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German Pages 392 [393] Year 1998
MANIFESTE: INTENTIONALITÄT
AVANT GARDE CRITICAL STUDIES 11 Comite de rMaction/Editorial Board: Directeur: Femand Drijkoningen Secn!taire: Klaus Beekman Membres: Henri Behar, Peter Bürger, Leigh Landy, Ben Rebel et Willem Weststeijn
MANIFESTE: INTENTIONALITÄT
Herausgegeben von
Hubert van den Berg Ralf Grüttemeier
AMSTERDAM - ATLANTA, GA 1998
Umschlag: Joseph Beuys: Manifest, 1.11.1985.
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@ Le papier sur lequel le present ouvrage est im prime remplit les prescriptions de "ISO 9706: 1994, Information et documentation - Papier pour documents - Prescriptions pour la permanence". ISBN: 90-420-0328-6 (bound) ISBN: 90-420-0318-9 (paper) ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam - Atlanta, GA 1998 Printed in The Netherlands
INHALT Hubert van den Berg / Ralf Grüttemeier Interpretation, Funktionalität und Strategie. Versuch einer intentionalen Bestimmung des Manifests
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Wolfgang Asholt Intentionale Strategien in futuristischen, dadaistischen und surrealistischen Manifesten
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Walter Fähnders / Helga Karrenbrock "Ich sage nämlich das Gegenteil, aber nicht immer Avantgarde-Manifeste von Kurt Schwitters
57
H.
Die
Michael Stark Manifeste des 'Neuen Menschen '. Die Avantgarde und das Utopische
91
Ferdinand Drijkoningen Auf der Suche nach Intentionen und ihren Implikationen: Das erste Manifest des Surrealismus und Poisson soluble
119
Dorothea Zwirner Marcel Broodthaers: Je manifeste manifestement
141
Rainer Grübel Literaturersatz, handgreifliche Kunst oder Vor-schrift? Diskurspragmatik und Bauformen, Axiologie und Intentionalität literarischer Deklarationen, Manifeste und Programme der russischen Moderne (1893-1934)
161
Hubert van den Berg Das Manifest - eine Gattung? Zur historiographischen Problematik einer deskriptiven Hilfskonstruktion
193
Helmut Lethen Masken der Authentizität. Der Diskurs des "Primitivismus Hin Manifesten der Avantgarde
227
Ben Rebel Das Manifest und die moderne Architektur in den Niederlanden
259
Graham Birtwistle Cobra: Polemik, Rezeption, Nachleben
289
Martin A. Kayman Die Klarheit des anglo-amerikanischen Modernismus: Ezra Pounds Imagismus als poetische Hygiene
319
K.D. Beekman Armandos Zeitschrift De Nieuwe Stijl. Die Verwendung von Manifesten anderer zur Legitimation der eigenen Literaturund Kunstauffassung
345
Ralf Grüttemeier Das Manifest ist tot - Es lebe das Manifest! Über die poetologische Dimension der Debatte um postmoderne Manifeste
367
Zusammenfassungen
385
Adressen der Mitarbeiter
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INTERPRETATION, FUNKTIONALITÄT, STRATEGIE Versuch einer intentionalen Bestimmung des Manifests
Hubert van den Berg/ Ralf Grüttemeier
Um 1900 wird in den mit Kunst befaßten Kreisen der meisten europäischen Länder Intentionalität insofern problematisch, als der vom Kunstproduzenten erwünschte Umgang des Publikums mit den Kunstwerken sich nicht mehr von selber einstellt, sondern anscheinend der über das Kunstwerk hinausgehenden Steuerung bedarf. Diesem Problem glaubt man mit einer umfassenden Produktion kunstbegleitender Texte begegnen zu können (cf. RuprechtlBänsch 1981; Schultz 1981). Die Bezeichnung dieser Texte als Manifeste durch die Verfasser selbst beginnt in nennenswertem Umfang erst bei Marinettis "Manifest des Futurismus" (1909) - mit dem dann auch Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (1995) ihre kürzlich erschienene Manifest-Anthologie beginnen lassen. Der Begriff 'Manifest' wird im folgenden - mit der historischen Avantgarde als Konjunkturgipfel - jedoch so geläufig und gesichtsbestimmend für kunstprogrammatische Schriften, daß er inzwischen - auch retrospektiv - auf die unterschiedlichsten Texte mit dieser Funktion angewandt wird. Dem hier präsentierten Band liegt also die These zugrunde, daß die Anfange der Praxis, kunstprogrammatische Texte als Manifest zu bezeichnen, und die anschließende Hochkonjunktur in der avantgardistischen Nomenklatur vor dem Hintergrund der problematisch gewordenen Intentionalität im Dreieck Künstler, Kunstwerk und Publikum gesehen werden muß. Will man die Plausibilität dieser These erhärten, dann müßte sich zeigen lassen, daß der Manifestcharakter von Texten allererst über Aspekte von Intentionalität zu charakterisieren
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ist. Den Beleg dafür soll der vorliegende Band von drei Ansätzen aus antreten: Interpretation (1.), Funktionalität (11.) und Strategie (III.). I.
Auch wenn die Geschichte der Intentionalität bei der Interpretation von Kunst noch geschrieben werden muß, so läßt sich jetzt bereits behaupten, daß diese Frage erst im 20. Jahrhundert zum Gegenstand interpretationstheoretischer Diskussionen wurde. Der Keim liegt dabei im Formalismus russischer Prägung, der mit einer wohl zulässigen Simplifizierung gekennzeichnet werden kann als eine Abkehr von außerliterarisehen Größen beim Umgang mit Texten, wie zum Beispiel der Autor, seine Biographie oder der geschichtliche Rahmen, und eine damit einhergehende Betonung der 'Ausdrucksgestalt' des Textes, eben seiner Form (cf. Grübel 1996). Damit tut sich aus der Metaperspektive ein Spielraum für Dissens auf, der in der herkömmlichen Darstellung seine nächste entscheidende Erweiterung Ende der sechziger Jahre mit der radikalen und grundsätzlichen Problematisierung von Intentionalität durch poststrukturalistische Konzepte erfuhr (cf. Eco 1992, Schrover 1992, Searle 1994). Im folgenden soll der heutige Diskussionsstand kurz umrissen werden, um so ein differenziertes Beschreibungsinstrumentarium von Intentionalität in bezug auf Manifeste zu erarbeiten und gleichzeitig die Grundierung anzubringen, auf der die Konturen der in den folgenden Fallstudien gewonnenen Erkenntnisse deutlicher hervortreten können. Ein einflußreicher neuerer Ordnungsvorschlag der existierenden Intentionalitäts-Ansätze ist, wohl nicht zuletzt wegen der prägnanten lateinischen Terminologie, der von Umberto Eco. Eco unterscheidet drei "Theorien und Methoden der Textbehandlung" (1992:36): • intentio auctoris ("man muß im Text nach dem suchen, was der Autor sagen wollte", 1992:35), • intentio operis ("man muß im Text nach dem suchen, was er unabhängig von den Intentionen seines Autors sagt" und zwar das, "was er in bezug auf seine eigene kontextuelle Kohärenz und auf die Signifikationssysteme sagt, auf die er sich bezieht", ibid.), • intentio lectoris ("man muß im Text nach dem suchen, was der Adressat in bezug auf seine eigenen Signifikationssysteme und/oder seine eigenen Wünsche, Impulse, Vorlieben in ihm findet", ibid.).
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Noch deutlicher als Ecos eigene Position - er plädiert für Interpretationen, die sich an der intentio operis orientieren (cf. Eco 1992:49ff.) - ist dabei seine Ablehnung der intentio lectoris, die er als "Benutzen" von Texten (im Gegensatz zum "Interpretieren") sieht, da sie zu beliebigen Deutungen fuhre. Diesen Ansatz lokalisiert er im Wissenschaftsbetrieb im Fahrwasser Derridas - den er selber explizit von seiner Kritik ausnimmt -, im "Derridismus" (1992:55). Betrachtet man nun jedoch die Dreiteilung Ecos genauer, so stellt sich heraus, daß von einer Beschreibung grundsätzlich verschiedener "Theorien und Methoden" keine Rede sein kann. Der Bezug zwischen intentio operis und intentio lectoris stellt sich eher dar als Grenze zwischen von Eco akzeptierten und nicht akzeptierten Interpretationen. Die von Eco bevorzugte Interpretationsarbeit sollte nämlich "in der intentio operis das Kriterium zur Bewertung der Manifestationen der intentio lectoris finden". Eine solche Absicht ergibt aber nur dann einen Sinn, wenn das Kriterium auf ein tertium comparationis bezogen werden kann - womit aber nur Varianten des gleichen Ansatzes vorliegen, keine andere 'Theorie und Methode'. Das gilt auch fur intentio auctoris und intentio operis bei Eco: diese können bei ihm zusammenfallen und zwar in dem Sinn, "daß (Modell-) Autor und Werk (als Kohärenz des Textes) der virtuelle Punkt sind, auf den die Vermutung [über die intentio operis] abzielt." (Eco 1992:49) Was Eco also vorlegt, sind - entgegen seiner expliziten Präsentation - keine Kategorien fur unterschiedliche theoretische Ansätze. Es hat hingegen den Anschein, daß mit Ecos Begrifflichkeit über Aspekte ein und desselben Intentionalitäts- und Interpretationskonzepts kommuniziert werden kann. Dieser Gedanke wird - in einem anderen Zusammenhang - von Searle gestützt, der ebenfalls von einer Dreiteilung ausgeht, dabei jedoch vom 'Schein' einer Theorie spricht Now these three different claims - that meaning is a linguistic property of the text; that meaning is a matter of authorial intention, and that meaning is in the reader - certainly look like competing theories. (Searle 1994:655)
In Wirklichkeit handele es sich hierbei jedoch um drei verschiedene Antworten auf drei verschiedene Fragen, allerdings auf der Grundlage desselben Intentionalitätskonzepts (cf. Searle 1994:656). Wenn intentio auctoris, intentio operis und intentio lectoris nur Facetten ein und derselben Auffassung von Intentionalität sind, wie können dann die exi-
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stierenden Diskussionen um Intentionalität erklärt und beschrieben werden? Als Ausgangspunkt eines solchen Unternehmens soll die Zweiteilung in Intentionalisten einerseits und Nicht-Intentionalisten andererseits dienen. Bei den ersteren wird die Interpretation grundsätzlich auf eine noch näher zu spezifizierende Weise von Intentionalität bestimmt, bei letzteren ist die Abkehr von Intentionalität der Ausgangspunkt der Interpretation. I Eine Darstellung der Intentionalisten sollte bei dem Artikel beginnen, der als Referenzpunkt die heutige amerikanische Diskussion prägt: Stephen Knapps und Walter Benn Michaels "Against Theory" aus dem Jahr 1982, danach noch vielmals abgedruckt. Die Kraft ihrer These liegt in ihrer Schlichtheit: "the meaning of a text is simply identical to the author's intended meaning" (Knapp/Michaels 1992:51). Darunter ist jedoch keine einseitige Wahl im Feld zwischen Absichten des Autors einerseits und dem Text oder Kunstwerk als Grundlage der Interpretation andererseits zu sehen, denn ihrer Auffassung nach ist gerade eine solche Trennung die Quelle vieler Mißverständnisse: The mistake made by theorists has been to imagine the possibility or desirability ofmoving from one term (the author's intended meaning) to a second term (the text's meaning), when actually the two terms are the same. One can neither succeed nor fail in deriving one term from the other, since to have one is already to have them both ... (ibid.)
Demzufolge ist Interpretation also immer intentional - einen Moment vor dem Eintritt von Intentionalität, an dem etwa nur die Zeichen in ihrer semantischen Bedeutung interpretiert werden können, schließen Knapp/Michaels explizit aus, da jede Interpretation sprachliche Zeichen als von einem intendierenden Wesen stammend konstruiere. Sprache ohne intentionalen Ursprung und Interpretationskontext ist für Knapp/Michaels keine Sprache. Sie gehen in diesem Zusammenhang ausführlich auf das Gedankenexperiment ein, daß jemand anscheinend autorlose Sprachzeichen am Strand finde, produziert von Wellen; in diesem Fall, so Knapp/Michaels, handele es sich gar nicht um Worte: "They will merely resemble words." (1992:55) Die Autorintention könne und brauche somit gar nicht als Korrektur von Interpretationen der Textbedeutung auftreten: "looking for one is looking for the other" (1992:52).
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Dieser Standpunkt wird explizit geteilt von Stanley Fish, der der Auffassung ist: that there is only one style of interpretation - the intentional style - and that one is engaged in it even when one is not se1f-consciously paying "attention to intention". (1994:182) Seinen Standpunkt entwickelt Fish am ausführlichsten in Abgrenzung zu Ronald Dworkin in einer Debatte über Interpretation im allgemeinen und juristische Interpretation im besonderen: The crucial point is that one cannot read or reread independently of intention, independently, that is, of the assumption that one is dealing with marks or sounds produced by an intentional being, a being situated in some enterprise in relation to which he has a purpose or a point of view. (Fish 1989:99f.) Das heißt aber nicht, daß Fish daran glaubt, mit der ausformulierten Intention des konkreten Autors habe man eine zuverlässige Richtschnur für die Interpretationsanstrengungen der Leser: The thesis that interpretation always and necessarily involves the specification of intention does not grant priority and authority to the author, who is in no more a privileged relation to his own intentions than is anyone else. (Fish 1994:183, in diesem Sinne auch 1995:127f.) Interpretation ist für Fish genauso wie für KnapplMichaels keine Methode, deren Ergebnisse anhand des Kriteriums der Autorintention kontrolliert werden können: die Frage nach der Textbedeutung impliziert für sie immer schon die nach der Autorintention und umgekehrt. Hier liegt der wichtigste Unterschied zur Position von E.D. Hirsch, die auf den ersten Blick der von Knapp lMichaels und Fish ähnelt: an interpreter, like any other person, falls under the basic moral imperative of speech, which is to respect an author's intention. That is why, in ethical terms, original meaning is the "best meaning". (1976:92) Hirsch geht jedoch von einer Wahlmöglichkeit zwischen Textbedeutung einerseits und Autorintention andererseits aus 2, die Knapp/ Michaels (cf. 1992:52) gerade bestreiten. Fallen bei Fish und Knapp/ Michaels also bei jeder Interpretation qualitate qua intentio auctoris und intentio operis zusammen,3 um Umberto Ecos Terminologie zu gebrauchen, so bringt Hirsch eine Hierarchie auf der Grundlage einer existierenden Alternative an, in der die intentio auctoris eine übergeordnete Rolle spielt.
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Zwischen Hirsch und KnapplMichaels ist die Position von John Searle anzusiedeln. Searle stimmt mit KnapplMichaels (und auch Hirsch) darin überein, daß the way to understand any actual speech act or string of speech acts, literary or otherwise, is try to figure out what the author meant. (1994:681)
Gleichzeitig insistiert Searle - als Sprachphilosoph - jedoch darauf, daß es eine semantische Bedeutung von Sprache gebe, die der Autorintention vorausgehe, unabhängig von dieser wahrgenommen werden könne und auf jeden Fall nicht mit ihr ineinsgesetzt werden müsse (cf. Searle 1987 und 1994). Am anderen Ende der Skala gibt es, spiegelbildlich zu Hirsch, schließlich die Position, daß man bei der Interpretation die Wahl habe zwischen der Orientierung an der Autorintention oder an der Intention, wie man sie aus dem vorliegenden Text oder Kunstwerk herleiten kann, und das letzteres zu bevorzugen sei. Eine solche Präferenz der intentio operis vertritt Umberto Eco: Ein Text ist ein Mechanismus, der seinen Modell-Leser hervorbringen möchte. Der empirische Leser ist ein Leser, der eine Vermutung über den vom Text postulierten Modell-Leser aufstellt. Das heißt, daß der empirische Leser nicht über die Intentionen des empirischen Autors, sondern über die des Modell-Autors Vermutungen anstellt. Der ModellAutor ist jener Autor, der, als Textstrategie, einen bestimmten ModellLeser hervorbringen möchte. (Eco 1992:49)
Diese Auffassung hat eine lange Tradition und findet sich in dieser oder ähnlicher Form auch bei Beardsley/Wimsatt (1946), Booth (1961), Schmid (1973) und Nathan (1992).4 Bei aller Unterschiedlichkeit teilen die hier nur angedeuteten Positionen zwei Axiomata, die es erlauben, sie gemeinsam unter dem Nenner Intentionalisten zu erfassen: 1. Der Autor einer (textuelIen) Äußerung hat eine über die bloße Produktion und direkt damit zusammenhängende Aspekte (wie z.B. die Befriedigung emotionaler oder kognitiver Bedürfnisse, das Anstreben materieller oder statusbezogener Vorteile usw.) hinausgehende Intention mit seiner Äußerung, die in der Äußerung selbst zu finden ist. 2. Interpretieren heißt, auf die Rekonstruktion von Intention(en) zielen.
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Auch wenn man die hier vorgelegte Skizze insgesamt akzeptieren sollte, ist die Frage noch nicht befriedigend beantwortet, wie die Schärfe der Diskussion zwischen den verschiedenen Ansätzen, die hier als verwandt präsentiert wurden, erklärt werden kann. Bereits angeführt wurde das Argument, daß intentio operis, intentio auctoris und intentio lectoris oft mißverständlich als drei verschiedene Theorieformen präsentiert werden, während man wohl adäquater von drei verschiedenen Aspekten einer Intentionalitäts- und Interpretationsauffassung sprechen muß. Hinzu kommt ein aus der Überblicksperspektive sehr weitgefaßter Begriff von Intentionalität, den die verschiedenen Autoren ihren Beispielen und Argumenten zugrundelegen. Das Spektrum des Begriffs ließe sich dabei, anhand von Beispielen aus dem vorliegenden Band und ohne scholastische Ansprüche, folgendermaßen abstecken. Erstens werden zur Verdeutlichung des eigenen Intentionalitätsstandpunkts Sätze herangezogen, die für den Bereich der eindeutigen, referentiellen Alltagskommunikation (die hier nicht weiter problematisiert werden soll) stehen. Wer zum Beispiel ein Manifest im Sinne eines Verzeichnisses der Güter auf einem Schiff liest oder verfaßt, wird keine Zweifel an der Intention des Autors, des Textes und des Lesers haben: so exakt und explizit wie möglich und in Übereinstimmung mit den empirischen Fakten die an Bord befindlichen Waren aufzulisten. Zweitens läßt sich eine Gruppe von Beispielen unterscheiden, die im Grenzbereich zwischen Alltagskommunikation und Kunst anzusiedeln sind, deren Referentialität und Intententionalität der Interpretation bedarf, die jedoch hinreichend plausibel intentional gedeutet werden können, zumindest was den Konsens über die intentio auctoris und die intentio operis angeht. So scheint zwar Raoul Hausmanns "Der deutsche Spiesser ärgert sich" aus dem Jahre 1919 seinem Titel und seinem letzten Satz nach ("Nieder mit dem deutschen Spießer!") ganz allgemein auf das Feindbild des Bürgers zu zielen. Bei weiterer Lektüre und aufgrund von literaturhistorischer Kenntnis ist jedoch der Schluß plausibler, daß die primäre Zielscheibe die expressionistischen Dichter um Waldens Der Sturm sind: ,,0 Expressionismus, Du Weltwende der romantischen Lügenhaftigkeit" (cit. AsholtlFähnders 1995:184; cf. Stark intra). Wie "der Leser" diesen Text aber letztendlich auffaßt, ist in größerem Maße unvorhersagbar als beim ersten Beispiel und hängt stärker von Kenntnissen ì ú Ç = Idiosynkrasien des
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Abb. 2 Lemma aus dem (Halle/Leipzig 1739).
"Großen vollständigen Universal-Lexikon"
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van den Berg/Grüttemeier blicum von der Veranlassung des Kriegs in Kenntniß zu setzen und wo möglich die Handlungsweise des kriegsruhrenden Theils auch vor dem Auslande zu rechtfertigen und in ein günstiges Licht zu stellen. (Brockhaus 1839) öffentliche Erklärung einer Staatsregierung über eine wichtige Angelegenheit zur Rechtfertigung ihrer Handlungsweise [... ). (Brockhaus 1886 und 1914) die öffentl. Erklärung, bes. einer Staatsregierung zur Rechtfertigung ihrer Handlungsweise (s. Proklamation); der Ausdruck ist auch üblich rur nachdrückliche Kundgebungen zu Parteizwecken, z.B. Wahlmanifest, s. Kommunistisches Manifest. (Brockhaus 1932) die öffentl. Erklärung einer Regierung (s. Proklamation) oder eine Grundsatzerklärung polit. Parteien und Richtungen (Wahl-M.; s. Kommunistisches Manifest). (Brockhaus 1955) die öffentl. Erklärung einer Regierung (s. Proklamation), die Grundsatzerklärung einer polit. Partei (z.B. Wahl-M.) oder sonstiger programmatischer Aufruf einer politischen Gruppe (s. Kommunistisches Manifest). (Brockhaus 1971) die öffentl. Erklärung z.B. einer Regierung (Proklamation) oder einer Partei (Wahl-M.). (Brockhaus 1979) öffentlich dargelegtes Programm einer Kunst- od. Literaturrichtung, einer politischen Partei, Gruppe o. ä. (Brockhaus 1995)
Nun mag es aus literatur- oder kunstwissenschaftlicher Sicht als relativ belanglos erscheinen, ob im Schwedischen per Manifest amnestiert, ob im Italienischen per Manifest mobilisiert, im Französischen im diplomatischen Verkehr gewisse Schriften Manifest genannt werden oder im Amerikanischen Schnellzüge Manifeste hießen. Trotzdem deutet sich in der unterschiedlichen Anwendung der Bezeichnung 'Manifest' ein Grundzug an, der auch im (engeren) Gebrauch dieser Bezeichnung in literarisch-künstlerischen Zusammenhängen offensichtlich ist: In erster Linie wird nicht eine bestimmte Form bzw. werden nicht bestimmte textuelle Merkmale angedeutet, obwohl einzelne als Manifest gekennzeichnete Textarten mit besonderen formal-stilistischen Merkmalen einhergehen dürften - ein Verzeichnis der von einem Schiff oder Flugzeug mit-
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geführten Güter wird wohl am ehesten ein Auflistung sein; das Kriegsrnanifest eines Fürsten dürfte sich dagegen durch einen feierlichen, seiner Stellung als Souverän entsprechenden Stil auszeichnen; ebenso stellt ein Werbeplakat bestimmte Erfordernisse an die textuelle und graphische Gestaltung. Primär zielt die Bezeichnung 'Manifest' jedoch nicht auf solche besonderen Text- und Gestaltungsmerkmale ab. So wie bereits im Zusammenhang mit der literaturwissenschaftlichen Unterscheidung einer Manifestgattung beobachtet werden konnte, daß mit der Bezeichnung 'Manifest' vor allem eine bestimmte Textfunktion angesprochen wird, so läßt sich insgesamt für die Bezeichnung 'Manifest' anmerken, daß sie - zum Teil in sehr unterschiedlichen Kontexten - in erster Linie andeutet, beansprucht oder bescheinigt, der als Manifest gekennzeichnete Text trachte danach, Eindeutigkeit zu verschaffen, sei es auf materieller Ebene, indem der Text restlos und unmißverständlich über die Ladung eines Schiffes oder eines Flugzeugs aufklärt, sei es auf ideeller Ebene, indem der Text über Pläne, Absichten, Überlegungen, Programme, Intentionen, Forderungen usw. Auskunft gibt. ,,Manifestation", hieß es bereits 1832 im Allgemeinen Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaft - nebst ihrer Literatur und Gedichte, ist eigentlich ebensoviel als Offenbarung. ( ... ) Zuweilen (... ) versteht man unter Manifestation nichts weiter als wörtliche Erklärung unsrer Gedanken oder Absichten, Z.B. Manifestation des Willens. Darum heißen auch die öffentlichen Erklärungen der Fürsten oder Staaten gegen einander, besonders die Kriegserklärungen, Manifeste (mit franz. Abkürzung). (cit. Krug 19692:790)
Und - so läßt sich anschließen - nicht nur diese Kriegserklärungen, ebenso jene Texte, die Manifest genannt werden, weil sie als 'öffentlich dargelegtes Programm einer Kunst- oder Literaturrichtung, einer politischen Partei, Gruppe o.ä.' zu begreifen seien, können als solche 'Manifestationen des Willens' verstanden werden. Genauer gesagt: sie werden als solche 'Manifestationen des Willens' verstanden; gerade weil sie als "Intentionsträger per se" (Backes-Haase) aufgefaßt werden, bezeichnet man sie als Manifeste. Wenn ein Autor einen Text als Manifest ausgibt, so weckt er zumindest den Anschein, daß der betreffende Text eindeutige Aufklärung über seine Zielsetzungen, seine Pläne, seine Intentionen verschafft, denn - wie Tzara sein "Manifeste Dada 1918" eröffnete: "Um ein Manifest zu lanzieren, muß man das ABC wollen, gegen 1,2,3 wettern." (cit.
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AsholtlFähnders 1995: 149) Vergleichbar, sei es aus einer anderen Perspektive, deutet die 'nachträgliche' Bezeichnung eines Werkes als Manifest darauf hin, daß detjenige, der dieses Werk als Manifest bezeichnet, darin dieses ABC und 1,2,3 - die Intentionen seines Urhebers - zu erkennen glaubt oder dies zumindest vorgibt. 'Nachträglich' steht hier bewußt in Anführungszeichen, denn im Hinblick auf den Ablauf des Kommunikationsprozesses kann man davon ausgehen, daß zunächst der Autor in der Gelegenheit ist, seinen Text 'Manifest' zu nennen, und daß andere (Leser, Kritiker, Wissenschaftler) erst viel später ihre Einschätzung eines Textes fonnulieren können, z.B. die Einschätzung, daß ein Manifest vorliege. Historisch betrachtet liegt der Sachverhalt beim Manifest jedoch umgekehrt. Der erste Beleg des Wortes 'Manifest' als Ladungsbrief im Jahre 1365 betrifft nicht einen solchen Brief selbst, sondern die Erwähnung eines solchen Briefs. Die ersten Stellen, wo 'Manifest' im Sinne einer offiziellen Proklamation verwendet wird, betreffen nicht Texte, die auch tatsächlich als Manifest betitelt werden, sondern Texte, die andere (oder keine besonderen) Bezeichnungen führen, jedoch von Dritten als 'Manifest' qualifiziert werden. Zwar folgen bald auch solche Texte, die Manifest heißen; z.B. im Französischen ist das Wort als Bezeichnung einer öffentlichen, feierlichen Erklärung 1574 erstmals belegbar, 1589/90 gibt es bereits eine Broschüre Le manifeste de la France, avx Parisiens & atout le peuple Franr;ois (cf. National Union 1974358:688); erst im späten 17. und 18. Jahrhundert findet das Wort 'Manifest' jedoch allgemeine Anwendung (für eine Übersicht cf. National Union 1974358:682698 und 359: 1-3, Schmuck/Gorzny 1983 92:303-306). Die auktoriale Verwendung der Bezeichnung 'Manifest' kommt somit chronologisch an zweiter Stelle. Das gilt auch für den Gebrauch des Tenninus in literarisch-künstlerischen Zusammenhängen. Das Wort 'Manifest' als Bezeichnung eines literarischen Textes ist für das Französische (wohl als erste Sprache) im Jahre 1828 zum ersten Mal belegbar. In seinem 1828 veröffentlichten Buch Tableau historique et critique de la poesie franr;aise au XVle siede erklärt der Kritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve: ,,L 'illustration de la langue franr;oise par Joachim Du Bellay est comme le manifeste de cette insurrection soudaine (... )" (cit. Robert 1995). Zwar erscheint bereits fünf Jahre später der erste literaturkritische Text, der vom Autor selbst als Manifest gekennzeichnet wird - das "Manifeste contre la litterature facile" von Desire Nisard (cf. Schultz 1981:73), insgesamt wird die Bezeichnung 'Manifest' jedoch im 19. Jahrhundert überwiegend - wie von Sainte-Beuve - sozusagen als Metabegriff verwendet.
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Bereits veröffentlichte Schriften werden im Zuge ihrer Rezeption als Manifest charakterisiert; eine Tendenz, die sich auch in anderen Sprachen durchsetzt (cf. für das Deutsche: Fähnders 1997). Dagegen sind als 'Manifest' betitelte Texte große Ausnahmen; in seiner Studie zum literarischen Manifest in der' Belle Epoque' verzeichnet Schultz (1981:269278) zwar eine Großzahl programmatischer Texte, darunter z.B. Jean Moreas' in Le Figaro 1886 veröffentlichter· offener Brief "Le Symbolisme", der erst nachträglich als Manifest bezeichnet wurde und heutzutage gelegentlich als 'Manifest des Symbolismus' aufgeführt wird (cf. Abastado 1980:3 und 10, Schultz 1981: 111-112 und 275); nur eine Hand voll dieser Programmschriften trug auch tatsächlich die Bezeichnung 'Manifest'. Erst das von Marinetti 1909 veröffentlichte "Manifeste du futurisme" löst in avantgardistischen Kreisen eine Hochkonjunktur von Manifesten aus, die auch Manifest heißen. Nicht nur die große Verschiedenheit von Texten, die Manifest genannt werden, sondern auch die Tatsache, daß 'Manifest' in erster Linie eine sekundäre Qualifikation dieser Texte ist, deuten darauf hin, daß die Bezeichnung eines Textes als 'Manifest' in erster Linie anzudeuten sucht, daß ein Text vorliegt, der als 'Intentionsträger' zu verstehen ist bzw. verstanden wird. Selbstverständlich spielten und spielen auch andere Faktoren eine Rolle, die dazu führen, daß ein Text auktorial als Manifest betitelt oder nachträglich als Manifest bezeichnet wird. So dürften politische Texte, die als 'Manifest' bezeichnet wurden, insbesondere aus dem Spektrum der sozialistischen Arbeiterbewegung, nicht zuletzt deswegen 'Manifest' heißen, weil so ein gewisser Bezug zum Manifest der kommunistischen Partei hergestellt wird. So mögen die Futuristen ihre militanten Programmschriften als 'Manifeste' betitelt haben, da die Bezeichnung 'Manifest' für die Erläuterung kriegerischer Handlungen geläufig war und im Italienischen darüber hinaus gängig als Ankündigung von Theaterveranstaltungen und Buchveröffentlichungen. So dürften Vertreter mehrerer avantgardistischer Ismen ihrerseits wiederum ihre Texte 'Manifest' genannt haben, um einen Bezug zum Futurismus (sei es in kritischer Abgrenzung) herzustellen. Und so heißen Frachtbriefe in der Schiff- und Luftfahrt nicht zuletzt deswegen 'Manifest', weil es die Gesetzbücher vieler Länder so vorschreiben. Dennoch kann man behaupten, daß die Bezeichnung 'Manifest' dort, wo sie Anwendung findet, andeutet: hier liegt ein Text vor, in dem unmißverständlich Programmatisches in eindeutiger Weise dargelegt, in dem Intentionen vermittelt werden.
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Auch wenn also aus der Bezeichnung eines Textes als 'Manifest' der Anspruch (einer Autorinstanz) oder die Annahme (eines Rezipienten) abgeleitet werden kann, daß der Text Intentionen vermittelt, dann folgt daraus noch nicht, daß diese Vermittlung auch tatsächlich vom Text geleistet wird. Die Bezeichnung eines Textes als 'Manifest' sagt letztendlich wenig über den Wahrheitsgehalt dieses Textes aus, vielmehr gibt der Akt des Bezeichnens als diskursive Strategie Aufschluß darüber, wie diejenige Instanz, die einen bestimmten Text als 'Manifest' bezeichnet, sich zu diesem Text verhält oder zu verhalten vorgibt, welche Tragweite und Bedeutung, welchen Gehalt sie diesem Text zuschreibt, und zwar unter einem besonderen Aspekt, nämlich der Intentionalität, sei es die Suggestion eines Autors, daß Intentionen unverblümt vermittelt werden, sei es die Vermutung eines Rezipienten, daß sich Intentionen eindeutig erkennen lassen, oder sei es auch der Anspruch eines Textes, er vermittle Intentionen. Bezeichnend mag hier die Tatsache sein, daß Texte gerade in solchen Konstellationen 'Manifest' genannt werden, in denen Intentionalität problematisch wird oder ist, wenn eindeutige Aufklärung über Intentionen erwünscht ist. Aus der auktorialen Perspektive kann es beispielsweise eine Situation betreffen, in der ein Souverän sich entscheidet, einen Krieg zu beginnen, eine politische Partei die Gunst der Wähler zu erwerben sucht, eine künstlerische Bewegung Neuartiges in die Wege leitet oder Werke hervorbringt, die über ihre Intentionen keine explizite Auskunft bieten (wie es der Fall war in der Avantgarde). Umgekehrt kann es aus der Perspektive eines Zuschauers, Lesers oder Betrachters eine Situation betreffen, in der sich z.B. über die Intentionen eines Künstlers nur rätseln läßt, und darum nach Anhaltspunkten Ausschau gehalten wird, wie diese Intentionen wieder in den Griff zu bekommen sind. In diesem Fall zielt die Bezeichnung eines Textes oder eines Kunstwerks als Manifest im Großen und Ganzen darauf ab, eindeutige Intentionalität wiederherzustellen. Indem nämlich die Behauptung aufgestellt wird, daß ein Text oder ein Kunstwerk als Manifest zu verstehen ist (ob es nun Manifest heißt oder nicht, bzw. ob es nun einer Gattung Manifest zuzuordnen ist oder nicht), wird im Grunde angegeben: dieser Text oder dieses Werk enthält eindeutige programmatische Aussagen, bietet Aufschluß über Intentionen. Die Bezeichnung eines Textes oder eines Werkes als Manifest bildet somit eine diskursive Strategie, die darauf angelegt ist, Krisen der Intentionalität zu bewältigen, wieder Zugriff auf Intentionen zu bekommen. Man könnte auch anders sagen: die Bezeichnung eines Textes oder eines Kunstwerks als 'Manifest' begleitet eine
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Lektüre oder Betrachtung, die auf die Bloßlegung von Intentionen abzielt, wobei die Bezeichnung 'Manifest' unmittelbar auf die - wie auch immer geartetete - Intentionalität eines Textes abhebt. III.
Zu den interpretativen Spielräumen im Kielsog einer Krise der Intentionalität und den diskursiven Strategien, sich dieser neuen Lage zu stellen, muß ein eher soziologisches Problem hinzugefügt werden, dessen Auftauchen im allgemeinen bereits mit der Etablierung eines Kunstsystems im Laufe des 18. Jahrhunderts assoziiert wird: wie setzt man sich in der Kunstwelt durch und wie behauptet man sich dort? Als Manifeste bezeichnete Texte sind dabei eins der vielen Mittel, mit denen Autoren versuchen, auf ihre Position in der Kunstwelt Einfluß zu nehmen. Dieser Gedanke ist am ausführlichsten in der Kunstsoziologie Pierre Bourdieus ausgearbeitet worden, die hier nur in groben Zügen reproduziert zu werden braucht. (cf. Bourdieu 1992 und 1993) Bourdieu konzipiert Kunst als ein Feld, das von einem permanenten Kampf um Anerkennung, Einfluß und Macht und von stetig wechselnden Positionen geprägt ist. Einerseits geht es dabei um das Bewahren von Machtpositionen, andererseits um das Erobern von bereits besetzten Positionen. Die Schlüsselrollen in diesem Kampf werden von den Institutionen gespielt, die Bourdieu zufolge das Kunst-Feld organisieren und beherrschen. Was zum Beispiel die Literatur angeht, so sind dies unter anderem die Literaturkritik, die Verlage, die Bibliotheken, die Buchhändler, aber auch die Institutionen, die für die literarische Sozialisation sorgen, wie Schule und Universität, und die Subventionsgeber. Noch nicht etablierte (Avantgarde-) Künstler finden Anerkennung über einen Bruch mit den bestehenden Konzepten. Ein Mittel, diesen Bruch mit dem nötigen Nachdruck verkünden zu können, ist der Zusammenschluß zu Gruppierungen. Daneben ist es nicht nur wichtig, sich eigene Publikationsorgane - zum Beispiel in Form eigener Zeitschriften - zu verschaffen, sondern auch, programmatisch die eigenen Standpunkte zu formulieren. Das Manifest scheint deswegen besonders dazu geeignet, als Ausgangspunkt für eine Analyse der strategischen Aktionen im Kunst-Feld zu dienen.
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Hinzu kommt ein Aspekt, der umgekehrt Relevanz fUr die kunstsoziologische Theorie Bourdieus hat. Bewußte Intentionalität zur Verbesserung der eigenen Machtposition auf dem Gebiet der Kunst bespricht Bourdieu kaum, obwohl er sie nicht auschließt. (cf. Missinne 1994:24f.) Ihm geht es um eine soziologische Beschreibung, die sich per definitionem hinter dem Rücken der Akteure als Subjekte abspielt. Zwar kann das Manifest einerseits als Paradebeispiel für die strategischen Aktivitäten herangezogen werden, anhand derer die Kunstsoziologie ihre Theorie des Feldes entwickeln und demonstrieren kann (cf. Schultz 1981). So bezeichnet Bourdieu das Manifest explizit als ein Mittel zur Akkumulation und Konzentration von symbolischem Kapital (cf. 1992:324). Andererseits gibt gerade diese Selbstbezeichnung 'Manifest' einen Fingerzeig, daß hier mehr an strategischer Selbstbewußtheit und Autorintention im Spiel ist, als bislang theoretisch vorgesehen. Die Fallstudien, die sich der strategischen Dimension von Manifesten annehmen, können auch vor diesem Hintergrund gesehen werden. IV.
Innerhalb der skizzierten drei Ansätze wird ein Textkorpus aus verschiedenen Kunstsparten behandelt, das von literarischen Deklarationen der russischen Modeme ab 1893 bis zu postmodernen Manifesten reicht, mit einem besonderen Schwerpunkt auf den Manifesten der historischen Avantgarde. So ist das vorliegende Buch auch als ein Beitrag zur Historiographie der Bezeichnung von Texten der Avantgarde als Manifeste, der Rolle von Manifesten in der Avantgarde und letztlich auch der Textproduktion der Avantgarde insgesamt zu verstehen. Interpretation Die mit dem Futurismus einsetzende Produktion von sich auch als solche bezeichnenden künstlerischen Manifesten war insofern noch der Tradition verbunden, als hier die klassische Form eines in programmatische Punkte unterteilten Textes mit Manifest-Duktus gewählt wurde, wie Wolfgang Asholt zeigt. In seinem Beitrag grenzt er die futuristischen und surrealistischen Manifeste von den dadaistischen ab, die eine eindeutige intentionale Ausrichtung verweigern. Zu diesem Schluß kommen ebenfalls Walter Fähnders und Helga Karrenbrock in
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ihrer exemplarischen Untersuchung der avantgardistischen Manifeste von Kurt Schwitters. Michael Stark dient das besagte dadaistische Streben nach Entlastung des Künstlers von Sinndeutung als Folie, die er als Hintergrund flir seine Analyse des Topos des neuen Menschen in Manifesten des Expressionismus benutzt. Dabei geht es Stark zufolge um eine angepeilte ästhetisch-moralische Erneuerung. Ferdinand Drijkoningen benutzt Ecos dreigeteiltes Intentionalitätskonzept, um Andre Bretons unterschiedlichen Umgang mit dem gleichzeitig produzierten ersten Manifest des Surrealismus und der Sammlung automatischer Texte unter dem Titel Poisson soluble zu erläutern, wobei vor allem verwundert, daß das, was zunächst als Vorwort geplant war, ins Zentrum von Bretons Wertschätzung rückt. Eine ähnlich enge Verknüpfung von kommentierendem Text und Kunstobjekten konstatiert Dorothea Zwirn er bei Marcel Broodthaers, nur daß bei ihm das Manifest ausgespielt hat - er wählt eher den offenen Brief und das Interview als Form fur seinen Kommentar, der einen integralen Teil seines künstlerischen Werks ausmacht. Funktionalität Im Beitrag von Rainer Grübel wird eine Ordnung in der Produktion kommentierender Schriften in der russischen Modeme zwischen 1893 und 1934 angebracht, wobei der russischen Frühmodeme die Deklaration, der Avantgarde das Manifest und dem Sozialistischen Realismus das Programm als idealtypische Textform zugeordnet wird. Für Hubert van den Berg ist das Manifest nur unzureichend als Textgattung definiert: eine größere Berücksichtigung der vielfaltigen unterschiedlichen Bezeichnungen wie Appell, Pamphlet, Manifest, Deklaration usw. ist wünschenwert, so van den Berg. Die Aufsätze von Helmut Lethen, Ben Rebel und Graham Birtwistle demonstrieren die funktionale Dimension des Manifestbegriffs. Lethen zeigt auf, daß Carl Einsteins Negerplastik und Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfiihlung im Primitivismus-Diskurs der Avantgarde als Manifeste funktioniert haben. Rebel geht auf die spezifische Funktion des Manifests in der Architektur ein und kommt anhand einer Analyse des niederländischen Neuen Bauens zu dem Schluß, daß die eigentlichen Manifeste dieser Bewegung die besonders gelungenen Gebäude sind, wie etwa die Van Nellefabrik in Rotterdam. Birtwistle schließlich analysiert die Polemik um das Nachleben und die Geschichtsschreibung von Cobra, wobei er alle Beiträge an dieser De-
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batte zusammengenommen als das fehlende zentrale Cobra-Manifest identifiziert. Strategie Martin Kayman zeigt die Rafinesse der manipulativen Strategien Ezra Pounds im Zusammenhang mit dem Imagismus, wobei Pound sich vor allem als Meister des Vortäuschens erweist, mit dem Ziel, die eigene Position und die seiner Proteges zu stärken. Dasselbe strebt die Redaktion der niederländischen Zeitschrift De Nieuwe Stijl an, wobei sie sich, so Klaus Beekman, mit dem Widerspruch konfrontiert sieht, einerseits fur die kommentarlose Wiedergabe von Fakten einzutreten und trotzdem andererseits ihren Standpunkt verdeutlichen zu wollen: dem begegnet man mit der Reproduktion international renommierter Manifesttexte. Daß die Zeit für Manifeste nicht definitiv vorbei ist, geht aus dem Beitrag von Ralf Grüttemeier hervor: ein Plädoyer gegen Manifeste stellt sich als genauso strategisch motiviert dar wie der - nur vereinzelte - Gebrauch des Manifests in postmodernen Zeiten.
Anmerkungen Hier wird "Nicht-Intentionalist" also anders verwendet als im angelsächsischen Sprachgebrauch "non-intentionalist" (z.B. cf. Iseminger 1992a), womit im allgemeinen diejenigen gemeint sind, die sich - wie die New Critics - vom Autor abwenden und intentionalitätsbestimmte Interpretationen vom vorliegenden Text aus unternehmen. I
Hirsch schreibt in seiner Einleitung: "the reader is in fact free to choose ï Ü ú í Ü É ê = or not he will try to make his actualized meanings congruent with the author's intended ones" (1976:8), wobei jedoch aus letztendlich ethischen Gründen die Autorintention gewählt werden sollte. Hirschs Position wird in neueren Debatten - mit Abstrichen - unter anderem geteilt von Iseminger (1992b) und Carroll (1992).
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Das gilt auch für das, was Eco intentio lectoris nennt.
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Auch Bourdieu als Interpreten könnte man an dieser Stelle nennen, der in Les regles de I 'art etwa seine Überzeugung zum Ausdruck bringt, daß die soziologische Lektüre eines Textes 'die Wahrheit des Textes' selbst ans Licht bringe (cf. Bourdieu 1992:53). 4
"Het is namelijk een tweeslachtig genre: enerzijds worden er een aantal denkbeelden naar buiten gebracht in, in principe voor iedereen, begrijpelijke taal; maar anderzijds bepalen die denkbeelden meer dan eens de tekst in structureel opzicht waardoor de schrijver zijn doel voorbij dreigt te streven. Zo kan het voorkomen dat het manifest zelf tot literaire, of zo men wil, poetische tekst wordt." 5
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INTENTIONALE STRATEGIEN IN FUTURISTISCHEN, DADAISTISCHEN UND SURREALISTISCHEN MANIFESTEN
Wolfgang Asholt
Wenn Peter Bürger in seiner Theorie der Avantgarde schreibt: "Die europäischen Avantgardebewegungen lassen sich bestimmen als Angriff auf den Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. Negiert wird nicht eine vorangegangene Ausprägung der Kunst (ein Stil), sondern die Institution Kunst als eine von der Lebenspraxis der Menschen abgehobene" (1974:66), so unterstellt er der Avantgarde insgesamt ein so klar identifizierbares Projekt, daß er wenig später konsequenterweise von der 'avantgardistischen Intention' sprechen kann. Wenn also behauptet werden kann, daß sich das gesamte 'Projekt der Avantgarde' durch seine Intentionalität auszeichnet, um wieviel mehr muß dies für Manifeste gelten, mit denen, unabhängig davon, ob wir sie für Gebrauchsanleitungen, Handlungsanweisungen oder Kunstwerke halten, ja gerade die Absichten der jeweiligen avantgardistischen Richtung proklamiert werden sollen. Dies schließt nicht aus, daß es Abstufungen und besondere Formen der Intentionalität geben kann, am intentionalen Impetus der Manifeste aber scheint kaum ein Zweifel möglich, so daß sich die Frage stellt, ob andere als Intentionen Ausdruck gebende Manifeste möglich sind. In den Debatten um Intentionalität, wie sie in den letzten Jahren vor allem in den USA geführt worden sind, hat das Manifest als spezifisches Genre der Avantgarde keine Rolle gespielt, dazu werden die Zeiten wohl rur allzu postmodern gehalten. I Dennoch lohnt ein kurzer Blick auf die in solchen Diskussionen entwickelten Positionen und die von ihnen vorgebrachten Argumente, um den intentionalen Gehalt von Manifesten präzi-
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ser zu fassen. - Wenn ich es richtig sehe, lassen sich mit John R. Searle in dieser Diskussion drei prägnante und repräsentative Positionen unterscheiden. In einem "Literary theory and its discontents" überschriebenen Aufsatz aus dem Jahre 1994 präsentiert er diese Positionen folgendermaßen: Stanley Fish's claim that the meaning of a text is entirely in the reader's response; the claim made by Stephen Knapp and Walter Michaels that the meaning of a text is entirely a matter of the author's intention; and the view of Jacques Derrida that [... ] meanings are 'undecidable' and have 'relative indeterminacy'. (1994:637)2 Der Relativismus der 'Reader-response'-Theorie von Fish, wie dieser ihn erstmals in Is there a text in the dass? (1980) propagiert, kann im folgenden unberücksichtigt bleiben. Denn wenn er dort erklärt: ,,1 now believe that interpretation is the source of texts, facts, authors, and intentions" (1980: 16), so weist er zwar auf den gerade fiir Manifeste wichtigen Kontext der Rezeption hin. Doch selbst wenn es die Intention von Manifesten sein muß, von einer entsprechenden Zahl von Adressaten rezipiert zu werden, so ist eine solche Intention doch von der mit dem Text beabsichtigten Wirkung auf die Leser/Zuhörer zu unterscheiden, und um diese geht es uns, wenn von Intentionalität die Rede ist. Stephen Knapp und Walter Benn Michaels vertreten demgegenüber, zuerst in einem Artikel mit dem manifesthaften Titel "Against theory" (1982), die Auffassung, "that the meaning of a text is simply identical to the author's intended meaning" (1985:12). Es ist hier nicht der Ort, auf die intensive Kritik an dieser exklusiven Intentionalitäts-Theorie von Seiten der Sprachphilosophie und der Sprechakttheorie einzugehen. Denn unabhängig davon, ob es neben der intentionalen Bedeutung in Sprechakten eine 'linguistic meaning' gibt, wie etwa Searle überzeugend erläutert, sind beide Seiten sich doch darin einig, daß die auktoriale Intention gerade bei literarischen Texten das entscheidende Kriterium darstellf, und diese Auffassung wird von Stanley Fish, trotz einer zwischenzeitlichen Annäherung an KnapplMichaels noch heute bestritten (,,[These] Points in no way re institute the notion of authorial control as exercised by a coherent self that knows its projects unproblematically." (1995:128)) von einer 'intentional fallacy', wie sie Beardsley und Wimsatt 1940 in ihrem wirkungsträchtigen Artikel postulierten, ist praktisch nicht mehr die Rede. Eine gegenüber jeder intentio operis oder auctoris (s.u.) kritische Position, wenn auch von radikal anderen Voraussetzungen her
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als BeardsleylWimsatt, vertritt Derrida. Indem die Dekonstruktion die Grenzen zwischen dem literarischen Werk und seinen intertextuellen Varianten, bis hin zu jener der Interpretationen, als obsolet betrachtet, kann auch sinnvoll erweise nicht mehr von Intentionalität gesprochen werden, bzw., wie Searle Derridas Auffassung formuliert: "The author's intention is insufficient to control the free play of the signifiers. ,,4 (1994:657) Iterabilität und Differance haben Bedeutungen jegliche Stabilität und Kontinuität entzogen, und das Vertrauen in Intentionalität, insbesondere eines konkreten Autors, kann daher nur ein Anachronismus sein, der zu Trugschlüssen fUhrt. Nun ist die historische Avantgarde gewiß einem intensiven Dekonstruktionsprozeß ausgeliefert gewesen, die Frage bleibt freilich, ob die damit etwa implizierte Aneignung durch die Neoavantgarden inzwischen auch die avantgardistische Intention als solche hat auflösen und durch ein Spiel mit Zufälligkeiten und Unverbindlichkeiten ablösen können, eine Position, die wohl eher den (amerikanischen) Derridismus als Derrida selbst beschreibt. 5 Wenn also die Debatte um Intentionalismus von Positionen bestimmt wird, die literarische Texte durch das, was Eco die intentio operis nennen würde (s.u.), charakterisiert sehen, und selbst Derrida Intentionalität nicht völlig bestreitet, so fragt sich auch auf diesem Hintergrund, ob es Manifeste, die keinerlei intentionale Absichten verfolgen, geben kann, und ob nicht die Intention von ManifestVerfassern und die Werkintention soweit/so oft wie möglich übereinstimmen müssen. Jede Beschäftigung mit Manifesten sieht sich vor ein Definitionsproblem bzw. die Frage gestellt, ob es einen Unterschied zwischen sich selbst als Manifesten bezeichnenden Texten und anderen Verlautbarungen gibt. Angesichts der Schwierigkeit, solche Kriterien textintern zu etablieren, und der Zufälligkeit, die der Etikettierung als Manifest oder deren Fehlen häufig anhaftet6 , werde ich im folgenden unter Manifest auch solche Erklärungen und Proklamationen verstehen, die sich nicht explizit 'Manifest' nennen - die Untersuchung wird zeigen müssen, ob sich daraus Konsequenzen fiir den jeweiligen Grad von Intentionalität ergeben. Freilich sollte ein Minimalkriterium zur Geltung gelangen, d.h. es sollen nur solche Texte Berücksichtigung finden, in denen ein(e) der Avantgarde zugehörende(r) Vertreter(in) oder ein entsprechendes Kollektiv in Hinblick auf eine Öffentlichkeit ihre Auffassungen präsentieren oder suggerieren, dies zu tun.
