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German Pages [241] Year 2023
Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung
Julia von Ditfurth, Jörg Bölling (Hg.)
MALEREI, MUSIK UND TEXTILE KÜNSTE IN FRAUENSTIFTEN DES SPÄTEN MITTELALTERS
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Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 3 herausgegeben von Klaus Gereon Beuckers, Vivien Bienert, Jörg Bölling, Julia von Ditfurth, Maria Julia Hartgen, Tobias Kanngießer, Hedwig Röckelein, Esther-Luisa Schuster und Adam Stead
Julia von Ditfurth / Jörg Bölling (Hg.)
Malerei, Musik und textile Künste in Frauenstiften des späten Mittelalters
Böhlau Verlag Wien Köln
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
© 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen Umschlagabbildung: LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland, Silvia Margrit Wolf Umschlaggestaltung: hawemannundmosch, Berlin Das Logo für das Forum für Frauenstiftsforschung wurde entworfen von Lukas von Bülow, Berlin ISBN 978-3-412-52774-7
Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Der Ursulazyklus aus St. Ursula in Köln
Überlegungen zu Funktion und Standort Pavla Ralcheva. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Die Stiftungen der Kölner Familie Hirtz in St. Ursula als Ausdruck von sozialem Rang und Ritterbürtigkeit
Markus Jansen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Bürger im Frauenstift
Zur Manifestation außerkonventualer Personen in der spätmittelalterlichen Sakraltopografie des Langhauses von St. Maria im Kapitol zu Köln Klaus Gereon Beuckers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Gestiftete Glasmalerei
Jakob von Brügge, seine Familie und der Kreuzgang der Kölner Frauenstiftskirche St. Cäcilien Julia Noll. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Gebete und Gesänge im Liber precum und Liber Ordinarius
Zur Bedeutung der Hildesheimer Dompatrozinien für das spätmittelalterliche Chorfrauenstift Heiningen Jörg Bölling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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| Inhalt Die Windesheimer Reform im Frauenstift Fischbeck und ihre Auswirkungen auf das Musikleben (1450–1496)
Achim Bonk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
„mit sticken budele zo machen ind der gelych sachen“
Überlegungen zur spätmittelalterlichen textilen Ausstattung des Stiftes St. Ursula in Köln – eine Annäherung Gudrun Sporbeck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nadel, Faden, Pergament
Textile Anteile in Manuskripten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Maria Schaller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Werkstattbericht aus der Stiftskirche St. Servatii in Quedlinburg
Linda Herbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Neue Forschungen zum Frauenstift Vreden
Volker Tschuschke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Bildnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Das vorliegende Buch bildet den dritten und letzten Band der Veröffentlichungen des DFG-Netzwerks Forum für Frauenstiftsforschung. Nach einer Publikation zu Gründungsbauten und spezifischen baulichen Veränderungen von Frauenkonventskirchen im Mittelalter und einer weiteren zu Bildwerken und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhunderts ist dieser Sammelband nun den zwei- statt dreidimensionalen Künsten gewidmet, ergänzt durch eine gleichsam vierte Dimension, die Musik. Da die mit dem Thema „Malerei für Kanonissen? Ausstattungswellen und bürgerliche Repräsentation in Damenstiftskirchen um 1500“ für den 7. und 8. November 2020 geplante Tagung pandemiebedingt abgesagt werden musste, fand am 17. April 2021 ein intensiver Austausch in einem online geführten Werkstatt-Gespräch statt. Angesichts entsprechender aktuell laufender Forschungen wurde dabei beschlossen, das Thema der Malerei um die textilen Künste zu erweitern und auch musikwissenschaftliche Fragen mit einzubeziehen. Mit Blick auf Fragen der Malerei präsentiert Pavla Ralcheva erstmals vollständig in farbig gedruckter Form den Ursulazyklus aus St. Ursula in Köln, um Überlegungen zu dessen ursprünglicher Funktion – etwa als Gemälde oder Verschlussklappen von Reliquienkästen – zu diskutieren und einige von der heutigen Aufstellung im Langchor abweichende mögliche Standorte in Betracht zu ziehen, beispielsweise im nördlichen Querhaus mit Bezug zum Grab der hl. Ursula oder auf der Frauenempore. Markus Jansen dokumentiert die Stiftungen der Kölner Familie Hirtz in St. Ursula und analysiert sie als Mittel der sichtbaren Darstellung von sozialem Rang und Ritterbürtigkeit. Frauenstiftsspezifische Besonderheiten lassen sich demnach nicht ausmachen, wodurch deutlich wird, dass die Frauen hier mindestens auf Augenhöhe mit den anderen hochrangigen Stiften der Stadt agierten und wahrgenommen wurden. Inwieweit Bürger in einem solchen Kölner Stift, von außen kommend, Bedeutung erlangen konnten, untersucht Klaus Gereon Beuckers anhand von deren Bedeutung in der spätmittelalterlichen Sakraltopografie des Langhauses von St. Maria im Kapitol zu Köln. Frauenchor, Lettner, Langhaus und Altäre werden in ihrer spezifischen bauhistorischen Form und liturgisch-frömmigkeitspraktischen Funktion ganz neu beleuchtet. Julia Noll
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| Julia von Ditfurth und Jörg Bölling
untersucht „Gestiftete Glasmalerei“ im Kreuzgang der Kölner Frauenstiftskirche St. Cäcilien. Dabei vermag sie aus verschiedenen Glasscheiben eine Stiftung Jakobs von Brügge aus ihrer heute sichtbaren Form neben einer „Lisbet“ genannten, vermeintlichen Ehefrau herauszulösen und – wie in einem Puzzle – seine tatsächliche Gattin Paitza von Heinsberg als ursprüngliche Partnerin an seiner Seite zu rekonstruieren. Weiblich geprägte, sich wandelnde Verflechtungen und Netzwerke wirkten folglich in besonderer Weise auf die Glasmalerei und zeigten sich jeweils dauerhaft in veränderten Bleiverglasungen. Die beiden Beiträge zur Musik sind jeweils einer besonderen Handschrift gewidmet. Jörg Bölling untersucht als Kirchenhistoriker unter Einbindung liturgieund musikgeschichtlicher Fragen die Gebete und Gesänge im Liber precum, einem seit etwa 1500 nachweislich im Chorfrauenstift Heiningen verwahrten Führer für private Pilgerfahrten zu den Altären des Hildesheimer Domes. Die Altäre der lokal besonders verehrten Hildesheimer Heiligen wurden durch bekannte Melodien und Gebetstexte, die sonst für Apostel oder Evangelisten bestimmt waren, nobilitiert und mitunter in ihrer sakraltopografischen Binnenfunktion differenziert. Vom Liber Ordinarius des Hildesheimer Domes waren diese Texte weitgehend unabhängig, auch wenn manche Melodien hier indirekt mit angeklungen sein mögen. Der Historiker und Bibliothekar Achim Bonk widmet sich auf der Grundlage seiner soeben erschienenen Dissertation über die von der Devotio moderna geprägte Windesheimer Reform im Frauenstift Fischbeck deren Auswirkungen auf das Musikleben in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Im Fokus stehen dabei Musikhandschriften, Gesangspraxis von Sängerinnen und Sängern, Orgelspiel und Organisten, noch bevor das wertvolle heutige barocke Instrument entstand. Den textilen Künsten gelten vier abschließende Beiträge, zwei Aufsätze und zwei Kurzberichte. Gudrun Sporbeck arbeitet zur spätmittelalterlichen Ausstattung des Stiftes St. Ursula in Köln mit Messgewändern, Ornaten, Fahnen, Bekleidungen für Heiligenfiguren und Altarwäsche zum einen heraus, welche Bedeutung Adelsgeschlechter und das Kölner Patriziat für das Frauenstift besaßen. Zum anderen zeigt sie die besondere Kunstfertigkeit der Kanonissen auf, die einzigartige Seiden und Samte sowie mit besonderem Schmuck gefertigte Stickereien zu schaffen imstande waren. Einem bisher kaum beachteten Phänomen wendet sich Maria Schaller zu: „Textile Anteile in Manuskripten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“. Farbige Vernähungen, Papier- und insbesondere Pergamentnähte dienten demzufolge nicht allein der Reparatur, sondern auch der Zierde. Darüber hinaus vermag die Autorin weitere Funktionen festzustellen, etwa als Altehrwürdigkeit
Vorwort |
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evozierende „Würdezeichen“ oder als besondere Markierungen mit Bezügen zu Text, Noten oder Buchschmuck, zur größeren Ehre Gottes und zur persönlichen andächtigen Versenkung. Mit Blick auf das Thema des Bandes insgesamt stellt sich einerseits die gleichsam umgekehrte Gender-Frage, inwieweit Männer zu solcher Kunst fähig gewesen sein mögen, andererseits, welche Kontinuitäten und Brüche angesichts der Reformation im Übergang zur Frühen Neuzeit festgestellt werden können. Die Forschung steht hier noch am Anfang. In ihren kürzeren Mitteilungen bieten die Kunsthistorikerin Linda Herbst mit ihrem Werkstattbericht aus der Stiftskirche St. Servatii in Quedlinburg und der Historiker Volker Tschuschke mit seinem Forschungsbericht über Neue Forschungen zum Frauenstift Vreden wichtige Einblicke in neue Objekt- und Archivfunde aus diesen beiden bedeutenden Frauenstiftskirchen. Die beiden Berichte sind gewissermaßen als Ausblick in diesen letzten Tagungsband aufgenommen worden, denn sie zeugen davon, dass die Frauenstiftsforschung auch in Zukunft weiter betrieben wird, wenn auch das Forum für Frauenstiftsforschung nun, in der 2017 bei der DFG einmal beantragten Form, nicht mehr bestehen wird. Eines der Ziele unseres DFG-Netzwerkes war es, durch die Tagungen und Publikationen den Dialog zu Frauenstiften in der kunsthistorischen Forschung langfristig und nachhaltig anzuregen und zu intensivieren. Aus unserer Perspektive und anhand dessen zu urteilen, was wir jetzt, nach fünf Jahren, schon sehen können, ist uns dies gelungen. All unsere Arbeiten wurden stets mit großem Interesse von Kolleginnen und Kollegen verfolgt und nachgefragt, und wir konnten uns enger und großflächiger vernetzen. Letzteres spiegelt sich beispielsweise in der Liste der Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes wider. Abschließend möchten wir uns im Namen aller Mitglieder des Forums für Frauenstiftsforschung bei all denjenigen bedanken, die das Werkstattgespräch im April 2021 und diese Publikation inhaltlich gestaltet haben: Klaus Gereon Beuckers, Tobias Kanngießer, Adam Stead, Pavla Ralcheva, Markus Jansen, Klaus Gereon Beuckers, Julia Noll, Achim Bonk, Gudrun Sporbeck, Maria Schaller, Linda Herbst und Volker Tschuschke. Anna Pawlik, Erzdiözesankonservatorin des Erzbistums Köln, und Joachim Oepen, Archivar am Historischen Archiv des Erzbistums Köln, treten zwar nicht als Autorin und Autor auf, aber für ihre kontinuierliche, tatkräftige und engagierte Unterstützung bei allen Beiträgen zu Kölner Frauenstiften danken wir an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich, wie es die einzelnen Autorinnen und Autoren in den Anmerkungen ebenfalls getan haben.
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| Julia von Ditfurth und Jörg Bölling
Zudem danken wir den studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Annalena Dostalek, Leonard Jung und Amadeus Tkocz für die Hilfe bei der Text- und Bildredaktion sowie dem Team des Verlages Böhlau, hier insbesondere Kirsti Doepner, für die gute Zusammenarbeit, auch in unbeständigen Zeiten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Drucklegung dieses Bandes finanziert, wofür wir uns ausdrücklich bedanken möchten, wie auch für die Förderung des Forums für Frauenstiftsforschung insgesamt. Freiburg und Hildesheim, im Winter 2022 Julia von Ditfurth und Jörg Bölling
Der Ursulazyklus aus St. Ursula in Köln Überlegungen zu Funktion und Standort Pavla Ralcheva
Einführung
Als Hochburg der Ursulaverehrung zeichnet sich Köln durch eine signifikante Anzahl bildlicher Darstellungen der Ursulalegende aus. Die Vielzahl unterschiedlicher Formen materieller Kultur, die mit dem Kult der hl. Ursula verbunden sind, zeugen von einem großen Bedürfnis nach Verbildlichung der Legende. Die Gründe für dieses Phänomen liegen wohl einerseits in der großen Popularität der Heiligen, die zahlreiche Pilger und Reisende in die Stadt lockte, andererseits in dem besonderen Charakter der Legende, die sich nicht nur einer Person widmete, sondern dem Leben und Martyrium einer Heiligengruppe. In der Gattung der Tafelmalerei sind zahlreiche Zeugnisse der Ursulaverehrung erhalten. Neben diversen Einzeldarstellungen entstanden in Köln ebenfalls mehrteilige Bildzyklen, fünf davon entstammen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.1 Dieser Beitrag widmet sich dem umfangreichsten unter ihnen, nämlich dem Bildzyklus aus der ehemaligen Frauenstiftskirche St. Ursula (Abb. 1–16), der – analog zu dem sogenannten Kleinen Ursulazyklus aus dem Wallraf-RichartzMuseum (WRM 707–721) – auch als Großer Ursulazyklus bezeichnet wird.2 1 Vgl. für die fünf spätmittelalterlichen Bildzyklen, die im Zeitraum zwischen 1450 und 1520 entstanden sind, Frank Günther Zehnder: Sankt Ursula. Legende, Verehrung, Bilderwelt, Köln 21987, S. 153–176. Für die vorliegende Studie relevant ist der um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstandene sog. Kleine Ursulazyklus aus der Sammlung des WallrafRichartz-Museum & Fondation Cordboud in Köln (WRM 707–721). Für einen Vergleich beider Bildzyklen siehe unten den dritten Abschnitt. 2 Die restlichen drei Zyklen sind fragmentarisch erhalten, wobei die einzelnen Tafeln in diversen europäischen sowie nordamerikanischen Sammlungen untergebracht sind. Vgl. dazu Zehnder 1987 (wie Anm. 1), S. 171–176. Einer dieser Bildzyklen, von dem heute nur noch fünf Tafeln erhalten sind, stammt wohl aus der Hand desselben Künstlers wie der Große Ursulazyklus und ist vermutlich um dieselbe Zeit entstanden.
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| Pavla Ralcheva Abb. 1: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Das Gebet der Eltern um Nachkommenschaft, Die Geburt Ursulas, B. ca. 153 cm.
Abb. 2: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Die Taufe, Ursula mit ihren Eltern in der Kapelle, B. ca. 159 cm.
Abb. 3: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Die Beratung des Heidenkönigs mit seinen Vasallen, Der Aufbruch der Gesandtschaft, B. ca. 153 cm.
Der Ursulazyklus aus St. Ursula in Köln |
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Abb. 4: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Der Empfang der Gesandten, Die Gesandten richten ihre Botschaft aus, B. ca. 157 cm.
Abb. 5: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Ursula empfängt die Botschaft des Engels, B. ca. 79,5 cm; Ursula erzählt ihren Eltern die Botschaft (vermutlich ursprünglich auf einer Tafel), B. ca. 79,5 cm.
Abb. 6: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Der Abschied der Gesandten, Die Gesandten überbringen die Botschaft dem Heidenkönig, B. ca. 159 cm.
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| Pavla Ralcheva
Abb. 7: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Der Empfang der 11.000 Jungfrauen, B. ca. 64 cm; Ursula besucht mit ihrem Vater die Schiffbauer, Spaziergang der Jungfrauen mit den Schiffen, B. ca. 159 cm.
Abb. 8: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Ursulas Abschied von den Eltern, B. ca. 73,5 cm; Ankunft in Tiel, B. ca. 105 cm. Abb. 9: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Erste Ankunft in Köln, B. ca. 104 cm.
Der Ursulazyklus aus St. Ursula in Köln |
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Abb. 10: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Ankunft in Basel, Ankunft in Rom, Taufe der Jungfrauen durch den Papst, B. ca. 207 cm. Abb. 11: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Rückkehr nach Basel, B. ca. 85 cm; Ätherius bittet seinen Vater um Annahme des Heiratsangebotes (fälschlicherweise an dieser Stelle angebracht), B. ca. 65 cm.
Abb. 12: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Abschied der Jungfrauen von Basel, Der Erzbischof von Mainz empfängt Ätherius, B. ca. 157 cm.
