23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung 9783110561913, 9783110559620

This volume compiles 23 essays aiming to programmatically define the relationship between the theory of image acts and t

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German Pages 201 [200] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Editorial
Active Matter
Akusmatische Extensionen
Atmosphäre und Stimmung
Bildakt
Bildort
Bildrhythmus (und Abstraktion)
Distanz
Energeia
Felsbilder
Gemüt
Iconoclasm
Illustratio(n)
Metamorphose
Metaplastizität
Modelle
Motorische Resonanz
Sprache
Symbolische Artikulation
Synagonismus
Szenische Ikonologie
Tränen
Vergesellschaftung
Verkörperung
Bildnachweise
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23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung
 9783110561913, 9783110559620

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23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung

1 Image Wo rd Action

Imag0 Sermo Actio

Bild Wort Aktion

Editors Horst Bredekamp, David Freedberg, Marion Lauschke, Sabine Marienberg, and Jürgen Trabant

23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung Herausgegeben von Marion Lauschke und Pablo Schneider

Publiziert mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Exzellenz­clusters „Bild Wissen Gestaltung. Ein Interdisziplinäres Labor“ der Humboldt-Universität zu Berlin.

ISBN 978-3-11-055962-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056191-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055971-2 ISSN 2566-5138 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Ugo Mulas © Eredi Ugo Mulas. All rights reserved Schriftleitung: Marion Lauschke Reihengestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

VII

Editorial

 1

Wolfgang Schäffner Active Matter

11

Reinhart Meyer-Kalkus Akusmatische Extensionen Bewegte Bilder und luxurierende Töne

19

Frederik Wellmann Atmosphäre und Stimmung

25

Horst Bredekamp Bildakt

35

Franz Engel Bildort

43

Anja Pawel Bildrhythmus (und Abstraktion)

53

Pablo Schneider Distanz

63

Sabine Marienberg Energeia

69

Gernot Grube Felsbilder

77

Cheryce von Xylander Gemüt

  89 David Freedberg Iconoclasm   97 Kathrin Mira Amelung Illustratio(n) 105 Stefan Trinks Metamorphose 115

Marc-Oliver Casper Metaplastizität

121 Reinhard Wendler Modelle 127

Marion Lauschke Motorische Resonanz

133

Jürgen Trabant Sprache

141

Tullio Viola Symbolische Artikulation

149

Yannis Hadjinicolaou Synagonismus

159

Wolfram Hogrebe Szenische Ikonologie Das Berliner Paradigma

165

Herman Roodenburg Tränen

173

Amelie Ochs Vergesellschaftung

183

Joerg Fingerhut Verkörperung

191

Bildnachweise

Editorial

Üblicherweise benötigt ein „Manifest“ den Singular, um das Apodiktische, Aufrüttelnde und auch Unbedingte seiner Textgattung zu betonen. Der Plural weist in diesem Fall auf die Varianz und Vielfalt dessen hin, was hier einen Manifest­ charakter besitzt. Schon die Verschiedenheit der beteiligten Disziplinen − Philosophie, Kunstgeschichte, Sprachwissenschaft und Lautkunde − lässt nur ein vielstimmiges Auftreten zu. Ursprünglich war geplant, ein Handbuch von Begriffen zusammenzustellen, deren Bedeutung sich im Zuge der Erörterungen der Theorie des Bildakts, die Verkörperungsphilosophie und die vielfältigen Formen symbolischer Artikulation ge­ wandelt hat oder die neu gefasst wurden. Es hätte ein Lexikon werden können, wie es Fritz Mauthner zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinem „Wörterbuch der Philo­sophie“ (1910) zu einem seither kaum mehr erreichten Muster gemacht hat: dezidiert subjektiv, in diesem Charakter aber auch beispielgebend und mitreißend. Ein Lexikon aber hätte seinem Anspruch nach verlangt, ein weit umfassenderes Feld von Begriffen zu strukturieren. Stattdessen handelt es sich hier um ein Kompendium von Termini, herausgebildet innerhalb einer Gruppe von Forschern, die sich seit rund einem Vierteljahrhundert und konzentriert in den letzten neun Jahren gemeinsam um einen neuen Kulturbegriff bemüht hat. Im Wesentlichen wurden Überlegungen zur bildaktiven Kraft visueller Gestaltungen, zum bedeutungsbildenden Potential des Körperschemas und zu einem erweiterten Begriff der symbolischen Artikulation zusammengeführt. Zentral geht es um den antidualistischen Ansatz eines pragmatischen Verständnisses menschlicher Orientierungen und Handlungen. Die Grundannahme liegt darin, dass die gestaltete, zum Bild gewordene Umwelt nicht allein konstruktiv aufgeschlossen werden kann, sondern ihre unableitbaren und unvorhersehbaren Impulse auf die Rezipienten zurückwirken lässt. Diese Überzeugung vermeidet einen naiven Konstruktivismus, der trotz des Zu­ geständnisses an die begrenzten Zugangsweisen des Individuums dieses dennoch ins Zentrum der Welterfassung setzt. Die Welt ist reicher als es der Konstruktivismus

VIII

Editorial

vermuten lässt: Mit dieser Einsicht rückt der Mensch aus dem Mittelpunkt der von ihm mitgestalteten Welt. Dasselbe gilt für den Zerebralzentrismus. Es ist das Körperschema, das die Verbindung von Mensch und Umwelt ermöglicht und dessen Vernachlässigung zu einem erkenntnistheoretischen Autismus führt. Ähnlich den Spielarten des radikalen Konstruktivismus bewirkt der erkenntnistheoretische Autismus eine Absolutierung des Ich, obwohl er in seinem Anspruch, Objektivität zu verbürgen, das Gegenteil behauptet. Die Arbeiten der Autorengruppe fügen sich ein in eine weltweit zu beobachtende Verlagerung der Erkenntnistheorie von der bloßen Begriffsarbeit hin zum Körperlichen, Diffusen und Entgegenkommenden. Es handelt sich um eine Form der Selbstvergewisserung, die das, was der Mensch nicht bewusst zu beherrschen vermag, unabdingbar in die Bestimmung dessen mit einbezieht, was er aufklärerisch zu leisten imstande ist. Der Beginn dieser Arbeiten geht auf Themen zurück, die der amerikanische Philosoph John Michael Krois (1943­−2010) und der Kunsthistoriker Horst Bredekamp während ihres gemeinsamen Aufenthaltes am Wissenschaftskolleg zu Berlin im Jahr 1992/1993 erörterten. Im Zuge der Gewährung einer Kolleg-Forschergruppe gelang es, unter dem Titel Bildakt und Verkörperung einen Kreis von Mitstreitern zusammenzustellen, der zu gleichen Teilen aus Philosophen und Kunsthistorikern bestand. Von Beginn an war es keine Frage, dass die übliche Spannung zwischen Bild und Sprache in der Weise aufgegeben werden müsse, wie dies als ein Modell bereits in der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg vor ihrer Emigration im Jahr 1933 in Hamburg angelegt worden war. Für Warburg gab es keine künstliche Grenzziehung zwischen Bild- und Sprachanalysen, und es war dieses Zusammenspiel, das dem Institut bis auf den heutigen Tag auch in seinem Londoner Exil eine herausragende Rolle in der Definition dessen zuteilt, was als Kultur zu gelten hat. Um das Sprachdenken zu stärken, kam der Sprachforscher Jürgen Trabant hinzu, und schließlich stießen der Philosoph Wolfram Hogrebe sowie Reinhard Meyer-Kalkus als Laut- und Stimmenforscher als Protagonisten zur Gruppe. In diesem Rahmen, gefördert auch durch das Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung“ der Humboldt-Universität zu Berlin, als deren Abteilung sie arbeitet, entwickelte die Gruppe sich allein bereits durch die Publikation von zwanzig Bänden der Reihe Actus et Imago. Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie (Hg.: Horst Bredekamp und John Michael Krois, seit 2013 mit Jürgen Trabant, Berlin 2011−2017, 20 Bde.) und eine beträchtliche Zahl weiterer Veröffentlichungen zu einer spezifischen Stimme der deutschsprachigen Verkörperungs­ philosophie. Die Besonderheit dieses Zusammenschlusses liegt darin, dass er nicht nur aktuelle Debatten aufnimmt, sondern auch historisch argumentiert.

IX

Editorial

Dies geschah bereits über den Brückenschlag zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg und über die Rolle, die Ernst Cassirer für deren intellektuelle Schärfung gespielt hat, sowie über den ambientalen Ansatz der Biologie, wie ihn Jakob Johann von Uexküll in diesem Rahmen maßgeblich entfaltete. Die historische Orientierung geht über Charles Sanders Peirce, den amerikanischen Pragmatismus insgesamt, die Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts, die Kulturtheorie Giambattista Vicos bis auf die Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz, den antidualistischen Philosophen par excellence, zurück. Diese Art der Verkörperungsphilosophie verficht vor allem auch darin eine Sonderrolle, dass sie den Körper und die Artefakte des Menschen nicht etwa allein als eine Extension begreift, sondern in ein dialektisch angelegtes Ambiente integriert, das vom Wechselspiel von menschlicher Gestaltung und der Antwort, die von der geformten Umwelt aus eigenem Rahmen zurückkommt, lebt. Die Eigenenergetik der Form, dies ist die Überzeugung der hier beteiligten Forscher, ist jenes Element, ohne das keine Philosophie der Verkörperung diesen Namen verdient. Bezieht sie diese Seite nicht ein, bleibt ihr Forschungsfeld eine Extension, an deren Ende der Zerebralzentralismus lauert. Mit dem vorliegenden Band beginnt die Reihe Image Word Action, die nun auch die Sprache im Titel trägt. Die Herausgeberschaft wurde um die drei Herausgeber(innen) David Freedberg, Marion Lauschke und Sabine Marienberg erweitert. Die nicht nur im Einband neu gestaltete Buchserie Image Word Action setzt die Reihe Actus et Imago fort. Die Herausgeber bedanken sich bei Inga Nevermann-Ballandis, Amelie Ochs, Frederik Wellmann und Friederike Wode für die Hilfe bei der Korrektur der Texte und der Bildbeschaffung.

Horst Bredekamp David Freedberg Marion Lauschke Sabine Marienberg Jürgen Trabant

Wolfgang Schäffner

Active Matter

Materialien gelten als passive, opake und widerständige Substanzen. Als solche bilden sie die Basis für eine ihnen externe und nicht von ihnen selbst abhängige Aktivität und agency, die an ihnen und mit ihnen ausgeführt werden kann. Auf dieser generischen Bestimmung einer passiven Materie, die heute auch auf die Vielfältigkeit der Materialien ausgeweitet wird,1 baut unsere gegenwärtige Kultur und Technologie auf. Sie beschreibt damit zugleich die Notwendigkeit einer von der Materie getrennten immateriellen Aktivität, deren Position vornehmlich vom Menschen und dessen Maschinen besetzt ist. Diese Bestimmung hat sich in einer derart grundlegenden Weise über ganz unterschiedliche Techniken und Medien hinweg durchgesetzt, sodass sie längst nicht mehr als historisch entstandener Gestaltungsmodus erfahren wird, sondern als unhinterfragte Voraussetzung zum Selbstverständnis unserer Kultur gehört. Deshalb stellt es ein fundamentales Ereignis dar, wenn gegenwärtig Materie und Materialien selbst in ihrer inneren Aktivität und Gestaltungspotenz erkannt werden. Bei dieser Neuorientierung des Materialen handelt es sich um eine Wiederkehr des Analogen, die weit über das Digitale Zeitalter hinausführen wird. Es zeichnet sich eine neue Vorstellung von Materialien ab, die nicht mehr passiv sind, sondern als aktives und codiertes Material verstanden werden können.

Tote Materie Als bloß passive Träger von Kräften und Aktivitäten stellen Materialien eine notwendige Bedingung für kulturelle Praktiken dar, ohne die kein menschliches Subjekt, kein Werkzeug, keine Maschine oder Handlungsablauf gedacht werden 1

Bernadette Bensaude-Vincent: The Concept of Materials in Historical Perspective, in: N.T.M. 19 (2011), S. 107–123.

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Wolfgang Schäffner

konnte. Aktivität richtet sich immer auf ein Substrat, das von einem äußeren Antrieb in Gang gesetzt wird, sei es durch Gedanken, die Aktionen des Körpers steuern und als Buchstaben auf Papier Gestalt annehmen, oder durch Energien, die zugeführt werden müssen, um Geräte gegen deren eigene Trägheit und materiale Schwere zu aktivieren. Dieser Antagonismus ist allgegenwärtig als Digitales und Materiales, Geist und Körper, Symbolisches und Physisches, operativer Code und materialer Träger. Die Handlungskette der Implementierung führt immer vom Agens zu dessen Verkörperung, von der Idee und dem Entwurf hin zum Werk, zu seiner Realisierung und Materialisierung. Das Material selbst ist bloßes Mittel und Medium der Verkörperung und dient als passiver Träger und neutrale Einschreibefläche symbolischer und virtueller Operationen. Auf dieser Dichotomie, die spätestens seit dem 18. Jahrhundert eine fundamentale Achse unserer gesamten Kultur darstellt, basieren nahezu alle unseren modernen Technologien und Kulturtechniken. Immanuel Kant hat dieses Prinzip in exemplarischer Weise als ebenso physikalische wie epistemologische Tatsache bereits im Jahr 1766 formuliert: „Die todte Materie, welche den Weltraum erfüllte, ist ihrer eigenthümlichen Natur nach im Stande der Trägheit und der Beharrlichkeit in einerlei Zustande, sie hat Solidität, Ausdehnung und Figur.”2 Mit der „Figur“ als Bilddimension, der „Ausdehnung“ als räumlicher Dimension und der „Solidität“ als materieller Dichte nennt Kant drei entscheidende Bestimmungen – also Bild, Raum und Materialität. Diese Passivität erscheint dabei absolut unhintergehbar, da sich demgegenüber eine aktive oder lebende Materie als völlig undenkbar erweist, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft nochmals in aller Deutlichkeit formuliert: „Aber die Möglichkeit einer lebenden Materie (deren Begriff einen Widerspruch enthält, weil Leblosigkeit, inertia, den wesentlichen Charakter derselben ausmacht) lässt sich nicht einmal denken.“3

Holz Ein Blick auf die Geschichte von Materialien und Materie zeigt jedoch eine sehr wandelbare Situation: In seinem Text über die Auffassungen, die dem Begriff der Materie vorangegangen sind, beschreibt Marcel Mauss die historische und kulturelle Kontingenz dieses Begriffs: Materie kommt von materia – weibliches Nomen im Lateinischen wie im Französischen – wohingegen materies (ebenso wie materia von mater stammend; 2 3

Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik [1766], in: ders.: Sämmtliche Werke. 7. Theil, 1. Abteilung, Leipzig 1838, S. 48. Ders.: Kritik der Urteilskraft (KdU), II, 2, § 73.

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Active Matter

erzeugende, weibliche Kraft) das Material hervorgebracht hat. Tatsächlich gehört materies zum Vokabular des Holzfällers und des Zimmermanns. Es bezeichnet das Herz des Baumes. Es war Holz, das Wesen aller Dinge: dauerhafter Ausdruck [expression solide], der Vorstellungen des Lebens hervorrief. Ebenso ist es der Faden, der das Gewebe des Stoffes formen wird. Es ist der gemaserte Marmorblock, aus dem der Bildhauer die Statue hervorruft, indem er der Maserung folgt.4 Diese Auffassungen zeigen, dass dem Material historisch ganz unterschiedliche Rollen zugewiesen wurden. Insbesondere Holz ist als hyle ein geradezu exemplarisches Material: Man kann es entweder als besonders flexibel und aktiv verstehen oder eben als ganz passives und starres Material benutzen. Ist einerseits für alle klassischen Gegenstände und Konstruktionselemente ein möglichst starres und passives Holz notwendig, so ist andererseits auch das arbeitende Holz in seiner Aktivität in vielfacher Weise nutzbar gemacht worden, etwa im Schiffsbau, wo das durch Wasser aufquellende Holz die einzelnen Teilelemente des Schiffsrumpfes erst zu einem dichten Körper verband (oder in ähnlicher Weise bei der Herstellung von Holzfässern). Die besondere, durch Feuchtigkeit ausgelöste Aktivität des Holzes wird hier nicht zu neutralisieren versucht, sondern bildet eine essentielle Funktion als aktives Material: „Wood swells anisotropically—largest size change in the direction of the annual growth rings (tangentially), less crosswise to the rings, and little in direction of the stem. In addition, different wood types swell differently.“5 Dies ist in der Holzverarbeitung schon lange bekannt: Durch den jeweiligen Zuschnitt des Holzes wurde eine entsprechende Reagibilität des Materials verstärkt oder abgeschwächt. Doch erst die neuere Materialforschung hat die innere Struktur von Holz genauer analysiert, die sich aus fünf verschiedenen Schichten einer Material-Struktur-Komposition zusammensetzt.6 Dieser hierarchische Aufbau des Holzes bildet eine dynamische Struktur, die auf Temperatur, Feuchtigkeit und Krafteinwirkung reagiert und den Steifheits- oder Flexibilitätsgrad variieren kann. Holz ist also kein passives Material, sondern ein Mechanismus, der sich aus differenziert strukturierten Polymer-Elementen zusam-

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Marcel Mauss: Auffassungen, die dem Begriff der Materie vorangegangen sind [1939], übers. v. Johannes F. M. Schick, in: Erhard Schüttpelz/Martin Zillinger (Hg.): Begeisterung und Blasphemie. Zeitschrift für Kulturwissenschaft 2 (2015), S. 234. Patrick Höhne/Klaus Tauer: Studies on Swelling of Wood in Water and Ionic Liquids, in: Wood Science and Technology 50/2 (2016), S. 245–258, S. 245. doi:10.1007/s00226-015-0779-8. Vgl. Peter Fratzl/Richard Weinkamer: Nature’s Hierarchical Materials, Progress in Materials Science 52 (2007), S. 1268.

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Wolfgang Schäffner

mensetzt. Holz ist auf allen Ebenen in D’Arcy Thompsons Sinne ein aktives Diagramm von Kräften.7 Diese Aktivität kann nun einerseits neutralisiert werden, wie im Falle des vor allem im 19. Jahrhundert entwickelten Sperrholzes, indem einzelne Holzplatten mit gegenläufiger Faserrichtung geschichtet und verleimt werden, um damit das Holz stabiler und passiver zu machen. Als Komposit-Material kann Holz andererseits auch als bilayer oder multilayer geschichtet werden, sodass sich die innere Beweglichkeit noch potenziert, damit sich das Holzobjekt bei Feuchtigkeits- und Wärmeeinwirkung extrem verbiegt. Dies sind ganz aktuelle Formen im Zeichen von active matter, wenn es darum geht, Holz als Sensor und Motor zu verwenden.8

Eisen Die industriellen und technischen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts bis hin zu den gegenwärtigen digitalen Techniken wurden möglich aufgrund der Durchsetzung des Prinzips der passiven Materialien. Hardware – als klassische Eisenware – ist mit ihrer Passivität in alle Lebensbereiche eingedrungen und wird auch gegenwärtig immer noch und sogar in einem nie dagewesenen Maße implementiert. Die digitale Revolution vollzieht die radikale Passivierung der Materie selbst in den aktuellsten Entwicklungen und Visionen einer digital perfekt formbaren Materie und vollendet damit dieses klassische Ingenieurparadigma auf molekularer Ebene. Denn wenn Materialien so vollständig programmierbar werden sollen wie Pixels auf einem Bildschirm,9 dann handelt es sich nicht um active matter im Sinne einer Selbstaktivität, sondern um die Einschreibung und Implementierung einer externen aktiven Steuerung in passive Materialien bis auf die Ebene ihrer Moleküle. Die Operationalisierung und Agentivierung der digitalen Technologien verfestigt damit das Prinzip der passiven Materialien, die für die symbolischen Algorithmen die passiven Träger ihrer zuverlässigen Implementierung bilden sollen. Die Tatsache, dass Materie träge und passiv ist, erzeugte im Kontext der industriellen Revolution auch einen großen Bedarf an Motoren und Akteuren, um eine umfassende Mechanisierung und technische Aktivierung der für sich rein passiven Materialbasis zu ermöglichen. Je klarer die Trennung von aktiven Motoren und pas-

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S. D’Arcy Wentworth Thompson: On Growth and Form, Cambridge 1942. Ingo Burgert/Peter Fratzl: Actuation Systems in Plants as Prototypes for Bioinspired Devices, in: Philosophical Transactions of the Royal Society A-Mathematical Physical and Engineering Sciences 367/1893 (2009), S. 1541–1557. Hiroshi Ishii/David Lakatos/Leonardo Bonnani/Jean-Baptiste Labrune: Radical Atoms: Beyond Tangible Bits, Toward Transformable Materials, in: Interactions XIX/1 (2012), S. 38–51.

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Active Matter

sivem Trägermaterial wurde, umso mehr setzte sich Eisen als Hardware und technische Basis durch und verwandelte das 19. Jahrhundert in eine neue Epoche des Eisens. Holz wurde dabei nicht zuletzt wegen seiner inneren Aktivität immer mehr durch die neuen Formen von Gusseisen und Stahl ersetzt. In seinem Passagen-Werk zeigt Walter Benjamin, wie Paris durch den „technischen Absolutismus“ der Eisenkonstruktionen, die auch den neuen Ladenpassagen zugrunde liegen, von Grund auf verändert wurde.10 Als neuer Baustoff wird Eisen zur Grundlage einer neuen Architektur: Der zielbewußte Arbeitsprozeß, der den Rohstoff zum unmittelbar verwendbaren Baustoff umformt, setzt beim Eisen bereits in einem weitaus früheren Stadium ein als bei den bisherigen Baumaterialien. Zwischen Materie und Material waltet hier folglich ein anderes Verhältnis als zwischen Stein und Quader, Ton und Ziegel, Holz und Balken: Baustoff und Bauform sind im Eisen gleichsam mehr homogen.11 Die Eisen-Bauten zur Pariser Weltausstellung 1889, insbesondere der Eiffelturm und die Galerie des Machines sind hier exemplarisch in dem Sinne, dass sie die Stahlstruktur in ihrer Statik völlig freilegen. Sigfried Giedions Beschreibung der Träger der Galerie des Machines verdeutlicht die eigentümliche Wirkung, die damit erzielt werden konnte: Die letzte Andeutung der Säule ist verschwunden, es fehlt die Möglichkeit abzutasten, wo Last oder Stütze ineinander übergehen. Die Wölbung setzt tief unten ein, geduckt wie im Sprung, um die Belastung zu empfangen. Wenn man will: Dies ist das Symbol unserer Karyatiden: Sie tragen nicht würdig, wie die antiken, noch zusammenbrechend, wie die barocken. Sie schnellen der Last entgegen, um sich mit ihr zu vereinigen. Die Enden der nach unten sich zuspitzenden Träger sind nicht mehr starr mit dem Erdboden verbunden. Sie können sich frei bewegen. Sie übertragen ihr Gewicht, sowie den Horizontalschub von 120000 kg über ein Fußgelenk direkt ins Fundament. Bei diesem Tragwerk konnten selbst Fundamentalbewegungen stattfinden, ohne daß dabei innere Kräfte auftreten. Es war dies die einzige Möglichkeit, um in allen Punkten des Systems das Kräftespiel kontrollieren zu können.12

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Walter Benjamin: Das Passagen-Werk [1927-1940], Gesammelte Schriften, V.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1991, S. 219. Alfred Gotthold Meyer: Eisenbauten, Esslingen 1907, S. 23, auch zitiert bei Benjamin: Passagen-Werk (wie Anm. 10), S. 220. Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton [1928], Berlin 2000, S. 55.

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Wolfgang Schäffner

Gegenüber allen klassischen Bauformen zeigt der Eisenbau eine eigentümliche Dynamik: Derartige Kräftespiele jedoch sind nur auf einer absolut zuverlässigen und passiven Materialbasis möglich, die genau die statischen Anforderungen erfüllt. Deshalb scheint dieses Gebäude in Giedions Beschreibung weniger statische Architektur als vielmehr eine Maschine zu sein, die mit großem Aufwand durch starre Eisenträger ihre inneren Kräfte stillstellt. So radikalisierte die Technik des 19. Jahrhunderts das Maschinenwesen auf der Basis der Kombination von starren Materialien und Motoren: Große Maschinen aus schwerem Metall und ohne eigenen Antrieb brauchen umso mehr Energiezufuhr von außen. Aus diesem Grund organisieren Maschinen eine „Zwangläufigkeit“, wie der Berliner Maschinentheoretiker Franz Reuleaux es formulierte, mit der eine gerichtete Beweglichkeit erzeugt wurde, die alle anderen Bewegungen ausschloss.13 Dieses Maschinenprinzip auf der Basis von starren und harten Materialien, das sich geradezu ikonisch in den tonnenschweren Eisenbahnen materialisierte, setzte sich aber ebenso in der Architektur durch, die durch die Eisenkonstruktionen ihren statischen Charakter noch deutlicher umsetzen konnte. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Architektur und Maschine ist an der Übertragung der Eisenbahnschienen als Basiselemente der Gebäudestruktur zu sehen, die Joseph Paxton 1851 im Londoner Kristallpalast verwendete: „Die Schiene“, schreibt Benjamin, „wird der erste montierbare Eisenteil, die Vorgängerin des Trägers.“14

Dynamische Strukturen Die Raumrevolution der Architektur des 20. Jahrhunderts geht hier einen entscheidenden Schritt weiter, wenn materiale Baustrukturen ihre Dynamik in einem ganz unmittelbaren Sinne umsetzen, wie dies Buckminster Fuller seit den 1920er Jahren verfolgte: Das wird genau dann möglich, wenn man Material nicht mehr als passive Einschreibe- und Implementierungsfläche, nicht mehr als träge Materie versteht, sondern selbst als Set von operativen Mechanismen, bei denen Entwerfen und entworfenes Objekt zusammenfallen. Fuller hat Architektur genau in diesem Sinne der passiven Materialität entledigt: I often hear it said in our technical schools, and by the public, that architects build buildings out of materials. I point out to architectural students that they do not do that at all. That kind of definition dates back to the era of men’s thinking of matter as solid. I tell architectural students that what they do is to 13 14

Franz Reuleaux: Theoretische Kinematik. Grundzüge einer Theorie des Maschinenwesens, Braunschweig 1875. Benjamin: Passagen-Werk (wie Anm. 10), S. 46.

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Active Matter

organize the assemblage of visible modular structures out of subvisible modular structures. Nature itself, at the chemical level, does the prime structuring. If the patterning attempted by the architect is not inherently associative within the local regenerative dynamics of chemical structure, his buildings will collapse.15 Fuller verschiebt die Perspektive von passivem Material auf aktive, dynamische Strukturen, die zu den eigentlichen Bauformen der Architektur werden. Schon die Pariser Eisenbauten von 1889 zeigten, wie sie die Massivität der Bauelemente auflösten, wenn Pfeiler zu Hohlkörpern werden. Doch erst durch die Leichtbauweise, wie sie Fuller mit seinen geodätischen Kuppeln, den Tragwerken und Tensegrity-Strukturen entwarf,16 wird dieser Übergang vom passiven Material zur dynamischen Struktur auch in der Architektur möglich. In diesen Konstellationen wird offensichtlich, in welchem Maße klassische Baumaterialien wie Stein und Eisen durch leichte und dynamischere Strukturen ersetzt werden: Diese Struktur- und Raumrevolution ist eine entscheidende Linie der historischen Genealogie von active matter, die gegenwärtig als neuer Strukturalismus in der Architektur wie auch im Bereich der Materialwissenschaften manifest wird.17 Letztere knüpfen dabei insoweit an die große Epoche des Eisens an, als sie aus der Metallurgie entstanden sind, in der man begann, die besonderen Materialeigenschaften mit der Mikrostruktur des Materials zu erklären.18 Damit konnten neben anderen Eigenschaften auch Struktur und Funktionsbeziehungen sichtbar gemacht werden. Gegenüber den homogenen Strukturen von Metallen oder Stein zeigen insbesondere biologische Materialien erstaunliche aktive Funktionen, die modellhaft für neuartige bioinspirierte Technologien werden konnten. In diesem Zusammenhang wurde auch das alte Wissen vom arbeitenden Holz in grundlegender Weise erneuert, indem nun die innere Struktur, die für diese Aktivität verantwortlich ist, analysiert werden konnte.

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Richard Buckminster Fuller: Conceptuality of Fundamental Structures from Structure in Art and in Science, in: György Kepes (Hg.): Structure in Art and in Science, New York 1965, S. 66–88. Richard Buckminster Fuller: Synergetics. Explorations in the Geometry of Thinking, New York 1975. Wolfgang Schäffner: New Structuralismus: A Human and Materials Science, in: Graz Architecture Magazine 12: Structural Affairs (2016), S. 10–31. Bensaude-Vincent: Concept of Materials (wie Anm. 1), S. 114f.

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Wolfgang Schäffner

Bild Mit den dynamischen Material- und Raumstrukturen werden zwei Komponenten des klassischen Begriffs einer toten und passiven Materie, wie sie Kant formuliert hatte, agentiviert. Neben „Solidität“ und „Ausdehnung“ aber nannte Kant auch noch die „Figur“ als Bild-Dimension der Materie. Wie also verändern sich Bild und Figur als essentielle Komponenten des Materialen im Zeichen von active matter? Welche Rolle spielt hier das Bild, wenn es keine statische Repräsentation, sondern einen aktiven Prozess darstellt? Vor dem Hintergrund von Materialien, die auf der Basis ihrer inneren reaktiven und adaptiven Struktur eine Eigenaktivität entwickeln, deren Codierung in ihnen selbst steckt und nicht von außen zugeführt werden muss, verändert sich die Rolle von Artefakten und die damit verbundenen Praktiken. Strukturen, die wie im Falle von Tensegrity-Strukturen flexibel reagieren können, oder Holz, das so angeordnet wird, dass es als Sensor und Motor agiert, bilden codierte Grundelemente für ein neues Gefüge von aktiven Materialien. Damit verändert sich auch die radikale Gegenüberstellung von Code und Material als aktive symbolische Ordnung und passiver Träger zu einer symbolischen Materialität. Material wird somit in seiner aktiven Struktur selbst als symbolische Struktur bestimmbar. Während die diskreten alphanumerischen Operationen im Analogen immer nur mit großem Aufwand zu realisieren und implementieren sind, verbinden die analogen Strukturen in unmittelbarer Weise Code, Materialisierung und Ausführung. Hier handelt es sich nicht mehr um Implementierung des Symbolischen ins Material, sondern das Material selbst wird in seiner symbolischen Struktur aktiv auf der Basis analoger Algorithmen. Wenn die symbolische Funktion als materialer Prozess beschrieben werden kann, dann verändern sich sowohl der Abstand von Worten und Dingen, der für den alphanumerischen Code grundlegend ist, wie auch die bloße Verdoppelung der physischen Welt durch das Virtuelle. Active matter als eine Fusion von symbolischen und materialen Prozessen bezeichnet Material, das selbst Code-Qualitäten enthält. Wenn räumlich-materiale Strukturen auch symbolischen Charakter haben, dann repräsentieren Bilder als symbolische Strukturen nicht nur die Welt der Dinge, sondern sie agieren auch als Symbole in der Sphäre des Materialen. Dies ist nicht möglich auf der Ebene des alphanumerischen Codes, sondern nur durch Bilder, die als analoge geometrische Operationen agieren und damit ihre eigene Hardware und deren Ausführung verkörpern: Denn Bilder tun, was sie zeigen, während Buchstaben und Zahlen zusätzliche äußere Operatoren brauchen, um ihre symbolischen Operationen ausführen und kontrollieren zu können. Bilder als materiale räumliche und aktive Strukturen verdeutlichen demnach die besondere symbolische Dimension eines neuen analogen Codes. Insoweit ist active matter als operative Struktur immer auch Bild und in diesem Sinne eine besondere, wenn nicht die ent-

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Active Matter

scheidende epistemische Ausformung im Rahmen einer Geschichte „intrinsischer Bildakte“.19 Die symbolischen Operationen von Bildern bedürfen aber im Gegensatz zu Zahlen und Buchstaben keiner menschlichen Akteure mehr, denn sie agieren selbst, in Artefakten ebenso wie in Naturobjekten. Die biologischen Materialien, die in besonderem Maße den aktiven Charakter von Materie und damit auch eine ihnen innewohnende symbolische Bild-Dimension verkörpern, werden daher zu besonderen Leitlinien für die Herausbildung von aktiven Materialien. Das postdigitale Zeit­ alter einer active matter und der damit verbundenen Wiederkehr des Analogen wäre damit auch ein Zeitalter, in dem Bilder in neuartiger Weise material-symbolische Operationen verkörpern.

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Horst Bredekamp: Die Theorie des Bildakts, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Frank­ furt/M. 2010, vgl. für den intrinsischen Bildakt insbes. S. 231ff.

Reinhart Meyer-Kalkus

Akusmatische Extensionen Bewegte Bilder und luxurierende Töne

Bild 1  Still aus dem Film Blue Velvet von David Lynch, 1986.

Denen, die in den vergangenen Jahrzehnten über Bilder und Bildtheorien geschrieben und gesprochen haben, wurde häufig alles zum Bild, ob Tanz, Theater, Performanz, Film, Fernsehen oder Videokunst. Dass Bilder, wenn sie sich bewegen, in der Regel von Geräuschen, Stimmen oder Musik begleitet werden, überhörten sie; ebenso, dass wir nur eine geringe Toleranz haben, wenn Töne gegenüber den bewegten Bildern einmal unterdrückt werden und wir diese Bilder nur noch sehen. War es nicht dies, was die Unheimlichkeit der Bilder von den brennenden Türmen des World Trade Center in New York ausmachte – ihre Stummheit? Die Explosionen der aufprallenden Flugzeuge ebenso wie die Schreie der fliehenden Menschen blieben wie abgeschnitten, und die Bilder allein wurden zur rätselhaften Flammenschrift. Dabei war die Verknüpfung von bewegten Bildern mit Tönen seit Beginn der modernen Massenmedien die Regel. Der sogenannte Stummfilm war in Wirklichkeit

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Reinhart Meyer-Kalkus

selten stumm, sondern zumeist von Klavier- oder sonstigen Musikklängen hinter, vor oder neben der Leinwand begleitet, manchmal auch von Kino-Rezitatoren. Das Fernsehen hat Michel Chion einmal treffend als „Radio mit Bildern“1 bezeichnet. Eine Gattung wie der Videoclip besteht aus Montagen von Bild- und Tonfolgen, und die Klangskulpturen eines Künstlers wie Stefan von Huene sind aus den Wechselbeziehungen zwischen visueller Materialität und Klang entwickelt worden. Was wäre schließlich die Video-Kunst von Bill Viola und Gary Hill ohne die Tonspur, die imaginäre Räume öffnet? In jüngster Zeit scheint sich eine Gegenbewegung gegen unsere Hör-Vergessenheit zu formieren. Das Phänomen der Stimme hat – nach ersten kühnen Vermessungen in den 1970er und 1980er Jahren – mehr und mehr Aufmerksamkeit in medien-, literatur- und theaterwissenschaftlichen Untersuchungen gefunden, und mit ihm die Dimension der auditiven Wahrnehmung. Mit den Sound-Studies hat sich ein weit verzweigtes, interdisziplinäres Feld in kulturwissenschaftlicher Forschung und Lehre etabliert. Wenn der Eindruck nicht täuscht, so ist das Bewusstsein von der Intermedialität der Töne, also ihrer Verschränkung mit bewegten Bildern, hier verbreiteter als das entsprechende Bewusstsein von der Intermedialität der Bilder in bildwissenschaftlichen Ansätzen. Theoretisch am intensivsten wurde die Verknüpfung von Bildern und Tönen bislang in Filmtheorie und Filmwissenschaft diskutiert. Auch das Nachdenken über performative Künste wie Tanz, Oper, Schauspiel und Performance kann davon nur profitieren. Der französische Musik- und Filmwissenschaftler Michel Chion hat den bislang vielleicht durchdachtesten Versuch einer phänomenologischen Bestimmung der Beziehungen zwischen Bildern und Tönen im Tonfilm vorgelegt. Seine Konzeptionen werden im Folgenden zum Ausgangspunkt weitergehender Überlegungen genommen. Was man im engeren Sinne als Bild in Kino, Fernsehen und anderen Medien (wie etwa dem Internet) bezeichnen könnte, besitzt nach Chion zwei Raumdimensionen, die gleichzeitig aufgebaut werden: zum einen den Rahmen der Leinwand oder des Bildschirms, der vom Zuhörer-Zuschauer bei allem Gezeigten gesehen und mitgedacht oder unbewusst unterstellt wird – ein stabiler Rahmen also, der auch dann noch bleibt, wenn das Gezeigte verschwunden ist; zum anderen den im Film selbst gezeigten Raum. Dieser Bild-Raum kann in seiner Totalität nie integral gezeigt werden, so dass immer ein Jenseits der Bildfläche (hors-champs) bleibt, das man sich über das im Bild Gezeigte hinaus verlängert vorstellen muss. Eben dieses Jenseits ist

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Michel Chion: L’ audio-visuel, Son et image au cinéma, Paris 1990, S. 139.

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Akusmatische Extensionen

das Einfallstor für Töne aus dem Off – für das, was ich als akusmatische Extensionen bezeichne.2 Töne werden in der menschlichen Wahrnehmung visuell gerahmt und lokalisiert, nicht aber Bilder akustisch. Nach Michel Chion versuchen wir, wann immer wir Töne hören, ihren Bildort (lieu d’image) zu erkennen und ihre Träger oder Verursacher im Raum visuell zu lokalisieren. Hören wir einen Klang, so schauen wir uns, wie unter unbewusstem Zwang, spontan nach dessen Träger oder Quelle um. Das Entsprechende gilt nach Chion aber nicht für die visuelle Wahrnehmung: Wenn wir ein stummes Objekt sehen, wird keineswegs unsere Hörwahrnehmung aktiviert, um es in einem akustischen Raum zu lokalisieren. Offenbar bieten unsere Wahrnehmungsroutinen einen visuellen Rahmen für Gehörtes, aber keinen auditiven Rahmen für Gesehenes an. Zwischen dem Hör-Ort für Bilder und dem Bild-Ort für Töne besteht eine Asymmetrie. Der visuellen Bindung von Tonwahrnehmungen steht keine ähnlich starke auditive Bindung von Bildwahrnehmungen gegenüber. Diese These Chions mag für den Tonfilm plausibel sein, doch muss man ihr gegenläufige Erfahrungen zur Seite stellen. Eine historische Rekonstruktion des Forum Romanum durch Susanne Muth hat zeigen können, in welchem Maße die Disposition des Raums und seiner Bauwerke von der Sorge um die Hörbarkeit des Redners bestimmt war. Auch christliche Kirchen sind ebenso sehr als Bild- wie als HörRaum gebaut worden: Die Gestaltung des Raumes erschließt sich von der Kanzel und der Orgel- oder Chorempore aus. Eindrucksvolle Forschungen zu den frühneuzeitlichen Schauspielhäusern haben nachweisen können, dass die Theaterräume im Hinblick auf die Verbreitung des Schalls und das gute Hören konzipiert wurden. Schließlich müssten in diesem Zusammenhang auch die überraschenden Fähigkeiten blinder Menschen zur Echolokation Berücksichtigung finden: Durch Klicks oder andere kleine Geräusche und deren Widerhall bauen sie eine Raumkarte auf, aufgrund derer sie durch Straßen und Städte finden. Allesamt sind dies Beispiele für die Lokalisierung visueller Objekte in einem auditiven Rahmen. Tonereignisse im Tonfilm sind vielschichtig und heterogen. Sie bauen sich aus vielen Schallquellen (Geräusch, Rede, Musik) und Frequenzen auf, vermischen sich im Raum und bilden Interferenzen, wodurch eine präzise auditive Lokalisierung, wie etwa der Aufbau einer für die Dauer eines Films stabilen auditiven Raumkarte, unmöglich wird. Übereinander gelagert und in rascher Folge wechselnd, ist es für das menschliche Ohr und Gehirn offenbar unmöglich, diese Multi-Dimensionalität der Tonereignisse auf einen einzigen auditiven Raum zu beziehen. Chions provokative Schlussfolgerung lautet denn auch, dass es keine einheitliche Tonspur im 2

Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Akusmatische Extensionen im sonoren Kino. Überlegungen zu Michel Chions Theorie der Audiovision, in: Maren Butte/Sabina Brandt (Hg.): Bild und Stimme, München 2011, S. 67–98.

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Reinhart Meyer-Kalkus

Film gibt. Was wir fälschlicherweise als Tonspur im Singular bezeichnen, ist eine Montage heterogener Klangereignisse, die geradezu schrankenlos miteinander verbunden und übereinander geschichtet werden können. Bei solchen übereinander geschichteten Klängen im Tonfilm ist die innerakustische Bindung vergleichsweise schwach gegenüber der Bindung, die jedes einzelne Tonereignis gegenüber dem gezeigten Objekt beziehungsweise Vorgang hat, die wir als seine Ursache oder seinen Träger identifizieren – mit der Folge, dass der Zuhörer-Zuschauer in der audiovisuellen Wahrnehmung gar nicht umhin kann, das, was als Tonspur eine kompakte Einheit zu sein scheint, aufzuspalten und in kleinere Ton-Bild-Einheiten zu zerlegen. Chion nennt diesen Vorgang in seinem Buch Le Son (1998) „Audiodivision“.3 Die einzelnen Tonereignisse beziehen wir auf Objekte und Vorgänge innerhalb der gezeigten Bilder oder aber wir lokalisieren sie – komplementär dazu – jenseits des Bildraums, sei es im diegetischen Off (also dem virtuellen Bildraum jenseits des Gezeigten, der prinzipiell gezeigt werden kann), oder sei es im extradiegetischen Off (einem Bildraum jenseits des Gezeigten, der gewöhnlich nicht gezeigt wird, wie Erzählerstimmen oder Begleitmusik). Doch auch hier müssen wir gegenläufige Erfahrungen in Rechnung stellen. Bei kontinuierlichen Klangereignissen und -folgen wie etwa sprachlichen Äußerungen oder Musik konzentrieren wir uns auf die innerakustische Bindung. Anders wäre kein gesprochener Satz zu verstehen und keine Melodie zu hören. Die Fähigkeit zur Audiodivision wird dabei keineswegs suspendiert, wohl aber durch auditive Wahrnehmungen überlagert, und zwar so stark, dass wir in einzelnen Fällen – wie im musikalischen Konzert – zu hören glauben, was wir sehen: etwa eine vehemente Geste eines Dirigenten, die wir aufs Gehörte – auf den Klang seines Orchesters – projizieren. Im Tonfilm verschaffen Stimmen, Geräusche und Musik den Bildern einen „Mehrwert“: 1) Sie verleihen visuellen Gegenständen und Vorgängen den Eindruck von Eigenschaften wie Körperlichkeit, Energie, Volumen, Schnelligkeit und Temperatur, den wir auf das Gesehene projizieren. 2) Bewegte Bilder werden durch Töne in eine Art von Stimmungs-Hüllkurve eingetaucht: Musik, Stimmen und Geräusche stimulieren Emotionen und eröffnen einen Horizont von Bedeutsamkeit über dem Gesehenen. 3) Schließlich erhalten Bildsequenzen durch Geräusche, Stimmen und Musik eine eigene Zeitlichkeit, die sie von sich aus nicht besitzen. Dabei handelt es sich entweder a) um die zeitliche Verlebendigung eines Bildes, sei es, dass Vorgänge detailliert und konkretisiert werden, sei es, dass sie fließender oder stockender gemacht werden. Oder aber es handelt sich b) um die zeitliche Linearisierung der Bildfläche, bei der Töne eine organische Sukzession der Bilder evozieren, die in Wirklichkeit doch durch Schnittfolgen montiert werden. Zuletzt lässt sich c) die 3

Michel Chion: Le Son, Paris 1998, S. 232f.

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Akusmatische Extensionen

Vektorisierung oder Dramatisierung des Gezeigten durch Tonfolgen auf eine Zukunft oder auf ein erwartetes Ziel hin nennen, die mit den dazugehörigen Emotionen der Spannungssteigerung und Entspannung verbunden ist. Allerdings gelingen diese Effekte im Film in der Regel nur, wenn sich bewegte Bilder und Töne in rhythmischen Korrespondenzen treffen. Eine in der Filmwissenschaft entwickelte Systematisierung für die Verknüpfung von Bildern und Tönen arbeitet mit den drei Oppositionen des „In“ und des „Off“, des Diegetischen und Extradiegetischen sowie des sichtbaren und unsichtbaren Hörbaren. Die dafür üblichen Begriffe lauten: Diegetisches In beziehungsweise dans le champ (visuell), diegetisches Off, Off-screen beziehungsweise hors champs (akusmatisch) und extradiegetisches Off oder voice-over (akusmatisch). Michel Chion spricht dementsprechend von einem „Tricercle“4 und hat die Grenzbeziehungen der drei Positionen folgendermaßen formalisiert: (diegetisches) Off 3 (zone accousmatique) 1 (diegetisches) In (zone visualisée)

(extradiegetisches) Off (zone accousmatique) 2

Zu 1: Die Grenze zwischen „diegetischem In“ und „diegetischem Off“ ist am porösesten. Hier findet unentwegt ein kleiner Grenzverkehr statt. Wie durch eine Drehtür geht etwa eine im In sichtbar eingeführte Figur ins diegetische Off über, oder aber das, was zunächst akusmatisch im diegetischen Off eingeführt wurde, erscheint im In, wird also als Quelle oder Träger der soeben gehörten Töne sichtbar, mithin desakusmatisiert. Zu 2: An der Grenze zwischen diegetischem In und extradiegetischem Off findet nur ein eingeschränkter „Zonen-Grenzverkehr“ statt – sei es, dass im In eine Figur als Erzähler eingeführt wird, die wir hinfort nicht mehr sehen, sondern die nur noch als Erzählerstimme akusmatisch im Off gegenwärtig ist (wobei das Umgekehrte so gut wie nicht vorkommt); sei es, dass eine Musik im In gespielt wird, die dann erzählstrukturell ins extradiegetische Off abwandert und die Filmhandlung leitmotivisch begleitet (auch hier ist das Umgekehrte, dass also eine Musik zunächst als Leitmotiv im extradiegetischen Off eingeführt wird, um dann sichtbar im In gespielt zu werden, ungewöhnlich). Im Prinzip ist also auch die Grenze zwischen In und extradiegetischem Off in beide Richtungen überschreitbar, jedoch nur unter bestimmten 4

Michel Chion: Un art sonore, le cinéma. Histoire, aesthétique, poétique, Paris 2003, S. 225.

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Reinhart Meyer-Kalkus

Voraussetzungen und jeweils mit anderen normativen Ansprüchen gegenüber der Konsistenz der evozierten Filmwelt. Zu 3: Die Grenze zwischen diegetischem Off und extradiegetischem Off, also zwischen den beiden akusmatischen Bereichen, ist nicht ähnlich porös wie die zwischen diegetischem Off und diegetischem In (1). Allerdings wird sie in bestimmten Filmgenres gerne überschritten, vor allem im phantastischen Film. Hier hat man diesen Grenzbereich frühzeitig ausgelotet, mit Musik, Geräuschen und Stimmen, die eigentümlich ambivalent zwischen der Welt des Dargestellten und der der extradiegetischen Deutung hin- und herwandern. Hier spielt sich – wie im RundfunkHörspiel – alles im Unsichtbaren ab, und es ereignen sich die sonderbarsten Verwandlungen, etwa zwischen den Stimmen von Abwesenden und Stimmen aus dem Jenseits. Wo sind etwa die entsetzlichen Schmerzensschreie der gestorbenen Agnes zu verorten (in Ingmar Bergmans Schreie und Flüstern, 1973), die aus dem Zimmer kommen, in dem sie aufgebahrt liegt, und die ihre Schwestern wie in einem leibhaftigen Alptraum verfolgen? Es kann keine nur innere Stimme der Schwestern sein, und aus dem Mund der Gestorbenen können sie auch nicht dringen, weil der Kiefer mit einem Tuch festgebunden ist. Diese akusmatische Zone von diegetischem und extradiegetischem Off ist eine genuine Zone akusmatischer Extensionen. Stimmen, Geräusche und Musik füllen hier unsichtbare und miteinander verschachtelte und bewegliche Räume aus. Töne aus dieser Zone besitzen eine Neigung zur Verselbständigung. Sie eröffnen eine eigentümlich ambivalente Zwischenwelt, halb im Diesseits, halb im Jenseits. Es kann sich dabei z. B. um innere paranoische Stimmen von handelnden Figuren handeln oder um Stimmen aus einem Jenseits, das sich gleich hinter der sichtbaren Welt aufbaut. Nicht zufällig werden solche akusmatischen Stimmen und Töne gerade in einer Welt paranoischer Auflösung, Ambivalenz und Verdopplung laut (Beispiel: die Kamerafahrt in das Rasenstück gleich zu Beginn von David Lynchs Blue Velvet, 1986, Bild 1). Es scheint, als ob sich die Entdeckung solcher Möglichkeiten der akusmatischen Extension dem Kino der letzten 30 Jahre verdankt. Seitdem Hollywood das Sound-Design ausgebaut hat, erfahren sie eine ungeahnte Ausdifferenzierung. Tendenziell verändert sich der Film als Medium und wird zu einer die bewegten Bilder um-belichtenden „sonoren Kunst“, wie sie Michel Chion getauft hat (art sonore).5 Vielleicht war der Tonfilm insgeheim schon immer eine Kreuzung von Stummfilm

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Vgl. Chion: Un art sonore, le cinéma (wie Anm. 4), Paris 2003.

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Akusmatische Extensionen

und Hörspiel (wie André Bazin gemeint hat).6 Doch sind wir dabei, mit der sonoren Kunst eines David Lynch und anderer Filmkünstler eine neue audiovisuelle Kunstsprache zu erlernen, die uns wahrscheinlich bald ebenso geläufig werden wird, wie der realistische Ton im traditionellen monauralen Kino. Parallele Entwicklungen fanden in der europäischen Avantgarde-Musik nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Komponisten wie Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono und deren Nachfolger unternahmen den Versuch, den Raum als eigene Dimension musikalischer Komposition zu erobern, etwa durch eine ausgeklügelte Disposition von Instrumentalisten und Sängern im Raum oder durch die Installation von Lautsprecheranlagen, mit deren Hilfe die elektronisch verstärkten oder erzeugten Klänge im Raum zu wandern oder zu rotieren beginnen. Werden die akusmatischen elektronischen Klänge mit live gespielten instrumentalen verbunden (wie in Stockhausens Kontakte von 1960) oder die instrumentalen Klänge durch akusmatische Live-Electronics amplifiziert, entstehen faszinierend ambivalente Übergänge der Klangräume – akusmatische Extensionen. Der Zuhörer verortet diese komplexen Tonereignisse jeweils mit Bezug auf seine „Ich-Origo“ in Links und Rechts, Oben und Unten, Vorne und Hinten. Doch wird er in einen Wirbel von Tonereignissen hineingerissen, so dass der jeweils faktische Hör-Raum, in dem all dies zusammenklingt, wie von Energiestößen aus unterschiedlichen Richtungen durchtost klingt.

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Vgl. André Bazin: Le ‚Journal d’un curé de campagne‘ et la stylistique de Robert Bresson, in: Qu’est-ce que le cinéma? 11 (1999), S. 107–128, S. 120.

Frederik Wellmann

Atmosphäre und Stimmung

1. Wie kommt die Erfahrung zu Wort? „Atmosphäre“ und „Stimmung“ sind Worte, in denen das Numinose, das schwer Sagbare der Erfahrung zur Sprache drängt. In ihrer Metaphorik spiegelt sich der untrennbare Zusammenhang mit unserer belebten und unbelebten Umwelt. Meist verwenden wir die Worte wie beiläufig und eher mit der Absicht, uns in eine erfahrene Situation zurückzuversetzen, als diese durch jene Worte zu analysieren und uns auf Distanz zu bringen. Das Ziel dieser Überlegungen besteht nicht darin, einen exklusiven Sinn der Worte „Atmosphäre“ und „Stimmung“ zu bestimmen. Gegenstand ist die Erfahrung, auf welche diese Worte hinweisen, indem sie ihre Nähe suchen. Aus diesem Grund spreche ich lieber von Worten als von Begriffen. Der „Begriff“ ist ein Kampfplatz, auf dem Sinnkonstruktionen gegeneinander antreten. Worte haben den Kampf nicht nötig, weil sie gehört werden oder nicht. Sie dürfen noch Vehikel sein, die man fahren darf, wie man will, um zur Erfahrung zur kommen. Und es gibt besondere Worte, die eine Erfahrung nicht beschreiben, sondern wieder in sie versetzen sollen, indem sie Distanz überwinden, statt sie zu erzeugen. So birgt der Sinn in der Rede von „Atmosphäre“ und „Stimmung“ kein Instrument zur Analyse eines philosophischen Problems, sondern eine Chance zu dessen Auflösung. Eine Gewissheit des Aufgehoben-Seins im Dasein kommt durch sie zum Ausdruck, die eines Beweises im Denken nicht bedarf. Die Frage, die hier den allgemeineren Rahmen vorgibt, lautet, wie sich über Erfahrung in einer ihr selbst angemessenen Weise sprechen lässt. Oder anders formuliert, wie das Sprechen über ein Ereignis dem Ereignis selbst angehören kann, anstatt das Gesagte zu weit zu objektivieren und damit vielleicht uneinholbar zu distanzieren. Denn wann immer eine Erfahrung mitgeteilt werden soll, besteht die Gefahr, dass unterdessen etwas ganz anderes daraus wird, und der Versuch, mit Worten einen Zugang zu legen, das Erlebnis in falscher Form einschließt – sein eigentlicher Sinn unzugänglich wird. Dabei ist die Schwierigkeit klar, dass wer über

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Frederik Wellmann

eine Erfahrung sprechen möchte, in seine innere und eine äußere Situation einführen muss, wobei keine der beiden für sich erklärt werden kann. Innerlichkeit und Äußerlichkeit der Erfahrung gehören untrennbar zusammen und wollen dennoch als verschiedene Gesichtspunkte desselben Ereignisses auseinander gehalten werden. Und doch sprechen wir meist ganz selbstverständlich so, dass das Ganze der Erfahrung durch das partikulare Wort zum Ausdruck kommt und verständlich wird. Im Bild einer Atmosphäre etwa stellt sich in einem „Dazwischen“ Inneres und Äußeres zugleich dar. Dies ist kein rhetorischer Kniff, sondern ein sprachliches Phänomen außerordentlicher Transparenz für das ihm zugrundeliegende Erleben. Achten Sie einmal darauf, bei welchen Worten das Sprechen eines Anderen plötzlich durchlässig wird, Sie ganz in die Situation versetzt sind, um von innen heraus dessen Erfahrung zu begreifen. Beide Worte, „Atmosphäre“ und „Stimmung“, dienen diesem zentralen Sinn menschlicher Artikulation, der darin besteht, die eigene, zu oft nur persönliche Erfahrung in einem gemeinsamen Erfahrungsraum aufgehoben zu finden. Es gibt ein Ur-Bedürfnis nach Kontinuität des Erlebens, nach Erfahrung von Nicht-Differenz. Diese kann sich in einem Resonanzraum innerhalb der Atmosphäre der äußeren Welt einstellen oder zeitlich eine Kontinuität der Stimmung des Inneren bedeuten. Daran sprechend zu erinnern, oder mehr noch: die Kontinuität sprechend herzustellen, kann die zeitliche Differenz zwischen unmittelbarem Erleben und dessen Erzählung überbrücken und wieder in die Erfahrung versetzen, wodurch der Ort des Sprechens zum Ort einer fortgesetzten Selbsterfahrung wird. Die Erfahrung wird im Fall gelingender Schilderung nicht abgeschlossen, sondern so manifestiert, dass sich die Möglichkeit ihres Vollzugs wieder eröffnet. Die Verwandlung des Erlebten in Gesagtes widerspricht sich dann nicht, wenn das Gesagte dabei erlebt wird. Gerade durch die Kraft des Aufrufens von Abwesendem kann das ­Sprechen dazu verhelfen, in den flow der Erfahrung zurückzuführen, eine Wiederbelebung zu bewirken und sowohl die Brücke zum Gegenüber zu schlagen – als auch zu dem anderen meiner Selbst einer vergangenen, aber nie abgeschlossenen Erfahrung.