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Name als programmatische Absicht? Futurismus und Intentionalismus Diese Minimalkriterien sind bei den futuristischen Manifesten, begonnen mit dem Gründungsaufruf Marinettis im Figaro (20.2.1909), zweifelsohne gegeben. Es ist hier nicht der Ort, auf die Publizitäts strategien Marinettis einzugehen, doch wenn Giovanni Lista angesichts des Versands von Hunderten von Exemplaren des ersten Manifests des Futurismus an andere Zeitungen, Journalisten, Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle von einem "procede tout a fait nouveau" (in: Lista 1973:83) spricht, so trifft dies fiir den frühen Futurismus in einem Maße zu, das auch die späteren Avantgarden kaum je wieder erreichen sollten und wollten. Noch wichtiger ist in unserem Zusammenhang freilich ein Brief Marinettis an den Dichter Henry Maassen, der schon 1909 beabsichtigte, ein belgisch-futuristisches Manifest zu publizieren. Marinettis Reaktion beinhaltet eine 'Gebrauchsanweisung' fiir das Abfassen futuristischer Manifeste, welche überdeutlich die intentionale Absicht als zentrales Element dieser Texte erkennen läßt. Dabei hebt Marinetti insbesondere zwei Verfahren hervor: - ,,11 faudrait a mon avis attaquer d'une Ñ ~ ú ç å = futuriste ce qu'il y a [... ] de passeiste dans la belle et vivante Belgique" (Lista 1973: 18), d.h. Akademien, Kunsthandel, Verlagswesen, Universitäten usw.; - "Ce qui est essentiel dans un manifeste c'est l'accusation pnicise, l'insulte bien definie" (Lista 1973:18), oder wie Marinetti wenig später ausfuhrt, es sollten namentlich genannte Personen angeklagt und provoziert werden. Beide Verfahren illustrieren, wie sehr die Autorintention, das, was Marinetti als "art de faire les manifestes" (Lista 1973: 18) bezeichnet, im Angriff auf als 'passatistisch' denunzierte Positionen, Institutionen und Personen zum Ausdruck kommt. Dieser avantgardistische 'Angriff hat eine doppelte Funktion. Zum einen ist es sein Anliegen, die entsprechenden Konkurrenten im literarisch-künstlerischen Feld zu brandmarken und zu disqualifizieren. Zum anderen hat der Angriff im Sinne der per Definition privilegierten Bewegungsrichtung der Avantgarde auch eine quasiautoreferentielle Funktion: unabhängig von seinem Objekt ist es die Zielsetzung allen Angreifens, den voranstürrnenden Angreifenden als avantgardistisch zu qualifizieren - die Hypostasierung des Angreifens in seiner physisch-gewaltsamen Form, wie sie im Kriegskult der Futuristen ihren
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deutlichsten Ausdruck erhält, findet in dieser 'Intention' eine ihrer Ursachen. Von Details abgesehen, etwa den fehlenden Angriffen ad hominem, setzt schon das Gründungsmanifest des Futurismus diese Prinzipien beispielhaft um. Freilich nicht in allen Teilen. Es ist häufig bemerkt worden, daß gerade der Einleitungsteil stilistisch-rhetorisch noch ganz den spätsymbolistischen Tendenzen der Belle Epoque verhaftet ist. Dennoch eignet dem Verlassen der (Marinettischen) Wohnung und der Autorennfahrt in diesem Teil eine appellative Funktion in Hinblick auf das Sich-Hingeben an die modernste Technik. Der Hauptteil, das eigentliche ,,Manifeste du Futurisme" mit seinen elf Geboten, formuliert dann die Intentionen auch explizit-lexikalisch: in praktisch jedem Punkt zeichnen sich die Verben durch ihren performativen Charakter aus und selbst topologisch wird die prospektive Absicht des Futurismus betont: "Nous sommes sur le promontoire extreme des ë ş ú Å ä É ë > K =.. " (Lista 1973:87) Dies geschieht freilich, im Gegensatz zum ersten Teil, in einer der Durchnumerierung entsprechenden Form: die avantgardistische Sprache wird zwar gefordert und die avantgardistische Intention sichtbar, verwirklicht werden sie mit diesem Text allerdings nicht. Der Schlußteil wiederum, der die Geburt des Futurismus aus den italienischen Verhältnissen erklärt, zieht mit seinen Aufrufen zur Zerstörung der passatistischen Kunst und ihrer Institutionen die Konsequenz aus dem eigentlichen Manifest. Indem auf der Jugend der Futuristen insistiert, indem auf ihre extrem avancierte Position verwiesen wird ("Debout sur la cime du monde, nous lan90ns encore un defi aux etoiles!" (Lista 1973:89», werden die Intentionen zu Wesensund Positionseigenschaften der Gruppe. Mehr noch als bei anderen avantgardistischen Bewegungen, und wie schon aus seiner Bezeichnung ersichtlich, besteht das Wesensmerkmal des Futurismus darin, Absichten zu proklamieren und ihre Verwirklichung zu postulieren oder mit ihr zu drohen - freilich in einer Form, die verständlicherweise auf die Adressaten, die _großbürgerliche Leserschaft des Figaro, sprachlich und argumentativ Rücksicht nimmt. Ähnliche Rücksichtnahmen charakterisieren auch Marinettis folgende Proklamation, "Tod dem Mondschein" (April 1909), die Waldens Sturm 1912 als "zweites futuristisches Manifest" bezeichnet. Auch wenn sich der Text selbst nicht so qualifiziert, und trotz seiner dem überladenspätsymbolistischen Stil im Einleitungsteil des ersten Manifestes entsprechenden Rhetorik, illustriert er doch ein zentrales Anliegen des Futurismus. In mancher Hinsicht an Ernest Coeurderoys apokalyptische
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Visionen in Hurrah!!! ou la Revolution par les Cosaques erinnernd, wo die Vernichtung der bürgerlichen Welt durch eine viril-brutale Rasse prophezeit wurde, versteht sich der Text als eine Kriegserklärung an die europäische Zivilisation. Auf den ersten Blick wenig intentionalistisch, tritt aufgrund der literarischen Form die Apologie des Krieges und der Gewaltorgien als Intention mehr als deutlich hervor, auch, oder vielleicht gerade (etwa im Vergleich mit der 'Antwort' zum 'Technischen Manifest'), wenn die entsprechenden 'axiologischen Metaphern' des Futurismus mit durch und durch traditionellen stilistisch-rhetorischen Mitteln proklamiert werden. 7 Demgegenüber bildet jenes "Technisches Manifest der futuristischen Literatur" (1912), vor allem gemeinsam mit seinen "Antworten auf Einwände", eine Präzisierung und Radikalisierung der avantgardistischen Intentionen. Erneut, der abergläubischen Vorliebe Marinettis fiir die Zahl 11 entsprechend, ebensoviel Punkte auflistend, proklamiert dies Manifest 11 Regeln fiir die neue Literatur. Sowohllexikalisch, angefangen mit dem viermaligen ,,Man muß" der ersten Punkte, wie auch poetologisch werden die Postulate des literarischen Futurismus mit penibler Deutlichkeit formuliert - und damit auch die Absicht offensichtlich, die passatistische Kunst zu zerstören, um eine neue Kunst zu proklamieren zu können. Vor allem aber gewinnt dieses Manifest dank seiner 'Antwort', in dem ein Textbeispiel fiir ein solches 'neues futuristisches Werk' geboten wird, eine neue, und fiir Manifeste insgesamt bislang unbekannte Qualität. In dem Manifest, das zunächst mehr einer traditionellen Poetik ähnelt, als seine Vorgänger, sieht sich Marinetti, auch aufgrund der ihm (nicht zu Unrecht) unterstellten Beeinflussung durch Bergson, offensichtlich genötigt, zu demonstrieren, wie die 'ideale Dichtung von der ich träume' (in: de Maria 1994) aussieht. Deshalb fUgt er den acht Punkten der 'Antwort' den in der Tat 'revolutionären' Text "SCHLACHT GEWICHT + GERUCH" hinzu, in dem die "Tavole Parolibre" erstmals zum exklusiven literarischen Verfahren stilisiert werden. Freilich verliert damit weder das eigentliche Manifest noch dessen "Supplement" seinen intentionalistisch-performativen Charakter: dieser wird durch das Zurschaustellen seiner Verwirklichung eher noch betont. Der futuristische Text par excellence wird deshalb ausdrücklich vom Manifest-Text abgesondert, und allein die lokalisierte und datierte Signatur Marinettis ordnet dieses Beispiel in den Rahmen des Supplements ein. s Apollinaires "Manifeste = Synthese", "L'Antitradition futuriste", in dem das Manifest in autoreferentieller Manier seine Forderungen mit seiner Faktur zu ver-
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wirklichen sucht, stellt also fiir futuristische Manifeste eher eine Ausnahme dar. Intention und ihre Umsetzung werden, gerade in den frühen Manifesten, sorgfältig geschieden, als ob eine Verwirklichung der "parole in libertä" die Rezeptionsstrategie der Manifeste beeinträchtigen könnte. In den nicht exklusiv literarischen Manifesten war eine solche Unterscheidung zwischen ästhetisch-revolutionärer Intention und künstlerisch-praktischer Umsetzung kaum zu vermeiden. Das so wichtige "Die futuristische Malerei. Technisches Manifest" (1910) etwa erläutert nach einem die Vorgeschichte resümierenden Prolog die Ästhetik der futuristischen Malerei, um abschließend die Ziele in zwei Abteilungen, "Wir erklären" (9 Punkte) und "Wir bekämpfen" (4 Punkte), prononciert und komprimiert zu formulieren. Nicht viel anders verfahren das Manifest der futuristischen Musik, jenes der Architektur und jenes des Kino, aber auch das ,,Manifeste de la femme futuriste" von Valentine de Saint-Point. 9 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch die Absicht, möglichst viele Bereiche fiir den Futurismus mit Beschlag zu belegen. Innerhalb der Gesamtstrategie des italienischen Futurismus, wie sie anläßlich der Veröffentlichung des FigaroManifestes erstmals erprobt und wie sie anschließend zu dem Versuch, das literarisch-künstlerisch-intellektuelle Feld der Epoche zu okkupieren, ausgebaut wird, kommt den Manifesten die zentrale Rolle zu. Die eindeutigen Zielsetzungen des Futurismus, sowohl in Hinblick auf die literarisch-künstlerische Evolution wie auf die Karrierestrategien der Bewegung, weisen den Manifesten einen nahezu exklusiven Intentionalismus zu. Ihre Aufgabe ist es nicht allein, Absichten und Ziele möglichst eindeutig und öffentlichkeitswirksam zu formulieren, durch ihre Signaturen geben die jeweiligen Künstler auch zu erkennen, daß sie sich mit diesen Intentionen identifizieren und sie propagieren.
Vom Manüest zum Anti-Manüest? Auch wenn die späteren Dadaisten Intentionen und Methoden des Futurismus gewiß nicht ohne Gewinn zur Kenntnis genommen haben, stellen schon ihre ersten Erklärungen einen deutlichen Bruch mit dessen Verfahren dar. Während Marinetti und die Futuristen einen konkreten Feind vor Augen haben (Manifeste wie "Contro Roma e contro Benedetto Croce"), verunsichern die dadaistischen Texte durch ihre Ambiguität. Tzaras
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"Manifeste Dada 1918" evoziert mit seinem Anfangssatz bewußt Struktur und Intention eines traditionellen Avantgarde-Manifests, "Pour lancer un manifeste il faut vouloir: A.B.e., foudroyer contre 1, 2, 3" (Tzara 1975:359), um stattdessen das, was Bürger ein dadaistisches "Anti-Manifest" nennt, zu verfassen. Schon Huelsenbecks Cabaret Voltaire-"Erklärung" des Frühjahrs 1916 spielt mit dem plakativen Intentionalismus der futuristisch-avantgardistischen Manifeste: "Wir stehen hier ohne Absicht, wir haben nicht mal die Absicht, Sie zu unterhalten oder zu amüsieren" - auch wenn dies 'unbeabsichtigt' durchaus gelungen sein mag. Die proklamierten 'Absichten' werden ironisch negiert, allenfalls ex negativo lassen sich aus Deklarationen wie "Wir wollen die Welt mit Nichts ändern, wir wollen die Dichtung und die Malerei mit Nichts ändern und wir wollen den Krieg mit Nichts zu Ende bringen", Intentionen ablesen. Denn die den Adressaten, die im ersten Satz des Manifests aufgelistet werden, annoncierte Perspektive, "Im Augenblick, wo Sie unter Überwindung Ihrer bürgerlichen Widerstände mit uns Dada auf Ihre Fahne schreiben, sind wir wieder einig und die besten Freunde" (in: AsholtJFähnders 1995: 117), läßt immerhin erkennen, was mit den 'unmittelbar' anti-intentionalistischen Deklarationen 'geändert' bzw. 'zu Ende gebracht' werden soll. Die anläßlich des ersten Dada-Abends am 14. Juli 1916 vorgetragenen Manifeste von Hugo Ball und Tristan Tzara ("Manifeste de Monsieur Antipyrine") sprechen die Absichtslosigkeit und den Anti-Intentionalismus der neuen Bewegung nicht explizit aus, sie praktizieren diese vielmehr und schaffen damit Texte eines bislang unbekannten und deshalb umso provozierenderen Typs. Insofern handelt es sich schon zu diesem Zeitpunkt um Anti-Manifeste. (Bürger 1971:45) Die traditionelle Manifestform wird zwar ansatzweise gewahrt, die propagierten Inhalte entsprechen ihr jedoch nicht mehr, so "daß es offensichtlich eine leitende Intention dadaistischer Manifestatoren ist, ihre Rezipienten in eine Art Orientierungsvakuum zu stürzen". (Backes-Haase 1997:260) Ball gibt in seinem Eröffnungs-Manifest freilich einen Hinweis darauf, welche 'Absicht' mit diesem 'Nullpunkt' des Manifestantismus verbunden wird: Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. [... ] Ich will meinen eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen [... ] Das Wort will ich haben, wo es aufhört und anfängt. (AsholtIFähnders 1995: 121)
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Deshalb kann Alfons Backes-Haase von einem "metasemiotischen Experiment" sprechen, das "auf eine rein physische Schockwirkung beim Rezipienten zielt". (Backes-Haase 1997:262f.) Tzara erreicht diesen Schock mit dem bewußten Verstoß gegen die sakrosankten Regeln der Sprachlogik: "Dada est la vie [... ] qui est contre et pour l'unite et decidement contre le futur". (Tzara 1975:359) Indem Aussagen gemacht und zugleich negiert werden, gelingt Tzara ein radikaler Bruch mit dem traditionellen Intentionalismus von Manifesten, aber auch von Texten insgesamt. Diese Infragestellung eines genretypisch scheinenden Intentionalitätscharakters gewinnt ihrerseits wiederum programmatische Bedeutung. In diesem Zusammenhang kommt dem "Manifeste Dada 1918" von Tristan Tzara ein paradigmatischer Stellenwert zu. Nicht nur weil es, wie erwähnt, zum Schreiben von Manifesten Stellung bezieht, sondern vor allem, weil es mit Mitteln des Manifests den Manifestantismus und den ihm eigenen Intentionalismus ad absurdum zu führen scheint: J'ecris un manifeste et je ne veux rien, je dis pourtant certaines choses et je suis par principe contre les manifestes, comme je suis aussi contre les principes [... ] DADA NE SIGNIFIE RIEN. (Tzara 1975:359)
Wie stark auch immer der Einfluß von Friedländers 'Indifferenz'-Konzeption auf dieses Manifest gewesen sein mag, den Hubert van den Berg detailliert belegt, so läßt sich doch nicht die durch Majuskel prononcierte Negation jeder Bedeutung infragestellen. 'NE ... RIEN' fungiert hier exklusiv als Negation und kann kaum, so van den Berg, "als Übersetzung von Friedländers Nichts", im Sinne von 'Neant', interpretiert werden. (van den Berg 1995:369) Angesichts dieser einander ablösenden und sich gegenseitig überbietenden Widersprüche bleibt für Intentionen, Ziele oder Absichten offensichtlich kein Platz bzw. wenn solche teleologischen Perspektiven proklamiert werden, so nur, um sie umso deutlicher negieren zu können. Wenn Tzaras Manifest eine Intention verfolgt, so ist sie eben an diesem Punkt festzumachen, oder, wie er selbst formuliert: "J'ecris ce manifeste pour montrer qu'on peut faire les actions opposees ensemble, dans une seule fraiche respiration." (Tzara 1975:360) Absicht dieses Manifests und des Dadaismus, so wie Tzara ihn versteht, ist es also, den rationalistisch-teleologischen Glauben von Avantgarde und Modeme, inklusive des Rückzugs in eine als autonom reklamierte Kunst, als Irrweg zu entlarven, ein Irrweg, der auch für die Situa-
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tion des Jahres 1918 Verantwortung trägt: ,,11 nous reste apres le carnage l'espoir d'une humanite purifiee." (Tzara 1975:361) Wenn man, wie Tzara, zu der Überzeugung gelangt ist, mit dem Weltkrieg sei ein "etat de folie, de folie agressive, complete, d'un monde laisse entre les mains des bandits" (Tzara 1975:366) erreicht, haben zumindest in dieser Situation Werte wie Moral oder Logik abgedankt. Aufgabe eines Manifests muß es sein, diesen Zustand zu verdeutlichen, "avec tous les moyens du degout dadaiste" (Tzara 1975:367) zu demonstrieren, daß in dieser Lage "Contradiction et unite des polaires dans un seul jet, peuvent etre verite." (Tzara 1975:366) Indem das Manifest diese Analyse entwickelt und ihre radikalen Konsequenzen proklamiert, trägt es auf einer metatextuellen Ebene dem gattungsspezifischen Intentionalismus durchaus Rechnung, auch wenn dieser expressis verbis negiert wird. Praktiziert wird die daraus resultierende 'Kunst' im Manifest selbst freilich nur ansatzweise; die Produktion der postulierten "oeuvres fortes, droites, precises et a jamais incomprises" (Tzara 1975:365) bleibt anderen Gelegenheiten vorbehalten, kann jedoch auch in/mit Manifesten erfolgen, wie das erwähnte "Manifeste de Monsieur Antipyrine" illustriert. Darauf, sie zu fordern, verzichtet jedoch selbst dieses Manifest nicht. Die Desavouierung der akzeptierten Werte und die 'coincidentia oppositorum' in den dadaistischen Manifesten erreichen mit den Proklamationen der sich nach dem Krieg etablierenden Berliner und Pariser Gruppe ihre Grenzen. Die eher politisch orientierten Berliner halten sich in Manifesten wie Hausmanns ,,Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung" oder dem vom "dadaistisch revolutionären Zentralrat Gruppe Deutschland" herausgegebenen 13-Punkte Katalog "Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland?" (heide 1919) zwar an die bewährten Verfahren, doch es handelt sich nicht mehr exklusiv, wie Backes-Haase meint, um ein "metasemiotisches Programm" von "Provokationen, Tabuverletzungen und Alogizitäten." (Backes-Haase 1997:267) Ein ,,Dadaist ist" wohl, wie Hausmann sein Manifest beschließt, "fiir das eigene Erleben", also fiir die Aufgabe von Kunst zugunsten von Lebenspraxis, er hat jedoch auch ein Programm, zuvörderst, was seine Abneigungen (Geist von Potsdam, von Weimar, Humanismus usw.) angeht. Aber auch was die Kunst anbelangt ("fiir eine Erneuerung der Ausdrucksmittel und gegen das klassische Bildungsideal") und nicht zuletzt was das politische Spektrum betrifft: "Der Club Dada [... ] ist eine internationale, antibourgeoise Bewegung!" Originär dadaistische Verfah-
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ren und eher gängiger Manifestantismus gehen in der Deklaration des Zentralrats eine Verbindung ein, die Intentionalität und ironische Indifferenz ihr gegenüber kaum mehr voneinander scheiden lassen. Schon. die ersten Punkte, für die der Zentralrat eintritt, enthalten sowohl kaum ernstgemeinte, dadaistischen 'Prinzipien' widersprechende Forderungen ("b. die Verpflichtung der Geistlichen und Lehrer auf die dadaistischen Glaubenssätze") als auch seriöse Anliegen ("c. den brutalsten Kampf [... ] gegen den Expressionismus") wie schließlich Postulate, die ernsthaft und ridikülisierend zugleich verstanden werden müssen: "a. die öffentliche tägliche Speisung aller schöpferischen und geistigen Menschen auf dem Potsdamer Platz." (AsholtJFähnders 1995:172 u. 175) Diese Spannung zwischen politischem 'Engagement' und dadaistischer Positionsverweigerung kann nicht lange durchgehalten werden, wie das Schicksal der Berliner Gruppe anfangs der zwanziger Jahre illustriert. Demgegenüber vertreten die von Tzara inspirierten Proklamationen der Pariser Gruppe die provozierende Indifferenz und Alogizität der ersten Manifeste. Die berühmte Erklärung "Dada souU:ve tout" (12.1.1921) bringt dies auf die Formel: "oui = non", und deklarativintentionalistische Passagen, insbesondere, was die Entlarvung konkurrierender Avantgarde-Bewegungen betrifft, werden durch Proklamationen wie "DADA N'A JAMAIS RAISON" wieder infrage gestellt. Zumindest der Schlußparagraph, in dem vor Dada-Imitatoren gewarnt wird, läßt freilich, neben all seiner Ernsthaftigkeit, erkennen, in welche Schwierigkeiten der Indifferentismus Dadas inzwischen geraten ist. Denn dessen permanente Fortschreibung als avancierteste Position der Avantgarde mit den dargestellten Verfahren mußte nicht nur Nachahmer auf den Plan rufen, sie fuhrt auch in jene Sackgasse, deren vollendeten Ausdruck Andre Bretons ein Jahr später veröffentlichtes "Lachez tout" bildet: "Lachez tout. Lächez Dada.[ ... ] Partez sur les routes." (in: Pierre 1980:4)10
Kollektive Proklamationen oder individuelle Manifeste? Das Beispiel des Surrealismus
Das eingangs aufgestellte Kriterium für 'Manifeste' trifft sowohl fur jene Texte zu, die Jose Pierre in den Tracts surrealistes et declarations collectives versammelt, als auch fur die beiden Groß-Texte des Surrealismus, die Breton 1924 und 1930 explizit als Manifeste bezeichnet.
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Beide Textsorten unterscheiden sich, auch in Hinblick auf ihre Intentionalität, durchaus von futuristischen und dadaistischen Manifesten. Die zahlreichen kollektiven Erklärungen behalten zwar den aggressiven Stil der Manifeste der heiden anderen Bewegungen bei, doch "au lieu de faire fond sur des techniques, ou des idees, c'est ades evenements, d'ordinaire de l'espece la plus brillante, qu'on se rHere." (Pierre 1980:XVIII) Derartige Erklärungen zu wichtigen Ereignissen, vom Tod Anatole Frances über den Marokko-Krieg, Bufiuels L'Age d'or, die "Exposition coloniale" usw. bis zu den Moskauer Prozessen oder dem Münchener Abkommen können und wollen intentionalistisch intendiert sein. Die Stellungnahmen verfolgen eine dreifache Intention: man will die öffentliche Debatte beeinflussen und gegebenenfalls provozieren; man will mit gemeinsamen Deklarationen das Zusammengehörigkeitsgefiihl stärken und demonstrieren und man will den Anspruch der Gruppe illustrieren, Kunst und Leben konsequent zu verbinden. Gegenüber dem fast immer performativen Charakter dieser Aufrufe und Angriffe fällt Bretons Manifeste du surrealisme durch den manifestuntypischen poetischen Charakter weiter Passagen auf. Peter Bürger hat gemeint, daß angesichts der "Technik des konnotationsreichen Sprechens [ ... ] die Aussage der Beliebigkeit zu verfallen drohe". (Bürger 1971 :62) Wenn Bretonjedoch als ein wichtiges Ziel des Surrealismus proklamiert: "Qu'on se donne seulement la peine de pratiquer la poesie" (Breton 1969:28), so muß diese Empfehlung auch intentionalistisch verstanden werden und für das eigene Manifest Gültigkeit besitzen, ansonsten würden Kunst und Leben erneut und sichtbar voneinander geschieden. Offensichtlich schließen sich bei einer solchen, das "pratiquer la poesie" realisierenden Verbindung intentionalistischer Manifestantismus und poetische Funktion nicht mehr aus, und anders als im Falle dadaistischer Texte fUhrt dies auch nicht ansatzweise zu Indifferenz, Alogizität oder Orientierungslosigkeit. In dem Rückblick, der das Second manifeste du surrealisme einleitet, können die Intentionen des "Ersten Manifestes" resümierend verdeutlicht werden. Wendungen wie, "il s'agissait", "il s'agit encore", "eprouver par tous les moyens", "donner une idee" usw. verweisen überdeutlich auf die performativen Absichten des Gründungsmanifests, an denen Breton schon im ersten Absatz der Nachfolgetextes keinerlei Zweifel aufkommen läßt: On fmira bien par accorder que le surrealisme ne tendit arien tant qu'a provo quer, au point de vue intellectuel et moral, une crise de conscience de l'espece la plus generale et la plus grave [... ]. (Breton 1969:76)
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Das Erste Manifest zeigt nicht nur, mit welchen Mitteln, etwa der 'ecriture automatique', dies erreicht werden soll, und welche Bereiche des Lebens (Traum, Dichtung, Imagination), die bislang vernachlässigt wurden, für die Verwirklichung dieses Zieles in Anspruch genommen werden sollen, es versucht auch, zumindest in Teilen und ansatzweise, die Verbindung von Kunst und Leben zu demonstrieren. Wenn Breton behauptet, "Le surrealisme, tel que je l'envisage, declare assez notre non-conformisme absolu" (Breton 1969:63), so wohnt dieser Behauptung auch ein Appellcharakter inne, oder um es mit dem letzten Satz von Peter Bürgers Französischem Surrealismus zu sagen: Wie auch immer man die Frage der Abnutzung der Wirkung surrealistischer Techniken beurteilt, bleibt der Schock das Grundmuster einer auf Rekonstituierung . von Erfahrung ausgerichteten Wirkungsintention. (Bürger 1971:197)
Die surrealistische Produktion von Proklamationen und Manifesten gestattet, die Intentionalität dieser für die Avantgarde typischen Textsorte exemplarisch zu analysieren. Ähnlich wie die Kriegsmanifeste des Futurismus und weit deutlicher als manche Berliner Dada-Manifeste sind die Flugblätter und Erklärungen der surrealistischen Gruppe eindeutig und praktisch exklusiv intentionalistisch konzipiert: Gruppenintention und TextlWerk-Intentionen fallen zusammen. Wo dies nicht der Fall sein sollte, hätte der Text die ihm zugedachte Funktion nicht erfüllt, doch zumindest die zeitgenössische 'reader-response' illustriert, daß dies nicht der Fall ist: Die Surrealisten erreichen mit ihren zahlreichen Verlautbarungen durchweg eine engagierte Reaktion von Publikum und Kritik. Komplexer und demzufolge signifikanter stellt sich die Situation der beiden Breton-Manifeste dar. In seinen jüngsten Veröffentlichungen unterscheidet Umberto Eco zwischen der intentio operis, einer intentio lectoris und der intentio auctoris, dem exemplarischen und dem empirischen Leser sowie dem Gebrauch und der Interpretation von literarischen Texten. (Eco 1996) Wenn sich Bretons Texte aus expositorischen und poetischen Teilen zusammensetzen, so kann zumindest für die expositorischen Passagen aufgrund der manifesttypischen 'Sprechsituation' intentio operis und intentio auctoris gleichgesetzt werden, wobei natürlich die Möglichkeit von Interferenzen zwischen beiden gegeben ist und gegebenenfalls nachgewiesen werden müßte. Die poetischen Passagen könnten nun ihrerseits die expositorischen in einer solchen Weise amalgamieren, daß ein Leser vom Gesamttext einen der
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Autorintention zuwiderlaufenden Gebrauch machen kann. Daß dies bei empirischen Lesern kaum je geschieht, spricht eigentlich dafür, daß, wie Eco behauptet, das Poppersche Prinzip Gültigkeit besitzt: "Wenn schon keine Regeln verbürgen, welche Interpretationen die 'besten' sind, dann läßt sich doch zumindest entscheiden, was 'schlecht' ist." (Eco 1996:59) Wahrscheinlicher bleibt freilich, daß die poetischen Passagen auf dem Hintergrund der expositorischen Abschnitte, also etwa der Definition des Surrealismus, gelesen werden (sollen), da diese in unübersehbarer Weise die "intentio operis" formulieren. Zudem "ist die intentio operis mit semiotischen Strategien verbunden", d.h. ein "konventionelles Stilmittel" (Eco 1996:72) wie die Veröffentlichung eines Textes als Manifeste du surrealisme gibt einen nicht zu vernachlässigenden Hinweis auf die mit ihm verbundene Intention. Nun könnte es natürlich sein, daß Breton, die 'Contra'-Manifeste der Futuristen und die 'Anti'-Manifeste der Dadaisten gleichzeitig parodierend, mit dem Etikett 'Manifest' ironisch umgeht, doch dafür fehlen die entsprechenden rhetorisch-stilistischen Figuren, oder, wie Eco sagen würde, 'semiotischen Strategien'. Die "Preface a la reimpression du manifeste" (1929) und die erwähnten Eingangspassagen des Second manifeste du surrealisme (1930) bestätigen vielmehr explizit den Intentionalitätscharakter des Ersten Manifests. Dem widerspricht auch nicht die These von Jonathan Culler, wonach die ,,Dekonstruktion betone, daß Bedeutung durchweg kontextbezogen ist [... ] der Kontext selbst aber unbegrenzt" (Culler 1996: 132), denn sie bezieht sich auf solche Kontexte, die mit veränderten Erwartungshorizonten entstehen. Nun kann der empirische Leser, im Sinne von Roland Barthes Le Plaisir du texte, auch von 'Manifesten' einen individuellen Gebrauch machen, etwa im Sinne des Pragmatismus Richard Rortys: " [Er] nimmt die Lektüre zum Anlaß, um eine anerkannte Taxonomie umzustürzen und einer oft erzählten Geschichte eine neue Wendung zu geben." (Rorty 1996:118) Für einen solchen Umgang auch mit Manifesten gibt es zahlreiche Beispiele, doch sie illustrieren, was aus einem solchen Gebrauch resultiert: eine 'reader response' im Sinne eines 'GegenManifests', das seinerseits bestimmten Intentionen Ausdruck gibt. Oder, um es mit John Searle, gegen Derrida gewandt, zu formulieren: The intentionality of the speech act covers exactly and only that particular speech act. The fact that someone might perform another speech act with a different token of the same type (or even another speech act, with the same token) has no hearing whatever on the role of speaker's utterance meaning in the determination ofthe speech act. (SearIe 1994:660)
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Ein Beispiel aus dem Umkreis des "Ersten Manifests" möge dies verdeutlichen: die Tatsache, daß Yvan Goll, wenige Tage nach dem Vorabdruck von Bretons Manifest, seinerseits ein Manifeste du surrealisme veröffentlicht, beeinträchtigt trotz gleicher Titel-types und -token die Intentionen des Bretonschen Manifests in keiner Weise, im Gegenteil.
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Siehe aber den Hinweis auf Austin bei Birgit Wagner (1997:41). Man bemerke den subtilen Unterschied zwischen 'claims' und 'view' bei der QualifIkation der jeweiligen Positionen. Etwa Searle (1994:655): "The author's intention determines which intentional act the author is performing." Searle bezieht sich insbesondere auf Derridas Limited Ine, wo Derrida (1990:45f.) u.a. behauptet: ,,Dans cette typologie [ une typologie differentielle de formes d'iteration], la categorie d'intention ne disparaitra pas, elle aura sa place, mais depuis cette place, elle ne pourra plus commander toute la scene et tout le systeme d'enonciation [... ] etant donne cette structure d'iteration, l'intention qui anime l'enonciation ne sera jamais de part en part presente a ellememe et ason contenu. Derrida selbst scheint mit Werken wie Speetres de Marx. L'etat de la dette, le travail de deuil et la nouvelle internationale, Galilee 1993 und jüngsten Stellungnahmen fast auf dem Weg zu einer 'litterature engagee'. Um nur eines von zahlreichen Beispielen zu nennen: Celine Arnaulds "Ombrelle Dada" (5.2.1920) trägt zwar nicht den Titel 'Manifest', beginnt aber mit dem Satz, ,,vous n'airnez pas mon manifeste?" Michel Sanouillet (1965:154) schreibt zu den am 5.2.1920 vorgetragenen und in Litterature Nr. 13 (März 1920) publizierten 'Manifesten': ,,Aussi bien l'appellation 'manifeste' ne defmissait pas de maniere adequate le genre de textes lus, recites ou irnprovises par les Dadai'stes."
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Mit Hinz (1985:61) wäre freilich auch zu fragen, inwieweit "derartige Passagen überhaupt noch ernst zu nehmen" sind, und worin, außer der Autoproklamation, der avantgardistische Charakter derartiger Texte besteht.
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Ähnliches gilt für Marinettis "Le Music-Hall" (s.u.) oder "Lo splendore geometrico e meccanico e la sensiblitä numerica" (1914), nur daß hier die einzelnen Punkte des Manifests durch poetisch-praktische Beispiele illustriert werden. B. Pratella: "Manifesto dei musicisti futuristi" (11.1.1911 ), A. Santelia: "L'architettura futurista" (11.7.1914), Marinetti u.a.: "La cinematografia futurista" (11.9.1916). Für die Einschätzung des Intentionalismus bleibt es ohne große Bedeutung, daß man, wie van den Berg empfiehlt, 'statt von Anti-Manifest besser von manifestierter Indifferenz' (a.a.O., S. 371) spräche. Bretons 'Lachez tout' belegt, daß diese 'Indifferenz' einer Avantgarde auf Dauer keine Perspektive zu bieten vermag - und dies zu einem Zeitpunkt, als die Berliner Avantgarde, die ja das Indifferenz-Konzept vertreten haben soll, bezeichnenderweise kaum noch existiert.
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"ICH SAGE NÄMLICH DAS GEGENTEIL, ABER NICHT IMMER"!, Die Avantgarde-Manifeste von Kurt Schwitters
Walter Fähnders / Helga Karrenbrock
Manifeste, so sollte man meinen, geben zumindest ihrem Anspruch nach möglichst genau das wieder, was ihre Verfasser intendieren. "Programm einer Gruppierung", definiert 1995 Kluges Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (Kluge 1995:538), und in den Bestimmungen des großen Duden liest man zum Substantiv "Manifest": "öffentlich dargelegtes Programm einer Kunst- oder Literaturrichtung, einer politischen Partei, Gruppe o. ä. "; zum Attribut "manifest": "eindeutig als etwas bestimmtes zu erkennen, offenkundig" (Duden 1994:2190). Demnach wären Programmatik, Eindeutigkeit, Öffentlichkeit und Gruppencharakter bestimmend fur ein Manifest und für das, was einer Öffentlichkeit 'manifest' gemacht werden soll. Hinter diesen vier essentials, wie sie die jüngsten deutschsprachigen Wörterbücher formulieren und die immerhin einen wenn nicht fachwissenschaftlichen, so doch intersubjektiven Konsens andeuten, läßt sich als gemeinsamer Fluchtpunkt die Identität von Intention der Manifest-Urheber und der Manifest-Praxis, dem Text, erkennen oder, um mit Eco zu reden: "intentio auctoris" und "intentio operis" fallen zusammen (zur Begrifflichkeit vgl. Eco 1996:31ff.). Gerade mit Blick auf die Avantgarde dürfte dies übrigens im besonderen Maße für die mündliche Präsentation eines Manifestes durch Autor oder Autorin gelten, wie sie, etwa im Futurismus und Dadaismus, vielfach überliefert ist.
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Die genannten Bestimmungen basieren auf der Prämisse, die avantgardistischen Manifest-Urheber hätten tatsächlich eine Intention, sie wollten tatsächlich anderen 'etwas sagen'. Diese Prämisse ist schwerlich umzustürzen; selbst in Fällen, wo die Manifestanten 'nichts sagen wollen', tun sie doch mit dem Abfassen des Manifestes ihre Absicht kund, zumindest dieses 'sagen zu wollen'. Und selbst wenn die Intentionen der Manifest-Verfasser völlig konfus, unverständlich, widersprüchlich oder inkonsequent formuliert wären, so mag das sogar an den Intentionen liegen, die eben konfus o.ä. sein mögen - nicht aber berührt das die Frage nach dem grundsätzlichen Vorhandensein einer Intention. Trotz des dezidierten Gattungsanspruchs nach Identität von Autorund Textintention, der so nicht für alle Gattungen gilt, sind jedoch gerade bei Avantgarde-Manifesten spezifische Auslegungsschwierigkeiten in Rechnung zu stellen. Denn daß Manifest-Urheber eine Intention verfolgen, sagt noch nichts darüber aus, wie diese Intention im Manifest umgesetzt wird. Zweifellos kann sich ein Widerspruch auftun zwischen dem Mitteilen einer Botschaft und der literarischen, etwa poetischen Form der Realisierung dieser Mitteilung. (Auf die Oberlehrerfrage - "Was will der Dichter uns damit sagen?" soll Gottfried Benn geantwortet haben: "Warum sagt er es denn nicht?") Wie an poetische Texte läßt sich auch an Manifeste also die Frage stellen, ob es in ihnen die Absicht des Autors oder eine von dieser unabhängige Textaussage zu fmden (gilt). Erst seitdem die zweite Alternative akzeptiert ist, stellt sich die weitere Frage, ob das Gefundene aus der Textkohärenz und einem vorgegebenen Bedeutungssystem folgt oder ob die Adressaten es aufgrund ihrer eigenen Erwartungssysteme (hineinlegen). (Eco 1996:71) Um die Autorintention zu eruieren, müßten Zusatzinformationen der betreffenden Autoren herangezogen werden, deren Zuverlässigkeit wiederum zu überprüfen wäre; d. h. auch bei diesen Äußerungen gilt die Frage nach der Einheit von Intention und Ausführung. Allerdings lassen sich hier nicht selten verläßliche Orientierungen gewinnen; wenn im Kommunistischen Manifest dem Kapitalismus der Kampf angesagt wird, so belegen weitere Zeugnisse der Autoren, daß sie das auch so gemeint haben. Bezogen auf die Adressaten wird man, um ein von Eco herangezogenes Beispiel aufzugreifen, umgekehrt von 'widersinniger Lektüre' sprechen müssen, "wenn uns Jack the Ripper sagte, er
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habe sich bei seinen Untaten an seiner Interpretation des LukasEvangeliums orientiert" (Eco 1996:30). Der 'intentio lectoris' in ihrem Verhältnis zum Werk und seiner Intention sind offenbar, aller 'leserorientierten' Freiheit und 'postmoderner' Liberalität der Interpretation zum Trotz, Grenzen vorgegeben, wenn es eben um 'Interpretation' und nicht allein um den 'Gebrauch' von Texten geht (Eco 1996:passim). Kriterien wie Textökonomie und Textstrategie sind nicht einfach außer Kraft zu setzen, solange man an einer rudimentär verbindlichen Textwahrheit und dem Prinzip der Falsifizierbarkeit, wie in den Beispielen des Kommunistischen Manifestes oder des Lukas-Evangeliums angedeutet, festhalten will. Die Frage, was mit welchem Instrumentarium überhaupt an Textintention zu ermitteln ist, wollen wir fur die Gattung Manifest präzisieren. Die oben dargelegte Nähe bzw. Identität von Autoren- und Manifestintention ist zu überprüfen, vor allem macht sie die Untersuchung der besonderen Textstrategien nicht überflüssig. Wir fragen nach der Relation zwischen der (zu erschließenden) Autorintention und der Manifestintention, wobei wir uns genaueren Aufschluß versprechen über das Intentionalitäts-Problem wie über die Frage nach der spezifischen Machart von Manifesten, konkretisiert am historisch-literarischen Einzelfall der Avantgarde-Manifeste von Kurt Schwitters. 1
Unabhängig von einer externen Definition des Manifestes läßt sich die Selbstbezeichnung eines Textes als Manifest - in der Überschrift oder im Text selbst - als wichtiges Kriterium für das Verhältnis von Autorund Textintention heranziehen. Dabei zeigt sich, daß an dem einen Ende einer denkbaren Skala solche Manifeste stünden, die sich im Titel als solche ausweisen und die oben genannten Kriterien eines Manifestes erfüllen; die zahllosen Manifeste des italienischen Futurismus sind derartige Manifeste im engeren Sinne, die sich selbst Manifeste nennen und deutlich konturierte Forderungskataloge enthalten (etwa: "Manifest der futuristischen Maler"; "Technisches Manifest der futuristischen Literatur"). Dies ist sicher der Regelfall unter den avantgardistischen Manifesten und Ismen. Am anderen Ende der Skala stünde der eher seltene Fall eines Textes, der sich zwar als Manifest bezeichnet, aber kaum spezifische
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Gattungsmerkmale zeigt (vgl. Texte wie das "Kleine Manifest" von Gabrielle Buffet oder Celine Arnaulds "Dada-Sonnenschirm" [AsholtlFähnders 1995:165-166; 189-190]). Auch "i (Ein Manifest)" von Kurt Schwitters ließe sich hier vorläufig einordnen. Andererseits kennen wir eine Fülle von Texten, die die Selbstbezeichnung 'Manifest' vermeiden, aber überdeutlich Manifestcharakter zeigen, die möglicherweise sogar deutlichere Züge eines Manifestes aufweisen als manch 'selbsternanntes' Manifest es tut. Das deutet darauf, daß nicht immer ein 'Manifest' auch als solches bezeichnet worden ist. So begegnen verwandte, konkurrierende Gattungsbezeichnungen: die mit Manifest ganz eng verwandten Bezeichnungen Proklamation und Deklaration; sodann: Aufruf und Appell; Erklärung; Offener Brief usw.; zudem besteht die Möglichkeit, schon durch eine bestimmte Titelgebung den einfordernden oder performativen Charakter des Textes deutlich zu machen: "An die Künstler aller Länder!", "Auf zur Revolution", "Presentismus. Gegen den Pufkeismus [... ]" (AsholtlFähnders 1995:197-200; 126-127; 231-232). Auch "An alle Bühnen der Welt" (im zweiten Druck von 1922 mit Ausrufezeichen versehen! [Schwitters 1981 :401]) von Schwitters gehört hierhin. Angesichts dieser Bandbreite der Gattung und der Gattungsbezeichnungen kann man davon ausgehen, daß die Entscheidung, einen manifestartigen Text auch als Manifest zu bezeichnen bzw. davon abzusehen, Signalcharakter für die Rezeptionssteuerung besitzt und alles andere als zufällig ist; das gilt für das klassische selbsternannte Manifest und erst recht für die Entscheidung, einen Text Manifest zu nennen, ihn aber nicht mit manifest-typischen Formen und Inhalten auzustatten. Hier läßt sich auf Autorintention schließen, die bei der Gattungsbezeichnung Vorentscheidungen trifft, welche die Lektüre mitlenken (sollen). Um ein Beispiel aus einer anderen Gattung zu konstruieren: die Vorentscheidung eines Lyrikers, ein Sonett (und keine Vo1ksliedstrophen oder freie Rhythmen) zu verfassen, bedeutet die Realisation einer festgefügten Form mit sehr geringer Variationsbreite. Es heißt aber auch, daß sich der Sonettschreiber, wie bewußt auch immer, in einen jahrhundertealten ästhetischen Traditionszusammenhang stellt, sei es im Sinne einer Kontinuität (wie bei Bechers DeutschlandSonetten aus dem Exil), sei es aus Gründen einer Kritik des Sonetts und seiner Tradition (wie bei Rilkes Sonette an Orpheus). Zwar ist die Form des Manifestes offener als die des Sonetts, aber die Entscheidung
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eines Autors für ein Manifest und eben nicht für eine andere Form des Proklamierens ist in eben diesem Sinne relevant fiir Produktion wie Rezeption. Es ist bekannt, daß seit der ästhetischen Modeme des 19. Jahrhunderts das künstlerische Werk allein offenbar zur Kommunikation mit den Rezipienten nicht mehr genügt, sondern des Kommentars des Künstlers bedarf: Er sieht sich genötigt zu proklamieren, um sich zu vermitteln. Wenn nun ein Autor überlegt, ob er einen programmatischen Text Manifest, Proklamation oder noch anders nennt, so ist das gerade im 19. und noch im frühen 20. Jahrhundert durchaus von Belang. Denn zu dieser Zeit ist der Terminus Manifest im künstlerischliterarischen Bereich weniger geläufig, als es angesichts der Fülle avantgardistischer Manifeste den Anschein haben mag. Im Deutschen z. B. bezieht Meyers Großes Konversations-Lexikon weder in der hier interessierenden 6. Auflage von 1906 noch in der 7. neubearbeiteten Auflage von 1927 den Terminus "Manifest" auf künstlerisch-literarische Bewegungen oder Texte, sondern nennt allein die Bedeutung der Staatserklärung ("Kriegsmanifest") oder als "Wahlmanifest" und verweist auf den gängigen Wortgebrauch im Seerecht ("beglaubigtes Zertifikat über geladene Güter"). Das Manifest im künstlerisch-literarischen Sektor wird nicht erwähnt; erst 1927 findet sich ein Verweis auf den politischen Kontext, auf das Kommunistische Manifest (Meyer 1906:225; Meyer 1927:1630). Dieser stichprobenartig ermittelte Negativbefund, der sich durch die Konsultierung weiterer Lexika erhärten dürfte, entspricht durchaus einer bis zur Jahrhundertwende nur zögerlich verwendeten Benennung proklamatorischer ästhetischer Texte als Manifeste. Entgegen landläufiger Meinung gibt es keine naturalistischen oder Fin de siec1e-Texte, die sich ausdrücklich 'Manifeste' nennen 2. Die deutschsprachigen Ismen der Zeit, allen voran der Naturalismus, kennen zwar eine Vielzahl von Programmtexten aller Sparten - vom "Credo" bis zum "Offenen Brief', von "Zwölf Artikeln des Realismus" bis zu "Thesen" über Kunst und Literatur -, aber keine 'Manifeste'; schon ein "Aufruf' ist eher selten. Das gilt offenbar nicht nur für den deutschsprachigen Raum. In der viele Dutzend Titel umfassenden bibliographischen Auflistung von literarischen Manifestationen der 'Belle Epoque' in Frankreich für den Zeitraum 1886-1909 finden sich nicht einmal ein halbes Dutzend sich selbst als solche bezeichnende "Manifeste", darunter allein zwei aus
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der zeitlichen Nähe zur Frühphase der historischen Avantgarde, die die Gattungszeichnung allererst etablieren wird (Schultz 1981 :269-278). So bleibt festzuhalten, daß der Terminus 'Manifest' in Literatur und Kunst bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wenig geläufig war. Sicher war zumindest im Sprachgebrauch der Arbeiterbewegung das Kommunistische Manifest und mit ihm der Gattungsbegriff bekannt - er ist aber ausdrücklich in einem politischen Diskurs situiert, dem selbst bürgerlich-oppositionelle Künstler eher feme standen. Etwa seit der Jahrhundertwende entstehen mit der rasanten Medienentwicklung insgesamt aber auch besondere mediale Verbreitungsformen: The placard, the sandwich man, the poster, the sign, the advertisement, the leaflet, the broadside, prospectus, prier d'inserer, ticket, handbill - all these methods of calling out, shouting, if you will, were devices of circumventing traditional language, imitating the sound of speech, and hence restoring to a kind of primacy, the original spoken rhythm which had been for millenia abstracted by written language. [... ] Typographie novelty began, so to speak, in the marketplace, catching the accelerated pace of an urban culture. (Arthur A. Cohen, zit. nach Perloff 1986:94f.)
So gewinnen auch Überschriften rapide an Bedeutung: "Titles, for example, became very important" (Perloff 1986:95),und gerade die auf Öffentlichkeit bedachte Avantgarde nutzte die in den neuen Distributionsformen erprobten Gestaltungsmöglichkeiten nicht nur im layout. Hinzu kamen, so darf getrost geschlossen werden, ge zielte Überlegungen zum Titel - und damit gegebenenfalls auch zur Gattungsbezeichnung: Wenn also ein Künstler zu Beginn unseres Jahrhunderts seine Forderungen als Manifest titulierte, so ging es darum, einen wenig geläufigen Begriff aus einem anderen Diskurs für die Künste zu aktivieren, mit innovativem Impuls zu erfüllen und zu lancieren. Schon das erste futuristische Manifest von Marinetti, das den futuristischen Manifest-Reigen eröffnete, und seine Rezeption macht das augenfällig. Ein Exkurs möge das verdeutlichen.
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Bekanntlich erschien Marinettis Manifest vollständig zuerst am 20. Februar 1909 im Pariser Figaro - in französischer Sprache unter dem Titel "Le Futurisme". Darin war als Überschrift für die 11 Punkte des
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Textes "Manifeste du Futurisme" eingefiigt. Diese 11 Manifest-Punkte einschließlich der sich daran anschließenden Ausfiihrungen waren bereits zwei Wochen vor Erscheinen des Figaro-Abdrucks, am 5. Februar 1909, in italienischer Sprache in La Gazetta dell'Emilia in Bologna erschienen, wenn auch ohne Resonanz (de Villers 1986:15; 185). Mit dem Zusatz "Manifest" im Titel versah Marinetti seinen Text erst in einem vierseitigen Flugblatt, das die Überschrift trägt: "Manifeste Initial du Futurisme (Publie par le Figaro le 20 fevrier 1909)"; des weiteren existieren zwei französische Flugblatt-Fassungen ohne das Attribut 'initial': "Manifeste du Futurisme", das einmal den Prolog wegließ, in einer anderen Ausführung ihn aufnahm. Marinettis handschriftliche Version des Textes trägt übrigens die Überschrift: "La fondation du Futurisme et son manifeste"3. Die wenige Monate nach dem Figaro-Abdruck in der Mailänder Zeitschrift Poesia erschienene und zugleich separat als Flugblatt verbreitete, komplette italienische Fassung lautete wiederum: "Fondazione e Manifesto deI Futurismo ,,4. Die unterschiedlichen Titelvarianten sind sicher kaum planloser Spontaneität geschuldet, zumal der Text wohl schon Ende 1908 ausformuliert war. Vielmehr deutet insgesamt die generalstabmäßige Lancierung des Futurismus darauf, daß die - das künftige Geschick des Futurismus mutmaßlich mitbestimmende - Anlage der Geburtsurkunde wohlüberlegt, der innovativen, den Effekt durchkalkulierenden Logik und Intention ihres Verfassers gemäß, geschah. Es ist festzuhalten, daß das Wort "Manifest" nicht umstandslos im Figaro als Titelwort gewählt wurde, und daß auch später Marinetti fiir die beiden Komponenten des gesamten Textes - den narrativ-autobiographischen Prolog und die diskursiven 11 Forderungen - offenbar zwei Bezeichnungen benötigte: 'Gründung' und 'Manifest'. Diese wechselnden Probephasen in Sachen Manifest führen erst später, wie bekannt, zur definitiven und erfolgreichen Entscheidung fiir den Terminus 'Manifest' - als Kampfbegriff. Die deutsche Rezeption des futuristischen Manifestes ist im Gründungsjahr 1909 noch unentschieden. Die Vossische Zeitung berichtet vom "Programm des Futurismus", die Frankfurter Zeitung zitiert aus dem in Mailand verbreiteten "Prospekt einer Dichterschule", die Kölnische Zeitung übersetzt die Punkte 1 bis 9 des Manifestes als "neues künstlerisches Programm" (de Villers 1986: 179f.). Ihre gültige deutsche Fassung als "Manifest des Futurismus" erfuhr der vollständige Text dann 1912 durch Hans Jakobs Übersetzung (unter dem Pseudo-
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nym Jean-Jacques) in Herwarth Waldens expressionistischer Zeitschrift Der Sturm, als diese sich für den italienischen Futurismus in Wort und Bild stark machte. Ein weiteres Beispiel mag einen ganz spezifischen Einsatz des Wortes 'Manifest' aus dem deutschen Bereich belegen. Das sog. "Zweite Manifest des Futurismus" von 1909 heißt in den von Marinetti gezeichneten französischen und italienischen Versionen "Tuons le c1air de lune!" bzw."Uccidiamo il Chiaro di Luna!". Den Zusatz "Zweites Manifest des Futurismus" erhielt es erst durch die deutsche Übersetzung im Jahre 1912 wiederum in Waldens Sturm. Im Rahmen seines Engagements für den Futurismus und im Kontext anderer ins deutsche übertragener Futurismus-Manifeste hielt es WaIden offenbar für angebracht, auch "Tod dem Mondschein!" mit dem Siegel "Manifest" zu versehen, das es im Original gar nicht trug. Damit ist - wie schon bei Marinettis wechselnden Verwendungen von 'Manifest' - erneut belegt, daß die Entscheidung fur die Gattung wie fur den Gattungsnamen nicht selbstverständlich erscheint oder dem Zufall überlassen blieb, sondern gezielt, bewußt, die Kommunikation und die Lektüre steuernd, geschah. Von einer regelrechten Anleitung zum Manifesteschreiben durch die Avantgarde - "L'art de faire des manifestes" - zeugen Briefe von Marinetti. Den belgisehen Schriftsteller Henry Maassen belehrt er Ende 1909 über die Aufgaben eines Manifestes: "Ce qui est essentiel dans un manifeste c'est l'accusation precise, l'insulte bien dejinie". Sodann folgen genaue Hinweise darauf, wie ein Manifest, das sich an die jungen Künstler Belgiens richtet, auszusehen habe - es sind Hinweise, in denen Marinetti "la grande eloquence prophetique", die sein erstes Manifest ausgezeichnet habe und die darin auch völlig am Platze gewesen sei, ein Jahr später und im Falle Belgiens ganz und gar fur deplaziert hält: 11 faudrait a mon avis, avec un laconisme foudroyant et une crudite absolue des termes, attaquer sans emphase [... ] ce qui etouffe, ecrase et pourrit le mouvement litteraire et artistique en belgique; denoncer les academies pedantes, [es camorras des expositions, la ladrerie des editeurs,la tyrannie des professeurs (de Villers 1986:143).5
Und findet sich Marinetti hier noch in der auf Prüfung jedweder öffentlichen Resonanz bedachten Konstituierungsphase des Futurismus, so bezeugen zwei Briefe an den Maler Gino Severini vom Herbst 1913
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- als der Futurismus in Europa längst hat Fuß fassen können -, wie intensiv er weiterhin die Gattung Manifest reflektiert. Einen ManifestEntwurf von Severini kommentiert Marinetti: ,,[ ... ] qu'il n'a rien d'un manifeste". Seine Gattungsvorstellungen - der "type de manifestes que nous produisons" - pochen auf Einhaltung von "la forme d'un manifeste et non d'un article-synthese sur la peinture futuriste, comme ton texte peut sembIer etre a present (malgre les grandes nouveautes qu'il contient)". Es folgen Hinweise auf ein genaues, generalstabmäßiges timing bei der Veröffentlichung anstehender Manifeste in Italien und Frankreich; Marinetti schließt mit den Worten: "Je crois que tu conviendras de tout cela, qui m'est dicte par I/art de faire des manifestes, art que je possede, et par le desir de mettre en pleine lumiere, et non a moitie, ton formidable genie futuriste." (de Villers 1986:144) In einem weiteren Schreiben fordert Marinetti Severini 1913 auf, er möge dem Manifest einen Titel geben "absolument differents de ceux de tous les autres manifestes touchant a la peinture" und bekräftigt seinen Ratschlag: Pense que ton manifeste doit etre tres vif et doit contenir toutes les nouvelles intuitions et decouvertes picturales, non simplement suggenies, mais fortement et caracteristiquement soulignees avec ce ton de force et de violence futuriste qui distingue les manifestes futuristes de toutes ces balourdises qui ont paru dans le monde. (de Villers 1986: 145) Diese Hinweise auf Herstellung und genauere Verwendung der Gattungsbezeichnung 'Manifest' verdeutlichen, daß aufgrund des geringen Verbreitungsgrades des Wortes und seines wechselnden Einsatzes durch einen der wichtigsten Motoren der Avantgarde, Marinetti, mit der Gattung auch ihr Name in der literarischen Szene allererst durchgesetzt werden mußte; daß zudem mit Bedacht Formen des Manifestierens eingehalten werden sollten, die Marinetti als Besonderheit des Futurismus, und nur des Futurismus, verstanden wissen wollte. Nun konnte der Terminus 'Manifest' sich innerhalb der avantgardistischen Literatur und Kunst durchaus etablieren. Daß das junge Phänomen des 'Manifestantismus' in der deutschen Avantgarde allerdings kontrovers diskutiert worden ist und noch der Expressionismus vor und während des Kriegs den Terminus nur ungern für seine eigenen Programmerklärungen verwendete, machen skeptische Äußerungen von Oskar Kanehl und Franz Pfemfert deutlich6 • Im deutschen, genauer deutschsprachigen Wortgebrauch hat sich 'Manifest' erst mit Dada historisch im Kontext der Novemberrevolution - durchgesetzt. Nun
FähnderslKarrenbrock 66 melden sich mit 'Manifesten' auch Autoren zu Wort, die der Avantgarde nur lose oder gar nicht verbunden sind 7. Für die Konjunktur der Gattungsbezeichnung spricht, daß im Hannoveraner Paul SteegemannVerlag, der 1920 Anna Blume von Schwitters herausbringen wird, 1919 ein expressionistischer Gedichtzyklus unter dem Titel Himmlisches Manifest. Ein Gesicht erscheint, in dem gar von "Gottes Manifeste[n]" gesungen wird (Weinrich 1919:13). Mit der Etablierung der Selbstbezeichnung kann dann auch das Spiel mit Wort und Genre 'Manifest' beginnen, an dem auch Kurt Schwitters teilhat.