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| Pavla Ralcheva Abb. 13: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Ankunft in Mainz, Taufe des Ätherius im Mainzer Dom, B. ca. 155 cm.
Abb. 14: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Abschied von Mainz, B. ca. 159 cm.
Abb. 15: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Das Martyrium der Jungfrauen, B. ca. 161 cm.
Der Ursulazyklus aus St. Ursula in Köln |
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Abb. 16: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Die Hinrichtung von Ursula und Ätherius, Bestattung der Leichname, B. ca. 161 cm.
Der Ansiedlungsort des Damenstiftes befand sich auf einem ausgedehnten römischen Gräberfeld vor den Toren der Römerstadt, das sich im Laufe des Mittelalters zur wichtigsten Reliquienquelle der Stadt entwickelte. Auf dem Friedhof sind spätestens seit dem 5. Jahrhundert mehrere einander ablösende Bauten nachgewiesen.3 Der dort niedergelassene Konvent adeliger Kanonissen wurde im Jahr 922 gegründet.4 Durch eine Stadterweiterung im Jahr 1106 wurde St. Ursula in den Bereich innerhalb der Stadtmauer integriert und entwickelte sich zusammen mit
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Zu den antiken Vorgängerbauten sowie zu den Bauten des 10. Jahrhunderts siehe Gernot Nürnberger: Die Ausgrabungen in St. Ursula zu Köln, Diss. Bonn 2002 [online publiziert 2002], https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:5-00062 [07.10.2022]. Für eine Zusammenfassung der spätantiken und romanischen Baugeschichte siehe auch Julia von Ditfurth: Chorus dominarum – Zum Ort des Frauenchores in frühmittelalterlichen Stiftskirchen, in: Architektur für Kanonissen? Gründungsbauten und spezifische bauliche Veränderungen von Frauenkonventskirchen im Mittelalter. Beiträge zur ersten Tagung des Forums für Frauenstiftsforschung vom 4. bis 5. November 2017, hg. v. Julia von Ditfurth/ Vivien Bienert (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 1), Köln 2018, S. 35–70, hier S. 57 f. Zur Baugeschichte der Konventskirche siehe Karen Künstler: St. Ursula. Der Kirchenbau des 12. Jahrhunderts und seine Ausgestaltung bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Köln. Die Romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. v. Hiltrud Kier/ Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 523–545. – Klaus Gereon Beuckers: Köln: Die Kirchen in gotischer Zeit. Zur spätmittelalterlichen Sakralbautätigkeit an den Kloster-, Stifts- und Pfarrkirchen in Köln (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 24), Köln 1998, S. 312–316. – Clemens Kosch: Kölns Romanische Kirchen: Architektur und Liturgie im Hochmittelalter (Große Kunstführer, Bd. 207), Regensburg 2000, S. 73–80.
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Abb. 17: Köln, St. Ursula, Langchor, Blick nach Osten.
dem Chorherrenstift St. Kunibert zum geistlichen Kern der Nordstadt.5 Ein repräsentativer romanischer Kirchenbau ersetzte die antike Vorgängerkirche im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts. Er verfügte über ein mit Querarmemporen ausgestattetes Querhaus, das sich an ein Langhaus mit Seitenschiffemporen anschloss.6 Ein Kanonissenchor befand sich auf der Empore im zweigeschossigen Westbau. Der jetzige gotische Chor entstand im Zuge eines Umbaus im späten 13. Jahrhundert. Eine weitere wichtige bauliche Veränderung stellen die Einwölbung des ursprünglich flachgedeckten Mittelschiffes und die Errichtung einer Marienkapelle in der Form eines zweiten Seitenschiffes an das südliche Seitenschiff dar.7 Bis zur Barockisierung der Stiftskirche Mitte des 17. Jahrhunderts blieben die romani-
5 Vgl. Beuckers 1998 (wie Anm. 4), S. 312. 6 Zu den im 17. Jahrhundert abgebrochenen Querhausemporen siehe zuletzt Adam Stead: Raum im Raum – Bemerkungen zu Querhausemporen in Frauenstiftskirchen im 11. und 12. Jahrhundert, in: von Ditfurth/Bienert 2018 (wie Anm. 3), S. 71–96, hier S. 93–96. 7 Das südliche Seitenschiff wurde 1461 umgebaut und neu ausgestattet. Vgl. Beuckers 1998 (wie Anm. 4), S. 315.
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schen und gotischen Bauteile weitgehend unverändert.8 An dieser Stelle bestand das Frauenstift bis zu seiner Auflösung im Zuge der Säkularisation im Jahr 1802.9 Seit 2005 ist der mehrteilige Ursulazyklus umlaufend an den Wänden im gotischen Chor der Kirche angebracht (Abb. 17). Detailreichtum und genrehafte Ausführlichkeit der Erzählung prägen die auf 20 Tafeln dargestellten 30 Szenen aus dem Leben der Heiligen. Diese geben Episoden von der Geburt der Heiligen, ihrer Vermählung mit Ätherius, ihrer Reise und ihrem Märtyrertod wieder, wobei die einzelnen Szenen durch einen markanten roten Rahmen voneinander getrennt sind. Inschriften, die entweder unter- oder oberhalb der Darstellungen platziert sind, erläutern das Geschehen in gereimter Form.10 Zudem sind die Tafeln mit einer Datierung und zwei Namen versehen: Auf der letzten Tafel, oberhalb der Szenen des Martyriums der Jungfrauen sowie Ursula und Ätherius, verrät eine Inschrift das Jahr der Anfertigung der Bilder, nämlich 1456: IND DEN YAEREN UNSS HEREN MCCCC YND LVI WART DYE LEGENDE BEREYTT.11 Und auf den letzten zwei Tafeln sind die Namen Ian van Scheyven und Gvirgyn van Scheyven angebracht, die höchstwahrscheinlich die Stifter des Bildzyklus sind.12 In der Mitte der Tafel Ankunft in Basel, Ankunft in Rom, Taufe der Jungfrauen durch den Papst sowie auf zwei weiteren Tafeln ist die Hausmarke der Scheyven-Brüder angebracht.13 Das auf der Tafel mit der Szene Abschied von Mainz angebrachte Wappen mit der Darstellung eines Berges gehörte dem Kanonikus Johann Niklas Veltz, der 1702 eine Renovierung der Tafeln in Auftrag gab.14 Die mehrfach auf den Tafeln zu
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Zur Barockisierung der Kirche siehe Marion Opitz: St. Ursula. Kirche des Damenstifts (seit 1804 Pfarrkirche), in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 20 (2005) (Kölner Kirchen und ihre Ausstattung in Renaissance und Barock, Bd. 3), S. 408–434. 9 Sybille Fraquelli: St. Ursula, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 26 (2011) (Die romanischen Kirchen im Historismus, Bd. 2), S. 131–176, hier S. 134. 10 Für eine Transkription der Inschriften vgl. Zehnder 1987 (wie Anm. 1), S. 158–168. 11 Wiedergabe der Inschrift nach Alfred Stange: Kritisches Verzeichnis der deutschen Tafelbilder vor Dürer, 3 Bde., Bd. 1, München 1967, S. 51. 12 Vgl. Zehnder 1987 (wie Anm. 1), S. 168. In der älteren Forschung wurden sie als die Schöpfer der Bilder interpretiert. 13 Ludwig Arntz u.a. (Bearb.): Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Köln. St. Ursula, Ursulinenkirche, St. Elisabeth, St. Maria Ablass, Kartause, Deutz und die übrigen Vororte, die Friedhöfe (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 7.3; Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln, Bd. 2.3), Düsseldorf 1934, S. 71. 14 Ebd., S. 68f.
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sehenden Wappen der Stadt Köln sind wahrscheinlich eine spätere Ergänzung und zeugen nicht von einer städtischen Beteiligung an der Stiftung.15 Der Bildzyklus wurde im Laufe der Zeit wohl mehrfach stellenweise übermalt und restauriert. Die letzten Restaurierungsarbeiten an mehreren Einzeltafeln geschahen in den 1930er Jahren durch den Restaurator Anton Bardenhewer (1857– 1939), der Restaurierungsarbeiten in mehreren Kölner Kirchen unternahm.16 Welche Tafeln im Zuge der Restaurierungskampagne bearbeitet wurden, ist jedoch unklar. Bei der Beschäftigung mit dem umfangreichsten Ursulazyklus in Köln wird man von dem spärlichen Forschungsstand zu dem prominenten Ausstattungsstück der ehemaligen Frauenstiftskirche regelrecht überrascht.17 Die ältere Forschung widmet sich primär der stilistischen Einordnung der Gemälde und der Suche nach ihrem Schöpfer.18 In den zwei ausführlichen Monografien zur Ursulaverehrung von Frank Günter Zehnder und Scott Bradford Montgomery findet keine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Bildzyklus statt.19 Gewinnbringend ist dagegen der holistische Blick auf den Themenkomplex und auf die Auseinandersetzung mit 15 Vgl. Zehnder 1987 (wie Anm. 1), S. 168. 16 Vgl. Anja Rudolf: Anton Bardenhewer. Ein Restaurator zwischen Historismus und moderner Denkmalpflege, Petersberg 2001, S. 136. Die Autorin zitiert Arntz 1934 (wie Anm. 13), S. 69: „Einzelne Bilder haben in jüngster Zeit eine Instandsetzung durch Maler A. Bardenhewer erfahren.“ 17 Auch fehlten bisher hochauflösende Bilddateien aller Tafeln. An dieser Stelle sei Anna Pawlik und Marc Peez für die Organisation und Durchführung einer fotografischen Dokumentation gedankt. Ihnen ist es zu verdanken, dass der Zyklus hier vollumfänglich und farbig abgedruckt werden kann. 18 Vgl. Ludwig Scheibler: Die deutschen Gemälde von 1300 bis 1550 in den Kölner Kirchen, in: Zeitschrift für christliche Kunst V (1892), S. 129–142, hier S. 142. – Ludwig Scheibler/ Carl Aldenhoven (Hg.): Geschichte der Kölner Malerschule (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. 8), o.O. 1902, S. 184–186, S. 194. – Guy de Tervarent: La légende de Sainte Ursule dans la littérature et l’art du Moyen Age, Paris 1931, 2 Bde., Bd. 1: Text, S. 58–63. – Arntz 1934 (wie Anm. 13), S. 68–72. – Stange 1967 (wie Anm. 11), S. 50f., Nr. 123. – Frank Günther Zehnder: Gotische Malerei in Köln. Altkölner Bilder von 1300–1550 (Wallraf-Richartz-Museum Köln. Bildhefte zur Sammlung, Bd. 3), Köln 1989, S. 37 f. 19 Vgl. Zehnder 1987 (wie Anm. 1), S. 157–169. – Scott B. Montgomery: St. Ursula and the Eleven Thousand Virgins of Cologne. Relics, Reliquaries and the Visual Culture of Group Sanctity in Late Medieval Europe, Bern 2010, S. 122–125. Leider verwechselt Montgomery den Bildzyklus aus der Sammlung des Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud (WRM 707–721) mit dem Gemäldezyklus aus St. Ursula, was dazu führt, dass beide Zyklen in seinen Ausführungen zu einer Einheit verschmelzen.
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dem vollen Spektrum an Bildschöpfungen und Reliquieninszenierungen in Verbindung mit dem Ursulakult, die zweifellos als eine Einheit betrachtet werden sollten. Untersuchungen zum Kontext und zur Rezeption dieses Werkes innerhalb des Kirchenraumes existieren bislang nicht. Die vorliegende Studie hat zum Ziel, diese Lücke mit ersten Überlegungen zur ursprünglichen Konstruktion, Anbringung im Kirchenraum sowie der Rezeption des Ursulazyklus unter besonderer Berücksichtigung der Provenienz aus einem Frauenstift zu schließen und eine Grundlage für weitere Studien zu diesem Thema anzubieten.20 In einem ersten Schritt erfolgen eine ikonografische und rezeptionsästhetische Analyse der Tafeln sowie deren sakraltopografische Kontextualisierung. In einem zweiten Schritt werden Überlegungen zur Konstruktion der Tafeln präsentiert. Ihre Hängung im Chor erfolgte um das Jahr 2005 nach einer Innensanierung.21 Die jetzige Zusammensetzung der Tafeln in Bildensembles entstand höchstwahrscheinlich im Zuge dieser Neupräsentation. Anschließend wird ein Vergleich bezüglich des Materials und des Formates mit dem sogenannten Kleinen Ursulazyklus durchgeführt, der mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Benediktinerinnenkloster zu den hl. Makkabäern stammt. Beide Zyklen sind höchstwahrscheinlich vollständig erhalten und ihre Entstehungszeit liegt nicht weit auseinander. Abschließend erfolgt die Auseinandersetzung mit der Frage nach der ursprünglichen Hängung des Bildzyklus im Kircheninnenraum, wozu es bisher keine Forschungen gibt. Auch wenn eine Anbringung im Hochchor – ähnlich wie die jetzige – gut vorstellbar ist, ist sie nicht belegt.22 Aus diesem Grund wird das Spektrum der möglichen Standorte in der vorliegenden Studie erweitert. Im Zusammenhang mit dem ursprünglichen Anbringungsort und der Zugänglichkeit der Tafeln steht die Frage: Von wem wurden die Tafeln ursprünglich rezipiert? Handelt es sich dabei um „Malerei für Kanonissen“ oder richteten sich die Darstellungen eher an ein konventfremdes Publikum?
20 An dieser Stelle möchte ich mich bei Anna Pawlik, Marc Peez und Adam Stead für die Unterstützung bei der vorliegenden Studie bedanken. 21 So teilte es Anna Pawlik am 15.11.2021 und am 18.12.2021 der Verfasserin mit. 22 Quellen, die Aufschluss über den ursprünglichen Aufstellungsort des Ursulazyklus geben würden, fehlen. Mein Dank gilt Joachim Oepen für die Unterstützung bei der Suche nach historischen Quellen im Historischen Archiv des Erzbistums Köln.
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Ikonografische und rezeptionsästhetische Analyse des Ursulazyklus
Der Ursulazyklus widmet sich in epischer Ausführlichkeit dem Leben und Martyrium der hl. Ursula, wobei sich die Handlung grob in zwei Phasen aufteilen lässt: Die Szenen vor der Reise der hl. Ursula spielen sich ausschließlich in einem Innenraum ab, wogegen diejenigen ihrer Schiffsreise und ihres Martyriums unter freiem Himmel und vor Stadtkulissen stattfinden. Entscheidend bei dem kompositorischen Schema des Bildzyklus aus St. Ursula ist die Vorliebe für naturgetreu und abwechslungsreich abgebildete Interieurs. Gleich am Beginn des Zyklus, auf der zweiten Tafel mit Darstellungen der Taufe und Ursula mit ihren Eltern in der Hauskapelle (vgl. Abb. 2) wird die Rolle der Betrachtenden subtil thematisiert. Die Szene der Taufe spielt sich in einem dicht mit Menschen befüllten, engen und dunklen Kircheninnenraum ab. Am linken Bildrand ist eine mehrfach profilierte steinerne Türöffnung zu sehen, die den Blick in den Innenraum versperrt und gleichzeitig offenlässt – und so auf unsere Rolle als außenstehende Betrachterinnen und Betrachter des Geschehens hinweist. Zugleich werden die Betrachtenden durch die Figur der Amme stärker in die Handlung miteinbezogen, die im Mittelpunkt der Komposition steht und direkt zum Publikum blickt. Als Pendant dazu befinden sich Ursula und ihre Eltern in der hellen Hauskapelle. Ein signifikantes Detail stellen die das Geschehen beobachtenden Personen im Hintergrund der Szene dar. Sie blicken durch eine Türöffnung in den Raum, was als eine Spiegelung der Komposition der ersten Szene interpretiert werden kann und erneut auf die Anwesenheit der Betrachterin oder des Betrachters aufmerksam macht. Beide Innenräume sind mit detailreich gestalteten Ausstattungsstücken befüllt. Auffallend ist die differenzierte Gestaltung der beinahe lebendig erscheinenden Steinfiguren auf dem Taufbecken, des hölzernen Gestühls in der Hauskapelle sowie des teilweise sichtbaren Altarziboriums mit zierlichen Steinskulpturen auf langen, dünnen Säulen.23 Das kompositorische Grundmuster, dessen Kern die Variation bildet, setzt sich in den darauffolgenden Szenen der Brautwerbung fort. Auf verschachtelten Interieurdarstellungen folgen Episoden im Freien mit Blick in einen angedeuteten Innenraum. Dadurch entsteht ein lebendiger und abwechslungsreicher Erzählfluss. Szenen wie der auf Abbildung 7 dargestellte Besuch Ursulas und ihres Vaters bei den Schiffbauern sowie der Spaziergang der Jungfrauen auf den Schiffen weichen vom Grund23 Aufgrund dieser sowie weiterer Details – wie die mehrmals vorkommenden, naturalistisch abgebildeten Fenster mit Ausblicken in eine Stadt- oder Naturlandschaft – wurde in der älteren Literatur oft auf den Einfluss zeitgenössischer holländischer Malerei hingewiesen.
