerInnen und BiologInnen, welche die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung auf den menschlichen Körper untersuchen sollten.32 Obwohl das Memorandum betreffend die Errichtung von Kernspaltungskraftwerken aufgrund der Intervention einflussreicher Persönlichkeiten und daraus resultierender Proteste einiger FunktionärInnen der Ärztekammer wieder zurückgenommen wurde, gilt es als eine der ersten größeren Bemühungen gegen Atomkraft und sorgte durchaus für ein öffentliches Echo.33 In Deutschland griff etwa auch der Landesverband Bayern des Weltbunds zum Schutz des Lebens das Memorandum auf, um mit dessen Hilfe gegen den Bau des Kraftwerks an der Weser bei Würgassen zu demonstrieren.34 Das Ö1-Abendjournal vom 10. April 1969 war infolge des Memorandums dem Thema „Ärzte gegen Atomkraft“ gewidmet. Diese Berichterstattung zeigt exemplarisch auf, in welcher Weise das Memorandum betreffend die Errichtung von Kernspaltungskraftwerken tatsächlich Einzug in die öffentliche Diskussion hielt und andererseits bei namhaften WissenschaftlerInnen häufig auf Ablehnung stieß. Der Experimentalphysiker Michael Higatsberger (1924–2004) wischte im Interview, das im Rahmen dieser Sendung stattfand, die „schweren Bedenken“ des Memorandums beiseite, auf die im Interview aufmerksam gemacht wurde. Das Interview wurde folgendermaßen angekündigt: „Wie wir bereits heute Mittag gemeldet haben, hat die Ärztekammer für Niederösterreich schwere Bedenken gegen die Errichtung eines Atomkraftwerkes in der Nähe von Wien vorgebracht. Dieser Erklärung hat sich in der Zwischenzeit die Österreichische 32 Tollmann, Desaster Zwentendorf, 211–212. 33 Paul Laufs, Reaktorsicherheit für Leistungskernkraftwerke. Die Entwicklung im politischen und technischen Umfeld der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., Wiesbaden: Springer 2018, 93. 34 Wilfried Müller, An die Förderer, Gutachter und Leidtragenden der friedlichen Atomenergie (Manuskript), URL: https://umweltarchiv.at/wp-content/uploads/2018/03/sammelmappe-w sl-%c3%b6-teil-2.pdf (abgerufen am 27. 9. 2021).

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Ärztekammer angeschlossen. Wir wollten wissen, was man auf der anderen Seite, bei der Atomwissenschaft, dazu meint.“35

Michael Higatsberger antwortete darauf: „Wenn die Ärzte sich verpflichtet fühlen, auf die Gefahren eines Atomkraftwerkes hinzuweisen, würde ich empfehlen, dass man sich auch Gedanken macht darüber, welchen Belastungen die Bevölkerung täglich durch die Röntgenuntersuchungen ausgesetzt ist. Wenn diese Gegenüberstellung gemacht wird, wird man wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass die Gefahr des Atomkraftwerkes vernachlässigbar gering ist.“36

Von der Bürgerinitiative gegen Atomgefahren in Oberösterreich bis zur Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf (1973–1978) In der frühen Phase des Protests trat ein weiterer Arzt in einer wesentlichen Rolle in Erscheinung. Alfred Tisserand, hauptberuflich praktischer Arzt in Linz, war zwischen 1966 und 1976 Obmann des oberösterreichischen Naturschutzbundes. Er war maßgeblich an der Bürgerinitiative gegen Atomgefahren in Oberösterreich beteiligt, die sich insbesondere gegen das im Grenzgebiet zwischen Niederund Oberösterreich geplante Kernkraftwerk in St. Pantaleon richtete. Dort wurde 1973 mit der Entwicklung des zweiten für Österreich geplanten Atomkraftwerks begonnen, welchem später noch ein drittes an der Donau im Eferdinger Becken folgen sollte, dessen konkreter Standpunkt aber noch nicht feststand. In Sankt Andrä in Kärnten war ebenfalls ein Kraftwerk geplant.37 Bereits Ende des Jahres 1973 war es vor allem der Initiative Tisserands zu verdanken, dass sich erste kritische Stimmen gegen das AKW erhoben. Anfang des Jahres 1975 wurde schließlich ein Bauaufschub beschlossen. Tisserand konnte den Vorstand des oberösterreichischen Naturschutzbunds von der Wichtigkeit des Engagements gegen Atomkraft überzeugen, sodass dieses bald im Fokus von dessen Aktivitäten stand. Am 30. Jänner 1974 kam es zur Gründung der Bürgerinitiative gegen Atomgefahren (BIAG). Sie gilt als eine der ersten

35 Interview abgedruckt in Anton Hubauer, Das Atomkraftwerk Zwentendorf. Berichterstattung in Ö1-Journalsendungen, 16, URL: https://www.mediathek.at/fileadmin/Bibliothek/Journale _Aufsaetze/Zwentendorf/joua_Zwentendorf.pdf (abgerufen am 27. 9. 2021). 36 Ebd. 37 Robert Beier u. a. (Hg.), Umweltgeschichte, in: Historisch-politische Bildung, Themendossiers zur Didaktik von Geschichte, Sozialkunde und Politischer Bildung (2013) 5, 22.

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Plattformen des Anti-AKW-Protests.38 Inspiriert wurde die Gründung von der Kooperation der Vorarlberger AtomgegnerInnen mit dem bereits weiter oben erwähnten Weltbund zum Schutze des Lebens, woraufhin sich die BIAG unter das Dach der WSL stellte. 1975 trug die BIAG gemeinsam mit dem oberösterreichischen Naturschutzbund zur Veröffentlichung des Ärztememorandum der Oberösterreichischen Ärztekammer bei. Die im Raum um Enns durchgeführte Unterschriftenaktion gegen die Errichtung des AKW erreichte schließlich eine Zahl von etwa 70.000 Unterschriften. Zur gleichen Zeit kam es zu immer größeren Protesten der Bevölkerung. Am 14. Dezember 1974 fand eine Kundgebung in St. Pantaleon statt, am 28. Februar 1975 eine Veranstaltung in Enns, an der bereits 2.000 Menschen teilnahmen, und am 22. April schließlich eine Diskussionsveranstaltung mit dem Titel Atomstrom – ja oder nein? in Linz, an der auch Bruno Kreisky (1911–1990) und der „Energieminister“ Josef Staribacher (1921–2014) vor 3.500 ZuhörerInnen teilnahmen und von der Ausschnitte im ORF übertragen wurden. Das Publikum bestand hauptsächlich aus GegnerInnen, und Kreisky war um eine vorsichtige Positionierung bemüht, daher sprach er von einer schwierigen Entscheidung.39 Zur etwa selben Zeit fanden umfangreiche Demonstrationen gegen das baden-württembergische AKW Wyhl statt, an denen mehr als 28.000 Menschen teilnahmen und die auch in Österreich registriert wurden.40 Im Anschluss kam es zu immer umfangreicheren Auseinandersetzungen, die auch von den Protesten in Deutschland und der Wahlniederlage des schwedischen Sozialdemokraten Olof Palme (1927–1986) beeinflusst waren. Palme war insbesondere an seiner harten Atomlinie gescheitert. Als Reaktion auf diese Ereignisse wurde im November 1975 in einer Regierungserklärung festgehalten, dass die österreichische Bundesregierung eine Informationskampagne starten würde, bei der wissenschaftlich qualifizierte ExpertInnen über das Für und Wider der Atomenergienutzung in Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themenkreisen diskutieren sollten.41 Diese Informationskampagne wurde im Oktober 1976 gestartet, wobei die Diskussionsabende in acht österreichischen Großstädten intern und öffentlich stattfanden. Das erklärte Ziel war es, die Bevölkerung umfassend und objektiv über die Vor- und Nachteile der Kernenergie 38 Lidia Brandstätter/Michael Grosser/Hannes Werthner, Die Anti-AKW-Bewegung in Österreich, in: Werner Katzmann/Michael Häupl/Peter Ulram (Hg.), Umdenken. Analysen grüner Politik in Österreich, Wien: Junius 1984, 156–177, 161. 39 Wilhelm Svoboda, Sandkastenspiele. Eine Geschichte linker Radikalität in den 70er Jahren, Wien: Promedia 1998, 143–144. 40 Florian Bayer, Die Ablehnung der Kernenergie in Österreich: Ein Anti-Atom-Konsens als Errungenschaft einer sozialen Bewegung?, in: Momentum Quarterly 3 (2014) 3, 170–187, 173. 41 Helga Nowotny, Experten – Öffentlichkeit – Entscheidungsträger. Die Auseinandersetzung um die Kernenergie aus soziologischer Sicht, Wien: Bundespressedienst 1978, 6. Vgl. auch Helga Nowotny, Kernenergie. Gefahr oder Notwendigkeit. Anatomie eines Konflikts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979.

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aufzuklären. Letztlich stellte es sich heraus, dass die Abende ihren Zweck verfehlten und in erster Linie den GegnerInnen eine Plattform zur Verfügung stellten. Die Stimmung der GegnerInnen war von einem tiefen Misstrauen gegenüber den ExpertInnen begleitet.42 Bereits im Vorfeld der Informationskampagne gab es größere Veranstaltungen, die allerdings von den AtomgegnerInnen abgehalten wurden. Am 6. Oktober 1976 hatte eine solche Veranstaltung etwa im Tullner Stadtsaal stattgefunden, wo Drobil unter medialer Beachtung schwerwiegende Einwände erhob.43 Zu diesem Zeitpunkt erreichten die Proteste von AtomgegnerInnen schließlich ein großes Ausmaß. Man forderte Stellungnahmen der verantwortlichen PolitikerInnen und insbesondere Kreiskys. Dieser antwortete am 26. Oktober 1977 mit dem später berühmt gewordenen Satz: „Ich habe es nicht notwendig, mich von ein paar Lausbuben so behandeln zu lassen.“44 Schließlich wurde die letzte Veranstaltung abgesagt, weil man Tätlichkeiten durch DemonstrantInnen befürchtete.45 Helga Nowotnys von der Bundesregierung finanzierte Begleitstudie, in der das Diskussionsverhalten der ExpertInnen aus wissenschaftssoziologischer Perspektive betrachtet wurde, hielt fest, dass „die Diskussion mit der Öffentlichkeit, der Natur eines partizipatorischen Experiments entsprechend, turbulent und in vieler Hinsicht anders als erwartet“ ablief.46 Wie darin betont wurde, lag dies offensichtlich an der falschen Erwartungshaltung. So wurde bemerkt, dass „das kritisch eingestellte Publikum“ die Form der Veranstaltungen, in denen der Hauptteil der Diskussion durch den vorher festgelegten Diskussionsleiter und eingeladene ExpertInnen mit dem Ziel einer „sachlichen Aufklärung“ bestritten wurde, als „tendenziös oder gar nicht möglich“ ablehnte. Das Publikum habe sich „genügend aufgeklärt“ gefühlt und wollte daher unmittelbar an der Diskussion partizipieren. Dies wurde mit dem Schlagwort „Publikumsdiskussion, nicht Expertendiskussion“ zusammengefasst.47 Wie Nowotnys Studie festhielt, wurden Publikumsfragen tatsächlich nur zu einem kleinen Teil behandelt, obwohl die Einbeziehung der Bevölkerung ein wichtiger Bestandteil sein sollte.48 Peter Weish (geb. 1936), der eine wichtige Vermittlerrolle zwischen unterschiedlichen ideologischen Richtungen innerhalb der Anti-AKW-Bewegung 42 Nowotny, Experten, 33; Tollmann, Desaster Zwentendorf, 55–62. 43 Tollmann, Desaster Zwentendorf, 57. 44 Interview aus Paul Lendvai/Helene Maimann, Menschenbilder. Kreisky. Licht und Schatten einer Ära, ORF 2, ausgestrahlt am 28. 7. 2000, URL: https://www.medienpreise.at/awardees/pa ul-lendvai-helene-maimann/ (abgerufen am 24. 10. 2021). 45 Dieter Pesendorfer, Paradigmenwechsel in der Umweltpolitik: Von den Anfängen der Umweltzu einer Nachhaltigkeitspolitik: Modellfall Österreich?, Wiesbaden: Springer 2007, 87. 46 Nowotny, Experten, 33. 47 Ebd., 33–35. 48 Ebd., 33.