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Kurt Schwitters hat nur zwei Texte verfaßt, die er, und zwar im Titel, ausdrücklich als "Manifest" ausweist: das "Manifest KOE" und "i (Ein Manifest)", beide 1922. Zudem ist er Mitunterzeichner des "Manifest Proletkunst" von 1923. Des weiteren hat Schwitters im Zusammenhang mit der Kreierung seiner "Merz-Bühne" 1919 Grundsatztexte veröffentlicht, die sich zum Teil schon in ihren Überschriften als manifestartige Gebilde zu erkennen geben: "Die Merzbühne", "An alle Bühnen der Welt", ,,1 Die Merzbühne" und "Erklärungen meiner Forderungen zur Merzbühne". In diesem Zusammenhang steht ein weiterer Grundsatztext "Merz (Für den 'Ararat' geschrieben 19. Dezember1920)", der auch Partien aus "Die Merzbühne", "An alle Bühnen der Welt" und "Erklärungen meiner Forderungen zur Merzbühne" enthält. Um diese Texte wird es hier vor allem gehen, wobei ausdrücklich vermerkt sei, daß sich in Schwitters Prosa immer wieder programmatische Texte und apodiktische Textpassagen finden, wie ein Blick in den entsprechenden Band der Werkausgabe zeigt (Schwitters 1981), etwa "Konsequente Dichtung" von 1924 oder die im Zusammenhang mit der späteren Neufassung seiner Theaterkonzeption entstandene "Normalbühne März 1925" (Schwitters 1981:202). Auffällig ist zunächst, daß Schwitters allein in den Jahren 1922 und 1923, also einer Phase noch reichhaltiger, wenn auch langsam rückläufiger avantgardistischer Manifestproduktion in Europa (AsholtJFähnders 1995 :270ff.), entsprechende Texte ausdrücklich als
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17 (nalsis Bur I'horizon, les autres vont chanter." PIERRE REVERDY.)
ich zweifle zwar daran, daß der Dichter dabei an i gedacht hat; aber doch hat er in 2 Versen viel von dem Wesen von i charakterisiert. Aber ganz i wird die ganze Angelegenheit erst dadurch, daß ich, der ich nicht Pierre Reverdy, sondern Kurt Schwitters bin, daß ich, obgleich ich zweifle, daß Pierre Re. verdy an i gedacht hatte, überhaupt i ahnte, als er die berühmten zwei Verse schrieb, die viel, aber noch nicht alles ausdrücken, was i in der Welt bedeutet, daß ich diese zwei Verse, die, soviel ich weiß, nicht i charakterisieren, für eine gewisse Charakteristik von i ausgebe, assis sur l'horizon les autres vont chanter. Es ist für mich i, zu erkennen, daß die anderen autres, in. dem sie assis sur l'horizon, also in einer Entfernung, in der ich sie und sie mich nicht mehr sehen können, ein Werk schaffen, das ich als Kunstwerk, als chanter, empfinde. Das chanson des autres ist mir i. Nur bezeichnen Reverdys Verse eine SpeCialform von i. Denn für i ist es gleichgültig, ob die autres ihr Werk auch als Kunstwerk empfinden oder nicht. In dem Begriff lDchanter« liegt aber, daß diese Anderen ihr Werk als Kunstwerk empfunden haben. Wichtig für i ist aber nur, daß ich dieses Werk der autres als Kunstwerk er. kenne, daß ich in dem Werke des autres die Kunst erkenne. Wichtig für i ist, daß es nicht auch für mich etwas ist, sondern, daß es durch mich etwas ist, obgleich es die Anderen gemacht haben, durch mein Erkennen, dadurch, daß ich es zum Kunstwerk gestempelt habe, durch mein Erkennen .
• M'
bin der KOnstler von
;i;
kurt Schwitters ist der künstler des Werks des autres. ich bin der Künstler, der den Gesang der Anderen, der viel.
Abb. 1 Kurt Schwitters: "i". Aus: "Merz 2. Nummer i" (1923).
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leicht sehr schlecht ist, durch Abgrenzung zum Kunstwerk gemacht hat. Um Verwechslungen zu vermeiden, zitiere ich das viel. besprochene \Vort von Alois Schenzinger: »Ein Kunstwerk wird erst zu einem solchen durch den Beschauer.« Das ist nicht i, obgleich auch ein Funken i.Geist darin steckt. In Schenzingers Worten liegt der Ton auf »Beschauer«, in Reverdys Worten auf »Ies autres«. Es könnte jemand nach Schenzinger denken, da könnte jeder kommen und sagen: »Hier ist i«, nur weil der Ton auf dem beliebigen Be. schauer liegt. mais: maar : Dur wenn der Be. schauer Künstler ist, kann er erkennen, ob in dem Werke des autres Kunst ist, oder < nicht. Das Werk ist o wesentlicher als der " Beschauer. Wichtig ist, daß das Werk der autres infolge des ihm innewohnenden Rhythmus die Mög' lichkeit zu künst. lerischer Ausdeutung durch den Beschauer gibt. Anderseits hat Schenzinger in glück. Zwei Iicher Weise den Feh. i-Bilder ler Reverdys vermie. den, der in dem Worte »chanter« liegt: es ist =--______________....! unwichtig, ob die autres ein Kunstwerk bewußt haben schaffen wollen oder nicht. Die Wahrheit vOn i aber liegt zwischen Reverdy und Schenzinger. WAS IST NUN i? Das Zeichen i heißt Ÿ ú K =Es ist ein kleines Ÿ ú =aus dem deutschen Alphabet, das von abis z diesen Artikel be. gleitet·). Es ist dasJ. wie wir es etwa schon in dem englischen Worte »will« in der Verbindung »cJwill« finden, es ist nicht das Ÿ ú K =Dieses i ist der mittlere Vokal im deutschen Al.
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') Im Setzkasten nicht vorrätig, daher aushilfsweise kleine fette Buch, staben.
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phabet. Das Kind lernt ihn in der Schule als ersten Buch. staben. Der Klassenchor singt: »Rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf«. i ist der erste Buchstabe, i ist der einfachste Buch. stabe, i ist der einfältigste Buchstabe. Ich habe diesen Buchstaben zur Bezeichnung einer spezialen Gattung von Kunstwerken gewählt,deren Gestaltung so einfach zu sein scheint, wie der einfältigste Buchstabe i. Diese Kunst. werke sind insofern konsequent, als sie im Künstler im Augen. blick der künstlerischen Intuition entstehen. Intuition und Schöpfung des Kunstwerks sind hier dasselbe.
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Der Künstler erkennt, daß in der ihn umgebenden Welt von Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt und aus ihrem Zusammenhang gerissen zu werden braucht, damit ein Kunstwerk entsteht, d. h. ein Rhythmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden werden kann.
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Lesen Sie das unsittliche i-Gedicht. Ich habe erkannt, daß bei einer Zusammenstellung von Damenunterzeugen plötz. lich ein Herrenhemd unsittlich wirkt, selbst wenn es aus gras. linnen ist, und daß in der Aufeinanderfolge der betreffenden Worte von Eigenleben, wie sie da standen, ohne Angabe der Verkaufswerte, derenthalben das Ganze eigentlich geschrieben war, ein künstlerischer Rhythmus lebte. Assis sur l'horizon, les autres vont chanter. Les autres sind die Wäschehandlung. Vont chanter ist gleich der Preistabelle in der Tageszeitung. i ist das Abschneiden der Preise und das Erkennen des Rhyth. mus und der Unsittlichkeit.
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'Manifeste' bezeichnet - das mag andeuten, daß er die Bezeichnung bzw. Nichtbezeichnung programmatischer Äußerungen als 'Manifeste' nicht unbedingt willkürlich gesetzt hat. Was nun bedeutet also die Gattung Manifest fi.ir Schwitters und wann hält er sie fi.ir angebracht? Eher einfach liegt der Fall beim "Manifest Proletkunst". Dieser von Theo van Doesburg verfaßte, von diesem sowie von Hans Arp, Tristan Tzara, Christof Spengemann und Schwitters unterzeichnete und "d. Haag, 6.3.23" datierte Text heißt nicht nur "Manifest", sondern hat auch durchaus manifesttypischen Charakter: Es wendet sich strikt gegen die Auffassungen von einer Klassenkunst, einer 'proletarischen Kunst', und erhebt in eindeutig formulierten Wendungen die Forderung nach der Schaffung eines "Gesamtkunstwerk[es], welches erhaben ist über alle Plakate, ob sie fi.ir Sekt, Dada oder Kommunistische Diktatur gemacht sind" (Schwitters 1981: 144). Schwitters Unterschrift und der Abdruck des Textes in der "i "-Nummer seiner Zeitschrift Merz im April 1923 bezeugt seine auch in anderen Texten belegte Zustimmung zu den darin entfalteten Positionen, insbesondere die Polemik gegen eine Politisierung der Kunst und vor allem sein Plädoyer für das "Gesamtkunstwerk", das er an anderer Stelle auch "Merzgesamtkunstwerk" nennt (Schwitters 1981:82). Schwitters' Signatur läßt hier die ungebrochene Zustimmung zu bestimmten Kunstauffassungen erkennen, die mit der Bejahung einer eher konventionellen, traditionalistischen Manifestform einhergeht, einer Form, die zumindest durch keinerlei Dada-Volten irritiert oder unterlaufen ist. Daß das "Manifest Proletkunst" auf Theo van Doesburgs in niederllindischer Sprache verfaßtem Text "Anti-Tendenzkunst" basiert, der das Attribut 'Manifest' nicht fUhrt, tut in unserem Zusammenhang nichts zur Sache. Anders die genannten vier Programmtexte zur Einrichtung einer Merzbühne aus dem Jahre 1919. Vor allem bei "An alle Bühnen der Welt" läßt sich ein proklamatorisch-manifestartiger Charakter deutlich erkennen, auch wenn dieser Text ebensowenig wie die anderen die Selbstbezeichnung "Manifest" trägt. "An alle Bühnen der Welt" enthält in einem ersten Teil einen anaphorisch deutlich gereihten Forderungskatalog: Ich fordere die Merzbühne. Ich fordere die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerkes. Ich fordere die prinzipielle Gleichbe-
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rechtigung aller Materialien, Gleichberechtigung zwischen Vollmenschen, Idiot, pfeifendem Drahtnetz und Gedankenpumpe. Ich fordere die restlose Erfassung aller Materialien vom Doppelschienenschweißer bis zur Dreiviertelgeige. Ich fordere die gewissenhafteste Vergewaltigung der Technik bis zur vollständigen Durchführung der verschmelzenden Verschmelzungen. Ich fordere die abstrakte Verwendung der Kritiker und die Unteilbarkeit aller ihrer Aufsätze über die Veränderlichkeit des Bühnenbildes und die Unzugänglichkeit der menschlichen Erkenntnisse überhaupt. Ich fordere den Bismarckhering. (Schwitters 1981:39f.)
Forderungen nach dem Gesamtkunstwerk und der Gleichberechtigung vorgefundener Materialien als Prinzip von Merz sind - wie das Konzept einer Merzbühne überhaupt - auch aus anderen Texten von Schwitters belegt und bilden Ecksteine seiner Ästhetik. Sie machen 'Sinn'. Die formal unterschiedslos eingefugten Forderungen nach dem Bismarckhering und über die Verwendung der Kritiker (gegen deren Unverstand Schwitters um 1920 des öfteren polemisiert) setzen allerdings der Ernsthaftigkeit der übrigen Forderungen heftig zu: Ein Text, der gleichermaßen Sinnvolles und Sinnloses fordert, scheint in toto suspekt, auch in seinen sinn stiftenden Passagen. Vergleichbares gilt flir den ganz ähnlich konstruierten Schußteil des Textes: Ich fordere Einheitlichkeit in der Raumgestaltung. Ich fordere Einheitlichkeit in der Zeitformung. Ich fordere Einheitlichkeit in der Begattungsfrage, in bezug auf Deformieren, Kopulieren, Überschneiden. Das ist die Merzbühne, wie sie unsere Zeit braucht. Ich fordere Revision aller Bühnen der Welt auf der Grundlage der Merzidee. Ich fordere sofortige Beseitigung aller Überstände. Vor allen Dingen aber fordere ich die sofortige Errichtung einer internationalen Experimentierbühne zur Ausarbeitung des Merzgesamtkunstwerkes. Ich fordere in jeder größeren Stadt die Errichtung von Merzbühnen zur einwandfreien Darstellung von Schaustellungen jeder Art. (Kinder zahlen die Hälfte.)
Auch diese Forderungen sind, selbst noch in den monomanisch anmutenden Partien, in denen die Revision aller Bühnen der Welt eingeklagt wird, ernstzunehmende Elemente schwittersscher Bühnenästhetik - offenkundig mit Ausnahme der kuriosen Begattungsfragen-Forderung,
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wo unterschwellig allerdings die ästhetische Frage nach den 'Gattungen' mitschwingen dürfte. Auch die Forderung nach der Beseitigung aller Übelstände mag man dem Autor als ernstgemeintes Postulat nicht recht abnehmen. Noch die Schlußpointe des Textes, das jahrmarktübliche "Kinder zahlen die Hälfte", ließe sich als avantgardistische Volte gegen das Elitetheater, als Anspielung auf plebejisch-populäre Theatertraditionen deuten, wie sie beispielsweise auch der italienische Futurismus - so Marinetti bereits 1913 in seinem Variete-Manifest - aufgreift (AsholtlFähnders 1995:60ff.). Das Gros der rhetorisch so deutlich gereihten Forderungen läßt den sinnrnachenden Umriß einer neu zu schaffenden Merzbühne durchaus erkennen. Gegenläufige, sinnlos erscheinende Partien wirken insgesamt nicht derartig kräftig, daß sie die Ernsthaftigkeit der übrigen Merzbühnen-Postulate desavouieren würden. Sie relativieren sie auch nicht - sie relativieren wohl aber den Duktus dieses Forderns. Dazu sei auf einen Vergleichstext verwiesen. Das etwa zu selben Zeit erschienene Manifest "Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland?" des "dadaistischen revolutionären Zentralrats Gruppe Deutschland" - Raoul Hausmann, Richard Huelsenbeck und Jefim Golyscheff - stellt 1919 eine Reihe von Forderungen auf, bei denen der Leser rasch erkennen kann, daß sie ernsthaft nur zu einem kleinen Teil gemeint sein können - nämlich beim "brutalsten Kampf gegen alle Richtungen sogenannter geistiger Arbeiter (Hiller, Adler), gegen deren versteckte Bürgerlichkeit und gegen den Expressionismus und die nachklassische Bildung, wie sie vom 'Sturm' vertreten wird" (AsholtlFähnders 1995:175). Da auch aus anderen Quellen die massive Polemik des Berliner Dada gegen Expressionismus und Aktivismus bekannt ist, läßt sich diese Attacke als ernsthaft intendierte lesen. So übrigens hat auch der Leser Kurt Schwitters 1920 den Text aufgefaßt; im "Merz"-Aufsatz zitiert er aus dem "Zentralratsmanifest" just diese Forderung gegen den Expressionismus und verweist darauf, daß es sein Intimfeind Richard Huelsenbeck (der Anruhrer der "Hülsendadas") war, der den Dadaismus politisiert habe (Schwitters 1981 :77). Eine derartige Ernsthaftigkeit gilt sicher nicht für die übrigen, sorgfaltig von a) bis k) durchgezählten Forderungen des Dadaistischen Manifests wie: "öffentliche tägliche Speisung aller schöpferischen und geistigen Menschen auf dem Potsdamer Platz (Berlin)" oder: "Kontrolle aller Gesetze und Verordnungen durch den dadaistischen Zentralrat der Weltrevolution" (AsholtlFähnders 1995:175). Hier liegt
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offenbar ein Text vor, der nicht positive Forderungen oder negative Gegenforderungen erhebt, sondern der im Fordern von 'Sinnlosem' das Fordern selbst angreift. Es geht also um das Bloßstellen von Forderungsstrukturen, denen innerhalb der revolutionären Auseinandersetzungen des Jahres 1919 offenbar keine Richtigkeit mehr zugemessen wird. Somit gibt dieser Text auf seine im Titel selbst präzis gestellte Frage keine angemessene inhaltlich ausgeführte Antwort, sondern macht per Selbstdementi 'sinnfällig', daß 'der Dadaismus' nicht gewillt ist, sich in eine Phalanx revolutionärer Forderungskataloge einzuordnen - der Text demontiert metasemiotisch derartige Forderungsstrukturen und provoziert die Frage nach alternativen Vorgehensweisen. Vergleichbar, wenn auch in die Gegenrichtung zielend, geht Schwitters vor: sein Katalog mit den sich selbst widerlegenden Punkten macht auf den Gestus einsträngigen Forderns zwar aufmerksam, zersetzt und widerruft aber nicht das Merzbühnen-Projekt. Der lange Mittelpart von "An alle Bühnen der Welt" nun operiert anders. Er insinuiert Experimente, deren Subjekt nicht mehr 'ich', sondern 'man' ist: Man setze riesenhafte Flächen, erfasse sie bis zur gedachten Unendlichkeit, bemäntele sie mit Farbe, verschiebe sie drohend und zerwölbe ihre glatte Schamigkeit. Man zerknicke und turbuliere endliche Teile und krümme löchernde Teile des Nichts unendlich zusammen. Glattende Flächen überkleben. Man drahte Linien Bewegung, wirkliche Bewegung steigt wirkliches Tau eines Drahtgeflechtes. [... ]
Man lasse Schleier wehen, weiche Falten fallen, man lasse Watte tropfen und Wasser sprühen. [ ... ] Man nehme Zahnarztbohrmaschine, Fleischhackmaschine, Ritzenkratzer von der Straßenbahn, Omnibusse und Automobile, Fahrräder, Tandems und deren Bereifung, auch Kriegsersatzreifen und deformiere sie. Man nehme Lichte und deformiere sie in brutalster Weise. Lokomotiven lasse man gegeneinander fahren, Gardinen und Portieren lasse man Spinnwebfaden mit Fensterrahmen tanzen und zerbreche winselndes Glas. [ ... ] Menschen selbst können auch verwendet werden. Menschen selbst können auf Kulissen gebunden werden. Menschen selbst können auch aktiv auftreten, sogar in ihrer alltäglichen Lage, zweibeinig sprechen, sogar in vernünftigen Sätzen. [ ... ]
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Dem Mann auf der einen Kulisse läuft ein Strahl eiskaltes Wasser über den Rücken in einen Topf. Er singt dazu cis d, dis es, das ganze Arbeiterlied. Unter dem Topfe hat man eine Gasflamme angezündet, um das Wasser zu kochen, und eine Melodie von Violinen schimmert rein und mädchenzart. Ein Schleier überbreitet Breiten. Tief dunkelrot kocht die Mitte Glut. Es raschelt leise. Anschwellen lange Seufzer Geigen und verhauchen. Licht dunkelt Bühne, auch die Nähmaschine ist dunkel.
Diesen Mittelteil von "An alle Bühnen der Welt" hat Schwitters 1919 auch separat unter dem Titel "Erklärungen meiner Forderungen zur Merzbühne" veröffentlicht. Das Verfahren, einem Manifest Erklärungen in einem Folgemanifest anzuhängen, ist aus dem italienischen Futurismus geläufig, etwa Marinettis "Die Futuristische Malerei. Supplement zum Technischen Manifest der futuristischen Literatur". Separat gelesen, bilden die "Erklärungen meiner Forderungen zur Merzbühne" tatsächlich eine textliche Einheit; würde man diese "Erklärungen" aus dem Bühnenmanifest herausschneiden, bliebe als Rumpf die oben zitierte Forderungsreihe, die als Text auch ohne den großen Mittelpart seine eigene Plausibilität hätte. Dieses Mittelstück nun, das äußerst dicht formuliert und von hoher 'poetischer' Qualität ist, enthält eine Fülle von Anspielungen auf avantgardistische Positionen, die Schwitters hier zur eigenen Traditionsbildung herbeizitiert oder durch ihre groteske Zuspitzung zwecks Distanzierung der Lächerlichkeit preisgibt. So spielt die Flächen-Linien-Passage auf Kandinskys Werk an; mit dem Requisit der Nähmaschine rekurriert Schwitters auf die schon bei Lautreamont erwähnte, später von den Surrealisten theatralisch ausgeführte zufällige Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine; der kuriose Maschinenpark verweist auf die Technikernphase des italienischen Futurismus; mit Anna Blume schließlich gewinnt der Text Autoreferentialität. Diese Anspielungen brauchen hier im einzelnen nicht aufgelöst zu werden. Wichtiger ist ihre Funktion. Die Gebrauchsanweisungen - "Man nehme ... " - sind in dem Sinne wörtlich zu nehmen, als sie in Umrissen eine reale Inszenierung auf einer Merzbühne erkennen lassen, allerdings ohne Handlungslogik und technisch oft nur schwerlich realisierbar. Aber filtert man aus der metaphernreichen Sprache Handlungsanweisungen heraus ("Man lasse Schleier wehen ... "), so läßt sich ein realer, auf Sinn zielender Bezug erkennen. Das kollidiert mit jenen Partien, deren surreale Metaphorik auf keine reale Handlungsanweisung in einer Merzbühne verweist ("Man
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verheirate z. B. die Wachstuchdecke mit der Heimstättenaktiengesellschaft..."). Insofern wiederholt der Mittelteil ein Verfahren von Prolog und Epilog: er mischt die konkrete Handlungsanweisung bzw. eine konkrete Einzelforderung mit surrealer, nicht mehr zu realisierender Anweisung bzw. mit ridikülisierten, sich selbst aufhebenden Vorschlägen. Der Proklamationscharakter bleibt zwar erhalten, aber der Forderungskatalog wird derart ausgeweitet, daß er ein neues Licht nicht nur auf die Forderungen, sondern auch, wie oben am Dada-Beispiel ausgeführt, auf den Gestus des Forderns und Proklamierens als solchen wirft. Letztlich scheint es eher um das Sichtbarmachen und Rhythmisieren dieses Gestus zu gehen als um seine inhaltliche Seite. Das Sichtbarmachen erfolgt aber in bezug auf einen Leser hin. Insofern sind die Rezepturen des "Man nehme .. " durchaus auch als Aufforderungen an die Leser zu verstehen, jenseits der gewöhnlichen Lebens- und Kunstordnung am Experiment der "Vermerzung der Welt" mitzuwirken, ein Experiment, das der Text selbst schon vormacht. "Textproduzent und Leser", so Friedhelm Lach, seien für Schwitters im Grunde genommen [... ] aktive Teilnehmer einer neu zu schaffenden Lebensweise. Merzkunst war deshalb genau gesehen eine Lebensform, der gegenüber man sich nicht analysierend, zuschauend verhalten konnte und die man auch nicht als Rolle vorspielen durfte. Was Schwitters als Merzer zu bestimmen suchte, das waren die Gesetze, nach denen dieser Lebensprozeß, der aus der Bahn des Gewohnten herausgetreten war, verlief. (Lach 1981: 15)
Die Texte zur Merzkunst, so folgert Lach, lesen sich "teils wie Gebrauchsanweisungen und Gesetzestexte, teils fordern sie konkret sinnlich zum Miterkennen und Mitempfinden der neuen Lebensform auf' (Lach 1981:15). Nun kann die Frage nach dem 'Sinn' bzw. der Bedeutung dieser programmatischen Merz-Texte nur innerhalb der Schwittersschen Ästhetik präzisiert werden: sie sind schon das, was sie proklamieren. Als Merz-Dichtungen verwenden sie, so Schwitters im Nachwort von Anna Blume: "analog der Merz-Malerei als gegebene Teile fertige Sätze aus Zeitungen, Plakaten, Katalogen, Gesprächen usw., mit und ohne Abänderungen [.. .]. Diese Teile brauchen nicht zum Sinn zu passen, denn es gibt keinen Sinn mehr" (Schwitters 1981 :38). Das heißt aber auch: Die Materialien sind nicht logisch in ihren gegenständlichen Beziehungen, sondern nur innerhalb der Logik des Kunstwerks zu
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verwenden. Je intensiver das Kunstwerk die verstandesmäßig gegenständliche Logik zerstört, umso größer ist die Möglichkeit künstlerischen Aufbauens. (zit. nach Brohns 1972:36)
Das meint allerdings keine einhellige Zerstörung von Logik und Sinn. Sie würde eine einfache Negation bedeuten -'Sinn' zu 'Un-Sinn', 'Kunst' zu 'Anti-Kunst', den Künstler zum Anti-Künstler umwandeln. Wie andere Avantgardisten, zumal des Dada, auch, sucht Schwitters einer bloßen Negation des Bestehenden - schwarz statt weiß, nein statt ja, aber auch: Proletariat statt Bourgeoisie - zu entgehen. Das Ziel einer durch und durch produktiven 'Möglichkeit künstlerischen Aufbauens' vor Augen, schafft Schwitters den Künstler ab und setzt an seine Stelle den schöpferischen 'Merzer', dem es aufgetragen ist, Kunst und NichtKunst gleichermaßen zu vereinen. So hat Schwitters wie kaum ein anderer unter den Avantgardisten an der unvergleichlichen, geradezu prometheischen Schöpferrolle des Künstler-Merzers immer auch explizit und programmatisch festgehalten. Damit korrespondiert seine Orientierung an einem ganz spezifischen Werkbegriff, den er im Gesamtkunstwerk sich vollenden sah. Gerade um ein derartiges Werk aber schaffen zu können, transzendiert er Logik und Sinn, deren Boden allein ihm längst nicht mehr tragfähig scheint - ohne aber beide vollends aufzugeben. Wenn auch die Stiftung von Sinn nicht das Ziel ist, so ist Sinn doch nicht nicht überflüssig - aber nur als ein Element unter anderen. Insofern kann einer der ästhetischen Kernsätze bei Schwitters (in "Merz" von 1920) lauten: "Der Sinn ist nur wesentlich, wenn er auch als Faktor gewertet wird. Ich werte Sinn gegen Unsinn." (Schwitters 1981 :77): Das bezieht sich auf die "Elemente der Dichtkunst", als da sind: "Buchstaben, Silben, Worte, Sätze", wobei dem Merzer erneut die schöpferische Aufgabe zufällt, durch "Werten der Elemente gegeneinander" - "Poesie" entstehen zu lassen (ebenda). Wenn Schwitters betont: "Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich den Unsinn" (ebenda), so akzentuiert dies allein die Vorliebe für bestimmte 'Elemente', nicht auch ein ästhetisches Programm, das allein mit 'Unsinn' zu charakterisieren wäre.Wobei stets zu bedenken bleibt: "Merz rechnet mit allen Gegebenheiten, und das ist seine Bedeutung, sowohl praktisch als auch ideell" (Schwitters 1981:133).
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Wie verhalten sich dazu nun Schwitters' eigenhändig als solche bezeichnete Manifeste? Das erst postum erschienene "Manifest KOE" (Schwitters 1974:94) trägt im Titel den Zusatz: ,,(KOE ist der holländische Ausdruck für das deutsche Wort Kuh und spricht sich genau so.)". Es wurde 1922/23 verfaßt, steht also im Zusammenhang mit 'Holland Dada' und den holländischen Aktivitäten von Schwitters. Eine Kuh ziert übrigens Schwitters' in diesem Umfeld entstandenen Artikel "Dadaismus in Holland" im ersten Merz-Heft vom Januar 1923. Die Titelgebung impliziert bereits eine Leseranweisung, die auf dreierlei deutet: Das vorangestellte, effektiv und demonstrativ wirkende Auftaktwort 'Manifest...' mit nachfolgenden Präzisierungen ist zumal bei Dada geläufig, man denke an Tristan Tzaras "Manifeste Dada 1918", an "Manifeste Cannibale Dada" von Francis Picabia (1920) oder das zitierte "Manifest Proletkunst"). Daß sodann im Titel nicht die deutsche, sondern die differente, aber identisch klingende holländische Schreibweise für 'Kuh' gesetzt wird, verfremdet das 'eigentlich' gemeinte Wort und läßt besonders aufhorchen angesichts eines zu erwartenden 'Manifestes Kuh', bei dem es nicht unbedingt mit rechten Dingen zugeht.
ISMUS
DADA IN HOLLAND
Abb. 2 Titelgestaltung von Kurt Schwitters: "Dadaismus in Holland". Aus: "Merz 1. Holland Dada" (1923).
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Die Erklärung von Phonetik bzw. Orthographie ließe sich als Hinweis auf aktionistische Züge beim Manifestieren lesen, auf die enge Verbindung von Manifest und mündlichem Vortrag, die Schwitters gerade aus dem Dada-Feldzug in Holland bestens kannte. Der Schlußsatz beginnt denn auch mit "Sehen Sie, [... ]", er evoziert mit dieser Floskel expressis verbis den mündlichen Vortrag. Läßt sich nun aber aus der Tatsache, daß das "Manifest KOE" zu Schwitters Lebzeiten nicht gedruckt wurde, obwohl Schwitters zur Veröffentlichung Gelegenheit genug gehabt hätte (beispielsweise in der erwähnten Holland-DadaNummer seiner Zeitschrift Merz), schließen, daß es ausschließlich für den mündlichen Vortrag auf der Holland-Tournee verfaßt wurde? Dann allerdings wäre die Leserinformation: "KOE ist der holländische Ausdruck für das deutsche Wort Kuh und spricht sich genau so", überflüsSIg.
Damit gibt schon der Bau der Überschrift erste Fingerzeige des Schwittersschen Vorgehens in Sachen Manifest: der Text reklamiert auf eine für die Rezipienten wiedererkennbare Weise sowohl mündlich als auch schriftlich Manifest-Charakter und Manifest-Struktur - 'Manifest XV' - , die durch die folgende Erklärung - "Manifest KOE" - auch erfüllt wird. Die Wortkombination 'Manifest Koe=Kuh' macht zudem den Hörer/Leser neugierig, wobei allerdings in Rechnung zu stellen ist, daß zu dieser Spätzeit von Dada das Publikum bereits einiges an überraschenden Manifest-Titeln gewohnt war. (Bei KoelKuh mag man übrigens noch den Buchstaben q und den 'Coup' mitassoziieren.) Startet der Titel also mit Hinweisen auf formale Ernsthaftigkeit und mögliche Ridikülität des Manifestes, so erweist es sich auf der semantischen Ebene auf den ersten Blick als formal schlüssig: Zunächst fmde ich es im höchsten Grade unnatürlich, daß Milch von verschiedenen Kühen, [sic] in einen einzigen Eimer gemolken wird. Man sollte Milch von verschiedenen Kühen auch stets in verschiedenen Eimer melken. Aber auch das ist durchaus nicht ideal. (Schwitters 1974:94)
Es beginnt ein Spiel mit dem, was für ideal-hygienisch gehalten wird: verschiedene Menschen sollten nicht aus demselben Eimer trinken, Milch derselben Kuh könnte für verschiedene Menschen in verschiedene Eimer gemolken werden, Milch sollte überhaupt nicht in Eimer gemolken oder in Flaschen aufgezogen werden. Als "einzige Lösung für den modemen Kulturmenschen, die hygienisch einwandfrei, der modemen Zeit angepaßt und jeder Kuh würdig erscheint", präsentiert
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das Manifest die Konstruktion direkter Milchleitungen vom Euter der Kuh auf der Weide in die Häuser der Großstadt - für jeden "Säuger" mit einzelnem "geschmackvollen Messinghahn". "Sehen Sie, das ist hygienisch einwandfrei, gesund, einer Kuh würdig und würde nie die allgemeine Moral schädigen können", endet ,,Manifest KOE". Von seiner proklamatorischen Deutlichkeit her zeigt sich das Manifest primär argumentierend, vom Duktus her ist es eher auf Überzeugungsarbeit aus, nicht aufs Dekretieren oder abrupte Postulieren bedacht. Der Manifestant entwickelt ein Problem und präsentiert dafür eine 'einzige Lösung'. Das aufgeworfene Problem allerdings ist ein Scheinproblem, die Lösung absurd - charakteristische Nonsens-Literatur insofern, als mit großem rhetorischem Aufwand und mit inhärentem Anspruch auf 'Sinn' eine Konstruktion minutiös vorgefiihrt und eingefordert wird, die in toto keinen 'Sinn' macht (von ihrer technischen Realisierbarkeit ganz zu schweigen). Das "Manifest KOE" ließe sich als ein der Form nach bündig konstruiertes Manifest lesen, dessen Botschaft aber gerade dem widerspricht, was von einem Manifest allererst zu erwarten ist: Sinn. Insofern läßt schon die stutzig machende, demonstrative Titelgebung mit ihrer von der Textökonomie her völlig überflüssigen Kompliziertheit auf eine intentio auctoris schließen, die in Richtung Verwirrspiel durch symptomatische, überflüssige Pseudogenauigkeit geht. Das Manifest ist als ein Text zu lesen bzw. zu hören, der Manifest-Forderungen der Form nach kopiert, um sie dem Inhalt nach zu desavouieren. Indem es sinnlose Probleme und entsprechend sinnlose Problemlösungen aufmacht, hat es Teil an den Schwittersschen Dada-Prinzipien, die auf bestimmte Effekte beim Publikum aus sind, indem sie ihm den Spiegel vorhalten. Nun ließe sich "Manifest KOE" auch als Text begreifen, der über den auf Eindeutigkeit bedachten Manifeste-Aspekt hinaus metaphorisch (oder allegorisch) konstruiert wäre. Kuh und Milch könnten als Produzent und Produkt stehen, die Frage nach der Vermittlung dieser Produkte an den Konsumenten ließe sich als Problem von 'Distribution' und 'Rezeption' lesen - das Manifest in Gänze als verschlüsselter Text über Kunst und ihre Rezeption. Die angebotene Lösung der Frage nach einer individuellen 'Säugung' des 'Säugers' legt den Gedanken nahe, daß im Kontext der vielfältigen Reflektionen, die die Avantgarde und die gerade auch Schwitters über die Künstler-Publikum-Relation immer wieder anstellt (Fähnders 1995: 127ff.), hier nichts anderes als ein Lösungsvorschlag unterbreitet wird: eine je individuelle, auf Abruf,
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nämlich bei individuellem Bedarf zur Verfügung stehende Atzung durch die Kunst als Milch der frommen Denkungsart. Und dies als Alternative zur Einheitsmilch im kollektiven Eimer - der Vergleich ließe sich weiter ausspinnen. Von seiner Kunstauffassung her wäre dies durchaus plausibel: Schwitters Orientierung an einem traditionellen Bild vom Künstler, der - noch im Gewand des 'Merzers' - die Fäden der Kunstproduktion in der Hand behält, schließt nicht aus, daß auch die Rezipienten in hohem Maße an der Realisierung des 'Werkes' beteiligt werden sollen. Gerade die herausragende Publikumsbeteiligung, die er bei seinen Dada-Auftritten in Holland rühmt und die auch seine Bühnenkonzeption mitbestimmt, zeigt initiatorische Künstlerrolle und relevante Publikumsfunktion in einem. Insofern ließe sich das "Manifest KOE" als Chiffre für dies Verhältnis lesen, wenn man es gegen den Strich nicht als eindeutig diskursiv festgelegten Text mit Forderungen, die keinen Sinn machen, nimmt, sondern als sinnstiftenden poetischen Text mit einer Bedeutungsschicht, die übers Diskursive hinausgeht. Dabei soll diese letzte Lesart gar nicht als einzig mögliche favorisiert werden; unter Odem Aspekt des Manifestierens ließe sich auch bei der Feststellung innehalten, daß hier, angefangen mit der Überschrift, mit erheblichem Aufwand ein Manifest inszeniert wird, das den Erwartungshorizont, den ein Manifest berechtigterweise eröffnet, schmählich enttäuscht; dies wäre Hinweis darauf, daß - intentio auctoris, intentio operis - der Rezipient belehrt werden soll, Manifesten nicht zu trauen, können sie doch reichlich Unfug enthalten. Damit ist eine Möglichkeit von Schwitters Umgang mit Manifesten aufgewiesen: Das Manifest will nichts 'manifestieren', jedenfalls nicht das, was den linguistisch-wörtlichen Sinn seiner Forderungen ausmacht; insofern will es auch nicht manifestieren - diese Negationen aber ließen sich dann letztlich als 'Sinn' ermitteln.
5 Die im Nachlaß überlieferte schriftliche Fassung des "Manifests KOE" trägt Spuren von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Womöglich für den mündlichen Vortrag verfaßt, zeichnet sie die performative Situation seiner Verlautbarung nach, ist aber deshalb noch kein Manuskript für die Schublade. Zu genau paßt es, wie oben schon bemerkt, in den
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Rahmen des dadaistischen Holland-'Siegeszugs', auf dem nicht nur Kühe eine große Rolle spielen, sondern auch 'alle Euter läuten' (Schwitters 1981:129). Ganz anders das i-Manifest. Es erschien im Mai 1922 in Herwarth Waldens renommiertem Sturm - allerdings als Manifest in Klammem: "i (Ein Manifest)". Dieser Titel provoziert nicht nur die Frage nach dem zu erwartenden Sinn eines solchen Manifests, sondern bindet diese Frage gleichzeitig an die Funktion der Klammer. Schützt die Klammer vor möglichem Verständnis des Titels als banalem Ausruf des Abscheus (i-gitt, ein Manifest!), soll sie also Garant fur die Seriösität des Textes sein - oder bedeutet sie von vornherein eine Einschränkung der manifestierenden Geste als solcher? War das "Manifest KOE" der Fonn nach ein Manifest, dem Inhalt nach alles andere als das, so erfüllt das i-Manifest die fonnalen Bestimmungen der Gattung kaum, wohl aber eine der Grundbedingungen des Manifestierens: ist es doch nichts weniger als die Geburtsurkunde für ein neues, experimentelles künstlerisches Vorgehen. Es entwickelt die Theorie des Prinzips "i", das Schwitters fortan über Jahre beschäftigen wird. Im gleichen Jahr 1922 hat Schwitters dieses Prinzip auch praktisch vorgestellt: durch die Präsentation seiner "i-Zeichnungen" in der Mai-Ausstellung der Sturm-Galerie und durch die Veröffentlichung des "i-Gedichts". Es besteht bekanntlich neben dem Titel "i-Gedicht" lediglich aus dem Abdruck des kleinen Buchstabens i in einer Schrifttype, wie Kinder sie damals in der Schule lernten, sowie der in Klammem gesetzten Unterschrift ,,(lies: 'rauf, runter, rauf, Pünktchen
Das i-Gedicht
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/v
(lies: "rauf. runff'!r. rallf. Pilnktchen drauf.") Abb. 3 Kurt Schwitters: "i-Gedicht". Aus: "Elementar. Die Blume Anna. Die neue Anna Blume" (Berlin 1922).
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drauf)".8 Die Einfiihrung des 'i'-Prinzips markiert insofern einen Wendepunkt in Schwitters' Schaffen und in seinem Selbstverständnis, als er sich ausdrücklich nicht mehr als "dadaistischer Spiegelträger" (Schwitters 1981: 148), sondern nun vorrangig als konstruktiver Künstler verstanden wissen will: "K. S. ist nicht Dadaist, sondern der Begründer der Merz-Kunst und der i-Kunst", heißt es am Schluß der 1922 im Freiburger Walte- Heinrich erschienen Memoiren Anna Blumes in Bleie. "i (Ein Manifest)" reiht sich ein in die von Schwitters seit 1919 verfaßten programmatischen Erklärungen zur Merz- Kunst - und treibt sie gleichwohl auf die Spitze. Das zeigt schon der Anfang des Manifests, wo es heißt: Was Merz ist, weiß heute jedes Kind. Was aber ist i? i ist der mittlere Vokal des Alphabets und die Bezeichnung rur die Konsequenz von Merz in bezug auf intensives Erfassen der Kunstform. Merz bedient sich zum Formen des Kunstwerks großer fertiger Komplexe, die als Material gelten, um den Weg von der Intuition bis zur Sichtbarmachung der künstlerischen Idee möglichst abzukürzen, damit nicht viele Wärmeverluste durch Reibung entstehen. i setzt diesen Weg = null. Idee, Material und Kunstwerk sind dasselbe. i erfaßt das Kunstwerk in der Natur. Die künstlerische Gestaltung ist hier das Erkennen von Rhythmus und Ausdruck im Teil der Natur. Daher ist hier kein Reibungsverlust, d.h. keine störende Ablenkung während des Schaffens möglich. Ich fordere i, aber nicht als einzige Kunstform, sondern als Spezialform. (Schwitters 1974:120)
i erscheint also als 'Spezial form' von Merz, und zwar als eine äußerst radikalisierte Spezialform. Wie die Merz-Kunst erfordert i ein "intensives Erfassen der Kunstform"; Merz besteht aber im "Entformeln" beliebigen Materials und seiner Neukomposition, es bedeutet also Collagieren, Schneiden und Kleben (vgl. Schmalenbach 1984, S. 215).
i hingegen 'schneidet' nur aus und wird nicht wieder mit anderem Material montiert - zumindest dem Schwitterschen Anspruch nach, dem es in diesem Moment noch nicht um die Präsentation des Kunstwerks (ohne die er freilich nicht auskommt), sondern allein um seinen Schaffensprozeß geht. Der künstlerische Akt besteht ausschließlich darin, daß der Künstler eine Kunstform 'in der Natur' erfaßt, durch Ausschneiden begrenzt und zur Kunst erhebt. Anders als bei Merz ist allerdings das Material fiir i nicht beliebig, "da sich nicht jede Natur im
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Ausschnitt zum Kunstwerk gestaltet", wie es im Manifest weiter heißt. Daher, so Schwitters an die Adresse "der Herren Kunstkritiker", erfordere es selbstverständlich ein weit größeres Können [... ], aus der künstlerisch nicht geformten Natur ein Kunstwerk auszuschneiden, als aus seinem eigenen künstlerischen Gesetz ein Kunstwerk mit beliebigem Material zusammenzubauen. (Schwitters 1974:120)
Es bleibt allein Sache des Künstlers bzw. seiner schöpferischen Intuition, 'Idee, Material und Kunstwerk' im Akt des Erkennens miteinander zu verschmelzen - das Produkt ist also sein spezifisches Produkt und deswegen auch nicht mit Ready-mades zu verwechseln, die ihre Funktion ja allein aus der Veränderung ihres Kontextes, dem Erkennen des Verkennens, beziehen. Ausschneiden und Begrenzen als künstlerisches Prinzip erscheint im i-Manifest nicht als bloße Technik, sondern gerade in der äußersten Reduktion als Wiederholen des (göttlichen) Schöpfungsakts. Typisch fiir Schwitters ist, daß er eben nicht lediglich eine einfache Proklamation rur einen neuen Ismus in die Welt setzt. Das läßt zwar die Bezeichnung Manifest zunächst vermuten, und auch die allerdings einzige und ob ihrer auf den ersten Blick unsinnig scheinenden Formulierung stutzig machende - Forderung: 'ich fordere i' legt es nahe. Aber Schwitters jongliert mit der Form des Manifests, um sich in einem mindestens doppelten Diskurs einzurichten: er spielt mit der Rede über die Erkenntniskraft von Kindern und Narren, um geduldig mit einem hochspezialisierten Publikum über den Schaffensprozeß als Schöpfungsakt zu kommunizieren - nur daß seine Adressaten eben nicht die angesprochenen und ironisierten Kunstkritiker sein können, die ja noch nicht einmal die Merz-Kunst begreifen, geschweige denn ihre Radikalisierung im Sinne von i. Es ist ein Publikum von 'exemplarischen Lesern' (Eco), zu dem die empirischen Leser durch das Lesen des Manifests allererst herangebildet werden sollen. Ob dieser Operation aber Erfolg beschieden sein könnte, scheint Schwitters denn doch beschäftigt zu haben. Jedenfalls geht er 1922, ein Jahr später im "i-Heft" seiner Zeitschrift Merz, erneut ausführlich auf den i-Komplex ein. Was im i-Manifest nur behauptet wird und entsprechend hermetisch daherkommt, wird hier in extenso vorgefiihrt - in der schon erprobten 'gemerzten' Mischung von Rezeptur, programmati
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Abb. 4 Kurt Schwitters: "Drucksache ", Stempelzeichnung. Aus: "SturmBilderbücher IV. Kurt Schwitters" (Berlin 1921).
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scher Äußerung, vertraulicher Leseransprache, i-Bildern, i-Gedichten und serieller Rhythmisierung des gesamten Texts durch den Fettdruck des i und der einzelnen Buchstaben des Alphabets (von vorne nach hinten!) - bis hin zum Stottern bei q: qqqqqq (Schwitters 1981:138). Auffällig ist hier nicht nur die Zurücknahme des postulierten Schöpfungsakts in einen Prozeß des Machens ("ich bin der Künstler von i") (Schwitters 1981:137) , sondern auch die Öffnung und der positive Bezug auf die Rezipienten: Der Künstler erkennt, daß in der ihn umgebenden Welt von Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt und aus ihrem Zusammenhang gerissen zu werden braucht, damit ein Kunstwerk entsteht, d.h. ein Rhythmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden werden kann. (Schwitters 1981:139)
Zwischen dieser Bestimmung und der Verallgemeinerung und 'Globalisierung' des i-Prinzips von 1924: "Hier wäre noch besonders zu erwähnen, daß ich zwar ursprünglich zum Zwecke der Klarheit die Bezeichnting /i/ erfunden habe, daß /i/ aber ein Begriff ist, den alle Kulturen aller Zeiten erstrebt haben" (Schwitters 1981: 177), liegt seine Präzisierung. Schwitters formuliert 1923 sie im 4. Merz-Heft: In Merz 1, Jan. 23, schrieb ich über Dadaismus in Holland und die Unterschiede von Dadaismus und Merz. Ich defInierte Dadaismus als i É Ä É å ë Ä É ï É Ö ì ú Ö I = Dada als das Gesicht unserer Zeit, den Dadaisten als Spiegelträger und unsere Tätigkeit in Holland als wesentlich künstlerische Leistung durch Formung dadaistischen Materials. Aber nicht immer war unsere Tätigkeit künstlerisch, z.B. wenn wir den ungeformten Dadaismus aus dem Publikum herauszulocken wußten durch Anregung, Aufregung und Abregung [... ]. Dem Dadaismus in veredelter Form stellte ich Merz gegenüber und kam zu dem Resultat: während Dadaismus Gegensätze nur zeigt, gleicht Merz Gegensätze durch Wertung innerhalb eines Kunstwerks aus. Der reine Merz ist Kunst, der reine Dadaismus Nichtkunst; beides mit Bewußtsein. In Merz 2 habe ich von einer Specialform von Merz: 'i', gesprochen; es ist das AuffInden eines künstlerischen Komplexes in der unkünstlerischen Welt und das Schaffen eines Kunstwerks aus diesem Komplex durch Begrenzung, sonst nichts. Jetzt, in Merz 4, setze ich diesen logischen Gedankengang fort. Ich schreibe über die Banalität. Sie ist das Auffmden eines unkünstlerischen Komplexes in der unkünstlerischen Welt und das Schaffen eines Dadawerks (bewußte Nichtkunst) aus diesem Komplex durch Begrenzung, sonst nichts. (Schwitters 1981: 148)
FähnderslKarrenbrock 86 Hier entwickelt Schwitters nun eine komplette Systematik seiner Künste, in einem apodiktischen Ton, der wiederum einem traditionellen Manifest wohl anstünde. Allerdings wird auch in diesem Text mit der ehernen Ernsthaftigkeit nur gespielt: was hier mit ebenso zwingender wie überzeichneter immanenter Logik auftritt, ist auch in diesem Fall kein Manifest, sondern der Eingangsartikel des Merz-Heftes mit dem sprechenden Titel "Banalitäten ".