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schema der Legendenerzählung ab und verleihen der Narration durch den alltäglichen Charakter der Darstellungen genrehafte Erzählfreude. Die zweite Phase der Erzählung widmet sich der Schiffsreise der hl. Ursula und ihres Gefolges, wobei die einzelnen Reisestationen gleichartig gestaltet sind: Dargestellt ist das Schiff der hl. Ursula am Reiseziel. Die Reisegesellschaft wird vor der Stadtmauer jener Stadt gezeigt, in der sie in Empfang genommen wird, ohne diese zu betreten. Die Städte lassen sich jeweils anhand von Fahnen und Wappen sowie den hinter der Stadtmauer sichtbaren, teilweise real existierenden Gebäuden identifizieren. In seiner Studie zu St. Ursula als Prototyp einer Schiffswallfahrerin führt Klaus Gereon Beuckers eine detaillierte Analyse dieser Zyklussequenz durch.24 Er beobachtet, dass im Großen Ursulazyklus die Schiffe zunehmend in den Hintergrund treten und somit die Begrüßung der Heiligen und ihres zahlreichen Gefolges in den Mittelpunkt gestellt wird.25 Die Bilder unterstreichen, so Beuckers, die Bedeutung Ursulas: Sie trete stets bekrönt auf und trage als Einzige in der Jungfrauenschar einen Nimbus. Begrüßt werde sie von Bischöfen und dem Papst sowie von hochgestellten Bürgern in vollem Ornat als Stadtherren. Die Ankunft der Prinzessin und ihrer personenreichen Schar sei ein Ereignis von politischer Bedeutung. Dabei trage Ursula kein Pilgerhabit, sondern vornehme Bekleidung. In der Tat trägt sie durchgehend dieselbe Tracht: ein goldfarbenes Kleid mit schwarzem Muster, gelegentlich ergänzt durch einen roten Umhang. Diese Kleidung zeichnet sie im gesamten Zyklus aus und ist allein ihr vorbehalten. Interessanterweise trägt Ursula im Kleinen Ursulazyklus eine vergleichbare Bekleidung, woraus sich die Frage ergibt, ob sie nicht als eine Art ‚Code‘ für die Wiederkennung eben dieser Heiligen dient. Im Kontrast zu der Gleichartigkeit von Ursulas Aussehen steht die bunte Palette unterschiedlicher Kleider und Accessoires, die einzelne Frauen in ihrer Reisegesellschaft auszeichnet. Im Unterschied zum Präsentationsmodus der Jungfrauenschar zum Beispiel im Kleinen Ursulazyklus, bei dem eine schemenhafte und gleichartige Darstellung überwiegt, stechen im Großen Ursulazyklus aus der personenreichen Schar von Jungfrauen mit schlichter Kleidung immer wieder einzelne detaillierte Zeugnisse zeitgenössischer Mode hervor. Beispielsweise sei 24 Klaus Gereon Beuckers: Die heilige Ursula von Köln – Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? Bemerkungen anhand des Kleinen und des Großen Ursula-Zyklus aus der Mitte des 15. Jahrhunderts in Köln, in: Pilgern zu Wasser und zu Lande, hg. v. Hartmut Kühne/Christian Popp (Jakobus-Studien, Bd. 24), Tübingen 2021, S. 181–207, hier besonders S. 194– 203. 25 Vgl. ebd., S. 203.
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hier auf die edle Kleidung und modische Hörner-Frisur sowie Hörnerhauben26 der Damen im Vordergrund der Szene Ankunft in Basel (vgl. Abb. 10) sowie auf das Pilgerornat einer der Frauen in der Szene Ankunft in Rom (ebenfalls auf Abb. 10) hingewiesen. Unter dem Pilgerhut trägt sie eine Haube mit Kinnbinde, eine für das Spätmittelalter gängige Kopfbedeckung.27 Besonders auffällig gekleidet ist die Frau am linken Bildrand der Szene Rückkehr nach Basel (vgl. Abb. 11). Ihr edles Kleid mit bestickten Ärmeln in Kombination mit einem auffälligen Pelzhut mit Brosche zeugen von einem hohen gesellschaftlichen Rang. Ein prächtiger roter Rosenkranz hängt an ihrem Gürtel. Sie schaut direkt zum Betrachtenden hin und bietet sich daher besonders gut als Identifikationsfigur an. Die Präsentation des Gefolges der hl. Ursula bewegt sich zwischen einer anonymen Masse und der differenzierten Darstellung einzelner Individuen und ähnelt somit in ihren Grundzügen einem weiteren Medium des Ursulakultes, nämlich der in großer Zahl im Kirchenraum vorhandenen Ursulabüsten. Dieses besondere Phänomen Kölner Reliquienkultur entstand an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert als Folge des offensichtlich großen Bedürfnisses nach einer passenden Präsentationsform der zahlreichen heiligen Überreste.28 Ein besonderes Charakteristikum der massenhaft in Köln hergestellten Reliquienbehälter aus Holz ist ihre Gleichartigkeit, die ein homogenes Bild der Jungfrauenschar erzeugt und die große Anzahl an Ursulareliquien unterstreicht. Gleichzeitig wird durch die üblichen Gruppenpräsentation der Reliquienbüsten die „corporeal and corporate unity“29 dieser Heiligengruppe hervorgehoben. Ebenfalls lassen sich bei dieser Darstellungsform des Heiligenkultes Züge einer Individualisierung, wie das Versehen der Kopfreliquiare mit zeitgenössischem Kopfschmuck, feststellen. Als anschauliches 26 Gabriele Praschl-Bichler: Affenhaube, Schellentracht und Wendeschuh. Kleidung und Mode im Mittelalter, München 2011, S. 145, 161. 27 Jutta Zander-Seidel: „Haubendämmerung“. Frauenkopfbedeckungen zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Mode und Kleidung im Europa des späten Mittelalters, hg. v. Rainer C. Schwinges/Regula Schorta, Basel 2010, S. 37–43. 28 Zur Typologie und stilistischen Einordnung der Reliquienbüsten in Köln siehe Oskar Karpa: Kölnische Reliquienbüsten der gotischen Zeit aus dem Ursulakreis (von ca. 1300 bis ca. 1450), in: Zeitschrift des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz 27.1 (1934), S. 1–98. – Ulrike Bergmann [Bearb.]: Die Holzskulpturen des Mittelalters (1000– 1400), Bestandskatalog Schnütgen-Museum, Köln 1989. – Regina Urbanek: Die Goldene Kammer von St. Ursula in Köln. Zu Gestalt und Ausstattung vom Mittelalter bis zum Barock (Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege, Bd. 76; Studien zu Kunstdenkmälern im Erzbistum Köln, Bd. 3), Worms 2010. 29 Montgomery 2010 (wie Anm. 19), S. 68.
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Beispiel dient eine Reliquienbüste aus der Sammlung des Museums Schnütgen (Inv. A 97), die aus der Mitte des 14. Jahrhunderts stammt und neben dem zu dieser Zeit modischen einfachen Kruseler auch zwei Stifterwappen aufweist.30 In ihrer Studie zur Funktion und Rezeption der Ursulabüsten sowie zum möglichen Einfluss des Beginentums bei ihrer Entstehung untersucht Joan Holladay die Auswirkung der bemerkenswerten physischen Präsenz der Ursulabüsten auf ihre Rezeption und verschiebt somit den Fokus weg von den bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend stilistisch ausgerichteten Studien zum Thema.31 Holladay führt die lebensnahe Gestaltung des Inkarnates der anthropomorphen Reliquiaren sowie ihre Ausstattung mit modischen Accessoires auf ihre intendierte Rolle als Identifikationsfiguren für die jungen Patriziertöchter, um sie zu einem gottgefälligen Leben zu bewegen. Die modische Bekleidung der Ursulabüsten unterstreicht darüber hinaus, dass dies auch ohne Verzicht auf eine standesgemäße Lebensführung möglich ist. Dieselbe Strategie lässt sich bei dem Darstellungsmodus der Damen aus der Jungfrauenschar im Großen Ursulazyklus beobachten. Ihr selbstbewusstes Auftreten und ihre Nähe zur zeitgenössischen Betrachterin besaßen mit großer Sicherheit eine Vorbildfunktion. Die Produktion der Ursulabüsten erreichte ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Es ist daher denkbar, dass diese Strategien der Präsentation in das Medium der Tafelmalerei übernommen wurden, die zu dieser Zeit auf dem Vormarsch war. Ob sich die Malerei direkt an die Kanonissen oder an die jungen Frauen im Laienpublikum wandte, hängt jedoch vom ursprünglichen Standort des Bildzyklus und von seiner Zugänglichkeit ab. Dieser Frage widmet sich der letzte Abschnitt dieser Studie. Zunächst aber werden Überlegungen zur Konstruktion und Funktion der Tafeln präsentiert.
Überlegungen zu Material und Format der Tafeln
Das jetzige Erscheinungsbild der Tafeln des Großen Ursulazyklus ist, wie bereits angesprochen, durch frühere Überarbeitungen, Übermalungen und Restaurie30 Vgl. zuletzt Moritz Woelk/Manuela Beer (Hg.): Museum Schnütgen. Handbuch zur Sammlung, Köln 2018, S. 321, Kat. Nr. 215 (Pavla Ralcheva) mit weiterführender Literatur. 31 Vgl. Joan A. Holladay: Relics, Reliquaries and Religious Women. Visualising the Holy Virgins of Cologne, in: Studies in Iconography, 18 (1997), S. 67–118, hier insb. S. 21–24 und S. 28. Siehe auch Ulrike Bergmann: Kölner Skulptur der Hochgotik im wirtschaftlichen und historischen Kontext, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 66 (2005), S. 59–108.
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rungskampagnen stark beeinträchtigt. Eine kunsttechnologische Untersuchung der Gemälde ist dringend notwendig, um mehr über das Material, das ursprüngliche Format und die Funktion der Gemälde zu erfahren. An dieser Stelle werden Beobachtungen aufgeführt, die mit bloßem Auge vor Ort festgestellt werden konnten. Die Tafeln sind gedünnt und rückseitig parkettiert, zudem wurden sie sowohl an den seitlichen Bildrändern als auch teilweise am oberen und unteren Bildrand äußerst grob und unregelmäßig beschnitten. Bei mindestens sieben Tafeln sind Erweiterungen am unteren oder seitlichen Bildrand durch angeleimte Holzleisten festzustellen. So wurden alle Tafeln auf eine ähnliche Größe erweitert.32 Alle Bilder bestehen aus Nadelholz.33 Dabei handelt es sich um eine ungewöhnliche Materialwahl, die möglicherweise mit der ursprünglichen Funktion der Tafeln in Verbindung steht. Nadelholz eignet sich aufgrund seines im Vergleich zu Nussbaum und Eiche deutlich niedrigeren Gewichts besser für die Anfertigung von wandelbaren Teilen beispielsweise eines Retabels, die oft geöffnet und geschlossen werden sollten.34 Der Bildzyklus ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall, sondern lässt sich zu einer größeren Gruppe Kölner Tafelgemälde zählen, die ein ähnliches Format und Material aufweisen. Sie wurden im Rahmen der Sonderausstellung „Die Geheimnisse der Maler. Köln um 1400“ präsentiert und kunsttechnologisch untersucht.35 32 Weitere Beobachtungen zum Format der Tafeln werden im Abschnitt zum Standort des Bildzyklus aufgeführt und vor dem Hintergrund der Frage nach dem Ort der ursprünglichen Aufhängung der Tafeln diskutiert. 33 So teilte es Anna Pawlik der Verfasserin am 12.11.2021 mit. 34 Vgl. Katja von Baum [Verfasserin]: Die Sprache des Materials. Die Technologie der Kölner Tafelmalerei vom „Meister der hl. Veronika“ bis Stefan Lochner [Abschlusspublikation des Verbundprojektes „Die Sprache des Materials. Die Technologie der Kölner Tafelmalerei vom ‚Meister der hl. Veronika‘ bis Stefan Lochner (ca. 1380–1450)], hg. v. Wallraf-RichartzMuseum & Fondation Corboud, Köln 2013, S. 254. 35 Die Ausstellung fand vom 20.09.2013 bis zum 09.02.2014 im Wallraf-Richartz-Museum in Köln statt. Sie bildete ein Teil des BMBF-geförderten Forschungsprojekts „Die Sprache des Materials. Die Technologie der Kölner Tafelmalerei vom ‚Meister der heiligen Veronika‘ bis Stefan Lochner“, das in Zusammenarbeit von Kunsthistorikerinnen und -historikern sowie Kunsttechnologinnen und -technologen 2009 begonnen wurde. Vgl. Geheimnisse der Maler – Köln im Mittelalter, Ausst.-Kat. Wallraf-Richartz-Museum Köln, hg. v. WallrafRichartz-Museum & Fondation Corboud, Berlin 2013. Darauf aufbauend, wurde die Objektgruppe im Rahmen meines Dissertationsprojektes hinsichtlich ihrer Wandelbarkeit in einem größeren Kontext eingebettet und zusammen mit weiteren Objekten wie beispielsweise Truhen, Wandschaukästen für Reliquien u.Ä. bezüglich ihrer kinetischen Natur untersucht. Vgl. Pavla Ralcheva: Wandelbare Bildträger. Die Funktion beidseitig bemalter Tafeln im Spätmittelalter (Bild+Bild, Bd. 6), Berlin 2022.
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Dabei handelt es sich um einige Einzeltafeln36 sowie um den Kleinen Ursulazyklus, der hinsichtlich des Formats, des Materials und der Konstruktion Ähnlichkeiten mit dem Bildzyklus aus St. Ursula aufweist, weshalb er sich für einen detaillierten Vergleich anbietet. Beide Bildzyklen weisen eine Reihe an Übereinstimmungen formaler und inhaltlicher Natur auf. Heutzutage wird der aus 15 Tafeln bestehende Kleine Ursulazyklus entkontextualisiert in einer musealen Präsentation als an der Wand angebrachte Gemälde ausgestellt. Ursprünglich bildeten die beidseitig bemalten Tafeln aufklappbare Verschlussklappen von Wandschaukästen oder Holzschreinen für die Aufbewahrung und Präsentation der massenhaft im Kloster verehrten Ursulareliquien.37 Entscheidend für die Rekonstruktion der ursprünglichen Funktion waren die erhaltenen, wenn auch barockzeitlich übermalten Rückseiten der Tafeln, die über Spuren von Langbändern und Schlössern verfügen. Eine vergleichbare Rekonstruktion ist bei dem Bildzyklus aus St. Ursula leider nicht mehr möglich, da alle Tafeln gedünnt und rückseitig parkettiert sind.38 Indizien für eine mögliche Funktion als Verschlussklappen liefern die Holzwahl (Nadelholz) und das längsrechteckige Format mit einer Breite von ca. 64 cm bis ca. 207 cm, beides ebenfalls bei dem Kleinen Ursulazyklus vorhanden. Zudem besitzen die Tafeln beider Zyklen eine unterschiedliche Breite. Ob die Gemälde ursprünglich wandelbar waren, kann zu diesem Zeitpunkt nicht entschieden werden. Es ist jedenfalls denkbar, dass sich beide geistige Einrichtungen bei der Wahl und Gestaltung ihrer Ausstattungsstücke und der Art der Reliquienpräsentation gegenseitig beeinflusst haben, zumal sie in Konkurrenz zueinander standen.39 Beide befanden sich im Areal des ager ursulanus und wetteiferten um die kostbaren Reliquien.