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übernahm, erinnert sich etwa an die Veranstaltung in Linz, die am 28. Oktober 1976 stattfand. Hier wurde Tisserand als neuer, aus der Sicht des Publikums „unabhängiger Vorsitzender“ vorgeschlagen und der ursprüngliche Vorsitzende abgewählt.49 Besonders erwähnenswert sei seiner Erinnerung zufolge, dass sich vor allem VertreterInnen des Kommunistischen Bunds Linz für Tisserand einsetzten.50 Der Kommunistische Bund Linz spielte neben dem Naturschutzbund Tisserands und dem Weltbund zum Schutz des Lebens bald ebenfalls eine wichtige Rolle im Anti-AKW-Protest.51 Obwohl diese Informationskampagne dafür sorgte, dass die Auseinandersetzung zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen keine so großen Ausmaße erreichte wie im Nachbarland Deutschland, trug sie letztlich ihren Teil zum Kippen der Stimmung zugunsten der AtomgegnerInnen bei. Im Mai 1976 schlossen sich VertreterInnen unterschiedlicher Gruppierungen zur Initiative Österreichischer Atomkraftwerksgegner (IÖAG) zusammen. Erstmals hatten sich die vielen einzelnen, teilweise aus gegensätzlichen politischen Richtungen stammenden Gruppen von AtomkraftgegnerInnen zu einem Dachverband zusammengeschlossen und agierten nun auf einer breiten Basis.52 Die Kampagne der Bundesregierung hatte also ihren Zweck im Grunde verfehlt. Das Jahr 1977 war in ganz Österreich von Aktionen und Demonstrationen geprägt. Im Frühjahr 1978 entschloss sich die SPÖ schließlich, die Entscheidung in die Hände der Volksabstimmung zu geben. Im Vorfeld der Abstimmung gründete sich unter der Federführung Alexander Tollmanns (1928–2007) die Arbeitsgemeinschaft „NEIN zu Zwentendorf“, die stark zur Mobilisierung der AtomkraftgegnerInnen beitrug.53

49 Tollmann, Desaster Zwentendorf, 58. 50 Peter Weish, Erinnerungen eines „Atomgegners“, 21–22, URL: https://homepage.univie.ac.a t/peter.weish/schriften/Zwentenbuch-pw-bearbeitet.pdf (abgerufen am 27. 9. 2021). 51 Christian Forstner, The Failure of Nuclear Energy in Austria: Austria’s Nuclear Energy Programmes in Historical Perspective, in: Astrid Mignon Kirchhof (Hg.), Pathways into and out of Nuclear Power in Western Europe Austria, Denmark, Federal Republic of Germany, Italy, and Sweden, München: Deutsches Museum Verlag 2020, 36–74, 57; Robert Foltin, Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich, Wien: Edition Grundrisse 2004, 110. 52 Corinna Prenner, Ein Zusammenspiel von Heterogenität und Homogenität. Eine erinnerungsgeschichtliche Darstellung der österreichischen Anti-AKW-Bewegung, Dipl.-Arb., Wien 2017, 41–45. 53 Forstner, Nuclear Energy, 58.

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Ärztinnen und Ärzte innerhalb der Anti-AKW-Bewegung Nachdem die Anti-AKW-Bewegung in den ersten Jahren besonders von einigen PionierInnen wie Drobil oder Tisserand getragen wurde, erlangte sie vor allem im Vorfeld der Volksabstimmung eine immer breitere Basis. Hier beteiligten sich nun auch zahlenmäßig recht umfangreiche Initiativen von ÄrztInnen. In diesem Abschnitt sollen zwei größere Initiativen herausgegriffen werden: einerseits die Unterschriftenliste der ProfessorInnen der Wiener Medizinischen Fakultät, andererseits die Aktion „Vorarlberger Ärzte gegen AKW“. Im Vorfeld der Abstimmung zu Zwentendorf wurde bei der Sitzung der ProfessorInnen der Medizinischen Fakultät der Universität Wien eine Unterschriftenliste herumgereicht. Laut Alexander Tollmanns Erinnerungen wurde hier die zu diesem Zeitpunkt bereits aufgeheizte Stimmung ersichtlich: „Das abenteuerlichste Schicksal hatte eine Unterschriftenliste hinter sich, die bei einer Sitzung der Professoren der Medizinischen Fakultät der Universität Wien durchgegeben worden war. Bei den Befürwortern angekommen, wurde sie zerknüllt, weggeworfen, dann wiederum gerettet, mit weiteren Unterschriften versehen, durch Streichungen verunziert […]. 21 der 47 Anwesenden waren schließlich nach Abzug der durchgestrichenen Namen auf der Liste als mutige Unterzeichner verblieben.“54

Größere Bedeutung hatte die Aktion „Vorarlberger Ärzte gegen AKW“. Sie war nicht nur gegen die Inbetriebnahme von Zwentendorf gerichtet, sondern vor allem auch gegen die Errichtung des Schweizer AKW Rüthi an der Grenze zu Vorarlberg und von der Vorarlberger Nachbargemeinde Meiningen nur wenige Kilometer entfernt. Gegen die Errichtung von Rüthi hatte sich bereits Mitte der 1970er Jahre innerhalb der Schweiz eine Opposition gebildet. Ursprünglich wollte die Schweizer Regierung Anfang der 1960er Jahre an dieser Stelle ein thermisches Kraftwerk errichten. Bereits dagegen formierte sich insbesondere in Vorarlberg großer Widerstand. Eine wichtige Funktion übernahmen insbesondere die Vorarlberger Nachrichten. Im Jahr 1965 wurde unter Beteiligung des damaligen Chefredakteurs Franz Ortner (1922–1988) ein gegen den Bau des AKW Rüthi gerichtetes Aktionskomitee mit dem Namen Gesunder Lebensraum Vorarlberg gegründet. Schließlich kam es zu Demonstrationen in der Innenstadt von Feldkirch, an denen bis zu 25.000 Menschen teilnahmen.55 In weiterer Folge wurde der Plan zur Errichtung dieses thermischen Kraftwerks aufgrund des Protests wieder fallengelassen. Ende der 1960er Jahre entwickelte man schließlich die Idee, stattdessen an selber Stelle ein Atomkraftwerk zu errichten. Mit dem Plan ging man Ende 54 Tollmann, Desaster Zwentendorf, 182. 55 Demos und VN-Aktionen. Vorarlberger Nachrichten Extra, 11. 11. 2020, URL: https://www. vn.at/extra/2020/11/11/demos-und-vn-aktionen.vn (abgerufen am 27. 9. 2021).

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1972 zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Das Atomkraftwerk, mit Baukosten von rund einer Milliarde Franken, sollte 1978 seinen Betrieb aufnehmen.56 Doch auch dagegen erhob sich starker Widerstand, wiederum vor allem unter starker Beteiligung der Vorarlberger Bevölkerung. So gründeten KernkraftgegnerInnen im Juni 1975 in Altstätten den 500 Mitglieder zählenden Verein Atomkraftwerk Rüthi Nein. Bereits im Mai desselben Jahres erschien Bodo Mansteins (1911– 1977) Buch Zur Frage Rüthi aus der Sicht eines Mediziners.57 Manstein war wie Drobil und Tisserand ein Pionier der Anti-AKW-Bewegung. Bereits 1961 hatte er mit seinem Buch Im Würgegriff des Fortschritts einen frühen Beitrag zur Diskussion rund um die Atomkraft geliefert. Ähnlich wie Zwentendorf wurde auch dieses AKW-Projekt letztlich nicht umgesetzt, wobei der Protest aus Österreich eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Unter den gegen den Bau von Zwentendorf Protestierenden, die im diesbezüglich kritischen Vorarlberg besonders zahlreich waren, formierten sich insbesondere auch ÄrztInnen, die im Ländle vor allem durch die in diesem Zusammenhang bereits erwähnten Vorarlberger Nachrichten Unterstützung erfuhren. Im April 1978 hatte diese zunächst von zwölf ÄrztInnen des Bludenzer Krankenhauses gestartete Initiative bereits 150 Unterschriften von ÄrztInnen gesammelt.58 Einer der ersten Unterzeichner, der damalige Turnusarzt Heinz Vogel, erinnerte sich 2018 in einem Interview mit den Vorarlberger Nachrichten an die Ereignisse, in deren Verlauf durch die Initiative in ganz Österreich ÄrztInnen für die Anti-AKW-Bewegung gewonnen werden konnten.59 Das Engagement von ÄrztInnen ging insbesondere auch nach Zwentendorf weiter. Dies ist nicht unbedeutend, insofern die Kernenergiekontroverse mit den Ereignissen rund um Zwentendorf noch nicht zum Abschluss gekommen war, sondern sich erst mit der Katastrophe von Tschernobyl für die GegnerInnen der Atomkraft entschied.60 In der Steiermark wurde 1980 beispielsweise eine Resolution der Arbeitsgemeinschaft „Mediziner gegen Atomkraftwerke“ verabschiedet, in der aus gesundheitlichen Gründen ein „bedingungsloses NEIN zur Atomindustrie im zivilen und militärischen Bereich“ gefordert wurde. Die Initiative wurde von 230 steirischen ÄrztInnen und 830 MedizinstudentInnen unterschrieben.61 In der Resolution wurde vor radioaktiven Substanzen als krank machenden Faktoren 56 57 58 59

Tages-Anzeiger Zürich, 24. 8. 1972. Tollmann, Desaster Zwentendorf, 54. IÖAG, Initiativ gegen Atomkraftwerke 2 (April 1978), 15. Heidi Rinke-Jarosch, Wir müssen wachsam sein. Immer, Vorarlberger Nachrichten, 1. 11. 2018, URL: https://epaper.vn.at/lokal/vorarlberg/2018/10/31/wir-muessen-wachsam-sein-im mer.vn (abgerufen am 27. 9. 2021). 60 Bayer, Kernenergie, 182–183. 61 Zit. n. Gustav Mittelbach, Tschernobyl ist überall, in: politicum 30 (1986), 59–61, 60.

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gewarnt, die zu einer Zunahme von Krebs, Leukämie und Erbkrankheiten führen würden. Des Weiteren wurde ein „unüberbrückbarer Widerspruch zu einer vorausschauenden Umwelthygiene“ festgestellt. Man forderte „ein tiefgreifendes Umdenken im Umgang mit Energie“ und eine Einschränkung der Nutzung fossiler Brennstoffe.62

Fazit Die Darstellung der Ereignisse zeigt, dass es wichtig ist, sie im Gesamtkontext zu sehen, der davon geprägt war, die friedliche Nutzung der Kernenergie den möglichen Gefahren entgegenzustellen. Wie anhand der Initiative „Vorarlberger Ärzte gegen AKW“ exemplarisch dargestellt wurde, waren ÄrztInnen während der breit aufkommenden Anti-AKW-Bewegung ab Mitte der 1970er Jahre daran beteiligt. Zu dieser Zeit hatte sich in der Bevölkerung ein breit angelegter Widerstand gegen die Pläne der österreichischen Regierung formiert. Am besten wird man den in diesem Aufsatz beschriebenen Ereignissen wohl gerecht, wenn man sie im Sinne des Aufkommens einer kritischen sozialen Bewegung betrachtet. In gewisser Weise kann dieser Beitrag als eine Fallstudie verstanden werden. Von großem Interesse ist Helga Nowotnys von der Bundesregierung finanzierte Begleitstudie über das Diskussionsverhalten der ExpertInnen aus wissenschaftssoziologischer Perspektive, die eine solche Einschätzung im Prinzip bereits vorwegzunehmen scheint. Die Ereignisse sind in der Lage, neuere Studien zu bestätigen, wonach sich solche kritischen sozialen Bewegungen eines „Gegenwissens“ bedienen, das mit starken Zweifeln an Hierarchien und Machtverhältnissen, an der Objektivität wissenschaftlicher Aussagen und an aktuellen Werten einhergeht.63 In diesem Sinne stellte Nowotny, wie ausführlicher dargestellt wurde, vor allem massive Zweifel am sogenannten Expertenwissen fest. Die AtomkraftgegnerInnen störten sich insbesondere daran, dass ihnen während der Informationskampagnen kaum Raum eingeräumt wurde, um selbst an der Diskussion zu partizipieren. Die von der Bundesregierung geplante „sachliche Aufklärung“ durch ExpertInnen wurde einerseits als tendenziös eingeschätzt und andererseits als eine Art Bevormundung begriffen, welche die Heftigkeit der Proteste zusätzlich anheizte.64

62 Ebd., 60. 63 Stadler/Güttler/Rhyner (Hg.), Gegen|Wissen, I. 64 Nowotny, Experten, 33–35.

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Der lange Weg zur Etablierung der Pflegewissenschaft an österreichischen Universitäten The long road to establishing nursing science at Austrian universities Abstracts Ein Studium Pflegewissenschaft wurde in Österreich erstmals im Jahr 1999 an der Universität Wien etabliert, einige Jahre vorher war die erste universitäre Forschungseinrichtung für Pflege an der Universität Linz entstanden. Damit wurde eine Entwicklung vollzogen, die in manchen anderen europäischen Ländern schon viel früher erfolgt war. Der Entstehung der neuen Wissenschaft in Österreich waren Jahrzehnte ausdauernder Bemühungen vorausgegangen – vor allem vonseiten der Pflegepersonen selbst –, in denen politische Aktionen unternommen, internationale Netzwerke geknüpft und ökonomische Ressourcen gesucht und gefunden worden waren. Im folgenden Beitrag werden die wichtigsten Schritte dieser Entwicklung aufgezeigt, die in einem Zeitraum erfolgte, in dem auch die Strukturen der österreichischen Universitäten einem grundlegenden Wandel unterworfen waren. The degree program of nursing science was first established in Austria in 1999 at the University of Vienna. The first university research institution for nursing had been established some years before at the University of Linz completing a development that had already asserted itself much earlier in some other European countries. The emergence of the new science in Austria was preceded by decades of persistent efforts – especially on the part of the nursing staff itself – by taking political actions, building international networks and seeking and finding economic resources. The following article illustrates the most important steps taken to implement this development which took place in a period in which the structures of Austrian universities as well were subject to fundamental changes. Keywords Etablierung pflegewissenschaftlicher Studiengänge, Pflegewissenschaft, Pflegeforschung, Universität Wien, Gesundheitswesen, Pflege, Akademisierung, Wissenschaftsentwicklung, internationale Vernetzung establishment of nursing degree programs, nursing science, nursing research, University of Vienna, health care, nursing, academization, science development, international networking