2. Atmosphäre Wer eine intensive Erfahrung gemacht hat, spricht gerne von der Atmosphäre, in der sie stattgefunden hat. Sprachlich wird ein Ereignis zugänglich, das nicht auf die Innerlichkeit der eigenen Person beschränkt ist. Das Erlebnis ist im Raum wie greifbar und zugleich ein Gipfelgefühl der Subjektivität. Eine Atmosphäre ergreift uns, und die Grenze zwischen dem Ort des Erlebens und unserer Innerlichkeit ist durchlässig geworden. Dass man solche Erfahrungen über die Rede von einer Atmosphäre ausdrücken kann, ist kein Zufall. Als Luft (atmós) ist sie der unsichtbare Träger alles leben-

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Atmosphäre und Stimmung

digen Geschehens. Jedes Lebewesen befindet sich in ständigem Austausch mit der Atmosphäre, die es umgibt und zu der es eine natürliche Durchlässigkeit besitzt. Atmung, Nahrungsaufnahme und das Sprechen sind Vorgänge, durch welche die Grenze zur Welt überschritten wird, die das Denken oft als unüberwindbar ansieht. Während „Welt“ als Opposition zum „Selbst“ fungiert und daher im Dienst einer Differenz steht, ist die Atmosphäre eine Bezugsgröße des Zusammenhangs. Man erwartet nicht, Atmosphäre in festen Grenzen, im Gegenstand, vorzufinden und auch nicht als rein ungegenständliche Empfindung. Wir finden Atmosphären in Zuständen herabgesetzter Differenz vor: im Zwielicht, beim Hören von Musik, beim Eintritt in eine Gemeinschaft von Menschen, in behaglichen oder unheimlichen Räumen, in der lebendigen Natur. Oft überwältigt sie uns als Gefühl des Ausgesetzt-Seins, der hereinbrechenden Fremde, in die ich, wehrlos und gleichsam ohne Haut, verschluckt zu werden fürchte. Erfahrungen mit Atmosphäre stehen im Zeichen der Empfänglichkeit der psychischen Eigen-Realität für das Fremde. Sie sind bestimmt durch die Sehnsucht, Abgrenzungen aufzugeben und die Welt zu sich hereinzulassen, um sich aus der Isolation der Selbstbezüglichkeit zu lösen. Die Bewegung, durch welche sich die befreiende Verbindung einstellt, erfolgt von außen nach innen. In der Wirkkraft der Atmosphäre wird das Ich als mehr als nur selbst-identisch erlebt. Man erfährt sich intensiv im Anderen, in Bildern der Welt. Andersherum ist die Welt nicht schlicht das von mir Verschiedene. Ich löse mich in sie hinein auf, genieße mich als in der äußeren Leere lose gefügt und erkenne mich im Spiel ihrer Formen wieder. In erlebten Atmosphären vollzieht sich die spürbare Durchdringung von Innen und Außen, in der sich das so oft als unüberwindbar getrennte Bewusstsein versöhnt findet. Denn während Bewusstsein überhaupt nur im Kontakt zur Außenwelt entsteht, definiert es sich doch anhand der Differenz zu diesem Außen. Worte, die Atmosphären beschreiben, machen, weil sie zugleich Selbst und Welt bedeuten, den eigentlichen Zusammenhang klar. Sie machen ein Dazwischen zum Träger eines neuen Bewusstseins, für das Selbst und Außenwelt nicht kategorisch unterschieden sind, sodass sich im einen das andere finden lässt. Atmosphären lassen sich also charakterisieren als die Erfahrung des Aufgehens in einer nicht mehr nur äußeren Welt, als eine Art positiven Selbstverlust.

3. Stimmung als inneres Zeichen des Zusammenhangs Bei dem Versuch, der eigenen Erfahrung zur Sprache zu verhelfen, können wir feststellen, dass wir längst über passende Ausdrücke für dasjenige zu verfügen, das uns unsagbar schien. Die damit verbundene Erkenntnis, dass die eigene Erfahrung fundamental die Erfahrung aller ist, schafft eine tiefe Befriedigung, eine

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Frederik Wellmann

Gewissheit geteilter Subjektivität. Nicht zuletzt darin zeigt sich, wie wir sprechend Distanz abbauen, obwohl wir sprachlich Differenzen erzeugen. Sprechend überwinden wir die Trennung zum Anderen. Die Stimme ist dabei das Organ der Transzendenz, indem sie das Innere mit dem Äußeren durch atmosphärische Resonanz zu verbinden vermag. Die Stimme ist die Wiederaufnahme des Einsamen in die menschliche Gemeinschaft, die Erlösung vom Eigensinn. Das Deutsche kennt eine Reihe von Worten, die eine Stimme haben. Die Zu­ stimmung etwa oder das Sich-Einstimmen und die Verstimmung, von denen nicht zu sagen ist, ob sie dem Sprechen oder Singen entstammen. Wo immer man in sprachlichen Wendungen die Stimme heraushört, geht es um die Suche nach Vermittlung und um das Bemühen, einen Raum stimmlich zu durchdringen, sich hörend durchdringen zu lassen und sich so auf einen Zusammenhang einzulassen. Die Grenze unserer Identität ist nicht mehr die Haut unseres Organismus. Ein gemeinsames Bewusstsein belebt den äußeren Raum. Die Stimme ist das menschliche Mittel, sich dem anderen zu eröffnen, indem die physische Atmosphäre des Umraums zum Träger eines gemeinsamen Sinns wird. Ihr naher Verwandter, die Stimmung, bezeichnet die reine Potentialität der Eröffnung für andere, die innerliche Bereitschaft zur Begegnung. Während ich mich in Erfahrungen der Atmosphäre als Person geradezu auflöse und in der nichtmenschlichen Natur mein Versöhnung finde, schwingt in dem, was Stimmung meint, der soziale Bezug mit – auch in der Beziehung zu sich selbst: „Bin ich heute in Hochstimmung oder bin ich verstimmt? Stimmt etwas nicht?“ Eine Stimmung ist der innere Zustand der Durchlässigkeit beziehungsweise Undurchlässigkeit für den anderen Menschen. Sie bezeugt, wie das menschliche Bewusstsein als kollektives, kommunikatives Geschehen im Einzelnen in die Empfindung tritt. Stimmungen sind, wie man weiß, nicht nur hochgradig ansteckend, sie sind als solche der innere Ausdruck des Angewiesen-Seins auf Verbundenheit mit anderen, mit Gemeinschaft. Und wenn es nur bedeutet, mit sich selbst in guter Gemeinschaft zu sein. So wie jede Zelle in Beziehung zu ihrer Umgebung steht und „spürt“, was dort geschieht, ohne dabei einen Begriff ihrer selbst zu haben, verfügt auch unser psychisches System über ein solches Sensorium. Vielleicht könnte man Stimmungen als evolutionäre Rudimente eines Zustandes weniger strikt vollzogener Abgrenzung gegen unsere Artgenossen betrachten. Wir spüren die Stimmungen des anderen, fühlen, ob etwas nicht stimmt. Man kann davon ausgehen, dass Stimmungen wesentlich älter sind als unser Wachbewusstsein, das Nietzsche als das erst kürzlich hinzugekommene Bewusstsein ansieht, das deshalb „das Unfertigste“, „Unkräftigste daran“ sei – stets gefährdet, aus dem Gleichgewicht zu geraten.1 Dennoch ist der rational1

Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft [1882], Studienausgabe KSA 3, hg. v. Giorgo Colli/Mazzino Montinari, München 2015, S. 382.

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Atmosphäre und Stimmung

reflexive Teil des Bewusstseins der Ort unserer Identifikation geworden. Aus der Perspektive dieses Kontrollzentrums beargwöhnt der Mensch Zustände unbewusster Stimmungen. Er nennt sie seine Launen. Doch was er am liebsten durch Rationalität ersetzen will, ist auch ihm noch verlässliche Orientierung. Denn gleichzeitig existiert eine tiefe Sehnsucht danach, nicht entscheiden, nicht wissen zu müssen, getragen und angenommen zu sein. Dann ist man guter Stimmung. So steckt im Deutschen selbst in der Terminologie der Individuation noch die Stimmung, etwa in der „Selbstbestimmung“. Man möchte sich zwar selbst bestimmen, selbst entscheiden. Gleichzeitig besäße man auf dieser Suche aber weder Maß noch Richtung ohne die Stimmen der anderen, die sich – als Manifestierung in der eigenen Stimmung – unserer Kontrolle entziehen. Andersherum sind wir befähigt, durch unsere Stimme Bestimmung zu verleihen und, wenn es gelingt, gleichzeitig zu empfangen. Diese Umdeutung der „Selbstbestimmung“ wäre der Versuch einer Positivierung dessen, was man als Fremdbestimmung von sich weist. Die Bestimmung aus der Fremde, verliehen durch den Anderen, wäre der eigentliche Kern und das Maß der Selbstbestimmung als der Orientierung eigener Entscheidungen an dem, was gefragt ist. Dies soll ganz und gar nicht auf einen grenzenlosen Opportunismus hinauslaufen und will sehr wohl austariert sein. Doch muss man dem Umstand Rechnung tragen, dass der einzelne Mensch für sich betrachtet nichts ist. Nur durch Resonanz stellt sich Nicht-Beliebigkeit ein; nur im sozialen Kontext stellen sich überhaupt Orientierungsfragen. So muss man seine Bestimmung zuhörend vernehmen, weil die Stimme, der sie entspringt, nur mittelbar die eigene ist. Deut­licher zeigt sich dies noch in der „Berufung“, einem Wort, das heute kaum noch Verwendung findet, aber genau dies meint: durch den Ruf, also die Stimme des Anderen, den Sinn und die Aufgabe des Daseins zu erlangen. Der Andere verrät, worin ich hilfreich sein kann. Die Spannung besteht darin, dass der Mensch trotz seines Angewiesen-Seins auf Wahl und Entscheidung, die selbst zu treffen sind, aus einer Bestimmung leben möchte, die bereits durch die Resonanz zu anderen hergestellt ist und in Stimmungen in die Empfindung tritt. Man fühlt sich unwohl bei dem Gedanken, nur seiner bewussten Willkür entspringen zu müssen. Deshalb nehmen wir unsere Stimmungen zu recht ernst als denjenigen Zustand der Durchlässigkeit, in dem der Zusammenhang bereits hergestellt ist – auch wenn dies schmerzhaft sein kann. Was lässt sich nun über das Gelingen einer Transformation der Erfahrung in Sprache lernen? Offenbar beansprucht unser alltägliches Sprechen einen Wirklichkeitsbegriff, in dem Subjekt und Welt beziehungsweise Subjekt und Subjekt weitaus weniger getrennt sind als in den Begriffen der Wissenschaft. Es ist schließlich auffällig, dass die wissenschaftliche Philosophie wenig über Erfahrung im Sinne des Sich-in-sie-Versetzens sagen kann. Dies nämlich würde bedeuten, an den Zusammenhang und nicht die Differenz zu erinnern und aus der verbindenden Kraft der Sprache zu schöpfen.

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Frederik Wellmann

Sicher hätte man auch an ganz anderen Worten und Wendungen darlegen können, dass das gelingende Sprechen über und als Erfahrung das Allergeläufigste ist. In Stimmung und Atmosphäre wird jedoch unser Gespür für die Zusammengehörigkeit zu jener Gesamtheit der Umwelt besonders deutlich, die uns nicht nur fremd und fern umgibt. Die Häufigkeit ihrer Verwendung und der alltägliche Umgang mit ihnen zeichnen diese Worte als Refugien und Ausdrucksmittel einer Intuition aus, die mit der voranschreitenden Übernahme der distanzierenden Rationalität (als inneres Äquivalent unserer immer funktionaleren Umwelt) seltener werden muss. Solange unsere Sprache aber Orte kennt, die wir aufsuchen können, um unsere durchlässigsten Momente zu erhellen, bleibt es auch in Zeiten der Rationalität möglich, jenen Erfahrungen zur Sprache zu verhelfen, die über sie hinausgehen.

Horst Bredekamp

Bildakt

Definitionen Der „Bildakt“ bezeichnet die Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln, die aus der Eigenkraft des Bildes und der Resonanz mit dem Gegenüber entsteht. Begriffsgeschichtlich hat er eine lange Tradition, die mit den imagines agentes (handelnden Bildern) auf die antike Rhetorik zurückgeht. Sich zunächst auf Gedankenbilder beziehend, denen eine handlungsstiftende Qualität zukommt, reichen diese so weit in die Welt der bildhaft geformten Materie, dass sie als erste Bezeichnung dessen gelten können, was den Bildakt ausmacht.1 Thomas Hobbes Begriff der handlungsstiftenden signs hat einen ähnlich markanten Stellenwert für die Geschichte dieses Begriffs.2 Der Begriff „Bildakt“ sucht die aus der gestalteten Umwelt kommenden An­ stöße, welche die überkommenen Handlungs- und Reflexionsrahmen erweitern oder auch unterminieren, systematisch zu erfassen. Die Wirkung von Bildern ist die Grundlage aller visuellen Steuerungen, wie sie in der Reklame, der Politik und dem

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Vgl. Rhetorica ad Herrennium, hg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf/Zürich 1994, III/37, S. 176f. u. Quintilian [M. Fabius Quintilianus]: Institutio oratoria X. Lehrbuch der Redekunst, 10. Buch, übers. v. Franz Loretto, Stuttgart 1974, XI, 2, 22, S. 594f. Zum Übergang von der Rhetorik zur materiell gestalteten Wirklichkeit: Rüdiger Campe: In der Stadt und vor Gericht. Das Auftauchen der Bilder und die Funktion der Grenze in der antiken Rhetorik, in: Angela Fischel (Hg.): Grenzbilder, Berlin 2008 (Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 6/2), S. 42–52. Zur Geschichte der imagines agentes: Jörg Jochen Berns: Schmerzende Bilder. Zu Machart und Mnemonischer Qualität monströser Konstrukte in Antike und Früher Neuzeit, in: Roland Borgards (Hg.): Schmerz und Erinnerung, München 2005, S. 25–55. Thomas Hobbes: Vom Körper, hg. u. übers. v. Max Frischeisen-Köhler [1915], Hamburg 1967, S. 15. Vgl. Horst Bredekamp: Thomas Hobbes Visuelle Strategien. Der Leviathan: Das Urbild des modernen Staates. Werkillustrationen und Portraits, Berlin 1999, S. 71f.

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Horst Bredekamp

Verkehr in großem Stil vollzogen werden. Dieser Effekt ist ausgiebig erforscht.3 Mit dem Bildakt werden nun diese bei der Psychologie und der soziale Einbettung der Rezipienten ansetzenden Mechanismen dahin erweitert, dass Bilder als pseudolebendige Erregungsquelle verstanden werden, die ein systematisch angelegtes Wechselspiel bewirken: „Bildakt“ unterstellt ein Wechselspiel zwischen Bild und Betrachter, bei dem ein wesentlicher Impuls vom Gegenüber des Rezipienten ausgeht. Diese tendenzielle Verlagerung der Kraft vom erkennenden Subjekt in die Impulsivität von Bildern vollzieht sich in drei kategorial zu unterscheidenden Sphären.4 Die erste besteht im „schematischen Bildakt“. Immanuel Kants Definition des Schemas als Medium des Zusammenspiels von Bild und Begriff, so ansprechend sie gedacht ist,5 wurde von Johann Gottfried Herder in ihrer Resistenz gegenüber dem, was den Bildakt ausmacht, kritisiert.6 Der Begriff des schematischen Bildakts geht daher auf die griechische Bestimmung des Schemas als Körper zurück, der als Bild geformt und verwendet wird.7 Das griechische Verständnis des Schemas bezog sich zunächst auf die Mathematik, deren Körper durch den Umriss geometrischer Linien und die Außenhaut stereometrischer Volumina eine bildhafte Konsistenz als Schemata erhielten. An die Verbindlichkeit mathematischer Regeln anknüpfend, übertrug Platon diese Bedeutung auf menschliche Körper, die in musterhafte Bewegungen und formelhafte Bilder gebracht wurden, um eine nachahmende Wirkung zu erzielen.8 In einem weiteren Schritt wurde diese Definition auf lebende Bildwerke übertragen. Weitgehend unerkannt, ist Platons Definition des Schemas in der Variante der somästhetischen Pragmatik aktualisiert worden. In der Philosophie der Verkörperung gilt sie als Summe aller Steuerungen, welche die Haltungen und Bewegungen der Körper ermög-

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Eine exemplarische Untersuchung stellt dar: Fabian Gebauer/Marius H. Raab/Claus-Christian Carbon: Back to the USSR: How Colors Might Shape the Political Perception of East versus West, in: i-Perception, November-December (2016), S. 1–5. DOI: 10.1177/204I6695I6676823. Zur Gliederung und deren Geltung für eine umfassende Theorie des Bildakts: Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010. Neufassung als: Der Bildakt, Berlin 2015. Übersetzungen in das Italienische (2015), Französische (2015), Portugiesische (2015), Chinesische (2016), Spanische (2017) und Englische (2017). Sybille Krämer: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin 2016, S. 250ff. Lidia Gasperoni: Versinnlichung. Kants transzendenter Schematismus und seine Revision in der Nachfolge, Berlin 2016 (Actus et Imago 20), S. 213–244. Susanne Gödde: Schêmata – Körperbilder in der griechischen Tragödie, in: Ralf von den Hoff/ Stefan Schmidt (Hg.): Konstruktionen von Wirklichkeit, Stuttgart 2001, S. 241–259, S. 241f. Maria Luisa Catoni: Schemata. Communicazione non verbale nella Grecia antica, Pisa 2005, S. 278–291.

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Bildakt

lichen.9 Im Sinne dieser Wiederkehr der Bedeutung des Schemas als körperlicher Basis des Erkennens und Verhaltens umfasst der „schematische Bildakt“ Bilder, die durch ihre tatsächliche oder simulierte Lebendigkeit musterhafte Wirkungen erzielen. Bis heute machen tableaux vivants, Automaten und synthetisch hergestellte organische Kunstwerke als Biofakte die Felder dieses schematischen Bildakts aus. Berichte über geformte Gebilde, die in lebendiger oder pseudonanimierter Form als Vorbilder wirkten, reichen von der Antike bis in die Gegenwart, und dies gilt insbesondere für Puppen sowie Automaten, die als autonom sich bewegende Gebilde in Form von Sitzgelegenheiten, Waffen oder auch Kunstwerken einen besonderen Status besaßen.10 Die zweite Sphäre liegt im „substitutiven Bildakt“, der sich im Gegensatz zum „schematischen Bildakt“ nicht auf die Assimilation von Bild und Körper, sondern auf die Austauschbarkeit von Körper und Bild bezieht. Diese wechselseitige Substituierung von Körper und Bild geht für die Nachantike im Wesentlichen auf das Konzept der vera icon zurück. Sie wird dadurch zum Bild, dass Körperpartikel Christi, von seinem Gesicht gelöst, als Abdruck im Tuch verbleiben.11 Die destruktive Konsequenz dessen, dass ein Körper zum Bild werden kann, betrifft den Ikonoklasmus, in dem Bilder bestraft werden, als würden lebendige Personen getroffen. In jüngerer Zeit dient der substitutive Bildakt vor allem als Mittel des Terrors. Kunstwerke werden zerstört, als wären sie Menschen, und Menschen werden getötet, um sie zu Bildern der Destruktion werden zu lassen, wie dies insbesondere in Palmyra im Jahr 2015 geschehen ist.12 Eine traditionelle Funktion hat der substitutive Bildakt in der Rechtspraxis der Bildstrafe. Bis in das 19. Jahrhundert wurde die Züchtigung des Bildes als vollgültiger Strafvollzug erachtet. Von besonderer Brisanz ist die substitutive Form des Bildakts in der modernen Medizin, die den Körper in Diagnose und Operation weitgehend als Bild behandelt.13   9

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John Michael Krois: Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen, in: ders./Norbert Meuter (Hg.): Kulturelle Existenz und symbolische Form. Philosophische Essays zu Kultur und Medien, Berlin 2006, S. 167–190. Vgl. Tonio Hölscher: Im Bild noch lebendiger als in Wirklichkeit: Bildwerke, Lebewesen und Dinge im antiken Griechenland, in: Ruth Bielfeldt (Hg.): Ding und Mensch in der Antike. Gegenwart und Vergegenwärtigung, Heidelberg 2014, S. 163–194, u. umfassend Markus Rath: Die Gliederpuppe. Kult – Kunst – Konzept (Actus et Imago 19), Berlin/Boston 2016. Gerhard Wolf: From Mandylion to Veronica, in: Herbert L. Kessler/Gerhard Wolf (Hg.): Holy Face and the Paradox of Representation, Bologna 1998, S.153–179, S. 156. Horst Bredekamp: Das Beispiel Palmyra, Berlin 2016. Kathrin Friedrich/Moritz Queisner/Anna Roethe (Hg.): Image Guidance. Bedingungen bildgeführter Operation, Berlin/Boston 2016 (Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 12).

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Die dritte Sphäre bildet der „intrinsische Bildakt“, der sich auf die Qualität der gestalteten Form bezieht. Die Form prägt nicht minder auch den schematischen und den substitutiven Bildakt, aber hier steht sie in ihrer Autonomie im Mittelpunkt. Sämtliche Elemente des Bildes, vom Punkt über die Farbe bis zur Raumgestalt und von figürlichen Motiven bis zur Abstraktion,14 ermöglichen dem Gegenüber eine körperschematisch bedingte Reflexion seiner selbst. Leonardos Bestimmung des Punktes als Größe, die unbestimmbar zwischen dem unendlich Kleinen und Großen schwimmt, lässt auch das unscheinbarste Element eines Bildes zum Ausgang einer inneren, nie versiegenden Bewegung werden.15 Derselbe Effekt gilt für die Farbe, die als Medium von Lebendigkeit selbst aktiv zu werden und sich selbst zu malen schien, wie dies gleichermaßen von Rembrandt und den Rembrandtisten wie auch von Jackson Pollock empfunden wurde.16 Nikolaus von Kues hat diesem Grundzug eine überragende bildtheoretische Fassung gegeben, indem er auf die autonome Blickmacht des Werkes verwies.17 Reflexionen des intrinsischen Bildakts in der Moderne wurden wesentlich durch Aby Warburgs Theorie der Pathosformel angestoßen. Sie bezieht sich auf Bildformeln, die in immer neuen Variationen Affekte zu bändigen, umzukehren oder auch anzustacheln vermögen.18 Im Einklang mit dieser Lehre deutete Sigmund Freuds Lehrstück der Psychoanalyse Michelangelos Marmorfigur des Moses als filmisches

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Marion Lauschke: Bodily Resonance. Formative Processes in Aesthetic Experience and Developmental Psychology, in: Courtenay Young (Hg.): The Body in Relationship. Self, Other, Society, Stow/Galashiels 2014, S. 175–196. Fabio Frosin: Leonardo da Vinci e il ,Nulla‘: Straticicazioni semantiche e complessità concettuale, in: Fabio Frosini (Hg.): Il volgare come lingua di cultura dal Trecento als Cinquecento. Atti del comvengno internazionale, Mantova, 18–20 ottobre 2001, Florenz 2003, S. 209–232, S. 225–232; vgl. Frank Fehrenbach: Leonardo’s Point, in: Alina Payne (Hg.): Vision and its Instruments, ca. 1350–1750, New Haven/London 2015, S. 69–98. Frank Fehrenbach: Calor nativus – Color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des ,Lebendigen Bildes‘ in der frühen Neuzeit, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, Berlin/München 2003, S. 151–170; vgl. Yannis Hadjinicolaou: Denkende Körper – Formende Hände. Handeling in Kunst und Kunsttheorie der Rembrandtisten, Berlin/Boston 2016 (Actus et Imago 18), u. Bredekamp: Der Bildakt (wie Anm. 4), S. 310–315. Nikolaus von Kues: De visione Dei. Das Sehen Gottes, übers. v. Helmut Pfeiffer, Trier 2002, S. 8f. S. a. im selben Sinn Rainer Maria Rilke: Gedichte 1895 bis 1910 (Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. I, hg. v. Manfred Engel/Ulrich Fülleborn), Darmstadt 1996, Archaïscher Torso Apollos: S. 513. John Michael Krois: Universalität der Pathosformel. Der Leib als Symbolmedium, in: Hans Belting/Dietmar Kamper/Martin Schulz (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 295–307.

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Bildakt

Ereignis.19 Auch Maurice Merleau-Pontys Deutung des Greifens als motorisch intentionalisierte Geste ließ die Grenze zwischen statischen und beweglichen Bildern porös werden.20 Schließlich gehört die systematisch angelegte Ambiguität von Bildern zu den unauslotbaren Möglichkeiten des intrinsischen Bildakts.21

Die Frage der Naturschranke Die Gültigkeit des schematischen, substitutiven und intrinsischen Bildakts ist zunächst auf bildlich geformte Artefakte des Menschen hin angelegt. Die scharfe Unterscheidung, wie sie noch Ernst Cassirer mit seiner Äußerung, dass der Mensch mit seinem reflexiven Vermögen „wie ausgestossen“ sei aus dem „Paradies des organischen Daseins“,22 ist jedoch nicht mehr in dieser Form aufrecht zu erhalten: Die Praxis von Schimpansen, mit Hilfe von Steinen und Holzstücken den Umgang mit Neugeborenen einzuüben, erfüllt bereits den Begriff des schematischen Bildakts.23 Nicht die Grenze zwischen Tier und Mensch ist konstitutiv für den Bildakt, sondern die Unterscheidung von Naturform und gestalteter Welt. Allerdings wird auch diese Grenze porös, indem etwa Fossilien als Sonderformen der Natur erkannt, geschätzt und in Skulpturen gerahmt und hervorgehoben wurden. Ein unnachahmliches Beispiel, das einen der ersten Belege für die Wurzel des Bildakts darstellt, stellt der vor ca. 200.000 Jahren geschaffene Faustkeil von

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John Michael Krois: Michelangelos Moses als Gedankenfilm. Freuds Ambivalenz gegenüber der Kinematographie, in: Ausst. Kat: Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud, hg. v.: Kristina Jaspers/Wolf Unterberger, Deutsche Kinemathek. Museum für Film und Fernsehen, Berlin 2006, S. 30–37. Sean Dorrance Kelly: Merleau-Ponty on the Body, in: Ratio (new series), XV/ 4 (2002), S. 376– 391. Dario Gamboni: Potential Images. Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art, London 2002. Ernst Cassirer: Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie [1928], in: ders.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, hg. v. John Michael Krois, Hamburg 1995, S. 3–109, S. 43. Vgl. Ernst Cassirer: Philo­ sophie der symbolischen Formen, Erster Teil. Die Sprache, Berlin 1923, S. 3–6; vgl. ders., Gesammelte Werke, Bd. 11, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2004, S. 49. Hierzu: Birgit Recki: Symbolische Form als „Verkörperung“? Ernst Cassirers Versuch einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus, in: Horst Bredekamp/Marion Lauschke/Alex Arteaga (Hg.): Bodies in Action and Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie (Actus und Imago 9), Berlin 2012, S. 3–13. Zum gesamten Komplex: John Michael Krois: Ernst Cassirer‘s philosophy of biology, in: Sign System Studies 32/1/2 (2004), S. 277–295, S. 286, Anm. 15. Horst Bredekamp: Bildaktive Gestaltungsformen von Tier und Mensch, in: Ausst. Kat.: +ultra. gestaltung schafft wissen, hg. v. Nikola Doll/Horst Bredekamp/Wolfgang Schäffner, MartinGropius-Bau, Berlin 2016, S. 17–25.

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Bild 1  Faustkeil mit Inklusion der fossilen Muschel spondylus spinosus, West Tofts/ Norfolk (England), ca. 200.000 Jahre alt, Cambridge, Museum of Archeology and Anthropology.

West Tofts dar (Bild 1), in dessen bauchiger Mitte sich ein Muschelfossil befindet, das als vorgefundene Sonderform von der erarbeiteten Kontur des Keils umrahmt und dadurch herausgehoben wird. Der Sinn für ästhetische Differenz hat hier zu einer eindrucksvollen Formprägung geführt.24 24

Horst Bredekamp: Der Faustkeil und die ikonische Differenz, in: Franz Engel/Sabine Marienberg (Hg.): Das Entgegenkommende Denken. Verstehen zwischen Form und Empfindung, Berlin/Boston 2016 (Actus et Imago 15), S. 105–118.

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Bildakt

Zwischen dem „animalischen Bildakt“, wie ihn die Praktiken der Schimpansen darstellen, und der Fähigkeit von Humanoiden, die natürliche Sonderform von ihrer Umgebung zu isolieren und solcherart eine intrinsische Form des Bildakts wirken zu lassen, zeigt sich die Schwierigkeit, die Geltung des Bildakts strikt auf menschliche Sonderformen hin zu beschränken. Selbst eine Maximaldefinition des Bildes, wie sie Leon Battista Alberti mit seiner Bestimmung vorgeschlagen hat, dass ein simulacrum bereits dann gegeben sei, wenn ein minimaler menschlicher Eingriff in eine Naturform gegeben sei, greift offenbar nicht weit genug.25

Philosophie des Bildakts Ein Verständnis von Philosophie als systematisierte Form des Denkens über das reine Denken kann die Überlegung, dass der Bildakt historisch und logisch zu den konstitutiven Bedingungen dieser Reflexion gehört, nur als Störung erfahren. Diesem Selbstverständnis sind alle Kronzeugen des Bildakts zum Opfer gefallen. Hierzu gehören Aristoteles Konzept der intrinsischen energeia von Formen,26 Lukrez‘ Überzeugung, dass Sehen eine Spezialform der tastenden Außenberührung sei,27 Nikolaus von Kues bereits erwähnte, wohl unübertreffbare Formulierung der Eigenaktivität des Bildes in De Visione Dei28 sowie Gottfried Wilhelm Leibniz‘ Begriffe der appetition und des conatus, in denen Form und Kraft verschmolzen sind: „So ist festzustellen, dass den Dingen eine gewisse Effektivität eingegeben ist, eine Form oder eine Kraft, etwas, was wir mit dem Namen Natur verbinden.“29 Die Definition der Dinge schließt formam vel vim ein: mit dieser Koppelung von Form und Kraft konstatiert Leibniz als ein allgemeines Prinzip der Natur, was im Bereich der Artefaktwelt als Bildakt zu bezeichnen ist. Schließlich ist Giambattista Vico zu nennen, dessen Frontispiz der Scienza Nuova als ein aus dem Dunkel stammendes Emblem des Bildakts zu werten ist, weil

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Leon Battista Alberti: De Statua. De Pictura. Elementa Picturae / Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hg. u. übers. v. Oskar Bätschmann/Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, Par. 1, S. 142. Aristoteles: Rhetorik, hg. u. übers. v. Franz G. Sieveke, München 1980, 1411 b 25, S. 193. Lukrez: De rerum natura, hg. u. übers. v. Karl Büchner, Stuttgart 1973, Buch IV, Zeilen 54–64. Nikolaus von Kues: Opera omnia, Bd. 6, hg. v. Adelheid Dorothee Riemann, Hamburg 2000, Praefatio, 3, 2f., S. 5. „jam concedendum est, quandam inditam esse rebus efficaciam, formam vel vim, qualis naturae nomine a nobis accipi solet“. Gottfried W. Leibniz: De ipsa natura sive de vi insita actionibusque Creaturarum, pro Dynamicis suis confirmandis illustrandisque, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Bd. IV, Berlin 1875–1890, S. 504– 516, S. 507.

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es, obzwar Menschenwerk, die hieroglyphische Vieldeutigkeit der Natur selbst in prägnanter Fülle aufweist.30 Die Ausblendung dieser Tradition hat sich exemplarisch in der sinnentstellenden Abwertung von Leibniz durch Kant dargestellt.31 Sie ist umso tragischer, als Kant im Opus postumum seinerseits die Körper- und Formbestimmtheit aller seelischen Bewegung betont.32 Wer immer jedoch unmittelbar an Leibniz anknüpfte, hat auch dessen bildaktiven Grundzug aufgenommen. Hierzu gehört in erster Linie der zeichnend denkende Charles Sanders Peirce, dessen Diktum „I do not think I ever reflect in words“33 dazu führte, ihn als Philosophen des Bildakts par excellence zu charakterisieren.34 Unter den Lebenden sind Bernhard Waldenfels, dessen Antwortregister jede Äußerung als latentes Echo der Außenansprache begreift,35 Wolfram Hogrebe, dessen „szenische Erkenntnis“ den Bildakt ambiental einfängt,36 und Hartmut Rosa zu nennen, dessen Versuch einer Resonanzbestimmung zwischen Mensch und Umwelt den Vektor ebenfalls auf die Außenwelt einstellt, allerdings ohne dass er auf die Spezifik der Bilder eingegangen wäre.37 Eine Anlage, die philosophische Tradition des Bildakts systematisch aufzunehmen, besitzt in besonderer Weise auch die Verkörperungsphilosophie.38 Bislang aber geht sie selbst in der Spielart des Enaktivismus kaum über ein Herausschieben und Externalisieren des Denkens hinaus, ohne die Formbestimmheit der Bildwelt als eigenständigen Impuls ernst nehmen zu können ( Verkörperung). James Gibsons „affordances“, welche die Trennung von Subjekt und Objekt in eine zwischen beiden 30

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Horst Bredekamp: Vorwort zur Neufassung, in: ders.: Der Bildakt (wie Anm. 4), S. 9–19, S. 14f. Vgl. Jürgen Trabant: Coltura – mondo civile – scienza nuova. Oder: Was für eine Kultur-Wissenschaft ist Vicos Neue Wissenschaft?, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 4/2 (2010), S. 179–193. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, Immanuel Kant Werkausgabe III, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. ³1977, B 326, S. 292. Lu de Vos: Formen der Subjektivität oder die Naturalisierung der Subjektivität im Opus postumum, in: Ernst-Otto Onasch (Hg.): Kants ,Philosophie der Natur‘: Ihre Entwicklung im „Opus postumum“ und ihre Wirkung, Berlin 2009, S. 287–306. Charles Sanders Peirce: Studies in Meaning, 1909, MS 619, S. 8. Vgl. hierzu: Franz Engel/ Moritz Queisner/Tullio Viola: Einleitung. Viertheit: Peirce’ Zeichungen, in: dies. (Hg.): Das bildnerische Denken: Charles S. Peirce, Berlin 2012 (Actus et Imago 5), S. 39–50, S. 44. John Michael Krois: Eine Tatsache und zehn Thesen zu Peirce‘ Bildern, in: Engel/ Queisner/ Viola: Das bildnerische Denken (wie Anm. 33), S. 53–64, S. 63f. Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt/M. 2007; ders.: Von der Wirkmacht und Wirkkraft der Bilder, in: Gottfried Boehm/Birgit Mersmann/Christian Spies (Hg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 47–63. Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009. Hartmut Rosa: Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2014.

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Größen sich ereignende Wechselspannung überführen, stehen als eine durchaus wegweisende, aber isolierte Orientierung am Pfad des Höhlenausganges.39 John Michael Krois hat den bildaktiven Gang aus diesem Ort der Verfangenheit als Erster systematisch erforscht. Sein Begriff der „Chiralität“ der Bilder, ihre Unfähigkeit, sich spiegelbildlich symmetrisch wiederholen zu lassen, setzt einen Maßstab für die philosophische Erfassung dessen, was über die Intentionen der Schöpfer und Betrachter von Bildern hinaus in diesen selbst als agens angelegt ist ( Energeia).40 Der Bildakt ist ein Element eines neu zu fassenden Kulturbegriffs, der mit der autonomen Kraft aller dem Menschen entgegenkommenden Gestaltungen rechnet. Hierin ist er ebenso die Alternative zum Konzept des „Sprechakts“ wie ein Verteidiger der nicht weniger eigenständigen energeia der Lautsprache und der Schrift.41 Er bricht mit aller vorwiegend vom Bewusstsein des Menschen her gedachten Erkenntnistheorie, wie sie der radikale Konstruktivismus vertritt. Insofern dieser die Konditionen und Begrenzungen der menschlichen Wahrnehmung zum Maßstab macht, wird die Welt nicht zum Auslöser, sondern zum Produkt der Wahrnehmung. Dieser Regel setzt der Bildakt eine Wechselspannung mit dem Entgegenkommenden entgegen, und darin ist er eine Kritik der cartesisch inspirierten Moderne mit ihrer manichäischen Trennung von Subjekt und Objekt.42 Er formuliert eine sinnlich wahrnehmbare Sphäre der symbolischen Artikulation, in der keine Bewusstseinsform zu denken ist, die nicht vom Potential der gestalteten Welt geprägt wird.

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James Jerome Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979. Vgl. Anthony Chemero: Radical Embodied Cognitive Science, Cambridge, MA 2009. John Michael Krois: Enactivism and Embodiment in Picture Acts. The Chirality of Images, in: ders./Horst Bredekamp (Hg.): Sehen und Handeln, Berlin 2011 (Actus et Imago 1), S. 3–19. Bredekamp: Theorie des Bildakts (wie Anm. 4), S. 48–56; Bredekamp: Der Bildakt (wie Anm. 4), S. 56–64. Engel/Marienberg (Hg.): Das Entgegenkommende Denken (wie Anm. 24).

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Bildort

Die Entfaltung potentieller Bildwirkungen im Bildakt ( Bildakt) geschieht nicht im doppelpoligen Energieaustausch zwischen Bild und Betrachter. Sie vollzieht sich als triadische Konstellation aus Bild, Betrachter und Bildort. Die Orte, an denen Bilder gezeigt und wahrgenommen werden, wirken sich auf das Verständnis von ihnen und auf die möglichen Folgehandlungen aus. In der jüngeren Geschichte der Kunstgeschichte gab es mehrere Versuche der theoretischen und systematischen Untersuchung des Bildorts.1 Besonders der weiße Ausstellungsraum der Nachkriegsmoderne, der White Cube, stellt das historische Beispiel für die institutionstheoretische These der Kunst dar, wonach der Ort das Kunstobjekt überhaupt erst in den Adelsstand der Kunst erhebt.2 Die unterschiedlichen Methoden der Kunstgeschichte verweigern sich grundsätzlich nicht einer Einbeziehung des Bildortes. Vielen Einzeluntersuchungen ist er eine Selbstverständlichkeit.3 Vielleicht ist die Diagnose zutreffender, wonach der Bildort immer schon berücksichtigt wurde, das methodologische Bewusstsein dafür aber noch rudimentär ist. So überwiegt in der Deutung von Bildern der Textbezug unter Vernachlässigung

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Boris Groys: Topologie der Kunst, München/Wien 2003; Markus Buschhaus: Die Buchseite als Bildträger. Ikonotopische Reflexionen am Beispiel von Douglas Crimp & Louise Lawler, in: Birgit Mersmann/Martin Schulz (Hg.): Kulturen des Bildes, München 2006, S. 435–454; ders.: Zwischen Büchern und Archiven. Ikonotopische An­­näherungen an das Röntgenbild, in: Inge Hinterwaldner/ders. (Hg.): The Picture’s Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit, München 2006, S. 145–159; Inge Hinterwaldner/Carsten Ludwig/Tanja Klemm (Hg.): Topologien der Bilder, Paderborn 2008. Brian O’Doherty: Inside the White Cube. Ideologies of the Gallery Space [1976], Santa Monica 1986; die breite Diskussion zur Institutionstheorie der Kunst wurde ausgelöst durch George Dickie: Art and the Aesthetic: An Institutional Analysis, Ithaca, NY 1976. Gerhard Wolf: Ort Gottes. Die Theophanien am Sinai und das Katharinenkloster als Ikonotop, in: Eckhard Leuschner/Mark R. Hesslinger (Hg.): Das Bild Gottes in Judentum, Christentum und Islam. Vom Alten Testament bis zum Karikaturenstreit, Petersberg 2009, S. 29–44.

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beziehungsweise Auslassung ihres Ortsbezugs.4 Der Begründer der modernen Ikonologie, Aby Warburg, hat mit der Formel des „Denkraums der Besonnenheit“ ( Distanz) das Denken unter die Bedingung der „ikonischen Situation“ gestellt und damit implizit den Bildort als wesentlichen Bestandteil der Bilddeutung begriffen.5 Für die Vergessenheit des Ortsbezugs innerhalb der Kunstgeschichtsschreibung lassen sich drei Faktoren anführen: 1. die Verwechslung von Kunstobjekt und Kunstwerk, 2. die Musealisierung (und Deponierung) und 3. die Reproduktion von Kunst. 1. Die Verwechslung von Kunstobjekt und Kunstwerk besteht darin, dass das materielle Kunstobjekt (die bemalte Leinwand, der behauene Stein, das gebaute Haus) für das Kunstwerk gehalten wird. Das Kunstwerk verrichtet seine Wirkung aber erst in einer ikonischen Situation, die orts- und zeitgebunden ist.6 Seine Werktätigkeit besteht im Hier und Jetzt. Das materielle Kondensat des Kunstobjekts ist ein Bestandteil des Kunstwerks, zu dem der Ort und der Betrachter hinzuzurechnen sind. 2. Die Musealisierung ermöglicht die Gruppierung von Kunst nach Epoche, Geographie, Gattung, Thema, relativer und absoluter Chronologie eines Künstlers, einer Künstlergruppe, einer Werkstatt oder Schule. Sie ist aber immer auch eine Neuverortung an einen nicht für das Kunstwerk vorbestimmten Platz. Die Deponierung ist demgegenüber weniger eine Neuverortung. Das Kunstwerk wird seiner Werktätigkeit durch Entzug des Faktors der Betrachtung beraubt. Werke der Kategorie „Bilder ohne Betrachter“, also Bilder, deren Betrachtung bewusst verhindert wird, stellen den Versuch dar, die Werktätigkeit ohne den Betrachter zu erzeugen.7 3. Erst die Reproduktion (Modell, Abguss, Druckgraphik, Foto, Digitalisat) ermöglicht das für die Kunstgeschichtsschreibung grundlegende vergleichende Sehen und 4

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So wurde der Begriff des Bildtopos eher als bildsprachlicher Gemeinplatz (Topik) im Sinne der Motivtypologie verstanden und nicht als Ort des Bildes; vgl. Konrad Hoffmann: Was heißt ‚Bildtopos‘?, in: Thomas Schirren/Gert Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000, S. 237–242. Den Begriff „ikonische Situation“ hat Bruno Haas geprägt: Bruno Haas: Von der Vernichtung der Fotografie, in: Ausst.-Kat.: Covering the Real: Kunst und Pressebild, von Warhol bis Tillmans, hg. v. Hartwig Fischer, Kunstmuseum Basel, Köln 2005, S. 48–60, ders.: Situations iconiques, in: Denis Coutagne (Hg.): Ce que Cézanne donne à penser (Actes du Colloque d’Aix-enProvence, juillet 2006), Paris 2008, S. 228–242, sowie ders.: Die ikonischen Situationen, Paderborn 2015. John Dewey: Kunst als Erfahrung [1934], Frankfurt/M. 1988; Haas: Die ikonischen Situationen (wie Anm. 5). Lothar Ledderose: Auf ewig dem Blick entzogen, in: Matthias Bruhn (Hg.): Bilder ohne Betrachter (Bildwelten des Wissens 4,2), Berlin 2006, S. 80–90.

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mit ihm die systematische übersichtliche Darstellung der Geschichte der Kunst.8 Der Originalitätsbegriff ist unter bildorttheoretischen Vorzeichen ein anderer: zum Original zu gehen hieße dann nicht mehr zwangsläufig ins Museum zu gehen. Im Vergleich zur Musealisierung wird in der Reproduktion das materielle Substrat durch ein dieses Reproduzierendes ersetzt, das zur Ermöglichung des vergleichenden Sehens die Reproduktionen auf ein einheitliches Maß skaliert. Wie bei der Musealisierung erfolgt auch bei der Reproduktion eine Loslösung vom ursprünglichen Ort. Aber nicht nur das Verhältnis zum Ort ist ein neues, sondern auch die für die ikonische Situation wichtige Verhältnismäßigkeit zwischen Kunstobjekt und Betrachter ist eine andere. Die Analyse des Bildorts kann somit auch zur Kritik des vergleichenden Sehens geraten. Darüber hinaus ist die Methode des vergleichenden Sehens ihrerseits ein ikonotopisches Verfahren, geht es dabei doch darum, durch temporäres Nebeneinanderstellen von Reproduktionen (in Ausstellungen auch von Originalen) neue Erkenntnisse zu gewinnen. Viele Kunstwerke verkraften ihre Entwurzelung durch Musealisierung oder Reproduktion. Kraft ihrer bildinternen formalen Gestaltung gelingt es ihnen, an neuen Orten und mit neuer Skalierung eine der ursprünglichen Bildwirkung vergleichbare Werktätigkeit zu erzielen. Somit kann als ein vierter Faktor für die Vergessenheit ikonotopischer Verhältnisse die latente Bildkraft angeführt werden. Sie macht das Projekt der Erforschung des Bildorts aber nicht obsolet, da es Bildwirkungen aus der ikonischen Situation heraus zu entdecken gilt, die andernfalls unberücksichtigt blieben. In der Untersuchung des Bildorts lassen sich drei Hinsichten voneinander unterscheiden: 1. die bildexternen Bedingungen des Bildorts, 2. die Binnengestaltung eines Bildes im Verhältnis zum Bildort, 3. die triadische Beziehung zwischen Bild, Bildort und Betrachter in der ikonischen Situation. 1. Die bildexternen Bedingungen des Bildorts sind zufällig oder bewusst gestaltet, in vielen Fällen eine Mischung aus beidem. Darunter fallen die räumlichen Verhältnisse, zum Beispiel die Innenraumgestaltung einer Kirchenkapelle, die Sichtachsenverhältnisse in einem Skulpturenpark, die topographischen Bedingungen eines Gebäudes. Neben den Lichtverhältnissen können auch die thermischen und akustischen Gegebenheiten des Bildorts von Bedeutung sein. Unter die bildexternen Be­ dingungen sind auch jene Elemente zu fassen, die den Übergang zwischen dem Bildort und dem eigentlichen Bild herstellen, zum Beispiel der Bildrahmen oder Sockel, die Art der Hängung beziehungsweise Aufstellung oder im Falle der Architektur jene

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Lena Bader/Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.): Vergleichendes Sehen, München 2010.

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Elemente, die den Baukörper gegen die Umgebung abgrenzen und als Baukörper überhaupt erst erscheinen lassen. 2. Die Beschreibung des Verhältnisses der Binnengestaltung eines Bildes zum Bildort hat von einer Beschreibung der in einem Bildobjekt gestalteten Binnenverhältnisse auszugehen, die sich im Kontrast von Figur und Grund, Hell und Dunkel, Erhöhung und Vertiefung, Raum und Körper zeigen. Ins Verhältnis zum Bildort gesetzt, stellt sich die Frage, ob die Binnenstruktur in Abhängigkeit vom Bildort gestaltet wurde, ob zum Beispiel die Lichtverhältnisse eines Bildes mit den Lichtverhältnissen am Bildort korrespondieren. 3. Sobald der Betrachter als dritte Instanz neben dem Bild und dem Bildort das triadische Verhältnis komplettiert, entsteht eine ikonische Situation, die in dieser Konstellation die Grundlage für den Bildakt darstellt. Unter einer ikonischen Situation ist die Ganzheit derjenigen Disposition zu verstehen, in die der Betrachter eintritt, sobald er sich auf ein Bild bezieht oder unwillkürlich bezogen wird. In der ikonischen Situation sind ihm ein Platz und eine Rolle zugewiesen. Die Komplettierung der ikonischen Situation durch den Betrachter zeichnet dabei nicht das Bild und den Ort aus, sondern bildet vielmehr den Betrachter als Subjekt zu dem heran, was er ist.9 Die Auseinandersetzung mit ikonotopischen Verhältnissen wird damit zu einer Form der Anthropologie.10 Das Hinzutreten des Subjekts und die mit ihm erfolgende Erzeugung des situativen Ikonotops muss aber nicht zwangsläufig auf die Ganzheit der Situation bezogen sein. Die Ganzheit der Situation ist angesichts von unbegrenzten Orten und der Anzahl der Betrachter einer Betrachtergemeinschaft ein empirisch immer wieder neu auszulotender Begriff. In einer der frühesten Nachtdarstellungen der europäischen Kunstgeschichte, der Verkündigung an die Hirten aus dem Marien-Zyklus von Taddeo Gaddi in der Baroncelli-Kapelle von Santa Croce in Florenz aus den 1330er Jahren, bildet die Blickachse zwischen dem erwachenden Hirten und dem im aufbrechenden Nachthimmel erscheinenden Engel eine steil verlaufende Diagonale (Bild 1a und 1b). Dieser Blickwinkel entspricht in etwa demjenigen des nach oben blickenden Betrachters, der sich in der Kapelle so nah als möglich an das Fresko heranstellt. Die hier wiederge-

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Haas: Die ikonischen Situationen (wie Anm. 5), S. 23. Hans Belting geht in seinem Versuch zu einer Bild-Anthropologie von der These aus, dass der Mensch der natürliche Ort der Bilder ist, „gleichsam ein lebendes Organ für Bilder“. Hans Belting: Der Ort der Bilder. Ein anthropologischer Versuch, in: ders.: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 42011, S. 57–86, S. 57.

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gebenen Kamera-Aufnahmen mögen in ihrer perspektivischen Verzerrung, die der Betrachter vor Ort nicht als solche empfindet, nur als Andeutung der ikonotopischen Effekte aufgefasst werden, die durch Blendung und der mit ihr einhergehenden erhöhten Stärkung des Eindrucks nächtlichen Lichts im Fresko erzeugt werden. Das Fresko ist links neben dem langen gotischen Fenster plaziert, so dass nicht nur der Blickwinkel, sondern auch die anfängliche Blendung des Hirten in der Darstellung sich bei Tag auch zwangsläufig im Betrachter einstellen muss: „Da trat ein Engel des Herrn zu ihnen, und Lichtglanz des Herrn umleuchtete sie, und sie fürchteten sich sehr.“ (Lk 2,9) Der Text des Lukas-Evangeliums erfährt nicht nur die symbolische Umsetzung im Fresko, sondern wird darüber hinaus zu einer emotionalen Widerfahrnis im Betrachter als ikonotopische Wirkung gesteigert. Der zum Gruß ausgestreckte Arm des Hirten kann auch als Antizipation der Betrachterhandlung verstanden werden, in der der Betrachter mit seiner Hand das vom Fenster kommende Licht verdeckt, um die Blendung zu reduzieren, wodurch gleichzeitig aber auch die Farben im Fresko sich in der Wahrnehmung aufhellen. Aber auch bewegliche Bildobjekte, wie zum Beispiel Gemälde, sind in ihrer Binnengestaltung nicht frei von ikonotopischen Bedingungen. Die senkrechte Hängung befindet sich in steter Wechselwirkung mit dem Körperschema des Betrachters. Die Korrelation der Wahrnehmung des Bildkörpers mit dem eigenen Körper ist wandelbar, kann irritiert werden bis hin zur Abwendung vom Bild, sie kann aber ebenso ein Nicht-loslassen-wollen evozieren. Auch das Gegenteil der Erzeugung eines ikonotopischen Effekts ist möglich und kann in der Neutralisierung des Bildorts liegen, wenn Bilder etwa mit Blick auf ihre Reproduktion in verschiedenen Medien in Farbgebung, Größenverhältnissen und Präzision so flexibel gestaltet werden, dass ihre Wiedergabe in gedruckten Büchern oder auf dem Bildschirm möglich wird, ohne ihre situative Wirkung einzubüßen. Malraux war ein Verfechter der Nivellierungsresistenz der Kunst. Der Verlust des Maßverhältnisses in der Reproduktion ermöglicht überhaupt erst die historiographische Stilbildung und erhöht den Ausdruckswert kleiner Artefakte: „Was einem Gegenstand auf Grund seines kleinen Formats an letzter Durchbildung fehlt, wirkt in der Vergrößerung wie ein breiter, in modernem Sinne ausdrucksgeladener Stil.“11 Ein Beispiel für die Möglichkeit einer Steigerung der plastischen Ausdruckskraft einer handschmeichelnden Kleinplastik ins Monumentale stellt die sogenannte Willendorfer Venus dar. Dahingegen halten die raumgreifenden Skulpturen eines Giambologna der Translokation in ein anderes Medium kaum stand. Selbst der Entzug 11

André Malraux: Das imaginäre Museum [1947], übers. v. Jan Lauts, Frankfurt/M./New York 1987, S. 20; vgl. Edgar Wind: Kunst und Anarchie [1963], Frankfurt/M. 1994, S. 78 u. 185f., Anm. 135.

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Franz Engel

Bild 1a und 1b  Taddeo Gaddi: Die Anbetung der Hirten, ca. 1332–38, Fresko, Baroncelli-Kapelle, Florenz, Santa Croce.

der Möglichkeit einer vollständigen Umgehung der Skulptur, das heißt eine Störung der ursprünglichen ikonischen Situation, bedeutet die Depotenzierung ihrer ikonischen Kraft. Die Fokussierung auf einen der drei Aspekte, auf entweder die bildexternen Bedingungen, die Binnengestaltung oder die ikonische Situation, erfolgt stets unter impliziter Bezugnahme jeder der drei Hinsichten. Die externen Bedingungen verlieren ohne Bild und Betrachter an Bedeutung. Um über die internen Strukturen eines Bildes zu sprechen, muss die Voraussetzung einer ikonischen Situation geschaffen sein. Ein spezieller Fall ist die Situation eines externen Ikonotops unter zufälligem oder absichtsvollem Ausschluss des Bildes. Ein solcher Ort hat in der Regel ordnungssystematischen Charakter, bei dem sich der Betrachter einem Verhaltenskodex unterwirft oder unterworfen wird, wie zum Beispiel im Museum oder an sakralen Orten. Foucault nennt solche Orte „Heterotopien“.12 Die Wirkung der Installation 12

Michel Foucault: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt/M. 2005.

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Bildort

eines Bildes an solchen Heterotopien kann sich in einem den ordnungssystematischen Charakter unterlaufenden Effekt äußern, zum Beispiel durch temporäres Vergessen während der Betrachtung. Andererseits sind ikonische Situationen zu untersuchen, in denen die Bildwirkung eine Intensität erreicht, die den Betrachter zu einem bestimmten Verhalten bewegt. Hier wird aus der ikonischen kurzfristig eine heterotopische Situation. Wolfram Hogrebe hat die philosophische Vorlage für die kunstwissenschaftliche Untersuchung des Bildorts geliefert. Wie kann uns eine begrifflich fassbare Realität überhaupt entgegentreten? Diese Frage ist nicht durch die vereinzelnde Sicht auf das zu erkennende Objekt zu beantworten, sondern mit Rückbezug auf die „szenische Existenz“ des Menschen ( Szenische Ikonologie).13 Sobald eine Situation für einen Menschen ikonisch wird, entlädt sich eine bildaktive Potenz. Die Erfüllung der ikonischen Latenz im Bildakt ist nicht ohne den Bildort zu haben.

