Manier und Manierismus [Reprint 2013 ed.] 9783110911701, 9783484321069

Manner and mannerism are closely related, not only by their etymology. The terms allude to the pragmatics and performati

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German Pages 367 [368] Year 2000

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Table of contents :
Vorwort
Manierismus als Artistik. Systematische Aspekte einer ästhetischen Kategorie
›Stil‹ und ›Manier‹ in der Alltagskultur - Volkskundliche Annäherungen
Die Wortfamilie von it. ›maniera‹ zwischen Literatur, bildender Kunst und Psychologie
Der Manierismus. Zur Problematik einer kunsthistorischen Erfindung
Inszenierte Künstlichkeit. Musik als manieristisches Dispositiv
Manierismus als Stilbegriff in der Architekturgeschichte
›Raffael ohne Hände‹ oder das Kunstwerk zwischen Schöpfung und Fabrikation. Konzepte der ›maniera‹ bei Vasari und seinen Zeitgenossen
»Sprezzatura«. Pontormos Portraits und das höfische Ideal des Manierismus
Maniera and the Grotesque
Neulateinisches Figurengedicht und manieristische Poetik. Zum ›Poematum Liber‹ (1573) des Richard Willis
Manierismus als Selbstbehauptung: Jean Paul
Artistische Erkenntnis. (Sprach-)Alchimie und Manierismus in der Romantik
»Als lebeten sie«. Oder: Wie natürlich sind künstliche Systeme?
Beiträger
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Manier und Manierismus [Reprint 2013 ed.]
 9783110911701, 9783484321069

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 106

Manier und Manierismus

Herausgegeben von Wolfgang Braungart

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Bielefeld

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Manier und Manierismus / hrsg. von Wolfgang Braungart. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 106) ISBN 3-484-32106-7 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhalt

Vorwort Rüdiger Zymner Manierismus als Artistik. Systematische Aspekte einer ästhetischen Kategorie

VII

1

Kaspar Maase >Stil< und M a n i e n in der Alitagskultur - Volkskundliche Annäherungen

15

Margarete Lindemann Die Wortfamilie von it. >maniera< zwischen Literatur, bildender Kunst und Psychologie

47

Horst Bredekamp Der Manierismus. Zur Problematik einer kunsthistorischen Erfindung

109

Hermann Danuser Inszenierte Künstlichkeit. Musik als manieristisches Dispositiv . . . . 131 Hermann Hipp Manierismus als Stilbegriff in der Architekturgeschichte

169

Ursula Link-Heer >Raffael ohne Hände< oder das Kunstwerk zwischen Schöpfung und Fabrikation. Konzepte der >maniera< bei Vasari und seinen Zeitgenossen

203

Axel Christoph Gampp » Sprezzatura«. Pontormos Portraits und das höfische Ideal des Manierismus

221

VI

Inhalt

Maria Fabricius Hansen Maniera and the Grotesque

251

Ulrich Ernst Neulateinisches Figurengedicht und manieristische Poetik. Zum >Poematum Liber< (1573) des Richard Willis

275

Wolfgang Braungart Manierismus als Selbstbehauptung: Jean Paul

307

Axel Dunker Artistische Erkenntnis. (Sprach-)Alchimie und Manierismus in der Romantik

323

Hoik Cruse »Als lebeten sie«. Oder: Wie natürlich sind künstliche Systeme? . . . 339 Beiträger

357

Vorwort

Vor einiger Zeit war bei Deutschlands kulinarischem Meisterkritiker zu lesen, die jungen französischen Köche böten der Zunge und den Zähnen Gelegenheit zum GenuB. Das geht [...] bis zu barockem Aufwand. [...] dabei ist ein möglichst origineller, persönlicher Stil unverkennbar und auch verständlich. Bei weniger begabten Mitläufern kann das wie damals zum Manierismus führen. Aber das ist die Gefahr jeder neuen Stilrichtung; bei Malerei und Architektur ist das nicht anders.

>Barock< und >Manierismus< werden hier unterschieden; sie sind allgemeine Stilbegriffe, nicht nur Epochenbegriffe. Sie dienen dazu, kulturelle Äußerungen überhaupt, nicht nur im Feld der Künste, zu charakterisieren. Die Grenze zwischen >Barock< und >Manierismus< zu sehen und zu wahren, ist eine Sache der Begabung. Nur die wirkliche Begabung kann barokken Aufwand bändigen; der Manierist dagegen ist nicht originell. Er schließt sich einer kulturellen Tendenz nur an, verlängert sie, kommt dabei aber nicht wirklich zu einem >persönlichen StilManiera< meint schon in der italienischen Renaissance die individuelle und originelle Eigenart eines Künstlers, die ihn heraushebt und unterscheidet von anderen Künstlern, die ihm in seinem sozialen Zusammenhang also auch eine Position sichert. >Maniera< ist schon immer eine ästhetische und als solche zugleich eine soziale Kategorie. Darüber hinaus ist >Maniera< in der italienischen Renaissance auch eine Kategorie, durch die das Individuum übergreifende stilistische Orientierungen bezeichnet werden. So hat man ζ. B. eine >Maniera tedesca< von einer >Maniera byzantinica< oder einer >Maniera greca< unterschieden. In der Wahl einer solchen >Maniera< ordnet sich der Künstler also einem Kollektivstil zu. Das Kollektiv, die soziale Gruppe konstituiert sich demnach entscheidend durch ihren Gruppenstil. An ihrem Stil ist die Gruppe erkennbar. Daß Gruppenbildungen auch ästhetische Prozesse sind, ist von der Gruppenso-

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Vorwort

ziologie längst gesehen worden. Am Manierismus, darauf weist schon die Etymologie des Begriffs hin, läßt sich diskutieren, inwieweit ästhetische Begriffe auch als soziale Begriffe und als Handlungsbegriffe bestimmt werden können. Umgekehrt drängt sich dann die Frage auf, inwieweit soziale Begriffe und soziale Prozesse nicht zugleich auch als ästhetische Prozesse reformuliert werden können, ja womöglich reformuliert werden müssen, wenn man ihre Bedeutung und Reichweite im sozialen Leben angemessen erfassen will. Am Manierismus läßt sich zeigen, daß die weit verbreitete und ziemlich vage Bestimmung, Kultur sei die ganze, vom Menschen gemachte und gestaltete Welt, tatsächlich einen zentralen Aspekt von Kultur erfaßt: Jede kulturelle Äußerung und jede kulturelle Handlung ist nämlich ein gestaltendes, darstellendes, insofern auch - mehr oder weniger- inszeniertes und theatralisches (um nicht zu sagen: manieriertes) zu sich selbst und zur Welt In-ein-Verhältnis-treten des Menschen. Kulturelle Äußerungen implizieren durch ihre konkrete ästhetische Gestaltung immer eine Anweisung darauf, wie sie verstanden werden wollen. Und sei die Anweisung nur, daß die soziale Reichweite einer Äußerung nicht sehr groß sein soll, wie z. B. beim einfachen Gruß >Guten Tag< oder >TagIch wünsche Ihnen einen guten TagManier und Manierismus< geführt haben, die vom 24. bis zum 26. 4. 1998 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld stattgefunden hat. Die Beiträge zu dieser Tagung dokumentiert

Vorwort

IX

der vorliegende Band. Sie werden durch eine intensive wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchung ergänzt. Neben sprach-, kunst- und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen versucht ein Beitrag, mit dem Begriff des Manierismus in der Musikgeschichte zu arbeiten. Ein anderer Beitrag diskutiert die Möglichkeit, populär-kulturelle Äußerungen mit dem Manierismus-Konzept in Verbindung zu bringen. Der abschließende Beitrag stellt ein naturwissenschaftliches Forschungsfeld vor, an dem deutlich wird, wie sehr zwei Kategorien, die seit der Renaissance im Zentrum der Debatten um den Manierismus stehen: Natürlichkeit und Künstlichkeit, auch in den Naturwissenschaften wirksame kulturelle Konzeptualisierungen sind. Dem Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld sei herzlich für die Förderung und Ausrichtung sowie für einen Druckkostenzuschuß gedankt. Meinen Mitarbeitern, insbesondere Ellen Beyn und Christina Skiebe, danke ich herzlich für ihr großes Engagement bei der Organisation der Tagung und der mühevollen Vorbereitung der Beiträge für den Druck, allen Teilnehmern der Tagung für anregende Diskussionen. Die Tagung wurde von Christine Göttler, Seattle, und mir geleitet. Aus zwingenden persönlichen Gründen konnte Christine Göttler die Mitherausgeberschaft nicht Ubernehmen. Für ihre Mitwirkung an der Tagung sei ihr aber gedankt.

Bielefeld, im Februar 2000

Wolfgang Braungart

Rüdiger

Zymner

Manierismus als Artistik. Systematische Aspekte einer ästhetischen Kategorie

Wer die Thematisierung des Manierismus mit guten Gründen als Chance fìlr eine kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Literatur- und Kunstwissenschaften begreift, als Ansatzpunkt für eine Rekonstruktion ästhetisch-sozialer Handlungsfelder, die notwendigerweise die fachwissenschaftlichen Kompetenzen mehrerer Disziplinen aufeinander abstimmen und koordinieren muß, wird neben vielen Detailproblemen auch das grundlegende Problem eines fâcher übergreifenden theoretischen und terminologischen Rahmens lösen müssen. Dies ergibt sich jedenfalls aus einer Synopse der Manierismus-Forschungen in den einzelnen Fächern und der hier jeweils vertretenen Manierismus-Konzepte, die sich als vielfach uneinheitlich und widersprüchlich erweisen. Auf der Ebene der bloßen Nomenklaturen mag die Sache dabei eigentlich ganz unproblematisch erscheinen, denn gleichgültig, ob es sich um Literaturwissenschaftler oder Musikwissenschaftler, um Kunstwissenschaftler oder Historiker, um Philosophen oder auch um Psychologen handelt: Sie alle verwenden ja die gleichen Vokabeln wie eben >Manierismus< oder auch >Stil< - ohne freilich immer klarzumachen, daß es sich weder jeweils fachintern um schon geklärte Begriffe oder geklärte Wortverwendungsweisen handelt, noch gar in der interdisziplinären Verwendung der Vokabeln von einer terminologischen Einigung gesprochen werden kann. Zumeist suggeriert hier die Verwendung bloß sachliche und konzeptionelle Klarheit, wo man es doch tatsächlich nur mit Äquivokationen zu tun hat: Im Hinblick auf den Manierismus glauben die Fächer also vielleicht nur, miteinander reden zu können, in Wirklichkeit sprechen sie aber bislang verschiedene Sprachen. Denn man wird sich doch bestenfalls auf der Ebene äquivoker Nomenklaturen etwa mit der Bestimmung zufrieden geben können, der Manierismus sei ein Stil, ohne zu berücksichtigen,

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Rüdiger Zymner

-

daß und wie genau ein Malstil aufgrund seiner produktions-, materialund rezeptionsästhetischen Fundierung etwas vollkommen anderes ist als etwa ein Baustil-,

-

daß der Stil einer Plastik oder Skulptur aufgrund seiner produktions-, material- und rezeptionsästhetischen Fundierung etwas ganz anderes ist als der Stil eines Madrigals oder einer Oper;

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daß der Stil kalligraphischer Sehr if tomamente aufgrund seiner produktions-, material- und rezeptionsästhetischen Fundierung etwas anderes ist als der Sprechstil eines Schauspielers oder der Stil eines literarischen Textes.

Es kommt erschwerend hinzu, daß sich selbst im Hinblick auf einen einzigen Gegenstandsbereich hinter der Bestimmung, man habe es mit manieristischem Stil zu tun, durchaus sehr unterschiedliche Sachverhalte verbergen können: 1. So können etwa im Hinblick auf die Literatur damit rein grammatischrhetorische Aspekte gemeint sein - wie die Häufung oder auch die Vermeidung bestimmter Buchstaben (Pangrammatismen und Lipogrammatismen) oder die Verwendung besonders dunkler oder witziger oder präziös-konstruierter Metaphorik oder auch nur einer ungewöhnlichen Lexik; 2. es können damit aber auch metrische oder prosodische Elemente gemeint sein wie die Bevorzugung einsilbiger Wörter in Verstexten oder auch bestimmte Reimstrukturen - bis hin zu dem interessanten, hochartifiziellen Sonderfall des ganze Zeilen involvierenden Holoreimes, der in der französischen Literatur recht gut belegt zu sein scheint (und hier vielleicht sogar als sprach- und kulturspezifische manieristische Technik angesprochen werden könnte), für den es aber in der deutschsprachigen Literatur, soweit ich sehe, nur einen einzigen Belegfall gibt, bei Konrad von Würzburg nämlich;1

Vgl. Artikel >holorhymeRomanmonstreninscriptio< und >subscriptio< beziehen, und hier mit allen Vagheiten, die der Ausdruck Stil im Hinblick auf schriftlich oder drucktechnisch fixierte Sprachzeichen bereithält; darüber hinaus kann die kalligraphische Gestaltung der Schriftzeichen gemeint sein - ohne daß die kalligraphische Gestaltung notwendig mit manieristischen Inhalts- oder Ausdruckselementen einhergehen müßte und umgekehrt; sodann kann sich die Aussage eben auf den Bildteil des Emblems beziehen, entweder auf das, was gezeigt wird, also die res pictae, oder auf die Art, wie die res pictae gestaltet werden, ohne daß manieristische Inhaltselemente notwendigerweise mit einer manieristischen Gestaltungsweise einhergingen und umgekehrt. Schließlich kann sich die Aussage, es mit einem manieristischen Emblem zu tun zu haben, innerhalb der Stilkonzeption von Manierismus auf alle genannten Teile des Emblems beziehen dann wäre es sozusagen ein vollmanieristisches Emblem. Auf ähnlich verwirrende Schwierigkeiten stoßen wir bei der Stilkonzeption von Manierismus, soweit ich sehe, im Prinzip auch in anderen Berei-

erschinen sol zwein liuten«. In: Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. Hg. von Edward Schröder, Berlin 1959, Bd. 3, S. 50.

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Rüdiger Zymner

chen der künstlerischen Gestaltung neben der Literatur: Die Zuschreibung >manieristischer Stil< ist also recht vage und stets weiter klärungsbedürftig - und zumal im interdisziplinären Dialog. Nicht besser verhält es sich mit der Bestimmung, Manierismus sei eine Epoche, die ja nicht selten mit der Bestimmung, Manierismus sei ein Stil, einhergeht, aber hiervon unterschieden werden sollte. Die auffällige Uneinigkeit allein schon in der historischen Festlegung dieser angeblichen Epoche und sogar im Hinblick auf die Zahl der Zeitabschnitte, die man als manieristische Epochen bezeichnen möchte, macht erneut auf die tatsächliche und anders als im wirklichen Leben recht unbehagliche Vielsprachigkeit der interdisziplinären Manierismusforschung aufmerksam. Die Uneinigkeit darüber, wann man von der Epoche des Manierismus reden könne - etwa für die Zeit zwischen 1515 und 1600 oder für die Zeit zwischen 1573 und 1660 oder für die Zeit zwischen 1520 und 1650, sodann zwischen 1800 und 1830 oder auch zwischen 1880 und 1950 und andere Zeitabschnitte mehr - zeigt recht deutlich, daß hier sehr Unterschiedliches gemeint sein kann, wenn von der >Epoche des Manierismus< gesprochen wird. Soweit ich sehe, gibt es allerdings in der Manierismusforschung zwei Grundauffassungen darüber, was unter einer Epoche zu verstehen sei, nämlich holistische und partikularisierende Epochenkonzepte (die Mischkonzepte und Übergangsformen lasse ich jetzt einmal beiseite): Während holistische Epochenkonzeptionen alle historischen Ereignisse eines Zeitraums zu erfassen und zusammenfassend auf den Nenner zu bringen beanspruchen und großzügig etwa vom Europäischen Manierismus sprechen, der sich eben überall innerhalb eines Zeitabschnittes und in einem geographisch bestimmten Raum zeigen lasse und sozusagen als alles prägendes Signum der Welt innerhalb der Grenzmarkierungen zweier Jahreszahlen anzusprechen sei, richten partikularisierende Epochenkonzepte ihr Augenmerk lediglich auf einen bestimmten Gegenstandsbereich, sagen wir die italienische Malerei oder die deutschsprachige Literatur, und sprechen nur im Hinblick auf diesen Gegenstandsbereich innerhalb der Grenzmarkierungen zweier Jahreszahlen von einer Epoche des Manierismus. Zumal durch einen interdisziplinären Vergleich eher partikularisierend konzipierter Epochen-Bestimmungen wird man auf zahlreiche Ungleichzeitigkeiten aufmerksam gemacht: So mag sich der Manierismus in der

Manierismus ais Artistik

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Malerei historisch anders situieren lassen als der Manierismus in der Baukunst oder in der Literatur; weiter mag sich der Manierismus in der italienischen Malerei anders situieren lassen als in der spanischen, niederländischen oder deutschen; und der Manierismus in der deutschen Literatur mag sich anders sjtuieren lassen als der Manierismus in der italienischen oder der französischen und spanischen Literatur. Während holistische Epochenkonzepte also Unterschiede nivellieren und ein Gesamtbild vom Europäischen Manierismus um den Preis mangelnder Detailschärfe und begrifflicher Bestimmtheit gewinnen, verdeutlichen partikularisierende Epochenkonzepte, daß historische Entwicklungsverläufe in unterschiedlichen Künsten und in unterschiedlichen geographischen und soziologischen Räumen eben vollkommen unterschiedlich sein können, obwohl sie auf den gleichen Nenner gebracht werden, auf den Nenner Manierismus: Maurice Scève oder Ronsard oder auch John Lyly dichten um 1550 schon manieristisch, während wir in der deutschen Literatur auf einen frühbürgerlich unmanieristischen Hans Sachs, einen Jörg Wickram und einen Michael Lindener treffen; Marinos >La lira< und Gongoras >Soledades< erscheinen zu einer Zeit, als man in Deutschland erst die Notwendigkeit einer eigenständigen deutschen Literatur diskutiert, Parmigianino malt seine Madonna mit dem langen Hals, während Hans Holbein d. J. seine Darmstädter Madonna malt - die Beispiele deuten ein wenig an, daß interdisziplinäre Manierismusforschung nicht allein mit dem Problem der Ungleichartigkeit der Gegenstandsbereiche sowie mit der Ungleichartigkeit der hier anzutreffenden manieristischen Gestaltungstechniken, sondern auch mit dem der Ungleichzeitigkeit ihrer historischen Entwicklungen fertig werden muß. Keine Lösung bietet der Versuch, manieristische Kunst als das Gegenteil oder gar den Widerspruch zu einer Klassik oder zu klassischer Kunst zu bestimmen, denn was das nun wieder ist, die oder eine Klassik, das ist beinahe so schwer zu beantworten wie die Frage, was Manierismus eigentlich ist. Hier lauert zudem stets die Gefahr, zum Gefangenen der eigenen, selbstproduzierten historischen Klischees zu werden. Die Entscheidung für ein Klassik-Antiklassik-Modell impliziert - zusammengefaßt - zu viele durchaus problematische Vorentscheidungen, als daß wir von einem sachgerechten und tatsächlich verallgemeinerbaren Ansatz sprechen könnten, der Manierismus eben nicht lediglich als Anhängsel irgendeiner Klassik, sondern als etwas Eigenes beschreibt und erklärt.

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Rüdiger Zymner

Keinen Ausweg aus dem Labyrinth bietet schließlich eine perspektivische Verschiebung, bei der allerlei materiale Deformationen als Symptome einer Krise interpretiert werden und gerade hierin, in einer wie auch immer gearteten Krisenhaftigkeit, das zentrale Kennzeichen des Manierismus entdeckt wird. Statt nämlich die Frage zu lösen, was Manierismus sei, wird bei derartigen Sichtweisen, die James Mirollo als »Angst-Manierismus« verspottet, die Definitionsfrage stillschweigend als gelöst vorausgesetzt. Zudem wird man bei dieser Sichtweise auch - beinahe ohne es zu merken - leicht ein Opfer des in jeder Manierismus-Diskussion stets latenten Wertungsproblems: Wer (deutlich pejorativ) von Deformation spricht, unterstellt oder suggeriert doch damit auch, daß es so etwas wie eine heile Version des Deformierten gebe; wer das in diesem Zusammenhang ebenfalls beliebte Stichwort Unnatur (und ausgerechnet im Hinblick auf Kunstwerke) in den Mund nimmt, der hat doch offensichtlich mehr oder weniger deutliche Vorstellungen davon, was denn natürliche Artefakte< seien. Nebenbei bemerkt ist dieser Ansatz auch deshalb besonders unsympathisch, weil es durch die Kultivierung einer trauerklößigen Kulturgeschichte hier nichts zu lachen gibt und zum Beispiel so etwas wie komischer oder auçh nur spielerischer Manierismus als nicht satisfaktionsfähig ausgeklammert wird. We had to assume that statements such as Donne is a mannerist, or that Tasso's Jerusalem Delivered is mannerist, or that Jacobean drama reveals a mannerist mentality, are at this stage of our understanding so frustratingly vague as to be almost meaningless,

verzerrt James Mirollo2 die Sachlage in der ihm eigenen Neigung zu polemischen Zuspitzungen insgesamt zutreffend zur Kenntlichkeit. Die Situation erscheint also einigermaßen trostlos, das Skandalon der interdisziplinären Manierismusforschung besteht darin, daß man noch nicht recht sagen kann, was Manierismus ist, daß man den Manierismus wissenschaftlich noch nicht bewiesen hat, obwohl wir das Wort ständig verwenden - als kulturwissenschaftliches Allheilmittel und geräumiges >mot valise< zur Bezeichnung von allerlei exzentrischem Krimskrams, den wir halt verbal verpacken möchten.

James V. Mirollo: Mannerism and Renaissance Poetry. Concept, Mode, Inner Design, New Haven - London 1984, S. 68.

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Nun kann man gewiß sagen, daß solche terminologisch-konzeptionellen Probleme, wie ich sie angedeutet habe, nichts weiter sind als neoscholastische Empfindlichkeiten: Jeder von uns forscht doch schließlich in dem Bereich, den er für sich, aber sicher nicht vollkommen subjektiv-willkürlich, als Manierismus bestimmt. »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie / Und grün des Lebens goldner Baum«, sagt ja so schön einprägsam und wunderbar entspannend ein alter Bekannter im Gewand des wissenschaftlichen Kollegen und empfiehlt bei allfälligen intellektuellen Skrupeln das »iurare in verba magistri«, also immer schön auf des Meisters Curtius', Hockes oder Hausers Wort zu schwören und sich ansonsten mit der überreichen Welt der manieristischen Objekte zu befassen. Wenn wir aber daran festhalten, daß Wissenschaft unter anderem ein Unternehmen zum Zweck möglichst zuverlässiger Erkenntnisflndung und -Vermehrung ist (also intersubjektiv gültiger und im Prinzip falsifizierbarer allgemeiner Sätze darüber, was in der Welt der Fall ist) und daß wissenschaftliche Sprache deshalb durch weitgehende Normierungen sicherzustellen suchen sollte, daß der Kommunikationsgehalt einer Äußerung für alle Teilnehmer dieses Unternehmens möglichst bestimmt bleibt, so erscheint eine Klärung theoretisch-konzeptioneller Probleme durchaus sinnvoll. Zum Beispiel deshalb, weil dabei auch deutlicher wird, daß der schönen Welt der manieristischen Objekte eben keine fraglos objektive Gültigkeit zukommt, sondern daß dieser Gegenstandsbereich von uns respektive den alten Meistern - gewissermaßen als Anschauungsform - konstituiert wird, auch dann, wenn wir glauben, es unmittelbar mit dem üppig manieristischen Baum des Lebens selbst zu tun zu haben: Geschichte ist eben überhaupt eine Erfindung, zu der die Wirklichkeit nur die Materialien liefert. Diese Einsicht muß aber dann dazu führen, im Interesse der kontrollierten und kontrollierbaren Erkenntnisflndung möglichst auch im Bereich des kulturwissenschaftlichen und fächerübergreifenden Forschungsfeldes >Manierismus< diesen Gegenstandsbereich explizit und wissenschaftstheoretisch geklärt und damit auch stabil zu konstituieren - wenn da eben nur nicht die Vielfalt und die scheinbar gar nicht unter einen Hut zu bringende Widersprüchlichkeit des chaotischen Objektbereiches wäre, die eben diese Klärung erschwert.

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Doch die Lage ist tatsächlich nicht ganz so ausweglos, wie es bei einer kritischen Revision der Manierismus-Forschungen zunächst erscheinen mag, denn es gibt anderswo Forschungsbereiche, in denen man es mit ganz ähnlichen Problemen zu tun hat und für die man vielversprechende Lösungen gefunden hat - ich rede von der Gattungs- und Schreibweisenforschung und näherhin von den Untersuchungen inbesondere Theodor Verweyens und Gunther Wittings zur Kontrafaktur, die ja auch in unterschiedlichen Künsten und unterschiedlichen künstlerischen Medien bzw. Gestaltungsformen vorkommen kann. Bei den erheblichen Problemen, die gerade bei dem Versuch eines kulturwissenschaftlichen Zugriffs auf einen explizit konstituierten Manierismus entstehen, bietet aber zunächst einmal der methodische Schachzug der rationalen Rekonstruktion eines begrifflich transparenten, logisch widerspruchsfreien und empirisch triftigen Manierismus-Begriffes so etwas wie >Erste Hilfe< an. Dabei handelt es sich um eine gemischt induktiv-deduktiv verfahrende Begriffsexplikation - in einem ersten Schritt werden hier übliche Verwendungsweisen des >DefIniendums< analysiert und dann in einem zweiten Schritt festgesetzt, mit welcher präzisierten Bedeutung man selbst den Ausdruck im folgenden Zusammenhang gebraucht. Eine Explikation enthält also sowohl Bestandteile, die wahr oder falsch sein können, als auch Bestandteile, die nur nach dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit kritisiert werden können. Wenn man nun eine Begriffsexplikation für das Explikandum >Manierismus< vornimmt, so wird man auf all die Vagheiten, Ungenauigkeiten und Widersprüche in bisherigen Verwendungsweisen des Ausdrucks stoßen, auf die ich hingewiesen habe. Man wird aber auch in wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Zeugnissen für die Zuweisung des Prädikators >Manierismus< auf Literatur und Kunstobjekte (ebenso wie auf Gebrauchskunst oder auch menschliche Verhaltensweisen) auf wiederkehrende Elemente und Übereinstimmungen stoßen, die Ansatzpunkte für die rationale Rekonstruktion eines interdisziplinär verwendbaren, kulturwissenschaftlichen Begriffes >Manierismus< bieten. Man kann dabei vielleicht zunächst einmal von der Beobachtung ausgehen, daß mit dem Ausdruck >Manierismus< jeweils ganz unterschiedliche Aspekte auf der Ebene der formalen Gestaltung wie auf der Ebene des Inhalts oder der Semantik bezeichnet werden, daß sich ζ. B. Manieris-

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mus in Texten in ganz unterschiedlichen Gattungen und mit ganz unterschiedlichen Techniken und auf ganz unterschiedlichen Ebenen des Textes zeigt. Hier lohnt sich ein Seitenblick auf die schon erwähnte Kontrafakturforschung, denn hier hat man exakt den gleichen Sachverhalt systematisierend erfaßt, indem man im Bezug auf Literatur von einer >Schreibweise< spricht und im Bezug auf die Kontrafaktur überhaupt und im allgemeinen von einem Verfahren. > Verfahren< meint dabei soviel wie verschiedenartige Elemente in verschiedenartigen Gestaltungsbereichen mit einer gemeinsamen FunktionKompositionsweisen< oder auch von >Vortragsweisen< in der Musik usw. sprechen. Ich möchte en passant darauf aufmerksam machen, daß die Redeweise von den Gestaltungsbereichen und den Gestaltungstechniken, die ich hier übernehme, noch nichts darüber sagt, ob es sich zugleich auch um künstlerische Gestaltung bzw. Gestaltungstechniken und Kunst in einem emphatischen Sinn handelt - diese werden ebenso wie Gestaltungstechniken außerhalb der Kunst erfaßt, aber eben nicht ausschließlich, so daß sich durchaus die sinnvolle Frage nach so etwas wie Alltagsmanierismus oder Gebrauchsmanierismus behandeln ließe. Diese Frage verfolge ich hier jedoch nicht weiter: Gewissermaßen aus altem Herkommen und wegen des naheliegenden fachlichen Interesses konzentriere ich mich hier auf künstlerische Gestaltungsbereiche und Gestaltungstechniken. Natürlich richtet sich in einem nächsten Schritt das Augenmerk auf die Frage, welche Funktion diese verschiedenartigen formalen und semantischen Gestaltungselemente haben, und hier meine ich nun, immer wieder auftauchende Formulierungen wie die von der >ars ultima< bei Lomazzo 3 über die Rede von der Verblüffung durch wunderbare Kunstbeherrschung bei Marino oder auch Tesauro bis hin zur Rede von der >Kunst der Kunst< oder dem >stylish style< bei Shearman mit dem Ausdruck demonstrative Artistik< bezeichnen zu können:

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Vgl. hierzu Victor I. Stoichita: Ars ultima. Bemerkungen zur Kunsttheorie des Manierismus. In: Colloquium Helveticum 20, 1994, S. 71-95.

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Das scheint mir die Funktion manieristischer formaler oder semantischer Gestaltung zu sein - nämlich geradezu akrobatische Beherrschung der Gestaltungsmöglichkeiten zu demonstrieren, Artistik im Sinne von Akrobatik oder Geschicklichkeitskunst (und nicht nur einfach im Sinne von künstlerischer Gestaltetheit, um ein mögliches Mißverständnis gleich zu vermeiden), eben demonstrative Artistik, die gewissermaßen die Zeigelust des Künstlers belegt und auf die verblüffte Schaulust des Publikums abzielt - es ist Kunst um des Kunststücks willen, >l'art de l'art< nicht >l'art pour l'artglobalen Verfahren< - und entsprechend wäre dann in den einzelnen Künsten von einer globalen Schreibweise, einer globalen Malweise usw. zu sprechen. Um in der Explikation andererseits zu verdeutlichen, daß es zwei grundlegende strukturelle Ebenen der Gestaltung bzw. des Artefaktes gibt, auf denen so etwas wie demonstrative Artistik stattfinden kann, nämlich die der formalen Struktur und die der Semantik, die Ebene des Wie und die Ebene des Was, rede ich zudem von einem globalen Verfahren mit der Funktion, auf der formalen Ebene und/oder der semantischen Ebene Artistik vorzuführen; im Hinblick auf spezielle Ausprägungen des Verfahrens, etwa im Hinblick auf die Schreibweise in der Literatur, unterscheide ich dann entsprechend Ausdrucks- und Bedeutungsebene des Textes - und so fort. Schließlich sollte die Definition noch einen Aspekt berücksichtigen, auf den die Analyse von manieristischer Kunst und Literatur aufmerksam macht, nämlich daß manieristische Kunst nie so etwas wie den semantischen point of no return überschreiten und gewissermaßen absolut künstlich oder abstrakt ist, sondern ihre spezifische demonstrative Artistik immer auf der Basis einer gewahrten Semantik entwickelt - sei es nun die Basis einer im Prinzip gewahrten konventionellen Grammatik in der Literatur, sei es die Basis quasi-realistischer, gegenständlicher Darstellung in der Malerei, der Plastik und anderswo. Demonstrative Artistik benötigt also so etwas wie einen konventionell geregelten, tragenden Grund: Nicht das medienspezifische Material selbst steht im Mittelpunkt des Interesses, wie das unter anderem bei abstrakter Kunst der Fall ist, sondern die Artistik, die mit eben diesem Material

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demonstriert wird. Ich spreche daher von einer >gewahrten konventionellen BasisOulipien< George Perec kann es die romanübergreifende Vermeidung eines bestimmten Buchstabens sein, im Falle Ludwig Tiecks kann es die Verwirrung von Fiktionsebenen sein, bei Martin Opitz wiederum das logodaedalion oder auch die versus rapportati. Eine systematische Schreibweise, wie ich den rekonstruierten und gewissermaßen geschichtsleeren Ordnungsbegriff bezeich-

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ne, kann also auf ganz verschiedene, sehr unterschiedliche historische Ausprägungen zutreffen; diese konkreten historischen Ausprägungen des Verfahrens bezeichne ich in der Literatur als historische Schreibweisen und entsprechend ließe sich auch in anderen manieristischen Gestaltungsund Verhaltensweisen zwischen dem gewissermaßen geschichtsleeren, medienspezifischen systematischen Verfahren und dem konkreten historischen Verfahren unterscheiden. Die Unterscheidung zwischen systematischer Verfahrensweise und historischer Ausprägung ermöglicht es also, Varietäten des Manierismus zu erfassen. Um bei dem Fall der Literatur zu bleiben: Historische Schreibweisen können bei einem einzigen Künstler und vielleicht nur in einem einzigen Text vorkommen - in diesem Fall könnte man von einer individuellen historischen Schreibweise, von einem Schreibweisenindividuum sprechen (als Belegfall könnte man etwa Johann Fischart oder in unserem Jahrhundert Arno Schmidt anführen). Demgegenüber kann es aber auch zu historischen Häufungen einer Schreibweise bei mehreren Künstlern und gar innerhalb eines Zeitraums kommen - in diesem Fall könnten wir von Schreibweisengenres sprechen, wie wir sie etwa bei den Nürnberger Sprachkünstlern in der deutschen Barockliteratur finden, oder auch bei den metaphysical poets oder im Marinismus und so fort. Weitere historische Untersuchungen müßten dann in einem nächsten Schritt beschreiben und erklären, in welchen Kontexten es zu Schreibweisenindividuen oder sogar zu Schreibweisengenres kommen konnte; es wären also hiervon ausgehend Untersuchungen zur Soziologie der manieristischen Geschmacksbildung nötig - die sehr verschiedene Produktions- und Rezeptionszusammenhänge von materialästhetisch differenzierter manieristischer Kunst erfassen könnte: Manieristische Texte von bürgerlichen Gelehrten für gesellige Rezeptionszusammenhänge unterscheiden sich in ihrem ästhetisch-sozialen Handlungsfeld wohl von manieristischen Texten in einem religiösen Umfeld ebenso wie von manieristischen Texten in einem höfischen ästhetisch-sozialen Handlungsfeld - und natürlich gehört die Ablehnung manieristischer Kunst als bloße Künstelei, unnatürlicher Schwulst, hyperbolische Unnatur usw. ebenfalls zu den historisch wie systematisch wichtigen Forschungsfällen. Eine solche Soziologie der manieristischen Geschmacksbildung, eine Vermessung ästhetisch-sozialer Handlungsfelder zwischen Zeige- und Schaulust muß und kann jedoch nicht bei medienspezifischen Befunden

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stehenbleiben, wo sich ein Gesamtbild doch nur aus der Betrachtung mehrerer Künste ergibt. Ein exemplarischer Untersuchungsgegenstand für eine interdisziplinäre Soziologie der manieristischen Geschmacksbildung wäre hier sicherlich das Rudolfinische Prag; ein anderer der späthumanistisch gelehrte Manierismus im süddeutschen Raum Ende des 16. Jahrhunderts und andere mehr. Ästhetisch-soziale Handlungsfelder des Manierismus zwischen Zeigelust und Schaulust sind als interdisziplinäre Forschungsgegenstände so effizient und so ökonomisch wie möglich, ohne die Reibungsverluste und Mißverständnisse, die von interdisziplinärer äquivoker Vielsprachigkeit herrühren, nur innerhalb eines fächerübergreifenden theoretischen Rahmens zu erforschen - die Rekonstruktion des Manierismus als demonstratives und medienspezifisch differenzierbares artistisches Verfahren bietet, so meine ich, einen aussichtsreichen Versuch, diesen Rahmen zu modellieren.

Kaspar Maase >Stil< und >Manier< in der Alltagskultur - Volkskundliche Annäherungen*

Umschreiben Wer sich wissenschaftlich mit Alltagskultur beschäftigt, d. h. mit Lebensweise und Ausdrucksformen der unteren und mittleren Sozialschichten, der macht immer wieder eine schmerzliche Erfahrung: Über weite Strekken gibt es für diese Gegenstände keine originäre analytische Begrifflichkeit. Disziplinen wie Volkskunde/Europäische Ethnologie oder die am Modell der angelsächsischen Cultural Studies orientierte Kulturwissenschaft definieren sich geradezu in Abgrenzung vom Defizitdiskurs der Hochkultur. Wer dem folgt, vermag nämlich an Lebensformen und geistigästhetische Praxen der >Ungebildeten< ausschließlich solche Maßstäbe anzulegen, die bislang von kanonisierten Berufsdenkern, -künstlern, -kritikem ausgearbeitet wurden. Im Ergebnis können spezifische Qualitäten von Alltagskultur überhaupt nur als Defizit - als Abweichung nach unten, als Mangel - formuliert werden: Trivialität, Monotonie, Eskapismus, Armut, Roheit, stereotype Machart usw. Im Versuch, eine Sprache zu entwickeln, die die konstitutiven Prinzipien des Handelns, Denkens, Empfindens der einfachen Leute< wertfrei in ihrer Eigenlogik abbildet, griff man zunächst nach höchst ambivalenten, romantisierenden Zuschreibungen; man kennzeichnete unter- und außerbürgerliche Lebensformen als volkhaft, als primitiv und ursprünglich. Das waren allerdings Projektionen einer intellektuellen Elite, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus Furcht vor eigener Dekadenz (>ÜberzivilisiertheitVolkstümlichen< der >Alltag< trat, wählte man einen anderen Weg aus der Sprachlosigkeit. Um weder abwertend noch mystifizierend vorzugehen, versuchte man, Kategorien und

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Für Anregung und Kritik danke ich Bernd Jürgen Warneken.

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Sichtweisen, die an und in der Hoch- und Repräsentativkultur entwickelt worden waren, durch Anwendung auf neue Gegenstände >umzufunktionieren< (so der terminus technicus der späten 1960er). Die Karriere des Stilbegriffs in der akademischen Beschäftigung mit Unterschichtjugend ist exemplarisch für diese Strategie, und im Ergebnis wurde die Bedeutung von >Stil< unzweifelhaft verändert (manche würden sagen: demokratisiert). Was immer im einzelnen anfechtbar ist - grundsätzlich scheint es zu solchem Vorgehen keine Alternative zu geben. Die ethnowissenschaftliche Alltagskulturforschung bemüht sich, mit den entlehnten Kategorien reflektiert umzugehen; sie sollen helfen, die Besonderheit ihres Gegenstandes, seine Differenz zur Hochkultur zu erfassen und sprachlich zu repräsentieren. Das Ziel einer neuen und eigenen Begrifflichkeit bleibt also gültig, aber häufig erweist es sich als unvermeidlich, von hochkulturell gedachten Kategorien auszugehen - unvermeidlich und problematisch. Denn damit vervielfacht sich die Gefahr des intellektuellen Ethnozentrismus, die dem Projekt akademischer Erforschung so ganz anderer Lebenswelten ohnehin eingeboren bleiben wird. Der Autor zumindest hat sich selbst mehrfach dabei ertappt, unreflektiert den Bahnen eines sich quasi eigenlogisch fortspinnenden, etablierten Diskurses zu folgen - mit dem Ergebnis, daß die sprachliche Repräsentation eines Sachverhalts am Ende den eigenen Prämissen widersprach. Solange wir keine disziplinare Kunstsprache schaffen, wird ethnographisches Schreiben in mehrfacher Hinsicht Umschreiben sein: kein punktgenaues Bezeichnen, das >ins Schwarze trifftManier< führt auch in den Ethnowissenschaften über das Konzept >StilStil< im Vordergrund dieses Aufsatzes. Im mehrfachen Annähern und Umschreiben werden vor allem drei Ziele verfolgt. Erstens geht es um die Historisierung der Phänomene, die seit einiger Zeit als Stilisierung oder Ästhetisierung der Alltagswelt erörtert werden. Zweitens wird gegen eine textwissenschaftliche Einengung des Stil-Konzepts und für eine praxistheoretische Lesart argumentiert. Drittens schließlich gibt die Einführung des Konzepts >Manierismus
Stil< und >Manier< in der Alltagskultur

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in die Kulturforschung Anlaß zur Frage, ob beim Import der Metapher >Stil< vielleicht ein zweifelhafter Diskurs mit eingeschmuggelt wurde. Wer nach der Angemessenheit von Kategorien fragt, geht davon aus, man könne >Sache< und Begrifflichkeit auseinanderhalten. Das ist allerdings bei unserem Gegenstand noch etwas schwieriger, als es ohnehin schon immer war. Eine nähere Beschäftigung macht nämlich recht schnell deutlich, daß Stil in Bezug auf Alltagskultur ein Beobachterbegriff par excellence ist. Mehr noch: Die Sachverhalte, von denen hier erörtert werden soll, ob sie sinnvoll durch Konzepte wie Stil und Manierismus gedeutet werden, treten uns keineswegs voraussetzungslos gegenüber. Vielmehr wurden sie in den Ethnowissenschaften seit Jahrzehnten unter semiologischen Fragestellungen behandelt; d.h., sie wurden wissenschaftlich abgebildet mithilfe eines theoretischen und methodologischen Instrumentariums, das Kulturphänomene wie Texte zu lesen sucht. Was im Rahmen dieses Paradigmas als Wirklichkeit repräsentiert wird, weist also unvermeidlich Züge auf, die sich einer Interpretation mittels textwissenschaftlicher Begriffe quasi anbieten. Der Autor selbst ist durch diesen Denkstil geprägt. Bei den folgenden Annäherungen gilt es also immer wieder zu prüfen, inwieweit die Affinität der Sache zum Deutungsinstrumentarium ein Methodenkonstrukt ist.

Die angenehme Empfindung des Schönen Jüngere Veröffentlichungen zur Stilisierung oder Ästhetisierung von Alltagspraxen erwecken nicht selten den Eindruck, hier handle es sich um eine Entwicklung neueren oder sogar neuesten Datums. Da scheint es wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Forschung der Alltagskultur auch weit zurückliegender geschichtlicher Perioden Qualitäten zuspricht, die zumindest in die Nachbarschaft dessen gehören, was wir als Funktionen und Wirkungsweisen künstlerischer Stilisierung und Manier zu denken gewohnt sind. Daß der Mensch seine Welt »nach den Gesetzen der Schönheit« formiere, hatte der junge Marx postuliert, durchaus in der Tradition des deutschen Idealismus.1 Neuere kulturanthropologische Arbeiten erlauben

Karl Marx: ökonomisch-philosophische Manuskripte [1844]. In: Karl Marx /

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es, die These vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ich deute die Denkrichtung in knappsten Strichen an. Ausgangspunkt ist der Gedanke, daß ästhetische Kommunikation Bestandteil spezifisch menschlicher Lebensform ist und in jeder Kultur von allen Mitgliedern praktiziert wird; das schließt die subjektive Verfugung über entsprechende Codierungs- und Decodierungskompetenzen ein und gilt zunächst einmal unabhängig von arbeitsteilig ausdifferenzierten Praxen ästhetischer Vergegenständlichung. Ein Grundzug im Prozeß der Moderne war das Reflexivwerden dieser Qualität von Umweltbeziehungen und in der Folge die Suche nach dem Genuß der damit verbundenen Empfindungen als Selbstzweck. Was in neueren Theorien der Gegenwartsgesellschaft als Basistrend einer »Ästhetisierung des Alltags« gefaßt wird,2 wäre demnach historisch zu verfolgen zumindest durch die vergangenen 1000 Jahre Alltag derer, die nicht zu den Eliten zählten. Anthropologische Befunde sprechen dafür, allen Kulturen eine Dimension der Expressivität zuzuschreiben, die als ästhetisch zu qualifizieren ist im Sinne von aisthesis als umfassender sinnlicher Erkenntnis. Damit ist etwas anderes gemeint als die Vorstellung vom Ursprung der Kunst aus Magie und Ritual jungpaläolithischer Menschengruppen. Gedacht ist nicht an die Entfaltung mimetischer, kognitiver, magischer, deutender Funktionen in einem besonderen Feld des gesellschaftlichen Lebens. Vielmehr bilden nach dieser Auffassung sinnlich akzentuierte Expression und sinnliche Erkenntnis (Senden und Empfangen) eine besondere, konstitutive Dimension der Kommunikationsprozesse, ohne die menschliche Existenz und Entwicklung nicht zu denken sind. Der Psychologe Eckhard Neumann definiert in seiner anregenden Studie ästhetische Produktivität als »Gesamtheit der gestalterischen und wahrnehmenden Verhaltensweisen des Menschen zu allen Sinnesbereichen«.3

2

3

Friedrich Engels: Ergänzungsband. Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844. Erster Teil, Berlin (DDR) 1968 (Marx / Engels, Werke. Hg. von Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED), S. 517. So etwa Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. - New York 1992; vgl. auch Wolfgang Welsch (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen, München 1993. Eckhard Neumann: Funktionshistorische Anthropologie der ästhetischen Produktivität, Berlin 1996, S. 14.

>Stil< und >Manier< in der

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Dabei geht es gerade um die nichtikonische Gestaltung der sinnlichen Qualitäten von Sachen und Handlungen der Menschen, einschließlich der Gestaltung ihrer eigenen Erscheinung. Körperbemalung und Gestik, die Gestaltung von Gebrauchsgütern und sozialen Figurationen - kurzum, die gesamte künstliche Umwelt wird in ihren sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten nach einem Code geformt, der innerhalb einer sozialen Einheit kommunikative und orientierende Funktionen hat. 4 Neumann spricht von der Entwicklung »sozialer Symbolbildungsprozesse in ästhetisch verdichteter Repräsentanz«, die dem sozialen Lebensraum die Qualität eines kollektiv geteilten »komplexen Emotions-, Motivations- und Bewußtseinsraums« verleihen. 5 Ästhetische Gestaltung alltäglicher Praktiken und Ausbildung eines entsprechenden Wahrnehmungssensoriums und der Decodierungskompetenz der Akteure des Alltags schaffen »sinnliche Ordnungsstrukturen« 6 des Sozialen. Sinnlich-emotive Orientierung - das ist ihr spezifischer Gebrauchswert. 7 Dem entspricht dann die subjektive Ausbildung und Tradierung dessen, was Leroi-Gourhan den »Code der ästhetischen Gefühle« genannt hat. 8 Diese Emotionen müssen, wenn sie lebenssichernd und -erweiternd wirken sollen, mit angenehmen Empfindungen verknüpft sein. Gelungener, d. h. sinnlich eindrucksvoller Ausdruck und seine Rezeption werden belohnt - durch soziale Anerkennung, aber gleichermaßen durch Auslösung befriedigender und darum von den einzelnen erstrebter Gefühle. Eine neue kulturelle Qualität erscheint, wo die (zunächst der Kommunikation dienenden) angenehmen ästhetischen Empfindungen um ihrer selbst willen gesucht werden. Die sinnlich wahrgenommene Gestalt von Sachen und Tätigkeiten, Menschen und sozialen Figurationen wird über ihre Zeichenfunktion hinaus als - ein moderner Terminus - >schön< empfunden, sie wird geschätzt, gesucht, geschaffen. Schönheitsempfinden und Schönheitssuche sind, so die These, Dimensionen der Lebenspraxis europäischer Unterschichten seit Jahrhunderten - und zwar logisch und gene-

4

5 6 7 8

Vgl. dazu aus funktionalistischer Sicht Sylvia M. Schomburg-Scherff: Grundzüge einer Ethnologie der Ästhetik, Frankfurt a. M. 1986. Neumann, Anthropologie (Anm. 3), S. 189. Ebd., S. 53. Ebd., S. 79. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M. 1980, S. 337.