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"JEDE FORM IST DAS MOMENTBILD EINES PROZESSES. ALSO IST DAS WERK HALTESTELLE DES WERDENS, UND NICHT ERSTARRTES ZIEL", lautet ein Merksatz in der "Nasci"-Nummer von Merz aus dem Jahre 19249 • Im selben Jahr heißt es über "Merz": In jedem Stadium vor der Vollendung ist das Werk rur den Künstler nur Material rur die nächste Stufe der Gestaltung. Nie ist ein bestimmtes Ziel erstrebt außer der Konsequenz des Gestaltens an sich. Das Material ist bestimmt, hat Gesetze, hat Vorschriften rur den Künstler, das Ziel nicht. (Schwitters 1981: 187)
Damit erweist sich Schwitters als ein Autor, der deutlich an der tradierten Schöpferrolle des Künstlers festhält, aber dennoch ein Werk zu schaffen sucht, das als wahrhaftes work in progress unabschließbar scheint; seine Anläufe zur Schaffung des Merzbaus weisen ganz deutlich in diese Richtung. Als Avantgardist bricht Schwitters damit den tradierten Werk-Begriff auf, ohne ihn allerdings völlig zu verabschieden - selbst "HALTESTELLE[N] DES WERDENS" sind vorzeigbare Werke, und ihre 'Vollendung' bleibt durchaus das Ziel. Das schlägt auch im Bereich des Manifestierens zu Buche: das Manifest, das Proklamieren ist für Schwitters, wie sich zeigen ließ, unabdingbar zur Vermittlung bestimmter Positionen - ganz im Sinne des lexikalischen Minimalkonses in Sachen Manifest. Andererseits sind auch Schwitters Manifeste als Werke in ihrer spezifischen 'Reiseform' zu begreifen: insofern bezeichnet auch ein Manifest bei Schwitters eine 'Haltestelle' auf dem Weg zum avisierten Ziel. Die Ausschilderung allerdings verweist auf Schwierigkeiten beim Umsteigen oder Weiterfahren: so, wie Schwitters seine Manifeste ausstattet, ist ein direkter Anschluß nicht garantiert. Vielmehr sind in den Manifesten selbst
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Bremsen angebracht, die ein planmäßiges Weiterfahren blockieren. Bei "Manifest KOE", "i (Ein Manifest)" und auch bei "An alle Bühnen der Welt" ist trotz ihrer unterschiedlichen Verfahrensweisen jenes 'Halt!' eingebaut, das jede schiere, plane, sich auf die diskursive Eindeutigkeit verlassende und intentional auf sie auch abzielende Manifestbotschaft unterminiert. Unterminiert, nicht dementiert; wie aufgewiesen worden ist, folgt Schwitters ein Stück weit dem Weg, den die Manifestgattung vorgibt, hält dann aber inne, um sie - mit seinen Worten - zum 'Material', zu einem Element unter anderen zu machen, sie also zu unterwandern. Indem er auch die Sprache des Manifests derart 'entformelt', d.h. auch, entlastet von der alleinigen Aufgabe, eine spezielle Botschaft transportieren zu müssen, setzt er andere Potenzen von Sprache frei. Zwar vertauschen Sinn und Un-Sinn leicht die Seiten, auch Logik bzw. ihre Mißachtung wird damit zur bloßen Spielform für die Weiterbearbeitung. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, daß gerade dadurch Botschaften auf assoziativem Wege freigesetzt und auch erkannt werden können, die so nur durch das Aufsprengen der traditionellen Manifestform möglich sind. Schwitters uneindeutige Manifeste sind Provokationen. Darin unterscheiden sie sich nicht von anderen Avantgarde-Manifesten. Sie provozieren die Auseinandersetzung mit Sinn und Un-Sinn nicht nur des Manifestierens, sondern' mit seinem künstlerischen Tun überhaupt. Auch darin steht Schwirters sicher nicht allein. Seine spezifische und unverwechselbare Manifestpraxis liegt in der Art und Weise begründet, wie er auch die erst noch zu erwartende Aktivität des Publikums quasi im Vorgriff'entformelt' und zum 'Material' seines 'Werks' macht. Darin beruht die Uneindeutigkeit seiner Manifeste; auch sie werden zum intendierten Gesamtkunstwerk, in dem selbst Paradoxe ihren Platz haben - sogar ein Paradoxon wie dieses: "Ich sage nämlich das Gegenteil, aber nicht immer".
Anmerkungen 1 Kurt
Schwitters, zit. nach Schmied 1971: 10.
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Was nicht ausschließt, daß Zeitgenossen eine naturalistische Programrnschrift wie earl Bleibtreus Revolution der Litteratur (1886) rückblickend als 'Kampfmanifest' oder gar 'Kriegsmanifest' - also unter Aufnahme des offlziellstaatlichen Wortgebrauches von 'Manifest als 'Staatserklärung', bezeichnen können (Bleibtreu 1973:102, 101); zum Sprachgebrauch vgl. auch van den Berg (1997). 2
3
V gl. das Faksimile der Handschrift bei de Villers 1986:40ff.
De Villers 1986: 105f.; die russische Übersetzung führt übrigens ebenfalls das Wort 'Manifest' im Titel, die englische Fassung benutzte nicht das Wort 'manifesto', sondern 'declaration': Declaration of Futurism (de Villers 1986: 13 lff.; 126f.).
4
Brief von Marinetti an H. Maassen, Ende 1909. In: de Villers 1986:143; die Hervorhebungen hier und in den folgenden Zitaten fmden sich im Original. 5
Vgl. Oskar Kanehl: "Futurismus. Ein nüchternes Manifest" (1913) und August Stech [d.i. Franz Pfemfert]: "Aufruf zum Manifestantismus" (1913), beide in: AsholtIFähnders 1995:59; 63f. 6
7
Vgl. die Auflistung in: Index Expressionismus 1972, Bd 18: 1152-1161.
8
Schwitters 1973 :206; zum i- Gedicht vgl. auch Scheffer 1971: 194ff.
Versalien im Original; das Zitat stammt aus dem parallel in deutscher und französischer Sprache abgefaßten Einleitungstext des Heftes (ohne Überschrift, in: Merz 2, 1924, Nr 8 [April/Juli], ohne Seite); vgl. Bruhns 1972:34ff. 9
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1997
"Die ganze Welt ist Manifestation u. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste. Darmstadt.
Berg, Hubert van den 1997 "Zwischen Totalitarismus und Subversion. Anmerkungen zur politischen Dimension des avantgardistischen Manifests". In: Asholtl Fähnders 1997:58-80.
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Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden. Hrsg. Dudenredaktion unter Leitung von Günther Drosdowski. 2., völlig neu bearb. und erw. Ausg. Mannheim usw. Bd 5, Sp. 2190
Eco, Umberto 1996 Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. München. (=dtv wissenschaft. Bd 4682) Fähnders, Walter 1995 ,,'Der Widerspruch des Publikums als Kunstfaktor' . Avantgarde und Theater in den zwanziger Jahren". In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 1, 115-142. Grawe, Gabriele Diana 1993 "Merzbühne und Normalbühne Merz. Zum Happeningcharakter der Bühnentheorie von Kurt Schwitters". In: Schaub 1993:7280. Index Expressionismus 1972 Bibliographie der Beiträge in den Zeitschriften und Jahrbüchern des literarischen Expressionismus 1910-1925. Hrsg. Paul Raabe. 18 Bde. Bd 18. Nendeln. Kluge, Friedrich 1995 Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. Aufl. BerlinI New York
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Das literarische Werk. Bd 2: Prosa 1918-1930. Hrsg. Friedhelm Lach. Köln.
1981
Das literarische Werk. Bd 5. Manifeste und kritische Prosa. Hrsg. Friedhelm Lach. Köln.
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MANIFESTE DES 'NEUEN MENSCHEN' Die Avantgarde und das Utopische
Michael Stark
Im Bereich von Literatur, Musik, Film, bildender Kunst und Architektur ist das Manifest gemeinhin als literarische Grundsatzerklärung definiert, in der Künstlergruppen oder einzelne Künstler ihre künstlerischen Auffassungen öffentlich darlegen. Zumeist geschah das, um vorgängig und programmatisch oder nachträglich und reflexiv konzeptionelle Besonderheiten und innovative Qualitäten der eigenen Kunstprodukte zu verdeutlichen und auf diese Weise deren Rezeption und Wirkung zu beeinflussen. Aus literaturhistorischer Sicht erscheint das Genre als Symptom sowohl der Kommerzialisierung des kulturellen Lebens als auch der Differenzierung des Publikums und der Autorschaft (cf. Bucher u.a. 1976:161-308). Doch wird damit nicht Intention als solche, sondern nur ihr Transfer problematisiert. Literaturtheoretisch stellt sich lediglich die Frage, ob derartige ästhetische Manifeste und Proklamationen auch jene analytische Relevanz besitzen, die sie beanspruchen. Fraglich ist nämlich generell, ob die Kunstwerke halten, was die Künstlerästhetik verspricht. Daher unterscheidet hermeneutische Interpretation zurecht zwischen der immanenten Poetik bzw. Ästhetik des Kunstwerks selbst und den verschiedenen Formen seiner poetologischen bzw. ästhetischen Programmatik und Reflexion.) Was hingegen die Struktur und Funktion von Manifesten der Avantgarde angeht, drängen sich Zweifel auf, ob diese Herangehensweise genügt, die Spezifik solcher Proklamationen zu erfassen.
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Mit der 'Klassischen Modeme' und den historischen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts etabliert sich nämlich ein literarischer 'Manifestantismus'(AsholtIFähnders 1995:XVII), der die Grenzen zwischen Manifest und Kunstwerk überschreitet und den Akt des Postulierens und Proklamierens selbst als künstlerischen Vorgang begreift. Futurismus, Dadaismus und Surrealismus haben sich immer wieder in Manifesten artikuliert, die nicht nur ästhetisch 'gestylt' sind, sondern häufig mit der Erwartung spielen, hier werde eine ungewohnte Kunstpraxis erläutert oder aufgeklärt. Zwar lassen avantgardistische Manifeste keinen Zweifel an der Absicht ihrer Urheber, die gesellschaftliche Institution Kunst und Literatur zu erschüttern, und geben durchaus Strategien und Ziele der beabsichtigten Destruktion zu erkennen. Doch sind sie kein sekundärer Kommentar, sondern genuiner Bestandteil der avantgardistischen Inszenierung von Kunst als Infragestellung des bürgerlichen Kunst- und Literatursystems. "Die Bildungsund Kunstideale als Varieteprogramm: das ist unsere Art von 'Candide' gegen die Zeit. [... ] Die grellsten Pamphlete reichten nicht hin, die allgemein herrschende Hypokrisie gebührend mit Lauge und Hohn zu begießen" (1916, Best 1974:291), steht bei Hugo Ball über die revoltive Stimmung im Zürcher 'Cabaret Voltaire' zu lesen. "Manifeste schreibt man, um besser verstanden zu werden, aber es ist besser, nichts zu schreiben" (1970, Riha 1977:6) meinte Raoul Hausmann im Blick auf den politischen Aktionismus des späteren Berliner Dada. Am radikalsten verwirklichte sich der avantgardistische Manifestantismus daher im Anti-Manifest, das seinen eigenen Anspruch dementiert oder durch Paralogismen und Nonsens auflöst, und im Pseudo-Manifest, das Parteipropaganda und kommerzielle Reklame persifliert, indem es abstruse Forderungen erhebt oder absurde Versprechungen abgibt. Sie subvertieren die Intention des Genres überhaupt. Weniger paradox auftretende Manifeste setzen sich über intentionale Gattungskonventionen hinweg: "Wir wollen: Aufreizen, umwerfen, bluffen, triezen, zu Tode kitzeln, wirr, ohne Zusammenhang, [... ]. Wir propagieren den Stoffwechsel, den Saltomortale, den Vampyrismus und alle Art Mimik." (1915, AsholtlFähnders 1995:96) eröffneten Ball und Richard Huelsenbeck in einem prä-dadaistischen Manifest. "Wir wollen nichts als frech bei jeder Gelegenheit sein!" (1915, AnzJStark 1982:63) verkündete Hugo Kersten pseudonym als sein manifestantisches 'A.Undo'. Derlei
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Kundgaben untergraben nicht nur die Funktion des Kunstmanifestes, Auskünfte zur Ästhetik und Poetik zu geben, sondern negieren Kunst und Literatur als Instanzen sinnvermittelnder Kommunikation. Aber auch in weniger rigorosen Proklamationen werden der Anspruch von Autor- bzw. Urheberschaft und das organische Kunstwerk als Garant des Sinntransfers infrage gestellt. Im übrigen sind avantgardistische Objekte, Textvorgaben und Aktionen als künstlerische Versuchsanordnungen kalkuliert, die automatisierte Kunst-Sinn-Erwartungen enttäuschen, um Kunstkommunikation in direkte Interaktion zu überführen, d.h. situative Reaktionen und spontane Folgehandlungen freizusetzen. Daher kann man Avantgarde-Manifeste als teils formale, teils inhaltliche Problematisierung von "Intentionalität"2 in ästhetischer Produktion und Rezeption betrachten. Es ist angezeigt, die damals manifestierte Antihermeneutik sowohl historisch in ihrem politisch-ideologischen Kontext zu deuten, als auch systematisch nach dem kunsttheoretischen Potential zu fragen, das sie enthält. Paradoxerweise gilt nämlich: "Die Avantgarde bewirkt mit ihren Manifesten nicht das Ende der Kunst, sie schafft letzten Endes sogar eine neue Ästhetik." (AsholtlFähnders 1995:XVIf.) Um noch einen Schritt weiter zu gehen: Es spricht vieles dafür, künstlerische Avantgarden kunst- und literaturgeschichtlich als Träger künstlerischer ,Jnstitutionalisierung der Dauerreflexion über Kunst" (Jäger 1990:236) zu betrachten. 3 Anders gesagt: Die historische Avantgarde entdeckt die pragmatische Dimension von Literatur und Kunst, d.h. das Verhältnis von Zeichen und Zeichenbenutzer, als ihr künstlerisches 'Material'. Sie behandelt das Manifest, aber auch andere Gebrauchsformen direkter Übermittlung wie Annonce, Plakat, Zeitungsmeldung, Telegramm, Flugblatt und Postkarte als kunstfähige Medien. Neuartige Verfahren wie Assemblage, Collage und Montage dienen derselben Absicht, den Kunstbegriff zu entgrenzen. Kunsttheoretisch formuliert, wird die substantielle Kunstauffassung der Tradition zugunsten einer virtuellen und empirischen verabschiedet, die nicht länger zu wissen vorgibt, was Kunst 'eigentlich' ist, sondern in experimentell angelegten Kommunikationsprozessen erst aufdeckt, wer was warum und mit welchen Konsequenzen für Kunst bzw. Literatur hält. Wenn heute als gegenstandsadäquate Einstellung in Sachen Kunst weithin akzeptiert ist, zunächst einmal als Kunst gelten zu lassen, was Künstler als Kunst deklarieren, handelt es sich fraglos um einen Effekt der avantgardistischen Erweiterung des Kunstbegriffs zu Beginn des Jahrhunderts. Doch kann
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man nicht behaupten, dieser ästhetische Liberalismus habe eingelöst, was der historischen Avantgarde als Befreiungsakt vorschwebte. Wird jenseits der Vielfalt und Widersprüchlichkeit avantgardistischer Manifestationen nach einem Projekt gesucht, das die historischen Avantgarde-Ismen miteinander verbindet, scheint ihnen das Ansinnen gemeinsam, die Trennung von Kunst und Leben überwinden, oder - um Walter Benjamin zu zitieren - "mit einer Praxis brechen zu wollen, die dem Publikum die literarischen Niederschläge einer bestimmten Existenzform vorlegt und diese Existenzform selber vorenthält." (cit. AsholtlFähnders 1995:XVI) Von einer durchaus paradoxen Antikunsthaltung aus, welche die Anwendung üblicher Kategorien fur 'Kunst' auf die eigene Produktion unmöglich zu machen versuchte, wollten die Künstlergruppen der europäischen Avantgarde vor allem neue Möglichkeiten der künstlerischen Selbstverwirkl ichung eröffnen. Das bedeutete fiir sie ein vielschichtiges 'Stadium des Experimentierens ' , das auf ein fundamentales, lebensphilosophisch geprägtes, vom Bewußtsein der Gleichzeitigkeit getragenes 'Erleben' zielte: auf ein aus den Trümmern der bürgerlichen Kultur entstehendes Gesamtkunstwerk 'Leben'. (Riha 1977:173) Wolfgang Asholt und Walter Fähnders haben darin die "Utopie eines Ganzheitsentwurfs" konstatiert und das avantgardistische Modell "einer anderen, nicht länger vom Leben getrennten Kunst" (Asholtl Fähnders 1995 :XVII) als utopisches Projekt der Aufhebung von Kunst in einer veränderten Lebenspraxis gedeutet, fiir welche künstlerische Betätigung selbstverständlich und integral geworden ist. Um es nochmals zu betonen: Die historischen Avantgardebewegungen hatten mitnichten vor, der Kunst ein Ende zu bereiten, sondern durch künstlerische Alternativen zur zeitgenössischen Kunst die gesellschaftliche Erscheinungsweise von Kunst als Eigentum und symbolisches Kapital einer affirmativ gewordenen bürgerlichen Kultur zu beenden. Beabsichtigt waren Fanale radikalen künstlerischen Widerstands gegen eine aggressive Bürgerlichkeit, die man keineswegs grundlos für die "grandiosen Schlachtfeste und kannibalischen Heldentaten" (Ball: 1927 :91. Eintrag v. 14. April 1916) des Ersten Weltkriegs verantwortlich machte. Damit rechtfertigten avantgardistische Künstler auch ihr ideologisches Engagement, das anfangs noch dandyhaft-bohemische Züge trug, ehe es in der Anlehnung an Anarchismus und Linksradikalismus, aber auch an Sowjet-Kommunismus und italienischen Faschismus zu
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Übereinstimmungen mit der politischen Avantgarde kam, die sich auf ihre totalitären Implikationen hin befragen lassen müssen. Das betrifft ganz besonders das Verhältnis zwischen literarischem Avantgardismus und utopischen Denkformen, die seit dem Untergang der beiden folgenreichsten Totalitarismen gegenwärtig einer grundsätzlichen Revision ausgesetzt sind. (cf. Saage: 1992) Spezieller hebt solch nachgeholte Ideologiekritik auf das Leitbild des 'Neuen Menschen' ab, das wie kein zweites Kunst und Politik in der ersten Hälfte des Jahrhunderts bewegt hat. Da es bekanntlich der bolschewistischen wie der nationalsozialistischen Gewaltpolitik als Legitimationsfigur für autoritäre Edukation und politische bzw. biologische Selektion diente, tut sich suggestive Rhetorik relativ leicht, den utopischen Topos mit der Geste notwendiger Nachaufklärung zu erledigen: "Wer sich das Bild des Neuen Menschen vor Augen hält, jenes leidenschaftslosen und ergebenen, in der bloßen Funktion zur Erfiillung gelangenden Wesens, [... ], wird es in den Kommissaren der totalitären Regime wiedererkennen. In dem befohlenen oder manipulierten Jubel auf den Straßen, den Hymnen und Gedichten, hallen, wie verzerrt auch immer, die Glückskommandos der Schreibtischpropheten von ehedem nach, und auch die Brüderlichkeitsphrasen dieser Systeme, ihre Bigotterie und moralische Versäuerung sind keineswegs Entartung der schönen Projektionen, sondern deren Fortsetzung ins Leben." (Fest 1992: 17) So stehen Kunst und Literatur des expressionistischen Jahrzehnts, deren zentrales Hoffnungsmotiv auf die innerer Erneuerungssehnsucht und Wandlungsfähigkeit des Menschen gründete, abermals unter Verdacht, künstlerisches Vorspiel und intellektueller Fundus für totalitäre Demagogen gewesen zu sein. Ähnliches hatte einst Alfred Kurella bei Gelegenheit der marxistischen "Expressionismus debatte" (cf. Schmitt 1973) zum Faschismusvorwurf präzisiert, während die Gegenseite ihre Kampagne gegen die künstlerische Moderne unter dem entgegengesetzten Vorwurf des "Kulturbolschewismus" (cf. Anon. 1932) fiihrte. Schon wegen dieser Eintracht, mit der die politischen Extreme den ästhetischen Utopismus liquidierten, verbietet sich jede kurzschlüssige Ableitung. Konfrontiert man die zum Kernbestand der klassischen Utopietradition zählende Vision des 'Neuen Menschen' dagegen in der Absicht, Erkenntnisse zu gewinnen, statt vorhandene Meinungen zu bestätigen, sind Differenzierungen unvermeidlich. Verfolgt man das Leitbild des 'Neuen Menschen' als Topos einer "säkularen Religionsgeschichte der Moderne" (cf. Küenzlen 1994), er-
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scheint dessen Verengung auf eine einzige Definition oder einen einzigen Kontext unzulässig. Rekonstruiert man das Leitbild aus literarischen Gestaltungen in der Zeit des Expressionismus, stellt sich sogar hier noch die Annahme einer homogenen Idealvorstellung als falsch heraus. (cf. Knapp 1979:131-151) Auch aus diesem Grund wird man umgekehrt der enthusiastischen Apologie Wolfgang Rothes nur bedingt zustimmen können, wonach "der für die Zukunft benötigte Menschentyp ziemlich genau dem Leitbild des expressionistischen 'neuen Menschen'" (Rothe 1979:167) entspricht. Noch zeitgenössisch meldeten sich Zweifel an: in expressionistischen Dramen beispielsweise, die ihre Protagonisten neuer Sozialität und Solidarität scheitern lassen. (cf. Riedel:1970; Kellner 1983:582-599) Vor allem aber die grundstürzende Infragestellung des humanistischen Menschenbilds durch die Dadaisten untergräbt jede naiv-idealistische Utopie des 'Neuen Menschen' als eines Gattungswesens, das nicht länger vom Egoismus bestimmt wird und von sich aus darauf verzichtet, seine persönlichen Interessen auf Kosten der Allgemeinheit durchzusetzen. Daraus ist ein spezifisch avantgardistisches Verhältnis zur utopischen Intention zu folgern. 2.
Vergleicht man Avantgarde-Manifeste mit typischen Proklamationen des literarischen Expressionismus, die abgrundtiefes Unbehagen an der bürgerlichen Kultur und Gesellschaft und ein unbedingter Wille zu deren radikaler Veränderung zweifellos eng miteinander verbindet, bleiben programmatische und formale Differenzen nicht zu übersehen. Sie bestätigen den seinerzeit von Peter Bürger schon eingeräumten Vorbehalt, Expressionismus nur "mit Einschränkungen" (1974:44) als historische Avantgardebewegung zu verbuchen. Wie expressionistische Poetik und Ästhetik weder den überkommenen Literatur- und Kunstbegriff auflöst, noch eine Kunstpraxis postuliert, die mit der 'Institution Kunst' bricht, bleibt ihr auch die genuin avantgardistische Idee einer Überfiihrung von Kunst in Leben weithin fremd. Gleichwohl konnte der eigentliche deutschsprachige Beitrag zur europäischen Avantgarde an Normbrüche des Expressionismus anknüpfen, die sich über bislang gültige ästhetische Verbote fiir kunstgerechten Ausdruck in Stil und Metaphorik, Wort- und Themenwahl hinweggesetzt hatten.
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Als avantgardenah empfanden die Dadaisten allein den sprachskeptischen, wahmehmungs- und erkenntniskritischen Code der frühexpressionistischen Literaturprovokation. Mit dem ekstatisch-pathetischen und messianischen Code des späteren O-Mensch-Expressionismus, aber auch mit dem gesinnungsästhetischen und moralisch-appellativen Code des literarischen Aktivismus (cf. Rothe 1969) konnte man dagegen nichts anfangen. In beiden Tendenzen, so lautete der Avantgardestandpunkt, war die Kunstrevolution auf halbem Wege stecken geblieben und in die 'Normalität' üblichen Kunstbetriebs und gewöhnlicher intellektueller Opposition zurückgesunken. Dada-Manifeste wie Hausmanns "Der deutsche Spießer ärgert sich" waren nicht etwa an das Bildungsbürgertum adressiert, sondern wollten die Kreise um Franz Pfemfert und Herwarth WaIden, Kurt Hiller, Robert Müller und Ludwig Rubiner und Autoren wie Johannes R. Becher, Walter Hasenclever, Fritz von Unruh und Franz Werfel treffen, d.h. all denen ein Ärgernis geben, die sich damals rur Vermittler und Vertreter der ästhetischen und politischen Gegenkultur hielten: Die absolute Unfiihigkeit, etwas zu sagen, ein Ding zu fassen, mit ihm zu spielen - dies ist der Expressionismus, [... ]. Der schreibende oder malende Spießer konnte sich dabei ordentlich heilig vorkommen, er wuchs endlich irgendwie über sich selbst hinaus in ein Unbestimmtes, allgemeines Weltgedusel - 0 Expressionismus, du Weltwende der romantischen Lügenhaftigkeit! Unerträglich wurde die Farce aber erst durch die Aktivisten [... ]. Diese Schwachköpfe, [... ], triefen nun von einer Ethik, der man nur mit der Mistgabel sich nähern kann. Diese Dussel, die unfähig sind, Politik zu treiben, [... ]. (1919a, AnzJStark 1982:180)
Die assoziierte literarische und rhetorische Beschwörung des 'Neuen Menschen' kommentierte die Dada-Avantgarde daher in der Regel mit sarkastischer Ironie und zynischer Polemik. Von seinem eigenen, eher untypischen Beitrag zum Korpus so betitelter Manifeste4 meinte sich Huelsenbeck noch nachträglich als von einem ihm selbst unverständlichen Rückfall in die "Propagation des Menschlichkeitsschwindels"s distanzieren zu müssen. Ein wichtiges Stichwort ist damit gefallen. Denn der Soupcon der Avantgarde gegen die emphatische Verkündigung des 'Neuen Menschen' galt in erster Linie einem literarischen und metaphysischen Humanismus, der sich angesichts katastrophischer Entwicklung als Wunschprojektion und Fortschrittsideologie entlarvt hatte. Umso weniger konnte sie dem humanitären "Schreibtisch-Optimismus" (1915:931) abgewinnen, wie Ferdinand Hardekopf den gut-
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gemeinten, aber wirklichkeitsfremden Idealismus nannte, der so viele Manifeste des brüderlichen Geistes (cf. Krell 1920) im Expressionismus der späteren Kriegsjahre und in der Revolutionszeit erfUllte, ehe die moralischen Appelle auf den Böden der jeweils neuen Tatsachen praktischer Folgenlosigkeit überfUhrt wurden. Ohne die problematischen Modalitäten und prekäre Simplifikationen radikaler Infragestellung der Wertschätzung des Menschen als solchen zu leugnen, geht es nicht an, diesen 'Antihumanismus ' der historischen Avantgarde als ein Plädoyer fiir Inhumanität und Barbarei zu denunzieren. Sie reagierte wie "Antihumanistisches Denken" (cf. FerrylRenaut 1987) heutzutage mit diskurskritischen Methoden erstmals mit künstlerischen Verfahren auf die unleugbare und weiterwirkende Grundlagenkrise des traditionellen Humanismus und seiner Naivitäten und Täuschungseffekte, die gerade auch in repräsentativen Manifesten des 'Neuen Menschen' enthalten sind: Alle künftige Rede, Aussprache, Literatur, Mitteilung fürs Leben wird [ ... ] metaphysisch sein. Übersetzt ins Vokabular unserer Realität, der Realität von Wesen und der großen Menschengemeinschaft, heißt das: sie wird ethisch sein. (Rubiner 1916, Pörtner 1961:461)
Ethos und Pathos solcher Aufrufe zum moralischen Manifestantismus erneuerten die angeschlagene anthropozentrische Weltdeutung, deren Bedeutungsverlust sich in ihrer programmatischen Überhöhung widerspiegelt. Hyperbolische Wendungen überbrücken bei Rubiner und anderen die Kluft zwischen Anspruch und Realität: Das Vorbild für die Ereignisse ist der Mensch. Der Mensch ist die Mitte der Welt. Um ihn, seinen Händen heiß entzischend von neugewonnener Gestalt, rast seihe Schöpfung, die Welt der Ereignisse; stets bereit, wieder wirbelndes Chaos zu werden und den eigenen Schöpfer zu ersticken. [... ] Der Mensch ist die Mitte der Welt - er sei die Mitte der Welt! Die stärkste Forderung des Menschen heißt: Der Mensch in der Mitte. (1917:5f.)
Doch erst dem geläuterten "Adam" steht diese zentrale Stellung wieder zu: der Neue Mensch [... ] wird dem Menschen lassen, was ihm zukommt, dem Ding geben, was des Dinges, dem Tier, was des Tieres ist. Er wird keine zwingende und keine erhebende, keine trennende und keine bindende Beziehung schaffen. Er wird alles Lebende bei sich selber und gleich in der Hand Gottes sein. (Otten 1918:81)
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Nicht zufällig im Rückgriff auf die Sprache des theologischen Diskurses wird ein Menschsein propagiert, das nicht in materieller Abhängigkeit gefesselt, sondern durch geistige Überlegenheit bestimmt ist, nicht länger entfremdet, sondern im Einklang mit sich und seiner Umwelt existiert; "Ein Menschsein" - das sei im Hinblick auf die literarischen Gestaltungen des 'Neuen Menschen' ergänzt -, "das erst durch Revolte, Entdinglichung, in vielen Fällen auch durch die theatralische Vereinsamung zu gehen hat, um dann, [... ], zu einer neuen, oft allzu vage definierten Existenzform zu finden." (Knapp 1979:132) Nicht zufällig erwähnt von Unruh eine der fundamentalen 'Kränkungen' des Anthropozentrismus als Ursprung utopischer Intention: "Und hat Kopernikus diese Erde aus dem Zentrum in den rasenden Tanz des All geschleudert, unter Stäubchen und Sonnen: wir stellen den Menschen wieder in das Herz dieser Schöpfung." (1924: 175) Schonungslos gaben die Dadaisten derlei Annoncen literarischer Weltverbesserung und schriftstellerischer Menschheitsbeglückung der Lächerlichkeit preis. Hausmann verbat sich das komplette Schrifttum der "Herren von Geschlecht, die uns ihre Unruhe ins Gesicht malen" (1919c, Riha 1977:49), und forderte später zum "brutalsten Kampf gegen alle Richtungen sogenannter geistiger Arbeiter" (Golyscheff u.a. 1919, Riha 1977:61) auf. Huelsenbeck widmete dem toten Rubiner den verächtlichen Nekrolog: "Hat sich an 'melioristischen' Theorien überhoben [... ]." (1920a, Riha 1977: 17) Nichtsdestoweniger verdient die Zeit- und Kunstdiagnose der Dadaisten zumindest dieselbe Beachtung wie die expressionistischen und aktivistischen Hoffnungen, noch einmal an die Tradition des humanistischen Idealismus anknüpfen zu können. Was die Desillusionierung des hergebrachten Menschenbilds anbelangt, waren beispielsweise Hugo Balls am 7. April 1917 vorgetragene Ausruhrungen über "Kandinsky" der andernorts manifestierten Kulturkritik um einiges voraus. "Die von der kritischen Philosophie vollzogene Entgötterung der Welt, die Auflösung des Atoms in der Wissenschaft, und die Massenschichtung der Bevölkerung im heutigen Europa" sind hier als exemplarische Erscheinungen des Zerfalls von sinn- bzw. einheitsstiftenden Ordnungskategorien überhaupt begriffen: Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären. Kirchen sind Luftschlösser geworden. Überzeugungen Vorurteile. Es gibt keine Perspektive mehr in der moralischen Welt. Oben ist unten, unten ist
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oben. Umwertung aller Werte fand statt. [... ] Die Prinzipien der Logik, des Zentrums, Einheit und Vernunft wurden als Postulate einer herrschsüchtigen Theologie durchschaut. Der Sinn der Welt schwand. [... ] Chaos brach hervor. Tumult brach hervor. Die Welt zeigte sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte. Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Zufall, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt [... ] Der Mensch verlor seine Sonderstellung, die ihm die Vernunft gewahrt hatte. [... ] Der Mensch, der göttlichen Illusion entkleidet, wurde gewöhnlich, [... ] man hatte alle Veranlassung ihn nicht zu genau zu besehen, wenn man nicht voller Entsetzen und Abscheu den letzten Rest von Achtung vor diesem Jammer-Abbild des gestorbenen Schöpfers verlieren wollte. (AnziStark 1982:124)
Obschon Dehurnanisierung, Ichdissoziation, Desorientierung, Angst und Wahnsinn zentrale Themen des literarischen Expressionismus waren, ist die Differenz zur Avantgarde nirgendwo greifbarer. Sinnauflösung, Transzendenzverlust und Wertezerfall werden von ihr nämlich nicht eindeutig negativ erfahren und als beklagenswerte Defizite betrauert, die zu besonderen Leistungen künstlerischer Sinnstiftung und Einheitssuche zwingen. Zumal im Dada wird der Ganzheitsverlust der Moderne im Gegenteil als Entlastung der Künstler von überwältigenden Sinndeutungsfragen erlebt und als Rechtfertigungshorizont für eine 'prähumanistische' Kunstpraxis eingesetzt, die sich ihres spielerischanarchischen und spontan-vitalen, aber auch ihres zügellos-regressiven und elementar-hemmungslosen Nullpunkts versichert. (cf. Bergius 1989; Hein 1992; Korte 1994) Die Konsequenzen der Diagnose vom Ende der Ganzheitsfiktionen künstlerisch nicht verarbeitet zu haben und deshalb auch die zeitgenössische Wirklichkeit nicht illusionslos ertragen zu können, bildet das Grundmotiv der Expressionismuskritik in den Manifesten des Berliner Dada: Der Expressionismus ist keine Spontan-Aktion. Er ist die Geste der müden Menschen, die aus sich heraus wollen, um die Zeit, den Krieg und das Elend zu vergessen. Hierzu erfanden sie sich die 'Menschlichkeit', gingen skandierend und Psalmen absingend durch die Straßen, in denen die rollenden Treppen fahren und die Telephonapparate schrillen: Die Expressionisten sind [... ] müde Menschen, die der Grausamkeit der Epoche nicht ins Gesicht zu sehen wagen. (Huelsenbeck 1920c, AnziStark 1982:127)
Gegen das geistig-moralische Pathos der Erneuerung des Menschen setzten die Dadaisten ein künstlerisches 'Ethos' nachhaltiger Destruktion des intentionalen Menschenbilds. Hausmann nannte seine Skulptur
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"Mechanischer Kopf' auch den "Geist unserer Zeit", "um zu zeigen, daß das menschliche Bewußtsein nur aus unbedeutendem Zubehör besteht, das man ihm äußerlich aufklebt. Sie ist eigentlich nur ein Friseur-Kopf mit schön arrangierten Haarlocken." (1970: 10) Avantgardeferne Kritik unterstellte der dadaistischen Demontage des 'Homo sapiens' allgemein die Absicht zynischer Akklamation tatsächlicher Dehumanisierungsvorgänge und verurteilte den Dadaismus als Ausdruck eines menschenverachtenden Defätismus. Aber auch die expressionistische Kunstszene schlug heftig zurück: Für WaIden handelte es sich nur um "radikale Dilettanten, die das Kunstwerk mit dem Blödsinn schaffen wollen" (1919:1). Um ein vorläufiges Fazit zu ziehen: Ästhetische Avantgarden verneinen aufgrund ihres primären Interesses an künstlerischer Entfaltung rigide Ordnungs- und Normsysteme jeder Provenienz. Futurismus, Expressionismus und Dadaismus trafen sich deshalb historisch in aggressiver Antibürgerlichkeit, die mit vitalistischem Verve vorgetragen wurde und häufig mit Nietzsches "Zarathustra" im Übermenschgestus daherkam: Der neue Mensch hält folgende Rede an seine Jünger und Zuhörer: Suchet euch einen Mittelpunkt rur euer Leben und beginnet wieder an die großen Eigenschaften der Heiden zu glauben. Wo ist euer Plutarch, aus dem ihr lernen könnt, was es heißt, fUr geistige Dinge zu sterben? [... ] Der neue Mensch weiß den Tod zu fUrchten um des ewigen Lebens willen; denn er will seiner Geistigkeit ein Monument setzen, er hat Ehre im Leib, er denkt edeler als ihr. Er denkt: Malo libertatem quam otium servitium. Er denkt: alles soll leben - aber eins muß aufhören - der Bürger, der Dicksack, der Freßhans, das Mastschwein der Geistigkeit, der Türhüter aller Jämmerlichkeiten. (Huelsenbeck 1917, Anz/Stark 1982: 134f.)
Ungeachtet dieses subkulturellen Radikalismus, der die Avantgarden eint, mischen sich anarchisch-subversive und ästhetisch-revolutionäre Motive zu Gemengelagen, die sowohl Positionen politischer Indifferenz zulassen als auch für solche des politischen Extremismus offen sind. Vision und Figur des 'Neuen Menschen' wurden angesichts ihrer programmatischen Inflation im Expressionismus vom politisierten Berliner Dada als "blutleere Abstraktion" abgelehnt und zusammen mit den "weltverbessernden Theorien" (Huelsenbeck 1920b, AnziStark:77) der Aktivisten verworfen, die den Traum von der Macht einer parteiunabhängigen Internationale der Intellektuellen träumten. Noch weniger war das nachgeholte Bekenntnis zur Revolution, das Lothar
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Schreyer fiir den "Sturm"-Kreis ablieferte, dazu angetan, der Evokation des 'Neuen Menschen' avantgardistische Relevanz zu verschaffen: Wir erkennen den neuen werdenden Menschen an seiner Tat. Seine erste Tat ist die Abkehr von der alten Welt. Er tut nicht mehr, was die alte Welt von ihm fordert. Oft ist sein Tun nur schüchtern. Denn vielen ist der Weg schwer und ihre Kraft ist gering. [... ] Einer hat erkannt, daß jede Wohltätigkeitsveranstaltung schlecht ist und lehnt nun jede Teilnahme ab. Eine Frau hat erkannt, daß sie nicht besser wird, wenn sie ihre Reize herausputzt, und tut es nicht mehr. Einer weiß, daß die Kirche keine Christen macht, und läßt sein Kind nicht taufen. Einer sieht die Schlechtigkeit der Presse der Gesellschaft und liest diese Presse nicht mehr. Das sind erste kleine Schritte der Menschen, die sich fortwenden von der alten Welt. Dann kommen die entscheidenden Taten, durch die der Mensch die alte Welt verläßt; sie in sich zerbricht und vergißt. (1919, AnziStark 1982:143)
Um welche Taten es sich genauer handeln könnte, dazu blieben die Angaben nebulös. Dada Berlin war dagegen längst konkret geworden und bereit, die Anwendung revolutionärer "Gewalt (der Diktatur des Proletariats)" (Hausmann 1919b:276) zu akzeptieren. Wie schon die ethisch-ästhetische Utopie des 'Neuen Menschen', wird auch die von den meisten Expressionisten gehegte Utopie einer gewaltlosen Revolution letzten Endes zum bürgerl ichen Trugbild erklärt. In den noch latent revolutionären Anfangsjahren der Weimarer Republik verstanden sich die meisten Dadaisten als künstlerische Vorhut der verfassungskritischen und regierungsfeindlichen linksradikalen Opposition, die an die Notwendigkeit und aktuelle Mög-lichkeit einer proletarischen Revolution glaubte (cf. Sheppard 1980:39-74), aber als anarchistisch-antiautoritäre und partei- und zentralismusfeindliche Tendenz immer wieder in Gegensatz zur politischen Organisation des Kommunismus und deren offizieller Kunstauffassung geriet. Während der von John Heartfield und George Grosz angezettelten "Kunstlump"Debatte (1920, Riha:84-87; cf. FähnderslRector 1974) bezog die marxistische Partei-Orthodoxie gegen den angeblichen Kulturvandalismus der Avantgarde Stellung und befand sich damit auf seiten der bürgerlichen Verfechter ästhetischer 'Ewigkeitswerte' , die aus "Liebe zum Volk und Schamgefühl" ihrer Empörung Ausdruck gaben, "worüber Dada sicher lachen wird, denn Dada wird nicht mehr schamrot und bekommt kein Herzklopfen aus Ehrfurcht vor Menschen [... ]." (Bemson 1920:333) Die attackierten Kulturrevolutionäre hielten dagegen jenen
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Humanismus für unmenschlich, dem im Zweifelsfall die Beschädigung eines Meisterwerks näher geht als das Schicksal von Namenlosen, die wegen ihrer Sehnsucht nach einer besseren Zukunft das eigene Leben wagen. Man kann den Schritt von der kulturrevolutionär-ästhetischen Avantgarde zur politisch-revolutionären im engeren Sinne als den Schritt von der "Vernichtung der Aura ihrer eigenen Hervorbringungen" (Benjamin 1974, S. 463f.) zum Klassenkampf markieren: "Es kann gar nicht 'Kultur' genug vernichtet werden, wegen der Kultur. Es können gar nicht 'Kunstwerke' genug zerstört werden, wegen der Kunst [... ]! Fort mit der Achtung vor dieser ganzen bürgerlichen Kultur!" (Seiwert 1920:418f) Selbst dabei noch ging es um Kunst, nämlich darum, künstlerische Tätigkeit alternativ als wesentliche gesellschaftliche Funktion der proletarisch-revolutio-nären Gegenkultur neu zu verankern. Avantgardisten, die sich darauf fixierten, wollten avantgardistische Programmatik mit dem utopischen Projekt des 'Neuen Menschen' vereinbaren. Mit anderen Unterzeichnern plädierten Grosz, Hausmann und Hanna Höch als Vertreter der Opposition innerhalb der "Novembergruppe", die ästhetische Fonnelkrämerei zu überwinden, durch eine neue Gegenständlichkeit, die aus dem Abscheu über die ausbeutende bürgerliche Gesellschaft geboren wird, oder durch vorbereitende Versuche ungegenständlicher Optik, die ebenfalls in Ablehnung dieser Ästhetik und Gesellschaft eine Überwindung der Individualität zu Gunsten eines neuen Menschentypus sucht. (Dix u.a. 1921, AnzJStark 1982:416)
Unter dem Druck parteiideologischer Richtlinien für die Wahl der geeigneten ästhetischen Mittel zum politischen Zweck war avantgardistischen Positionen auf die Dauer freilich kein Glück beschieden.
3. "Dada will nichts" (1920c, AnziStark 1982:127), behauptete Huelsenbeck in einer der spielerisch paradoxen Selbstmystifikationen der Dadaisten. Natürlich ist das Gegenteil der Fall: Dada ging aufs Ganze. Intention war zuerst und vor allem die vollständige Desillusionierung des auratischen Kunstbegriffs und des ihn umkreisenden idealistischen Bildungskults. Wilhelm Worringer, einer der führenden Kunsttheoretiker des Expressionismus, beschrieb die avantgardistische Methode
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der Dadaisten ganz richtig: "Spotten ihrer selbst und der Kunst und wissen leider nur zu gut, wie und warum. Schindluder treiben sie mit der Kunst, um dem Bürger die Augen endlich darüber zu öffuen, daß sie nicht mehr da ist und daß er vor einer Attrappe opfert. Aber das ist ja nichtjedermanns Sache." (Worringer 1956:121) Wer von Kunst und Literatur Sinn, Trost, Erhebung und Genuß in kontemplativer Einfühlung erwartete, wurde rigoros enttäuscht. Es ging auch allen zu weit, die sozialutopische Inhalte mit dem Prestige des Kunstschönen und moralisch Guten zu heben gedachten, zumal die dadaistische Infragestellung des Subjekts auch das Idol des 'Neuen Menschen' untergrub. Absicht war zugleich, durch die künstlerische Produktion direkte Effekte auszulösen: "Das durch den Dadaismus provozierte soziale Verhalten ist: Anstoß nehmen", und das Produkt sollte öffentliches Ärgernis erregen und Skandal erzeugen: ,,Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredenden Klanggebilde wurde es zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Und es stand damit im Begriff', wie Benjamin als Zeitgenosse meinte, "die taktile Qualität, die der Kunst in den großen Umbauepochen der Geschichte die unentbehrlichste ist, für die Gegenwart zurückzugewinnen." (Benjamin 1974:463f.) Auch wenn es der historischen Avantgarde gelang, damalige Publika zu verunsichern und zu frappieren, ist sie jedoch mit ihrer utopischen Intention, Kunst durch Antikunst in gesellschaftliches Leben zu überführen, gescheitert oder, präziser gesagt, anders erfolgreich geworden als ursprünglich geplant. Denn trotz all ihrer radikalen Provokationen, "den Appetit [zu] verderben an aller Schönheit, Kultur, Poesie, an allem Geist, Geschmack" (BalllHuelsenbeck 1915, Asholtl Fähnders 1995:96) und mit ihren künstlerischen Objekten, Manifesten und Aktionen "unfaßlich" (Hardekopf 1916, AnzJStark 1982:518) und unregistrabel oder "unverdaulich" (Hausmann 1970, Riha 1977:11) zu bleiben, wurde sie nicht nur von der Institution Kunst eingeholt, d.h. gerade durch Anerkennung als 'Kunst' soziokulturell assimiliert, sondern auch ganz gegen die eigenen Intentionen modellbildend für intermediale Verfahren der Kulturindustrie, für Strategien der ökonomischen Reklame und der politischen Propaganda. Als Beitrag zur "Funktionalisierung und Instrumentalisierung der Kunst" (Günther 1989:72) haben die Avantgarden auch politisch und gesellschaftlich nicht-intendierte Wirkungen hervorgerufen. Als kunstreflexive Bewegungen kommt ihnen unzweifelhaft das Verdienst zu, künstlerisch Problemlagen der Modeme sondiert zu haben, die nicht grundlos im Diskurs
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über die "Postmoderne" (cf. Welsch 1988b) wiederkehren. Nach JeanFrancois Lyotard, um einen der Wortführer zu zitieren, soll es geradezu deren Aufgabe sein, "das Werk der Avantgarde-Bewegungen fortzuführen" (1985:30). Primär ist damit auf die avantgardistische Zersetzung vereinheitlichender Kultur angespielt, und diese Destruktion wird als künstlerische Antizipation und Vision einer lebensweltlichen und weltanschaulichen "Pluralität" (Welsch 1988a:183f. et passim) gedeutet, die im realen Pluralismus moderner Demokratien noch immer nicht eingelöst sei und deshalb - als postmoderne Version utopischen Denkens - an die Stelle obsolet gewordener System-Utopien treten kann. Wie dem auch sein mag, von der historischen Avantgarde her lassen sich Linien zu hermeneutik-, humanismus- und utopiekritischen Positionen der Gegenwart ziehen. Ausgangspunkt ist eine Krisendiagnose der Modeme, derzufolge sich der Rationalismus des Fortschrittdenkens und die anthropozentrische Weltsicht inklusive ihrer weltanschaulichen System- oder Einheitskonstrukte definitiv unglaubwürdig gemacht haben: "Bankrott der Ideen" (1927:98, Eintrag v. 12.6.1916), notierte Ball damals, die Weltkriegskatastrophe vor Augen. 6 Den Endpunkt bezeichnen heutzutage kulturreflexive Theoriebildungen, in denen das Denkmodell der 'Dialektik der Aufklärung' zugespitzt und überboten wird. Danach erscheinen die im neuzeitlichen Projekt der Modeme wirksamen emanzipatorischen Ideen, welche die Freiheit des Menschen zu mehren und seine Würde zu schützen behaupten, nicht länger unter der Perspektive entstellter Durchsetzung, sondern in radikalster Fassung als Ursache fortgesetzter Unterdrückung. Ob die Idee des 'Neuen Menschen' deswegen ein für allemal passe ist, weil sie nachgerade als Paradefall einer utopischen Intention erscheint, die schon von überzogenen Vorstellungen über die Perfektibilität des menschlichen Subjekts ausging und sich dann zur Heilsvision verfestigte, bevor sie sich in ihrer totalitären Realisierung als Unheilsprogramm entfaltete, ist gleichwohl eine Frage, die man nicht mit wenigen Worten erledigen kann. Sicher sind einstweilen nur zwei Befunde: Einerseits werden nach wie vor und keineswegs in geringerer Anzahl auch postmodern Evokationen des 'Neuen Menschen' in religiöser oder säkularer Form angeboten, andererseits aber setzt sich die wissenschaftliche und philosophische Entzauberung des souverän agierenden Subjekts, das als Zentrum des unterstellten idealistischintentionalen Handlungsmodells fungiert, weiter fort. Kunst und
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Literatur nach der Jahrhundertwende reflektierten die Zerfallsreihe der homozentrischen Fiktion: war der Stern des Menschen einmal aus dem Herzen des Alls in die Peripherie eines Solarsystems gestürzt, so konnte weder ausbleiben, daß seine Spezies aus dem Telos der Schöpfung in die Kontingenz einer Evolution versank, noch daß sein je spezielles Selbst aus der Autonomie des Bewußtseins in den Bann von Trieben geriet. [... ] Der Erdenmensch [... ] büßte den 'Kosmos' ein als die haltende Heimat, der Gattungsmensch verlor 'Gott' als den gütigen Hirten, der Einzelmensch kam um sein 'Ich' als das eigenste Sein. (Neusüss 1992:79)
Die Deutung dieses Vorgangs als psychologische Kränkung humaner Eigenliebe einmal beiseite gesetzt, handelt es sich um fortschreitende Souveränitätseinschränkungen, die auch Begriff und Anspruch des intentional redenden und handelnden Subjekts depotenzieren. Nicht mehr prinzipiell das 'subjektiv' Intendierte wichtiger zu nehmen als die 'objektiven' Nötigungen, nach denen sich sprachliche Kommunikation und gesellschaftliche Formation vollziehen, ist auch die methodische Pointe der Subjektdezentrierung in den verschiedenen diskursanalytischen Ansätzen, die unter dem Etikett "Post-" oder "Neostrukturalismus" (cf. Manfred Frank 1984) verhandelt werden. Wie die historische Avantgarde kein einheitliches Sinnkontinuum mehr anerkennt, das Produzent, Produkt und Rezipient umgreift, sondern Sinnordnungen als experimentelle Resultate durch Kombination, Fragmentierung und Dekomposition heterogener Materialien herstellt, konzentriert sich das Erkenntnisinteresse am Funktionieren der Diskurse gleichfalls auf die Entstehung von Sinnverhältnissen als Effekte nicht-intentional zurechenbarer Strategien, Konventionen und Rituale. Und wer wollte heute ernstlich noch bestreiten, daß eine von naiven und metaphy-sisehen Illusionen befreite Analyse der 'Conditio humana' das menschliche Subjekt in vieler Hinsicht als heteronom, als Schnittpunkt von Kräfteverhältnissen zu erfassen hat. Es geht also gar nicht um die MortifIkation des Subjekts, auch nicht darum, die Metapher vom subjektlosen Prozeß der Geschichte als AntiHu-manismus, als wissenschaftliche Akklamation der industriellen Roboter-Landschaft mißzuverstehen. Der eigentliche Anti-Humanismus liegt dann schon eher im Idealismus, setzt er doch stets Subjekt-Effekte frei, die suggerieren, Gesellschaft resultiere aus den intentionalen Handlungen freier oder zu befreiender Bürger, und die 'richtige' Gesellschaft sei vor-
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nehmlich das Ergebnis eines Interaktionsspiels, das auf individuelle ethische Haltungen rückgerechnet werden kann. (FohrmannIMüller 1988:14)
Besieht man sich die modernen Verfahrensgesellschaften, ist man versucht, der schon betagten Posthistoire-Diagnose Gehlens recht-zugeben, nach der überhaupt nur noch solche Intentionen zukunftsfähig sein können, die "bereits in die Funktionsordnung, in die Betriebsgesetze" (Gehlen 1963: 316) des globalen Kapitalismus eingegangen sind. Die Erfahrungen unseres Jahrhunderts lehren jedenfalls: Der ethisch-utopische Gesinnungsüberschuß, der die innerweltlich-säkularen Heilsvisionen der Manifeste des 'Neuen Menschen' beflügelte, wurde von den totalitären Systemen funktional verwertet. Mit ihrer transitorischen Position einer Balance des Heterogenen, pluralistischer Indifferenz und anarchischer Praxis entzog sich die ästhetische Avantgarde solcher Indienstnahme. Doch entging auch sie auf Dauer nicht der Wahl zwischen Zynismus und utopischer Intention. 7 Um mit einem Zwischenergebnis zu enden: Das ironische Verhältnis zum Utopischen als der beispielhaften ästhetischen Modalität von Hoffnung kann nicht das letzte Wort sein. Aber der einst erhoffte Sprung vom alten zum neuen Adam wird eine Illusion bleiben.
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Abb. 1 Titelblatt von und Vorrede in der Zeitschrift "Neue Menschen" (Paris 1911).