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Vgl. Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009. Ich danke Bruno Haas für die anregende Kritik einer früheren Version dieses Textes.

Anja Pawel

Bildrhythmus (und Abstraktion)

In Theo van Doesburgs Rhythmus eines russischen Tanzes von 1918 (Bild 1) trifft der Blick beim Abtasten der Linien stets auf eine Leerstelle. Er wird abgelenkt und in eine neue Richtung geführt, was entscheidend zum bewegten Eindruck des Bildes beiträgt. Durch hin- und herspringen zwischen Vorder- und Hintergrund, links und rechts, waagerecht und senkrecht wird die Bildbetrachtung zu einem Prozess in Raum und Zeit, wie Fahrzeuge an einer Straßenkreuzung, die sich nie berühren, sondern aus verschiedenen Richtungen kommend in einem stetigen Rhythmus aneinander vorrüberfahren, in Analogie zum Ziehen von Linien des Malers auf der Leinwand oder den Bewegungen eines Tänzers auf dem Parkett.1 Entwürfe zum Gemälde zeigen, dass van Doesburg eine tanzende Figur immer mehr abstrahiert hat, bis er das Bild zu einer reinen Linienkomposition transformierte, deren rhythmische Anordnung die Bewegung eines Tanzes suggeriert. Die durch Unterbrechungen und unterschiedliche Intensitäten der Farbigkeit gegliederten Balken, die zugleich die kubische Figur eines Tänzers im transitorischen Moment einer Bewegung be­ zeichnen, lassen die abstrakte Komposition als rhythmisches Linienspiel erscheinen.

1

Der Topos des regelmäßigen Rhythmus vorüberfahrender Autos einer Straßenkreuzung war in den Diskussionen Van Doesburgs und Mondrians präsent: „The Place de l’Opéra in Paris gives a better image of the new life than many theories. Its rhythm of opposition, twice repeated in its two directions, realizes a living equilibrium through the exactness of its execution.“ S. Piet Mondrian: The New Art – The New Life: The Culture of Pure Relationships [1931], in: Harry Holtzman (Hg.): The New Art – The New Life: the Collected Writings of Piet Mondrian, New York 1993, S. 244–276, S. 275; Vgl. Harry Cooper: Popular Models: Fox-Trot and Jazz Band in Mondrian‘s Abstraction, in: James Leggio (Hg.): Music and Modern Art, New York/London 2002, S. 177f. Dies wird von Van Doesburg unterstrichen: „One could cross the Place de l‘Opéra only with the greatest caution, but Mondrian did it as calmly as if he were in his atelier.“ Brief von Van Doesburg an Jacobus Johannes Pieter Oud, 4. Februar 1920, in: Holtzman: The New Art – The New Life (wie Anm. 1), S. 124, u. Cooper: Popular Models (wie Anm. 1), S. 176.

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Bild 1  Theo van Doesburg: Rhythmus eines russischen Tanzes, 1918, Öl auf Leinwand, 135,9 × 61,6 cm, New York, Museum of Modern Art.

Piet Mondrian zufolge beanspruchte der Kreis um De Stijl speziell für abstrakte Bilder die Existenz des Rhythmus: Ungegenständliche Kunst wird durch die Erstellung eines dynamischen Rhythmus von bestimmten Wechselbeziehungen geschaffen […]. Der dynamische Rhythmus ist nicht nur wesentlich in jeder Kunst, sondern ist auch das wesentliche Element eines ungegenständlichen Werks.2 2

„Non-figurative art is created by establishing a dynamic rhythm of determinate mutual relations which excludes the formation of any particular form […]. The dynamic rhythm which

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Bildrhythmus (und Abstraktion)

Obwohl der Begriff „Rhythmus“ seit der Antike existiert, begann sich dessen Verbindung mit der bildenden Kunst erst um die Wende zum 20. Jahrhundert zu intensivieren: Innerhalb des kunstwissenschaftlichen Vokabulars gehörte Rhythmus alsbald zu den „Grundbegriffen“.3 August Schmarsow zufolge schaffe Rhythmus eine bildnerische Einheit, die die „Gesamtaufnahme eines Kunstwerks als Erlebnis“ ermöglicht: Rhythmus führe Proportion und Symmetrie zusammen und verwandele Statik in Lebendigkeit, wirke also dynamisierend,4 und „befreit das aufnehmende Subjekt, indem  es sein passives Verhalten mit der erforderlichen Dosis Aktivität durchsetzt.“5 Auch Hans Hermann Russack bestätigt in seiner (bei Schmarsow eingereichten) Dissertation Der Begriff des Rhythmus bei den deutschen Kunsthistorikern des XIX. Jahrhunderts (1910), dass „innerhalb der bildenden Künste zahlreiche Möglichkeiten rhythmischer Erlebnisse gegeben sind.“6 Spielte bei Schmarsow und Russack vordergründig die Architektur eine Rolle, vereinte Panofskys Studie zu Dürers rhythmischer Kunst (1926) den antiken Rhythmusbegriff mit dem Bild und ergründete die Erfahrung des Rhythmus als ästhetisches Erlebnis des Betrachters.7 Demnach kann eine geordnete Abfolge optischer Eindrücke im Bild, die sich zwar voneinander unterscheiden können, aber dennoch eine gewisse Verwandtschaft aufweisen, also als zergliederte Teile eines Ganzen erscheinen, vom Betrachter als Rhythmus erschlossen werden und somit zum Eindruck einer lebendigen Bewegung, eines Ablaufs in Raum und Zeit beitragen.8 Charakteristisch für den „Bildrhythmus“ bei Panofsky ist die „ästhetischerlebnishafte“ Erfahrung vom jeweiligen Bildgegenstand als bewegt, die diesen, von

3

4 5 6 7 8

is essential in all art is also the essential element of a non-figurative work.“ Piet Mondrian in ders.: Plastic art and pure plastic art [1936], in: Holtzman: The New Art – The New Life (wie Anm. 1), S. 288–299, S. 295. Dt. Übers. zit. n. Karin v. Maur: Mondrian und die Musik im „Stijl“, in: dies. (Hg.): Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 1985, S. 400–407, S. 405. Georg Vasold spricht erst in Bezug auf die 20er Jahre vom Rhythmus als „Grundbegriff“, in: ders.: Am Urgrund der Kunst. Rhythmus und Kunstwissenschaft [ca. 1921], in: Zeitschrift für Kulturphilosophie. Schwerpunkt Rhythmus und Moderne, 7/1 (2013), S. 67f. August Schmarsow: Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Leipzig 1905, S. 85. Ebd., S. 86. Hans Hermann Russack: Der Begriff des Rhythmus bei den deutschen Kunsthistorikern des XIX. Jahrhunderts, Weida 1910, S. 80. Eigentlich war der Text als Rezension zu Hans Kauffmanns Albrecht Dürers rhythmische Kunst von 1924 gedacht. Erwin Panofsky: Albrecht Dürers rhythmische Kunst, in: Jahrbuch für Kunstwissenschaft (1926), S. 136–192, S. 136. Vgl. dazu auch Reinhart Meyer-Kalkus: Wiedergelesen. Erwin Panofs­­ky über rhythmische Kunst, in: Yasuhiro Sakamoto/Reinhart Meyer-Kalkus (Hg.): Bild – Ton – Rhythmus (Bildwelten des Wissens), Berlin 2014, S. 107–111.

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ihm als „vorästhetisch-unanschaulich“ bezeichneten Begriffen, wie „Metrum“ (oder „Takt“) abgrenzt.9 Häufig als Vorstufe zum Film verstanden, gilt die Serialität – vom Abschreiten des Teppichs von Bayeux im Mittelalter,10 über Bilderreihen wie sie als Instruktionsgraphiken im 18. Jahrhundert im militärischen Bereich Verwendung fanden,11 bis hin zu Chronofotografien des 19. Jahrhunderts – als eine grundlegende Ausprägung des Bildrhythmus. Es geht dabei immer um die Gliederung einer Bewegung in Einzelphasen, die sich dann in ihrer Pluralität aber wiederum zu einem zeitlichen Ablauf zusammenfassen lassen. Panofsky nannte bezüglich dieser Periodizität drei Bedingungen des Rhythmus: erstens die „Sukzession gleichförmiger Elemente“ und, zweitens, ihre „dynamische Verbundenheit“ sowie drittens den „Wechsel von Hebung und Senkung“.12 Obwohl die drei genannten Bedingungen so allgemein gehalten sind, dass sie auf alle Bilder angewendet werden können, bezieht sich Panofskys Verständnis des Bildrhythmus insbesondere auf die figurative Darstellung. Allerdings bestätigte er, dass nur reine Linien- und Flächengebilde den Bildrhythmus „realiter“ wiedergeben, im Gegensatz zu Figürlichem, wo er „illusionär“ bliebe.13 Auch Mondrian konstatierte: „In der figurativen Kunst wird der Rhythmus verschleiert.“14 Wie Mondrian und Panofsky also gleichermaßen bemerkten, manifestierte sich der Bildrhythmus auch in abstrakten Kompositionen. Gerade darin liegt das Potential (wie eingangs am Beispiel van Doesburgs gezeigt) von einer rhythmischen Bewegung (wie sie beispielsweise durch einen Tänzer im Raum evoziert wird) wiederum zu einer rhythmischen Bildkomposition zu gelangen. Auch wenn Rhythmus bisher größtenteils die Bereiche von Musik, Sprache oder Architektur dominierte und weniger auf das Bild bezogen wurde,15 so sind Charakteristiken dieser Medien bei Untersuchung eines Bildrhythmus nicht automatisch auf das Bild zu übertragen. Vielmehr gibt es spezifische Eigenschaften des Bildme­   9 10 11 12 13 14 15

Panofsky: Dürers rhythmische Kunst (wie Anm. 8), S. 137. Vgl. Kai Christian Ghattas: Rhythmus der Bilder: narrative Strategien in Text- und Bildzeugnissen des 11. bis 13. Jahrhunderts, Köln 2009, S. 132–140 und S. 146. Vgl. Janina Wellmann: Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie. 1760–1830, Göttingen 2010, vor allem das Kapitel Der Rhythmus der Bilder, S. 197–265. Panofsky: Dürers rhythmische Kunst (wie Anm. 8), S. 147. Ebd. S. 140. „In figurative art this rhythm is veiled.“ Piet Mondrian in: ders.: Plastic art and pure plastic art (wie Anm. 2), S. 295. Vgl. hier einen Versuch der engeren Definition des Begriffs vor allem unter musikwissenschaftlichen Gesichtspunkten bei Christian Grüny: Bildrhythmen, in: Rheinsprung 11, Zeitschrift für Bildkritik 5 (2013), S. 149–161, unter: https://rheinsprung11.unibas.ch/ausgabe-05/ glossar/bildrhythmen/4.html (08.03.2017).

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Bildrhythmus (und Abstraktion)

diums, die das Komposit Bild-Rhythmus prägen und die nicht medienübergreifend sind (ohne den Begriff Rhythmus von seinen grundlegenden Kriterien zu isolieren). Im Gegensatz zum Film ist das (statische) Bild auf seine Einzelheit be­ schränkt,16 wie beispielsweise im Gemälde, der Graphik, Relief oder Skulptur, was Grundvoraussetzung dafür ist, dass es sich im Bildakt über seine eigenen medialen Grenzen erhebt ( Bildakt). Der Bildrhythmus ist Teil dieser Grenzüberschreitung. Ihm liegt das Streben nach Darstellung und gleichzeitiger Erfahrung der Bewegung in Zeit und Raum sowohl durch den Künstler als auch durch den Betrachter zugrunde und entsteht in dieser Wechselwirkung. Er ist „produziert vom Künstler [und] nachvollzogen vom Betrachter“.17 Es gilt somit, den Bildrhythmus als abhängig von den Produktionsbedingungen eines Bildes und der dadurch entstehenden Prozessualität von Form und deren Wahrnehmung zu definieren.18 Der Rhythmus war Teil einer Debatte in Kunsttheorie, Ästhetik und Experimentalpsychologie um 1900, in der die gestaltete Form mit psychophysiologischen Vorgängen verbunden wurde.19 Die Unterstellung, dass ein eigentlich „lebloser Gegenstand“ rhythmisch organisiert war, lag in der Antithese zu einer mechanistischen (Welt-) Auffassung begründet, unter der das Kunstwerk zunehmend als lebendiger Organismus begriffen wurde.20 Die Entfremdung vom körpereigenen Rhythmus hin zu einem vorgegebenen Rhythmus der Uhr im modernen industrialisierten Arbeitsleben um 1900, wie es beispielsweise in „Arbeit und Rhythmus“ (1899) von Karl 16

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Wie Claudia Blümle gezeigt hat, lag gerade in diesem Umstand für Henri Maldiney der Reiz des Bildrhythmus: „Hier, wo die Zeit am wenigsten sichtbar ist, in der Plastik und in der Malerei, will ich den Rhythmus definieren.“ Zit. n. dies.: Farbe-Form-Rhythmus, in: Stephan Günzel/Dieter Mersch (Hg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2014, S. 340–346, S. 343. Vgl. Lorenz Dittmann: Probleme der Bildrhythmik, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 29/2 (1984), S. 192–213, S. 213. Damit unterscheidet sich der Beitrag von dem Entwurf eines Rhythmusbegriffes in Bezug auf Bilder, wie ihn Johannes Grave in Anlehnung an Panofsky vorgelegt hat. Darin spielen die Produktionsbedingungen bzw. die materielle Ebene eines Bildes sowie Beweggründe des Künstlers keine Rolle, es geht dort vielmehr um einen rezeptionsästhetischen Ansatz, der nur die Bild-Betrachter-Ebene in den Blick nimmt, in: Johannes Grave: Form, Struktur, Zeit. Bildliche Formkonstellationen und ihre rezeptionsästhetische Temporalität, in: Michael Gramper/Eva Geulen/ders. u.a. (Hg.): Zeit der Formen – Formen der Zeit, Hannover 2016, S. 139–162. Andrea Pinotti: Rhythmologie in der Kunstwissenschaft zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert, in: Massimo Salgaro/Michele Vangi (Hg.): Mythos Rhythmus: Wissenschaft, Kunst und Literatur um 1900, Stuttgart 2016, S. 41–54. Vgl. Reinhard Zimmermann: Das Kunstwerk als Wirk-Organismus. Zur Bildtheorie der Abstraktion, in: Ulrich Pfisterer/Anja Zimmermann (Hg.): Animationen/Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005, S. 247–263.

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Bild 2  Sonia Delaunay: Bal Bullier, 1913, Öl auf Matratzenstoff, 97 × 390 cm, Paris, Centre Pompidou.

Bücher deutlich wird, könnte eine intensivierte Empfindsamkeit für rhythmische Prozesse, in jeglicher Hinsicht, ausgelöst haben.21 Abstrakte Bildmotive wie Punkte oder Linien sollten wie der Taktschlag in der Musik im Betrachter eine motorische Resonanz auslösen ( Motorische Resonanz).22 Linien (beispielsweise als Wellen oder Ranken in der Ornamentik oder in Faltungen von Stoff) wurden als lebendig begriffen,23 und bspw. von Kandinsky als Wechselspiel aus Spannungen verstanden, die sich durch Kraftaufwand aus dem Punkt heraus in Raum und Zeit ausweiten.24 Vor dem Hintergrund der Rhythmus- und Bewegungs-Schule von Émile Jaques-Dalcroze in Dresden-Hellerau als internationalem Knotenpunkt der Avantgarde war der Rhythmus für Künstler und Tänzer der Zeit in Körper und Geist gleichermaßen begründet.25 Auch für Schmarsow und Semper lag der Ursprung des 21 22

23 24

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Vgl. dazu das Kapitel zum Rhythmus bei Fritz Giese: Girlkultur, München 1925, vor allem S. 24–29. „Vielleicht verspüre ich auch Antriebe zu Bewegungen des Kopfes, der Hand oder der Fussspitzen; ich fühle mich versucht, mit der Empfindung jedes Taktschlages eine Bewegung dieser Teile meines Körpers zu verbinden, und dabei jedesmal der ersten von zwei aufeinanderfolgenden Bewegungen grössere Stärke zu geben. […] Dazu füge ich: Ich kann auch innerhalb einer räumlichen Folge von Punkten oder Linien bestimmte dieser Punkte oder Linien innerlich betonen.“ Theodor Lipps: Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil: Grundlegung der Ästhetik, Leipzig 1923, S. 293. Vgl. Sabine Mainberger: Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900, Berlin 2010; Robin Veder: The Living Line: Modern Art and the Economy of Energy, Hanover, NH 2015. Vgl. Wassily Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche [1926], Bern 1986, S. 57. Der Künstler bestätigt diese intensivierte kunsttheoretische Auseinandersetzung mit dem Rhythmus: „Wer redet heute nicht von Kubus, von Flächenteilung, von Farbzusammenstellungen, von Vertikalen, vom Rhythmus“, in: Wassily Kandinsky: Über Kunstverstehen, in: Der Sturm 129/3 (1912), S. 157f., S. 158. Vgl. Marianne Streisand: Rhythmische Räume, in: Robert Stockhammer (Hg.): Topographien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005, S. 229–261.

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Bildrhythmus (und Abstraktion)

Rhythmus im menschlichen Gehen, also in der körperlichen Bewegung selbst.26 Gymnastik, Tanz und die künstlerische Gestaltung waren Tätigkeiten die im Prozess und in ihrem Ergebnis als rhythmisch angelegt verstanden wurden. „Der wiegende, kontinuierliche Rhythmus des Tangos“ setze „ihre Farben in Bewegung “, schrieb Sonia Delaunay. 27 In ihrem Gemälde Bal Bullier (1913), benannt nach einem Pariser Tanzlokal, verschmelzen verschiedenste Farbfelder zu einer rhythmischen Masse. Drei Pärchen und eine Einzelfigur heben sich ab und gehen engumschlungen tanzend mit den farbigen Formen eine Symbiose ein. Einzelne Flächen scheinen sich nach vorn zu schieben, was jedoch nicht innerhalb eines linearen Ablaufs geschieht. Im Gegensatz zu Van Doesburgs Russischem Tanz wird der Blick hier nicht durch Linien gelenkt, kein Ablauf präsentiert, sondern der andauernde Gesamteindruck einer Vielzahl zeitgleich ablaufender Bewegungen, sodass das Bild selbst in Bewegung zu geraten scheint. Hier pendelt der vom Betrachter wahrgenommene Bildgegenstand zwischen abstrakten Farbformationen und sich dazwischen herauskristallisierenden, stark abstrahierten Tänzerfiguren. Aufgrund seiner Länge erscheint das Gemälde wie das 360° Panorama einer tanzenden Gesellschaft. Das simultane Geschehnis erschließt sich dem Betrachter beim Abschreiten des Bildes als rhythmisches Erlebnis. Die Auffassung, dass eine bildliche Komposition über Kräfteverteilung, Spannung oder Gleichgewicht verfügte und somit rhythmisch wirken konnte – etwa durch die räumliche Anordnung von geometrischen Formen und Farbkontrasten –, hatte sich im frühen 20. Jahrhundert innerhalb einer gegenseitigen Beeinflussung von Kunsttheorie und -praxis entwickelt. In den Tanzbildern Delaunays und van Doesburgs erzeugte der Abstraktionsprozess einen Bildrhythmus der als Scharnier zwischen Künstler und Betrachter fungierte. Der Tanz, der in ein statisches Medium transformiert wurde, erschien somit dennoch „lebendig“.

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Vgl. Vasold: Urgrund der Kunst (wie Anm. 3), S. 73. „Le rythme continu et ondulant du tango incitait mes couleurs à bouger“, in: Sonia Delaunay: Nous irons jusqu’au soleil, Paris 1978, S. 36.

Pablo Schneider

Distanz

Die auf um 1440 datierte Holztafel des Fra Filippo Lippi vereint das Bildnis einer Dame im Profil nach links mit jenem eines Herren im Profil nach rechts (Bild 1). Aufgrund dieser Konstellation wäre über die Darstellung zweier miteinander verbundener Personen nachzudenken.1 Diesem steht jedoch ein komplizierter architektonischer Aufbau entgegen, welcher weniger verbindet und dahingegen auf Trennung ausgerichtet scheint. Die weibliche Figur dominiert die Darstellung, indem diese gut zwei Drittel des gesamten Bildraums einnimmt. Sie befindet sich unmittelbar vor einer Nische, welche durch zwei Fenster, ihre Leibungen und eine gut zu erkennende Deckenkonstruktion gebildet wird. Die bildparallele Öffnung gewährt einen Blick in einen Garten mit Gebäuden und Bepflanzungen. Im zweiten Mauerdurchbruch ist ein jüngerer Mann zu erkennen. Obwohl er sich nach rechts wendet, blickt er an der Frauenfigur dezidiert vorbei, wie sich anhand des räumlichen Aufbaus eindrücklich beobachten lässt. Die Handhaltung der männlichen Figur bringt in äußerster Zurückhaltung und Eleganz ein kommunikatives Element in die Szenerie ein. Der rechte Zeigefinder ist leicht erhoben und stellt so die gebotene Aufmerksamkeit gegenüber der Gestalt selbst her. Sein linkes Pendant verweist auf ein Tuch, welches über der Fensterbank ausgebreitet und in seiner Abfolge von schwarzen und gelben Streifen als Wappen zu lesen ist. Dieses Stück Stoff vermittelt dem Betrachter allerdings nicht nur den sozialen Status des Mannes, sondern definiert im selben Zuge auch dessen räumlichen Standpunkt. So blickt er aus seiner Loge hinaus und keineswegs in einen abgeschlossenen Raum hinein.2 Keine körperliche Bewegung

1 2

Zum Gemälde s. Sixten Ringbom: Flippo Lippis New Yorker Doppelporträt. Eine Deutung der Fenstersymbolik, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 2 (1985), S. 133–137. Zum Motiv des Fensters in der italienischen Renaissance siehe Gerd Blum: Fenestra prospectiva. Das Fenster als symbolische Form bei Leon Battista Alberti und im Herzogspalast von Urbino, in: Joachim Poeschken (Hg.): Leon Battista Alberti. Humanist, Architekt, Kunsttheoretiker, Münster 2008, S. 77–122.

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Pablo Schneider

Bild 1  Fra Filippo Lippi: Doppelporträt, um 1440, Tempera auf Holz, 64,1 × 41,9 cm, New York, Metropolitan Museum of Art.

erfasst ihn, welche eine Annäherung gegenüber der weiblichen Figur erahnen lassen würde. Doch diese verbleibt ebenso fest in ihrer Position. Visuell wahrnehmen können sich beide aufgrund des geringen räumlichen Abstandes. Allerdings scheint die Tafel nicht hierauf angelegt zu sein, sondern dafür, dass der Betrachter zu beobachten und zu erfahren vermag, in welcher produktiven Form Distanz generiert werden kann. Denn durch Gestik, Wappen, Architektur und Körperhaltung wird die sozial ranghöhere Stellung des Mannes angezeigt, ohne dass jene der Dame abge-

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Distanz

wertet würde. Sie ist in diesem Sinne ebenbürtig, wenn auch mit der signifikanten Einschränkung eines Nahezu. Distanz zeigt sich in Lippis Darstellung nicht als Distanzierung, sondern vielmehr als eine Situation, welche in diesem Falle die politische Würde beider Individuen – und, in einem weitaus gewichtigeren Faktor, jene ihrer Familien – zu wahren in der Lage ist. Distanz ist somit ein Element der Annäherung, die vollzogen wird, ohne dass die körperliche und geistige Selbstbestimmung angetastet werden müsste. Die soziale Konfiguration der beiden Protagonisten wird auf diesem Wege dem Betrachter keineswegs autoritär mitgeteilt, sondern im Akt der Anschauung begreiflich und nachvollziehbar. Die kunstwissenschaftliche Position Edgar Winds kann an dieser Stelle produktiv hinzugezogen werden, wenn man diese in einer sozialen Ausrichtung auf das Doppelporträt richtet. So erläutert Wind im Manuskript seiner 1922 fertiggestellten Dissertation mit dem Titel Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte: „Die kunstwissenschaftliche Beschreibung hat in Wahrheit nicht die Funktion des Übersetzens, sondern die des Entdeckens. […] Der Gegenstand wird erst in der Beschreibung gewonnen und war vor der Beschreibung gar nicht da.“3 Mit dem Blick auf Lippis Bildfindung verlieren die Überlegungen Winds ihren konstruktivistischen Unterton und beschreiben sehr genau das bildaktive Moment im Doppelporträt. Denn erst die Abfolge der Beschreibung dessen, was hier wahrzunehmen ist, generiert das fein gesponnene Geflecht einer Distanz als Würdeformel. Die bildhaft vorgestellte Wahrnehmung des jeweils Anderen geschieht in einer akzentuierten Art und Weise. Denn das Bild Fra Filippo Lippis bringt die beiden Dargestellten räumlich äußerst dicht zusammen und lässt den Betrachter dennoch die soziale und politische Distanz erfahren. Im frühneuzeitlichen Bildverständnis ist es die Frau, deren Annäherung an den Mann visuell erfahrbar wird. Diese Annäherung kann erst in kleinen Schritten der Distanzüberwindung begriffen werden, wobei an diesem Punkt dennoch die gebotene Distinktion gewahrt bleibt beziehungsweise durch das Bild erzeugt wird. Dieses positive Distanzverständnis als grundlegendes Element sozialer Gestaltung in der Frühen Neuzeit steht in einem harten Kontrast zum Lob der Distanzlosigkeit vieler Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. Am 27. Oktober 1981 veröffentlichte die deutsche Band Trio ihr gleichnamiges erstes Album. Auf dessen A-Seite findet sich das von einer aggressiven Grundstimmung getragene Lied Los Paul. Das kurze Stück – 2 Minuten 32 – kombiniert Versatzstücke aus medialen und privat erscheinenden Inhalten zu einem Fußballspiel mit politisch linken Fantasien über Störaktionen. Der Refrain bringt ein Befreiungs3

Edgar Wind: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte, hg. v. Pablo Schneider, Hamburg 2011, S. 188.

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motiv ein, welchem sowohl ein gesellschaftlicher als auch individueller Bezug inhärent scheint: „Du hast Macht über mich / trotzdem brauch ich dich nich / und ich will dich nich mehr / ich werd dich jetzt verlassen / und dann kannst du mich von hinten sehn.“ Die Befreiung oder Herauslösung aus einer wie auch immer gestalteten Machtkonfiguration findet erst durch den bewussten, und ebenso Mut abfordernden Distanzakt statt – und dann kannst du mich von hinten sehn. Macht in all ihren Ausgestaltungen wirkt in Formen von physischer oder auch psychischer Nähe. Politisch motivierte Überwachung beispielsweise zielt darauf ab, auf das Individuum immer zugreifen zu können und dessen Potentiale, sich dem Staat zu entziehen, unmöglich zu machen. Der Abstand zur Quelle der Macht führt zu Freiheit. Die frühneuzeitliche Sentenz „Stadtluft macht frei“ meint die räumliche und hiervon nicht zu trennende psychologische Distanz zu dem jeweiligen Herren aufzubauen, und diesen Abstand über mindestens ein Jahr zu erhalten. Wenn auch die damaligen Städte eine räumliche Enge erzeugten, bedeutet die Distanz zur Autoritätsperson nunmehr Selbstbestimmung. Distanz und Freiheit gestalten in ihrer oftmals gegeneinander gerichteten Schlagrichtung gerade in ihrer Kombination eine Energie von eigener Intensität aus ( Energeia). Sie generieren dies nicht unausweichlich, aber dann mit dem Potential in Erinnerung zu bleiben – individuell oder gesamtgesellschaftlich sowie aus einem historischen Blickwinkel. Ein anderes, romantisches, Ereignis der Distanzbewegung provozierte den Mythos von der Erfindung der Zeichenkunst. Denn die Tochter eines griechischen Künstlers, mit Namen Debutades, soll den Schattenriss ihres Geliebten an der Wand nachgezeichnet haben, um sich in der Zeit seiner Abwesenheit an ihn erinnern zu können. So berichtet es Plinius in der Naturalis historia. Die drohende räumliche Distanz des jungen Mannes trieb das Mädchen Debutades dazu an, eine Kulturtechnik zu entwickeln, welche den Abstand zumindest sublimieren konnte: eine Zeichnung des Kopfes ihres Geliebten an der Wand ihrer Behausung. Die Zeichnung generiert ihren Bedeutungsgehalt aus einer doppelten Bewegung heraus. Denn sie ist sowohl ein Objekt der Erinnerung als auch ein Akt der Substitution.4 Jener simuliert es, die Erfahrung der Trennung zu negieren, jedoch produktiv erfolglos. So lang der Energiespeicher Emotion ausreichend geladen ist, arbeiten Zustände wie Sehnsucht und Gemüt gegen die Empfindung der Distanz an.5 Der Text zu Los Paul oder die Begebenheit um Debutades betonen den individuell unmittelbar nachvollziehbaren Aspekt von Distanz als gewollter oder ungewollter Trennung. Weitaus weniger dramatisch

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Zum substitutiven Bildakt s. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 171–212. Zu dieser Konstellation, mit dem Blickwinkel auf die Arbeiten Edgar Winds, siehe Bernhard Buschendorf: Enthusiasmus und Erinnerung in der Kunsttheorie Edgar Winds, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/M. 1991, S. 319–334.

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Distanz

Bild 2  Blick in den Lesesaal der Kultuwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, 1927.

untersucht die Kartografie diesen Aspekt, wenn lediglich die Entfernung zwischen beispielsweise Ortschaften betrachtet werden kann.6 In diesem Fall entsteht der Abstand auf Seiten der Betrachter, dem eine exklusive Position zu Teil wird. Es ist jene einer göttlichen Distanz, wie sie im Seitenweg über die Vogelperspektive dargestellt werden konnte. Die Zustände eines emotionalen und räumlichen Abstandes zu negieren oder zu generieren, bilden die beiden inhaltlichen Pole, zwischen denen sich das Spektrum des Distanzbegriffs umfassend entfaltet. Eine mit Absicht betriebene innerliche Bewegung mit dem Ziel des Zwischenraums und ein ebensolcher Versuch, dieses erzwingend zu verhindern, konturieren den vielschichtigen Gehalt dessen, was Distanz zu bedeuten vermag. Der Begriff der Distanz beschreibt dementsprechend dynamische Vorgänge, beziehungsweise bereits deren Potential und in einem geringeren Maße eine im Zustand gefestigte Situation. Denn beispielsweise das Element der Bewegung kann ebenso den Aspekt der Forderung und der Sehnsucht beinhalten; ist somit unweigerlich als Anspruch an den Betrachter gerichtet – Distanz existiert aktiv. 6

S. hierzu Tanja Michalsky: Projektion und Imagination. Die niederländische Landschaft der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei, München 2011.

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Dem Bildwerk in all seinen Formen kommt in diesem Kontext eine zentrale Bedeutung zu, da es visuell rezipiert und imaginativ begriffen wird. Bilder wirken, auch wenn diese nicht – nicht mehr – gesehen werden ( Bildakt). Ihre Wirkungsgeschichte ist vom Moment der Betrachtung emanzipiert und so verhält sich auch die Energie des Distanzbegriffs. Das Wort, das sich auf lateinisch distare/distantia bezieht und im deutschen Begriff „Abstand“ eine Neuschöpfung Philipp von Zesens ist, beinhaltet eine räumliche sowie eine soziale Komponente. So stellt das Grimm‘sche Wörterbuch den Abstand „der sterne von einander, des hauses vom wald; sie schossen sich mit pistolen auf fünf schritte abstand“ vor. Aber auch die politischen und sozialen Aspekte des Abstands werden zum Thema: „des knechts von dem herrn, der tugend von dem laster“. In Immanuel Kants Metaphysik der Sitten, 1797, wird im § 24, welcher „Von der Liebespflicht gegen andere Menschen“ handelt, das Gefüge von Annäherung und Abstand im Sinne der Distanz beschrieben: „Vermögen des Princips der Wechselliebe sind Sie angewiesen sich einander beständig zu nähern, durch das der Achtung, die sie einander schuldig sind, sich im Abstand von einander zu erhalten […].“7 Diesen Akt von Annäherung und Abstand fasst Kant abschließend als große sittliche Kraft zusammen. Es handelt sich bei diesen in ihren individuell sozialen und übergreifend politischen Aspekten um ein Grundprinzip, welches das Fundament jeglicher demokratischer Gesellschaftsform definiert. Distanz und Nähe bedingen einander und müssen in den jeweiligen Wirkungsräumen in einem austarierten Verhältnis zueinander stehen. Erst dann kann eine auf Gemeinschaftlichkeit basierende Zivilisation dauerhaft funktionieren. Aby Warburg richtete seine Forschung, welche er auf kunst- und bildhistorische Quellen gründete, in einer vergleichbaren Art und Weise aus. So begann er am Rosenmontag 1888, dem 14. Februar, einen „Entwurf über einige Thesen der Kunstpsychologie“ anzulegen. Seine Überlegungen nahmen ihren Anfang im „Motto: Du lebst und thust mir nichts!“8 Diesem fügte Warburg am 21. September 1896 hinzu: „Darin liegt bereits eine Ahnung von der ‚Distanzirung‘ als Grundprincip.“9 In welcher verantwortungsvollen Position Bildwerke im Vorgang der Distanzierung waren, erörterte Warburg in seinem Vortrag Italienische Antike im Zeitalter Rembrandts, welchen 7 8

9

Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten/Von der Liebespflicht gegen andere Menschen, § 24. Zur Tragweite dieser Bemerkung siehe Horst Bredekamp: „Du lebst und thust mir nichts“. Anmerkungen zur Aktualität Aby Warburgs, in: Horst Bredekamp/Michael Diers/Charlotte Schoell-Glass (Hg.): Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 1–7; Frank Fehrenbach: „Du lebst und thust mir nichts“. Aby Warburg und die Lebendigkeit der Kunst, in: Hartmut Böhme/Johannes Endres/Emmanuel Alloa (Hg.): Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten, Paderborn 2010, S. 124–145. Aby Warburg: Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde (monistische Kunstpsychologie), Warburg Institute Archive III. 43.3.

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er mit der Anmerkung schloss: „Jede Zeit hat die Renaissance der Antike, die sie verdient.“10 Der Vortrag wurde gehalten am 29. Mai 1926 im Lesesaal seiner neu errichteten Bibliothek (Bild 2).11 Der Raum war überfüllt. Die Ausführungen dauerten zweieinhalb Stunden, aber, so Warburg, es „sind mir ernsthafte Proteste meiner Patienten nicht zu Ohren gekommen“.12 Einsprüche aufgrund des soliden Themas über die italienisch transformierte Antike zu Rembrandts Zeiten? Wohl kaum. Dies lockte ein hanseatisches Auditorium nicht aus der Reserve und für Tumulte gab es in jenen Zeiten bereits weniger distinguierte Orte. Aber die Charakterisierung der Zuhörer als Patienten zeigt, dass er nicht mehr alle Mitbürger bei völliger geistiger Gesundheit wähnte. Mit höchster intellektueller Schärfe richtete Warburg seinen Blick auf ein barockes Kunstereignis, heute würde man von einem Skandal sprechen. Von Tiefsinn und Opportunismus, ja von Sachlichkeit versus stumpfen Nationalismus war die Rede gewesen. Doch was hatte die Amsterdamer Gesellschaft des 17. Jahrhunderts angestellt, dass sie sich noch den Zorn des Hamburger Gelehrten in den 1920er Jahren zuzog? Sie hatten ein Gemälde Rembrandts abgelehnt, welches dieser für das Rathaus, das Zentrum bürgerlichen Selbstverständnisses, geschaffen hatte. Es handelte sich um das großformatige Werk Die Verschwörung des Claudius Civilis, welches um 1661 entstand und sich heute im Nationalmuseum in Stockholm befindet. Das Thema: eine Parabel par excellence. Das Motiv entstammt der Geschichtsschreibung des Tacitus und behandelt den Kampf um die Freiheit der Bataver gegen die römische Besatzung. Ein Stück Spätantike. Aber die Schlagrichtung war mehr als offensichtlich und lag in der spanischen Herrschaft über den südlichen Landesteil begründet. Hierfür war kein Geschichtsbuch nötig. Rembrandt verband seine Bildfindung mit dem Motiv des Abendmahls, um den Moment spürbar werden zu lassen. Warburg nannte dies die „neue Sachlichkeit“ Rembrandts. Eine programmatische Formulierung, welche durch die Mannheimer Ausstellung 1925 nicht nur zum Stilbegriff wurde, sondern auch einer Geisteshaltung entsprach (Bild 3). Bei Rembrandt sind Individuen zu erkennen, die sich der Tragweite ihrer Handlung bewusst werden und der Würde des Augenblicks verpflichtet sind. Das Gemälde, dem Warburg sich derart verbunden fühlte, dass er eine Kopie in Auftrag gab, wurde bereits 1662 wieder aus dem Rathaus entfernt. An seine Stelle trat historistische Muskelrhetorik, wie sie durch Antonio Tempesta produziert wurde, welche im Kern darauf angelegt war nationalistisches Pathos zu befriedigen. Gefühle waren zu bedienen, nicht Gedanken zu entwickeln.

10 11 12

Pablo Schneider: Nachhall der Antike – Aby Warburg, Zürich 2012, S. 101. Zum Vortrag s. Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 1992, S. 307–322 sowie zuletzt Schneider: Nachhall (wie Anm. 11), S. 119–129. Schneider: Nachhall (wie Anm. 11), S. 123.

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Bild 3  Plakat zur Ausstellung Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus, Mannheim 1925.

Doch warum brachte Warburg an jenem denkwürdigen Abend Rembrandts Scheitern zur Sprache? Dass die Kunst des holländischen Malers nicht immer erfolgreich war, sollte die Zuhörer kaum überrascht haben. Nein, was Warburgs Bilddenken so wertvoll macht, ist ein ganz anderes Detail. Er sah im Claudius Civilis das „ewige Hamletproblem der Gewissensqual zwischen Reflexbewegung und Reflexionsverhalten“13 vor Augen und Geist gestellt. Denken soll er, der Betrachter oder Patient, und nicht jenen „Lieferanten triumphaler Gegenwartsbejahung“ anheimfallen. In nur wenigen Momenten ist die Kunst- und Bildgeschichte unmittelbarer als eine 13

Ebd., S. 99.

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Zeitdiagnose zu lesen, die es verstand Rembrandt und die späte Weimarer Republik zusammen zu denken. Mit der Forderung nach einer neuen Sachlichkeit hämmerte der Vortragende seinen Zuhörern die Gefahr der Stunde ein. Doch Warburg romantisierte nicht. Bilder beschwor er geradezu: „Du lebst und thust mir nichts“. Jenes Hamletproblem, von dem er sprach, bedeutete schwer erarbeitete Distanzierung, um auf diesem Weg die benötigte Distanz zu gewinnen, welche ein Denken zu ermöglichen vermochte. So funktioniert Zivilisation. Die fiebrige Politik rechter Prä­­ gung betreibt abermals eine triumphale Gegenwartsbejahung ihrer eigenen „alternativen Fakten“. Via Twitter und anderen „sozialen“ Medien wird jegliches Reflexionsverhalten mit höchster Energie bekämpft. Doch ist das geifern nach Deutungshoheit nur ein Nebenkriegsschauplatz. Auch müssen die fulminanten Observationen des Hamburgers keineswegs melancholisch stimmen. Warburgs Bild- und Gesellschafts­ verständnis gründete auf dem Entwurf eines gemeinsamen Denkraums. Diesen gilt es wieder zu befördern und hierbei sind Patienten und Künste gleichermaßen in der Verantwortung. 1929, am Ende seines Lebens, arbeitend am unabgeschlossenen Vorhaben des Mnemosyne-Atlas, griff Warburg diesen Gedanken abermals auf und formulierte dessen Bedeutung für die bildschaffende menschliche Zivilisation: Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen; wird dieser Zwischenraum das Substrat künstlerischer Gestaltung, so sind die Vorbedingungen erfüllt, daß dieses Distanzbewußtsein zu einer sozialen Dauerfunktion werden kann, deren Zugänglichkeit oder Versagen als orientierendes geistiges Instrument eben das Schicksal der menschlichen Kultur bedeutet.14 So bleibt das „ewige Hamletproblem der Gewissensqual zwischen Reflex­bewegung und Reflexionsverhalten“ bestehen. Die Distanzbewegung als Aktion ist hierbei nicht allein ausschlaggebend. Stabilisierend erscheinen das Bewusstwerden dieses Vorgangs und dessen Überführung in einen Dauerzustand – zumindest als Konzept. Denn als absolut dauerhaft können soziale Formen der Distanz nicht existieren. Mit dem Blick auf die Gegenwart zeigt sich die Problematik von Nähe und Distanz eindrücklich. Elektronische Herstellung von Informationen als Bilder und deren Mitteilungsoptionen, seien diese zielgerichtet oder auf breite Streuung angelegt, unterlaufen jegliche Distanzbestrebungen. Diese Entwicklung ist nicht allein der Erfindung der massentauglichen Fotografie (analog und digital) geschuldet. So, um 14

Aby Warburg: Einleitung zum Mnemosyne Atlas [1929], in: Ilsebill Barta Fliedl (Hg.): Rhetorik der Leidenschaft – zur Bildsprache der Kunst im Abendland, Hamburg 1999, S. 225–228, S. 225.

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Pablo Schneider

es an dieser Stelle nur anzudeuten, wirkte spezielle Kleidung lange Zeit als visueller Abstandsanzeiger. Ein Umstand, welcher sich aktuell weitaus schwieriger gestaltet. Doch existieren weiterhin Möglichkeiten, aktiv Distanz zu generieren. Diese wurden historisch gesehen immer wieder in Frage gestellt. Ihre soziale und politisch hohe Bedeutung zeigen die Bildkünste an, welche das Thema der Distanz seit Jahrhunderten thematisieren.

Sabine Marienberg

Energeia

Der Begriff der energeia ist schwer zu fassen. Aller Wahrscheinlichkeit nach eine genuin aristotelische Sprachschöpfung, bezeichnet er das Prinzip der Verwirklichung einer Möglichkeit, auf das nur von seinem Resultat her geschlossen werden kann. Energeia ist dasjenige, was „am Werk ist“, während es entsteht (en ergo einai). Von der kinesis, der bloßen Bewegung des Übergangs von Möglichem zu Wirklichem, lässt sie sich dadurch abgrenzen, dass ihre Vollendung im Vollzug immer schon erreicht ist. Dies gilt etwa vom Sehen und Denken – wer etwas sieht, hat währenddessen schon gesehen – nicht aber vom Lernen einer bestimmten Fertigkeit oder dem Gesunden. Von der entelecheia unterscheidet sie sich dadurch, dass sie niemals zu einem endgültigen Abschluss gelangt, der in ihr selbst läge. Dies bedeutet nicht, dass als energeia verstandene Bewegungen nicht zu einem Ende kämen, wie man sich anhand des Sehens, Denkens oder allgemein des Lebens leicht vergegenwärtigen kann. Obwohl diese Vorgänge für den Einzelnen zweifellos enden, ist ihr Ende doch kein Ziel im Sinne eines ergon, sondern bleibt ihnen äußerlich. All diese Bestimmungsversuche sind jedoch nur Annäherungen. Denn ausgerechnet in den für die energeia zentralen Abschnitten der Metaphysik im Buch Θ liefert Aristoteles nicht nur keine Definition, er erklärt sogar ausdrücklich, dies auch nicht vorzuhaben. Stattdessen führt er eine Reihe von Vergleichen an, in denen sich dynamis und energeia, Stoff und Form, als Möglichkeit einer Verwirklichung und Verwirklichung einer Möglichkeit gegenüberstehen:1 Das Holz steht zur daraus geschnitzten Figur des Hermes wie das Vermögen eines Baumeisters zum tatsächlichen Bauen, das Sehvermögen eines Menschen, der die Augen geschlossen hält, zu seinem Sehen, ein teilbares Ganzes zu seiner Teilung in zwei Hälften oder die Fähigkeiten eines Wissenschaftlers zu deren Ausübung.2 1 2

Für eine aktuelle handlungs- und zeichentheoretische Rekonstruktion s. Kuno Lorenz: Dynamis und Energeia, in: ders: Philosophische Variationen, Berlin/New York 2011, S. 393–414. Aristoteles: Metaphysik 1048a–b.

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Sabine Marienberg

Bild 1  Gerhard Richter: Weiss, 1988, Öl auf Leinwand, 112 × 102 cm, Privatbesitz.

Das von Aristoteles gewählte induktive Vorgehen ist programmatisch. Da die Fähigkeit, den Begriff der energeia zu umreißen, ganz offensichtlich nicht angeboren ist, gehört sie zu denjenigen Vermögen, die durch Übung erworben werden müssen. Das Verfahren der Analogiebildung zwischen Verhältnissen von Möglichkeit und Wirklichkeit, die in anderer Hinsicht ganz unvergleichlich sind, wird selbst im Vollzug verwirklicht und kommt dennoch nicht zur Ruhe. Dass eine eindeutige Begriffsbestimmung weder gelingen kann noch soll,3 ist in der Fülle der Verwen3

Die bis heute darum geführten Auseinandersetzungen belegen dies. Vgl. exemplarisch Chung-Hwan Chen: Different Meanings of the Term Energeia in the Philosophy of Aristotle,

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Energeia

dungsweisen und der unscharfen Grenzziehung zu anderen Begriffen bis hin zum synonymen Gebrauch von energeia und entelecheia und der Identifikation von energeia und ergon von Anfang an angelegt. Fasslich wird die energeia nur, indem man sie sich sowohl lebendig aneignet, als auch sich gedanklich von diesem Prozess distanziert. Die am Stoff der Beispiele erlangte Gewissheit darüber, was unter energeia zu verstehen sei, ist eine Gewissheit des eigenen – in den Stoff eintauchenden und ihn in wandelnden Formen vergegenständlichenden – Handelns. Insofern die so geschaffenen Formen nicht als Ergebnis eigener Tätigkeit wahrgenommen werden, kommt ihnen eine bisweilen verstörend objekthafte Wirklichkeit zu, die erneut zu Aneignung und Vergegenständlichung herausfordert. Die Nähe zu Giambattista Vicos Gedankenfigur einer selbst erzeugten Artikulation der Welt ( Symbolische Artikulation), die dem Menschen immer wieder wie etwas Vorgefundenes entgegenkommt, ist unübersehbar. In seiner Scienza Nuova geht Vico davon aus, dass die ersten menschlichen Gemeinschaften entstanden, indem ihre Gründer die eigene leidenschaftlich bewegte Körperlichkeit unwissentlich auf die Welt projizierten, von der sie sich in der Folge durch machtvolle Gesten adressiert sahen:4 Die in Gestalt von agierenden Göttern beseelte Natur fordert scheinbar Gehorsam, emblematisch gesetzte Macht- und Besitzansprüche werden als fest gefügte Ordnungen gewaltsam erfahren, die symbolischen Formen einschließlich der Sprache ( Sprache) geraten zu monolithischen Gebilden, die man nur einzeln betrachten, nicht aber in ihrem Zusammenhang erhellen kann. Einer aktiven Deutung zugänglich werden diese erlittenen Wirklichkeiten erst, indem man sich auf ihre Entstehungsgeschichte besinnt und in den ihnen vorausgegangenen Handlungen die eigene Handlungs- und Bestimmungsfähigkeit entdeckt. In der Nacht voller Finsternis (das heißt im Stoff der wissenschaftlich ungegliederten geschichtlichen Welt) findet Vico den Schlüssel zu seiner Neuen Wissenschaft in der Erkenntnis, dass es sich bei ihr um nach bestimmten Prinzipien entstandene menschliche Hervorbringungen handelt, die, im Unterschied zur Natur, gerade deshalb verstanden werden können. Von der Gemachtheit der Geschichte auf ihre beliebige Machbarkeit zu schließen hieße jedoch, ins andere Extrem zu verfallen und das ohnmächtige Fürchten und Staunen gegen das Trugbild uneingeschränkten menschlichen Schöpfertums einzutauschen. Vicos revolutionäre Einsicht besteht darin, die Wirklichkeit der Formen abhängig vom Umgang mit ihren stofflichen Möglichkeiten zu begreifen, den

4

in: Philosophy and Phenomenological Research 17/1 (1956), S. 56–65; George Alfred Blair: Unfortunately, It Is a Bit More Complex: Reflections on ‚Energeia‘, in: Ancient Philosophy 15 (1995), S. 565–579. Giambattista Vico: Principj di Scienza Nuova, in: ders.: Opere, 2 Bde., hg. v. Andrea Battistini, Milano 1990, § 376.

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er maßgeblich in einer vorrationalen, phantastischen und bilderreichen Symbolisierung grenzenlos erlittener Phänomene am Werk sieht. In der Balance zwischen Bewältigung und Überwältigung ist so die auf Formgebung zielende energeia von zwei Seiten freigelegt – als poietische Praxis, die in der Konfrontation mit ihren eigenen Produkten ständig weiter getrieben wird und dabei in immer neuen Formen Gestalt annimmt ( Metamorphose). In diesem Sinne ist auch Humboldts Bemerkung zu verstehen, dass die formende Kraft der Sprache sich erst dann entfaltet, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde widertönt. Die forcierte Selbstentfremdung ist notwendiger Zwischenschritt im Prozess einer Selbstvergewisserung, die sich nur in der Begegnung mit dem Anderen erfüllen kann. Der fremde Mund kann dabei durchaus auch der eigene sein, wird er nur als fremd erfahren. Und auch die Sprache als Ganze hat eine – gemachte und doch als gegeben erfahrene – geformte Stofflichkeit. Ihr energetisches Moment zeigt sich darin, dass ihre Wirklichkeit zwar dem jeweiligen Sprechen, nicht aber der Verwirklichung sprachlicher Möglichkeiten insgesamt entgegensteht, da sie aus eben dieser entstanden ist.5 Humboldts Feststellung, dass Sprache nicht Werk, ergon, sondern Tätigkeit, energeia sei, ist in seinem Werk nur ein einziges Mal ausgesprochen. Dass sie dennoch meist stellvertretend für sein gesamtes Sprachdenken herangezogen wird, liegt an ihrer Prägnanz als Leitbild, das Humboldts Sprachansichten ebenso prägt, wie es immer wieder aus ihnen hervorgeht. Energeia ist die Sprache „in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt“, mit Aristoteles also als Verwirklichung einer Möglichkeit – die in diesem Fall darin besteht, „den articulierten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“.6 Als Werk hingegen erscheint sie im toten Gerippe der Grammatik und ihrer mumienartigen Aufbewahrung in der Schrift, die nur aus ihrer Starre erlöst werden können, indem man sie als Resultat vorausgegangenen Sprechens erfasst und in erneutem Sprechen verlebendigt. Die Hervorbringungen der bildenden Künste nicht als eine Ansammlung von Werken zu betrachten, ist – unter dem lang anhaltenden Einfluss von Lessings

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„Die Sprache gehört mir an, weil ich sie hervorbringe. Sie gehört mir nicht an, weil ich sie nicht anders hervorbringen kann, als ich thue, und da der Grund hiervon in dem Sprechen und Gesprochenhaben aller Menschengeschlechter liegt […], so ist es die Sprache selbst, von der ich diese Einschränkung erfahre. Allein was mich in ihr beschränkt und bestimmt, ist in sie aus menschlicher, mit mir innerlich zusammenhangender Natur gekommen, und das Fremde in ihr ist daher nur meiner augenblicklichen individuellen, nicht meiner ursprünglichen wahren Natur fremd.“ Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihre Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschen­­ geschlechts, Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften. Werke, hg. v. Albert Leitzmann, Bd. VII.1, Berlin 1907, S. 63f. Ebd., S. 45f.

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Energeia

Bestimmung der Malerei als räumliche Kunst – weit weniger geläufig. Gegenüber der Vorstellung, dass Bilder mit dem Abschluss ihrer Verwirklichung zur Ruhe gekommen sind, weist jedoch die Theorie des Bildakts ( Bildakt) auf, dass diese nicht nur als Werke über ihr Geschaffensein hinaus Bestand haben, sondern auch in Gestalt eines ihnen innewohnenden und unabsehbar weiter wirkenden energetischen Prinzips. Die traditionelle Verwirrung von energeia und enargeia ist – neben der lautlichen Nähe – vor allem darauf zurückzuführen, dass beide Begriffe die eigentümliche Lebendigkeit bildlicher und sprachlicher Darstellungen aufrufen. Während jedoch die enargeia im lebendigen Vor-Augen-Führen den Betrachter oder Zuhörer vergessen lässt, dass es sich überhaupt um Darstellungen handelt und er sich mitten in ein szenisches Geschehen hineingestellt sieht ( Szenische Ikonologie), ist die energeia das den Vollzug von Handlungen und Bewegungen vergegenwärtigende Mittel, um diesen Effekt zu erzeugen.7 Im Sinne des Bildakts entspricht das energetische Prinzip, wie bei Humboldt, einer inneren Form, die zusammen mit dem Stoff die einzelnen Gegenstände erzeugt und nur theoretisch von ihm abgelöst werden kann. In der Spannung von sinnlich durchlebter und doch einer gedanklichen Gliederung offenstehenden Bilderfahrung manifestiert sich die Pendelbewegung zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Verfahren, die nur gemeinsam den Kulturprozess in Aneignung und Vergegenständlichung verwirklichen: Die Annahme, Bilder vollständig in begriffliche Darstellungen überführen zu können, hätte eine sterile, bloß gedachte statt gelebte Bildwahrnehmung zur Folge. Vico fasst eine solche Selbstüberhebung des Denkens als Barbarei der Reflexion, die im Verlust der Rückbindung an lebenspraktische Bedürfnisse und Notwendigkeiten, an eigenes sinnliches Bewegt-Sein und Bewegen, unweigerlich zum Niedergang einer Kultur führt. Auf der anderen Seite bleibt man ohne die Anstrengung, Bilder begrifflich zu erfassen, einer mythisch-hermetischen Bildmagie ausgeliefert, aus der es kein symbolisch distanzierendes Entkommen gibt.8 Während sich das nur theoretisierende Ich in der Illusion unbedingter Formgebung abhanden kommt und ohne Gegenüber verkümmert, verschwindet das bloß bewegte Ich im Taumel der vorüberjagenden Gegenstände. Entgegen diesen polaren Weisen des Selbstverlusts eröffnet der Bildakt einen Denk- und Lebensraum, in dem man sich der entgegenkommenden energeia und dem ikonischen Moment der Formung sowohl zu überlassen wagt als auch durch 7

8

Marcus Fabius Quintilianus: Institutio oratoria, VI, 2, 32–36 und VIII, 3, 89; s. hierzu auch Stijn Bussels: The Animated Image. Roman Theory on Naturalism, Vividness and Divine Power, Leiden 2012, insbes. S. 57–80; Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des „Ut-pictura-poiesis“ und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208. Vgl. Kuno Lorenz: Sinnliche Erkenntnis als Kunst und begriffliche Erkenntnis als Wissenschaft, in: ders.: Philosophische Variationen, Berlin/New York 2011, S. 320–332.