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tisch unabhängig von arbeitsteilig gesonderter Kunstproduktion und -rezeption. Die hier knapp angedeutete Argumentation bewegt sich gewissermaßen auf einem schmalen Grat. Einerseits richtet sie sich gegen elitäres ästhetisches Denken, indem betont wird, daß elementare Funktionen und Qualitäten künstlerischer Arbeit nicht durch eine ontologische Kluft von den Leistungen der Alltagspraxis getrennt sind. Andererseits soll aber gegen romantisierende Auffassungen der > Verschmelzung von Kunst und Leben< die Spezifik ästhetischer Ausdrucks- und Stilisierungsleistungen in der alltäglichen Lebensweise der einfachen Leute< akzentuiert werden, die es verbietet, sie unter die in den Kunstwissenschaften 9 angewendeten Interpretamente und Modelle zu subsumieren. >Autonome< Kunst und ästhetische Kommunikation und Empfindung im Alltag sind zwar (entfernte) Verwandte, aber keine Zwillinge. Alle theoretischen und historiographischen Untiefen umfahrend, sei hier nur eine These formuliert, die für das Folgende von Belang ist. Bei der Erzeugung jener Phänomene, die die Forschung als Formen subkulturellen Stils im 20. Jahrhundert interpretiert, bildete (neben den mit dem Stilkonzept thematisierten symbolischen Botschaften) die Suche nach der angenehmen Erfahrung des Schönen - etwa in der >Eleganz< der Erscheinung - ein tragendes Motiv. In dieser Betrachtung erscheinen >StilisierungsStil< und >Manier< in der

Alltagskultur

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ihren nichtikonischen und nonverbalen Dimensionen als >Sender< symbolischer Botschaften von Macht, Heiligkeit, Legitimität. Wer barocken Festen oder feudaler Architektur solche Wirkungen zuschreibt, der setzt voraus, daß die Adressaten im einfachen Volk auch über entsprechende Decodierungskompetenzen verfügten. Diese Annahme wird jedoch praktisch nie explizit gemacht; Folgerungen und Forschungsfragen, die damit eigentlich aufgeworfen sind, werden nicht benannt. Man zitiert aus Kleiderordnungen, um die Strenge und den umfassenden Anspruch ständischer Gliederung zu illustrieren, und manchmal geht man auch auf die unablässigen Versuche ein, derartige Vorschriften und Verbote zu umgehen oder offen zu übertreten. Die Betrachtung richtet sich dabei jedoch in erster Linie auf das Nichtalltägliche, auf Fest, Feier, den herausgehobenen öffentlichen Auftritt. >Alltag< gibt es hier nur als alltägliche Herrschaftspraxis: in den Formen höfischer Selbststilisierung und bürgerlicher Repräsentation. Das Volk erscheint in der Rolle von Zuschauern und Statisten, beeindruckt von den Inszenierungen der Macht. Aber die Frage, ob die Menschen, die so beeindruckt gewesen sein sollen von der Ästhetik der Herrschaft, in ihrem Alltag nicht ebenfalls über ästhetisch-symbolische Handlungs- und Gestaltungskompetenz verfügten, scheint jenseits des Denkbaren (vielleicht interessiert sie auch einfach nicht). Derartiges ist allerdings für weite Teile der Bevölkerung vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert wirklich schwer vorstellbar, für die nichtständischen, plebejischen 10 und protoproletarischen Stadtbewohner, für die Armen und Vagierenden, für den wachsenden unterbäuerlichen Teil der Landbevölkerung. Mit Tracht und Hausformen, bäuerlichen Möbeln und Repräsentationsgütern hat die Volkskunde zwar den Sachfundus, der für alltagsweltliche ästhetische Kommunikation zur Verfügung stand, in wesentlichen Teilen inventarisiert. Doch ging es ihr dabei vor allem um die Rekonstruktion des »Lebens in überlieferten Ordnungen« (Leopold

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Ohne den Begriff des Ästhetischen zu verwenden, doch mit Hinweisen auf Distinktion und »Verfeinerung« werden derartige Dimensionen des Alltags erörtert bei Hans Medick: Plebejische Kultur, plebejische Öffentlichkeit, plebejische Ökonomie. Über Erfahrungen und Verhaltensweisen Besitzarmer und Besitzloser in der Übergangsphase zum Kapitalismus. In: Robert M. Berdahl u. a.: Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1982, S. 157-204, bes. S. 166-173.

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Schmidt), um Brauch und Sitte als Garanten einer Volkskultur, in der jedem ein fester und Lebenssinn verbürgender Platz zugewiesen war. In dieser Perspektive fügten sich die Sachen zu einem verbindlichen, ja starren, jedenfalls eindeutigen Zeichensystem zusammen. Die Menschen handelten als Repräsentanten einer Sozialgruppe, Spielräume gab es da nicht. Symbolische Mehrdeutigkeiten, individuelle Grenzverschiebungen und -Überschreitungen, kreative Nutzung des sachkulturellen Fundus und die subjektive Empfindsamkeit für das Schöne waren kein Thema. Immerhin legt diese Forschung nahe, daß im dörflichen Kontext ein hochempfindliches Sensorium für die ästhetische Codierung sozialer Positionen bis weit in dieses Jahrhundert überdauerte. »Jede Frau«, so heißt es in einer Studie zu den 1930er Jahren, »wußte genau Bescheid, zu welcher Gelegenheit sie welchen Trachtenanzug tragen mußte und durfte und welche Zeichenfunktion die Tracht ihrer Mit-Trachtenträgerinnen besaß.« 11 Jedes Band, jede Stoffqualität, jede Farbe, ja die Haltung des Kopfes und die Weise zu gehen hatten Bedeutung - und zwar in Relation sowohl zum Anlaß des Trachtentragens wie zur Stellung der Trägerin im dörflichen Sozialkosmos. Doch scheint es sich hier eben nur um ein Relikt zu handeln. Mit dem Übergang zur industriellen Lohnarbeit und zur städtischen Lebensweise im Lauf des 19. Jahrhunderts verließen immer mehr Menschen die überkommenen Ordnungen, auch die ästhetisch-symbolischen. An die Stelle der Tracht trat das Angebot industriell produzierter Kleidung zwischen den Polen des Praktischen und des Modischen. Nicht nur Stillosigkeit, sondern Formlosigkeit überhaupt scheint den Alltag von Generationen beherrscht zu haben. Wo längst Vernutztes, Geflicktes, provisorisch Repariertes die Menschen umgab, da mußte schon das Leben in und mit standardisierten Massenprodukten als Verbesserung erscheinen. Es ist schwer vorstellbar, wie in diesem Rahmen und mit diesem Material sinnlich expressive Praktiken entwickelt und entsprechende Decodierungskompetenzen geübt worden sein sollen. Und doch ist zu fragen, ob der Befund nicht einige blinde Stellen aufweist. Sicher, zeitgenössische Berichte wie Engels' >Lage der arbeiten-

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Gitta Böth: Kleidungsverhalten in hessischen Trachtendörfern. Der Wechsel von der Frauentracht zur städtischen Kleidung 1969-1976 am Beispiel Mardorf. Zum Rückgang der Trachten in Hessen, Frankfurt a. M. u. a. 1980, S. 119.

>Stil< und >Manier< in der

Alltagskultur

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den Klassen in England< oder Wenzel Holeks Schreckensgemälde vom Vegetieren der >AbraumakenStilisierung< wie von einem fremden Stern anmutet. Aber dürfen wir sie fìir das Ganze des Unterschichtalltags setzen? Haben die Geschichtsschreiber des Arbeiterund Unterschichtlebens überhaupt nach den Spuren von Kommunikation mittels verdichteter, gesteigerter sinnlicher Qualitäten an Alltagsgütern und -praktiken gesucht? Die Arbeiterkulturforschung hat auch nur symbolische Inszenierungen und Arrangements >von oben< in den Blick genommen, nicht die subjektive ästhetische Kompetenz. Hier gibt es zweifellos ein gehöriges Quellenproblem, 13 insbesondere im Blick auf die Erschließung der ästhetischen Codes, die definierten, was denn überhaupt wegen seiner sinnlichen Qualitäten als symbolisch aufgeladen wahrgenommen werden konnte. Doch jede offene Frage ist ein Plädoyer dafür, die These von der existenziellen Unverzichtbarkeit nichtikonischer, nonverbaler ästhetischer Gestaltung und Wahrnehmung für menschliches Dasein wenigstens als heuristisches Angebot ernstzunehmen und in Forschungsziele umzusetzen. An dieser Stelle ist eine weitere kulturanthropologische These einzuführen, die die eher globale Vermutung konkretisiert. Hans Medick hat den Gedanken von Clifford Geertz aufgegriffen, daß in den alltäglichen symbolischen Formen einer Kultur »die Leute sich [...] vor sich selbst und vor anderen darstellen.« 14 Medick pointiert die Funktion symbolischer Selbstauslegung, indem er von »Selbstinterpretation« der grundlegenden Erfahrungen und »Selbstübertreibung« der basalen Prinzipien und Werte spricht, die den Alltag regieren. Dies werde mit alltäglichen Tätigkeiten im engeren Sinn, im Essen, Sich-Bewegen und Lieben, ebenso geleistet

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14

Wenzel Holek: Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters, Jena 1909, S. 102-126. Als Hinweis darauf, was man bei zielstrebiger Suche aber doch alles dokumentiert finden kann, vgl. Andrea Holthusen: Was hing bei Arbeitern im Kaiserreich an der Wand? Ein Beitrag zur historischen Wandschmuckforschung. In: Tübinger Korrespondenzblatt, H. 33, 1988, S. 3-21. Clifford Geertz: »Aus der Perspektive des Eingeborenen«. Zum Problem des ethnologischen Verstehens. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983, S. 289-309, Zit. S. 293.

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wie in den stärker demonstrativen und rituellen Praktiken, in denen es sich dem Forscher vielleicht am ehesten erschließe.15 Selbstdarstellung und Selbsttlbertreibung durch die Akteure des Alltags - dieser Hinweis bietet sich bei der Erkundung von Stil(isierung) und Manier(ismus) geradezu an. Leider fehlen historische Ethnographien, die uns darüber empirisch gegründete Auskunft gäben. So kann hier nur eine Linie - lückenhaft und tentativ - verfolgt werden: die der modernen Jugendkulturen und Jugendstile.

Proletarischer Chic Der massenhafte Übergang aus den festen, symbolisch-ästhetisch mit dem Alltag verklammerten Ordnungen des ancien régime in die scheinbar formlose Welt des Proletariats und der städtischen wie dörflichen Unterschichten löste auch Institutionen und Bräuche vorindustriellen Jugendlebens auf. Doch bald schon zeigten sich, wahrscheinlich in Anverwandlung plebejischer und protoproletarischer Traditionen,16 unter den vermeintlich Dekulturierten neue Verhaltensmuster. Hinweise geben die verbreiteten zeitgenössischen Klagen über »Putz- und Schlecksucht« sowie Luxuskonsum im vierten Stand, insbesondere unter jungen, unverheirateten Arbeiterinnen und Arbeitern.17 Sicher folgte das getadelte Verhalten unterschiedlichen Mustern, denen einzig gemeinsam war, daß sie gegen die Rezepte der Sparsamkeit und Bescheidung verstießen, die bürgerliche >Volksfreunde< den Proletariern verordneten. Die Bedeutungsdimensionen seien hier kurz skizziert, weil sie alle in den Jugendstilen des 20. Jahrhunderts weiterwirkten. Unverkennbar ist zunächst das Bestreben, wenigstens zeitweilig die soziale Ausgrenzung zu überwinden, die die an ihrer Kleidung und den be-

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16 17

Hans Medick: »Missionare im Ruderboot«? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 10, 1984, S. 295-319, ZitatS. 306. Vgl. Medick, Plebejische Kultur (Anm. 10). Vgl. etwa Martin Scharfe: Geschichtlichkeit. In: Hermann Bausinger u. a.: Grundzüge der Volkskunde, Darmstadt "1999, S. 127-203, hier S. 188f.; Wolfgang Kaschuba: Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 16.

>Stil< und >Manier< in der

Alltagskultur

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schränkten Konsumtionsmöglichkeiten erkennbaren Arbeiterinnen und Arbeiter traf. Junge Frauen sparten sich buchstäblich vom Munde das Geld ab für >ein schönes KleidSchlurfsDritten ReichStil< und )Manier< in der Alltagskultur

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tuch treten. Die Halbschuhe sollten möglichst dicke, aufgedoppelte Sohlen zeigen, eventuell noch mit einem Zierwulst versehen. Die Form des Huts war am wenigsten festgelegt; er konnte weit im Nacken sitzen, mit nach unten gebogener Vorderkrempe und hinten eingedrücktem Oberteil, oder tief und schräg in die Stirn gezogen werden. Auch der Mantel sollte lang sein und die Schultern betonen. Körperhaltung und -bewegung richteten sich nach folgendem Idealbild. Der Schlurf präsentierte sich mit Zigarette im Mundwinkel, die Hände in den Hosentaschen, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Der »langsam fließende, betont lässige Gang« signalisierte blasiertes Desinteresse und ein wenig spöttische Überlegenheit gegenüber der Umwelt. Nur im Zusammenhang mit >Swing< verband sich diese >kühle Eleganz< mit Hitze, Ungestüm und Wildheit. Nach codifizierten Schritten und Abläufen steigerten sich im Tanz Tempo und Intensität der Bewegung zu sonst unangebrachter Dichte.22 Ein besonders beliebter Swingtitel, der >Schwarze Panthen, lieferte die Metapher für die angestrebte Inszenierung von Männlichkeit. Der gut vierzig Jahre später protokollierte Rückblick eines Beteiligten verweist gleichermaßen auf die außerordentliche subjektive Bedeutsamkeit, die die unter großen Mühen und Opfern erworbenen Stilutensilien für den jungen Arbeiter hatten, wie auf Überbietungsmotive beim Erfüllen der kollektiven Stilnorm. >1 hob trogn: ein weinrotes Sakko [...] mit weißen Tennisstreifen drinn, weite, schräg geschnittene Taschen, die Reversspitzen grau, ziemlich breit. Das Sakko war zu meiner Körpergröße 85 cm lang, also des is ungefähr bis zum Knie gangen. Die Hose woar 30 bis 32 Zentimeter breit und hat 10 bis 12 Zentimeter Stulpen ghabt.< - >Do sans jo grennt mitn Zentimetermaß: I hob a breitere Hosn! Bis 32 Zentimeter. I weiß goar net, wo ma do gmessn ham. [...] I kann mi nur erinnern; der hat a 28er Hosn ghabt und der a 32er.Stil< und >Manier< in der Alltagskultur

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ne, Reiz der Geschwindigkeit und Spiel mit der Todesgefahr - durch die Rocker taugten.34 Die Decodierung des Stils verlangt, der erwähnten doppelten Artikulation< zu folgen. In Relation zur Herkunfts- oder Stammkultur der Arbeiterklasse artikulierten die Subkulturen Distanz und Kritik, die Weigerung, die wahrgenommene Auflösung und zugleich Unterwerfung der alten Arbeitermilieus zu akzeptieren. Gegenüber der Hegemonialkultur artikulierte der Stil Widerstand gegen die Zumutung kultureller Selbstabwertung, gegen die Anpassung an Mittelschichtmuster, die die Arbeiterjugendlichen als den Preis empfanden, den sie ftlr einen zweifelhaften Erfolg in der bürgerlichen Gesellschaft zahlen sollten. So die Interpretation durch das CCCS. Die Studien beließen es nicht bei der Sicht von außen auf das Spiel der Homologien und Oppositionen. Sie gingen davon aus, daß Stilkonstruktionen auch etwas leisten müssen, daß sie subjektiv sinnvoll sein müssen für die, die sie (trotz Nachteilen und Strafen aus ihrer Umwelt) praktizieren. Angeführt wurden vor allem zwei Nutzeffekte. Zum einen - besonders ausgeprägt im Skinhead-Stil die »magische Rückgewinnung der Gemeinschaft« durch die symbolische Konstituierung und territoriale Anbindung einer Welt, über der die alten kollektiven Werte der Arbeiterkultur schwebten.35 Zum zweiten, allgemeiner, die symbolische Lösung< von Problemen, die die Arbeiterjugendlichen mit ihrer Stammkultur teilten - Probleme, die mit der Auflösung der herkömmlichen Milieus und dem relativen Bedeutungsverlust von Handund Industriearbeit seit den 1960ern verbunden waren. Das Stil-Konzept des CCCS verband die semiotische Lektüre von Formen der Alltagspraxis mit gesellschaftsanalytischen Befunden. Der Schlüssel zur Decodierung wurde letztlich nicht im Repertoire ästhetischsymbolischer Ausdrucksformen und in deren beziehungsreichem Spiel gesucht, sondern in der auf Sinnverstehen ausgerichteten Deutung von sozialer Praxis und Erfahrung.

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Vgl. Paul Willis: >Profane Cultures Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugendkultur, Frankfurt a. M. 1981. John Clarke: Die Skinheads und die magische Rückgewinnung der Gemeinschaft. In: Clarke u. a., Jugendkultur (Anm. 32), S. 171-175.

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36 >Manierismus< als Verdikt

Dem Leser wird es nicht entgangen sein: Hier wird unterschwellig polemisiert. Nun soll der bislang ungenannte Gegner auf die Bühne gerufen werden; sein Stichwort lautet >ManierismusSelbstinterpretation und Selbstübertreibung< kam nun das kalkulierte Spiel mit öffentlichen Vorstellungen von und Erwartungen an eine >richtig rebellische< Subkultur hinzu. Seitdem stand die Frage nach Authentizität und Originalität jugendkultureller Ausdrucksformen im Zentrum der Selbstverständigungsversuche und Kommentare, die die Entwicklung begleiteten und vorantrieben. Beteiligt waren drei Gruppen von Deutungsaktivisten: erstens Träger des Stils selber, zweitens an der Vermarktung Interessierte, drittens intellektuelle Interpreten. Sie alle haben durch ihre spezifischen Auslegungen daran mitgewirkt, >Stil< aus dem Feld der wissenschaftlichen Beschreibung in das Feld jugendlicher Selbstdeutung zu transponieren, aus dem Kontext der Analyse in den Kontext der Lebenswelt. Dabei griffen alle Beteiligten auf den kunstwissenschaftlichen StilDiskurs zurück. Die CCCS-Autoren hatten die Kategorie zweifellos auch dort entlehnt, sie aber durch ihre strukturalistisch-marxistische Lesart quasi subjektlos gemacht. Stil war das Produkt doppelter Artikulation von Widersprüchen in einer Klassenkultur; Fragen nach Originalität oder Authentizität hatten in diesem Konzept keinen Platz. Und die empirischen Studien der britischen Kulturforscher trugen einen ausgeprägt ethnogra-

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Vgl. Rolf Lindner: Subkultur. Stichworte zur Wirkung eines Konzepts. In: Berliner Blätter Nr. 15, 1997, S. 5-12, hierS. 8.

>Stil< und >Manier< in der Alltagskultur

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phischen Charakter. Sie speisten sich aus intensiver, nicht selten teilnehmender Beobachtung des Feldes; die Darstellungen bebilderten nicht ein vorgewußtes Stil-Schema, sie spürten mit offenem Blick für Details und für die Selbstinterpretation der Akteure der Bedeutung subkultureller Praktiken nach. Bei der bundesdeutschen Rezeption blieb jedoch das empirisch-ethnographische Interesse auf der Strecke. Seit den späten 1970ern schien hierzulande - mit dem Phänomen selbst - der Signifikant >Stil< ein Eigenleben zu entfalten. Er lud sich wieder auf mit Bedeutungen des - im Alltagsbewußtsein ohnehin dominanten - semantischen Herkunftsfeldes: Originalitätskult, Schöpferideologie, Autonomieanspruch. Hintergrund war die medien- und marktvermittelte Ausbreitung und Pluralisierung von Jugendstilen. Die Bundesrepublik hatte an deren Internationalisierung besonders ausgeprägt teil; seit den 1960ern gelangten neue Bewegungen im wesentlichen als medienvermittelter und von Verwertungsinteressen begleiteter Import hierher. Innerhalb der Szenen begann eine konkurrenzgetriebene Distinktionsauseinandersetzung. Wer Anerkennung als authentische, durch Opfer legitimierte Stilavantgarde und Stilpriesterschaft beanspruchte, der distanzierte sich von followers of fashion, die sich angeblich nur ein unverbindliches Freizeitkostüm überwarfen. Der Kampf um die anerkannte Definition des authentischen Stils< hatte auch ökonomische Bedeutung: Es ging um Marktanteile von Musikgruppen und um die Scheidung des legitimierenden vom illegitimen Outfit. Die Marketingstrategen der Konsumgüterindustrie machten sich eine weitere Dimension des kunstwissenschaftlichen Stilbegriffs zunutze: Ansprüche auf Konsistenz, Geschlossenheit, Stilreinheit. Sie konnten dabei, wie Rolf Lindner gezeigt hat, an kulturwissenschaftliche Vorarbeiten anschließen." Um ein >image< zu prägen, dem die Jugendlichen durch Kauf entsprechender Waren nacheifern sollten, bedienten sich Marketingexperten und Werbestrategen aus Studien, denen eine simple »Arithmetik des Stils« zugrunde lag. Die Formel »Musik + Kleidung + Frisur + Droge = Stil X« ließ sich in ein Rezept verwandeln, nach dem jeder und jede sich komplett bei kommerziellen Symbolboutiquen aus-

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Das Folgende nach Rolf Lindner: A propos Stil. Einige Anmerkungen zu einem Trend und seinen Folgen. In: Ders. / Hans Hermann Wiebe (Hg.): Verborgen im Licht. Neues zur Jugendfrage, Frankfurt a. M. 1985, S. 206-217.

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staffieren konnte. Ja, wo es den medienvermittelten Stilszenen gelang, ein »subkulturelles Reinheitsgebot«38 verbindlich zu machen, wurde das kommerziell produzierte >image< geradezu soziale Norm - Protestkonformität. Die zweite Leistung der Wissenschaft, die das Marketing sich aneignete, war die kreative hermeneutische Bedeutungszuschreibung. Interpretationen mit dem Anspruch, den den Handelnden verborgenen Sinn der »sprachlosen Opposition« (Dieter Baacke) zu formulieren, wurden genutzt, um >slogans< zu entwickeln; diese machten die >images< erst richtig tauglich zum kommerziell gestanzten Stilangebot. Rückblickend wird erkennbar, welche Motive den Aufstieg des CCCSAnsatzes zum dominierenden Paradigma bundesdeutscher Jugendkulturforschung trugen. Nicht der empirisch-ethnographische Impuls wurde schulbildend. Die Neugier, zu verstehen, wie es in Arbeiterjugendkulturen zuging, war beschränkt durch ein übergeordnetes Interesse: das Interesse an einer Funktionalisierung der Stilanalysen in der geistigen Auseinandersetzung. Jugendsubkulturforschung war damals ein >linkes< Thema. Die devianztheoretische Abwertung proletarischer Subkulturen galt als Ausdruck bürgerlicher Hegemonie; dem stellte man das Konzept des >Widerständigen< entgegen. Sympathie für die (sub-)proletarische oder alternativkulturelle »resistance through rituals«39 war unterschiedlich ausgeprägt; gemeinsam war der westdeutschen CCCS-Rezeption jedoch die identifikatorische Aufwertung des Ausdrucks-, Protest- und Unabhängigkeitsstrebens, das man aus den Stilgebärden der Subkulturen herauslas. Ich konstatiere das nicht, um mich an billiger 68er-Schelte zu beteiligen. Ich habe diese Sicht selber vertreten, und viele Studien dieser Provenienz haben bleibende Erkenntnisse gebracht. Doch hier geht es um die problematischen Implikationen bei der Verwendung des Stilbegriffs: um seine romantisierende Aufladung. Im Widerständigkeits-Paradigma bedrohten nämlich Medialisierung und Kommerzialisierung die Möglichkeit, Aufbegehren auszudrücken. Schon 1970 beklagte die britische Szene die Verwandlung von »revolt into style«,40 und bald fragten auch die intellektuellen Stichwortgeber in

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Ebd., S. 215. So ein CCCS-Titel (Stuart Hall, Tony Jefferson (Hg.): Resistance Through Rituals. Youth Subcultures in Post-war Britain, London 1976). George Melly: Revolt into Style. The Pop Arts in Britain, London 1970.

)Stil< und )Manier< in der Alltagskultur

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der Bundesrepublik unzufrieden, wo denn der rebellische, unangepaßte, antibürgerliche Impuls geblieben sei. Es scheint symptomatisch, daß an diesem Punkt die Kategorien M a nien und >Manierismus< ins analytische Besteck aufgenommen wurden. 1981 erörterte Rolf Lindner, ob ein subkultureller Stil schon von Anbeginn an durch Kommerzialisierung und massenmediale Fremddeutung ins hegemoniale System inkorporiert sein könne. Sein Befund lautete: »Subkulturzugehörigkeit ist dann nicht mehr Ausdruck eines Aufbegehrens, sondern reiner Manierismus.«41 Was hier noch hypothetische Erwägung war, reüssierte in der bundesdeutschen Jugendforschung schnell zur unangefochtenen Realitätsbeschreibung. Szenen und Stilisierungspraktiken, denen die intellektuellen Beobachter nicht das Authentizitätssiegel verleihen, die sie nur als modische, kommerziell gepushte Inszenierung einstufen, erhalten seither das Negativetikett >ManierManier(ismus)Stil< ist seiner Bemühungen wert, weil hier der Interpret am Erkunden und Erschließen von Wesentlichem (wenn nicht Wesenhaftem) beteiligt ist. >Stil< bedarf zu seiner Realisierung letztlich des wissenschaftlich legitimierten und legitimierenden Deuters; erst er, der den Künstler (oder die Subkultur) besser versteht, als die sich selbst verstehen konnten, bringt den Wahrheitsgehalt der Stilbemühung ans Licht. Was soll er anfangen mit jugendlichen Szenen, deren Stilisierungspraktiken sich auf dem grell beleuchteten Marktplatz, im Getümmel von massenmedialen Deutungen und profitorientierten Eingriffen abspielen, restlos gefangen anscheinend im Bannkreis des Bestehenden!? Schon der Gedanke erscheint absurd, in derartiger Selbstdarstellung eine Erkenntnis zu suchen, die das Bemühen kritischen Geistes wert wäre. Hier ist für den akademischen Interpreten keine tragende Rolle vorgesehen. Kurzum: Der antikommerzielle Affekt des deutschen Intellektuellen verband sich mit narzißtischer Verletztheit; das Urteil über die neueren Jugendszenen lautete >Manier< und >ManierismusStil< und >Manier< in der Alltagskultur

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>Stil< zwischen >Kultur als Text< und >Kultur als Praxis< Voraussetzung für die Karriere des Konzepts >Stil< in den Ethnowissenschaften war deren semiotische Wende. Seit den 1960ern hat sich ein theoretisches und methodologisches Instrumentarium durchgesetzt, das Kulturphänomene zu lesen sucht wie Texte. Das gilt allgemein für Auffassungen von Kultur als symbolischer Ordnung oder als System symbolischer Praktiken; es gilt im besonderen für die interpretative Anthropologie von Clifford Geertz, der hierzulande mit seiner Auffassung von >Kultur als Text< und der Methode der >dichten Beschreibung< prägend gewirkt hat. Heuristisch war der Ansatz zweifellos fruchtbar, und davon soll hier nichts aufgegeben werden. Aber Basismetaphern entwickeln ein gewisses Eigenleben. Sie bringen ein semantisches Feld mit und organisieren Schreib- und Denkpraxen entlang seiner Kraftlinien. Das produziert Erkenntnisgewinn, aber eben auch blinde Flecken. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf den problematischen Aspekt. Sie beziehen sich nicht auf Theorien zu >Kultur als TextManier< und >StilKultur als Text< eingelegte Ausdrucksunterstellung: die Gewohnheit, kulturale Phänomene als A u s druck von ...< zu lesen: Ausdruck eines Codes, eines Darstellungswillens usw., jedenfalls als Ausdruck und - das ist der Kern des Problems - nichts als Ausdruck. Wenn man davon ausgeht, daß die Elemente alltäglichen Handelns Zeichencharakter tragen und daß Kulturforschung den Code entschlüsselt, der ihnen Bedeutungen in einer kohärenten Sinnwelt zuweist, dann beeinflußt das schon die Konstituierung der wissenschaftlichen Tatsachen^ Die im Rahmen des Paradigmas repräsentierten Phänomene weisen unvermeidlich Züge auf, die sich einer Deutung mittels textwissenschaftlicher - im weiteren Sinne: hochkunstwissenschaftlicher - Kategorien quasi anbieten. Im Kontext der westlichen intellektuellen Wissensbestände läuft

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das darauf hinaus, die gesamte Kultur wie einzelne Bereiche in Analogie zum (mehr oder minder organismisch konzipierten) Kunstwerk zu denken. Welcher Art sind die Zeichen, die den Kulturtext konstituieren? Bei Geertz und anderen dominiert eine performative Sicht. Als Kulturzeichen interessieren nicht primär Dinge, Vergegenständlichungen, sondern Handlungen, Praxen, Rituale usw. Metaphorisch wird vor allem auf die Welt des Theaters zurückgegriffen. Geertz' Interpretation des balinesischen Hahnenkampfes ist hier exemplarisch. Problematisch wird die Basismetaphorik, wenn sie impliziert, der Text bzw. die Aufführung drückten etwas aus; nicht selten wird das sogar intentional gedacht. Dem Wissenschaftler, der einen Ausschnitt des Alltags mit seiner verwirrenden Vielfalt der Erscheinungen deuten möchte, bietet sich hier ein verführerisches Modell. Auch die Idee, nach >Selbstinterpretation< und >Selbstübertreibung< basaler Prinzipien einer Kultur zu suchen, folgt der Ausdrucksunterstellung. Die beiden Interpretamente wurden oben zur Deutung historischer Jugendkulturen herangezogen; nun sind ihre Grenzen zu erörtern. Einengend wirkt die Vorstellung von Kultur als Text im Singular, nicht als polysemische >Live-AuffÜhrung< einander überlagernder, spiegelnder, bestätigender und negierender Stimmen und >TexteKultur< haben wir heute zuallererst das Management heterogener Bedeutungen zu sehen, die aus differenten Kontexten stammen. Diese Sicht hat der schwedische Anthropologe Ulf Hannerz überzeugend entwickelt.44 Alltagskultur als Ausdruck zu interpretieren, legt Ideen von schließbarer Gestalt und fixierbarer Substanz nahe - das wird zunehmend problematisch. Zweitens: Kultur als Praxis ist auch offener als das Performanzkonzept von Alltag als Theater, als Inszenierung. Wer nach dem Skript sucht, dem

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Ulf Hannerz: Cultural Complexity. Studies in the Social Organisation of Meaning, New York 1992.

>Stil< und >Manier< in der Alltagskultur

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die Aktionen der Handelnden folgen, neigt zum Ausblenden der Phänomene, die das Gesuchte zu verdecken scheinen. Aber ein kulturelles Skript< existiert einzig in den praktischen Handlungen, die nie identisch, nie eindeutig sind. Kulturelle Praxis vollzieht nicht, drückt nicht etwas aus, was außerhalb existierte. Sie ist stets im selben Maße Variation, Veränderung, Neuerfindung des >Skripts< wie sein >Ausdrucke Mehr noch: Das >Skript< ist für die Akteure immer auch Material, dessen sie sich zu eigenen Zwecken bedienen - Zwecken, die nicht auf der Suche nach Stil ausgeblendet werden dürfen. Zu denken ist hier an Funktionen, die gerade nicht unter >Ausdruck< fallen, sondern eher unter Selbstzweck und Selbstgenuß - am eigenen Körper und der Wirkung, die er ausübt; am spielerischen Interagieren und spontanen Ausprobieren mit Mitspielern und Publikum; an den sinnlichen Reizen der Situation. All dies sind nicht einfach subjektive Gratifikationender Kultun oder >der Gruppe< zur >Selbstübertreibung< instrumentalisiert werden - es sind eigenwertige Dimensionen. Schließlich umfaßt Kultur als Praxis auch Kontingenz, Zufall, Sinnloses. Selbstverständlich kann nicht darauf verzichtet werden, Alltagskultur auf wiederkehrende Muster, sinnhafte Logiken und bedeutungsvolle Codes zu befragen. Stets jedoch gilt, daß Kultur sich in situativ j e einmaligen Praktiken realisiert. Die analytisch herauspräparierten Strukturen werden jeweils verflüssigt und verändert, sie werden geöffnet für heterogene Botschaften und mehrdeutige Lesarten und durchschossen von Aktionen, die keine intersubjektiv geteilte Bedeutung haben. Es steckt wissenschaftliche Hybris in der Annahme, alles im Alltag trage Zeichencharakter. Drittens zeigen Stilanalysen im Paradigma >Kultur als Text< einen Bias zugunsten von Kulturelementen, die sich in einer prägnanten Gestalt zusammenschließen lassen; die Interpreten präferieren Dingliches gegenüber Praktiken. Am Beispiel des subkulturellen Jugendstils: Zu seinen Zeichen gehören auch die Prügeleien, in denen der Männerbund sich abgrenzt und definiert. Mit wem man sich wie schlägt, kann ebenso bedeutsam für den Stil sein wie alle Accessoires zusammen. Während aber akademische Interpretationen von Punk einen großen ikonologischen und ritualhistorischen Aufwand treiben, gesteht man den Prügelknaben der Medien, den Skinheads, kaum mehr die Qualität >Stil< zu.45

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Hier wirkt allerdings wohl auch bürgerlicher Ethnozentrismus. Skin-Kultur prä-

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Zwischenstand Das Konzept >Manier(ismus)< hat bislang das Verständnis alltagskultureller Phänomene eher gehemmt als gefördert. Die Ursache lag, wie gezeigt, darin, daß man dem Diskurs der Originalgenie-Ästhetik folgte und Stil mit Authentizität und Rebellion, den Oppositionsbegriff Manier aber mit der Spekulation auf Effekt und Markt verknüpfte. Was wäre zu erwarten von einer Neufassung des Konzepts, die sich des Wertungsballasts entledigt? Rüdiger Zymner hat eine Definition vorgeschlagen, die auf alle Bereiche künstlerischer Gestaltung anwendbar sein soll: Manierismus als »globales Verfahren mit der Funktion, bei gewahrter konventioneller Basis auf der formalen und/oder semantischen Ebene des Artefaktes demonstrative Artistik vorzuführen und eben dadurch eine Rezipientenreaktion auf diese Artistik herauszufordern.« 46 Für das Verständnis von Phänomenen der Alltagskultur scheint damit allerdings kaum etwas gewonnen. »Demonstrative Artistik« mag begrenzte Selbstinszenierungen einzelner charakterisieren, auf der Bühne der Disco, des Rave oder des Karnevals. Die spezifisch kommunikative Dimension und die Suche nach dem >schönen Erlebnis« (Schulze) in der Gestaltung von Praxen und Umwelten des Alltags werden mit dem Fokus auf der Beherrschung der Mittel als Selbstzweck bzw. als einzige Botschaft gerade ausgeblendet. In diesem Feld scheint die metaphorische Verwendung von >Manierismus< weniger zu leisten als die Stil-Metapher, deren Probleme sie jedoch alle teilt. >Stil< hat produktiv gewirkt, als Anregung für empirisch-ethnographische Studien. Es besteht allerdings die Gefahr, das Interpretament >Ausdruck< (einer kulturellen Ordnung, eines basalen Prinzips, einer Botschaft) zu überziehen; die fluide, situative, mehrdeutige Praxis wird stillgestellt und essentialisiert, ihre nicht-semantischen Dimensionen verschwinden. Die Gefahr wächst, wenn der Blick auf den Untersuchungsgegenstand dem Modell einer Stilanalyse folgt, die sich auf geschlossene, gar klassisch-organismisch gedachte Werke oder Werkkomplexe richtet.

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sentiert >Proletarität< auf eine Art, die jede Verständnisbemühung >von oben< abstößt. Arbeitspapier der Tagung >Manier und Manierismus«, Bielefeld, Zentrum für interdisziplinäre Forschung, 23.-26. April 1998. Ausführlicher Rüdiger Zymner, in diesem Band, und ders.: Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn u. a. 1995, bes. S. 65 u. 74-76.

>Stil< und >Manier< in der Alltagskultur

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Vorbehalte gegenüber dem Ausdrucks-Paradigma sind auch empirisch zu begründen. Szenen und Stile Jugendlicher haben sich pluralisiert; sie erfassen keineswegs nur auffällige Minderheiten und rekrutieren sich sozial recht heterogen. Mehr noch, Jugendkulturen werden zunehmend selbstreflexiv; sie zitieren historische Stilformen, spielen mit medialen und kommerziellen Deutungen und Stereotypisierungen und haben Anschluß an theoretische Debatten. Daher gilt die CCCS-These von der Artikulation klassenkultureller Auseinandersetzungen vielen als überholt. Einschlägige Makrotheoreme wie >IndividualisierungVirtualisierung< und >Simulation< lassen die Frage nach kultureller Praxis als Ausdruck einer verborgenen Bedeutung eher deplaziert scheinen. Eine neue Lesart gewinnt Einfluß. Statt >Ausdruck< und >Botschaft< sehen nicht wenige Beobachter eine Tendenz zu alltagsästhetischer Stilisierung. Auch diese Interpretation projiziert aber allzuleicht Hochkulturwissenschaftliches auf ein grundlegend andersartiges Praxisfeld. HansUlrich Gumbrecht beispielsweise entdeckt »eine Struktur [...], welche der Struktur des Text-Konstituierens aus verschiedenen vorgegebenen Zeichen-Repertoires sprachlicher Artikulation nahekommt.« »Jenes Gefühl des Welten-Schaffens«, das die Reflexionen künstlerischer Avantgarden des 20. Jahrhunderts charakterisiert, sei »auf dem Weg, sich als kollektive Verhaltens- und Handlungsdisposition zu etablieren.« Schließlich bezeichnet Gumbrecht den Wandel als schon vollzogen: »Eine Form des Verhaltens und Handelns, die über Jahrtausende als Privileg der (Sprach-) Künstler galt, ist zur alltäglich dominanten Form des Verhaltens und Handelns geworden.«47 Der Befund erinnert an das volkskundliche Konzept Hans Naumanns vom »gesunkenen Kulturgut«.48 Der schöpferische Zugriff des Künstlers auf die Welt ist aus dieser Sicht inzwischen zur Gewohnheit von Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher geworden. Das scheint der Entwicklung doch ein wenig vorauszueilen. Der Alltag der meisten hierzulande ist

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Hans Ulrich Gumbrecht: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs. In: Ders. / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986, S. 726-788, Zit. S. 776f. Hans Naumann: Primitive Gemeinschaftskultur. In: Ders.: Primitive Gemeinschaftskultur. Beiträge zu Volkskunde und Mythologie, Jena 1921, S. 3 - 1 7 ; ders.: Grundzüge der deutschen Volkskunde, Leipzig 1922.

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nicht bestimmt vom Gefühl des Welten-Schaffens, sondern vom Bemühen, einer vorgegebenen, fremdbestimmten und belastenden Welt ein Mögliches an Glück und Sinn abzugewinnen. Kreative Praxen und die Gestaltung begrenzter Situationen orientieren sich weder bewußt noch unbewußt am Modell einer Verschmelzung von Kunst und Leben. Sie speisen sich vielmehr aus populären Traditionen der Suche nach dem Schönen und nach ästhetischer Erfahrung - Traditionen (hier schließt sich der Kreis der Annäherungen), die die Forschung noch kaum in den Blick genommen hat.

Margarete Lindemann Die Wortfamilie von it. >maniera< zwischen Literatur, bildender Kunst und Psychologie

1. Die Ausgangslage: >manièremaniera< (>Art und Weisemaniera< zum Terminus der Literatur 2.1 Erste Auseinandersetzungen im 13. Jahrhundert 2.2 Die Positionen im 16. Jahrhundert 2.3 >Maniera< als Kennzeichnung der Schaffensperiode eines Schriftstellers 3. It. >maniera< in den bildenden Künsten und der Musik 3.1 >Maniera< in der Malerei als Individualstil 3.2 >Maniera< als Maltechnik und als Schaffensperiode eines Malers 3.3 Übertragung auf andere Bereiche der Kunst 3.4 >Maniera< als Richtung der bildenden Künste einer Gruppe oder Nation 4. Die pejorative Bedeutung von it. >manieramanierismo< im Italienischen 6. Die Übernahme der Kunstbedeutung ins Französische 6.1 Frühe isolierte Belege (Honnecourt, Estienne) 6.2 Frz. >manière< auf die bildenden Künste, vor allem die Malerei bezogen 6.3 Die Übertragung von >manière< auf andere Bereiche der Kunst 6.4 Die pejorative Bedeutung von >manière< im Französischen 6.5 Die Wortfamilie im Französischen 7. Frz. >maniérisme< als Terminus der Kunsttheorie und der Psychologie 7.1 Herkunft aus dem Italienischen als Gesamtheit der Stilmittel eines Künstlers

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Margarete Lindemann 7.2 Herkunft aus dem Deutschen über das Italienische als Epochenstil der Kunstgeschichte 7.3 Frz. >maniérisme< als Terminus der Psychologie und die Verbindung zur Literaturkritik 7.4 Herkunft aus dem Deutschen als antiklassische Tendenz in Texten zu allen Zeiten

8. Der Vergleich von italienischer und französischer Entwicklung im kunsttheoretischen Diskurs

Ziel dieser Arbeit ist es, die Bedeutung von >maniera< und >manierismo< als Abfolge von Diskussionen um die Gestaltung von Kunstwerken zu beschreiben. Wir haben uns streng an die Bezeichnungen gehalten und nur solche Diskussionen einbezogen, in denen die Termini von einem der Diskussionspartner verwendet wurden. Wir haben so die Wortgeschichte von it. >maniera< und seiner Wortfamilie nachgezeichnet. Die Wichtigkeit der Auseinandersetzung im kunstkritischen Diskurs für die Entwicklung neuer Sachverhalte und damit neuer Bedeutungen für die involvierten Termini zeigt sich bei der Übernahme der Kunstbedeutung von >maniera< ins Französische, bei der, anders als im Italienischen, zunächst keine Übertragung auf den literarischen Bereich erfolgt. Die Einbeziehung der Ableitung frz. >maniérisme< läßt erkennen, daß sich im 20. Jahrhundert der Weg der Übernahme umkehrt. Neue Konzeptionen entstehen in Deutschland und Frankreich und finden den Weg nach Italien.

1. Die Ausgangslage: >manièremaniera< (>Art und Weisemanuariusmanus< (>Handmanualis< tritt. REW und FEW1

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Wilhelm Meyer-Lübke: Romanisches Etymologisches Wörterbuch, Heidelberg Ί 9 3 5 (künftig abgekürzt REW); Walther von Wartburg: Französisches Etymologisches Wörterbuch, Basel 1958, Bd. 61 (künftig abgekürzt FEW).

Die Wortfamilie von it. >maniera
manieramanièremaneramannerManier< und ndl. >maniermanier< (adj.) zu ait. >maniero< wird, ebenso die Substantivierung frz. >manière< und prov. >maniera< zu it. >manieramaineramaneramaniera< (>Art und Weisemaniera< als Entlehnung aus dem Französischen an,3 nicht so jedoch Cortelazzo/Zolli:4 Frz. manière (1119) dal precedente [= it. maniera] (anche se testimoniato più tardi (1160-90) agg. manier >manualemanomanier< (>geschicktmanière< (>Art und Weisede (en) guise maniere< (>auf geschickte, handliche Weisemanarius< statt >manuarius< aus. Vgl. Salvatore Battaglia: Grande Dizionario della lingua italiana, Turin 1977, Bd. IX (künftig abgekürzt GD Bd.): »Dal frz. >manière< (sec. XII)«. Ebenso: Giacomo Devoto / Gian Carlo Oli: Nuovo vocabulario illustrato della lingua italiana, Mailand 1987; Istituto della Enciclopedia italiana (Hg.): Vocabolario de la lingua italiana, Rom 1989; Nicola Zingarelli: Vocabolario della lingua italiana, Bologna 12 1999 (künftig abgekürzt VDL); »prov. maniera, dal frz. manière (XII sec.), maniéré (a. 1690)«; Carlo Battisti / Giovanni Alessio: Dizionario etimologico italiano, Florenz 1950, Bd. 3. Manlio Cortelazzo / Paolo Zolli: Dizionario etimologico della lingua italiana, Bologna 1983, Bd. 3. FEW, Bd. 61, S. 282a: »vgl. etwa d'estrange guise und ähnliches«. Vgl. Andreas Michel: Einführung in das Altitalienische, Tübingen 1997, S. 247: »Der Verlust von [r] in den lat. Suffixen -arius, -a. -um und -orius, -a, -um mit der Entwicklung zu -aio und -oio ist ebenfalls ein innovatives Merkmal der toskanischen Dialekte [...]«.

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nördlichen Gebiete sind: altlombardisch >maineramainira< und >mineramagneramagnerameinera< und weiter verbreitet >magniera< (romagnolisch, toskano-venetisch 8 ). Die These, daß die >manieramanuarius< (>zur Hand gehörendmannaia< (>Handaxtmanari< (>hacheminermânar< (>Griffmanuarius< (>zahmamânarmânar< (>gemästetes Lammmannerino< (>Schöpsmannarinu< (>porco domesticomaniera< eine Entlehnung aus frz. >manière< annimmt, bestreitet er eine solche Entlehnung für sp. >manero< und pg. >maneiramanero< (>apoderado, representantemanier< (>zahmmainier< in derselben Bedeutung, katal. >manner< (>zahmmaniera
maniero< (>geschicktmaniera< gilt. Da die derzeitigen Erstbelege für die it. Form (1160-1190), die frz. Form (1119) und die eben genannte sp. Form eng beieinander liegen, hilft die Chronologie der Belege nicht, die Frage der Entlehnung zu entscheiden. Keine Zweifel an der Entlehnung aus dem Französischen bestehen im Fall von engl. >mannerManier< und ndl. >maniermaniera< bedeutet vom 12. Jahrhundert bis heute >Art und Weise< im weitesten Sinn. Dieselbe Bedeutung hat das frz. Wort >manièremaniera< zum Terminus der Literatur Das it. Wort >maniera< hat seit dem 12. Jahrhundert die Bedeutung >sorta, spezie, razza; modo particolare di fare, di essere e di procederei Wir geben diese Bedeutung im Deutschen mit >Art und Weise< im weitesten Sinn wieder. Von der Art und Weise des Schreibens oder Malens einer Person oder einer Gruppe von Personen ausgehend entwickelt sich >maniera< im Italienischen zum Schreib- oder Malstil, ehe es für alle Künste, besonders die bildenden, Verwendung findet.

2.1 Erste Auseinandersetzungen im 13. Jahrhundert Das Wort >maniera< in der Bedeutung >sorta, spezie, modo (di fare)< wird dadurch zum Terminus der Literaturkritik, daß der >modo< auf das Schreiben, die Art zu schreiben, den Schreibstil angewendet wird. Ein erster Beleg bei Brunetto Latini zeigt, wie die Art und Weise, etwas zu tun, auf den Bereich der Literatur bezogen wird und sich der speziellen kunsttheoretischen Bedeutung annähert, die Battaglia (GD IX) mit >forma letteraria, modo expressivo, stile< umschreibt.

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Al valente segnore / di cui non so migliore / sulla terra trovare; / [...] / E poi, quando venite, / che voi parole dite / in consiglio, ο 'η aringa, / par qu'agiate la lingua / del buon Tulio romano, / che fu in dir sovrano: / si buon cominciamento / e mezzo e finimento / sapete ognora fare, / e parole acordare / secondo la matera, / ciascuna in sua manera."

Das eben genannte Zitat gehört zu den ersten Versen des >Tesoretto< Brunetto Latinis (1220-1295), einer didaktisch-allegorischen Dichtung. Die Verse sind Teil einer Art Widmung zu Anfang des Gedichts und loben die rednerischen Qualitäten der angesprochenen Person. 12 Die Form >manera< muß hier nicht >Individualstil< bedeuten. Vielmehr scheint es uns hier darum zu gehen, die Worte in einem Text dem Thema angemessen zu setzen, >jeden Stoff auf seine Art zu behandeln< (im Zitat »jede [matera] auf ihre Art« zu entwickeln). Das Wort >maniera< wird hier in einem Kontext verwendet, in dem es um die Art der sprachlichen Gestaltung geht, um eine Handlungsanweisung ftlr die angemessene Entwicklung und Ausschmückung des »dir sovrano«, der erhabenen Rede. Brunetto Latini spricht auf einer ersten Ebene den »valente segnore« an, auf einer zweiten weist er die Leser als Gesprächspartner durch das Lob der angesprochenen Person darauf hin, daß jeder Leser sprachlich wie die Person handeln soll, der das didaktischallegorische Gedicht gewidmet ist. Der Stoff (die »matera«) soll eine angemessene Behandlung (»in sua manera«) erfahren. Ein zweiter Beleg, bei dem man nicht zweifeln kann, ob (verkürzt gesagt) die Bedeutung >Art< oder die Bedeutung >Stil< vorliegt, stammt aus der Feder von Bonagiunta Orbicciani da Lucca (~1220 - nach 1257). Es handelt sich um ein Sonett, das an Guido Guinizelli (1240-1274) gerichtet ist und den bezeichnenden Titel >Disputa sulla nuova maniera di poetare< trägt. Voi, ch'avete mutata la mainera / de li piacenti ditti dell'amore / de la forma, dell'esser, là dov'era, / per avansare ogn'altro trovatore; / avete fatto come la

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Brunetto Latini: Il tesoretto (XIII. Jh.). In: L. di Benedetto (Hg.): Poemetti allegorico-didattici del secolo XIII., Bari 1941, S. 3f. Mit der »lingua del buon Tulio romano«, also mit der Sprache Marcus Tullio Ciceros, ist wahrscheinlich das Italienische gemeint. Noch bei Dante sind Latein und Italienisch sehr eng verbunden; so nennt er die Italiener in seinem >De Vulgari Eloquentia< oft »Latini«, vgl. Hans Wilhelm Klein: Latein und Volgare in Italien, München 1957, S. 13.