36 Wie zum Beispiel Die beiden Gastmähler (WRM 862) und Die Anbetung der hl. Drei Könige (WRM 63). 37 Vgl. Pavla Ralcheva: Bilder auf Deckeln. Studien zu schließbaren Bildträgern im Spätmittelalter, in: Klappeffekte. Faltbare Bildträger in der Vormoderne, hg. v. David Ganz/Marius Rimmele (Bild + Bild, Bd. 4), Berlin 2016, S. 185–209, hier S. 199–204. – Ralcheva 2022 (wie Anm. 35). 38 Möglicherweise könnten Röntgenaufnahmen Aufschluss über das Vorhandensein von Langbändern geben. 39 Vgl. Anton Legner: Kölner Heilige und Heiligtümer. Ein Jahrtausend europäischer Reliquienkultur, Köln 2003, S. 224. Der Autor geht nicht ins Detail, wie sich diese Konkurrenz genau äußerte und welche materiellen Zeugnisse von diesem Konkurrenzverhältnis zeugten. Hierzu sind weitere Recherchen notwendig, die aus Zeitgründen nicht im Rahmen dieser Studie durchgeführt werden konnten. Für diese und für weitere zahlreiche Anregungen bedanke ich mich bei Julia von Ditfurth.
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Der Standort des Ursulazyklus
Im Folgenden werden Überlegungen zum jetzigen Standort und zu weiteren möglichen Standorten des Bildzyklus präsentiert. Der heutige Anbringungsort der Gemälde ist der gotische Langchor der ehemaligen Stiftskirche (vgl. Abb. 17). Im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts vollendet, führte der Hochchor zu einer entscheidenden Veränderung des Erscheinungsbildes der frühstaufischen Emporenbasilika.40 Geprägt wird der einschiffige, polygonal geschlossene Langchor von hoch aufragenden Rippengewölben über Dienstbündeln, die den Raum rhythmisieren. Abgeschlossen werden die plastisch vor die Wandebene tretenden Runddienste am Gewölbeansatz durch zweireihige Blattkapitelle, über denen die birnstabförmigen Gewölberippen beginnen. Die Chorwände werden in zwei Zonen gegliedert: eine untere Wandzone und eine Fensterzone darüber. Die Maßwerkfenster in den drei Chorhalsjochen verfügen über jeweils vier Bahnen und die fünf im Chorhaupt über jeweils drei Bahnen. Deren Stabwerk wird in die untere Wandzone herabgeführt und gliedert sie so ebenfalls in drei bzw. in vier Teile. In jedes dieser Teile sind rechteckige vergitterte Öffnungen zur Aufnahme von Reliquien in die Wände eingelassen. Der Ursulazyklus ist im Bereich der unteren Wandhälfte des Langchors so platziert, dass die Aufhängung einen deutlichen Bezug zum architektonischen Aufbau nimmt. Die in ihrer ursprünglichen Breite grob beschnittenen Tafeln des Ursulazyklus bilden gleichförmige Bildensembles (ca. 157–159 cm per Bildensemble), was dafür spricht, dass diese Zusammensetzung der Tafeln nicht der ursprünglichen entspricht.41 Hinweise auf die Beschneidung einzelner Tafeln sind die bei manchen Gemälden an den Bildrändern fehlenden, teilweise abgeschnittenen oder nachgezogenen roten Rahmen sowie Hausmarken oder Wappen wie zum Beispiel am rechten Bildrand der Tafel mit den Szenen Der Empfang der Gesandten, die Gesandten richten ihre Botschaft aus (Abb. 18).42 Manche beschnittenen Einzel40 Vgl. Karen Künstler-Brandstädter: St. Ursula, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 11 (1996) (Kölner Kirchen und ihre mittelalterliche Ausstattung, Bd. 2), S. 208–224, hier S. 212. Die Fertigstellung des Neubaus wird um 1287 angenommen. Vgl. Beuckers 1998 (wie Anm. 4), S. 312. 41 Dies schließt nicht aus, dass die Tafeln in ihrem ursprünglichen Zustand ebenfalls über eine unterschiedliche Breite verfügt haben. Ob die Tafeln auch in ihrer Höhe beschnitten wurden, muss vorerst offenbleiben. 42 Auf manchen Tafeln (wie zum Beispiel rechts auf Tafel Nr. 7 Ursula erzählt ihren Eltern die Botschaft) ist am Rand ein neuerer roter Strich zu sehen.
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Abb. 18: Köln, St. Ursula, Langchor, Großer Ursulazyklus, Detailaufnahme der Tafel Der Empfang der Gesandten, die Gesandten richten ihre Botschaft aus, rechte untere Ecke.
szenen sind zudem eng neben anderen Szenen platziert; oft fehlt dort der trennende rote Rahmen.43 An den Stellen, wo ein Rahmen vorhanden ist, wurde er bei der Hängung offensichtlich berücksichtigt und dem aus den Maßwerkfenstern herabgeführten Stabwerk vorgeblendet. Besonders passend an dieser Stelle ist die Tatsache, dass der gemalte rote Rahmen einen ebenfalls gemalten Schatten wirft44, der seinen architektonischen Charakter unterstreicht und ihn plastisch und dreidimensional wirken lässt. Somit werden mit wenigen Ausnahmen45 jeweils drei oder vier Szenen per Wandabschnitt präsentiert, wodurch eine regelmäßige Ver43 Wie zum Beispiel bei Tafel Nr. 11 Ursulas Abschied von den Eltern und Nr. 12 Ankunft in Tiel. Eine kunsttechnologische Untersuchung des Verlaufs der Jahrringe des Holzträgers könnte Auskunft darüber geben, ob diese beiden Gemälde ursprünglich eine Einheit bildeten. 44 Für den Hinweis zu dem gemalten Schattenwurf bedanke ich mich bei Anna Pawlik und Marc Peez. 45 Wie zum Beispiel Tafel Nr. 13 Erste Ankunft in Köln, die einzeln an einer der Wände im Chorhaupt angebracht ist.
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teilung der Gemälde erreicht wird. Die Bildensembles mit gleicher Breite bewirken den harmonischen Einklang des Bildzyklus mit dem architektonischen Aufbau der Wände im Langchor. Auch wenn die heutige Aufhängung den Eindruck erweckt, dass der Bildzyklus für diesen Standort konzipiert sein könnte, sollte man dies aufgrund der stark beschnittenen Tafeln und ihrer ‚zurechtgeschnittenen‘ Zusammensetzung kritisch hinterfragen. Um sich eine mögliche Aufhängung des Ursulazyklus im Hochchor besser vorstellen zu können, muss zunächst ein Bild von der ursprünglichen Ausstattung des Hochchores nachgezeichnet werden. Im Zuge der neugotischen Restaurierung ab dem Jahr 188846 sind 35 viereckige Nischen von 40 cm Höhe und 53 cm Breite „unter sämmtlichen Fenstern“ im Chorbereich zutage getreten.47 Laut dem Bericht von Alexander Schnütgen war jede Nische mit einer Falz zur Aufnahme eines horizontalen Mittelbrettes versehen und konnte sechs Reliquienschädel beherbergen. Somit war mit über 200 Schädelreliquien ein enormes Reliquienensemble im Hochchor vorhanden, in dessen Mittelpunkt sich die gotische Anlage des Hochaltares befand. Diese kam im Jahr 1888 erneut zum Vorschein, als der barocke Hochaltar abgebrochen wurde.48 Der eindrucksvolle Reliquienaltar bestand aus einem dreiteiligen Holzgehäuse, getragen von vier Schiefersäulen. Hinter der Mensa platziert, war das Gehäuse mit Gittertüren auf der Vorderseite und Eisenketten auf der Rückseite gesichert. Darin befanden sich die größten Heiltümer des Stiftes, nämlich die Reliquienschreine der hll. Ursula, Ätherius und Hippolitus. Durch die erhöhte Platzierung auf Säulen war es den Pilgerinnen und Pilgern möglich, unter der Schreinanlage hindurchzuschreiten und das von den Reliquien herausströmende Heil aufzunehmen. Somit war der Hochchor als ein beeindruckender architektonischer Reliquienschrein gestaltet, dessen „sakrale Bausubstanz“49 die mit Reliquien befüllten Wandnischen bildeten. Der Ursulazyklus ist in Kombination mit den Reliquiennischen gut vorstellbar. Möglich wäre, dass die Tafeln – ähnlich wie bei der jetzigen Präsentation – unterhalb der Nischen angebracht waren. Eine weitere Option wäre, dass die Tafeln als Verschlussklappen der Wandnischen gedient haben.50 In diesem Fall wäre ein Auf46 Vgl. Alexander Schnütgen: Kleinere Beiträge und Nachrichten, in: Zeitschrift für christliche Kunst, Jg. 1, H. 2 (1888), Sp. 83–86. 47 Vgl. Alexander Schnütgen: Kleinere Beiträge und Nachrichten, in: Zeitschrift für christliche Kunst, Jg. 1, H. 3 (1888), Sp. 113. Dort beschreibt Schnütgen auch den Wandschrank auf der Evangelienseite, der „zur Aufnahme des Hochwürdigsten Gutes“ gedient hat. 48 Vgl. Künstler 1984 (wie Anm. 4), S. 532 f. – Legner 2003 (wie Anm. 39), S. 208. 49 Legner 2003 (wie Anm. 39), S. 208. 50 Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Roland Krischel.
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klappen der Tafeln nach unten vorstellbar, um die Distanz zu den Betrachtenden zu verringern.51 Bei so einer Konstruktion müssten die Tafeln allerdings direkt an der Wand befestigt werden. Die Ausstattung der Nischen mit schwenkbaren Klappen wäre daher konstruktiv sehr aufwendig. Denkbar sind die Gemälde auch als Verschlussklappen von Reliquienkästen. Die Kästen müssten dann unterhalb der Nischen aufgehängt werden. Im Falle einer Aufhängung des Ursulazyklus innerhalb des Langchores wäre dieser vom Langhaus oder von der Empore her nicht zu sehen gewesen, denn eine gotische Lettneranlage versperrte den Blick dorthin.52 Somit war der Chorraum abgeschirmt und seine Ausstattung nur von innen sichtbar. Zugang hatten hier vor allem die Kanoniker, aber auch die Kanonissen und die Äbtissin haben sich im Rahmen liturgischer Handlungen im Hochchor aufgehalten, wenn auch nur zu wenigen Anlässen.53 Der Ursulazyklus wäre nicht das einzige Beispiel der Ausstattung eines Hochchores mit einer Legendenerzählung in Köln. Das naheliegende Vergleichsbeispiel wären die vor 1349 vollendeten Chorschrankenmalereien des
51 Mit Gemälden verschließbare Reliquiennischen waren in St. Mariä Himmelfahrt in Köln vorhanden. Vgl. Christoph Bellot: St. Mariae Himmelfahrt, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 20 (2005), S. 33–102, hier S. 76. 52 Der Lettner wurde im Jahr 1642 abgebrochen und durch ein Chorgitter ersetzt, um die Sichtbarkeit des barocken Hochaltars vom Langhaus her zu ermöglichen. Zu der Lettneranlage vgl. zuletzt Adam Stead: Funktion, Bedeutung und Modifizierung mittelalterlicher Lettner in Frauenstiftskirchen am Beispiel der ehemaligen Lettner von St. Marien und Pusinna in Herford und St. Ursula in Köln, in: Bildwerke für Kanonissen? Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhundert. Beiträge zur zweiten Tagung des Forums für Frauenstiftsforschung vom 3. bis 4. November 2018, hg. v. Julia von Ditfurth/Adam Stead (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 2), Köln 2019, S. 105–134. Vermutet wird die Entstehung im späten 13. Jahrhundert in Verbindung mit dem gotischen Chorneubau, Vgl. ebd., S. 128. 53 Wie zum Beispiel für die Gründonnerstagsliturgie und in der Osternacht. Auskunft darüber gibt der liber ordinarius aus dem Ende des 14. Jahrhunderts: „[I]n die Cene puelle cantabunt in novo choro […]. Tunc domicelle in/cipient psalmos vesperarum […]. [I]n nocte sancte Pasche parum post mediam noctem domina abbatissa domicellabus dominis in novo choro iuxta / […].“ Die Quelle ist ediert in: Gertrud Wegener: Der Ordinarius des Stiftes St. Ursula in Köln, in: Aus kölnischer und rheinischer Geschichte. Festgabe Arnold Güttsches zum 65. Geburtstag gewidmet, hg. v. Hans Blum, Köln 1969, S. 115–132, hier zitiert S. 123 (ab Zeile 28) sowie S. 127 (Zeilen 2 und 3). Vgl. dazu auch Gertrud Wegener: Geschichte des Stiftes St. Ursula in Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins e. V., Bd. 31), Köln 1971, S. 120, 127. Jitka Ehlers sei für die Übersetzung und zahlreiche Hinweise zum Text herzlich gedankt.
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Kölner Domes.54 Sie widmen sich diversen Heiligen, die in besonderer Beziehung zum Dom stehen. Auch für den spätmittelalterlichen Severinzyklus aus der ehemaligen Stiftskirche St. Severin käme eine Anbringung im Hochchor in Frage.55 Die rezeptionsästhetische Analyse der Tafeln zeigte jedoch, dass mit den Darstellungen primär ein weibliches Publikum angesprochen werden sollte, was sich durch die stark limitierte Zugänglichkeit und Sichtbarkeit des Chorraums als schwer erweist. Daher werden als Nächstes Überlegungen zu weiteren möglichen Standorten des Bildzyklus innerhalb des Kirchenraums aufgeführt. Dabei ist zu fragen, an welchem Ort in der Kirche genug Platz für alle Tafeln vorhanden war.56 Zeitgenössische Quellen wie Pilger- und Reiseberichte vermitteln eine Vorstellung von der Ausstattung der Kirche und können an dieser Stelle möglicherweise Aufschluss über den Standort der Gemälde im Kirchenraum geben.57 In den zahlreichen Augenzeugenberichten, die Anton Legner gesammelt präsentiert, zeichnet sich ein wiederkehrendes Narrativ ab. Im Mittelpunkt aller Schilderungen steht die Fülle der im Kirchenraum vorhandenen Reliquien: „Die meisten Gebeine dieser Märtyrer, Männer und Frauen, sind in diesem Kloster, so viele, daß es voll von heiligen Gräbern ist. Ringsherum in der Kirche und mitten darin sind heilige Gebeine 7–8 Fuß noch aufgehäuft und mit seidenen Vorhängen bedeckt, die man beiseite zieht, wenn man sie zeigen will.“58 Zahlreiche Reliquien wurden nicht nur in den Chorwänden in Nischen untergebracht, sondern zierten auch die Wände des Lang- und Querschiffes: „Nicht allein auf den Altären, sondern an allen Wänden des Lang- und Querschiffes sind Reliquien angebracht wie Thürchen an einem Taubenschlage, und in jeder Oeffnung liegt einer hl. Jungfrau Haupt, und so sind alle Seiten der Kirche bis hinauf zum Gewölbe mit Reliquien bedeckt. […] Und konnte man daselbst auch anderer Jungfrauen Häupter mehr denn dreitausend an der Zahl an den Wänden der Kirche und andere unzählige Reliquien sehen.“59 54 Zu den Chorschrankenmalereien siehe Ute Wachsmann: Die Chorschrankenmalereien im Kölner Dom. Untersuchungen zur Ikonologie, 3 Bde., Diss. Bonn 1985 [masch.]. 55 Vgl. Joachim Oepen/Marc Steinmann [Verfasser]: Der Severinzyklus (Werkhefte und Bücher, Bd. 46 / Ortswechsel, Bd. 2), Köln 2016, S. 142. 56 Die Gesamtlänge des Zyklus beträgt ca. 26 m. 57 Die folgenden Zitate stammen aus Anton Legner: Kölner Reliquienkultur. Stimmen von Pilgern, Reisenden und Einheimischen, Köln 2017. Dort mit weiterführender Literatur zu den zitierten Autoren sowie zu den ausgewählten Textstellen. 58 Anton von Lalaing im Jahr 1503, zit. n. ebd., S. 86. 59 Philippe de Vigneulles im Jahr 1510, zit. n. ebd., S. 90.