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Sabine Marienberg

eigenes formgebendes Handeln zu entziehen vermag. So wie auch Vicos Nacht voller Finsternis oder Blochs unmittelbares Dunkel des gelebten Augenblicks stets eine in den Dingen liegende Offenheit des Neuanfangs verheißen.

Gernot Grube

Felsbilder

Felsbilder sind als Bildgruppe durch das Trägermaterial definiert. Es handelt sich um monochrome oder mehrfarbige Malereien auf Fels, Ritzungen oder Gravuren im Fels und auch Basrefliefs, die in den Felsgrund eingearbeitet sind, oder Linien, die in die weiche lehmige Oberfläche direkt über dem Felsuntergrund hineingezogen worden sind. Es zeichnet diese Bildgruppe aus, dass sie über den gesamten Globus verbreitet ist und eine enorme Zeitspanne umfasst. Es gibt Felsbilder in Kimberley, Australien, die möglicherweise auf ein Alter von 40.000 Jahren datiert werden müssen,1 und die jüngsten australischen Felsbilder könnten bis weit in die koloniale Epoche hineinreichen. Außerdem werden die Motive der Felsbilder von Aborigines heute auf andere Bildmedien übertragen und so auch noch heute weiter tradiert. In Südafrika erscheinen Felsbildmotive immer wieder aktualisiert als politische oder kulturelle Symbole. Die Datierung der jüngsten Felsbilder weltweit ist ähnlich unsicher wie die der ältesten. Zum gegenwärtigen Forschungsstand sind die frühesten die Felsbilder in einem Höhlenterrain der indonesischen Insel Sulawesi, von denen die Darstellung eines unbestimmten Tieres auf 44.000 Jahre BP datiert worden ist.2 Die Erforschung der Felsbilder (engl. rock art) hat sich inzwischen zu einer spezialisierten archäologischen Disziplin entwickelt, seit 1984 mit eigener Zeitschrift (Rock Art Research) und seit 1988 mit einer internationalen Dachorganisation (International Federation of Rock Art Organisations), die bereits 19 internationale Tagungen ausgerichtet hat. Durch solche Anstrengungen ist ein ungeheurer Materialbestand zusammengetragen worden,3 der zur Einsicht zwingt, dass es äußerst 1 2 3

Intensive Forschungen hierzu sind seit 2016 im Gange (unter Peter Veth, University of Western Australia). Maxime Aubert/Adam Brumm/Muhammad Ramli u.a.: Pleistocene Cave Art from Sulawesi, Indonesia, in: Nature 514 (2014), S. 223–227. S. z. B. die Serie der Rock Art Studies: News of the World, herausgegeben unter Federführung von Paul Bahn, deren Bände je einen Überblick über fünf Jahre internationaler Forschung geben. Der letzte Band (V) erschien 2016 und umfasst die Jahre 2010 bis 2014 (Paul Bahn/

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Gernot Grube

problematisch ist, generalisierende Aussagen über die gesamte Gruppe der Felsbilder zu machen. Darüber hinaus sind auch kontextuelle Informationen zu den Felsbildern, unter anderem über die Zusammenhänge mit anderen symbolischen Ausdrucksformen, sehr fragmentarisch oder sie fehlen völlig. Wir wissen zum Beispiel nicht, ob die ersten Felsbilder vor oder nach den ersten Kleinplastiken, oder vor oder nach den ersten Musikinstrumenten geschaffen worden sind, und wir wissen nicht, ob den Bildern auf Fels vielleicht vergleichbare Bilder auf einem vergänglicheren Trägermaterial, etwa Tierhaut, vorausgegangen sind. Eine Untersuchung von Felsbildern, ob primär archäologisch, semiotisch oder phänomenologisch, ist darauf angewiesen, sich auf regionale Ausprägungen zu konzentrieren. Ein phänomenologischer Blick auf die Felsbilder in den französischen und spanischen Höhlen lässt drei besonders interessante Aspekte erkennen: a) Es ist die erste Ausdrucksform, die ortsgebunden ist und sich in die nomadische Lebensweise nicht wie die anderen Ausdrucksformen ohne Weiteres integrieren lässt; b) mit ihnen zeigt die Ausdrucksform der Bilder bereits ihre vollumfängliche Entfaltung; c) sie scheinen eine Lösung für das Paradox zu liefern, Bewegung, die sich in der Zeit ereignet, in einen Augenblick, der ein Zeitschnitt ist, zu fixieren.

1. Felsbilder – die erste ortsgebundene symbolische Ausdrucksform Felsbilder waren vermutlich nicht die frühesten symbolischen Ausdrucksformen. Bereits vor ihnen muss es Erzählungen, Tänze, Schmuck, Tätowierungen, andere Körpermanipulationen und Rituale gegeben haben. Die mit gravierten Linien  versehenen Ockerstücke der Blombos-Höhle (Südafrika), die auf ein Alter von 72.000 bis 100.000 Jahre datiert werden, bezeugen symbolische Artikulationen, die den Felsbildern vorausgegangen sein dürften.4 Ein noch einmal um weitere 100.000 Jahre älterer Steinzeuge für symbolischen Ausdruck, dessen Urheber wahrscheinlich kein Homo sapiens war, ist ein Faustkeil, der gut sichtbar eine fossile Muschel einschließt.5 Außerdem legt die heutige Chronologie für Mittel- bis Südeuropa nahe, dass in diesem Gebiet eine verstärkte Produktion von Kleinplastiken

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5

Natalie R. Franklin/Matthias Strecker (Hg.): Rock Art Studies: News of the World, Oxford/ Oakville 1996–2016). Christopher S. Henshilwood/Francesco d’Errico/Ian Watts: Engraved ochres from the Middle Stone Age levels at Blombos Cave, South Africa, in: Journal of Human Evolution 57 (2009), S. 27–47. Zu solchen besonderen Faustkeilen s. Horst Bredekamp: Der Muschelmensch. Vom endlosen Anfang der Bilder, in: Horst Bredekamp/Dagfinn Føllesdal/Udo Di Fabio: Transzendenzen des Realen, hg. v. Wolfram Hogrebe, Bonn 2013, S. 13–73.

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und die Herstellung von Musikinstrumenten den Felsbildern vorausgegangen ist.6 Sicher ist, dass die Felsbilder immer von einer reichen Produktion von kleinen Figuren und kleinformatigen Bildern etwa auf Elfenbeinplaketten oder Waffenschäften begleitet waren. Was jedoch Felsbilder von allen anderen Ausdrucksformen unterscheidet, auch von den kleinen Statuetten und den Darstellungen auf Waffen oder Plaketten, ist ihre Ortsgebundenheit. Sie konnten im Gegensatz zu den anderen symbolischen Ausdrucksformen nicht mit auf Wanderschaft gehen: Sie waren etwas Bleibendes, das nicht bewegt werden konnte. Das Felsbild legte sich gewissermaßen quer zur über Jahrtausende eingespielten wandernden Lebensweise. Möglich, dass es viele Versuche talentierter und ambitionierter Jäger und Sammler gab, Felsbilder zu schaffen, die sich gegen die Tradition nicht haben durchsetzen können. Spätestens um 32.000 BP aber ist es, wie die Felsbilder der Höhle Chauvet in Frankreich belegen, in einer Gruppe (oder einem Verband von Gruppen) gelungen, Felsbilder als Ausdrucks- und Verständigungsform zu behaupten.7 Damit war eine Ausdrucksform geschaffen, die der Beweglichkeit der nomadischen Lebensweise widersprach, sie, wenn man so will, in Frage stellte. In ihrer Eigenschaft als dauerhafte Auszeichner eines Ortes waren sie wahrscheinlich das erste, was Menschen fest mit einem Ort verbunden haben, das erste „Sesshafte“, was Menschen hervorgebracht haben. Wenn wir davon ausgehen, dass es bereits vor den Felsbildern ausgezeichnete Orte gegeben hat – nämlich Lagerplätze, die für mehrere Monate eingerichtet und über viele Jahre immer wieder aufgesucht wurden, die mit Symbolen, zum Beispiel gestalteten Objekten im Sinne einer Standarte versehen wurden –, so waren die benutzten Materialen vergänglich und dem Rhythmus der nomadischen Lebensweise angepasst. Die Orte hingegen, die durch Felsbilder ausgezeichnet wurden, besonders die Höhlen, sie blieben von Jahr zu Jahr und Generation zu Generation unverändert markiert, ob man sie nun wieder aufgab oder ihnen seine Lebensweise (zumindest partiell) anpasste. Es könnte dieser Aspekt der Ortsgebundenheit ein Grund dafür 6

7

Die sogenannte Venus vom Hohle Fels in der Schwäbischen Alb ist vor mindestens 35.000 Jahren hergestellt worden (Nicholas J. Conard: A Female Figurine from the Basal Aurignacian of Hohle Fels Cave in Southwestern Germany, in: Nature 459 (2009), S. 248–252) und um dieselbe Zeit die Flöten aus derselben Höhle (Nicholas J. Conard/Maria Malina/Susanne C. Münzel: New Flutes Document the Earliest Musical Tradition in Southwestern Germany, in: Nature 460 (2009), S. 737–740). Es sei nochmals erwähnt, dass es möglich ist, in naher Zukunft eine neue Höhle zu entdecken, die ältere Felsbilder enthält als Chauvet. Ebenso ist es möglich, dass sich herausstellt, dass den großen Felsbildkompositionen wie in Altamira, Lascaux und Chauvet eine viel ältere Periode mit Handabdrücken und abstrakteren Symbolen vorausging. Dazu würde der Befund von El Castillo (Spanien) passen, ein Handabdruck, der auf 37.300 BP datiert, und eine rote Scheibe, die auf 40.800 BP datiert worden ist (Alistair W. G. Pike/Dirk L. Hoffmann/ Maros García-Diez u. a.: U-Series Dating of Paleolithic Art in 11 Caves in Spain, in: Science 336 (2012), S. 1409–1413).

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sein, dass Felsbilder eine relativ späte symbolische Ausdrucksform sind. Während die Venus vom Hohle Fels im Gepäck mitgenommen werden konnte, mussten die Felsbilder in der Höhle zurückgelassen und wieder aufgesucht werden. Diese außergewöhnliche Eigenschaft des felsbildlichen Ausdrucks, durch den sich Menschen mit einem ausgesuchten Ort verbanden, könnte den ersten Impuls für eine Entwicklung gegeben haben, die ab 12.000 BP zu dem führte, was von Jacques Cauvin als „symbolische Revolution“ erkannt wurde8 und einige Jahrhunderte später in die seit Gordon Childe so bezeichneten „neolithische Revolution“ mündete.9

2. Felsbilder – frühester vollumfänglich entfalteter ikonischer Ausdruck Angenommen, die Höhlen, die nicht bewohnt, aber mit Felsbildern versehen wurden, können als Heiligtümer betrachtet werden, dann werden gerade die Bilder eine zentrale Rolle bei der Transformation eines natürlichen Ortes in ein sinnhaftes Heiligtum gespielt haben. Und zwar erstens aufgrund ihrer materiellen Bedingungen, die Zeiten zu überdauern und ortsgebunden zu sein, sich also weder in der Zeit noch im Raum zu verändern. Zweitens aufgrund ihrer Bedeutungen, aufgrund der in ihnen festgehaltenen Handlungszusammenhänge, oder sogar konkreter, der in ihnen eingefangenen Erzählungen oder narrativen Elemente, die zum Bestand paläolithischer metaphysischer Vorstellungen gehört haben. Denn wenn man der Einsicht folgt, die sich heute unter Prähistorikern und Archäologen weitgehend durchgesetzt hat, dass die Felsbilder nicht voneinander unabhängige Einzeldarstellungen sind, sondern intendierte, über ganze Höhlenpassagen oder sogar die gesamte Topographie einer Höhle verteilte Kompositionen,10 dann liegt die Annahme nahe, dass diesen Kompositionen bestimmte Vorstellungen oder Narrative zugrunde liegen, die durch die Bilder auf dem Fels sichtbar, fixiert und zeitlos gemacht worden sind. Obwohl die Ansätze, eine einigermaßen durchgreifende und überzeugende, auf eine be­ stimmte Epoche und Region gerichtete, Felsbild-Ikonographie zu erschließen, noch   8   9 10

Jacques Cauvin: Naissance des divinités, naissance de l’agriculture: La révolution des symboles au Néolithique, Paris 21997. Gordon Childe: Man Makes Himself, London 1936. Eine grundlegende Einsicht, die ursprünglich von dem Kunsthistoriker Max Raphael eingebracht wurde und in der Forschung zunächst in den Arbeiten von Annette Laming-Emperaire und André Leroi-Gourhan konsequent umgesetzt worden ist (Max Raphael: Prehistoric Cave Paintings, New York 1945, dt.: Prähistorische Höhlenmalerei, Köln 1993; Annette Laming-Emperaire: La signification de l’art rupreste paléolithique: Méthodes et applica­ tions, Paris 1962; André Leroi-Gourhan: Préhistoire de l’art occidental, Paris 1971).

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Bild 1  Bildfeld der Löwen, Ausschnitt aus der linken Wand im Salle du Fond der Grotte Chauvet.

Bild 2  Zwei Rentiere, Galerie Principale, Grotte Font-de-Gaume (Reproduktion nach einem Aquarell von Henri Breuil).

auf äußerst wackeligen Füßen stehen, sprechen elementare Betrachtererfahrungen heutiger Wissenschaftler und Zeitgenossen dafür, dass es tatsächlich entsprechende Ikonologien gegeben haben muss. Zu diesen Erfahrungen gehört die Wahrnehmung von Szenen, zum Beispiel die unvermittelte, beinahe selbstverständliche Wahrnehmung einer Jagdszene im Salle du Fond der Höhle Chauvet (Bild 1). Neben solchen großen Szenen gibt es kleinere, die nicht weniger ergreifend sind. So zeichnete Henri Breuil bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Szene in der Höhle Font-de-Gaume heraus (Bild 2), die seitdem unzählige Male reproduziert worden ist.

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Gernot Grube

3. Felsbilder – ein symbolischer Ausdruck, der Bewegung fixiert, ohne diese dadurch zum Verschwinden zu bringen Bewegung ist durch Veränderung charakterisiert; sie der Veränderung zu entziehen, sie zu fixieren, müsste zu einem Widerspruch führen, aber es scheint, dass die Felsbilder eben diesen Widerspruch lösen. Unser Blick fällt auf das unbewegte Bild einer Jagdszene und sieht Bewegung, ein Jagdgeschehen. Sehen wir auf eine schematische Darstellung eines Mechanismus, dann sehen wir an bewegungslosen Elementen, wie er sich vollzieht. Das Bild entzieht sein Objekt der Veränderung, und zeigt dennoch die Veränderungen, in die das Objekt verwickelt ist. Das Bild löst das Paradox, wie Veränderung sich im Unveränderlichen zeigt, wie man Veränderung festhalten, sie stellen kann, sie bannen, sie in Besitz nehmen kann. Was die Werkgebärde11 von der lebendigen Gebärde unterscheidet, ist genau dieser paradoxale Aspekt, dass Bewegung, obwohl sie angehalten ist, als Bewegung erhalten bleibt. Die Bildgebärde hebt die Bewegung, die in ihr gefangen ist, aus der Zeit heraus, ohne sie zu zerstören. Indem man auf für sich bewegungslose Formen schaut, sieht man die jagenden und fliehenden oder sich begegnenden Tiere. Hans Jonas hat in seinem Aufsatz Homo Pictor und die Differentia des Menschen unter den Eigenschaften des Bildes auch diese angeführt: Das Bild ist inaktiv und in Ruhe, während es Bewegung und Aktion darstellen mag. Diese kann es in eine statische Gegenwart bannen, weil das Dargestellte, die Darstellung und das Darstellende verschiedene Schichten in der ontologischen Struktur des Bildes sind. [...] Das im Bild Dargestellte ist in ihm herausgehoben aus dem Kausalverkehr der Dinge und überführt in eine nichtdynamische Existenz, welches die Bildexistenz schlechthin ist – ein Existenzmodus, der weder mit dem des abbildenden Dinges noch mit dem der abgebildeten Wirklichkeit zu verwechseln ist.12 Folgt man der Jonas‘schen Dreiteilung in Darstellendes (die Materialität des Bildes), Darstellung (der Bezug des Bildes zur gelebten Erfahrung) und Dargestelltes (das, was

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Zu diesem Begriff im Zusammenhang mit einer paläolithischen Werkgeschichte, siehe Fritz Saxl: Die Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst (Vortrag, gehalten 1931), in: Fritz Saxl: Gebärde, Form, Ausdruck, hg. v. Pablo Schneider, Berlin/Zürich 2012, S. 95–107. Hans Jonas: Homo Pictor und die Differentia des Menschen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 15/2 (1961), S. 161–176, S. 166.

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nur als Sichtbarkeitsgebilde13 existiert), kommt es also auf eine besondere Beziehung zwischen dem Bildträger (Darstellendes) und dem Bildinhalt (Dargestelltes) an: Wenn der Bildträger nicht Unveränderlichkeit gewährleistet, dann ist auch die zeitlose Existenz des Bildinhalts nicht gesichert.14 Das Felsbild dürfte die früheste Bildform gewesen sein, bei der diese Beziehung zwischen Bildträger und Bildinhalt optimal funktionierte. Die Festigkeit der materiellen Beschaffenheit des Felsbildes verhalf der besonderen Eigenschaft des Bildinhalts – nämlich Veränderungen grundsätzlich entzogen zu sein – zur Wirksamkeit in den konkreten Lebenszusammenhängen der Paläolithiker. Möglich, dass die Wirkungen dieser Bilder auch das Aufkeimen eines Geschichtsbewusstseins umfasst haben. Wenn wir von dem scheinbar trivialen Umstand ausgehen, dass ein Geschichtsbewusstsein nur dort entstehen kann, wo es gelingt, Ereignisse festzuhalten, das, was sich in Zeit und Raum zugetragen hat, Zeit und Raum zu entziehen, um es zu bewahren und auf diese Weise erneut wirksam werden zu lassen, dann ist die Option bedenkenswert, dass Menschen zuerst an Felsbildern ein Geschichtsbewusstsein erprobt haben. Sie haben, das zeigt sich eindrücklich an der Jagdszene im Salle du Fond von Chauvet, die Schwierigkeit gelöst, etwas, das sich ereignet, also kommt und geht, für immer zu bewahren. Auch wenn es uns schwerfällt, in der Jagdszene ein Stück paläolithische Geschichtsschreibung zu sehen, so ist der phänomenale Befund, dass hier erstmals Bewegung fixiert worden ist – die trivialste Voraussetzung für ein Geschichtsbewusstsein – nicht von der Hand zu weisen. Die drei hier angeführten Aspekte aus der Phänomenologie der Felsbilder greifen auf erstaunliche Weise ineinander, sie ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Die Ortsgebundenheit und Permanenz des Felsbildes, sinnlich erfahrbare Qualitäten, finden ihre Fortsetzung in der Unveränderlichkeit des Bildinhaltes. Und diese beiden Aspekte wiederum bilden die Grundlage für die elementare Leistung der Bilder als symbolischer Ausdrucksform, ein Geschehen in Besitz zu nehmen, etwas Veränderliches in Unveränderliches zu transformieren. Möglich, dass es aus diesem Grund ohne Felsbilder auch keine ewigen Götter gegeben hätte. Ein früherer und ebenso radikaler Bruch mit der wildbeuterischen Lebensweise, wie er durch die Felsbilder vollzogen wurde, ist nicht bekannt: Bewegungslosigkeit (im Gegensatz zur Bewegung als räumlicher Veränderung in der Zeit) und Unveränderlichkeit (im Gegensatz zur Veränderung als Spur der Zeit im Raum) – mit den Felsbildern wurde nicht nur eine neue Form des symbolischen Ausdrucks geschaffen, sondern es wurden auch Weichen für eine völlig neue Lebensweise des

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Im Sinne von Konrad Fiedler: Schriften zur Kunst I, hg. v. Gottfried Boehm, München 21991, S. 192. Bei Jonas heißt es hierzu, dass von der Substanzialität des Bildträgers „nur gefordert ist, stabil zu sein, so dass sie das Bild bewahrt“. Jonas: Homo Pictor (wie Anm. 12), S. 166.

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Homo sapiens gestellt. Um sich die Radikalität dieser neuen symbolischen Praxis vorzustellen, könnte man sie mit der für uns noch vergleichsweise zeitnahen Radikalität der Formulierung von Naturgesetzen vergleichen: symbolische Formen, die das natürliche Geschehen in Besitz nehmen. Jeder Verständigungsakt wirkt durch ein Moment der Veräußerung. Im Bildakt wird dieser Moment der Veräußerung festgestellt, vergegenständlicht, dem Produzenten entzogen und objektiviert. Die Äußerung wird beim Bildakt vom Akteur abgelöst und aus dem unmittelbaren Zeitfluss herausgezogen, aber sie bleibt, solange das Bild existiert, wirksam. Es gelingt im Bild, einen Verständigungsakt gewissermaßen einzufrieren, so dass er über prinzipiell unbegrenzte zeitliche Distanzen hinweg wirksam bleibt. Diese Wirkmacht über große zeitliche Distanzen hinweg führen uns die Felsbilder eindrücklich vor Augen. Dass sich ausgezeichnete Prähistoriker nach der Entdeckung der Felsbilder von Altamira 1879 jahrelang weigerten diese als paläolithische Werke anzuerkennen, dürfte auch auf die Wirkung der Darstellungen zurückzuführen sein, die diese genau dann entfalten müssen, wenn man sie paläolithischen Künstlern zuschreibt. Felsbilder, obwohl sie zu den frühesten Bildern zählen, haben genau diese beiden Aspekte der Objektivierung und Distanzierung, die dem Bildausdruck grundsätzlich eigen sind, unübertroffen umgesetzt. Umso erstaunlicher ist es, dass diese symbolische Revolution sich dem für sich allein betrachtet bescheidenen Umstand der Wahl des Materials verdankt: Nur Darstellungen auf Fels konnten eine so beachtliche Fernwirkung entfalten, vom ersten Tag ihrer Entstehung bis heute.

Cheryce von Xylander

Gemüt

Das „Gemüt“ ist ein Sinnbild für das Menschliche am Menschen. Aber das ist ein Zirkelschluss. Ein Sinnbild ohne Gehalt und bildliche Eigenschaften hilft nicht weiter. Wozu taugt der Begriff?1 Seine Anwendungsbereiche sprechen für sich. Heitere Gemütsmenschen können ebenso wie schlichte Gemüter gemütskrank sein. Graues Wetter schlägt allen aufs Gemüt. Die Gartenlaube in der Schrebergartenkolonie, die Biertischrunde im Biergarten, das Glühweingeklüngel an den Weihnachtsmarktständen: Gemüt bildet sich entlang von Binnengrenzen innerhalb eines größeren „gemütlichen“ Gefüges. Hier waltet ein immerwährendes Prinzip, das auch für die Völkerverständigung gilt. Clausewitz schildert, wie das in Aufruhr geratene Gemüt Volk gegen Volk aufhetzt, bis endlich wieder Ruhe einkehrt und die List des Krieges „mit anderen Mitteln“, also durch betriebsame Tagespolitik, befriedet werden kann.2 Deleuze und Guattari fassen das Gemüt als eine einzige und eigentlich unbeabsichtigte „Kriegsmaschine“ auf.3 Ebendiese zwischenmenschlichen Zuordnungen reduziert Gutzkow doppelzüngig auf das Miteinander und Gegeneinander der Geschlechter. In seinen Briefen eines Narren an eine Närrin geht es um das Überleben des Menschengeschlechts und das Reflektorische an der Reflexion: „Gemüt und Verstand teilen sich in Regimente der Welt. Beide ironisieren sich gegenseitig“.4 Und der „Bildakt“?5 Die Begriffe wirken auf den ersten Blick so, als hätten sie nichts miteinander zu tun. „Bildakt“ ist ein Neologismus, den Horst Bredekamp im Rahmen aktueller Debatten um die visuelle Vernunft im digitalen Zeitalter geprägt

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Vgl. Cheryce von Xylander: Habilitationsschrift über das Gemüt im Besonderen und im Allgemeinen, Institut für Philosophie, TU Darmstadt, voraussichtlich 2017. Carl von Clausewitz: Vom Kriege [1832], Berlin 2008, S. 44. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Milles Plateaux, Paris 1980, S. 468–470. Karl Gutzkow: Briefe eines Narren an eine Närrin [1832], Berlin 2001, S. 99. Horst Bredekamp: Der Bildakt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2015.

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hat. „Gemüt“ klingt zunächst antiquiert. Als Relikt aus einer deutschnationalen Vorzeit kommt es ausgesprochen unzeitgemäß daher. Dem Gemüt zu huldigen heißt, die private Willkür walten zu lassen oder das „Prosit der Gemütlichkeit“ – in jedem Fall ein Geschehen, das ohne Fachwissen auskommt. Ein so lokalpatriotisch und laienpsychologisch eingefärbter Begriff dient wohl kaum der wissenschaftlichen Verständigung. Doch dieser Eindruck trügt. „Gemüt“ und „Bildakt“ sind zutiefst stimmige Fachausdrücke: Sie bilden womöglich sogar eine heuristische Einheit. Ihre tiefer­ liegende Verbindung beruht auf vielerlei ideengeschichtlichen Gemeinsamkeiten und sich daraus ergebenden komplementären Zuschreibungen. Wie der „Bildakt“ wurde „Gemüt“ gezielt in den öffentlichen Diskurs eingeführt – mit einem klaren kulturtheoretischen Auftrag. Nicht, dass „Gemüt“ ein buchstäblicher Neologismus war. Als tragende Säule der Theologie war der Begriff im deutschen Geistesleben fest verankert. Er erfuhr aber um 1800 eine umfassende Wende. Der entsprechende Eintrag in Grimms Wörterbuch erstreckt sich über 40 Spalten und verzeichnet einen etymologischen Bruch, der einem Paradigmenwechsel gleichkommt.6 Sinngemäß heißt es dort tatsächlich, ein heterogener, unbestimmter Terminus habe sich urplötzlich in einen heterogenen, unbestimmten Terminus verwandelt: Eine globale, semantische Transformation innerhalb eines nebulösen Vorher und Nachher. Eine kopernikanische Wende vielleicht? Rein etymologisch ist dem Geschehen nicht beizukommen – wie der Verfasser des Wörterbucheintrags an anderer Stelle selbst einräumt.7 „Gemüt“ ist ein Schlagwort des 19. Jahrhunderts. Philosophen sahen in seinem Wirken eine erkenntnistheoretische Herausforderung. Gelehrte erhoben das Untersuchungsobjekt zur empirischen Causa. Künstler versuchten das dynamische Phänomen zu erfassen. Psychiater therapierten in Heil-und Pflegeanstalten „Gemütskrankheiten“.8 Von staatlicher Seite war man stets bemüht, die Radikalisierung der „Gemüter“ zu unterbinden, vorrangig durch Zensur. Diesen Bestrebungen ist gemeinsam, das Gemeinsame anzustreben. Gemüt macht Leute. Das Kulturleben des Biedermeier fungierte als Wiege des Gemüts und andersherum. Aus heutiger Perspektive überrascht, dass diese Einstimmungslust höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen konnte. Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) erklärte das Gemüt zum Herzstück seiner physikalischen Instrumentensammlung, „das Werkzeug […] von

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Gemüt, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Leipzig 1897, S. 3293–3327. Rudolf Hildebrand: Über Grimms Wörterbuch in seiner wissenschaftlichen und nationalen Bedeutung, Leipzig 1869. Cheryce Kramer/von Xylander: A Fool’s Paradise: The Psychiatry of “Gemüth” in a Biedermeier Asylum, Diss. University of Chicago, 1998, unter: http://tuprints.ulb.tu-darmstadt. de/5169/ (16.7.2017).

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Gemüt

dessen Kenntnis alles abhängt, was wir“ in der Natur untersuchen.9 Subjektives Selbstverständnis schärft objektives Beobachtungsvermögen. Heute ist „Gemüt“ kein Terminus der forschenden Empirie mehr. Aber noch zehn Jahre vor der Mondlandung herrschte eine andere Grundüberzeugung. Johannes Rudert (1894–1980) definierte „Gemüt“ in einer Festschrift der Ausdruckspsychologie, ironiefrei und in wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit, als „unspezifisches Ja zum Daseienden, weil es da ist“ – eine methodische Ansage an die Fachkollegen.10 Der Begriff geht auf die Anfänge der wissenschaftlichen Geographie zurück. „Ge-müt“ kann den elementaren Gegebenheiten des menschlichen Lebensraums zugerechnet werden. Es teilt mit Ge-birgen, Ge-stirnen, Ge-wässern und anderen Naturdingen die vermeintliche Urzeitlichkeit und das eindrucksvolle Beharrungsvermögen. Trotz anhaltender Vorliebe für die Unsterblichkeit der Seele hatte die Naturkunde des ausgehenden 18. Jahrhunderts ergeben, dass die Pluralität menschlicher Seinsweisen die territoriale Charakteristik der allgemeinen Entwicklungsgeschichte atmet. Menschen bilden mit der jeweils herrschenden Flora und Fauna ihrer Heimat ein ursprüngliches Kontinuum. Carl Ritter (1779–1859) und Alexander von Humboldt (1769–1859) bauten das Prinzip der anthropologischen Anpassung zu einem Weltsystem aus. „Gemüt“ brachte den inneren Zusammenhalt einer Menschengruppe zum Ausdruck, ihr Selbstverständnis und Gemeinschaftsgefühl, das sich innerhalb eines spezifischen Sprach- und Kulturraums ausbildet. Humboldts Kosmos eröffnet einen Kosmos des Gemüts, den er idealtypisch in Goethes Dichtung wiederfand.11 Diese kreatürliche Ursprungsgeschichte ebnete den Weg in die deutsche Moderne. Das Einbilden neuer Welten wurde auf den menschlichen Bildungsprozess projiziert. Viele Übertragungen der Naturlehre auf die philosophische Anthropologie sind überliefert. Doch eine überragt in ihrer „Gemütslastigkeit“. Sie wurde in normativer Absicht und mit strategischem Kalkül von Immanuel Kant (1724–1804) eingeführt. Kant schätzte die „Kunst der Popularität“ und entwendete den gestandenen Begriff für seine Zwecke. Es ging um den kategorischen Imperativ. Eine Formulierung davon lautet: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“12 Keine Frage: „Gemüt“ ist griffiger. In seiner Auslegung mutierte   9 10

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Georg Christoph Lichtenberg. Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, München 1967– 1992, Bd. 2, Sudelbuch L 799, S. 499. Johannes Rudert: Gemüt als charakterologischer Begriff, in: Adolf Däumling (Hg.): Seelenleben und Menschenbild. Festschrift zum 60. Geburtstag von Philipp Lersch, München 1958, S. 53–73, S. 71. Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, hg. v. Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt/M. 2004, S. 224. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 1961, S. 65.

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der pietistische Gemeinplatz zu einem eingängigen Anthropomorphismus. „Gemüt“ versinnbildlicht die „Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, so Kants bekanntestes Postulat zum Sittengesetz.13 Das hehre „moralische Gesetz“ sollte für jedermann einsehbar sein, ohne philosophische Vorkenntnisse und bestenfalls ohne bewusste Zustimmung. Exemplarisch für Kants culture jamming des Gemütbegriffs ist die berühmte Passage am Schluss der Kritik der praktischen Vernunft: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir“.14 Die Kursivschrift im Originaltext legt den Akzent auf zwei grenzenlose Erfahrungsräume. Diese laufen im Brennpunkt des Gemüts zusammen und sind dabei nicht auf ein denkendes Individuum reduzierbar. Frei nach Kleist, dessen geflügeltes Wort aus intensiver Kant-Lektüre hervorging, spricht das „Gemüt“ über die allmähliche Verfertigung des Menschen beim Leben.15 Novalis beteuerte, ebenfalls nach eingehender Kant-Lektüre, dass „Schicksal und Gemüt Namen Eines Begriffs sind“.16 Beides hebt sich in einer anthropo­lo­gischen Phylogenie auf, die sich kulturgesteuert entfaltet; daher verstand er seine poetologische „Gemütserregungskunst“17 auch als „Experimentalphysik des Ge­müts“.18 Auch Michel Foucault (1926–1984) suchte nach ausgiebiger Kant-Lektüre die Mechanismen anthropologischer Formbarkeit aufzudecken. Er meint, die Archäologie moderner Wissensordnungen sei für das gegenwärtige staatsbürgerliche Selbstverständnis im europäischen Einflussraum konstitutiv.19 Die Zeitrechnung des „Gemüts“ beginnt mit einer kognitiven Wende, der zu Folge sich das Bewusstsein zunehmend nicht allein von den natürlichen Gegebenheiten der Umwelt ableitet, sondern von immer komplexer werdenden sozialen Ordnungen und immer aufwendigeren technowissenschaftlichen Apparaturen. Mit der einsetzenden Industrialisierung und den sozialen Umwälzungen der Französischen Revolution geriet die etablierte soziale Ordnung aus den Fugen. Kolonialismus und Welthandel vervielfachten merklich die Grundlagen menschlicher Welt- und Selbstgestaltung. Neue Wissensbestände, neue Produktionsverfahren, neue Arbeitsabläufe, neue Akkumulationsformen: „Gemüt“ begleitete den Verlust feudaler Gemeinschafts13 14 15 16 17 18 19

Ebd., S. 53. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft [1788], Stuttgart 1961, S. 253. Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: ders.: Sämtliche Briefe und Werke, hg. v. Helmut Sembdner, München 2001, S. 319–323. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Richard Samuel, Darmstadt 1988, Bd. I, S. 328. Ebd., Bd. III, S. 639. Ebd., S. 595. Michel Foucault: Introduction à l’Anthropologie de Kant, Paris 2008.

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Gemüt

strukturen. Kants Sinnbild für diese Entwicklung fand Eingang in die Alltagssprache und transportierte, wie der bereits besprochene etymologische Salto nahelegt, die erkenntnistheoretische Wende seines Denksystems in den öffentlichen Raum. Wie konnte das „Gemüt“ ins Abseits seiner kantischen Bestimmung geraten? Neudeutsch bezeichnet „Gemüt“ etwas unabdingbar Privates, kaum Sagbares, jedem Menschenkind Angeborenes. Fast vergessen ist das Wissen um eine kollektive, öffentliche, gleichsam elementare Bildungsdynamik und damit einhergehende kulturtheoretische Reflektionen. Der vorherige Koloss einer allgegenwärtigen Subjektivität ist dem falschen Bewusstsein eines postmodernen Stubenhockertums aufgesessen und glaubt fälschlicherweise, authentisch bei sich selbst zu sein – vor dem Fernseher, mit Pantoffeln auf der Couch. Das Adjektiv „gemütlich“ wird dagegen fast inflationär gebraucht. Die betäubende Warenästhetik der spätkapitalistischen Inneneinrichtung erinnert an die Eigenwerbung „des deutschen oder des wahren Sozialismus“ im biedermeierlichen Vormärz. Karl Marx (1818–1883) spöttelt, dass ein „Gewand, gewirkt aus spekulativem Spinnweb, überstickt mit schöngeistigen Redeblumen, durchtränkt von liebesschwülem Gemütsstau“, den politischen Protest verhindert.20 Sein Diktum vom „Opium des Volkes“ gilt „dem Seufzer der bedrängten Kreatur”, dem “Gemüt einer herzlosen Welt”, dessen ideologische Wirkung ebenso Sucht erzeugend wie katastrophal für die Weltvereinigung der Menschheit sei.21 Selbst Marx habe das „Gespenst des Kommunismus“ mitunter aber als friedfertiges Gemüt verklärt, meint der Soziologe Johannes Weiß. Seine Überlegungen zur Entfremdung ließen sich als „höhere, jedenfalls abstraktere und geradezu metaphysische Ausprägungen deutscher Gemütlichkeit“ auslegen.22 Mit dem Anthropozän hat sich die ursprüngliche, geographisch geprägte Intuition umgekehrt. Koordiniertes menschliches Handeln verwandelt den planetaren Lebensraum. Jeder subjektive Ausdruck ist auch ein Einverleiben, jede Partikularität verstärkt die Universalität, der sie entspringt. Die gemeinschaftsbildende Maßnahme Gemüt setzte an der Wurzel der Kognition an und entfachte damit unter anderem technische Innovationen. Eugen Diesel (1889–1970), Sohn des DieselmotorErfinders und früher Förderer der naturwissenschaftlich-technischen Ausstellungen des Deutschen Museums, erklärte die Gemütlichkeit zum geselligen Schmiermittel und zur Triebfeder der in Deutschland gerade entfesselten industriellen Revolution.23

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Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Berlin 1976, Bd. IV, S. 487.  Ebd., Bd. I, S. 378. Johannes Weiß: Vernunft und Vernichtung: Zur Philosophie und Soziologie der Moderne, Opladen 1993, S. 192. Eugen Diesel: Die deutsche Wandlung. Das Bild eines Volks, Stuttgart 1931, S. 189–192.

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Bild 1  Louis Held: Bauhausfest in der Gaststätte Ilmschlösschen bei Weimar am 29. November 1924, Fotografie.

Gemüt und Bildakt stehen in einem spannungsreichen aber komplementären Verhältnis. Das spätindustrielle Gemüt agiert in einem zunehmend unbekannten, technisch aufgerüsteten und von künstlicher Ersatzintelligenz durchsetzten Umfeld. Die Ausgestaltung der digitalen Lebenswelt wird in absehbarer Zukunft über graphische Schnittstellen erfolgen. Hier treffen Gemüt und Bildakt besonders anschaulich und eindringlich zusammen. Die Hybridisierung künstlicher und menschlicher Intelligenz verlangt nach neuen Erklärungsparadigmen. Der Bildakt findet in der Unmittelbarkeit des augenblicklichen Erlebens statt. Er kann als Medium des Moments verstanden werden. Das Gemüt hingegen ist ein Medium der Dauer, was geschichtsphilosophische Rätsel aufwirft. Walter Benjamin (1892–1940), der die spezifischen Akkumulationseffekte der „technischen Reproduzierbarkeit“ studierte, war von diesem Kontrast fasziniert. Er führte das „dialektische Bild“ als historisches Erkennungsmoment ein.24 Ähnlich der deutsche Philosoph und Gemütsforscher Herman Lotze (1817–1881), der Kunstwerke als „redende 24

Elie Friedländer: Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait, München 2012, S. 48–73.

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Bild 2  Detail aus „Drinking“, Bettmann Portable Archive.

Bild 3  „Drinking“, Bettmann Portable Archive.

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Bild 4  „Gay Nineties“, Bettmann Portable Archive.

Denkmäler“ verstand.25 Lotze meinte kein solches „Reden“, das die später entwickelte Theorie des Sprechakts erfasst, sondern ein gegenständliches, kunstfertiges Reden, das die Generationenfolge überspringt. Er fragte sich, angelehnt an Faust, ob das Raunen einer verdinglichten Ästhetik die Menschheit im Innersten zusammenhält.26 Ein halbes Jahrhundert später griff Benjamin die Frage wieder auf. Er zitiert Lotze in seiner zweiten These Über den Begriff der Geschichte und schließt sich seiner

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Hermann Lotze: Wege seines Denkens und Forschens: ein Kapitel deutscher Philosophieund Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert, Würzburg 1997, S. 98. Ders.: Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie. 3 Bde., Leipzig 1923, Bd. III, S. 50.

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Bild 5  Detail aus „Gay Nineties“, Bettmann Portable Archive.

Formulierung an. Als Zeitzeuge eines massenmedialen Booms erklärt Benjamin das Gemüt zum Hauptsatz der technowissenschaftlichen Welterschließung. „Zu den bemerkenswerthesten Eigenthümlichkeiten des menschlichen Gemüths“, sagt Lotze, „gehört [...] neben so vieler Selbstsucht im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft.“27 Benjamins Aufsatz erschien nach dem frühen Tod des Autors – inmitten der politischen Katastrophe, die aus der Hauptstadt des deutschen Gemüts kommend über Europa hereinbrach.

27

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte [1940], in: ders.: Gesammelte Werke, Lizenzausgabe Zweitausendeins, Bd. 2, Frankfurt/M. 2011, S. 957–966.

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Zwei Beispiele verdeutlichen den Stellenwert des Gemüts in Benjamins Berlin. Sie belegen, dass wirkmächtige Gemütskonzeptionen in den Hochburgen moderner Gestaltung anzutreffen sind, genau da, wo ansonsten Funktionalismus und Sachlichkeit walten. Gerade die Mischung hat den Innovationsstandort Berlin ausgezeichnet. Die gemütsmoderne Avantgarde konnte sich auf den Wiener Kreis berufen, eine an den Naturwissenschaften angelehnte Bewegung, die metaphysikfreies Philosophieren propagierte und dem Bauhaus nahe stand.28 Rudolf Carnap (1891– 1970), einer der nüchternsten Vordenker dieser versachlichten „Weltauffassung“, gibt in seinem Hauptwerk Der logische Aufbau der Welt unumwunden zu: „Auch wir haben ‚Bedürfnisse des Gemütes‘ in der Philosophie; aber die gehen auf Klarheit der Begriffe, Sauberkeit der Methoden, Verantwortlichkeit der Thesen, Leistung durch Zusammenarbeit, in die das Individuum sich einordnet.“29 Ein Gruppenportrait von 1924 zeigt Mitglieder des Bauhauses bei einem Kostümball (Bild 1). Die ins Bild getragenen Tafeln verweisen vermutlich auf studienrelevante Belange. An exponierter Stelle, in der oberen Hälfte der komponierten Photographie, thront ein „Höhepunkt“-Schild. Das Statement ist eine performative Tautologie, was die Devise des zweiten Banners „gemütsbewegung“ aufwertet. Das partiell verdeckte Schlagwort ist als einziges klein geschrieben. Das dürfte auf die besondere Aktualität des Themas hinweisen. Konsequente Kleinschreibung von Substantiven war in der öffentlichen Meinung umstritten, wurde in den Bauhausdebatten um die funktionale Typographie jedoch gepriesen. Das Bettmann Portable Archive von 1966 ist, streng genommen, eine „gemütsbewegte“ Großveranstaltung.30 Der Katalog übersetzt das in den Text Benjamins eingebaute Lotze-Zitat in eine Bildmontage. Die Kernbotschaft verbirgt sich in einem kleinen Thumbnail mit der Bildunterschrift „Good Old Gemütlichkeit“ – eine bemerkenswerte Wortwahl für das englischsprachige Publikum (Bild 2). Das an sich wenig bestechende Motiv erscheint im Handelskatalog der Bettmann-Bildagentur gleich zweimal: zuerst auf einem Krug unter der Rubrik „Drinking“ zusammen mit einer Erinnerung an die torkelnde Trunkenheit (Bild 3); ein zweites Mal unter der Rubrik „Gay Nineties“, ein Hinweis auf das Jahrzehnt des ausbrechenden Massenkonsums. Das Motiv ist von einem Riesenrad eingefasst, das zum einen die kundenoptimierte Bildsuche verkörpert und zum anderen, frei nach Brecht/Eisler, das Rad der Geschichte (Bild 4). Im zweiten Korb ist das Bild der Gemütlichkeit eingebettet – gewiss ein Fingerzeig auf Benjamins zweite These mit Lotzes Zitat zum „menschlichen Gemüt“

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Peter Galison: Aufbau/Bauhaus: Logical Positivism and Architectural Modernism, in: Critical Inquiry 16/4 (1990), S. 709–752. Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1928, S. XX. Cheryce von Xylander: Pictorialism (Prelude & Fugue), in: Simon Schaffer/John Tresch/Pascal Gagliardi (Hg.): The Aesthetics of Universal Knowledge, London/New York 2017, S. 77–114.

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(Bild 5). Bettmann gründete nach der Flucht aus Berlin seine einflussreiche Bildagentur in New York. Sie beruhte auf der Geschäftsidee, eine kommerzielle Gemütsmaschine zu bauen. Inspiriert hatte den Bibliothekar und Experten für visuelle Kommunikation der Bildpionier Eduard Fuchs (1870–1940), späterer Weggefährte Benjamins, dem letzterer eine eigene Studie widmete. Gemüt umfasst das gewordene Werden der Menschheit. Kunstwerke reden mit. Abschließend lässt sich feststellen: Ohne Gemüt kein Bildakt, ohne Bildakt kein Gemüt. Schon Goethe hat gemeint: „Ohne Gemüt sei keine wahre Kunst denkbar“ – und der Befund gilt andersherum genauso.31 Bredekamps „Bildakt“ endet mit der Betrachtung der starken „Gemütserregung“, die die Farbfeldmalerei des Expressionisten Marc Rothko (1903–1970) auslöst.32 Kunstwerke können in das Gemüt einschlagen wie physikalische Teilchen in einer Nebelkammer. Der Eigendynamik des Bildaktes entspricht die Eigengesetzlichkeit des Gemüts, sei es postmodern, digital, fachkundig, deutschtümelnd oder kosmopolitisch.

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Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller, hg. v. Carl A. H. Burkhardt, Stuttgart 1870, S. 3. Bredekamp: Bildakt (wie Anm. 5), S. 323.

David Freedberg

Iconoclasm

1. To attack an image is to acknowledge its power. To destroy it is to eliminate the life that is believed to inhere in it, either in what it shows or in how it is made. To make an image lifeless is to acknowledge the life it contains. But what does it mean to say an image has life in it? That it partakes of the life of the represented? That it has a kind of intangible vitality in and of itself, making vitality less of a metaphor than critics and theorists of representation like to think? To remove the mouth of an image is to eliminate its power to speak; to remove its eyes is to deprive it of its ability to see or to look back at one. These are all ways of speaking about images that teeter on the edge of metaphor. The images don’t actually speak; they are not actually animated by eyes, or corrugator or superciliary muscles. They are representations of eyes and muscles – and the degree of liveliness perceived in them depends quite precisely on how (or how well) they are painted or sculpted. These marks of what we habitually call vitality in an image are what gives them the appearance of life, life so real that they force embodied responses on us, right up to and including destroying them. From this arises the great paradox of iconoclasm: to be hostile to an image is to be enamored of it, and to acknowledge its thrall. Iconoclasm testifies to the struggle to resist the life the iconoclast – and the rest of us – attribute to it; it is the most adequate response to the desire it evokes (the image never gives us fully what we need, so we do away with it). To destroy an image is to acknowledge the attribution of a life that is even more magical than the power of loving and desiring another person. It is to acknowledge a love so intense that its clutches cannot be escaped until the work is destroyed. This, fundamentally, is what joins pornographic with religious imagery, and gives propaganda by image its power.

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David Freedberg

But this is still too simply put. The question remains: what gives the metaphor of the living image its force, the metaphor for life that is felt in the bones of the viewers? It is the fact that the body in the image is more than just a painted body, that it is made with the force of the movements of living muscle. The movements of the maker in the very making of the image are then re-embodied in the viewer. This is what activates feeling in the living body of the spectator; representation actually gives body to the viewer. It is not just that those bodies there, those often flat bodies there, are imbued, indeed embodied, with corporeality, but that they embody us, in the most active of senses. We now know more, of course: it is not just that when we look at an image we feel it is as if it were alive, but that the neural substrates, the cortical and subcortical correlates of these feelings, are exactly the same as if the images were indeed living actors. But what of non-figurative art, the bulk, after all, of what passes for art amongst sophisticates in our time, of conceptual art, of abstract art, of all art that does not actually seem to have a figure of someone in it? It is not just because of the figure in the picture, sculpture, printed photo or digital image that the image evokes embodied responses predicated on the perception, conscious or unconscious, of figurative similarity, of feeling that we smile as that figure smiles, that we frown or cry as she does, that our flesh and limbs respond or react in the same way that that figure there does. It is because these movements are transmitted to and reemerge in us. Indeed it is the evidence of abstraction rather than figural similitude (however abstract all figuration may ultimately be) that provides a key to the paradox. For in the end it turns out to be no paradox, but a biological reality. In other words, it is the ways in which the superciliary and corrugator muscles are shown, or the corners of the mouth, or the contraction of the zygomatic muscles that initiates imitation in the viewer and at the very least sight of such expressive movement produces a sensation of emulation, or even, in some cases, a copying that in and of itself generates some form of similar motion. In any case it elicits the forms of inward simulation that help viewers better feel the emotions the maker of the image wishes to generate, or to have viewers grasp or understand what gives it life. We understand the stroke that produces that image, just as we understand the stroke that animates – that plunges – into a slashed Concetto Spaziale by Luca Fontana, not by metaphor, but by biological actuality, by the arousal of the very neural correlates that would be activated if we ourselves were engaged in producing that stroke, or if we felt the wound in our bones.1 1

David Freedberg/Vittorio Gallese: Motion, Emotion and Empathy in Esthetic Experience, in: Trends in Cognitive Science 11/5 (2007), pp. 197–203; Cristina Berchio et al.: Abstract Art and Cortical Motor Activation: an EEG Study, in: Frontiers in Human Neuroscience 7/5 (2012). On

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Iconoclasm

This is the real meaning, as Horst Bredekamp has so eloquently shown, not of the agency of images as so vaguely bandied about in our time, but of the Bildakt ( Bildakt).2 This is the reality of the metaphor that speaks of the life in images: it is precisely not metaphorical, not just cognitive, but automatic and actual. This is no manner of speaking, as one might think after centuries of theorizing about the as-if aspects of images, of how imitation works, of the illusions of reality. For imitation must now be thought of in two ways: not just the imitation of what the maker sees and reproduces, but the viewer’s inward imitation of what she sees and that attenuates the metaphors of representation by restoring them to the biology of the body and the senses.3 It is this that joins Bildakt to Bildersturm – even in the age of digitiza­ tion.

2. Iconoclasm gives the lie to the modish fear of discovering recurrences across history. These are not fantastic discoveries, mere inventions or constructions of seeming realities. Recurrent features of iconoclastic action, thought and theory survive through all contextual variations of practice and performance (as when ISIS’s staged acts of iconoclasm depend both on the shock of image-destruction and on the possibilities of reproduction, in this case on the virtual immortality of digital reproducibility). And these recurrences arise directly from the biological and neurological substrates that underlie the persistence of the will to destroy what is, after all, not real presence but representation. Such terms phase and fade in and out, as if in slow motion, of all theologies, whether iconic or aniconic, monotheistic or poly-

2 3

the feeling in oneself of the cuts or wounds seen in the body of another, see also my Movement, Embodiment, Emotion, in: Thierry Dufrenne/Anne C. Taylor (eds.): Cannibalismes, Disciplinaires, Quand l’histoire de l’art et l’anthropologie se rencontrent, Paris 2009, pp. 37–61, and David Freedberg: Vision’s Reach: Studies in Art and Neuroscience (forthcoming), in which all such issues are discussed at greater length. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010. For imitation as inward imitation of what one sees through embodied simulation, see Vittorio Gallese: Embodied Simulation: From Neurons to Phenomenal Experience, in: Phenomenology and Cognitive Science 4 (2005), pp. 23–48, followed by Gallese/Freedberg: Motion, Emotion and Empathy (as fn. 1) and David Freedberg: Empathy, Motion and Emotion, in: Klaus Herding/Antje Krause Wahl (eds.): Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen: Emotionen in Nahsicht, Berlin 2007, pp. 17–51. For a further exemplification and discussion, see David Freedberg: Memory in Art: History and the Neuroscience of Response, in: Suzanne Nalbantian/Paul M. Matthews/James L. McClelland (eds.): The Memory Process: Neuroscientific and Humanistic Perspectives, Cambridge, MA 2011, pp. 337–358, and Freedberg: Movement, Embodiment, Emotion (as fn. 1).

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theistic, with one jealous god terrified of the idols of others, or many terrified of only one. The continuities were long scanted – and in some quarters still are, to our peril, as in the recent and current depradations in the Near and Middle East. ISIS destroys the images of the gods as if to drain them of their lives, yet at the same time perpetuates images whose message via effective horror is predicated on the awareness that every image contains the reality of a life within it. That effectiveness springs from the ways in which mere representation evokes and reproduces, literally not metaphorically, the mutilated body within the tolerant as well as the intolerant beholder, volens nolens. And so, iconoclasm has become one of the urgent and most discussed topics of our time. To some extent ISIS has made it so, with its awareness not just of the effectiveness of dissemination by digital means, but even more because of the fact that the power of images is nowhere more trenchantly exemplified than by the destruction of images. It exploits this effect by the techniques of digital reproducibility and pulls out every theological stop – including the suspicion of live images of other gods – in its all-too blatant stagings of image destruction. Few have made more trenchant use of the reproduction of horrors to the body enabled by the age of digital reproducibility. From the torture scenes of Abu Ghraib to the slicing off of heads across Iraq and Syria seems only a small step. To see the films of ISIS's iconoclastic work in Mosul, Nineveh and Palmyra is to feel the destruction of the life in images – all the while hearing the sermonizing, fake and real, about the false gods they represent – in ones bones. Every crash causes an interoceptive reaction that is barely tolerable; every attack on eyes or flesh a feeling of a poke or a lance; every sewing up of the mouth an all-too real sense of silencing; every mutilation of the face the very horror of images which only their obliteration can annihilate. Often it seems that no amount of reproduction can diminish these effects of shock. The aura of the image, despite all efforts to “Benjaminize” it away, remains. When I first began working on images in 1969, the only other art historians working on the topic – beside the Byzantinists, by whom the subject was long studied4 – were those amongst the loose collection of Warburg-admiring scholars in the Hamburg group around Martin Warnke and Horst Bredekamp.5 Few theorized it better than Bredekamp, especially 4

5

Cf. David Freedberg: Iconoclasts and their Motives (Second Horst Gerson Memorial Lecture, University of Groningen), Maarssen 1985 (reprinted in: Public, Toronto 1993). The literature has now become vast indeed, but even in 1969 it was substantial and served as a model for all my own researches. For me, a crucial stimulus was this remarkable essay by Ernst Kitzinger: The Cult of Images in the Age before Iconoclasm, in: Dumbarton Oaks Papers 8 (1954), pp. 83–150. Well represented in: Martin Warnke (ed.): Bildersturm: Die Zerstörung des Kunstwerks, Munich 1973.

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in his inexplicably forgotten early book Kunst als Medium Sozialer Konflikte:6 autonomy then seemed impossible in the light of the political dimensions of propaganda and destruction (just as in the case of ISIS).

3. In those days, colleagues protested my work on iconoclasm, saying that art history was supposed to record and describe what survived, not what was lost. Art History had, most of them insisted, to do with creativity, beauty and form, not with destruction, violence and the deformation that follows in the wake of iconoclasm – as if form were somehow ideal, detached from the body, related to spirit not to the kinds of embodied responses that subtend not just action but imagination itself. The idea that the will and impulse to destroy works of art often provide precise testimony to what art actually means to people, from love and desire to hate, anger and resentment, did not seem to occur to the vast majority of my interlocutors at the time. The notion that anyone should do research on the history of image destruction, or on the history of images that no longer existed, that were so gone that they could no longer be studied visually was regarded as anathema, testimony to what was wild and barbaric in the human spirit, outside civilization and culture and having nothing to do with the realm of academic inquiry or art. In these times, we are forced to reflect on such positions again. But at the end of the 1960s, despite the rise of the social history of art, things were still very different. The connections between censorship and iconoclasm remained barely touched. Awareness of the degree to which censorship phases into iconoclasm, in which actions like the poking out of the eyes or the sewing up of the mouth could turn into more ferocious forms that were rightly termed iconoclastic, went unexplored. The phenomenological continuities were consistently scanted, though it was clear that many iconoclastic phenomena that seem to be recurrent spring from the conflation of image and prototype – the belief or feeling that the represented body is in the image, or that the image is somehow animated by what is shown on or in it. Viewers react accordingly, and iconoclasts do so as if to put paid to the sense of life or liveliness in what after all is merely dead material. In the end, this paradox too becomes intolerable. A vast range of religious, political and juridical positions on images are predicated on such feelings. Damnatio Memoriae and executions in effigie all depend on them. To take life from an image, as all the old theory went, was to show that one had power over what, in the 6

Horst Bredekamp: Kunst als Medium sozialer Konflikte: Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution, Berlin 1975.