Die Wortfamilie von it. >maniera
maniera< nur der geänderte Stil der Liebeslyrik gemeint sein, der mehr »sprendore« gibt. Es handelt sich um das erste Gedicht in einer Reihe von achtzehn, die mit >Sonetti< überschrieben sind. Angesprochen wird ausdrücklich Guido Guinizelli mit »Al Guinizelli« als ein Dichter, der die Ausdrucksweise, die »mainera« geändert hat. Er dichtet nicht mehr wie ein »trovatore«. Die Haltung Bonagiunta Orbiccianis dieser »nuova maniera di poetare« gegenüber ist zwiespältig. Einerseits wird sie verherrlicht: Sie ist wie das Licht, das dem Dunkel Glanz gibt (»avete fatto come la lumera, / ch'a lo scuro partito dà sprendore«). Andererseits weist Bonagiunta daraufhin, daß hier (»quine«) schon die »alta spera« leuchtet. Wie Brunetto Latini seinen Adressaten, spricht auch Bonagiunta Orbicciani den Dichter Guido Guinizelli ausdrücklich mit »voi« an (»voi, qu'avete mutata la maniera [...]«). Guinizelli antwortet auf das Sonett mit einem anderen Titel: >Omo ch'è saggio non corre leggeromaniera< leuchtet (»dà sprendore«), sondern daß hier schon die Sonne (der Dichtkunst) strahlt »quine [...] luce l'alta spera«. In beiden besprochenen Stellen wird >maniera< mit Neuerungen in Verbindung gebracht: Brunetto Latini führt nach französischem Vorbild die didaktisch-allegorische Dichtung in Italien ein, Bonagiunta Orbicciani thematisiert die Abkehr von der mittelalterlichen Trobadorlyrik der sizilianisch-toskanischen Schule und die von Bologna ausgehende Hinwendung zu moderneren, individuelleren Dichtungsweisen, mit denen er sich kritisch auseinandersetzt.

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Bonagiunta Orbicciani da Lucca: Sonnetti (vor ca. 1257). In: G. Zaccagnini / A. Parducci (Hg.): Rimatori siculo-toscani del Dugento. Serie prima, Bari 1915, S. 79. Beide Gedichte sind zusammen abgedruckt in: Gianfranco Contini (Hg ): Poeti del Duecento, Mailand - N e a p e l I960, Bd. II, S. 481-483.

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2.2 Die Positionen im 16. Jahrhundert Noch bevor in der Diskussion um die sprachlichen Kunstwerke der >Tre corone< im 16. Jahrhundert die >maniera< im sprachlichen Kunstwerk erneut im Mittelpunkt steht, wird >maniera< gegen Ende des 14. Jahrhunderts ein Terminus, der im Diskurs um die Malerei und später um andere bildende Künste und die Musik eine Rolle spielt. Dennoch wollen wir zunächst die Verwendung von >maniera< in bezug auf literarische Fragen weiterverfolgen, ehe wir im nächsten Kapitel auf die Eigenheiten in der Verwendung von >maniera< in den bildenden Künsten eingehen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, vermutlich 1506, werden an einem italienischen Hof einige Dialoge über die Aufgaben eines vollendeten Höflings geführt. 15 Jahre später und selbstverständlich in überarbeiteter Fassung gibt Baidassare Castiglione ( 1478-1529) diese Dialoge unter dem Titel >11 libro del cortegiano< heraus. Das Werk ist dem zum Zeitpunkt der Drucklegung bereits verstorbenen Alfonso Ariosto gewidmet. Dem ersten Buch geht ein an den Bischof von Viseo, Don Michel de Silva, gerichtetes Vorwort voran. Ihm ist das folgende Zitat entnommen: Se adunque io avessi imitato quella maniera di scrivere che in lui [Boccaccio] è ripresa da chi nel resto lo lauda, non poteva fuggire almen quelle medesime calunnie che al proprio Boccaccio son date circa questo; ed io tanto maggiori le meritava, quanto che Terror suo allor fu credendo di far bene, ed or il mio sarebbe stato conoscendo di far male [...] E quando ancora questo rispetto non m'avesse mosso, io non poteva nel subietto imitarlo, non avendo esso mai scritto cosa alcuna di maniera simile a questi libri del Cortegiano; e nella lingua, al parer mio, non doveva; perché la forza e vera regula del parlar bene consiste più nell'uso che in altro, e sempre è vizio usar parole che non siano in consuetudine.' 6

Castiglione berichtet de Silva und dem Leser, daß er die »maniera di scrivere« Boccaccios nicht imitieren will. Castiglione steht damit im Gegensatz zu Theoretikern wie Pietro Bembo (1470-1547), der Boccaccio als Vorbild ñlr die Abfassung von Prosaschriften im Volgare empfiehlt, nachdem Bembo heftig für das Recht auf >imitatio< für denjenigen ge-

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Nach Heinz Willi Wittschier: Die italienische Literatur, Tübingen Ί 9 8 5 , S. 93, handelt es sich um »vier imaginäre Unterhaltungen, die im Jahr 1506 am Hofe von Urbino« stattfanden. Vgl. auch die Angaben in Kap. I des Primo Libro del Cortegiano (Anm. 16). Baidassare Castiglione: Il libro del cortegiano (1528). Hg. von M. Luzi, Mailand 1941, S. 19.

Die Wortfamilie von it. >maniera
imitatio< großer Autoren verlangt. Mit der zitierten Textstelle verteidigt Castiglione die sprachliche Gestaltung seines Themas, des richtigen Verhaltens bei Hof. Er weist zum einen darauf hin, daß Boccaccio diesen Gegenstand nie behandelt hat; zum anderen verteidigt er seine Wortwahl, seinen persönlichen Stil, mit dem Argument, er könne nicht vor 200 Jahren (bei Baccaccio) übliche und inzwischen ungebräuchliche Wörter verwenden. Im Werk nimmt Castiglione unter anderem zur Sprache des vollendeten Höflings Stellung. Einerseits erkennt er die großen Verdienste der Klassiker des 14. Jahrhunderts an; andererseits darf seiner Meinung nach im 16. Jahrhundert nicht sklavisch die florentinische Dichtersprache des 14. Jahrhunderts nachgeahmt werden. Der vollendete Höfling spricht und schreibt vielmehr die Sprache, die jeder Gebildete in Italien versteht. Im folgenden Zitat wird >maniera< auf das Schreiben in lateinischer Sprache bezogen. Im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts bedankt sich Pietro Bembo für einen Brief, der in sehr schönem Latein nach Horaz abgefaßt sei. Der Absender des Briefes ist ein Bembo unbekannter junger Mann namens Lodovico Parisetti aus Reggio, den Bembo im Antwortschreiben von 1533 anspricht: Io ho a questi dl da voi ricevuto una molto bella epistola in verso eroico scrittami nella maniera Oraziana."

Der briefliche Diskurs erlaubt es, den >manierain klassischem (»horazischem«) Latein< zu verstehen, zum anderen könnte >im Stil von Horaz< gemeint sein. Der Beleg ist also nicht eindeutig zuzuordnen; er scheint aber eher zu den Belegen zu gehören, in denen unter >maniera< der Ausdruck des persönlichen Stils eines Autors verstanden wird.

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Bis ins 16. Jahrhundert ist die >imitatio< als Teil der Rhetorik auf das Lateinische beschränkt (vgl. Klein, Latein und Volgare [Anm. 12], S. 74). Bembo erstellt als erster einen Kanon für das Italienische. Pietro Bembo: Lettere. In: Opere, Mailand 1810, Bd. 7, S. 381.

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Eindeutiger liegt der Fall im folgenden Zitat von Sperone Speroni (1500-1588). Das Zitat entstammt dem >Dialogo della istoria< Speronis, der erstmals 1586 gedruckt 19 wurde: Come Dante fu primo e solo a poetar della sua materia; cosi il Petrarca ultimo in numero, tra mille altri, che innanzi ad esso cantaro e piansero i loro amori, non per esempio, ma per ragione, la qual fu sempre con esso lui, in vita e in morte della sua donna, nelle speranze, nei disiderii, nello allegrarsi, nel lamentarsi dell' amor suo, simile a quello delli poeti Latini e Greci, cioè umano e carnale; fu certo il primo in Italia, che in verso dolce ed onesto fervidamente ne poetasse. La qual maniera di poetare da innamorato, mezzano il Bembo che la imitava, è or si cara allí successori, che per buffone è additato chi poeteggia altrimenti. 20

Bei allen bisher genannten Belegen geht es um die »maniera di poetare«, bestimmter Autoren, denen in der Poetik der Zeit eine Vorbildfunktion für das Schreiben oder Reden eingeräumt wird. Nach der Wiederentdeckung der >Tre corone< im 16. Jahrhundert entspinnt sich ein literarischer Diskurs um die Leistung der italienischen Sprache im Vergleich zur lateinischen und um die Position der schon zu Ende des 13. bzw. im 14. Jahrhundert entstandenen klassischen Dichtung im Italienischen. Der persönliche Stil Boccaccios für die Prosa und Petrarcas für die Lyrik werden von Theoretikern wie Bembo als imitationswürdig für das Verfassen von Texten in Prosa oder von Gedichten in der Volkssprache angesehen. Eine ganz andere Wertigkeit hat >maniera< in folgenden Belegen, in denen es um die der persönlichen Ausdrucksweise eines Autors zugrunde liegenden gattungsbedingten stilistischen Anforderungen geht. In diesen Zitaten ist mit >maniera< die Ausdrucksweise gemeint, die von den Regeln der Rhetorik zur Bewältigung bestimmter Situationen vorgeschrieben ist und als Stillage von Gattung oder Thema als allgemeine Sprachvorschrift diktiert wird. Das soll nicht heißen, daß die >imitatio< (Nachahmung) der >maniera< bestimmter Autoren, die zur Vergößerung der >copia< (der Ausdrucksvielfalt) der Sprachen gefordert ist, nicht auch auf rhetorischen Grundsätzen basierte.

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Der Herausgeber der zitierten Ausgabe weist zu Ende des zweiten Teils des >Dialogo della istoria< (S. 328) darauf hin, daß der Dialog kurz vor dem Tod Speronis entstanden ist: »il quale [il dialogo] forse restò imperfetto per la morte dello Speroni, che lo compose in età di più di ottantasei anni, come accenna egli stesso in uno de' Mss. de la prima parte.« Sperone Speroni: Dialogo della istoria (1586). In: Ders.: Opere, Venedig 1740, Bd. II, S. 274.

Die Wortfamilie von it. >maniera
maniera< die persönliche Art der Ausdrucksweise eines Dichters bezeichnet oder ob damit die Erfordernisse einer Schreibhaltung gemeint sind, der sich zu einer bestimmten Zeit jeder Autor unterziehen muß, wie dies im Fall der Anforderungen des hohen Stils (ζ. B. in der Tragödie) im Gegensatz zu den Erfordernissen des mittleren oder niederen Stils (in Gespächen oder in Komödie oder Burleske) in den nächsten Beispielen der Fall ist. Im folgenden Zitat Torquato Tassos (1544-1595) wird mit »maniera grave« der eben genannte hohe Stil angesprochen: In quelli altri [componimenti] ne' quali la gravità avanza la piacevolezza, hanno quello ch'è de la maniera grave.21

Diese »maniera grave« ist für alle Schreiber bestimmter literarischer Gattungen jenseits der persönlichen Ausdrucksweise in der Tradition der Rhetorik verpflichtend. Auch bei Patrizi (1529-1597) geht es um die von der Rhetorik geforderten Gesetzmäßigkeiten bestimmter Gattungen, die jenseits des persönlichen Stils des einzelnen Autors liegen, aber nur von einzelnen Autoren in ihrer persönlichen Schreibweise realisiert werden können: Fu [Menandro] creduto all'universale che fosse egli il primo che trovasse la maniera della comedia nuova.22

Die durch Menander (342-290 v. Chr.) eingeführten Änderungen bei der Gestaltung von Komödien werden in dem Zitat thematisiert. Die »neue Komödie« beachtet weitgehend die bisher nur in der Tragödie geforderte Geschlossenheit der Handlung und macht die Handlungen durch realistischere Zeichnung der Charaktere wahrscheinlich. Im Zitat Patrizis bezieht sich >maniera< auf Gegebenheiten, die sich auf die stilistische Gestaltung einer ganzen Gattung, der Komödie, erstrecken. Ziel der Rhetorik ist es, durch die Art der Argumentation jemanden so zu beeinflussen, daß dieser im Sinn der Person handelt, die die Argumente vorbringt. 23 Um die Erfordernisse der Rhetorik, die überzeugen will, geht

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Torquato Tasso: Dialoghi. Hg. von E. Raimondi, Florenz 1954, Bd. III, S. 627 (Battaglia). Francesco Patrizi da Cherso: Della poetica (1586). Hg. von D. Aguzzi Barbagli, Florenz 1969, Bd. I, S. 130. »Die Parteilichkeit (utilitatis causae) der Rede sucht den Situationsmächtigen im Sinne der eigenen Parteimeinung und gegen die gegenerische Parteimeinung zu

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es im nächsten Beispiel, in dem >maniera< als Teil einer >persuasio< erörtert wird. In den zwischen 1607 und 1618 entstandenen Briefen an die Protestanten von Fra Paolo Sarpi (1525-1626) wird die Frage erörtert, wie die literarische Schreibweise aussehen muß, die den Leser von der Meinung des Schreibers überzeugt. 24 Sarpi gibt in einem Brief an Jérôme Groslot de L'Isle ein Urteil ab über ein Werk mit dem Titel >Ad Bellarmini librum de temporali potestati Papae commentatiomaniera< vor allem im literarischen Bereich propagieren; jeder einzelne soll in der Literatur oder in den bildenden Künsten seine eigene >maniera< finden, jenseits der Verpflichtung zur Nachahmung der Antike oder anderer Stilvorschriften. Im folgenden Zitat aus Giorgio Vasaris (1511-1574) Künstlerviten von 1550 steht >maniera< allein: Bene è vero che quantunque la grandezza delle arti nasca in alcuno da la diligenzia; in un' altro da lo studio; in questo da la imitazione; in quello da la cognizione delle szienzie, che tutte porgono aiuto a queste; et in chi da le predette cose tutte insieme, o da la parte maggiore di quelle : Io nientedimanco per avere nelle vite de' particulari ragionata a bastanza, de' modi, de l'arte, de le maniere, et de le cagioni del bene, et meglio, ed ottimo operare di quelli [...]"

Im Zitat werden die aufeinanderfolgenden »modi« der Kunstwerke, ihre Kunsthaftigkeit und ihre stilistische Ausführung angesprochen. Das letztere geschieht mit Hilfe des Terminus >manieragran manierai >buona maniera< oder >bella manieramaniera< kombinierbar sind: Et coloro che ciò sanno, forza è che faccino perfettamente i contorni delle figure: le quali dintornate come elle debbono, monstrano buona grazie et bella maniera. 37

Mit dem Terminus »bella maniera« wird die Harmonie bezeichnet, die in der Darstellung der Figuren und in der Farbgebung in einem Gemälde erreicht wird: [...] le quali [die antiken Vorbilder] nella lor dolcezza, et nelle lor asprezze con termini carnosi, et cavati da le maggior belleze del vivo; con certi atti che non in tutto si storcono, ma si vanno in certe parti movendo, si mostrano con una graziosissima grazia. Et forano cagione di levar' via una certa maniera secca, et cruda, et tagliente [...]"

Die Grazie und Schönheit antiker Vorbilder führt bei ihren Nachahmern zur »maniera secca«; als Grund dafür nennt Vasari: »lo studio insecchise la maniera«. Einen Sonderfall von Individualstil und Maltechnik bilden die verschiedenen Schaffensperioden eines Künstlers. Das Wort >maniera< wird dazu verwendet, mit Hilfe von Adjektiven wie >primaultima< etc. die Schaffensperioden eines Malers gegeneinander abzugrenzen. [...] conobbero i popoli la perfezzione dell'arte, vedendo la differenza, ch'era da la maniera prima di Cimabue, a quella di Giotto nelle figure loro, et da gli imitatori dell'uno e dell'altro egregiamente fatte [,..] 3 '

Für den Kunsthistoriker Eugenio Battisti ist es ein Kennzeichen der Kunstentwicklung im 16. Jahrhundert, daß dieselben Künstler in ihrem künstlerischen Schaffen manchmal gegensätzliche Richtungen verfolgen.40

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Vasari, Ed. Ricci (Anm. 34), Bd. III, S. 73. Ebd., Bd. III, S. 6. Ebd., Bd. I, S. 133. »Während ein Künstler des 15. Jahrhunderts einigermaßen ungestört seine eigene Entwicklung mit den jeweiligen, ohne zu schroffe Brüche auftauchenden Stilproblemen in Einklang bringen konnte, scheinen die Künstler des 16. Jahrhunderts oft ohne den Halt einer eigenen durchgehenden Linie und verfolgen manchmal gegensätzliche Richtungen - so wie es in unserem Jahrhundert bei Picasso der Fall ist, der seinen Stil radikal ändern kann; so war es auch bei Raffael, Michelangelo oder Tizian.« (Eugenio Battisti: Hochrenaissance und Manierismus, Baden-Baden 2 1980, S. 6.)

Die Wortfamilie von it. manierai

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Die sprachliche Unterscheidung dieser unterschiedlichen Konzeptionen erfolgt mittels >maniera< und der entsprechenden Adjektive. Als weiteres Beispiel für >maniera prima< in der Bedeutung >Frtlhwerk< mögen Zitate von Giovanni Pietro Bellori (1613-1696) aus seinen >Vite de' pittori, scultori et architetti moderni< von 1672 dienen: Qui non ricercheremo le cose fatte da lui in quel tempo, le quali non sono certe, nè memorabili: acennerò solo il Transito della Madonna circondata da gli Apostoli, entro vna Cappella della Chiesa di Nostra Dama di Parigi, che è di buon componimento, e ben condotta in quella sua prima maniera.41

Bellori spricht hier vom französischen Maler Nicolas Poussin (1593 oder 1594-1665), der lange Zeit in Rom gelebt hat. Im folgenden Zitat ist von Michelangelo da Caravaggio (1573-1610) die Rede: La pima maniera dolce, e pura di colorire fu la megliore, essendosi auanzato in essa al supremo merito, e mostratosi con gran lode ottimo coloritore lombardo [,..]42

Der Terminus >maniera< zur Bezeichnung der Schaffensperiode eines Künstlers muß bis heute mit einem die Schaffensperiode näher bestimmenden Adjektiv versehen sein. So finden wir im Vocabolario della lingua italiana< von 1989: »due successivi orientamenti stilistici dell'arte di uno stesso artista«.43 Diese Bezeichnung der Schaffensperiode mit >maniera< beschränkt sich nicht auf Maler, sondern erstreckt sich auf »scrittori, poeti, musicisti«.

3.3 Übertragung auf andere Bereiche der Kunst Noch bevor der Terminus >maniera< filr den Aspekt der technischen Fertigung eines Bildes verwendet wird, belegt Castiglione die Art der Ausführung eines Gesangsstücks mit dem Wort >manieramaniera< ausgedrückten Stilbegriffs von Literatur und Malerei auf die Musik und auf weitere (vor allem die bildenden) Künste ist nicht verwunderlich, zieht man die Universalität der Interessen der Künstler in Humanismus und Renaissance in Betracht. So sehen die Künstler des 16. Jahrhunderts die Einheit der Künste eher als die einzelnen Disziplinen. Darüber hinaus üben nicht wenige der Künstler der zweiten Hälfte des 15. und des ganzen 16. Jahrhunderts mehrere Kunstformen selbst aus und schreiben darüber oder verfassen literarische Werke. Als Beispiele seien lediglich Michelangelo und Leonardo da Vinci genannt.

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Castiglione, Il libro del cortegiano (Anm. 16), S. 79. Benvenuto Cellini: Lettere a Β. Varchi (15.1.1548). In: Barocchi (Hg.), Trattati (Anm. 35), Bd. I, S. 81. Vasari, Ed. Ricci (Anm. 34), Bd. III, S. 3.

Die Wortfamilie von it. >maniera
Maniera< als Richtung der bildenden Künste einer Gruppe oder Nation Nur ein kleiner Schritt ist es von >maniera< als der Ausführung eines einzigen Kunstwerks zur Bedeutung von >maniera< als Gesamtheit der Stilmittel, die für ein Land, eine Region oder eine Künstlergruppe (Schule) charakteristisch sind. Vielen Zitaten mit >maniera< in dieser Bedeutung ist gemeinsam, daß die Gruppe oder das Land durch ein mit >maniera< verbundenes Adjektiv bezeichnet wird. Den frühesten Beleg für diese Bedeutung des Wortes >maniera< finden wir bei Lorenzo Ghiberti (1378-1455): Giotto [...] fu discepulo di Cimabue: tenea la maniera greca, in quella maniera ebbe in Etruria grandissima fama: fecesi Giotto grande nell'arte della pittura. 47

Hier wird die griechische Malweise Cimabues abgesetzt gegen die an klassischen Beispielen geschulte Malweise der späteren Künstler. Mit griechischer Malweise ist die byzantinische gemeint, die zumindest den im Mittelalter unter byzantinischer Herrschaft stehenden italienischen Landesteilen nicht unvertraut gewesen ist. Gegenspieler der »maniera greca« ist die Malweise, die die antiken lateinischen Vorbilder imitiert oder sich von ihnen inspirieren läßt. Bei Raffael (1483-1520) finden wir >maniera< ohne Adjektiv bezogen auf die verschiedenen Baustile in Rom. Nach Raffael gibt es in dieser in vielen Kunstgeschichten zitierten Stelle nur drei Baustile in Rom: den klassischen antiken, den durch die germanischen Stämme bewirkten mittelalterlichen und den zeitgenössischen.48 Die Gegensätze, die die Adjektive bezeichnen, beziehen sich erst später auf die einzelnen nationalen Ausprägungen des Bau- oder Malstils.49 Aus dem 16. Jahrhundert stammt folgender Beleg von Cellini: 47

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Lorenzo Ghiberti: I Commentari (nach 1448). Hg. von O. Morisani, Neapel 1947, S. 32f. Bei Battaglia (GDIX) wird der betreffende Beleg zitiert: »Di tre maniere di edifici solamente si ritrovano in Roma, delle quali la una è di que' buoni antichi, che durarono dalli primi imperatori sino al tempo che Roma fìi minata e guasta dalli gotti e da altri barbari; l'altra durò tanto che Roma fu dominata da' gotti e ancora centi anni di poi; l'altra, da quel tempo sino alli tempi nostri.« Erste Hinweise in dieser Richtung gibt ein Bellori-Zitat bei Battaglia (GD IX): »Imprima avevo fatto la porta del Palazzo di Fontana Beliò: per non alterare, il manco che io potevo, l'ordine della porta che era fatta a ditto palazzo, quale era grande e nana, di quella lor mala maniera franciosa.«

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Margarete Lindemann [...] in questo tempo si era cominciato a risentire nella detta città [= Florenz] alcun bello ingegno, e quali abbonivano a quella secca maniera tedesca [...] so

Mit der »secca maniera tedesca« ist der spätgotische Stil gemeint; Cellini fährt fort, der erste, der sich davon abgewandt habe, sei Brunellesco gewesen; man habe sich dem Studium der antiken Vorbilder, dem »bei modo degli antichi« zugewandt, der bis dahin als »cosa barbara« und »discosta da ogni buona regola« gegolten habe. Der Terminus >maniera< ist Teil der Auseinandersetzung mit einem Stilwechsel. Er wird gebraucht, um eine frühere Vorgehensweise gegen eine spätere abzusetzen.51 Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts erscheint ein Fachwörterbuch der Termini der bildenden Künste in Florenz, das im Verlauf des Artikels >maniera< folgenden Untereintrag enthält: Maniera Lombarda. Dicesi di quelgi Artefici, che anno procurato d'immitare il bello e naturai modo di colorire de' più celebri Pittori Lombardi. 52

Hier wird >maniera< auf einen geographischen Raum bezogen, die Lombardei und ihre Maler. Wir können hier von der Funktion von >maniera< als Bezeichnung für einen Raumstil ausgehen. Die genannten Bedeutungen von >maniera< leben im Italienischen bis heute fort, so als »Stile, tecnica particolare [...] di una scuola« bei Zingarelli (VDL) oder bei Garzanti »lo stile, i caratteri distintivi [...] di una scuola o di un >epoca artististicamanieraDialogo de la pittura* von Lodovico Dolce, dessen Widmungsbrief auf den 12. August 1557 datiert ist:

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Vasari, Ed. Ricci (Anm. 34), Bd. I, S. 132. Ebd., S. 228. Ders.: Le vite dei più eccellenti pittori, scultori et architetti. Hg. von C. L. Ragghiami, Mailand - Rom 1942, S. 940 (Battaglia).

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Seppe ancora il gran Rafaello fare iscortar le figure, quando egli volle, e perfettamente; senzaché io vi ritorno a dire che in tutte le sue opere egli usò una varietà tanto mirabile, che non è figura che né d'aria né di movimento si somigli, tal che in ciò non appare ombra di quello che da' pittori oggi in mala parte è chiamata maniera, cioè cattiva pratica, ove si veggono forme e volti quasi sempre simili.57

Es handelt sich um einen fiktiven Dialog zwischen dem Schriftsteller Pierto Aretino und Giovan Francesco Fabrini über neuere Entwicklungen in der Malerei. Das oben zitierte Urteil über Raffael legt Dolce Pietro Aretino in den Mund. Das Dolce-Zitat scheint einer der ersten Belege für die >neue< Bedeutung zu sein, denn es wird ausdrücklich mit »oggi« auf den jetzigen Zeitpunkt und mit »in mala parte« auf die Änderung hingewiesen. Der konkreten Ebene des Dialogs zwischen Aretino und Fabrini entspricht ein kunstkritischer Diskurs, in dem nach Dolce die Maler seiner Zeit stehen, wenn sie in der >maniera< die Uniformität der Ausführung der Gemälde gewisser Berufsgenossen tadeln.58 Vincenzio Danti beschreibt in seinem >Trattato delle perfette proporzionk, den er Cosimo de' Medici mit Datum vom 21. April 1567 widmet, ebenfalls eine tadelnswerte >maniera< : [...] cioè cercato d'andare aiutando (sogliamo dir noi) il naturale con servirsi di diversi uomini, in ciascuno de' quali si veggia qualche diversa bellezza. E presa questa e quell'altra da questo e da quell'altro, hanno composta la loro figura più che sia stato possibile con perfezzione. La qual via e modo di fare è di gran difficultà e tedio; onde molti si vanno aiutando con le figure fatte da altri, o antichi o moderni, facendosi da sé stessi una maniera col continuo ritrarre questa e quella cosa. Ma Michelagnolo, che più di tutti gli altri ha essequito con perfezzione l'opere sue, s'avide molto bene questa strada non essere la vera e legitima. 39

Hier wird die >manieramaniera
maniera< ihrer direkten Vorgänger ab. Beispiele dieser Art sind den >Vite< Belloris entnommen: Sono questi li primi tratti del pennello di Michele in quella schietta maniera di Giorgione, con oscuri temperati, e Prospero acclamando il nuovo stile di Michele accresceua la stima delle sue opere con vtil proprio, fra le prime persone della Corte. 60

In diesem Zitat wird die Nachahmung der »schietta maniera di Giorgione« getadelt, im nächsten der Mangel an »Wahrheit«, an der Orientierung an der Natur oder der Wirklichkeit bei Caravaggio: Giouò senza dubbio il Carauaggio alla pittura, venuto in tempo che non essendo molto in vso il naturale, si fingeuano le figure di pratica, e di maniera, e sodisfaceuasi più al senso della vaghezza che della verità.61

Nach Belloris Ansicht durchläuft die Kunst nach dem Tod Raffaels eine Zeit des Niedergangs. Die aus dieser Zeit stammenden Künstler bemühen sich nicht um die Nachahmung der Natur, wodurch ihren Werken die Wahrheit fehlt. Sie bilden die dargestellten Figuren »di pratica«,62 nach gängig praktizierten Vorbildern, und »di maniera«, nach stilistischer Routine. Wir haben erneut eine »moderne«, diesmal barocke Auffassung von stilistischer Gestaltung, die ihre Sichtweise von der früheren abgrenzt. Das Wort >manieramaniera< als >bloße Wiederholung< und als >Übermaß an morbidezza< bei der kritischen Betrachtung im Werk einzelner, vor allem früherer Künstler festgestellt und zur Warnung vor Nachahmung angeprangert. Schon Dolce und Danti sehen die >maniera< in negativer Bedeutung als gemeinsames »Laster« einer Gruppe von zeitgenössischen Malern. Aber erst von der barocken Kunstkritik, als deren Beispiel wir Bellori nennen, und ihren Nachfolgern bis ins 19. Jahrhundert ist >maniera< als >affettazione< das Schlüsselwort, um die alte Auffassung zu denunzieren und die Praxis der künstlerischen Gestaltung der Zeit zwischen 1520/40 und 1615 zu diskriminieren. Diese Bedeutung von >maniera< führt gegen Ende des 18.

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Bellori, Facsimile (Anm. 42), S. 204. Ebd., S. 212. Mit dem Terminus >pratica< arbeitet bereits Dolce im Zitat auf der Seite vorher.

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Jahrhunderts zur Bildung des Wortes >manierismomaniera< verdrängt nicht die bereits vorher entstandenen Bedeutungen wie persönlicher Stil eines Künstlers, seine Technik bei der Ausführung eines Kunstwerks oder die Gesamtheit der einer Gruppe von Künstlern gemeinsamen Stilmittel, die bis heute im Italienischen weiterleben. Auch die im 16. Jahrhundert entwickelte negative Bedeutung (»privo di originalità« bei Zingarelli [VDL]) finden wir im Italienischen bis heute.

5. Die Wortfamilie im Italienischen in der auf die Kunst bezogenen Bedeutung Im Italienischen gibt es eine Vielzahl von Ableitungsmöglichkeiten zu >maniera< in der allgemeinsprachlichen Bedeutung oder in der Bedeutung als Kunstterminus, so z. B. >manierosomanierismomanieratomanieristico< oder das heute wenig gebrauchte >manieronamanière< als Terminus der Kunsttheorie im Französischen erst im 17. Jahrhundert etabliert, sind im Französischen schon im selben Jahrhundert Ableitungen zu >manière< entstanden, die nach der derzeitigen Beleglage teilweise älter sind als die entsprechenden italienischen Bildungen. Für die Formen im Italienischen, die nach den französischen Ableitungen entstanden sind, gibt es zwei Analysemöglichkeiten. Sie können entweder als inneritalienische Bildungen angesehen werden, die mit den italienischen Wortbildungsmitteln zur italienischen Grundform >maniera< gebildet worden sind. Oder man betrachtet sie als Entlehnungen (z. B. mit Suffixwechsel oder mit Einpassung der entlehnten Elemente in das Konjugations- oder Deklinationssystem des Italienischen). Grundsätzlich kann im Fall der Ableitungen zu >maniera< bzw. >manière< aufgrund der lautlichen Gestalt der Wörter keine Entscheidung für die eine oder die andere Möglichkeit fallen.63

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Die Entstehung von Bildungen wie it. >manierosomaniero< und >manierato< wird

Die Wortfamilie von it. manierai

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5.1 Formen zwischen Entlehnung und eigenständiger Bildung Bei der Gruppe der Ableitungen von it. >maniera< finden wir zwei Typen. Wir haben einmal die Formen wie >manierosomanierista< oder >(am)manieratomaniera< in den verschiedenen Bedeutungen gebildet werden und machen unseres Wissens keine weitere Bedeutungsentwicklung mit. Sie bezeugen allerdings die Lebendigkeit des Grundworts und auch seine relativ häufige Verwendung. Als zweiten Typus betrachten wir die Form >manierismo-ismo< gebildet, weitere Entwicklungen der Bedeutung erfährt und ähnlich wie >maniera< heute als Terminus in mehreren Fachsprachen fungiert. Auf diese Entwicklungen, soweit sie das Italienische betreffen, wollen wir im nächsten Abschnitt eingehen. Das Wort >manieroso< ist in der allgemeinsprachlichen Bedeutung >che ha bella maniera, que si comporta con garbo< nach Cortelazzo/Zolli64 seit dem »sec. XIV« im Italienischen vorhanden." Gerade beim ältesten Mitglied der Wortfamilie von it. >maniera< in der Kunstbedeutung ist infolge der zum Zeitpunkt der Bildung bereits vorhandenen Form >manieroso< >che ha un modo di fare aggraziato ed educato< eine inneritalienische Bedeutungserweiterung denkbar. Möglich ist auch eine Bedeutungsentlehnung aus dem Französischen oder ein italienischer Wortbildungsvorgang mit >maniera< in der Kunstbedeutung als Basis. Schon im 16. Jahrhundert finden wir bei Bocchi die Bildung >manierosomaniera< anlehnt:

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in den Wörterbüchern mit historischen Angaben unterschiedlich behandelt; wahrend Battaglia (GDIX) meist von inneritalienischen Bildungen ausgeht (z. B. >manieroso< »deriv. da maniera«, >manierato< »deriv. da maniera sul modello del part, pass.«, aber >maniero< »deriv. dal provenz. manier >fatto a la mano< [...]«), bekunden Battisti/Alessio, Dizionario etimologico (Anm. 3), den EinfluB des Französischen (»prov. maniera dal frz. manière (XII sec.), maniéré (a. 1690) [...]«). Bei Cortelazzo/Zolli, Dizionario etimologico (Anm. 3), Bd. 3, wird die Bedeutung von >manierato< aufgespalten, die allgemeinssprachliche wird von it. >manierare< (>dar graziamanierato< entlehnt betrachtet. Cortelazzo/Zolli, Dizionario etimologico (Anm. 3), Bd. 3. Ebenso Battaglia (GD IX) mit einem Beleg von Urbano aus der Mitte des 14. Jhs.

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È il colorito dolce, maneroso e talmente morbido, che pare finito di alito, assai vago verso di sé e leggiadro [,..]66

Eindeutig an den positiven Bedeutungen von >maniera< orientiert ist »manieroso« im folgenden Zitat von Battista Guarini (1538-1612): [...] vno stile molto versatile, e maniroso [sic], ricco di termini, e abbondante di forme. 67

Bellori verzeichnet die aus >maniera< als Übermaß an Gesuchtheit entwikkelte Bedeutung >privo de naturalezza« : Mase vogliamo alquanto sospendere le lodi di Alessandro [Algardi], egli alle volte riuscì alquanto manieroso, ed affettato nelle piegature de' panni, & alle volte ancora li fece con purità e lodeuolmente. 68

Nach Battaglia (GD IX) ist die auf die Kunst bezogene Bedeutung von >manieroso< noch in den vor 1797 entstandenen Werken Francesco Maria Paganos enthalten. Bei Zingarelli (VDL) finden wir die allgemeinsprachliche Bedeutung des Wortes, nicht jedoch die auf die Kunst bezogene, die auch bei Devoto/Oli, 69 Garzanti,70 Volpi 71 und im »Vocabolario della lingua italiana«72 fehlt. Bei den Ableitungen »manierista« und »manierato« steht der Aspekt der Künstlichkeit im Vordergrund; sie gehören zu »maniera« in der negativen Bedeutung. Bei beiden Formen ist ein französischer Einfluß möglich, da beide dort schon 1662 belegt sind. Ein solcher Einfluß scheint aber nur bei »manierista« wahrscheinlich (vgl. unten). Der Erstbeleg von »manierato« ist in der Form »ammanierato« im Fachwörterbuch der bildenden Künste bei Baldinucci verzeichnet: Da questa radical parola, maniera, ne viene ammanierato, che dicesi di quell'opre, nelle quali l'Artifice discostandosi molto dal vero, tutto tira al proprio modo di fare, tanto nelle figure vmane, quanto negli animali, nelle piante, ne' panni, e altre cose [...]"

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Francesco Bocchi: Eccellenza del San Giorgio di Donatello (1571). In: Barocchi (Hg.), Trattati (Anm. 45), Bd. III, S. 185. Battista Guarini: Il segretario, Venedig 1594 [1600], S. 65. Bellori, Ed. Istituto di storia dell'arte (Anm. 41), S. 483. Devoto/Oli, Nuovo vocabulario illustrato (Anm. 3). II Grande Dizionario Garzanti della lingua italiana (Anm. 53). Guglielmo Volpi: Vocabulario della lingua italiana, Florenz 1941. Istituto della Enciclopedia Italiana (Hg.), Vocabolario (Anm. 3). Baldinucci, Vocabolario toscano (Anm. 52), S. 88.

Die Wortfamilie von it. >maniera
manieristamaniera< im 17. Jahrhundert erscheint, befindet sich der derzeitige italienische Erstbeleg in einer Übersetzung von Fréart de Chambrays >Idée de la Perfection de la peinture^ das 1662 in Le Mans zuerst gedruckt wurde. Die Übersetzung ins Italienische stammt von Anton Maria Salvini ( 1653-1729). Der Terminus wird bis heute nur in der negativen Bedeutung eines manieristischen Künstlers verwendet. Der Terminus >maniera< kann als »hoher Stil< im Sinn der Rhetorik in Verbindung mit einem Adjektiv als »gran maniera« auftreten. Im 17. Jahrhundert erfüllt die Ableitung >manierona< diesen Zweck, so bei Marco Boschini (1613-1678): E st'altro nudo in su quele comise, / che con le gambe l'ordene ressalta, / l'è d'una manierona cusi alta / che Ί rende maravegia [.. ]."

Im bereits erwähnten Fachwörterbuch Filippo Baldinuccis finden wir >manierona< als Stichwort: Manierona f. Termine col quale esprimono i nostri Artefici; il modo, la guisa, o la forma d'operare magnifico e franco, contrario del tutto all'operar gretto e stentato. 76

Das Wort >manierona< als >hoher Stil< wird ebenfalls im 17. Jahrhundert auf die Musik angewandt, und zwar als »manierona grande«, eine Steigerung von >manieronamanierismo< verwendet (nach 1794).80 Il metodo, quanto è vantaggioso all'artista, che cosi moltiplica i suoi guadagni, altrettanto è novico all'arte che per tal via urta necessariamente nel manierismo, o sia alterazione dal vero. 81

Lanzi sagt auch gleich ausdrücklich, was er mit dem neuen Wort meint: »manierismo, o sia alterazione dal vero«. Er spricht hier vom persönlichen Stil eines Künstlers, der in der Gefahr steht, sich von der Wahrheit zu entfernen und der Gesuchtheit (>affettazionemanierismo< also zunächst die künstlerische Praxis, das gelernte, (negativ gesehen) akademische Vorgehen beim Entstehen eines Kunstwerks, sein Mangel an Natürlichkeit. Der Terminus wird bei Lanzi mit den Künstlern des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts verbunden.

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So wird >manieristico< in einem Aufsatz von Emilio Cecchi von 1956 mit dem Titel »Pontormo e il manierismo fiorentino« in Verbindungen wie d'un gusto »manieristico«, l'ispirazione maneristica, la rubrica manieristica etc. verwendet, vgl. E. Cecchi: Piaceri della pittura, Venedig 1960, 88f. u. 90. Erschienen in Convivium 13, 1941. Lanzis Werk ist zuerst 1795-96 unter dem Titel >Storia della pittura< herausgekommen. Luigi Lanzi: Storica pittorica della Italia. Hg. von M. Capucci, Florenz 1968, Bd. I, S. 140.

Die Wortfamilie von it. >maniera
manière< wird aus dem Italienischen entlehnt, sondern auch die individuelle Vorgehensweise eines Künstlers wird mit diesem Wort bezeichnet: [...] vû que ny du Coloris, ny de la régularité de la Perspectiue, ny des Proportions des corps, ny des diuerses manieres de peindre, ny de tout le reste du mechanique de l'Art, il n'y a point d'apparence qu'ils [les grands Peintres de l'Antiquité] ayent eu aucun auantage sur les nostres.' 07

Fréart de Chambray geht hier auf die Frage ein, ob die antiken Maler seinen Zeitgenossen überlegen seien, und entschließt sich dazu, die letzteren zu bevorzugen. Neben der Bedeutung als Technik bei der Erstellung eines Kunstwerks und als individueller Stil eines Künstlers entlehnt er

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l'intelligence serait sans doute bien difficile à plusieurs personnes qui n'ont pas l'vsage de cette langue [...] ces Barbarismes, que l'vsage a comme naturalisez parmi tous les Peintres.« (Roland Fréart de Chambray: Idée de la Perfection de la peinture, Le Mans 1662, Avertissement au Lecteur.) Brunot, Histoire (Anm. 103), Bd. 6 I, S. 695 + n. 2 u. 3. Roland Fréart de Chambray: Idée de la Perfection de la peinture, Le Mans 1662, S. 22. Ebd., S. 60.

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auch die negative Bedeutung des italienischen Wortes >manieraconférences< ftlr Künstler und interessierte Laien einladen. Zum anderen versuchen Künstler, ihre Erfahrungen in Italien in Kunstbeschreibungen einfließen zu lassen, die ihren Ruhm und damit ihre Verdienstmöglichkeiten vergrößern. Neben Fréart de Chambray ist Charles Alfonse du Fresnoy einer der ersten, die in Frankreich ein solches Werk (noch in lateinischer Sprache) verfassen. Es wird 1673 von Roger de Piles (1635-1709) ins Französische übersetzt. Noch vor dem Inhaltsverzeichnis werden einige »Termes de peinture« erläutert, darunter auch >manièremanière< gibt. Da die einzelnen Bedeutungen des Worts >manière< im Französischen nicht allmählich aus der Diskussion bestimmter Probleme gewachsen sind, sondern in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufs Französische übertragen werden, finden wir im Französischen alle Bedeutungen fast gleichzeitig, z. B. die des persönlichen Stils, die negative Bedeutung etc. Dennoch fehlt im Französischen für >manière< bis in die 80er Jahre des 17. Jahrhunderts die in Italien von Anfang an vorhandene Verwendung von >maniera< für die Gestaltung eines literarischen Werks. Damit kann die im eben zitierten Beleg vorgenommene Aufteilung erklärt werden:

IM

Roger de Piles: L'Art de peinture de C. A. du Fresnoy. Traduit en François, Paris 2 1673.

Die Wortfamilie von it. >maniera
manièrestile< dem Leser hilft, die Bedeutung des offensichtlichen Neologismus >manière< zu erkennen. Comme l'on reconnoist le style d'un Auteur, ou l'écriture d'une personne dont on reçoit souvent des lettres, on reconnoist de mesme les ouvrages d'un Peintre dont on a veu souvent les Tableaux, & on appelle cela connoistre sa maniere.109

Auch André Félibien (1615-1695), der wie Poussin einige Zeit in Rom zur Umgebung des Barberini-Papstes zählt, verwendet die eben genannten Gleichsetzungen: >manière< ist >der persönliche Stil des Malersstile< ist >der persönliche Stil eines Autors oder Briefschreibersmanière< in erster Linie der Individualstil des Malers gemeint ist. Das Akademiewörterbuch erwähnt im Beispielsyntagma den Maler Poussin, der nach der heute bekannten Beleglage das Wort als erster in französischen Texten im 17. Jahrhundert gebraucht. Schon Fréart de Chambray verwendet »la Grande Maniere« und die »maniere grande et mangnifique« für den erhabenen, hohen Stil.112 Die Verbindung »grande manière« erscheint im phraseologischen Teil des Artikels des Akademiewörterbuchs von 1694. In Roger de Piles' > Abrégé de la vie des peintres< von 1699 ist in bezug auf Raffael die Rede von einer »grandeur de manière«.113

6.3 Die Übertragung von >manière< auf andere Bereiche der Kunst Wie mehrere Jahrhunderte vorher in Italien findet auch in Frankreich eine Ausdehnung des Bereichs auf weitere Künste statt. Anders als in Italien, wo >maniera< bereits in den ersten kunsttheoretischen Auseinandersetzungen im 13. Jahrhundert auf die Literatur bezogen wird, wird im Französischen erst nach der Anwendung auf Bereiche der bildenden Künste das Wort als Terminus der Literaturkritik verwendet. Der uns derzeit bekannte Erstbeleg für diese Verwendungsweise stammt aus dem dictionnaire universel von Antoine Furetière (1619-1688) aus dem Jahr 1690. Der Eintrag lautet:

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Dictionnaire de l'Académie française, Paris 1694. Fréart de Chambray, Idée (Anm. 106), S. 62 u. 72. »II [Raphael] forma la délicatesse de son Goût sur les Statues & sur les Bas-reliefs Antiques qu'il dessina long-tems avec une éxtrçme application. Et il joignit à cette délicatesse une grandeur de manière que la vue de la Chapelle de Michelange luy inspira tout d'un coup.« (Roger de Piles: Abrégé de la vie des peintres, Paris 1699, S. 172.)

Die Wortfamilie von il. >maniera
manière< außer im Bereich Malerei und Literatur auch in bezug auf Skulptur und Architektur angewandt wird. Er zeigt weiter, daß nicht nur der persönliche Stil eines Malers mit >manière< bezeichnet wird, sondern auch die Stilmittel bestimmter Perioden in seinem Schaffen, z. B. der Stil des Früh- oder Spätwerks (»l'ancienne ou la nouvelle maniere du mçme Peintre«). Die im Italienischen vorhandene Bedeutung von >maniera< als Stil einer Schule oder eines Landes finden wir in dem Artikel ebenfalls für die Malerei: »la maniere Flamande, ou Italienne« und fìlr Statuen oder Gebäude : » la maniere gothique«. Bereits vorher, im Jahr 1669, verwendet Molière >manière< in bezug auf die griechische und römische Antike: »Dans la manière grecque et dans le goût romain.« (Molière, La gloire du Dôme de Val-de-Grâce, 1669, Grand Robert.)" 5 Frz. >manière< in bezug auf die Literatur wird bei Furetière in den Beispielsyntagmen lediglich auf die Verhältnisse in der Antike angewandt, und zwar schreiben Historiker oder Dichter im Stil von Pindar, Horaz oder anderen Klassikern. Die Bedeutung von >manière< als Stil einer Schule, Region oder Nation ist im Französischen bis heute lebendig.

6.4 Die pejorative Bedeutung von >manière< im Französischen Schon in Belegen der beiden letzten Abschnitte war von guter oder schlechter >manière< die Rede, z. B. in Roger de Piles' Übersetzung von du-Fresnoys Werk von 1673 oder im Wörterbuch von Richelet von 1680 und Furetière von 1690. Schon vorher wird in Fréart de Chambrays Werk

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Antoine Furetière: Dictionnaire universel de la langue française, Amsterdam 1690. Paul Robert: Le Grand Robert de la langue française. Deuxième édition par Alain Rey, Paris 1985, Bd. VI (künftig abgekürzt Grand Robert).