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Die Etablierung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin ist ein komplexer Prozess, der meist nicht geradlinig verläuft und häufig eine lange Vorgeschichte hat. In diesem Beitrag soll den Fragen nachgegangen werden, wer die wichtigsten Player bei der Entwicklung der Pflegewissenschaft in Österreich und insbesondere an der Universität Wien waren, welche politischen und gesellschaftlichen Einflüsse wirksam wurden und welche internationalen Netzwerke dabei eine Rolle spielten. Die Bemühungen um die Etablierung der Pflegewissenschaft haben in Österreich im Vergleich zu englischsprachigen und nordeuropäischen Ländern erst sehr spät begonnen. Die Gründe dafür sind vielfältig und gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück.1 Der allgemeine Entwicklungsrückstand des Pflegeberufs in Österreich, der bis in die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen war, war nicht so schnell aufzuholen und bedingte auch einen verspäteten Anschluss an die international immer stärker werdende Akademisierung des Berufs. Bis etwa zu den späten 1970er Jahren war die Pflege in Österreich noch sehr stark vom Image eines medizinischen Hilfsberufs geprägt. Außerdem wirkte insbesondere in katholischen Kreisen die Vorstellung nach, Pflege könne eigentlich nicht berufsmäßig, sondern nur aus Nächstenliebe geleistet werden.2 Der Status des Pflegeberufs in Österreich war niedrig. Englischsprachige wissenschaftliche Pflegeliteratur war den Berufsangehörigen vor der Verbreitung des Internets nur in sehr geringem Ausmaß zugänglich.3 Dass in den 1980er Jahren innerhalb der österreichischen Pflege das Bewusstsein dieses Rückstands und der Wunsch nach einem Anschluss an die internationale wissenschaftliche Entwicklung immer stärker wurden, war vor allem dem Umstand zu verdanken, dass führende österreichische Pflegepersonen in Organisationen wie zum Beispiel der Workgroup of European Nurse Researchers (WENR) mitwirkten, wie später genauer ausgeführt wird, oder Kontakte zur Weltgesundheitsorganisation (WHO) knüpften. Durch diese internationalen Kontakte lernten österreichische Pflegepersonen, die oft schon Erfahrung in anderen wissenschaftlichen Disziplinen hatten, zunächst das Konzept des sogenannten Pflegeprozesses, das von der WHO sehr 1 Z. B. Elisabeth Seidl, Zur Lage der Pflege und ihrer Akademisierung in Österreich, in: Andreas Heller/Doris Schaeffer/Elisabeth Seidl (Hg.), Akademisierung von Pflege und Public Health. Ein gesundheitswissenschaftlicher Dialog, Wien–München–Bern: Wilhelm Maudrich 1995, 13– 36. 2 Z. B. Ilsemarie Walter, Pflege als Beruf oder aus Nächstenliebe. Die Wärterinnen und Wärter in Österreichs Krankenhäusern im „langen 19. Jahrhundert“, Frankf. a. M.: Mabuse-Verlag 2004, 117–121. 3 So hatte z. B. die Krankenpflegeschule am Rudolfinerhaus in den 1970er Jahren zwei oder drei englischsprachige wissenschaftliche Zeitschriften abonniert, was zu dieser Zeit sehr fortschrittlich war.

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Der lange Weg zur Etablierung der Pflegewissenschaft

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gefördert wurde,4 kennen, sie wurden mit Pflegetheorien – vorwiegend aus den USA – vertraut und konnten sehen, welche wissenschaftlichen Forschungsmethoden in der Pflegewissenschaft angewandt wurden. Um jedoch in Österreich Pflegewissenschaft an den Universitäten in Lehre und Forschung zu etablieren, mussten auch Rahmenbedingungen berücksichtigt werden, die sich teilweise als schwer zu bewältigende Barrieren erwiesen. Dazu gehörte unter anderem der Umstand, dass die Pflegeausbildung dem Gesundheitsministerium unterstand, während für die Universitäten das Wissenschaftsministerium zuständig war. Daher musste auch eine Vielzahl sich ständig ändernder gesetzlicher Bestimmungen sowohl im Bereich des Gesundheitswesens als auch im Bereich der Hochschulausbildung (beispielsweise die Veränderungen im Rahmen des Bologna-Prozesses) berücksichtigt werden. Das Verhältnis der Pflegewissenschaft zur Medizin war zu bestimmen. Ein großer Nachteil für die Entwicklung der Pflegewissenschaft lag darin, dass die Pflege in Österreich keine Lobby hatte. Im Folgenden werden die einzelnen Schritte dieser Entwicklung näher ausgeführt. Die ersten Kapitel des Beitrags folgen einem chronologischen Verlauf, wobei es sich um eine Rekonstruktion der Ereignisse aus der Perspektive beteiligter Akteurinnen5 handelt. Dieser Ansatz bietet zwar einige Vorteile wie Insiderwissen oder Zugang zu verschiedenen Dokumenten, stößt aber auch an die Grenzen subjektiver Wahrnehmung und Interpretation. In den weiteren Kapiteln steht der analytische Aspekt im Vordergrund – der Fokus liegt auf der internationalen Vernetzung und Veränderungen im Gesundheitswesen, die allgemein zu beobachten sind, sowie auf Vergleichen mit der Entwicklung der Pflegewissenschaft in anderen Ländern beziehungsweise mit anderen Disziplinen.

4 Pflegeforschung für eine bessere Krankenpflege, hg. vom Österreichischen Krankenpflegeverband, Wien: 1986, 153–211. 5 Elisabeth Seidl war von 1975 bis 1999 Direktorin des Pflegedienstes und der Gesundheits- und Krankenpflegeschule des Rudolfinerhauses, von 1992 bis 2010 Leiterin der Abteilung Pflegeforschung des Forschungsinstituts für Pflege- und Gesundheitssystemforschung der Universität Linz, ab 1995 Dozentin bzw. Professorin für Soziologie der Pflege und Pflegewissenschaft an den Universitäten Linz und Wien und von 2005 bis 2007 Vorständin des Instituts für Pflegewissenschaft der Universität Wien. Ilsemarie Walter war von 1976 bis 1992 Lehrerin an der Gesundheits- und Krankenpflegeschule des Rudolfinerhauses, Wien, von 1992 bis 1998 Vertragsassistentin am Forschungsinstitut für Pflege- und Gesundheitssystemforschung der Universität Linz und von 2000 bis 2007 Lehrbeauftragte für Pflegewissenschaft an der Universität Wien.

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Erste Bemühungen um die Pflegewissenschaft in den 1980er Jahren Nachdem Großbritannien bereits 1956 einen Anfang gemacht hatte, gab es in einer Anzahl von Ländern im kontinentaleuropäischen Raum in den 1970er Jahren Entwicklungen im Bereich der Pflegewissenschaft und -forschung. Bei einem ersten europäischen Kongress der Workgroup of European Nurse Researchers (WENR) in Uppsala im Jahr 1982 war Österreich mit einer Delegation vertreten. Die WENR, die erst vier Jahre vorher gegründet worden war – der Österreichische Krankenpflegeverband war Mitglied –, verfolgte das Ziel, Forschungsarbeiten und universitäre Studien in ganz Europa zu fördern. Die Kongresse der WENR, die im Abstand von zwei Jahren abgehalten wurden, wurden jeweils in einer anderen europäischen Stadt vorbereitet und durchgeführt. Auf Uppsala folgte London 1984 und Helsinki 1986. In der Zwischenzeit gab es kleinere Treffen, z. B. 1985 in Wien, 1989 in Frankfurt und 1993 in Prag.6 1985 wurde in Wien zeitgleich mit dem Treffen der WENR ein Kongress der WHO abgehalten, bei dem die Ergebnisse eines internationalen Forschungsprojekts in der Pflege präsentiert wurden. Durch diesen Austausch auf internationalem Niveau wurde klar, dass einige Länder bereits über Jahrzehnte ein hohes wissenschaftliches Niveau auf dem Gebiet der Pflege erreicht hatten, was zum Ansporn und Impuls auch in Österreich für Verantwortliche im Bereich der Pflege auf allen Ebenen wurde.7 In diesen Jahren gab es in Österreich eine Vielfalt von Wissens- und Schulungsangeboten zum Thema Pflegeforschung an Bildungseinrichtungen, wobei man versucht hat, erste Forschungskompetenzen zu entwickeln. An der Karl Franzens-Universität in Graz konnten pflegewissenschaftliche Lehrveranstaltungen in einem Fächerbündel gemeinsam mit Pädagogik angeboten werden.8 Ab 1981 veranstaltete Klaus Zapotoczky an der Johannes Kepler Universität Linz Symposien zum Thema „Gesundheit im Brennpunkt“, bei denen zunehmend pflegewissenschaftliche Beiträge eingebracht wurden.9 Eine lose Verbindung gelang auch mit der Universität Wien: Ab 1981 wurden die Sonderausbildungen für leitendes und lehrendes Krankenpflegepersonal der Akademie für Höhere

6 Elisabeth Seidl, Von der Idee zur Institutionalisierung – ein langer Weg, in: Elisabeth Seidl (Hg.), Betrifft: Pflegewissenschaft. Beiträge zum Selbstverständnis einer neuen Wissenschaftsdisziplin, Wien–München–Bern: Wilhelm Maudrich 1993, 75–95, 77–84. 7 Pflegeforschung für eine bessere Krankenpflege. 8 Elke Gruber/Sonja D. Kuss, Karriere nach dem Studium. Pflegeakademikerinnen im Beruf, Wien: Facultas 1999, 7–9. 9 Z. B. Peter Berner/Klaus Zapotoczky (Hg.), Neue Wege im Gesundheitswesen, Linz: Veritas 1984, 147–175; Peter Berner/Klaus Zapotoczky (Hg.), Zwischen Professionalisierung, Laiensystem und Bürokratie (Gesundheit im Brennpunkt 3), Linz: Veritas 1992, 247–287.

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Fortbildung in der Pflege, deren Leiter Heinz Flamm war, als Universitätslehrgänge an der Medizinischen Fakultät geführt.10 Um die Möglichkeit der Implementierung eines pflegewissenschaftlichen Studiums an der Universität Wien zu sondieren, bildete sich eine Arbeitsgruppe aus verantwortlichen Pflegepersonen und Vertretern anderer Disziplinen. Ende 1988 wurde das 1. Symposium Pflegeberuf und Universität organisiert, wobei große Zustimmung unter den teilnehmenden Pflegepersonen festzustellen war.11 Wenige Monate später lenkten die „Vorfälle im Krankenhaus Lainz“, bei denen Patienten von Pflegehilfskräften getötet worden waren, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Defizite im pflegerischen Bereich des Krankenhauses und die damit verbundenen strukturellen Probleme. Eine internationale Kommission, an der ExpertInnen aus Österreich und Deutschland teilnahmen, legte dem Gemeinderat einen ausführlichen Bericht vor, in dem Verbesserungsvorschläge enthalten waren. Im April 1989 hatte der Wissenschaftsminister Erhard Busek einen Brief der Projektgruppe Universitäre Weiterbildung für Pflegepersonen erhalten. Darin wurde er informiert, dass bei dem vorhin erwähnten Symposium Pflegepersonen in leitenden und lehrenden Positionen aus Wien und den meisten Bundesländern den Wunsch nach universitärer Bildung geäußert hatten. Beigelegt wurden der Tagungsband und die beiden ersten Exemplare der wissenschaftlichen Zeitschrift Pflege.12 Bei der Vorlage des Expertenberichts im Parlament zu den Ereignissen in Lainz plädierte Wissenschaftsminister Busek bereits für eine universitäre Ausbildung vor allem für leitende und lehrende Pflegepersonen. Der Abgeordnete Josef Lackner erklärte: „Um die Pflege auf der Höhe des internationalen Niveaus durchführen zu können, schlägt der Bundesminister für Wissenschaft und Forschung ein alle Bereiche umfassendes Pflegestudium an der Universität vor. In einem achtsemestrigen Studium sollte

10 Marianne Kriegl, Akademisierung der Pflege in Österreich, in: Vlastimil Kozon/Norbert Fortner (Hg.), Bildung und Professionalisierung in der Pflege, Wien: Österreichische Gesellschaft für vaskuläre Pflege 1999, 7–21, 9–10. Die analogen Veranstaltungen der Akademie für Fortbildungen und Sonderausbildungen der Stadt Wien wurden 1994 in Zusammenarbeit mit der Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien zu Universitätslehrgängen. Ebd. 11 Andreas Heller, Universitäre Pflegeforschung in Österreich. Die Abteilung Pflegeforschung des Instituts für Pflege- und Gesundheitssystemforschung der Johannes Kepler Universität Linz, in: Seidl (Hg.), Betrifft: Pflegewissenschaft, 61–74, 65–66; Elisabeth Seidl (Hg.), 1. Symposium Pflegeberuf und Universität am 18. November 1988 in Wien. Tagungsbericht mit ergänzenden Beiträgen, Wien: Wilhelm Maudrich 1988. 12 Schreiben von Elisabeth Seidl an Bundesminister Erhard Busek vom 23. April 1989, Kopie im Besitz der Autorinnen.