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end, was absent. In cases of damnatio memoriae, to insult the image was to insult the prototype. Even if one makes allowances for the inevitable local distinctions and variations, in almost all cultures one finds a clear connection between the iconoclastic act itself and the perception of an image – or images in general – as somehow living. Images that are made of inanimate material – wood and stone, as the Reformation critics succinctly put it – are believed or felt to have a life in them that belies their very materiality. This arouses varying degrees of perplexity and fear that in turn may lead to assault and destruction, as if to prove the iconoclasts’ power of the paradoxical, anomalous and threatening life within those images, to show that those images are really dead, that they have indeed no power to fight back. Yet even mutilation and modification often strengthen rather than deaden the image; to wound it often turns out to strengthen its effects, rather than suppressing them – to the increased fury of the iconoclast. The extent to which theologies of images draw on these psychological and phenomenological aspects of response cannot be overestimated. To scant the theological bases of iconoclasm would be to fail to capture essential aspects of the ways in which the ontology of images plays itself out in society. It is not just a matter of the frequent insistence that the god in the image – or whatever is divine or holy in it – is uncircumscribable, or unique (and therefore intolerant of rivals, especially in represented form; or that the power of animation rests with god himself, not humans, as most powerfully in the Hadith). It is also the realization that being merely inanimate or merely of wood and stone, image powers can be disabled by the removal, mutilation or total destruction of those parts of the body that most clearly indicate their vitality. Hence, therefore, blinding by elimination of the eyes, enforced muteness by debuccalization, removal of smell and hearing by denasalization or mutilation of ears or limbs. From the proclamations of the radical Protestant reformers to the performative theologies of ISIS’s destroyers of images, theological motivations often join conveniently with political ones. The second commandment, the disapprovals in the Hadith, the many variations of the commitment to the idea of the uncircumscribability of the divine, the relationship between theological and political – all these may merge with more overtly political claims and beliefs, such as the doctrine that the emperor is where his image is or – closely related to the latter – that the prototype resides in the image. And over and over again one finds the use and the blatant exploitation of image assault, mutilation and destruction for purposes both of publicity or propaganda. Most sinisterly and significantly of all, often the attacks on images are accompanied by assaults on the so-called “servants of images”. Now as then, the killing of images accompanies the killing of humans, while that very continuity, from the life in an image to life in reality, is exploited for the purposes of the most gruesome propaganda.

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Finally, conflation of image and prototype also underlies the many varieties of juridical insults to images, from the destruction or mutilation of images as forms of damnatio memoriae to insulting the person represented on the image, or visiting condign punishment upon him or her for alleged crimes, whether criminal, civil or political (particularly for flight or treason).7 If you couldn’t capture him and kill him, you could always kill his image. To censor was to mutilate, damage, and in the end to destroy. You could damage what the image represented by damaging its representation; you could similarly insult the prototype by insulting its representation. To take out Erasmus’ eyes in a reformation book is both to insult him and to demonstrate his powerlessness. Censorship persistently becomes iconoclasm.8 The work of Warnke and Bredekamp set the tone for a social history that engaged with iconoclasm directly, rather than scanting it. By the early 1980s Dario Gamboni was also working in this area too.9 The removal of images of the old regimes all across Eastern Europe after 1989 and the so-called “culture wars” of the 1990s in the United States awakened more interest in studying both iconoclasm and censorship.10 From then on the spate of interest in both historical and contemporary iconoclasm grew steadily. But the fuller implications were rarely drawn out. The old detached, ironizing, anti-empathetic forms of art history persisted. The proponents of disinterest as the basic criterion of art, beauty and esthetic pleasure remained hegemonic – as if the perception of visual forms could ever be disembodied or without embodied consequence and causation. Nietzsche’s sarcasm about Kant’s approach to the body in art and in responses to it remained unheeded.11 What the cognitive neurosciences and theories of the Bildakt have by now made clear is the degree to which form itself is not simply a matter of disembodied creation, as if such making could ever be disembodied or without embodied consequence or causation. It is rooted in the movements of the body, the course of the blood, the breath of the soul as much as of the lungs: the body, blood and breath of both maker and beholder. Sophisticated art history could not bring itself to admit how every engagement with the visual arts begins in forms of motor and tactile involvement with

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David Freedberg: From Defamation to Mutilation: Gender Politics and Reason of State in South Africa, in: Carolin Behrmann (ed.): Images of Shame. Infamy, Defamation and the ­Ethics of oeconomia, Berlin 2016, pp. 193–216. David Freedberg: The Fear of Art: How Censorship becomes Iconoclasm, in: Social Research 83/1 (2016), pp. 67–99. As in Dario Gamboni: The Destruction of Art, Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution, London 1997. David Freedberg: Censorship Revisited, in: Res 21 (1992), pp. 5–11, outlines the initial stages of these discussions that underlay the culture wars. As for example in The Genealogy of Morals, III, section 6.

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everything seen. Even if imagination were detached from its material roots in the body and from the neural substrate of motor and sensory responses – an almost unimaginable position now – the proponents of such views would have to reckon with the ways in which detachment ensues from impulse and automaticity, and with the pleasures, releases and frustrations that ensue from engagement and empathy – even empathetic inclination – in the first place.12 This is what underlies both the love and hate of images. That is one philosophical reason for engaging with the problems of iconoclasm and censorship; but now, especially in the wake of ISIS’s destructions in the Middle and Near East, the topic has become urgent and immediate. Even if the scale of those destructions were not without precedent, a history of art and a history of images without an examination of iconoclasm would only be half a history. Perhaps more than any other aspect of the social history of art, iconoclasm provides clear and tragic access to ways of understanding the life of images and the actions with which they are both made and endowed.

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See not only Freedberg/Gallese: Motion, Emotion and Empathy (as fn. 1), but also our response to the critique by Alessandro Pignocchi and Roberto Casati: Mirror and Canonical Neurons are not Constitutive of Aesthetic Response, in: Trends in Cognitive Science 11/10 (2007), p. 410, in Vittorio Gallese/David Freedberg: Mirror and Canonical Neurons are Crucial Elements in Esthetic Response, in: Trends in Cognitive Science 11/10 (2007), p. 411, and Freedberg: Empathy, Motion and Emotion (as fn. 3), as well as now, for example, David Freedberg: From Absorption to Judgement: Empathy in Aesthetic Response, in: Vanessa Lux/Sigrid Weigel (eds.): Empathy: Epistemic Problems and Cultural-Historical Perspectives of a Cross-Disciplinary Concept, London 2017.

Kathrin Mira Amelung

Illustratio(n)

1. Exposition „[T]he world of molecules is completely invisible. I create […] illustrations […] to help bridge this gulf and allow us to see the molecular structure of cells, if not directly, then in an artistic rendition.“1 Mit diesem Satz begründet David S. Goodsell, Professor für Molekularbiologie am Forschungsinstitut in La Jolla, Kalifornien, sein Interesse an der Herstellung wissenschaftlicher Illustrationen innerhalb seiner Forschungen. Gleichzeitig macht er darauf aufmerksam, dass es sich bei seinen Zeichnungen stets um eine mit gestalterischen Mitteln umgesetzte Fiktion handelt, da sich das eigentliche Untersuchungsobjekt außerhalb der menschlichen Wahrnehmung befindet. Die Unterscheidung, die im Allgemeinen zwischen gestalterischer Fiktion und wissenschaftlicher Forschung getroffen wird, stellt für ihn keinen Bruch dar, sondern eine Brücke, die im Namen der Illustration gerade dort Wege der Erkenntnis eröffnet, wo zuvor keine waren. Mit dieser „Brückenfunktion“ steht die Nutzung eines bislang kaum beachteten Potentials naturwissenschaftlicher Illustrationen im Zentrum der gestalterischen Arbeit Goodsells. Diese Verwendung macht auf eine eigene Bedeutung des Begriffs „Illustration“ – jenseits der Unterscheidung von (Natur)Wissenschaft und Kunst – aufmerksam. Für diese Bedeutung gibt es jedoch außerhalb der Praxis, also im überkommenen Sprachgebrauch von „Illustration“, bislang keine Entsprechung.

1

David S. Goodsell: The Machinery of Life, New York 2009, S. vii.

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2. Hintergründe Üblicherweise wird unter „Illustration“ eine besondere Bildform wie die Buchillustration,2 alltagssprachlich ein anschauliches, aber austauschbares Beispiel im Sinne von „einen Sachverhalt illustrieren“, sowie ein abwertendes Schlagwort gegenüber Bildern3 verstanden. Letztere Form äußert sich in den Modalpartikeln „nur“ oder „bloß“, die dem Wort „Illustration“ mit der Absicht vorangestellt werden, die so bezeichneten Bilder als lediglich wiederholende Abbilder ohne eigenständigen Wert zu kennzeichnen. Die Abwertung des Bildes im Namen der Illustration ist problematisch, da auf diese Weise eine theoretische Reflexion der besonderen Bildform, die explizit als „Illustration“ bezeichnet wird, zum Beispiel „Buchillustration“ oder „naturwissenschaftliche Illustration“, nur unter Ausschluss des Illustrationsbegriffs erfolgen kann, will man nicht den Gegenstand selbst verlieren.4 Die in diesem Zuge anvisierte Ersetzung von „Illustration“ durch „Bild“,5 aber auch der Versuch einer Erweiterung des Illustrationsbegriffs in Richtung „Bild“6 oder die stillschweigende Anerkennung von Bild als Oberbegriff für „Illustration“7 erscheint zunächst – je für sich genommen – folgerichtig, um bildwissenschaftliche Methoden auf Illustrationen anzuwenden. Gleichwohl greifen diese Ansätze zu kurz, da sie jeweils von anderen Voraussetzungen im Hinblick auf die überkommene Bedeutung des Begriffs „Illustration“ und seiner Beziehung zum Bild ausgehen.

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Vgl. u. a. Horst Kunze: Geschichte der Buchillustration in Deutschland. Das 15. Jahrhundert, Leipzig 1975; ders.: Geschichte der Buchillustration in Deutschland. Das 16. und 17. Jahrhundert, Leipzig/Frankfurt/M. 1993; Georg Kurt Schauer: Deutsche Buchkunst 1890–1960, Hamburg 1963. Vgl. u. a. Franz Murr: Gedanken über künstlerische und wissenschaftliche Tierdarstellung, in: Journal für Ornithologie, 86/2 (1938), S. 255–260; Wilhelm Plünnecke: Grundformen der Illustration, Inaug.-Dissertation, Leipzig 1940; Wibke Larink: Bilder vom Gehirn. Bildwissenschaftliche Zugänge zum Gehirn als Seelenorgan, Oldenburg 2011, S. 17; Horst Bredekamp/Franziska Brons: Fotografie als Medium der Wissenschaft. Kunstgeschichte, Biologie und das Elend der Illustration, in: Hubert Burda/Christa Maar (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 379. Larink: Bilder vom Gehirn (wie Anm. 3). Bredekamp/Brons: Fotografie als Medium der Wissenschaft (wie Anm. 3). Jens Thiele: Das Bilderbuch. Ästhetik – Theorie – Analyse – Didaktik – Rezeption, Oldenburg 2003, S. 44, 45; Rolf F. Nohr: Nützliche Bilder. Bild, Diskurs, Evidenz, Berlin/Münster/Wien 2014, S. 216. Alexander Vögtli/Beat Ernst: Wissenschaftliche Bilder. Eine kritische Betrachtung, Basel 2007.

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3. Etymologisches Für die Notwendigkeit einer Neuverortung des überkommenen Begriffs „Illustration“ spricht nicht nur die zuvor skizzierte uneinheitliche Verwendung oder das zu Beginn angesprochene Beispiel aus der Forschungspraxis, sondern auch die Widerständigkeit des Begriffs selbst. Etymologisch betrachtet ist das Wort „Illustration“, das meist auf das lat. illustrare oder illustratio zurückgeführt wird, nicht unmittelbar mit Bild (lat. imago; griech. eikon) verwandt. Stattdessen weist illustratio eine Handlungsdimension auf, die mit actio illustrandi und actio lucendi bezeichnet wird. Beide Formen der actio beziehen sich dabei auf eine Tätigkeit, die mit Licht und Glanz in Verbindung steht. So bezeichnet die actio illustrandi u. a. das Erleuchten und Erhellen, actio lucendi rückt hingegen das Leuchten und Scheinen im Sinne von Erscheinen, Erscheinung, Vision sowie als Erklärung und Verdeutlichung in den Mittelpunkt.8 Bei illustrare stehen wiederum das Bescheinen, Sichtbar und Sehend machen, aber auch das Schmückende im Sinne von Auszeichnen, Ausstatten und Schmücken im Zentrum.9 In dieser Perspektive wird die actio nicht unmittelbar betont, gleichwohl ist auch hier aber eine Tätigkeit anzunehmen, da nicht von einer Klarheit an sich, sondern von einer Handlung, dem Sichtbarmachen, die Rede ist. Die Verwendung der Worte „Buchillustration“ oder „naturwissenschaftliche Illustration“ macht aus dieser Perspektive zunächst auf eine Handlungssituation aufmerksam, welche ihrer Herstellung notwendig vorausliegt und ihr In-ErscheinungTreten maßgeblich prägt. Auslöser und Ziel der illustrativen Handlung ist – wie es unter anderem die Bedeutungen Erleuchten, Sichtbarmachen, Erklären etc. vorgeben – die Herstellung von Klarheit, Einsicht oder Evidenz in Zusammenhängen, wo zuvor keine war. Ein Mangel an Evidenz und ein damit einhergehender Handlungszwang weisen wiederum auf das Bestehen einer rhetorischen Situation hin, da erst das Fehlen unmittelbarer Evidenz die Grundlage für den Einsatz rhetorischer Mittel bildet.10 Eine Neuverortung des Illustrationsbegriffs in Rückbezug auf die antike Tradition der Rhetorik bietet sich nicht zuletzt auch deshalb an, da sowohl evidentia als auch

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Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, in Gemeinschaft mit den Akademien der Wissenschaften zu Göttingen/Heidelberg/Leipzig/Wien und der Schweizerischen Akad. der Geistes- und Sozialwiss., hg. v. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Bd. IV., München 2015, Sp. 1296. Ebd., Sp. 1298. Ansgar Kemmann: Evidentia, Evidenz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 3, Niemeyer 1996, Sp. 39.

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illustratio Quintilian zufolge zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Übersetzung des aus der hellenistischen Rhetorik stammenden Begriffs enargeia durch Cicero in Erscheinung treten.11

4. Rhetorische Grundlagen Laut Quintilian übersetzt Cicero das griechische enargeia mit zwei Begriffen: zum einen mit seiner eigenen Wortneuschöpfung evidentia zum anderen mit illustratio.12 Sowohl evidentia als auch illustratio haben dabei Anteil an einer Wirkkraft, die mit enargeia verbunden ist. Obwohl Cicero aus Quintilians Perspektive beide Begriffe synonym zueinander verwendet, liegt es im Bereich des Möglichen, dass Cicero die Begriffe evidentia und illustratio im Hinblick auf ihre Verwendung unterscheidet.13 Für diese Überlegungen spricht, dass die Übersetzung von enargeia mit illustratio bei Cicero ausschließlich in Verbindung mit der Rhetorik auftritt.14 Die Übersetzung von enargeia mit evidentia ist wiederum mit Ciceros philosophischen Schriften15 verbunden und bezieht sich auf eine Einsicht, die aus sich selbst herausstrahlt und keiner weiteren Argumentation rhetorischer Art bedarf, da das so „VorAugen-Liegende“ von sich aus ein-leuchtet.16 Folgt man dieser Überlegung, dann lassen sich zwei Ausformungen von enargeia unterscheiden: In Ciceros evidentia ist die Wirkkraft der enargeia unmittelbar durch die Wahrnehmung einer detailreichen Präsenz des „Vor-Augen-Liegenden“ gegeben. Illustratio wiederum ist ein Verfahren, das Augenschein herzustellen versucht. Es geht dementsprechend um ein „VorAugen-Stellen“, dessen Ziel Evidenz ist. Die Wirkkraft der enargeia, die sich in der Wahrnehmung einer plastischen Ausformung und Detaillierung des „Vor-AugenLiegenden“ entfaltet, ist in der illustratio an die energeia gebunden, welche die 11 12 13

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Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. De institutione oratoria, lat.-dt., hg. u. übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1972, Teil 1: Buch I–IV, S. 710, § 32. Quintilian gebraucht statt des von Cicero verwendeten inlustratio das Wort illustratio. Beide Begriffe sind bei Quintilian jedoch synonym zu verstehen. Nina Otto: Enargeia. Untersuchung zur Charakteristik alexandrinischer Dichtung, Stuttgart 2009, S. 106; Stijn Bussels: The Animated Image. Roman Theory on Naturalism, Vividness and Divine Power, Berlin/Leiden 2013 (Studien aus dem Warburghaus 11), S. 71. Marcus Tullius Cicero: De oratore. Über den Redner, lat.-dt., hg. u. übers. v. Harald Merklin, Stuttgart 1976, S. 572, 574, § 202. Marcus Tullius Cicero: Akademische Abhandlungen: Lucullus, lat.-dt., hg. v. A. Graeser, Text u. Übers. v. Christof Schäublin, Hamburg 1995, S. 25f., §17. Für diese Form philosophischer evidentia wurde im Englischen seit Ende des 18. Jahrhunderts der Ausdruck self-evidence gebräuchlich. Vgl. Ansgar Kemmann: Evidentia, Evidenz (wie Anm. 10), Sp. 33.

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unmittelbar wahrnehmbare Wirkkraft der enargeia an eine mit dem Begriff energeia ausgedrückte Handlung koppelt, die diese Wirkkraft zuallererst handelnd-herstellend hervorbringt. Die zuvor angedeutete Handlungsdimension des Begriffs illust­ ratio im Sinne von actio illustrandi und actio lucendi erhält hier ihre Bedeutung. Bei der Verwendung von illustratio liegt demnach eine rhetorische Situation vor, die durch einen Evidenzmangel ausgelöst wird und über die rhetorische Handlung (energeia) eines fingierten „Vor-Augen-Stellens“ Evidenz, das heißt Einsicht herzustellen versucht. Erst wo dies tatsächlich gelingt, stellt sich Evidenz (und damit enargeia) ein.

5. Rückbindung und Schlussfolgerung Die zu Beginn des Artikels erwähnte Notwendigkeit einer Neuverortung des Begriffs „Illustration“ lässt sich mit dem Blick auf seine rhetorischen Wurzeln als „Illustratio(n)“ fassen. Dabei weist das ursprünglich rhetorische illustratio auf eine rhetorische Situation hin, die durch einen Evidenzmangel ausgelöst wird und über die rhetorische Handlung eines fingierten „Vor-Augen-Stellens“ Evidenz, das heißt Einsicht, herzustellen versucht. Die substantivierte Form „Illustration“ steht für die bildliche Präsenz als dem Ergebnis der vorausliegenden und auf Evidenzherstellung zielenden Handlung. In der Kopplung des Begriffs „Illustratio(n)“ bleiben demnach die auf Evidenz zielende Herstellung der bildlichen Präsenz (energeia) und die daraus resultierende Wirkkraft der gestalterischen Ausformung (enargeia) – innerhalb einer je spezifischen rhetorischen Situation – wechselseitig aufeinander bezogen. Vor diesem Hintergrund lässt sich abschließend die von David S. Goodsell als „Brückenfunktion“ bezeichnete Aufgabe seiner Bilder näher bestimmen: Den Ausgangspunkt von Goodsells Darstellung des Ebola-Virus (Bild 1) bildet zunächst ein Evidenzmangel, das heißt die Unsichtbarkeit des Virus für die menschliche Wahrnehmung bei einem gleichzeitig hohen Bedarf an Informationen über den Krankheitserreger. Diese Kluft zwischen Unsichtbarkeit auf der einen und Informationsbedarf auf der anderen Seite setzt zunächst eine mit illustratio ausgedrückte und mit energeia verbundene Handlung in Gang, welche eine Verdeutlichung oder Erklärung im Sinne einer Evidenzherstellung zum Ziel hat. Dafür trägt Goodsell zunächst alle verfügbaren Informationen zum Virus zusammen und entwickelt darauf aufbauend ein detailreich ausgeführtes und plastisch anmutendes Bild-Modell in Form einer Handzeichnung (Illustration).17 17

Vgl. Kathrin Mira Amelung/Thomas Stach: Viren auf der Spur. Notizen zu David S. Goodsells wissenschaflichen Illustrationen und ihrer Verwendung zwischen Bildmodell und Spur, in:

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Bild 1  David S. Goodsell: Ebola-Virus, RCSB Protein Data Bank.

Die auf Evidenz zielende Wirkkraft dieses Bild-Modells basiert auf einem mit dem Begriff „Illustratio(n)“ beschreibbaren Ineinander von drei Aspekten: Über die bildliche Präsenz der Darstellung (Illustration) wird der Eindruck vermittelt, „als ob“ man das Virus tatsächlich sehen könnte. Gleichzeitig verweist die fiktive Darstellung auf ihren ursprünglichen Herstellungskontext und die hier verwendeten Informationen zurück, durch den sie als Bild von Etwas – in diesem Fall von einem bestimmten Virus – überhaupt in Erscheinung treten konnte (illustratio). Innerhalb einer rhetorischen Situation, welche die Intention der Bildher­stel­ lung mit der Absicht einer Erklärung verbindet, kann der (Nach)Vollzug der wechselseitigen Bezugnahme von Illustration und illustratio zu einer neuen Erkenntnis führen. Die auf diese Weise aktiv gewonnene Erkenntnis ist jedoch nur eine Wahrschein­ Bettina Bock von Wülfingen (Hg.): Spuren. Erzeugung des Dagewesenen (Bildwelten des Wissens 13), Berlin 2017, S. 24–28.

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liche, da es sich bei dem Bild-Modell, das als Grundlage der Erkenntnis dient, lediglich um eine Variante unendlich vieler Möglichkeiten der Darstellung des Virus unter Rückbezug auf die gesammelten Informationen handelt. Galt die Wahrscheinlichkeit und Offenheit wissenschaftlicher Illustrationen in Bezug auf naturwissenschaftliche Fragestellungen lange als problematisch, da sie nicht mit dem Streben nach wissenschaftlicher Wahrheitsfindung in Einklang stehen, besteht das tatsächliche und neu zu entdeckende Potential, auf das auch die wissenschaftlichen Zeichnungen von David S. Goodsell hinweisen, gerade in einem „Überschuss des Imaginären“.18 Erst mit dieser „behaupteten […] Differenz gegenüber dem Realen […] eröffnet [sich ein] Spielraum des Erprobens“19 und damit die Möglichkeit einer unbegrenzten Annäherung an das epistemische Ding wissenschaftlicher Forschungen, dessen Funktion mit dem neuen Begriff „Illustratio(n)“ sowohl ausgedrückt als auch genauer beschrieben werden kann.

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Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 119. Ebd.

Stefan Trinks

Metamorphose

Auf wesentlich drei Gebieten bildet die Metamorphose, eine die Substanz verwandelnde Um-Formung von etwas in eine andere Gestalt, das konstituierende Grundprinzip: Es sind dies die Kontinente der Biologie, der Sprache und der Künste.

1. Evolution als Metamorphose Alles Leben entsteht durch permanente Umgestaltung des Genoms und durch Genmutationen. Beides zieht jeweils Metamorphosen der äußeren Form nach sich. In der Biologie könnte synonym für „Evolution“, wörtlich „Ent-Wickelung“, mit gleichem Recht der Begriff „Metamorphose“ gebraucht werden, um wertende Missverständnisse einer vorgeblich unvermeidlichen oder gar notwendigen Entwicklung zu Höherem zu vermeiden. Lange vor Darwin war das Prinzip bereits vertraut und visuell erfasst. Maria Sibylla Merians im Jahre 1705 erschienenes Corpuswerk Metamorphosis insectorum Surinamensium,1 brachte die bildliche Fassung des Phänomens Metamorphose auf eine neue Höhe. Im Pflanzenbuch Merians und ihrer Töchter besiedelt der Schmetterling Eumorpha labruscae in drei Stadien seiner Metamorphose die Weinrebe Vitis vinifera als seine Wirtspflanze (Bild 1a). Als Puppe kann dieser zusätzlich in Mimikri, das heißt in Schutzanpassung für Gefahrensituationen, sein Hinterteil aufblähen und so die Zeichnung eines „Auges“ bedrohlich vergrößern, um wie eine Schlange auszusehen (Bild 1b) und Fressfeinde wirkungsvoll abzuschrecken. Diese mimetische „Verwandlung in ein Fremdbild“2 scheint bei

1

2

Vgl. Ausst. Kat.: Maria Sibylla Merian. Künstlerin und Naturforscherin, hg. v. Kurt Wettengl, Historisches Museum Frankfurt/M., Ostfildern-Ruit 1997, sowie Daniel Kiecol (Hg.): Maria Sibylla Merian, Köln 2016, hier v. a. S. 96. Die wohl bekannteste und ungeheuerste Metamorphose der Literaturgeschichte, Kafkas Die Verwandlung, ist bei völlig ungeklärter Interpretation vielleicht doch durch den ersten Höhepunkt eines Sozial-Darwinismus zur Zeit ihrer Entstehung im Jahr 1912 geprägt.

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Bild 1a  Maria Sibylla Merian: Pflanzenbuch, Basel, Universitätsbibliothek: Vitis vinifera und Eumorpha labruscae, 1695.

Merian noch zugespitzt, indem die Spiralen des Weins sich wie die Schlangen-Raupe winden, so dass es zu einer Art Doppel-Metamorphose kommt, die Pflanze wie Tier gleichermaßen erfasst. Merians Metamorphose-Bilder oder das 1809 von Jean-Baptiste Lamarck er­ stellte „Transformationsdiagramm“, das die unentwegte Wandlungsenergie der Natur in Momentaufnahmen festhielt, vermögen zu zeigen, dass Darwins Biologie der Verwandlung in der Kunst bereits vorweggenommen wurden.3

3

Vgl. Horst Bredekamp: Das Prinzip der Metamorphosen und die Theorie der Evolution, in: Jahrbuch der BBAW 2008, Berlin 2009, S. 209–247, S. 241.

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Metamorphose

Bild 1b  Paraguyanische Eumorpha-Puppe als Schlange.

2. Die unstille Post der Sprache In der sich permanent verändernden Umwelt wandelt sich auch der Mensch und versucht, diese Welt über Bilder zu begreifen. Das flexible Werkzeug Sprache ist ihm dabei Mittel und Material der Welterkenntnis, mit der er Sprachbilder des Gesehenen fertigt. Dabei herrscht keine Dominanz des einen über das andere, vielmehr ein Mitstreit ( Synagonismus), eine Unio von sinnlich-visuellem Denken und AusSprechen mit und über diese Bilder. Sprache ist nie statisch, sondern in unentwegtem Wandel, indem entweder eine veränderte Klangfarbe bei der Aussprache ein neues Wort generiert oder ein neues Bild in der Umwelt ein neues Wort evoziert. Das körperliche Aussprechen versieht jedes Wort mit einer bestimmten dynamis ( Energeia), die ihm zugleich ein Eigenleben in der Welt, insbesondere in der Rezeption durch Andere, verschaffen. Wortmetamorphosen können potenziell unendlich sein als wohl einzige Kunst, die global einen unausgesetzten Bildakt ( Bildakt) in allen Kulturen in Gang hält. Die größte Kunst-Sammlung von Sprachmetamorphosen bilden bis heute die zwanzig Bände der Etymologiae des spanischen Bischofs Isidor von Sevilla von um 630. Der spätantik-frühmittelalterliche Sprachkünstler behandelt Bedeutung und Klang der Worte als Einheit, so dass sich durch geringfügig veränderte Aussprache ein neuer Inhalt ergibt.4 In diesem Umfang selbst in der Antike ungehört sprachbildreich vollzieht Isidor die allmähliche Verfassung der Sprache beim Herum-Ver-Wandeln des Menschen auf Erden nach: Das Wort für Mensch („homo“) stamme von Humus, weil er zwar vom Boden genommen ist, aber sich vom Boden weg („de humo“) 4

Vgl. Arno Borst: Das Bild der Geschichte in der Enzyklopädie Isidors von Sevilla, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 22 (1966), S. 1–62, S. 11f.

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zum aufrechten Gang erhebt, um seinen Schöpfer (die Genesis in der Bibel und Isidor benutzen hier das Wort für Künstler, „artifex“5) sehen zu können. Isidor schafft damit eine Metapher, die, einmal gehört, nie wieder vergessen wird. Zehntausende weitere folgen in den zwanzig Bänden, die alle Aspekte des menschlichen Daseins bis in die atomare Ebene umfassen. Mit Hintersinn wurde Isidor daher im Jahre 2000 zum Patron des Internets erkoren, das alle Begriffe zu verknüpfen sucht und damit permanent Inhalte umcodiert und wandelt.

3. Die notwendige Metamorphose in den Künsten Unterschiedslos alle Religionen weltweit weisen das Phänomen der Metamorphose in ihren Götterbildern auf. In der figürlichen Kunst Europas und seiner Einflusssphären ist die christliche Religion bis mindestens 1800 fundamental. Dass nicht nur der indische Hinduismus mit seinen Hunderten von Gottheiten, sondern auch das monotheistische Christentum in seinem alles amalgamierenden Synkretismus eine überraschend an Metamorphosen reiche Religion bildet, scheint in der geradezu zwingenden Notwendigkeit der Metamorphose zu liegen, Göttern keine feste Form geben zu wollen. Bereits der Gott des Alten Testaments wandelte permanent seine Gestalt als Pneuma-Wind, Feuersäule, Wolke oder Brennender Busch. Insbesondere in Form der neutestamentlichen Trinität werden drei innere Formaufspaltungen ein und desselben Gottes vorgestellt. Der „Geist“ wird als göttlicher Wind oder zoomorph als Taube eingeführt. Der unter den Menschen wandelnde Teil nimmt humane Gestalt an, nicht ohne diese unentwegt äußerlich zu wandeln als Zimmermann, Wanderprediger, König im Purpurmantel, geschundener nackter Körper, Gärtner, Astralleib.6 Die dritte Aufspaltung wird als „Vater“ und damit als ältester Wesensteil bezeichnet; er wird in der Kunst überwiegend als alter Mann gezeigt. Analog nehmen die den zweiten Teil dieser Trinität imitierenden Nachfolger – die Heiligen – vor allem in den ersten Jahrhunderten nach dessen beschriebener ReMetamorphose von einem menschlichen in einen immateriellen Leib alle denkbaren Formwandlungen an: Sie vermögen zu fliegen, gehen durch Wände, werden

5 6

Isidor von Sevilla: Etymologiae XI, 1, 4–5. Die christliche Verheißung einer Auferstehung in leiblich unversehrt-jugendlicher Form nach dem Vorbild Christi war in der instabilen Spätantike sicher ein wesentliches Argument für den Siegeszug dieser Religion. Seine irdische Parallele hat diese Re-Metamorphose in eine verjüngte Form in der Bildinvention des Jungbrunnens wie auch in den künstlichen Metamorphosen der kosmetischen Chirurgie. Für den Hinweis auf diese beiden Varianten von Re-Morphing sei Pablo Schneider herzlich gedankt.

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Metamorphose

Bild 2  Der Spiegel des Lidens Cristi: Christus in der mystischen Kelter, um 1410, Colmar, Bibliothéque Municipale.

zerkocht, zersägt, gehäutet, zerstückelt und gewinnen im jeweils letzten Bild der für sie erfundenen Hagiographie-Zyklen wieder ihre ursprüngliche körperlich unversehrte Gestalt zurück, allerdings erweitert um einen goldenen Schein auf dem Haupt, um im Zuge der Reliquienverehrung erneut auf Hunderte von Kirchen aufgeteilt zu werden. Bis heute unverändert bleibt der zentrale Glaubenssatz dieser Religion: Die Wandlung von Brot in den Leib des Gottes und von Wein in sein Blut durch die sogenannte „Transsubstantiation“, das heißt, den fließenden Übergang von einer Substanz in eine völlig andere, wie es beispielsweise das Bildformular des „Christus in der Kelter“ (Bild 2) zeigt, bei der sich jeweils unter Beibehaltung der Realpräsenz Christi Blut in Wein und sein Leib in gebackene Hostien verwandelt. Wie sehr die Metamorphose integraler Bestandteil dieser Religion ist, zeigt sich auf Folio 7r des von Albrecht Dürer, Hans Baldung Grien, Albrecht Altdorfer und

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Bild 3  Albrecht Dürer: Randzeichnung für das Gebetbuch Kaiser Maximilians, 1515, München, Staatsbibliothek, fol. 7r: Hl. Barbara in Korkenzieherranken.

anderen Malern um 1515 ausgestatteten Gebetbuchs Kaiser Maximilians (Bild 3).7 Die Wurzeln eines Baumstammes, der die seitliche Einfassung des handgeschrieben-organisch wirkenden Drucktextes bildet, treiben in einer Volute zu einem Putto

7

Für das Phänomen der strukturellen Metamorphose siehe Friedrich Teja Bach: Struktur und Erscheinung. Untersuchungen zu Dürers graphischer Kunst, Berlin 1996, hier v. a. S. 196, sowie Hinrich Sieveking: Das Gebetbuch Kaiser Maximilians. Der Münchner Teil mit Randzeichnungen von Dürer und Cranach, München 1987, S. 7.

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Metamorphose

aus, dessen weit abwehend welliges Haar aus Sprösslingen gebildet ist; mit scharfen Wind-Linien pustet der Knabe in das Gesicht eines Wildschweinkopfes, der gegenüber der Wurzelbeuge entwächst. Darüber entspringt dem Stamm eine Knospe, aus deren Blättern sich die Heilige Barbara mit Kelch in der Linken und Märtyrerpalme in der Rechten zu strahlender Blüte aufgerichtet hat. Die Siegespalme beschreibt mit ihrem äußersten Zweig eine Ast-Schlaufe, um weiterhin einen Arkaden-Bogen über der Heiligen mit einem geflügelten Putto darin auszubilden, ehe er wieder in den „Wort-Stamm“ der Heiligen Schrift einwächst. Der Holzstamm, der vielleicht auf die etymologische Wurzel und Abstammung des Wortes „Buch“ vom gleichnamigen Baum anspielt, wird bekrönt von einer bewegten Linie, die in abstrakt-stilisierter Form das Profil eines Gesichtes zu umreißen scheint. Dürer verleiht hier der wiederholt in seinen theoretischen Schriften zu findenden Überzeugung Gestalt, dass die Wirkkraft der Metamorphose gleichermaßen äußerst plastische Formen wie Pflanzen, Tiere und Menschen als auch völlig abstrakte Ideen von etwas „aus der Natur zu reyssenn“ vermag.8 Einen weithin unbekannten Beleg für die auch epistemologische Kraft der Metamorphose bietet überraschender Weise der Darwinismus des christlich bestimmten Mittelalters: Mixanthropoi wie Kentauren oder der Minotaurus wurden im Mittelalter als Rudimente und lebende Fossilien klassifiziert, denn im Sinne einer durchgängigen göttlichen Ordnung bereiteten die metamorphen Mischwesen zwischen Tier und Mensch große Legitimationsprobleme. Die hochreflexive Lösung lag seit dem zwölften Jahrhundert in einem gezielten Formwandel der Ikonographie: War der Minotaurus bis dahin als Mensch mit Stierhaupt dargestellt worden, wurde er insbesondere seit den Überlegungen des Scholastikers Alexander of Hales kurz nach 1200 als Stier mit Menschenkopf gebildet, mithin in eine andere Zivilisationsstufe einsortiert, da Alexander of Hales zufolge der Kopf die Zugehörigkeit zu einer Sphäre oder Klasse definiere: Der weise Kentaur mit Menschenhaupt als direkter Vorfahr der modernen Menschen; der hundsköpfige Kynokephale hingegen als Antipode des Menschen noch ganz dem Tierreich zugehörig, als hybrider Bastard aus gefallenen Engeln und Menschenfrauen eine Ausgeburt der Hölle (Bild 4).9

8 9

Vgl. Ausst. Kat.: Dürer. Die Kunst aus der Natur zu „reyssenn“: Welt, Natur und Raum in der Druckgraphik, hg. v. Erich Schneider, Museum Otto Schäfer, Schweinfurt 1997. Vgl. Asa Simon Mittland/Susan M. Kim: Monstrous Iconography, in: Colum Hourihane (Hg.): The Routledge Companion to Medieval Iconography, London/New York 2016, S. 518–533; Irene Berti/Filippo Carlà: Unendlich vielschichtig. Die Rezeption antiker Mythen im Mittelalter, in: Kunstchronik 1 (2017), S. 48–55, S. 54; sowie Peter Cornelius Claussen: Nachrichten von den Antipoden oder der mittelalterliche Künstler über sich selbst, in: Oskar Bätschmann/Matthias Winner (Hg.): Der Künstler über sich in seinem Werk. Internationales Symposium der Bibliotheca Hertziana Rom 1989, Weinheim 1992, S. 19–54.

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Bild 4  Vézelay, Narthex von Sainte Marie Madeleine, Mittelportal-Archivolte: Kynokephale, um 1130.

„Nichts verschwindet aus dem mythologischen Gedächtnis der Menschen, ohne Spuren zu hinterlassen“.10 Im Mythos als sprachlich allegorisiertem Spiegel menschlichen Lebens steckt eine unabtötbare Überlebenskraft. Nicht nur keimen strukturell sehr ähnliche Mythen wie die Sintflut-Katastrophe mit anschließender Neuformung der Menschen aus Lehm und Stein in allen Kulturen trotz oft kontinentaler Trennung in meist nur leicht abgewandelter Form auf. Auch innerhalb einer Kultur lebt ein bestimmter Mythos häufig über Tausende von Jahren weiter, obwohl er sich nicht selten ohne Aufschreibesysteme nur mündlich fortpflanzen kann. Wer hätte sich beim Lesen von Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums (1838) nicht schon verwundert, wie genau die schier unendliche Fülle an mythischen Wandlungen der Antike nahezu ohne Schwund überliefert werden konnte, während viele griechisch-römische Philosophietraktate und Theaterstücke verloren gingen, die, gerade weil sie schriftlich fest fixiert waren, gnadenlos dem Überlieferungsschicksal aller Schriftstücke ausgesetzt waren. Nicht etwa die Renaissance hat die unzähligen „Wandel-Mythen“ medien-archäologisch ausgegraben; vielmehr wurden sie komplett durch die zehn Jahrhunderte des Mittelalters überliefert, indem sich die Mythen durch Zwischenstufen oraler Transmission stets leicht wandelten und damit als spannend und der Überlieferung für wert befunden blieben. Ein Beispiel hierfür geben Ovids Metamorphosen,11 die durch Dichter wie Chrétien de Troyes

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Vgl. Friederike Wappenschmidt: Metamorphosen. Antike Götter im Wandel von Glaube und Kunst, Mainz 1994, S. 7. Wichtig scheint, dass der Schriftsteller Christoph Ransmayr als Grund von Ovids Verbannung nach Pontus einen politischen Gehalt von dessen Metamorphoses als verbildlichtes

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Metamorphose

um 1176 aktualisierend umgeformt wurden und dadurch weiterlebten. Dessen modifizierte Nacherzählung beispielsweise des in dieser Form offenbar nur von Ovid überlieferten Philomele-Mythos, der sich als bewusstes Konzept der Mythenaneignung der Metamorphose als Prinzip bedient, nutzt die mediale Nähe des Erzähltextes zum notwendigerweise unscharf-verändernden mündlichen Vortrag: Chrétien de Troyes benennt Philomele in Philomena um und die Nachtigall, in die sie am Ende des Mythos verwandelt wird, ruft nun altfranzösisch „utzi!“ („Töte!“) anstelle des griechischen „ityn, ityn!“, die lautmalerische Form des getöteten Sohnes Itys, für dessen Verfütterung Philomele und ihre Schwester Prokne bei Ovid mit Verwandlung bestraft werden. „Durch Einfügung dieses onomatopoetischen Ausrufs schafft Chrétien eine aktualisierende translatio des Mythos und macht diesen gleichzeitig sesshaft in seiner eigenen Zeit, Sprache und Umwelt“.12 Die Metamorphose entspricht damit einem in den Künsten zu findenden Bedürfnis nach „Ab-Wechselung“, was sich in dem nahezu in allen Kulturen zu findenden Prinzip des variatio delectat manifestiert.13 Den metamorphisierenden Klangbildern der Sprache, die stets auch von Künstlern mit Bildern versehen wurden, ist eng verwandt der Gesang. Dieser entsteht ebenfalls weitgehend bildaktiv-metamorphosisch. Zum einen, weil beim Gesang als kompositionell-tonsetzerischer techné innere Gedanken- und Gefühlsbilder in

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und damit verkörpertes Prinzip des Nihil Firmum ausmacht, des per Definition ewig unsicheren Status des Lebens: „Allein der Titel dieses Buches war in der Residenzstadt des Imperators Augustus eine Anmaßung gewesen, eine Aufwiegelei in Rom, wo jedes Bauwerk ein Denkmal der Herrschaft war, das auf den Bestand, auf die Dauer [einer Roma marmorea; ST] und Unverwandelbarkeit der Macht verwies. Metamorphoses, Verwandlungen, hatte Naso dieses Buch genannt und dafür mit dem Schwarzen Meer gebüßt“. Vgl. Christoph Ransmayr: Die letzte Welt, Nördlingen 1988, S. 43f. Die offizielle Verbannungsbegründung – „Gesellschaftszersetzende Sexualität“ – ist in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen nicht nur eine wesentliche Triebkraft für biologische Metamorphosen, sondern auch ein zentrales Motiv der Renaissance-Kultur des Nihil firmum, wie sie sich in der unerreicht ausschweifenden Hypnerotomachia Poliphili Francesco Colonnas, dem „Liebeskampftraum des Vielliebenden/Polyphil“ von 1499 verewigt hat. Vgl. Horst Bredekamp: Der „Traum vom Liebeskampf“ als Tor zur Antike; in: ders.: Schönheit und Schrecken, in: Ausst. Kat.: Natur und Antike in der Renaissance, hg. v. Herbert Beck/Peter C. Bol, Frankfurt/M. 1985, S. 139–153 u. S. 153– 172. Insbes. die permanent changierende Androgynität wurde geradezu ein Leitmotiv des 16. Jahrhunderts. Nicht zuletzt wohl um diese von Obrigkeiten oft als gefahrvoll empfundenen instabilen Sexualitätsformen einzuhegen, wurde als Antidot der Ovide moralisé erdacht, der die hoch sexualisierten Metamorphosen wieder moralisch rückzubinden suchte. Vgl. Berti/Carlà 2017 (wie Anm. 8), S. 53. Vgl. Hélène Vial: La métamorphose dans les Métamorphoses d’Ovide. Étude sur l’art de la variation, Paris 2010.

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Stefan Trinks

Klangmotive ausgefaltet und umgeformt werden,14 zum anderen, da beim improvisierten Singen ein Klangbild zum nächsten führt, indem es sich im notwendigerweise modulierten Übergang der Gesangsstimme das Vorhergehende anverwandelt, sollen nicht Töne, die für den Hörenden unzusammenhängend keine Einheiten bilden können, entstehen ( Akusmatische Extensionen). Die stets mäandernden Formwandel der Metamorphose als inhärentes Prinzip in Bild, Wort und Raum bilden somit als aktive Struktur den Kern künstlerischkulturellen Gestaltens. Indem ein Bild, Klang oder Wort je ein neues hervorzwingt und -bringt, handelt es sich um veritable Bildakte sui generis.

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Als nur ein Beispiel von vielen sei der Komponist Philip Glass mit seinen „stimm“-modulierenden Arbeiten wie beispielsweise den Klavierwerken Metamorphosis I–V genannt, der darin zudem direkten Bezug auf Kafkas Die Verwandlung nimmt.

Mark-Oliver Casper

Metaplastizität

„Metaplastizität“ bezeichnet die Eigenschaft kognitiver Systeme, dezentral organisiert zu sein. Dieser Begriff betont die Bedeutung der Umwelt, in der sich ein kognitives System entwickelt und die dessen Entwicklung ermöglicht. Die verkörperungstheoretische Erforschung von Metaplastizität geht von der Prämisse aus, dass die biologischen Strukturen eines kognitiven Systems nicht die einzigen Strukturen sind, die von Kognitionswissenschaften berücksichtigt werden sollten. Eine Konsequenz dieser Prämisse ist, dass nicht-biologische beziehungsweise körperexterne Elemente daraufhin untersucht werden können, ob sie für den Aufbau kognitiver Systeme eine wesentliche Rolle spielen. Diese Rolle wird durch den Begriff der Metaplastizität hervorgehoben. Seinen Ursprung hat dieser Begriff jedoch nicht in Verkörperungstheorien. Aus der Neurowissenschaft kommend bezieht sich „Metaplastizität“ zunächst auf die Eigenschaft des Gehirns plastisch zu sein. Es ist eine empirisch gut begründete Annahme, dass das Gehirn ein adaptives Organ ist, das im Hinblick auf seine gesamte funktionale Architektur aber auch bezüglich kleinteiliger neuronaler Prozesse und Strukturen zu interner Reorganisation fähig ist, die sehr umfassend sein kann.1 Diese Fähigkeit des Gehirns, interne Strukturen mehr oder minder stark zu verändern, wird als „Plastizität“ oder auch „Neuroplastizität“ beschrieben. Die neurowissenschaftliche Verwendung des Begriffs „Metaplastizität“ baut hierauf auf. Durch ihn wird bezeichnet, dass sich Eigenschaften der Plastizität selbst ändern können.2 Es wird behauptet, dass die individuelle Geschichte der Reizverarbeitung eines Gehirns beziehungsweise die Lerngeschichte eines Organismus festlegt, welche Gehirnareale wie stark reorganisiert werden können. Neuroplastizität ist damit keine starre Eigenschaft, sondern sensibel auf das Umgebungsgeschehen ausgerichtet. 1 2

Michael Merzenich: Seeing in the Sound Zone, in: Nature 404 (2000), S. 820f. David Linden/Wei Zhang: The Other Side of the Engram: Experience-Driven Changes in Neuronal Intrinsic Excitability, in: Nature Reviews Neuroscience 4/11 (2003), S. 885–900.

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Der neurowissenschaftliche Begriff der Metaplastizität weist auf einen Spannungsbereich zwischen Organismus und Welt hin, der für die Entstehung und Erhaltung kognitiver Systeme notwendig zu sein scheint. Neurowissenschaft allein kann diesen Spannungsbereich aber nicht abdecken. Denn der überwiegende Teil der Neurowissenschaft ist von der Vorstellung geleitet, dass Kognition etwas ist, das ausschließlich von der Aktivität des Gehirns hervorgebracht wird. Das Gehirn wird als eine Verrechnungsmaschine verstanden, die die Fähigkeit hat, die Umwelt intern zu repräsentieren. Interne Repräsentationen sollen neuronale Codes der Umwelt sein, die flexibel hervorgebracht und verarbeitet beziehungsweise verrechnet werden.3 Die interne Verarbeitung von Repräsentationen steuert gemäß dieser Vorstellung nicht nur die Motorik des gesamten Organismus sondern ist auch ursächlich für „höher-stufige“ kognitive Fähigkeiten wie beispielsweise sprachliche Kompetenzen.4 Da mit der Annahme, dass Kognition nur durch neuronale Aktivität hervorgebracht wird, eine scharfe Grenze zwischen einer biologisch internen Struktur und der Außenwelt gezogen wird, laufen Teile neurowissenschaftlicher Forschung Gefahr, Phänomenbereiche und Organisationsprinzipien außer Acht zu lassen, auf die der neurowissenschaftliche Begriff der Metaplastizität hinweist und die für das Verstehen kognitiver Systeme wesentlich sind. Um eine solche Vernachlässigung zu vermeiden, müssen zwei weitreichende Annahmen in der weiteren Forschung zur Kognition eine Rolle spielen. (1) Das Gehirn ist ein akkulturiertes Organ.5 Die Realisierung neuronaler Prozesse passt sich den Praktiken an, die in einer Gruppe, einer Gemeinschaft, einer Kultur oder zivilisatorischen Nische ausgeführt werden.6 (2) Bei der Beantwortung der Frage, wie kognitive Systeme entstehen, muss ein Zusammenwirken von biologischem Material, wie neuronalem Gewebe, und nicht-biologischen Materialien, wie Artefakten, berücksichtigt werden. Wie eingangs erwähnt, gibt es auch eine verkörperungstheoretische Verwendung von „Metaplastizität“. Diese Version baut auf den eben genannten zwei Annah-

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Christopher deCharms/Anthony Zador: Neural Representation and the Cortical Code, in: Annual Review of Neuroscience 23 (2000), S. 613–647. Mark Jeannerod: The Representing Brain: Neural Correlates of Motor Intention and Imagery, in: Behavioral and Brain Sciences 17/2 (1994), S. 187–202; Riitta Salmelin/Jan Kujala: Neural Representation of Language: Activation Versus Long-Range Connectivity, in: Trends in Cognitive Sciences 10/11 (2006), S. 519–525. Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 2016. Alva Noë: Out of Our Heads. Why You Are not Your Brain, and Other Lessons From the Biology of Consciousness, New York 2009; Michael David Kirchhoff: Extended Cognition and Fixed Properties: Steps to a Third-Wave Version of Extended Cognition, in: Phenomenology and Cognitive Sciences 11/2 (2012), S. 287–308.

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Metaplastizität

men auf. Sie hilft nicht dabei mögliche Modifikationen von neuronalen Strukturen im Detail verständlich zu machen. Mit ihr wird die allgemeine Eigenschaft kognitiver Systeme beschrieben, auch durch körperexterne Elemente verfasst zu sein oder verfasst sein zu können.7 Je nach dem, welcher verkörperungstheoretische Ansatz genau verfolgt wird, gewinnt oder verliert der Aspekt der dezentralen Organisation kognitiver Systeme an Wichtigkeit. Unterschiedliche Ansätze nehmen unterschiedliche Arten der externen Konstitution an.8 Sie involvieren jedoch alle auf die eine oder andere Weise „Metaplastizität“. So geht beispielsweise die Theorie des ausgedehnten Geistes (extended mind theory) davon aus, dass Kognition generell als Generierung und Verarbeitung von (mentalen) Repräsentationen verstanden werden kann.9 Die Generierung und Verarbeitung jener Repräsentationen müssen jedoch nicht notwendigerweise allein von biologischen Strukturen wie dem Gehirn realisiert werden. Strukturen der direkten, nicht-biologischen Nachbarschaft eines Organismus sind prinzipiell ebenfalls dazu in der Lage. Das heißt, dass Gegebenheiten der Umwelt zumindest zeitweise dieselben kognitiven (Teil-)Funktionen realisieren können wie die biologische „Wetware“ des Gehirns. Damit ist Metaplastizität von Theorien des ausgedehnten Geistes als eine Eigenschaft kognitiver Systeme vorausgesetzt, die nicht zu jeder Zeit realisiert sein muss aber stets realisiert werden kann. Körperexterne Elemente werden aus dieser theoretischen Perspektive nur dort zur Erweiterung kognitiver Systeme beansprucht, wo sie den Aufwand bezüglich der internen Informationsverarbeitung reduzieren. Der Enaktivismus hingegen behauptet, dass kognitive Zustände und Prozesse als praktische Interaktion eines Organismus mit (selbstgeschaffenen) Strukturen der Umwelt verstanden werden sollten.10 Das heißt, dass auch bei diesem verkörperungstheoretischen Ansatz sowohl die Umgebung als auch die spezifische Situation und Interaktion, in der sich ein kognitives System befindet, keine trivialen Aspekte seines Aufbaus sind. Der enaktivistische Fokus ist damit ein anderer als jener der Theorie des ausgedehnten Geistes. Denn beim Enaktivismus geht es unter anderem darum, praktische Interaktionen und ihre impliziten Regeln zu analysieren, die kognitive Systeme etablieren. Dabei ist es wichtig zu verstehen, wie der Körper eines Organismus einen senso-motorischen Zugriff auf die Welt ermöglicht und wie die Welt diesem Zugriff entspricht. In diesem Kontext wird von (interaktiven) „Rückkopplungs  7   8

  9 10

Lambros Malafouris: How Things Shape the Mind, Cambridge, MA/London 2013, S. 46. Michael David Kirchhoff: Extended Cognition and the Coupling-Constitution Fallacy: In Search for a Diachronic and Dynamical Conception of Constitution, in: Philosophy and Phenomenological Research 90/2 (2015), S. 320–360. Andy Clark: Supersizing the Mind, New York 2011. Francisco Varela/Evan Thompson/Eleanor Rosch: The Embodied Mind, Cambridge, MA/ London 1991.

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Mark-Oliver Casper

schleifen“ sowie vom „Aufforderungs- und Angebotscharakter“ (affordances) der Umgebung gesprochen und als kognitionswissenschaftlich relevantes Phänomen unterstrichen.11 Der enaktivistische Ansatz berücksichtigt Metaplastizität in umfassenderer Weise als die Theorie des ausgedehnten Geistes. Denn der senso-motorische Zugriff auf die Welt gilt als Grundlage für praktische Interaktionen zwischen Organismus und Umgebung. Dieser Zugriff wird nur möglich, wenn die evolutionäre Entwicklung und damit die sensorischen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten eines Organismus sich an den Bedingungen der Umwelt orientieren und sich an ihnen ausrichten. Mit Blick auf kognitive Systeme können diese Bedingungen als deren metaplastische Bedingungen aufgefasst werden und als für sie konstitutiv gelten. „Metaplastizität“ verweist sowohl in der Theorie des ausgedehnten Geistes als auch im Enaktivismus auf die Gesamtheit jener nicht ausschließlich biologischen und nicht zufälligen Relationen, die ein kognitives System ausmachen (können). Diese Relationen werden je nach theoretischer Ausarbeitung unterschiedlich individuiert (zum Beispiel computationalistisch, repräsentationalistisch oder pragmatistisch). Metaplastizität kann daher prinzipiell von einem großen Teil der Kognitionswissenschaften als generelle Eigenschaft kognitiver Systeme anerkannt werden, weil sie niemanden auf eine spezifische Theorie der Kognition festlegt. Aber wer einen Fokus auf diese Eigenschaft richtet, kann verkörperungstheoretischen Tendenzen der Wissenschaft nachgehen und je nach theoretischer Verpflichtung dem Computationalismus und Repräsentationalismus oder beispielsweise dem Pragmatismus das Wort reden. Bildnerische Tätigkeiten, bildgebende Verfahren und damit auch Bilder selbst können in enaktiven Rückkopplungsschleifen vorkommen oder eigene Rückkopplungsschleifen ermöglichen. Sie können theoretisch aber ebenfalls zu informationellen Verrechnungsprozessen beitragen, indem sie beispielsweise Informationen körperextern speichern, diese Informationen verlässlich darstellen und schnell abrufbar machen. Damit wird deutlich, dass jene Objekte und Tätigkeiten, die zur Konstitution kognitiver Systeme ihren Beitrag leisten, eine Wirkung auf den Organismus ausüben ( Bildakt), die ungeachtet der genauen Version vertretener Verkörperungstheorie berücksichtigt wird. Ein Beispiel für solch einen Beitrag von Objekten und Tätigkeiten ist das Folgende: Mentale Imagination kann als eine kognitive Fähigkeit gelten, die zeitweise durch eine Rückkopplungsschleife ermöglicht wird, die Bilder involviert. Ein Beispiel für eine solche Rückkopplungsschleife ist das Spiel TETRIS. Gespielt wird es auf einer tragbaren Konsole (Bild 1). 11

James Jerome Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, New York 2015; Alva Noë: Action in Perception, Cambridge, MA/London 2004.