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>Idée de la Perfection de lapeinture< von 1662 die gute >maniere< Raffaele der schlechten, negativ gesehenen Michelangelos gegenübergestellt: [...] on pourrait dire en vérité, que l'vn est le Bon, et l'autre le Mauuais Ange de la Peinture : car comme on remarque dans la pluspart des Compositions de Raphael, vne gentillesse d'Inuention noble et poétique, nous voyons aussi presque toûjours dans celles de Michelange, vne pesanteur rustique et lourde: et si la Grace a esté vn des principaux Talents du premier, il semble que l'autre ait pris à tasche de paroistre Rude et Malplaisant, par vne certaine dureté affectée dans sa maniere de desseigner, muscleuse et cochée dans les contours des figures, et par les extrauagantes contorsions qu'il leur fait faire indiscrettement par tout, sans leur donner mesme aucune varieté de proportions; de sorte qu'il semble qu'il n'ait iamais eu qu'vn portefais pour modelle : au lieu que nostre iudicieux Raphael tenoit vne maniere plus douce et plus conforme à la nature, qui se plaist toûjours à mettre quelque variété dans ses productions." 6

Im Zitat wird Michelangelos »dureté affectée dans sa maniere de desseigner« der »maniere plus douce et plus conforme à la nature« Raffaels gegenübergestellt. Wie in Italien in den Schriften Belloris wird in Frankreich durch die Verbindung von klassischen Vorbildern und der Nachahmung der Natur eine Einheit angestrebt, der als Vorbild Raffaels Formensprache eher gerecht wird als die Michelangelos. Michelangelo wird die Wiederholung der Motive vorgeworfen (er habe nur einen Lastträger als Modell und »aucune variété de proportions«) und die Gesuchtheit (in den »extrauagantes contorsions« der Figuren). Wir haben bereits festgestellt, daß sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Belege für >manière< in bezug auf die Malerei häufen. In Frankreich nimmt dabei der Kunstkritiker Roger de Piles eine besondere Stellung ein. Wie Vasari mehr als 100 Jahre vorher in Italien verwendet er >manière< als Terminus des Malens in hohem Stil, aber auch in der pejorativen Bedeutung »affectation, recherche«." 7 Ceux dont vous parlez ont peut-estre esté touchez de quelques endroits bien ressentis, qu'ils [les Peintres] ont remarquez dans les Antiques, ils ont crû qu'ils ne pouvoient mieux faire que de les bien retenir, ils s'en servent en toutes rencontres, sans sçavoir si l'action le demande ainsi, ils exagerent mesme d'autant plus ces endroits qu'ils croyent par là attirer plus d'admiration pour leurs ouvrages, & plus

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Fréart de Chambray, Idée (Anm. 106), S. 66. Vgl. den Eintrag in der Explication des Termes de Peinturemaniériste< bleibt so lange negativ, bis die manieristische Formensprache im 20. Jahrhundert positiv gesehen wird.124 Ebenfalls schon früh erscheint im Französischen zu >manière< in negativer Bedeutung das Adjektiv >maniérémaniériste< in der Funktion eines Adjektivs hat die Bedeutung >qui manque de naturel, de simplicité< und findet sich bei Stendhal (1783-1842): »J'aurais pu allonger ma liste en y plaçant les peintres maniéristes, et mettant à côté de leurs noms ceux de Grétry et de presque tous les jeunes compositeurs allemands et italiens.« - Stendhal (Henri Beyle): Vies de Haydn, de Mozart et de Métastase, Paris o. J. [1814], S. 188 (TLF). Aus diesem Beispiel geht nicht hervor, ob das Adjektiv in pejorativer Verwendung gebraucht wird. Bereits im Mfrz. ist >maniéré< in der Bedeutung »dressé (d'un cheval)« beispielsweise bei Froissait bezeugt, vgl. TLF. Henri Testelin: Discours du 4/2/1679. In: H. Jouin: Conférences de l'Académie Royale de Peinture et de Sculpture, Paris 1888, S. 205.

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MANIÉRÉ, adj. mase. Terme de Peinture, qui se dit d'un Peintre qui n'estudie ni l'antique ni la nature, mais qui ne suit que son genie. On a appellé le travail de Joseph Pein, un travail maniéré.127

Der Eintrag bei Furetière 1690 macht zweierlei deutlich. Einmal ist das Wort auf die Malerei beschränkt; zum anderen wird hier >maniéré< nicht im negativen Sinn verwandt; der Maler folgt seinen im Kopf entworfenen Ideen und läßt sich weder von der Imitation der Antike noch durch den Versuch, die Natur nachzuahmen, davon abbringen, sie in seinem Werk zu verwirklichen. Auch im folgenden Zitat, das sich auf den Maler Parmagianino bezieht, ist keine Ablehnung erkennbar: Son Goût de Dessein [du Parmesan] est svétte et savant, mais idéal et maniéré. Il affectoit de faire les extrémitez des membres délicats, & un peu décharnez. 128

In diesem Zitat läßt die Kombination mit »idéal«, »svelte« und »délicat« eher an Erfindungsreichtum in der Zeichnung denken als an eine ablehnende Haltung der künstlerischen Gestaltung des Malers gegenüber. Eine leichte Reserve wird allerdings durch das Wort »décharnez« spürbar. In der auf die Kunst bezogenen, pejorativen Bedeutung »qui manque de spontanéité, qui est trop recherché« existiert das Wort bis heute. Hieraus entwickelt sich die allgemeine, nicht auf Kunstwerke und Künstler bezogene Bedeutung >qui manque de naturel, de simplicité; qui montre de l'affectation (dans sa tenue, ses propos [...])maniéré< ist bei Furetière 1690 nicht vorhanden. Das Wort fehlt überhaupt bei Richelet 1680 und im Akademie-Wörterbuch von 1690. Es wird allerdings in die zweite Auflage von 1718 aufgenommen, und zwar in der allgemeinen, pejorativen Bedeutung »qui a des affectations particulières & fort marquées«. Der Artikel des Akademiewörterbuchs nennt einige Beispielsyntagmen, bei denen die auf die Kunst bezogene Bedeutung überwiegt: »Style maniéré. Auteur maniéré. Cet homme est fort maniéré. Peintre maniéré.« Im folgenden Zitat von Charles-Augustin de Sainte-Beuve (1804— 1869) wird das Adjektiv >maniéré< substantiviert:

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Antoine Furetière: Dictionnaire universel, Amsterdam 1690. de Piles, Abrégé (Anm. 121), S. 205.

Die Wortfamilie

von it.

>maniera
se maniérisen (>devenir maniéré, affectémanner< »in unfavourable sense« verzeichnet das OED.132 Der Erstbeleg für >mannerism< stammt aus dem Jahr 1803 (ebenfalls OED). Da ein historisches Wörterbuch für das Deutsche fehlt, müssen wir uns mit den Angaben im Grimm'sehen Wörterbuch begnügen. Hier wird M a nien für den Bereich der Malerei und der Literatur erst für das 18. Jahrhundert belegt, und zwar in der positiven und der negativen Bedeutung. Das Wort >Manierismus< fehlt bei Grimm,133 das Wörterbuch von Duden macht keine Angaben zu Zeitpunkt und Art des Entstehens.134 Die Kunstbedeutung von >manieramanière< und >manierismomaniérisme< gelangt in viele europäische Sprachen, ohne daß wir die näheren Umstände hier verfolgen können.

7. Frz. >maniérisme< als Terminus der Kunsttheorie und der Psychologie Anders als bei den bereits behandelten Mitgliedern der Wortfamilie von >manière< als Teil der Kunstterminologie, bei denen nicht entschieden werden kann, ob eine Entlehnung oder eine einheimische Ableitung vorliegt, handelt es im Fall von >maniérisme< mit sehr großer Wahrscheinlichkeit um eine Entlehnung aus it. >manierismomanière< (in der negativen Bedeutung) ersetzen lassen.

7.1 Herkunft aus dem Italienischen als Gesamtheit der Stilmittel eines Künstlers Einer der ersten Belege für den Terminus >maniérisme< im Französischen nimmt ausdrücklich Bezug auf das italienische Wort und erklärt das französische als aus dem Italienischen übernommen. Es handelt sich bei dem

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J. A. Simpson / E. S. C. Weiner: The Oxford English Dictionary, Oxford 2 1989, Bd. IX (künftig abgekürzt OED). Grimm, Deutsches Wörterbuch (Anm. 110). Duden: Deutsches Universalwörterbuch, A-Z, Mannheim - Wien - Zürich 2 1989 (künftig abgekürzt Duden).

Die Wortfamilie

von it.

manierai

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Werk, aus dem wir diese Information entnehmen, um das kunstgeschichtliche Wörterbuch v o n A u b i n Louis Miliin, das 1806 zuerst erschienen ist: Les Italiens diront d'un maître, qu'il introduit un maniérisme, c'est-à-dire, un genre qui, en quelque sorte, fait secte ; expression qui n'est point dans notre langue. 135 D e r Terminus >maniérisme< wird im ersten Viertel d e s 19. Jahrhunderts in das Wörterbuch v o n Boiste a u f g e n o m m e n : Maniérisme, système, façon, genre, style du maniériste, affectation de manières, peu usit.136 D a s in der D e f i n i t i o n v o r k o m m e n d e Wort >maniériste< wird im Französis c h e n negativ g e s e h e n als B e z e i c h n u n g für einen Künstler, der Originalität und Natürlichkeit durch Wiederholungen und Übertreibungen ersetzt. D a ß das Wort >maniérisme< zu der Zeit noch nicht sehr weit verbreitet ist, kann man aus dem H i n w e i s » p e u usit.[é]« entnehmen. D i e V e r w e n d u n g erstreckt sich auf die Kunst (vor allem die Malerei) und die Literatur: der Terminus wird zunächst als Ausdruck der D e k a d e n z auf die Kunst der italienischen Hochrenaissance b e z o g e n gebraucht. [L]'émotion [de Michel-Ange] qui déborde, prépare la voie au maniérisme, qui voudra imiter les résultats sans avoir puisé aux mçmes sources.' 37 A l s B e i s p i e l für die V e r w e n d u n g des Terminus >maniérisme< im Hinblick auf die Literatur nennen wir ein Gautier-Zitat: On voit là le mauvais goût des grands romans et toute la préciosité qui distingue les productions de l'époque : le galant soleil de la Divine Astrée jette un fade rayon sur toute la littérature de Louis XIII à Louis XIV; Corneille, tout robuste qu'il soit, ne résiste pas toujours à cet entraînement; on se souvient de son adorable furie, des stances du Cid et d'autres passages analogues; Racine a besoin d'avoir Boileau d'un côté et Euripide de l'autre pour n'y pas retomber à toutes les minutes; et Molière lui-mçme, quoiqu'il ai fait les Précieuses ridicules, quoique ce soit le génie du monde le moins entaché d'affection, offre beaucoup d'endroits d'un maniérisme qui nous semblerait fort étrange, et il ne s'est pas autant dérobé à l'influence d'Honoré d'Urfé qu'on pourrait bien le croire.' 38

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Aubin Louis Millin: Dictionnaire des Beaux-Arts, Paris 1806 [1838], Bd. II, S. 389, Stichwort >maniéristemaniérisme< nicht immer entkommen zu sein. Der Hintergrund ist möglicherweise die von vielen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts empfundene Einengung durch die Festlegung auf die Stilformen der klassischen Autoren, deren Vorgehen und Stilmittel lange Zeit als absolute Richtschnur für das literarische Schaffen gegolten haben. 139 Im nächsten Zitat bezieht sich >maniérisme< auf Kunst überhaupt, auf jede Kunstrichtung, die, fehlt die Inspiration, zur bloßen Mechanik, zur Künstlichkeit oder Kunstfertigkeit wird: La »manière« toutefois pourra dégénérer en »maniérisme«, si elle devient consciente, puis cultivée, pratiquée. De l'art, on passe alors à l'artifice, qui commence là où le mécanisme se substitue à la création.' 40

Hier wird >manière< in positivem Sinn als Ausführung, als Formensprache oder Gesamtheit der Stilmittel eines Kunstwerks mit Kunst verbunden, während >maniérisme< die Funktion der »schlechten« >manièremaniérisme< lebt in der pejorativen Bedeutung bis heute fort und ist in dieser Bedeutung synonym mit >manière< als >style affecté, recherchée In der heutigen Zeit löst >maniérisme< offensichtlich gerade den Terminus >manière< in seiner pejorativen Bedeutung ab, denn TLF und Grand Robert bezeichnen das Wort >manière< in dieser Bedeutung als veraltet.

7.2 Herkunft aus dem Deutschen über das Italienische als Epochenstil der Kunstgeschichte Zu Anfang des 20. Jahrhunderts ändert sich die Einstellung zu den bisher mit dem Wort >maniérisme< bezeichneten und negativ gesehenen Stilmit-

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Vgl. das »bonnet rouge« in Victor Hugos berühmtem Vorwort zu >Cromwell< (Walther von Wartburg: Évolution et structure de la langue française, Bern 7 1965, S. 220ff.). René Huyghe: Dialogue avec le visible, Paris 1955, S. 262.

Die Wortfamilie von it. >maniera
maniérisme< als Terminus der Psychologie und die Verbindung zur Literaturkritik Nach der derzeitigen Beleglage stammt der Terminus >maniérisme< als Teil der Fachsprache der Psychologie bzw. der Psychiatrie aus dem Französischen. Ob der Terminus mit Bezug auf die Bedeutung von >maniérisme< als Eigenschaft des Unnatürlichen, Überdrehten (eines Kunstwerks^ entstanden ist, kann im Augenblick nicht mit Sicherheit gesagt werden. Möglich wäre auch, als Basis, aufgrund derer sich die Bezeichnung entwickelt hat, die in Anm. 143 beschriebene Bedeutung von >maniérisme< als »caractère, qualité de celui/de ce qui est maniéré< anzunehmen. Grundlage des Terminus der Psychologie könnte auch die aus der Kunstbedeutung von >maniéré< abgeleitete allgemeinsprachliche Bedeutung des Adjektivs >qui manque de naturel, de simplicité; qui montre de l'affectation (dans sa tenue, ses propos [·••])< sein (vgl. hier 6.5), zu der in der Psychologie das Substantiv >maniérisme< (>attitude de rupture avec le réelmaniérisme< gemeinte Sachverhalt als Teil des Krankheitsbildes der Schizophrenie beschrieben. Jedenfalls steht der

143

144

Neben der kunsthistorischen Bedeutung des Worts >maniérisme< steht eine zweite, nicht auf die Kunst bezogene, aber möglicherweise von ihr abgeleitete: »caractère, qualité de celui/de ce qui est maniérée »[...] cette étrange femme aux yeux peints et cernés jusqu'au milieu de la figure et dont le maniérisme galant vous fait penser aux petites femmes qui sont représentées sur les bottes d'allumettes.« - E. et J. de Goncourt, Journal (1851-1878). Hg. von A. Ricatte, Paris 1959, S. 1268 (TLF). In dieser Bedeutung kann das Wort aber auch als Ableitung zu >manière< als »übertriebenes Verhalten« im Französischen gebildet sein. »La démence précoce présente une forme assez spéciale de maniérisme où la discordance de l'expression est étroitement liée à une discordance psycho-motrice produisant des interférences inattendues et à une impuissance du sentiment à pousser jusqu'à l'expression adéquate. Cf. Reboul-Lachaux : Du maniérisme dans la démence précoce et les autres psychoses, Thèse, Montpellier, 1921.« (Emmanuel Mounier: Traité du caractère, Paris 1946, S. 606.)

Die Wortfamilie von it.

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Terminus in Psychologie oder Psychiatrie für einen Zustand, bei dem der Bezug zur Realität verloren ist. Mais qu'il [le sens critique] ne soit plus soutenue par une pensée forte et attentive au réel, et le voici qui tourne à la manie de la distinction, au maniérisme révélateur des attitudes de rupture avec le réel. 1 "

Emmanuel Mounier bringt das Krankheitsbild des >maniérisme< mit der psychischen Situation von (schreibenden) Künstlern in Verbindung, die er in zwei Gruppen, die »Clairs« und die »Obscurs«, aufteilt: Les Clairs gardent une intolérance incoercible pour l'ébauche, le balbutiement, l'obscurité, le vacarme éloquent ou la pénombre brouillée où se tiennent les Obscurs, et pour le maniérisme où parfois ils semblent se complaire. Deux familles de poètes, deux familles de penseurs, deux familles de savants, deux familles de mystiques : Jammes et Claudel, Bergson et Heidegger, Descartes et Einstein, François de Sales et Jean de la Croix.146

Hier wird eine sehr klare Verbindung von >maniérisme< in der psychologischen Bedeutung und der Befindlichkeit von Schriftstellern im weitesten Sinn gesehen. In den späteren Fachwörterbüchern zur Psychologie und Psychiatrie wird die Bedeutung des Terminus als Teil eines »trouble mental« beschrieben, der sowohl bei der frühen Demenz als auch bei Schizophrenie auftritt: [...] tous les processus dissociatifs s'extériorisent par des mimiques déadaptées, maniérées et discordantes. Aussi, le maniérisme a-t-il été signalé depuis longtemps comme un signe révélateur et de grande valeur dans la démence précoce et la schizophrénie [...] lorsque le processus dissociatif ou la dégradation mentale vont en s'accentuant, certains maniérismes peuvent passer à l'état de véritables »stéréotypies«.' 47

In der späteren Auflage des Wörterbuchs von 1984 weisen die Bearbeiter auf eine Studie Ludwig Binswangers von 1956 hin, die als »une analyse devenue classique« bezeichnet wird und in der der Autor »a fait du maniérisme l'une des trois formes fondamentales de l'autisme schizophrénique avec la présomption et la distorsion.« Ludwig Binswangers Studie148 wird

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Ebd., S. 690. Ebd., S. 667. Antoine Porot: Manuel alphabétique de psychiatrie, Paris 1952. Ludwig Binswangen Drei Formen mißglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit, Tübingen 1956.

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nicht nur von der Psychologie, sondern auch von Literaturkritik rezipiert. Sie ist nach Hermann Pongs' >Kleinem Lexikon der Weltliteratur^ 49 »nur möglich in einer Zeit, die von >geistiger Ambivalenz< bestimmt wird.« Gustav René Hocke kommt in seinem Werk >Die Welt als LabyrinthManierismusAntiklassikmaniérisme< bezeichneten Krankheit leiden. Das Weltbild in der modernen Literatur ist antiklassisch, unharmonisch und abstrus. Es ist bei Hocke die Rede von »Bewußtseinsspaltung« und »Schizophrenie«.152 Die Parallelen von >maniérisme< als Krankheitsbild und dem Verhalten der Protagonisten in vielen Werken der modernen Literatur153 sind offensichtlich. Wie der Terminus >maniérisme< als Teil der Kunstgeschichte wird auch der Terminus der Psychologie in viele Sprachen, unter anderem ins Italienische, übernommen (vgl. hier 5.2). Die neuesten Ausgaben von Zingarelli (VDL), Robert154 und Duden verzeichnen fìlr >manierismomaniérismeManierismus< 1. die Gesamtheit manieristischer Stilmittel, 2. den Epochenstil zwischen Renaissance und Barock und 3. den Realitätsverlust als Terminus der Psychologie, wobei letzteres im Duden fehlt, aber in den beiden anderen Wörterbüchern vorhanden ist.155

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Stuttgart 5 1963, s. v. >ManierismusManierismus< in seinem Werk >Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter< auf, um »eine Lücke der literaturwissenschaftlichen Terminologie auszufüllen«. Zu diesem Zweck [als literaturwissenschaftlicher Terminus] müssen wir das Wort freilich aller kunstgeschichtlichen Gehalte entleeren und seine Bedeutung so erweitern, daß es nur noch den Generalnenner fllr alle literarischen Tendenzen bezeichnet, die der Klassik entgegengesetzt sind, mögen sie vorklassisch oder nachklassisch oder mit irgendeiner Klassik gleichzeitig sein. In diesem Sinn verstanden ist der Manierismus eine Konstante der europäischen Literatur. Er ist die Komplementärerscheinung zur Klassik aller Epochen.156

Curtius versteht also manieristische Tendenzen als zu jeder Zeit und in jeder Stilepoche mögliche Erscheinungsformen in der Literatur. Diese literaturgeschichtliche Bedeutung des Terminus >Manierismus< wird von Georg Weise ins Italienische und Französische übertragen, ohne däß Weise die Meinung von Curtius teilt. 157 Claude-Gilbert Dubois findet in seinem Werk >Le maniérisme< die von Curtius beschriebenen Phänomene unter anderem in der zeitgenössischen französischen Literatur.158 Er sieht im >maniérisme< »une tendance fondamentale de la littérature, susceptible de s'actualiser sous des formes diverses (l'alexandrinisme antique, la poétique des Rhétoriqueurs, le Pétrarquisme, Milton, Claude Simon, Lacan).« 159 Wenn Curtius >Manierismus< nicht als Zeit- oder Raumstil auffaßt, muß er ihn an formalen Elementen festmachen, die sich zu jeder Zeit, auch in

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Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern München 1948 [M961], S. 277. »L'auteur [Curtius] propose d'emprunter le terme de >Maniérisme< à l'histoire de l'art [...] Il ajoute qu'une grande part des phénomènes littéraires qu'il veut rattacher au Maniérisme, se rangent sous le nom de >Baroque< [...]« (Georg Weise: Le Maniérisme: histoire d'un terme. In: L'Information d'histoire de l'art 7, 1962, S. 116b). - »L'autore [Curtius] propone di prendere dalla storia dell'arte il termine di Manierismo [...]« (Ders.: Storia del termine manierismo. In: Manierismo, Barocco, Rococò: Concetti e termini. Convegno Internazionale - Roma 21. 24.4.1960, Academia Nazionale dei Lincei, Quaderno 52, 1962, 30f.). Unseres Wissens wird das Problem in Italien nicht weiterverfolgt. Claude-Gilbert Dubois: Le maniérisme, Paris 1979, passim, auch S. 211. J. Demougin (sous la direction de): Dictionnaire historique, thématique et technique des littératures, Bd. II, Paris 1986.

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der jeweiligen Klassik finden. Infolgedessen ist für ihn beispielsweise ein durch viele Formen erweitertes Hyperbaton ein Manierismus, für den er Belege in der römischen Klassik nennt. 160 Er bezeichnet also die Übertreibungen in der Gestaltung von hauptsächlich rhetorischen Elementen von Dichtung als »formale Manierismen«, die zu jeder Zeit Teil eines literarischen Kunstwerks sein können, aber zu bestimmten Zeiten gehäuft in Kunstwerken auftreten. 161 Marcel Raymond 162 beschreibt in der französischen Literaturwissenschaft dieses Phänomen als >maniérisme rhétorique*.

8. Der Vergleich von italienischer und französischer Entwicklung im kunsttheoretischen Diskurs Das italienische >maniera< erscheint im 13. Jahrhundert im Verlauf der Diskussion um Form und Inhalt von Gedichten. Die Auseinandersetzung ist insofern an die für Italien spezifische Entwicklung der Dichtung in der Volkssprache gebunden, als in Italien im Vergleich zu den anderen romanischen Sprachen erst sehr spät die lateinische Sprache in der Dichtung aufgegeben wird. Die Lyrik im 13. Jahrhundert setzt sich mit älteren Formen auseinander, sei es mit klassischen Vorbildern (Brunetti) oder mit Strömungen innerhalb des Italienischen (Bonagiunta), die verbunden sind mit der Befürwortung oder Ablehnung der italienischen Lyrik mit provenzalischen und französischen Einflüssen. Die Diskussion um die >maniera< in der Literatur setzt sich im 16. Jahrhundert und später fort, wird aber außerhalb Italiens nicht geführt und läßt den Terminus >maniera< in dieser auf die Literatur bezogenen Auseinandersetzung zunächst nicht auf andere Sprachen einwirken. Anders ist es mit der >maniera< in der Malerei und in weiteren bildenden KUnsten. Während >maniera< hier sowohl die Maltechnik als auch die

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Curtius, Europäische Literatur (Anm. 156), S. 279. »Wir haben sieben Hauptarten des formalen Manierismus verfolgt, und zwar am Leitfaden der Chronologie: die lipogrammatische Manier wies in das 6. Jahrhundert v. Chr. zurück, die pangrammatische in das dritte v. Chr. Derselben Zeit (Anfang der alexandrinischen Periode) scheinen die ersten Figurengedichte anzugehören [...]« (Ebd., S. 294). Marcel Raymond: La poésie française et le maniérisme, Paris 1971.

Die Wortfamilie von it. manierai

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Gesamtheit der stilistischen Mittel bedeuten kann, entwickelt sich aus der Unterscheidung zwischen einer guten, schönen oder erhabenen >maniera< und einer schlechten >maniera< die negative Bedeutung gesuchter, affektierter, auf Wiederholung basierender Stilmanière< hätte erörtert werden können. Sieht man von wenigen isolierten Belegen ab, verwendet erst der in Frankreich und Italien lebende Maler Poussin >manière< in der vom Italienischen beeinflußten Bedeutung der charakteristischen Züge bei der Gestaltung eines Kunstwerks, sei es Gemälde oder Skulptur. Um >manière< in dieser Bedeutung in Frankreich heimisch zu machen, bedarf es offensichtlich des auch politischen Diskurses um die Künste und Kunstrichtungen. So scheinen die Errichtung der französischen Akademie der bildenden Künste, die Diskussion um den Malstil, der von der Akademie propagiert wird, und die Auseinandersetzung mit den bisher als Handwerker ausgebildeten Künstlern und dem Publikum wichtiger fìir die Erweiterung der Kunstterminologie als die Werke italienischer Künstler allein. Im 17. Jahrhundert weitet Bellori im Italienischen den Terminus >maniera< in negativer Bedeutung auf die Maler und Künstler aus, die die vor dem Barock übliche Formensprache verwenden. Bei der späteren Übertragung ins Französische überwiegt deshalb die negative Bedeutung. Im Französischen werden fast gleichzeitig mit der Übernahme die pejorativen Ableitungen >maniériste< und >maniéré< gebildet. Aus dem Französischen gelangt der Terminus >manière< in der positiven und der negativen Bedeutung in die anderen europäischen Sprachen. In dieser Zeit werden die Termini >maniera< und >manière< hauptsächlich auf literarische Phänomene oder auf die bildenden Künste angewandt. So ist es schwer, Belege filr die Verwendung in bezug auf die Musik oder

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die Aufführungspraxis von Theatern zu finden. Zwar gibt es die übertriebene, übersteigerte Gestaltung von Komposition oder Aufführung in der Musik, aber Belege für die Bezeichnung dieser Gestaltung fehlen entweder oder die entsprechenden Traktate, Kritiken etc. sind von der historischen Sprachwissenschaft bisher nicht zur Kenntnis genommen worden. In der negativen Bedeutung erwächst dem Wort >maniera< zu Ende des 18. Jahrhunderts Konkurrenz aus der eigenen Familie: >manierismo< in der Bedeutung >Züge von Kunstwerken mit gesuchten, affektierten Stilmittelm wird von Luigi Lanzi geprägt und wenige Jahre später ins Französische und in die anderen Sprachen Europas übernommen. Daß die Bildung aus dem Italienischen stammt, ist eher zufällig, denn anders als bei der Auseinandersetzung mit der Literatur im 13. bzw. 16. Jahrhundert oder mit den bildenden Künsten vom 15.-17. Jahrhundert in Italien ist damit keine neue Position in der Kunst verbunden. Es wird lediglich für die eine (negative) Bedeutung eines sonst positiven Terminus ein anderer, mit ihm durch ein Ableitungsverhältnis verbundener vorgeschlagen. Im 20. Jahrhundert verlagert sich die Diskussion um die beschriebenen Phänomene insofern, als nicht die italienische Form, sondern die ins Deutsche und Französische entlehnte Entsprechung >Manierismus< bzw. >maniérisme< zum Audrucksmittel neuer Konzeptionen wird. Im Bereich der deutschen Kunstgeschichtsforschung entsteht die Bedeutung >Epochenstil zwischen Renaissance und Barock< für >Manierismusmanierismo< als auch frz. >maniérisme< übernehmen die Bedeutung des deutschen Worts. Die Bezeichnung für den Epochenstil ist wertneutral, also ohne negative Konnotationen.163 Das Wort >maniérisme< wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Terminus der Psychologie, der den Realitätsverlust bei bestimmten Erkrankungen wie Schizophrenie oder früher Demenz bezeichnet. In dieser Bedeutung ist der Terminus im Französischen früher belegt als im Italienischen. Parallel zu dieser Bedeutung wird >Manierismus< in der

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Noch 1958 berichtet Arnold Hauser über die Probleme damit, die besprochenen Phänomene wertneutral zu sehen: »[...] bei dem Manierismus dagegen ist die ablehnende Einstellung noch so unmittelbar wirksam, daß man einen gewissen inneren Widerstand bekämpfen muB, bevor man die großen Künstler und Dichter dieser Stilperiode als »manieristisch« zu bezeichnen wagt.« (Ders.: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1958, Bd. I, S. 377f.).

Die Wortfamilie von it. >maniera
Manierismus< als eine Bezeichnung für den Epochenstil der Literatur der Gegenwart. Ebenfalls nur auf die Literatur beschränkt will Emst Robert Curtius mit >Manierismus< die gegenklassische Strömung benennen, die seiner Meinung nach zu allen Zeiten auftreten kann.

Horst

Bredekamp

Der Manierismus Zur Problematik einer kunsthistorischen Erfindung

1. Gombrich versus Curtius »Nur noch eine kleine terminologische Frage zu S. 492 unten: Barock d. h. Manierismus. In der Kunstgeschichte haben wir uns angewöhnt, vom Manierismus als einem Stil zu sprechen, der dem Barock vorhergeht. Das ist natürlich rein eine Frage der Konvention, aber der kunstgeschichtliche Leser stutzt, wenn er die beiden als synonym behandelt liest«.1 Mit diesen Worten reagierte der damalige Direktor des London Warburg Institute im April 1948 auf den Vorabruck von Ernst Robert Curtius' Einleitung zu Europäische Literatur und Lateinisches Mittelaltererfunden< hatte. Angesichts seiner späteren Auseinandersetzung mit dem Begriff des >ManierismusManierismus< ab, indem er die >Manier< in >Manie< verwandelte: »Allen Phobien und >Manien< liegt die große Emotivität der >Entartung< zu Grunde«.22 Er konnte sich mit der Triade von Entartung - Moderne - Manierismus wiederum auf Justi beziehen, der zu Ende seiner Aburteilung El Grecos anerkannt hatte: »Er ist in der Tat ein Prophet der Moderne«.23 Das klassische Argumentationsgespann, Verteidigung des Klassizismus und Abwehr der >ManierSacra Conversazione< als Produkt der »Delirien eines künstlerisch und seelisch aus dem Gleichgewicht Geworfenen«. Sie ist ihm »ungestaltet und formlos [...]. Man sieht mit Staunen in die verzwickte Phantasiewelt eines durch und durch problematischen, ja halb pathologischen Geistes«.24 Ein Jahr später nahm Max Jakob Friedländer in seiner grundlegenden Arbeit zu den niederländischen Manieristen< die Krankheitstopik auf: »Die Manier, die sich epidemisch verbreitet, greift zumal geschwächte Körper an. Widerstandslosigkeit und innere Leere sind die Vorbedingungen für willkürliche und formelhafte Ausdrucksweise«. 25 Es kam daher nicht aus heiterem Himmel, daß Friedländer in seinem Handbuch über die >Antwerpener Manieristen< von 1933 Justis schärfsten Begriff der Denunziation des Manierismus übernahm. Ein vor 1518 datierter Flügelaltar zeugte für ihn im Durcheinander seines Innenraumes von »entarteter Gotik«.26

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25 26

le dégénérescence, médiateur franco-allemand, père fondateur du sionisme. Hg. von Delphine Bechtel / Dominique Bourel / Jacques le Rider, Paris 1996. Nordau, Entartet (Anm. 21), Bd. I, S. 6. Justi, Velàzquez (Anm. 18), S. 85f.; vgl. Hüttinger, Portraits (Anm. 19), S. 296. Hermann Voss: Malerei der Spatrenaissance in Rom und Florenz, Berlin 1920, S. 174. Max Jakob Friedländer: Die niederländischen Manieristen, Leipzig 1921, S. 3. Max Jakob Friedländer: Die Altniederlandische Malerei. Bd. 11 : Die Antwerpener Manieristen. Adriaen Ysenbrant, Berlin 1933, S. 47.

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Daß von dieser Wortwahl auch weiterhin nicht umstandslos auf eine politische Haltung geschlossen werden konnte, bezeugt Werner Weisbach, der 1919 versuchte, den Begriff des Manierismus kunsthistorisch und kulturgeschichtlich zu präzisieren. Er setzte den Manierismus mit der l'art pour l'art der Jahrhundertwende und mit dem Expressionismus in Beziehung, weil er bei beiden den »gewollten Eindruck von Primitivität« sah, der aus dem Übersprung einer Hyper-Intellektualisierung entsprungen war.27 Schließlich charakterisierte er die Formen des Manierismus als »affektiert, gekünstelt, hohl, verbraucht, entartet«.21 Das Verquere dieser wechselseitigen Bespiegelung von Manierismus und Avantgarde zeigt sich auf besonders überraschende Weise in den Äußerungen Weisbachs und Pinders. Wilhelm Pinder, der vielleicht nicht, wie er nach dem Krieg tituliert wurde, »der Kunsthistoriker Adolf Hitlers« war, der aber in eine Reihe mit Carl Schmitt und Martin Heidegger gestellt werden kann, verfaßte im Jahr 1933 einen Beitrag zur >Physiognomie des Manierismusbiologischen< Krise sah: »Es ist, als ob ein Kranker sich an einer Wunde scheuert«. 29 Diese Diagnose führt Pinder aber nicht etwa zu einer Kritik des Manierismus, sondern zu einer Wertschätzung seiner Fähigkeit, den Zweifel gemalt zu haben. Pinder, der den Sieg der Nationalsozialisten begrüßte, verteidigte den Manierismus offenbar, weil er hoffte, daß der Expressionismus im >Dritten Reich< als kommende, deutsche Kunst reüssieren werde. Weisbach dagegen, ein entschiedener Gegner der Nationalsozialisten, der 1933 emigrierte, lehnte den Expressionismus ab, weil er in ihm eine Verwandtschaft mit dem verwerflichen Manierismus sah. Diabolischerweise war es daher Weisbach, dessen Argumentation gegen den Manierismus im Kampf des Nationalsozialismus gegen die Moderne Kunst eine Parallele fand. Das von Justi bis Weisbach mit dem Manierismus verbundene Adjektiv >entartet< wurde 1937 dem Todesraum der Avantgarde überschrieben. 30

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Werner Weisbach: Der Manierismus. In: Zeitschrift für bildende Kunst 54, 1919, N. F. 30, S. 161-183, hier S. 182f.; vgl. S. 177. Ebd., S. 161. Wilhelm Pinder: Zur Physiognomie des Manierismus. In: Die Wissenschaft am Scheideweg von Leben und Geist. Ludwig Klages zum 60. Geburtstag, Leipzig 1932, S. 148-156, hierS. 151. Entartete »Kunst«. Ausstellungsführer, Berlin 1937. Vgl. hierzu »Entartete Kunst«,

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Die Ausstellung >Entartete Kunst< suggerierte, daß die künstlerische Moderne die zeitgenössische Form des Krankhaften sei. Sie beerbte ein Urteil, das in der Aversion gegen den Manierismus ausgebildet und gegen die Moderne gewendet worden war. Über wenig wird Weisbach im Schweizer Exil mehr betroffen gewesen sein als darüber, daß sich die nationalsozialistische Kritik der Avantgarde Topoi bediente, die er selbst in seiner Vergleichung von Manierismus und Expressionismus verwendet hatte.31 Die Ausstellung >Entartete Kunst< war ein quergeschlagener Höhepunkt einer Krankheitsrhetorik, die an der Aburteilung des Manierismus ausgebildet, in die Gegenwart projiziert und tödlich gewendet worden war. Die Denunzierung des Manierismus als >entartet< läuft auf die Vernichtung der Moderne zu, aber dies bedeutet keinesfalls, daß Autoren, die sich der Krankheitstopik bedient hätten, fiir diese Aktion ursächlich verantwortlich wären. Die Abwegigkeit, hier eine direkte Linie zu ziehen, zeigt sich schon darin, daß auch eine Reihe von jüdischen Autoren auftraten, die ihrerseits den antisemitischen Gehalt der Aktionen gegen die Moderne Kunst zu fürchten hatten. Der Begriff der manieristischen >Entartung< barg eine Kritik der Moderne, deren biologische Metaphorik von den Nationalsozialisten rassisch radikalisiert wurde. Wie komplex sich die Argumentationen überlagerten, mag auch daran sichtbar werden, daß die Werke des Manierismus verschont blieben. Offenbar hat die historische Distanz die Werke des Manierismus davor bewahrt, gemeinsam mit der Moderne verbannt zu werden. Es kam hinzu, daß sie in Einzelf&llen durchaus im Sinne des Faschismus geachtet wurden. Als einer der ersten hatte der Kunsthistoriker Hugo Kehrer die Ge-

31

Dokumentation zum nationalsozialistischen Bildersturm am Bestand der Staatsgalerie moderner Kunst in München. Ausstellungskatalog, München 1987; »Degenerate art«: The Fate of the Avant-Garde in Nazi Germany, Ausstellungskatalog, Los Angeles County Museum of Art 1991; Zuschlag, »Entartete Kunst« (Anm. 17), und Bruce Altshule: The Avant-Garde in Exhibition. New Art in the 20th. Century, Berkeley - Los Angeles 1994. Hierzu gehörten der Vorwurf der »ursprünglichen Primitivität«, die Gegnerschaft gegenüber Wilhelm Worringer, dem - ungenannt - entgegengehalten wird, daß »viel weniger das sogenannte Wollen, als das Können« interessiere, und die Behauptung, die Moderne sei durch eine Clique von Pseudoexperten durchgesetzt worden, gegen »das Volk« (Adolf Hitler: Rede zur Eröffnung der »Ersten Großen Deutschen Kunstausstellung« 1937. In: Berthold Hinz: Die Malerei im Deutschen Faschismus, München 1974, S. 152-170, hier S. 165, 167).

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mälde El Grecos im Jahre 1914 als »Vergeistigung des Stofflichen« charakterisiert und damit den Kerngedanken einer Verbindung von Expressionismus und Manierismus formuliert. Darin, daß El Grecos Werk im >Symbolisch-Expressionistischen< ende, habe er gleichsam »das Ausdrucksbegehren der Künstler unserer Tage vorausempfunden« .32 Fünfundzwanzig Jahre später, 1939, wurde El Greco zum Ausgangspunkt einer Bestärkung des europäischen Faschismus. Sein neues Buch über El Greco und den Manierismus widmete Kehrer dem Generalísimo Francisco Franco als glorreichem Befreier Spaniens, um den Abschluß seines Manuskriptes am 13. März 1938 »in der geschichtlichen Stunde« bekanntzugeben, »da Österreich ins Deutsche Reich heimkehrte«.33 Diese Ergebenheitsadressen hatten fraglos den Sinn, Vorwürfen entgegenzutreten, die, wie Kehrer in Vorwegnahme möglicher Kritik ausführte, »in Grecos Kunst etwa Niedergang oder gar Zersetzung sehen wollen«.34 Er vermied den Begriff >EntartungNiedergang< und >Zersetzung< ließ keinen Zweifel, daß er sich mit Hilfe El Grecos gegen die klassizistische Doktrin der Nationalsozialisten wandte. Offenbar wollte Kehrer über den Manierismus einen Rest der zwar nicht dominierenden, aber doch vielfältig wirksamen Verbindung von Nationalsozialismus und Expressionismus bewahren,35 die mit der Ausstellung >Entartete Kunst< ausgeschaltet worden war. Die Auswahl seiner Kronzeugen ist bezeichnend: Mit dem Berliner Pinder bezog er sich auf einen Kunsthistoriker, dessen Regimetreue außer Zweifel stand, der aber Sympathien sowohl für den Manierismus wie für den Expressionismus bekundet hatte,36 und der Wiener Max Dvofák konnte für die österreichische Komponente einer Bejahung des

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Hugo Kehrer: Die Kunst des Greco, München 1914, S. 84. Ders.: Greco als Gestalt des Manierismus, München 1939, »Generalísimo Francisco Franco Glorioso Liberador de España« (S. V), Vorwort: S. XI; vgl. Klein, El Greco's »Burial« (Anm. 19), S. 515. Kehrer, Greco als Gestalt (Anm. 33), S. X. Hierzu zuletzt: Zuschlag, »Entartete Kunst« (Anm. 17), S. 45ff.; Beat Wyss: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln 1996, S. 247ff., und Jean Clair: Avantgarde zwischen Terror und Vernunft. Die Verantwortung des Künstlers, Köln 1998, S. 32fF. Marlite Halbertsma: Wilhelm Pinder und die deutsche Kunstgeschichte, Worms 1992; Robert Suckale: Wilhelm Pinder und die deutsche Kunstwissenschaft nach 1945. In: Kritische Berichte 14, 1986, Nr. 4, S. 5-17.

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Manierismus stehen. Im Namen des Manierismus war auf diese Weise eine suggestive Verbindungslinie zwischen dem Franco-Regime, dem nationalsozialistischen Deutschland und dem »heimgekehrten« Österreich gezogen.

4. Der expressionistische Manierismus Mit Dvofák bezog sich Kehrer aufjenen Kunsthistoriker, der den über ein halbes Jahrhundert vorgetragenen Angriffen auf das Zwillingspaar Manierismus und Moderne eine diametral entgegengesetzte Argumentation entgegenhielt. Sie hatte Ende des 19. Jahrhunderts nach einer Reihe vergeblicher Versuche, das Verdikt des Manierismus zu überwinden, eingesetzt. So hatte sich Heinrich Wölfflin 1888, diesem einschneidenden Jahr, in dem die Übersetzung von Lombrosos >Genio e Follia< den Begriff der >Entartung< populär machte, im ersten Satz seines Buches Renaissance und Barock< programmatisch gegen den Begriff der >Entartung< und seine kunsthistorische Anwendung ausgesprochen: »Man hat sich gewöhnt, unter dem Namen Barock jenen Stil zu verstehen, in den die Renaissance sich auflöst oder - wie man sich öfter ausdrückt - in den die Renaissance entartet«.37 In den scheinbaren »Symptomen des Verfalls« erkannte Wölfflin im Gegensatz zu den Diagnostikern der >Entartung< keinen Niedergang. Die Zeit zwischen 1530 und 1380 bot sich ihm daher nicht als Epoche des Manierismus, sondern die des frühen Barock; nicht als >ausartende< Zerfallszeit, sondern als Einsatz einer neuen Ära: »Den Beginn dieser Periode setze ich unmittelbar nach der Hochrenaissance. [...] Die Hochrenaissance verläuft nicht in einer spezifisch unterschiedenen Spätkunst, sondern vom Höhepunkt führt der Weg unmittelbar in den Barock hinein. Wo sich ein Neues zeigt, da ist es ein Symptom des kommenden Barockstiles«.38 Mit Gespür für die Problematik von Burckhardts pauschaler Aburteilung versuchte im selben Jahr 1888 auch Karl Woermann, Direktor der Dresdener Gemäldegalerie, die Nachfolger Michelangelos vom Stigmader >maniera< zu befreien. Er Ubernahm mit einer geringfügigen Verschiebung

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Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock, Basel - Stuttgart "1988 [1888], S. 11. Ebd., S. 13.

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des Zeitraumes zwar Burckhardts >ManierismusEnkel< der nicht mehr übertreffbaren Künstler der Hochrenaissance gewesen seien. 3 ' Diese Rehabilitierung des Manierismus setzte sich jedoch zunächst nicht durch, und gegen Ende des Jahrhunderts gab selbst Wölfflin seine Vorbehalte gegen den Begriff und die Verurteilung des >Manierismus< auf. In der >Klassischen Kunst< stellte er den nun akzeptierten >Manierismus< unter den Titel >Verfalle »Es wird niemand Michelangelo persönlich für das Schicksal der mittelitalienischen Kunst verantwortlich machen wollen. Er war wie er sein mußte und bleibt großartig auch noch in den Verzerrungen des Altersstils. Aber seine Wirkung war furchtbar«. 40 Diese Kritik wirkte um so nachhaltiger, als Wölfflin den Manierismus im Gegensatz zu Burckhardt bis in das siebzehnte Jahrhundert ausspannte. Rubens, so Wölfflin, der hier Carl Justi zu paraphrasieren scheint, verstünde eine bloße Schulter so zu belichten, daß »vor dieser Sonnenwirklichkeit all die falschen Prätentionen des Manierismus zerstieben wie ein wüster Traum«.41 Im Gegensatz zu Wölfflin, der den negativ konnotierten Begriff des Manierismus zunächst ablehnte, um ihn gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts dann doch zu übernehmen, lehnte der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl den Manierismus durchweg ab, um ihn aber für eine hellsichtige Analyse zu nutzen, die den Umschlag der Kritik in eine Bejahung der Moderne provozierte. Er setzte einen Prozeß in Gang, der die Verschwisterung des Manierismus mit der Moderne vor allem in Wien, München und Berlin vollzog, um beide als zwei Spielarten der Avantgarde zu feiern. Wie für Burkhardt war der Manierismus auch fìlr Riegl durch eine nur äußerliche Nachahmung Michelangelos und des späten Raphael geprägt,42 und auch er brachte die >dekorative Leere< des Manierismus mit der latenten Kunstfeindlichkeit der Gegenreformation in Verbindung. 43 Im Gegensatz zu diesem Versuch einer kulturgeschichtlichen Bestimmung entwikkelte Riegl aber ein zweites, bislang nicht gehörtes Argument, das den

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Karl Woermann: Geschichte der Malerei, Bd. 3, Leipzig 1888, S. 3, 5. Heinrich Wölfflin: Die klassische Kunst, München 1899, S. 184. Ebd., S. 187. Alois Riegl: Barockkunst in Rom, Wien 1908, S. 153. Ebd., S. 154f.

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Manierismus mit der Moderne der eigenen Zeit in Beziehung setzte. Seit der Nachahmung von Michelangelos Spätstil, so Riegl, hätten die Künstler nicht nur gelernt, sich auf nichts als auf ihre eigene Geschichte zu beziehen, sondern auch begriffen, daß sie bei Michelangelo vor allem das eine lernen könnten: daß es keine Regeln gäbe. Michelangelo habe den subjektiven Künstler< begründet, und seine Nachahmer hätten diese Autonomie zur Regel gemacht. Aus diesem Grund sei der Manierismus nicht etwa von einem >NichtkönnenNichtwollen< bestimmt.44 Die Moderne beginne mit dem Manierismus, und man könne den Jugendstil und die Wiener Sezession besser verstehen, wenn man begreifen würde, daß hier nichts Objektives, sondern allein die Regel des Künstlers zu erfassen sei: »Heute ist dies soweit gediehen, daß der Künstler kategorisch verlangt, der Beschauer habe sich in seine Absicht zu fügen«. 45 Riegl, der weit ausstrahlende Begründer der kunsthistorischen > Wiener SchuleDie Entstehung des antiklassischen Stils um 1520< herauskam. Friedländer führte aus taktischen Gründen den Begriff des >Antiklassischen< ein, um den des negativ besetzten >Manierismus< zu vermeiden. In Rosso Florentinos >Kreuzabnahme< erkannte er den Schritt zum >Spiritualisch-SubjektivistischenManierismus< vor Augen, als er seine eingangs zitierte Antwort auf Curtius verfaßte. Auch Curtius war bewußt, daß Gombrichs Bemerkung mehr bedeutete als nur eine terminologische Nomenklatur. Er sah sich zu einer indirekten Antwort genötigt, die er dem Kapitel Uber den >Manierismus< voranstellte: Es steht hier nicht zur Erörterung, ob das Wort Manierismus als kunstgeschichtliche Epochenbezeichnung gut gewählt ist und wie weit es berechtigt ist. Wir dürfen es entlehnen, weil es geeignet ist, eine Lücke der literaturwissenschaftlichen Terminologie auszufüllen. Zu diesem Zweck müssen wir das Wort freilich aller kunstgeschichtlichen Gehalte entleeren und seine Bedeutung so erweitern, daß es nur noch den Generalnenner für alle literarischen Tendenzen bezeichnet, die der Klassik entgegengesetzt sind, mögen sie vorklassisch oder nachklassisch oder mit irgendeiner Klassik gleichzeitig sein. In diesem Sinne verstanden ist der Manierismus eine Konstante der europäischen Literatur. Er ist die Komplementär-Erscheinung zur Klassik aller Epochen. 60

Mit dieser Definition waren die historischen Konkretisierungsversuche seitens der Kunstgeschichte beiseite geschoben, und mit diesem Akt war er vom Schwermut seiner expressionistischen Problemstiftung befreit. Als überzeitliche Größe etablierte sich der Manierismus-Begriff von nun an auch in der Literaturwissenschaft. Curtius' Vorstoß bedeutete den ersten Schritt in einer Reihe von Versuchen, ihn zu ästhetisieren und dadurch aus den Rückspiegeln der Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts zu lösen. Der Preis war, daß er als stilgeschichtliche Epoche nicht mehr zu fokussieren und zugleich als lebensweltliches Gleichnis nicht mehr zu gebrauchen war. Curtius' Revision des Manierismus-Begriff hatte durchschlagenden Erfolg, und sie hat auf die Kunstgeschichte zurückgewirkt. Der Vorstoß traf einerseits den Nerv einer Nachkriegskultur, die sich auf pragmatische Weise vom Wahn der Ideologien zu lösen und in der reinen Kunstform zu vergessen suchte. Er verfehlte andererseits alle Hoffnungen, über eine Neubewertung der Moderne die ästhetische Rechnung mit dem Nationalsozialismus zu begleichen und im selben Zug den Manierismus als Pendant zur Moderne von allen Spuren der >Entartung< zu reinigen.