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die universitäre Ausbildung vor allem für leitende und lehrende Pflegepersonen erfolgen.“13

Und Bundesminister Busek bestätigte: „Ebenso ist daran gedacht, einen Studienversuch Pflegewissenschaft durchzuführen […]. Die entsprechenden Vorbereitungen dafür sind bereits getroffen.“14 Zur Entwicklung der Pflegeforschung wurden bereits an verschiedenen Orten Projekte durchgeführt. Um diese auf eine universitäre Basis zu stellen, mussten auch die finanziellen Mittel für ein Forschungsinstitut aufgetrieben werden. Konkret entstand zu dieser Zeit auf Anregung des Direktors der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt Wolfgang Krösl (1923–2014) das Kuratorium zur Errichtung und Unterstützung eines Österreichischen Instituts für Pflege- und Gesundheitssystemforschung, gebildet von Organisationen aus dem Bereich des Gesundheitswesens.15

Das erste universitäre Forschungsinstitut Zu einem Durchbruch kam es kurz darauf: Am 28. Jänner 1992 bewilligte das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung die Errichtung eines Forschungsinstituts für Pflege- und Gesundheitssystemforschung an der Universität Linz.16 Die Errichtung des Instituts basierte auf der Grundlage des Universitätsorganisationsgesetzes von 1975, § 9317. Klaus Zapotoczky wurde Leiter des gesamten Instituts, und auf seine Initiative ging es auch zurück, dass es mehrere Abteilungen geben sollte: eine Abteilung für Gesundheitssystemforschung in Linz (Leitung: Reli Mechtler), eine für Pflegeforschung in Wien (Leitung: Elisabeth Seidl) und ursprünglich auch eine Abteilung für Geriatrie und Curriculumforschung in Krems.18 Die Abteilung Pflegeforschung war in den ersten acht Jahren am Rudolfinerhaus angesiedelt und wurde von Karl Fellinger (1904– 2000), der ab 1989 Präsident des Rudolfiner-Vereins war, sehr unterstützt. Damit konnte Pflegeforschung im universitären Rahmen betrieben werden. Ein internationales Forschungsprojekt war bereits geplant, basierend auf einer Kooperation mit Wissenschaftlerinnen aus Deutschland und der Schweiz aus 13 Republik Österreich, Parlament, Stenographisches Protokoll Nationalrat, XVII. GP, 133. Sitzung, 14. März 1990, 15754. 14 Ebd., 15760. 15 Bescheid der Sicherheitsdirektion für Wien vom 26. Februar 1991, Zl. IV-SD/124, VVM/91. 16 Schreiben des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung vom 28. 1. 1992 an den Akademischen Senat der Universität Linz, Abschrift im Besitz der Autorinnen. 17 Bundesgesetz: Universitäts-Organisationsgesetz, BGBl. Nr. 258/1975. 18 Einladung zum Symposium Pflegewissenschaft – eine universitäre Aufgabe, 20.–21. November 1992, im Besitz der Autorinnen.

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dem Bereich der historischen Pflegeforschung. Das Ziel des Projekts war, die Entwicklung des Pflegeberufs in den drei Ländern Deutschland, Schweiz und Österreich in Beziehung zueinander zu setzen. Es sollte unter anderem der Einfluss der politischen und Kriegsereignisse erforscht werden. Aus zeitlichen Gründen konnte das große Projekt des Ländervergleichs nicht durchgeführt werden, und auf Anraten von Hilde Steppe (1947–1999) entstand 1996 ein österreichischer Band zur Sozialgeschichte der Pflegeberufe.19 Im Oktober 1997 fand der 3. Internationale Kongress zur Geschichte der Pflege in Wien statt, bei dem Projekte aus der historischen Pflegeforschung in diesen drei Ländern präsentiert wurden.20 Bereits 1991 war ein österreichisches Symposium veranstaltet worden im Anschluss an ein Seminar zur historischen Entwicklung der Pflege, das von Hilde Steppe geleitet worden war.21 Weitere internationale Projekte konnten mit der Karls-Universität in Prag entwickelt werden, eines davon mit Marta Stanˇková (1938–2003) über Informationsstand und Lebensbewältigung von alten Menschen nach der Spitalsentlassung, ebenfalls in der Reihe Pflegewissenschaft heute veröffentlicht.22 1997 wurde von der Abteilung Pflegeforschung das Thema „Multikulturelle Aspekte der Pflege“ zum ersten Mal zum Inhalt eines Forschungsprojekts gemacht.23 Zeitgleich mussten die politischen Anstrengungen in Richtung einer universitären Bildung der Pflegepersonen weitergeführt werden. Eine beachtliche Gruppe von PflegewissenschaftlerInnen aus dem Ausland wirkte 1992 beim Symposium Pflegewissenschaft – eine universitäre Aufgabe mit, im besonderen Miriam Hirschfeld von der WHO in Genf, die zum Thema „Universitäre Pflegewissenschaft weltweit betrachtet“ sprach.24 Im Juni 1995 fasste der Wiener Landtag einstimmig den Beschluss, „bei der Bundesregierung betreffend Errichtung eines Lehrstuhles für Pflegewissenschaft 19 Elisabeth Seidl/Hilde Steppe, Zur Sozialgeschichte der Pflege in Österreich. Krankenschwestern erzählen über die Zeit von 1920 bis 1950, Wien–München–Bern: Wilhelm Maudrich 1996. 20 Sechster Jahresbericht, hg. von der Abteilung Pflegeforschung, Wien: Selbstverlag 1998, 13–15. 21 Elisabeth Seidl (Hg.), 2. Symposium. Pflegeberuf – Entwicklung und Perspektiven, Wien– München–Bern: Wilhelm Maudrich 1991. 22 Elisabeth Seidl/Ilsemarie Walter, Lebensbewältigung und Information. Eine Studie über alte Menschen nach der Spitalsentlassung, in: Elisabeth Seidl/Marta Stanˇková/Ilsemarie Walter (Hg.), Autonomie im Alter. Studien zur Verbesserung der Lebensqualität durch professionelle Pflege, Wien–München–Bern: Wilhelm Maudrich 2000, 36–101; Marta Stanˇková/Ilsemarie Walter, Vernetzung von Spitals- und Hauskrankenpflege bei alten Menschen in der Tschechischen Republik, in: Seidl/Stanˇková/Walter (Hg.), Autonomie im Alter, 166–187. 23 Sechster Jahresbericht, 1998, 12; Siebenter Jahresbericht, 1999, 13–14; Achter Jahresbericht, 2000, 14–15; Neunter Jahresbericht, 2001, 10–13. Vgl. auch Wilfried Schnepp/Ilsemarie Walter (Hg.), Multikulturalität in Pflege und Gesellschaft. Zum 70. Geburtstag von Elisabeth Seidl, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2010. 24 Elisabeth Seidl/Klaus Zapotoczky (Hg.), Pflegewissenschaft – eine universitäre Aufgabe, Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner 1994.

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an der Universität Wien vorstellig zu werden“.25 Im Dezember 1995 setzte Bundesminister Rudolf Scholten „aufgrund mehrfach vorgebrachter Wünsche, ein Hochschulstudium im Bereich der Krankenpflege einzurichten“, eine Arbeitsgruppe zur „Prüfung einer eventuellen Akademisierung im Pflegebereich“ ein,26 zu der Hilde Steppe mit einem ausgezeichneten Referat beitrug. Im November 1995 habilitierte sich Elisabeth Seidl an der Universität Linz im neuen Fach „Soziologie der Pflege“.27 Um die Bezeichnung der Venia musste lange gerungen werden, weil Pflegewissenschaft noch an keiner österreichischen Universität etabliert war. Erst durch die Tätigkeit eines weiteren Arbeitskreises zur Akademisierung der Pflege unter Mitwirkung von Giselher Guttmann vom Institut für Psychologie an der Wiener Universität, der schon an der von Minister Scholten eingesetzten Arbeitsgruppe teilgenommen hatte, konnte ein entscheidender Schritt zur Etablierung der Pflegewissenschaft gelingen.

Das Individuelle Studium Pflegewissenschaft an der Universität Wien Im Wintersemester 1998/99 konnte an der Universität Wien eine Ringvorlesung mit dem Titel Wissenschaftliche Konzepte der Pflege abgehalten werden. Das Interesse der Pflegepersonen daran war sehr hoch. Die 134 HörerInnen, ordentliche und außerordentliche je zur Hälfte, hatten in dem gebuchten Saal gar nicht Platz und wurden in einen großen Vortragsraum gebeten. Unter der Leitung von Elisabeth Seidl wirkten auch drei Gäste aus dem Ausland mit: Annemarie Kesselring aus Bern, Doris Schaeffer aus Bielefeld und Judith Strobl aus Liverpool.28 Von dieser Ringvorlesung ging eine neuerliche Dynamik aus, viele TeilnehmerInnen wollten Prüfungen ablegen und waren entschlossen, weiterzustudieren. Was fehlte, war eine Lehrveranstaltungsnummer, und die Suche danach führte uns zu Ekkehard Weber, der für die Einrichtung sogenannter Individueller

25 Schreiben von Stadträtin und Mitglied der Landesregierung von Wien, Maria Hampel-Fuchs, vom 29. 6. 1995 an Dr. Elisabeth Seidl, im Besitz der Autorinnen. Zum Beschlussantrag selbst vgl. Stadt Wien, Magistratsabteilung 8, URL: https://www.wien.gv.at/ma08/infodat/1995/29 70-lat.pdf (abgerufen am 24. 9. 2021). 26 Schreiben des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst (gezeichnet: Dr. Höllinger) vom 15. 12. 1995 an Dr. Elisabeth Seidl, im Besitz der Autorinnen. 27 Bescheid der Johannes Kepler Universität Linz, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät vom 30. 11. 1995. 28 Ilsemarie Walter, „Theoretische Grundlagen der Pflege“. Erste Ringvorlesung an der Universität Wien, in: Österreichische Krankenpflege-Zeitschrift 51 (1998) 4, 1, 14.

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Diplomstudien (IDS) nach § 17 des Universitätsstudiengesetzes von 199729 verantwortlich war. Das Besondere an den IDS war, dass der Studienplan aus bestehenden Lehrinhalten zusammengesetzt sein und durch die Kombination unterschiedlicher Fachbereiche etwas völlig Neues entstehen sollte. Zur Begründung für die gleichzeitige Einrichtung vier neuer Studien gab Professor Weber die Erklärung: „Die Universität Wien will innovativ sein.“30 Ein Curriculum für das neue Fach „Pflegewissenschaft“ musste dringend entwickelt werden, wobei die Vorstände der einbezogenen Fächer Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Medizin – letzteres Fach damals noch an der Universität Wien – ihre Zustimmung geben mussten. Der Zeitraum dafür war knapp. Das Curriculum war zunächst auf ein kombinationspflichtiges Studium ausgerichtet. Während die drei erstgenannten Studienkommissionen im Wesentlichen Vorschläge für die weitere Studienentwicklung machten, forderte die Studienkommission Medizin die Hinzunahme von 40 Semesterwochenstunden, eine Anzahl, die unmöglich mit diesem Entwurf vereinbar war. Professor Weber schlug daraufhin vor, aus Pflegewissenschaft ein Vollstudium zu machen und ein neues Curriculum zu entwickeln. Nach dem damals geltenden Universitätsgesetz wurde eine Studiendauer von acht Semestern und ein Studienabschluss mit dem „Mag. phil.“ vorgesehen. Bei der Übernahme der studienrechtlichen Betreuung der Studierenden hat es „insofern keine Schwierigkeiten gegeben, als sich die Studienkommission Soziologie unter ihren Vorsitzenden Prof. Dr. Jürgen Pelikan und Prof. Dr. Rudolf Forster zur Übernahme dieser Aufgabe bereit erklärt hat“.31 Am 6. September 1999 – sehr knapp vor dem Beginn des Semesters – setzte der damalige Prärektor der Universität Wien, Wolfgang Greisenegger, den Studienplan für das IDS Pflegewissenschaft gemeinsam mit einigen anderen Individuellen Studien in Kraft.32 Diese neuen Studien stießen auf großes Interesse. In der Pflegewissenschaft inskribierten im Studienjahr 1999/2000 bereits 73 Personen. In den folgenden Jahren nahm die Zahl der NeuinskribentInnen bedeutend zu:

29 Bundesgesetz über die Studien an den Universitäten, BGBl. I 48/1997. 30 Persönliche Erinnerung von Elisabeth Seidl. 31 Ekkehard Weber, Pflegewissenschaft als neues Lehrangebot an der Universität Wien, in: Vlastimil Kozon/Hanna Mayer/Elisabeth Seidl (Hg.), Pflegewissenschaft – Aufbruch in Österreich, Wien: Facultas Universitätsverlag 2000, 23–28, 27. 32 Ebd., 25. Zum Studium selbst vgl. Hanna Mayer, Pflegewissenschaft – Über die Etablierung einer neuen Disziplin an der Universität Wien, in: Karl Anton Fröschl u. a. (Hg.), Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik, Göttingen: V&R unipress 2015, 135–147, 138–141; Elisabeth Rappold/Andreas Harreither, Individuelles Diplomstudium Pflegewissenschaft, in: Österreichische Krankenpflege-Zeitschrift 53 (2000) 12, 12–13; Universität Wien, Vorlesungsverzeichnis Winter 1999/ 2000, 15.