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YO n å b å g ú ’ K = \Yas \\"ollell Sie? \\Tir halJe'1l chvas zu sagen! UelJrigens . . . Ich bedaure sehr, Ihnen Ilicht Yorlass gebell zu kÖllllen. HalJell Sie Ka l'tYTYPH3M - 3TO TeopHH HCKYCCTBa 6e3 caMoro HCKyccTBa) erklärte der Philosoph und Verteidiger autonomer, selbst-intentionaler Kunst Gustav Spet (1922:44). Die Sprachkunst selber ist demgemäß in poetischen Erscheinungsformen wie Ivanovs
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"Alpenhorn" (AJIbllHHCKHH por) oder Bloks Gedicht "Der Künstler" (Xy.n;O:>KHHK) ihr bester Vermittler. Der Dichter ist Erklärer seiner selbst, Kunst sekundäre Ab-Sicht auf primäre Wahrheit. Ivanov beschließt sein deklaratives Gedicht mit Versen, welche die symbolistischen Correspondances zur mythischen Naturerscheinung erheben und sie in der (unten fett gesetzten) Paronomasie rod - rog- ot - ot - bog- zen - kto - ot mit der (unten unterstrichenen) Lautfolge zvuk - zvuc - zvuk - zvuk - zvuk nach musikalischem Vorbild engftihrt zur Klangfolge ot-zvuk, die selber 'Widerklang', 'Echo' bedeutet. Im Gedicht erklingt die göttliche Natur jenes Widerklangs, der Gott und Wirklichkeit selber als sekundäre Erscheinungen selbstintentional hörbar macht: "TIpßpo.n;a l ú q = .n;ml
ceu por. OHa ~ K =H l q ú =- Bor.
q ú =KaK
l q ú Bml)l{eH, KTO CJIbIllIHT neCHb ß
CJIbIllIHT l q ú K ? =
"Natur ist Widerklang wie dies Horn. Sie klingt Für Widerklang. Und Widerklang ist Gott. Gesegnet ist, wer hört das Lied und hört den Widerklang. "
Parallelismus (slysit x, slysit y) und Inversion (x - otzvuk, otzvuk - y) manifestieren den Doppelklang der poetischen Deklaration unabhängig von der Verlaufsrichtung syntagmatisch. Gegenwart ist im Früheren ebenso enthalten wie im Künftigen: Zeitenfolge wird belanglos. In Bloks (1960a:145f.) Gedicht bekundet das lyrische Ich zum Vertreib apokalyptisch "tödlicher Langeweile" (cMepTeJIbHYIO CKYKY) die Erwartung eines "leichten, zuvor ungehörten Tones" (JIerKHH, .n;oceJIe HeCJIbIllIaHHbIH 3BOH) und gibt so seine Einstellung auf Kammerpoesie und Innovationsästhetik sowie auf das Vorbild der Musik zu erkennen. Schon die zweite Strophe bekennt das Entstehen dieses Tons, dessen adventistisch provozierte Herbeikunft das lyrische Ich mit "kalter Aufmerksamkeit" (XOJIO.n;HbIM BHHMaHHeM) erwartet, "um ihn zu vernehmen, zu befestigen und zu töten" (tIT06 llOHHTb, 3aKpellHTb H y6HTb). Das den Advent in Apokalypse 1o verkehrende Tötungsprinzip wird im Einfangen und Überwältigen des "freien Vogels" (llTHn;y cB060.n;HyIO) bildhaft 'befestigt', der, in den "Paradieses-Sirenen" (cHpeHbI paHcKHe) bereits angesagt, durch den hier nur angedeuteten
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Seher-Vogel Gamajun - "Den Vogel, der den Tod bringen wollte / Den Vogel, der ausflog, die Seele zu retten" - intertextuell auf den Mikrozyklus ornithologisch-poetomythischer Blok-Gedichte des Schwellenjahrs 1899 verweist (cf. GrübeI1995:138-142). Als entfaltete und realisierte Metapher steht der einengende Käfig für den verdichtenden poetischen Bau, in den das lyrisches Ich den freien musikalischen Urlaut "festsetzt" (3aMbIKaIO). Aus ihm erklingt ein Lied, das Zuhörer und Leser erfreuen mag, das lyrische Ich aber bereits langweilt: Das Kunstwerk flillt nur die je letzte Spalte im steten Ennui seines Schöpfers: Es verkehrt den ersehnten Advent des Neuen sofort in die lähmende Apokalypse des Bekannten. Das Prosamodell der philosophisch-literarischen Mischform symbolistischer Deklaration legt Solov'ev mit jenen religionsphilosophischen, nach dem Vorbild von Dostoevskijs Prosadialogen stilisierten Drei Gesprächen (Tpu Pa3Z060pa, 1900) über das Böse und den Fortschritt, über kriegerischen und friedlichen Kampf vor, die in rußlandferner mediterraner Märchenlandschaft von einem politisierenden General und einem moralisierenden jungen Fürsten (Vorbild ist Lev Tolstoj), von einer Dame mittleren und einem Mann unbestimmten Alters geführt werden. Sie "haben sich in diesem Frühling zufällig im Garten einer jener Villen eingefunden, die an den Fuß der Alpen gezwängt, in die azurblaue Tiefe des mittelländischen Meeres blicken")). Eingebettet in den dritten Dialog findet sich ein längeres Gedicht Solov'evs sowie die "Kurze Geschichte vom Antichrist" (KpaTKax rrOBeCTb 06 aHTHxpHcTe). Hier wird eine apokalyptische Vorhersage des kommenden Jahrhunderts in religiöser Gestalt in Szene gesetzt, die das Propheten-Bild des Dichters im russischen Symbolismus bekräftigt und mit der politischen Vision vom Untergang Europas verknüpft. Dieser apokalyptische Ton kennzeichnet die symbolistische Deklaration durchweg, sei es in Gestalt der dekadenten Diabolik, der Mythopoetik oder des karnevalesk Grotesken)2. Werthaft steht die Kunst stets hoch über der vergehenden Wirklichkeit, die, selber todgeweiht, stets nur ihr Ende will und ihr das Dasein zur Hölle macht. Künstlerische Ab-Sicht heißt - ganz im Einklang mit der Selbstintentionalität des Ästhetischen - von empirischer Realität abzusehen. Brjusovs deklarativer Aufsatz "Schlüssel zu den Geheimnissen" (KmOlJH TaHH, 1904) bestimmt die Kunstwerke zu "aufgesperrten Türen in die Ewigkeit" (rrpHoTBopeHHble ,n;BepH B BelJHOCTb; LM:27), die nicht mit den trügerischen Sinnesorganen, sondern nur durch Intui-
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tion zu erfahren sind. Da die Wissenschaft allenfalls Lug und Trug sinnlicher Wahrnehmung zeigen und das Chaos falscher Vorstellungen ordnen könne, da sie statt "Erkenntnis" (poznanie) nur "Wiedererkennen" (uznanie; LM:28) erschließe, seien wir auf jene Auslässe angewiesen, die uns die Ekstase zu "Durchschau" (prozrenie) und "Inspiration" (vdochnovenie; LM:28) eröffne. Das ganz vorwiegende Tempus dieser Deklaration ist das Präsens, das hier für die bereits eingetretene Ewigkeit steht, denn: "Wir alle leben in der Ewigkeit" (LM:29). Nicht die begriffliche, sondern die bildliche Sprachform ist dieser ewig gültigen Wahrheit angemessen. Der aktuellste Metaphernspender, das "Dynamit"13 (LM:30), dient hier als Mittel, welches die Kunst bietet, um die Wände zur ewigen Wahrheit zu sprengen, ja, es ist dasselbe wie jenes märchenhafte "Sesam" der Kunst, das auf magische Weise die Tore aufstößt "aus dem 'blauen Gefangnis' in die ewige Freiheit" (LM:30). Die symbolisierende Metapher ist hier in der prosaischsten Deklaration nie Beiwerk, sondern Haupterkenntnismittel. Die symbolistischen Deklarationen, die mit Merezkovskijs Aufsatz Über die Gründe des Verfalls und über neue Strömungen in der russischen Gegenwartsliteratur (0 npU'lUHaX ynaihca U 0 H06blX Te'leHUJlX c06peMeHHou PYCCKOU /lUTepaTYpbl, 1893) einsetzen und in Bloks Rede
"Über den gegenwärtigen Stand des russischen Symbolismus" (russ. 1910) gipfeln, stehen zwischen originärem Kunstwerk und parawissenschaftlichem Traktat wie Belyjs (1994:31-142.) Essay "Die Magie der Wörter" (MannI CJIOB, 1903), der symbolistisches Sprachdenken theoretisch zu begründen sucht und mit der lyrischen Erklärung im Präsens schließt: "[ ... ] Poesie der Sprache ist lebendig. / Wir sind lebendig." Merezkovskij setzt in seinem rational aufgeputzten und mit dem Titel Kausalität beanspruchenden Diskurs neben mystischen Inhalt und symbolische Form gesteigerte neuartige, mit dem Begriff des "Impressionismus" bedachte Impressibilität, die im Verein mit Veselovskijs historisierendem Ausdruckskonzept auf die Verfremdungstheorie der Formalen Schule vorausweist, die Kunsttheorie der russischen Avantgarde. Blok (1960b:426) eröffnet die lyrische Deklaration mit der Goethes Ästhetik aufgreifenden - antidiskursiven Setzung, Pflicht des Künstlers sei es nicht zu "beweisen", sondern zu "zeigen", und er konfrontiert die bekräftigte These "Du bist frei in dieser zaubrischen, entsprechungsvollen Welt" mit der bestätigten Gegenthese, die Kunst sei eine Hölle und das Geschöpf des Künstlers (seine Puppe) weder leben-
Literaturersatz, handgreifliche Kunst oder Vor-schrift? 173 dig noch tot. Das Kunstwerk ist für Blok ganz folgerichtig ohne Anfang und Ende, doch ist sie, gezeichnet von der "Änderung des Antlitzes" (izmenenie oblika; Blok 1960b: 428), stets und gleichwertig Advent und Apokalypse in eins. Das Kunstgebilde steht in einer Dämmerung, die Allzeit vergegenwärtigt; sein Zwitterdasein setzt die Ambivalenz von Wille und Vorstellung, begehrte Durch-Sicht und imaginativen Verzicht auf Ab-Sicht voraus: Es ist autotelisch. Symbolistische Deklarationen sind von der ersten, von Merezkovskijs Über die Ursachen des Verfalls und über neue Strömungen der modernen russische Literatur (1893) bis zur letzten, A. Belyjs Warum ich Symbolist geworden bin und warum es zu sein ich nicht aufhören werde (1928), Auslegungen der ewigen Ur-Sache des Symbolismus, Interpretationen seines stabilen Gehalts aus den Anfangen, den Quellen im neuromantischen Sinne. Das Grundthema erklang bereits in der frühkindlichen Seele Belyjs und antwortet im Eingang der deklarativen Selbstdarstellung zugleich auf die eigentlich unsinnigen Fragen, wann und warum er Symbolist geworden ist. Die positivistischer Episteme verpflichteten Fragen nach Tempus und Causa, die das Post hoc als Propter hoc zu erklären suchen, werden verworfen: [... ] nirgendwie und niemals bin ich Symbolist geworden, sondern war es immer, (ehe ich den Wörtern "Symbolist", "Symbolismus" begegnet bin); in den Spielen des vierjährigen Kindes war der späterhin erkannte Symbolismus der Wahrnehmungen bereits innerste Gegebenheit des kindlichen Bewußtseins [... ].(Belyj 1994:418)14
Das Textende der Deklaration bezeichnet den Quellpunkt des Daseins, das seine unendliche Fortführung im Symbolischen findet: "Und daher habe ich mich in der einen Hinsicht beendet, um mich möglicherweise in einer anderen zu beginnen, oder, richtiger, fortzusetzen: in der symbolischen" (H OTIoro x - KOH'IHJI ce6x B O,n;HOM OTHOIIIeHHH, 'ITo6bI, MO:>KeT 6bITb, Ha'IaTb HJIH, BepHee, rrpo,n;OJI:>KaTb ce6x B ,n;pyrOM: B CHMBOJIH'IeCKOM; Belyj 1994:493). "Otnosenie" bedeutet, wörtlich aufgefaßt, den Bezug; der zitierte Satz bekennt den Eintritt ins symbolische Sein auf Kosten des nichtsymbolischen, also des im positivistischen Sinne wirklichen Daseins! Ort dieses Szenariums ist und bleibt das künstlerische Subjekt. 15 Vor allem Belyj öffnet die Gattung Deklaration zum Manifest, da in seinem 'Lebenswerk' die Trennung zwischen Kunst und Leben am
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wenigsten aufrechterhalten wird. Zurecht spricht Lavrov (1978:159), mit Blick auf Belyj vom "Text des Lebens", der die Kunst ebenso in das Realdasein öffnet wie die Existenz in die Kunst. Im sekundär mythischen Lebens-Szenarium der 'Argonauten' wurden der Tod des Vaters von Belyjs Freund M.S. Solov'ev und der Selbstmord von dessen Frau als Zeichen nahender Apokalypse erwartungsvoll begrüßt. Belyjs Briefwechsel und Tagebucheinträge durchbrechen im Blick auf die Symphonien die Grenze zwischen Kunst und aktueller Wirklichkeit, zwischen Selbstintentionalität und Fremdintentionalität: Seine Deklarationen stehen jenseits bündiger Scheidung von Gebrauchstext und Kunstwerk. So erhebt sein Traktat "Formen der Kunst", "im alltäglichen Tun die nichtalltägliche Bedeutung zu zeigen"(Belyj:360), zum Ziel künstlerischen HandeIns, und der deklarative Essay Der Symbolismus als Weltverstehen entfaltet realisierte Metaphern: Das Symbol erweckt die Musik der Seele. Wenn die Welt in unsere Seele kommen wird, wird sie stets erklingen. [... ] Die Musik ist das Fenster, aus welchem sich verzaubernde Ströme der Ewigkeit in uns ergießen und die Magie schäumt. (LM:31; Hervorhebung im Original)16
Die Tempusform des Präsens meint hier eine Zeitlosigkeit, der auch das Künftige bereits im Heute geborgen erscheint. Der Übergang zum Manifest als Kunstgebilde ist eingeleitet. 4.2 Das literarische Manifest der russischen Hochmoderne
Der zweite Typus metaliterarischer Schriften, das Manifest, verkörpert und verbreitet einen Kunstentwurf, der im Gegenlauf zur symbolistischen Deklarationsskepsis darauf aus ist, die Kluft zwischen der Sprachkunst und der Äußerung über sie 'manifest' zu beseitigen. Hier ist der Idealtypus des Manifestes selber Literatur, bildet er 'Kunst zum Anfassen', handfeste Kunst 17 • Manifest und Kunstwerk trennt ebensowenig ein Riß wie Kunst und Leben; im Grunde ist jedes Kunstwerk Manifest und jedes Manifest Kunstwerk. Da die Kunst zugleich Leben ist, ist das Manifest auch Lebensform. Der innere Widerspruch aller avantgardistischen Ästhetik l8 - wenn alles Vorhandene Kunst ist, verschwindet die Kunst - macht auch vor den Manifesten nicht halt. Das Kunstwerk verweist aufgrund der Selbstintentionalität des Ästhetischen im wesentlichen auf sich selbst, da es zugleich die kulturelle und die
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von ihr ungeschiedene natürliche Wirklichkeit bildet. Im Manifest kommt ästhetisch-literarische Intentionalität zu ihrem Ende; der Entwurf von Literatur ist Literatur. Das Manifest des Psychofuturismus führt die Selbstbezüglichkeit dieser Texte noch deutlicher vor Augen als die projektiven Texte der Ego-Futuristen: "- ,Ich' - ,Ego' ist Unser Anfang. ,Selbstigkeit' ist Unser Ende. ,Ego - Selbstigkeit' ist der feurige Kreis der Psychik, in dem wir ewig sind, denn Unser ,Ich' das ist die ganze Welt, und die ganze Welt ist Unser ,Ich'." (- «JI» - «3ro» - HaIlIe HaqMO. «CaMOCTb» HaIlI KOHell,. «3ro - caMOCTb» - orHeHHbIH Kpyr IICHXOCTH, B KOTOPOM MbI BeqHbI, H60 HaIlIe «JI» - 3TO BeCb MHP, H BeCb MHP 3TO HaIlIe «JI» [MPRF: 167]). Damit ist die geläufige These vom performativen Charakter solcher Manifeste hinfällig: Diese Texte appellieren nicht so sehr an künftiges Tun, wie sie dieses Tun selbst, hier die metonymische Einheit von Ich und Welt, projektiv ins Werk setzen. Sie bezeugen zugleich das Ende des autonomen künstlerischen Subjekts, da es nicht mehr Individuum, vom Ganzen nicht mehr zu trennen ist. Das literarische Feld der Avantgarde kennt keine Wertdifferenz zwischen Verfassern und Lesern. 1914 erklärt Majakovskij im Manifest "Ein Tropfen Gift" "Heute sind alle Futuristen. Das Volk ist ein Futurist." (MPRF:159) Zeitgleich fordert Chlebnikov zwischen (positivwertigen) Erfindern und (negativwertigen) Verbrauchern zu unterscheiden und stattet die futuristische Kulturosophie so mit dem Gegenmodell des zu überwindenden nichtkreativen Menschen aus. Die poetische Sprache soll sich durch Ästhetisieren der Realität auf die gesamtkulturelle Sprachwirklichkeit ausdehnen. Das nichtkünstlerische Zeichen wird entweder zum Nichtzeichen, ja zum Nichtdasein, erklärt oder durch Erweiterung des Wirkungsbereichs des Ästhetischen in die Wirklichkeit der Kunst integriert. Das Manifest ist (wie die ganze Literatur) Projekt einer künftigen Kultur, die durch ihre Präsentation als bereits gegenwärtig vorgestellt ist: Sie ist Intention und Realität, Entwurf und Fiktion: fiktionaler Entwurf und entworfene Fiktion. Insofern ist auch der utilitäre Charakter dieser Texte zwieschlächtig. Wie das Denkmal der Dritten Internationale Tatlins (IIa.MJlTIlUK III. HIiTepllal.{UollQ../lY) kein historisches oder museales architektonisches Bauwerk entwirft, sondern architektonische Zukunftskunst als Gegenwart projekthaft ,realisiert', vergegenwärtigt das avantgardistische literarische Manifest in Rhetorik und Poetik die Ästhetik und Redeweise imaginierter künftiger Lebenswelt.
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Rainer Grübel Dieser utopische Projektcharakter findet auch im Zeit- und Tempussystem der Rhetorik dieser Texte Ausdruck. Schon Solov'evs Zukunftsvision in der "Geschichte vom Antichrist" mischt Textpartien im Futur eigenwillig mit solchen im Präsens oder Präteritum, wobei die Präterital- und Präsensformen einen affirmativen futurischen Sinn annehmen. Das Manifest des 'Zukünftlers' (budetljanin) ist Zeugnis der Präsenz des Künftigen im Hic et nunc, und der Futurist ist mehr noch als Vorhersager Voraustäter. Die Zeitenfolge wird dabei auf den Kopf gestellt: Der Zukunft folgt die Gegenwart (in welcher der Zukünftler an der Zukunft partizipiert) und dann erst retrograd die prophetisch geschaute Vergangenheie 9 • So behaupten Chlebnikov und Krucenych (1933:162) kurz nach der Februarrevolution von 1917 im "Aufruf der Vorsitzenden des Erdballs" die utopische Weltherrschaft der Futuristen als Gegenwart: "Nur wir sind die Regierung des Erdballs" (TOJIbKO MbI - IIpaBHTeJIbcTBo 3eMHoro IIIapa). Das symbolistische Entzeitlichen durch vollständige und vollkommene Repräsentation verwirft schon Kul'bins (MPRF:15) impressionistisches Manifest "Die freie Kunst als Grundlage des Lebens": "Der Tod ähnelt dem Kreis. Nur hat er keinen Anfang und kein Ende." Unliterarische Manifeste gelten hier als mißlungen, da sie nicht an der Sprachwirklichkeit jener poetischen Rede teilhaben, welche die Koine der Zukunft vorwegnimmt. Auch lautlich gleitet der Übergang vom Gedicht-Manifest der Gruppe "Zentrifuge" "Turbopean" (1914) zum Prosa-Manifest "Truba Marsian" (Trompete der Marsianer), das mit der rhetorischen Figur der Metapher "Das Hirn der Menschen hüpft bis heute auf drei Beinen" (den drei Achsen des Raumes!) einsetzt und im Appell gipfelt: "Rauscht, schwarze Segel der Zeit!" (qepHbIe KPblJlMI BpeMeHH, llIYMHTe!) (Chlebnikov 1933:151). Noch die theoretischste Erörterung hat hier mehr bildhaften als definitorischen Charakter, wie der "Theorie" überschriebene Teil aus Kul'bins bereits zitiertem Impressionismus-Manifest zeigt; in der Sachaussage dem mythopoetischen Symbolismus nahe, geht die Ausdrucksgestalt schon auf das Manifest als Kunstwerk, wie Metaphern und Wortverdichtungen, Rhythmisierungen (CHMBOJI MHpa; KpacoTli H ,lJ;06po; TBOpqeCTBO MHq,a H CHMBOJIa) und Reime (HaCJIlUK)J,eHHe T5ITOTeHHe - crryxeHHe; JII060Bb - 60roB) zeigen:
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Abb. 1 Wladimir Tatlin: "Modell für ein Monument für die III Internationale" (1920).
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Abb. 2 Kazimir Malewitsch: "Schwarzes Quadrat" (1915).
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Ideologie. Symbol der Welt. Genießen. Schönheit und das Gute. Liebe ist Schwerkraft. Der Prozeß der Schönheit. Kunst ist Göttersuche. Schöpfung von Mythos und Symbol. Freiheit. Titanenkampf mit dem Olymp. Prometheus und Herkules. Malerei und Dienen. (MPRF:21, Hervorhebung im Original)20
Hier manifestiert sich das Ästhetische eher poetisch, als daß es diskursiv definiert wird. Vom Manifest "Aufruf der Vorsitzenden des Erdballs" gibt es eine Prosa- und eine Gedichtfassung, die für den Futuristen Chlebnikov bezeichnenderweise gleichen Rang hatten. Malevics Schwarzes Quadrat ist auch bildliches Manifest aperspektivischer absoluter Malerei. Programmatische Vor-Schrift ist in diesem Kulturmodell nicht möglich, weil Zukunft nicht vor-, sondern herbei-geschrieben wird. Majakovskij (1950:34-48) zeigt in seinem manifestären Essay Wie man Vers macht nicht, welchen Regeln beim Dichten zu folgen ist, sondern wie der Zukunftsdichter sich Regeln schafft. Schon gar nicht sind diese Manifeste symbolistischen Deklarationen gleich auf Dauer angelegt. "Hast Du's gelesen, zerreiß' es!" (fIpoqHTaB pa30pBH! LM:82) fordert das futuristische Manifest Das Wort als solches (Cl1060 KaK TaK060e) vom Leser. Das den Texten eingeschriebene, oft auch in Gestalt billigsten Papiers und vergänglichen Kartons handgreiflich Augenblickliche des Schaffens und Aufnehmens, der oft als Skandal inszenierte Vortrag, weisen auf die kulturelle Gattung des nichtfixierten Happening voraus. 21 Die Kunstform des avantgardistischen Manifestes favorisiert die Axiologie der Äquivalenz. Was wirklich ist, ist Kunst, und in der Kunst ist jede Erscheinung durch ihr Dasein gleichermaßen gerechtfertigt. Diese Gleichwertigkeit alles wahrhaft Künstlerischen spricht schon aus partialisierenden Manifesttiteln wie Das Wort als solches oder Der Buchstabe als solcher, die auch die Herrschaft des Ganzen über den Teil verwerfen und dem Teil gleichsam metonymisch den Rang des Totum zusprechen. Das axiologische Grundprinzip gleichwertiger Partizipation wird jedoch konterkariert vom ihm wiederum äquivalenten Prinzip der Dominanz (Grübel 1997): Einzelne Erscheinungen bestimmen eben doch die Funktion des Ganzen. Das zentrale Argument des frühavantgardistischen Manifestes Der Egofuturismus (3eorPyryPU3M), die Gnome "Ich bin die Zukunft" (R 6y.n;ymee. 22) setzt das Futur sprachlich als Gegenwart. Die aus der
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Metonymie herleitbare Sprachfigur übersteigt den Sinn der die Gegenwart von Zukunft und Vergangenheit scheidenden sprachlichen Tempora bildhaft. Sie legt das ästhetische Projekt der russischen Avantgarde bei aller behaupteten Wirklichkeitsintention als reine Kunstform bloß. Schon die verbale Ablehnung der Gegenwart gehorcht einem ästhetischen Ressentiment, das toter Unbeweglichkeit gesuchte Lebensdynamik werthaft entgegenhält: "Der [schlechten] Gegenwart eignet jene bürgerliche Starre, die im lebendigen Umgang ruhiges, vernünftiges Leben genannt wird" ("HacToHrn;eMY rrpIicyrn;a 6YP}Kya3HaH crrHlIKa, :IMeHyeMaH B }KIiTeHCKOM 06IiXO,Il;e crroKoHHoH, Tpe3BoH }KIi3HbIO", LM:5l). Hat die russische Avantgarde in ihren Manifesten die bestehende Institution Kunst aufgehoben und den Werkcharakter der künstlerischen Erscheinung gesprengt? Da die Hauptvertreter von Futurismus und Konstruktivismus, von Akmeismus und Imaginismus weiterhin, auch nach der Oktoberrevolution, auf der Autonomie der Kunst beharrten, ist auf die erste Frage mit einem klaren "Nein!" zu antworten. Allerdings suchten alle Anhänger der russischen Hochmoderne, ob in der Bildenden Kunst oder in der Musik, ob in der Kinematographie oder in der Literatur, den Geltungsbereich der Kunst auszudehnen, ja, ihn manifestär sogar mit dem Gesamtbereich des Wirklichen zur Dekkung zu bringen. Und doch war Ejzenstejn der Unterschied zwischen Dokument und Kunstgebilde ebenso bewußt wie Majakovskij, Lisickij und Mosolov: Ihr Montageprinzip beruhte ja gerade auf der künstlerischen Manipulierbarkeit der Bild-, Laut- und Tonsequenz, und der russische Formalismus suchte die Bedingtheit der Kunstgriffe (priemy) spürbar zu machen! Die Selbstintentionalität des Ästhetischen, die durch seine Realisierung unterlaufen werden sollte, trug den Projekten der Avantgarde ihren unüberwindbaren utopischen Charakter ein. Schon 1910 hatte Kandinskij (1952:45f.) nichtreferentielle, rein künstlerische Wiederholung zum Grundverfahren der Verfremdung erklärt: Geschickte Anwendung [... ] eines Wortes, eine innerlich nötige Wiederholung desselben zweimal, dreimal, mehrere Male nacheinander kann nicht nur zum Wachstum des inneren Klanges führen, sondern auch andere nicht geahnte geistige Eigenschaften des Wortes zutage bringen. Schließlich bei öfterer Wiederholung des Wortes (beliebtes Spiel der Jugend, welches später vergessen wird) verliert es den äußeren Sinn der Benennung. Ebenso wird sogar der abstrakt gewordene Sinn des bezeich-
Literaturersatz, handgreifliche Kunst oder Vor-schrift? 181 neten Gegenstandes vergessen und nur der reine Klang des Wortes entblößt. [Hervorheb. im Original]
Schwieriger ist die Antwort auf die Frage nach dem Werkbegriff, da sich hier tatsächlich jene Verschiebung von überzeitlicher Dauer zu augenblicklicher Gültigkeit vollzieht, die bereits in manchen Texten des Symbolismus und gewiß bei außerhalb der Hochmoderne stehenden Schriftstellern wie Kuzmin und Rozanov hervortritt. Überdies eignet Kunstwerken der Avantgarde ein hochgradig projektiver, utopischer Charakter. Zangezi, Chlebnikovs Kontrafaktur der russischen Liturgie (Grübel 1994), läßt sich auch als entfaltetes Manifest lesen. Manifest und Kunstwerk der Moderne sind gleichwertige Kontrafakturen des klassischen Werkes. Die literarische Kontrafaktur, eine der Hauptgattungen des russischen Futurismus, prägt auch die Bildung futuristischer Manifeste aus anderen Gattungen. Die Futuristen unterwerfen Bekenntnis und Gebet, Jahrmarktrede 23 und Gebrauchsanweisung, politisches Manifest und Regierungserklärung, Flugblatt und militärischen Befehl als literarische Manifeste in Funktion und Wert ästhetischer Vorherrschaft. Der Kontrafaktur werden nicht nur Gattungen unterzogen, sondern auch Einzeltexte wie das schon angeftihrte Leninsche Revolutionstelegramm "An alle, alle, alle". Seine politische Funktion und Valeur ist zur Empörung des Politikers unter identischem Titel gewendet in die ästhetische Proklamation futuristischer Freiheit: Freiheit! Zukünftlerische Freiheit! Da ist sie! Da ist sie! Die ersehnte heimatliche! Gefallen aus dem Vogelschwarm. Unsere schöne Offenbarung und Traumvision in den Kleidern der Zahlen. (Chlebnikov 1933b:164)24
Werk-, Gattungs- und Textbrechungen ermöglichen es auch, das Erhabene aus dem Referenzbereich in die Ausdrucksschicht der Texte zu verlagern. Sublimer Charakter der Signifikanten spricht aus der "Selbstverbrennung" (caMOCO}lOKeHHe; LM:57, 67) im Manifest des Egofuturismus ebenso wie aus der futuristischen Forderung "Sich mit Schrecken seiner stolzen Stirn entledigen [.. .]" (e Y)KaCOM OTCTpaHjlTh OT rop,lJ.oro '1eJIa CBoero [... ] [LM:78]). Wie konnte die Geschichte der russischen projektiven literarischen Texte weitergehen, wenn das avantgardistische Manifest die Gattung literarischer Projekte aufhob und die Manifeste der Gruppe Oberiu (Gesellschaft der realen Kunst) diese Selbstaufhebung endgültig ins
182 Rainer Grübel Absurde trieben? Pasternak schreibt schon 1914 in seinem manifestären Essay "Die Wassermannreaktion": "künstlerische Scheinprodukte" wie gerade auch die irrtümlich zum Futurismus gezählten, "fallen der Einführung sozioökonomischer Disziplinen anheim" (MPRF:115). Gerade dies war aber für die Vorläufer der Gattung Programmschrift charakteristisch.
4.3 Das literarische Programm in der verwalteten Literatur des Sozialistischen Realismus Der dritte Typus intentionaler Schrift stellt die in der Avantgarde auch theoretisch beseitigte Werthierarchie wieder her, setzt nun jedoch hierbei an die normative Ästhetik des Klassizismus anknüpfend - das literarische Programm als Vor-Schrift unbedingt vor die Literatur. Das Pro-Gramm prätendiert als Initialtext, zu dem sich die literarischen Texte wie nachgeordnete Illustrationen verhalten, auf höchsten, unbezweifelbaren, weil wissenschaftlich legitimierten kulturellen Ausdruck, auf sozioökonomisch (Proletariat) und weltgeschichtlich (Revolution) begründeten Eintritt in Wahrheit: "Wir sind auf diese Weise in die Übergangszeit [polosu] der Kulturrevolution eingetreten, welche die Voraussetzung bildet für die weitere Bewegung zur kommunistischen Gesellschaft",2S kündet die Resolution "Über die Politik der Partei im Bereich der künstlerischen Literatur" von 1925. Die "Weise" dieses Eintritts wird als Aszendenz vorangestellt im gegen alle Evidenz behaupteten "Aufschwung der materiellen Wohlfahrt der Massen in der letzten Zeit in Verbindung mit dem durch die Revolution bewerkstelligten Umschwung in den Köpfen" und gipfelt im vermeintlich naturgesetzlichen "gewaltigen Anwachsen der kulturellen Nachfragen und Anforderungen" (LM:292). Der Wissenschaftsglaube des Positivismus hat sich mit dem revolutionär drapierten und ins Materialistische gekippten Adventsgebaren des Symbolismus gepaart. Literarische Programme sollen der Kritik als Maßstab und Richtschnur dienen, sie fordern den Autoren Folgsamkeit und das Anpassen bereits geschriebener Werke ab. Dem Leser legen sie Maßverhalten bei der Rezeption der Kunst auf, sei es in der Rezitation, bei der Lektüre oder im Theater. Eher noch als die Kunstwerke selber sind die literarischen Programme politisierf6 • Die Autonomie der Kunst wird als ihr bürgerlicher Tod verketzert und dem politischen Willen der Parteifüh-
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rung geopfert. Verwaltete Literatur ist heterovalent und heteronom. Sie macht Schluß auch mit der Selbstintentionalität des Ästhetischen, an deren Stelle die Fremdintentionalität politischer Pro-Grammatik tritt. Schon eine der frühesten Resolutionen des Proletkul't vom Mai 1918 eröffnet eine programmatisch festlegende Definition, die Bogdanovs Theorie proletarischer Kultur als Organisation sozialer Erfahrung durch Bilder überfUhrt in wertende Sachfeststellungen aus der Kanzleisprache ("mittels", "infolgedessen"). Das Prädikat "machtvollste" (samoe moguscestvennoe) enthüllt jenen impliziten Machtanspruch der Gewerkschaften, der Lenin bewog, die Proletkul'tbewegung zur Erhaltung des Machtmonopols der Partei zu zerschlagen: Die Kunst organisiert mittels lebendiger Bilder die soziale Erfahrung nicht nur in der Sphäre der Erkenntnis, sondern auch in der Sphäre des Gefühls und der Bestrebungen. Infolgedessen ist sie das machtvollste Werkzeug der Organisation kollektiver Kräfte in der Klassengesellschaft - der Klassenkräfte. (LM: 130)
Nicht nur autotelische Intentionen galt es an die Kette zu legen, wenn derselbe Text die Notwendigkeit der "Klassenkunst" fur das Proletariat behauptet und dazu anhält, den verborgenen kollektiven Charakter der alten Kunst gegen die alte Gesellschaftsordnung zu kehren. Zentrale Passagen reklamieren wie auch andere Programme des Proletkul't, z.B. Gastevs Traktat "Über die Tendenzen der proletarischen Kultur" (LM: 131) mit den Ausdrücken "muß", "notwendig" (nuzno, nado) und ihrem negativen Gegenstück "kann nicht" jene Engelsehe Naturgesetzlichkeit für kulturelle Handlungen, die auch aus der biologischen Großmetapher des Organisierens spricht und in der gebetsmühlenartig wiederholten Formel 'ist nicht und kann nicht sein' kryptomagisch zu beschwören sucht: "In der Klassengesellschaft gibt es keine und kann es keine neutrale Kunst gegeben" (LM:293). Die Resolution "Über die Politik der Partei... " findet Ziel und Höhepunkt in der vierfach wiederholten Formel 'die Partei muß' (LM:297f.), die letztlich eine kollektive religiöse "Mission" ohne Eschatologie begründet. Die kulturosophische, 'bürgerlich' genannte Gegenposition ist durchaus nicht leicht auszumachen. In Gastevs Pamphlet ist es sicherlich die Kunst der Avantgarde, zumal der Futurismus: An die Stelle seiner "Wortschöpfung" (slovotvorcestvo) müsse die "Technisierung des Wortes" treten. Kreativität wird ersetzt durch Instrumentalisierung. Hier sind die Vorbilder politischer Verlautbarungen nicht durch Kontrafaktur in Funktion und Wert gebrochen, sondern einfach kopiert. So
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steht die Parole "Proletarier aller Länder, vereinigt euch" ohne alle werthafte Transformation in der programmatischen Gründungserklärung des Internationalen Büros des Proletkul 'ts vom August 1920 (LM:142). Zur Gepflogenheit der Programmschreiber wird es, durch Klassikerzitate (zunächst noch das in indirekter Rede gehaltene EngelsZitat von der sozialen Revolution als "Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit", LM:142) eine Kreativitätsgrenze zu ziehen, die an der unbezweifelbaren Wahrheit von Aussprüchen politischer ,Klassiker' aus der Vergangenheit eine unüberschreitbare Barriere errichtet. Indem das aus der Kirchengeschichte geläufige Intertextualitätsverfahren der Berufung auf passende Bibelzitate Programmtexten eingepflanzt wird, erlangen die zitierten Stellen den Rang unangreifbarer Offenbarungen, während die zitierenden Texte sich mit der Aufgabe der Exegese begnügen. Eine Wertpyramide mit den 'Klassikern' an der Spitze fällt über die Programm schreiber, dann die Literaten ab bis zum Leservolk an ihrem Fuß. Das Programm mischt wissenschaftliche Argumentation und logische Ableitung mit Sprachbildern und nimmt den hybriden Charakter eines zugleich wissenschaftlichen und feuilletonistischen Diskurses an: "Die politische und ökonomische Befreiung aus der Leibeigenschaft [pacKperrorn;eHHe] ist die Bedingung der geistigen Befreiung."27 (LM: 143). Stilistisch stärkt den hybriden Charakter der wiederholte Griff zu Kirchenslavismen. In der Frühphase programmatischer Steuerung der Literatur, etwa im Programm der Schriftstellervereinigung Literarische Front von 1920, steht die Negation überkommener Themen und Ausdrucksformen noch im Vordergrund: Die literarische Front [... ] strebt danach, die Kunst von jenen Methoden, Formen und Stimmungen zu befreien, die nicht der neuen Wahrnehmung des Lebens entsprechen und unterstützt daher alle Arten des künstlerischen Schaffens, die dem neuen kommunistischen Aufbau entsprechen. (LM:147)
In der "Ideologischen und künstlerischen Plattform der Gruppe proletarischer Schriftsteller" "Oktober" geht 1923 die Rede schon vom "Primat des Inhalts", der mit der Pauschalformel erläutert wird "der Inhalt bestimmt die Form und wird künstlerisch durch sie geformt" (LM:184). Seit Anfang der dreißiger Jahre nehmen positiv präskriptive Füllungen des Literaturbegriffs in einem Maße zu, das den Programmen endgültig die Funktion von Vorschriften verleiht. Gor'kij definiert
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1934 auf dem Ersten Schriftstellerkongreß die Doktrin des Sozialistischen Realismus: "Der sozialistische Realismus bekräftigt das Sein als Tätigkeit, als Schöpfung, deren Ziel die ununterbrochene Entwicklung der wertvollsten Fähigkeiten des Menschen ist, wegen seines Sieges über die Kräfte der Natur [... ]." (PVSSP:17) Bucharin, Sekretär des Zentralkomitees der Partei, legt Stalins Ehrentitel für den Schriftsteller, "Ingenieur der Seele" fiir alle verbindlich aus: "Dies bedeutet das Leben zu kennen, um es in den Kunstwerken richtig abbilden zu können [... ] nicht einfach als objektive Realität, sondern die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung abzubilden." (PVSSP:4). Gefordert ist, die Realität dem Willen der Partei gemäß zu sehen und darzustellen. Das Programm ist in seiner letzten und höchsten Stufe vor-geschriebene Vor-Schrift, Bekräftigung bereits ergangener literaturpolitischer Weisung. Auf dem Schriftstellerkongreß von 1934 beschließen die versammelten Autoren einstimmig ihre Zwangsvereinigung zum Schriftstellerverband, und sie geben den Verzicht auf jeden Rest künstlerischer Autonomie der Welt bezeichnenderweise in der Vergangenheitsform kund. Worüber abgestimmt wird, ist längst beschlossene Sache. Es ist nicht die Gegenwart, es ist die Vergangenheit, welche die Zukunft programmiert (PVSSP:290): Unter der Führung der heldenhaften VKP(b) mit G.[enossen] Stalin an der Spitze und dank der tagtäglichen Hilfe der Partei kamen die Schriftsteller aller Völker der UdSSR auf ihrem ersten Kongreß als organisatorisch und schöpferisch um die Partei und die Sowjetmacht geschlossenes Kollektiv in den einheitlichen sowjetischen Schriftstellerverband.
4.4 Schlußfolgerungen zum Gang von Deklaration, Manifest und Programm in der russischen Literatur Die drei metaliterarischen Gattungen Deklaration, Manifest und Programm lassen sich in ihren Schwerpunkten der russischen Frühmoderne, der Avantgarde und der sowjetisch verwalteten Literatur zuordnen. Von der Deklaration, der Selbstklärung ewiger Grundprinzipien künstlerischer Tätigkeit, verläuft der Weg über die utopische Konzeptualisierung künftiger Realität und gleichzeitige Realisierung des Entwurfs hin zum Programm, zur Festlegung von Gegenwart und Zukunft auf kunstheteronome Grundsätze der Vergangenheit.
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Die symbolistische Deklaration klärte zunächst die selbstintentionale Ästhetik und den autonomen Kunstentwurf, der den künstlerischen Durchbruch in die anders unerreichbare Wahrheit in Aussicht stellte, ihren Advent jedoch mit dem Ende des Daseins, also auch der Apokalypse der Kunst zur Deckung brachte. Advent und Apokalypse sind zeitlich ungerichtet, da alle künstlerische Zeit die Ewigkeit repräsentiert. Diese Ambivalenz künstlerischer Tätigkeit war zunächst dem auserwählten Kunstschöpfer vorbehalten, teilte sich jedoch auch den deklarativen Äußerungen mit. Idealfall war das sich selbst in seinem Wahrheitsdurchblick deklarierende Kunstwerk. Das autonome Kunstwerk der Hochmoderne hebt die Selbstintentionalität durch Realisierung ästhetischer Gestalten und das Manifest durch Äquivalenz auf, da es im Idealfall Entwurf des Künftigen und gegenwärtige AusfUhrung zugleich ist. Diese Selbstaufhebung metapoetischer Artikulation manifestierte sich am deutlichsten in den Textgebilden der russischen Absurden. So enthält Vvdenskijs (1993:213) manifestartiger, auf Solov'evs o.a. Gespräch antwortender Zyklus "Eine gewisse Anzahl Gespräche" nicht nur "Ein Gespräch" über das Fehlen der Dichtung, das "Letzte Gespräch" gipfelt in der Replik zwischen Drittem und Erstem: "Ich habe nichts verstehen können / Hier bin ich aufgestanden und wieder weit weggegangen." Und der erste von Charms' (1988:353) "Fällen", Das "Blaue Heft Nr. 10" schließt nach narrativer Demontage des Helden um Augen und Ohren, um Haare, Mund und Nase, um Hände und Füße, Bauch, Rücken und Eingeweide mit der Proklamation und Manifestation von Sprachlosigkeit: "Da werden wir doch besser über ihn nicht mehr sprechen." Der Sozialistische Realismus griff aufs klassizistische Modell normativer Poetik zurück, legitimierte das Verbot der Selbstintentionalität und den Programmcharakter seiner metapoetischen Vorschriften jedoch mit der Unausweichlichkeit geschichtlicher Entwicklung und ihrer Triebkräfte. Erst der postsowjetische russische Konzeptualismus vollzog die (postmoderne) Rückkehr der russischen Kultur in ihr - nun karnevalisiertes - Projektzeitalter. Groys' Gesamtkunstwerk StaUn ist ihr Manifest.
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Anmerkungen Dieser Beitrag fUhrt Gedanken fort, die ich 1977 auf der Zagreber Konferenz "Knjizevnost, avangarda, revolucija" vorgetragen habe. Cf. Grübel 1981. I
2
Cf. zur vierfachen Wurzel der Axiologie: Grübe11996.
Zur Rezeption Husserls in der Formalen Schule, vor allem durch R. Jakobson, cf. Holenstein 1975. Von hohem Interesse wäre es festzustellen, ob Husserls Neuorientierung seinen eigenen Erfahrungen von Kunst nach dem Realismus entspricht. Außer auf Beethoven, Dürer, Goethe, Michelangelo, Raffael und Tizian nehmen die im Band 23 der Husserliana versammelten Schriften ausdrücklich Bezug auf Böcklin, Hofmannsthai, Schnitzier.
3
Husserl 1980:514: "Ich habe früher gemeint, daß es zum Wesen der bildenden Kunst gehöre, im Bild darzustellen, und habe dieses Darstellen als Abbild verstanden. Aber näher besehen ist das nicht richtig. Bei einer Theaterauffiihrung leben wir in einer Welt perzeptiver Phantasie, wir 'haben' 'Bilder' in der zusammenhängenen Einheit eines Bildes, aber darum nicht Abbilder." Hier werden ausdrücklich Hoffmannsthals Märchen als Beleg angefUhrt. 4
Dostoevskijs späte Romane, Cechovs Dramen und Tolstojs Traktat "Was ist die Kunst?" (1898) sind Schwanenlieder der realistischen Literatur und der positivistischen Weltrnodelle.
5
Cf. dagegen die in der französischen Kultur anhaltende symbolistische Kunst im Werk von Paul Claudel und Paul Valery. 6
Cf. vor allem die These 2 des Klappentextes: ,,Die Stalinzeit verwirklichte den Traum der russischen Avantgarde, das gesamte gesellschaftliche Leben nach einem künstlerischen Gesamtplan zu organisieren [... ]." 7
Zur Entgegensetzung von Kulturosophie und Kulturologie cf. Grübel./I. Smirnov, Die Geschichte der russischen Kulturosophie im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert. In: Wiener Slawistischer Almanach, (Sonderband) im Druck. 8
Cf. V. Brjusovs deklarativen Aufsatz Istiny [Wahrheiten, 1901]. In: LM, 24f.: ,,[ ... ] das Schöpfen ist das wahre Werk der Kunst [... ]" ([ ... ] C03,I1;aHHe eCTb HCTHHHOe TBopeHHe HCKYCCTBa [... ]). 9
10
Zu Advent und Apokalypse im Symbolismus cf. Hansen-Löve 1992.
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Solov'ev 1960:92; dt.: S. Solowjew, Deutsche Gesamtausgabe. Bd. VIII. München 1979: 128. 11
12
Cf. zur Gliederung des Symbolismus Hansen-Löve 1990:16-18.
Cf. dagegen das futuristische Manifest "Dinamit, gospoda, dinamit", in: MPRF:136f. 13
HHKaK He CTaJI, HHKOr.D:a He CTaHOBHJICH, HO BCer.D:a 6bIJI CHMBOJIHCTOM ú ç = BCTpeqH co CJIOBaMH "CUM801l", "CUM80IlUd'); B Hrpax qeTblpeXJIeTHerO pe6eHKa rr03.D:HeHIIle oco3HaHHbIH CHMBOJIH3M BOCrrpHHTHH 6bIJI BHyTpeHHeHrneH .D:aHHOCTbIO .D:eTCKOro C03HaHHH [... ]." 14
,,[ ... ]
Noch Vjaceslav Ivanovs Ästhetisierung des Kommunaritätsprinzips religiöser Gemeindlichkeit (sobomost') zum Chor der wiederzubelebenden antiken Tragödie sieht den Künstler als individuelle Gestaltungskraft vor und entspricht so der kulturhistorischen Verschmelzung von Dinysos und Christus zum leidenden und erlösenden Gott. Auch die von ihm erstrebte Integration des Leiblic}:!.en, Seelischen und Geistigen ist auf die Sebstintentionaität des Ästhetischen gegründet. 15
"CHMBOJI rrp06YJK,IJ;aeT M}'3b1KY .D:YIIlH. Kor.D:a MHP rrpH.D:eT B Harny .D:YIIlY, BCer.D:a OHa 3a3ByqHT. [ ...] MY3b1Ka OKHO, H3 KOToporo JIbIOT 8 Hac 16
O'lap08aTeJlbHble nOTOKU Be'lHOCTU U 6Pb13:HCeT MazWl."
Lilja Brik (1993:48) berichtet, Majakovskij habe sich "tagelang" auf den Vortrag eines Manifestes vorbereitet. 17
Smimov (1977:85-100) bezeichnet das Oxymoron als Grundfigur avantgardistischer Kunst. 18
Die Theorie der generellen Zeitinversion der Imagination ist zu dieser Zeit von dem Natur- und Geisteswissenschaftier Pavel Florenskij am Beispiel des Traums exemplifiziert worden (cf. Grübel 1992). 19
CHMBOJI MHpa. HaCJIlUK,ll;eHHe. KpacoTa H .D:06po. JII060Bb THroTeHHe. IIpon;ecc KpaCOTbl. HCKYCCTBO HCKaHHe 6oroB. TBopqecTBo MHcPa H CHMBoJIa. CBo6o.D:a. Bopb6a THTaHOB C OJIHMIIOM. IIpoMeTeH H fepKYJIec. )KHBOIIHCb H CJIyxeHHe." 20 ''HoeOllozWI.
Cf. die Manifesttitel PoseeCina obSeestvennomu vkusu, Pereatka kubofuturistam (LM:76, 70). 21
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LV. Ignat'ev, Egofuturizm. In: LM: 51.
23
Z.B. S.Bobrovs Vorwort zum Gedichtband Lira lir (cit. MPRF: 128f.).
189
"Boml! Boml 6y.n;eTmlHcK1Ul! BOT OHO! BOT OHO! )l{eJlaHHOe, pO,IJ;HMoe! YrraBIIIee H3 rrTH'lbel1: CTaH. Hallie rrpeKpaCHoe oTKpoBeHHe H cHOBH.n;eHHe B o.n;e)l{,Il;ax QHCeJl."
24
2S
0 politike partii v oblasti chudozestvennoj literatury. In: LM:292.
Cf. zur Politisierung der russischen Literatur seit den späten 20er Jahren Benjamin 1977.