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Curtius, Europäische Literatur (Anm. 2), S. 277.

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Es war ironischerweise ein Schüler von Curtius, Gustav René Hocke, dem dieser Schritt auf unnachahmliche Weise gelang. Hocke versuchte, die Stärken der älteren kunstgeschichtlichen Konzeption mit denen der literaturwissenschaftlichen Neubestimmung des Manierismus zu verbinden; zwar sei es unumgänglich, den kunstgeschichtlichen Epochenbegriff beizubehalten, aber ebenso sinnvoll sei es, die epochenübergreifende Antiklassik unter diesem Terminus zu fassen, weil beide Bedeutungen, die Epoche und das Prinzip, historisch nachzuweisen seien.61 Mit dieser offenen Bestimmung vermochte Hocke den Riß, der durch das Epochenpaar Manierismus - Moderne von 1933 bis 1945 gegangen war, zu schließen. Seine >Welt als Labyrinth< ist eine mitreißende Dichtung, die immer wieder den einen Gedanken verfolgt: Die Moderne sei groß, weil sie erstmals wieder die Komplexität ihres historischen Pendants, des Manierismus, erreicht habe, der seinerseits als »Ahne« der europäisch-amerikanischen Kunst von 1810 bis 1950 rehabilitiert worden sei. In zahlreichen Gegenüberstellungen wie etwa der eines Freskos von Rosso Fiorentino und eines Gemäldes von Salvatore Dalí warb Hocke für den Manierismus im Gewand des Surrealismus.62 Wenn sich der Manierismus und die Moderne weiterhin als Zwillingspaar durch das zwanzigste Jahrhundert bewegten, dann war dies auch ein Ergebnis des überragenden Erfolges, den Hocke mit seiner erstmals 1957 publizierten >Welt als Labyrinth< erzielte. Er konnte darauf vertrauen, daß alles, was als >entartet< erachtet worden war, nun als Mittel einer Entnazifizierung der Augen genutzt werden konnte. Der Kampf um die Verteidigung der Moderne vollzog sich nochmals im Verein mit der Rehabilitierung des Manierismus. Suchte Hocke gegenüber Curtius' Konzept des >Manierimus als Prinzip< zu vermitteln, so formulierten kunsthistorische Versuche der Wiedererweckung des Interesses für den Manierismus einen um so schärferen Kontrast. Ähnlich der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verstärkten sie das Bewußtsein einer im Manierismus paradigmatisch ausgeloteten existentiellen Krise. Mit oder ohne Verweis auf Dvoïàk steigerte sich die Vorstellung, daß die Kunst des Manierismus auf die Erschütterungen aller Lebenssphären reagiert habe. Jean Paul Sartre hat in diesem Denkrahmen seinen großen kunsthistorischen Essay über Tintoretto als >Eingeschlosse-

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Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth, Reinbek bei Hamburg 1957, S. 9f. Ebd., S. 17f.

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nen von Venedig< verfaßt, 63 und Arnold Hausers Manierismus-Buch von 1957 sah im Begriff der Entfremdung, wie er von Hegel, Marx und Simmel entwickelt worden war, den Schlüssel zum Verständnis der Epoche nach Michelangelo. Indem Hauser sein Buch aber in Analysen von Baudelaire Uber den Surrealismus bis Kafka enden ließ, nahm er das zwieschichtige Votum Hockes auf, den Manierismus sowohl als historisches Ereignis wie auch als Prinzip zu begreifen. 64 Als Hocke an seinem Werk arbeitete, ereignete sich mit der Amsterdamer Europaratausstellung >Triumph des Manierismus< schließlich eine vierte, bis heute weiterwirkende Aktualisierung des Manierismus.65 Die Idee, nach Jahrhunderten der Kriege die europäischen Gemeinsamkeiten zu stärken, fand hier eine besonders nachhaltige Form. Der Erfolg der Ausstellung begründete den bis heute anhaltenden »Triumphmarsch dieses Stiles durch Europa«.66 Er motivierte die französische Kunstgeschichte, den Begriff für die Schule von Fontaineblau zu adaptieren.67 Über monumentale Publikationen wie Franzsepp Würtenbergers >Manierismus< zog sich diese Erfolgsgeschichte bis zu den jüngeren, Millionen von Besuchern anziehenden Ausstellungen, zu denen neben zahlreichen weiteren Ereignissen der Wiener >Zauber der MedusaEffetto Arcimboldo< und die Kunstkammer-Ausstellung in Prag gehörten.6* Immer wieder zeigte sich der Manierismus darin als Geburtsmoment der Moderne, daß er als gesamteuropäische Sprache auftrat.

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Jean Paul Sartre: Saint Marc et son double. Le Séquestre de Venise. Inédit. In: Michel Sicard: Sartre et les arts. Obliques, Nr. 24/25, Nyons 1981, S. 171-202. Vgl. Heiner Wittmann: Sartre und die Kunst. Die Portraitstudien von Tintoretto bis Flaubert, Tübingen 1996. Arnold Hauser: Der Manierismus. Die Krise des Manierismus und der Ursprung der modernen Kunst, München 1964. De Triomf Van Het Manierisme. De Europese Stijl Van Michelangelo Tot El Greco. Ausstellungskatalog, Amsterdam 1955. »[...] la marcia trionfale di questo stile attraverso l'Europa« (Esther Nyholm: Arte e teoria del Manierismo. 2 Bde., Odense 1977, Bd. I, S. 16). Sylvie Béguin: L'Ecole de Fontainebleau. Le Maniérisme à la cour de France, Paris 1960. Hofmann, Zauber (Anm. 6); Effetto Arcimboldo. Trasformazioni del volto nel sedicesimo e nel ventesimo secolo. Ausstellungskatalog, Venedig 1987; Eliska Fucikova u. a. (Hg.): Rudolf II. and Prague: The Imperiai Court and Residential City as the Cultural and Spiritual Heart of Central Europe, Prag - London Mailand 1997.

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Der kritisch gemünzte Begriff des >Manierismus< war eine Schöpfung der Kunstgeschichte des späten achtzehnten Jahrhunderts. Seine denunziatorischen Möglichkeiten wurden um 1900 extensiver als je zuvor genutzt, um kurz darauf jedoch in eine nicht minder extreme Feier der manieristischen Kunst umzuschlagen. Auf allen Stufen, und dieser Vorgang dauert bis heute an, war er Teil der Gegenwart, selbst wenn diese in seinem Spiegel vergessen werden sollte. Er war jedoch keine reine Konstruktion. Vielmehr zeigt sich seine historische Prägnanz gerade darin, daß er immer neue Projektionen aushielt, ohne durch diese Spiegelungen vollständig überblendet zu werden. Als unausschöpfliches Gegenüber des zwanzigsten Jahrhunderts hat er seine eigene historische Geltung geschärft.

Hermann Danuser

Inszenierte Künstlichkeit. Musik als manieristisches Dispositiv.* L u d w i g Finscher zum 70. Geburtstag

V o n einem B e g r i f f aus den Nachbardisziplinen Kunst- und Literaturwiss e n s c h a f t inspiriert, hat sich, w i e ein jüngst erschienener EnzyklopädieArtikel erweist, 1 die D i s k u s s i o n um die Manierismuskategorie in der M u s i k w i s s e n s c h a f t im Laufe der z w e i t e n Hälfte des 20. Jahrhunderts breit und kontrovers entfaltet. Es spannt sich dabei ein B o g e n v o n einer positiv bewerteten generellen Übertragung v o n Grundaspekten dieser Kategorie in die Musikhistorie 2 bis zum g e g e n t e i l i g e n N a c h w e i s einer »Fehlanzeig e « , w a s deren Tragfähigkeit als musikhistorischem

Epochenbegriff

angeht 3 - über ein w e i t e s Z w i s c h e n f e l d , in w e l c h e m A s p e k t e eines musikalischen Manierismus in Einzelstudien herausgearbeitet werden. 4 A n g e -

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Neben Anstößen aus dem Bielefelder Kolloquium sind in die Druckfassung dieses Textes Anregungen aus meinem Doktoranden-Kolloquium an der Humboldt-Universität eingeflossen, das sich im Sommersemester 1998 wahrend einiger Sitzungen der Thematik des Manierismus in der Musik widmete; allen Beteiligten sei herzlich gedankt. Ludwig Finscher: Artikel >ManierismusAbstract< auch einer breiteren Leserschaft zugänglichen Publikation von Valentina Sandu-Dediu: Ipostaze stilistice si simbolice ale manierismului in muzica, Bukarest 1997 (Colectia Muzica secolului, Bd. 20), das englische Abstract auf den Seiten 250-272. So Victor Ravizza: Manierismus - ein musikgeschichtlicher Epochenbegriff? In: Die Musikforschung 34, 1981, S. 273-284. Etwa Ludwig Finscher: Gesualdos > Atonal i tat < und das Problem des musikalischen Manierismus. In: Archiv fllr Musikwissenschaft 29, 1972, S. 1-16, sowie Carl Dahlhaus: Musikalischer Humanismus als Manierismus. In: Die Musikforschung 35, 1982, S. 122-129.

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Hermann Danuser

sichts einer so vielfältig möglichen Bezugnahme musikwissenschaftlicher Fragestellungen auf außerhalb der Musikforschung liegende Ausgangspunkte und überdies des zeitlichen Abstandes zwischen diesen Ansätzen und den einschlägig diskutierten Erscheinungen der Musikgeschichte im 16. Jahrhundert kann die diffuse Situation, in der sich die musikologische Forschung befindet, nicht erstaunen, und zwar um so weniger, als die Musik nicht nur in ihrer Rolle eines abhängigen, fremdbestimmten Juniorpartners in zusammengesetzten Kunstformen mit manieristisch gestalteter nicht-musikalischer Komponente zu untersuchen ist - Oper und Ballett mit manieristischer bildender Kunst in Dekor, Bühnenbild, Kostümen bzw. Vokalmusik mit manieristischer Dichtung als Textgrundlage - , sondern vielmehr ein musikspezifischer Begriff von Manierismus zu entwickeln oder zumindest die Manierismuskategorie musikspezifisch fruchtbar einzulösen ist. Klassisches Exempel eines solchen Zugangs bilden die Madrigale des Fünften und Sechsten Buches Gesualdo da Venosas. Auf der Textgrundlage eines literarischen Konzeptismus in Dichtungen zumal von Tasso und Marino lädt dieser »Graciän der Musik« (Menendez Pelayo5) die artifizielle Gattung in so starkem Maße mit raffiniertester Chromatik auf, daß deren kompositorischer Regelkanon in der steten Folge überraschender Klangverbindungen einer Ästhetik der meraviglia« und des >stupore< zu explodieren scheint. Diesen Befund eines Unerklärlichen deutet Ludwig Finscher, der für einen »historisch fundierten, eingegrenzten und soweit möglich präzisen Begriff von musikalischem Manierismus« plädiert, aus einem inversen Systemcharakter: Es geht nicht um außergewöhnliche Mittel und nicht um die Häufung gewöhnlicher, sondern um die >Verfremdung< und kunstreiche, paradoxe Umkehrung der traditionellen Regelsysteme, Grammatik und Rhetorik. Erst von diesen Denkformen her ergeben sich sinnvolle Fragen nach einem Manierismus in der Musik und Möglichkeiten, Entsprechungen auf kompositionstechnischer Ebene zu finden, in den Regelsystemen der musikalischen Rhetorik, der Kontrapunktlehre und der Tonartenlehre. 6

So fruchtbar ein derartiger Ansatz ftlr eine historische Hermeneutik der Musik in Parallele zum Manierismus der bildenden Kunst und Literatur

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Marcelino Menéndez Pelayo: Historia de las ideas estéticas en Espafia. S Bde. [1883-1891], Santander 1940, Bd. 2, S. 496. Zit. nach Finscher, Gesualdos >Atonalität< (Anm. 4), S. 14. Finscher, Artikel >Manierismus< (Anm. 1), Sp. 1631.

Inszenierte Künstlichkeit. Musik als manieristisches Dispositiv

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des 16. und 17. Jahrhunderts ist, so steht er doch einem Versuch entgegen, das Potential der Manierismuskategorie in systematischer Absicht fìlr die Musikwissenschaft fruchtbar zu machen. Die axiologische Ambivalenz des Manierismusbegriffs - einer überwiegend pejorativen Bedeutung vom 17. bis 19. Jahrhundert, da klassizistische Normen als Fixpunkte leitend waren, steht umgekehrt im 20. Jahrhundert, da die Kunstideale der Moderne bzw. Avantgarde den Klassizismus negiert oder zu einem Reflexionsfeld verwandelt haben, eine positive Bedeutung gegenüber 7 - gründet offensichtlich in einem grundsätzlichen Wandel der Bewertung dessen, was eine >manieraHandschrift(, sei oder sein solle. Daß das ingenium eines Künstlers sich in einer eigenen maniera zu manifestieren habe, weil es sich nicht mit einer Kunstproduktion im Rahmen einer tradierten Regelpoetik begnügen könne, steht seit Vasaris Glorifizierung der Kunst Michelangelos fìlr die bildende Kunst, seit Luthers Satz über Josquin für die Musik im Ansatz fest. 8 Seit sich freilich die Kriterien von Klassizität unter pragmatisch-rezeptionsgeschichtlicher Perspektive gegenüber den einstigen Normen vervielfacht haben - so daß selbst die Rede von »Klassikern der Avantgarde« kaum mehr als Oxymoron empfunden wird - und auch manieristisch-abweichende Positionen weitgespannte rezeptionsgeschichtliche Folgen zeitigen, läßt sich zwischen einem Klassizismus und einem Manierismus individueller künstlerischer Handschriften nicht mehr einfach unterscheiden. Ich möchte meinen Beitrag daher statt mit theoretischen Überlegungen mit einem Bild einleiten. In seiner Kulturgeschichte der Neuzeit< ftlhrt Egon Friedell - im Sinne einer Metapher für menschliche Existenz - aus, daß Achill zum berühmten Helden geworden sei nicht trotz seiner Ferse, die einzig ihn verwundbar machte, sondern gerade wegen dieses Mangels.9

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Vgl. Gottfried Boehm: Artikel >ManierismusCanon/KanonCanon/Kanon< (Anm. 17), S. 14. Johannes Tinctoris: Terminorum musicae diffinitorium. Faksimile der Inkunabel Treviso 1495 [geschrieben 1472/73], Hg. von Peter GUlke, Kassel u. a. 1983 (Documenta musicologica. Erste Reihe: Druckschriften-Faksimiles, Bd. 37), f. A 3 ' .

Inszenierte

Künstlichkeit.

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schließlich auch Heinrich Finck in seiner >Practica musica< 1556, »Canon est imaginaria praeceptio, ex positis non positam cantilenae partem eliciens: Vel, est regula argutè revelans secreta cantus. Utimur autem Canonibus, aut subtilitatis, brevitatis, aut tentationis gratia, eorumque infinitus est numerus, pro arbitrio cuiusque artificis, quia quotidie novi excogitantur [,..]20 Bei den Rätselkanons des 15. Jahrhunderts wird das mathematische Kalkül der rhythmischen Verkomplizierungen graphisch-visuell im musikalischen Notenbild greifbar. Enthüllung und Verhüllung ästhetischen Sinns fallen in eins zusammen, das Lesen der musikalischen Notenschrift wird zu einer A u f g a b e , die bald leichter - beispielweise » A est O« für die krebsgängige Lesung einer Melodie - , bald schwieriger ist und zuweilen eine Graciánsche >agudeza< erfordert. D i e v o n Willi Apel aufgeführten Beispiele solcher Canon-Anweisungen 2 1 und der v o n ihm mit einigem Recht »manierierte Notation« genannte Schrifttypus 2 2 zeigen eine gewollte Dunkelheit der Referenzen, w e l c h e die Komplexität der Klangstruktur anders als durch langwierig suchendes Enthüllen einer kryptischen A n w e i s u n g nicht freisetzt und aufführbar macht. Hier werden grundsätzliche Aspekte einer Kunst dunkler Verschleierung ästhetischen Sinns sichtbar. 23 D i e Art und W e i s e aber, w i e bei solcher Augenmusik 2 4 die Schrift konstruktiv ins Bild gesetzt wird und in ihrer optischen Erscheinungsform v o n einem Mittel

20

21

22 23

24

Heinrich Finck: Practica musica, Wittenberg 1556, f. Bb iv\ Reprint 1970. Zit. nach Sachs, Artikel >Canon/Kanon< (Anm. 17), S. 15. Bei Finck, der Sachs zufolge »eine Fülle von Canon-Anweisungen in Form biblischer Zitate, lateinischer Lebensregeln, Sinnspruche oder Dicta« (ebd., S. 15) kommentiert, wird eine Verbindung zwischen den Canon-Anweisungen der Musik und allgemeinen Lebensregeln greifbar, welche für einen pragmatischen, die soziale Sphäre mit berücksichtigenden Begriff von Manierismus zentral erscheint. Willi Apel: Die Notation der polyphonen Musik. 900-1600, Leipzig 1962, S. 195-204. Ebd., S. 452-489. Vgl. Wolfram Hogrebe: Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen (Système orphique de léna), Frankfurt a. M. 1992 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1039). Im 18. Jahrhundert, als solche Kanonkunst zwar in Johann Sebastian Bachs Musikalischem Opfer< noch einen späten Höhepunkt erreicht, aber vor den Idealen der Aufklärung keinen Bestand mehr hat, polemisiert Johann David Heinichen, die Cánones führten »ganz sicher auf den höchsten Gipfel der Augen-Music und todten Noten-Künsteley; nicht aber auf den halben Gipfel der wahren Music welche den finem Musices zum Endzweck führet.« In: Johann Mattheson: Critica Musica, Hamburg 1723, S. 358. Zit. nach Sachs, Artikel >Canon/Kanon< (Anm. 17), S. 20f.

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des musikalischen Prozesses zu einem Zweck wird, verwandelt die herkömmlichen Beziehungen zwischen Schrifttext und Klangform des musikalischen Werkes in Richtung auf eine »inszenierte Künstlichkeit«. Im Unterschied zu solchen Canon-Anweisungen aus dem 15. Jahrhundert, welche strukturelle Komplexität aus einer Entzifferung rätselhafter Formeln erzeugen, bietet sich die Schwierigkeit der Partiturlektüre in der »New Complexity« genannten Richtung der Avantgarde des ausgehenden 20. Jahrhunderts dem Auge unmittelbar an." Repräsentativ hierfür sind die Werke des aus England stammenden, in den USA lehrenden Komponisten Bryan Ferneyhough, deren - in der Schriftlichkeit fixierter, seit einiger Zeit unter Zuhilfenahme des Computers elaborierter - struktureller Überschuß eine kontrolliert-entfesselte Ratio zeigt. Ein Beispiel dafür gibt Abb. 2. In der Moderne und Avantgarde des 20. Jahrhunderts gelangte, nach dem Vorbild der Kunstgeschichtsschreibung, der Manierismusbegriff wie erwähnt auch in der Musik zu positiver Wertschätzung. In einem Interview mit Antonio De Lisa expliziert Ferneyhough ihn in bezug auf seine Poetik: There have frequently been misunderstandings concerning the term >Mannerism< (with or without capital letter), some seeing it as a general category, applicable to much art of many age, others maintaining its historically and geographically precise position at a certain moment in the development of Western art. For me at least, the term might be defined as artistic expression in which the conscious organization of the means employed is more important than the materials to which they are applied [Kursivierung original]. It is this foregrounding of technique as a vehicle of the self-reflexivity of style which attracts me most immediately, since it has been my experience that much contemporary music has neglected the field of >semanticized syntaxis< in favor of sonic materials more obviously innovatory, but lacking in long-range staying power (whence the much-discussed »exhaustion of material· syndrome of some 25 years ago). It is, moreover, necessary to reject the vaguely pejorative usage of the word: in some peoples' understanding, it connotes decadence, the failure and collapse of some Apollonian classical vision. 26

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26

Den Hinweis auf die Relevanz Ferneyhoughs für die Manierismus-Diskussion verdankt der Verfasser Frau cand. phil. Simone Hohmaier und Herrn cand. phil. Pietro Cavallotti, Berlin. Brian Ferneyhough: Interview with Antonio De Lisa [1991]. In: Ders.: Collected Writings, Amsterdam [1995] 2 1998, S. 422-430, das Zitat S. 428-429. Bei anderer Gelegenheit, in seiner >Lecture< am 21. Juli 1990 im Rahmen der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt, äußerte sich Ferneyhough

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Künstlichkeit.

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Bereits 1986 - in einem Gespräch mit Richard Toop über den Zyklus >Carceri d'invenzione< - hatte Ferneyhough den Manierismusbegriff aufgerufen, um über Piranesi 27 die Selbstreferentialität seiner Musik zu beleuchten: What more specifically interested me unconsciously, when I first got to know the pictures fifteen or twenty years ago, was the manneristic association of highly conscious style-structuring of wildly expressive elements; the fact of creating elements which in themselves want to spring off at a tangent, and the pulling them back into the center again, in such a way that the center is more emphasized. That was the first thing; I think that mannerism in that sense has always interested me tremendously [...].21 D i e s e Äußerungen eines bedeutenden Komponisten der Gegenwart bezeugen, w i e sehr die Manierismuskategorie für die Poetik der N e u e n Musik auch nach dem voreilig verkündeten Ende der Avantgarde weiterhin bedeutsam ist. Gelesen im Sinne unserer Fragestellung zeigen sie an, daß ein Künstler w i e Ferneyhough sie herbeizog, um selbstreferentielles Komponieren aus einer f o r m a l i s t i s c h e m Sackgasse zu befreien und es wieder auf expressive Schichten der Musik zu beziehen, ohne in eine falsche Unmittelbarkeit zu regredieren. D i e s e positive Akzentuierung der Manierismuskategorie erscheint um so bedeutsamer, als einerseits M a n i e n nicht, w i e es bei den modernekritischen Argumenten des Literaturwissenschaftlers Emil Staiger im >Zürcher Literaturstreit< in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre der Fall war, 29 auf eine verzerrende Überbie-

27

28

29

wie folgt: »[...] von meinem Standpunkt aus ist manieristischer Musik verschiedener Epochen der Wunsch gemeinsam, den Intellekt zu emotionalisieren. Das verlangt intellektuelle Strategien in verschiedenen Abstufungen von Inkommensurabilität, so daß sie in eine spannungsgeladene Beziehung zueinander geraten, was emotionale oder expressive Konstellationen hervorbringt. In diesem Sinne verstehe ich mich selbst als Manieristen.« Brian Ferneyhough: Konservativ - Stand des Materials - Manierist. In: MusikTexte 36, 1990, S. 68. Vgl. hierzu Norbert Miller: Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi, München 1978, S. 193-221. Bryan Ferneyhough: Carceri d'invenzione: In conversation with Richard Topp [1986], In: Ders., Collected Writings (Anm. 26), S. 290-302, hier S. 290. Emil Staiger: Literatur und Öffentlichkeit. In: Sprache im technischen Zeitalter 6, 1967, S. 90-97 (erstmals im Druck erschien diese Rede bereits in der Ausgabe der >Neuen Zürcher Zeitung< vom 20.12.1996). Vgl. Max Frischs Intervention >Endlich darf man es wieder sagen. Eine Antwort auf Emil Staigen. In: Max Frisch, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Hg. von Hans Mayer, Frankfurt a. M. 1976, hier Bd. 5: Prosaschriften. 1964-1967, S. 455-^64.

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tung eines Stils mit Epitheta wie künstlich, krank, schwülstig, dunkel begrenzt werden darf, andererseits aber >Manierismus< in der >Neuen Unübersichtlichkeit einer als Postmoderne verstandenen Gegenwart, 30 die keinen verallgemeinerungsfähigen Stil mehr kennt, nicht zur Universalkategorie der Avantgarde im Sinne eines bloßen Nebeneinanders unterschiedlicher, wertmäßig neutraler Positionen taugt.

2. Liedinszenierung Gilt die Musik in Hegels >Ästhetik< allgemein als Kunst einer tönenden Innerlichkeit, so scheint bei der Gattung des Liedes, deren Kern im Lyrischen als einem Innerlichen liegt, die Kategorie der Inszenierung von vornherein ausgeblendet. Andererseits gehört der Vortrag von Liedern, nach Umfang und Bedeutung kaum zu überschätzen, in Werken des Sprech- wie des Musiktheaters seit alters zu den Aufgaben darstellender Gesangskunst. Und die Theorie des Liedvortrags, zumal der Balladeninterpretation, wie sie Edward T. Cone in seinem Buch >The Composer's Voice< am Beispiel von Schuberts >Erlkönig< entwickelt, 31 zeigt, daß die Fiktion der (klar gegeneinander abgegrenzten) Rollen Erzähler, Vater, Sohn, Erlkönig eine Imagination >szenischer< Elemente mit einschließt. Trotzdem stellt die Grenzüberschreitung der lyrischen Gattung des Liedes in Richtung >InszenierungErlkönigs< oder von Mignon-Liedern aus dem Roman >Wilhelm Meisters LehrjahreÜbermalungoriginär< erfundenen musikalischen Sprache auf und ersetzt sie durch die relatio obliqua einer Bezugnahme

30

31

Vgl. Jürgen Habermas' Zeitdiagnose in dem so benannten Sammelband >Die Neue Unübersichtlichkeit«, Frankfurt a. M. 1985 (Kleine politische Schriften, Bd. V). Edward T. Cone: The Composer's Voice, Berkeley 1974, S. 1-19.

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auf vorliegende Sprachformen, Abschnitte, Sätze oder gar Werke. Unterschiedliche Arten von Liedinszenierung offenbaren so zwei zeitgenössische Werke aus den 1980er Jahren in ihrem Bezug auf Liedkunst des 19. Jahrhunderts, indem im einen Fall eine Szenerie im Sinne einer referentiellen >Musik über MusikGretchen am Spinnrad< rekomponiert. Das Stück entstammt der Oper >Faust - un travestimene (>Faust - eine VerkleidungFaust< »umgekleidet«, d. h. weniger übersetzt als um- und neugedichtet hatte. Für das Lied, das Goethes Gretchen (so die Regieanweisung der Tragödie) »am Spinnrade allein« spricht, hat Sanguineti Versmaß und Reimschema der zehn Strophen so geändert, daß die beiden mittleren Verse im Reim gebunden sind und jede Strophe endbetont schließt, z. B. in der ersten Strophe: Goethe: Meine Ruh' ist hin, Mein Herz ist schwer; Ich finde sie nimmer Und nimmermehr.

32

Sanguineti: La pace l'ho perduta, il cuore sta gonfiato, la quiete mi ha lasciato, non me la trovo più.

Der mittlere Satz von Luciano Berios fünfsätziger >Sinfonia< beispielsweise besitzt im >FischpredigtÜbermalungen< bei Werken der klassizistischen Moderne aus dem 19. und 20. Jahrhundert; vgl. Verf.: Der Komponist als Editor. Zur Geschichte und Theorie musikalischer Übermalung in den >ana10 Jahre Paul Sacher StiftungOggetto amato im Teatro lirico< Mailand bei Verf: Die Musik des 20. Jahrhunderts, Laaber 1984 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 7), S. 365. Vgl. den Ausstellungskatalog >Das Capriccio als Kunstprinzip. Zur Vorgeschichte der Moderne von Arcimboldo und Callot bis Tiepolo und Goya. Malerei Zeichnung - GraphikWohltemperierten KlaviersFantasia I< für Klavier aus der 5. Sammlung von >Clavier-Sonaten und freyen Fantasien nebst einigen Rondos [...] für Kenner und Liebhaben von Carl Philipp Emanuel Bach vorliegt. 40 Sie erlaubt uns einen Einblick in eine improvisatorische Form des Musizierens zu einem Zeitpunkt der Musikgeschichte, als eine medial unverfälschte, notationslose Überlieferung in Form einer Tonaufzeichnung noch nicht möglich war. Die Struktur dieser Phantasie stimmt in allen Punkten mit der Definition überein, die Bach im letzten Kapitel des zweiten Teils seines V e r suchs über die wahre Art das Ciavier zu spielen< von 1762 von der »freyen Fantasie« gibt:41 Eine Fantasie nennet man frey, wenn sie keine abgemessene Tacteintheilung enthalt, und in mehrere Tonarten ausweichet, als bey andern Stücken zu geschehen pfleget, welche nach einer Tacteintheilung gesetzet sind, oder aus dem Stegreif erfunden werden. 42

40

41

42

Vgl. Martin Brauß: Manierismus. Ästhetische und didaktische Aspekte einer Kompositionstechnik am Beispiel des Instrumental-Rezitativs bei C. Ph. E. Bach. In: Musik und Bildung 17, 1985, S. 416-422; sowie Carl Dahlhaus: Quantz und der >vermanierierte Mannheimer goûtFantasia I< manifestiert sich das Überraschungsprinzip in harmonischer Hinsicht am stärksten kurz vor dem Ende des ohne Takteinteilung notierten Anfangsteils. Während bis dahin die Akkordfolgen des modulierenden Satzes, bezogen auf die Ausgangs- (und Ziel-)Tonika F-Dur, auch ohne tonikabekräftigende Kadenzierungen in sich schlüssig gestaltet waren (F-Dur, dann g-Moll, dann dominantisch zu c-Moll, an dessen Stelle aber a-Moll erscheint), verliert der Hörer bei der enigmatischen Partie jeglichen Halt, weil die Akkorde in ihrer unmittelbaren Folge auf-

43 44 45

Ebd., § 3, S. 326. Ebd., Anhang § 12, S. 15-16. Vgl. Verf.: Das imprévu in der Symphonik. Aspekte einer musikalischen Formkategorie in der Zeit von Carl Philipp Emanuel Bach bis Hector Berlioz. In: Musiktheorie 1, 1986, S. 61-81.

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einander zum Teil inkohärent wirken. Bei enharmonischer Lesart des ambiguitätsstiftenden verminderten Septakkordes 46 bzw. verminderten Dreiklangs wirft die Verbindung der ersten drei Akkorde keine Probleme auf, denn der dritte ist mit dem ersten (ges gelesen als fis) identisch. Der vierte Akkord knüpft mit der enharmonischen Identität dreier Töne (wenn für his im dritten Akkord ein c ergänzt wird) zwar daran an, doch stärker wirkt die Setzung eines neuen Fixpunktes, indem ein Dominantquintsextakkord nach cis mit einem brüsk eingeführten Grundton gis das Kräftefeld neu bündelt, fortissimo auch dynamisch vom Kontext abgehoben. Dieser dominantische Akkord löst sich regulär in eine nachfolgende Dominante (Terzquartakkord nach fis mit Grundton cis) auf, deren Auflösung wiederum fortissimo und in Quartsextstellung - nach einer Fermate j a auch erfolgt. Dazwischen aber liegt ein weiterer Klang, im funktionalen Zusammenhang der Akkordfolgen ganz und gar rätselhaft und sowohl durch die Reduktion der Lautstärke ins pianissimo wie die Augmentation der rhythmischen Werte aus dem Kontext herausgehoben. Auf diesen Akkord, klanglich einen Dominantseptakkord nach d mit Grundton a, paßt am ehesten Bachs (oben zitierte) Empfehlung, zuweilen auch »auf eine ganz entlegene Art« zu modulieren. Versuchte man, noch in diesem Rätsel eine Konstruktion von Sinn zu entdecken, das Irreduktible gewaltsam ins System zurückzuholen, beraubte man Bach seines Besten. Die auf diesen Akkord folgende Fermate wirkt, als habe sich das ästhetische Subjekt der Richtung, die es einschlagen soll, aufs neue erst einmal zu vergewissern. Bald danach gelangt die Musik in die Subdominantregion C-Dur der Ausgangstonika, wo sie unter Einführung der Taktstrichsetzung im 4/4Takt zu einer bislang unbekannten Stabilität vordringt. Das Launisch-Sprunghafte der Erfindung, das auf den ersten Blick einer durchgehenden Konsistenz musikalischer Gestaltung zu widersprechen scheint, enthüllt sich in seinem Kunstcharakter bei näherer Betrachtung als eine Form von Manierismus. Sofern eine gleichmäßig verströmende Zeitlichkeit durch eine diskontinuierliche Verlaufskurve ersetzt wird, verweisen die >Eingriffe< des gestaltenden Subjekts, die in jeder Wendung ein Willkürliches an den Entscheidungsvorgängen freisetzen, auf eine artistische musikalische Denkform. Inszeniert wird die >Natur< des ex

46

Bach selbst hat in § 11 des 41. Kapitels seines >Versuchs< auf diese Eigenschaft des verminderten Septimenakkordes hingewiesen: Ebd., S. 335-336.

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i m p r o v i s o gestaltenden Genius. D i e >natura naturans< des schaffenden, die Kunst im M o m e n t des Spielens klanglich hervorbringenden G e n i e s entpuppt sich als bewußt zur Schau gestellt. In einer bekannten z e i t g e n ö s s i s c h e n Schilderung präsentiert Philipp Emanuel B a c h die Einsamkeit seines expressiven >Sturm und Drang

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Hermann Hipp Manierismus als Stilbegriff in der Architekturgeschichte

Wie erkenne ich Manierismus? In kaum einer Epoche der Architekturgeschichte begegnet uns europaweit eine so komplexe Ausdifferenzierung des Bauens nach Typologie und Formenvielfalt wie im Verlauf des 16. Jahrhunderts. Der klassischen Ausprägung der italienischen Renaissance steht um 1500 im übrigen Europa die Gotik gegenüber. Parallel zu ihrer Weiterentwicklung im Cinquecento entfaltet sich außerhalb Italiens ein sich schnell veränderndes, regional auseinanderdriftendes Spektrum höchst unterschiedlicher und im einzelnen geradezu krauser Spielarten der Rezeption von Renaissance-Säulen, der Erfindung neuartiger Ornamente und deren Vermischung mit mittelalterlich-gotischen Traditionsbeständen. Die touristischen Stereotype vom romantischen Reiz des Heidelberger Schlosses oder der Weserrenaissance beruhen darauf. In Italien selbst fallen im 16. Jahrhundert singuläre Sonderleistungen auf, die Unvergleichliches, ja Befremdliches zeigen. Gegenüber der in sich ruhenden Vollendung kanonischer Säulenordnungen und geometrischer Idealität etwa des römischen Tempietto (Bramante 1502) ist an dem von Raffaels Schüler Giulio Romano in Mantua 1525-35 errichteten Palazzo del Tè das Prinzip der »gestörten Form« beobachtet worden, sinnfällig plausibel auf Grund der unregelmäßigen, mit verrutschten Schlußsteinen und Triglyphen irritierenden Pilaster- und Säulenordnungen sowie der aus Stuck fingierten Rustika, die in sie eingreift. 1 In der von Michelangelo entworfenen Vorhalle, dem Ricetto, dem Vorraum der Biblioteca Laurenziana in Florenz (ab 1524, erst 1571 eröffnet und erst um 1900 vollendet), stehen mächtige Säulen nicht frei oder doch wenigstens als Halbsäulen vor der Wand, sondern scheinbar widersinnig in daraus ausgesparten Nischen. Der enge, hohe Raum »scheint nur aus

Ernst H. Gombrich: Zum Werke Giulio Romanos. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, N. F. 8, 1934, S. 79-104, sowie N. F. 9, 1935, S. 121-150.

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Spannungen und Regelwidrigkeiten zu bestehen: Mit eingezwängten Säulen, blinden Fenstern, umgekehrten, gleichsam hängenden Pilastern, nichttragenden Voluten hat Michelangelo die gewohnten Funktionen der Architekturelemente umgekehrt« (Winfried Nerdinger).2 Solche Singularitäten - denn weder die Laurenziana insgesamt noch auch nur das Motiv der eingestellten Säulen haben sich je wiederholt - , zugleich aber das scheinbar jeder Regel sich entziehende pluralistische Gesamtbild der europäischen Architektur des 16. Jahrhunderts, sind in der Kunstgeschichte bis in die neuesten Überblicksdarstellungen3 und Stilfibeln hinein4 zum Inbegriff dessen geworden, was als Manierismus in der Architektur bezeichnet wird. Seine Bauten suchen demnach »das Komplizierte, Ausgefallene, die zur Schau gestellte Virtuosität und die einfallsreiche Kombination gegensätzlicher Materialien«, demonstrieren die »Neigung des Manierismus zum Ungewöhnlichen, Gegensätzlichen, Einfallsreichen, Überraschenden«. »Typisch manieristisch ist die drangvolle, gegensätzliche Dynamik, Koppelung und Unterjochung bei gegenläufiger Bewegung. Raum und Form stehen in wirkungsvollem Gegensatz«, eine »unklassische, stark plastische Fassadenbehandlung« verbindet sich mit »seinem unersättlichen und zugleich immer wieder gehemmten Drang nach Übersteigerung, schmuckhaften Details« sowie vor allem mit einer Raumauffassung, die bestimmt ist durch eine »Neigung zur Suggestion endloser Bewegungsabläufe und zentrifugaler Komposition«, zu »endlosem Tiefenzug«.3 Nicht aus formgeschichtlichen Reihen abstrahierte Globaleigenschaften wie sonst in der Stilgeschichte, sondern eben

2

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5

Winfried Nerdinger: Vom Manierismus zum Rokoko: Eine Kunstgeschichte in Einzelinterpretationen, München 1983, S. 9-11. Manfred Wundram: >MannerismArchitektur^ Das Verhältnis der differenzierten Einzelanalysen und komplexen Ableitungen in diesem Abschnitt zur begrifflichen, bewußt auf Paradoxien ausgehenden Bestimmung des Manierismus als »manieristische Renaissance« von Daniel Arasse, S. 7-13, wäre zu diskutieren. Erstere würden wohl im Sinne des unten zu verfolgenden Ganges der Diskussion auch ohne den Stilbegriff auskommen, den dann doch der Gesamttitel des Buches plakativ durchsetzt. GertBetz: Wie erkenne ich manieristische Kunst? Stuttgart-Zurich 1982, S. 6-25 (>ArchitekturMannerismRicetto< in Michelangelos Biblioteca Laurenziana, Florenz (beg. 1524). Nach: Cornelius Gurlitt, Geschichte des Barockstiles 1,1887, Fig. 79.

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Abb. 2: Die Uffizien in Florenz, Giorgio Vasari ab 1560. Nach: Cornelius Gurlitt, Geschichte des Barockstiles I, 1887, Fig. 3.

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Abb. 3: Das äußere Tor des Schlosses in Tübingen, Heinrich Schickhardt und Hans Braun, 1606-1607. Nach: Robert Dohme, Geschichte der deutschen Baukunst, 1887, Fig. 245.

Ursula Link-Heer >Raffael ohne Hände< oder das Kunstwerk zwischen Schöpfung und Fabrikation. K o n z e p t e der >maniera< bei Vasari und seinen Zeitgenossen

Am Ende einiger Überlegungen zu >maniera< / >manière< / >Manier< bei Vasari, Diderot und Goethe habe ich vor einiger Zeit mit Lessings Figur des Malers Conti aus der >Emilia Galottk zu einem Schluß zu kommen versucht, 1 mit dem ich hier beginnen möchte, um eine generative Fragestellung zu den Konzepten der >maniera< bei Vasari und seinen Zeitgenossen zu entwickeln. Eine solche generative Fragestellung, die Frage, wie Kunst erzeugt wird, versteht sich nicht von selbst für Vasari und das 16. Jahrhundert. Nach Erwin Panofskys grundlegendem >IdeaIdea< als das >disegno.interno< (Zuccaro) des künstlerischen Genies zu legitimieren. Die generative Komponente der >maniera< als eines >procederemodo di fare< und einer >pratica< (Vasari), oder, wie die Russischen Formalisten später sagen würden, eines Verfahrens (>priëmManierastilus< (der Griffel, Stil) nicht ein antiker Begriff,

1

2

Vgl. Ursula Link-Heer: Maniera. Überlegungen zur Konkurrenz von Manier und Stil (Vasari, Diderot, Goethe). In: Stil. Geschichte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1986, S. 93-114. Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. In: Ders.: Holzwege, Frankfurt a. M. 1977 (Gesamtausgabe, Bd. 5).

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sondern eine Bildung der romanischen Volkssprachen ist, stammt ja ursprünglich auch von >manusmaniera< und >modo di faremaniera< zwischen >Idee< und >Händen< ist ein vertracktes, in dem Metaphysisches mit erlernbaren, vom Meister abgesehenen Regeln ständig verquickt erscheint. Dazu möchte ich nun einige Mosaiksteinchen zusammentragen und beginne - achronologisch mitLessings >Emilia Galotti< (EA 1772). In der vierten Szene des ersten Aktes übergibt der Maler Conti dem Grafen von Guastalla seine beiden Porträts der Gräfin Orsini und des Bürgermädchens Emilia Galotti. Auf das Lob des Auftraggebers antwortet der Maler mit seiner eigenen Unzufriedenheit über die Ausführung: Ha! daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren! - Aber wie ich sage, daß ich es weiß, was hier verloren gegangen, und wie es verloren gegangen, und warum es verloren gehen müssen: daraufhin ich eben so stolz und stolzer, als ich auf alles das bin, was ich nicht verloren gehen lassen. Denn aus jenem erkenne ich, mehr als aus diesem, daß ich wirklich ein großer Maler bin; daß es aber meine Hand nur nicht immer ist. - Oder meinen Sie, Prinz, daß Raphael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicher Weise ohne Hände wäre geboren worden?3

Wolfgang von Löhneysen hat in seinem philosophischen >RaffaelIdee< allein ist ein würdiger Gegenstand der Philosophie. So entsteht eine doppelte Kunstwelt und die Auffassung, daß das >Geistige< mehr sei als das Werk, das dem Mechanischen, dem Stofflichen, zugehört, obgleich die Idee nur durch Materie zur Erscheinung kommt. Lessing ironisiert diesen Standpunkt, weil er - ein Aristoteliker und ein Dichter - von der Erfahrung ausgeht.4

Aber auch Künstler wie Vasari und Cellini gehen von der Erfahrung aus, und Vasari hat sogar in seiner Autobiographie, in der er die Genese seiner Künstlerviten beschreibt, eine Auftragssituation durch den Humanisten

3

4

Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Bd. 2. Hg. von Herbert G. Göpfert, München 1971, S. 133f. Wolfgang von Löhneysen: Raffael unter den Philosophen - Philosophen über Raffael, Berlin 1992, S. 11.

>Raffael ohne Hände
maniere< zur conditio sine qua non des kunstkritischen und kunsthistorischen Werks erklärt wird, denn der Humanist sieht den Künstler als den kompetenteren Autor an: Giorgio mio, voglio che prendiate voi la fatica di distendere il tutto in quel modo che ottimamente veggio saprete fare; perciocché a me non mi da il cuore, non conoscendo le maniere, nè sapendo molti particolari che potrete sapere voi: sanza che, quando pure io l'facessi, farei il più un trattatetto simile a quello di Plinio. 5 Mein Giorgio, ich möchte, daß Ihr die Mühe auf Euch nehmt, das Ganze in jener Weise darzulegen, von der ich sehe, daß Ihr es bestens könnt. Denn ich selbst habe nicht den Mut dazu, weil ich die maniere und viele Einzelheiten nicht kenne, die Ihr sehr gut kennt. Und sogar dann, wenn ich diese Arbeit zu tun vermöchte, machte ich allenfalls eine kleine Abhandlung nach der Art des Plinius.

Es geht hier also nicht um das Geistige, wofür der Humanist sehr viel eher zuständig wäre als der >pittore aretinoVite< signiert. Die >maniere< und die >particolari< sind hier vielmehr als Erfahrungswissen des Künstlers, welches mit der Hand zu tun hat und nicht einfach den antiken Modellen der >litterae< entnehmbar ist, aufgewertet. Ähnliche Strategien verfolgt auch Benvenuto Cellini in seiner >VitaMalerbuchIdeaRaffael ohne Hände
manierarinascita< der Künste entwirft, die er bekanntlich in drei Zeitalter oder >età< teilt, welche grosso modo dem Trecento, Quattrocento und Cinquecento entsprechen. Das Spektrum der Begriffsentfaltung reicht von der Bezeichnung historischer Formationen (>maniera egiziamaniera etruscabuona maniera anticavecchia maniera grecaarte moderna< mit Giotto wird von Vasari als die >maniera vecchia di Giotto< von der mit Masaccio beginnenden >maniera moderna< unterschieden. Mit Leonardo wiederum setzt die dritte Phase der >maniera moderna< ein. Daneben kennt Vasari auch regionale Malerschulen und Stile: >maniera tedescamaniera fiamminga^ >maniera italianamaniera di Lombardiapratica di RomaNatur< verstanden wurden, theoretisch nicht denkbar machen konnte, das wird nun bei Vasari zum eigentlichen Ereignis seiner > Vitemanieremanieramaniera< von Donatello, andererseits entwickelt er seine eigene >gran manieramanieremaniere< für Vasari mit einer etwas späteren Begrifflichkeit gesagt sehr viel weniger ein >Originalgenie< als Michelangelo. Außer der >gran maniera< finden sich bei Vasari eine Fülle weiterer (positiver wie negativer) Qualifikativa. So gibt es die >maniera bella< oder >bellissimabuonaleggiadra< (anmutig), >maravigliosa< usw. Und es gibt unschöne Arten: >manieranon buonacattivabrutissimaduramorbida e pastosaVite< nicht überwiegend theoretisch diskutiert werden, tauchen sie auf und scheinen der Grund für manche Widersprüche bei Vasari zu sein. So wird die >maniera< einerseits als ein

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Begriff in Opposition zur Nachahmung der Natur benutzt, was dann bei der späteren Abwertung der >maniera< in den klassizistischen Kunsttheorien zu einem Standardvorwurf wurde. Vasaris Beispiel ist hier jedoch einmal die Skulptur eines Lockenhauptes, die notwendigerweise >più di maniera che d'imitazione naturale< sein müsse. Insgesamt tadelt er jene, die nur die >maniere< anderer Künstler studieren und sich von der Natur abwenden. Die nötige Perfektion erreiche man nur durch Nachahmung sowohl der Natur als auch der besten Künstler. Perugino gibt allen seinen Figuren die gleiche Miene und reduziert alles zu seiner Manier; Giorgione hingegen gibt acht, die Natur zu imitieren und nicht der ausschließlichen Imitation der Manier zu verfallen. Wie Mario Treves,® dem ich bei dieser Systematisierung zum Teil gefolgt bin, zu Recht bemerkt, ist also schon in Vasaris Ablehnung des bloßen >tirar di maniera, tirar di pratica< ein Ursprung der späteren Valorisationen des >manierato< als des Künstlichen, Unnatürlichen und Stilisierten angelegt. Die Dignität der Künste wie der Künstler konnte also theoretisch nicht auf den >manieraHand< und der >techne< bei aller Nobilitierung zum Individualstil zu eng verbunden blieb, um aus den Niederungen der >artes mechanicae< hinauszufuhren. Es war nach späterer Auffassung die neuplatonische Ideenlehre, die zwischen dem allgemeinen Naturvorbild und dem individuellen, im Sinn oder Geist des Künstlers vorhandenen inneren Bild vermitteln zu können schien. Diese neoplatonische >idea< erscheint allerdings bei Vasari vorzugsweise zum >concetto< hin verschoben, das weniger immateriell benutzbar ist. Die vielzitierte und vielkommentierte Stelle, wo Vasari sich um eine solche theoretische Fundierung bemüht, stammt aus der introduzione alle tre arti del disegnodisegnoDella pitturai Cap. I: >Che cosa sia disegno [...]concettodisegno< einmündet, erläutert er in einer zweiten Volte denselben Vorgang ausgehend vom >disegno< : si può conchiudere che esso disegno altro non sia che una apparente espressione e dichiarazione del concetto che si ha nell'animo, e di quello che altri si è nella mente immaginato e fabbricato nell'idea.