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vom Beginn des Studiums im Wintersemester 1999/2000 bis zum Sommersemester 2007 betrug sie insgesamt 1.438.33 Einen positiven Einfluss auf die InteressentInnen hatten zweifelsohne die Informationsnachmittage in den Räumen der Abteilung Pflegeforschung. Durch diese Begegnungen konnte auch die Überzeugung der einzelnen InteressentInnen bestärkt werden, dass durch die Entwicklung des Pflegeberufs eine höhere Verantwortung für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung gefördert wird. Den Pflegepersonen aus der Praxis wurden Wege aufgezeigt, wie sie die Zugangsberechtigung zur Universität erwerben konnten. Die Komplexität der Situation wurde dadurch erhöht, dass man erst nach der Inskription eines anderen Studiums Pflegewissenschaft studieren konnte.34 Mit der Entwicklung des ersten Curriculums war die Neugestaltung des Studiums nicht zu Ende. Im Zusammenhang mit den Stellungnahmen der betroffenen Studienkommissionen schreibt Professor Weber: „Es ist kein besonderes Geheimnis, dass gerade die Pflegewissenschaft hier auf besondere Schwierigkeiten gestoßen ist. Andererseits hat gerade sie alle recht unterschiedlichen Forderungen und Einwände berücksichtigt, die von den beteiligten Studienkommissionen vorgebracht wurden, mit dem Ergebnis, dass der Studienplan von Kritikern nachher als ‚unorganisch‘ bezeichnet wurde. Man kann es eben nie allen recht machen. Andererseits sollte gerade dieser Studienplan möglichst vielen Interessen (auch hinsichtlich unterschiedlicher Eingangsvoraussetzungen und unterschiedlicher Berufsziele) Rechnung tragen.“35

Zusätzlich mussten auch die anstehenden Veränderungen aufgrund des „Bologna-Prozesses“36 sowie Änderungen in der Organisation der Universität, die u. a. zu einem starken Splitting der Fakultäten führten,37 ins Auge gefasst werden. Das IDS war als Übergangslösung aus der Not heraus gewählt worden, im Grunde wurde ein reguläres Studium angestrebt. In Kooperation mit der Abteilung Pflegeforschung, dem Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverband, dem Springer-Verlag sowie der Österreichischen Hochschülerschaft an der Universität Wien führten die Studierenden des IDS im Jahr 2002 eine Unterschriftenaktion durch, um ein Regelstudium für die Pflegewissenschaft zu er33 Hanna Mayer, 10 Jahre Institut für Pflegewissenschaft. Eine Rückschau auf die Etablierung einer neuen Disziplin an der Universität Wien, in: procare 20 (2015) 6–7, 10–14, 11. 34 Weber, Lehrangebot, 26–27. 35 Ebd., 27. 36 Bundesgesetz, mit dem das Universitäts-Studiengesetz geändert wird, BGBl. I Nr. 167/1999. In diesem Gesetz war bereits eine Gliederung in ein Bakkalaureats- und Magisterstudium (anstelle des Diplomstudiums) vorgesehen sowie die verpflichtende Zuteilung von ECTS-Anrechnungspunkten zu den einzelnen Lehrveranstaltungen. 37 Ulrike Denk, Die Entwicklung der Fakultäten an der Universität Wien, Universität Wien, URL: https://geschichte.univie.ac.at/de/themen/die-entwicklung-der-fakultaeten-der-univer sitaet-wien (abgerufen am 24. 9. 2021).

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reichen. 7.312 Unterschriften wurden gesammelt und an die SPÖ-Abgeordnete und ÖGB-Frauenvorsitzende Renate Csörgits sowie den Wissenschaftssprecher Erwin Niederwieser übergeben.38 Bereits am 21. Jänner 2000 schlug die Studienkommission Medizin dem Bundesministerium vor, an der Medizinischen Fakultät Pflegewissenschaft als Studium zu etablieren. Es gab dazu einen einstimmigen Beschluss.39 Dies war der erste von mehreren Versuchen vonseiten der Medizin, die jedoch nicht zum Erfolg führten. Am 1. Jänner 2004 erfolgte dann die Etablierung der Medizin als eigene Universität. Die Zahl der Studierenden im IDS Pflegewissenschaft stieg in dieser Zeit rasch an. Ganz praktische Fragen wie zum Beispiel die Beschaffung der Räume für die Lehrveranstaltungen konnten nur mithilfe der Infrastruktur und der Unterstützung des Personals der Abteilung Pflegeforschung gelöst werden.40 Von Anfang an bestand Einigkeit darüber, dass zusätzlich zu den bestehenden Lehrveranstaltungen im engeren Sinn pflegewissenschaftliche Inhalte angeboten werden müssen. Elisabeth Seidl, die sich 1995 an der Linzer Universität habilitiert hatte, wo sie auch in den folgenden Jahren lehrte, übernahm jetzt in Wien einen Teil der pflegewissenschaftlichen Lehrveranstaltungen. Weitere akademisch qualifizierte Personen hielten Seminare und Proseminare ab, für die wegen der großen Studierendenzahl vermehrt Parallelveranstaltungen angeboten werden mussten. In der Zwischenzeit ergab sich durch das Universitätsgesetz 2002 eine neue Situation: Die Universitäten erhielten das Recht, von sich aus neue Studien einzurichten. Allerdings mussten sie dafür auch die Finanzierung aufbringen.41 Die Bemühungen um eine Stiftungsprofessur führten erst 2004 zu einem Erfolg, die Etablierung eines Instituts an der Wiener Universität erfolgte ein Jahr darauf. Als Stifter konnten Caritas und Rotes Kreuz42 gewonnen werden. An der Universität Wien war dies die erste Stiftungsprofessur. Die Antrittsvorlesung von Elisabeth Seidl im April 2005 trug den Titel Pflegewissenschaft für die Gesundheitsversorgung von morgen. 38 „Bewegung und Bewegen“ – 10 Jahre Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Wien, URL: https://www.pflegekongress.at/html/publicpages/14473398421674.pdf (abgerufen am 24. 9. 2021). Vgl. auch Monika Kunit, Hürdenlauf, in: Clinicum (2002) 2, 10–11. 39 Ekkehard Weber, Die Zukunft der Pflegewissenschaft an der Universität Wien, in: Vlastimil Kozon/Elisabeth Seidl (Hg.), Pflegewissenschaft – der Gesundheit verpflichtet, Wien: Facultas Universitätsverlag 2002, 44–51, 46. 40 Universität Wien, Vorlesungsverzeichnis Winter 1999/2000, 15. 41 Bundesgesetz über die Organisation der Universitäten und ihre Studien, BGBl. I Nr. 120/2002, § 54 (1). 42 Die insgesamt vier Stifter waren: die Österreichische Caritaszentrale, die Caritas der Erzdiözese Wien (Caritasverband), das Österreichische Rote Kreuz und der Landesverband Wien des Österreichischen Roten Kreuzes.

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Die ersten Studienabschlüsse mit Sponsion im Jahr 2003 verstärkten die Motivation der Studierenden. Im Dezember 2005 fiel unter Anwesenheit der Stifter zwischen den Verantwortlichen der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien der Beschluss, eine Lehrunion zwischen den beiden Universitäten zu bilden, das Studium sollte bereits 2007 beginnen und mit einem Bachelorabschluss an der Medizinischen Universität Wien bzw. einem Masterabschluss an der Universität Wien enden. Die diesbezüglichen Studienpläne wurden in zahlreichen Sitzungen an beiden Universitäten entwickelt. „Im nächsten Jahr wird ein gemeinsam mit der Universität Wien erarbeitetes Studium für Pflegewissenschaft starten“, verkündete am 29. August 2006 eine Presseaussendung der Medizinischen Universität.43 Ein diesbezüglicher Vertrag, der in einem Protokoll vorgesehen war, konnte jedoch nicht realisiert werden. In der Zwischenzeit wurden auch an anderen österreichischen Universitäten, und zwar an der Medizinischen Universität Graz, der Tiroler Privatuniversität UMIT Tirol und der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg, pflegewissenschaftliche Studiengänge eingerichtet.44 Auch die Johannes Kepler Universität Linz wäre nicht uninteressiert gewesen, hier stellte jedoch das damalige Fehlen einer medizinischen Fakultät eine Schwierigkeit dar. Die Stiftungsprofessur an der Universität Wien lief mit September 2007 aus, eine Nachfolgeprofessur, die schon längere Zeit zusammen mit einer zweiten Professorenstelle beantragt worden war, wurde als dringliche Notwendigkeit von den StudienrichtungsvertreterInnen der Pflegewissenschaft gefordert, eine Unterschriftenaktion durchgeführt und die Unterschriftslisten an Rektor Georg Winckler übergeben. Zur Unterstützung des Anliegens wurde vom Institut Pflegewissenschaft eine Informationsveranstaltung organisiert, zu der VertreterInnen der Politik eingeladen waren. Als weiteres politisches Unternehmen ist eine Demonstration auf der Ringstraße zu nennen vom Universitätsgebäude zum Rathaus, dabei trugen die Studierenden Transparente mit den Forderungen.45 Am 1. Dezember 2007 wurde Hanna Mayer als Professorin für Pflegewissenschaft an der Universität Wien angestellt und übernahm die weitere Betreuung der Studierenden. Das IDS Pflegewissenschaft lief noch bis zum Sommerse43 Umstrukturierung der Arbeitsmedizin an der MedUni Wien im Sinne der Stärkung von Forschung und Lehre, URL: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20060829_OTS0122/ (abgerufen am 24. 9. 2021). 44 Christa Them/Eva Schulc, Vom weiblichen Hilfsdienst zur Hochschulabsolventin, in: Margarete Hochleithner (Hg.), Gender Medicine. Ringvorlesung an der Medizinischen Universität Innsbruck, Bd. 1, Wien: Facultas 2008, 193–208, 203–206. 45 Formular der Studienrichtungsvertretung Pflegewissenschaft für die Unterschriftenaktion zur Sicherstellung des Studiums Pflegewissenschaft WS 2006/2007, Kopie im Besitz der Autorinnen. Pflegewissenschaft: Betreuung von mehr als 1.000 Studenten gefährdet, Der Standard, 19. 12. 2006.

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mester 2013,46 es konnte nicht fortgesetzt werden, weil das Gesetz dem BolognaProzess entsprechend das Auslaufen der Diplomstudien vorsah. Insgesamt haben 588 Personen das IDS Pflegewissenschaft mit dem Magisterium abgeschlossen und weitere 28 Personen mit dem Bachelor.47 Eine Fortführung in der Form eines Master- und Doktoratsstudiums war möglich.