26
Die Sachbehauptung folgt der These 'linker' Futuristen um Majakovskij, nach politischer Februarrevolution und ökonomischer Oktoberrevolution stehe die 'geistige Revolution' aus. 27
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DAS MANIFEST - EINE GATTUNG? Zur historiographischen Problematik einer deskriptiven Hilfskonstruktion
Hubert van den Berg
1. Insbesondere in der Literatur zur historischen Avantgarde ist wiederholt die Rede von einer Gattung Manifest. I Die Annahme der Existenz einer Manifestgattung scheint zunächst dadurch legitimiert, daß sich die historische Avantgarde mittels Texten artikuliert hat, die von ihr selbst entweder im Titel oder im Text - als Manifeste ausgewiesen wurden. Filippo Tommaso Marinettis ,,Manifest des Futurismus" (1909), Tristan Tzaras "Dada-Manifest 1918", Richard Huelsenbecks ,,Dadaistisches Manifest" (1918) sowie Bretons ,,Manifest des Surrealismus" (1924) bilden nur die Spitzen eines Eisbergs, dessen Gipfel bei den Futuristen und Dadaisten bereits Dutzende und Aberdutzende von Texten umfaßt, die als 'Manifest' ausgegeben wurden. Eine globale Sichtung der Forschungsliteratur zur Gattung Manifest lehrt, daß manche Autoren sich bei der Rede von einer Gattung Manifest lediglich auf diese Manifeste beziehen. Wenn z.B. Peter Bürger in seinen inseminierenden Ausführungen zum dadaistischen und surrealistischen Manifest in Der französische Surrealismus (1971, 1996) von einer Gattung Manifest spricht, beschränkt er sich bei seinen Reflexionen auf einige wenige Manifeste, die ausdrücklich als Manifest gekennzeichnet sind: Tzaras ,,Manifeste de Monsieur Antipyrine" und ,,Manifeste Dada 1918" sowie Bretons "Manifeste du surrealisme". Daneben unterscheidet er die Gattung Manifest von anderen verwandten Genera - Pamphlet, offener Brief und Flugblatt (1996:59). In der Regel umfaßt die Gattung Manifest freilich auch Texte, die entweder im Titel oder im eigentlichen Text nicht explizit als Manifeste ausgewiesen werden, sondern Bezeichnungen tragen wie De-
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klaration, Dekret, Proklamation, Petition, Aufruf, Appell, Ultimatum, Rede, Flugblatt, Pamphlet, Erklärung, Anzeige, Vorrede, offener Brief, Antwort usw., oder auch keine dieser Bezeichnungen tragen, jedoch offenbar einem dieser Texttypen zugeordnet werden können. Beispiele hierfür sind jene Korpora, die Alfons Backes-Haases Überlegungen zur Gattung Manifest in der umfassenden Studie zum deutschsprachigen dadaistischen Manifest, Kunst und Wirklichkeit. Zur Typologie des DADA-Manifests (1992) und Wolfgang Asholts und Walter Fähnders' Einleitung ihrer Anthologie Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938) (1995) zugrundeliegen. Im folgenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, inwiefern das für diese Korpora und daran anschließende Erwägungen konstitutive Postulat, man habe hier mit einer Gattung zu tun, haltbar ist. Es wird die These aufgestellt, daß die weitgefacherte Skala von Texten, die gemeinhin unter dem Nenner 'Manifest' subsumiert wird, realiter eine noch näher zu bestimmende Pluralität von Gattungen enthält. 2. Zwar wird namentlich in der Avantgardeforschung regelmäßig von einer Gattung Manifest gesprochen und gibt es mittlerweile auch eine stattliche Zahl von Anthologien, in denen avantgardistische, künstlerischliterarische Manifeste - zumeist neben anderen Textsorten - gesammelt werden. Dagegen ist bislang die Zahl von Studien, die sich spezifisch mit dieser Gattung auseinandersetzen, verhältnismäßig gering und - was noch mehr auffallt - fehlt insgesamt eine genauere Bestimmung der Gattung Manifest. Einer Definition wird in der Regel ausgewichen. Diese Tendenz zeigt sich in der Titelgebung der besagten Anthologien. Nur selten wird im Titel angegeben, daß 'nur' Manifeste gesammelt werden. Regelfall sind Kombinationen, wie - hier in freier Auswahl nach der Bibliographie von Asholt und Fähnders (1995:455-459) zitiert - ,,Manifeste und Dokumente", "Manifeste und Proklamationen", ,,Manifeste, Proklamationen und Dokumente", aber auch ,,Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder", "Texte, Manifeste, Dokumente" ,,Dokumente, Manifeste, Programme", "Programme und Manifeste", "Manifeste, Aktionen, Turbulenzen", "Schriften und Manifeste", ,,Dichtungen, Manifeste, theoretische Schriften", "Öffentliche Schriften, Proklamationen und Manifeste, "Erzählungen, Gedichte, Manifeste" usw. Das Manifest ist - so läßt sich aus diesen Zusammenstellungen ableiten - irgendwo zwischen Literatur und Nicht-Literatur, Poetik und Poem,
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Text und Bild, Wort und Tat zu situieren. Was aber genau unter einem Manifest zu verstehen ist, wird offen gehalten und dürfte nicht immer dasselbe sein, so wie sich auch die semantische Instabilität der Bezeichnung 'Manifest' bereits aus einer kleinen Blütenlese von Dada-Anthologien ergibt. So unterscheidet Klaus Schuhmann in der Dada-Anthologie sankt ziegenzack springt aus dem ei (1991) "Manifeste, Programme, Reden, Aufsätze", zählen Karl Riha und Waltraud Wende-Hohenberger auch eine "Erklärung" von Huelsenbeck, die eigentlich ein Vortrag gewesen wäre, nicht zur Kategorie "TextelDokumente", sondern zu den "Manifesten" in ihrer Sammlung Dada Zürich 1992, und unterscheidet Huelsenbeck selbst wiederum neben "Porträts, Selbstporträts, AntiPorträts", "Prosatexten" und "lyrischen Texten" eine Gruppe "Manifeste, Pamphlete, Proteste" in Dada. Ein literarische Dokumentation (1964). Nun gilt fur diese Anthologien, daß ihnen meistens nicht oder nicht nur das Anliegen zugrundeliegt, eine bestimmte Textsorte zu sammeln, sondern daß sie auch oder vielmehr dazu gedacht sind, einen bestimmten Künstler, einen bestimmten Ismus oder auch eine bestimmte Epoche vorzustellen. Zugleich deuten editorische Einführungen gelegentlich an, daß die Zusammensteller davon ausgehen, daß es sich bei den Manifesten unter den von ihnen gesammelten Texten um eine besondere Kategorie handelt, die Z.B. von (weiteren) "Dokumenten" zu unterscheiden wäre. So kommt Z.B. Giovanni Lista 1973 in Futurisme. Manifestes - Documents Proclamations ansatzweise zu einer DefInition von Manifest und Proklamation, indem er angibt: "Le manifeste est aussi l'etablissement explicite d'un programme, d'une poetique, tandis que la proclarnation est surtout un geste et une prise de position" (zit. nach Schultz 1981: 16). Vergleichbar führen Thomas Anz und Michael Stark aus in Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, daß das Manifest spätestens in der expressionistischen Epoche sich "zur eigenständigen literarischen Gattung" verselbständige, die sich durch appellative Rhetorik, kämpferische Provokation und propagandistische Eigenwerbung auszeichne und jedenfalls ,,nicht bloß 'indirektes' Material, Meta-Literatur" sei (192:XVIII). Freilich sind die Herausgeber von Anthologien, die (auch) Manifeste sammeln, insofern von der Aufgabe einer genaueren Bestimmung desjenigen enthoben, was sie unter Manifest verstehen, als sie sich bei ihrer Sammeltätigkeit auch von anderen Interessen leiten lassen, wie Asholt und Fähnders andeuten, wenn sie einräumen, ihre Auswahl solle nicht zuletzt auch über Positionen, Innovationen, Wirkungen, Zentren, Schauplätze, Namen, über die Ismen und ihre
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Abfolge, über nationale Besonderheiten und Verschiebungen sowie über länderübergreifende, das 'Projekt Avantgarde' insgesamt einigende Positionen informieren (1995:XXIX) - gleichwohl bleibt bei Asholt und Fähnders der Anspruch dominant, das Manifest als Genre vorzustellen. Mag das Fehlen einer genaueren Gattungsbestimmung den Herausgebern von Anthologien, die nicht primär oder ausschließlich Manifeste zu sammeln vorgeben, ebensowenig zum Vorwurf gemacht werden, wie jenen Autoren, deren Überlegungen zur Gattung Manifest - wie bei Bürger - lediglich auf Texten basieren, die bereits in ihren Titeln als Manifeste ausgewiesen sind, so würde man durchaus eine genauere Bestimmung der Grenzen und Merkmale der Gattung Manifest erwarten, wenn der Anspruch erhoben wird, daß allgemeinere Aussagen über die Gattung Manifest gemacht werden (können), diese Gattung jedoch keineswegs nur 'Manifeste', sondern auch Texte umfaßt, die abweichende, konkurrierende oder zumindest komplementäre, parallele Bezeichnungen fUhren, Z.B. - beschränken wir uns hier vorläufig auf die anderen Genera von Bürger - Pamphlet, (offener) Brief oder Flugblatt heißen. Hier fällt auf, daß einer expliziten schlüssigen oder zumindest genaueren Defmition auch im Rahmen solcher Überlegungen ausgewichen wird. Bezeichnend sind hier die Präliminarien von Alfons Backes-Haase in seiner Studie zu deutschsprachigen Manifesten des Dadaismus, die beansprucht, eine Typologie des Dada-Manifests zu liefern. Setzt eine Typologie die Klärung dessen oder zumindest Einverständnis darüber voraus, was typologisiert werden soll, so gibt Backes-Haase (1992:15) ausdrücklich an, gerade darauf nicht eingehen zu wollen, [w]elche Merkmale kennzeichnen DADA-Texte, die eindeutig als Manifeste identifiziert werden sollen, und welche DADA-Produktionen sind ebenso eindeutig keine Manifeste? Ungewiß bleibt, ob über die Antwort auf diese Frage weitreichende Übereinkunft zu erzielen ist. ( ... ) an dieser Stelle [soll] das Unternehmen der Defmition und Abgrenzung des DADA-Manifests von den übrigen dadaistischen Textsorten nicht angegangen werden (... ). Will sagen: Hier soll nach allgemeinem Vorverständnis (... ) verfahren werden. ( ... ) solche Texte [werden] herangezogen, die allgemein als DADA-Manifeste gehandelt werden, wobei offenbleibt, ob im Einzelfall über die Zuordnung eines Textes nicht erst noch gestritten werden müßte.
Sieht man zunächst von der augenfälligen Aporie ab, daß zum einem "nach allgemeinem Vorverständnis" bestimmte Texte als Manifeste verstanden werden sollen. die "allgemein als DADA-Manifeste gehandelt
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werden", zugleich aber eingeräumt wird, daß eine "weitreichende Übereinkunft" möglicherweise nie erzielt werden kann und die ,,zuordnung eines Textes" zur Gattung Manifest somit wohl immer eine Streitfrage bleiben wird, so bleibt festzuhalten, daß das Desiderat einer Gattungsbestimmung unter Hinweis auf ein "allgemeines Vorverständnis" suspendiert wird. Mögen andere Autoren sich nicht so nachdrücklick auf dieses allgemeine Vorverständnis berufen, so schimmert die Vorwegnahme eines breiten Konsens darüber, was unter Manifest zu verstehen ist, auch in anderen Überlegungen zur Gattung Manifest durch. So wird dem Leser von Joachim Schultz in seinem "Versuch einer Gattungsbestimmung" der Literarischen Manifeste der 'Belle Epoque' das Auswahlkriterium des Korpus von Manifesten, das seiner Gattungsbestimmung zugrunde1iegt; vorenthalten; auch er scheint aufgrund eines allgemeinen Vorverständnisses selektiert zu haben. Zwar äußern sich Asholt und Fähnders in der Einleitung ihrer Anthologie vorsichtiger, da sie nicht den Anspruch einer monographischen Gattungsbestimmung oder Textsortentypologie erheben, sondern ausdrücklich einräumen, daß es ,,[i]nsgesamt (... ) zu früh [scheint], eine Theorie des avantgardistischen Manifestes ( ... ) zu formulieren" (1995:XXIX), wohl nicht zuletzt weil Defmitionen der Kategorien 'Manifest' und 'Proklamation' kompliziert seien. Gleichwohl beanspruchen sie immerhin, vorläufige Überlegungen anstellen zu können, wobei sie die Existenz eines Genres Manifest voraussetzen (1995 :XV), eine genauere Bestimmung der Gattung Manifest jedoch weitgehend dem Leser überlassen, insofern sie als erste sondierende Defmition bei der Deutung und Handhabung der Begriffe 'Manifest' und 'Proklamation' vorschlagen, "eine Art Gradmesser des 'Manifestantischen', des 'Proklamatorischen' [zu] erstellen - angefangen vom 'idealtypischen' Manifest bis zum Text mit einem gerade noch erkennbar 'proklamatorischen' Charakter" (1995:XXIX). Insofern das ,,Manifestantische" oder "Proklamatorische" nicht weiter erläutert wird, setzt ihre der Tautologie nicht weit entfernte Explikation ebenfalls eine bereits vorhandene communis opinio darüber voraus, was "idealtypisch" ein Manifest und Manifestantisches sei. 2
3. Was ist nach "allgemeinem Vorverständnis" ein Manifest bzw. wie läßt sich nach diesem Vorverständnis die Gattung Manifest charakterisieren? Geht man bei Backes-Haase dieser Frage nach, so stellt sich zunächst heraus, daß er diesen vermeintlichen Konsens anscheinend der-
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maßen selbstverständlich fand, daß er eine Spezifizierung unterlassen konnte. Allerdings läßt sich aus dem Auftakt seiner Typologie ableiten, was in etwa seines Erachtens die Gattung kennzeichnet und, insofern diese Besonderheiten pauschal formuliert werden, wohl dem "allgemeinen Vorverständnis" entsprechen müßte. Dem Manifest "fallt die Aufgabe zu, zwischen Kunstwerk und Künstler auf der einen und dem Rezipienten des Kunstwerks auf der anderen Seite zu vermitteln"; es wird zum ,Jntentionsträger per se", wenn "künstlerische Intention und Rezeption des Kunstwerks" auseinandertreten (1992:11); es erhält als "eine Textsorte ( ...), die als intentionsmitteilend identifiziert wird" (1992:12) und im Regelfall "klassische Intentionsäußerungen eines Künstlers oder Schriftstellers" (1992:13) enthält, die "Aufgabe, Autorintentionen, die Kunst und Literatur üblicherweise selbst transportieren, einem Lese- oder Betrachtungspublikum sekundär zu vermitteln" (1992:12, alle Hervorhebungen im Original). Nun mag Backes-Haases Behauptung, daß Kunst und Literatur "üblicherweise" Autorintentionen vermitteln oder gar eigentlich "Intentionsträger per se" (gewesen) sind (1992: 11), in der heutigen Kunst- und Literaturwissenschaft keineswegs unumstritten sein ebenso wie seine Behauptung, daß das Manifest an sich ein sekundäres Medium ist. 3 Sieht man von solchen kleineren Unterschieden ab, die nur Formulierungsfragen sein dürften, so stimmt Backes-Haases Kennzeichnung weitgehend mit anderen allgemeineren Bestimmungen und Charakterisierungen des Manifests überein. Während Asholt und Fähnders das Manifest als Form des ,,Postulierens und Proklamierens" bezeichnen (1995:XV), lautet sowohl die "vorläufige Defmition" wie die definitive Bestimmung des Manifests bei Schultz (1981 :36, cf. auch 1981 :228): Ein literarisches Manifest verkündet einem mehr oder weniger großen Publikum die ästhetischen Vorstellungen und Ziele einer literarischen Strömung, die gelegentlich bereits an anderer Stelle in einer umfassenden Poetik dargestellt worden sind. Die Verkündigung erfolgt in Form einer doktrinären Kampfschrift.
Diese Defmitionen und Qualifikationen entsprechen im Großen und Ganzen neueren lexikalischen Lemmata, die bezüglich der Hauptbedeutung der Bezeichnung 'Manifest' weitgehend übereinzustimmen scheinen: öffentliche Erklärung, programmatische Zusammenfassung der Ziele e[iner] Kunst- oder Li[eratur]strömung (Wi1pert 1979:495);
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öffentlich dargelegtes Programm einer Kunst- od. Literaturrichtung, einer politischen Partei, Gruppe o.ä (Duden 1989:985, Brockhaus 1995:2190); öffentl[ iche] Erklärung, Rechtfertigung; Darlegung eines Programms; dieses selbst; Kundgebung (Wahrig 1978:2426).
Mögen auch Wörterbücher nicht immer bei der Bedeutungszuweisung dem allgemeinen, alltäglichen Sprachgebrauch entsprechen, so scheint im Hinblick auf die Bezeichnung Manifest jener globale Konsens, auf den sich Backes-Haase beruft, durchaus in den allgemeinen Charakterisierungen des Manifests gegeben. Das Manifest - so deutet sich an - kennzeichnet sich nach allgemeinem Vorverständnis durch Postulieren, Proklamieren, die Verkündung von Vorstellungen, die Vermittlung von Autorintentionen, den Transport von Intentionsäußerungen, die öffentliche Darlegung programmatischer Zielsetzungen.
4. So wie sich ein breiter, wenn nicht allgemeiner - nicht auf die Literaturwissenschaft beschränkter - Konsens darüber abzeichnet, was unter einem Manifest zu verstehen ist, so zeichnet sich - wie deutlich geworden sein mag - ebenfalls eine Tendenz in der Literaturwissenschaft ab (zumindest in der Avantgardeforschung), bei jenen Texten, die sich als Manifest bezeichnen lassen, von einer Gattung zu reden, deren Konturierung sich nach dem allgemeinen Wortgebrauch richtet. Ist dieser Maßstab (oder vielleicht eher: diese Orientierungshilfe) zur Unterscheidung einer Gattung Manifest tauglich? Bereits die Autoren, die das Kriterium des allgemeinen Wortgebrauchs hantieren oder sich zumindest nachhaltig dadurch beeinflussen lassen, scheinen sich nicht vollkommen sicher. Asholt und Fähnders bezeichnen das Genre Manifest als eine "extrem 'offene' Form" (1995:XVI), die sich tendenziell einer umfassenden Defmition entzieht, insofern neben dem Manifest als ,,Form des Proklamierens und Postulierens" auch noch parenthetisch im Titel ihrer Textsammlung von 'Proklamationen' gesprochen wird, die wiederum in ihrer Einleitung hinter dem Begriff Manifest verschwinden, und das Manifest sich darüber hinaus durch ein Gefälle des ,,Proklamatorischen" auszeichnet, das sich am anderen Ende einer fließenden Skala fmdet, die mit dem "Manifestantischen" beginnt. Per saldo erhalten die Grenzen des Genres Manifest einen sehr flüssigen Charakter. Wohl noch in stärkerem Maße fmdet eine Entgrenzung der Gattung Manifest bei Schultz (1981 :228) statt, der neben seiner allgemeinen Defmition zusätzlich
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textuelle, sprachliche und stilistische Indikatoren des Manifests unterscheidet: Eine, durch positive und negative Schlagworte, Polarisierung der eigenen und abgelehnten Theorien; Superlative und Hyperbeln; einprägsame und sich steigernde Aufzählungen und anaphorische (oft numerierte) Reihungen, die an die Paragraphen eines Gesetzes erinnern; eine oft überbordende Kampfmetaphorik und eine ins Auge springende Typographie sind die wichtigsten Mittel, um auf den Leser einzuwirken. Ein imperativischer und apodiktischer Stil verstärken die appellative Wirkung.
"Diese nicht allzu spezifischen Mittel führten und fUhren dazu", so räumt Schultz anschließend ein, "daß auch andere theoretische Texte als Manifest bezeichnet wurden und werden" _. und das gilt nicht zuletzt fiir sein eigenes Manifestekorpus -, "wenn in ihnen mit diesen Mitteln (oder mit einem Teil von ihnen) zu ästhetischen Problemen Stellung genommen wird, z.B. Vorworte, Rezensionen, längere Essays, poetologische Traktate, literaturtheoretische Pamphlete". Eine allmähliche Verwandlung des Manifests um die Jahrhundertwende, wobei das literarische Manifest "teilweise seinen pragmatischen Charakter" verlor und "teilweise zu einem poetischen Text [wurde] (d.h. die in ihm vorgestellten Theorien wurden gleichzeitig realisiert)", habe zusätzlich dazu gefUhrt, "daß auch dichterische Texte - Romane, Erzählungen, Gedichte - als Manifest bezeichnet werden konnten und können, wenn sie in beispielhafter Form eine bestimmte literarische Theorie verwirklichen" (1981 :229). Obwohl Schultz selbst dieser letzten Erweiterung des Manifestbegriffs nicht folgt, kann man bei ihm schon feststellen, daß er jene "anderen theoretischen Texte" durchaus zur Gattung Manifest gerechnet wissen will. Während in der die Periode 1909-1938 umfassenden Anthologie von Asholt und Fähnders etwa die Hälfte der 250 gesammelten Texte die Bezeichnungen 'Manifest' oder 'Proklamation' im Titel fUhren (davon etwa Hundert Manifeste, die auch Manifest heißen), trifft man in der bibliographischen Auflistung von Schultz' insgesamt etwa 130 Texte umfassenden Manifestekorpus fiir den vorangehenden Zeitraum der Belle Epoque (18861909) nur fiinf Titel an, die den betreffenden Text explizit als Manifest ausweisen (cf. Schultz 1981:269-278). Trotzdem moniert Schultz, das literarische Manifest sei "seitdem nicht mehr aus dem Gattungssystem wegzudenken, wenn auch nicht mehr in diesem Maße [wie im Zeitraum 1886-1909] auf es rekurriert wird" (1981:229). Obwohl er im Hinblick auf diese Kontinuität auf Futuristen, Dadaisten und Surrealisten hinweist,
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hebt sich sein Gattungsbegriff so weit von der Selbstbezeichnung 'Manifest' ab, daß er die Flut von mehreren Hunderten von avantgardistischen insbesondere futuristischen und dadaistischen - Manifesten, die auch Manifest heißen, offensichtlich nur noch als Nachgesang einer Manifeste-Hochkonjunktur versteht, deren individuelle Texte nur selten als 'Manifest' betitelt wurden. Der von ihm signalisierten Entgrenzung gibt Schultz somit nach. Das Fehlen einer genaueren DefInition der Gattung Manifest fUhrt - daran scheint der Rekurs auf die allgemeine Wortbedeutung wenig zu ändern - zu einer weitgehenden Unbestimmtheit der Gattung Manifest, die nicht zuletzt deshalb problematisch ist, weil diese Gattung äußerst heterogen sei, wie Asholt und Fähnders (1995 :XV-XVI) andeuten: Unter 'Manifest' firmiert vieles: der ganz konventionelle Forderungskatalog ebenso wie das potenzierte 'Anti-Manifest', eine im dramatisch-erzählerischen Ton gehaltene Abrechnung mit dem Alten (... ) ebenso wie 'poetische' Texte, die nichts Programmatisch-Diskursives an sich haben und nur durch ihren Titel behaupten, ein 'Manifest' zu sein (... ); es gibt Manifeste, die ihre eigenen Forderungen selbst annulieren (... ), und wir kennen ganze Serien von durchgezählten Manifesten, die Entwicklung und Kontinuität einer Avantgarde-Richtung markieren (... ). Das avantgardistische Manifest ist eine äußerst praktikable und extrem 'offene' Fonn. Auch die Grenzen anderer Gattungen, ob es nun die klassische Triade poetischer 'Naturformen' oder die als solche defmierten Dichtarten Roman, Essay, Novelle, Sonett, Hymne usw. - betrifft, mögen in bisherigen Taxonomien nie wasserdicht gewesen sein. Ebenfalls mag nichts dagegen einzuwenden sein, daß die Gattung Manifest fluktuierende Grenzen kennt, insofern diese Flexibilität neueren Ansätzen der Gattungstheorie zu entspricht, die Genres als dynamische Normensysteme zu erfassen suchen (cf. de Geest 1989). Allerdings stellt sich bei einer Gattung, die anscheinend nicht nur stark fluktuierende Grenzen besitzt, sondern auch in sich durch ein kaum zu übertreffendes Höchstmaß an Heterogeneität charakterisiert wird, die Frage, ob noch sinnvollerweise von einer Gat.;; tung gesprochen werden kann.
5. In der bereits beobachteten Unbestimmtheit der Gattung Manifest - sowohl nach innen als nach außen - zeigt sich noch ein weiteres Problem bei ú É ê = geläufIgen Unterscheidung eines Manifestgenres. Es betrifft hier
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nämlich ein äußerst absorptionsfähiges Genre, denn jene Textsorten, die beispielsweise Schultz zufolge der Gattung zugerechnet werden können Vorworte, Rezensionen, Essays, Traktate, Pamphlete sowie Romane, Erzählungen, Gedichte - bilden in sich bereits Gattungen oder bezeichnen übergreifend - eine Reihe von Gattungen. Selbstverständlich mag es bei einzelnen Texten schwierig sein, zu bestimmen, zu welcher Gattung sie zu zählen sind. Auch kann sich selbstverständlich eine neue Gattung konstituieren, die sich aus mehreren älteren Gattungen zusammensetzt, wie z.B. Jauß (1972:123) zufolge in Boccaccios Decamerone zu beobachten sei: Die Form einer neuen Gattung kann auch aus Strukturveränderungen hervorgehen, die bewirken, daß eine Gruppe schon vorhandener, einfacher Gattungen in ein höheres Organisationsprinzip einrückt. Der klassische Fall dafür ist die von Boccaccio geprägte Form der toskanischen novella, die für die ganze spätere Entwicklung der modemen Gattung Novelle normgebend wurde. In Boccaccios Decameron ist - genetisch betrachtet eine erstaunliche Mannigfaltigkeit älterer erzählender oder belehrender Gattungen eingegangen: mittelalterliche Formen, wie Exemplum, Fabliau, Legende, Mirakel, Lai, Vida, Nova, Liebeskasuistik, orientalische Erzählliteratur, Apuleius und die milesische Liebesgeschichte, Florentiner Lokalgeschichten und Anekdoten.
Die Mühelosigkeit, mit der die Gattung Manifest in ihrer Unbestimmtheit jedoch andere Gattungen frißt, läßt allerdings eher vermuten, daß die Kategorie des Manifestgenres quer zu den üblichen Genreunterscheidungen steht. Daß die Gattung Manifest so gefräßig ist, dürfte nicht zuletzt mit jenem "allgemeinen Vorverständnis" des Manifests zusammenhängen, welcher der der Gattungsunterscheidung zugrundeliegt. Dieses bezieht sich nicht so sehr auf eine Textsorte, sondern vielmehr auf eine Textfonktion bzw. auf Texte, in denen diese Funktion dominiert: die Vermittlung von Botschaften, von Intentionen, von Programmen, von Absichten und Anliegen, die man einer bestimmten Öffentlichkeit kundtun will. "En effet, un Manifeste se caractense par la preeminence de la fonction emotive", wie Rene Lourau in Anlehnung an Roman Jakobson in einer der ersten Studien zu Tzaras ,,Dada-Manifest 1918" bemerkte (1974:12). Nun ist an und fiir sich selbstverständlich nichts gegen die funktionale Defmition einer Textsorte einzuwenden. Die Frage ist aber, ob jene funktionale Bestimmung als Intentionsträger, die man bei der Konturierung der Gattung Manifest antrifft, genügend Substanz besitzt, ob das Krite-
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rium der Vermittlung von Intentionen oder Programmen nicht letztlich eine allzu schmale Basis fiir die Unterscheidung einer Gattung bildet. Ohne hier zu einer essentialistischen Festschreibung dieses Terminus zu kommen oder die Diskussionen neu zu beleben, die, ausgelöst von Croces Kritik an die Triade der poetischen 'Naturformen', in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft vor allem in den Siebzigern gefiihrt wurden (cf. Hempel 1973, Hinck 1977, Vorstand 1983), deutet die Bezeichnung Gattung (darüber dürfte es trotz aller Unterschiedlichkeit in der Betrachtung und Bewertung der Kategorie Gattung und der anverwandten Bezeichnungen Textsorte und Genre wohl Einverständnis geben) eine gewisse, weiterreichende "Familienähnlichkeit" an (Jauß 1972:113), die es sinnvoll erscheinen läßt, von einer Artverwandtschaft zu sprechen. Eine Verwandtschaft, die sich in der Regel nicht nur aus funktional-pragmatischen Eigenschaften, sondern auch aus formal-inhaltlichen Merkmalen ergebe, die im Text selbst angelegt sind, vielleicht nicht so sehr als taxonomisch erfaßbare statische Wesensmerkmale, sondern als axiologisch zu beschreibender Niederschlag von Normen, Werten und Konventionen (cf. Vlasselaers/van Gorp 1989, de Geest 1989, de Geest! van Gorpl de Graef 1996:52-3). Bei der Unterscheidung der Gattung Manifest ist von letzteren kaum die Rede. Zwar deutet Schultz, wie oben dargestellt, solche Textmerkmale an, räumt aber sofort ein, sie seien alles andere als spezifisch. Und nicht nur diese textuellen Indikatoren, auch der funktionale Grundzug, der zur Unterscheidung der Gattung Manifest herangezogen wird: die Vermittlung von Intentionen, ist alles andere als spezifisch. Betrifft es nicht eine Besonderheit, wenn man hier überhaupt von Besonderheit sprechen kann, die allen bzw. einer sehr weitgefacherten Skala von diskursiv-pragmatischen Texten eigen ist und außerdem eine Funktion, die man im Prinzip auch allen literarischen Textsorten mit Kunstcharakter zuschreiben könnte? Dies scheint Schultz' Aufweichung seiner Gattungsdefmition bereits anzudeuten, wenn er auf die Absorptionsfahigkeit der Gattung Manifest hinweist, die bei ihm eher ausnahmsweise Texte umfaßt, die auch als Manifest ausgewiesen werden, daneben aber auch Pamphlete, Vorworte, Briefe ebenso wie Romane, Erzählungen und Gedichte umfassen kann, also nicht nur die alte Gattungstriade sprengt, sondern quer zur Verwendung der Bezeichnung 'Gattung' steht, da jede Gattung immer auch Manifest sein kann - Manifest im Sinne einer ,,Funktionsbezeichnung", wie Schultz mit Recht angibt. Eine "Funktionsbezeichnung", die sogar im weitest denkbaren semiotischen Sinne auf 'Texte' jeder Art angewandt werden kann: auch auf bildende
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Kunst, Musik oder gewisse gesellschaftliche Praktiken (cf. Abastado 1980:4-5). Mag man auch in der Regel außerhalb der Sphäre des geschriebenen (oder gesprochenen) Wortes nicht mehr von einer Gattung Manifest sprechen, so scheint es ebenfalls kaum gerechtfertigt, bei Texten im engeren Sinne von einer Gattung zu sprechen. "Les manifestes, donc, c'est Proree - changeant, multiforme, insaississable", merkt Abastado in diesem Zusammenhang an (1980:5) und vermeidet deshalb die Bezeichnung 'genre'. Stattdessen verwendet er die globalere und wohl passendere Bezeichnung "ecriture manifestaire" (1980:11), die sich durch "constantes fonctionelles" auszeichnet und "textes ayant une fonetion de manifestes" (1980:3, kursiv im Original) umfaßt. 6. Läßt man die grundsätzliche Frage ruhen, ob eine neuartige Gattungssystematik denkbar oder wünschenswert sei, die mit der bisherigen Anwendung(en) der Bezeichnung Gattung bricht und die Kategorie auf eine neue, funktionale Grundlage stellt (alles weist daraufhin, daß eine Erweiterung der bestehenden Gattungssystematik, nicht eine solche prinzipielle Umwälzung der Rede von einer Gattung Manifest in der Avantgardeforschung zugrundezuliegt), so kann man sich bei der Betrachtung der Gattung Manifest zunächst mit der bescheideneren Frage begnügen, was mit der geläufigen Unterscheidung dieser Gattung gewonnen wird bzw. Verloren wird, wenn man diese vom alltäglichen Wortgebrauch (insofern das 'Manifest' zum alltäglichen Wortschatz zählt) konturierte Gattung aufgibt. Diese Frage ist letztendlich nicht weniger grundsätzlich, da die Gattung Manifest, so wie sie in der Regel in der Forschungsliteratur unterschieden wird, nicht so sehr eine historische Kategorie, sondern vielmehr eine historiographische Hilfskonstruktion ist (insofern sie die historischen Selbstbezeichnungen unbeanstandet läßt), deren Relevanz selbstredend in erster Linie dadurch bedingt ist, ob sie zu weiterreichenden Erkenntnissen führt oder nicht. Für die Avantgardeforschung läßt sich in diesem Zusammenhang feststellen, daß das Manifest bzw. die Handhabung des Manifests in der Avantgarde, die sich durch eine Literarisierung der ehemals nicht-literarischen Gattung auszeichnet, vor allem eins andeuten sollte, nämlich die Grenzüberschreitung. Diese mache sich laut Schultz, der von einer die Gattung Manifest aus ihrem pragmatisch-gesellschaftlichen Kontext herauslösenden Verselbständigung zu einem literarischen Genre ausgeht, im Versuch bemerkbar, "die Mauer zwischen Theorie und Werk einzu-
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reißen" (1981:229, cf. auch Schultz 1984). In Anlehnung an Peter Bürgers These in Theorie der Avantgarde, daß die Avantgarde "die Aufhebung der autonomen Kunst im Sinne einer Überfiihrung der Kunst in Lebenspraxis" intendiere (1974:72), kommt Backes-Haase zu einem wieterreichenden Fazit. Im Manifest als "paradigmatischem Medium" (1992: 127), das "zwischen Gebrauchs- und Kunsttext die MittelsteIle" einnimmt, dokumentiert sich - so Backes-Haase - die Suche nach "der realen Verbindung zwischen Kunst und Wirklichkeit" (1992:130). Ähnlich äußern sich Asholt und Fähnders. Im Anschluß an die Feststellung, daß die "literarisch-künstlerische Moderne" zunächst ,,noch problemlos die Trennung von Kunstwerk und Manifest" respektiert habe, wo "die Manifeste der Moderne ihren Unterschied zum autonomen Kunstwerk [betonen], zu dem das Manifest sich eben nicht zählt" (1995:XVI-XVII), habe die Avantgarde damit Schluß gemacht. Die Manifeste sollten fortan nicht mehr vom Kunstwerk geschieden werden, ihre Form verweist vielmehr darauf, daß sie sich an der Grenze zwischen Kunstwerk und außerkünstlerischer Realität ansiedeln, daß man den Status des autonomen Kunstwerks in F:rage stellt und das Manifest eine Brücke von der Kunst zum Leben schlagen soll. (1995:XVII)
Freilich liegt hier, darauf deuten bereits Bürgers Ausfiihrungen in seiner Theorie der Avantgarde hin, keine Besonderheit des avantgardistischen "Manifestantismus" (AsholtlFähnders) vor. Die Brücke zwischen Kunst und Leben wird gleichermaßen in der Collage und Montage, im Readymade ebenso wie in der Hinwendung zu neuen Medien und Verfahren (Film, Photographie), aber auch - auf literarischer Ebene - in weiteren, vergleichbaren Spielarten der "Textsortentransgression" (cf. Rössner 1994) geübt, die .man im Manifest, aber z.B. auch im Reportageroman (cf. Kreuzer 1988) oder Aragons Paysan de Paris (cf. Rössner 1994:468475) beobachten kann. Allgemeiner: eine Textsortentransgression, die wohl auf textueller Ebene der textsortenübergreifende und -transgressierende Ausdruck jenes Bemühens ist, Kunst bzw. Literatur und Leben zusammenzubringen - eine Ineinssetzung, die auf literarischer Ebene in praxi nur ausnahmsweise eine Rückkehr der Literatur ins alltägliche Leben, überwiegend in einer Vermischung literarischer und nicht-literarischer Schreib- und Publikationsweisen zum Ausdruck kam. In diesem Zusammenhang unterschied sich die Transgression der Gattung 'Manifest' bzw. der unter dem Begriff 'Manifest' subsumierten Textsorten von jener der literarischen Gattungen mit ursprünglichem
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Kunstcharakter, wie z.B. des Romans, dadurch, daß sich bei letzteren eine Bewegung von der Kunst zum Leben, bei den Manifesten eher eine umgekehrte Bewegung erkennbar ist, insofern das "Manifest der Avantgarde" nicht so sehr "die Ebene des traditionellen 'Werkes'" verläßt (AsholtlFähnders 1995:XVII), sondern sich dieser Ebene quasi von der anderen Seite - vom Leben, von der Wirklichkeit, vom Alltag her - annähert und sie tendenziell durchdringt. Diese Grenzüberschreitung zählt, so sei hier nochmals hervorgehoben, zu einer viel breiter angelegten Praxis der Transgressionen, die mehrere Grenzen zu verwischen sucht: zwischen Literatur und Nicht-Literatur, zwischen Wort und Bild, zwischen Ästhetik und Politik, zwischen Kunst und Gesellschaft. Mag die Besonderheit all jener Texte, die in der Regel der Gattung Manifest zugeordnet werden, in einer besonderen Transgression im Kontext einer größeren Varietät verwandter Verfahrensweisen liegen, so scheint es aufgrund dieses zusätzlichen Spezifikums wohl kaum sinnvoll von einer Gattung zu sprechen bzw. mehr oder weniger für diese Besonderheit eigens eine Gattung zu konstruieren. 7. Die Gattung Manifest umfaßt, auch wenn man diesen Begriff nicht so weiträumig hantiert, daß sogar noch Romane darunter subsumiert werden, immerhin eine große Varietät von Texten unterschiedlicher Denomination, von der Vorrede, dem Vortrag, Pamphlet und offenen Brief über die Proklamation, das Dekret und Ultimatum bis (zurück) zum Appell und Aufruf. Und hier ergibt sich ein weiteres Problem bei der gängigen Handhabung des Terminus Manifest als Gattungsbezeichnung. Wird hier nicht vorschnell eine große Diversität von Texten zusammengefegt und ihre Unterschiedlichkeit übergangen, wenn man sie unter dem Nenner 'Manifest' als Gattung zusammenfaßt? Es mag zwar Texte mit einer besonderen, wenn auch insgesamt eher unbestimmten Funktion betreffen, die irgendwo im Grenzbereich, in der Grauzone zwischen literarischen Texten mit primärem Kunstcharakter und nicht-literarischen Gebrauchstexten zu situieren sind. Die Frage, ob mit solchen vagen Charakteristiken die Mindestkriterien zur sinnvollen Unterscheidung einer Gattung, einer umfassenden, signifikanten Familienzugehörigkeit erfüllt sind\ läßt sich im Grunde nur negativ beantworten: die Kategorie Gattung wird dermaßen erweitert, daß sie mehr oder weniger implodiert und so zu einer sinnentleerten Floskel zu verkommen droht. Dort mehrere Gattungen zu unterscheiden, wo gemeinhin eine Gat-
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tung angenommen wird, wird bereits nahegelegt, wenn man die von Jauß als ,,Mittel zur Feststellung konstitutiver Gattungsunterschiede" (1972: 119) vorgeschlagene Kommutationsprobe auf jene unterschiedlichen Selbstbezeichnungen anwendet, denen man als selbstklassifizierende Denominationen in den Titeln von Texten begegnet, welche der Gattung Manifest zugeordnet werden. Wohlgemerkt: einer Gattung, die nach einer bestimmten Bezeichnung genannt ist, die man im Gesamten der Texte, die der Gattung zugeordnet werden, neben anderen antrifft, wobei die Grenzen der Gattung nur in geringem Maße mit dem Gesamten jener Texte korrespondieren, die Manifest heißen (hingewiesen wurde bereits auf Schultz' Textkorpus, in dem weniger als fünf Prozent der gesammelten Texte tatsächlich 'Manifest' heißt). Vielmehr bildet die Bezeichnung 'Manifest', wie bereits angedeutet, die Indikation einer Textfunktion. Und nur so scheint es erlaubt, z.B. einen Appell der Gattung Manifest zuzuordnen. Wenn, wie vorhin angedeutet, die sinnvolle Unterscheidung einer Gattung Manifest mehr verlangt als bloß dieses funktionale Moment und nach weiteren Textmerkmalen Ausschau gehalten werden muß, so scheint es nicht verfehlt - hier lediglich provisorisch als erster Fingerzeig - bei jenen Texten, die der Gattung Manifest zugeordnet werden, den Blick auf ihre Titel zu richten. Titel, die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnen, daß sie oft eine Selbstklassifizierung enthalten, welche Text einer bestimmten Textgruppe zuordnet. Dabei ergibt die Kommutation dieser Klassifizierungen eigentlich direkt, daß sich bei manchen dieser Selbstbezeichnungen ein Austausch ohne gravierende Folgen durchaus vornehmen läßt - beispielsweise könnte man statt "Dadaistisches Manifest" z.B. ,,Dadaistische Proklamation", "Dadaistische Deklaration" schreiben, ohne daß sich dadurch viel ändert. Ein sofortiger Bedeutungswandel vollzieht sich jedoch, wenn man statt "Dadaistisches Manifest" z.B. "Dadaistischer Appell" oder "Dadaistischer Aufruf' schreiben würde, ebenso wie z.B. Titel, wie "Manifest gegen die weimarische Lebensauffassung" oder "Appell gegen die weimarische Lebensauffassung" andere Leseerwartungen wecken als der eigentliche Titel von Hausmanns Schrift: ,,Pamphlet gegen die weimarische Lebensauffassung" . Nun mag man einwenden, die hier signalisierten Bedeutungsverschiebungen seien in starkem Maße vom subjektiven Sprachgespür abhängig. Dem mag teils so sein, allerdings, wenn es ein "allgemeines Vorverständnis" von der Textsorte Manifest gibt, wird damit dann nicht die gleiche Möglichkeit z.B. für 'Appell' oder 'Aufruf impliziert? Und übersteigt die Frage,
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ob sich etwas substantiell ändert, wenn man statt 'Manifest' 'Appell' oder 'Aufruf schreiben würde, nicht bereits die Ebene des persönlichen Geschmacks im Hinblick auf die gegenwärtige, postmodern geprägte Bewertung des Manifests als einer autoritätsträchtigen Artikulationsform (cf. Grüttemeier intra, van den Berg 1997)? Diese kritische Apperzeption mag teils dadurch bedingt sein, daß die Avantgarde bzw. bestimmte Sparten der Avantgarde (denn manche Avantgardisten, wie Schwitters oder Duchamp haben an Popularität nichts eingebüßt) Überlegungen anstellten, die z.B. in ihrem Universalismus, Fortschrittsdenken oder zwingenden Charakter mit postmodernen Sichtweisen auf gespanntem Fuß stehen, teils mit bestimmten Schreibweisen zusammenhängen, die sich in den gemeinhin als avantgardistische Manifeste klassifizierten Texten bekunden. Die Kritik ist teils aber auch durch eine Sprechsituation, besser: ein Kommunikationsverhältnis bedingt, das nachhaltig von der Bezeichnung 'Manifest' geprägt wird, die wie vielleicht noch stärker in Bezeichnungen wie 'Tagesbefehl', 'Dekret' oder 'Ultimatum' zum Ausdruck kommt - eine bestimmte Autorität reklamiert bzw. einen Anspruch darauf zum Ausdruck bringt, anders als sich z.B. fiir 'Appell' geltend machen läßt. Ein Umstand, der wohl nicht zuletzt damit zusammenhängen dürfte, daß das Manifest über Jahrhunderte eine schriftliche Artikulationsform der Herrschaft war (cf. van den Berg 1997). Obwohl sich die Hypothese in praxi nicht erproben läßt oder erprobt werden soll, ist anzunehmen, daß, würde man nicht von einer Gattung Manifest, sondern von einer Gattung Appell sprechen und darunter auch Texte subsumieren, welche die Bezeichnungen 'Manifest' oder 'Tagesbefehl' im Titel fUhren, die pauschalisierende Bewertung dieser Gattung Appell von jenem Verdikt erheblich abweichen dürfte, das heutzutage die Gattung Manifest trifft.
8. Nun geht es hier nicht darum, eine neue Bezeichnung zu fmden, die jene Texte übergreifend umfassen könnte, die in der Forschungsliteratur der Gattung Manifest zugeordnet werden, denn - soviel dürfte bereits deutlich geworden sein, die Annahme, daß es sich bei diesen Texten um eine Gattung handle würde, erweist sich als höchst problematisch. Vieles weist darauf hin, daß diese eine Gattung im Grunde mehrere Textsorten umfaßt. Wenn Asholt und Fähnders in der Einleitung ihrer Anthologie ,,[a]ngesichts der Fülle von Manifesten, die sich in ihren inhaltlichen For-
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derungen ebenso grundsätzlich voneinander unterscheiden wie in ihrer jeweiligen Machart", die Frage aufwerfen, "ob überhaupt an einem einheitlichen Begriff von Avantgarde festgehalten werden kann; ob nicht besser von 'Avantgarden' zu sprechen wäre" (1995:XVI), so mag der Sprung vom Manifest zur Avantgarde bei ihnen dadurch berechtigt sein, daß ihre Anthologie die doppelte Aufgabe erfüllen sollte, sowohl die avantgardistische Verwendung des "Manifest[s] und andere[r] Formen des Proklarnierens und Postulierens" vorzustellen (1995:XV), wie auch die Avantgarde(n) an Hand ihrer Manifeste (cf. 1995:XXIX). In dieser Hinsicht entspricht ihr Sprung vom Manifest zur Avantgarde im Grunde jedoch einer viel breiteren Tendenz in der Avantgardeforschung, Manifeste primär als Informationsquellen zur Beschreibung der Avantgarde, der avantgardistischen Kunst und der avantgardistischen Zielsetzungen zu verwenden. Zugleich spielt aber auch ein Phänomen mit, auf das Günter Niggl hingewiesen hat, nämlich daß die "ältere Historiographie literarischer Gebrauchsformen ( ... ) die einzelnen Werkbeispiele der Gattung primär als kulturhistorische Dokumente, die Gattungsgeschichte als Illustration der allgemeinen Geistesgeschichte" gesehen hat (1983:307). Merkt Niggl in diesem Zusammenhang an, daß eine solche Handhabung nicht-fiktionaler Gattungen "wohl kaum die Beschränkung auf eine bestimmte Gattung" rechtfertigt - ,,[klein ernsthafter Sozial- oder Kulturhistoriker wird vor formalen Gattungsgrenzen seiner Quellen Halt machen" (1983:308) -, so mag die Gefahr des Reduktionismus und des verstellten Blickwinkels in bezug auf die Gattung Manifest insofern nicht akut sein, als bei diesem Genre von formalen Gattungsgrenzen kaum gesprochen werden kann. Dagegen scheint Niggls Forderung an den "Gattungshistoriker", "seine Quellen weniger als historische Dokumente denn als literarische Gattungen mit eigenen Formgesetzen und Formtraditionen zu betrachten" (1983:308), durchaus angebracht. Sie festigt jedenfalls die Aufmerksamkeit auf die Frage, die von Asholt und Fähnders übersprungen wird und die sich nicht zuletzt aufgrund der von ihnen konstatierten "extrem 'offenen' Form" aufdringt, ob nämlich angesichts der Fülle von Manifesten, die sich in ihren inhaltlichen Forderungen ebenso grundsätzlich voneinander unterscheiden wie in ihrer jeweiligen Machart, überhaupt an der Rede von einer Gattung festgehalten werden kann oder ob nicht besser von mehreren manifestartigen Gattungen zu sprechen wäre bzw. von einer Reihe von Gattungen, die - vorsichtig formuliert - vor dem Hintergrund avantgardistischer Innovation und breiter angelegten Gattungstransformationen und -
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transgressionen vorläufig in einem Grenzland zwischen nicht-fiktionalem Gebrauchstext und literarischer Schrift mit reinem Kunstcharakter anzusiedeln sind.
9. Unabhängig von der Plausibilität der geläufigen Unterscheidung einer Gattung Manifest gibt es noch ein weiteres prinzipielles Problem, das die Rede von einer solchen Gattung "nach allgemeinem Vorverständnis" in Frage stellt. Der Begriff 'Gattung' mag zum einen eine Hilfskonstruktion sein, ein historiographischer Metabegriff zur Erfassung texttypologischer Phänomene, seien sie synchron, diachron oder quasi-überzeitlich (je nach dem Geschichts- und Literaturverständnis und epistemologischen Ausgangspunkt des jeweiligen Autors). Zum anderen kann es wohl keinen Zweifel darüber geben, daß Gattungsbezeichnungen als Indikatoren von Gattungsverständnissen auch historisch eine manchmal stärkere, manchmal schwächere Rolle in der geschichtlichen Genese, Entwicklung, Variation und Auflösung, in der Produktion wie in der Apperzeption literarischer Texte zukommt. Wie Hans Robert JauB in "Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters" (1972:110) angedeutet hat: Wie es keinen Akt sprachlicher Kommunikation gibt, der nicht auf eine allgemeine, sozial oder situationshaft bedingte Norm oder Konvention zurückbeziehbar wäre, so ist auch kein literarisches Werk vorstellbar, das geradezu in ein informatorisches Vakuum hineingestellt und nicht auf eine spezifische Situation des Verstehens angewiesen wäre. Insofern gehört jedes literarische Werk einer 'Gattung' an, womit nicht mehr und nicht weniger behauptet wird, als daß ftir jedes Werk ein vorkonstituierter Erwartungshorizont vorhanden sein muß (der auch als Zusammenhang von Spielregeln verstanden werden kann), um das Verständnis des Lesers (Publikum) zu orientieren und eine qualifizierende Aufnahme zu ermöglichen.
Diese Überlegungen waren zunächst eine Erwiderung auf Stimmen (insbesondere Croces), die die substantialistische Unterscheidung von Gattungen, so wie sie namentlich in der von Goethe postulierten Triade 'poetischer Naturformen' erscheint, in Frage stellten und die Kategorie 'Gattung' im Grunde genommen abdanken lassen wollten. Zugleich versuchte JauB, eine Alternativefür jene universalistische Handhabung des Gattungsbegriffs zu entwickeln, indem er "das Allgemeine der Literaturgattungen nicht mehr normativ (ante rem) oder klassifikatorisch (post rem), sondern historisch (in re)" ansetzte (1972:111), "die literarischen
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Gattungen nicht als genera (Klassen) im logischen Sinn, sondern als Gruppen oder historische Familien" auffaßte (1972:110). Während er einerseits die Gattung retten wollte, kam es Jauß (ebd.) andererseits darauf an, "den klassischen Gattungsbegriff zu entsubstantialisieren": Das erfordert, den (dann allerdings nur noch [im Verhältnis zum klassischen Gattungsbegriff] metaphorisch so zu nennenden) literarischen 'Gattungen' keine andere Allgemeinheit zuzuschreiben als die, die sich im Wandel ihrer historischen Erscheinung manifestiert.( ... ) Sie können als solche nicht abgeleitet oder definiert werden, sondern nur historisch bestimmt, abgegrenzt und beschrieben werden.
Gattungen seien somit keine festen Entitäten, überzeitliche Normen oder Klassen, sondern "prozeßhafte Erscheinungen" (ebd.), wobei sich das Verhältnis vom einzelnen Text zur gattungsbildenden Textreihe als ein Prozeß fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung dar[stellt]. Der neue Text evoziert für den Leser (Hörer) den aus früheren Texten vertrauten Horizont von Erwartungen und Spielregeln, die alsdann variiert, erweitert, korrigiert, aber auch umgebildet, durchkreuzt oder nur reproduziert werden können. Variation, Erweiterung und Korrektur bestimmen den Spielraum, Bruch mit der Konvention einerseits und bloße Reproduktion andererseits die Grenzen einer Gattungsstruktur. (1972:119)
Nun mögen JauB' Ausfiihrungen hier obsolet erscheinen, insofern sie sich im Rahmen von Auseinandersetzungen zur Gattungstheorie bewegen, die vor allem in den Sechzigern und Siebzigern stattfanden und ihre Aktualität auf den ersten Blick verloren haben mögen. Allerdings gilt zu beachten, daß in der Rede von einem aufgrund eines ahistorischen "allgemeinen Vorverständnisses" defmierten Manifest, jener überzeitliche Universalismus fortgeschrieben wird, gegen welchen JauB hier argumentiert. Obwohl sich der Blick in Jauß' Überlegungen insbesondere auf den LeserlHörer richtet, kann es zudem keinen Zweifel darüber geben, daß der ,,Prozeß fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung" zwar nicht von rezeptiven Horizonterwartungen getrennt werden kann und sich erst in der Durchbrechung oder Bestätigung dieser Erwartungen konstituiert, jedoch insbesondere der Horizontstiftung ein auktoriales Moment innewohnt - Horizonte, hier: Gattungshorizonte werden gestiftet, werden verändert, nicht nur im Akt des Lesens, sondern gerade auch in der Schöpfung neuer Texte. Hier nun kann man feststellen, daß in der vorhin konstatierten funktionalen Bestimmung der Gattung gerade ihre
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Rolle als Vennittlerin von Intentionen hervorgehoben wurde und auch in der Lektüre von Texten, die dieser Gattung zugeordnet werden, die Aufdeckung von Intentionen im Vordergrund steht. So werden Manifeste in der Regel von der Avantgardeforschung herangezogen, um herauszufmden oder zu belegen, was die Avantgarde wollte. Und auch in Studien, in denen die Praxis des avantgardistischen ,,Manifestantismus" einer näheren Betrachtung unterzogen wird oder nachvollzogen wird, was Anliegen z.B. der Dadaisten "in und mit ihren Manifesten" gewesen sei (BackesHaase 1992:14), geht es primär um die Intentionen der Avantgarde bzw. einzelner avantgardistischer Ismen oder Künstler. Nun mag die Frage nach Autorintentionen in der Literaturwissenschaft umstritten sein, gerade im Hinblick auf jene Texte, die gemeinhin der Gattung Manifest zugeordnet werden, scheint diese Frage bereits dadurch legitimiert, daß es sich hier um Texte handelt, die jedenfalls genealogisch der Domäne des Pragmatisch-Diskursiven entstammen, teils auch in der Avantgarde noch die darin vorherrschende Funktion des (eindeutigen) Mitteilens von Botschaften erfüllen (sollten). Vor diesem Hintergrund fällt eine offensichtliche Diskrepanz in der Forschungsliteratur auf - zwischen dem Anspruch einerseits, zu einer historischen Beschreibung der Gattung Manifest zu kommen, und der Praxis andererseits, genau das wohl entscheidendste Moment auszublenden, dasjenige, worauf Jauß mit dem Hinweis auf Horizontstiftung und Horizontveränderung (sowie auf ihre 'Alternative': die in Stereotypie, Erstarrung und Kitsch rriündende Bestätigung von Horizonterwartungen [1972:119]) aufmerksam macht: das Moment der wohl kaum expliziter denkbaren Horizontstiftung mittels Textsortenbezeichnungen, so wie man ihnen in den Titeln der Texte begegnet, die, ob sie nun 'Manifest' oder anders heißen, der Gattung Manifest zugeordnet werden. Es dürfte nicht insignifikant sein, daß z.B. erst von den Futuristen ab 190811909 eine Großzahl von Manifesten hervorgebracht wurde, die auch die Bezeichnung 'Manifest' im Titel führten, und daß sich bald Vertreter anderer Richtungen dieser Praxis anschlossen. Sowohl die Futuristen als auch Vertreter weiterer Ismen verwendeten jedoch eine Reihe anderer Bezeichnungen (ebenfalls alles andere als sparsam), wie 'Appell', 'Pamphlet', 'Dekret' oder schlicht 'Rede'. Daß solche Titel wesentlich zur Horizontstiftung und in manchen Fällen auch wesentlich zur Horizontveränderung beitragen, beitrugen, beitragen sollten, dürfte deutlich sein. Eine Horizontstiftung und -veränderung, die unmittelbar mit der prozeßhaften "Variation, Erweiterung und Korrektur" von Gattungsgrenzen zu-
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sammenhängt. Obwohl hier keineswegs unterstellt werden sollte, daß die sich mit der Gattung Manifest befassende Avantgardeforschung für solche Variationen, Erweiterungen und Korrekturen kein Auge hat - es ist genau das, was Mal für Mal in unterschiedlicher Weise beschreiben wird -, kann es zugleich keinen Zweifel darüber geben, daß die geläufige ahistorische Gattungsdefmition einen blinden Fleck dafür entstehen läßt, wie sich nicht nur in der Gattung Manifest bzw. in den einzelnen darin zu differenzierenden Texten und Textarten etwas ereignet (wie z.B. in Form des ominösen 'Anti-Manifests'), sondern vor allem auch die Gattung als solche bzw. der (die) Gattungsbegriff(e) fortwährend reflektiert, rekonstituiert, bestätigt oder abgeändert wird (werden). Wie gerade die Titelgebungen andeuten, wird maßgeblich darüber nachgedacht, Gattungsgrenzen zu verlegen, neu zu bestimmen, neu zu konstituieren und gleich wieder zu variieren. Wohl stärker als im Bereich der Lyrik oder der fiktionalen Prosa, in der nicht jeder Text ausdrücklich als 'Roman', 'Novelle', 'Sonett', 'Hymne', 'Ode' usw. ausgewiesen wird, scheinen solche Bezeichnungen in den Titeln jener angeblich der Gattung Manifest zugehörenden nichtfiktionalen Texte eher die Regel als die Ausnahme, was sowohl als Anzeichen für ein sehr ausgeprägtes Gattungsbewußtsein als auch für ein offensichtliches Bedürfnis ist, Texte zu klassifizieren und somit Familienzugehörigkeiten auf Gattungsebene zu explizitieren. Nun sind Bezeichnungen im Titel einzelner Texte gewiß nicht der einzige Maßstab; es ist mehr dazu erforderlich, damit ein Text zu einer bestimmten Gattung gezählt werden kann (oder vielleicht auch 'zwischen' den Gattungen zu situieren ist, eine Übergangs- oder Zwittererscheinung bildet). Und hier gilt wohl auch - beschränken wir uns auf die (Selbst-)Bezeichnung 'Manifest' -, daß sicherlich nicht alle Texte, die 'Manifest' im Titel fuhren oder als solche veröffentlicht wurden, der Gattung (im engeren Sinne) auch zuzuordnen sind. So gibt es z.B. auch Texte, die 'Manifest' heißen oder dieses Wort im Titel fUhren, allerdings ebensowenig Manifest sind, wie ein 'French letter' oder Edgar Allen Poes ,,Purloined Letter" Briefe sind oder andeuten sollten. Ein Beispiel wäre hier - am Rande der Avantgarde - Himmlisches Manifest. Ein Gesicht von Franz Weinrich (1919)5, das im Hanoveraner Paul-Steegemann-Verlags erschien, einem der wichtigsten Verlage avantgardistischer Texte in deutscher Sprache, in welchem u.a. Werke von Schwitters, Arp und Serner verlegt wurden. Himmlisches Manifest ist ein Zyklus von Gesängen, der mit Sicherheit nicht der Gattung Manifest zuzuordnen ist, sondern eher zur exklamatorisch-appellativen Sparte expressionistischer
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Poesie zählt. Zu denken gibt auch eine Bemerkung von Michel Sanouillet in seinem Standardwerk Dada Paris (1993:161) zu den Texten, die von den französischen Dadaisten 1920 auf den ersten Pariser Dada-Soireen vorgetragen und anschließend in der Zeitschrift Litterature als "Vingttrois manifestes du Mouvement Dada" gesammelt wurden (cf. Picabia et alii 1920):
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Aussi bien l'appellation 'manifeste' ne defmissait pas d'une maniere adequate le genre de textes lus, recites ou improviscs par les dadaistes.