Der >disegno< ist also der Ausdruck des >concettofabbricare< übersetzen könnte. Panofsky hat sehr deutlich gesehen, daß die >Idee< in diesem Kontext nicht mehr präexistiert oder eingeboren ist, sondern ausgehend von der Anschauung und Erfahrung der Wirklichkeit im künstlerischen Vorstellungsvermögen erzeugt wird. Das generative Potential des Vasarischen >concettoideaconcettodisegno< als dem gemeinsamen Ursprung aller »Zeichenkünste«? Auf den ersten Blick möchte man meinen, daß der »Künstler ohne Hände« fìlr Vasari außerhalb der Denkmöglichkeit bleibt, geht es ihm doch vor allem darum, die >grandi e terribili concetti etwa eines Michelangelo gerade in den Werken, Zeichnungen und Entwürfen anzuschauen und zu beschreiben. Auf der anderen Seite jedoch - und hier befinden wir uns nun eindeutig im Terrain des Individualstils - können diese >concetti< so gewaltig sein, daß ein Michelangelo gegen Ende seines Lebens auf deren Ausführung verzichtet und Fragmente stehen läßt. Vasari erklärt dies so: Michelangelo hat nicht nur die Modernen und die Alten übertroffen, 15 er hat auch die Natur selbst übertroffen, bis jede weitere Steigerung nur noch eine Überbietung seiner

14 15

Vasari, Vite (Anm. 3), Bd. 1, S. 169. Ebd., Bd. VII, S. 148, 156, 163.

>Raffael ohne Hände
di man suadisegni, schizzi e carton i ) vernichtete, damit niemand sehen könne, welche Mühen er sich gegeben habe, und weil er gewollt habe, daß man nur Vollkommenes von ihm sehe. Auch zitiert er Michelangelo, der gesagt habe, er müsse seine Sujets in den Augen und nicht in der Hand haben: >negli occhi e non in mano, perche le mani operano, e l'occhio giudicai Wir haben hier einen sehr deutlichen Hinweis auf den optischen Charakter des >concetto< als einer Vision, die mit dem Urteil des kompetenten Kunstrichters, hier: des Künstlers selbst, identisch ist. Diese Affinität des >concetto< mit dem Visuellen und die Problematik der Übereinstimmung des >concetto< im Blick des Künstlers wie des Kunstrichters können sich jedoch nicht auf ein stummes Sehen beschränken, sondern verlangen nach dem Ausdruck des >concettos< durch das Wort, die Rede und die Schrift. Vasari zitiert den Beginn des berühmten Sonetts von Michelangelo, wonach der Künstler kein >concetto< habe, das nicht im Marmorblock selbst umschlossen sei: Non ha l'ottimo artista alcun concetto, Ch'un marmo solo in sè non circoscriva"

Nicht bloß als bildender Künstler habe Michelangelo die Größe seiner >concetti< nicht erreichen zu können geglaubt; er sei überdies darüber verzweifelt gewesen, daß er sich auch dichterisch nicht ausdrücken könne, >per non essere egli esercitato nel direil suo concetto< zu skizzieren vermocht habe.

16 17 18 19

Ebd., S. 212. Ebd. Ebd., S. 270. Ebd., S. 274.

212

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Dieser Michelangelo ohne Hände und ohne Schrift gewinnt nun bei Vasari göttliche Züge, allerdings nicht als einziger, denn Vasari erkennt unter seinen Künstlern vielmehr etliche, "se così e lecito dire, Dei mortali"20 an. Dies heißt jedoch nicht, daß die Konzeption der Künste als eines erlernbaren und Regeln gehorchenden Ensembles aufgehoben wäre. Vielmehr schreibt Vasari über Michelangelo, er habe die Fesseln der Regeln gesprengt, indem er eine gewisse Lizenz und Regelfreiheit hinzugefügt habe, für die die Künstler ihm großen Dank schuldeten. Die Regelfreiheit wird dabei nicht als etwas Unnachahmbares angesehen, sondern ganz im Gegenteil als eine Ermutigung, die Abweichung vom gewöhnlichen Gebrauch nachzuahmen: la quale licenzia ha dato grande animo a quelli che hanno veduto il far suo, di mettersi a imitarlo; e nuove fantasie si sono vedute poi, alla grottesca piuttosto che a ragione o regola, a'ioro ornamenti. 21

Das Regellose entsteht mithin zwar als ein >concetto nella mente*, doch ist es kein singulares, der Nachahmung entzogenes Produkt bloß dieses einen Geistes, das heißt aber: es ist reproduktionsfähig und reproduzierbar. In diesem Sinne unterscheidet Vasari denn auch die >seconda età< seiner >rinascita< von der mit Leonardo beginnenden >terza età< aufgrund der Vervollkommnung, die erst durch die Lizenz ermöglicht worden sei: una licenzia che, non essendo di regola, fosse ordinata nella regola, e potesse stare senza fare confusione o guastare l'ordine. 22 eine Lizenz, die, ohne selber regelhaft zu sein, doch in die Regel eingefügt werden und stehen bleiben konnte, ohne Verwirrung zu stiften oder die Ordnung zu verderben.

Damit erscheint eine Regelhaftigkeit anvisiert, die das Regellose a posteriori der Regelhaftigkeit wieder integrierbar macht. Wir stoßen hier bei Vasari also auf Modelle, die als generative vor allem in der Rhetorik entwickelt worden sind.23

20 21 22 23

Ebd., Bd. IV, S. 316. Ebd., Bd. VII, S. 193. Ebd., Bd. IV, S. 9. Vgl. hierzu Renate Lachmann: Die »problematische Ähnlichkeit*. Sorbiewskis Traktat >De acuto et argudo< im Kontext concettistischer Theorien des 17. Jahrhunderts. In: Dies. (Hg ): Slavische Barockliteratur II. Gedenkschrift für Dimitrij Tschizewskij, München 1983, S. 87-114.

>Raffael ohne Hände
Vita< machen. 24 Hier erscheint die Priorität der Hand und des >fare< zunächst unübersehbar. Cellini ist nicht nur ein Haudegen (wie der abenteuerhafte Aspekt der >Vita< zeigt), sondern als eine Art von Anti-Cortegiano ist er auch allem schmeichelnden Reden abhold, um stattdessen auf seine Hände und das Werk seiner Hände zu verweisen. So heißt es zum Beispiel, als Cellini sich bei Firenzola in Rom bewirbt und dessen konkurrenzneidischer Geselle, ein ehemaliger enger Freund, ihn verleugnet: Oh Giannotto, già mio amico domestico [...]; io non mi curo che tu faccia testimonianza di me [...], perché io spero che le mane mia sieno tali, che sanza il tuo aiuto diranno quale io sia. 25 Oh Giannotto, einst mein vertrauter Freund [...]; ich brauche nicht deine Fürsprache [...], denn ich hoffe, daß meine Hände derart sind, daß sie ohne deine Hilfe sagen werden, wer ich bin.

Und tatsächlich wiederholt der Meister Firenzola diese Worte, als er Cellini zum Eintreten in seine Werkstatt auffordert: »Entra in bottega a fa come tu hai detto, che le tue mane dicano quel che tu sei.« 26 Immer wieder muß sich Cellini mit seinen Händen durchsetzen, doch wollen die Resultate des >fare< gesehen werden. Auch in der >EmiliaGalottidisegno< zu suchen ist. Namentlich die schwierige Torsion des Steinschneiders ist hier hervorzuheben, der über die rechte Schulter hinweg aus dem Bild blickt, jedoch gleichzeitig mit der rechten Hand am linken Bildrand in die Bildtiefe verweist. Freilich entspricht insgesamt die

24

25 26

Siehe dazu v. a. Kurt W. Forster: Probleme um Pontormos Porträtmalerei I—II. In: Pantheon XXII, 1964, S. 376-84; XXIII, 1965, S. 217-31 (der dritte Teil der Abhandlung in Pantheon XXV, S. 27-34, beschäftigt sich nur mit Pontormos Wirkung). Costamagna, Pontormo (Anm. 5), S. 150f. Zur Zusammenstellung der Literatur ebd., S. 119f. u. 137f.

Pontormos Portraits und das höfische Ideal des Manierismus

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exakte Konturführung bei gleichzeitiger sorgfältiger Behandlung der Binnenflächen dem oben für Pontormo Festgehaltenen. Genau diese Kriterien verlieren sich allerdings, als Pontormo Jahre später die Gelegenheit erhält, Portraits für die Florentiner Oberschicht und sogar das Herrscherhaus de'Medici selbst anzufertigen. Dabei handelt es sich also - wie bemerkt - um höfische Portraits im eigentlichen Sinne. Frühestes Beispiel ist das Bildnis eines rotgewandeten jungen Mannes (Abb. 6), dessen Identität ebenso umstritten ist wie die Datierung des Gemäldes, die zwischen 1524-27" und 1530/33 schwankt.28 Gedacht wurde häufig an ein Mitglied des Hauses de'Medici, etwa den jungen Herzog Alessandro. 29 Demgegenüber behauptet Philippe Costamagna, es handle sich um den jungen Amerigo Antinori, dessen Portrait von Vasari als außergewöhnlich gelungen eingestuft wird und das Pontormo den Weg zu den Portraits der Medici erst geebnet haben soll.30 Es mag der eine oder der andere sein: Nicht zu übersehen ist die große Distanz, die die Portraitauffassung von den eben Erwähnten trennt. Nicht nur droht sich die Konturlinie aufzulösen; auch die in hohem Maße malerische Behandlung des roten Gewandes, das flüchtig und mit sehr trockenem Pinsel gemalt zu sein scheint, ist für Pontormo außergewöhnlich. Weil das Portrait etwas unterlebensgroß ist - sein Format beträgt bloß 85 χ 61 cm - würde man eher an eine Aufhängung unter Bedingungen von Nahansichtigkeit denken, die eine sorgfältige Ausführung wünschenswert erscheinen ließe. Sie bleibt aber aus, der malerische Duktus beherrscht das Bild vollständig. Zu den hervorstechenden malerischen Aspekten treten freilich formale der Haltung hinzu: Der Dargestellte ist etwas mehr als halbfigurig wiedergegeben, eine Auffassung, die gemeinhin in Abhängigkeit zu Raffael und zu Sebastiano del Piombo gesehen wird (Bildnis des Anton Francesco degli Albizzi, ca. 1520; Huston, Museum of Fine Arts). Die Linke hat er auf der Hüfte aufgestützt, der Ellenbogen ist abgespreizt, der rote Mantel darüber wie zufällig aufgeworfen. Eine jüngst erschienene Untersuchung von Joaneath Spicer untermauert im Prinzip nur den Eindruck einer betonten Lässigkeit, der sich sofort

27 28 29 30

Forlani Tempesti / Giovannetti, Pontormo (Anm. 5), S. 135. Costamagna, Pontormo (Anm. 5), S. 214. Forlani Tempesti / Giovannetti, Pontormo (Anm. 5), S. 133ff. Costamagna, Pontormo (Anm. 5), S. 213.

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einstellt, insbesondere, wenn der Vergleich mit älteren Portraits angestellt wird, etwa jenem Raffaels von Baidassar Castiglione von 1514/15 (Paris, Louvre) oder Beispielen der venezianischen Schule wie das fast gleichzeitig zu Pontormos Portrait, nämlich in den frühen 1520er Jahren entstandene eines jungen Edelmannes von Tizian (Paris, Louvre), um zwei zufällig ausgewählte Beispiele heranzuziehen. Zu einem wesentlichen Moment wird das Zufällige durch die Haltung mit dem abgewinkelten Ellenbogen ins Bild gebracht. Spicer hat deren Entwicklung bis zu ihren Anfängen im späten 15. Jahrhundert zurückverfolgt und mit ihr die Attribute »Selbstbeherrschung« und »Selbstkontrolle« assoziiert, die mit einem hohen Selbstbewußtsein einhergehen. Ihm zufolge charakterisiert sie die Haltung des siegreichen Militärs. Deswegen ist ihre Verwendung in der sakralen Kunst von Florenz insbesondere bei David, der über Goliath triumphiert, nachzuweisen.31 Weil es sich in unserem Fall aber ganz gewiß nicht um einen Militär handelt, sollte man sie etwas weiter definieren. In jedem Fall ist sie die Geste des Selbstbewußten, beinahe möchte man sagen: des Erfolgsverwöhnten, der eine ostentative Gelassenheit an den Tag legt, die einzig durch die hohe Stellung gezügelt wird. Zu fragen ist, in welchem Verhältnis dieser Ausdruck zur Person steht und wie er sich im höfischen Ambiente seiner Zeit verankern läßt.

4. >11 libro del Cortegianoc >sprezzatura< auf jeder Ebene Genau zeitlich parallel zur Entstehung von Pontormos Gemälde überarbeitete Baidassar Castiglione sein um 1508 begonnenes Werk >11 libro del Cortegianowahre< Liebe, und geben ihm seine endgültige Struktur, in der es 1528 gedruckt wird. Der ersten Fassung aber gehören jene Teile an, die aristokratisches Verhalten generell beschreiben. Sie war damals nachweislich bereits in Zirkulation, denn Pietro Bembo wird 1520 von Castiglione um sein Urteil über das Buch angegangen, und die Ab-

31

Joaneath Spicer: The Renaissance Elbow. In: Jan Bremmer / Hermann Rodenburg (Hg.): A Cultural History of Gesture, Cambridge 1994, S. 84-128, hier S. 84-86.

Pontormos Portraits und das höfische Ideal des Manierismus

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sieht, das Werk tatsächlich für den Druck zu bestimmen, scheint überhaupt aus dem Umstand erwachsen zu sein, daß so zahlreich handschriftliche Kopien im Umlauf waren.32 Für unseren Zusammenhang ist zu vergegenwärtigen, daß sich Castiglione ab 1521 an der Kurie aufhielt. 1523 bestieg der Medici Clemens VII. den Stuhl Petri; Castiglione wurde zunächst Ständiger Botschafter des Marchese von Mantua in Rom, bevor ihn der Papst 1524 zum päpstlichen Protonotar ernannte und als seinen Botschafter zu Karl V. nach Spanien entsandte.33 Ohne sich zu der Behauptung versteigen zu wollen, das Buch illustriere in irgendeiner Weise Pontormos Portrait, ist doch nicht zu übersehen, daß höfisches Verhalten ganz generell in jenen Jahren zum Thema und in exemplarischer und verbindlicher Weise von Castiglione abgehandelt wurde. Unter den Idealen höfischen Verhaltens ragt eines hervor: die zwanglose Lässigkeit, das scheinbar ungekünstelt natürliche Verhalten. In einem Begriff ist es seit Castiglione erfaßt: >sprezzaturasprezzatura< tatsächlich ein Neologismus zu sein scheint, der freilich aus dem schon gebräuchlichen Verb >sprezzaredisprezzare< (verachten, gering achten) abzuleiten ist, so ist sein Inhalt gewiß nicht neu.35

32

33 34 35

Die Angaben zur Editionsgeschichte in: Baidassar Castiglione: Il libro del Cortegiano. Hg. von Giulio Carnazzi, Mailand 1987, S. 4 1 ^ 5 . Salvatore Battaglia vertritt gleichenorts im Vorwort zur Ausgabe unter dem Titel >L'Idea del Cortegiano< (S. 5-18) allerdings eine leicht abweichende Editionsgeschichte mit finalen Überarbeitungen zwischen 1513-16, wonach das Werk sofort in literarisch gebildeten Kreisen zirkuliert sei (S. 8). Siehe auch Claudio Mutini: Baidassare Castiglione. In: Dizionario Biografico degli Italiani, Rom 1979, Bd. 22, S. 53-68, bes. S. 61. Zur Verbreitung des Werkes vor der Drucklegung siehe auch: Roger Willemsen: Nachwort zu: Baldesar Castiglione: Das Buch vom Hofmann. Übersetzt und erläutert von Fritz Baumgart, München 1986, S. 428. Übrigens beginnt Castiglione die Einleitung mit dem Hinweis, daß Vittoria Colonna eine von ihm erhaltene Abschrift ihrerseits habe kopieren und verbreiten lassen und daß sein Werk bereits bis Neapel Verbreitung gefunden habe. Dort schickten sich gar Leser an, es zu drucken, ein Unterfangen, dem Castiglione durch die Drucklegung zuvorkommen will. Siehe Castiglione, Ed. Baumgart, S. 2. Mutini, Baidassare Castiglione (Anm. 32), S. 58ff. Castiglione, Ed. Carnazzi (Anm. 32), S. 81. Zur >sprezzatura< siehe v. a. Eduardo Saccone: Grazia, Sprezzatura und Affettazione in Castiglione's Book of the Courtier. In: Glyph 5,1979, S. 34-54. Das Verb >sprezzare< (von >disprezzaresprezzatura< folgendermaßen: es sei die Fähigkeit, die Künstelei als eine rauhe und gefährliche Klippe zu vermeiden und bei allem eine gewisse Art von Lässigkeit anzuwenden, die die Kunst verberge und bezeige, daß alles, was man tue oder sage, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustandegekommen sei. Daraus erwachse die Anmut (>la graziasprezzaturasprezzatura< auch neu sein, so läßt sich das damit verbundene Konzept doch bis in die Antike zurückverfolgen. Saccone ist in seiner Studie bis Aristoteles zurückgegangen. 38 Wegen des an der römischen Kurie verbreiteten Neociceronianismus 39 genügt es für den vorliegenden Zusammenhang, auf Ciceros Konzept einer >neglegentia diligens< zu verweisen, das inhaltlich weitgehend das Gleiche meint wie jenes von Castiglione, hier aber auf die Rhetorik und zwar auf das einfache Sprachniveau, das >genus humilesprezzatura< greift Castiglione zur Erläuterung erneut auf die Malerei zurück. Das Vorgehen ist an sich nicht originell: Auch antike Autoren wie Cicero und Quintilian haben gelegentlich zur Illustration auf Beispiele der Bildenden Künste verwiesen, Cicero gerade im >Oratorsprezzatura< auf höfisches Verhalten angelegt hat, so muß er zwangsläufig auch der erste gewesen sein, der ihn zu einem Beurteilungskriterium der Malerei erhob. Damit jedoch hat er durchaus Schule gemacht. Seinem Vorbild folgt etwa Ludovico Dolce in seinem Traktat >L'Aretino< von 1557, der den gleichen Inhalt noch präziser beschreibt. Der Gesprächspartner Aretino stellt fest: »Andere können wieder nicht die Abstufungen in den Lokalfarben der Stoffe nachahmen; sondern sie bringen nur die vollen Grundfarben, wie sie eben sind, zum Vorschein [...]«, worauf sein Gegenüber Fabrini antwortet: »Hier dürfte eine gewisse verständige Nachlässigkeit [»una certa convenevole sprezzatura«] am rechten Platz sein, so zwar, dass weder ein zu auffälliges und buntes Kolorit noch eine affektierte Geziertheit der Gestalten in den Vordergrund trete; sondern dass Alles vielmehr von einer lieblichen Gediegenheit geprägt sei. Gibt es doch Maler, die ihre Figuren auf eine so geleckte Weise darstellen, dass jene geschminkt zu sein scheinen, mit so pedantisch angeordneten Haaren, dass nicht eines davon aus der Anordnung herausfällt. Das aber ist ein Fehler, und kein Verdienst; denn man verfällt dadurch in jene Affektion [»si cade nell'affettazione«], die jegliches Ding der Grazie [>graziaprontezza< oder >prestezzaprestezza< die >sprezzatura< tritt, so fällt auf, daß die Verbindung zwischen Portraitmalerei und dem ästhetischen Kriterium >sprezzatura< offenbar sehr eng ist, ja daß in gewisser Weise die >sprezzatura< das adäquate Bewertungsmoment der malerischen Elemente der Gattung des Portraits ist. Der Grund, warum mit einem Mal die flüchtige Malweise hier eine solche Bedeutung erlangt, ist sicher auch darin zu sehen, daß sie grundsätzlich für jene >facilità< steht, die >grazia< hervorruft, jedoch-wie durch Raffael vorgeprägt-nicht auf eine Gattung eingeschränkt. In dem Moment, wo das Bemühen der Maler darauf abzielte, die Eleganz der inneren Haltung der Modelle im Portrait festzuhalten, war der Begriff >facilità< ebenso wieder präsent wie jener der >graziasprezzaturagrazia< war der neue in der Lage, das Besondere des höfischen Menschen zu charakterisieren. >Facilità< und

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47

parti dell'ombre d'alcune teste d'ocria, di lacca e d'aspalto, che fà in vero meraviglioso effetto, componendo in quella guisa un misto casuale di tinte, che ben praticate dall'intelligente Pittore, fanno mirabile riuscita, il che proviene principalmente dallo sprezzo & arditezza del pennello.« Francesco Scannelli: Il Microcosmo della Pittura, Cesena 1657 (Reprint hg. von Rosella Lepore, Bologna 1989), S. 16f. Leon Battista Alberti: Della Pittura. In: Leon Battista Alberti's kleinere kunsttheoretische Schriften. Hg. von Hubert Janitschek, Wien 1877, S. 155f. In der lateinischen Fassung >De picturaprestezza< und >prontezza< auch: Luigi Grassi und Mario Pepe: Dizionario dei termini artistici, Turin 1994, (ad voces).

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>grazia< malerisch umzusetzen war offenbar durch die >prestezza< möglich, aber erneut ließ sich auch hier der Anspruch in ästhetischer Hinsicht in dem einen Begriff fassen: >sprezzaturaVita contempiativa< zugehörig sind, belegt u. a. bereits Alberti, Della Pittura (Anm. 47), S. 96, der erwähnt, daß er zum Vergnügen in seiner Freizeit male.

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Dargestellt ist entweder Niccolò Ardinghelli als Kanoniker von S. Maria del Fiore, wie in jüngster Zeit häufig vertreten, oder aber Monsignor Giovanni della Casa, der Verfasser des Galateo. Vom Erstgenannten ist aufgrund einer Vasari-Stelle bekannt, daß Pontormo ihn zwischen 1524 und 1527 portraitierte. Eine derart frühe Datierung dürfte sich freilich mit dem Washingtoner Gemälde schwerlich in Verbindung bringen lassen, weswegen etwa Kurt Forster annahm, Ardinghelli habe sich erneut in den 1540er Jahren malen lassen. 52 Sollte es sich allerdings beim Dargestellten um Giovanni della Casa handeln, so lautet der Datierungsvorschlag 1541, denn nur in diesem Jahr hielt sich der Kleriker in Florenz auf. 53 Für diese Identifikation spräche der Darstellungsmodus. Denn in seinem 1558 veröffentlichten Anstandsbuch >11 Galateo< wird della Casa explizit die Gewohnheit verurteilen, mit auf der Hüfte aufgestützter Hand und abgespreiztem Ellenbogen wie ein Pfau auf und ab zu stolzieren. 54 Daß der Dargestellte auf diesen Gestus verzichtet, den sich die weltliche Oberschicht zu eigen machte, mag allerdings auch mit seiner Rolle als Kleriker zu tun haben. In seinem Falle wird es angezeigt gewesen sein, sich mit einem Buch, vielleicht dem Brevier, portraitieren zu lassen. Trotz geänderter Haltung findet sich aber auch hier jene Flüchtigkeit der malerischen Auffassung wieder, die bei den erwähnten Beispielen schon zu beobachten war. Hervorstechend ist in diesem Zusammenhang die summarische Behandlung des Bartes, aber das gesamte Bild ist durch den Malakt gleichsam in einem einzigen Fluß gehalten. Forster hatte zur präzisen Formulierung gefunden, wenn er meinte: »Die Malerei trägt die gleichen, höchst persönlichen Züge: wenige, stark >changierende< Töne, die sich in einem kalten Glühen aus dem dunklen Gesamtklang des Bildes befreien und flockig verriebene Pinselarbeit von dennoch zeichnender Präzision. Dem Gesicht vor allem fehlt die gedrechselte Glätte und elfenbeinerne Kälte Bronzinos.« 55 Das Klerikerportrait mag den letzten Beleg für jenes Phänomen darstellen, das meines Erachtens die höfischen Portraits Pontormos generell aus-

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54 55

Forster, Porträtmalerei (Anm. 24), Bd. XXII, 1964, S. 380. Siehe zur Diskussion von Datierung und Identifikation Costamagna, Pontormo (Anm. 5), S. 245ff., v. a. S. 246. Siehe dazu Spicer, Renaissance Elbow (Anm. 31), S. 95. Forster, Porträtmalerei (Anm. 24), Bd. XXII, 1964, S. 380.

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zeichnet. Die Dargestellten sind zwar präzise erfaßt, aber doch in einer höchst spezifischen Haltung, die ihre exakte Entsprechung im Malakt selbst findet. Der langen Rede kurzer Sinn läßt sich in folgende Hypothese fassen: Pontormo, einer der Hauptvertreter des >disegno< in Florenz, hat diese ästhetische Haltung in der Gattung des Portraits aufgegeben, um zu ganz anderen und neuen Möglichkeiten vorzustoßen. Sein Bemühen hat hier darauf abgezielt, dem Bildmotiv eine unmittelbare Entsprechung im Malakt zu geben und umgekehrt mit dem Malakt die Haltung des Dargestellten weiter zu charakterisieren und atmosphärisch zu verdichten. Diese Analogie zwischen Bildmotiv und Malweise hat sich ihm über den Begriff erschlossen. Dem optischen Befund nach ist von ihm die Homonymie von >sprezzatura< als sozial-ethischer Haltung und >sprezzatura< als ästhetischem Ausdruck in ingeniöser Weise erkannt und verarbeitet worden. In dieser Sichtweise ist er der erste gewesen, der sich diese Homonymie zunutze zu machen verstand. Für eine gewisse Zeit muß er auch der einzige geblieben sein, denn denkt man an die kristallinen, scharf konturierten Portraits seines Schülers Bronzino, so wird schlagartig deutlich, daß ihm jener darin nicht gefolgt ist. Freilich haben andere - nach seinem Vorbild oder aus anderer Quelle gespeist - zur gleichen Lösung gefunden, erinnert man sich etwa an Ridolfis Aussage zu Tintoretto. Dessen Darstellung wie jene Salviatis von Vasari belegen darüber hinaus, daß der geistreiche Witz, sich über die sprachlich vorgeformte Analogie der künstlerischen Aussage zu nähern, ein wesentliches Movens zahlreicher Werke des italienischen Manierismus gewesen sein dürfte. Weil zur Erkenntnis solcher Phänomene der präzise Begriff vonnöten ist, wird ein relativ weites Feld erst allmählich bearbeitet. Der Blick, der jetzt ganz auf Pontormo fokussiert war, könnte dann etwa auch zu Michelangelo übergehen. Dessen >Ultimo giudizio< wäre nämlich durchaus als letztgültiger Ausdruck des ästhetischen Phänomens >giudizio< zu deuten, die >terribiltà< des Ereignisses fände ihre Entsprechung in der >terribiltà< der künstlerischen Form. Weil nicht zu erkennen ist, wann zuvor das Streben nach Homonymien derart stark war, läßt sich abschließend sehr wohl der Gedanke formulieren, darin ein Charakteristikum des gesamten italienischen Manierismus zu sehen. Dieses wäre seinerseits dann wiederum einzubinden in eine Reihe von Phänomenen, die letztlich alle der maximalen Steigerung des ästhetischen Anspruches in jeder künstlerischen Gattung zu dienen hätten

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oder - wie es Rüdiger Zymner in seinem Beitrag ausdrückt - in diesem Falle sowohl auf formaler wie auf semantischer Ebene demonstrative Artistik vorzuführen. Insofern lassen sich diese Phänomene als Gesamterscheinung wegen der Gleichartigkeit der Bemühungen sehr wohl unter den einen Oberbegriff subsumieren: Manierismus.

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Portraits

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Abb. I: Jacopo Pontormo: Bildnis einer Unbekannten; ca. 1514; Florenz, Palazzo Pitti, Galleria Palatina.

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Abb. 4: Jacopo Pontormo: Grablegung Christi; 1527/28; Florenz, S. Felicità, Cappella Capponi.

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Abb. 5: Jacopo Pontormo: Bildnis eines Juweliers oder Steinschneiders; 1517/18; Paris, Musée du Louvre.

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Abb. 6: Jacopo Pontormo: Bildnis eines jungen Mannes (Alessandro de' Medici oder Amerigo Antinori?); 1524/27 oder 1530/33; Lucca, Pinacoteca Nazionale di Palazzo Manzi.

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Abb. 7: Jacopo Pontormo: Hellebardier (Cosimo de' Medici?); 1537 (?); Malibu, Getty Museum.

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Abb. 8: Jacopo Pontormo: Bildnis des Cosimo de' Medici (?); 1537; Princeton, Sammlung Barbara Piasecka Johnson.

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Abb. 9: Jacopo Pontormo: Bildnis des Alessandro de' Medici; 1534; Philadelphia, Museum of Art, John G. Johnson Collection.

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Abb. 10: Jacopo Pontormo: Bildnis des Niccolò Ardinghelli oder des Giovanni della Casa; 1540 oder 1541; Washington, National Gallery, Samuel Kress Collection.

Maria Fabricius Hansen Maniera and the Grotesque*

In the sixteenth century, the decoration of walls and ceilings with grotesques enjoyed an enormous popularity, especially from around 1520 until the end of the century, when the hostile stand taken by the CounterReformation towards this kind of imagery began to have an influence on art [111. I]. 1 In this paper I will focus on the grotesque as an emblem of Mannerism. By mapping some of the characteristics of the grotesque, both as a transepochal principle of composition and as a system of decoration particularly successful in the sixteenth century, the structure and content of Mannerism might become somewhat clearer. As we shall see, the grotesque can be understood as a figuration of sixteenth-century artificiality and ironical distance, and, thus, as the essence of the modernity of Mannerism. Art historical surveys of Manneristic art still tend to deal with grotesques only in passing. As a border area between >real< art and decorative art, this ornamentation has not been paid as much attention as the main, narrative compositions. The frame has been overlooked in favour of the central image. In Mannerism, however, it can be difficult to decide where the framing ends and the main work itself begins. Allotting the ornamental frame and, in particular, the grotesque, a more decisive role in art historical analyses would, it seems, enhance our understanding of Mannerist image making.

* 1

I would like to thank Vibeke Woldbye, The Danish Museum of Decorative Art, for many years of inspiration and encouragement by dedicating this paper to her. For basic literature on the grotesques, cf. Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg - Hamburg 1957; Mikhail Bakhtine: L'œuvre de François Rabelais et la culture populaire au Moyen-Age et sous la Renaissance. Trad. Andrée Röbel, Paris 1970; Nicole Dacos: La Découverte de la Domus Aurea et la formation des grotesques à la renaissance, London Leiden 1969; Geoffrey Galt Harpham: On the Grotesque. Strategies of Contradiction in Art and Literature, Princeton/New Jersey 1982; André Chastel: La Grottesque, Paris 1988.

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Maria Fabrìcius Hansen

The grotesque is a figuration of transformation, hybridity, and metamorphosis. 2 It consists of one form growing into another, of continuous changes and exchanges of one body with another. Natural elements such as plants generate animals or human beings, who then mutate into candelabra and other artificial architectural forms or vice versa. As a pictorial form the grotesque is a hybrid and a metaphor for process, for origination, creation and disintegration. In the sixteenth century the grotesques were generally used to decorate loggias and galleries, types of rooms that constitute the border between inside and outside, providing a passage from one place to another. Thus, also in terms of function, the grotesque is connected to a process of movement and transference. The sense of the metaphorical was an important feature in the understanding of the grotesques in the sixteenth century. Without any evidence from written sources the ancient grotesques were readily interpreted allegorically. 3 In art theory grotesques were explicitly associated with artistic imagination, fantasy, and invention, the classical topos of reference being Horace's influential discussion of fantastic figures and hybrid creatures - for instance, centaurs - as examples of artistic licence. 4 Sometimes the grotesques were called »the dreams of painters« (»sogni de' pittori«). 5 According to the treatise on painting by Giovan Paolo Lomazzo from the mid-1580s, the artist can substitute concrete representations of things and concepts with grotesques; he can represent »le cose et i concet-

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Bakhtine, L'œuvre de François Rabelais (Anm. 1), S. 33. E. g.: Pirro Ligorio: Libro dell'antichità, Fol. 151v-160v, quoted by Dacos: La Découverte (Anm. 1), Appendix II, S. 161-182; and Giovan Paolo Lomazzo: Trattato dell'arte della pittura, scoltura et architettura, Milano 1584, libro vi, cap. xlviii. In: Paola Barocchi (Hg.): Scritti d'arte del cinquecento, tomo III, Milano Napoli 1977, S. 2694. Horace: Ars Poetica. In: Ders.: Satires, Epistles and Ars Poetica. Tr. H. Rushton Fairclough, Cambridge/Mass. 1970, S. 450f. Daniele Barbaro e Vitruvius (1567), in: Barocchi (Hg.), Scritti d'arte (Anm. 3), S. 2634; Gabriele Paleotti: Discorso intorno alle imagini sacre e profane [...], Bologna 1582, libro ii, capp. xxxvii-xxxxii. In: Barocchi (Hg.), Scritti d'arte (Anm. 3), S. 2652; Ligorio, Libro dell'antichità (Anm. 3), S. 161-182; Anton Francesco Doni: Disegno, Venezia 1549, Fol. 18-24v. In: Barocchi (Hg.), Scritti d'arte (Anm. 3), tomo I, Milano - Napoli 1961, S. 585.

Maniera and the Grotesque

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ti, non con le proprie, ma con altre figure [...]«, that is, exploit the metaphorical potential of the grotesques. 6 An extremely popular form of image-making in the sixteenth century, the emblems and >imprese< are also signs of the consistently metaphorical understanding of pictures. These translations of meaning - which, basically, is what the metaphor is all about - and the ability to see the figurative instead of the literal sense of an image can be understood as part of the modernity of the period. The absorption with ambiguities and metaphorical potentials is especially evident in those fields situated between art and graphically reproduced illustrations or decorative art. The rise of emblematics is a good example, indicating the fascination for the sign, for an artificially produced object with a vast potential of meaning.7 The analogy between the grotesque and artistic production is, at least to a certain extent, implicit in the often quoted passage by Michel de Montaigne, where he compares his >Essais< with this particular kind of imagery (1580):' »Que sont-ce icy aussi, à la vérité, que crotesques et corps monstrueux, rappiecez de divers membres sans certaine figure, n'ayants ordre, ny proportion que fortuite?« The structure of the grotesque image is thus comparable to literary style and composition. The intricate, daedalic or labyrinthine pattern of the grotesque can in itself be understood as a figuration of artistic creativity.9 Essentially, the grotesque is an ornament composed of lines, the element of origin in various myths and legends in the history of painting.10 Drawing is the writing or signature of the artist. The notion of the artist

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Lomazzo, Trattato dell'arte (Anm. 3), S. 2692. E. g.: Andrea Alciati: Emblemata, Augsburg 1531; Piero Valeriano: Hieroglyphica, Basel 1SS6. Michel de Montaigne: Essais. In: Ders.: Œuvres Completes. Hg. von Albert Thibaudet u. Maurice Rat, Gallimard 1962,1, xxviii, S. 181. Penelope Reed Doob: The Idea of the Labyrinth from Classical Antiquity through the Middle Ages, Ithaca - New York (1990) 1992, S. 66-72, passim. Pliny: Natural History. Tr. H. Rackham u. D. E. Eichholz (Loeb Classical Library), London-Cambridge/Mass. 1952-1962, XXXV, 15;Quintilian: InstitutioOratoria. Tr. H. E. Butler (Loeb Classical Library), London - Cambridge/Mass. 1921-1936, Tr. H. E. Butler, X.ii,7; Leon Battista Alberti: De Pictura. In: Ders.: On Painting and On Sculpture. The Latin Texts of >De Pictura< and >De Statuadisegno< could refer both to the drawing and to the concept or idea of a work, much as in today's >designuncanny< a monstrous mask (a hybrid of a lion and a plant) opening to the flames of Hell, is, simultaneously, a cosy and homely fireplace in the Palazzo Thiene at Vicenza [111. 11], It is exactly the terrifying powers of the grotesques which Signorelli ironically represented in his Brizio Chapel with Empedocles' sudden fright at the view of the grotesques [111. 8]. Where the ancient grotesque expressed a concept of nature as an organic entity of physical and psychical figurations, the manneristic grotesque also involves a deconstruction o f N a t u r e ' s dangerous and divine force: By transforming the formerly problematic ruins and grotesques to trendy and even humourous interior decoration and gardening, the divine or daemonic images of the medieval period with their apotropaic powers were turned into a new, aestheticized art concept. 23 By way of conclusion, I would like to emphasize again the significance of border areas and margins in understanding Mannerism. This seems to have a bearing both on the genres or forms art could take, as in massproduced graphic images and decorative art, and on the subjects dealt with, such as landscapes, ruins, and different types of ornament. The impact of the grotesques were, incidentally, closely connected to graphic art - the medium of the line par excellence and the means of mass-reproducing art. When the grotesques of Mannerism were such an international phenomenon, it is essentially because they went hand in hand with the new media of the printing press, both formally and conceptually.

21

22 23

E. g.: Giorgio Vasari: Giovanni da Udine. In: Ders., Le Vite (Anm. 19), vol. V, Testo, Firenze 1984, S. 448; Benvenuto Cellini: Vita. In: Ders.: Opere. Hg. von Bruno Maier, Milano 1968,I.xxxi, S. 121; Paleotti, Discorso (Anm. 3), S. 2640. Paleotti, Discorso (Anm. 3), S. 2639-2665. I am grateful to Horst Bredekamp for discussing this point with me.

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The frame in its broadest sense as all kinds of marginal figurations began to expel and replace the centrality of the main, narrative work or content. The sixteenth-century fascination for the grotesque seems to reflect that the creative process as well as a distance - even an ironical distance between the artist and his work were gradually turning into the main quality of creative production, thus forming the basis of the modern concept of art.

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Abb. 1: Raphael and Giovanni da Udine: Logetta, 1519. The Vatican. Photo: Art Treasures of the Vatican. Architecture. Painting. Sculpture, Hg. von D. Redig de Campos, New York 1974, Fig. 99.

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Abb. 2: Wenzel Jamnitzer, Jug, ca. 1570. Mother-of-pearl, gilt silver, enamel, München, Residenz. Photo: Daniel Arasse / Andreas Tönnesmann: Der europäische Manierismus 1520— 1610, München 1997, S. 27, Fig. 9.

Maniera and the

Grotesque

Abb. 3: Bomarzo, mid 16th century.

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Abb. 4: Giovanni Bologna: »Appenino«, after 1570. Villa Demidoff, Pratolino (Florence). Photo: Franzsepp Würtenberger: Der Manierismus. Der europäische Stil des sechzehnten Jahrhunderts, Wien - München 1962, S. 69.

Maniera and the

Grotesque

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Abb. 5: Giulio Romano: Palazzo del Tè, begun 1525. Mantua. Photo: Daniel Arasse / Andreas Tönnesmann: Der europäische Manierismus 1520— 1610, München 1997, S. 63, Fig. 35.

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Abb. 6: Giovanni da Udine: Sala di Psiche (detail), ca. 1518. Villa Farnesina, Rome. Photo: Nicole Dacos / Caterina Furlan: Giovanni da Udine, 1487-1561, Udine 1987, S. 26.

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Abb. 7: Tizian: Venus and the Lute Player, ca. 1565-1570. The Metropolitan Museum of Art, New York.

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Abb. 8: Luca Signorelli: »Empedocles«, Capella di S. Brizio, Cathedral of Orvieto, 1499-1502. Photo: Antonio Paolucci: Luca Signorelli, Firenze 1990, Fig.76.

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and the

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Abb. 9: Garden Pavilion with fresco decoration, mid 16th century. Villa Lante, Bagnaia.

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Abb. 10: Taddeo di Bartolo: Hell, c. 1396. Collegiata, S. Gimignano. Photo: Fratelli Alinari, Archivio fotografico, Rom.

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Abb. 11: Bartolomeo Ridolfi: Fireplace, mid 16th century. Vicenza, Palazzo Thiene. Photo: Daniel Arasse / Andreas Tönnesmann: Der europäische Manierismus 1520— 1610, München 1997, S. 27, Fig. 7.

Ulrich Ernst Neulateinisches Figurengedicht und manieristische Poetik Zum >Poematum Liber< (1573) des Richard Willis

In seiner Erzählung >Das Treffen in TelgteDreiundvierzig Gedichte aus dem Barock< erweitert wurde, 2 berichtet Günter Grass von einer fiktiven Zusammenkunft der deutschen Dichter des Barock im Sommer 1647. Anlaß für die Erzählung war der siebzigste Geburtstag von Hans Werner Richter, der die Gruppe 47 ins Leben gerufen und dem Grass, der an den Zusammenkünften dieses literarischen Kreises seit 1955 teilnahm und den Preis der Gruppe im Jahre 1958 erhielt, das Werk auch definitiv gewidmet hat. Nachdem die einzelnen Dichter in Telgte eingetroffen sind, werden im Quartier der Wirtin Courage unter Leitung von Simon Dach Lesungen und Disputationen veranstaltet. Am zweiten Lesetag trägt als erster Sigmund von Birken vor, »ein böhmisches Kriegskind, das, nach Nürnberg geflüchtet, bei den Pegnitzschäfern um Harsdörffer und Klaj idyllischen Halt und Förderung in patrizischen Häusern gefunden hatte.«3 Als er, nicht zuletzt spezialisiert auf onomatopoetische Verse, bei der Dichterlesung >Carmina figurata< vorträgt, wird ihm der Applaus verwehrt, weil die kunstvolle graphische Form seiner Gedichte beim bloßen Rezitieren nicht zu vermitteln ist: Der Lautmaler Birken, dem alles zu Klang und Form wurde und der mit neuestem Empfinden nichts direkt sagte, sondern alles in Bildern umschrieb, las einige in Kreuz- und Herzform getürmte, hier ausladende, sich dort verjüngende, mit Fleiß gekünstelte Figurengedichte, die sich schön ansahen, doch bei der Versammlung keinen Beifall fanden, weil sich die Form beim Vorlesen nicht übertrug.4

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Günter Grass: Das Treffen in Telgte, Darmstadt 1979. Günter Grass: Das Treffen in Telgte. Eine Erzählung und dreiundvierzig Gedichte aus dem Barock, München 1994 (M997). G. Grass (Anm. 2), S. 72. Ebd., S. 73.

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Ulrich

Ernst

Wenn in der Ausgabe dann in der Tat auch zwei barocke Figurengedichte im Appendix aufgenommen sind, der >Palmbaum< Philipp von Zesens und das >Zepter< Sigmund von Birkens, 5 so können sich anders als die Zuhörer bei dem Dichtertreffen in Telgte die modernen Leser eine plastische Vorstellung von den >Bilderreimen< machen, die zur Visualisierung eines Wahrnehmungsobjekts aus Verszeilen wechselnder Länge und unterschiedlicher Prosodie bestehen und nicht oder wenigstens nicht primär fur eine auditive Rezeption, sondern für ein betrachtendes Lesen konzipiert sind.6 Wie man somit konstatieren kann, ist das Figurengedicht aus der Sicht der Moderne nicht nur ein integraler Bestandteil der barocken Lyrik, sondern präsentiert sich auch als ein besonders künstliches, oder wie Grass sagt, »gekünsteltes« ästhetisches Produkt. Ernst Robert Curtius hat es daher mit Recht in seinen Katalog poetischer Manierismen aufgenommen, der sieben Spielarten umfaßt: 1. >LipogrammePangrammatismen< : Häufungen eines Buchstabens, 3. Figurengedichte, 4. >LogodaedaliaAsyndetaVersus rapportati : syntaktische Verschränkung mehrerer Sätze durch asyndetische Reihung gleichartiger Satzglieder, 7. Summationsschema: zusammenfassende Nennung bisher angesprochener Themen im Schlußvers. 7 Gegen den von Curtius erstellten Katalog formaler Manierismen läßt sich einwenden, daß er wohl kaum vollständig und zudem arbiträr erweiterbar ist, vor allem aber keinen Rückhalt in der Literarästhetik des Barockzeitalters hat, in dem erstmals Traktate über artifizielle Dichtungsformen verfaßt werden. Es scheint daher sinnvoll, in diesem Beitrag auf

5 6

7

Ebd., S. 190 u. 196. Zum Figurengedicht als Gattung vgl. Jeremy Adler und Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Weinheim '1990; Ulrich Emst: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters, Köln 1991. Vgl. auch: Ders.: Kanonisierung, Dekanonisierung, Rekanonisierung: Das Paradigma »visuelle Poesie< - Vom antiken Manierismus zur modernen Lyrik. In: Maria MoogGrünewald (Hg.): Kanon und Theorie, Heidelberg 1997, S. 181-207; ders.: Flugblatt und Manierismus. In: Wolfgang Harms und Michael Schilling (Hg.): Das illustrierte Flugblatt in der Kultur der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1998, S. 259-284. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 7 1969, S. 286-295.

Neulateinisches

Figurengedicht

und manieristische

Poetik

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dichtungstheoretische Aussagen aus der Frühen Neuzeit zu rekurrieren, die sich halbwegs systematisch mit formalen Erscheinungsweisen des literarischen Manierismus befassen, wobei das Figurengedicht im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen soll. Wie vorab zu statuieren ist, bietet vor allem die neulateinische Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts ein ergiebiges Quellenreservoir, das es erlaubt, literaturwissenschaftliche Aussagen über angeblich manieristische Gattungen auf eine historische Grundlage zu stellen. Im folgenden soll als ein relativ frühes Zeugnis für eine Auflistung manieristischer Formen, die auch das >Carmen figuratum< angemessen berücksichtigt, eine von der Renaissance- und Barockforschung bislang fast gänzlich ignorierte Beispielpoetik herangezogen werden, die der humanistisch gebildete Engländer Richard Willis im Jahre 1573 unter dem Titel >Poematum liber< in London veröffentlicht hat.8 Geistige und physische Mobilität, internationale Literaturbeziehungen und Kontakte zu höchsten Kreisen von Staat und Kirche kennzeichnen den Lebensweg des Autors: Willis kam am 5.1.1546 in Pulham in Dorsetshire zur Welt und wurde 1558 in das Winchester College aufgenommen, an dem er Grammatik, Poesie und Redekunst studierte. Sein Lehrer war Christopher Johnson (1536-1597), einer der bedeutendsten Gelehrten der Zeit, der auch als neulateinischer Dichter hervorgetreten ist und seinem Schüler eine gründliche literarische Ausbildung vermittelte. Am 27. Oktober 1562 trat Willis mit 16 Jahren in das New College in Oxford ein, verbrachte aber die Zeit zwischen seinem 16. und 18. Lebensjahr zu Studienzwecken nicht nur in Oxford, sondern zum Teil auch in Löwen. War schon das Oxford College religiös-konservativ geprägt - hier gab es eine Fraktion geheimer Papisten - , so entwickelte sich Löwen zu einem bevorzugten Refugium der Katholiken, seit Elisabeth nach ihrer Thronbesteigung im Jahr 1558 als Haupt der Anglikanischen Kirche firmierte. Willis, vermutlich in einer Familie mit katholischem Hintergrund aufgewachsen, war zu dieser Zeit ein enthusiastischer Anhänger des Papsttums. Nachdem er zwei Jahre in Löwen verbracht hatte, bereiste er weiter den Kontinent und ging zunächst nach Mainz, wo er den Kontakt mit den Jesuiten suchte. Am 3. Juni 1565 trat er in die 1534 von Ignatius von

*

Ricardus Willeius: Poematum Liber, London 1573 (benutzt wurde ein Exemplar der Trinity College Library, Cambridge).