Vergleich mit der Etablierung anderer Wissenschaften an der Universität Wien Ein kurzer Vergleich der Entwicklung der Pflegewissenschaft mit der Etablierung anderer Fächer an der Universität Wien kann Ähnlichkeiten und Unterschiede aufzeigen. Gut belegt ist hier insbesondere die Entwicklung der Soziologie, der Psychologie und der Translationswissenschaft. In der diesbezüglichen Literatur werden meist ältere Fächer genannt, auf die die neuen Wissenschaften zurückgehen. Für die Soziologie sind dies die Rechts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaft sowie die Psychologie, Philosophie und Geschichte;48 für die Psychologie insbesondere die Philosophie;49 für die Translationswissenschaft die Angewandte Linguistik und die Vergleichende Literaturwissenschaft.50 Professoren und andere Lehrende aus dem Gebiet der schon bestehenden Fächer boten besondere Lehrveranstaltungen an51 oder gründeten außeruniversitäre Institutionen mit neuen Schwerpunkten52, und es dauerte oft noch lange, bis das neue Fach als solches studiert werden konnte. In allen drei genannten Fächern gingen die Initiativen von Lehrenden aus im Unterschied zur Pflegewissenschaft, bei der die Anstöße fast durchwegs von unten, von den PraktikerInnen, kamen. Was Soziologie und Psychologie betrifft, so ist dies verständlich, weil hier PraktikerInnen in diesen Fächern kaum noch existierten; es ist jedoch auch im Fall der Translationswissenschaft kein besonderer Einfluss von in der Praxis tätigen DolmetscherInnen oder ÜbersetzerInnen 46 Vgl. Individuelle Studien, Universität Wien, URL: https://pflegewissenschaft.ac.at/studium -und-lehre/individuelle-diplomstudien/ (abgerufen am 24. 9. 2021). 47 E-Mail von Klaudia Zeliska, Universität Wien, vom 25. 11. 2013 an Ilsemarie Walter, im Besitz der Autorinnen. 48 Gilbert Norden/Christoph Reinprecht/Ulrike Froschauer, Frühe Reife, späte Etablierung: Zur diskontinuierlichen Institutionalisierung der Soziologie an der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis, in: Fröschl u. a. (Hg.), Reflexive Innensichten, 165–177, 166–169. 49 Gerhard Benetka/Thomas Slunecko, Desorientierung und Reorientierung – Zum Werden des Faches Psychologie in Wien, in: Fröschl u. a. (Hg.), Reflexive Innensichten, 267–280, 267. 50 Mary Snell-Hornby/Gerhard Budin, Translationswissenschaft in Wien – Zur Pionierrolle einer altehrwürdigen Universität, in: Fröschl u. a. (Hg.), Reflexive Innensichten, 239–252, 239. 51 Z. B. Norden/Reinprecht/Froschauer, Zur diskontinuierlichen Institutionalisierung, 168–169. 52 Wie etwa die „Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle“, vgl. ebd. 169.

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sichtbar, obwohl solche schon seit Jahrtausenden unentbehrlich waren.53 Es zeigt sich also sehr deutlich, dass die Entwicklung in Richtung Bottom-up, die die Pflegewissenschaft in Österreich auszeichnet, keiner allgemeinen Regel folgte, sondern als Besonderheit zu betrachten ist. Hier waren es fast ausschließlich Personen aus der Pflege selbst, von denen der Wunsch nach einem pflegewissenschaftlichen Studium ausging. Einige hatten schon ein anderes Fach studiert, viele waren in leitenden Stellen in Praxis oder Unterricht tätig,54 wo sie die Verantwortung der Pflege für die Gesellschaft erkannten, einige auch im politischen Bereich, wie Charlotte Staudinger, die im Jahr 2000 den Bedarf an akademisch gebildeten Pflegepersonen in Österreich mit 4.000 Personen berechnete.55 Und dann gab es eine große Menge junger Menschen, die in der Pflege tätig waren und nach der Möglichkeit drängten, ein solches Studium absolvieren zu können. In anderer Hinsicht sind deutliche Parallelen zwischen der Pflegewissenschaft und den genannten drei Fächern zu finden, insbesondere was die Verortung der neuen Wissenschaften im Gesamtrahmen der wissenschaftlichen Fächer betrifft. Für die Soziologie bringt Christian Fleck eine anschauliche Aufstellung solcher Fragen wie: Was ist oder soll der Gegenstand der Soziologie sein? Soll sie sich an den Naturwissenschaften orientieren oder die Nähe der Geisteswissenschaften suchen? Ist sie eine wissenschaftliche Spezialdisziplin oder eine allgemeine heuristische Perspektive?56 Diese Fragen sind den Fragen sehr ähnlich, die zu Beginn der Pflegewissenschaft im deutschen Sprachraum diskutiert wurden, was hier aber aus Platzgründen nicht näher ausgeführt werden kann. Eine kurze Literaturangabe muss genügen.57

53 Snell-Hornby/Budin, Translationswissenschaft, 239–241. 54 Z. B. Gerhard Fürstler, Von der Lehrschwester zur Pflegewissenschaftlerin – Ein im Wandel begriffenes Berufsbild am Beispiel Österreichs, in: Pädagogik der Gesundheitsberufe 3 (2016) 1, 73–78, 76–77. 55 Charlotte Staudinger, Bedarf an akademisch gebildeten Pflegepersonen, in: Kozon/Mayer/ Seidl (Hg.), Aufbruch, 107–110. 56 Christian Fleck, Rund um „Marienthal“. Untersuchungen über institutionelle Aspekte der Entwicklung der Soziologie und Sozialforschung in Österreich, Habilitationsschrift, Graz 1988, 10–11. 57 Z. B. Seidl (Hg.), Betrifft: Pflegewissenschaft, 99–190; Sabine Bartholomeyczik, Die Entwicklung der Pflegewissenschaft in Deutschland – eine schwere Geburt, in: Pflege & Gesellschaft 22 (2017) 2, 101–117, 110–111; Klaus R. Schroeter, Die Pflege und ihre Wissenschaft(en) – im Spagat zwischen Professionalisierung und disziplinenübergreifender Wissenschaftspraxis, in: Pflege & Gesellschaft 24 (2019) 1, 18–31.

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Pflegewissenschaft in anderen europäischen Ländern Bevor wir auf die wichtigsten internationalen Netzwerke zu sprechen kommen, möchten wir einen kurzen Blick auf die Entwicklung der Pflegewissenschaft in anderen europäischen Ländern werfen. Viele Länder, vor allem im Norden Europas, waren in dieser Hinsicht schon viel weiter als Österreich. So wurde in Großbritannien bereits in Jahr 1956 eine Nursing Studies’ Teaching Unit an der Universität Edinburgh etabliert und 1971 an der gleichen Universität eine Nursing Research Unit eingerichtet.58 In Schweden erfolgt die Pflegeausbildung seit 1977 auf Universitätsniveau, in Norwegen seit 1983, in Finnland und Dänemark seit 1990.59 Rosette Poletti nennt fünf Gründe für das Zurückbleiben der mitteleuropäischen Länder hinter dieser Entwicklung, unter anderem die Tatsache, dass in Letzteren die Leitung der Krankenpflegeschulen vorwiegend in den Händen von Ärzten lag, berufstätige Frauen weniger akzeptiert wurden und die Berufsverbände für Pflege später gegründet worden waren.60 Aus einem besonderen Grund entstanden Pflegeausbildungen auf tertiärem Niveau in Frankreich (Lyon) und Polen (Lublin) sowie eine weitere in Edinburgh. Zu Beginn der 1960er Jahre, als in Europa dank des hoch entwickelten Gesundheitswesens die Infektionskrankheiten immer besser unter Kontrolle waren, beschloss die WHO ein Programm, mit dem in Europa europäische Studierende wie auch solche von anderen Kontinenten, zum Beispiel aus Afrika, wo das Gesundheitswesen noch weniger gut entwickelt war, zu hochkompetenten Pflegepersonen ausgebildet werden sollten. So wurden drei internationale Hochschuleinrichtungen zur höheren Pflegeausbildung etabliert, je eine mit französischer, englischer und russischer Unterrichtssprache, den drei offiziellen Sprachen der WHO entsprechend.61 In der Tschechoslowakei war an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag schon 1960 ein fünfjähriges

58 Daniel Kelly u. a., Leaps in the dark. 60 years of Nursing Studies at the University of Edinburgh, in: Journal of Advanced Nursing 74 (2018) 1, 1–4; Elisabeth Seidl/Ilsemarie Walter, Ausländische Modelle von Universitätsstudien für Pflegepersonen, in: Seidl (Hg.), 1. Symposium,102–111, 107–108. 59 Maj-Britt Råholm, Nursing education in Denmark, Finland, Norway and Sweden – from Bachelor’s Degree to PhD, in: Journal of Advanced Nursing 66 (2010) 9, 2126–2137, 2128. 60 Rosette Poletti, Obstacles and Hopes for Nursing Research in Southern Europe, in: Workgroup of European Nurse-Researchers (Hg.): Nursing Research – Does it Make a Difference? Workgroup of European Nurse-Researchers, 7th Workgroup Meeting and 2nd Open Conference 10th–13th April, 1984, Proceedings, London: Royal College of Nursing 1985, 115–125. 61 Michel Poisson, L’école Internationale d’Enseignement Supérieur (Lyon, 1965–1995): fabrique d’une élite et creuset pour l’émancipation des infirmières françaises du XXe siècle. Histoire. Normandie Université, 2018. Français. URL: https://tel.archives-ouvertes.fr/tel-019 51900/document, 135–136 (abgerufen am 7. 10. 2021).

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Studium für Pflegelehrerinnen entstanden, das Pflege und Psychologie – später Pflege und Pädagogik – kombinierte.62 Dieser notgedrungen sehr unvollständigen Aufzählung ist deutlich zu entnehmen, wie sehr Österreich im Bezug auf die Entwicklung der Pflegewissenschaft im Rückstand war. Nicht erwähnt wurde bisher die Situation in Deutschland. Ulrike Höhmann nennt in einem Artikel zur Akademisierung der Pflege in Deutschland als erste Besonderheit der beruflichen Entwicklung der Pflege die Tatsache, „dass die Ausbildung von Anfang an außerhalb der üblichen beruflichen Bildungssysteme stand“.63 Dies trifft in Österreich ebenso zu und erschwerte hier alle Innovationen, unter anderem auch deshalb, weil für die Krankenpflegeausbildung das Gesundheitsministerium, für die Universitäten jedoch das Bildungsministerium zuständig war. Ähnlich war in beiden Ländern auch das niedrige Eintrittsalter, das in den Krankenpflegeschulen vorgesehen war. Auch der von Höhmann beklagten Fremdbestimmung der beruflichen Pflege64 kann für Österreich nur zugestimmt werden, da u. a. die Leitung der Krankenpflegeschulen hier seit ihrer Entstehung in den Händen von Ärzten lag. Beim Vergleich zwischen Österreich und Deutschland sind jedoch auch Unterschiede zu bemerken. Wenn Höhmann konstatiert, dass „die praktische Pflegetätigkeit ganz überwiegend von Pflegeverbänden organisiert wurde“ und bis Anfang der 1970er Jahre „die meisten Krankenschwestern auch nicht bei den jeweiligen Krankenhäusern angestellt“ waren, sondern bei den Pflegeverbänden,65 so trifft dies für Österreich nicht zu. Auch Pendants zu den von Sabine Bartholomeyczik aufgezählten drei „verpassten Gelegenheiten“ (die Schwesternschule der Universität Heidelberg 1953, die Empfehlung dreijähriger Kurzstudiengänge für Gesundheitsberufe durch den Wissenschaftsrat 1973 und der Modellversuch eines Studiums für Lehrende in der Pflege an der Freien Universität Berlin 1978 bis 1981)66 sind in Österreich nicht zu finden. 62 Marta Stanˇková, Krankenpflegestudium an der Karls-Universität in Prag, in: Seidl/Zapotoczky (Hg.), Universitäre Aufgabe, 67–79, 72–73; Marta Stanˇková, Die tschechische Pflege in Geschichte und Gegenwart, in: Elisabeth Seidl/Marta Stanˇková (Hg.), Ende der Pflegekrise? Ein interkultureller Vergleich zur Arbeitssituation im Krankenhaus, Wien–München–Bern: Wilhelm Maudrich 1994, 13–39, 25. 63 Ulrike Höhmann, Die Akademisierung der Pflege: Vom Bohren dicker Bretter, in: Rebecca Palm/Martin Dichter (Hg.), Pflegewissenschaft in Deutschland – Errungenschaften und Herausforderungen. Festschrift für Sabine Bartholomeyczik, Bern: Hans Huber 2013, 316–337, 317. 64 Ebd., 316. 65 Ebd., 317. 66 Sabine Bartholomeyczik, Zur Entwicklung der Pflegewissenschaft in Deutschland – eine schwere Geburt, in: Pflege & Gesellschaft 22 (2017) 2, 101–118, 103–105; Ruth Schröck, Die Akademisierung der Pflege in Deutschland, in: Elke Gruber/Sonja D. Kuss (Hg.), Weiterbildung im Gesundheits- und Pflegebereich. Österreichische und internationale Entwicklungen, Wien: Facultas Universitätsverlag 1998, 12–27, 14–16.