Allerdings weist gerade der von Sanouillet angedeutete Sachbestand darauf hin, daß wohl nicht zuletzt von den Dadaisten Erwartungshorizonte durchbrochen, neue Gattungshorizonte gestiftet wurden. Das gilt übrigens nicht nur fiir den Fall, daß Dadaisten Manifeste schrieben (oder vortrugen), die offensichtlich noch den heutigen Leser in Ratlosigkeit versetzen, sondern beispielsweise auch fiir den Bereich der Poesie, wo sofort nach der Bildung von Dada eine Vielzahl von 'neuen' Dichtarten bei den ersten Dada-Soireen über die Bühne gingen: "poeme bruitiste", "poeme statique", "poeme mouvementiste", "concert de voyelles" (Tzara 1975:551-2), "Verse ohne Worte", "poeme de voyelles", "poeme simultane', "chant negre" (Huelsenbeck 1985:22 und 26-7), "poeme gymnastique", "simu1tanistisches Gedicht" (Hue1senbeck 1980:14, 39, 106-7). Mag die Mannigfaltigkeit dieser Bezeichnungen nicht zuletzt dazu gedacht gewesen sein, der neuen Bewegung als Hort unerschöpflichen Innovationsdrangs Existenzberechtigung zu verleihen, so deutet sie darüber hinaus - auch fiir die vielen, in der Regel hinter der nachträglichen Klassifikation 'Manifest' verschwindenden Bezeichnungen nichtfiktionaler Zweckliteratur - einen sehr bewußten Umgang mit Textsortenbezeichnungen an. 10. Der bewußte Umgang mit Textsortenbezeichnungen als Momente der Horizontstiftung, auf die Jauß' Ansatz aufmerksam macht, läßt außerdem einen merkwürdige Widerspruch in der Unterscheidung einer Gattung Manifest ,,nach allgemeinem Vorverständnis" erkennen, die sich am deutlichsten bei Backes-Haase zeigt: Einerseits wird die Vielfalt der Textsortenbezeichnungen weggeredet und auch tatsächlich ausgeblendet, insofern Backes-Haase ,,nach allgemeinem Vorverständnis" seinem Korpus ebenfalls Texte zuordnet, die andere Textsortenbezeichnungen tragen, z.B. Hausmanns ,,Pamphlet gegen die weimarische Lebens-
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verfassung" (cf. Backes-Haase 1992:103-4). Ähnliche Vorbehalte lassen sich für eine Reihe anderer Texte machen6 , so daß - soviel scheint deutlich - Backes-Haases "allgemeines Vorverständnis" im Grunde an der Textsortenbezeichnung der Autoren vorbeigeht. Zugleich - und hier zeigt sich die Aporie in voller Schärfe - räumt Backes-Haase in einer Anmerkung ein, ausgerechnet zu seinen Worten, er werde "nach allgemeinen Vorverständnis" verfahren (1992:131): Auch, vielleicht sogar gerade Dadaisten verbinden mit der Unterscheidung verschiedener Sorten von Texten klar voneinander zu trennende Intentionen - besonders wenn es darum geht, die hergebrachten Merkmale der Textsorten zu ironisieren oder mit ihnen in anderer Form spielerisch umzugehen. Mit den Merkmalen des Manifests kann nur experimentieren, wer diese überhaupt erst einmal als ursprünglichen gemeinsamen Hintergrund einer Sorte von Texten begreift. Dies gilt rur literarische und künstlerische Produktionen der Dadaisten in gleicher Weise.
Bestätigt der letzte Satz nochmals, daß Backes-Haase sich auch in seinem Manifestbegriff nach dem gegenwärtig couranten Wortgebrauch vom Manifest richtet, das aufgrund der Funktionsbestimmung der Intentionsvermittlung tendenziell jeden diskursiv-pragmatischen Text andeuten kann (neben und aus traditionell literaturhistorischer Sicht "sekundär" zu "literarischen und künstlerischen Produktionen"), so ist seiner ersten, von JauB' Überlegungen zur Geschichtlichkeit literarischer Gattungen nicht weit entfernten Bemerkung nur zuzustimmen, "mit der Unterscheidung verschiedener Sorten von Texten" hätten Dadaisten wie - so läßt sich verallgemeinern - andere Avantgardisten sehr bewußt "klar voneinander zu trennende Intentionen" verbunden. Daß unterschiedliche Intentionen bereits über die Wahl einer bestimmten Textsorte zum Ausdruck gebracht oder zumindest angedeutet werden sollten, scheint gerade im Bereich des Pragmatisch-Diskursiven naheliegend: Wenn eine Forderung als Befehl oder als Bitte, als Dekret oder als Appell verbreitet wird, so gibt es keinen Zweifel, daß die unterschiedliche Form einer solchen Forderung genauso zu unterschiedlichen Reaktionen fUhrt wie ihr auch ein unterschiedlicher Ausgangspunkt zugrundeliegt. Allgemein hält Günter Niggl (1983 :311) für die Geschichtsschreibung der Zweckformen fest: Auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wird es gerade bei nichtfIktionalen Gattungen naheliegen, ja oft genug geboten sein, das Material zunächst nach den außerliterarischen Bezügen zu ordnen. In der Regel
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Was Niggl hier vorschlägt, scheint gerade fii.r die Erforschung der vermeintlich zur Gattung Manifest gehörenden Textsorten erwünscht, insofern in der Avantgarde quasi auf engstem Raum - jedenfalls nominell eine große Varietät nichtfiktionaler Gattungen zu fmden ist, deren Unterschiedlichkeit sich gerade über eine genealogische Differenzierung erfassen ließe, wenn auch nur tentativ. Texttypen wie Deklaration, Dekret, Tagesbefehl oder Manifest entstammen - soviel dürfte klar sein - anderen Kontexten als z.B. Flugblatt oder Pamphlet. 7 Eine solche Herangehensweise scheint insbesondere angebracht im Hinblick auf das Moment der vorsätzlichen Horizontstiftung und -veränderung, auf das Backes-Haase (und nicht nur er) bei der dadaistisch-avantgardistischen Handhabung von Gattungen hinweist. Während in der bisherigen gattungsgeschichtlichen und -typologischen Betrachtung der avantgardistischen Aneignung nicht-fiktionaler Textsorten allerlei unterschiedlich gekennzeichnete Texte vorschnell als eine Gattung gehandelt werden, sollte in der Historiographie der Aneignung, Umformung, Auflösung und Neubildung jener Textsorten, die als 'Manifest', 'Pamphlet', 'offener Brief' usw. ausgewiesen (also von der Avantgarde selbst durchaus voneinander unterschieden) wurden, diese nominelle Differenzierung erstmals durchaus ernstgenommen werden, da diese "augenscheinlich unwichtigen paratextuellen Indizien (... ) relevante Daten bezüglich relevanter Periodecodes und des Grades des Genrebewußtseins" liefern können" (de Geest 1989:28).8 Selbstverständlich sollte fortan nicht nur die Namensgebung durchschlaggebend sein. Andere (para-) textuelle, inhaltlich-formale und kontextuelle Besonderheiten sind ebenfalls zu berücksichtigen und könnten vielleicht dazu führen, daß - statt einer Gattung Manifest, die sich kaum konturieren läßt - eine adäquatere Kartierung der darunter gemeinhin subsumierten Textevielfalts in seiner geschichtlichen Dynamik möglich wird. Deutliche Signale - wie die Selbstbezeichnungen sicherlich sind sollten aber nicht zugunsten einer in jeder Hinsicht äußerst problematischen Hilfskonstruktion, wie jener umfassenden Gattung Manifest, von der hier die Rede war, übergangen werden.
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11. Man könnte meinen, dasjenige, was bisher mit dem erweiterten Begriff einer Manifestgattung beschrieben und erfaßt schien, sei nunmehr (wiederum) fast gänzlich zu beschreiben. Sicherlich befmdet sich die Historiographie des bislang mit diesem Gattungsbegriff angedeuteten, von der Avantgarde hervorgebrachten Spektrums nichtfiktionaler Textsorten noch in ihren Anfängen, allerdings nicht primär aufgrund dieses problematischen Gattungsbegriffs, sondern hauptsächlich weil zwar mittlerweile ganze Bibliotheken über die Avantgarde vollgeschrieben worden sind, die Untersuchung und Beschreibung des avantgardistischen Umgangs mit jener als Gattung Manifest bislang zusammengefaßten Plethora nichtfiktionaler Textsorten noch weitgehend aussteht. Einige 'große' Manifeste, wie z.B. Tzaras "Manifeste Dada 1918" und Bretons ,,Manifeste du surrealisme", oder die Gipfel der Manifesteproduktion mancher Ismen, wie Dada oder der Futurismus, ausgenommen, ist dieses Forschungsterrain noch weitgehend unerkundet; erst wenige größere Studien (vgl. AsholtfFähnders 1997) liegen bislang vor. In diesem Zusammenhang ist sogar einzuräumen, daß im Grunde die ersten Voraussetzungen einer umfassenden Betrachtung erst in jüngster Zeit geschaffen wurden. Sehr allgemein merkte Günter Niggl (1983:310) schon 1979 zur Geschichtsschreibung nichtfiktionaler Gattungen an, "eine dezidiert literaturwissenschaftlich orientierte Geschichte einer nichtfiktionalen Gattung" setze zunächst voraus, daß über die herkömmlichen Höhenkammstudien hinaus, die nur die ästhetisch befriedigenden oder historisch interessanten Beispiele zu einer Gipfelkette aneinanderreihen, auch die wenig beachteten oder gar unentdeckten Niederungen aufgesucht und vermessen würden. Denn nur wenn das gesamte Gelände zum Gegenstand der Erkundung gemacht wird, können die größeren (epochalen, manchmal säkularen) Zusammenhänge der Gattungsgeschichte erkannt und erst dann auch der historische Ort und Stellenwert der Gipfel bestimmt werden.
Erfordert eine solche umfassende Bestandsaufnahme, wie Niggl zu Recht angibt, "eine möglichst breite Materialbasis" (1983:310) und erlaubt erst diese "eine sichere, historisch fundierte Gliederung der gesammelten Beispiele" (1983:311), so gilt für die Erforschung jenes Grenzbereichs, der gemeinhin als Gattung Manifest bezeichnet wird, daß die von Niggl insgesamt bei den nichtfiktionalen Zweckformen konzedierte "z.T. höchst
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ungünstige Quellenlage" (1983:310) sich erst allmählich verbessert. Nachdem lange Jahre z.B. in Dada-Anthologien immer im Großen und Ganzen dieselbe kleine Auswahl zu finden war, sind erst im letzten Jahrzehnt - um im Bild zu bleiben - allmählich die Höhenkämme und die sich durch viele Länder ziehenden Gebirge annähernd in umfassenderen Materialsammlungen erkennbar geworden, wie Z.B. in der länderübergreifenden Anthologie von Asholt und Fähnders, während die bereits wirtschaftlich fiir Anthologien nicht gerade geeigneten Niederungen und Tiefebenen zögernd bibliographisch erschlossen werden. Erst jetzt bietet sich somit die Möglichkeit, gattungsgeschichtlich Traditionen, Variationen und Brüche in fundierter Weise nachzuzeichnen. Dabei verlangt allerdings die akkurate Beschreibung eine passende Begrifflichkeit, nicht eine Entstellung durch allzu grobe Raster. Nur so ist es denkbar, daß in nächster Zukunft eine adäquatere Theorie und eine genauere Historiographie der Aneignung nichtfiktionaler Gattungen in der Avantgarde Gestalt annehmen werden.
Anmerkungen Neben dem Tenninus Gattung trifft man auch die Bezeichnungen Textsorte und Genre an. Obwohl die Begriffe Gattung, Textsorte und Genre eigene Vorgeschichten und ihre eigenen Hintergriinde besitzen, kann man feststellen, daß die Bezeichnungen oft durcheinander bzw. in etwa in derselben Bedeutung verwendet werden. Wenn hier im folgenden von Gattung, Textsorte und Genre gesprochen wird, so sind sie als Synonyme der jeweils anderen Termini zu lesen. Wohlgemerkt: Gattung wird hier nicht im Sinne der herkömmlichen Triade Epik - Lyrik - Dramatik oder der daran anknüpfenden Goetheschen poetischen 'Naturformen', sondern in der beschränkteren Form einer Gruppe verwandter Texte mit deutlichen formal-inhaltlichen Übereinkünften, so wie sie beispielsweise fiir den Roman, das Essay, die Novelle, das Sonett, die Ode usw. geltend gemacht werden können. I
Unterdessen darf nicht übersehen werden, daß die QualifIkation 'idealtypisch' bei Asholt und Fähnders in Anfiihrungszeichen steht und sich bei ihnen zugleich eine andere Bestimmung der Manifestgattung abzeichnet. Erinnert das ,,'ideal2
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typische' Manifest" an Staigers Gattungslehre und deren Universalität, so deutet sich bei Asholt und Fähnders insofern eine historische Grundlage für das" idealtypische' Manifest" an, als dieses "idealtypische" Manifest auf einen Manifesttypus abzuzielen scheint, der als "ganz konventioneller Forderungskatalog" (1995:XV) formuliert wird, und ihnen bei diesem Forderungskatalog wohl Marinettis erstes futuristisches Manifest vorschwebt. Jedenfalls enthält Marinettis Manifest "elf brav durchgezählte Punkte" und bleibt, ihres Erachtens, somit zumindest als Manifest ,,konventionell" (1995:XVIII). Da Marinettis Manifest nachweislich am Anfang des avantgardistischen ,,Manifestantismus" steht (vgl. hier Fähnders 1997), gibt es offensichtliche Berührungspunkte zwischen ihrem eher implizit historisierten ,,'idealtypischen' Manifest" und dem von ihnen angedeuteten Gefälle des "Manifestantisehen" und ,,Proklamatorischen" einerseits und dem gattungstheoretischen Ansatz von Dirk de Geest andererseits, der vorschlägt, Gattungen als "prototypisch strukturierte Kategorien" aufzufassen, wobei prototypische Texte eine epistemologische, orientierende Funktion erfiillen, ihre Kennzeichen freilich nicht in jedem Text enthalten sind, der einer bestimmten Gattungskategorie zugeordnet wird oder werden kann (cf. de Geest 1989:1925). Diese QualifIzierung geht offenkundig auf eine Literatur- und Kunstkonzeption zurück, die zwischen Werken mit reinem Kunstcharakter und 'sekundären' Werken unterscheidet. Eine Konzeption, die nicht nur - wie Backes-Haase zugegebenermaßen durchaus wahrnimmt - von (Teilen) der Avantgarde in Frage gestellt wird, sondern auch in bezug auf das Manifest jedenfalls in der Avantgardeforschung mit dem Postulat einer literarischen Gattung Manifest spätestens seit den Siebzigern hinfällig geworden ist (cf. hier z.B. Schultz 1981 und 1984, AnzJStark 1982). 3
Von Jauß im Hinblick auf sein historisches Gattungsverständnis (siehe unten) kurz folgendermaßen defIniert: "Eine literarische Gattung im nicht-logischen, gruppenspezifIschen Sinn ist (... ) in Abhebung von dem weiteren Umkreis der unselbständigen Funktionen dadurch bestimmbar, daß sie Texte selbständig zu konstituieren vermag, wobei diese Konstitution sowohl synchronisch in einer Struktur nicht ersetzbarer Elemente als auch diachronisch in einer kontinuitätsbildenden Potenz faßbar sein muß" (1972:112). 4
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Für den Hinweis auf diese Ausgabe danke ich Walter Fähnders.
Darunter auch Texte ohne Textsortenbezeichnung wie 'Pamphlet', die jedoch alles andere als "allgemein als Dada-Manifeste hantiert" wurden oder werden, 6
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wie z.B. ein ,,Katalogtext" ohne Titel von Hans Arp (cf. Backes-Haase 1992:3341), der als solcher bereits deshalb nicht "allgemein (...) hantiert" wurde, weil er bislang in urspriinglicher Form nur in einem äußerst seltenen Katalogheftchen aus dem Jahre 1916 sowie in einer weit entlegenen Anthologie aus dem Jahre 1972 erhältlich war (cf. Backes-Haase 1992:137-8). Daß Backes-Haase diesen Text nicht nur bespricht, sondern auch integral abdruckt, ist deshalb durchaus zu schätzen, fUhrt aber dazu, daß er seinem Grundsatz des allgemeinen Vorverständnisses und Hantierens nicht folgt, den er freilich schon in seinen Präliminarien halbwegs unterminiert hatte, als er einräumte, daß "offenbleib[e], ob im Einzelfall über die Zuordnung eines Textes nicht erst noch gestritten werden müßte" (1992: 15). Stellt dieser Vorbehalt die Annahme eines "allgemeinen V orverständnisses" bereits in Frage, so gilt dies um so mehr für den Katalogtext, der - wie gesagt - nicht "allgemein (... ) hantiert" wurde. Er weist zwar einen programmatisch-beschaulichen Charakter, jedoch keine der von Schultz aufgefiihrten Manifestmerkmale auf. Von Arp selbst wurde der Text wohl als "Betrachtung" oder "essay" verstanden - als solcher erscheint er in inhaltlich, nicht stilistisch überarbeiteter Form in späteren, von Arp selbst zusammengestellten Textsammlungen (1948, 1955); ähnlich bezeichnet Axel Gellhaus bei der Frage nach dem Status von Texten, wie der besagte Katalogtext, diese kleinere Schriften als 'Werkstattnotizen' (1986:13). Dabei wäre wohl anschließend zu überlegen, ob unter den vielen Textsortenbezeichnungen, die man in der avantgardistischen nicht-ftktionalen Literatur antrifft, gewisse Verwandtschaften feststellbar sind, die dermaßen eng sind, daß z.B. Manifest, Proklamation, Dekret oder Deklaration als Artikulationsformen staatlicher Herrschaft und Pamphlet oder Flugblatt eher als Medien gesellschaftlicher Gegenkräfte gemeinsam (denkbar noch mit anders ausgewiesenen Texten) nicht nur genealogische Konglomerate, sondern möglicherweise auch übergreifende Gattungen bildeten oder bilden. Es ist sicherlich nicht undenkbar, daß sich aus einer eingehenden Untersuchung dieser Literatur letztendlich doch eine Reihe umfassenderer Gattungen ergeben werde.
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Nachzutragen ist, daß Walter Fähnders sowohl in dem zusammen mit Helga Karrenbrock verfaßten Beitrag für den vorliegenden Band (vgl. Fähndersl Karrenbrock intra) als auch in dem von Asholt und ihm herausgegebenen Sammelband "Die ganze Welt ist Manifestation ". Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste in einem Aufsatz zur "Entwicklung des avantgardistischen Manifestes" (1997), der hier nicht mehr berücksichtigt werden konnte, die geforderte Präzisierung vorwegnimmt: Einerseits werden - nach der lexikalisch erfaßten, funktional determinierten Bedeutung - ,,Programmatik, Eindeutigkeit, 8
Das Manifest - eine Gattung?
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Öffentlichkeit" als "essentials" einer Manifest-Defmition angemerkt, andererseits wird zur "genaueren Defmition" die "Selbstbezeichnung - in der Überschrift oder im Text selbst - als Manifest" als weiteres Kriterium herangezogen. Diese Selbstbezeichnung bildet den Ausgangspunkt einer geschichtlichen Darstellung der Art und Weise, wie "die Avantgarde die gattungsirnmanenten und gattungssprengenden Möglichkeiten des Genres sehr genau reflektiert und erprobt hat".
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MASKEN DER AUTHENTIZITÄT Der Diskurs des 'Primitivismus' in Manifesten der Avantgarde
Helmut Lethen
"Dreizehn Thesen wider Snobisten" nennt Benjamin Überlegungen, in denen er 1928 vorschlägt, "Werke" und "Dokumente" trennscharf zu unterscheiden, nachdem sich ihre Grenzen im Lauf der 20er Jahre verwischt hatten. (cf. Benjamin 1928:33ff.) In der damals so beliebten wie plakativen Manier des Polaritäts schemas zählt er 13 Punkte auf, an denen er den Unterschied festmacht: I. Der Künstler macht ein Werk
Der Primitive Dokumenten.
äußert sich
m
Die hierauf folgenden 12 Feststellungen der Unvereinbarkeit von Kunstwerk und Dokument klingen apodiktisch; die Art ihrer Bewertung verschwimmt freilich von Mal zu Mal. Benjamin scheint mit seinem Schema eher Pole eines Spannungsfelds markieren zu wollen, eme gleitende Skala von Möglichkeiten : IV. Am Kunstwerk lernen Künster Vor Dokumenten ihr Metier. Publikum erzogen.
wird
ein
V. Das Kunstwerk ist synthetisch: Die Fruchtbarkeit des Dokuments Kraftzentrale. will: Analyse. VI. Die Männlichkeit der Werke Dem Dokument ist seine Unschuld ist im Angriff. eine Deckung. Vor dieses Polaritäts schema rückt Benjamin eine kleine Szene aus dem
Helmut Lethen 228 Kulturbetrieb, die den Zeitgeist vor Augen fuhrt: Snob im Privatkontor der Kunstkritik. Links eine Kinderzeichnung, rechts ein Fetisch. Snob: "Da kann der ganze Picasso einpacken.
Mit weitausholender Geste spielt der Snob des Jahres 1928 ein Dokument aus dem Kindergarten und irgendeine Skulptur der "Naturvölker", die mit dem Begriff des "Fetischs" ausreichend definiert zu sein scheint, gegen Picasso aus. Kinderzeichnungen und Objekte der Stammeskultur werden vom Snob - ist "Unschuld" oder Deformation sein Kriterium? - als unüberbietbar "authentisch" veranschlagt. Mit dem Namen "Picasso" werden in diesen Jahren wohl die Rückgriffe der Avantgarde auf Äußerungsformen der "Kinder" und "Wilden" assoziiert. Angesichts der Dokumente der "echten Barbaren" müßten, so unser Kritiker, selbst exzeptionelle Künstler wie Picasso kleinlaut werden, ihre Unscheinbarkeit erkennen und sich aus dem Kunstbetrieb zurückziehen. Benjamins Skizze macht freilich auch klar, daß 1928 der Höhepunkt der Entdeckung von Kinderzeichnungen und afrikanischen Masken und Skulpturen als Kunstwerke schon überschritten ist. Der Snob bildet mit seinem Urteil die Nachhut; er riskiert nichts mehr, denn die Hochschätzung von Kinderzeichnung und Fetisch entspricht inzwischen dem Zeitgeist. Sein Auftritt fällt in einen Moment, in dem der große Entdecker der "Negerplastiken" in Deutschland, earl Einstein, schon ernüchtert konstatiert hat, daß der Einzug der Objekte der afrikanischen Stammeskulturen ins Kunstmuseum deren Tod bedeutet (cf. Einstein 1996:446). Er hatte früh geahnt, daß die Kultobjekte als Gegenstände europäischer Sammler, im Handumdrehen zu Fetischen des Snobismus werden. Nachdem er 1915 mit seinem Buch über die Negerplastik den Einzug der afrikanischen Skulpturen und Masken entscheidend gefördert hat, wendet er sich schon 1921 gegen den Kult des Exotismus: "Hilflos negert der Unoriginelle" (Einstein 1996:61). Er hegt den Verdacht, daß diese "Afrikanologie" unter der Intelligenz eine "Dependance des verstorbenen Expressionismus" (Einstein 1996:452) sein könnte. Stefan Zweig analysiert die Mode: Der Neger ist 1922 für Schriftsteller das, was Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Hurone für Voltaire, für unseren guten Seume und schließlich rur Chateaubriand war: ein naives Urwesen, entgegengesetzt dem komplizierten Automaten unserer Zivilisation, sympathisch in seinen Unvollkommenheiten, amüsant in seinen Defekten und darüber hinaus
Masken der Authentizität
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irgendwie noch moralisch in einem Sinn der Moral von morgen und übermorgen. (cit. Schultz 1995:140)
1925 spottet earl Einstein: Es muß nicht unbedingt Tahiti sein; auch bei drei Wochen billiger Ostseepension läßt sich dergleichen leisten. Du färbst die Sonne blau, gibst Meer als orangenes Traumgewühl. Dazwischen stelle einige gelblila Kisten verschiedener Größen ... Ziehe eine Jungfrau in die Länge, statt Brüsten zwei zitronengelbe Pünktchen, das vegetarische Leibchen ein enthaltsames Dreieck, Gesicht einfältiger Rombus. Vor dieser selbst, Melon ab zum Gebet. Hast du Rilke gelesen, so gib was Mystisches zwischen. (Einstein 1996:388)
Einsteins Spott kann gegen die Modewelle nichts ausrichten. 1928 besucht Ernst von Salomon den Militärschriftsteller, Dandy-Soldaten, Zoologen und politischen Publizisten Ernst Jünger im Osten Berlins. Die Aussicht aus Jüngers Etagenwohnung geht auf das Gleisgewirr der Stadt- und Reichsbahn, im Hause lärmen Kinder und es riecht nach Kohl. Salomon, überrascht, einen Kopf der konservativen Revolution im Kleinleutemilieu zu finden, beschreibt Jüngers Arbeitszimmer: Das Zimmer war nicht sehr hell, mit Büchern vollgestopft, mit Masken und seltsamen , holzgeschnitzten Figuren geschmückt, auf dem Schreibtisch stand ein Mikroskop, indes Käfersammlungen und Einweckgläser voll merkwürdigen Geschlings irgendwelcher fahlgrüner Substanzen auf den Regalen standen.
Hier treffen sich die mit Jünger befreundeten Nationalrevolutionäre. Hier - zwischen dem Mikroskop des Insektenkundlers, den Masken und Skulpturen - entsteht der Essay "Die totale Mobilmachung". (cf. von Salomon 1951:239) Im Zeitraum der Klassischen Modeme spielen die Komplementärmythen vom Edlen und Bösen Wilden eine erstaunliche Rolle. Mit dem Rückgriff auf Kultformen "primitiver Völker" sollen die Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft gebrochen werden. Rauschmittel sollen das Reich "prälogischen Denkens" erschließen. "Kindheit" und "Wahnsinn" werden als Zustände größerer Authentizität entdeckt. In Manifesten, Briefen und Tagebuchnotizen findet man immer wieder folgendes Denkmuster : das "Kartenhaus der Zivilisation" müsse zum Einsturz gebracht werden, um ein "Elementarreich" zu Tage treten zu lassen. Unter der "polierten Schale" der zivilen Gesellschaft finde man die
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Helmut Lethen
"rohen und nackten" Wesen des Waldes und der Steppe (Ernst Jünger). Unter dem Pflaster der großen Städte sei nicht die Kanalisation, sondern von der Zivilisation unberührter Sand. Das ist die Topographie avantgardistischen Denkens: unter der zivilisatorischen Kruste befindet sich ein dynamischer Kern des "eigentlichen" Lebens. Unter der starren Oberflächenform befindet sich die dynamische Ganzheit des Lebens.! Die zivilisatorische Form ist zwar vom Leben zum Schutz wie zur Entlastung hervorgebracht, sie hemmt dessen Dynamik aber gleichzeitig. Das wird als "Tragödie der Kultur" begriffen ( Georg Simmel) oder es ist die Quelle des Unbehagens an ihr (Sigmund Freud). Wenn immer die alte Form das Leben blockiert, entsteht eine Krise, die jedoch als produktiv erfahren wird, weil sie drei Lösungsmöglichkeiten kennt: • dauerhaftes Versinken der individuellen Form m den Gesamtzusammenhang des Lebens; • Harmonie der individuellen Lebensform mit der Dynamik des Lebens; • mystisches Aufgehen im überindividuellen Leben für emen Augenblick. Es ist erstaunlich, daß die Manifeste der Avantgarden von der Topographie dieses Denkmusters gesteuert werden. Es müßte analysiert werden, in welchem Ausmaß sich die Intentionalität der Manifeste in dieser diskursiven Formation der Lebensideologie verliert, inwiefern sie nur Symptom oder Spur des übergreifenden Denkmusters ist. Im folgenden soll untersucht werden, inwiefern zwei Schriften, earl Einsteins Negerplastik aus dem Jahre 1915 und Wilhelm Worringers Abhandlung über Abstraktion und Einfiihlung von 1908, die beide die Wirkung von Manifesten in der Welt der Künstler hatten, im Denkrahmen der "Lebensideologie" zu verstehen sind, ihre Topographie aufweisen; ob sie diesen Rahmen durchkreuzen oder unterminieren. Dabei schlage ich einen Umweg ein. Ich beginne mit einem Dokument aus den 20er Jahren, das nichts mit den Äußerungsformen der Avantgarde zu tun hat. Es ist anrührend konservativ und fromm, und könnte es uns ermöglichen, die Hektik der Avantgardisten gelassener zu betrachten.
Masken der Authentizität
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1. Picards Physiognomie des Negers Einer der merkwürdigsten Physiognomiker jener Zeit war der Schweizer Autor Max Picard. 1929 erscheint sein Buch "Das Menschengesicht" , das einige Popularität gewinnt. Picard, der seinen Text von soziologischem und politischen Vokabular gänzlich freihalten will, gelingt in einigen Passagen eine hellsichtige Zeitdiagnose. Zum Beispiel in dem Abschnitt, in dem er das gespannte Verhältnis der Profillinie eines Gesichts zu seiner Frontalansicht beschreibt. Picard beklagt, daß sich unter dem Stern der Mobilmachung, die er in der modernen Zeit wahrnimmt, die Dynamik des Profilgesichts immer mehr von der Statik des Frontalgesichts gelöst habe. Für Picard ist der Idealtyp eines Gesichts das Ebenbild Gottes. Seine "Entrückung der Physiognomik aus dem Zeitgenössischen"2 bedeutet freilich nicht, daß er die akuten Machtformierungen und Beschleunigungsprozesse nicht hellwach registrieren würde. Man begegnet diesen Diagnosen allerdings an bizarren Orten, wie z.B. in den Erläuterungen von Profil- und Frontalgesicht. Vom scharfkantigen Profil Machiavellis bis zum zeitgenössischen Portraitfoto entdeckt Picard labile Profile,"die eilen", als ob sie sich auf der Flucht befänden. "Und so sehr ist alles nach vorne eilend, " konstatiert Picard," daß es manchmal scheinen kann, als sei die Profillinie nicht das Ende dieses Eilens, sondern erst der Anfang, als sammle das Gesicht hier in dieser Linie sich nur zum Vorwärtseilen" (Picard 1929:53). Das moderne Profilgesicht bewege sich ohne jede Hoffnung, "daß es je einen Sinn rur diese Bewegung fände, und es ist so abgetrennt vom Frontalgesicht, daß es vergessen hat: dort in der Ruhe des Frontalgesichts war es einmal möglich wieder ruhig zu werden". Dagegen sei im Frontalgesicht die Welt des Menschen noch ohne Auftrag, in die äußere Welt hineinzugehen, sie sei einfach da wie im Gesicht der Kinder, deren Profil sich erst in leichten Markierungen zeige, hinter denen die Welt noch eingesperrt sei, die dann im Wachstum in Stößen bis ins markante Profil herausgetrieben werde. Der Blick Gottes ruhe indessen unentwegt auf dem Frontalgesicht. Von den Überlegungen zum schwachen Profil der Kindheit ist es rur Picard nur ein kleiner Schritt zum "Neger", an dem seine Kunst der Physiognomik scheitert. Die Entzifferung der Körperzeichen muß hier
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Helmut Lethen
mißlifigen, weil sie einen Grad der Sichtbarkeit voraussetzt, den Picard in diesem Fall vermißt: "Denn die Schwärze der Gesichtshälfte wirkt so stark, daß in ihr überhaupt nichts anderes sichtbar werden kann als diese Schwärze." Daraus könne sich folglich auch kein dynamisches Profil ablösen. Das Negergesicht ruhe in einem Raum, den es "schwarz abgesteckt" habe. Es falle aus der Zeit und sei geschichtslos da, was allerdings den Wert seiner Gotteskindschaft nicht schmälern könne. Als sei eine Seite der Natur ganz eingeschwärzt, lasse sich keine Chiffre mehr lesen - der Physiognomiker ist am Ende seines Lateins. Ideologiekritik an Picards Weltanschauung liegt nahe. Doch erst einmal ist die Kraft zu betonen, mit der Picards Bild den zeitgenössischen Kolonial-Diskurs genauso abwehrt, wie die Tendenz der Physiognomik im 19. Jahrhundert, alles zu dechiffrieren. Die "Schwärze", die Picard betont, bildet den Gegenpol zur Transparenz, die entstehen soll, wenn die Naturzeichen, die die Physiognomik lesen lernt, restlos entziffert werden können. Und wo das Lesen zu mühselig wird, kann wie in der Phrenologie - der Schädel vermessen werden, damit die Zahlen sprechen. Ist Picards Eingeständnis der Unleserlichkeit nicht schätzenswert, seine Kapitulation vor der "Schwärze" nicht ein Versuch, das radikal Andere zu konstatieren, der tauglicher ist, als die Denkfiguren der Alterität, welche die Ethnologie seiner Zeit anbietet und die Konstruktionen, in denen sich die Avantgarde ihr Negerbild malte? Allerdings kann man dieser Hochschätzung entgegenhalten, daß die Körper der Kolonisierten immer schon entweder als vollkommene Natur und äußerst leserlich gegolten haben, oder als angsterregend unleserlich, geheimnisvoll, ein unbekanntes Anderes suggerierend. Aber die Unleserlichkeit ist für Picard nicht beängstigend, das Negerantlitz spiegelt in seiner Schwärze weder das "Herz der Finsternis" oder das "innere Afrika" des Unbewußten, noch ist es Indiz für Levy-Bruhls "prälogische Mentalität der Primitiven". Er mutet diesem Antlitz auch nicht die metaphysischen Werte zu, die der damals populärste deutsche Afrikaforscher, Leo Frobenius, ihm zumutet. Es ist ihm auch nicht daran gelegen, dem Neger in der Hierarchie der Rassenkunde einen niederen Rang einzuräumen. Picard bleibt freilich in der Tradition, wenn er "den Neger" in die Kette der "Primitiven" stellt, die schweigen müssen, um das radikal Andere darzustellen. Die man auf einer Kindheitsstufe der Evolution beläßt, eingefroren in die Mechanik der Wiederholung, fernab der Be-
Masken der Authentizität
Abb. 1 Ungekennzeichnete afrikanische Statue. "Negerplastik" (1915),
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Aus:
earl Einstein:
Helmut Lethen 234 schleunigungen der zivilisierenden Zeit. 3 Picards Überlegungen befinden sich in einer merkwürdigen Schwebelage. Er hält genügend Distanz zu dem Jargon der Ethnologen seiner Zeit und scheint ganz unberührt von den spektakulären Assoziationen, die inzwischen das Bild des Afrikaners in den Kunstmanifesten der Avantgarde umgeben. Ungeschützt von Wissenschaft und Kunstszene rangiert er heute in der Geschichte der Physiognomik nur als religiöser Spinner. Wie verhält sich das Scheitern des Schweizer Physiognomikers zum Phantom des "Afrikaners" , das durch die Kunst und Literatur der Zeit geistert? Warum tritt hier anstelle der Physiognomie die Maske?
2. earl Einsteins Verfahren. Das Waschritual des Authentisierens Eines der reizvollen Spiele der europäischen Avantgarden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bestand darin, die Stufenleiter der Herausbildung des Individuums im moralischen Verstande bis in die Zeit der "Masken-Zivilisation" hinabzusteigen, in der sich der Mensch in Ritualen seine Person erstellt. (cf. Lethen 1994) Dieser Abstieg wurde in der Klassischen Modeme nobilitiert - man ging zu den Gründen. Carl Einsteins Buch Negerplastik lieferte einen entscheidenden Beitrag zu diesem Spiel. Das Buch erschien 1915. Es besteht aus 119 Fotografien von Masken, Fetischen, Skulpturen und einem knappen Kommentar. 4 Kennengelernt hatte Carl Einstein diese Dinge weniger im Völkerkundemuseum und nicht auf Expeditionen, sondern in Künstlerateliers der Fauvisten und Kubisten in Paris. Das Buch hatte die Wirkung eines Manifests. Der durchschlagende Erfolg der Negerplastik unter Künstlern verdankt sich offensichtlich einem Umstand, den die Experten Einstein direkt nach Erscheinen des Buchs als gravierenden Mangel ankreiden. Die 119 Fotografien zeigen isolierte Objekte vor heller Leinwand,in neutralem Licht, fast schattenlos. 5 Sie werden nicht durch Hintergrunderläuterungen wie z.B. Fundort, Art der Stammeskultur, Funktion im Kultus, wahrscheinliche Entstehungszeit, Art des Erwerbs etc. Eingerahmt. Einstein wollte bewußt alle "Umgebungsassoziationen" ausschalten, um die Gestalten als autonome Gebilde zu analysieren (cf. Einstein 1992:10). Das "von begrifflichen Erinnerungen geschwächte Sehen" (1992:24), soll sich an der Unmittelbarkeit der Raumer-
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Abb. 2 Schmuckbrettaus dem Grabe eines Schangopriesters, Joruba; Kauerndes Elfenbeinfragment, Benin. Aus: earl Einstein: ''Afrikanische Plastik" (1921), Tafel 3.
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Abb. 3 Fetischfigur der Baschilange, Makabu Buanga genannt. Aus: earl Einstein: ''Afrikanische Plastik" (1921), Tafel 23.
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fahrungen, mit der ihn die Plastiken konfrontieren, regenerieren. Die Götzen, die , wie Ernst Bloch in seiner Besprechung des Buchs bemerkte, in den Stammeskulturen schwer zugänglich seien und normalerweise "neben Hülsenfrüchten und Lendenschürzen in ihren Schränken" stünden, wurden für Einsteins Buch als selbstständige Gebilde abfotografiert. Während die Experten bemängelten, daß Einstein die Koordinaten des Wissens, in der diese Dinge eingeordnet werden müßten, um begriffen zu werden, gleichsam verbrenne, verdankt das Buch dieser Nietzscheanischen Geste offenbar seine Schubkraft, die erlaubte, es als ein Manifest für "unhistorisches Leben" zu lesen. Einsteins Präsentation wirkt, bemerkt ein erschrockener Kritiker,wie ein "Autodafe, mit dem alle von der bisherigen Kunstwissenschaft gewonnenen ästhetischen Wertungen der Vernichtung preisgegeben werden" (cit. Baake 1990:118ff.). Fünf Jahre später wird Einstein allerdings in dem Buch "Afrikanische Plastiken" die 48 Fotografien mit so gelehrten wie ausführlichen Beschreibungen versehen, um sich von der inzwischen herrschenden Mode der "Afrikanologie" zu distanzieren. Das Weglassen des ethnographischen Begriffswerks im frühen Buch wird jetzt als kriegsbedingter Mangel entschuldigt. Wolfgang Struck hat einleuchtend erläutert, daß dieser Rückgriff Einsteins auf die Kontextualisierung der Objekte gleichwohl einem Gestus des Modernismus entsprach, der ihn von den Avantgardisten entfernte. Den Akt des produktiven Vergessens wird Einstein später noch als den entscheidenden Zug des Kubismus verteidigen: er habe die Mnemotechnik des Abendlandes bewußt außer Kraft setzen müssen, um zu einer neuen Tektonik des Raums zu gelangen. 1921 kommt Einstein den Ethnologen einen gewaltigen Schritt entgegen. So lesen wir zur Tafel 3: Elfenbeinfragment Benin. Eine durchaus gleiche Lösung des Kniens fmden wir an einer Jorubaausgrabung, einem 8 cm langen Quarzgriff aus Ife, der im Berliner Museum fur Völkerkunde ausgestellt ist. An beiden Stücken sind die Beine ornamental über den Ellenbogengelenken durchgezogen, die Hände stützen das Gesicht. Gleiche Lösungen finden wir bei kleinen Kameruner Fetischfiguren aus Ton ... (Einstein 1996:68)
Oder zur Tafel 23: Die besten Stücke, die von den Bena Lulua auf uns gekommen sind, danken wir der Wißmann-Expedition, es sind diese Ahnenfiguren großer
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Chefs. Die Statue auf Tafel 23 wurde von Wolff erworben. Er nahm sie einem rebellischen Baluba-Unterhäuptling ab, der sie als Makabu Buanga, Schutzgott der Baschilange, bezeichnete. Der abgebildete Häuptling trägt zum Zeichen seiner Würde das dreizackige Schwert und über den Schenkeln das Leopardenfell... (Einstein 1996:81)
In seinen ethnographischen Kommentaren aus dem Jahre 1921 löst er sich gänzlich vom Phantom der reinen Ursprungsmythen; er betont, daß Mythen und Plastiken oft ganz verschiedenen Überlieferungsströmen angehören, die sich undurchdringlich mischen können: Neue Stämme mit anders geHirbter Mythologie überzogen die älteren Bewohner, der Erobererstamm drängt vorgefundenem Kunstgut die mitgebrachte Mythologie auf, die Mythen entarten in der Christianisierung, und die Bedeutung des Werkes verschiebt und verdunkelt sich. (Einstein 1996:64)
Der Kommentar kann die Faszination durch das Unhistorische freilich nicht vergessen machen: Bei dem Betrachten afrikanischer Kunst missen wir den Anhalt eindeutiger Geschichte, fixierte Zeit. Afrikanische Geschichte dämmert in überwucherter eingestürzter Familien- oder Stammesüberlieferung. Vieles über Afrika Mitgeteilte ähnelt einer schönen, bodenlosen Erzählung. Zeit und Raum verharren fragwürdig im ungewissen Schlummer des Mythologischen ... (Einstein 1996:61)
Die Objekte der Negerplastik, die Einstein 1915 vorgestellt hatte, waren den Europäern nicht vollkommen neu. Man hatte sie zuvor in Völkerkunde-Museen besichtigen können, wo sie in Abstellkammern als Trophäen eingelagert waren. Einstein: "Der Fang ruhte abgestorben in den Kühlkammern weißer Wißbegier" (Einstein 1996:447). Aus dem Netz klassifizierenden Wissens will Einstein diese Dinge durch Isolation retten. Dieser Kunstgriff soll neben der Loslösung aus dem Diskurs kolonialer Unterwerfung Verschiedenes leisten: • diese Dinge können, Einstein zufolge, nur als authentische begriffen werden, wenn sie nichts bedeuten, nichts symbolisieren, keine Allegorie von irgendetwas sind - schon gar nicht Sinnbilder ethnographischer Kenntnisse und erst recht nicht Beweise der "Evolutionshypothese" , die Einstein verwirft, da die Negerplastiken für ihn keine Dokumente eines Kindheitstadiums sondern Werke einer Hochkultur sind; • obwohl der Kunstgriff der Isolation erst die Sichtbarkeit der Objekte
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gewährleistet, will Einstein die Vorherrschaft des Auges bei der Rezeption der Plastik brechen oder vielmehr, das Auge zum "plastischen Sehen" erziehen. Das Ensemble der afrikanischen Plastiken bietet Einstein eine Schule der Wahrnehmung, in der die simultane Sichtbarkeit aller Bewegungsakte zu lernen ist. Auch die in der Frontalansicht nicht sichtbaren, rückwärtigen Formen müssen dargestellt werden. Denn sie bilden den "Tiefenquotienten" der Plastiken. Die Statue ist ein motorisches Bild des Tastsinns im kultischen Handlungsraum. 3. Manifest gegen die Empathie
Darin besteht Einsteins erstaunliche Wende: Er unternimmt alles, daß diese Plastiken aufhören, Projektionsflächen für die Tiefendimension der Europäer zu sein, also den dunklen Kontinent des Unbewußten, okkulte Grausamkeiten oder ursprüngliche Vitalität spiegeln zu müssen. Er löst sie von dem Anspruch der psychologisierenden Verständlichkeit, vom Anspruch, die "Nachtseiten" des westlichen Menschenbildes zu verkörpern. Die einzige "Tiefe", die er zuläßt, ist die rein "tektonische", formale. Darin erkennt er die von diesen gar nicht geheimgehaltene Verwandtschaft der französischen Kubisten, die nach Einstein die afrikanische Wahrnehmungsschule des plastischen Sehens schon durchlaufen haben. Nach der Trennung der Objekte aus ihrem "Vertraulichkeitsverhältnis" (Worringer) stehen sie "rein für sich", ein Raumereignis; allerdings als Ereignis in einem religiösen Raum,für den Einstein eine besondere Art des Mythos erfindet. Einstein hält die fotografierten Kultobjekte erst dann fur angemessen wahrgenommen, wenn man sie dem Verfahren der Empathie, das die Ethnologie seiner Zeit beherrschte, entzieht. Sie müssen als unleserliche verstanden werden. Erst als reine Raumtektonik sollen sie zu einer angemessenen Geltung kommen. Sie sollen also, um die oppositionellen Begriffe von Benjamin zu übernehmen, nicht als "Dokumente" von etwas analysiert, sondern als "Werke", an denen Künstler ihr Metier der Raumaufteilung lernen, wahrgenommen werden. Erst wenn die afrikanischen Statuen nicht mehr wie Texte nach einem bekannten Regelsystem entschlüsselt werden, bieten sie eine bestimmte Gewähr dafür, als "authentisch" erfahren werden zu können. Denn die
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Voraussetzung der Erfahrung des Fremden ist seine Unleserlichkeit. Oder umgekehrt: erst wenn das Unverständliche als Unverständliches attraktiv geworden ist, sind die Bedingungen günstig, das Fremde als Fremdes zu akzeptieren. Es ist nicht schwer zu erkennen, von welchem Verfahren der Empathie sich Einstein in seiner Manifestation der Negerplastik lösen will. Die deutsche Romantik und die mythologische Schule des 19. Jahrhunderts hatten die Einruhlung in fremde Kulturen begünstigt, indem sie von einer psychischen Einheit hinter dem bunten Schleier der Verschiedenheit der Völker ausgegangen waren. Der ethnographische Vergleich der Symbole und Mythen aller Völker sollte im romantischen Projekt Gemeinsamkeiten enthüllen. Einruhlung ist erst aufgrund der Gemeinsamkeit möglich. Das ist ein zweischneidiges Konzept. Dem Herderschen Humanismus verpflichtet, muß es Andersheit als Abweichung begreifen. earl Einstein will sich von diesem Konzept lösen, auch wenn es ihm den Ruf des "Barbaren" einträgt, den der Nietzsche-Leser freilich als Ehrentitel fiir sich in Anspruch nimmt. Er benennt die Gefahr, die darin liegt, wenn man die "seelische Stimmung" eines exotischen Werkes erklären will: Hier können üble Irrtümer unterlaufen. Ein Gesichtsausdruck, der uns heiter dünkt, mag dem Neger aufscheuchenden Schrecken eingejagt und eine Miene, die uns furchtbar erscheint, mag ihn fröhlich gestimmt haben. Dinge, die uns als beiläufiges Detail anmuten, mögen dem Neger Ungemeines bedeuten und der Statue erst Daseinsrecht geschaffen haben. (Einstein 1996:64)
Das Verfahren der Empathie hat rur ihn, wenn überhaupt, dann begrenzten Erkenntniswert. Mit ihm können nur "betäubende Hypothesen" aufgestellt werden, die sich sofort in Nichts auflösen,wenn man die Betrachtung der einzelnen Plastik auf eine längere Skulpturenreihe anwendet. Das notwendige Scheitern des Verfahrens der Empathie erläutert Einstein unter anderem an der unterschiedlichen Funktion der Maske. Während der Europäer in seinem "hypertrophen Kult des Ich" bemüht sei, seine Identität auch unter der Maske zu wahren, wolle der Neger sich mit der Maske der grausam objektiven Gewalt, die er verehre, anverwandeln. Das habe zur Folge, daß die afrikanische Maske nur sinnvoll sei, "wenn sie unpersönlich, das heißt konstruktiv, frei von der Er-
241 fahrung des Individuums" sei (Einstein 1992:28). Rückschlüsse von der Maske auf seelische Vorgänge ihrer Träger müßten demnach in die Irre gehen. Carl Einsteins Wendung gegen die psychologisierende Einfühlung hat zwei folgenreiche Konsequenzen in der Avantgardebewegung: 1. die Aufwertung des Kultischen im Umgang mit den Kunstwerken (cf. Kieruj 1995); 2. die Ästhetik des Diversen. Masken der Authentizität
1. Das Schicksal der afrikanischen Kultobjekte im europäischen Museum hat ihm die Augen dafür geöffnet, daß Kunst, als ästhetisches Phänomen betrachtet, eine eminente Einbuße seiner Funktion erleidet. "Das Altarblatt ohne Gebet ist tot", die Museen sammeln "dem Boden entrissene Fragmente", an die Stelle der Andacht tritt die kunstwissenschaftliche Methode. Die Schönheit eines Altarblatts bestand darin, daß es von Ängsten, Wünschen und bangenden Schreien nach Gott umringt war, es einer Handlung als bescheidenster Teil diente, daß der Schatten des Gottes in ihm wohnte und statt Museumsbeamten Priester ihm dienten. (Einstein 1996:446)
Die Kunst muß als Element einer kultischen Handlung, die das ästhetische Moment einschließt, begriffen werden, wenn sie nicht in Ästhetizismus erstarren soll. Darum, so die Schlußfolgerung aus dem Jahre 1921, dürfen die Kultobjekte nicht von der wissenschaftlichen Forschung abgetrennt werden, die den kultischen Handlungsraum rekonstruieren müssen, damit die Fetische nicht zu funkelnden Objekten im Boutiquenlicht des modemen Völkerkundemuseums werden. Einstein erkennt, daß er eine heikle Balance herstellen muß: der ethnographische Kommentar ist notwendig, aber er kann die afrikanische Kunst in das Kategoriensystem des kolonialen Diskurses zurückbinden. Die Ästhetisierung der Kultgegenstände war geeignet, sie aus dem kolonialen Diskurs zu lösen, droht aber, den kultischen Funktionsraum der Ausstellungsobjekte auszulöschen. Die Betonung des Kultischen bedeutet bei Carl Einstein immer, daß er die Funktion der Kunstgegenstände in einem Handlungsraum betont, in dem die Bewegungsformen, Einstellungen und Entscheidungen nicht nur rationalen Kriterien unterworfen sind. Insofern werden in Einsteins Afrika-Büchern auch die Weichen für die aktionisti-
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schen Kultformen der Avantgarde gestellt. 2. Am 11. Dezember 1908 notiert der französische Marinearzt Victor Segalen: Alles, was das Wort Exotismus an Mißbrauchtem und Abgestandenem enthält, über Bord werfen. Es von seinen fadenscheinigen Kleidern befreien: von den Palmen und Kamelen, dem Tropenhelm, der schwarzen Haut und der gelben Sonne. (Segalen 1994:41)
Segalen will den Exotismus von allen enthnographischen Kostümen befreien. Die einzige Funktion des Exotismus sei, daß der Beobachter sein "Anders-Sein" empfinde. Das sei der entscheidende Unterschied zu den Kolonialbeamten, die die fremden Sitten und Kulte assimilieren wollten: das Glück in der Erkenntnis, daß man nichts verstehe, das dauerhafte Vergnügen des Diversen. "Exotismus ist die scharfe, unmittelbare Wahrnehmung einer ewigen Unverständlichkeit" (Segalen 1994:44). Daher dürfe es auch nicht darauf ankommen, sich im Fremden zu verlieren, das sei ohnehin Selbstbetrug, da man es nicht verstehe. Die intensivste Erfahrung des Exotismus bestehe vielmehr darin, seine eigene Andersheit zu entdecken und - "umzukehren". Ein schönes Beispiel sei Gauguin, der kurz vor seinem Tode einen verschneiten bretonischen Kirchturm in blaßrosa Farben malte. "Das ist ein Zeichen für einen guten Künstler des Diversen, daß er es auf diese Weise Stück für Stück umkehrt" (Segalen 1994:72). 4. Worringers Flucht aus der Zeit in die Ruhepunkte der Abstraktion Selten hat eine akademische Schrift wie die Dissertation eines jungen Kunsthistorikers solchen Widerhall erfahren;6 Künstler der avantgardistischen Zentren "Der blaue Reiter" und "Die Brücke" lasen sie wie ein Manifest. Auch für Einsteins Negerplastik scheint Worringers Schrift Abstraktion und Einfühlung aus dem Jahre 1908 die Weichen gegen das Verfahren der Empathie gestellt zu haben. Einige Leitmotive von Worringer finden wir auch in Einsteins Negerplastik. Bei seiner scharfen Wendung gegen alle Verfahren der Empathie, beruft sich Worringer auf den elementaren "Abstraktionsdrang der Naturvölker", den er gegenüber allem Mimetischen aufwer-
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tet. Der Auftritt Worringers auf der zeitgenössischen Kunstszene der Avantgarde hat einen paradoxen Zug. Aufgrund der beängstigenden Erfahrung einer sich zunehmend beschleunigenden Zeit, die auf einen sinnlosen Punkt x zuzustürzen scheint, wie Nietzsche prophezeit hatte, will er für die Kunst eine unzeitgemäße Qualität zurückgewinnen. Er mutet ihr die Aufgabe zu, den Menschen aus dem "Fluß des Geschehens" herauszureißen, ihn aus dem Tumult kontingenter Erscheinungen zu retten, indem sie "Ausruhpunkte" konstruiert. Während der Nachahmungstrieb den Menschen nur immer tiefer in sinnlos, fragmentarische Oberflächenereignisse versenke, könne der Wille zur Abstraktion ihn aus der Unübersichtlichkeit "erlösen". Worringer beruft sich dabei auf Erfahrungen der "Naturvölker": Von dem verworrenen Zusammenhang und dem Wechselspiel der Außenwelterscheinungen gequält, beherrschte solche Völker ein ungeheures Ruhebedürfnis. Die Beglückungsmöglichkeit, die sie in der Kunst suchten, bestand nicht darin, sich in die Dinge der Außenwelt zu versenken, sich in ihnen zu genießen, sondern darin, das einzelne Ding der Außenwelt aus seiner Willkürlichkeit und scheinbaren Zufalligkeit herauszunehmen, es durch Annäherung an abstrakte Formen zu verewigen und auf diese Weise einen Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht zu fmden. Ihr stärkster Drang war, das Objekt der Außenwelt gleichsam aus dem Naturzusammenhang, aus dem unendlichen Wechselspiel des Seins herauszureißen, es von allem, was Lebensabhängigkeit, d.i. Willkür an ihm war, zu reinigen, es notwendig und unverrückbar zu machen, es seinem absoluten Werte zu nähern. [Die beiden ersten Hervorhebungen vom Verfasser]
Der "primitive Mensch" suche leidenschaftlicher nach Gesetzmäßigkeiten in der Natur, weil er "so verloren und geistig hilflos zwischen den Dingen der Außenwelt" stehe. Worringer wagt einen riskanten Vergleich. Beim "primitiven Menschen" sei der "Instinkt rur das 'Ding an sich' " noch unbeschädigt. Es gelte, diesen "Instinkt" zu regenerieren. Der Kunsttheoretiker konfrontiert uns mit einer neuen Variante des Evolutionsschemas: Der Mensch habe sich auf der Jahrtausende währenden Bahn rationalistischer Erkenntnis von der elementaren Erkenntnis des "Ding an sich" entfernt. Jetzt aber, nach der Jahrhundertwende, mache sich die Resignation der Wissenden bemerkbar: "Vom Hochmut des Wissens herabgeschleudert steht der Mensch nun wieder ebenso verloren und hilflos dem Weltbild gegenüber wie der primitive
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Mensch". Die Trübungen des mimetischen Intellekts müßten folglich entfernt werden, um dem verschütteten "Abstraktionsdrang" freie Bahn zu schaffen. Das bedürfe freilich erheblicher "Gehirnarbeit" , denn man müsse den Menschen aus seinem Vertraulichkeitshorizont, mit dem er sich durch Einfiihlung und Gewohnheit geschützt habe, herausreißen, um den Ruhepunkt, den kristallinen Kern, im Reich der Abstraktion zu finden. earl Einsteins Negerplastik scheint in vergleichbaren Kategorien zu arbeiten, wenngleich er das Evolutionsschema verwirft. Seine Verbannung des "Malerischen" aus der Plastik entspricht Worringers Abkehr vom Mimetischen. Worringers Berufung auf Elementarbedürfuisse scheint sich mit Einsteins Erfindung des mythischen Raums zu berühren. Der große Unterschied besteht freilich darin, daß Einstein den konservativen Gestus der Suche nach dem "Ausruhpunkt" nicht wiederholt. Während Worringer die "Raumscheu" des "primitiven Menschen" betont, konzentriert Einstein sich gerade auf die Raumerschließung der Negerplastiken. Was bei Worringer als Konstruktion eines Ruhepunkts jenseits der so reißenden wie sinnlosen Zeit - als ein Reich des Neoplatonismus? - erscheint, ist bei Einstein nicht aus der Mobilmachung ausgeklammert. Mit seiner Abwehr des Einfiihlungsverfahrens stand Einstein also nicht allein. Er richtet sich direkt gegen die herrschende Ethnographie in Deutschland und damit auch gegen Rudolf Bastian, den Gründer der deutschen Ethnologie als akademischer Disziplin. Bastian ging von der Idee aus, daß in allen geographischen Provinzen Kulturkonstanten zu beobachten sind, die er "Elementargedanken" nennt. In seinem Buch Die Völkerkunde von 1900 findet sich ein Satz, der zwar positivistisch, Gesetzmäßigkeiten feststellend, daherkommt, gleichzeitig aber durch eine Struktur lebensphilosophischen Denkens geprägt wird, die man bis auf den heutigen Tag feststellt, wenn von der untergründigen Affinität zwischen den Kultobjekten der Stammeskulturen und der Modemen Kunst die Rede ist und ihre "Identity of Spirit" behauptet wird (cf. Rubin 1984). Denn an welchem Ort befindet sich der "Elementargedanke" nach Bastian? Er fand sich leicht genug die Maskierung abgezogen, die Auftünchung fortgewaschen, und dann, siehe da! zu Boden unterst lag Er überall offenkundig vor Augen, der ärmlich-arme Elementargedanke, nackt und bloss, ein und derselbe allüberall, in allen fünf Continenten derselbe (unter topischen Varianten) - so wie ihn der Wildstand gedacht, auch unter den
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cerebralen Cartenhäusem der Civilisation verborgen. (cit. Kramer 1995:95)
Hat sich Einsteins Verfahren überhaupt entschieden von der Entdekkung des "Elementargedankens" im kolonialen Diskurs der deutschen Ethnologie abgekehrt? An die Stelle der soziologischen und psychologischen Fassung des Elementargedankens rückt bei ihm ein unchristlich kultischer Handlungsraum, dessen Leistung es vor allem ist, alle Versuche der Psychologisierung abzuwehren. Für diesen Raum gab es nur ein Vorbild - das Vorbild der autonomen Kunst und ihrer Institution: das bürgerliche Museum. Was aber war das Schicksal der Skulpturen, wenn sie in diesen Raum eingerückt waren? 5. Reaktionen auf die Negerplastik
11 Jahre nach dem Manifest der Negerplastik wird earl Einstein die Zweischneidigkeit seines Unternehmens erkennen. Angesichts der Afrika-Mode, die durch den Verlust der Kolonien befördert wurde, konstatiert er ernüchtert: Der Wechsel von der Abstellkammer des Völkerkundemuseums ins Kunstmuseum besiegelt letztlich nur ihr Schicksal als totes, dem Boden entrissenes Fragment.