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Mehrmals werden 35 Steingräber erwähnt, die sich in der Kirche anstelle eines Gestühls befinden und wohl mit Bildern geschmückt wurden: „Hier sah ich eine große Menge Denkmäler; denn hier zählte ich 35 große steinerne Grabdenkmäler von großer Höhe, Breite und Länge. Unter den übrigen sah ich das Grabdenkmal der hl. Ursula selbst. Ihre Bildsäule war an dem einen Ende desselben errichtet. Das Denkmal ist ringsherum mit einem eisernen Gitter umgeben. Die übrigen haben kein solches. Auch ist an diesem wie an den übrigen ein Kerzenleuchter angebracht, und die Bilder vieler Königinnen mit Kronen auf ihren Häuptern sind auf den Seiten der Denkmäler dargestellt.“60 Inmitten der Fülle an Reliquien im Lang- und Querhaus stellt sich die Frage, an welcher Stelle der umfangreiche Bildzyklus Platz gefunden haben könnte. Zwei historische Aufnahmen (Abb. 19 und 20) geben Aufschluss über die ehemaligen Standorte des Ursulazyklus, bevor er im Hochchor installiert wurde.61 Die erste Aufnahme stammt wohl aus der Zeit um 1911 und zeigt die in einem hölzernen Rahmen eingefassten, übereinander gestapelten Ursulatafeln an der Westwand des nördlichen Querhauses. Es sind nicht alle Tafeln dort angebracht. Ludwig Scheibler berichtet im Jahr 1892 von sechszehn Tafeln, die sich „nahe dem Grabe der Heiligen“62 befinden. Bei Ludwig Scheibler und Carl Aldenhoven findet sich im Jahr 1902 eine kurze Notiz über eine Änderung der Hängung: „Von den 29 Bildern sind jetzt 24 im nördlichen Querhaus (zum Theil falsch) zusammengesetzt, eines fehlt.“63 Dort befanden sich die Bilder im Jahr 1934 wohl immer noch oder wurden wieder dort aufgestellt: „Die auf 19 Tafeln gemalten 31 Bilder befinden sich nach der in neuester Zeit erfolgten Umhängung größtenteils an der Westwand des nördlichen Kreuzarmes.“64 Auf der zweiten Aufnahme ist die Präsentation an der Ostwand des nördlichen Querhauses nach dem Wiederaufbau der Kirche im Jahr 1970 zu sehen. Die Bilderreihe ist als lebhafte Illustration ihres Heiligenlebens in Verbindung mit dem Grab der hl. Ursula gut vorstellbar. Die Auffindung des Ursulagrabes wird der Legende nach dem hl. Kunibert zugeschrieben.65 Die heutige Grabanlage ließ Johann von Crane 1659 aus schwarzem Marmor und weißem Alabaster errich-
60 Thomas Coryat im Jahr 1608, zit. n. ebd., S. 133. 61 Für die Recherche nach den Abbildungen in verschiedenen Bilddatenbanken und Archiven sei an dieser Stelle Amadeus Tkocz herzlich gedankt. 62 Scheibler 1892 (wie Anm. 18), S. 142. 63 Scheibler/Aldenhoven 1902 (wie Anm. 18), S. 185. 64 Arntz 1934 (wie Anm. 13), S. 68. 65 Vgl. Legner 2003 (wie Anm. 39), S. 212.
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Abb. 19: Köln, St. Ursula, Blick nach Nordwesten, historische Aufnahme, wohl 1911.
ten.66 Dieses Monument umfasst einen gotischen Steinsarkophag aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, dessen Abdeckung eine Schieferplatte mit Darstellung der hl. Ursula bildet.67 Von einem Pfeil durchbohrt und mit geschlossenen Augen ruht sie auf einem Kissen, in der linken Hand hält sie die Märtyrerpalme. Somit bildet die Grabstätte der Heiligen eine logische Fortsetzung und zugleich Höhepunkt des Gemäldezyklus, der zum Schluss die Bestattung der hl. Ursula zeigt (vgl. Abb. 16). In der östlichen Nebenapsis des nördlichen Querhauses befand sich der Nikolausaltar, in unmittelbarer Nähe des vor dem Lettner stehenden Kreuzaltares.68 Zusammen mit dem Nikolausaltar hätten Heiligengrab und Bildzyklus ein beeindruckendes Ensemble für die zahlreichen Besucherinnen und Besucher des Stiftes gebildet. Die als Identifikationsfiguren aufgeführten Frauenfiguren aus dem Gefolge der hl. Ursula hätten das konventfremde Publikum adressiert und die 66 Vgl. ebd., S. 214. 67 Vgl. Arntz 1934 (wie Anm. 13), S. 55 f. 68 Vgl. Kosch 2000 (wie Anm. 4), S. 78.
Der Ursulazyklus aus St. Ursula in Köln |
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Abb. 20: Köln St. Ursula, Blick nach Nordosten, historische Aufnahme, 1970.
jungen Frauen zu einer gottgefälligen Lebensweise bewegt.69 Bei diesem möglichen Szenario einer Unterbringung des Bildzyklus ist allerdings zu bedenken, dass im Querhaus nicht genügend Platz gewesen wäre, um alle Tafeln in einer Reihe zu präsentieren. Möglich wäre daher, dass sich der Zyklus teilweise im Langhaus und im nördlichen Querhaus befand, um seine volle Breite entfalten zu können. Grundsätzlich möglich wäre jedoch ebenfalls eine Anbringung der Tafeln in mehreren Registern übereinander, ähnlich der Anbringung, die auf den historischen
69 Auffallend modische Bekleidung lässt sich ebenfalls bei den männlichen Protagonisten im Bildzyklus feststellen. Vgl. Scheibler/Aldenhoven 1902 (wie Anm. 18), S. 186. Als Identifikationsobjekt waren die Tafeln sicherlich auch für das männliche Laienpublikum von Interesse.
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Aufnahmen zu sehen ist. Somit würde sich der Bildzyklus an die Struktur eines Wandmalereizyklus orientieren.70 Ein weiterer möglicher Aufstellungsort wäre die Kanonissenempore. Die drei Wände der Kanonissenempore verfügen über beinahe dieselbe Länge von ca. 7,5 m. Eine Unterbringung des gesamten Bildzyklus wäre demnach mittels einer Staffelung der Bilder beispielsweise in zwei Reihen möglich. Bei dem gemeinsamen Chorgebet, dem täglichen Hochamt und bei Seelenmessen sowie Memorienfeiern, die die Kanonissen gemeinsam feierten71, hätten sie stets Szenen aus der Legende der hl. Ursula vor Augen gehabt.72 Falls es sich bei den Tafeln des Ursulazyklus doch um Verschlussklappen von Reliquienschränken gehandelt hat, wäre eine Aufhängung in mehreren Registern schwer handhabbar. Denn in diesem Fall müsste man für ausreichend Platz zwischen den einzelnen Kästen sorgen, um die Verschlussklappen nach oben oder nach unten bewegen zu können.
Fazit
Mehr Fragen als Antworten hat die vorliegende Studie aufgeworfen und verdeutlicht, dass an erster Stelle eine kunsttechnologische Untersuchung aller Tafeln unabdingbar ist, um die aufgeführten Überlegungen zu Funktion und Standort der Ursulatafeln zu präzisieren. Die ikonografische und rezeptionsästhetische Analyse des Bildzyklus hat dazu verholfen, die am Anfang der Studie gestellte Frage nach genderspezifischen Merkmalen etwas deutlicher beantworten zu können. In diesem Kontext auffallend sind die detailliert dargestellten zeitgenössischen Trachten einzelner Damen aus der Jungfrauenschar der hl. Ursula. Ihre Nähe zur zeitgenössischen Betrachterin wurde zudem durch den Vergleich mit einem weiteren 70 Für diese Idee bedanke ich mich bei Jitka Ehlers. Ein Vergleichsbeispiel wären die gotischen Wandmalereien im Chor von St. Cäcilien in Köln. Der Christus- und der Cäcilienzyklus erstrecken sich jeweils in drei Registern übereinander im Chor der ehemaligen Stiftskirche. Zu den Wandmalereien siehe zuletzt: Woelk/Beer 2018 (wie Anm. 30), S. 174f., Kat. Nr. 111 (Adam Stead) mit weiterführender Literatur. 71 Vgl. Wegener 1971 (wie Anm. 53), S. 79. 72 Hochspannend in diesem Kontext erscheinen die individuellen Trachten der Frauen aus der Gefolge der hl. Ursula. Wegener führt auf, dass die Kanonissen im 15. Jahrhundert ausschließlich beim Gottesdienst eine einheitliche Kleidung trugen und sich darüber hinaus ihrem Rang entsprechend kleideten, liefert jedoch keine Belege dafür. Vgl. ebd.
Der Ursulazyklus aus St. Ursula in Köln |
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Phänomen der Ursulaverehrung – nämlich den massenhaft in Köln hergestellten Ursulabüsten – unterstrichen. Die durch individuelle Merkmale hervorgehobenen Repräsentantinnen der Jungfrauenschar agierten demnach als Identifikationsfiguren, was den Schluss nahelegt, dass die Darstellungen wohl vorwiegend ein weibliches Publikum adressierten. Aufgrund der begrenzten Sichtbarkeit allgemein, der limitierten Sichtbarkeit des Langchors der ehemaligen Stiftskirche für ein weibliches Publikum sowie der fehlenden Belege einer ursprünglichen Präsentation im Hochchor wurde die jetzige Präsentation des Bildzyklus dort als ursprünglicher Standort in Frage gestellt und neue Überlegungen wurden unternommen. Beobachtungen hinsichtlich der Materialität und Konstruktion der Tafeln sowie der Vergleich mit einem weiteren mehrteiligen Ursulazyklus aus der Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums haben das Spektrum an möglichen Funktionskontexten zudem erweitert. Denkbar sind die Tafeln sowohl als Gemälde als auch als Verschlussklappen von Reliquienschaukästen. In diesem Fall hätten die unterschiedlichen Konstruktionen und Dimensionen unterschiedliche Arten der Aufhängung sowie unterschiedliche Standorte erfordert. Handelte es sich um Einzeltafeln, wäre neben einer klassischen Aufhängung aller Tafeln in einer Reihe ebenfalls eine Anbringung übereinander in mehreren Registern möglich. Umsetzbar wäre so eine Aufhängung des Tafelensembles im nördlichen Querhaus in Verbindung mit dem Grab der hl. Ursula oder auf der Kanonissenempore. Reliquienkästen hingegen hätte man eher in einer Reihe angebracht und nicht in mehreren Registern übereinander, um die für die Handhabung notwendige Zugänglichkeit zu ermöglichen. Hierbei wäre eine Aufhängung im Langchor denkbar. Auch teilweise im Langhaus und im nördlichen Querhaus hätte der Bildzyklus seine volle Breite entfalten können. Die Kanonissenempore müsste in diesem Fall aufgrund von Platzmangel als möglicher Anbringungsort ausgeschlossen werden. Die Überlegungen zum ursprünglichen Standort müssen jedoch hypothetisch bleiben und dienen als Ausblick für die weitere Erforschung eines der ausführlichsten spätmittelalterlichen Bildzyklen in Köln.
Die Stiftungen der Kölner Familie Hirtz in St. Ursula als Ausdruck von sozialem Rang und Ritterbürtigkeit Markus Jansen
Die Kirche St. Ursula war gleichzeitig einer der populärsten und einer der exklusivsten Orte in der mittelalterlichen Stadt Köln. Populär, da sie das Zentrum des Kults der weit über die Stadtgrenzen hinaus verehrten heiligen Ursula und ihrer 11.000 Jungfrauen war und Besucher aus allen Teilen der lateinischen Christenheit anzog. Exklusiv, da sie seit dem Jahr 922 Stiftskirche einer Kanonissengemeinschaft war, die sich ausschließlich aus freiadeligen Damen rekrutierte und so Bürgerinnen der Stadt, in der sie lag, ausschloss.1 Nichtsdestoweniger wurde Ursula als Patronin Kölns auch in der dortigen Bürgerschaft verehrt, da gemäß ihrer Vita ihr Tod die Stadt von einer Belagerung durch die Hunnen befreit haben soll.2 Ausdruck fand diese Verehrung unter anderem in Form von Stiftungen, die das Frauenstift in vielfältiger Form von Geld über Messgerät bis hin zu ganzen Bauteilen erhielt.3 Eine solche Stiftung war dabei eine doppelte Investition – einerseits in das jenseitige Seelenheil, andererseits in das diesseitige Prestige der Stiftenden und ihrer Familien. Auf den folgenden Seiten soll der zweite Aspekt im Vordergrund 1 2
3
Zur Geschichte des Stifts vgl. Gertrud Wegener: Geschichte des Stiftes St. Ursula in Köln, Köln 1971. Zur Vita der hl. Ursula vgl. Wilhelm Levison: Das Werden der Ursula-Legende, in: Bonner Jahrbücher 132 (1927), S. 1–164. – Frank Günther Zehnder: Sankt Ursula. Legende – Verehrung – Bilderwelt, Köln 21987, S. 75 f. – Vgl. zum größeren Kontext der Verbindung von Heiligenverehrung und (früher) Stadtgemeinde Lea Raith: Quasi historia. Kölner Stadtgeschichte in der Hagiographie des 10.–12. Jahrhunderts, Diss. Köln 2022 [masch.]. Vgl. dazu grundlegend Wolfgang Schmid: Stifter und Auftraggeber im spätmittelalterlichen Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Stadtmuseums, Bd. 11), Köln 1994. – Ferner Wolfgang Herborn: Wirtschaftliche und soziale Grundlagen des Kölner Mäzenatentums im 13. und 14. Jahrhundert am Beispiel der Familien von Hirtze und Hardevust, in: Vor Stefan Lochner. Die Kölner Malerei 1300–1430, hg. v. Gerhard Bott, Köln 1977, S. 164–178. – Hans Vogts: Die Kölner Patriziergeschlechter des Mittelalters als Bauherren und Förderer der Kunst, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 155–156 (1954), S. 501–525.
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stehen und am Beispiel der Kölner Familie vom Hirtz dargestellt werden, warum sich diese Stiftungen als Manifestation eines sozialen Anspruchs verstehen lassen und dabei sowohl die Stifterfamilie in der ritterlichen Elite ihrer Zeit verorten als auch den Wandel der politischen Strukturen der Kölner Stadtgesellschaft widerspiegeln.4
Die Hirtz als Teil der städtischen Elite Kölns
Zunächst einmal sind in der spätmittelalterlichen Stadt Köln zwei Familien zu unterscheiden, die sich ‚vom Hirtz‘ (lat. de Cervo, von cervus = Hirsch) nannten.5 Ebenso wie eine dritte namensähnliche Kölner Familie, die Hirzelin, waren sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Zweige desselben Geschlechts, sondern eigenständige Familien, die gelegentlich untereinander Ehen schlossen (Abb. 1). Zuerst ist der Name Hirtz bzw. de Cervo in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert für jene Familie belegt, die später zur Unterscheidung ‚Hirtz von der Landskron‘ genannt werden sollte.6 Um 1300 heiratete die dieser Familie entstammende Katharina de Cervo den Kölner Bürger Johann Niger.7 Seine Familie ist in Köln noch länger nachweisbar als die de Cervo und stellte bereits um 1235/37 mit Richolfus Niger einen Schöffenbruder. Ratsherren scheinen sie hingegen keine gestellt zu haben. Ihren Wohlstand hatten die Niger ursprünglich im Tuchhandel gewonnen, zogen sich aber wie viele andere Familien der Elite zum Ende des 13. Jahrhunderts aus 4
Zur Kölner Elite des Spätmittelalters nach wie vor grundlegend Wolfgang Herborn: Die politische Führungsschicht der Stadt Köln im Spätmittelalter (Rheinisches Archiv, Bd. 100), Bonn 1977. Siehe auch Markus Jansen: Die Stadt der Ritter und die siegreiche Gemeinde. Dynamiken kriegerischer Habitusformen und Narrative innerhalb der Kölner Elite des Spätmittelalters, Diss. Köln 2021 [masch.]. Die Arbeit erscheint voraussichtlich 2023/24. 5 Vgl. dazu etwa Friedrich Lau: Das Kölner Patriziat bis zum Jahre 1325, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 10,26–27 (1896), S. 103–158, hier S. 113 f. 6 1275 ist etwa ein Theodericus de Cervo genannt, er war Mitglied des Engen Rates und der Richerzeche; Lau 1896 (wie Anm. 5), S. 113 f. Im Jahr 1283 ist zudem das Haus de Cervo am Altermarkt belegt; Historisches Archiv der Stadt Köln (im Folgenden als HAStK abgekürzt), Best. 1, U 1/469B GB. Es lässt sich nicht mehr erkennen, ob das Haus seinen Namen nach der Familie oder die Familie ihren Namen nach dem Haus trug. 7 Cybele Crossetti de Almeida: Führende Kölner Familien im Spätmittelalter – eine prosopographische Untersuchung, Göttingen 2015, S. 155. Der Monografie ist ein Anhang auf CD beigegeben, auf diesen beziehen sich die im Folgenden mit ‚Anhang‘ gekennzeichneten Verweise.