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Internationale Vernetzung In verschiedener Weise ist bei der Entwicklung von Pflegewissenschaft in Österreich internationale Vernetzung von Bedeutung. Gemeinsame Forschungsprojekte mit WissenschaftlerInnen aus Deutschland, der Schweiz und der Tschechoslowakei wurden hier schon beschrieben ebenso wie die Anregungen, die von den internationalen Kongressen der Workgroup of Nurse Researchers kamen. Mit internationaler Beteiligung veranstaltete Kongresse und Symposien gingen manchmal auch über disziplinäre Grenzen hinaus, wie die insgesamt dreimal in Wien veranstalteten Kongresse zur Geschichte der Pflege67 und im September 1994 ein Symposium Pflege und Public Health im Aufbruch.68 Auch an der Gründung der ersten deutschsprachigen pflegewissenschaftlichen Zeitschrift Pflege im Jahr 1988 war Österreich beteiligt. Sehr hilfreich war die Unterstützung durch Vorträge, Kurse oder die Abhaltung von Lehrveranstaltungen in Wien durch KollegInnen z. B. aus Berlin, Osnabrück, Frankfurt, Essen, Witten/Herdecke, Bielefeld oder Basel. Zwei gebürtigen Österreicherinnen, die in Großbritannien eine Karriere als Pflegewissenschaftlerinnen gemacht und die österreichische Entwicklung tatkräftig unterstützt haben, Lisbeth Hockey und Annie Altschul, ist die österreichische Pflege ganz besonders zu Dank verpflichtet.69 Spezielle Unterstützung bekam Österreich von Miriam Hirschfeld, die in leitender Funktion bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf tätig war und an verschiedenen Arbeitstreffen und politischen Beratungen in Wien teilnahm. Diese Organisation hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1948 dafür eingesetzt, dass „Krankenpflegepersonen auf allen Ebenen des Gesundheitssystems eines Landes vertreten sein sollten und daher Ausbildungsmöglichkeiten auch auf allen Ebenen des Bildungssystems angeboten werden müssen“.70

67 Vlastimil Kozon/Elisabeth Seidl/Ilsemarie Walter (Hg.), Geschichte der Pflege – Der Blick über die Grenze, Wien: ÖGVP Verlag 2011, 7–9. 68 Heller/Schaeffer/Seidl (Hg.), Akademisierung von Pflege und Public Health. 69 Ilsemarie Walter, Die Emigration (zukünftiger) Pflegepersonen aus Österreich 1938/39 – ihre Bedeutung für die Gesundheits- und Krankenpflege und deren internationale Vernetzung. Karrierewege und Schicksale, in: Daniela Angetter u. a. (Hg.), Strukturen und Netzwerke. Medizin und Wissenschaft in Wien 1848–1955, Göttingen: V&R unipress 2018, 597–630, 612– 615. 70 Gerda Kaufmann, Empfehlungen der WHO zur Ausbildung lehrender und leitender Pflegepersonen, in: Deutsche Krankenpflegezeitschrift 37 (1984) 1, 3–5, 3.

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Der Einfluss von Strukturen und Rahmenbedingungen im universitären Bereich „Ende der achtziger Jahre hat eine Phase der gezielten Internationalisierung an österreichischen Universitäten eingesetzt“, schreibt Ada Pellert im Jahr 1999. Nachdem sie das folgende Jahrzehnt als Aufbauphase beschrieben hat, fährt sie fort: „Ende der neunziger Jahre ist man an einem Scheideweg angekommen. Weitere Schritte der Internationalisierung stoßen zunehmend an strukturelle Grenzen. […] Auch hat sich die hochschulpolitische Situation geändert – anstelle von Expansion geht es nun um Einsparung, Effizienz und Evaluation. Die internationale Entwicklung hat sich zudem ungeheuer beschleunigt […].“71

Genau in diese Phase fällt der Beginn der Etablierung der Pflegewissenschaft an der Universität Wien. Österreich, das im zweiten Halbjahr 1998 den EU-Ratsvorsitz innehatte und intensiv an den Vorbereitungen der Bologna-Konferenz beteiligt war, unterzeichnete bereits im Jahr 1999 die Bologna-Deklaration, obwohl hier gerade umfangreiche Veränderungen im Organisations- und studienrechtlichen Bereich der Universitäten im Gange waren.72 Rückblickend kann man ein vorsichtiges Urteil darüber fällen, was diese Situation für die Einrichtung der Pflegewissenschaft bedeutet hat, insbesondere darüber, in welchen Punkten sie förderlich und in welchen hinderlich war. An sich waren die raschen Veränderungen an den Universitäten wohl eher günstig für die Pflegewissenschaft, weil in einem allgemeinen Umbruch auch Neuerungen eher Platz finden können. Das Universitätsstudiengesetz 1997 hatte ja sogar „verborgene Möglichkeiten“ für das Individuelle Studium Pflegewissenschaft eröffnet.73 Auch wurden infolge der Internationalisierung der Studien ausländische Studiengänge für Pflegewissenschaft in Österreich bekannter. Andererseits war die gerade erst entstehende Pflegewissenschaft wie viele andere Wissenszweige gezwungen, wiederholt neue Entwürfe für Curricula usw. zu entwerfen. Dass Bildungspolitik und Wirtschaftlichkeit zusammenrückten,74 hatte ebenfalls viel Arbeit zur Folge, vor allem in Bezug auf Drittmittelbeschaffung, machte es aber wiederum leichter möglich, Konstruktionen wie die Stif71 Ada Pellert, Die globalisierte Gesellschaft – die Universität als internationale Organisation, in: Zeitschrift für Hochschuldidaktik 23 (1999) 1, 8–43, 29–30. 72 Hans Pechar/Angela Wrobleswki, Die Auswirkungen von Bologna auf die Lage der Studierenden in Österreich, in: Zeitschrift für Hochschulentwicklung 6 (2011) 2, 1–14, 4–6; Elisabeth Westphal, Die Bologna-Reform: Policy Making in Europa und Österreich, Hamburg: New Academic Press 2020, 201; Bundesgesetz: Organisation der Universitäten, BGBl. Nr. 805/1993; Universitäts-Studiengesetz, BGBl Nr. 48/1997; Universitätsgesetz, BGBl. Nr. 120/2002. 73 Weber, Lehrangebot, 24. 74 Z. B. Westphal, Bologna-Reform, 68 und 75–76.

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tungsprofessur für Pflegewissenschaft an der Universität Wien – es war dies die erste Stiftungsprofessur an dieser Institution – oder schon früher das drittmittelfinanzierte Forschungsinstitut an der Universität Linz zu schaffen. Darüber hinaus entstand durch die Ausgliederung der Medizinischen Fakultät als eigene Universität eine veränderte Situation.75 Für die Entwicklung der Pflegewissenschaft waren jedoch nicht nur die Universitätsgesetze, sondern auch das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG) mit seinen laufenden Novellierungen relevant. In der Fassung von 1997 nennt es zum ersten Mal Pflegeforschung als Aufgabe der Pflegepersonen im Rahmen des eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereichs und sieht die Möglichkeit einer freiberuflichen Ausübung der Gesundheits- und Krankenpflege vor.76 Ein entscheidender Durchbruch zur Verankerung der Pflege im tertiären Bildungsbereich wurde im Jahr 2016 erreicht, als in einer Novelle festgelegt wurde, dass die Grundausbildung im „Gehobenen Dienst in der Gesundheits- und Krankenpflege“ ab 1. Jänner 2024 ausschließlich an Fachhochschulen mit einem Bachelorabschluss erfolgen soll.77

Wandel in Gesellschaft und Gesundheitswesen Die Entwicklung der Pflegewissenschaft in Österreich vollzog sich in einem Zeitraum, in dem grundlegende Veränderungen in Gesellschaft und Gesundheitswesen vor sich gingen, was hier nur ganz kurz angedeutet werden kann. Eine wichtige Veränderung betrifft die Rolle, die den PatientInnen zugeschrieben wurde. Standen noch in den 1970er Jahren – insbesondere im Krankenhaus – die Erwartungen an den „guten“ oder „braven“ Patienten im Vordergrund, „der sich bedingungslos und passiv unter möglichst vollständiger Aufgabe aller den diagnostisch-therapeutischen Prozess störenden Eigenarten, Impulse, Interessen und Bedürfnisse dem System unterwirft“78, so fanden gegen Ende des 20. Jahrhunderts auch in Österreich die Rechte der PatientInnen stärkere Aufmerksamkeit. Damit traten auch in der Forschung Themen wie die Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen, das Recht der PatientInnen auf Information oder die Idee der Patientenverfügung stärker in den

75 Wolfgang Schütz/Markus Grimm, Die Wiener Medizin in den jeweiligen Universitätsgesetzen bis zum Übergang von Medizinischen Fakultäten zu eigenen Universitäten in diesem Band. 76 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG), BGBl. Nr. 108/1997, §§ 14 bzw. 35. 77 GuKG-Novelle 2016, BGBl. Nr. 75/2016, § 117 Absatz 27. 78 Johann Jürgen Rohde, Strukturelle Momente der Inhumanität einer humanen Institution, in: Hannelore Schwitajewski/Jürgen Johann Rohde (Hg.), Berufsprobleme der Krankenpflege, München–Berlin–Wien: Urban & Schwarzenberg 1975, 1–14, 12.

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Vordergrund.79 Diese Veränderung tangierte nicht nur die Medizin, sondern auch die Pflege. Neue Aufgaben für Pflegepraxis, -ausbildung und -wissenschaft brachten u. a. die zunehmende Technisierung der Medizin und die Verkürzung der durchschnittlichen Verweildauer der PatientInnen im Krankenhaus. Besondere Bedeutung für die Pflegewissenschaft als Praxiswissenschaft hat jedoch die in den letzten Jahrzehnten forcierte Konzentration auf Evidence Based Healthcare. Wird diese im engen Sinn als Priorisierung von Forschung verstanden, die mit der Methode der RCTs (Randomized Controlled Trials) erfolgt, was sich in der pharmakologischen Forschung bewährt hat, ist die Pflegewissenschaft doppelt gefordert, Alternativen zu entwickeln und auch durchzusetzen. Pflege als soziales Handeln weist in vielen Fällen ein hohes Maß an Komplexität auf, weshalb pflegerische Interventionen, wie Wilfried Schnepp in einem im Jahr 2009 erschienenen Beitrag eindrucksvoll gezeigt hat, häufig nicht mit der Methode der RCTs erfassbar sind. Dass es pflegewissenschaftliche Alternativen dazu bereits gibt, legt Schnepp am Beispiel des sogenannten Utrechter Modells dar.80 Wie sich die komplexe Wechselwirkung von Medizin und sozialem Wandel im Einzelnen auf die Entwicklung der Pflegewissenschaft in Österreich und insbesondere an der Universität Wien ausgewirkt hat, wäre ein lohnendes Thema einer weiteren Untersuchung wie auch die Frage, welchen Einfluss die wechselnden politischen Konstellationen und ökonomischen Gegebenheiten dabei hatten. Wertvolle Ergänzungen zu diesem Beitrag und damit einen Ausgleich für die Grenzen subjektiver Darstellung könnte künftige Forschung dann erbringen, wenn ihr weitere Quellen, die heute noch nicht zugänglich sind, offenstehen. Dies könnten zum Beispiel universitätsinterne Unterlagen über die Verhandlungen der einzelnen Studienkommissionen sein, die ihre Zustimmung zur Errichtung des Individuellen Studiums Pflegewissenschaft geben mussten, oder Dokumente der anderen österreichischen Universitäten, an denen heute Pflegewissenschaft etabliert ist. Jedenfalls sind noch viele andere Blickwinkel offen, unter denen das Thema erforscht werden kann.

79 Zu parallel erfolgten Veränderungen der Stellung der ÄrztInnen vgl. z. B. für Deutschland Martin Dinges, Aufstieg und Fall des „Halbgottes in Weiß“? Gesellschaftliches Ansehen und Selbstverständnis von Ärzten (1800–2010), in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 31 (2013), 145–162, 156–159. 80 Wilfried Schnepp, Pflegeforschung in Zeiten von Evidence-based Healthcare: das Ende methodologischer Argumente?, in: Hanna Mayer (Hg.), Pflegewissenschaft – von der Ausnahme zur Normalität. Ein Beitrag zur inhaltlichen und methodischen Standortbestimmung, Wien: Facultas 2009, 72–88.

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Ein unerwarteter Erfolg? Die Geschichte der Poliomyelitis-Schutzimpfungen in Österreich Unexpected success? The History of Polio Vaccination in Austria Abstracts In Österreich traten seit den 1930er Jahren jährlich Polio-Epidemien auf. Ein spezifisches Heilmittel gegen die gefürchtete Krankheit gab es nicht, deshalb setzten ExpertInnen vor allem auf eine effektive Prophylaxe. Diese stand ab 1955 mit der Salk-Impfung, später mit der Schluckimpfung nach Albert Sabin auch in Europa bereit. Der Beitrag analysiert die epidemiologische Situation in Österreich nach 1945 und nimmt die Ein- und Durchführung der Impfungen sowie deren Rezeption in den Blick. Polio epidemics have occurred annually in Austria since the 1930s. As there was no specific cure for the dreaded disease, experts primarily relied on effective prophylaxis. A vaccine became available in Europe in 1955 (Salk), the oral vaccine developed by Albert Sabin followed soon after. The paper analyses the epidemiological situation in Austria after 1945 and looks at the introduction and implementation of the different vaccines as well as their reception by the public. Keywords Poliomyelitis, Epidemiologie, Impfung, Injektion, Schluckimpfung, Österreich nach 1945 Poliomyelitis, epidemiology, vaccination, injection, oral vaccine, Austria after 1945

Die 1954/55 aus den USA kolportierten Meldungen, bald eine wirksame Prophylaxe gegen die heimtückische Kinderlähmung (Poliomyelitis oder HeineMedin’sche Krankheit) präsentieren zu können, gingen wie ein Heilsversprechen um die Welt, das auch in Österreich wahrgenommen wurde. „Im Hinblick auf die Tatsache, daß auch Österreich zu den Ländern gehört, die alljährlich zahlreiche Erkrankungen an Poliomyelitis zu verzeichnen haben, ist es eine dringende Notwendigkeit, alle Mittel anzuwenden, welche zur Verhütung der Erkrankung zu Gebote stehen“1, teilte das Bundesministerium für soziale Verwaltung (BMfsV) noch im April 1955 kurz nach der gefeierten Zulassung des Salk’schen 1 Schreiben aus dem Jahr 1955. Tiroler Landesarchiv (TLA), Amt der Tiroler Landesregierung (ATLR) 1956, Abteilung (Abt.) Vc, Sanitätsdirektion, Reg. 495, Zl. 561.