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Metaplastizität

Bild 1  Evan-Amos: Tragbare Spielekonsole „Game Boy Light“ des Herstellers Nintendo, Fotografie.

In diesem Spiel geht es im Wesentlichen um Folgendes: Auf einem Bildschirm erscheinen „Zoids“, digitale Blöcke, die sich per Tastendruck rotieren und horizontal bewegen lassen. Zoids bewegen sich selbst je nach Einstellung schnell oder langsam vom oberen zum unteren Ende des Bildschirms. Am unteren Ende müssen sie platziert werden. Nach dem Platzieren erscheint ein neuer Zoid am oberen Ende, der ebenfalls gesetzt werden muss. Da die digitalen Blöcke unterschiedliche Formen haben und Punkte nur dann erzielt werden können, wenn sie ohne Lücken neben- und übereinander angeordnet werden, entsteht das Problem, möglichst schnell und treffend zu entscheiden, wie die unterschiedlich geformten Zoids rotiert werden müssen, damit ein nahtloses Ineinander-Stapeln möglich wird. Die aufgabengebundene mentale Imagination, die bei diesem Spiel nötig wird, besteht unter anderem in der Rotation der erscheinenden Formen, um den besten Platz zu ermitteln, auf den sie gesetzt werden sollten. Die Konsole übernimmt beim Spielen eine kognitive Funktion. Dabei handelt es sich um mentale Imagination in Form von Rotation. Diese Annahme wird unter

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Mark-Oliver Casper

anderem durch eine Studie von Kirsh und Maglio unterstützt, die beobachtet haben, dass Zoids bei erhöhtem Schwierigkeitsgrad (sie bewegen sich schneller vom oberen zum unteren Ende des Bildschirms) „überflüssig“ oft rotiert und bewegt werden.12 Diese redundanten Bewegungen werden ausgeführt, so die Interpretation, um mit der Konsole (und nicht allein mit mentaler Imagination, die „intern“ realisiert wird) das höchste Maß an Informationen bezüglich Form und Passgenauigkeit von Zoids zu ermitteln. Aus enaktivistischer Perspektive bilden Spielende und die Konsole zeitweise ein kognitives System. Diese Annahme beruht darauf, dass Spielende die Zoids zu einem gewissen Grad kontrollieren und damit einen Aspekt der Rückkopplungsschleife beeinflussen können, deren Teil sie während des Spielens sind und die bei spezifischer Beeinflussung dazu führt, dass die Konsole Teil des kognitiven Systems wird. Je nachdem, wie die Zoids bewegt werden, kann die Interaktion mit ihnen dazu führen, dass ein kognitives System etabliert wird, das durch biologische und nicht-biologische, körperexterne Strukturen ausgezeichnet ist. Teilweise ist dieses System durch auf dem Bildschirm kontrollierbare Bildelemente verfasst.

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David Kirsh/Paul Maglio: Distinguishing Epistemic from Pragmatic Action, in: Cognitive Science 18/4 (1994), S. 513–549.

Reinhard Wendler

Modelle

2004 wurde vor dem Israeli High Court of Justice ein Modell präsentiert, das unterschiedliche mögliche Grenzverläufe der Mauer zwischen der West Bank und Jerusalem bei Beit Sourik zeigte. Das Modell wurde von dem Anwalt der palästinensischen Kläger, Mohammed Dahla, in Auftrag gegeben. Als das Modell in den Gerichtssaal gebracht wurde, übte es einen tiefgreifenden Einfluss auf die Versammlung aus, wie Eyal Weizman in The Least of All Possible Evils. Humanitarian Violence from Arendt to Gaza schreibt: [B]ecause the judges bench was too high and the table too low, the judges could not see the model with sufficient clarity from where they sat, and they had to step down to look at it properly. The judges also called the lawyers from both parties to join them.1 Und in einem anderen Aufsatz heißt es: Petitioners, respondents and judges assembled around the model. The court descended into momentary disorder. The physical presence of the model disturbed the legal protocol, and introduced its own rules of language.2 Mit der zunächst durch optisch-visuelle Erfordernisse des Modells aufgebrochenen räumlichen Ordnung geriet auch die übliche Verfahrensordnung teilweise außer

1 2

Eyal Weizman: The Least of All Possible Evils. Humanitarian Violence from Arendt to Gaza, London/New York 2011, S. 71. Eyal Weizman: Forensic Architecture. The Thick Surface of the Earth, in: David Chipperfield (Hg.): Common Ground – A Critical Reader, Venedig 2012, S. 235–254, S. 238f. „Later, Dahla recalled, ‚All of a sudden, no one was using terms such as ‚your honour‘ or ‚my learned friend‘‘.“ Weizman: The Least of All Possible Evils (wie Anm. 1), S. 71.

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Reinhard Wendler

Bild 1  Das Modell ist sympathisch mit der Psychologie einer Gruppendiskussion: Gerichts­ zeichnung von Christine Cornell.

Kraft. Es begann sich eine Gesprächsform zu etablieren, die üblicherweise weniger vor Gericht als vielmehr in einem Atelier oder Studio zur Anwendung kommt. By this means and others it was now the model that was the most important agent in the discussion that followed. […] The legal process came to resemble a design session, with the parties making their points on the model, sometimes balancing their pens on its miniature topography to try out alternatives.3 Die Wörter, Gesten, Formeln und Positionen wurden nun nicht mehr von den Mustern und Vorgaben eines Gerichtsprozesses bestimmt, sondern von denen eines Gestaltungsprozesses. Das materielle Objekt lud zur Stellungnahme, zur Aushandlung ein und spielte so eine zentrale Rolle in der Verhandlung. In den Worten Karen Moons war es „sympathetic to the psychology of a group meeting“,4 indem es die 3 4

Weizman: The Least of All Possible Evils (wie Anm. 1), S. 72; vgl. Weizman: Forensic Architecture (wie Anm. 2), S. 238f. Karen Moon: Modeling Messages. The Architect and the Model, New York 2005, S. 111.

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Modelle

Bild 2  Der Richter in der Position eines Architekten: Gerichtszeichnung von Christine Cornell.

räumlichen und die politischen Standpunkte der Anwesenden miteinander identifizierbar machte und so die Perspektivität der Frage nach einem akzeptablen Grenzverlauf verdeutlichte.5 Zwei Personen können nicht zum selben Zeitpunkt aus derselben Richtung auf das Modell schauen. Dies kann als Analogie dazu verstanden werden, dass keine zwei Personen im Gerichtssaal exakt der gleichen Meinung über das Modell sind. So wird am materiellen Modell die Existenz anderer Standpunkte als der eigenen visuell erfahrbar und gewinnt damit an Einfluss auf das Gespräch. Weil auf diese Weise der Gesprächsverlauf offener wurde und die vorbereiteten Statements und Strategien außer Kraft gesetzt wurden, wurde auch der Grenzverlauf plötzlich verhandelbar: one would say that the model […] has participated in the de-congealing of forces that were previously ossified into the pre-existing form of the wall that the state of Israel started to build. And all of a sudden, in court, the wall 5

Vgl. Reinhard Wendler: On the Perspectivity of Model Situations, in: Günter Abel/Martina Plümacher (Hg.): The Power of Distributed Perspectives, Berlin 2016, S. 79–91.

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Reinhard Wendler

becomes elastic, becomes negotiable, becomes prone to push and pull, and that happens within the arena of law itself.6 Diese Verwandlung spiegelt sich auch in den Zeichnungen der Gerichtszeichnerin Christine Cornell. In einer ihrer Zeichnungen ist die räumliche Anordnung der Personen um das Modell zu sehen. Mehrere Personen berühren das Modell oder zeigen darauf, einige diskutieren, während andere sich in konzentrierter Betrachtung befinden. Einer der Richter im Zentrum des Bildes schaut die Betrachtenden direkt an, so als ob er sie zur Äußerung ihrer Meinung aufforderte. In einer zweiten Zeichnung ist Richter Aharon Barak zu sehen, wie er sich über das Modell beugt und ein Auge schließt, um eine Fußgängerperspektive auf das Modell zu bekommen. So simuliert er seine Verkleinerung bzw. die Vergrößerung des Modells, um einen Blick in die vom Modell symbolisierten möglichen Zukünfte zu erhaschen. Solche Posen sind aus der Ikonographie der Architektur wohlbekannt. Sie weisen den jeweiligen Architekten üblicherweise als sorgfältigen, besonnenen und verantwortungsvollen Planer aus und werben so für Vertrauen. In Cornells Darstellung überlagern sich also zwei unterschiedliche Bildtypen: die Gerichtszeichnung und das Atelierfoto. Diese Überlagerung wiederum kann als Reaktion auf die Verwandlung des Gerichts- in einen Gestaltungsprozess betrachtet werden. Bei dem Beit-Sourik-Modell handelt es sich um ein griffiges Beispiel für einen alltäglichen Vorgang: Modelle nehmen Einfluss auf die Modellierenden, die Betrachtenden, Kommunizierenden oder Diskutierenden. Sie beeinflussen das Bild, das man sich von demjenigen macht, von dem und für das das Modell ein solches ist. Auf diesem Wege nehmen Modelle auch Einfluss auf die konkreten Handlungen, die mit ihnen geplant, vorbereitet oder definiert werden sollen. Marx W. Wartofsky charakterisiert den zugrundliegenden Vorgang als eine Art Aufladung: Ein Gegenstand wird zu einem Modell, indem man ihn so auffasst, als ob er eine verkörperte Idealhandlung sei, die im Sinne des kategorischen Imperativs zu ihrer Nachahmung auffordert. Infolgedessen erscheint das Modell dann als „a claim on us to share in its purpose and in its mode of action to achieve this purpose“.7 Die Aktion geht von einem menschlichen Protagonisten aus, der sich dem Gegenstand der Bezugnahme gegenüber in einem Zustand versetzt, „der ihn mit etwas vereinigen kann – eben durch Hantierung oder Tragen – das ihm zugehört, aber durch das sein Blut nicht

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Eyal Weizman: Excess of Calculations, in: Godofredo Pereira (Hg.): Savage Objects, Lissabon 2012, S. 86–99, S. 89f. Marx W. Wartofsky: Models: Representation and the Scientific Understanding, Dordrecht 1979, S. 143.

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kreist“.8 In diesem Zustand wird nun die konkrete materielle, mediale oder mentale Verfasstheit des Gegenstandes zum Bestandteil eines Wechselwirkungsgefüges, in dem der Protagonist selbst eine Veränderung erfährt. Der Idealisierung des Gegenstandes der Bezugnahme durch einen willkürlichen Auffassungsakt folgt eine willentliche Unterwerfung des Subjekts im Sinne des kategorischen Imperativs mit der Folge, dass das Modell eine handlungsanweisende Rolle erlangt. Aus dieser Verquickung mit der konkreten Präsenz eines Gegenstandes der Bezugnahme können – und sollen zumeist auch – grundlegende Veränderungen in der Sichtweise der Modellierenden auf die Bezugsgegenstände des Modells hervorgehen. Weil die Kontrolle über das Denken dabei teilweise an das Modell delegiert wird, sind auch die entstehenden Impulse teilweise der kognitiven Kontrolle und Steuerung entzogen. Wartofsky hält prägnant fest: [S]ome models […] transform the total vision of those who involve themselves in the model. They are radical and revolutionary in their effect. They are modes of action which act by infection upon an age and its consciousness, and they help release energies and possibilities of the imagination and mind beyond anything that the model itself exemplifies. That is, the model produces more than it contains.9 Eben dies war die Wirkung des Beit-Sourik-Modells auf den Gerichtsprozess. Es fungierte als „revolutionary model“ in Wartofskys Sinn und veränderte die „total vision“ derer, die sich auf das Modell eingelassen hatten. In diesem komplexen Gefüge wurde durch die Modellauffassung im Sinne Wartofskys ein materieller Gegenstand zum Bestandteil des Denkens der anwesenden Personen, es verhielt sich „sympathetisch“ zur Psychologie eines solchen Gruppengesprächs, verkörperte ad hoc die Unterschiedlichkeit der Standpunkte, rief zu neuen Stellungnahmen auf und verwandelte dabei den Gerichtsprozess in einen Gestaltungsprozess. Hätte das Beit-Sourik-Modell nur einen möglichen Verlauf der Mauer dargestellt, wäre es von den Gegnern womöglich sofort abgelehnt worden und hätte damit seine lösende Wirkung nicht zeitigen können. Wäre der Prozess vorher anders verlaufen, hätte das Modell möglicherweise nur geringe Aufmerksamkeit erhalten oder wäre als eines unter anderen Darstellungsmitteln routiniert abgehandelt worden. Im beschriebenen Fall jedoch kamen die konkrete Präsenz des Modells und die Auffassungen der Anwesenden in ein dynamisches Verhältnis, in dem das Objekt substantiellen Einfluss auf eine Phase des Prozessverlaufs erlangen konnte. Die 8 9

Aby Warburg: Notizen zum Schlangenritual-Vortrag in Kreulingen, zit. n. Ernst Gombrich: Aby Warburg. An Intellectual Biography, Oxford 1970, S. 221. Wartofsky: Models (wie Anm. 7), S. 144.

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Identifikation der tatsächlich ausschlaggebenden Faktoren und der entstehenden Dynamiken ist nur bis zu einer gewissen Detailauflösung möglich. Die beteiligten Elemente sind jedoch benennbar mit dem Objekt, seiner Präsenz und Erscheinung, seiner Wahrnehmung und Auffassung, den sprachlichen und gestischen Interaktionen der beteiligten Personen und den weiteren situativen, sozialen, politischen etc. Kontexten. Weil die Wirkungsketten in diesen multifaktoriellen Gefügen auf so komplexe Weise entstehen, kommt eine sinnvolle allgemeinere Betrachtung von Modellen und ihren Wirkungen nicht um eine ergebnisoffene Betrachtung des Zusammenspiels der zahlreichen Faktoren herum, die die in einer Modellsituation umlaufenden Impulsfolgen entstehen lassen, verwandeln oder umlenken können. Deshalb müssen diese Faktoren auch Eingang in eine theoretische Betrachtung finden, die einen allgemeineren Deutungs- und Erklärungsanspruch erhebt.

Marion Lauschke

Motorische Resonanz

Dynamik im Bildraum Unter „motorischer Resonanz” ist der Aufbau von Bewegungsdispositionen sowie die unwillkürliche Bewegung im Prozess der Verarbeitung sinnlicher Reize zu verstehen. Der Begriff schließt die propriozeptive Wahrnehmung von Mitbewegung als intrapersonale Resonanz ein.1 Mit der Integration der Kinästhetik in die traditionell auf die „Fernsinne“ des Gehörs und des Visus reduzierte Ästhetik wird die Theorie der sinnlichen Wahrnehmung verkörperungstheoretisch komplementiert. Für die Erforschung des Zusammenhangs von „Bildakt“ und „Verkörperung“ ist „motorische Resonanz“ insofern von Bedeutung, als die Aktivierungspotenz von Bildern vor allem durch die körperliche Re-aktion ihrer Betrachter leiblich spürbar und wahrnehmungstheoretisch erforschbar ist. Bilder werden nicht nur als Darstellungen im Horizont ihrer Geschichte verstanden, sondern entfalten auch subliminal ihre Wirkung. Was ein Bild ist, lässt sich nur unter Berücksichtigung dieser Wirkung begreifen. Bildwissenschaft ohne (Kin)Ästhetik ist impotent. Ästhetische Erfahrung ist durch ihre „Vollzugsorientierung“ gekennzeich2 net. In ihr richtet sich die Wahrnehmung auf den Prozess der Wahrnehmung selbst. Die Aufmerksamkeit auf motorische Resonanzen ist spätestens dann induziert, wenn die Form- und Raumwahrnehmung irritiert wird oder die Eigentümlichkeiten der Faktur sich in den Vordergrund schieben. So ist die dynamische Plastizität der Farbfeldmalerei eines Mark Rothko ohne Rekurs auf die propriozeptive Realisierung 1

2

Vgl. Thomas Fuchs/Sabine Koch: Embodied Affectivity: on Moving and Being Moved, in: Frontiers in Psychology. Psychology for Clinical Settings, 5: Article 508, 2014, S. 1–12, DOI 10.3389/ fpsyg.2014.00508 u. Marion Lauschke: Dynamisierung von Bildräumen oder Resonanz als ästhetische Strategie gelingenden Lebens, in: Thiemo Breyer/Michael Buchholz/Andreas Hamburger/Stefan Pfänder (Hg.): Resonanz – Rhythmus – Synchronisierung. Erscheinungsformen und Effekte, Bielefeld 2017, S. 461–476. Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt/M. 1996, S. 48.

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Bild 1  Vincent van Gogh: Eisenbahnbrücke über die Avenue Montmajour, 1888, Öl auf Leinwand, 71 × 92 cm, Zürich, Kunsthaus.

des Bildraumes im Medium des Betrachterkörpers nicht zu verstehen.3 Der abstrakte Expressionismus erzwingt die Inversion der Wahrnehmung durch den Verzicht auf darstellende Formen. Hier kulminiert die Dynamisierung des Bildraumes, deren Stillstellung die Zentralperspektive für einen kurzen Zeitraum der Bildgeschichte zu erreichen versucht hat. Um „motorische Resonanz“ aus der Perspektive einer verkörperungstheoretischen Ästhetik beschreiben zu können, wird ein konformativer Ansatz gewählt, der Bilder als 4-dimensionalen ikonischen Formprozess thematisiert, aus dem Bild und Betrachter allein aus Darstellungsgründen isoliert werden können. Bilder sind demgemäß nicht statisch und bilden nicht ab: Sie motivieren Resonanzen im Bildraum. Kant hat darauf hingewiesen, dass für die Wahrnehmung und Abschätzung 3

Vgl. Marion Lauschke: Zur Interaktion mit Artefakten. Motorische Resonanz in Kunstpsychologie und Neurowissenschaften, in: Susanne Walz-Pawlita/Beate Unruh/Bernhard Janta (Hg.): Körper-Sprachen, Gießen 2016, S. 36–57.

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Motorische Resonanz

von Räumen Bewegung notwendig ist: „Messung eines Raums (als Auffassung) ist Beschreibung desselben, mithin objektive Bewegung in der Einbildung und ein Progressus“.4 Cassirer zufolge bewegt sich der Betrachter von Bildern im Rhythmus der Formen und Farbkontraste: „Der Eintritt in die Dynamik der Form begründet das ästhetische Erlebnis.“5 Diese Dynamik der Form, welche die Lebendigkeit des Bildes begründet, als relationales Geschehen zu begreifen, ist Anspruch der verkörperungstheoretischen Ästhetik. Sie ist weder allein auf die Formen des Bildes noch auf die Bewegungen des Betrachters zurückzuführen und wird als „motorische Resonanz“ auf den Begriff gebracht. Zum Herstellen von Bildern sind Körperbewegungen vonnöten, die den Bildern als Spuren eingeschrieben bleiben. Auseinandersetzungen mit Werkzeug und Material finden ihren sichtbaren Niederschlag. Motorische Resonanzen stellen sich jedoch nicht nur mit gezeichneten Linien und Pinselstrichen ein. Bilder orientieren und desorientieren die Körper ihrer Betrachter. In Van Goghs Eisenbahnbrücke über die Avenue Montmajour aus dem Jahre 1888 (Bild 1) ist das statische Motiv einer massiven Doppelbrücke mit einer Reihe Passanten unschwer zu erkennen, doch wird der Bildraum, der den Betrachter einschließt, durch die Gestaltung der Bild- und Blickachsen sowie der Fluchtpunkte, durch perspektivische Verzerrungen und unruhigen Pinselstrich dynamisiert. Die Passanten bewegen sich auf den Betrachter zu, während die im Farbton abgesetzte heitere Szenerie hinter der Brücke den innerbildlichen Fluchtpunkt bildet und somit einen Antagonismus der Kräfte erzeugt. Die Frau vor dem Mittelpfeiler der Brücke reflektiert, im Schnittpunkt der Blickachsen stehend, Kopf und Körper gegeneinander verdrehend, die Multiperspektivität des Bildes.6

Aktualität verdrängter Erkenntnisse Diese Überlegungen nicht sind nicht unbekannt, wenngleich sie durch die disziplinierende Isolierung von Philosophie, Kunstwissenschaft und Wahrnehmungspsychologie in Vergessenheit gerieten. Der Pionier der angewandten und experimentellen Psychologie Hugo Münsterberg revolutionierte Ende des 19. Jahrhunderts die Modellvorstellung der zeitlichen Abfolge von Reiz, Wahrnehmung und Reaktion: „Wenn wir den Reiz appercipieren“, schrieb er, „haben wir für gewöhnlich schon auf

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Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790], § 27, Herv. v. Verf. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen, aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Hamburg 1996, S. 233, Herv. v. Verf. Für eine eingehendere Betrachtung des Bildes vgl. Lauschke: Dynamisierung von Bildräumen (wie Anm. 1).

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denselben zu reagieren begonnen; unser motorischer Apparat wartet nicht auf unser Bewußtsein.“7 Auf dieser Erkenntnis aufbauend, veröffentlichte der Philosoph und Psychologe Richard Müller-Freienfels 1912 die Psychologie der Kunst, in der er die Bedeutung von Auffassungs-, Anpassungs-, Nachahmungs- und Ableitungsbewegungen sowie die zugehörige kinästhetische Wahrnehmung für die Wahrnehmung von Kunst untersuchte. Er prägte dafür den Begriff der „motorischen Resonanz“, die, so Müller-Freienfels, einen „wesentliche[n] Bestandteil des Wahrnehmungs- und Denk­ aktes“ ausmachen.8 Eine Wiederaufnahme, freilich ohne Bezug auf die Kunstpsychologie, fand der Begriff der „motorischen Resonanz“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den Diskussionen der Neurowissenschaften zur Erklärung von neuronaler Aktivität im motorischen Kortex bei der Beobachtung von Handlungen, der Betrachtung von Gegenständen, mit beziehungsweise an denen Handlungen vollzogen werden können, sowie von Bildern, auf denen Handlungen oder deren Spuren zu sehen sind. „Motorische Resonanz“ wird auf neurologischer Ebene im Rahmen der Erforschung der Spiegelneuronen, aber auch in Verbindung mit verschiedenen Disziplinen der Psychologie, den Kognitionswissenschaften, den Sprach- und Bildwissenschaften, der Robotik und den Sportwissenschaften thematisiert. Der Begriff spielt eine Rolle bei der Beantwortung von Fragen zur Architektur des Gehirns, zur Beteiligung des motorischen Systems an Verständnis- und Lernprozessen, zur Erklärung der neuronalen Basis sozialen Verhaltens sowie zum Verständnis der menschlichen Reaktionen auf Roboter. „Motorische Resonanz“ bezeichnet hier sowohl eine intrapersonale neuronale Resonanz zwischen sensorischen und motorischen Arealen des Gehirns als auch die interpersonale Resonanz, d. h. das adaptive Verhältnis zwischen einer wahrnehmenden und einer wahrgenommenen Person, bei der Ähnlichkeiten im motorischen System zwischen beiden festzustellen sind.9 Vittorio Gallese schließt daraus, dass das Verstehen von Handlungen auf der Basis von motorischer Resonanz erfolgt, die er „embodied simulation“ nennt.10 Auch die kognitive Psychologie verwendet den Begriff der „motorischen Resonanz“. „Motorische Resonanz“ bezeichnet hier eine Disposition, eine wahrgenommene

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Hugo Münsterberg: Beiträge zur experimentellen Psychologie, Heft 1, Freiburg/Br. 1889, S. 173. Richard Müller-Freienfels: Psychologie der Kunst, Bd. 1: Allgemeine Grundlegung und Psychologie des Kunstgeniessens [1912], 2., vollständig umgearbeitete Auflage Leipzig/Berlin 1922, S. 119. Vgl. Sebo Uithol/Iris van Rooij/Harold Bekkering/Pim Haselager: Understanding Motor Resonance, in: Social Neuroscience 6/4 (2011), S. 388–397, DOI: 10.1080/17470919.211.559129. Vittorio Gallese: Bodily Selves in Relation: Embodied Simulation as Secondperson Perspective on Intersubjectivity, in: Philosophical Transactions of the Royal Society, Biological Sciences 369/1644 (2014), S. 1–10, unter: http://dx.doi.org/10.1098/rstb.2013.0177 (06. 03. 2017).

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Motorische Resonanz

Handlung selbst auszuführen. Der bekannteste Untersuchungsgegenstand ist das Chamäleonphänomen, worunter – Sympathie vorausgesetzt – die Neigung verstanden wird, beobachtete Körperhaltungen und -bewegungen zu imitieren. Die Fragestellungen der kognitiven Psychologie wie diejenige nach der Planung von Handlungen, den Grundlagen des sozialen Verstehens und Lernens, die Erklärung von Empathie, bei deren Beantwortung der Begriff eine Rolle spielt, überschneiden sich zum Teil mit denjenigen der Neurowissenschaften. Während die Neurowissenschaftler sich mit Hirnarchitekturen beschäftigen und parallele bzw. ähnliche neuronale Aktivitäten als Resonanzen bezeichnen, beschäftigen sich die Psychologen mit kognitiven Architekturen: Sie schließen aufgrund von beobachteten Verhaltensweisen auf Vorstellungen (mentale Repräsentationen) und nehmen an, dass sensorische Vorstellungen, so die These der common coding theory von Wolfgang Prinz, sich bei der Handlungsbeobachtung dergestalt mit motorischen Vorstellungen der Handlungsplanung überlappen, dass von einer gemeinsamen „Repräsentation“ ausgegangen werden kann.11 Dabei wird Markus Paulus zufolge ein korrespondierender Code im motorischen Repertoire des Betrachters aktiviert.12

Konformation statt Simulation Während sowohl in den neurowissenschaftlichen als auch in den kogni­ tionspsychologischen Ansätzen die Spiegelung oder Simulation des Wahrgenommenen im Zentrum des Nachdenkens über „Resonanz“ steht, bestimmt die verkörperungstheoretische Ästhetik ihren „Gegenstand“ als konformativen Prozess. Ähnlich der akustischen Resonanz, bei der die Eigenfrequenz des Resonanzkörpers den entstehenden Klang beeinflusst, handelt es sich bei der motorischen Resonanz im Bildraum um ein Phänomen, das durch Mitbewegung entsteht. Beeinflusst ist dieses Begriffsverständnis unter anderem durch die bereits erwähnte Kunstpsychologie Müller-Freienfels’ und die pragmatistische Philosophie John Deweys: Dewey integriert den von Münsterberg untersuchten Zusammenhang, welchen er auf die griffige Formel bringt, dass wir nicht „auf einen Reiz, sondern in einen Reiz hinein reagieren“,

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Wolfgang Prinz: A Common Coding approach to Perception and Action, in: Odmar Neumann/ Wolfgang Prinz (Hg.): Relationships between Perception and Action, Berlin/Heidelberg 1990, S. 167–201; Simone Schütz-Bosbach/Esther Kuehn: Experimentelle Handlungsforschung: Die soziale Perspektive, in: Wolfgang Prinz (Hg.): Experimentelle Handlungsforschung, Stuttgart 2014, S. 106–157. Markus Paulus/Sabine Hunnius/Marlies Vissers/Harold Bekkering: Bridging the Gap between the Other and Me: The Functional Role of Motor Resonance and Action Affects in Infants’ Imitation, in: Developmental Science 14 (2011), S. 901–910.

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in seine Definition des Kunstwerks. Als Kunstwerk betrachtet er demzufolge nicht den materielle Gegenstand, sondern den Gang der Erfahrung, den es initiiert.13 Die Vernachlässigung des Motorischen in der Ästhetik und die Ablehnung des Münsterberg‘schen Modells führte Müller-Freienfels zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den „in Deutschland herrschenden psychologischen Intellektualismus, der alles durch Vorstellungen erklären will“ zurück.14 „Vorstellungen“ oder „mentale Repräsentationen“ sind auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein zentraler Gegenstand der Auseinandersetzungen der Philosophen darüber, wie Wahrnehmen und Denken funktioniert. Gegen diesen „Intellektualismus“ ist die Verkörperungsphilosophie gerichtet, welche die Bedeutung des Körpers für das Denken erforscht und den „Geist“ in eine für manchen Intellektuellen inakzeptable Gemengelage mit körperlichen Prozessen bringt. Die Erforschung motorischer Resonanzen ist dergestalt mit einer vierten narzisstische Kränkung verbunden: Nicht nur das Unbewusste unterminiert die Herrschaft des Ich im eigenen Haus. Andere Menschen und selbst Bilder veranlassen unwillkürliche körperliche Mitbewegungen. Mit der Aufgabe der „Vorstellungen“ als einzigem Produkt der Denktätigkeit ist die Distanzierungsleistung des Vor-Stellens jedoch nicht diskreditiert, sondern ihre körperliche Basis sichtbar gemacht. Die ästhetische Perspektive ermöglicht, die Fremdbestimmung nicht nur zu erkennen, sondern auch wahrzunehmen und zu genießen.

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John Dewey: Die Elementareinheit des Verhaltens, in: ders.: Philosophie und Zivilisation, Frankfurt/M. 2003, S. 230–244, S. 232f. u. ders.: Art as Experience, New York 1980. Müller-Freienfels: Psychologie der Kunst (wie Anm. 7), S. 118.

Jürgen Trabant

Sprache

Gegen das Zeichen Immer noch muss die Theorie der Sprache sich gegen die Auffassung verwahren, Sprache sei nur ein Ensemble von lautlichen Zeichen, denen es obliege, sprachlos gefasste Gedanken anderen mitzuteilen. Das Denken sei also sprachlose Produktion von Vorstellungen und das Sprechen nur Kommunikation dieser mental erzeugten „reinen“ Repräsentationen. Diese Auffassung geht letztlich auf Aristoteles‘ De interpretatione zurück, das jahrhundertelang als Teil des Organum in allen europäischen Schulen gelehrt wurde. Laut Aristoteles sind die Gedanken „Erleidnisse der Seele“ (pathemata tes psyches) und als solche Abbilder (homoiomata) der Welt, und sie sind bei allen Menschen gleich. Die Wörter (ta en te phone, „das, was in der Stimme ist“) sind lautliche Zeichen (semeia). Sie sind von Sprache zu Sprache verschieden und nur nach Übereinkunft (kata syntheken) – also nicht etwa durch die Natur – mit den zu kommunizierenden Vorstellungen verbunden. Die Redeweise von der Sprache als Ensemble von „arbiträren“, „konventionellen“, „beliebigen“, „willkür­ lichen“ Zeichen – bis hin zu Ferdinand de Saussures arbitraire du signe – hat hier ihren Ursprung. Sie weist Sprache zugleich als sekundär gegenüber dem Wichtigeren und Primären, dem Denken, aus. Diese Vorstellung von Sprache hält sich auch deswegen so hartnäckig, weil sie der alltäglichen Erfahrung genügt, in der die Sprache als ein der praktischen Kommunikation dienendes Instrument genutzt wird. Auf ihr gründet die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber der Sprache (als „bloß arbiträres“ Lautgeklingel), die Missachtung von Übersetzung (was ist das schon, wenn nicht die Ersetzung des einen Lauts durch den anderen?), die kaltherzige Zurücklassung der eigenen Sprache zu­ gunsten eines anderen – vermeintlich universellen – Kommunikationsmittels (Globalesisch) und die pädagogische Reduktion von Sprache auf „kommunikative Kompetenz“. Die praktisch-kommunikative Auffassung von Sprache ist nicht falsch (natürlich ist Sprache unser Haupt-Kommunikations-Mittel), sie ist nur extrem

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Bild 1  Rembrandt Harmensz van Rijn: Der Mennonitenprediger Cornelis Claesz Anslo (1592–1646) und seine Frau Aeltje Gerritsdr Schouten (1589–1657), 1641, Öl auf Leinwand, 173,7 × 207,6 cm, Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie.

reduktionistisch und verstellt die volle anthropologische Funktion von Sprache, ihre Leistung im Menschsein des Menschen, ihren Anteil an symbolischer Artikulation ( Symbolische Artikulation).

Sprache ist (klar-konfuses) Denken Es ist die Erfahrung sprachlicher Verschiedenheit, die diese Leistung von Sprache in der Sprachphilosophie und im allgemeinen Sprachdenken gleichsam unabweislich hervorgetrieben hat. In der Begegnung mit den Sprachen Amerikas und Asiens erfahren die Europäer, dass die „Erleidnisse der Seele“ von außereuropäischen Menschen durchaus nicht dieselben sind wie die eigenen, dass also die pathemata tes psyches überhaupt nicht universell sind. Diese sehr verschiedenen Vorstellungen der anderen Völker „kleben“ (ein schöner Ausdruck von Johann Gottfried Herder) an

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Sprache

ihren Sprachen. Nicht nur die Wörter enthalten verschiedene Bedeutungen, auch die grammatischen Strukturen entfalten ganz andere Kategorien als die der bisher bekannten, indoeuropäischen Sprachen. Das heißt eben auch, dass Denken nicht unabhängig von der Sprache – als „reine“ Repräsentation – sondern als innige Synthese von Vorstellung und Laut (Stimme) in Sprache generiert wird. Diese Erfahrung der Erzeugung des Denkens in der Sprache und damit der Existenz verschiedener sprachlich generierter Denkweisen löst zunächst Katastrophen-Alarm bei den doctores und Philosophen aus: Das – auf der lateinischen Einsprachigkeit des intellektuellen Europas basierende – universelle Denken der Philosophie und der Wissenschaft ist in Gefahr und droht, sich in der Vielfalt und Relativität einzelsprachlicher Semantiken aufzulösen. Die Semantiken der Einzelsprachen sind als bloß partikulare und „nicht-wissenschaftliche“ Vorstellungen des (dummen) Volkes natürlich Quellen des Irrtums und der Verwirrung, „Götzen des Marktplatzes“ (Bacon: idola fori), die man aus der Philosophie austreiben muss.1 Gegen diese partikularen Geistes-Krankheiten müssen die Philosophen remedies (Locke) finden, am besten indem sie eine universelle Sprache (re)konstruieren. Das tut die sprachanalytische Philosophie seit der diesbezüglichen Sprachschelte von Francis Bacon 1620, nicht erst seit Gottlob Frege, der diese philosophische Sprachkritik dann noch einmal erfindet. Eine revolutionäre Neubewertung dieser Entdeckung sprachabhängigen Denkens nimmt Gottfried Wilhelm Leibniz vor und schafft damit eine völlig neue Ansicht von Sprache: Leibniz erkennt, dass die einzelsprachlichen Semantiken keine Strafe oder metaphysical garbage (John Joseph) sind, sondern ein Reichtum des menschlichen Geistes. Aufgrund seiner differenzierten Hierarchie menschlicher Denkformen, von den dunklen zu den hellsten rationalen Gedanken, ist es Leibniz möglich, das in den Sprachen generierte Denken als wertvolle menschliche Denkform anzuerkennen: Es ist nicht die höchste Form menschlichen Denkens, aber eben doch klares und konfuses Denken (cognitio clara confusa), das in seinen mannigfaltigen Formen die „wunderbare Vielfalt der Operationen des menschlichen Geistes“ (la merveilleuse variété de ses opérations) manifestiert.2

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Francis Bacon: Neues Organon [1620], hg. v. Wolfgang Krohn, Darmstadt 1990, Aphorismus 59. Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux essais sur l‘entendement humain [1765], hg. v. Jacques Brunschwig, Paris 1966, S. 293.

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Verkörperung: Das bildende Organ des Gedanken Nach dieser Entdeckung der Sprachgebundenheit des Denkens und seiner positiven Bewertung als Reichtum des Geistes geht es darum, das sprachlich generierte Denken philosophisch genauer zu fassen. Die Entdeckung des einzelsprachlichen Denkens ist gleichzeitig auch die Entdeckung einer synthetischen Verbindung zwischen Laut und Gedanken oder – moderner gefasst – der Verkörperung des Denkens im Sprachlaut. Schon bei Leibniz sind die verschiedenen notiones, die verschiedenen Manifestationen menschlicher Geistestätigkeit, an bestimmte materielle Manifestationen gebunden. Die erste Verkörperungsphilosophie der Sprache entwickelt Herder durch eine radikale Transformation des Schematismus-Kapitels der Kritik der reinen Vernunft: Die – im Grunde auch schon bei Kant die Opposition von Körper und Geist überwindenden – Schemata werden von Herder mit der Sprache identifiziert. Wörter sind Verkörperungen des Denkens, das heißt umgekehrt auch, dass das Denken nicht im „reinen“ Geist beheimatet ist, sondern in seinen sprachlichen Verkörperungen. Humboldt entwickelt diese Transformation der Synthesis der Einbildungskraft weiter – ohne die ätzende Polemik Herders. Die Sprache ist „das bildende Organ des Gedanken“ oder „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“.3 Nicht nur die Ausdrücke „Organ“, „Bildung“, „Arbeit“ und – fast noch wichtiger – „Erzeugung“ weisen auf die Aktivität des Leibes in der Produktion des Gedankens. Vor allem der zentrale Begriff der „Artikulation“ steht für die Verkörperung des Denkens: „Der Mensch nöthigt den articulirten Laut, die Grundlage und das Wesen alles Sprechens, seinen körperlichen Werkzeugen durch den Drang seiner Seele ab.“4

Artikulation Hier „erleidet“ die Seele nicht mehr, sondern sie „drängt“, das heißt, sie schafft durch Artikulation den Gedanken im Laut. „Artikulation“ ist eine zweifache Tätigkeit. Die moderne Linguistik hat dies die „doppelte Artikulation“ (double articulation) der Sprache genannt. Nicht nur der Laut ist artikuliert, auch der Gedanke, den er verkörpert, ist es. Genau betrachtet heißt das, „dass beide ihr Gebiet in Grundtheile zerlegen, deren Zusammenfügung lauter solche Ganze bilden, welche das

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Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften. Werke, hg. v. Albert Leitzmann, Bd. VII.1, Berlin 1907, S. 46. Ebd., S. 65.

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Sprache

Streben in sich tragen, Theile neuer Ganzer zu werden“.5 Der Mensch schafft Konzepte, Inhalte, Vorstellungen, „Bedeutungen“, die immer an bestimmte Körperbewegungen gebunden sind. Diese „erste“ Artikulation, die Erfassung der Welt in kognitiven, in Bewegung verkörperten Einheiten, ist symbolische Artikulation, die der Sprache und dem Bild gemeinsam ist. Die spezifisch sprachliche Artikulation ist dann an lautliche Einheiten geknüpft, die ihrerseits aus einer kleinen Zahl von „TeilLauten“ zusammengesetzt sind. Das ist das Wunder der sprachlichen Artikulation: Der Lautstrom, den die menschliche Stimme erzeugt, ist ein „gegliederter“, er besteht aus wenigen unterscheidbaren Lautbewegungen (Phonemen), die – nach bestimmten Regeln – kombiniert werden und damit die gewaltige Zahl von Einheiten der ersten Gliederung und den Reichtum des menschlichen Denkens und die Explosion der Kultur des modernen Menschen ermöglichen. Die doppelt artikulierte Struktur der Sprache ist universell. Alle Sprachen artikulieren aber die Welt und den Laut auf je verschiedene, partikulare Weisen.

Weltansichten Der Gedanke, dass Denken in Sprache verkörpert ist und nicht als rein mentales Geschehen universell und sprachlos in den Menschen sich vollzieht, verdankt sich wesentlich der Erfahrung tiefer, nämlich semantischer Verschiedenheit der Sprachen durch die Begegnung der europäischen Menschheit mit dem außereuropäischen Anderen. Gerade die Verschiedenheit der Gedanken, die sich in den Sprachen der anderen nicht übersehen ließ, war der Ausgangspunkt der philosophischen Reflexion über die Verkörperung des Denkens in Sprache, die in der Sprachphilosophie Humboldts ihren Höhepunkt gefunden hat. Es ist daher nur folgerichtig, dass dieses Sprachdenken auch wieder an seinen Anfangspunkt zurückkehrt und die Sprachen der Menschheit – gegen Aristoteles – nicht als verschiedene „Zeichen und Schälle“, sondern als verschiedene „Weltansichten“ betrachtet. Durch eine solche Sprachauffassung gewinnen die Sprachen eine philosophische und kulturelle Dignität, die jene praktisch-kommunikative Auffassung von Sprache als „Zeichen“ nicht fassen kann: Wenn Sprachen die „wunderbare Vielfalt“ des menschlichen Geistes entfalten, werden sie als kostbare Mannigfaltigkeit des Denkens geachtet. Dann wird das Ersetzen der einen durch die andere Sprache nicht mehr eine gleichgültige Ersetzung eines sekundären Kommunikationsmittels durch ein anderes sein, dann wird Übersetzen als die schwierige und kreative Arbeit der Transformation eines Textes von der einen in die andere „Weltansicht“ geschätzt, dann kann auch Sprachunterricht sich nicht im Erwerb „kommunikativer Kom5

Ebd., S. 67.

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petenz“ erschöpfen. Nicht zuletzt wird das poetische Potential von Sprache lebendig gehalten und gefördert: Die Arbeit des Geistes ist ja „Bildung des Gedanken“, also Schöpfung in der „Tätigkeit“ ( Energeia) des Hervorbringens der Artikulationen.

Ich und Du Durch die Auffassung der Sprache als Schöpfung des Denkens gewinnt auch die intersubjektive Dimension der Sprache, die Beziehung zwischen Ich und Du, eine ganz neue Tiefe – als Denk-Raum nämlich. Ist sie in der „aristotelischen“ Auffassung nur der Raum eines (sekundären) praktischen Transports des Gedankens an den Anderen – Kommunikation –, so wird durch die Hervorhebung der kognitiven Funktion der Sprache nun Alterität eine Dimension des Denkens. Das sprachliche Denken findet im „Mitdenken“ (ein von Humboldt geprägtes Wort) des Anderen sowohl seine Grundlage als auch seine Vollendung und Erfüllung. Nach Humboldt braucht das sprechende Ich zum „bloßen Denken“ ein zuhörendes und wieder sprechendes Du. Erst „wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt“,6 ist die sprachliche Verkörperung des Denkens vollendet.

Sprache (Rede) und Bild Die Auffassung von Sprache als Verkörperung des Denkens rückt die Sprache an die Seite des Bildes, das die andere Form der menschlichen „Bildung des Gedankens“ darstellt. Sprache und Bild sind die Hauptformen symbolischer Artikulation. In ihnen manifestiert sich artikulierend der schöpferische Mensch. Sie sind nach Giambattista Vico „Zwillinge“ der Geburt des menschlichen Denkens (nacquero esse gemelle).7 Ihre Differenz liegt nicht in ihrer Funktion, der Erzeugung des Logos, sondern in ihrer Artikulationsstruktur. Die Sprache ist doppelt artikuliert. Als konkrete und individuelle Manifestation der symbolisierenden Aktivität entspricht, genauer gesagt, dem Bild die Rede, nicht die Sprache. Die parallelen Erscheinungsformen symbolischer Artikulation sind Rede und Bild. Das spezifische strukturelle Merkmal der Rede ist ihr Aufbau aus den doppelt artikulierten Einheiten der Sprache (z. B. Wörtern, Morphemen, Sätzen). Die materiellen Formen dieser doppelt artikulierten Einheiten werden seit Aristoteles als „arbiträr“ (kata syntheken) angesehen. Die Laute sind keine Bilder ihrer Bedeutungen. Die Lautfolgen „/ti∫/“ 6 7

Ebd., S. 56. Giambattista Vico: Principj di scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni, Neapel 1744, S. 28.

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Sprache

oder „/tabl/“ bilden den Tisch nicht ab, sie haben nichts „Tischartiges“, während die Zeichnung eines Tisches durchaus bestimmte Eigenschaften eines Tisches wiedergibt. Dieser „arbiträre“ Charakter der Wörter und Phoneme hat zu der allgemein verbreiteten Auffassung geführt, auch die Rede sei „arbiträr“, „nicht-abbildlich“ oder – mit einem anderen Ausdruck – „nicht-ikonisch“. Genau dies ist aber strukturell nicht der Fall. Die Rede bildet das ab, was sie sagt. Das ist am besten an Texten, also an fixierter Rede, zu zeigen: Ein Roman, Prousts Recherche etwa, bildet als Gesamtform jene Welt ab, die er erschafft; ein Sonett Shakespeares – „Shall I compare thee to a summer‘s day“ – bildet genau die Gefühle des Liebenden ab; Hegels Phänomenologie bildet den komplizierten Aufstieg des menschlichen Geistes von der sinnlichen Gewissheit zum absoluten Geist ab; eine Rechnung bildet die Forderungen des Verkäufers ab; und das Telefonbuch ist ein präzises Abbild des Ensembles der Telefonabonnenten. Die Ikonizität der Texte und Reden ist die fundamentale Gemeinsamkeit mit dem Bild. Auch wenn die Bilder (der modernen Kunst) immer „arbiträrer“ geworden zu sein scheinen (weil sie keine Gegenstände mehr abbilden), auch wenn die Bildtheorie die Bilder an die vermeintlich „arbiträre“ Sprache angleichen wollte (Mitchell), so sind die Bilder doch nach wie vor „abbildlich“. Auch noch die scheinbar völlig unabbildlichen Farbflüsse und Farbspritzer eines Pollock bilden ab: die malerische Bewegung, seine Emotionen, seine expressive Dynamik. Die sogenannte „abstrakte“ Malerei hat nicht den Bezug auf die Welt abgeschafft, sondern die „Welt“ erweitert, die sie abbildet, beziehungsweise schafft, wie die erwähnten sprachlichen Gebilde die ihrige. Sie greift vielfältig auf „nicht abbildliche“ oder „arbiträre“ Elemente zurück, aber sie hat nicht – ebenso wenig wie die Rede und insbesondere die Dichtung – ihre fundamentale Ikonizität aufgegeben. Das hat evolutionstheoretisch wahrscheinlich damit zu tun, dass – wie Tomasello gezeigt hat8 – das Deuten (point­ ing) auf die Welt und die Mimesis der Welt (pantomiming) die weltgestaltenden Handlungen des Menschen sind, die allem symbolischem Handeln zugrunde liegen.

8

Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014.

Tullio Viola

Symbolische Artikulation

Artikulation ist die Bildung von „Einheiten, gegliedert in Teile“.1 Die Semantik des Begriffs umfasst sowohl den Prozess der Bildung als auch dessen Resultat; sowohl die aktive Tätigkeit, kraft derer etwas artikuliert wird, als auch die Qualität von etwas, das eine innere Gliederung aufweist. Gedankliche Inhalte oder Erfahrungen können von einem Subjekt artikuliert werden, indem es die verschiedenen Teile des Ganzen unterscheidet und seine Binnenstruktur deutlich darstellt. Gleichzeitig können solche Inhalte oder Erfahrungen eine eigene Artikulation besitzen oder erlangen: eine Artikulation, die sich vom Subjekt begreifen lässt oder ihm entgegenkommt. Aus historischer Perspektive kann man mindestens zwei Bedeutungen des Artikulationsbegriffs hervorheben. In einem allgemeinen Sinne wird unter Artikulation in der Philosophie diejenige kognitive Operation verstanden, mittels derer ein Inhalt intern differenziert und explizit gemacht wird. In einem spezifischeren Sinne ist Artikulation ein Begriff der Sprachphilosophie und der Linguistik, der die Natur der Sprache selbst als „gegliedert“ charakterisiert.2 Man kann aber auch einen dritten, zwischen den beiden anderen liegenden Sinn identifizieren, der von der philosophischen Anthropologie vorgebracht worden ist und die Artikulation als Grundfunktion menschlicher Erfahrung definiert.3 Dieser setzt bei der grundlegenden Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt als Quelle der Artikulationsdynamik an und betrachtet die sprachliche Artikulation als Bestandteil einer umfassenden

1

2 3

Kuno Lorenz: Artikulation und Prädikation, in: ders./Marcelo Dascal/Dietfried Gerhardus/ Georg Meggle (Hg.): Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Bd. 2 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationstheorie 7), Berlin/New York 1996, S. 1098–1122, S. 1098. Jürgen Trabant: Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt/M. 1998. Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin/New York 2009.

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Tullio Viola

Skala, die sich von den basalen bis zu höchst komplexen kognitiven Fähigkeiten des Menschen erstreckt. Der Begriff symbolische Artikulation zielt darauf ab, diese von der philosophischen Anthropologie bereits vorausgesetzte Kontinuität auszubauen, indem er zeigt, dass Artikulation nicht nur eine Sache der Sprache ist, sondern mit jeder Art symbolischer Formung strukturell gekoppelt ist.4 So tragen etwa Bilder, Gesten und Körperhaltungen wesentlich zur symbolischen Artikulation einer Erfahrung oder eines gedanklichen Gehaltes bei, obwohl sie nicht im Medium der Sprache operieren. In diesem Text, der sich als unprogrammatischer Versuch einer Begriffserklärung versteht, wird der umfassende Charakter des Begriffs „symbolische Artikulation“ durch sukzessive Verallgemeinerung entwickelt. Zunächst wird (1) das spezielle Phänomen sprachlicher Artikulation und die ihr wesentliche sogenannte „doppelte Artikulation“ erläutert. Die doppelte Artikulation ist ein vorwiegend sprachliches Phänomen; nichtsdestotrotz scheint es möglich (2), sie auf eine allgemeinere Duplizität symbolischer Artikulation zurückzuführen, ohne damit den Fehler zu begehen, alle Symbole dem Paradigma der Sprache zu unterwerfen. Schließlich werden (3) einige Folgerungen der Theorie der symbolischen Artikulation im Bereich der Sozialphilosophie und der theoretischen Philosophie dargelegt.

Die doppelte Artikulation der Sprache Die Auffassung von Sprache als artikulierter Ausdrucksform blickt auf eine lange Tradition zurück, wurde in bisher unübertroffen klarer Weise aber erst im neunzehnten Jahrhundert von Wilhelm von Humboldt formuliert. Humboldt brachte die „Fähigkeit zur Bedeutsamkeit“ der Sprache direkt mit ihrer Natur als „articulirte[m] Laut“ in Verbindung.5 Dank ihrer linearen beziehungsweise zeitlich ausgedehnten Beschaffenheit sowie der Tatsache, dass sie aus diskreten Einheiten besteht, ist Sprache in der Lage, Gedanken gliedernd zu analysieren. Humboldt war der erste Denker, der einen weiteren Aspekt der sprachlichen Artikulation akzentuierte: nämlich diejenige Gliederungsleistung, die André Martinet später double articulation – „doppelte Artikulation“ oder „zweifache Gliederung“ – 4

5

Unter „symbolisch“ wird hier jede Ausdrucksform verstanden, deren Bedeutung auf einem Minimum an intersubjektiver Verständigung basiert, oder – um Charles S. Peirce’ weit verbreitete Terminologie zu verwenden – nicht exklusiv von ikonischen oder indexikalischen Relationen abhängt. Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften. Werke, hg. v. Albert Leitzmann, Bd. VII.1, Berlin 1907, S. 65; vgl. Trabant: Artikulationen (wie Anm. 2), S. 71.

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Symbolische Artikulation

nannte.6 Gemeint war damit, dass sprachliche Artikulation auf zwei parallelen Ebenen abläuft: auf derjenigen der Unterteilung in bedeutsame Einheiten (Morpheme), und derjenigen, auf der diese wiederum in nicht bedeutungstragende, aber bedeutungsunterscheidende und endliche Lautkomponenten gegliedert sind. Entscheidend ist, dass die sprachliche Artikulation der Begriffe (erste Ebene) nur durch die Artikulation der Laute (zweite Ebene) erreicht werden kann. Der lineare Charakter des Sprechens, der die Relationen zwischen gedanklichen Gehalten aufeinanderfolgend präsentiert, trägt zu dieser Dynamik wesentlich bei. Die Rolle, die Eigentümlichkeiten und die Ursachen der doppelten Artikulation in der Sprache sind in der späteren Forschung auf zwei unterschiedliche Weisen erklärt worden. Ein erster Ansatz betrachtet sie als exklusives Charakteristikum der Sprache und damit auch als ein zulässiges Kriterium, um die (Laut-)Sprache von anderen Artikulationsformen zu unterscheiden. Sprache allein – so lautet diese Ansicht – verfüge über die Fähigkeit, unendlich viele Bedeutungen mittels einer sehr begrenzten Anzahl bedeutungsunterscheidender Laute zu bilden; und diese Fähigkeit sei der Dreh- und Angelpunkt ihrer kognitiven und kommunikativen Kraft. Eine zweite Erklärung verwendet dagegen ein pragmatisches und gebrauchsorientiertes Argument. Diese Position behauptet, dass die doppelte Artikulation kein exklusiv sprachliches Phänomen ist, sondern prinzipiell in jedem Medium entstehen kann, und zwar dann, wenn die kommunikative und kognitive Funktion, die ein solches Medium in einer bestimmten Situation erfüllen muss, es verlangt. Dies lässt unter anderem die Hypothese zu, dass auch nicht-verbale Medien wie Bilder, Gesten oder Schrift ansatzweise über eine doppelte Artikulation verfügen können, nämlich dann, wenn sie bestimmten semiotischen Anforderungen unterworfen sind.7 Ein gutes Beispiel hierfür ist der Prozess der Konventionalisierung: Jedes Mal, wenn sich die Bedeutung eines ursprünglich nicht-konventionellen Zeichens als Konvention etabliert, verliert dieses an Transparenz, sodass nicht-bedeutsame, aber distinktive Einheiten entstehen können.

6

7

André Martinet: Elements de linguistique générale, Paris 1960. Im englischen Sprachraum wurde nahezu zeitgleich eine ähnliche Idee von Charles F. Hockett mit dem Begriff von duality of patterning formuliert: Charles F. Hockett: The Origin of Speech, in: Scientific American CCIII (1960), S. 89–96. Vgl. Trabant: Artikulationen (wie Anm. 2), S. 79–85. Siehe z. B. Florian Coulmas: Writing Systems. An Introduction to their Linguistic Analysis, Cambridge/New York 2003, S. 53, über die doppelte Artikulation der chinesischen Schrift: Alex Del Giudice/Simon Kirby/Carol Padden: Recreating Duality of Patterning in the Laboratory: A New Experimental Paradigm for Studying the Emergence of Sublexical Structure, in: The Evolution of Language – 8th International Conference, Utrecht 2010, S. 399–400, DOI: 10.1142/9789814295222_0064, für experimentell erstellte Phänomene doppelter Artikulation in artifiziellen Sprachen oder anderen Ausdrucksformen.