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diesem Erwerb zurück und fokussierten sich auf Renten und Geldgeschäfte.8 Die Nachkommen der Eheleute Katharina und Johann übernahmen den mütterlichen Namen de Cervo.9 Ihr Sohn Johann kann daher als (Namens-)Begründer des Geschlechts angesehen werden.10 In der Forschung werden seine Nachkommen mitunter unter Einbezug des väterlichen Namens als ‚Schwartz vom Hirtz‘ bezeichnet, diese Benennung scheint von den Zeitgenossen aber kaum gebraucht worden zu sein. Sie findet sich erstmals in der Koelhoffschen Chronik von 1499, die in einem Rekurs über die Abstammung der Kölner Geschlechter zwischen den „vam Hyrtz die men nent vander Lantzkroin“ und den „Swartzen die men noempt vam Hirtz“ unterscheidet.11 Dass die Hirtz sich selbst je so nannten, lässt sich nicht erkennen. 1513 starben sie mit Everhard vom Hirtz, der keinen männlichen Erben hatte, in männlicher Linie aus. Bekannt sind nur seine Töchter Maria, die 1546 als Novizin des Nonnenkonvents zu Königsdorf genannt wird, und Cornelia, die mit Wynrich Raitz von Frentz verheiratet war.12 Die Hirtz von der Landskron hingegen (diesen Zusatz nutzten deren Mitglieder im Gegensatz zu ihren Namensvettern tatsächlich13) blieben noch über ein Jahrhundert Teil der gesellschaftlichen Elite.14 Wenn 8 Vgl. Herborn 1977 (wie Anm. 4), S. 166 f. 9 Sie sind damit ein Beispiel dafür, dass die Geschlechternamen des 13. und frühen 14. Jahrhunderts noch nicht allein im Mannesstamm weitergegeben wurden; dazu Marc von der Höh: Name und Verwandtschaftsgruppe. Zur Frühgeschichte der Kölner Geschlechter im 13. Jahrhundert, in: Konkurrierende Zugehörigkeit(en). Praktiken der Namensgebung im europäischen Vergleich, hg. v. Christof Rolker/Gabriela Signori, Konstanz 2011, S. 74–97. 10 1314 ist er erstmals mit diesem Namen belegt; HAStK, Best. 1, U 1/807A F. – Herborn 1977 (wie Anm. 4), S. 164. – Lau 1896 (wie Anm. 5), S. 113 f. 11 Koelhoffsche Chronik, Nachdruck Köln 1972, fol. 58g–58k. Die betreffenden Seiten sind in die ansonsten bereits im Original foliierte Koelhoffsche Chronik ohne eigene Foliierungszahlen eingefügt, weswegen ihr in der Edition die fol. 58d–58k gegeben wurden. Neben den 15 ältesten Familien, die gemäß ihres Abstammungsmythos aus Rom selbst stammten, zogen nach Ankunft der Gebeine der Heiligen Drei Könige in Köln (1164) noch 30 weitere Familien in die Stadt, die zwar keine Römer, aber doch ehrbare ritterliche Leute waren. Zu diesen Nachzüglern rechnet der Chronist auch die beiden Familien vom Hirtz. 12 HAStK, Best. 1031, U 1/219. 13 Er ist erstmals 1367 für den Ritter Johann Hirtz von der Landskron belegt; HAStK, Best. 1, U 1/2530; Best. 210, U 2/1243A. 14 Zwischen 1652 und 1669 amtierte Isaak vom Hirtz von der Landskron sogar als Abt der Reichsabtei Kornelimünster bei Aachen und war damit ein geistlicher Reichsfürst; vgl. Norbert Kühn: Aachen-Kornelimünster, Benediktiner (um 816/17–1802), in: Nordrheinisches Klosterbuch: Lexikon der Stifte und Klöster bis 1815. Bd. 1: Aachen bis Düren, hg. v. Manfred Groten, Siegburg 2009, S. 220–233. Der weitere Werdegang der Familie ist kaum erforscht, sie scheinen aber im Landadel des Aachener Raums aufgegangen zu sein; vgl.
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| Markus Jansen Abb. 1: Wappen der beiden Familien vom Hirtz.
im Folgenden von den Hirtz die Rede ist, so soll dies allein jene Familie meinen, die für gut 200 Jahre zwischen dem frühen 14. Jahrhundert und 1513 existierte. Nach dem von Cybele Crosseti de Almeida erstellten Stammbaum umfasste die Familie insgesamt fünf Generationen.15 Dem ersten Träger des neuen Geschlechternamens, dem 1314 erstmals belegten Johann de Cervo, gelang gleich der Zugang zum Engen Rat. Diese Zugehörigkeit zur städtischen Elite hielten auch seine Nachkommen.16 Ebenso bemühten sie sich um geistliche Ämter; so war einer der zahlreichen Träger des Namens Johann († ca. 1401/03) Propst des Kölner Kollegiatstifts St. Andreas.17 Heinrich vom Hirtz lässt sich von 1345 bis 1358 als Propst des Nideggener Kollegiatstifts nachweisen, das in enger Verbindung zu den Herzögen von Jülich stand.18 Bemerkenswert ist, wie gut die Familie den Verfassungswechsel von 1396 überstand. In diesem Jahr wurde die seit dem 13. Jahrhundert etablierte Herrschaft einiger weniger Geschlechter durch die Gemeinde gestürzt und eine neue, auf Äm-
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Christian Quix: Beiträge zu einer historisch-topographischen Beschreibung des Kreises Eupen, Aachen 1837, v.a. S. 110–117. Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), Tafel XXV. Lau 1896 (wie Anm. 5), S. 114. Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), S. 115. HAStK, Best. 204, U 3/191/1; Best. 210, U 2/1053; Best. 247, U 3/65; Best. 251, U 1/100, U 2/86, U 2/95, U 3/105; Best. 264, U 1/172; Best. 270, U 2/89. Zu ihm ferner A. Heuser: Das Testament des Heinrich von Hirtz, gen. von der Landskron, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 20 (1869), S. 70–95, der ihn allerdings irrig den Hirtz von der Landskron zuordnet. Dass er zu (Schwarz) vom Hirtz gehörte, zeigt u.a. der Umstand, dass er die Ritter Johannes und Godefridus als seine Brüder („fratres mei“) bezeichnet; ebd., S. 91, 95.
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tern und Gaffeln als politischen Korporationen der Stadtgemeinde beruhende Verfassung beschlossen. Einige der alten Familien verließen die Stadt und wechselten in den Landadel über, andere verblieben in Köln, gingen aber auf merkliche Distanz zu den neuen politischen Strukturen, und wieder andere arrangierten sich mit den gewandelten Verhältnissen.19 Zu der letzteren Gruppe zählten auch die Hirtz. Vor 1396 stellten die Hirtz drei Bürgermeister, zwei Ratsherren und einen Schöffen am Hochgericht.20 Zwar wertet Crossetti de Almeida die Ereignisse von 1396 als „einen fast totalen Bruch“21 im politischen Agieren der Hirtz, dies kann aber nur für die kurzfristige Wirkung des Umsturzes gelten. Zunächst führte die starke Einbindung der Familie in die alte Elite in der Tat dazu, dass auch sie von den Strafmaßnahmen betroffen war, die der neue Rat gegen die entmachteten Geschlechter verhängte. Dazu zählten zeitlich meist befristete Verbannungen (Ritter Johann vom Hirtz, der noch 1394 Ratsherr gewesen war, wurde für sechs Jahre aus der Stadt verbannt und durfte sich ihr höchstens auf 13 Meilen nähern), temporärer Hausarrest (dieser dauerte für Johann d. J. und Hermann vom Hirtz bis zum 11. März 1397) und zuletzt Geldbußen (hier wurden Johann 6833 Mark und 4 Schilling und Hermann vom Hirtz 1366 Mark und 4 Schilling auferlegt).22 Es waren jedoch nicht alle Familienmitglieder von diesen Maßnahmen betroffen. Ritter Gobelinus vom Hirtz hielt sich auch nach dem Umsturz von 1396 in politischen Würden und wurde noch viermal in den Rat gewählt.23 Bereits 1403 wurde ein weiterer Johann vom Hirtz zum Schöffen gewählt – allerdings blieb das Schöffenkolleg als letzte Bastion der alten Elite noch bis 1448 ausschließlich in der Hand der Geschlechter.24 Dass sich die Hirtz letztlich gut in das neue politische System integrierten, erweist sich daran, dass sie auch nach der Entmachtung der Geschlechter drei Bürgermeister und acht Ratsherren stellten. Zu diesen zählten die Ritter und Brüder Johann und Everhard sowie deren Bruder Heinrich und ihr Neffe Richolf. Aus der letzten Generation der Familie saßen die Brüder Dr. Johann und Ritter Everhard
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Vgl. dazu grundlegend Herborn 1977 (wie Anm. 4). Herborn 1977 (wie Anm. 4), S. 133, 210. Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), S. 112. Herborn 1977 (wie Anm. 4), S. 338–341, 345–348, 349. Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), S. 112. Vgl. dazu Wolfgang Herborn/Peter Heuser: Vom Geburtsstand zur regionalen Juristenelite – Greven und Schöffen des kurfürstlichen Hochgerichts in Köln von 1448 bis 1798, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 62 (1998), S. 59–160.
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im Rat, Johann war zudem zweimaliger Bürgermeister.25 Dieser Johann, der in Orléans und Pavia studierte und von 1472 bis 1486 kanonisches Recht an der Kölner Universität lehrte, wurde als erster promovierter Jurist 1489 und 1492 Bürgermeister seiner Vaterstadt, zerstritt sich aber über rechtliche Fragen mit dem Rat.26 Johann taucht zudem als fiktiver Gesprächspartner in einem in Dialogform gehaltenen Bericht über die Überreichung einer Goldenen Rose an Herzog Johann von Kleve im Jahr 1489 auf, die ein Ehrengeschenk Papst Innozenz’ VIII. (1484–1492) war.27 Heymerick adressiert seinen Bericht sogar an Johann mit den Worten: „Dem hochansehnlichen, sowohl in der Kenntnis beiderlei Rechts [des kanonischen und des weltlichen Rechts] wie auch der Redekunst und dem Geschlecht nach hochberühmten Magister Johann vom Hirtz, Bürgermeister der segensreichen Stadt Köln.“28 Johanns Bruder Everhard († 1513) war das letzte lebende männliche Mitglied der Familie. Crossetti de Almeida nimmt an, dass er sich einem landadligen Lebenswandel zugewandt haben könnte, da er zwischen 1492 und 1513 nicht mehr im Rat saß.29 Dies verbindet sie mit der Vermutung, dass seine Frau Agnes, für die sich kein Ge25 Vgl. Joachim Deeters: Rat und Bürgermeister in Köln 1396–1797. Ein Verzeichnis (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Bd. 99), Köln 2013, S. 57–62, 64, 123, 188, 242, 245, 249, 253, 255 f., 262, 266 f., 275 f., 281 f., 284, 296, 301, 303, 311, 314, 317 f., 344–348, 350 f., 356, 359, 361 f. – Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), S. 112 f. 26 Der Streit drehte sich um die Frage, ob Johann als Universitätsangehöriger vor dem Universitätsgericht belangt werden musste oder ob er als Bürger städtischer Gerichtsbarkeit unterstand; dazu Franz-Josef Arlinghaus: Was ist ein Kölner? Bürgerschaft, kommunales Gerichtswesen und Zugehörigkeit im 15. Jahrhundert, in: Geschichte in Köln 65 (2018), S. 45–71, hier S. 59–65. Zu seiner Person auch Hilde de Ridder-Symoens/Detlef Illmer/ Cornelia M. Ridderikhoff: Première livre des procurateurs de la nation germanique de l’ancienne Université d’Orléans 1444–1546, Bd. 2,1, Leiden 1978, S. 55–58. 27 Der Text ist in Dialogform gehalten, wobei Heymerick als Einheimischer Johann vom Hirtz als Fremdem die Ereignisse um die Übergabe der Rose schildert; vgl. Dieter Scheler: Die Goldene Rose des Herzogs Johann von Kleve. Der Bericht des Arnold Heymericks von der Überreichung der Goldenen Rose im Jahr 1489, Kleve 1992, S. 26 f. Vgl. hierzu (im Kontext weiterer Rosengeschenke Papst Innozenz’ VIII.) Elisabeth Cornides: Rose und Schwert im päpstlichen Zeremoniell. Von den Anfängen bis zum Pontifikat Gregors XIII. (Wiener Dissertationen aus dem Gebiet der Geschichte, Bd. 9), Wien 1967, S. 100 mit Anm. 8–10, die auf weiterführende Details im Tagebuch des päpstlichen Zeremonienmeisters Johannes Burkard rekurriert und dabei statt 1489 das Jahr 1488 nennt (was wohl aus dem abweichenden Jahresbeginn an der Kurie resultiert) sowie den hier allerdings unzutreffenden Namen „Heinrich“ für den Herzog von Kleve angibt. 28 „Viro maximo tum utriusque iuris cognicione tum eloquencia ac genere clarissimo magistro Ioanni de Cervo, alme civitatis Coloniensis magistratum gerenti“; Scheler 1992 (wie Anm. 27), S. 42 f. Für die freundliche Hilfe bei der Übersetzung danke ich Prof. Jörg Bölling (Hildesheim). 29 Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), S. 113 f.
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schlechtername finden lässt, aus einer landadeligen Familie stammte. Crossetti de Almeidas diesbezüglicher Verweis auf die Raitz von Frentz, da sich 1549 ein Wynrich aus diesem Geschlecht als Erbe Everhards bezeichnete30, trifft nicht zu, denn Wynrich war der Ehemann von Everhards Tochter Cornelia.31 Wenn sich auch auf diesem Wege keine Bestätigung der landadligen Ambitionen finden lässt, war die Familie sehr wohl in die ritterliche Welt ihrer Zeit eingebunden. Zunächst gilt es aber, die Verbindung der Hirtz zum Stift St. Ursula näher auszuleuchten.