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Vakzins in den Vereinigten Staaten den Landesregierungen mit. Damit hoffte man, der seit den 1930er Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend als bedrohlich erscheinenden Poliomyelitis Herr zu werden. Mit Alfons Labisch gesprochen, besaß die durch Schmierinfektion (fäkal-oral) hervorgerufene Viruserkrankung bis in die 1960er Jahre ein hohes Skandalisierungspotenzial.2 Blickt man auf die Historiografie zur Poliomyelitis, so präsentiert sich diese lange Zeit als eine genuin amerikanische Geschichte. Bereits seit den 1960er Jahren wandten sich angloamerikanische HistorikerInnen dem Thema zu.3 In einem europäischen Kontext avancierte die Polio erst seit der Jahrtausendwende zum Gegenstand intensiverer Auseinandersetzungen. Im deutschsprachigen Raum liegen fundierte Forschungen von Ulrike Lindner, Malte Thießen und Annette Hinz-Wessels vor.4 Auch in Großbritannien5, den Niederlanden6, Italien7, Spanien8 und Ungarn9 wurde die Thematik aufgegriffen. In Österreich 2 Alfons Labisch spricht in diesem Zusammenhang von skandalisierten Krankheiten. Alfons Labisch, „Skandalisierte Krankheiten“ und „echte Killer“ – zur Wahrnehmung von Krankheiten in Presse und Öffentlichkeit, in: Michael Andel u. a. (Hg.), Propaganda, (Selbst-)Zensur, Sensation. Grenzen von Presse- und Wirtschaftsfreiheit in Deutschland und Tschechien seit 1871, Essen: Klartext 2005, 273–289. 3 John R. Wilson, Margin of Safety. The Fight against Polio, Garden City: Doubleday & Company 1963; John R. Paul, A History of Poliomyelitis, New Haven: Yale University Press 1971; Naomi Rogers, Dirt and Disease. Polio before FDR, New Brunswick: Rutgers University Press 1992; Tony Gould, A Summer Plague. Polio and its Survivors, New Haven: Yale University Press 1995. An rezenter Forschung siehe Daniel J. Wilson, Living with Polio. The Epidemic and its Survivors, Chicago: University of Chicago Press 2006; David M. Oshinsky, Polio. An American Story, Oxford–New York: Oxford University Press 2005; Heather Green Wooten, The Polio Years in Texas. Battling a Terrifying Unknown, Austin: Texas A & M University Press 2009; Gareth Williams, Paralysed with Fear. The Story of Polio, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013; Richard J. Altenbaugh, The Last Children’s Plague. Poliomyelitis, Disability and Twentieth-Century American Culture, New York–Basingstoke: Palgrave Macmillan 2015. 4 Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München: R. Oldenbourg Verlag 2004; Malte Thießen, Seuchen im langen 20. Jahrhundert. Perspektiven für eine europäische Sozial- und Kulturgeschichte, in: Malte Thießen (Hg.), Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 64), München: De Gruyter–Oldenbourg 2014, 7–28; Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017; Annette Hinz-Wessels, Medizinische Verflechtung und Systemkonkurrenz im Kalten Krieg: Poliobekämpfung im geteilten Berlin, in: Medizinhistorisches Journal 55 (2020) 2, 132–171. 5 Gareth Millward, „A Matter of Commonsense“: The Coventry Poliomyelitis Epidemic in 1957 and the British Public, in: Contemporary British History 31 (2006) 3, 1–23. Siehe dazu auch Gareth Millward, Vaccinating Britain. Mass Vaccination and the Public since the Second World War, Manchester: Manchester University Press 2019. 6 Stuart S. Blume, Lock in, the State and Vaccine Development. Lessons from the History of Polio Vaccines, in: Research Policy 34 (2005), 159–173. 7 Bernardino Fantini, Polio in Italy, in: Dynamis 32 (2012) 2, 329–359. 8 María Isabel Porras Gallo u. a. (Hg.), El drama de la polio. Un problema social y familiar en la España franquista, Madrid: Los Libros de la Catarata 2013.

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Die Geschichte der Poliomyelitis-Schutzimpfungen in Österreich

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hingegen stellt die Geschichte der Poliomyelitis nach wie vor ein markantes Desiderat der zeit- und medizinhistorischen Forschung dar. Der vorliegende Beitrag beleuchtet das epidemiologische Geschehen in Österreich nach 1945 und widmet sich der Implementierung der beiden Impfungen. Zunächst werden die turbulenten und von staatlicher Seite wenig koordinierten Ereignisse rund um die Einführung der Impfung mit abgetöteten Polioviren nach Jonas Salk (inactivated polio vaccine, IPV) seit 1955 rekonstruiert. Diese Injektionsimpfung wurde schließlich Anfang der 1960er Jahre von der Schluckimpfung nach Albert Sabin (oral polio vaccine, OPV) abgelöst. Es soll jedoch nicht nur eine erste, stark ereignisgeschichtlich gefärbte Chronologie der Polio-Schutzimpfungen geschrieben, sondern ein gezielter Blick auf die Ursachen der unterschiedlichen administrativen Ausgestaltung, gesellschaftlichen Akzeptanz und medialen Rezeption der Impfungen geworfen werden. Auf nationaler Ebene sind insbesondere die Wechselwirkungen zwischen dem Bund und den Ländern, die die Einführung der Impfung(en) in Österreich vorbereiteten, begleiteten und umsetzten, von Interesse. Die Reaktionen der Bevölkerung, sei es über ihre statistisch nachvollziehbare Beteiligung an der Impfung oder ihre aktive Teilhabe am öffentlichen Impfdiskurs, werden ebenfalls miteinbezogen. Der Beitrag verortet sich mit diesen Fragestellungen an der Schnittstelle von Sozial- und Kulturgeschichte der Seuchenprävention sowie einer Wissenschaftsgeschichte der Medizin. Aufgrund der pandemiebedingten Archivschließungen bzw. Zugangsbeschränkungen konnten relevante Bestände im Österreichischen Staatsarchiv in Wien nicht konsultiert werden. Vorab erhobenes Aktenmaterial aus dem Tiroler Landesarchiv lieferte jedoch wertvolle Einblicke in die amtliche Korrespondenz zwischen den Landesregierungen und dem BMfsV. Neben diesen archivalischen Quellen wurden dem Beitrag der wissenschaftliche Austausch der österreichischen Ärzteschaft in den einschlägigen Fachzeitschriften sowie Mitteilungen aus der Tagespresse zugrunde gelegt.

Epidemiologische Situation in Österreich Die durch das Poliovirus aus der Familie der Enteroviren hervorgerufene Poliomyelitis trat in Österreich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vermehrt auf. Eine schwere Epidemie in Wien und Niederösterreich im Jahr 1908 bildete den Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Erkrankung durch österreichische MedizinerInnen. Kurze Zeit nach dem Abklingen der 9 Dóra Vargha, Polio across the Iron Curtain. Hungary’s Cold War with an Epidemic, Cambridge: Cambridge University Press 2018.

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Marina Hilber

Epidemie präsentierten Karl Landsteiner (1868–1943) und Erwin Popper (1879– 1955) in der Sitzung der k.k. Gesellschaft der Ärzte in Wien ihre bahnbrechenden Erkenntnisse über die Übertragbarkeit der Poliomyelitis.10 Etliche europäische und amerikanische ForscherInnen, allen voran der Schwede Ivar Wickman (1872–1914)11, hatten die Poliomyelitis als eine Infektionskrankheit definiert, die auf ein Virus als Erreger zurückzuführen sei. Landsteiner und Popper gelang es erstmals, die Poliomyelitis von einem Verstorbenen auf zwei gesunde Affen zu übertragen.12 Obwohl die für die Impfstoffforschung essenzielle Vermehrung des Erregers in Zellkulturen erst 1949 gelang,13 sah man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Ansicht der Kontagiosität der Poliomyelitis bestätigt.14 Die Intensität der auftretenden Epidemien verstärkte sich im frühen 20. Jahrhundert zusehends (Abb. 1), doch erst 1927 wurde eine bundesweite Anzeigepflicht für Poliofälle eingeführt.15 Eingang in die Statistik fanden aber meist nur jene Fälle, die einen besonders schweren Verlauf aufwiesen und durch ihre spezifischen, v. a. paralytischen Symptome eine Infektion mit dem Poliovirus und damit eine Meldung an die Behörden nahelegten. Diese Fälle stellen lediglich die sprichwörtliche „Spitze des Eisbergs“ dar. Rund 90 bis 95 Prozent der Infektionen mit dem Poliovirus verliefen nämlich asymptomatisch. Weitere vier bis acht Prozent der Infizierten entwickelten lediglich diffuse Symptome eines grippalen Infekts wie Fieber, Glieder- und Muskelschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Hals- oder Kopfschmerzen. Diese Symptome klangen meist nach wenigen Tagen ab und blieben als Poliomyelitis unerkannt. Das Virus konnte sich 10 Ein Kurzbericht über Landsteiners Vortrag erschien bereits am 24. Dezember 1908. Offizielles Protokoll der k.k. Gesellschaft der Ärzte in Wien, in: Wiener klinische Wochenschrift 52 (1908), 1829–1833, 1830; Karl Landsteiner/Erwin Popper, Uebertragung der Poliomyelitis acuta auf Affen, in: Zeitschrift für Immunitätsforschung 2 (1909) 4, 377–390. 11 Ivar Wickman, Studien über Poliomyelitis acuta. Zugleich ein Beitrag zur Kenntnis der Myelitis actua, Berlin: S. Karger 1905; Ivar Wickman, Beiträge zur Kenntnis der Heine-Medinschen Krankheit. Poliomyelitis und verwandte Erkrankungen, Berlin: S. Karger 1907. 12 Landsteiner/Popper, Uebertragung, 390. 13 Hans J. Eggers, Milestones in Early Poliomyelitis Research (1840 to 1949), in: Journal of Virology 73 (1999) 6, 4533–4535. 14 Wilhelm Knoepfelmacher, Experimentelle Übertragung der Poliomyelitis anterior acuta auf Affen, in: Medizinische Klinik 44 (1909), 1671–1674; Karl Leiner/Richard von Wiesner, Experimentelle Untersuchungen über Poliomyelitis anterior acuta, in: Wiener klinische Wochenschrift 49 (1909), 1698–1701. Die positive internationale Rezeption seiner Forschungen ermöglichte es Karl Landsteiner sogar am renommierten Institut Pasteur in Paris weiter an der Übertragbarkeit der Poliomyelitis zu forschen. Siehe dazu u. a. Karl Landsteiner/Constantin Levaditi, La transmission de la paralysie infantile aux singes, in: Comptes Rendus des Séances de la Société de Biologie et de ses Filiales (Paris) 67 (1909), 592–594; Karl Landsteiner/ Constantin Levaditi, Recherches sur la paralysie infantile expérimentale, in: Comptes Rendus des Séances de l’Académie des Sciences (Paris) 150 (1910), 131–132. 15 Verordnung vom 11. Jänner 1927 betreffend die Anzeigepflicht bei Poliomyelitis anterior actua (spinale Kinderlähmung) und Encephalitis lethargica epidemica (Schlafkrankheit), Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich (BGBl.) 38/1927, 131.

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Die Geschichte der Poliomyelitis-Schutzimpfungen in Österreich

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Erkrankungs- und Sterbefälle an Poliomyeli!s in Österreich, 1929-1966 4000

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Fallzahlen absolut

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Erkrankungen

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Sterbefälle 1500

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Abb. 1: Erkrankungs- und Sterbefälle durch Poliomyelitis in Österreich, 1929–1966. Quelle: Bundesministerium für soziale Verwaltung (Hg.), Schluckimpfung gegen Kinderlähmung in Österreich. Versuch einer Bilanz, Wien: Europa Verlag 1968, 113.

so ungehindert weiterverbreiten. In einem frühen Stadium war die Diagnose tatsächlich schwierig, ein definitiver Nachweis gelang nur über die äußerst schmerzhafte Knochenmarkspunktion und die Analyse des entnommenen Liquors. Im Normalfall schrillten die Alarmglocken bei den niedergelassenen Kinder- und HausärztInnen erst, wenn meningitische (2–4 %) oder paralytische (