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Die Gebärdensprachen stellen in diesem Sinne ein vielversprechendes Forschungsgebiet dar. In der Forschung besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die meistverbreiteten Gebärdensprachen eine vollständige – wenn auch nicht lautliche – doppelte Artikulation besitzen.8 Gleichzeitig bieten einige Gebärdensprachen einen ausgesprochen lehrreichen Anlass, um den Übergang zur doppelten Artikulation zu erforschen. So wurde zum Beispiel die Al-Sayyid-Gebärdensprache aus der israelischen Negev-Wüste erforscht,9 welche nur die Spur einer gerade entstehenden doppelten Artikulation aufweist, insofern einige ursprünglich bedeutungstragende Einheiten ihre ikonische Transparenz allmählich verlieren und einen bloß distinktiven Charakter annehmen. Dies lässt sich am Wort „Hühnchen“, das aus den Wörtern „picken“ und „Ei“ gebildet ist, nachvollziehen (Bild 1). Indem sich das Wort konventionalisiert, verlieren die zwei ursprünglichen Gesten an Transparenz und Ikonizität. In der letzten Entwicklungsphase des Wortes (untere Reihe des Bildes) werden beide Gesten mit drei Fingern vollzogen, was dazu beiträgt, dass ihre ursprünglichen Bedeutungen (ein sich bewegender Schnabel und die Ovalform des Eis; obere Reihe) nicht mehr unmittelbar zu erkennen sind. Sie sind also nicht-bedeutsame Komponenten eines einzigen Wortes geworden.

Bild 1  Entwicklung des Wortes „Hühnchen“ in der Al-Sayyid Sprache.

8 9

Wendy Sandler: The Phonological Organization of Sign Languages, in: Language and Linguistic Compass VI/3 (2012), S. 162–182. Wendy Sandler/Mark Aaronof/Irit Meir/Carol Padden: The Gradual Emergence of Phonological Form in a New Language, in: Natural Language and Linguistic Theory XXIX/2 (2011), S. 503–543; vgl. Michael Tomasello: A Natural History of Human Thinking, Cambridge, MA/ London 2014, S. 96–104.

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Symbolische Artikulation

Von der sprachlichen zur symbolischen Artikulation Der pragmatische Ansatz zur doppelten Artikulation will nicht behaupten, dass jede symbolische Ausdrucksform der sprachlichen Logik unterworfen ist, sondern vielmehr, dass die Entstehung der doppelten Artikulation nicht so sehr von exklusiven Merkmalen der Lautsprache abhängt, sondern von der Neigung, bestimmten kommunikativen Bedürfnissen nachzukommen (wie beispielsweise dem Bedürfnis nach konventioneller Verständigung, nach kommunikativer Ökonomie usw.), die im Prinzip jedes Medium und jedes Zeichensystem betreffen können. Dabei ist nicht zu verneinen, dass einige mediale Charakterzüge der Lautsprache eine wichtige „katalytische“ Rolle in der Entstehung der doppelten Artikulation spielen. Akzeptiert man diese Perspektive, so kann man noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass die doppelte Artikulation der Sprache Ausdruck der allgemeineren Tatsache ist, dass alle symbolischen Artikulationsprozesse gleichzeitig verkörpert und gedanklich sind. Damit würde eine Hypothese Ernst Cassirers bestätigt, die besagt, dass das Grundphänomen der „symbolischen Prägnanz“ menschlicher Erfahrung derjenigen der doppelten Artikulation der Sprache strukturell ähnlich ist.10 Die Kopplung von gedanklicher und verkörperter Artikulation wurde bereits seitens der philosophischen Anthropologie ins Zentrum gestellt.11 Damit wird betont, dass die qualitativen, visuellen und verkörperten Elemente der Erfahrung unabdingbare Elemente unserer Artikulationsprozesse sind. Menschen artikulieren ihre qualitativ gefärbten Erfahrungen mittels Begriffen oder Handlungen immer im Rahmen einer sozialen Interaktion. Zudem besitzen die derart artikulierten Gehalte eine doppelte Natur: Einerseits bleiben sie verkörpert (das heißt an konkrete Situationen gebunden und von der physischen Beschaffenheit ihrer Träger beeinflusst); andererseits sind sie imstande, sich vom hic et nunc zu entkoppeln, um eine allge­ meinere Gültigkeit anzunehmen. Nun ist der Begriff der symbolischen Artikulation hilfreich, diese allgemeine Darstellung auf die spezifischen Eigenschaften verschiedener symbolischer Ausdrucksformen anzuwenden. Bilder, Sprache, Körperhaltungen haben spezifische mediale und semiotische Eigenschaften, die, um (vermeintlich allgemeingültige)

10

11

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Bd. III. Phänomenologie der Erkenntnis, Berlin 1929, S. 231; vgl. Stefan Niklas: Einleitung, in: ders./Martin Roussell (Hg.): Formen der Artikulation. Philosophische Beiträge zu einem kulturwissenschaftlichen Grundbegriff, München 2013, S. 15–34, S. 23–26. Jung: Der bewusste Ausdruck (wie Anm. 3); vgl. ders.: Stages of Embodied Artikulation, in: Gregor Etzelmüller/Christian Tewes (Hg.): Embodiment in Evolution and Culture, Berlin 2016.

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Reduktionen zu vermeiden, für sich betrachtet werden müssen. Gleichzeitig ist es möglich – so lautet die Arbeitshypothese dieses Textes –, in ihnen eine ähnliche zugrunde liegende Dynamik zu erkennen, die in der Oszillation zwischen verkörperter Natur und gedanklichem Inhalt besteht. Gottfried Boehms Versuch, eine spezifische Logik der Bilder zu artikulieren, welche die Differenz zwischen Grund und Figur (beziehungsweise Kontinuum und diskreten Elementen) ins Zentrum stellt, kann hier beispielhaft für eine solche Perspektive stehen, da sie die allgemeine Duplizität von Verkörperung und gedanklichem Inhalt in eine Terminologie übersetzt, die der Bildanalyse entstammt und nicht der Sprache entliehen ist, obwohl sie eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen Bild und Sprache aufzeigt.

Symbolische Artikulation in der Philosophie Die Breite der hier gegebenen Definition von Artikulation erlaubt uns im letzten Schritt, auch den ersten oben erwähnten Sinn des Begriffs miteinzubeziehen, nämlich die in der Philosophie geläufige Verwendung des Terminus „Artikulation“. Er bezeichnet den Prozess der Explikation von intellektuellen Gehalten im Allgemeinen. In diesem Sinne kann nicht nur ein Begriff oder eine Erfahrung artikuliert werden, sondern auch eine Idee, eine Erkenntnis oder Einsicht, eine Meinung, eine Überzeugung, ein Wert. Robert Brandoms Buch Articulating Reasons gilt als aktuelles Paradigma dieser Dimension der Artikulation, wenngleich Brandom für eine Reduktion der semantischen Fülle des Artikulationsbegriffs eintritt, indem er exklusiv auf die inferentielle Artikulation sprachlicher Aussagen fokussiert.12 Aus der hier entwickelten, nicht sprachzentrierten Perspektive kann man jedoch gegen Brandom einwenden, dass auch nicht-sprachliche Ausdrucksformen wesentlich zu symbolischer Artikulation beitragen, die die Fülle, Präzision und Komplexität menschlicher Erfahrungen bereichern. Selbst innerhalb der Sprache finden Artikulationsprozesse statt, die nicht dem Brandom‘schen „making it explicit“ entsprechen. Um es mit Wittgenstein zu formulieren: Es gibt Sprachspiele, die zwar der Artikulationslogik unterworfen sind, jedoch auf keine Explikation im engeren Sinne des Wortes abzielen.13 „Artikulation“ in diesem breiteren Sinne unterscheidet sich von „Analyse“, da sie die Existenz des zu artikulierenden Inhalts nicht unbedingt voraussetzt. Andererseits ist sie auch dem Begriff der „Synthese“ nicht ähnlich, da der Inhalt eben 12 13

Robert Brandom: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge, MA 2000. Vgl. Alva Noë: Varieties of Presence, Cambridge/London 2012, S. 118–120.

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Symbolische Artikulation

nicht „erschaffen“ wird.14 Vielmehr hat Artikulation die Existenz eines ungegliederten Ganzen zur Bedingung. Dieses Ganze bedarf allerdings eines weiteren Entwicklungsprozesses. Wenn wir sagen, dass ein gedanklicher Inhalt artikulationsbedürftig sei, setzen wir voraus, dass der gleiche Inhalt in einer weniger artikulierten Form bereits vorhanden ist, aber einer weiteren Verfeinerung bedarf. In diesem Sinne scheint der Artikulationsbegriff imstande, die Opposition zwischen Rationalismus und Empirismus zu überwinden, da er uns ermöglicht, Begriffe oder Ideen weder als nur zeitlos existierend noch als ex nihilo erschaffen zu betrachten. Diese Idee hat zudem eine sozialphilosophische Pointe, die sich aus der Beziehung zwischen Individuen und Werten oder Normen ergibt: Soziale Werte sind nicht zeitlos existierende Elemente, sondern sie müssen ständig weiter artikuliert werden, um ihre Gültigkeit gegenüber einer sich verändernden Gemeinschaft zu bewahren. Einer Einsicht George Herbert Meads folgend, lässt sich sagen, dass die Verallgemeinerung eines Wertes der Fähigkeit entspricht, den Artikulationsprozess so zu erweitern, dass er immer neue Individuen und neue Gemeinschaften miteinbezieht.15 Dieser Prozess findet eben nicht nur in der Sprache statt, sondern auch in allen anderen Ausdrucksformen – wie der Kunst, dem sozialen Verhalten, der Gestaltung von Artefakten und gebauter Umwelt – die das soziale Leben der Menschen beeinflussen.16

14 15 16

Vgl. Trabant: Artikulationen (wie Anm. 2), S. 84; Charles Taylor: The Language Animal. The Scope of the Human Linguistic Capacity, Cambridge, MA 2016. George Herbert Mead: Mind, Self, and Society, Chicago 1934. Vielen Dank an Stefan Niklas für die wertvollen Kommentare zu einem früheren Entwurf.

Yannis Hadjinicolaou

Synagonismus

Auf einer Zeichnung in brauner Feder aus dem Berliner Kupferstichkabinett ist ein junger, elegant gekleideter Mann zu erkennen, der sich aus einem „Schriftsockel“ erhebt (Bild 1). Der Jüngling blickt die Betrachter mit leicht geöffnetem Mund freundlich an und streckt ihnen mit seiner rechten Hand seinen Hut entgegen, was als Begrüßungsgeste gedeutet werden kann. Gleichzeitig weist er mit seiner linken Hand leicht auf seine Brust hin beziehungsweise mit seinem Daumen ebenfalls auf sich selbst (ein Schatten unterstreicht diesen Gestus). Durch die leichte Drehung des Kopfes ist das linke Ohr prominent vorgeschoben, als würde der Junge „ganz Ohr“ für die Reaktion seines Gegenüber sein. Der übrige Körper scheint von dem schweren Gewand, welches als sozialer Körper fungiert, gänzlich verhüllt zu sein. Die haptisch scharfe, ja skulpturale Ausarbeitung der Jünglingsfigur (das Blatt mutet wie ein Kupferstich an) wird explizit, und auch seine Gesten scheinen auf den ersten Blick verständlich. Die Verbindung von Bild und Schrift wirkt zunächst konventionell, wird jedoch durchbrochen, sobald sich die Aufmerksamkeit auf den Inhalt des Textes richtet.1 Der Jüngling im Bild sendet dem Betrachter Grüße und verweist 1

Der Text des Briefes lautet auf Deutsch: „Sehr guter Freund Herr Isebrant Willemsen. Hiermit schicke ich Ihnen meinen Knaben, der seines Zungenbandes beraubt ist, und der deshalb nicht in der Lage ist, Ihnen mitzuteilen, dass ich mich entschuldigen muss. Der Grund sind die Apostel, die verlangen, dass ich ohne Unterbrechung bei ihnen bleiben solle, denn sie wünschen, mich innerhalb eines Monats zu verlassen. Sie sind entschlossen, dann nach Frankfurt zu pilgern. Es dünkt mich, dass sie recht glücklich dran sind, ihre Reise im Sommer durchzuführen, denn sie haben kaum Schuhwerk an den Füßen. Wenn Sie schließlich, in meinem Knaben etwas sehen, was Ihnen gefällt, so können sie ihn gerne in Anspruch nehmen, er wird ohne Weigerung bereit sein, alles in seiner Macht stehende zu tun, was auch für seinen Herrn gilt, der sich hiermit bei Ihnen empfiehlt. Im Jahre 1592, am 3. März. Jaques de gheyn – was ich vermag“. Vgl. den holländischen Text: „Seer goeden vrint Hr. Isebrant Willemsen. Ick sende u-liefen hier mijnen Jongen den welken is vergeten vande tongeriem tesnijden oversulckx gans ombequam u-liefen te botschappen dat ick wel van u-liefen desen dach soot tepasse quaem wilde versocht wesen ende dat hier om dat die Apostelen

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Yannis Hadjinicolaou

zugleich auf sich selbst hin, weil er innerhalb der Kommunikation zwischen Künstler (de Gheyn) und Auftraggeber beziehungsweise Freund (Willemsen) als Stellvertreter und Bote dient. Der reale, stumme Bote soll ja durch sein eigenes Porträt auf dem Brief für Willemsen identifizierbar und „ausweisbar“ sein. Gleichzeitig geht es um die Abwesenheit de Gheyns, die durch die zeichnerische sowie schriftliche Geste in einem substitutiven Akt ersetzt wird. Das performative Ausfalten des Briefes, nachdem ihn der Porträtierte als Bote an Willemsen gegeben hat, ist gefolgt vom lauten oder stillen Lesen und gleichzeitigem Abgleich zwischen Bild und realem Mensch, der sich gestisch, sowohl real als auch bildlich, „zu Diensten stellt“. Das „Sehen in“ und „Sehen als“ im Sinne Wollheims beziehungsweise die „Ikonische Differenz“ Boehms werden in dieser Polarität (oder gar Dreiheit) beziehungsweise im Schrift, Sprech- und Bildakt ( Bildakt) simultan angesprochen. Aus der motorischen und habituellen Bewegung der Hand werden Bild und Schrift als Schriftbild gleichsam bravourös verbunden. Der Beginn des Briefes mit der S-Linie, die gestisch in Richtung Porträt weist und mit dem Buchstaben S des „Seer goeden vriend“ ansetzt, spricht die Thematik der Schriftbildlichkeit sowie die Rolle der Schlangenlinie (als Schönheitslinie) direkt an. Die Handlung des Bildes stimmt mit de Gheyns Abwesenheit überein, die sich stattdessen in der Anwesenheit und Kraft der Form manifestiert, die dem Betrachter entgegenkommt. In dem Übergang der Schrift zum Bild wird deutlich, dass die Erstere nach dem Porträt des Jungen entstanden ist. Die Zeichnung setzte diese als Erklärung voraus, was jedoch nicht im Sinne eines Paragone verstanden werden soll. Die fruchtbare Interaktion zwischen Bild und Sprache im situativen, ja pragmatischen Bereich der spezifischen Handlungen sollte als eine Form von „Synagonismus“ gesehen werden. Es sind zwar getrennte Interaktionen beziehungsweise Gesten mit der Welt, das vollgültige Wissen aber entfaltet sich nur im Bezug aufeinander.2 Die Zeichnung Jacques de Gheyns ist ein idealer Kulminationspunkt der Geste als Verbindungslinie zwischen Bild und Sprache. Durch die körperliche articulatio ( Symbolische Artikulation) des Künstlers

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begeren dat ick gestadich bij haer soude blijven overmits sij binnen een maent willen van mijn scheyden ende alsdan haren foye met een eerlyck bancket besetten het welcke wijt, haer heerschap spruyt, ten borse sal worden betaelt, dewijl sij al t Jaer bij mij vertert hebben, ende sijn alsdan geresolveert soo mij, donckt In pelgrimagie naer frankfoert tereysen. Mijn dunckt sij welgeluckich sijn dat haer s reijsen In den somer comt want sij nau een schoen anden voet en hebben. vorder goeden vrint Isebrant willemsen soo u-liefen In desen mijnen Jongen iet siet het gene u-liefen behaecht macht den selven houden hij sal hem In alles laten gebruijken het geene In sijnder macht is sonder daer iet tegen te seggen gelijck ook sijnen mester die u-liefen hier meden den heer bevelt. Ano 1592-3 mert Jaques de gheyn wat ick vermach“. Vgl. Ausst. Kat.: Aus Rembrandts Zeit. Zeichenkunst in Hollands Goldenem Jahrhundert, hg. v. Holm Bevers, Leipzig 2011, S. 21. Der Text bildet außerdem den Unterkörper, die Beine des sprachlosen Jungen, wodurch er buchstäblich und metaphorisch als Bilderfahrzeug wandern kann.

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Synagonismus

Bild 1  Jacob de Gheyn: Bildnis eines jungen Mannes in Halbfigur und Brief an Isebrant Willemsen, signiert, 1592, Feder in Braun über Vorzeichnung mit Rötel, 27,2 × 22,8 cm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett.

sowie durch die gestische Anwesenheit der Figur werden Körperschema und Körperschriftbild zu einem janusköpfigen Gebilde. Das Phänomen Paragone als zunächst kunsttheoretisches, humanistisches Konstrukt (der Begriff wurde durch Benedetto Varchis Vortrag im Jahre 1547 bekannt) reflektiert nur unzureichend die Kollaboration zwischen den Künstlern und den Künsten, die eigentlich auf das Gestalten von Bildern rekurriert (vom tatsächlichen sozialen und ökonomischen Kampf zwischen den Künstlern um die Anerkennung

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der jeweils praktizierten techne ganz zu schweigen). Diese Art Wettbewerb war nicht von antagonistischer sondern vielmehr von synagonistischer Natur.3 Gleichwohl übernehmen Kunsthistoriker/innen bis heute diese theoretisierten Formen künstlerischen Schaffens („Raffael ohne Hände“), wobei die verselbständigte Debattenkultur eher einem intellektuellen Spiel gleicht, als tatsächlich an die künstlerische Praxis rückgebunden werden zu können. Viele derjenigen Künstler, die an der Debatte Varchis schriftlich teilnahmen, passten sich dieser „humanistischen“ Rhetorik an und „vergaßen“ hierbei ihr eigenes Hand- und somit Denkwerk. Dabei wurden die jeweiligen Defizite der einen Gattung (beispielsweise der Skulptur) gegenüber der anderen (beispielsweise der Malerei) herausgestellt,4 dieselben Argumente werden im nächsten Augenblick jedoch umgekehrt. Der Neologismus Synagonismus (griechisch: συναγωνισμός, das Zusammenwirken) referiert auf einen Kampf, einen Agon, aber in einem produktiven Sinne.5 Das zusätzliche Syn bezeichnet ein surplus, einen fair play-Agon, oder wie es im Griechischen heißt: εὖ ἀγωνίζεσθαι (ein produktives Kämpfen). Es ist bezeichnend, dass auf Deutsch oder Englisch nur die antithetische Bezeichnung des Antagonismus existiert und nicht der Begriff des Synagonismus. Der Begriff „Mitstreit“6 im Deutschen kommt dem am nächsten, was hier gemeint ist, im Sinne des Lateinischen conpetere. Mit compete im Englischen oder mit combattre im Französischen wird diese Dimension weniger unterstrichen.7 Der Begriff der Synergie scheint zunächst auch eine geeignete Bezeichnung beziehungsweise ein Synonym des Phänomens des Synagonismus zu sein.8 Der Unterschied zwischen Synergie und Synagonismus besteht jedoch darin, dass der

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Der Verfasser leitet zusammen mit Joris van Gastel und Markus Rath ab Juni 2017 für drei Jahre das von der DFG finanzierte wissenschaftliche Netzwerk „Synagonismus in den bildenden Künsten“, angesiedelt an der Humboldt Universität zu Berlin. Einige Überlegungen sind aus dem Antrag entnommen. Vgl. auch Yannis Hadjinicolaou: Synagonism in Dordrecht. Arent de Gelder’s Handeling and His Network of Friends, in: Wallraf–Richartz–Jahrbuch 77 (2016), S. 221–236. Ähnliches ließe sich über das Verhältnis von Bild und Sprache anführen, wie das Beispiel von Lessings Laokoon zeigt. Vgl. Jürgen Trabant: Language and Image as Gesture and Articulation, in: Sabine Marienberg (Hg.): Symbolic Articulation. Image, Word, and Body between Action and Schema (Image Word Action 4), Berlin 2017. Für den Versuch, eine Theorie des Synagonismus aus sozialphilosophischer Perspektive zu unternehmen, siehe Nathalie Karagiannis und Peter Wagner: Towards a Theory of Synagonism, in: The Journal of Political Philosophy 13/3 (2005), S. 235–262. Joris van Gastel/Yannis Hadjinicolaou/Markus Rath (Hg.): Paragone als Mitstreit (Actus et Imago 11), Berlin 2014. Auch wenn sie ursprünglich gewiss von conpetere stammen. Tatjana Petzer/Stefan Steiner (Hg.): Synergie. Kultur und Wissensgeschichte einer Denkfigur, Paderborn 2016.

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Synagonismus

Bild 2  Anish Kapoor: Internal Object in Three Parts, 2013–2015, Silikon und Harz, Anish Kapoor und London, Lisson Gallery.

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Yannis Hadjinicolaou

Synagonismus auch das Prinzip des Agons gleichermaßen enthält und dadurch eine produktive Spannung zu syn erzeugt. Liddell and Scott (1889) erwähnen in ihrem Greek-English Lexicon das altgriechische Verb ynagwnizomai mit folgenden Bedeutungen „a) to contend along with, to share in a contest, b) to help c) to fight on the same side“.9 Das sind bereits einige Bedeutungen, die für den Begriff des Synagonismus in der Antike gängig waren (zum Beispiel im Peloponnesischen Krieg von Thukydides spielt er eine prominente Rolle) und somit auch eine historische Basis bieten, unter der sich heute der Begriff des Synagonismus entfalten kann. Weniger das konkurrierende als vielmehr das sich ergänzende Zusammenspiel lässt sich unter dem Begriff des Synagonismus erforschen. Synagonismus beschreibt das interaktive, reziproke Miteinander von unterschiedlichen Kräfteverhältnissen, Gattungsausprägungen und künstlerischen Darstellungsweisen, aber auch die grenz- und raumüberschreitende künstlerische Zusammenarbeit etwa in Form von Künstlernetzwerken und Gilden. Als (kunst- und kultur-)wissenschaftlicher Neologismus muss er diskutiert und erprobt werden, auch um für einen neuen Kulturbegriff zu sensibilisieren, der in einen „Mitstreit“ mit den Modellen der Konkurrenz, der Überwindung und des Ausschlusses treten kann. Als Gegenpart zum „Antagonismus“ steht „Synagonismus“ für eine weniger scharfe Trennung zwischen den Künsten und damit auch der Gattungen. „Synagonismus“ kann insofern als jene Ergänzung zum Paragone-Begriff dienen, die das Zusammenspiel künstlerischer Prozesse umschreibt. Synagonismus bedeutet damit ein gemeinsames Schaffen von unterschiedlichen Kräften. Im November 2015 eröffnete im zentralen Bau der Ehregalerij des Amsterdamer Rijksmuseums eine kleine Ausstellung in Form einer Gegenüberstellung. Drei Werke von Anish Kapoor wurden ausgerechnet gegenüber Rembrandts späten Bildern (wie zum Beispiel die Staalmeesters) platziert. Kapoors Bilder sehen wie aufgetürmte Fleischmassen aus (sie bestehen vornehmlich aus Schichten von rotem und weißem Harz und Silikon; Bild 2). Kapoor greift somit Rembrandt auf zweierlei Weise auf und zwar sowohl motivisch wie auch materiell: Einerseits in Hinblick auf den bekannten Geschlachteten Ochsen des Holländers, wo die Malerei als ein fühlbarer geradezu körperlicher Prozess wirkt, und andererseits, bezüglich der charakteristischen, pastosen Farbigkeit Rembrandts, wie sie sich beispielsweise im Staalmeesters-Bild manifestiert. Somit knüpft er an einen Topos an, mit dem Rembrandt bereits im 17. und frühen 18. Jh. verbunden wurde, nämlich an die performative Kraft seines Kolorits, das wie eine skulpturale, dreidimensionale Substanz wahrgenommen wird, die Visus und Tactus gleichsam anspricht. Kapoor beschrieb sich selbst in einem Interview für Art Monthly im Mai 1990 wie folgt: „I think I am a 9

Liddell and Scott: An Intermediate Greek-English Lexicon, New York 1889, S. 766.

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Synagonismus

Bild 3  Kölnisch, um 1425/30 (Westfälische Werkstatt in Köln?): Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes, Eichenholz mit plastisch aufgesetzten Köpfen, Köln, Wallraf Richartz Museum.

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Yannis Hadjinicolaou

painter who is a sculptor […] For me the two things have somehow come together, so that I am making physical things that are all about somewhere else, about illusory space.“ Konkurrenz wird nunmehr nicht als Trennungsbestrebung oder erzwungene Distinktion bestimmt, sondern als produktive Kraft, welche die Künste im und durch den Vergleich und Austausch herausfordert, um beidseitig fruchtbar zu werden. Der Synagonismus setzt voraus, dass die schablonenhafte Zuordnung von Gattungen auf einzelne Sinne – beispielsweise Visus-Bild, Tactus-Skulptur – aufgebrochen wird. Indem zum Beispiel Malerei bildhauerische Elemente aufnimmt und Skulptur malerisch wird, werden Fragen nach der Intersensorialität von Bildern sowie dem Verhältnis Körper-Bild virulent.10 So wird durch das synagonistische Potential die Lebendigkeit noch verstärkt. Genau das geschieht in einem Kölner Werk um 1425/30 aus dem Wallraf Richartz Museum (Köln), das Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes darstellt (Bild 3). Vor allem von der Seite aus gesehen entfaltet sich die materielle Beschaffenheit des Eichenholzträgers, auf dem plastisch aufgesetzte Köpfe zu sehen sind, deren Dreidimensionalität die emotionale Bewegtheit und somit Lebendigkeit der Szene prägen. Der Kopf von Johannes ist noch dazu leicht gedreht, wie auch derjenige Jesu. Die schwebenden, beinahe arabesk anmutenden Schriftrollen flankieren jeweils den Körper Christi und seine Wunden (die Hände ausgenommen). Zu seinen Füßen sind die Auftraggeber platziert, als knieten sie vor einer ChristusSkulptur. So nehmen sie, während sie sich im selben, durch den Holzträger definierten Raum befinden, gleichzeitig auf einer zweiten, beinahe imaginären Ebene am Geschehen teil. Dadurch werden aber auch die Diskrepanzen und Brüche dieser artifiziell entstandenen Lebendigkeit unterstrichen, was dann einen erneuten, noch allgemeineren Synagonismus der dialektischen Kräfte und Interaktionen erschafft und somit als dynamischer und nicht statischer Prozess zu begreifen ist. Bei der synchronen Zusammenarbeit und dem diachronen Zusammenspiel stellt sich immer auch die allgemeine Frage nach Interdisziplinarität für die Lösung gemeinsamer Probleme bei gleichzeitiger Beibehaltung der jeweiligen disziplinären Perspektive. Letztlich ist die Frage nach der (idealen) Interdisziplinarität nichts anderes als der Synagonismus von unterschiedlichen Disziplinen rund um ein spezifisches Problem, das dann die eigene Disziplin durch neue Impulse befruchten kann. Dabei ist dem Geflecht zwischen Produzenten und Rezipienten nachzugehen, und zwar nicht nur innerhalb der bildenden Künste, sondern auch in Bezug auf die 10

Der aus den 80er Jahren stammende Begriff der Intermedialität weist Parallelen zum Phäno­ men des Synagonismus auf, dennoch bleibt er im „Medium“ verhaftet und weist nicht die produktive Spannung eines gemeinsamen Kampfes auf.

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Synagonismus

Künste im Allgemeinen oder gar zwischen Bild und Sprache (wie im Fall de Gheyns), Bild und Ton ( Akusmatische Extension), oder Körper und Geist oder – noch allgemeiner – zwischen Natur und Kultur. Dadurch lässt sich von Interdisziplinarität als einen epistemisch synagonistisches Laboratorium sprechen, in dem einerseits das Zusammenspiel, andererseits die gleichzeitige Reflexion der oft paradoxalen Dialektik der unterschiedlichen gemeinsam wirkenden Kräfte adäquat nachvollzogen werden kann. Der Synagonismus verbindet somit mehrere unterschiedliche oder gar gegenläufige Kräfte beziehungsweise Bereiche, die ein ähnliches Ziel oder Interesse haben, sich aber doch mit unterschiedlichen Mitteln oder aus verschiedenen Perspektiven her diesem annähern. Die Differenzen zwischen diesen interagierenden Akteuren stehen zwar außer Zweifel, die Gemeinsamkeiten und Schnittmengen treten jedoch deutlich hervor. Die Interessen hinter den verschiedenen Perspektiven können dermaßen auseinandergehen, dass nur der Polemos eine treffende Beschreibung dieser Interaktionen sein kann und sie möglicherweise bis zum Ende mitbestimmt. Die Mittel aber, mit denen diese Auseinandersetzung ausgeführt wird, können starke Ähnlichkeiten aufweisen, die dann sogar ein produktives syn der polemischen Auseinandersetzung hinzufügen. Diese Kräfte können von einer produktions- oder einer medial-bedingten bis hin zu einer sozialen, rezeptionshistorischen und ökonomischen Ebene reichen. Für den Synagonismus zu sensibilisieren heißt weder, dass Konflikte oder Differenzen geglättet oder sogar eliminiert werden, sondern heißt vielmehr, dass die Dialektik, die nicht per se aufgehoben wird, einen Rahmen definiert, in dem parallel zu den kämpferischen Auseinandersetzungen genauso kämpferisch gemeinsame Unternehmungen stattfinden und ihr produktives Potential entfalten.

Wolfram Hogrebe

Szenische Ikonologie Das Berliner Paradigma

Der Ausdruck „Szene“ stammt aus dem Griechischen. Der Terminus skene (σκηνή), verwandt mit skia (σκιά, Schatten), bedeutet hier als „Schattenraum“ ursprünglich Zelt, Hütte, Bühne. Prominent wurde der Ausdruck in der griechischen Theatersprache. In dieser Fokussierung ging der Ausdruck auch ins Lateinische über und bedeutet hier zunächst als scaena Bühne, Schauplatz, Öffentlichkeit, Publikum, Spiel. Schon im Lateinischen kam es zu einer weiteren Einengung. Scena, wie man jetzt schrieb, fungierte nicht mehr nur als Bezeichnung der Bühne, sondern geradezu als dramaturgischer Begriff.1 Szene bedeutet schon hier eine Einheit der Gesamthandlung, die ihrerseits als kunstvoll aufgebaute Szenenfolge, gruppiert um eine Schlüsselszene, verstanden wurde. Von hier aus kam es im Laufe der Zeit zu weiteren Übertragungen. Der Begriff des „Szenischen“, engl. scenic, eignet sich besonders, um kontextsensitive Prozesse zu erfassen. So unterschied Otto Ludwig (1813–1865) ein bloß referierendes von einem szenischen Erzählen, das heißt ein solches, bei dem der Erzähler den Adressaten wie zugleich sich, den Autor, mit einbezogen sein lässt. Dadurch gewinnt die Erzählung eine eigene Autonomie, „hier erzählt die Geschichte sozusagen sich selbst“.2 Der wirkungsmächtigste Durchbruch gelang jedoch erst dem Psychoanaly­tiker Alfred Lorenzer (1922–2002). Ähnlich wie Otto Ludwig erkannte er die eigentümliche Autonomie des Gesprächs zwischen Arzt und Patienten und führte hier den Ausdruck „szenisches Verstehen“ ein.3 Damit wollte er die therapeutische Verstehensleistung 1

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Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, § 1191. In diesem Sinne benutzt Julius Caesar Scaliger den Ausdruck scena als elementaren Teil einer Handlung (πρᾶξις). Otto Ludwig: Formen der Erzählung, in: ders.: Epische Studien (Werke in sechs Bänden, Bd. 6, hg. v. Adolf Bartels), Leipzig 1908, S. 437. Hierzu s. a. Oskar Walzel, Das Wortkunstwerk, Leipzig 1926, repr. Darmstadt 1968, S. 198ff., S. 223ff. Alfred Lorenzer: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1973.

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Wolfram Hogrebe

von einem bloß hermeneutisch gefassten literarischen Textverstehen abheben. Die Analyse reicht in vorsprachliche Zonen und gewinnt so den Status einer „Tiefenhermeneutik“. Denn der Analytiker „muß sich aufs Spiel mit dem Patienten einlassen, und das heißt, er muß selbst die Bühne betreten. Er nimmt real am Spiel teil.“4 Die eigentümliche Autonomie des analytischen Gesprächs, die schon Otto Ludwig als spezielle Erzählform erkannte, wird hier zum Kandidaten einer neuen Realität des Verstehens, die das alte Konzept eines objektiven Geistes beerbt.5 Kein Wunder, dass sich an dieses Konzept weitere Übernahmen anschlossen. Nachdem sich erwiesen hatte, dass der seit Erwin Panofsky (1892–1968) überkommene Begriff einer Ikonographie beziehungsweise Ikonologie hermeneutisch gleichsam zu „zahm“ war, schärfte Martin Warnke diese deutende Tradition durch die Etablierung einer „politischen Ikonologie“. So fruchtbar sich diese Zuspitzung erwies, sie hatte auch ihren Preis. Denn durch diese thematische Fokussierung war der Schritt zu einer universal konzipierten Kunst- oder Bildwissenschaft verbaut. Diesen universalisierenden Schritt vollzog Horst Bredekamp.6 Er erkannte, dass eine szenische Einbettung jeder Bildproduktion erstens horizontal offen gehalten werden muss. Nicht nur politische Nester der Bildgestaltung galt es zu klären, sondern auch naturwissenschaftliche, technische und paläologische. Ferner galt es zweitens die vertikale Dimension der Bildproduktion auszuloten. Dem kam der Diskurs „Was ist ein Bild?“, den Gottfried Boehm7 und Hans Belting8 als iconic turn angestoßen hatten, entgegen. Schon Boehm hatte die Tiefendimension von Bildgestaltungen in dem, was er „ikonische Differenz“ nannte, gegründet. Intendens und Intentum sind eine prismatische Differenz, die im Bild zusammen auftritt.9

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Alfred Lorenzer: Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten, Kulturanalysen, Bd. I, hg. v. Ulrike Prokop, Marburg 2006, S. 34; s.a. den kurz vor seinem Tod erschienen Band: Alfred Lorenzer: Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaft, hg. v. Ulrike Prokop/Bernhard Görlich, Stuttgart 2002. S.a. Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009. Siehe zur Rehabilitierung des Szenischen im Anschluss an Lorenzer auch die gründliche Sammelbesprechung von Michael B. Buchholz in: Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psycho-News-Letter 78/Januar (2010). Einen Überblick über die universalisierenden Ausgriffe von Horst Bredekamp bis 2006 findet sich in: Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, Nachwort: Qual der Bilder, S. 368ff. Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen – Die Macht des Zeigens, Berlin 2007; ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994. Hans Belting: An Anthropology of Images. Picture, Medium, Body. Princeton 2014. S. a. William John Thomas Mitchell: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005.

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Szenische Ikonologie

Hier ging Horst Bredekamp im Austausch mit John Michael Krois (1943–2010) noch weiter. Bislang hatte man die eigentümliche Wirkungsweise von Bildern und Artefakten meist in subjektiven Formaten nach Art eines piktorialen Impressionismus zu fassen versucht. Was einwirkt, das beeindruckt, betört, verschlägt den Atem, fasziniert oder stößt ab. Was unterblieb, war die Kennzeichnung dieser Wirkeffekte als Eigenaktivität der Bilder. Dem trug erst das Konzept des „Bildakts“ Rechnung, das Horst Bredekamp 2010 vorlegte und seither unter Einbeziehung seiner Berliner Forschergruppe weiter ausgebaut hat ( Bildakt).10 Genau genommen geht es hier um eine universalisierte szenische Ikonologie, die den kontextsensitiven Status von Bildern in alle Dimensionen ausschöpfend analysiert: „Bilder sind keine Abbilder, sondern erzeugen im Bildakt, was sie darstellen.“11 In Bildern zuerst fängt sich die szenische Existenz des Menschen. Eine vertiefte Analyse dieser szenischen Eigenaktivität eröffnet auch einen Zugang zur Resonanznatur des menschlichen Geistes ( Motorische Resonanz) und leistet so „einen Beitrag zum Verständnis des menschlichen Reflexionsvermögens, das sich in ikonischen wie sprachlichen Formen und Interaktionen verkörpert.“12 Damit wurde es auch möglich, im szenischen Konzept dieser universalisierten Kunstgeschichte die Intentionen von Aby Warburg und seiner Schule zu integrieren und auf neue Weise fruchtbar zu machen.13 Dass diese universalistische Konzeption einer szenischen Ikonologie sogar einer enzyklopädischen Visualisierung zugänglich ist, bewies die Ausstellung des Exzellenzclusters Bild Wissen Gestaltung der Humboldt-Universität zu Berlin +ultra. gestaltung schafft wissen vom 30. September 2016 bis zum 8. Januar 2017 im MartinGropius-Bau. Insbesondere verdeutlichte diese Ausstellung auch die theoretischen Potentiale, denen sich ganz neue, zugleich visuelle und konzeptuelle, also noch gar nicht recht greifbare Formate wissenschaftlicher Analyse tastend ablesen lassen. Diese epistemischen Muster verdanken sich nicht mehr bloß abbildenden und entschlüsselnden Funktionen, sondern folgen einem generativen Wissensverständnis: „Gestaltung ist ein Weg, die Welt zu interpretieren, und ihre Interpretation ist gebo-

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Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen, Berlin 2010. Zum weiteren Ausbau s. a. die von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant seit 2010 herausgegebene Schriftenreihe Actus et Imago. Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie, die, inzwischen in über 20 Bänden, das Forschungsprogramm umfassend realisiert. So lautet der erste Satz der Reihenbeschreibung Actus et Imago, unter: https://www.degruyter.com/view/serial/235015 (25. 05. 2017). Das ist der letzte Satz der genannten Reihenbeschreibung, ebd. Sabine Marienberg/Jürgen Trabant (Hg.): Bildakt at the Warburg Institute (Actus et Imago 12), Berlin 2014. Auch in der Reihe Handapparat hat Pablo Schneider wichtige Arbeiten von Fritz Saxl wieder zugänglich gemacht, so z. B. in: Gebärde, Form, Ausdruck. Fritz Saxl. Zwei Untersuchungen, vorgestellt von Pablo Schneider, Zürich 2012.

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ten, um sie gestalten zu können.“14 Hier wird im Zusammenspiel von Kunstgeschichte, Nanotechnologie, Physik, Biologie, Materialwissenschaften, Active-Matter-Forschung, Architektur, Design etc. ein Tableau präsentiert, in dem sich mehr eine Zukunft des Fragens als eine Vergangenheit von Antworten manifestiert. Bredekamp macht in seinem Beitrag im Katalog15 zu dieser Ausstellung erneut auf den bislang häufig ignorierten Tatbestand aufmerksam, dass schon Charles Darwin sein Verständnis des evolutionären Prozesses keineswegs nur an dem Modell gewinnmaximierenden Wirtschaftens (survival of the fittest) orientierte, wie später Herbert Spencer exklusiv, sondern ebenso am Modell einer Schönheit (beauty), die sich in selektiv vorteilhaften Formbildungen dokumentiert und diese Formbildungen zugleich dirigiert.16 Schönheit wird für Darwin in seinem zweiten Hauptwerk The Descent of Man (1871) in der Tat ein zweites Prinzip der Evolution. Diesem verdanken wir die sonst unfassbaren Schönheiten der Natur. Das Paradigma einer szenischen Ikonologie erhält auf diese Weise auch einen biologischen Unterbau, der den Gedanken nicht abwegig erscheinen lässt, dass wir hier einem szenischen Zusammenhang auf der Spur sind, wie er sich in allen kreativen Zonen wiederfindet, vom Kosmos bis zum Gedanken. Vielleicht könnte man vor diesem Hintergrund sogar einen offenen (ἀόριστος) Monismus als ein ausbleibendes Versprechen erwägen, in dem Bild und Sein zusammenfallen. Auf diese Perspektive berechnet, schlüge das Forschungsparadigma einer szenischen Ikonologie in eine szenische Metaphysik um,17 die ihre Einbettungsvergangenheit im visuellen Raum allerdings nicht vergessen darf, ja wegen unserer Liebe zu den Wahrnehmungen (ἡ τῶν αἰσθήσεων ἀγάπησις) eigentlich auch nie kann, wie Aristoteles schon am Anfang seiner Metaphysik einschärft.18 Deshalb leben wir szenisch. Das ist zugleich die geheime Botschaft aller Bilder und Artefakte. Allerdings geht eine nähere Spezifikation des Szenischen über bildliche Verhältnisse noch hinaus. Immer geht es um das Korrelat von Geist und Welt.19 Schon die materielle Spur kann ausschließlich im Rahmen einer solchen Korrelation zum Zeichen, zum Symbol, zum Bild werden. Zeichenhaftigkeit und Bildlichkeit genügen somit vielleicht als Dokument dieser Korrelation, aber garantieren sie nicht.

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Nikola Doll: Einleitung, in: Ausst. Kat.: +ultra. gestaltung schafft wissen, hg. v. Nikola Doll/ Horst Bredekamp/Wolfgang Schäffner, Martin-Gropius-Bau, Berlin 2016, S. 11–15, S. 15. Horst Bredekamp: Bildaktive Gestaltungsformen von Tier und Mensch, in: Ausst. Kat.: +ultra. gestaltung schafft wissen (wie Anm. 14), S. 17–25. Ebd., S. 17ff. S. a. Wolfram Hogrebe: Metaphysische Einflüsterungen, Frankfurt/M. 2017. Met. 980a; s. a. zur Thematik zuletzt Stephan Herzberg: Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles, Berlin/New York 2011. S. a. Franz Engel/Sabine Marienberg (Hg.): Das Entgegenkommende Denken. Verstehen zwischen Form und Empfindung (Actus et Imago 15), Berlin/Boston 2016.

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Szenische Ikonologie

Bildlichkeit gibt der Hand im Spielraum einer sowohl fantasiegesteuerten als auch wissensgenerierenden Gestaltung das Monopol anheim,20 diese empfängliche Korrelation zu bezeugen. Diese muss aber zwingend schon vorher bestehen, um gestaltend beglaubigt werden zu können. Hier greift schon Aristoteles wesentlich tiefer. Die wahrheitsfähige Architektur intelligenter Wesen gibt es ihm zufolge nur deshalb, weil sie über ein Organ verfügt, für diese Korrelation sensibel zu sein. Noch härter: Anders als in dieser Sensibilität existiert diese Korrelation gar nicht.21 Aristoteles hat dieses merkwürdige Verhältnis daher ebenso präzise wie poetisch so ausgedrückt: „Mit dem Wahren singt alles Zugrundeliegende mit (τῷ … ἀληθεῖ πάντα συνᾴδει τὰ ὑπάρχοντα).“22 Wie müssen wir hier das „Zugrundliegende“ denken, wenn es „mitsingen“ können soll, jedenfalls dann, wenn es um Wahres geht? Das Zugrundliegende ist etwas Substanzielles, bei Aristoteles sind es die substanziellen Formen. Bei Leibniz, der sie wieder aufnimmt, sind sie gerade das, was im Bezug der Dingformen zu unserer Seele existiert, im „rapport aux âmes“.23 Nur wenn dieser Bezug gesichert ist, gibt es Gegenstandsbezüge, gibt es Referenz. Im Klartext: Nur wenn es die substanziellen Formen gibt, gibt es auch einen Gesang der Welt mit uns. Und dieser Gesang ist die Art des Gegebenseins der Korrelation von Geist und Welt, der adaequatio rei et intellectus. Der denkenden Hand treten ein denkendes Auge und ein denkendes Ohr zur Seite. Es gibt kein Monopol der Hand, des Auges oder des Ohres. Unsere synästhetische Gesamtwitterung sichert uns den mantischen Vorsprung vor einer erst dadurch symbolischen Faktizität, auf deren Boden wir dann auch wahrheitsfähig werden. In gewisser Weise tasten wir schon, bevor wir ergreifen, sehen wir schon, bevor wir erblicken, hören wir schon, bevor wir registrieren. Dieses synästhetische Vorab trägt das Apriori, das Kant fälschlicherweise noch einer speziellen Satzklasse vindizieren wollte. Hier hilft aber auch nicht eine Kausaltheorie der Referenz, denn distinkte Ursachen kommen einfach zu spät. So ist Wahrheit nach aristotelischer Auffassung an der Basis auch ein musikalisches Phänomen, der Gesang der Tatsachen mit unseren Sätzen, wenn wahr. Kriterium der Wahrheit ist immer ein Einklang. Und solche synästhetischen Ein20

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S. a. Horst Bredekamp: Galileis denkende Hand. Form und Forschung um 1600, Berlin/München/Boston 2015; Yannis Hadjinicolaou: Denkende Körper – Formende Hände (Actus et Imago 18, hg. v. Horst Bredekamp/Jürgen Trabant), Berlin/Boston 2016. Quentin Meillassoux hat den Korrelationismus einer robusten Kritik unterzogen. Er allein hat das Sensibilitätsfenster, das diese Korrelation fundiert, nicht bemerkt. S. a. ders.: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, dt. von Roland Frommel, Zürich/Berlin 2008; Original: ders.: Après la finitude, Paris 2006. Eth. Nic. 1098 b. S. a. Hogrebe: Metaphysische Einflüsterungen (wie Anm. 17), S. 103 ff.

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klänge sind die Essenz des Szenischen. Aus dem Szenischen können wir jedenfalls nicht heraus, wenn anders wir unsere Wahrheitsfähigkeit nicht preisgeben wollen. Das Szenische ist das lumen naturale des Menschen, das sein offenes Gegenwärtigsein ermöglicht. Präsenz ist Anklang. Man könnte sagen: In dieser Perspektive handelt es sich um die Geburt der Wahrheit aus dem Geiste der Musik. Das gibt es nicht einmal bei Nietzsche. Auch zu solchen Erweiterungen lädt das Berliner Paradigma ein. Vielleicht nur con umore sardonico.

Herman Roodenburg

Tränen

Ausgangspunkt dieses – ziemlich weinerlichen – Beitrags sind zwei berühmte Mi­ni­a­turen im Stundenbuch der Maria von Burgund (ca. 1475–1479). Das erste Bild zeigt die Auftraggeberin sitzend auf ihrem Gebetsstuhl. Sie ist versunken in ihrem eigenen Stundenbuch, in einem Gebetstext zu Maria. Auch ist sie umgeben von Objekten, darunter eine kostbare goldene Kette und ein bereitliegendes goldgesticktes Gebetskissen. Im zweiten Bild sind nur noch Objekte zu sehen, obgleich die Mulden im Gebetskissen (das gleiche wie im ersten Bild) verraten, dass sie kurz davor noch verwendet wurden. Im Vordergrund liegt wieder das Stundenbuch, aufgeschlagen ist ein Gebetstext und eine Miniatur zur Kreuzigung. Auf dem Kissen ist zudem ein Rosenkranz zurückgelassen worden. Daran befestigt ist eine fein geschnitzte Gebetsnuss, die zweifellos eine minutiöse Kreuzigungsszene enthält. Neu an beiden Miniaturen war die gleichzeitige Wiedergabe einer körperlichmateriellen Wirklichkeit, die tägliche Praxis des Betens und Meditierens, und einer in dieser Andachtspraxis imaginierten Wirklichkeit – die Anbetungs- und Kreuzigungsszenen, sichtbar im Hintergrund durch das offene Fenster. Maria von Burgund ist sogar in situ anwesend. Sie hat sich in ihrer Imagination in beide Szenen versetzt. Die Miniaturen bieten tatsächlich eine Darstellung der damaligen religiösen Imagination. Zugleich demonstrieren beide Bilder wie diese oft in Tränen getauchte geistliche Imagination im Tiefsten verankert war in einer breit gefassten Materialität von Körpern und Dingen.1 Auch die Sinne waren voll beteiligt. Das gilt für Marias Andachtspraxis, wie sie im dargestellten Rosenkranz evident wird. Hergestellt aus duftenden Materialien wie Amber, Rosenessenz oder Sandelholz, weckten die Perlen

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Zu dieser breit verstandenen Materialität, s. Caroline Walker Bynum: Christian Materiality, New York 2011. Maria von Burgund weint freilich nicht, wobei es sich vermutlich um eine Frage des Dekorums handelt, da es in den zeitgenössischen Triptychen auch keine weinenden Stifter gibt.

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Bild 1  Blatt aus dem Stundenbuch der Maria von Burgund, um 1477: Maria in der Kirche. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857, fol. 14v.

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Bild 2  Blatt aus dem Stundenbuch der Maria von Burgund, um 1477: Kreuzigung. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857, fol. 43v.

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die Assoziation mit der Süße Christi, wenn sie beim Beten und Meditieren berührt wurden. Dies gilt auch für die Beteiligung der Imagination. Die Kreuzigungsszene zeigt das grausame Nageln ans Kreuz. Maria schaut also nicht nur der Kreuzigung zu, sondern sie hört und fühlt das Geschehen. Sie fühlt sogar, wie, detailliert geschildert in den spätmittelalterlichen vitae Christi, Christus’ Sehnen platzten und rissen.2 Die dargestellte materielle Umwelt in beiden Miniaturen bildet je stille Kämmerlein mit all ihren Objekten. Sie zeigen eine Luxuswelt. Stundenbücher, Rosenkränze, Gebetsnüsse oder andere Glaubensobjekte gab es jedoch zuhauf und oft in ganz einfacher Gestalt. Sie alle stimulierten die Imagination der gemeinen Gläubigen und brachten diese dabei zum Weinen.3 Genauso wie diese Objekte wirkten die damaligen Andachtsgemälde und Andachtsskulpturen. Auch ihre sinnlich-affektive Kraft brachte die Frommen zum Weinen. Die Physiologie der Tränen ist eingehend untersucht worden. Nach Ansicht der Opthalmologie vergießen Menschen drei Arten von Tränen: Basale Tränen, welche die Hornhaut befeuchten, reinigen und schützen, reflektorische Tränen, die von äußeren Reizen wie Wind, Gerüchen oder Verletzungen verursacht werden, und emotionale Tränen reagierend auf emotionale Reize. Erzeugt in den Tränendrüsen verteilen sie sich durch Blinzeln über die Augenoberfläche und fließen dann sichtbar über die Wangen oder verborgen durch den Tränensack in die Nase. Viele tiefergreifende, soziale und historische Fragen, besonders Erforschungen nach den emotionalen Tränen und ihren Reizen, sind schwerer zu beantworten. Einige Bemerkungen lassen sich dennoch machen. Dass sich bei Tränen ein „Inneres“ und „Äußeres“ unterscheiden lässt, dass Betrachter den Tränen als indexikalischem Zeichen eine ganz andere Bedeutung beimessen, sogar von „falschen Tränen“ sprechen können, als die Person im Akt des Weinens selbst, ist seit der Antike vielmals betont worden. Ein hermeneutisches Vokabular, gestützt auf empathische Begriffen wie „Miterleben“ oder „Mitleid“ und moralische Deutungen wie „wahrhaftig“, „übertrieben“ oder „vorgespielt“, war immer Teil der Lacrimologie. Auch die intrigierende, mannigfaltige Rolle des Auges und damit die Einsicht, dass im weinenden Auge gleichsam Körper, Kognition und Emotion zusammenfließen, ist zumindest bis Descartes und kürzlich aufs neue von Philosophen, kritischen Neurowissenschaftlern und Kunst- und Kulturwissenschaftlern hervorgehoben worden. Das Weinen, so etwa Helmuth Plessner, ereigne sich an den Grenzen des menschlichen Verhal2

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Zur synästhetischen Andachtspraxis s. Reindert Falkenburg: Prayer Nuts Seen Through the ,Eyes of the Heart‘, in: Frits Scholten (Hg.): Small Wonders: Late Gothic Boxwood Micro-Carvings from the Low Countries, Amsterdam 2016, S. 106–144; vgl. zum Nageln ans Kreuz Herman Roodenburg: Empathy in the Making: Crafting the Believer’s Emotions in the Late Medieval Low Countries, in: BMGN-Low Countries Historical Review 129/2 (2014), S. 42–62. Victoria Reinburg: French Books of Hours: Making an Archive of Prayer, ca. 1400–1600, Cambridge 2011.

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tens.4 Eine ernstzunehmende Lacrimologie, einschließlich eine solche der Bilder, ist also eine phänomenologisch-hermeneutische Lacrimologie. Letztendlich entspringen alle emotionalen Tränen den historisch kontingenten Rückkopplungsprozessen, in denen Geist, Körper und eine soziale und materielle Umwelt fortwährend miteinander interagieren.5 In der Kunstgeschichte wurden Tränen bis vor kurzem nur spärlich untersucht. Zwei Ansätze fallen auf. Am meisten wurde bisher das bildlich dargestellte Weinen untersucht, die gezeichneten, gemalten, skulpturierten oder photographisch festgehaltenen Tränen vom hohen Mittelalter bis in die Moderne (Pablo Picasso, Man Ray) und sogar bis in die Gegenwart. Weniger erforscht wurden Tränen, die vor Bildern vergossen wurden, zuhause in der Privatsphäre (bei der privaten Andacht) oder in Kirchen und Museen, auch wenn keine Tränen, nicht einmal figurative Szenen dargestellt wurden. So haben etwa die abstrakten, trüben Leinwände in der Mark Rothko-Kapelle in Texas vielen Besuchern schon feuchte Augen beschert. Demgegenüber boten die Tränen der Marina Abramovich in ihrer MoMA-Performance „The Artist is Present“ eine zugleich ganz leibliche und ephemere Darstellung, erinnernd an weinende Maria-Skulpturen und ihren gerührten Verehrer.6 Beide lacrimologischen Ansätze – die Frage nach dem Weinen im Bild und jene nach dem Weinen vor dem Bild – sind jedoch selten zusammengebracht worden. Damit wurde die Frage des Bildakts – die Frage, wie es Bildern, dem bildlichen Teil der materiellen Umwelt, überhaupt gelingt, ihren Betrachter, Berührer oder Hörer zum Weinen zu bringen (St. Franziskus sah und hörte das San Damiano Kruzifix) – auch kaum beachtet. Woher entlehnen diese „toten“ Objekte ihre Lebendigkeit, ihre enargeia? Genauer formuliert: In welcher Weise interagiert diese rührende Kraft der Bilder, diese immanente Latenz oder Gibsonsche affordance, mit dem jeweiligen Habitus und sozialen Praktiken ihres Gegenübers? Durchweg fehlt beiden Ansätzen eine Bredekamp’sche, bildaktive Phänomenologie, ein Bestreben, sowohl die erregten als auch die ausgebildeten emotionalen Tränen in den pausenlosen

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Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens [1941], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VII, Frankfurt/M. 1982, S. 359–384. Vgl. Alva Noë: Out of Our Heads: Why You Are Not Your Brain, and Other Lessons from the Biology of Consciousness, New York 2009. Zu diesen Rückkopplungsprozessen und den Sinnen, s.a. David Howes: Hearing Scents, Tasting Sights: Toward a Cross-Cultural Multimodal Theory of Aesthetics, in: Francesca Bacci/David Melcher (Hg.): Art and the Senses, Oxford 2011, S. 161–182. Representativ für beide Ansätze sind Moshe Barasch: The Crying Face, in: Artibus et Historiae 8/15 (1987), S. 21–36; James Elkins: Pictures and Tears: A History of People Who Have Cried in Front of Paintings, New York/London 2001.