Die Verbindung der Hirtz zu St. Ursula als Stifter und Ursulabrüder
Die 1499 gedruckte Koelhoffsche Chronik, das große Kölner Geschichtswerk des Spätmittelalters, widmet einen längeren Abschnitt der Stiftertätigkeit der Familie vom Hirtz.32 Ausgehend von einer Kapelle, die „der wohlgeborene und hochgelehrte Herr, Herr Johann vom Hirtz, Doktor in geistlichen und kaiserlichen Rechten“ im Jahr 1493 an die Kirche des Damenstifts St. Maria im Kapitol anbauen ließ33, berichtet der unbekannte Chronist, dass der Vater dieses Johann einst um das Jahr 1491 die eine Seite der Kirche der 11.000 Jungfrauen habe erneuern und mit einem neuen Altar, Gewölben, Glasfenstern und anderem Zierrat ausstatten lassen (Abb. 2).34 Während die genannte Jahreszahl aller Wahrscheinlichkeit nach 30 Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), S. 114 f. 31 HAStK, Best. 102MA, U 1/207; Best. 102N, U 1/220; Best. 1031, U 1/219. 32 Koelhoffsche Chronik (wie Anm. 11), fol. 100a: „Item desgelichen up der luertzer siden hait doin machen anno domini 1493 ein alzo koestlich capell der wailgeboren ind hoichgeleirde here, here Johan van Hirtz, doctor in geistlichen ind keiserlichen rechten, vurmails ordinarius in jure canonico in decretalibus in der sere beroempter ind hilliger universitete der hilliger stat Coellen ind ouch naemails burgermeister daeselfs. Als ouch sin vader hait vurmails umbtrint anno dni. 1491 laissen koestlichen buwen ind vernueren die ein side an der kirchen der 11 dusent jonfferen mit eim nuwen altair, gewelve, glaissvinsteren ind ander zierait, mit namen die rechte side mit dem schoppen vur der selver kirch duerre. Item tzo der selver tzijt dede he ouch machen dat gasthuyss in den preitger Cloister gelegen by dem wege tzo dem xi dusen jonfferen intgheyn over der universiteit huys genoempt Schole artistarum.“ 33 Ebd. Während die Hirtzkapelle an Maria im Kapitol bisher kaum eingehender behandelt wurde, existiert für ihr älteres Pendant südlich des Chores, die sog. Hardenrathkapelle, eine umfassende Darstellung; siehe Susanne Ruf: Die Stiftungen der Familie Hardenrath an St. Maria im Kapitol zu Köln (um 1460 bis 1630) (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Bd. 8), Korb 2011. 34 Während sich bis auf den unten besprochenen Zyklus keine Ausstattung aus der Zeit des Kapellenumbaus erhalten hat, sind ältere Heiligenbüsten bekannt (um 1340), die das Wap-
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auf einem Irrtum des Chronisten oder Setzfehler des Druckers beruht, treffen die grundsätzlichen Informationen zu. Bei der ‚Seite der Kirche‘ handelt es sich um die Marienkapelle, die sich südlich an das romanische Seitenschiff anschließt und aufgrund ihrer Größe und Platzierung als zweites südliches Seitenschiff, als ‚Marienschiff ‘ bezeichnet wird.35 Auch wenn der namensgebende Marienaltar erst 1326 belegt ist, wird die Kapelle mit ihren frühgotischen Formen in das späte 13. Jahrhundert datiert.36 Der Raum von 8 m Breite und 19 m Länge war in fünf Joche mit Kreuzrippengewölbe gegliedert und durch große Rundbögen zum romanischen Seitenschiff hin geöffnet.37 Die Kapelle war farbig bemalt, Reste einer Kreuzigung und Rankenornamente wurden bei Restaurierungsarbeiten 1950/60 entdeckt.38 Wie bereits erwähnt, wurde diese Kapelle im Verlauf des 15. Jahrhunderts umgebaut, nur wahrscheinlich eher um 1461 und nicht 1491, wie es die Koelhoffsche Chronik berichtet.39 Auf diesen Umbau lassen sich die Erneuerung des Gewölbes, dessen Schlusssteine das Wappen der Hirtz trugen, die Verkleinerung der Fenster und die innere Wandverblendung zurückführen. Das Gewölbe und Teile der
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pen der Hirtz tragen; vgl. Ulrike Bergmann: Die Goldene Kammer in St. Ursula, in: Colonia Romanica 11 (1996), S. 225–132, hier S. 225 f. Zur gotischen Bautätigkeit an St. Ursula vgl. Klaus Gereon Beuckers: Köln. Die Kirchen in gotischer Zeit. Zur spätmittelalterlichen Sakralbautätigkeit an den Kloster-, Stifts- und Pfarrkirchen in Köln (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 24), Köln 1998, S. 312 f. – Speziell zur Marienkapelle Karen Künstler-Brandstädter: St. Ursula, in: Colonia Romanica 11 (1996), S. 208–224, hier S. 219–223 (älter und kürzer ist: Karen Künstler: St. Ursula. Der Kirchenbau des 12. Jahrhunderts und seine Ausgestaltung bis zum Zweiten Weltkriegs, in: Köln: Die romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum zweiten Weltkrieg, hg. v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren. Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 225–132). – Marion Opitz: St. Ursula. Kirche des Damenstifts (seit 1804 Pfarrkirche), in: Colonia Romanica 20 (2005), S. 408–434, hier S. 430 f. – Die Ausgrabungen an der Kirche v.a. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht Gernot Nürnberger: Die Ausgrabungen in St. Ursula zu Köln, Diss. Bonn 2002 [masch.], online publiziert 2002: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:5-00062 [16.06.2022]. Nürnberger 2002 (wie Anm. 35), S. 97 f. datiert den Bau der Marienkapelle aufgrund der archäologischen Funde in die 1280er Jahre. Vgl. ferner Beuckers 1998 (wie Anm. 35), S. 315. – Künstler-Brandstädter 1996 (wie Anm. 35), S. 219. – Opitz 2005 (wie Anm. 35), S. 430. – Zur Ersterwähnung Hermann Keussen: Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, 2 Bde., Bonn 1910, hier II, S. 327. Künstler-Brandstädter 1996 (wie Anm. 35), S. 219. – Opitz 2005 (wie Anm. 35), S. 430. Künstler-Brandstädter 1996 (wie Anm. 35), S. 220 datiert diese Bemalung vor die Umgestaltung der Kapelle durch die Hirtz. Koelhoffsche Chronik (wie Anm. 11), fol. 100a. – Beuckers 1998 (wie Anm. 35), S. 315. – Künstler-Brandstädter 1996 (wie Anm. 35), S. 220. – Nürnberger 2002 (wie Anm. 35), S. 104.
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Abb. 2: Köln, St. Ursula, Blick von der Vierung auf das südliche Seitenschiff und die Marienkapelle.
Abb. 3: Köln, St. Ursula, Blick in die Marienkapelle von Osten.
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Außenwände wurden jedoch im Zweiten Weltkrieg zerstört, die heutigen Schlusssteine zeigen nicht mehr das Wappen (Abb. 3).40 Die Stiftskirche war zudem das Zentrum einer allein durch Mitglieder der städtischen Elite bespielten Ursulabruderschaft, der sogenannten ‚Patrizierbruderschaft‘.41 Sie besaß einen Balken im Chor der Kirche über dem Hauptaltar, auf dem Kerzen aufgestellt waren. Am Festtag der heiligen Ursula (21. Oktober) kamen die Brüder zu einem gemeinsamen Festmahl zusammen, von einer gemeinsamen Messfeier in der Stiftskirche berichten ihre Statuten hingegen nichts.42 Ihre Mitgliederzahl war auf 40 Männer beschränkt, nach dem Tod eines Bruders bestimmten die verbliebenen Mitglieder dessen Nachfolger.43 Auch wenn die Ursulabruderschaft gemäß ihren Statuten vorrangig religiös-memoriale Zwecke verfolgte, lässt diese Kooptationspraktik doch noch eine andere Funktion erkennen: Auf diese Weise bewahrte der Zirkel der in ihr versammelten Männer einen äußerst exklusiven Charakter und trug so zur Formierung der städtischen Elite als restringierte Sozialgruppe bei. Diese Elite definierte sich über den Zugang zu politischen Ämtern wie Rat und Schöffenkolleg, aber eben auch durch die exklusive Ursulabruderschaft. Nur jene Männer, die bereits Mitglied waren, konnten bestimmen, wer in ihren Kreis gehören durfte und wer nicht. Sie konnten so den sozialen Aufstieg in die Gruppe kontrollieren. Daher verwundert es nicht, dass sich unter den Namen auf der ältesten Bruderschaftsliste von 1360 zahlreiche der einflussreichsten städtischen Geschlechter wie die Gyr, Hardevust, Hirzelin, vom Kusin, von Lyskirchen, Overstolz, de Palatio, de Pavone, Quattermart und vom 40 Künstler-Brandstädter 1996 (wie Anm. 35), S. 220. Zudem wurde der Ostteil des Marienschiffs während der Wiederherstellungsarbeiten zur Sakristei umgewandelt und baulich vom Hauptschiff abgetrennt, was erst bei einer Restaurierungskampagne 2004 rückgängig gemacht wurde; vgl. Opitz 2005 (wie Anm. 35), S. 409. 41 Siehe dazu die Dokumente in: Klaus Militzer (Hg.): Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften vom 12. Jahrhundert bis 1562/63, Bd. 2, Düsseldorf 1997, Nr. 119, S. 1313–1338. – Paul Heusgen: Ursulabruderschaften in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 20 (1938), S. 164–175. – Klaus Militzer: Ursulabruderschaften in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 66 (1995), S. 35–45. – Sehr knapp André Schnyder: Die Ursulabruderschaften des Spätmittelalters. Ein Beitrag zur Erforschung der deutschsprachigen religiösen Literatur des 15. Jahrhunderts, Bern/Stuttgart 1986, S. 41. 42 Militzer 1997 (wie Anm. 41), Nr. 119.1.1, S. 1314–1318. – Heusgen 1938 (wie Anm. 41), S. 167–179. – Schnyder 1986 (wie Anm. 41), S. 499–502. – So benennt auch Militzer 1995 (wie Anm. 41), S. 40 als wesentlichen Zweck der Bruderschaften „die Sorge um ein würdiges Begräbnis und um das Totengedächtnis.“ 43 Militzer 1997 (wie Anm. 41), Nr. 119.1.1, S. 1317.
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Spiegel finden.44 In einer Gesellschaft, die dem peniblen Einhalten des sozialen Rangs äußerste Bedeutung zumaß,45 unterstreicht der Umstand, dass die illustre Zusammenstellung der Ursulabrüder just von zwei Mitgliedern der Hirtz angeführt wird, das Renommee der Familie. Zugleich sind diese beiden, Johann und Gobelinus vom Hirtz, zwei von nur vier Ursulabrüdern, die mit dem Titel ‚Ritter‘ verzeichnet wurden.46 Mit Diederich vom Hirtz wird zudem ein weiteres Familienmitglied an fünfter Stelle der Brüder geführt. Im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts wurden ferner ein weiterer Gobelinus und Heinrich vom Hirtz sowie ein weiterer Johann und Hermann vom Hirtz nachgetragen.47 Die weitere Geschichte der Bruderschaft ist kaum erforscht, die spärliche Überlieferung deutet aber auf einen Bedeutungsverlust im ausgehenden 15. Jahrhundert. Der Jesuit Hermann Crombach überliefert in seiner 1647 verfassten Abhandlung über die ursulinischen Jungfrauen eine angebliche Neugründung der Bruderschaft im Jahr 1456.48 Klaus Militzer geht davon aus, dass sie bis zum Ende des Alten Reichs bestand und stets ihren exklusiven Charakter behielt.49 Während die ‚Patrizierbruderschaft‘ ihre überlieferten religiösen Aktivitäten auf den Kerzenbalken über dem Hauptaltar konzentrierte, stand die Marienkapelle im Zentrum einer anderen Bruderschaft, der um 1445 gegründeten sogenannten all-
44 Militzer 1997 (wie Anm. 41), Nr. 119.1.1, S. 1319–1321. – Heusgen 1938 (wie Anm. 41), S. 164 datiert Liste und Statuten hingegen auf 1345. Zu den Familien der Kölner Elite Herborn 1977 (wie Anm. 4). 45 Dazu sei nur auf folgenden Sammelband verwiesen: Jörg Peltzer (Hg.): Rank and Order: The Formation of Aristocratic Elites in Western and Central Europe, 500–1500 (Rank. Politisch-soziale Ordnungen im mittelalterlichen Europa, Bd. 4), Ostfildern 2015. 46 Ritter sind auch die an vierter bzw. fünfzehnter Stelle genannten Johann von Lintlar und Heinrich vom Kusin; Militzer 1997 (wie Anm. 41), Nr. 119.1.1, S. 1319–1321. 47 Militzer 1997 (wie Anm. 41), Nr. 119.1.1, S. 1323; Nr. 119.1.2, S. 1325–1327. 48 Hermann Crombach: Vita et Martyrium S. Ursulae et Sociarum undecim millium Virginum, Köln 1647, S. 1131: „Coloniae Sodalitatem Ursulanam instituunt viri Consulares et Patricii; Theodoricus a Schiderich eques; Everardus a Schiderich, Constantinus a Liskirchen, Henricus a Suderman, Luffardus a Schiderich, Ioannes a Penninck, Ioannes a Dawe, Bertoldus a Questenberg & alii.“ Heusgen 1938 (wie Anm. 41), S. 165 deutet diese Nachricht Crombachs als Neugründung bzw. Wiederbelebung der Bruderschaft. Da allerdings noch für 1453 eine Namensliste der Bruderschaft erhalten ist (Militzer 1997 (wie Anm. 41), Nr. 119.1.7, S. 1332), scheint es sich bei dieser ‚Neugründung‘ um wenig mehr als eine weitere (Neu-)Aufstellung der Brüder zu handeln. Diese späte Phase der Bruderschaft ist jedoch bisher kaum erforscht. Womöglich verwechselte Crombach hier auch die ‚Patrizierbruderschaft‘ mit der ‚allgemeinen Ursulabruderschaft‘ oder bezog sich auf Letztere. 49 Militzer 1995 (wie Anm. 41), S. 42.
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gemeinen Ursulabruderschaft.50 Ab 1648 diente ihr die westlich an die Kapelle angrenzende Goldene Kammer als Oratorium.51 Ihr Bedeutungsaufschwung dürfte zugleich der Grund für die abnehmende Relevanz der ‚Patrizierbruderschaft‘ gewesen sein. Denn anders als ihr älteres Pendant war sie nicht auf die städtische Elite beschränkt, sondern hatte sich keine sozialen Grenzen auferlegt. Eine Bruderschaftsliste ist für das 15. Jahrhundert nicht erhalten, dennoch darf angenommen werden, dass die Hirtz als Stifter des Umbaus der von der Bruderschaft genutzten Kapelle zu ihren Mitgliedern zählten. Dieser Wechsel ist durchaus bezeichnend für die politische Karriere der Familie, die sich sowohl zur Zeit der Geschlechter- wie auch der Zunftherrschaft in der politischen Elite der Stadt zu halten wusste. Dass die Hirtz auch in der allgemeinen Bruderschaft des 15. Jahrhunderts eine herausgehobene Rolle beanspruchten, zeigt sich allein an dem Umstand, dass deren Brüder ihre Messen unter der steten Präsenz des Hirtz’schen Balkenwappens an den Schlusssteinen der Kapelle hielten. Eine zentrale Rolle für das Verständnis des sozialen Ranges der Familie Hirtz, den sie in St. Ursula so selbstbewusst zur Schau stellten, nimmt dabei ein Marienzyklus aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein.52 Er besteht heute aus acht Einzelbildern des Lebens Mariens. Allerdings ist weder klar, ob er einst mehr Szenen umfasste, noch, ob diese zu einem Triptychon zusammengefasst oder als Einzelbilder an der Wand der Kapelle hingen.53 Der Zyklus war eine Stiftung der Hirtz und als solche wiederholt mit ihrem Wappen versehen, einmal begleitet von einer männlichen Stifterfigur.54 Es herrscht jedoch Uneinigkeit über die Frage, um welches Mitglied der Hirtz es sich bei ihm handelt. Mit seiner Person hängt die 50 Der heutige Forschungsstand zu dieser allgemeinen Ursulabruderschaft geht kaum über die Ergebnisse von Heusgen 1938 (wie Anm. 41), S. 170–172 hinaus, die Passagen bei Zehnder 1987 (wie Anm. 2), S. 75 f. und Wegener 1971 (wie Anm. 1), S. 132 f. geben vor allem seine Ergebnisse wieder. Auch bei Militzer 1997 (wie Anm. 41), Nr. 120, S. 1339 findet sich nur eine einzige Quelle von 1489, die immerhin belegt, dass die Bruderschaft am Marienaltar angesiedelt war. 51 Heusgen 1938 (wie Anm. 41), S. 170. 52 Eine kunstgeschichtliche Einordnung des Marienlebenzyklus findet sich bei Hans M. Schmidt: Der Meister des Marienlebens und sein Kreis. Studien zur spätgotischen Malerei in Köln, Düsseldorf 1978, S. 38–46, 177–186. –Künstler-Brandstädter 1996 (wie Anm. 35), S. 220–222. 53 Künstler-Brandstädter 1996 (wie Anm. 35), S. 222. Die acht Tafeln des Zyklus kamen aus dem Besitz der Brüder Boisserée nach München (Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, WAF 618–624) und London (National Gallery, Inv. 706). 54 Es befindet sich auf den Bildern der Heimsuchung Mariens neben der Stifterfigur sowie bei der Kreuzigung in der unteren linken Ecke; vgl. Schmidt 1978 (wie Anm. 52), S. 183, 185.
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ebenso umstrittene Datierung des gesamten Zyklus zusammen. Die Darstellung des Stifters, der hier in einem langen und mit goldenem Pelz verbrämten schwarzen Mantel und mit einer goldenen Schulterkette zu sehen ist, liefert uns letztlich die entscheidenden Hinweise, da sie diesen Mann als Ritter ausweist. Bevor dies aber geklärt werden kann, muss zunächst die Verbindung der Hirtz zur Welt des spätmittelalterlichen Rittertums dargestellt werden, die letztlich das besondere Rangbewusstsein der Familie verdeutlicht.