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278

Loyola gegründete Societas Jesu ein und erwarb in Mainz den Grad eines Bacchalaureus Artium, später im Januar 1568 auch den eines Magister Artium. Hier in Mainz übernahm er kleinere Lehraufträge, lehrte nebenbei an der Kathedralschule in Speyer und studierte für sich selbst Philosophie, Mathematik und Griechisch. Von seinem Orden wurde er schließlich zum Noviziat nach Trier gesandt, wo er Griechisch unterrichtete, mit dem Studium des Hebräischen begann und sich auf den Priesterberuf vorbereitete. Hatte ihn schon vorher der Wunsch beseelt, eine Pilgerfahrt nach Rom zu unternehmen, so wurde er 1570 von seinen Oberen dorthin gesandt, um das Studium der Theologie zu absolvieren. Er unterbrach aber die Romreise in Perugia, wo er für einige Zeit als Professor für Rhetorik lehrte. Hier schrieb er viele seiner Gedichte, tauschte auch Verse mit seinen Studenten aus, verfaßte ein Lobgedicht auf die Stadt und begann eine Tragödie über das Leben des Stadtpatrons, Märtyrers und Bischofs Constantius, der unter Kaiser Antoninus das Martyrium erlitt. 9 Nachdem Willis am 6. Juni 1572 Perugia verlassen hatte, besuchte er den Ordensgeneral Francisco Borgia in Ferrara und erreichte wohl im selben Jahr noch Rom, wo er aber einen Bruch mit den Jesuiten vollzog. Vor diesem Hintergrund werden seine panegyrischen Verse (Nr. 32) auf den französischen Humanisten Guillaume Postel ( 1 5 1 0 - 1 5 8 1 ) verständlich, der wegen seiner spekulativen, auch von der Kabbala beeinflußten Ideen aus dem Jesuitenorden ausgeschlossen und seit 1564 im Kloster St-Martin-des-Champs (Paris) inhaftiert worden war. Willis' religiöse Umorientierung wurde offenbar bestärkt durch das Massaker der Bartholomäusnacht in Frankreich im August 1572, als er sich auf der Durchreise zurück nach England befand. Seit 1574 zeichnet sich eine entschiedene Hinwendung zur Anglikanischen Kirche ab: Willis erreicht den Grad eines M. A. in Oxford, wird ein Freund von Sir Francis Walsingham (1530-1590), der zu den führenden Persönlichkeiten im Council der Königin gehört, und vollzieht einen formellen Konfessionswechsel unter der Protektion von Lord Bedford. In seiner zweiten Lebenshälfte wendet er sich, schon immer an Geographie interessiert, wie nicht

9

Vgl. Carmen 23 (Constantii Martyris nomine Ad Christum Preces). Vgl. Ingeborg Ramseger: Constantius von Perugia. In: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 5, Rom 1973, Sp. 519.

Neulateinisches Figurengedicht und manieristische Poetik

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zuletzt seine Reisegedichte zeigen, von der Poesie und Poetik ab und widmet sein schriftstellerisches Werk ganz dieser Wissenschaft. Richard Willis >Poematum Liber< von 1573 zeigt folgenden Aufbau: Das Werk beginnt mit einer lateinischen Widmungsschrift an William Cecil, Baron von Burghley (1527-1608), der auf dem Titelblatt als Angehöriger des Hosenbandordens, Mitglied des Kronrats und Großschatzmeister Englands apostrophiert wird. Im elisabethanischen Zeitalter mit seiner kulturellen Blüte von Literatur, Musik und bildender Kunst10 hat er als der zweitwichtigste Mann im englischen Staat zu gelten." Auf die Prosadedikation folgen zwei Geleitgedichte unterschiedlicher Verfasser, sodann eine lateinische Zuschrift, die Willis vom Kanzler der Universität Perugia bei seiner Abreise nach Rom erhalten hat, und endlich eine Abbildung des Wappens von William Burghleys Hosenbandorden mit dem Spruch >Honi soit qui mal y penseklassischen< Geschmacksvorstellungen exkulpierend, mit understatement als Jugendsünden, »iuuenilis carmina Musae, nugae«, und Gelegenheitsgedichte, »metra ex tempore facta«, bezeichnet, zugleich aber die Hoffnung äußert, daß sich Burghley an den kunstvollen Gedichtformen erfreuen und bei der Lektüre entspannen möge. Beginnend mit prologartigen Versen unter dem Titel >De seipso. Quare carmina scribatSermo AsiaticusAtticus< und >LaconismusArgutia< berührt.13 Der folgende Traktat zur Verteidigung der Poesie unter dem Titel >De re Poetica DisputatioManiaPoematum liber< beschrieben, die entsprechenden poetischen Muster vorgestellt und die Umstände der Entstehung erklärt werden. Diesen zweiten Teil beschließen Werke von Willis' Lehrer Christopher Johnson, ein lateinisches Gedicht über die Vita Wilhelm Wickhams sowie Distichen auf die Leiter, Lehrer und Schüler des Colleges von Winchester.16 Willis' Gedichtsammlung ist nach bestimmten Kategorien in Gruppen von Gattungsexempla gegliedert: Die erste umfaßt 12 Gedichte (Nr. 2-13), die der Autor im Kommentarteil terminologisch als Figuren bzw. Bilder bestimmt: Duodecim quae sequuntur poemata, figuras, siue imagines nuncupo: quoniam quidem prçter legem, numerum, sermonem, rerum pondus, ac sensum quae in omni carmine diligenter expendenda sunt, ipsa verborum scriptione, atque versuum ordine expressam rei alicuius effigiem prç se ferunt.

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Vgl. Joachim Adamietz: Artikel >AsianismusArgutia-BewegungQvincvnx< (Nr. 2), zu, das unter ein biblisches Motto (Christus morte sua mortem nostram destruxit. I. Cor. 15.) gestellt ist und auf den ersten Blick typographisch wie ein »Carmen concordans< wirkt, bei dem Wörter zwischen den Zeilen doppelt gelesen werden müssen,22 andererseits aber auch an ein >Carmen

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Zum folgenden vgl. auch Margret Church: The first english Pattern Poems. In: Publications of the Modern Language Association 61, 1946, S. 636-650. Die Ausführungen basieren auf der leider ungedruckten Dissertation der Verfasserin: The Pattern Poem, Harvard 1944. Max Bense: Aesthetica. Einführung in die neue Ästhetik, Baden-Baden J 1982, S. 301f. Zur Spezies des Labyrinthgedichts vgl. Ulrich Ernst: Labyrinthe aus Lettern. Visuelle Poesie als Konstante europäischer Literatur. In: Wolfgang Harms (Hg.): Text und Bild. Bild und Text, Stuttgart 1990, S. 197-215. Zu dieser Bauform vgl. Ulrich Ernst: Permutation als Prinzip in der Lyrik. In: Poetica 24, 1992, S. 225-269. Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation, München 1992, S. 430ff. Zu artistischen Lesespielen in der Dichtung der Frühen Neuzeit vgl. Ulrich Ernst: Lesen als Rezeptionsakt. Textpräsentation und Textverständnis in der manieristischen Barocklyrik. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58, 1985, S. 67-94.

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correlativum< erinnert, da das Textkorpus nach verschiedenen Wortarten (Subjekt, Prädikat, Objekt, Partizip, Adverb) in Streifen geordnet ist (vgl. Abb. la). In dem vorgebenden Leseparcours ergeben sich durch alternative Lesewege verschiedenste Möglichkeiten der Textgenerierung, die der Autor selber in seinem Scholion durch Ausschreiben der ersten Kombinationen vorführt. Der Titel des Gedichts, der auf die Würfelfünf verweist, die ihrerseits figürlich mit dem Anfangsbuchstaben des Christusnamens korrespondiert, wird vom Autor im Scholion mit der Baumanordnung in antiken Gartenarchitekturen in Verbindung gebracht, wie sie schon Cicero bezeugt.23 Durch die aleatorische Signifikanz der Überschrift und die kombinatorische Lesestruktur ordnet sich das Gedicht in die bislang nicht ausreichend rekonstruierte Prähistorie von Stephane Mallarmés Gedichts >Un coup des dés< ein, das für die Lyrik der Moderne bekanntlich programmatischen Charakter besitzt.24 Die >Qvincvnx< bildet mit dem folgenden Gedicht >XPS< (Nr. 3), das gleichfalls unter ein biblisches Motto (Christus existens a mortuis vitam nostram reparauit. I. Pet. I.) gestellt ist (vgl. Abb. lb), eine Art von Diptychon. Zu dem Christusmonogramm als Sprachgitter wurde der Autor nach Ausweis des Scholions durch das Labarum, das Fahnenzeichen des römischen Kaisers Konstantin d. Großen, veranlaßt.25 Die Lesestruktur des figurierten Textes ähnelt zwar der >QvincvnxLabarumQvincvnxQvincvnx< und dem Christusmonogramm >XPS< eine virtuelle ästhetische Realität konstruiert, die den interaktiven Leser fordert, dem aber nicht nur ein Sprachspiel präsentiert, sondern der zugleich zur religiösen Meditation angeleitet werden soll. Mystik und Manierismus erscheinen hier nicht als Gegensätze, sondern treten in ein korrelatives Verhältnis. Neben kombinatorischen Texten enthält die erste Gedichtgruppe vor allem Umrißgedichte, deren Verszeilen so strukturiert sind, daß das Schriftbild in toto einen Gegenstand abbildet. Die von Willis vorgestellten Gedichte dieses Typs sind teilweise Nachbildungen der im Hellenismus entstandenen Technopägnien, wie die griechischen Untertitel demonstrieren, und teilweise Erfindungen neuer Figurentypen. Eine Imitation eines antiken Altargedichts, dessen Herkunft Willis fälschlich Theokrit zuschreibt, ist mit >Ara Christiana religioni betitelt (vgl. Abb. 2) und trägt die Subscriptio >London 1573< (Nr. 4). In seinem Kommentar, in dem er auch auf die Metrik eingeht - das Gedicht kombiniert laut Scholion verschiedene Versmaße (»Anacreontici«, »Alchmanij« und » Alcaici«), über die Joseph Justus Scaliger gehandelt habe27 - , distanziert sich Willis vom Kultgegenstand des antiken Altars, der den heidnischen Göttern gewidmet ist - er erwähnt den Altar des Apollo, an dem Troilos, der Sohn des Priamos, von Achill getötet wurde - , und betont statt dessen den christlichen Charakter seines Textkonstrukts. Die >Aemulatio< mit dem antiken Vorbild steht somit im Zeichen der >Interpretatio christianaConcettismus< und >Idea-Lehre< bzw. >Idea-Kunst< in den Sachregistern beider Bände). Eine Neubelebung der Diskussion um den Manierismus verdankt die Forschung der Arbeit von Rüdiger - Zymner: Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn u. a. 1995.

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einer Weinflasche erbat und es zur Einfügung in ein Emblembuch bestimmte, tritt Willis in die Fußstapfen des antiken Bukolikers Theokrit (vgl. Abb. 5). Willis berichtet, in deutschen Städten und Dörfern und im ruralen England gebrauchten zu seiner Zeit noch Schäfer solche Flöten, welche vielleicht der des Theokrit entsprächen. Daß die >Pastoricia fistula< einem Trinkgefäß ähnelt, erklärt der Autor im Scholion mit dem Blick auf den deutschen Adressaten u. a. damit, daß die Germanen berühmt für ihre Trinkfreude seien. Das zum 1. Januar, dem Fest Circumcisio, entstandene Poem, das in den ersten Versen die Beschneidung Christi am achten Tag nach seiner Geburt (Lk. 2, 21) erwähnt, nimmt am Ende Bezug auf den Widmungsempfänger, dem nicht nur ein süß tönendes Gedicht, sondern auch ein Wein mit Namen >Cos< offeriert wird - nach Ausweis des >£inigma< (Nr. 54), das den Namen als Akronym von >colorodorsapor< auflöst, ein dreifach edler Tropfen nach Farbe, Geruch und Geschmack. Durch dieses Rätsel knüpft der Autor an die Griphostechnik des theokritschen Syrinxgedichts an. Das mit >Alœ< betitelte Gedicht (Nr. 9), das aus zwei symmetrischen, von rechts nach links zu lesenden figürlichen Textblöcken besteht, die sich zur Mitte hin verjüngen, in der ein Ornament in Blattform piaziert ist (vgl. Abb. 6), feiert nach einem konventionellen Musenanruf den Italiener Neapoleone Comitolo als Zierde seiner Stadt - 1591 wurde er zum Bischof von Perugia geweiht - und preist seinen ruhmvollen Namen. In dem Scholion zu den >FlügelnCantuariensisEcclesiaeinsignia< (Nr. 10)überschriebene Gedicht, welches im Titel auf das ein Christusmonogramm präsentierende Wappen des Erzbistums von Canterbury abhebt, besteht aus Monometern mit katalektischen Jamben. Diese sind, von Bibelstellen flankiert, in den vier Winkeln des Textbildes angeordnet, in dessen Mitte ein X und ein I, Abkürzungen für »Christi«, plaziert sind (vgl. Abb. 7a). Der Text verläuft in Chi-Form, beginnend von dem Versblock links oben über den einen

Neulateinisches Figurengedicht und manieristische Poetik

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Schaft des zentralen X, dem das Wort >Cantate< eingeschrieben ist, zu dem Versblock unten rechts und analog von links unten nach rechts oben; doch sind angesichts der offenen Bauform des Gedichts auch andere Lesefolgen möglich. Wie aus dem Scholion hervorgeht, verweist der linke obere Winkel des Textbildes auf die Gläubigen nach Alter und Geschlecht, der rechte auf die >Ecclesia ChristiPrimas von ganz England< führt - das Amt versieht in dieser Zeit Matthew Parker (1504-1575) - , gehörte als Suffraganbistum auch Winchester, mit dessen College Willis seit seiner frühen Studienzeit eng verbunden ist. Mit >Valetudo seu Pentalpha< betitelt ist ein Pentagramm (Nr. 11), das laut Kommentar diesen Namen trägt, weil die ftlnf verschlungenen Zacken des Pentagons jeweils ein A abbilden (vgl. Abb. 7b). Hier wird auch vermerkt, daß das Pentalpha ein Signum der Pythagoräer gewesen ist, das die Gesundheit (griech. Hygieia) versinnbildlicht und in dieser Funktion als Wunschformel am Beginn von Briefen verbreitet war. Wenn Willis in diesem Kontext den Herrscher Antiochus erwähnt, bezieht er sich auf eine Überlieferung, die Dorothea Forstner wie folgt skizziert: »Es heißt vom Syrerkönig Antiochus Σωτήρ (t 261 v. Chr.), daß Alexander d. Gr. ihm vor einer Schlacht gegen die Galater im Traum erschienen sei und ihm die Weisung gegeben habe, sein Heer mit dem althergebrachten Zeichen >ΤΓΙΕΙΑ< auszurüsten, dessen spitze Winkel in ihrer unlösbaren Verbindung ein fünffaches Alpha bilden. Auch den Münzen dieses Königs war das Pentagramm mit Umschrift eingeprägt.«34 Die Kenntnis des Pentalphas, das auch magische Konnotationen besitzt, wurde Willis vermutlich durch die >Hieroglyphica< des Pierius Valerianus vermittelt.35 Nimmt man zu den drei Großbuchstaben des Mittelteils L. E. T., die Willis auf den Namen des Adressaten (»Lepido Estae meo Tyroni«) bezieht, die vier Buchstaben, die in den Winkeln der Figur lokalisiert sind, mit hinzu, so konstituiert sich nach seiner Aussage folgender asklepiadeischer Vers: »Naman Manna valet nam valet Anna Mna«. Die weitgehende Verselbständigung der poetischen Mittel auf Kosten der

34

35

Vgl. Forstner, Die Welt der Symbole (Anm. 32), S. 70; vgl. auch von Otto Stöber: Drudenfuß-Monographie, Linz 1981. Giovanni Pierio Valeriano: I Ieroglifici, Venedig 1625, S. 633-635 und S. 801.

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Semantik erscheint in diesem dunklen Vers als dezidiert manieristischer Stilzug. Die Reihe der Figurengedichte wird durch eine >Pyramis Inversa< (Nr. 12) fortgesetzt, die wohl auch im Kontext des Sacco di Roma auf den Untergang der Stadt Rom verweist,36 und endlich durch ein Beilgedicht (Nr. 13) beschlossen, das aus symmetrischen, sich zur Mitte verjüngenden und leicht kurvierten Versen besteht (vgl. Abb. 8). Wie der Aussage des Stiels der Doppelaxt zu entnehmen ist, wurde es anläßlich der Rückkehr von Willis' Mäzen Burghley aus Frankreich verfaßt, wo dieser im Konflikt zwischen Spanien und England den Vertrag von Blois mit den Franzosen im Jahre 1572 abgeschlossen hatte. Im Kommentar weist der Autor darauf hin, daß bei seinem >Carmen figuratum< zunächst in toto die Verse der rechten und dann komplett die der linken Schneide gelesen werden müssen, während bei seinem Vorbild, dem Beilgedicht des Simias, die Verse abwechselnd, jeweils von Schneide zu Schneide springend, von außen nach innen zu lesen seien. Während das Beilgedicht des Simias dem Epeios, dem sagenhaften Baumeister des Trojanischen Pferdes, gewidmet ist, preisen die Verse des Willis den Erbauer des Schiffes, das den Mäzen glücklich wieder nach Hause trug, sowie die Axt, die es gezimmert hat. Nach den 12 >Carmina figurata< folgt ein zweiter Komplex, der sich aus 8 Gedichten (Nr. 14-22) zusammensetzt und durch folgendes Statement eingeleitet wird: »Insequentia octo poemata partim ex veterum poetarum monumentis deriuata in noua sese carminum genera induerunt, partim ad veteres poetas imitatione aliqua accedunt.« Bei diesen Gedichten handelt es sich somit um solche, die aus Werken antiker Autoren gewonnen sind und diese entweder gattungsmäßig in neue Formen überführen oder die alten Dichter nur nachahmen. Zu den hier vorgestellten artistischen Formen gehört ein acht Verse umfassender und anläßlich von Mariae Verkündigung am 8. April produzierter Cento (Nr. 14), eine Zitatmontage, rekombiniert aus Drittelversen, Hemistichen und einem ganzen Vers der Eklogen Vergils, wobei Einfügungszeichen interlinear und Stellenangaben marginal verzeichnet sind. Im Kommentar wird auf den spätantiken gal-

36

Vgl. hierzu Ulrich Ernst: Europäische Figurengedichte in Pyramidenform aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Konstruktionsmodelle und Sinnbildfunktionen. Ansätze zu einer Typologie. In: Euphorion 76, 1982, S. 295-360, hier S. 306ff. (Abb. 4, S. 308).

Neulateinisches Figurengedicht und manieristische Poetik

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lischen Dichter Ausonius (310-395)" verwiesen, dessen >Cento nuptialis< als Paradigma der europäischen Cento-Literatur schlechthin gelten darf. Erwähnenswert ist ein weiteres, dem Baron Johannes Russell, Sohn des Grafen von Bedford, gewidmetes Gedicht (Nr. 16), das, >Alterius Poetac artificii Imitatio< betitelt, sich Petrarca zum Vorbild nimmt und eine auf Silben und Buchstaben bezogene Deutung des Adressatennamens formuliert. Namensspiele, Namenstransformationen und Namensetymologien sind integrale Bestandteile visueller bzw. experimenteller Lyrik und markieren in diesem Formverbund häufig einen manieristischen Stilzug, der in seiner elaborierten Form über die usuelle literarische Onomastik hinausgeht. Den dritten Block, der 25 Gedichte (Nr. 23-49) umfaßt, leitet folgende Bemerkung ein: Pluribus verbis explicare viginti quinqué poemata illa quae sequuntur, superuacaneum est, neque vsum habet, nisi millies actum ab alijs agere velim. quidquid meo iudicio parere difficultatem aliquam potuit, illud in margine collustratum apposui. et quidem nuda nomina diuersumque in singulis artificium, quae cuiusque natura sit, facile indicat.

Wie man konstatieren kann, hält es Willis für unnötig, die Gedichte dieser Gruppe näher zu charakterisieren, da andere das schon hinreichend getan hätten. Bei besonderen Schwierigkeiten verspricht er allerdings Erklärungen über Gattungsbezeichnungen und Formstrukturen jeweils vor Ort in einer beigefügten Marginalie. Während es sich bei diesem Komplex im wesentlichen um konventionelle lyrische Genera handelt, die nicht artistisch überstrukturiert oder experimentell ambitioniert sind, ist das folgende Kontingent von Gedichten wieder von Relevanz für die Manierismusforschung. Diese vierte Gruppe wird von 22 Gedichten (Nr. 50-71) gebildet, deren geistvolle Anmut und ästhetische Qualität nach Willis' Meinung in den Buchstabenformationen bestehen: »Aggredior nunc illa poemata quse leporem omnem atque venustatem ex Uteris ipsis trahunt.« Was diese Letterngedichte anbelangt, so sei auf ein aus zwei Distichen bestehendes Gedicht verwiesen, in dem alle Buchstaben des Alphabets versammelt sind (Nr. 50), sowie auf ein >Carmen recurrens< (Nr. 51), das

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Vgl. Wolf-Lüder Liebermann: Artikel >Ausonius, Decimus Magnus Ad Gulielmum fratrem Lusi puer. Expressum initiis carm. nomen< (Nr. 52) mit dem Namen von Willis' Bruder G V L I E L M V S W I L L S als Akrostichon, das dem Verfasser Anlaß gibt, im Scholion seines Lehrers Christopher Johnson (ca. 1536-1597) zu gedenken, unter dessen Anleitung er Plautus' Komödien gelesen habe, deren >Argumenta< mit akrostichischen Titelangaben versehen waren. In das Feld des literarischen Manierismus gehören auch ein Anagrammgedicht (Nr. 53), das den Namen >Gulielmus Sillaresus< in >Ille grvs illaesvs< transformiert, 40 und das schon erwähnte >^Enigma< (Nr. 54), welches wie ein mit den Mitteln der Amphibologie arbeitendes Carmen (Nr. 81) und der zu den Sepulkralgedichten zählende >¿Enos< (Nr. 83) ein Zeugnis für den dunklen Stil ist. Während die moderne Forschung zur visuellen Poesie Gittergedichte als Subgattung des >Carmen figuratum< klassifiziert, 41 werden diese von Willis gegenüber den von ihm so genannten >Figurae< bzw. >Imagines< der Buchstabendichtung zugerechnet. Die sieben Gaben des Heiligen Geistes thematisiert ein aus marginal verzeichneten Bibelzitaten kompiliertes >Carmen cancellatum< mit einem intextuellen Chi-Kreuz (Nr. 56), dessen Balken durch die diagonalen Letternfolgen PNEVMA und S A N C T V M gebildetwerden, wie es im Titel >Litteris per ε π ι φ α ν ε ι α ν mediam transuersim in crvcem positis< bereits programmatisch angezeigt wird (vgl. Abb. 9). Das Gedicht ist dreifach kodiert: textuell, intextuell und ikonisch.

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Vgl. Ernst, Carmen figuratum (Anm. 6), S. 217. Zum Intextbegriff vgl. Ulrich Ernst: Intextualität in der barocken Kasuallyrik. In: Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber (Hg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 325-356. In dem Scholion erwähnt Willis noch ein weiteres Anagramm: »Franciscus Belleforestus«, mutiert in »flos tuos celeber francis«. Der Gelehrte F. Belieferest (1530-1583) hat mehr als 50 Traktate Uber unterschiedliche Themen publiziert. Vgl. Ulrich Ernst: The figured Poem: Towards a Definition of Genre. In: Visible Language XX, 1, 1986, S. 8-28.

Neulateinisches Figurengedicht und manieristische Poetik

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Zu den manieristischen Formen, die dem Figurengedicht nahestehen, zählt auch ein >Carmen hieroglyphicum< (Nr. 58), das aus zwei ikonischen Zeilen besteht, zwischen die als Scharnier eine Textzeile piaziert ist (vgl. Abb. 10). Wie dem Scholion zu entnehmen ist, sind die Tiervignetten der ersten Zeile (»agnus«, »canis«, »ciconia«, »serpens«, »bos«) als Tugendbegriffe (»mansuetudo«, »fides«, »pietas«, »prudentia«, »vires«) aufzulösen, während die der unteren Zeile (»pica« bzw. »corvus«, »hircus«, »asinus«, »erenacius«, »lupus«) Lasterbegriffe (»garrulitas«, »luxus«, »stultitia«, »ira«, »gula«) signifizieren. Das ganze verbale und bildliche Zeichen kombinierende Gedicht besteht demnach, wenn man es sachgerecht dechiffriert, aus einem Hexameter und zwei Pentametern: »Mansuetudo, fides, pietas, prudentia, vires, / Non nocuere tibi, sed nocuere tibi / Garrulitas, luxus, stultitia, ira, gula.« Das ägyptisierende Rebusgedicht des Willis verweist auf eine Blüte des Bilderrätsels in der Frühen Neuzeit 42 und ordnet sich in die manieristische Tradition der RenaissanceHieroglyphik ein, für die so prominente Namen stehen wie Horapollo, Francesco Colonna mit seiner >Hypnerotomachia Poliphili< und Pierius Valerianus mit seinen >HieroglyphicaCarmen cancellatum< (Nr. 59), welches das >Nomen sacrum< IHS mit einem über den Balken des H aufgepflanzten Kreuz als Gitter aufweist (vgl. Abb. 11 ), dem folgende Texte eingeschrieben sind: IESVS (= I) MARIAE (= linker Balken des H) VNIGENITVS (= Kreuz) DEVS (= Querbalken des H) VERVS (= rechter Balken des H) ER HOMO (= S).44 Als Vorbild für diese Art von Gedicht, das hier das

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Vgl. die Untersuchung von Dirk Kampmann: Das Rebusflugblatt. Studien zum Konnex von literarischer Gattung und publizistischem Medium in der frühen Neuzeit, Köln 1993. Zu diesem Komplex vgl. Ludwig Volkmann: Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen, Leipzig 1923, Reprint Nieuwkoop 1969. Im folgenden sei eine Transkription des Basistextes gegeben: »Non auferetvr regium sceptrum sacra / de gente dux nec de femore suo potens / deerit nisi genitus fuerit is quem deus / missurus est atquè ille duodecim timor / tribuum futvrus vera tarnen is gentium / spes vua prçssa tetro Hierosolymae iugo / rosa pura decvs orbis obicem ponet malae / crvci diabolum mvndum et hostes singulos / vi sacrae et amara: suç mortis domans«.

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Wappen der Jesuiten abbildet,45 erwähnt Willis im Scholion Hrabanus Maurus, der zu Anfang des 9. Jahrhunderts einen Zyklus von figurierten Kreuzgedichten verfaßt hat: Mirus in hoc genere fuit Rabanus Abbas Fuldensis, idemque postea Archiepiscopus Moguntinus. plenum profecto labore opus & industria, in quo praeter naturam versus integram, figura perfecta, sententiaque pulchra, imis quasi e visceribus poematis eruta conspicitur.

Mit Intexten ausgestattet ist ein weiteres Gedicht (Nr. 57), das folgende Überschrift trägt: >Comitiis DD. ad D. Stephanum. Expressum primis atquè vltimis versuum litteris sesquicarmen< - möglicherweise ist Johann Stephan von Kronstett gemeint, der zu dieser Zeit Bürgermeister von Frankfurt am Main gewesen ist - und mit einem Akrostichon NOBILE FRANKFVUTVM LAETARE und einem Telestichon ET STEMMATA LVCIDA INDVITO verziert ist. Abschließend seien noch folgende Gattungsparadigmata angeführt, die sich durch Ludizität und Artistik auszeichnen: ein >Carmen concordans< (Nr. 61), das in einer Marginalie definiert wird,46 ein mit dem Namen des Ausonius verknüpftes >Carmen monosyllabicum< (Nr. 66), das an den Versenden nur einsilbige Wörter duldet, die, nach Art eines Telestichons deszendierend gelesen, einen eigenen Intext ergeben, ein >Carmen serpentinum< (Nr. 67), bei dem jeweils der Anfang eines Distichons am Ende wiederholt wird, so daß sich eine schlangenförmige Strukturierung ergibt,47 die an die >Figura serpentinata< der zeitgenössischen Malerei erinnert,48 und schließlich ein Echogedicht (Nr. 69), das sich, das manieristische Spiegelmotiv ins Auditive variierend, 49 nicht der visuellen, sondern der phonetischen Poesie zuordnet. Die fünfte Gruppe, die 11 Gedichte (Nr. 71-81) umfaßt, wird wieder durch ein programmatisches Diktum eingeleitet: »Sequuntur genera quçdam non illepida, si quem linguarum varietas, aut communicatio, aut etiam carmina mixta varijs modis, leporem adferre queant.« Wie zu kon45

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Vgl. Alex Stock: Poetische Dogmatik. Christologie. 2. Schrift und Gesicht, Paderborn 1996, S. 5 Iff. R. Willis erklärt in einer Randglosse diesen Gedichttypus: »Carmen concordane dicitur quando eaedem voces ijsdem in locis carminibus diuersis congruunt«. Vgl. die Randglosse: »Serpentinum dicitur quia reuoluitur eô finis vnde carmen coeperat«. Vgl. Hocke, Die Welt als Labyrinth (Anm. 33), S. 29fT. Vgl. ebd., S. 40f. u. 197ff.

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kludieren ist, handelt es sich um Poeme, die sich durch eine Kombination oder gar Durchmischung verschiedener Sprachen und Lesarten auszeichnen. Diesen ftlr den weitgereisten und vielsprachigen Autor charakteristischen Typus repräsentieren ζ. B. ein Gedicht (Nr. 72) mit demselben Text in verschiedenen Sprachen (Latein, Griechisch, Italienisch, Französisch, Deutsch, Englisch) und ein weiteres, das, nach dem Prinzip der >Linguarum mixtio< (Nr. 74) konzipiert, lateinische und griechische Syntagmata in zwei Distichen kombiniert. Hinzu kommen ein als wortweise zu lesendes Palindrom konstruiertes >Carmen reciprocum< (Nr. 78) - im Kommentar werden zwei Formen unterschieden: entweder bleibt die Semantik bei der Rückwärtslesung im wesentlichen gleich oder es ergibt sich ein gegenteiliger Sinn, bei panegyrischen Gedichten ζ. B. eine Schmähung - und schließlich makkaronische Verse,50 die lateinische und italienische Sprachfetzen amalgamieren (Nr. 79). Die Überführung der Polyglottie in ästhetische Kombinatorik signalisiert einmal mehr, daß der literarische Manierismus ein Nationalliteraturen übergreifendes europäisches Phänomen ist. Die sechste Gruppe bündelt 18 Gedichte (Nr. 82-99), bei denen es sich, wie die Einleitungsphrase »Restant funebria« indiziert, um verschiedene Ausprägungen des Begräbnisgedichtes, ζ. B. >EpicediumElegiaNaeniaEpitaphiumPompa funebrisMemoria< präsentiert. Zwei Gedichte, die mit >Threnus< (Nr. 93) und >Somnium< (Nr. 94) betitelt sind, erhalten ihre tektonische Form durch >Versus intercalares< (Nr. 93 f.), die in der Antike nicht nur in der Bukolik beheimatet sind, sondern auch in den Gittergedichten des Optatianus Porfyrius Verwendung gefunden haben. Zum Typus des unfigurierten Intextgedichts gehört auch ein als Grabepigramm konzipiertes >Numerosum Carmen< (Nr. 99), bei dem die von der normalen Orthographie abweichend großgeschriebenen Buchstaben als römische Ziffern fungieren, die in der Addition die Zahl des Jahres 1572 ergeben, in dem Willis' Bruder verstorben ist.51

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Zur kuriosen Ableitung des Begriffs von dem Zauberer Merlin vgl. R. Willis' Scholion zu Nr. 79: »Genus hoc versuum Itali Macaroneum a Merlino qui sic librum suum inscripsit, nuncupant«. Vgl. das entsprechende Scholion: »NVMEROSVM istud carmen, praeter notationem anni, nempe 1572. quo germanus frater meus obijt, Epitaphij quoquè vice tumulo

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Wie zu resümieren ist, besitzt das 1573 erschienene Werk des Richard Willis mit seiner Trias von Exempla, Traktat und Scholia für den literarischen Manierismus der Frühen Neuzeit große Bedeutung, da hier nicht nur manieristische Exempla der Lyrik vorgeführt werden, sondern auf der Ebene der Theorie auch Instrumente der Rezeptionssteuerung erkennbar sind. Bereits an diesem Werk wird deutlich, daß die Ausdifferenzierung des manieristischen Gattungssystems eine Domäne der neulateinischen Dichtung ist und die Beispielpoetik des Engländers auf diesem Feld eine Pionierleistung darstellt, nachdem die manieristischen Dichtungsformen in der vorangegangenen Poetik Julius Caesar Scaligers noch eher eine marginale Bedeutung besaßen. Während die Poetiken der Frühen Neuzeit zur Exemplifizierung von Gattungen, Schemata und Formen in der Regel Texte von fremden Autoren zitieren, ist Willis das besondere Verdienst zuzuschreiben, daß er seine Paradigmata alle selbst produziert und eine planvolle, wohlgegliederte Gedichtkollektion geschaffen hat. Die Figurengedichte des Willis, die zu den ersten bekannten in England gehören, sind dabei ein eindrucksvolles Zeugnis für die faszinierende Wirkung, die von den griechischen Gattungsmustern ausging, die den Gelehrten Europas nach dem Fall von Byzanz durch Druckausgaben der >Anthologia Graeca< und der griechischen Bukoliker zugänglich wurden. Das >Carmen figuratum< fungiert dabei, wie die ersten zwölf Gedichte des lyrischen Centenars zeigen, die verschiedene Spielarten der Gattung vorführen, als eine Art Leitfossil des literarischen Manierismus. Ein besonderes Kennzeichen ist die Theoriebestimmtheit der manieristischen Lyrik, die einen autoreflexiven Textproduzenten voraussetzt, der sich fortwährend als >Poeta doctus< ausweist. Wenn neuerdings die Kommen· tarbedürftigkeit als wesentliches Merkmal moderner Kunst reklamiert wird,52 so gilt das cum grano salis auch für die manieristische Poesie vergangener Epochen, hat doch schon Optatianus Porfyrius in der christlichen Spätantike seinen Gittergedichten Scholien beigegeben, und Hraba-

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incidi potest; immo vero iam incisum velim. carmen ita explico. M notât 1000. D 500. C 100. L 50. X 10. V 5. I vnum. atqui toto disticho non reperitur M nisi semel. D atquè X nusquàm, C ter, L quinquies, V bis, I duodecies. quç si coniun· gantur notas, significabunt annos 1572«. Zum Formtyp vgl. Veronika Marschall: Das Chronogramm. Eine Studie zu Formen und Funktionen einer literarischen Kunstform, Frankfurt a. M. 1997. Vgl. Wolfgang Max Faust: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart, Köln 21987, S. 118.

Neulateinisches Figurengedicht und manieristische Poetik

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nus Maurus hat im Frühmittelalter seinen figurierten Kreuzgedichten >Declarationes< an die Seite gestellt. Was für den Manierismus neben formalen Qualitäten wie ausgestellter Künstlichkeit und potenzierter Chiffrierung auch charakteristisch ist, nämlich die Internationalität, gilt in hohem Maße ebenfalls für das Werk von Willis, in dem sich nach Ausweis von markierten Intertextualismen und Dedikationsadressen ein Netzwerk europäischer Kontakte und Literaturbeziehungen spiegelt. Während in der Antike die griechischen Technopägnien noch frei von Elementen der Gelegenheitsdichtung waren, zeigen die Widmungen der Gedichte des Willis, die verschiedene Zuordnungen, zum englischen Hof,53 zum universitären Bereich und zum Jesuitenorden, erkennen lassen, eine neue Funktionsbestimmung der Figuralpoesie, die auch für den poetischen Manierismus der Frühen Neuzeit von großem Belang ist. Man wird mit Fug und Recht konstatieren dürfen, daß die artifiziellsten und experimentellsten Kompositionsformen der visuellen Poesie im Rahmen der Kasuallyrik begegnen. Die Figurendichtung des Engländers verrät dabei einerseits eine besondere Affinität zur Heraldik, Emblematik und Renaissance-Hieroglyphik, die auch jede für sich ein eindrucksvolles Beispiel für den Dialog der Künste in der Frühen Neuzeit darstellen, andererseits knüpft sie, die geläufige Zuordnung des literarischen Manierismus zu bestimmten Epochen bestätigend, neben dem Rekurs auf die hellenistischen Dichter an verschiedene Traditionsstränge der lateinischen Literatur an: nach Ausweis der Erwähnungen von Ausonius und Sidonius Apollinaris an die noch paganen Denkformen verpflichtete spätantike Dichtung Galliens, weiterhin, wie die Nennung des Hrabanus Maurus offenbart, an die karolingischen >Carmina figurata.

Abb. 10

lAcob

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Ulrich

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R, W I

L L E

I

I

e*

Abb. 11 (Umfassungslinien der Figur nachtraglich eingefügt.)

Ernst

Wolfgang

Braungart

Manierismus als Selbstbehauptung: Jean Paul*

Jean Pauls stilistische Eigenarten sind augenfällig und oft beschrieben worden. Sie sind der Grund dafür, daß er - seinerzeit viel gelesen, wenngleich doch nicht wirklich ein Erfolgsschriftsteller - heute unter den herausragenden Autoren der Zeit um 1800 der wohl unbekannteste ist. Jean Paul gilt nicht nur als ein schwieriger Autor. Er ist tatsächlich auch einer. Rüdiger Zymner hat jüngst in seinem aus literaturwissenschaftlicher Sicht grundlegenden Manierismus-Buch für diese M a n i e n Jean Pauls energisch noch einmal den Manierismus-Begriff in Anspruch genommen und dabei besonders Formenreichtum, Komplexität (vor allem das Spiel mit Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit), Dunkelheit und Schwierigkeit (im Bereich der Lexik, in der demonstrativen Gelehrsamkeit) hervorgehoben. Dabei stellt er vor allem einen Zusammenhang zwischen Humor und Manierismus her und charakterisiert Jean Pauls Manierismus als eine besonders subjektiv erscheinende Schreibweise. Jean Paul finde »mit seiner Verbindung von Humor und Manierismus doch so etwas wie einen dritten Weg zwischen den Konzeptionen der Klassik und der Romantik als Antwort auf die Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten zeitgenössischer Dichtkunst.«' Für Zymner also ist Manierismus bei Jean Paul - ich bleibe im philosophischästhetischen Diskurs der Zeit um 1800 - eine transzendentalpoetische Kategorie. Sie bedeutet eine permanente Reflexion über Bedingungen der Möglichkeit von Poesie im Medium der Poesie selbst. Meine Überlegungen knüpfen an Zymner an und versuchen nur, den Akzent ein wenig vom Transzendentalpoetischen hin zur Pragmatik des Ästhetischen zu verschieben.

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1

Um Anmerkungen ergänzter Text meines Beitrags zum Kolloquium; die Vortragsform wurde beibehalten. Den Teilnehmern des Kolloquiums und meines Bielefelder Jean Paul-Oberseminars im Winter 1997/98 danke ich herzlich fUr Anregungen und Kritik. Rüdiger Zymner: Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn u. a. 1995, hier S. 256f.

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Wolfgang Braungart

Grundsätzlich ist das manierierte Kunstwerk Ergebnis einer >manierierten< künstlerischen Handlung. Darauf weist schon die Etymologie hin: Manierismus kommt von Manier. Manier (maniera) meint seit der Renaissance - und zunächst ohne kritische Nebenbedeutung - die besondere Eigenart und Gestaltungsweise eines Künstlers, seine individuelle >HandschriftManier< hin. Wir sagen z. B., jemand benehme und verhalte sich manieriert. Am Manierismus läßt sich also exemplarisch untersuchen, wie ästhetische Kategorien als soziale und soziale Kategorien als ästhetische reformuliert werden können. Mir geht es bei einer solchen Perspektivierung nicht um eine funktionalistische Reduktion der Kunst, sondern um die elementare Bedeutung ästhetischer Form. Seine Selberlebensbeschreibung (dieser Titel ist selbst schon eine Demonstration humanistischer Gelehrsamkeit: die Übersetzung von griech. > Autobiographie Selberlebensbeschreibung< als literarische Inszenierung vor einem stets mitgesetzten Publikum. 4 Das Zitat zeigt eindrucksvoll Jean Pauls Lust an der Abschweifung und am >MetaphorisierenKonjektural-Biographie< und >SelberlebensbeschreibungNarrenfreiheit< verstehen - und auch er selbst versteht sie gerade nicht so - , sondern als ästhetische >SelbstbehauptungSiebenkäs< argumentierende Untersuchung von Hans Esselborn: Die Vielfalt der Redeweisen und Stimmen. Jean Pauls erzählerische Modernität. In: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft 26/27, 1991/92, S. 32-66. Eindrucksvoll ist in dieser Hinsicht auch die Analyse von Hendrik Birus: Vergleichung. Goethes Einführung in die Schreibweise Jean Pauls, Stuttgart 1986. Birus untersucht Goethes letzte, knappe Bemerkung Uber Jean Paul im >Westöstlichen Di van < ( 1819), die nun Jean Pauls spezifischer Schreibweise gerechter zu werden versucht. Schon 1814 äußert sich Goethe in einem Brief an Knebel (16.3.1814) zu einem Auszug im >Morgenblatt< aus der zweiten Auflage der >Levana< in Worten, die Jean Pauls Stil jetzt geradezu als Abkehr von allen manieristischen Tendenzen erscheinen lassen: »Eine unglaubliche Reife ist darin zu bewundern. Hier erscheinen seine kühnsten Tugenden, ohne die mindeste Ausartung, große und richtige Umsicht, faßlicher Gang des Vortrage, Reichtum von Gleichnissen und Anspielungen, natürlich fließend, ungesucht, treffend und gehörig und das alles in dem gemütlichsten Elemente. Ich weiß nichts Gutes genug von diesen wenigen Blättern zu sagen und erwarte die neue Levana mit Vergnügen.« Zit. nach Peter Sprengel (Hg.): Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls in Deutschland, München 1980, S. 342; Hervorhebungen von mir. Ebd., S. 97f., wird Goethes >Vergleichung< abgedruckt. Es springt ins Auge, wie Goethe in dieser Bemerkung einige der Topoi

Manierismus als Selbstbehauptung: Jean Paul

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In der Vorrede zur zweiten Auflage des Hesperus (1795; 2 1798) verteidigt Jean Paul ausdrücklich seine »Manier«: Sprachliche Schwächen und Fehler habe er korrigiert; »die Einfälle aber und die poetischen Tulpen hab' ich selten ausgerissen«, weil sie für seinen Roman essentiell sind: »Ich sah, wenn ichs täte, so bliebe vom Buche (weil ich die ganze Manier ausstriche) nicht viel mehr in der Welt als der Einband und das Druckfehler-Verzeichnis.« 16 Hier wird der Zusammenhang von Manier und Manierismus überdeutlich. Jean Pauls manieristische Manier ist für ihn selbst viel mehr als undiszipliniert erscheinende, stilistische Formlosigkeit und insofern auch ethisch problematische Unbeherrschtheit: An ihr und durch sie definiert er sich als Autor, und zwar gerade in Abgrenzung zu anderen Autoren. Sie ist Zentrum seines Schreibens. Darum kann er in dieser Vorrede auch energisch die Architektur seines Romans betonen, die es nicht dulde, daß man »aus dem ersten Stockwerk (oder Heftlein) nur irgendeinen brüchigen Quader ausziehe«, weil sonst »sofort im dritten alles wackelt und herausfällt«. 17 - Ich möchte nur daran erinnern, wie wichtig die Architektur- und Gebäudemetapher in der Geschichte des abendländischen Denkens ist. Sie ist ζ. B. eine Schlüsselmetapher für den philosophischen Rationalismus von Descartes, grundsätzlich für Ordnung und Strukturiertheit. Zur Ikonographie der Wissenschaften gehört es auch, sie in einem Gebäude darzustellen. Wenn Jean Paul diese Metapher aufnimmt, dann heißt das auch: da will sich einer nicht bloß in hemmungsloser Sprachlust ergehen. Wie ernst es Jean Paul mit dieser Metapher ist, sieht man daran, daß er ironisch sein eigenes Werk weit hinter die »neuen Romane« zurücksetzt, die »nicht, wie mein Buch, einem bloßen Haus, sondern einer ganzen Spielstadt aus Nürnberg gleichen«, bei dem die einzelnen Elemente ganz

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zitiert, die auch in der Bewertung des Manierismus bis heute wichtig sind. Der späte Jean Paul erscheint hier als geheilt vom Manierismus seiner frühen Jahre. Aber hat sich Goethe nicht selbst von seinem Klassizismus der neunziger Jahre gelost, der ihn Jean Paul noch harsch kritisieren ließ? Zum Verhältnis Goethes zu Jean Paul vgl. auch die Einleitung Sprengels, ebd., bes. S. XXVIIIff. SW1,1, S. 483; Hervorhebung von mir. Auf diese Stelle geht auch Sprengel (Hg.), Jean Paul im Urteil seiner Kritiker (Anm. 15), in seiner Einleitung ein. SW 1, 1, S. 484; vgl. überhaupt die Überschrift zum Entwurf der Vorrede, ebd., S. 481: >Architektonik und Bauholz fllr die Vorrede zur zweiten Auflage des HesperusVorschule der Ästhetik< entwirft Jean Paul z. B. - gegen Kant und Schiller - ein Konzept des Erhabenen, dem das Lächerliche als konstitutives Komplement an die Seite gestellt ist und das deshalb auch eine Mischung der Gattungen und Formen - des Hohen und des Niederen, des Pathetischen und des Komischen - erfordert. 20

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Ebd. Vgl. etwa Ephrem Holdener: Jean Paul und die Frühromantik. Potenzierung und Parodie in den >FlegeljahrenFlegeljahrenVorschule der Ästhetik< zeigen, wenn Romantiker wie ζ. B. Novalis den poetischen Nihilisten zugerechnet werden, deren Innerlichkeit allen Weltbezug auflöse. Die ästhetische Selbstbehauptung wird bei Jean Paul im ästhetischen Diskurskontext der Zeit um 1800 zugleich und unvermeidlich auch zur sozialen Selbstbehauptung. Die >Selberlebensbeschreibung< legt von diesem konstitutiven sozialen Bezug seines Schreibens ein beredtes Zeugnis ab. So lese ich auch Jean Pauls selbstbewußte Kunst der Selbstverkleinerung: Er will keine Schule der Ästhetik vorlegen, sondern allenfalls eine Korschule, durch die man freilich hindurch muß, sollte es denn je gelingen, in die Schule zu kommen (und Jean Paul läßt keinen Zweifel daran, daß die >Vorschule< die eigentliche Schule ist). Die vermeintliche Willkür und Freiheit dieses Schreibens ist den Schwierigkeiten des eigenen Lebens abgerungen.22 Ich werde diese These jetzt noch kurz mit vier weiteren Überlegungen flankieren, die etwas präzisieren sollen, wie sich mir Jean Pauls Manierismus darstellt. 1. Selbstbehauptung durch Eklektizismus und Synkretismus als Selbstbehauptung in den verschiedenen Diskursen von Kunst, Literatur, Philosophie, Theologie und moderner romantischer Naturwissenschaft um 1800. In Anspielungen, Fußnoten, Parenthesen verwischt Jean Paul die Grenzen zwischen expositorischem und poetischem Text und inszeniert seine Gelehrsamkeit und Belesenheit als witzige und ironisch-geistreiche Manier. Es geht dabei nicht primär um den standesbewußten Anspruch, auch zur res publica litteraria gehören zu wollen. Das gilt etwa noch für

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Vgl. Friedrich Schlegel: Brief über den Roman; der einschlägige Auszug ist abgedruckt bei Sprengel (Hg.), Jean Paul im Urteil seiner Kritiker (Anm. 15), S. 32-35. Das ist eine wichtige Perspektive des Nachworts Ralph-Rainer Wuthenows zur Reclam-Ausgabe der >Selberlebensbeschreibungpoetische Enzyklopädie^ 24 in der ein Subjekt Ordnung schafft nach Prinzipien, die nur es selbst kennt und niemand sonst. Aber so wenig die frühneuzeitliche Kunstkammer nur Ausdruck einer krausen manieristischen Phantasie war, als der sie in der Forschung lange Zeit gegolten hat, sondern räumliches und konzeptionelles Integrationsprinzip aller Wissenschaften und Künste, so wenig ist es Jean Pauls Roman. Die manieristische Schreibweise hat bei Jean Paul auch diesen medienästhetischen Aspekt, wie sich oben schon in der >Selberlebensbeschreibung< gezeigt hat: nicht die Welt als Buch, sondern das Buch als Welt, in dem die Mineralia der Gelehrsamkeit und die Blumen der Poesie gesammelt werden.25 Man braucht sich dazu nur die Zwischentitel z. B. der >Flegeljahre< anzuschauen, in denen Sprachlust und Sammellust zusammenkommen: >BleiglanzKatzensilberTerra Miraculosa SaxoniaeMammutsknochenVogtländischer Marmor< usw. Wie Differenzierung und Prozessualisierung von Kunst und Wissenschaft den barocken Sammlungsraum aufgelöst haben, so verlangt auch der Roman Jean Pauls die Prozessualität der Welterschließung durch einen gutwilligen, mitgehenden Leser. Und deshalb werden eben doch auch sich entwickelnde Geschichten erzählt, nicht nur Welt im Buch beschrieben. Zu diesem Zusammenhang von Manierismus und Dialog mit dem Leser gleich noch etwas genauer. Mörike ist übrigens ein anderer, Jean Paul verwandter Autor, bei dem sich ebenfalls Sprachsammellust und ein grundsätzliches Angelegtund Verwiesensein aufs Gespräch und auf Geselligkeit verbinden, bei ihm nun im Kontext der bürgerlichen Geselligkeitskultur des 19. Jahrhunderts.