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Rückkopplungsprozessen zwischen Geist, Körper und Umwelt zu situieren.7 Schon Vergil besang die lacrimae rerum, die Tränen der Dinge.8 Die Frage nach dem Bildakt, nach der vermeintlichen Leblosigkeit und Tränen auslösenden Kraft von Bildern, ist allerdings keine einfache Frage. Sie lässt sich wohl am Besten untersuchen, wenn die Zeit des 15. Jahrhunderts, die Zeit der Maria von Burgund, und die frühe Neuzeit erkundet wird. Innerhalb dieses Zeitraumes werde ich zudem nur das devotionale Weinen in Betracht ziehen – das Weinen der katholischen und der protestantischen Gläubigen. In dieser Periode haben viele Autoren – Theologen, Ärzte, Philosophen und Kunsttheoretiker – schon eine erste Lacrimologie der Bilder umrissen. Ihrer Ansicht nach war das Weinen, besonders das devotionale Weinen, eine Befähigung, welche die Gläubigen nur durch anhaltende Praxis, durch tägliches Lesen, Beten und Meditieren und unterstützt von Objekten, Bilder inbegriffen, erwerben konnten: Weinen war ein Können. In einem englischen Manuskript, De arte lacrimandi, verfasst und mehrfach abgeschrieben um 1500, war es sogar Maria selbst, die tiefbetrübte Mutter Christi, die das Können beibrachte: „Therfor to wepe come lerne att me.“9 Viele der spätmittelalterlichen Gläubigen – Priester, Mönche, Nonnen, Halb-Laien und Laien – sehnten sich nach Tränen, besonders Tränen der Reue (Lat. contritio oder compunctio) und Tränen des Mitleids (compassio). Zugleich waren sie in Not, wenn die Tränen ausblieben, denn es war die Kognitivität der Tränen, die besser als alle Bücherweisheit, so Thomas à Kempis, die Präsenz Christi erkennbar und erfahrbar machte. Tränen des Mitleids dominierten die affektive Frömmigkeit des Mittelalters, die vor allem im 15. Jahrhundert fast allgemeine Zuwendung zum Leben und Leiden Christi. Sie wurde inspiriert von den schon in den vorhergehenden Jahrhunderten vielfach kopierten und in die Volkssprache übersetzten vitae Christi mit ihren zahlreichen ganz sinnlich-anschaulichen Details seines Leidens und Sterbens. Keineswegs als Ausdruck eines noch „kindlichen“ Gefühlslebens (Huizinga, Panofsky), vielmehr als eine gezielte teils antike, teils mittelalterliche Rhetorik der memoria, des so lebendig wie möglich „Vor-Augen-Stellens“, stimulierten diese vitae zahlreiche zeitgenössische Passionspredigten, Passionsspiele und – noch immer ergreifend

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Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Frankfurt/M. 2010; Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Utpictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208; zu affordances vgl. Alva Noë: Varieties of Presence, Cambridge 2012. Der Genitiv ist hier in zweierlei Hinsicht zu verstehen, als „Tränen um die Dinge“ und als „Tränen der Dinge“. Sandra McNamer: Affective Meditation and the Invention of Medieval Compassion, Philadelphia 2010, S. 127.

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in ihrer sinnlich-blutrünstigen Intensität – die vielen, meist nordeuropäischen Passionsgemälde und Passionsskulpturen. Autoren, Prediger, Maler und Bildhauer waren sich der rhetorischen Wirkung der enárgeia bewusst. Sie glaubten an ihre Potenz, die Frommen im wahrsten Sinne des Wortes in ihrer Seele und in ihrer Imagination zu bewegen. Sie alle führten die Grausamkeit, die an Christus begangen wurde, bis in die kleinsten, nie im Evangelium erwähnten Details, vor Augen. Die Gläubigen sollten sich doch mit allen ihren Sinnen in situ anwesend wähnen. Hinter dieser affektiven Rhetorik stand die weit akzeptierte Aristotelo-Galenische Zellen- oder Ventrikellehre, welche noch bis tief in die Frühmoderne die Ansichten von Ärzten, Theologen, Künstlern und Kunsttheoretikern prägte. Neben den fünf äußeren Sinnen unterschied die Lehre fünf innere Sinne, von denen der sensus communis, die imaginatio (oder phantasia) und die memoria am meisten erwähnt wurden. Die inneren Sinne gehörten zur „sensitiven“ Seele, welche verantwortlich war für das Wahrnemungsvermögen. Zugleich waren diese Sinne, eingebettet in Galenus’ drei Hohlräume oder Ventrikel des Gehirns, Teile des Leibes. Der sensus communis, der alle Sinneseindrücke koordinierte und vereinigte, und die imaginatio (das „innere Auge“) befanden sich im ersten Ventrikel unmittelbar hinter der Stirn. Zusammen und unterstützt von dem vis cogitativa und vis estimativa, situiert im zweiten Ventrikel und verantwortlich für ein erstes rationales Urteil, schufen sie die inneren Bilder der Seele, welche dann im dritten Ventrikel, in der memoria, aufbewahrt wurden. Dort konnten sie, unterstützt von all den äußeren Bildern, wie Miniaturen, Gemälde oder Skulpturen es sind, im Beten und Meditieren aufgespürt werden. Am Ende des ganzen Prozesses entstanden die richtigen oder unrichtigen Affekte, die das Herz berührten und die (richtigen oder unrichtigen) Tränen auslösten.10 Diese auch in der Frühmoderne noch breit akzeptierte Theorie erklärt zum Teil, wie die affektive Frömmigkeit des späten Mittelalters nicht irgendwo um 1500 halt machte, sondern noch lange fortgelebt hat, in kontra-reformatorischen und (pace Max Weber) verschiedenen protestantischen Varianten. Andere Sinne wurden angesprochen, und damit wurden auch andere Tränen vergossen (eher Tränen der Reue über die eigenen Sünden als Tränen des Mitleids mit dem leidenden Christus). Auch Rembrandt verstand sich in affektiver Rhetorik und er verstand die enárgeia.11 10

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Julie R. Solomon: You’ve Got to Have Soul: Understanding the Passions in Early Modern Culture, in: Stephen Pender/Nancy S. Struever (Hg.): Rhetoric and Medicine in Early Modern Europe, Farnham 2012, S. 195–228; Elena Carrera: Anger and the Mind-Body Connection in Medieval and Early Modern Medicine, in: Elena Carrera (Hg.): Emotions and Health 1200– 1700, Leiden/Boston, MA 2013, S. 112–128. Vgl. zu dieser affektiv-rhetorischen Kontinuität Herman Roodenburg: The Body in the Refor­ mations, in: Ulinka Rublack (Hg.): The Oxford Handbook of Protestant Reformations, Oxford 2016, S. 643–666.

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Herman Roodenburg

Der gleiche Aristotelisch-Galenische Hintergrund, mit seiner Betonung einer verkörperten Seele, macht deutlich, wie in dieser langfristigen Frömmigkeit alle binären Codierungen – Diesseits-Jenseits, Geist-Materie, Subjekt-Objekt, InnerlichkeitÄußerlichkeit – entfielen. Sie lösten sich auf im Weinen der Gläubigen, in ihrer Erfahrung einer Präsenz des Göttlichen. Die Dinge, auch die Bilder, weinten mit.

Amelie Ochs

Vergesellschaftung

Bild 1  Detail der ersten Seite der Verfassung der Vereinigten Staaten (1787) mit dem Schriftzug „We the People“.

Weit über den Geltungsraum der Vereinigten Staaten von Amerika hinaus sind die ersten Worte der Verfassung der Föderation von 1787 bekannt. „We the People“ artikuliert bis heute ein demokratisches Selbstverständnis. Die Prominenz der Worte ergibt sich nicht nur durch die Position an erster Stelle im Text, sondern auch durch das Schriftbild, welches sich klar vom übrigen Verfassungstext absetzt – und zwar in Größe, Linienstärke, Neigung und Schriftart (Bild 1): Die leicht nach links geneigten Buchstaben sind mit einer breiten Feder einzeln nebeneinander gesetzt und stehen der zusammenhängenden, rechtsgeneigten Kursivierung des übrigen, fein und eng geschriebenen, Textes entgegen. „We the People“ eröffnet den Text einerseits mit einer gewissen Widerständigkeit gegen seine übrige Leserichtung, andererseits geben die eigentümlichen Diagonalen an den großen Lettern, die erst auf den zweiten Blick auffallen, einen Rhythmus des Schriftbildes vor ( Bild-

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rhythmus). So ergibt sich eine ikonische Form, die Schriftzug, Bild und Denken ( Sprache) zugleich ist. Sie fungiert als pars pro toto verschiedener Ebenen: des Verfassungstextes als Schriftstück, der Verfassungsform der Vereinigten Staaten von Amerika, damit eines Paradigmas von moderner, demokratischer Verfassung und der Bürger dieses (oder eines) Staates. Dem Zustandekommen dieser Form geht ein gesellschaftlicher Prozess voraus, nämlich die Assoziation von dreizehn Kolonien zu einem losen Bund gegen die britische Kolonialmacht im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Infolgedessen beschlossen 1786 die Delegierten des Kontinen­ talkongresses, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Dieser Formprozess, der gleichermaßen Vergesellschaftung ist, ist in der ikonischen Form „We the People“ auf­­ gehoben.1 Damals verstand man unter „vergesellschaften“ in einem weiten und ganz basalen Sinne: „Gesellschaft mit etwas machen, in Gesellschaft mit etwas treten, als Reciprocum. Sich mit jemandem vergesellschaften, in Gesellschaft, Verbindung mit ihm treten“.2 Dem geht ein Verständnis des Begriffs mit einer (inzwischen weitestgehend vergessenen) erkenntnistheoretischen Bedeutung voraus, die erstmals bei Gottfried W. Leibniz in Bezug auf die Assoziationspsychologie Verwendung fand. Er spricht von der „Vergesellschaftung der Ideen“, wenn „die Ideen, welche natürlicher weise ganz und gar nicht miteinander verwandt sind, im Esprit gewisser Personen so genau miteinander vereinigt werden, daß man sie gar schwerlich von einander sondern kan. Sie leisten einander stets Gesellschaft“.3 Heute ist „Vergesellschaftung“ ein marxistisch geprägter, in der Soziologie allzu selbstverständlich verwendeter Grundbegriff, der mit dem Kalten Krieg aus der Mode gekommen war und in den letzten Jahren im Zuge der Globalisierungsdebatte

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Dieser Auffassung liegt eine Diskussion im Seminar „Formfragen von Recht und Staat“ zu Grunde, das im Wintersemester 2016/2017 an der Humboldt-Universität zu Berlin von Horst Bredekamp und Dieter Grimm veranstaltet wurde. Hans Hosten und Laura Pelz sei herzlich für das anregende Referat gedankt. Johann Ch. Adelung: Vergesellschaften, in: ders. (Hg.): Versuch eines vollständigen grammatikalisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Leipzig 1780, Sp. 1428, zit. n. Klaus Lichtblau: Vergesellschaftung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.  11, hg. v. Karlfried Gründer, Basel 2001, Sp. 666–671, Sp. 666. Diese weite Definition macht die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft für den Kontext obsolet, da das, was später als „Gemeinschaftliches“ vom „Gesellschaftlichen“ abgegrenzt wird, hierin aufgehoben ist. Gottfried W. Leibniz: Philosophischer Versuch, betreffend den Menschlichen Verstand, alwo gewiesen wird, wie weit sich unsre gewisse Erkändtnüssen erstrecken, und auf waß Weise wir darzu gelangen; auß den Enhglischen übersetzt von Hrn. Peter Coste nach der vierten vom Autor [John Locke] selbst übersehenen, verbesserten und vermehrten Edition [1700], in: Die Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Bd. 5, hg. v. Karl Immanuel Gerhardt, S. 25–37, S. 27. Vgl. hierzu: Lichtblau: Vergesellschaftung (wie Anm. 2), Sp. 666.

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Vergesellschaftung

als „transnationale Vergesellschaftung“ eine Renaissance erlebt.4 Definitionen des Begriffs wurden vor allem mit der Etablierung der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemüht. Darunter ist Georg Simmels Bestimmung eine der geläufigsten und zugleich eine der offensten: Vergesellschaftung ist […] die, in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der die Individuen auf Grund jener – sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewussten oder unbewussten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden – Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb deren diese Interessen sich verwirklichen.5 Hier findet sich sowohl die Makroperspektive auf die graduell entstehende Form (der Gesellschaft) als auch die Mikroperspektive auf das Zusammenwachsen (zur Gesellschaft) als Formprozess. Das Zustandekommen der Form ergibt sich aus „Wechselwirkungen“, die allgegenwärtig seien und sich graduell verdichteten. Die „Formen der Vergesellschaftung“ erklärt Simmel 1908 zum Hauptgegenstand seiner formalen Soziologie, deren Methode der Kunstgeschichte entlehnt ist.6 Darauf aufbauend sollen hier jene Formen aus kunsthistorischer Perspektive als ikonische Formen in den Blick genommen werden. Folglich ist der Begriff der Vergesellschaftung zu überdenken und zwar in zwei Richtungen: Erstens in Hinblick auf den Formprozess der Vergesellschaftung, der sich in ikonischen Formen, also in Bildern im weitesten Sin­ ne, zeigt, und zweitens, in Hinblick auf die aktivierende Rolle von Bildern in jenem Prozess der Vergesellschaftung.7 4

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7

Den einzigen breiten begriffsgeschichtlichen Überblick gibt Lichtblau: Vergesellschaftung (wie Anm. 2). Im Hinblick auf die marxistische Prägung vgl. außerdem Jean Robelin (übers. v. Ruedi Graf): Vergesellschaftung, in: Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8, dt. Fassung hg. v. Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1989, S. 1370–1378; vgl. für die jüngste Konnotation Hans-Georg Soeffner (Hg.): Transnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010, Wiesbaden 2012, hierin insbes. das Plenum Transnationale Bildproduktion, S. 295–351. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 6. Dies hat Barbara Aulinger überzeugend dargelegt: Barbara Aulinger: Die Gesellschaft als Kunstwerk. Fiktion und Methode bei Georg Simmel (Studien zur Moderne 7), Wien 1999, insbes. S. 15f. Im Übrigen hat Horst Bredekamp „Vergesellschaftung“ schon einmal in den kunsthistorischen Kontext eingeführt, nämlich in einem institutionsgeschichtlichen Zusammenhang: In dem Moment, als die Gemälde „schulterschlußartig“ an der Wand der Kunstkammer angebracht sind, beginnt die Aufspaltung der Kunstkammer. (Vgl. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin ²2000, S. 80–85, Zitat S. 85.) Die Entwicklung führt weiter zur systematischen Musealisierung, durch welche Kunstwerke zum einen deponiert, zum anderen –

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Vergesellschaftung als Formprozess Wenn man eine ikonische Form als Produkt von gesellschaftlichen Wechselbeziehungen behauptet, impliziert dies formale Analogien von Bild und Gesellschaft. Das stellt eine Herausforderung für die Formanalyse dar. Das beschreibende Verfahren hat ikonische Formen von Vergesellschaftung zum Gegenstand. Dabei kann kaum von bloß einer (Bild-)Form im Vergesellschaftungsprozess die Rede sein. Vielmehr ist mit „multimedialer“ Imagination zu rechnen ( Synagonismus). Als totalitäres System hat dies beispielsweise der Nationalsozialismus auf die Spitze getrieben. Die Reichsparteitage der NSDAP sind ein Beispiel für die politisch intendierte und exzessiv betriebene Formung der Gesellschaft zur (zuvor imaginierten) „Volksgemeinschaft“. Für diese einmal jährlich stattfindenden Veranstaltungen wurden ab 1933 auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg großräumige Bauten und Platzanlagen geschaffen, die als Formgrund für die hier inszenierten Massenchoreographien dienten. Diese wurden schließlich mit Reproduktionsapparaten, die in die Architektur integriert waren, vogelperspektivisch aufgenommen und so im ganzen Reich (und darüber hinaus) verbreitet. Sowohl bei der rahmenden Architektur wie der „Performanz“ der Masse als auch dem filmischen oder fotografischen Bild selbst handelt es sich um ikonische Formen, die den Formprozess der Vergesellschaftung nachvollziehen lassen. Von der Vorstellung über die Darstellung zielte man auf die Herstellung der behaupteten Ordnung der „Volksgemeinschaft“ als idealtypisches Selbstbild des Nationalsozialismus (Bild 2).8 Die Beschreibung und der Vergleich einzelner Bilder zeigen Stadien des Formprozesses der Vergesellschaftung auf, und die Formen lassen (mit Simmel) Rückschlüsse auf den Grad der Vergesellschaftung zu, sie beinhalten Spuren des Formprozesses. Mit einer „Kunstgeschichte ohne Namen“, wie sie Heinrich Wölfflin, ein Zeitgenosse Simmels, begründet hat,9 können über die Beschreibung raum-zeitlich

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vergesellschaftet – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Hier könnte von der „Vergesellschaftung der Bilder“ die Rede sein. Vgl. zu diesen Modi Karl-Siegbert Rehberg: Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Gert Melville (Hg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 3–49, insbes. S. 7–10. Für das Beispiel vgl. v. a. Yasmin Doosry: „Wohlauf, laßt und eine Stadt und einen Turm bauen ...“. Studien zum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, Tübingen 2002; Franz Dröge/Michael Müller: Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder die Geburt der Massenkultur, Hamburg 1995; Siegfried Zelnhefer: Die Reichsparteitage der NDSAP. Geschichte, Struktur und Bedeutung der größten Propagandafeste im nationalsozialistischen Feierjahr, Nürnberg 1991. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915, Zitat S. V.

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Vergesellschaftung

Bild 2  Standbild aus Leni Riefenstahls Triumph des Willens (1935), das ebenso als Pressebild diente.

verortbare Formen (Stile) erschlossen werden, welche wiederum aufschlussreich für eine Geschichte des Sehens und somit Gestaltens sind. Beispielsweise lassen sich jene nationalsozialistischen Formgebilde (mit dem rektangulären Raster als Grundmuster und den langen Bahnen, die sich darüber ziehen lassen) neben anderen Architekturen oder Massenchoreographien der 1930er Jahre in Europa zur Monumentalen Ordnung zusammenfassen, die als fortgeschrittene Reaktion auf die krisenhaften Erscheinungen der modernen Massengesellschaft verstanden und somit als „Zeitgeist“ aufgefasst werden kann.10 Mit marxistischen Kunsthistorikern wie 10

Vgl. Franco Borsi: Die monumentale Ordnung. Architektur in Europa 1929–1939, Stuttgart 1987.

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Max Raphael oder Frederick Antal gewann die kunsthistorische Formanalyse eine ideologiekritische Komponente.11 In dieser Tradition ist Kunstgeschichte Gesellschaftsanalyse und Ideologiekritik. Positive (Selbst-)Bilder einer Gesellschaft sind demnach einem bildkritischen Verfahren zu unterziehen, das stilistische Pointierungen wie auch Auslassungen des spezifischen Formprozesses in den Blick nimmt. – Mit Simmel wiederum lassen sich über die Formanalyse (historische) Vorstellungen und Wirklichkeiten von Gesellschaft erkennen, welche allgemeinere Modi der Vergesellschaftung aufzeigen. In diesem Sinne manifestiert Alois Riegl bereits 1902 in seiner detaillierten Studie über Das holländische Gruppenporträt „die unbestreitbare Wechselbeziehung zwischen Corporationswesen und Gruppenporträt […], beide [sind] als parallele Folgeerscheinungen eines höheren Dritten anzusehen, das auch auf allen übrigen Gebieten des holländischen Culturlebens analoge Erscheinungen hervorgebracht hat“.12 Ohne weiter auf das höhere Dritte einzugehen, stellt er die gesellschaftlichkünstlerische Entwicklung vor, die Vergesellschaftungsformen in prozessualer Abfolge zeigt: Zunächst gehe die Phase der beginnenden Demokratisierung in den letzten Jahrzehnten der Glaubenskriege in Holland mit der „Vorherrschaft der demokratischen Gleichheit und des streng Porträtmässigen“ in den Bildern einher (frühe Züge davon trage Jan von Scorels zwischen 1520 bis 1524 entstandene Reihe der Jerusalemfahrer). Mit der Phase des Unabhängigkeitskampfes im Anschluss ergebe sich im „Corporationswesen ein straffer Zug zur Subordination“, der sich in den Gruppenporträts als einheitliche Komposition zeigt. Rembrandts Nachtwache von 1642 stellt nach Riegl hierfür ein herausragendes Beispiel dar (Bild 3). Anschließend stünden beide Formen ungefähr bis zum Westfälischen Frieden in einer „unvergleichliche[n] Blüthe“, bis die Restauration der Oranier in den 1770er Jahren erste Verfallserscheinungen mit sich brachte.13 Was bei Wölfflin formal als „Lineares“, „Fläche“, „geschlossene Form“, „Vielheit“ und „Klarheit“ auf der einen und „Malerisches“, „Tiefe“, „offene Form“, „Einheit“ und „Unklarheit“ auf der anderen Seite be­zeichnet wird, wird bei Riegl durch die beiden gesellschaftlichen Gefüge der „Coordination“ und der „Subordination“ überschrieben. Die Frage der Vergesellschaftung – das macht das Beispiel der Gruppenporträts deutlich – ist eine Frage der Komposition, oder allgemeiner: der Bildgestaltung. Dies wird im Fall der Nachtwache durch Rembrandts Kunstfertigkeit, insbesondere seinen dynamischen Pinselstrich, affirmiert, was

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12 13

Vgl. bspw. Frederick Antal: Die florentinische Malerei und ihr sozialer Hintergrund [1948], Berlin 1958 und kaum beachtet Max Raphael: Die Farbe Schwarz. Zur materiellen Konstituierung der Form, hg. v. Klaus Binder, Frankfurt/M. 1989. Alois Riegl: Das holländische Gruppenporträt, in: Jahrbuch des allerhöchsten Kaiserhauses (1902), S. 71–278, S. 72. Ebd. Vgl. für die Jerusalemfahrer S. 88–95 und für die Nachtwache S. 209–218.

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Bild 3  Rembrandt van Rijn: Die Kompanie Kapitäns Frans Banning Cocq und Leutnant Willem van Ruytenburgh bereit für den Aufbruch zum Marsch, genannt: Die Nachtwache, 1642, Öl auf Leinwand, 363 × 437 cm, Amsterdam, Rijksmuseum.

auch Simmel die einheitliche Komposition der Nachtwache beachten lässt. Die „Adhäsion“ der Personen im Gemälde veranschauliche das Rätsel der „vitalen Wechselwirkungen“.14 Will man dem Movens von Gesellschaft nachgehen ( Energeia), lohnt sich der Blick auf jene Wechselwirkungen der Vergesellschaftung. Die Nachtwache macht zum einen die Interaktion unter den Individuen evident; zum anderen zeigt sie auch solche von Individuen und Bildern im weitesten Sinne (Simmel würde „Objekte“ sagen) wie der großen Fahne mit dem Wappen der Stadt Amsterdam, den Gewehren und Speeren oder der ordnungsgemäßen Kleidung der Protagonisten. Das Gemälde lässt daher nicht nur Interaktionsformen der niederländischen Bürgerwehr des 17. Jahrhunderts ersichtlich werden, sondern auch das, was als „Vergesellschaftung mit Bildern“ bezeichnet werden soll.

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Vgl. Georg Simmel: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig 1916, S. 55 u. 59.

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Vergesellschaftung mit Bildern Der Träger des ersten Schrittes im Prozeß der Wechselwirkung zwischen Kunst und Gesellschaft ist uneruierbar; wenn es aber auch wohl der Gesellschaftskörper ist, auf dessen Bedürfnisse die Kunst mit ihren expressiven, imitativen und evokativen Formen reagiert, so strömen die künstlerischen Anregungen sogleich in das Flußbett zurück, von dem sie ihren Ursprung nahmen, und machen aus dem Mutterleib, dem sie ihr Dasein verdanken, ihr Produkt.15 Diese Formulierung Arnold Hausers erinnert im Wortlaut an Simmels „kunstphilosophischen Versuch“, der in einem lebensphilosophischen Kontext steht.16 Hauser schließt an die formale Soziologie und die Formanalyse der Kunstgeschichte an und beschreibt das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft als dialektisches. Mit der Behauptung der Reziprozität und Simultanität der gegenseitigen Einflüsse, „das heißt, mit der Bedingtheit der Kunst durch eine Gesellschaft, die bereits künstlerische Komponenten aufweist, und mit der Veränderung der Gesellschaft durch künstlerische Leistungen, die selbst Gesellschaftsprodukte sind“,17 gibt er die Richtung dessen vor, was unter „Vergesellschaftung mit Bildern“ gefasst werden soll. Zudem bietet er einen Anknüpfungspunkt dafür, dass mit dem aktiven Einfluss der Bilder im Formprozess der Vergesellschaftung zu rechnen ist ( Bildakt). Bilder sind Teil des Formprozesses der Vergesellschaftung; das zeigt Riegls analytische Verknüpfung der Gruppenporträts mit dem „Corporationswesen“ auf. Sie entstehen aus gesellschaftlichen Gefügen heraus und wirken auf diese zurück. Was Horst Bredekamp als „Bildakt“ beschreibt, ist eine ästhetische Herausforderung, die als Wechselspiel zwischen Bild und Betrachter gedacht werden kann. Diese Interaktion lässt sich gerade mit Simmel als soziologisches Problem beschreiben, da er das erste Apriori für Gesellschaft als eine Sache der Wahrnehmung begründet – dies betrifft zugleich den Umgang mit Bildern ( Distanz): Das Bild, das ein Mensch vom andern aus der persönlichen Berührung ge­ winnt, ist durch gewisse Verschiebungen bedingt, die nicht einfache Täuschungen aus unvollständiger Erfahrung, mangelnder Sehschärfe, sympathischen oder antipathischen Vorurteilen sind, sondern prinzipielle Änderung­en der Beschaffenheit des realen Objekts.18

15 16 17 18

Arnold Hauser: Soziologie der Kunst, München 1974, S. 95. Vgl. Simmel: Rembrandt (wie Anm. 14). Hauser: Soziologie der Kunst (wie Anm. 15), S. 96. Simmel: Soziologie (wie Anm. 5), S. 32, s. für sämtliche Apriori der Gesellschaft, S. 27–45.

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Vergesellschaftung

Dies führt zurück zur eingangs zitierten psychologischen Herkunft von „Vergesellschaftung“, die als „Assoziation“ verstanden wird. Mit Leibniz ist noch einmal auf „We the People“ sowie auf ein basales Verständnis von Vergesellschaftung zurückzukommen: Es ist zunächst die „Gesellschaft“ von Buchstaben zu Worten und von Worten zu einem Schriftbild. Dieses Schriftbild wird mit der amerikanischen Verfassung assoziiert. Als Sprachbild – oder Denkbild – wird es mit Demokratie verknüpft. In dieser Assoziation impliziert es ein demokratisches Selbstbewusstsein der Bürger. „We the People“ ist gerade kein Abbild der Gesellschaft (wie es übrigens auch nicht die Luftaufnahme des nationalsozialistischen Appells in Nürnberg ist), sondern ein Vorbild und Bildakt dieser Gesellschaft im Sinne einer welt- und selbstverständnisgestaltenden symbolischen Form; als entgegenkommendes Bild wirkt es auf die Gesellschaft zurück.19 Am Beispiel wird dies besonders auf der sprachlichen Ebene deutlich: Das „We“ wird im anschließenden Verfassungstext sogleich bestimmt als „the People of the United States“. Dass es sich hierbei um ein Selbstverständnis handelt, das bis heute gültig ist und das in einem ganz demokratischen Sinne verwendet wird, erwies sich nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten 2016, als beide Seiten der „zwei Amerikas“ mit „We the People“ auf die Straße gingen: Seine Befürworter unterstützen ihn damit nachdrücklich als ihren gewählten Präsidenten, seine Gegner grenzten sich mit der Formel gegen ihn ab. Diese letztere Variante fand wiederum eine ikonische Form in den Plakaten von Shepard Fairey: Das Sprachbild wird als einfacher Schriftzug unter verschiedenen stilisierten Porträts neu kontextualisiert, um zum Amtsantritt Trumps einen Dialog über amerikanische Identität und Werte zu entfachen.20

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Vgl. Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften [1923], in: ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1923-1926). Ernst Cassirer Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 16, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2003, S. 171–200 sowie ausführlicher ders.: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Berlin 1923–1929. Vgl. zum Entgegenkommenden: Franz Engel/Sabine Marienberg (Hg.): Das Entgegenkommende Denken. Verstehen zwischen Form und Empfindung (Actus et Imago 15), Berlin/Boston 2016. S. https://amplifier.org/wethepeople/ (11. 07. 2017).

Joerg Fingerhut

Verkörperung

Bild 1  Herbert, gebaut 1989 von Jonathan H. Connell und Rodney A. Brooks, erste Fassung 1987.

Der Paradigmenwechsel in der Erforschung des Geistes, weg vom Zerebralzentrismus und der Computermetapher des Geistes und hin zu einer Erforschung der Rolle von körperlicher Aktivität und der Situiertheit in einer bestimmten Umwelt, wird unmittelbar deutlich im Denkansatz der kognitiven Robotik. Exemplarisch lässt sich dies an Herbert zeigen, einem Roboter, der leere Getränkedosen im Lab von Rodney Brooks einsammelte (Bild 1).1 Herbert operiert nicht seriell (qua Input, komplexer Berechnung, Handlung), sondern besitzt weitgehend unabhängig 1

Rodney A. Brooks: Elephants don’t Play Chess, in: Robotics and Autonomous Systems 6 (1990), S. 3–15.

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Joerg Fingerhut

Schichten der Verarbeitung in seiner kognitiven Architektur, die jeweils verschiedenen Regeln der Interaktion mit der Umwelt folgen und aktiv werden, wenn ein andere Schicht seine spezifische Aufgabe erfüllt hat (und Herbert zum Beispiel vor bestimmten Hindernissen angekommen ist). Diese Schichten bestehen also aus Schalt­­kreisen, die untereinander nur minimal kommunizieren, zum Beispiel wenn ein Schaltkreis inaktiv wird und damit einen anderen auslöst. Eine zentrale Kontrollstelle wird damit überflüssig, die Abfolge der Aufgaben ist vielmehr in der „Subsumptionsarchitektur“ Herberts verkörpert. Eine der Schichten dieser Architektur hilft Herbert durch den Raum zu laufen ohne anzustoßen. Eine andere lässt ihn, wenn er an einem größeren Objekt angekommen ist (zum Beispiel einem Tisch), dessen Oberfläche nach Dosen scannen. Eine weitere regelt das Greifen vermittels geschickt ausgestatteter Greifarme. Das „Gedächtnis“ des Systems ist auf drei Sekunden beschränkt – Herbert berechnet also keine Karte der Umwelt, sondern operiert auf der Basis einfacherer Umweltrückkopplungsschleifen. Zwei Dinge sind beachtenswert. Erstens: Die materielle Basis seiner Fortbewegungsmittel und Greifwerkzeuge (und damit: sein Körper) sind, neben den Schaltkreisen selbst, Teil dessen, was für die Lösung seiner Aufgabe entscheidend ist. Zweitens: Herbert benötigt keine komplexen Repräsentationen seiner Umwelt, die in einem zentralem Verarbeitungsschritt konstruiert würden und dann die Basis seiner Rechenoperationen darstellten. Vielmehr interagiert er konstant mit der Umwelt und verarbeitet jeweils nur, was in einem bestimmten Moment für die Lösung der Aufgabe nötig ist. Er kommt somit ohne Repräsentationen im obigen Sinne aus, weil diese durch seinen spezifischen körperlichen Aufbau und seine geschickt konstruierte Architektur überflüssig werden, die auf seine Umwelt abgestimmt sind. In anderen Worten: seine Intelligenz ist verkörpert und situiert.

Der weite Begriff der Verkörperung Im weiten Sinne ist unter „Verkörperung“ die Aktivierung oder Fixierung eines Bedeutungsgehalts in einem Medium zu verstehen. Eine Philosophie, die sich einem solchen Verkörperungsbegriff verschreibt, begegnet damit zunächst idealistischen Tendenzen. Wie John Michael Krois anhand der Philosophen Charles S. Peirce und Edgar Wind argumentiert hat, sind zum Beispiel sprachliche Bedeutungen nur im Bild- und Lautzeichen, ein Begriff nur in seinen Handlungsfolgen zu identifizieren, und physikalische Gesetze existieren nur im Experimentalaufbau, in dem sie realisiert sind.2 Krois kritisiert, dass traditionelle philosophische Positionen 2

John M. Krois: Bildkörper und Körperschema. Aufsätze zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Marion Lauschke/Horst Bredekamp, (Actus et Imago 2) Berlin 2011.

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Verkörperung

diese Verkörperungsprozesse zu wenig beachten: Sie werden demnach einerseits in ihrer Wichtigkeit unterschätzt (sie gelten als kontingent im Sinne von nicht-wesentlich) und sie werden andererseits falsch konzeptualisiert (im Rahmen eines „Behälter-Inhalt“-Schemas und nicht als konkrete raum-zeitliche Prozesse des Einflusses von Körpern auf Körper). Verkörperungsprozesse finden sich in den vielfältigsten Formen wie der Eigenaktivität der Materie ( Active Matter), der Formierung eines Fossils im Sediment (Krois), dem Verhalten von Organismen, dem handelnden Denken des Menschen sowie in der Erschaffung als auch der körperlichen Wirkung von Artefakten. Verkörperung in Artefakten spielen für den menschlichen Geist eine entscheidende Rolle. Menschliches Handeln und Artefakte zeichnen sich durch eine spezifische gegenseitige Bedingtheit aus: Denkend-handelnd verändern wir die Umwelt und schaffen Artefakte und kulturelle Nischen. Aber die uns umgebenden Artefakte gestalten und verändern auch uns. Die Rückwirkung der Artefakte auf den menschlichen Geist ist zentrales Thema des Bildakts ( Bildakt). Um die Relation Artefakt-Organismus zu verstehen, ist es aber auch unentbehrlich, die Rolle des organischen Körpers für die geistigen Prozesse von Lebewesen in den Blick zu bekommen. Dies leistet der engere Begriff der Verkörperung.

Der enge Begriff der Verkörperung Der organische Körper, eingebettet in eine Umwelt, stellt den zentralen Bezugspunkt einer Philosophie und Wissenschaft der embodied cognition oder „verkörperten Kognition“ dar. Die Vertreterinnen dieser Positionen eint zunächst ihre Ablehnung einer Auffassung des menschlichen Geistes (dazu zählen mentale Vermögen wie Wahrnehmungen, Gedanken, Emotionen) als realisiert in einem neuronalen, informationsverarbeitenden Apparat, der im Wesentlichen dadurch operiert, dass intern die Repräsentationen von Außenweltzuständen manipuliert und neu kombiniert werden. Stattdessen werden die Körpergebundenheit des Geistes, die Ausdehnung der Realisierungsbasis mentaler Zustände auf Hilfsmittel außerhalb des Körpers, die Charakterisierung des Geistigen als hervorbringende Aktivität und die Eingebettetheit in eine strukturierte Umwelt als vier zentrale Merkmale unseres Geistes hervorgehoben. Die Philosophie der Verkörperung weist damit das Credo der Neurowissenschaften zurück, dass eine Wissenschaft vom Geist nur eine Wissen-

Neben dem Anti-Idealismus ist in den angesprochenen Positionen auch einen Anti-Essentialismus in der Philosophie der Verkörperung zu identifizieren, der sich u. a. in der „pragmatische Maxime“ (Charles S. Peirce: How to Make Our Ideas Clear, in: Popular Science Monthly 12 (1878), S. 286–302) zeigt: Das Wesen eines Begriffs ist demgemäß nicht in ihm festgeschrieben, sondern immer nur in seinen Wirkungen realisiert.

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schaft vom Gehirn sein könne. Die Begründungen der Ablehnung, aber auch die alternativ eingenommenen Gegenpositionen nehmen sehr verschiedene Formen an, die jeweils bestimmte der oben genannten Merkmale betonen.

1. Körperspezifität Verkörperung kann im Sinne von „Körperspezifität“ (embodiment) theoretisch fruchtbar gemacht werden, indem gezeigt wird, inwiefern mentale Zustände an die spezifische Beschaffenheit der extra-neuronalen Teile des Körpers gebunden sind. Demnach bestimmen die Materialität unseres Körpers, unsere Anatomie sowie unsere Bewegungsmöglichkeiten, was wir empfinden und denken können. Damit rücken Elemente, die aus Sicht eines neuronalen Naturalismus in den Kognitionswissenschaften zuvor in der Peripherie oder außerhalb des kognitiven System veranschlagt wurden (unter anderem unsere Motor- und Sinnesorgane) ins Zentrum der Untersuchung. Vertreter der Körperspezifität betonen deshalb den Aufbau und die Beschaffenheit des biologischen Körpers selbst. Manche Vertreter der Körperspezifität lehnen deshalb ihr nahestehende Positionen ab, die ausschließlich auf der Basis dessen argumentieren, dass der Körper und seine Handlungsmöglichkeiten in einem auf sie ausgerichteten Format in neuronalen Arealen kodiert werden und dadurch auch andere neuronal kodierte Vermögen beeinflussen. Zu dieser letzten Gruppe gehören Forscherinnen und Forscher, die zum Beispiel primär auf die Rolle von Motorneuronen in der Sprachverarbeitung oder Spiegelneuronen für unser Einfühlen in andere Personen (und auch in Architektur, Bilder und abstrakte Formen) verweisen und damit nicht den spezifischen Beitrag des materiellen Körpers für diese Prozesse hervorheben, sondern bloß mit dessen Repräsentationen im Gehirn arbeiten.3 Eine solche radikale Position übersieht allerdings wie solche neuronalen Prozesse als Teil eines weiteren, Körper- und Umwelteinschließenden Kognitionsmodells argumentativ fruchtbar gemacht werden können, indem sie eine zusätzlich Linie der Verbindung höherer kognitiver Vermögen zu sensomotorischen Prozessen aufzeigen können. Denn trotz internalistischer Tendenzen sind solche Positionen nicht notwendig auf einen Internalismus mentaler Prozesse verpflichtet.

3

Diese Ausrichtung sei einer gewissen „Betriebsblindheit“ der Kognitionswissenschaft ge­­ schuldet, die ihre größten Entdeckungen in den Neurowissenschaften erwartet und damit zugleich den Körper als Konstrukt des Gehirns auffasst. Shaun Gallagher: Why the Body is not in Your Brain, in: Horst Bredekamp/Marion Lauschke/Alex Arteaga (Hg.): Bodies in Action and Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie (Actus et Imago 9), Berlin 2012, S. 273–288. Für die Theorie der Wahrnehmung von Formen in Bildern und anderen Artefakten qua Spiegelneuronen siehe David Freedberg/Vittorio Gallese: Motion, Emotion and Empathy in Esthetic Experience, in: Trends in Cognitive Sciences 11/5 (2007), S. 197–203.

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2. Ausgedehnter Geist Die These des „ausgedehnten Geistes“ (extended mind) lockert die Bedingung der Körperspezifität in einer bestimmten Hinsicht, indem auch extra-körperliche Gegenstände als Kandidaten für die Supervenienzbasis mentaler Zustände aufgenommen werden. Diese Theorie ist in ihrer am weitesten verbreiteten Variante konservativer als sie zunächst erscheint.4 Sie argumentiert auf der Basis bereits etablierter funktionalistischer Beschreibungen mentaler Zustände (wie zum Beispiel der funktionalistischen Charakterisierung von Überzeugungen), dass diese eine weite Realisierungsbasis haben könnten und auch manchmal haben. Das Notizbuch eines fiktiven Alzheimerpatienten Otto ist vielleicht das meist zitierte Beispiel für die Ausdehnungsthese. Otto nutzt sein Notizbuch wie wir unser neuronal realisiertes Gedächtnis nutzen und man kann somit argumentieren, dass es Teil seiner Überzeugungs- und Erinnerungssystems darstellt. Die Einträge in dieses Notizbuch sind deshalb Überzeugungen gleichzusetzen, weil sie sich in den entscheidenden Hinsichten (das heißt in Bezug auf die groben kausalen Rollen, die sie in den Problemlösungsstrategien des kognitiven Subjekts einnehmen) genau gleich verhalten wie eine neuronal abgespeicherte Information, die wir als Überzeugung charakterisieren würden.

3. Enaktivismus Der „Enaktivismus“ (enactivism) geht in eine andere Richtung. Er erklärt einerseits, wie körpergebundene Handlungen überhaupt Bedeutung erlangen (qua Aktivität und der Geschichte einer strukturellen Kopplung mit der Umwelt), und hebt andererseits die Körperlichkeit von Organismen in einer über die bisher besprochenenen Positionen hinausgehenden Weise hervor: Der sich selbst erhaltende Körper des Organismus generiert eine prozessuale Innerlichkeit, die sich ansonsten in der Natur nicht finden lässt. Der Enaktivismus ergänzt damit die These der Körperspezifität (die er dafür kritisiert, dass sie eine Einzelanalyse mentaler Prozesse durchführt, die nicht an eine Theorie der Selbsterhaltung des Organismus gebunden wird) und die These der Ausgedehntheit mentaler Zustände (dessen inhärenten informations-verarbeitenden funktionalistisches Paradigmas er ablehnt) um eine Theorie des Selbst. Gleichzeitig betont der kreative Ansatz des Enaktivismus, dass

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Andy Clark/David Chalmers: The Extended Mind, in: Analysis 58/1 (1998), S. 7–19. Deutsch in: Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2013. S. 205–223.

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ein Betrachten von Kognition unter dem Aspekt des Lösens von schon feststehenden Problemfeldern (wie sie es im Funktionalismus am Werk sieht) nicht den Korn kognitiver Leistungen erfasst, da diese in ihrer Aktivität neue kognitiver Domänen für den Organismus hervorbringen. Den ersten beiden Ansätzen ist gemein, dass sie eine im Vergleich zum Zerebralzentrismus breitere Realisierung mentaler Zustände vertreten. Die Theorie des Enaktivismus nimmt zusätzlich eine diachrone Perspektive ein, die erklären soll, wie der Organismus durch die Geschichte seiner strukturellen Kopplung mit der Umwelt Bedeutung hervorbringt. Die drei Theorien argumentieren integrativ: Sie versuchen die Grenzen eines kognitiven Systems auszuloten, indem sie diejenigen Prozesse bestimmen, die als Teil dieses System angesehen werden können.

4. Situiertheit Eine vierte Ausrichtung einer Philosophie der Verkörperung betont nicht so sehr die Grenzen des kognitiven Systems, sondern versucht die „Situiertheit“ oder „Eingebettetheit“ (embeddedness) des Geistes in seiner Umwelt zu verstehen. Wie wir unsere Umwelt und damit unser kulturellen Nischen gestalten und wie wir diese symbolisch ausfüllen wird unter der Erfolgsperspektive des Lösens kognitive Herausforderungen oder des Meisterns sozialer Interaktionen beschrieben. Objekte in unsere Umwelt werden geschickt angeordnet oder so manipuliert, dass sie uns in der Bewältigung unserer (auch geistigen) Aufgaben helfen. So nutzen wir zum Beispiel systematisch die Beschilderungen im Straßenverkehr um uns zurechtzufinden ohne auf eine eigene Karte zurückgreifen zu müssen. Anhand dieser Beschreibung wird eine mögliche Enge von Theorien der Situiertheit und überhaupt in der Ausrichtung vieler Ansätze in der Philosophie des Geistes deutlich. Sie verschreiben sich einem Biologismus oder Naturalismus, der auf erfolgreiche kognitive Leistungen abzielt. So werden geistige Leistungen zunächst und vor allem anhand der erfolgreichen Adaption unserer Vorgänger oder unserer erfolgreichen Lerngeschichte beschrieben. Damit rücken eventuelle Widerständigkeiten dieser Artefakte in den Hintergrund, ihnen eigene, überschüssige Elemente werden ignoriert. Das heißt, dass Momente, in denen uns unser Artefakte im Weg stehen. zum Rätsel werden oder sich einfach nur bemerkbar machen, nachranging sind und vor allem unter dem Aspekt der Nutzbarmachung theoretisch fruchtbar werden. Die Umweltgestaltung wird daher unter Anlehnung an die in der Tierwelt präsente Nischenkonstruktionen verstanden. Wie unser Körper auch wird die Umwelt als Teil einer erfolgreichen Anpassungsgeschichte verstanden. Die ist eine notwendige Perspektive und ist als Basis der Erklärung mentaler Zustände meiner Meinung nach auch unentbehrlich. Um alle unsere Erfahrungen und Gedanken im Hier und Jetzt zu verstehen, ist sie allerdings nicht hinreichend. Die Irritationen des

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Körper, die quasi-magischen Gegenstände der Kunst und die widersprüchlichen Herausforderungen unseres sozio-kulturellen Umfelds sind von ebenso großer Relevanz und bestimmen unsere psychische Realität.5

Bild und verkörperte Kognition Obwohl insbesondere der „ausgedehnte“ und „eingebettete Geist“ kulturelle Artefakte mit in die Theorie aufnehmen, kann der verkörperten Kognition eine mangelnde Sensibilität für die Unterschiede zwischen Umwelt und gestalteten Artefakten vorgeworfen werden.6 Die spezifische Ausprägung kultureller Artefakte wird in ihren Theorien nicht herausgearbeitet und wenn diese thematisiert werden, dann vor allem in Form von Werkzeugen und (moderner) Technik, die sich dem menschlichen Körper anpassen und entweder dessen Beschränkungen überwinden oder seine Funktionen teilweise übernehmen. Dieser Mangel erstreckt sich auch auf die Behandlung von Bildern. Zwar wird der Okularzentrismus früherer Ansätze vermieden und die Interaktion mit Bildern (wie jeder Akt des Sehens) über holistischere Körperhandlungen gefasst.7 Die Widerständigkeit von Bildern, ihre besondere Wirkmacht, sowie ihre subversive Einflussnahme auf unsere Wahrnehmungsgewohnheiten werden jedoch nicht zentral behandelt. Dass uns Bilder als geschaffene Eigenkörper entgegentreten, bestimmt ihre emotionale Stärke: Der homo depictor erschafft etwas (zum Beispiel eine Linie auf der Wand einer Höhle), das von ihm abgetrennt ist und das ihn dadurch ansprechen kann. Bestimmt figurative Bilder können zu einer Gegenkonstitution und einem Neuverständnis unseres eigenen Körpers auffordern: Körperdarstellung von der Höhlenmalerei ( Felsbilder) bis zur Gegenwartskunst lassen uns unsere eigenen Körper anders erfahren und verändern unsere Schönheitsideale. Andererseits haben moderne Bildmedien (wie beispielsweise die Bewegtbilder im Film, die durch Schnittmuster verbunden sind und bestimmte

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Der kreative Ansatz des Enaktivismus versucht dem teilweise gerecht zu werden, indem dies in seinen Kognitionsbegriff einbezogen wird, der nicht als das Lösen von schon feststehenden Problemfeldern verstanden wird, sondern als das Hervorbringen neuer kognitiver Domänen. Horst Bredekamp: The Picture Act: Tradition, Horizon, Philosophy, in: Sabine Marienberg/ Jürgen Trabant (Hg.): Bildakt at the Warburg Institute (Actus et Imago 12), Berlin 2014, S. 1–32. Für die Rolle des gesamten Körpers für das Sehen-in-Bildern siehe Joerg Fingerhut: Das Bild, dein Freund. Der fühlende und der sehende Körper in der enaktiven Bildwahrnehmung, in: Ulrike Feist/Markus Rath (Hg.): Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp, Berlin 2012, S. 177–198.

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Kamera- und Linsenbewegungen beinhalten) bereits verändert, wie wir einen wahrnehmenden Zugriff auf eine Szene in unserem verkörperten Habitus realisieren.8 Der blinde Fleck in Bezug auf die Rolle der Artefakte liegt zum Teil im bereits angedeuteten, zu eng gefassten biologischen Naturalismus begründet. Denn Bilder zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt aus der Ordnung der Umwelt herausgefallen und auf uns zugetreten sind. Dadurch sind wir aber mit ihnen in eine Relation getreten, die uns als Menschen zugleich definiert. Diese Relation ist durch die kontingenten Eigenschaften des Materials der Artefakte, dem Zufall gewisser Bilderfindungen und dem Stand unserer technischen Möglichkeiten beschränkt. Es ist nicht unmittelbar klar, wie ein enger Naturalismus, der auf Inklusion und Integration von Artefakten in Problemlösungsstrategien beruht, dies fassen will und es ist eine zentrale zukünftige Aufgabe einer Philosophie des Geistes, die artefaktische Natur des menschlichen Geistes in seine Erklärungen mit einzuschließen. Bilder und andere visuelle Medien schaffen neue Problemräume, Darstellungen des menschlichen Körpers machen neue Formen des Selbstbezugs möglich und Bilder haben eine Eigenlogik, die vielleicht besser als inhärent und artefaktmotiviert als nur vermittels der Problemlösungsstrategien des Organismus beschrieben werden können. Auch in Bezug auf diese gilt: Bilder erhalten ihren besonderen Status als Bilder gerade dadurch, dass sie nicht vollständig in unsere kognitiven und fertigkeitsbasierten Routinen integriert werden können.9 Eine umfassende Theorie unserer Interaktion mit Bildern braucht deshalb beides: einerseits den Fokus auf die Prozesse des menschlichen Organismus als Teil einer gereiften Theorie der verkörperten Kognition, die verdeutlicht, wie kulturell geprägt und Welt-einschließend unsere handelnd-denkenden Wahrnehmungsprozesse bereits sind. Andererseits aber auch eine direkte Beschäftigung mit der Körperlichkeit des Bildes, das uns als externe (oder gespiegelte) Verkörperung im Artefakt entgegen tritt. Ohne ein Verständnis dieser Prozesse würde sowohl die Wirkmacht der Bilder als auch die verkörperte Kognition letztlich unverstanden bleiben.

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Joerg Fingerhut/Katrin Heimann: Movies and the Mind. On our Filmic Body, in: Christoph Durt/Thomas Fuchs/Christian Tewes (Hg.): Embodiment, Enaction, and Culture. Investigating the Constitution of the Shared World, Cambridge, MA 2017, S. 353–377. Joerg Fingerhut: Extended Imagery, Extended Access, or Something Else? Pictures and the Extended Mind Hypothesis, in: Marienberg/Trabant: Bildakt at the Warburg Institute (wie Anm. 5), Berlin 2014, S. 33–50.

Bildnachweise

Cover  Ugo Mulas © Eredi Ugo Mulas. All rights reserved. Meyer-Kalkus  1  Blue Velvet, DVD, directed by David Lynch [1986; Santa Monica, CA: MGM Home Entertainment, 2002]. Bredekamp  1  Museum of Archeology and Anthropology, Cambridge. Engel  1a/1b  Foto: Franz Engel. Pawel  1 Ausst. Kat.: Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, hg. v. Karin von Maur, München 1985, S. 179. 2  Jutta Hülsewig-Johnen (Hg.): Sonia Delaunays Welt der Kunst, Bielefeld 2008, S. 48f. Schneider  1  Susam Higman (Hg.): Virtue and Beauty, Washington 2002, S. 107. 2  Martin Warnke (Hg.): Aby Warburg. Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, S. XI. 3  Michael Bollé (Hg.): Stationen der Moderne, Berlin 1988, S. 216. Marienberg  1  Ausst. Kat.: Gerhard Richter 1988/89, Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam 1989, S. 105. Grube  1 http://archeologie.culture.fr/chauvet/fr (08.03.2017). Paintings, New York 1945.

2  Max Raphael: Prehistoric Cave

Von Xylander  1 © Klassik Stiftung Weimar. 2, 3  Otto Bettmann (Hg.): Bettmann Portable Archive, New York 1966, S. 58f. 4, 5  Otto Bettmann (Hg.): Bettmann Portable Archive, New York 1966, S. 84. Amelung  1  https://wellcomeimages.org/indexplus/image/B0010026.html (13.03.2017). Trinks  1a  Daniel Kiecol (Hg.): Maria Sibylla Merian, Köln 2016, S. 96. 1b  http://www.pybio. org/wp-content/uploads/2009/01/100_2933.jpg (05.04.2017). 2  Christus in der Kunst. Von den Anfängen bis ins 15. Jahrhundert, bearb. von Helga Kaiser (Welt und Umwelt der Bibel, 14), Stuttgart 1999, S.66. 3  Hinrich Sieveking: Das Gebetbuch Kaiser Maximilians. Der Münchner Teil mit Randzeichnungen von Dürer und Cranach, München 1987, S. 7. 4  Michel Pastoureau: Storie di pietra, Turin 2014, S. 126.

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Bildnachweise

Casper  1  https://en.wikipedia.org/wiki/Game_Boy#/media/File:Game-Boy-Pocket-FL.jpg (17.07. 2017). Wendler  1  Eyal Weizman: The Least of All Possible Evils. Humanitarian Violence from Arendt to Gaza, London/New York 2011, S. 73. 2  Eyal Weizman: The Least of All Possible Evils. Humanitarian Violence from Arendt to Gaza, London/New York 2011, S. 74. Dank an Eyal Weizman für die Ab­­druck­ genehmigung. Lauschke  1  Marion Lauschke: Dynamisierung von Bildräumen oder Resonanz als ästhetische Strategie gelingenden Lebens, in: Thiemo Breyer/Michael Buchholz/Andreas Hamburger/Stefan Pfänder (Hg.): Resonanz – Rhythmus – Synchronisierung. Erscheinungsformen und Effekte, Bielefeld 2017, S. 461–476. Trabant  1  Prometheus Bildarchiv, http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/bpk1d402db769e195f160df0780181159376abee3e9 (17.07.2017). Viola  1  Wendy Sandler/Mark Aaronof/Irit Meir/Carol Padden: The Gradual Emergence of Phonological Form in a New Language, in: Natural Language and Linguistic Theory, XXIX/2 (2011), S. 503– 543, S. 533. Hadjinicolaou  1  Ausst. Kat.: Aus Rembrandts Zeit. Zeichenkunst in Hollands Goldenem Jahrhundert, hg. v. Holm Bevers, Leipzig 2011, S. 21. 2, 3  Archiv des Verfassers. Roodenburg  1  Prometheus Bildarchiv, http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/saar­ bruecken_ifk-8f787f45102d363e1b7d6ef37fc7b5dfdf956d72 ­­ (18.07.2017). 2  Oesterreichische Na­ tionalbibliothek Wien, Cod. Vind. 2554. Ochs  1  National Archives, No. 1667751, unter: https://catalog.archives.gov/id/1667751 (11.7.2017). [Zuschnitt A. O.]. 2  Paula Diehl: Reichsparteitag. Der Massenkörper als visuelles Versprechen der „Volksgemeinschaft“, in: Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrundert der Bilder. 1900 bis 1949, Göttingen 2009, S. 470–479, S. 471. 3  Prometheus Bildarchiv: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/ image/show/darmstadt_tu-ad03acdbc8424b19ed0d8ca4b9db2de80d300c01 (11.7.2017). Fingerhut  1  http://cyberneticzoo.com/wp-content/uploads/herbert-p1-x640.jpg (10.02.2017), © MIT, Artificial Intelligence Laboratory.