Und weiter: Ein Kunstgegenstand oder Gerät, die in ein Museum gelangen, werden ihren Lebensbedingungen enthoben, ihres biologischen Milieus beraubt und somit dem ihnen gemäßen Wirken. Der Eintritt ins Museum bestätigt den natürlichen Tod des Kunstwerks, es vollzieht den Eintritt in eine schattenhafte, sehr begrenzte, sagen wir ästhetische Unsterblichkeit. (Einstein 1996:446)
Bis heute haben sich die von Einstein zum ersten Mal praktizierten Kunstgriffe der Isolation als Voraussetzung dafür erhalten, daß diese Dinge als 'authentische' Gegenstände im Museum zu betrachten sind; in magischem Boutiquenlicht unter Plexiglashauben - freilich inzwischen museumspädagogisch mit erklärenden Tafeln versehen.? Außer dem gewaltsamen Akt der Entfernung vom Ort magischer Praktiken, gab es noch eine andere Prozedur, die die Dinge isolierte. Es war die Überwindung der ästhetischen Schwelle, die die Objekte an
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ihrem ursprünglichen Ort oft unansehnlich machte: oftmals verklebt mit "unangenehmen Materialien", Restspuren von Blut, Haaren und Eingeweiden, Krusten staubiger Luft (cf. Price 1992:105ff.) Reinigungsprozeduren gehen ihrer Präsentation als Kunstobjekte voraus. Erst Waschungen garantieren, daß sie den Autonomieanspruch, der ihnen zugemutet wird, wahrnehmen können. Es bedurfte der vom Surrealismus geprägten Einstellung von Michel Leiris, der auf seiner Expedition von Dakar nach Djibouti sowohl den gewaltsamen Akt des Lostrennens der Kultobjekte als auch die unangenehmen Materialien, in die sie verwoben waren, zum Gegenstand ästhetischer Faszination machte (cf. Perloff 1995, Shelton 1995). Die Reaktionen auf Einsteins Negerplastik waren zwiespältig. 8 Das Buch kursierte unter Künstlern und Sammlern, aber auch Schriftsteller schalteten sich in die Diskussion ein. Hermann Hesse schildert seine ersten Eindrücke von den Fotografien: Der erste Eindruck ist der von Kinderarbeiten, der Eindruck der Primitivität; man fühlt die Voraussetzungen jeder Kunst, an die wir gewohnt sind, verschwunden ...
bis er dann einsieht, daß er mit den afrikanischen Objekten einer Wirklichkeit von Kunst gegenübersteht,vor welcher alle Gesetze und Schablonen der üblichen klassischen Kunstlehren ganz und gar versagen... (cit. Baake 1990:95)
Die Argumente der Gegner sind neben der Kritik an der Loslösung vom wissenschaftlich-ethnologischen Apparat, die allgemein bemängelt wird, unterschiedlich. Hierbei sind die Kritiken aufschlußreicher als die lobenden Wiederholungen von Einsteins Parolen, weil in ihnen die Konventionen der zeitgenössischen Wahrnehmung definiert werden. "Es geht meines Erachtens nicht an," bemerkt Viktor Christian in den Mitteilungen der Anthroplogischen Gesellschaft in Wien, derartig komplizierte Gedankengänge, wie sie Einstein als Grundzüge moderner Plastik entwickelt, auch dem Negerkünstler zuzuschreiben. Die Negerplastik ist keine b e w u ß t e Konzentration des Dreidimensionalen, sondern hier wirkt wohl neben einem durchaus nicht auf das Höchsterreichbare gerichteten Willen entscheidend das technische Unvermögen mit, die tUr den dargestellten Gegenstand als charakteristisch erkannten Merkmale anders denn frontal zur Geltung zu bringen.
Interessant ist der Vorwurf, Einstein verherrliche ein "intellektuelles
247 Manko", daß die primitiven Völker mit den Kindern gemeinsam hätten, indem sie die unmittelbare Anschauung mit Bewußtseinsinhalten vermischten (cit Baake 1990:129), was zu den bekannten Proportionsfehlern ftihre. Aufschlußreich auch der Einwurf, die afrikanischen Skulpturen wären nur von Reiz wegen der Verwandtschaft der antiken und mittelalterlichen Primitiven mit allermodernsten Tendenzen (cit. Baake 1990:124). Allgegenwärtig die Warnung: Masken der Authentizität
Aber man mag die Sache drehen und wenden wie man will, diese Negerplastik ist eine primitive, eine zurückgebliebene Wildenkunst. Diese Not ist für unser nach allen Ursprüngen sich zurücksehnendes Kunstbedürfnis ganz von selbst eine Tugend; aber diesen Sachverhalt auf Kosten aller anderen Kunst, deren wir froh sind, mit einem ästhetisierenden Wortgespinst zu bemänteln und beschönigen wollen, ist und bleibt eine Mohrenwäsche. (cit. Baake 1990:125)
Auch der Verdacht des "ästhetischen Snobismus" wird geäußert, ein Vorwurf, den Einstein später selber gegen die Afrika-Mode erheben wird. Der schärfste Einwand lautet, earl Einstein habe "sich einen Neger nach seinem Bilde geschaffen", oder, wie Oskar Bie mit einem Fingerzeig auf die "Fauves" in Frankreich formuliert: Die Negerplastiken, auf den Tafeln, sind wie ein Geheul von Wilden, die eine raffmierte europäische These bestätigen wollen. (cit. Baake 1990:109)
Dieser Kritik zufolge wäre Einstein selbst in die Falle der Empathie gerannt, er hätte selbst nur eine aktuelle Tendenz der Pariser Ateliers auf den dunklen Kontinent projiziert. Die Konstruktion der afrikanischen "Ursprünglichkeit" wäre auch nur eine Maske der europäischen Intelligenz. Diese Kritik trifft generell auf den Diskurs der "Primitivismus" zu. Oskar Bie entgeht freilich, daß er dies bei Einstein nicht zu enthüllen braucht. Einstein beruft sich explizit auf den zeitgenössischen Kubismus. Er legitimiert seine Hochschätzung der afrikanischen Plastiken nicht mit der Notwendigkeit einer Rückkehr zu a-logischem Schrei von Naturvölkern, sondern mit dem Hinweis auf die Affinität der Raumerfahrung der Modernsten in Paris mit Objekten der Hochkulturen afrikanischer Stämme.
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6. Topographie des Primitivismus
Heute rennt Bies Polemik offene Türen ein. Wir gehen davon aus, daß das Phänomen des "Primitivismus" , das in der europäischen Avantgarde kultiviert wird, eine "okzidentale Konstruktion" ist, in der sich Muster der Alterität, die sich im ethnographischen Diskurs des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten, und Nietzsches Erschließung einer "dionysischen" Dimension der abendländischen Kultur auf seltsame Weise mit der Suche nach neuen Ausdrucksformen mischen. Man trifft auf ein Ensemble von Repräsentationstechniken, deren Erfahrungsgehalt rein westlich ist (cf. BarkanlBush 1995:lff.), auch wenn Kolonialvölker in ihnen figurieren. An die Stelle der "Wilden" konnten im Diskurs des Primitivismus im nächsten Augenblick der Heidebauer oder der Fabrikarbeiter, der Zigeuner oder der Geisteskranke, das Kind oder der Ostjude treten. Das Modell, in dem Alterität formuliert wurde, blieb gleich. So konnte bei Carl Einstein später an die Stelle des Elementarreichs afrikanischer Bildhauer das Elementarreich der "Massen" treten. In die Topographie des "Primitivismus" konnten verschiedene Namen eingetragen werden. "Sprengen wir die Ideologie des Kapitalismus'" hieß es 1919, " so finden wir darunter den einzigen wertvollen Überrest des verkrachten Erdteils, die Voraussetzung jedes Neuen, die einfache Masse, die heute noch in Leiden befangen ist" (Einstein 1996: 18). Die schon zitierten Formulierungen des deutschen Ethnologen Rudolf Bastian machen dabei auf eine topographische Struktur dieses Diskurses aufmerksam: im "Primitivismus" sollen, wie es heißt, die "cerebralen Cartenhäuser der Civilisation" zum Einsturz gebracht, die zivilen "Maskierungen" weggezogen werden, um unter ihnen den "Wildstand" des Elementaren, als den "ursprünglichen", nicht durch Zivilisierung "entfremdeten" Bestand des Menschen, aufzudecken. Dieses Modell erlaubt es Bastian, unter der Maskerade der modemen Massen der westeuropäischen Großstädte den elementaren Bestand der "Urhorde" zu entdecken. Die Wirksamkeit des Primitivismus-Diskurses in Deutschland hängt bis heute mit einer verhängnisvollen Karriere des romantischlebensphilosophisch aufgeladenen Begriffs der "Selbstentfremdung" zusammen. Der Begriff suggeriert, daß das "eigentliche Sein" des Menschen nur jenseits der zivilen Gesellschaft, in "echten Gemeinschaften als unentfremdete Leiblichkeit" zu verwirklichen sei. Diese
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glaubt man auf der Kindheitsstufe der Evolution zu finden. Die Maske spielt dabei eine eigentümliche Rolle. Einerseits gilt sie als Inbegriff der Verstellung, aber, da sie ablegbar ist, auch als Garant dafür, sich mit ihrer Hilfe in der Gesellschaft wirksam gegen die Selbstentfremdung zu schützen. Andererseits soll sie - im Fall der afrikanischen Maske - als Gehäuse einer fremden Konvention - einen Einblick in ursprünglicheres Sein gewähren. Die Topographie des "Primitivismus" beherrscht das Denken der Klassischen Modeme noch über viele Jahrzehnte, wenn sich auch die Wertakzente verschieben. 9 Michel Leiris definiert noch 1927 "Zivilisation" nach dem Struktur-Modell, das wir von Bastian kennen. Alle zivilisierten moralischen Praktiken und konventionellen Umgangsarten bilden für Leiris nur eine "dünne Schicht", die "Oberfläche eines stillen Wassers", die plötzlich von "Wirbeln" aufgebrochen werden kann. Bei der "kleinsten Turbulenz" zerreißt der "Mantel" des zivilisierten Benehmens, der die "Rohheit unserer gefahrlichen Instinkte" nur fadenscheinig verhüllt (cit. BarkanlBush 1995:433, Übersetzung des Verfassers). Dieses Urteil aus dem Jahre 1927 kann sich bereits auf die Erfahrung des Weltkriegs berufen; man kann freilich auch sagen: schon vor 1914 lag das Strukturmuster vor, nach dem unter der dünnen Decke der Zivilisation rohe Elementarkräfte bereit stehen, die in Momenten der Krise zum "Durchbruch" kommen. Es kam nur auf die Art der Bewertung an, ob dieser Tatbestand zum Grund des "Unbehagens" wurde (Sigmund Freud), oder ob man in ihm die Chance des Eintauchens in einen Elementarbereich, einer Wiedergeburt, erkannte (Ernst Jünger). Im zweiten Fall läst sich eine Denkfigur beobachten, die Ernst Jünger mit den deutschen Ethnologen seiner Zeit teilt: In der Krise der Zivilisation ergreift wieder rohe "Natur" den Menschen. Und dieser antwortet durch Nachahmung der Natur - mit all ihrer Barbarei - wie etwa des Tötens um zu gebären (cf. Streck 1995:116). Leiris scheint allerdings in seinem Artikel über die Zivilisation eine dritte Möglichkeit zu favorisieren: den Genuß der Krise der Zivilisation, die, wie er mit einem mondänen Vergleich formuliert, beim geringsten Zusammenstoß zersplittert "wie der dünne Spiegel auf dem Fingernagel, dessen Politur bricht oder rauh wird". Wie man sieht, plagen sich die Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts noch lange mit den Diskursen des 19. Sie bleiben in den Evolutionsschemata von Darwin, Spencer und Haeckel, denen zufolge die Entwicklung von relativer Einfachheit zu größerer Komplexität verläuft
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und die "Naturvölker" ein Überbleibsel früherer Stadien des europäischen Zivilisierungsprozeß repräsentieren. Dies konnte als "Kindheitsstufe" hochgeschätzt werden, weil man in ihr vitaler Ursprünge ansichtig zu werden schien, oder als Stadium der Unreife drakonische Erziehungsmittel angebracht erscheinen lassen. Das hing davon ab, ob man im Prc'7eß der Zivilisierung eine 'Desertion vom Leben', wie Max Scheler spöttIsch formulierte, begriff, die zu den Ermattungszuständen der Modeme gefiihrt hatte, oder einen zwar prekären, aber notwendigen Akt der Selbstdisziplinierung und Sublimierung. Der PrimitivismusDiskurs reihte sich in die Tradition der "Heidenforschung" ein, in der man seit jeher das Bild der "Heiden" nach dem Verfahren einer "normativen Inversion" (Jan Assmann) konstruiert hatte: man verlieh ihnen Eigenschaften der "Nachtseiten" des Menschen, von denen man sich selbst entfernt zu haben glaubte. Es gab nur wenige Denker, die sich aus der Klammer dieses Modells befreiten und das Polaritäts-Schema des Diskurses selbst in Frage stellten. So machte Max Scheler darauf aufmerksam, daß es in der "Natur" das Phänomen des ursprünglich "Dionysischen", der Lust an der Grausamkeit und des zum eigenen Überleben nicht notwendigen Tötens nicht gebe, sie folglich eine Konstruktion einer Gesellschaft sei, in der das Bewußtsein der Möglichkeit der Sublimierung herrsche. Carl Einstein trennte sich in den 20er Jahren, wie Wolfgang Struck nachweist, von dem Verfahren der Isolation, das die Wirkungsmächtigkeit seines Neger-Manifestes ausgemacht hatte. Es gab freilich in der Kunstwelt seit 1906 Experimente, die zeigen, daß der PrimitivismusDiskurs sich länger in der Kunstkritik hielt als in der künstlerischen Praxis. Der Diskurs war schon in Picassos Bildern vor 1914 zerbrochen. 7. Die Entdeckung des flachen Mediums. Abschied von der Topographie des "Primitivismus" Der Snob in Benjamins kleiner Szene hatte behauptet, angesichts der beiden Dokumente aus dem Elementarbereich des "Primitiven", der Kindheit und dem afrikanischen Stamm, könne "der ganze Picasso einpacken". Der Snob befindet sich offenkundig noch ganz im Banne der "Primitivismus" , während in der bildenden Kunst selbst schon lange die Reflexion über seine Voraussetzungen eingesetzt hat.
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Abb. 4 Pab/o Picasso: "S. v.P." (1905-06).
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Abb. 5 Pablo Picasso: Studien zum Bildnis Andre Salmon (J 907).
Im Sommer des Jahres 1906 vollendete Picasso nach 92 Sitzungen das Portrait von Gertrude Stein. Er bedeckte eine fast realistisch erscheinende Physiognomie mit einer flachen, ausdrucklosen Maske mit zwei Augenschlitzen (cf. North 1995). Ein Vorbild fur die Maske hatte er auf einem alten iberischen Relief im Louvre gesehen. Es wird berichtet, daß Gertrude Stein sich erst in dieser Version des Portraits angemessen getroffen gefiihlt habe. Dieses Bild war das erste in einer Serie von maskierten Frauen, die in dem Großformat "Les Demoiselles d'Avignon" von 1907 kulminierte. Um die Masken dieses Bildes hat sich von den ersten Reaktionen der Freunde und Sammler angefangen bis in die New Yorker Ausstellung "Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts" im Winter 1984/85 ein Streitgespräch entsponnen, das erstens zeigt, in welchem Ausmaß unsere Reden bis heute vom alten Schema des Redens über "Primitivität" geprägt sind, zweitens aber auch, daß Picasso in diesem Bild ein Reflexionsmedium bereitstellt,mit dem man dem Polaritätsschema des Diskurses entgehen kann. Um mit den neueren Kommentaren zu beginnen: William Rubin, der Initiator der New Yorker Ausstellung, entdeckt in den Masken des Bildes "etwas Monströses", einen barbarischen Zug von Kurtz, dem
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Abb. 6 Pablo Picasso: Bildnis Gertrude Stein (1905-06).
Helden von Joseph Conrads Heart 0/ Darkness.\O In die gleiche Richtung geht auch der Kommentar von Leo Steinberg, der eine Formulierung Nietzsches überträgt: die Masken enthüllten die nackte Natur mit dem kühnen Gesicht der Wahrheit. Die Masken, die Picasso über die Gesichter der Prostituierten geklappt habe, seien keine ornamentalen Artefakte, sondern deckten eine rohe Tiefe auf, die von der Physiognomie nur verborgen werde. Merkwürdigerweise arbeitet in diesen rezenten Kommentaren der 80er Jahre das alte von Nietzsehe inspirierte Primitivismus-Schema krasser als in den zeitgenössischen Reaktionen von 1907. "Häßlich" fanden es die Freunde, entsetzt über die "grauenhafte" Komposition, wissend, daß Picasso in dieser Zeit die Häßlichkeit als
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Medium des Durchbruchs zu neuen Ufern begriff. Aber warum waren die Figuren "wie mit Axtschlägen zurechtgehauen" (Herding 1992:5ff.)? Aufschlußreich scheinen uns heute die Reaktionen von Andre Salmon und Henry Kahnweiler zu sein, weil sie mit einem Ruck die ganze Frage des Authentischen auf ein neues Feld verschieben. Salmon erkennt, daß das Bild "frei von Humanität" sei; sein Reiz liege darin, daß es nichts mehr sein wolle als "weiße Kreidezeichen auf einem schwarzen Brett". Und Henry Kahnweiler entdeckt in diesem Bild, daß der "Ursprung" aller Kunst "die Handschrift" sei. Damit war der "Ursprung" von fernen Zeiten und Regionen in die Performanz des Augenblicks gerückt; "Afrika" lag im Handgelenk. Für die einen bildeten die Masken Warnzeichen, daß die Zivilisation sich zu sehr von den "magischen Ursprüngen der Angst" entfernt habe, dem anderen öffnen sie die Augen rür die Arbitrarität des semiotischen Systems. Wenn in diesem Zusammenhang von "Masken der Authentizität" gesprochen wird (cf. North 1995:278), so kann man also einerseits nach dem alten Modell die Maske als Medium der Erschließung einer tieferen Wirklichkeit, einer "unentfremdeten Leiblichkeit" begreifen, andererseits aber auch als Vergewisserung der Zeichenkonvention als einzig Authentischem. Dann wäre die afrikanische Maske ein Mittel der Verfremdung, das an die vergessene Wahrheit der Zeichenhaftigkeit erinnert. Masken, bemerkt David Napier, "sind Geräte zur Analyse des Verhältnisses zwischen der Illusion einerseits und der Wiedererkennung und Unteilbarkeit des menschlichen Antlitzes andererseits" (cit. North 1995 :279). In diesem Fall bietet sich eine Lesart eines jüngeren deutschen Kunsthistorikers an, der die Gewalt des Primitivismus-Diskurses negiert. Klaus Herding kommt ohne Authentizitätsbehauptungen aus, ihn kümmert auch nicht die subtile "Dialektik" der Maske zwischen roher Natur und Konvention. Auch die Nietzscheanischen Impulse sind rür ihn nur von antiquarischem Interesse (er registriert den großen Einfluß der Nietzsche-Lektüre in Picassos Umfeld), sie prägen aber Herdings eigenen Zugang nicht. Er erkennt in diesem Bild vor allem eine Fläche, auf der die Diskurse des Primitivismus zerbrechen. Dem zerbrochenen Spiegel schreibt er die Reflexionsqualität einer Parodie zu, die die willden Kollegen herausfordert. Das Bild spielt mit den Mythen der Artisten, so auch mit dem Kult der Primitiven. Das sind die Folgen: - Der Hunger nach archaischen Tiefenstrukturen - sei es ursprüngliche Vitalität, sei es barbarischer Ritus - trifft im Bordellbild: auf Flächen!
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- Der Blick des Voyeurs auf die erotischen Kapazitäten der "Primitiven" geht ins Leere, seine Aufmerksamkeitsstellen sind abwesend, statt rund quadratisch. - Die Gestalten unterwerfen sich nicht dem betrachtenden Blick des Mannes: der Betrachter wird vielmehr angestarrt. - Das Anekdotische der ersten Skizzen, in denen die Figur am linken Rand, die den Vorhang beiseiteschiebt, ein Mann ist, der das Bordell betritt, ist durch die weibliche Maske wegeskamotiert. Nachdem er das Bild von Erzählung geleert und mit reflexiven Anspielungen auf die afrikanischen Masken Henri Matisses oder Andre Derains gefüllt hat, lenkt der Kunsthistoriker der 90er Jahre unsere Aufmerksamkeit auf die geistreiche Handschrift des Malers, auf das Spiel mit Zeichenkonventionen, auf eine Ironie, die den Spiegel des "Primitivismus" noch vor dem Zeitpunkt zerbricht, nach dem er im 20ten Jahrhundert seinen Siegeszug erst antreten wird. Das Feld der Snobisten ist endgültig verlassen: "Am Kunstwerk lernen Künstler ihr Metier". Ams Kunstwerk zerbricht die Topographie der Manifeste. Freilich, so entschieden sich der Kunsthistoriker von den Stereotypen des 'Primitivismus löst, er beugt sich dem neuesten Paradigma der Kulturwissenschaft, wenn er das Authentische in der Zeichenpraxis, der Handschrift Picassos, verbürgt sieht und es mit dem Reflexionsvermögen der Ironie versieht.
Anmerkungen In diesem Konzept der "Lebensideologie" folge ich den Erkenntnissen von Martin Lindner (Lindner 1994). I
Burckhard Spinnen hat neuerdings eine sehr besonnene Studie zu Picards Physiognomik-Büchern vorgelegt. Hierin beobachtet er, daß in Picards Buch von 1929 die Kategorie der Bewegung noch negativ bewertet wird, 1937 in den Grenzen der Physiognomie dem Zeitstil entsprechend eine Aufwertung erfährt. (cf. Spinnen 1995) 2
3
Zum Bild des "Primitiven" in der Modeme habe ich vor allem die Beiträge
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Helmut Lethen
des Sammelbandes Barkan! Bush (1995) zu Rate gezogen. 4
Ich zitiere aus dem Reprint (Einstein 1992).
Wolfgang Struck hat diese Methode der Isolation durch "Mohrenwäsche" herausgearbeitet und zugleich darauf verwiesen, daß Einstein später sein Verfahren revidiert hat. Ich verdanke dieser Arbeit entscheidende Erkenntnisse. (cf. Struck 1997, im Druck) Ich danke ihm für die Überlassung des unveröffentlichten Manuskripts. 5
6
Ich zitiere nach der Ausgabe des Jahres 1956 (Worringer 1956).
Zur Kritik dieser neuen Tendenz der Isolation in den Völkerkundemuseen vgl. Clifford (1988). Den Hinweis darauf verdanke ich Carrie Asman.
7
Sie wurden von Rolf Peter Baake im Band 1 der Carl Einstein Materialien zusammengestellt. (cf. Baake 1990) 8
9
Zur Struktur der "Lebensideologie" vgl. Lindner (1994).
Diese und die folgenden Zitate sind dem Artikel von North (1995) entnommen, dem ich entscheidende Impulse rur diesen Artikel verdanke. 10
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DAS MANIFEST UND DIE MODERNE ARCHITEKTUR IN DEN NIEDERLANDEN
Ben Rebel
Einleitung Theodor Adorno (1970:38), Peter Bürger (1974:81) und Michael Müller (1984:93) haben mehrmals darauf hingewiesen, daß ein innovativer Impetus für die historische Avantgarde von essentieller Bedeutung war. Das gilt auch für die Architektur. Selbstverständlich mußte das Neue oft auf aggressive Weise gegenüber dem Traditionellen rechtfertigt werden. Aufgrund des Ziels, den eigenen Standpunkt klar herauszustellen, wurden dabei die Unterschiede manchmal stark übertrieben. Das Manifest war dafür das geeignete, aber nicht das einzige Instrument. Anders als in der Malerei oder der Literatur gibt es zwischen Manifest und Kunstwerk (das Gebäude) eine breite Palette von Entwürfen von der ersten orientierenden Skizze bis zur komplizierten Baubeschreibung, mit deren Hilfe der Bauunternehmer imstande ist, das Bauwerk zu realisieren. Deswegen wird es niemanden überraschen, daß zum Werk der Architekten der historischen Avantgarde neben Manifesten auch manifesthafte Skizzen und Entwürfe gehören. I Damit soll nicht gesagt sein, daß es immer einen direkten und logischen Zusammenhang zwischen den Zielsetzungen der Manifeste und Utopien einerseits und der gebauten Realität andererseits gab. Das Ziel dieses Artikels ist es gerade, diesen Zusammenhang anhand einzelner Beispiele näher zu untersuchen. Dabei sollte man sich vergegenwärtigen, daß die Architektur im Vergleich zur Malerei, Literatur oder Musik auch aus anderen Gründen eine Ausnahmestellung einnimmt. In viel größerem Maße als der Maler
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oder Schriftsteller hat der Architekt oder Stadtplaner sich beinahe immer nach zahllosen praktischen Beschränkungen zu richten, wie zum Beispiel dem vorhandenen Budget, den von den Bauherrn formulierten Wünschen, den von den Behörden formulierten Vorschriften mit Bezug auf Form, Denkmalschutz, Konstruktion, Brandsicherheit, Hygiene, Wohnqualität etc. Weiterhin sollte der Architekt - zum Teil damit zusammenhängend - immer auf die Umgebung achten, sei es nun ein städtebauliches Ensemble oder eine Landschaft. Schließlich gibt es noch nationale oder lokale Traditionen im Bereich von Farbe, Material, Morphologie und Typologie. Wenn ein Architekt sich weigert, auf diese Vorgaben Rücksicht zu nehmen, dann bleibt ihm nur das Manifest oder die Architekturzeichnung übrig, die - wie gesagt - nur Vorstadium eines komplizierten Schöpfungsprozesses ist, der ja letztendlich zur Realisierung eines Bauwerkes führen soll. Man kann darum auch davon ausgehen, daß ein nahtloser Anschluß von Manifest und manifesthafter Architekturzeichnung einerseits und architektonischer Praxis andererseits wohl eher die Ausnahme ist. Utopische Manifeste nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Italien
Manchmal verneinen die Architekturzeichnungen im voraus die Realität und werden auf diese Weise utopische Skizzen. Dies ist der Fall bei vielen deutschen Avantgarde-Architekten in den Jahren um den Ersten Weltkrieg wie zum Beispiel bei Hans Scharoun und Bruno Taut mit ihrer Gläsernen Kette (eine Reihe utopischer Skizzen und Briefe, 1919) und der utopischen Zeitschrift Frühlicht (1920-22), die 1920 mit dem Manifest Nieder der Seriosismus! eröffnet wurde: Hoch, dreimal hoch unser Reich der Gewaltlosigkeit! Hoch das Durchsichtige, Klare! Hoch die Reinheit! Hoch der Kristall! und hoch immer höher das Fließende, Grazile, Kantige, Funkelnde, Blitzende, Leichte hoch das ewige Bauen!
Auch bei den Italienischen Futuristen, wie Mario Chiattone und Antonio Sant'Elia, die mit ihren Skizzen für eine "Cittil Nuova" (1914) der Realität zugunsten einer neuen, modemen Gesellschaft in weit entfernter Zukunft absichtlich den Rücken zuwandten, finden wir eine ausgesprochen utopische Stimmung vor. Sant'Elia veröffentlichte im Jahre
Das Manifest und die moderne Architektur in den Niederlanden
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1914 im Katalog zur Ausstellung Nuove Tendenze das futuristische Manifest Messagio, das kurz darauf in leicht veränderter Form als Manifesto erschien (cf. Conrads 1975:30-35, Banham 1960:127): Wir müssen uns die futuristische Stadt erfmden und erbauen - sie muß einer großen, lärmenden Werft gleichen und in allen ihren Teilen flink, beweglich, dynamisch sein; das futuristische Haus muß wie eine riesige Maschine sein. (cit. Conrads 1975:32)
Auch das frühe Bauhaus unter Leitung von Walter Gropius war von einer ähnlichen, utopischen Sphäre gekennzeichnet. So schrieb Walter Gropius im Jahr 1919 in dem Flugblatt Der neue Baugedanke, anläßlich einer Ausstellung des Arbeitsrats für Kunst in Berlin: Was ist Baukunst? Doch der kristallene Ausdruck der edelsten Gedanken der Menschen, ihrer Inbrunst, ihrer Menschlichkeit, ihres Glaubens, ihrer Religion! Das war sie einmal! Aber wer von den Lebenden unserer zweckverfluchten Zeit begreift noch ihr allumfaßbares, beseligendes Wesen? (cit. Conrads 1975)
Und Bruno Taut schrieb in eben demselben Flugblatt: In unserem Beruf können wir heute nicht Schaffende sein, sondern sich Suchende und Rufende. [... ] Wir rufen nach allen Zukunftgläubigen. Alle starke Zukunftsehnsucht ist werdende Architektur. Es wird einmal eine Weltanschauung dasein, und dann wird auch ihr Zeichen, ihr Kristall - die Architektur dasein. (ibid.)
Daß die in der Ausstellung gezeigten und auch für den Verkauf bestimmten utopischen Skizzen dennoch mehr als lediglich freie Kunst waren, geht aus den Worten Adolf Behnes hervor, des Schriftführers des Arbeitsrats rur Kunst, der im Flugblatt schrieb: In viel höherem Maße als die freien graphischen Werke wenden sich die architektonischen Entwürfe an den Willen und erfüllen damit eine Mission. Denn aus dem willenlosen, passiven Kunstkonsumententum müssen wir unter allen Umständen herauskommen. (ibid.)
Adolf Behne machte damit deutlich, daß diese Skizze als Manifest der modemen, avantgardistischen Architektur gesehen werden müsse. Marcel Franciscono (1971) hat bereits darauf hingewiesen, daß die damalige Flucht in utopische Skizzen und Manifeste sich aus dem Abscheu vieler deutscher Avantgarde-Künstler gegenüber den Folgen des Ersten Weltkriegs erklären läßt. Man habe die industrielle Produktion für die großangelegten und sinnlosen Vernichtungen verantwortlich ge-
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macht und sich deswegen von der Gesellschaft distanzieren wollen. Was man gesucht habe, sei eine ganz neue Kultur gewesen, die durch eine vollkommene Einheit von Kunst und Gesellschaft gekennzeichnet werde und in der ein mystisches oder fast religiöses Gefühl von Kollektivität herrschen solle, so wie man das im Mittelalter zu sehen glaubte. Die Künstler sollten wie Priester der Menschheit den Weg zu dieser neuen Kultur zeigen. Bezeichnend in dieser Hinsicht war auch das von Walter Gropius geschriebene GrÜßdungsmanifest des Bauhauses im Jahre 1919, in dem er nachdrücklich die kulturelle Bedeutung des Handwerkes betonte2 : Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! [... ] Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristalienes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens. (Gropius 1919)
Zusammen mit dem Manifest war im gleichen Geist ein Holzschnitt von Lyonel Feininger abgedruckt, der eine kristallene Zukunftskathedrale darstellte, die eher die Stimmung einer mittelalterlichen Bauhütte evoziert als die des Maschinenzeitalters. Dazu möchte ich zweierlei anmerken. Erstens läßt sich diese utopische Stimmung nicht nur aus einer Flucht vor der Realität erklären. Viele Skizzen, wie zum Beispiel die expressionistischen Fabriken von Erich Mendelsohn und die gläsernen Wolkenkratzer von Ludwig Mies van der Rohe, sind im Grunde futuristische Experimente mit dem Ziel, losgelöst von allen praktischen Schwierigkeiten in der Realität architektonische Neuerungen zu verwirklichen. Norbert Huse hat in seiner Analyse des darstellenden Vermögens der modemen Architektur aus verschiedenen Perspektiven - darunter "Träume und Experimente" bereits darauf hingewiesen, daß Erich Mendelsohn in diesem Zusammenhang zielgerichtet Anschluß an die Experimente der internationalen Avantgarde auf dem Gebiet der bildenden Kunst suchte. Jedoch, so fahrt Huse fort: "Nicht Fluchtutopien hielt Mendelsohn für nötig, sondern die Auseinandersetzung mit der Realität" (Huse 1975:26): Für die besonderen Bedingungen der Architektur bedeutet die zeitgeistige Umschichtung: Neue Aufgaben durch die veränderten Bauzwecke des Verkehrs, der Wirtschaft und des Kultes, neue Konstruktionsmöglichkeiten in den Baustoffen: Glas - Eisen - Beton. (Mendelsohn 1930:8)
Das Manifest und die moderne Architektur in den Niederlanden
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Zweitens ist anzumerken, daß bei den italienischen Futuristen von Fluchtverhalten keine Rede sein kann, da sie den Krieg als positive, reinigende Kraft begrüßten, die alle alten Traditionen zugunsten der neuen, von der Technologie dominierten Zeit, in der Maschinen, Rennwagen und elektrische Kraftwerke die Stadt beherrschen, auslöschen sollte. Und auch in der niederländischen Avantgarde-Zeitschrift De Stijl, die sich intensiv mit dem Futurismus auseinandersetzte, lesen wir in einem viersprachigen Manifest aus dem Jahr 1918: Der Streit des Individuellen gegen das Universelle zeigt sich sowohl in dem Weltkriege wie in der heutigen Kunst. [... ] Der Krieg destruktiviert die alte Welt mit ihrem Inhalt: die individuelle Vorherrschaft auf jedem Gebiet. (van Doesburg et al.1918)
Auch wenn sowohl im Bauhausmanifest wie im Manifest von De Stijl nachdrücklich eine Lanze für das Kollektive auf Kosten des Individuellen gebrochen wurde, war es dennoch so, daß die Betonung des Handwerks und des mystischen, romantischen Bildes der utopischen Zukunftskathedrale von den Mitgliedern von De Stijl abgelehnt wurde. Das war auch der Grund dafür, daß Theo van Doesburg während seines Besuchs in Weimar 1920-21 einen ernsthaften Konflikt mit der Leitung des Bauhauses hatte. (cf. van Doesburg 1923) Für van Doesburg war es - unter anderem inspiriert von Artikeln Le Corbusiers in der Zeitschrift L 'Esprit Nouveau - selbstverständlich, daß die neue Architektur die Formen der maschinellen Produktionswelt aufgreifen sollte: Deshalb wird der neue Geist sich am Reinsten, das heißt so wenig absichtlich wie möglich, in der Welt der Industrie manifestieren, die, von dem neuen Geist getrieben, ihre eigene mechanische Ästhetik geschaffen hat. (van Doesburg 1920121) 3
Daß die Flucht in die Utopie - besonders in Deutschland - auch zum Teil mit dem damaligen Mangel an konkreten Aufträgen zusammenhing, geht daraus hervor, daß die meisten Architekten später - als es im Laufe der zwanziger Jahre wiederum viele Aufträge auf dem Gebiet des Wohnungsbaus gab - auf die utopische Skizze verzichteten und sich auf den alltäglichen und dauerhaften Kampf gegen die zahllosen praktischen Hindernisse auf dem Gebiet des Siedlungsbaus beschränkten.
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Utopische Manifeste und Architekturproduktion um den Ersten Weltkrieg in den Niederlanden Allerdings stand es dem Architekten selbstverständlich immer schon frei, sich - neben der normalen Produktion mit ihren zahllosen Beschränkungen - der Utopie und der Skizze als architektonisches Manifest zu bedienen, wie zum Beispiel in den Niederlanden, wo die utopische Skizze in den Jahren um den Ersten Weltkrieg ebenfalls - wenn auch nicht im gleichen Grade wie in Deutschland - existierte. In den Niederlanden kann von Fluchtverhalten keine Rede sein und gab es zudem während des Krieges keinen wirklichen Mangel an konkreten Aufträgen. Das hing zum Teil damit zusammen, daß die Niederlande neutral geblieben waren und man deswegen nicht so stark unter den wirtschaftlichen Beschränkungen gelitten hatte, die im übrigen jedoch auch in den Niederlanden spürbar gewesen waren und sich insbesondere bei den Preisen der traditionellen Baumaterialien bemerkbar machten. Aber gerade das führte zu großangelegten Experimenten mit Siedlungen aus Beton in Amsterdam und Rotterdam. Ausschlaggebend war hier, daß der Staat, sobald sich Privatanleger notgedrungen wegen der stetig steigenden Baukosten zurückzogen, die Verantwortung übernahm und - unter Ausnutzung des finanziellen Paragraphens des Wohnungsgesetzes aus dem Jahr 1901 - den Gemeinden und Wohnungsbaugenossenschaften effektiv bei der Realisierung von großen, sozialen Wohnungsbauprojekten half. Beispiele hierfür sind die weltberühmten, expressionistischen Siedlungen in Amsterdam von Architekten wie Michel de Klerk, Hendrik Wijdeveld und Piet Kramer und eine Reihe idyllischer Gartenstädte im Norden Amsterdams. Gelegentlich lobte man mit Stolz die auffallenden, architektonischen Leistungen während des Ersten Weltkrieges. Ein schönes Beispiel ist eine Plakette oberhalb einer Pforte am Amsterdamer Zwanenplein, 1919 gebaut von den Architekten Tj. Kuipers und A.U. Ingwersen, worauf steht: Eisbär und Leopard und Französischer Hahn, fmgen den Kampf mit dem Adler an. Wie bluteten ihre Kiefern und Klauen! Holland fmg ruhig an zu bauen. Was fmdet der Frieden nach vier Jahren voll Leid? Den Adler sterbend und dieses Bauwerk bereit. 4
Das Manifest und die moderne Architektur in den Niederlanden
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Dennoch blieb die utopische Skizze damals auch für renommierte Wohnungsbau-Architekten ein vielbenutztes Mittel mit ManifestFunktion. H.P. Berlage entwarf ein riesiges, idealistisches Pantheon der Mensheid (1915). H. Th. Wijdeveld (Abb. 1) träumte sich ein organisches und von Wolkenkratzern umgebenes Volkstheater im Vondelpark in Amsterdam mit einer riesigen Vagina als Eingang (1919) und er schuf einen utopischen Plan für die künftige Entwicklung Amsterdams, wobei er eine radiale Erweiterung mit zahllosen, freistehenden Hochhäusern in einer parkhaften Umgebung vorschlug (1919-20). J.C. van Epen (Abb. 2) schließlich produzierte um 1920 eine Reihe utopischer Wolkenkratzer-Skizzen, die eng mit den zeitgenössischen Entwürfen Hans Scharouns und Bruno Tauts verwandt waren und sich damals ganz bestimmt nicht realisieren ließen. Sie sollten offenbar als architektonische Manifeste funktionieren, mit dem Ziel, weitergehende Intentionen, die unmöglich in der Alltagspraxis verwirklicht werden konnten, zum Ausdruck zu bringen. Jedoch blieben derartige manifesthafte Skizzen die Ausnahme. Immer häufiger benutzten besonders die Architekten des Neuen Bauens nach dem Vorbild Le Corbusiers das schriftliche Manifest als Mittel, um auf provokative Weise zum Ausdruck zu bringen, was man sich im Idealfall unter hochwertiger Architektur vorstellte, doch was man im harten Alltag des Bauens meistens nicht realisieren konnte. Auffalligerweise bediente man sich· dabei häufig des Mittels der Übertreibung bediente, was - wie wir noch sehen werden - meistens eine tiefe Kluft zwischen Manifest und Kunstwerk zur Folge hatte. Daneben gab es besondere Proiekte mit einem evidenten Manifestcharakter im Entwurf
Abb. 1 H. Th. Wijdeveld: Entwurf mit Wolkenkratzern für Amsterdam (J 919)
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Abb. 2 J. C. van Epen: Entwurf eines Wolkenkratzers
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oder sogar im Bauwerk. In derartigen außergewöhnlichen Fällen sollte man die Frage stellen, ob die Ausführbarkeit oder die Brauchbarkeit darunter gelitten haben. Im nachfolgenden will ich unterschiedliche Beispiele architektonischer Manifeste des Neuen Bauens, vom schriftlichen Manifest bis zur gebauten Realität, untersuchen. Es geht dabei um die Frage, ob und inwieweit die architektonischen Manifeste die Schlüssel zum besseren Verständnis des Neuen Bauens sind. Darüber hinaus werde ich mich mit der Frage beschäftigen, inwiefern der Manifestcharakter von einzelnen avantgardistischen Projekten möglicherweise der Brauchbarkeit und der Ausführbarkeit im Wege gestanden haben.
Das Gründungsmanifest von 'DE 8' von 1927 Ein wichtiges Dokument ist das Gründungsmanifest (Abb. 3) der 1927 errichteten Amsterdamer Architektengruppe "De 8", die zusammen mit der 1921 gebildeten, Rotterdamer Gruppe "Opbouw" das Herz des Neuen Bauens in den Niederlanden war. Gemeinsam gaben sie ab 1932 die Zeitschrift De 8 en OPBOUW heraus und gemeinsam bildeten sie auch die niederländische Vertretung beim "Congn::s International d'Architecture Modeme" (CIAM). Das Manifest wurde 1927 in aggressiver Typographie mit roten und schwarzen Buchstaben in INTERNATIONALE REVUE I 10 abgedruckt. Mit stakkato-artigen Thesen wurden die Absichten von "De 8" verdeutlicht, wobei sowohl die individualistische Ästhetik der expressionistischen "Amsterdamer Schule" als auch das abstrakte Spiel mit geometrischen Blöcken und Flächen von "De Stijl" angegriffen wurde: DE 8 WILL keine Luxusarchitektur, entsprungen aus der Formwollust von talentierten Individuen[ ... ] DE 8 IST A-ÄSTHETISCH DE 8 IST A-DRAMA TISCH DE 8 IST A-ROMANTISCH DE 8 IST A-KUBISTISCH
Besonders die These "DE 8 IST A-ÄSTHETISCH" ist - wie wir noch sehen werden - vollkommen irreführend in bezug auf die tatsächlich realisierte Architektur des damaligen Neuen Bauens, weil die besten architektonischen Produkte dieser Zeit, wie zum Beispiel die "Van
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Abb. 3 Gründungsmanijest der Architektengruppe liDe 8" (1927).
Das Manifest und die moderne Architektur in den Niederlanden
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Nellefabrik" in Rotterdam von J.A. Brinkman und L.C. van der Vlugt (1926-1930), das Sanatorium "Zonnestraal" in Hilversum (1926-28) und die Freiluftschule in Amsterdam (1929-30), beide von J. Duiker, sowie die Siedlung "Kiethoek" (1925-29) in Rotterdam von J.J.P. Oud alles andere als a-ästhetisch sind (cf. RebeI1983). In dieser Hinsicht scheint es eine Ironie des Schicksals, daß gerade diese These 1938 zu einem Bruch der Gruppe "De 8" führte. Eine Reihe jüngerer Mitglieder (die sogenannte "Groep '32") distanzierte sich provokativ und unmißverständlich von diesem, ihrer Ansicht nach überholten Ausgangspunkt der Gründer von "De 8". Nach langen Auseinandersetzungen war der Anlaß für den endgültigen Bruch ein in De 8 en Opbouw veröffentlichtes, als Provokation intendiertes Manifest in Form eines barocken Rathausentwurfs von Arthur Staal und Siem van Woerden. (Abb. 4) Die Reaktion kam schnell und eindeutig. Mart Stam, einer der sehr prinzipientreuen Architekten, erklärte während einer Versammlung, die diesem Konflikt gewidmet war: ,,sie müssen raus!'''s. Und das geschah dann auch tatsächlich, obwohl die wichtigsten Projekte des Neuen Bauens - wie gesagt - überhaupt nicht "aästhetisch" waren.
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