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Vgl. Wilfried Barner: Lessing zwischen Bürgerlichkeit und Gelehrtheit. In: Rudolf Vierhaus (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklarung, Heidelberg 1981, S. 165-204. Dazu grundlegend: Wolfgang Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, Tübingen 1975, Teil II, S. 270ff. Außerdem: Gesine Lenore Schiewer: Cognitio symbolica. Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean-Paul und Novalis, Tübingen 1996, S. 223ff. Zur Philosophiegeschichte der Metapher von der >Welt als Buch< vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981.

Manierismus als Selbstbehauptung: Jean Paul

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Eklektizismus und Synkretismus sind, nach der Verabschiedung operativrhetorischer Modelle von Literatur und Kunst, konstitutiv für die Spätaufklärung, aus der Jean Paul kommt. Die jüngere Aufklärungsforschung hat deutlich machen können, wie sehr die Spätaufklärung die verschiedensten Tendenzen, gerade auch magisch-hermetische, alchemistische Traditionen der Naturphilosophie, in sich aufgenommen hat.26 Vermutlich akzentuiert man jedoch falsch, wenn man den Eklektizismus der Spätaufklärung zu entschieden als strategisch gesteuerte Diskursbildung begreift. 27 Denn Eklektizismus ist die lebenspraktisch notwendige Form der Partizipation an verschiedenen, sich überlagernden Diskursen. Wir verhalten uns heute doch nicht anders: Wir partizipieren an vielen Diskursen, je nachdem, was wir brauchen und was wir in unseren Horizont integrieren können. Daß manche wissenschaftliche Forschung seltsam steril erscheinen kann, liegt nicht zuletzt auch daran - Paul Feyerabend hat immer wieder darauf hingewiesen - , daß sie streng und methodisch kontrolliert nur einer Diskurslinie zu folgen beansprucht. Mit den für Aufklärung einerseits, Romantik andererseits basalen ästhetischen Kategorien von Witz und Ironie piaziert sich Jean Paul genau und bewußt zwischen den Diskursen als ein ständiger und nicht festlegbarer Grenzgänger zwischen Poesie und Ästhetik bzw. Poetik. 2. Selbstbehauptung durch Unverständlichkeit:1* Der Roman ist im 18. Jahrhundert noch eine, ja vielleicht die experimentelle literarische Gattung, wie Sternes >Tristram ShandyWerther< oder Hölderlins >Hyperion< zeigen. Bei Jean Paul unter-

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27

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Vgl. etwa Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde., Tübingen 1981 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 64 u. 65); zu Jean Paul: Götz Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, Tübingen 1983. Vgl. jetzt Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997, S. 205ff.; dort weitere Literatur zum Problem. Zur Theoriegeschichte moderner Unverständlichkeit vgl. die Bielefelder Dissertation von Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Zur Problematisierung von Lesen und Verstehen bei Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida und Paul de Man, Diss. Universität Bielefeld 1996, demnächst gedruckt: Frankfurt a. M. 2000.

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Wolfgang Braungart

scheidet sich die Schreibweise seines wichtigsten diskursiven Textes, der > Vorschule der ÄsthetikVorschule der ÄsthetikVorschule< mehrfach. Die Antike war die Zeit der »Vollkommenheit«, die Moderne - »unsere kritischen Tage« - ist eine »kranke Zeit«,36 geprägt von der »Willkür des jetzigen Zeitgeistes - der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um sich nur im freien Spiel-Raum im Nichts auszuleeren«, der »Willkür der Ichsucht«.37 So erscheint die Selbstreflexivität manieristischen Schreibens bei Jean Paul zugleich als kulturelle Reflexivität. Das, was die Manierismus-Forschung kulturkritisch an manieristischer Kunst betont hat, sie sei eine Erscheinung kulturellen Niedergangs, wird vom Manieristen Jean Paul selbst in Anspruch genommen. Der manieristische Roman, der eine eigene Welt schafft »nach dem allgemeinen Verluste des Himmels bei einer hinzutretenden Einbuße der Erde«, wird zum melancholischen Trostbüchlein für die der Transzendenz beraubte Seele. »Wo einer Zeit Gott, wie die Sonne, untergehet; da tritt bald darauf auch die Welt in das Dunkel«. 38 Dieses »nihilistische Experiment« (Kurt Wölfel) hat Jean Paul durchgespielt. Aus ihm bezieht er seine Emphase für die Poesie. Jean Paul steht am Beginn einer neuen therapeutischen Besetzung von Literatur, und zwar gerade der in diesem Sinne nun tatsächlich autonom gewordenen Literatur. Subjektivität ohne Subjekt soll deshalb auch heißen: Das Subjekt schreibt ohne ein erkennbares, es ganz und gar übersteigendes Gegenüber, von dem aus es sich definieren könnte durch Unterscheidung und durch das es definiert würde. So beginnt es zu reden, mit sich selbst und den andern, den Lesern und Kritikern, denen es eigentlich nicht anders ergeht. Es ist auf das Gespräch verwiesen, in dem es sich erst - und stets

34 35 36 37 38

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.

S. S. S. S.

401. 87. 25. 31.

Manierismus als Selbstbehauptung: Jean Paul

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neu - konstituiert, »da der Verfasser dieses«, so Jean Paul in der Vorrede zur ersten Auflage der >Vorschule der ÄsthetikVorschule< auch bezieht. Eklektizismus und Synkretismus seines Manierismus eröffnen ein kommunikatives und prozessuales Verständnis von Kunst. Ich komme damit noch ganz kurz zu einer letzten Überlegung: 4. Gespräch und Selbstgespräch: Rüdiger Zymner hat gezeigt, wie sehr die manieristische Kunst und Schreibweise als eine Herausforderung an den Betrachter bzw. Leser zu verstehen ist. Sie provoziert ihn durch die Artistik ihrer Darstellung; er soll auf eben diese Artistik aufmerksam werden und auf sie reagieren. Ich stimme dem völlig zu und möchte nur ergänzen, daß dies für alle herausfordernde Darstellung gilt, nicht nur in der Kunst, sondern auch im sozialen Leben. An der Bedeutung des ästhetisch-sozialen Modells des Gesprächs wird die Bedeutung der ästhetischen Pragmatik für Jean Paul vielleicht am deutlichsten. Im Unterschied aber zur aufklärerischen Geselligkeitskonzeption und zum hermeneutischen Modell des Gesprächs in der Theoriegeschichte der Hermeneutik geht es Jean Paul nicht primär um ein emphatisches, wechselseitiges Sich-Verstehen, sondern um die Gemeinsamkeit im Vollzug und Nachvollzug des ästhetischen Vergnügens. Nie darf das ästhetische »Scheinen« des Autors in seinem Werk »zum Sein« gemacht werden. 40 Die Vorrede zur zweiten Auflage des >Hesperus< ist ein fortwährendes Selbstgespräch des Autors, der seinen »Entwurf der gegenwärtigen Vorrede« in einem Wechsel von Selbstzitat und Kommentar präsentiert.41 Dieser Entwurf enthält Anweisungen, wie eine richtige Vorrede auszusehen habe: »Mache sie aber kurz, da der Welt der Gang durch zwei

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Ebd., S. 26. Ebd., S. 133. Vgl. auch Kurt Wölfel: Zwei Studien über Jean Paul. I.: Über die schwierige Geburt des Gesprächs aus dem Geist der Schrift. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 15, 1980, S. 7-27. Die von Wölfel bei Jean Paul auf der Ebene der Romane beobachtete >Geringschätzung< des »humanen Bildungswert[s] der >Gesprächskultur< der höfisch-aristokratischen Gesellschaft« (ebd., S. 27) schließt gesellige Momente in der hermeneutischen Situation m. E. aber nicht aus.

322

Wolfgang Braungart

Vorzimmer in die Passagierstube des Buchs ohnehin lang wird - Scherz' anfangs - Selten schiebt einer auf der literarischen Kegelbahn alle neun Musen - Der Schluß aus der Reflexion - Bringe viele Ähnlichkeiten zwischen dem Titel Hesperus und dem Abendsterne oder der Venus heraus, [...] - Sei ein Fuchs und streichle die kritischen Billard-Markörs, welche Verlust und Gewinn ansagen.«42 Jean Paul ruft sich die rhetorische brevitas in Erinnerung und den Topos ex nomine, um schließlich zu bekennen: »Letztes«, also die letzte Anweisung an sich selbst, »versteh' ich selber nicht, weil der Entwurf schon im Winter geschrieben wurde.«43 Poetische Rede ist zugleich immer poetische Rede über poetische Rede. Manierismus wird so zum autokommunikativen Akt in Permanenz. So gesehen, hätte die Moderne eine grundsätzliche Tendenz zum Manierismus.

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SWI, 1,S. 481. Ebd.

Axel

Dunker

Artistische Erkenntnis. (Sprach-)Alchimie und Manierismus in der Romantik

Gustav René Hockes - euphemistisch gesprochen: bis heute umstrittener - Band >Manierismus in der LiteraturSprach-Alchimie und esoterische KombinationskunstAlchimie du Verbei.2

Als Beispiele dafür nennt Hocke dort »das spezifische magisch-alchimistische Analogie-Denken der Renaissance«, das seine »ästhetische Entsprechung in den >Correspondencias< der >Concettu der SHAKESPEAREZeit, dann wieder im romantischen«- und hier möchte ich einhaken - , »im >magischen Idealismus< NOVALIS' und anderer Romantiker« 3 finde. Dem soll hier für die deutsche Romantik noch einmal nachgegangen werden. Ist »Alchimie«, so wie Hocke diesen Begriff für Novalis verwendet, mehr als eine Metapher? Was hat es bei Novalis mit einer möglichen Konfrontation des »Berechenbaren der Künstlichkeit« auf der einen und des »Unberechenbaren des Phantastikon« auf der anderen Seite auf sich? Sind die bei Novalis gemachten Beobachtungen für die deutsche Romantik zu verallgemeinern? Handelt es sich dabei überhaupt um Verfahren, die sinnvoll als Manierismus zu bezeichnen sind? Im Begriff der Rimbaudschen »Alchimie du Verbe« 4 deutet sich schon an, daß uns im Novalis-

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Gustav René Hocke: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie terische Kombinationskunst. Beiträge zur vergleichenden europäischen geschichte, Hamburg 6 1978 (1. Auflage 1959). Ebd., S. 20. Ebd., S. 124. Vgl. den Abschnitt >Délires II. Alchimie du Verbe< aus >Une Saison (Arthur Rimbaud: Sämtliche Dichtungen. Französisch und Deutsch. Hg. tragen von Walter Küchler, Heidelberg 6 1982, S. 298).

und esoLiteratur-

en Enfer< und über-

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Axel Dunker

Bild des »manieristisch das Irrationale kalkulierenden Mystikers« zumindest zu weiten Teilen ein »Erzeugnis der Wirkungsgeschichte« vorliegt.5 Nach Rüdiger Zymners Definition, die ich hier noch einmal wiederholen möchte - »literarischer Manierismus< ist eine globale Schreibweise mit der Funktion, bei gewahrter konventioneller Basis poetische Artistik auf der Bedeutungsebene und/oder der Ausdrucksebene eines Textes vorzuführen und dadurch eine Rezipientenreaktion auf diese Artistik herauszufordern« 6 - , erscheint die Anwendung der ManierismusKategorie fraglich. Zymner erklärt denn auch kategorisch: Manierismus »finde[t] sich in romantischen Erzähltexten nicht«.7 Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich zunächst Novalis' Lehrlinge zu Sais< auf magisch-alchimistische Implemente befragen und diese dann mit alchimistischen Konnotationen der späteren Romantik konfrontieren, d. h. mit Texten von E. T. A. Hoffmann und Achim von Arnim.

I. Novalis und die >Lehrlinge zu Sais< Es ist bekannt, daß sich Novalis im Rahmen seiner breiten naturwissenschaftlichen Studien8 auch eingehend mit dem Schrifttum der Alchimie beschäftigt hat. Am 26. Dezember 1797 schreibt er in einem Brief an Friedrich Schlegel: »Daß wir uns sehn könnten! Meine und Deine Papiere gegen einander auszuwechseln! Du würdest viel Theosophie und Alchymie finden.«9

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9

Hermann Kurzke: Die Wende von der Frühromantik zur Spätromantik. Fragen und Thesen. In: Athenäum 2, 1992, S. 165-178, hier S. 168. Rüdiger Zymner: Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn 1995, S. 65; s. auch Zymners Aufsatz in diesem Band. Ebd., S. 255. Vgl. dazu Peter Kapitza: Die frühromantische Theorie der Mischung. Über den Zusammenhang von romantischer Dichtungstheorie und zeitgenössischer Chemie, München 1968; Erk F. Hansen: Wissenschaftswahrnehmung und -umsetzung im Kontext der deutschen Frühromantik. Zeitgenossische Naturwissenschaft und Philosophie im Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis), Frankfurt a. M. u. a. 1992. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von HansJoachim Mähl und Richard Samuel, München 1978, Bd. 1, S. 652.

(Sprach-)Alchimie und Manierismus in der Romantik

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In den sogenannten >Logologischen Fragmenten< von 1798, einem Prospekt der »Philosophie, die da kommen soll«, werden Ergebnisse dieser Lektüre sichtbar. Novalis stellt eine Abfolge der Kulturentwicklung in drei Stufen auf. Auf der ersten stehen sich der »rohe, discursive Denker«,10 den Novalis als Scholastiker bezeichnet, und der »rohe, intuitive Dichter«11 gegenüber. Auf der zweiten Stufe der Kultur »fangen sich an diese Massen zu berühren«.12 »Wenn von Einer Seite Scholastiker und Alchymisten gänzlich gespalten, hingegen die Eklektiker Eins zu seyn scheinen, so ist doch auf dem Revers alles gerade umgekehrt.«13 Die Alchymisten sind hier schon mit dem »rohe[n], intuitive[n] Dichter« identisch: »Er ist ein mystischer Macrolog. Er haßt Regel, und feste Gestalt. Ein wildes, gewaltthätiges Leben herrscht in der Natur - Alles ist belebt. Kein Gesetz - Willkühr und Wunder überall.«14 »Jene« (also Scholastiker und Alchymisten) »sind im Wesentlichen indirecte Eines Sinns - nemlich über die absolute Unabhängigkeit und unendliche Tendenz der Meditation - Sie gehn beyde vom Absoluten aus«.15 Auf der dritten Stufe erscheint dann der Künstler, der » Werckzeug und Genie zugleich«16 ist. In ihm »entsteht jene lebendige Reflexion, die sich bey sorgfältigefr] Pflege nachher zu einem unendlich gestalteten geistigen Universo von selbst ausdehnt«.17 Die Alchimie, soviel scheint klar, steht für eine der Seiten des Künstlers, allerdings für eine ganz entscheidende: die Tendenz zum Unendlichen. Im gleichen Jahr 1798, genauer gesagt am 11. Mai, entsteht ein poetischer Text zu diesem Thema, ein Gedicht - von den Herausgebern mit >Kenne dich selbst< überschrieben - , das sich in alchimistischer Metaphorik ergeht: Eins nur ist, was der Mensch zu allen Zeiten gesucht hat; Ueberall, bald auf den Höhn, bald in dem Tiefsten der W e l t -

10 11 12 13 14 15 16 17

Novalis, Werke (Anm. 9), Bd. II, S. 314. Ebd. Ebd., S. 315. Ebd. Ebd., S. 314f. Ebd., S. 315. Ebd. Ebd., S. 316.

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Unter verschiedenen Namen - umsonst - es versteckte sich immer, Immer empfand er es noch - dennoch erfaßt er es nie. Langst schon fand sich ein Mann, der den Kindern in freundlichen Mythen Weg und Schlüssel verrieth zu des Verborgenen Schloß. Wenige deuteten sich die leichte Chiffre der Lösung, Aber die wenigen auch waren nun Meister des Ziels. Lange Zeiten verflossen - der Irrthum schärfte den Sinn uns Daß uns der Mythus selbst nicht mehr die Wahrheit verbarg. Glücklich, wer weise geworden und nicht die Welt mehr durchgrübelt, Wer von sich selber den Stein ewiger Weisheit begehrt. Nur der vernünftige Mensch ist der ächte Adept - er verwandelt Alles in Leben und Gold - braucht Elixire nicht mehr. In ihm dampfet der heilige Kolben - der König ist in ihm Delphos auch und er faßt endlich das: Kenne dich selbst." Am gleichen Tag schreibt Novalis aus Freiberg, wo er sich an der Bergakademie aufhält, in einem Brief wiederum an Friedrich Schlegel: Eine Idee such ich jezt zu bearbeiten, auf deren Fund ich beynah stolz bin. Sobald etwas davon verständlich ist, so sollst Du gleich Nachricht davon erhalten. Mir scheint es eine sehr große, sehr fruchtbare Idee, die einen Lichtstrahl der höchsten Intensitaet auf das Fichtische System wirft - eine practische Idee. Du verzeihst, daß ich Deine Neugierde spanne, ohne Sie zu befriedigen - Wahrhaft befriedigen kann ich Sie noch nicht und doch muß ich Dir meine Freude mittheilen - da es nichts minder betrift, als die mögliche, evidente Realisining der kühnsten Wünsche und Ahndungen jeder Zeit - auf die analogste, begreiflichste Art von der Welt.19 Das Freiberger Gedicht vom gleichen Tag muß wohl als ein Versuch betrachtet werden, diese »practische Idee°°« poetisch zu fassen. Novalis bedient sich darin alchimistischer Metaphorik und Begrifflichkeit: der »Stein ewiger Weisheit«, sicher identisch mit dem Stein der Weisen der Alchimisten, das Wort »Adept« für die in die hermetische Geheimwissenschaft Eingeweihten, das Elixier, das alles in Gold verwandelt oder ewiges Leben spendet, und der Kolben, der Alchimisten-Tiegel, in dem das Gesuchte erscheinen muß - das Wort »König«, das Novalis benutzt, ist eines der unendlich vielen Deckwörter für Gold als oberstes Prinzip sowohl der praktischen als auch der theoretischen Alchimie. Jedoch wird all das distanziert - »Nur der vernünftige Mensch ist der ächte Adept«. Ähnlich wie im sogenannten Ältesten Systemprogramm des

18

"

Novalis, Werke (Anm. 9), Bd. I, S. 127. Ebd., S. 664.

(Sprach-)Alchimie und Manierismus in der Romantik

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deutschen Idealismus Hegels, Hölderlins und Schellings und in Friedrich Schlegels Konzept einer Neuen Mythologie20 finden wir hier eine >Myfilologie der Vernunft, die wohl auch hier, wie in den beiden genannten Fällen, auf einen ästhetischen Akt verweist. Das alchimistische Instrumentarium wird ersetzt durch das >Innere< des Menschen, die Apparaturen der praktischen Alchimie durch Metaphorik. Das scheint gegenüber dem Ostern 1798 im Athenäum erschienenen, aber schon 1797 verfaßten berühmten >BlüthenstaubNaturromans< >Die Lehrlinge zu SaisDer Lehrlingprima materia< zurückführen sollte, die Grundund Ausgangsstoff für alle Stadien des Großen Werks darstellte. Der Mensch und seine Sinne sind bei Novalis darin einbezogen. Es gilt, die »große Chiffernschrift« 23 der Natur zu erkennen. Die »mannigfachen Wege der Menschen«24 sind Teil dieser Schrift, in ihnen wird eine Mitteilung vermutet, zu der kein Schlüssel - mehr - existiert:

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Vgl. dazu Karl Heinz Bohrer: Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie. In: Ders. (Hg.): Mythos und Moderne, Frankfurt a. M. 1983, S. 52-82. Novalis, Werke (Anm. 9), Bd. II, S. 233. Novalis, Werke (Anm. 9), Bd. I, S. 201. Ebd. Ebd.

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Alles, was wir erfahren ist eine Mittheilung. So ist die Welt in der That eine Mittheilung - Offenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. Der Sinn der Welt ist verlohren gegangen. Wir sind beym Buchstaben stehn geblieben. 23

Die Alchimie mit ihren Zeichen- und Symbolsystemen ist Teil dieser Chiffernschrift. Der Verweis auf die Alchimie über den Begriff >Alkahest< deutet darauf hin, daß der Mensch selbst Teil dieses Zeichensystems ist, ein Teil, der sich selbst nicht mehr versteht. Die Frage, ob diese Schrift eine Mitteilung enthält, ob die »sonderbaren Conjuncturen des Zufalls« 26 auf Bedeutsamkeit verweisen, kann in diesem Stadium nicht beantwortet, nur >geahndet< werden. Die alchimistische Begrifflichkeit als Chiffre für >Unendlichkeit< (>Logologische Fragmented ist Teil der allgemeinen Chiffrierung von Welt. Der Alkahest, der die Sinne des Menschen auflöst und verflüssigt, sie in die allgemeine prima materia eingehen läßt, hebt ein weiteres Mal die Trennung von Mensch und Welt, von Individuum und Kosmos, von Mikro- und Makrokosmos auf. (Hier deutet sich die Frage an, ob das alchimistische Denksystem, nach dem erst alles in den Urzustand der prima materia zurückgeführt werden muß, mit Hardenbergs triadischem Geschichtsmodell kompatibel ist. Liegen Goldenes Zeitalter, Urzustand und prima materia auf einer Linie?)27 Der Mensch als Teil der Chiffernschrift, des zu Erkennenden, der in engem Zusammenhang mit der gesamten Natur steht, wofür die alchimistische Metaphorik des Gedichts >Kenne dich selbst< eintritt - das entspricht dem alchimistischen Gedanken der universellen Sympathien So wie Mikro- und Makrokosmos einander entsprechen, so entsprechen sich die Vorgänge, die während des alchimistischen Experiments im Tiegel des Alchimisten erscheinen, und die im Inneren des Experimentators. Die universelle Sympathie ist mithin ein Modell für den engen Konnex des Subjekts mit der Natur, dem auch die Darstellungsweise der >Lehrlinge< -

25 26 27

Novalis, Werke (Anm. 9), Bd. II, S. 383 (Vorarbeiten 1798). Novalis, Werke (Anm. 9), Bd. I, S. 201. Ulrich Gaier löst dieses Problem in seinem immer noch grundlegenden Buch >Krumme Regel< durch seine Gleichsetzung des Alkahest mit dem Verschleiernden des Schleiers der Isis, von der die Sinne befreit werden müssen, durch den plausiblen Rückgriff auf Franz von Baaders >Bey träge zur Elementar-Phisiologie< nicht ganz auf (Ulrich Gaier: Krumme Regel. Novalis' >Konstruktionslehre des schaffenden Geistes< und ihre Tradition, Tübingen 1970, S. 85).

(Sprach-)Alchimie und Manierismus in der Romantik

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die indirekte symbolische Darstellung des Inneren durch das Äußere und umgekehrt (Gaier) - entspricht. Die Alchimie ist als symbolisches ein Zeichensystem, dessen Besonderheiten Umberto Eco in seinem Buch über die >Grenzen der Interpretation< beschreibt. Eco sprichthier vom Phänomen der »hermetischen Semiose«, zu der der alchimistische Diskurs gehöre: - er beruht nicht nur auf der Vorstellung von der Sympathie und der universellen Ähnlichkeit, sondern Uberträgt dieses Prinzip auf die verbale und visuelle Sprache, indem er behauptet, jedes Wort und jedes Bild habe die Bedeutung vieler anderer; - auf der Grundlage dieses Prinzips läßt er es auf der Suche nach einem Geheimnis, das stets verheißen und nie erreicht wird, zu einem ständigen Entgleiten seines Sinnes kommen. Dieses Geheimnis ist natürlich das Geheimnis der Alchimie, aber nur insofern es von den vorhergehenden Texten verheißen und nicht eingelöst wurde. 28

Beim Ablauf dieser >hermetischen Semiose< kommt es zu einem Prozeß, »bei dem man bis ins Unendliche von Symbol zu Symbol fortschreitet, ohne jemals die Reihe von Gegenständen oder Vorgängen identifizieren zu können, deren Geheimnis man angeblich enthüllt«. 2 ' Hockes »Unberechenbares« 30 der manieristischen Schreibkunst ist als Sprach-Alchimie dann viel weniger dem »Phantastikon« als den Besonderheiten des alchimistischen Zeichensystems geschuldet. Novalis' Interesse am »Unendlichen« korrespondiert, so sieht es in diesem Licht aus, mit dem Prinzip der hermetischen Semiose der alchimistischen Schriften, die ein Geheimnis ankündigen, es aber gleichzeitig ins Unendliche verschieben. Die ungeheure Aura dieses Geheimnisses - fast ist man versucht, mit Benjamin zu sagen, ihre »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«31 - hat hierin ihren Grund. In den >Lehrlingen zu Sais< erscheint die Alchimie, wie in den >Logologischen Fragmenten^ dennoch nur als ein Vorläufer-Modell, über das hinausgegangen werden muß. Das unendlich hinausgeschobene Geheim-

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Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. Aus dem Italienischen von Günter Memmert, München - Wien 1992, S. 104. Ebd., S. 116. Hocke, Manierismus (Anm. 1), S. 20. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, Bd. 1, S. 479 (Hervorhebung von mir, A. D.).

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nis der Alchimie verheißt doch immer ein letztlich erscheinendes Geheimnis, die Offenbarung der Welt- und Naturzusammenhänge in dem Stoff, der im Tiegel erscheint; praktische und symbolische Alchimie gehören zusammen. Novalis geht über diese utopische Komponente der Alchimie noch hinaus:32 Es ist das Subjekt selbst, das als Geheimnis vor sich selbst erscheint - »Einem gelang es - er hob den Schleyer der Göttin zu Saïs Aber was sah er? Er sah - Wunder des Wunders - Sich selbst«.33 Dieses Selbst ist ein symbolisch gewordenes Selbst, das die unendliche Projektion des Alchimisten, der im Tiegel alles mögliche zu erblicken meint, aber letztlich immer nur das sieht, was er sich wünscht, nur potenziert. Das Selbst wird als Geheimnis zu einem Selbst im Quadrat, so wie nach Eco der alchimistische Diskurs ein »Diskurs im Quadrat« ist, »Diskurs der Alchimie über die alchimistischen Diskurse«.34 Der »vernünftige Mensch«, in dem »der heilige Kolben dampfet«, ist daher der Dichter (der die Diskurse schafft). »Nur Dichter sollten mit dem Flüssigen umgehn, und von ihm der glühenden Jugend erzählen dürfen«. 35 Der Dichter ist also derjenige, d e r - im Gegensatz zu den »todte[n] Menschen [...], als die Scheidekünstler zu seyn pflegen« 36 - das Geheimnis symbolisch ausdrücken kann, wobei die Vokabel »glühend« nach wie vor auf den alchimistischen Prozeß verweist. Die erotischen Konnotationen der Alchimie werden noch verstärkt - im Märchen von Hyazinth und Rosenblüthchen ist es die Frau, die dem Suchenden beim Heben des Schleiers in die Arme sinkt. Es ist dies eine andere, gleichsam höhere Art von chymischer Hochzeit, bei der sich alles offenbart, aber wiederum nur symbolisch; deshalb finden wir in den >Lehrlingen< konsequenterweise auch die Märchenform.

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Zum Verhältnis von Alchimie und Utopie im 18. Jahrhundert vgl. Rudolf Schlögl: Alchemie und Avantgarde. Das Praktischwerden der Utopie bei Rosenkreuzern und Freimaurern. In: Monika Neugebauer-Wölk u. Richard Saage (Hg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution, Tübingen 1996 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, Bd. 4), S. 117-142. Zur Stilisierung von Hölderlins >Hyperion< zu dem Buch der Natur durch den Traditionszusammenhang von Alchimie und Hermetik vgl. Artur R. Boelderl: Alchimie, Postmoderne und der arme Hölderlin. Drei Studien zur philosophischen Hermetik, Wien 1995, S. 61-84. Novalis, Werke (Anm. 9), Bd. I, S. 234 (Mai 1798). Eco, Grenzen der Interpretation (Anm. 28), S. 103. Novalis, Werke (Anm. 9), Bd. I, S. 228f. Ebd., S. 228.

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Der Fragment-Charakter des ganzen Textes verweist natürlich auch hier auf die Unendlichkeit, die im geschlossenen Werk nicht zu erreichen ist. Es scheint mir also die auf Unendlichkeit verweisende Tendenz der Alchimie zu sein, die als Chiffre für Unendlichkeit aus der Alchimie entnommen, nun aber dem Dichter zugesprochen wird, wobei die alchimistische Bildlichkeit erhalten bleibt, aber transformiert wird auf das romantische Subjekt. Das für Novalis Entscheidende sind nicht die Metaphorik oder alchimistische Konnotationen als solche, weniger auch die naturwissenschaftlichen oder magisch-hermetischen Zusammenhänge, sondern die Semiosis, die aber in Dienst genommen wird für Offenbarung. Mit Hockes Manierismus-Definition hat das, wie eben schon bemerkt, nur bedingt etwas zu tun, mit Zymners - gar nichts. Hocke spricht neben Novalis nur vage von »andere[n] Romantiker^]«. 37 Wenn wir bei unserem Probierfeld >Alchimie< bleiben, so begegnen wir ihm vor allem bei einigen späteren Romantikern.

II. E.T.A. Hoffmann: >Der Sandmann< In E.T.A. Hoffmanns 1815 entstandener Erzählung >Der Sandmann< aus den >Nachtstücken< spielen Experimente, die von einer Figur des Textes als »alchymistisch«38 bezeichnet werden, die entscheidende Rolle auf dem Weg der Hauptfigur Nathanael in Wahnsinn und Tod. Nicht mehr die Verheißung der Erkenntnis von Natur und Subjekt wird hier an die Alchimie geknüpft, sondern der »erstickende Dampf«,3® der bei den Versuchen entsteht, legt sich wie ein Schleier zwischen Nathanael und die Wirklichkeit - ein Schleier, der nur durch ein Perspektiv, das der Wetterglashändler Coppola ihm verkauft, - scheinbar - durchdrungen wird. Der Blick durch das Glas offenbart Nathanael die Professorentochter Olimpia als Frau von strahlender Schönheit und großem Tiefsinn. Olimpia aber ist ein Automat. Nathanael selbst beschreibt seine Gefühle zu Olimpia wie folgt:

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Hocke, Manierismus (Anm. 1), S. 124. E.T.A. Hofimann: Der Sandmann. In: Ders. : Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Hartmut Steinecke u. Gerhard Allroggen, Frankfurt a. M. 1985, Bd. 3, S. 11-49, hier S. 21. Ebd., S. 19.

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Sie spricht wenig Worte, das ist wahr; aber diese wenigen Worte erscheinen als echte Hieroglyphe der innern Welt voll Liebe und hoher Erkenntnis des geistigen Lebens in der Anschauung des ewigen Jenseits.40

Olimpia aber spricht keine anderen Worte als »Ach, Ach!« und »Gute Nacht, mein Lieber!«41 Der Tiefsinn ist nur die Projektion Nathanaels, der in sein Gegenüber das hineinspiegelt, was der Alchimist im Tiegel zu erkennen vermeint. Die Metapher der »echten Hieroglyphe der innern Welt« kann bei Hoffmann nur noch als Parodie gelesen werden;42 die Erkenntnisansprüche und -Verheißungen der Frühromantik sind einem Spiel mit Leitmotiven - im >Sandmann< u. a. das alchimistische Feuer gewichen. Die Literatur wird selbstbezüglich und ruft dazu auf, alles, was nach tieferer Bedeutung, Offenbarung und Erkenntnis aussieht, zu verdächtigen. Eine Figur des Textes, »Professor der Poesie und Beredsamkeit«, sagt, nachdem er seine Schnupftabaksdose zugeklappt hat, feierlich: »Das Ganze ist eine Allegorie - eine fortgeführte Metapher! - Sie verstehen mich! - Sapienti sat!«43 Der Text weist selbst ironisch auf seine Künstlichkeit, seine Gemachtheit hin, die eine >Metapher fortfUhrtMetapher< oder >Allegorie< vorführt. Hockes Definition der manieristischen, sprach-alchimistischen Schreibweise ist so nur zu distanzieren - Zymners Definition dagegen scheint mir nun plötzlich relevant zu werden: Auf der Basis einer konventionellen >unheimlichen< Geschichte wird Artistik vorgeführt, Artistik in der Behandlung von Leitmotiven, fortgeführten Metaphern und Metonymien (die Verknüpfung von Auge - Brille - Perspektiv).44 Setzt sich bei Novalis das imaginative Ich im (postulierten) Dechiffrieren der Zeichen

40 41 42

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Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Vgl. dazu Johannes Harnischfeger: Die Hieroglyphen der inneren Welt. Romantikkritik bei E.T.A. Hoffmann, Wiesbaden 1988; Margarete Kohlenbach: Women and Artists: E.T.A. Hoffmann's Implicit Critique of Early Romanticism. In: Modern Language Review 89, 1994, S. 659-673. Hoffmann, Sandmann (Anm. 38), S. 46. Vgl. dazu Manfred Frank: Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext. In: Ders. (Hg.): Das kalte Herz. Texte der Romantik, Frankfurt a. M. 3 1984, S. 253-387, hier S. 353f.

(Sprach-)Alchimie und Manierismus in der Romantik

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der Welt emphatisch selbst (>LehrlingeDie drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färben und >Die Kirchenordnung
Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färben aus der >Novellensammlung von 1812alchimistische< Künstler vorgefundene Materialien - historische und literarische Quellen, Handlungsstränge, Stoffmuster, Topoi etc. - , die er ohne Rücksicht auf ihre Herkunft neu zusammenfügt, anders gesagt: sie transmutiert.45 In diesem Zusammenhang gewinnt es eine besondere Bedeutung, wenn die Hauptfigur, der Färber Golno, kurz bevor er von Jacob Gundling in die Geheimnisse der Alchimie eingeführt wird und nachdem er selbst mehrere Erhitzungen und damit Transmutationsstufen durchlaufen hat, äußert: »ich werde mit Dir zum Kinde, und kenne mich selbst nicht mehr.«46 Der ProtoKünstler und -Alchimist Golno kommt gerade nicht zu Selbsterkenntnis, wie es Novalis im >Kenne dich selbst< proklamiert, sondern er ist der Fremdheit des Materials ausgeliefert; die Zusammenhänge (im Sinne von Kontexten), in denen seine Diskurse sich bewegen, bleiben ihm unbekannt - mit erheblichen Konsequenzen für die Subjektkonstitution.

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Vgl. dazu Axel Dunker / Annette Lindemann: Achim von Arnim und die Auflösung des Künstler-Subjekts. Alchimistische und ästhetische Zeichensysteme in der Erzählung »Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112, Sonderheft Neue Arbeiten zur Romantik, 1993, S. 65-78. Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Sämtliche Erzählungen 1802-1817. Hg. von Renate Moering, Frankfurt a. M. 1990, S. 824.

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Eine der wichtigsten Vermittlerfiguren der Alchimie und anderer hermetischer Wissenschaften ist für die Romantik bekanntlich Jacob Böhme. In Arnims 1821 im >Taschenbuch zum geselligen Vergnügen auf das Jahr 1822< erschienener Erzählung >Die KirchenordnungIsabella von Ägypten< zuerst die Kritik der Grimms - »Daß Arnim Märchen- und Sagenfiguren [...] über die von ihm erfundene Figur der Zigeunerin Bella zur historischen Figur des Karl des Fünften in Bezug setzt, verstehen sie als Verwischung, wenn nicht Auslöschung ihrer entscheidenden Differenz, die in ihrer Geschichtlichkeit oder phantasmagorischen Herkunft als Zeichen kultureller und temporärer Konnotationen besteht. Sie bedeuten nichts mehr, wenn das Signifikat vom Signifikanten abgelöst in einen beliebigen Zusammenhang gestellt wird«51 - , um sich ihr dann anzuschließen:

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Arnim, Werke (Anm. 46), Bd. 4. Hg. von Renate Moering, Frankfurt a. M. 1992, S. 1090. Ebd., S. 1099. Vgl. dazu Zymner, Manierismus (Anm. 6), S. 234. Vgl. dazu Detlef Kremer: Schnittstellen. Erhabene Medien und groteske Körper. Elfriede Jelineks und Elfriede Czurdas Kontrafakturen. In: Jörg Drews (Hg.): Vergangene Gegenwart - Gegenwärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken und Laudationes zur deutschsprachigen Literatur 1960-1994, Bielefeld 1994 (Bielefelder Schriften zur Linguistik und Literaturwissenschaft, Bd. 4), S. 139-174. Elfriede Czurda: Kunstmenschen versus Maschinenwelt? Literarische Androiden in zwei Jahrhunderten. In: Dies.: Buchstäblich: Unmenschen, Graz - Wien 1995, S. 7-85, hier S. 59f.

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Achim von Arnim bedient sich der Golem-Sage sehr frei, zu frei, weil er seine [!] ideengeschichtliche Herkunft und Funktion außer Acht läßt und ihn [!] statt dessen wie einen Automaten einsetzt. Falsch. Den Einwänden der Grimms kann nur voll zugestimmt werden."

In der Handlung der Erzählung >Die Kirchenordnung< geht es an der hier interessierenden Stelle um einen auf einer Rechnung erscheinenden Posten, über den keine Rechenschaft abgelegt werden kann, weil die Rechnungsstellerin vergessen hat, was es mit ihm auf sich hat. Sie fürchtet, dafür der Unehrlichkeit bezichtigt werden zu können. Es heißt dann: In demselben Augenblicke trat die Tochter frohlockend herein, und meldete, wie der Magister, als sie ihm die Rechnung zur Prüfung vorgelegt, nach einer zinnernen Schüssel geblickt, die, vom Feste stehen geblieben, von der Sonne hell beschienen wurde, und durch den gelben Schein an den, in der Rechnung vergessenen, Safran erinnert worden sei.53

Dies ist zugleich eine Anspielung auf Jacob Böhme und ein Selbstzitat. In der 1809 erschienenen Novellensammlung >Der Wintergarten< findet sich eine lange Verseinlage mit dem Titel >Durchbruch der WeisheiK, eine Darstellung von Jacob Böhmes Leben nach der Böhme-Biographie Abraham von Franckenbergs, »Gründlich und wahrhaffter Bericht von dem Leben und Abscheid des in Gott seelig-ruhenden Jacob Böhmens«, Amsterdam 1682. Franckenbergs Darstellung folgend heißt es: Und so erzahlt er ihm noch vieles, Wie er schon früh an sich geglaubt, Wie er entbehrt des Kinderspieles, Wie ihm die Fröhlichkeit geraubt. Erzählt ihm, wie in eine Schüssel Die Sonne schien aufs blanke Zinn, Und müd und schwach er fand den Schlüssel Der kräftigen Mysterien drin. Wie er von diesem Licht durchdrungen, Vors Tor sich zu zerstreuen ging, Hat Kraut und Stein im Geist umschlungen, In ihrer Signatur umfing. 54

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Ebd., S. 61. Arnim, Werke (Anm. 46), Bd. 4, S. 198. Ebd., Bd. 3, S. 332.

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Aus Böhmes Signaturenlehre, die ihn »zu dem innersten Grunde oder Centro der geheimen Natur eingefilhret«, wie es bei Franckenberg heißt,55 wird in der >Kirchenordnung< die Wiedererinnerung an den vergessenen Safran. Das ist sicherlich mehr als nur eine »humorvolle Anspielung«, 56 wie die Herausgeberin der neuen Ausgabe von Arnims Werken, Renate Moering, kommentiert, und auch nicht nur eine unter den vielen Profanierungen in Arnims Texten. Böhmes Sprachmystik wird konsequent unterlaufen. Im »gelben Schein« des Safrans ist daneben sicherlich auch noch eine Ironisierung des artistischen >Scheinens der Idee< Hegelscher Prägung zu hören. Zumindest dem späteren Arnim der zwanziger Jahre geht es nicht mehr um irgendeine Enthüllung von Mysterien. Seine späten Erzählungen sind selbst Systeme von Signaturen, die aber in erster Linie auf sich selbst, auf ihre Quellen und auf die Spiele, die damit getrieben werden, verweisen. Der Aufdeckung der Böhme-Referenz der >Kirchenordnung< muß zunächst die Dechiffrierung als Selbstzitat vorangehen, sonst ist sie als solche gar nicht erkennbar. Vor die mystische Enthüllung, die Erkenntnis verborgener Zusammenhänge, schiebt sich die Selbstreferenzialität des Werkes, das seine eigene Bezüglichkeit ins Zentrum stellt - radikale Künstlichkeit.57 Manierismus in der Romantik - so möchte ich, meine Schnupftabaksdose zuklappend, zusammenfassen - müßte dann nicht, wie Marianne Thalmann in einem bekannten Buch es getan hat, Uber das Groteske, das (manieristische) Spiegelmotiv oder ein zerrissenes Menschenbild definiert werden.58 Bei einem so verstandenen >Manierismus< - Selbstreferenzialität, radikale Künstlichkeit etc. - bleibt mir dann allerdings doch fraglich, ob man diesen Begriff zur Charakterisierung der artistischen Verfahren Hoffmanns und Arnims wirklich benötigt. Das traditionelle Romantik-

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Zitiert nach ebd., Bd. 3, S. 1168. Ebd., Bd. 4, S. 1105. Zymner sieht Beispiele fllr den Manierismus in der Romantik nur im »Bereich des Dramas« und nennt als Beispiele Tiecks >Der gestiefelte Kater< und >Die verkehrte Welt< und Brentanos >Ponce de LeonSelbstpräsentation< der Kunst durch das Spiel im Spiel« (Zymner, Manierismus [Anm.6], S. 254) findet sich als Selbstreferenzialität wie Selbstreflexivität gerade im Bereich der Erzählung. Marianne Thalmann: Romantik und Manierismus, Stuttgart 1963. Exemplifiziert werden diese Begriffe an Erzählungen Hoffmanns; Arnim kommt bei Thalmann nicht vor.

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Verständnis gerade der Germanistik hat - und das betrifft den letzten Teil von Zymners Definition (»eine Rezipientenreaktion auf diese Artistik herauszufordern«) - diese Artistik lange Zeit gar nicht erkannt. Es wäre hier die Frage anzuschließen, ob neue Rezeptionssituationen etwas wie >Manierismus< aussehen lassen, was vorher nicht so aussah, entsprechend Ecos unten zitierter Frage nach dem Manierismus als »metahistorischer Kategorie«. Die Differenz zwischen den Konzeptionen des Frühromantikers Novalis und den Spätromantikern Hoffmann und Arnim kann, so denke ich, an den unterschiedlichen Verwendungen alchimistischer Topoi klargemacht werden. Novalis' Konzept wäre noch entscheidend zu treffen, wenn man ihm nachweisen könnte, er habe Elemente aus den Naturwissenschaften mißverstanden oder >falsch< eingesetzt, Hoffmann und Arnim nicht mehr. Sprach-Alchimie in der Definition Hockes bleibt nur eine vage Metapher und nicht mehr. Zymners Definition bekommt dagegen eine zumindest heuristische Qualität, kann man doch mit ihrer Hilfe eben die grundsätzliche Differenz zwischen Früh- und Spätromantik, die natürlich auch noch an vielen anderen Kategorien deutlich wird, fassen. Novalis ist kein, Hoffmann und Arnim sind Manieristen. Das wäre Karl Heinz Bohrers »fundamentale[r] Einsicht in das Phantastische der Frühromantik als heuristische Wegmarke« an die Seite zu stellen: Wie das Phantastische, so verliert auch die Benutzung der Alchimie-Symbolik in der Frühromantik »nie den Kontakt mit dem Signifikat einer ausgezeichneten höheren Sphäre«.59 Im >Manierismus< der Spätromantik ist keine »transzendental vermittelte utopische Absicht«60 mehr am Werk - genau diese artistische Selbstbezüglichkeit wäre aber das >Manieristischemanieristisch< geworden ist, ließe sich in weitere historisch-kulturelle Zusammenhänge einreihen: Ist Manierismus Symptom oder Ausdruck einer Spätzeit oder sogar einer Krisensituation mit Restaurationsdruck, auf den Ästhetik mit ihren Mitteln

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Karl Heinz Bohrer: Das Romantisch-Phantastische als dezentriertes Bewußtsein. Zum Problem seiner Repräsentanz. In: Ders.: Die Grenzen des Ästhetischen, München - Wien 1998, S. 9-36, hier S. 15. Im Gegensatz zu der hier vertretenen Trennungslinie sieht Bohrer bei Hoffmann das »höhere Signifikat« (ebd., S. 17) aber noch am Werk und setzt davon Arnim und Brentano ab. Ebd., S. 24.

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reagiert - der Spätantike in bezug auf die >klassische< Antike, der PostModerne in bezug auf die >klassische< Moderne? Oder sollte man eher von einem Umbauphänomen sprechen? Die Auseinandersetzung mit >manieristischen< Formen einschließlich der Alltagskultur könnte dann ebenso für aktuelle - auch, aber nicht nur: ästhetische - Phänomene erhellend sein. »Man könnte geradezu sagen, daß jede Epoche ihre eigene Postmoderne hat, so wie man gesagt hat, jede Epoche habe ihren eigenen Manierismus (und vielleicht, ich frage es mich, ist postmodern überhaupt der moderne Name für Manierismus als metahistorische Kategorie).«61

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Umberto Eco: Nachschrift zum >Namen der Rosegroteskes< Ziel. Dieses besteht in erster Linie darin, die Naturvorgänge verstehen zu wollen, d. h. ein inneres, mentales Bild zu erzeugen, das dazu verwendet werden kann, Vorhersagen zu ermöglichen. Das Ziel besteht also geradezu in der Vermeidung von Überraschungen. Das Vorgehen des Naturwissenschaftlers hat demnach zunächst eher rezeptiven Charakter. Das beim Studium der Natur erworbene Wissen kann in einem zweiten Schritt allerdings auch in Aktivitäten umgesetzt werden, und dann zu verschiedenen, ζ. B. medizinischen oder gentechnischen Anwendungen führen. Hierbei soll die Natur nicht übertroffen, sondern es sollen lediglich >Fehlleistungen< korrigiert werden. Dieses >Reparieren< der Natur wird, sollte es sich etwa um die Heilung einer Querschnittslähmung oder einer genetisch bedingten Krankheit handeln, von den Betroffenen sicherlich uneingeschränkt positiv gesehen. Es kann allerdings auch dazu führen, die Natur übertreffen zu wollen. Die Versuche, die Natur zu reparieren, und die, sie zu korrigieren und schließlich übertreffen zu wollen, liegen durchaus nahe beieinander. Im Verlauf solcher Prozesse der >Verbesserung< der Natur könnten die natürlichen Systeme also immer künstlicher gemacht werden. Wird hierbei, so kann man sich fragen, die Grenze zwischen natürlichen und künstlichen Systemen überschritten?

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Man kann sich dieser Grenze, und davon soll der zweite, größere Teil dieses Artikels handeln, auch von der anderen Seite her nähern. Man geht dabei aus von einem eindeutig künstlichen System, sagen wir einem Roboter, und versucht, diesen immer >biologischer< zu machen. Es erscheint zunächst wenig plausibel, daß man auf diesem Wege diese Grenze tatsächlich überschreiten und zu einem natürlichen System kommen könnte. Doch was bedeutet eigentlich >natürlich