Die Hirtz als Ritter und Krieger
Die von Heymerick als herausragendes genus geehrten Hirtz waren nicht nur in kirchlichen, städtischen und universitären Ämtern aktiv, sondern mindestens ebenso stark in die Welt des spätmittelalterlichen Rittertums integriert. So lassen sich aus den fünf Generationen der Familie beachtliche acht Männer nachweisen, die den Rittertitel trugen. Bereits die Söhne des Stammvaters Johann, die Johann und Gobelinus hießen, waren Ritter. Unter den Söhnen dieses Ritters Johann gab es einen Hermann († ca. 1401) sowie erneut einen Johann († ca. 1394) und einen Gobelinus († ca. 1408), die ebenfalls allesamt Ritter waren. Ein weiterer ihrer Brüder, der ebenso Johann hieß, war zwar selbst kein Ritter, dafür aber dessen Söhne Johann († 1478/81) und Everhard († ca. 1475). Everhard wiederum war der Vater des erwähnten Doktors Johann († ca. 1495) und eines weiteren Ritters Everhard († ca. 1513) (Abb. 4).55 Damit sind die Hirtz ein gutes Beispiel für die Bedeutung, die das Rittertum für die Familien der Kölner Elite der Geschlechterzeit hatte. Denn nicht nur die Hirtz, sondern auch zahlreiche andere Kölner Familien waren in diesem Feld aktiv. So lassen sich zwischen dem späten 12. und frühen 16. Jahrhundert etwa 260 Kölner Ritter nachweisen, die sich auf 70 Familien verteilen.56 Die Hirtz nehmen hierbei eine gewisse Sonderrolle ein, da sie zu den wenigen Familien zählen, deren ritterlicher Habitus den stadtgeschichtlichen Bruch von 1396 relativ unbeschadet überstand und die zugleich ihre politische Bedeutung innerhalb der Stadt zu wahren vermochten.57 55 Ausführliche Belege finden sich bei Jansen 2021 (wie Anm. 4). Zur Genealogie Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), Anhang, S. 121, 124, 134, 140, 152, 157, 164. 56 Dazu ausführlich Jansen 2021 (wie Anm. 4). 57 Im innerstädtischen Vergleich der Geschlechter treten die Hirtz erst vergleichsweise spät als Ritter auf. Die meisten der führenden alten Familien hatten bereits im 13. Jahrhundert Rit-
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Abb. 4: Genealogie der Ritter aus der Familie vom Hirtz.
Der Ritterbegriff hat eine historisch gewachsene Vielzahl an Bedeutungen und konnte unter anderem den gepanzerten Reiterkrieger, eine mehr oder minder abstrakte Gruppe ‚ritterlicher‘ oder adliger Akteure sowie eine Wertigkeit des Handelns meinen. Die Verwendung des Begriffs als Titel, der in offiziellen Dokumenten hinter den Namen des Betreffenden gestellt wurde, wurde im Reich um das Jahr 1200 üblich. Seit dieser frühen Phase ist die Praktik auch in Köln belegt. Vieles spricht dafür, dass dieses bei weitem nicht nur in Köln zu beobachtende Phänomen städtischen Rittertums keineswegs bloß als Nachahmung landadliger Verhaltensweisen zu werten ist. Städtische und ländliche Eliten können vielmehr grundsätzlich als Teil derselben sozialen Gruppe gesehen werden, die sich gegenseitig als gleichrangig akzeptierten und das Rittertum ihrer Zeit gemeinsam prägten. Dies gilt im Kölner Fall zumindest für Familien, die vor der Verfassungsänderung von 1396 Teil der städtischen Eliten wurden. Die nachrückenden Akteure der Zeit der Gaffelherrschaft verfügten nicht über deren weitgespannte und teils jahrhunderteter in ihren Reihen, unter ihnen die Overstolz, Scherfgin, Birkelin, Jude, Hardevust, Lyskirchen, von der Stesse und Spiegel. Anfang des 14. Jahrhunderts stießen zu diesen die Quattermart und Kusin sowie bis zur Jahrhundertmitte die beiden Geschlechter vom Hirtz und Roitstock hinzu. Dabei lässt sich zuerst für die Hirtz von der Landskron mit dem Schöffen Theodericus de Cervo in den 1320ern ein Ritter nachweisen, in den 1330er Jahren folgen dann die (Schwartz) vom Hirtz mit den Rittern Johann d. Ä. und Gobelinus d. Ä. Vgl. dazu Jansen 2021 (wie Anm. 4).
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alte Netzwerke und hatten auf ihrem potenziellen Weg in den Adel deutlich höhere soziale Hürden zu überwinden. Zumindest in der Stadt Köln deutet aber einiges darauf hin, dass die jüngeren Ratsfamilien der zünftischen Zeit gar kein Interesse an den ritterlichen Lebensformen ihrer Vorgänger hatten.58 Wie für viele ritterliche Geschlechter des hohen und späten Mittelalters lassen sich auch für die Hirtz Verbindungen zur Ministerialität feststellen. So ist Gerhard, der noch den Geschlechternamen Niger trug und um 1159/70 Bürgermeister war, als Ministeriale des Kölner Erzbischofs, der Kölner Abtei Groß St. Martin und, ebenso wie sein Verwandter Hermann Niger, der Abtei St. Pantaleon belegt.59 Auch außerhalb ihrer Vaterstadt waren die Hirtz als Krieger aktiv, so etwa in Oberitalien, einer Arena europäischen Rittertums dieser Zeit. Um 1350 ist der Reiterführer Anichinus de Soarz (Johann Schwarz) im Dienst der Stadt Bologna belegt.60 Wie zahlreiche andere städtische und vor allem landadlige Männer reisten zudem einige Mitglieder der Familie im 14. Jahrhundert nach Preußen, wo sie den Deutschen Orden gegen die heidnischen Litauer unterstützen. So zog etwa Dietrich vom Hirtz 1329 im Gefolge des böhmischen Königs Johanns von Luxemburg nach Preußen.61 Johann vom Hirtz lässt sich dort sogar viermal (1368/69, 1375, 1369/70, 1379/81) nachweisen.62 Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er dort im Winter gemeinsam mit den Kölnern Lufart von Lyskirchen und Johann von Troyen zum Ritter geschlagen.63 Sein gleichnamiger Neffe († 1478/81) unternahm vor 1452 eine Pilgerreise nach Jerusalem, möglicherweise erwarb er sogar
58 Jansen 2021 (wie Anm. 4). 59 HAStK, Best. 218, U 1/7; Best. 259, U K/11. – Dazu auch Joachim Oepen: Adelige Stiftsdamen, bürgerliche Ministeriale und ein Bierbrauer. St. Maria im Kapitol und die Kölner Bürger in einer Urkunde von 1154, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 83 (2019), S. 16–31, hier S. 27 f. 60 Karl Heinrich Schäfer: Deutsche Ritter und Edelknechte in Italien während des 14. Jahrhunderts, Bd. 2, Paderborn 1911, S. 196. Aufgrund der Verballhornung des Namens gemäß den Sprachgewohnheiten der italienischen Schreiber ist dies aber eine letztlich nicht sicher zu beweisende Hypothese. Johann war ein Leitname der Kölner Hirtz, allerdings ist dies keine Garantie, dass „Anichinus de Soarz“ auch aus der Stadt am Rhein stammte. 61 Kurt Forstreuter: Briefe aus Preußen nach Köln um 1330, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 26 (1951), S 85–99, hier S. 96. 62 Werner Paravicini: Die Preußenreisen des europäischen Adels, Bd. 1, Sigmaringen 1989, S. 155 f. 63 Paravicini 1989 (wie Anm. 62), S. 155.
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dort seinen Rittertitel.64 Aufgrund der Heiligkeit des Ortes galt der Ritterschlag am Heiligen Grab als besonders ehrenvoll.65 Zudem übernahmen Familienmitglieder für ihre Vaterstadt militärische Leitungsfunktionen. So zählten Johann und Everhard vom Hirtz zu den städtischen Kriegsherren, die Anfang 1493 vom Rat zur Abwehr der langandauernden Fehde Swickers von Sickingen berufen wurden.66 Auch in dem zweiten ritterlichen Betätigungsfeld par excellence, dem Turnier, lassen sich Mitglieder der Familie nachweisen.67 Mindestens eine Hirtz heiratete zudem ein Mitglied eines einflussreichen landadligen Geschlechts, andere Töchter wie Söhne fanden Ehepartner und Ehepartnerinnen innerhalb der städtischen Elite.68 Auch über die Titel und militärischen Aktivitäten hinaus waren die Hirtz gut in der ritterlich-adligen Welt ihrer Zeit vernetzt. So bezog ein Johann vom Hirtz, hier genannt der Junge, 1405 eine Leibrente von Herzog Wilhelm von Berg.69 Noch deutlicher zeigt dies aber ein Blick auf die höfischen Ritterorden des Spätmittelalters, in denen sich sogar drei Hirtz nachweisen lassen. Dies ist umso bedeutender, als sie die einzigen Stadtköl-
64 1452 sprach Johann in einem Schadlosbrief von „der zijt, as ich nelingste umb mijne bedefart ind reyse oever meer zo dem heiligen grave zo doin uyss geweist byn“; HAStK, Best., U 1/12433. – Dazu auch Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), S. 287. 65 Dazu Valmar Cramer: Der Ritterschlag am Heiligen Grabe. Zur Entstehung und Frühgeschichte des Ritterordens vom Heiligen Grabe, in: Das Heilige Land in Vergangenheit und Gegenwart, hg. v. Valmer Cramer/Gustav Meinertz, Köln 1940, S. 137–199. 66 Beschlüsse des Rates der Stadt Köln 1320–1550, Band I: Die Ratsmemoriale und ergänzende Überlieferung 1320–1543, bearb. v. Manfred Huiskes (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. 65), Düsseldorf 1990, Nr. 3, S. 768. 67 Turniere fanden im mittelalterlichen Köln zahlreiche satt, allerdings sind kaum Namen der Teilnehmer überliefert. Bei einer der wenigen Ausnahmen findet sich aber just ein Mitglied der Hirtz unter den Turnierreitern. An dem Turnier zur Fastnacht des Jahres 1470 nahmen neben den Herren von Reifferscheid und von Batenburg auch die Kölner Everhard vom Hirtz und Gerhard Wasservass teil. Everhard, hier bezeichnet als „Everhardus filius domini Everhardi de Cervo“, ist vermutlich identisch mit dem Ritter des Jülicher Hubertusordens; Walther Stein (Hg.): Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert, Bd. 2 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 10), Bonn 1895, Nr. 106, S. 145 Anm. 2. 68 Bela vom Hirtz, Tochter des Ritters Gobelinus, heiratete vor 1411 Konrad von Merode; Hans Josef Domsta: Geschichte der Fürsten von Merode im Mittelalter, Bd. 1, Düren 1974, S. 92. Andere Ehepartnerinnen und -partner kamen u.a. aus den Kölner Geschlechtern Hirtz von der Landskron, Gyr, von Lindlar, Hardevust, vom Kusin und von der Ehren; Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), Tafel XXV. 69 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, AA 0020, Nr. 1038.
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ner sind, die nachweislich Zugang zu diesen elitären landadlig-höfischen Kreisen erhielten.70
Die Hirtz als Mitglieder höfischer Ritterorden
Im 15. Jahrhundert entstanden an zahlreichen Fürstenhöfen weltliche Ritter- bzw. Hoforden.71 Unter diesen sind in Bezug auf die Hirtz der 1444 gestiftete Hubertusorden der Herzöge von Jülich-Berg sowie der zwischen 1420 und 1435 gegründete Antoniusorden der Herzöge von Kleve von Belang, die beide vermutlich auf das Vorbild des burgundischen Hofordens vom Goldenen Vließ zurückgingen.72 Der Hubertusorden entstand aus dem Gedenken an den Sieg Herzog Gerhards II. von Jülich-Berg über Geldern in der Schlacht bei Linnich am 3. November 1444, dem Hubertustag. Das Archiv des Ordens wurde bei der Zerstörung seines Hauptsitzes in Nideggen 1542 vernichtet, sodass nicht all seine Mitglieder bekannt sind.73 Erhalten sind indes die Statuten, die von allen Ordensrittern eine edle Abstammung mit je vier ritterlichen Ahnen auf väterlicher und mütterlicher Seite forderten. Diese Ahnen waren dem Herold des Ordens vorzulegen, wurden von diesem geprüft und verzeichnet.74 Eine solche Aufstellung, die vor 1463 ange70 In den geistlichen Ritterorden, vor allem bei Deutschorden und Johannitern, lassen sich hingegen zahlreiche Söhne Kölner Geschlechter nachweisen; Jansen 2021 (wie Anm. 4). 71 Als Überblick vgl. Holger Kruse/Werner Paravicini/Andreas Ranft (Hg.): Ritterorden und Adelsgesellschaften im spätmittelalterlichen Deutschland, Frankfurt am Main/Bern/ New York/Paris 1991. – Andreas Ranft: Ritterorden und Rittergesellschaften im Spätmittelalter. Zu Formen der Regulierung und Internationalisierung ritterlich-höfischen Lebens in Europa, in: Militia Sancti Sepulchri. Idea e istituzioni, hg. v. Kaspar Elm/Cosimo Damiano Fonseca, Vatikanstadt 1998, S. 89–110. 72 Helmut Lahrkamp: Beiträge zur Geschichte des Hubertusordens der Herzöge von JülichBerg und verwandter Gründungen, in: Düsseldorfer Jahrbuch 49 (1959), S. 3–49, hier S. 12, 18. – Leo Peters: Der jülichsche Hubertus- und klevische Antonius-Ritterorden, in: Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich, Kleve, Berg, Kleve 1985, S. 125–132. 73 Lahrkamp 1959 (wie Anm. 72), S. 14, 30. – Leonie von Nesselrode: Neue Erkenntnisse zum Heroldsbuch und Bruderschaftsbuch des jülisch-bergischen Hubertusordens, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 36 (2010), S. 131–162, S. 136. – Helmut Wollnik: Das Kollegiatkapitel in Nideggen und Jülich als geistlicher Sitz des jülich-bergischen Hubertusordens, in: Neue Beiträge zur Jülicher Geschichte 28 (2015), S. 51–60. 74 Lahrkamp 1959 (wie Anm. 72), S. 12 datiert die älteren lateinischen Ordensstatuen auf den 26. März 1445. Die Forderung vier ritterlicher Ahnen wurde auch in die neuen Statuten vom 22. Januar 1476 übernommen; ebd., S. 25. Zur Praxis und Entwicklung der Ahnenprobe vgl. auch Elizabeth Harding/Michael Hecht: Ahnenproben als soziale Phänomene
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legt und über 40 Jahre geführt wurde, hat sich glücklicherweise erhalten.75 Als ihr Verfasser oder zumindest Bearbeiter wird der Herold und Wappenkönig Hermann von Brüninghausen namhaft gemacht.76 Von den beiden einzigen Kölner Rittern des Hubertusordens77 wurde zuerst die Ahnenprobe des „strengen hern evertz vame hyrtz“ aufgenommen.78 Everhard ist hier nicht mit dem Rittertitel versehen; das stimmt damit überein, dass er als dessen Träger erst ab 1490 belegt ist. Nach ihm – und diesmal auch als Ritter und zudem mit der Jahreszahl der Aufnahme – ist sein Onkel Johann vom Hirtz aufgenommen, dessen Ahnenprobe auf 1463 datiert ist: „Item dit synt veir aynche[n] her iohans vame hyrtz ayn ryter van syns vader weg[en] des vursch[reven] iohans moeder was vame hardvuyst ind synt dit en veir aynche[n] Inde ym iair lxiii.“79
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des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, in: Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion, Initiation, Repräsentation, hg. v. Elizabeth Harding/Michael Hecht, Münster 2011. Das Heroldsbuch des Hubertusordens wird in der Biblioteka Jagiellońska, Krakau unter der Signatur Berol. Ms. Germ. Qu. 1479 verwahrt. Dazu von Nesselrode 2010 (wie Anm. 73), S. 136–143. Einige Abschriften bringt Leonie von Nesselrode: Die Chorfenster von Ehrenstein. Bertram von Nesselrode und Margarethe von Burscheid – Stifter an der Schwelle zur Frühen Neuzeit, Köln 2008, S. 382–386 . Die meisten Ahnenproben datieren in die Jahre 1462/63 und 1476, als gleich 38 Männer und Frauen ihren Eid erneuerten. Allerdings ist das Buch weder vollständig, noch weist es die originale Blattfolge auf. Hermann war von 1461 bis 1501/02 unter den Herzögen Gerhard II. und Wilhelm IV. von Jülich-Berg Wappenkönig und Herold. Zu seiner Person Harm von Seggern: Hermann von Brüninghausen. Wappenkönig der Ruwieren, in: Menschenbilder – Menschenbildner. Individuum und Gruppe im Blick des Historikers, hg. v. Stephan Selzer/Ulf Christian Ewert, Berlin 2002, S. 109–120. Von Nesselrode 2010 (wie Anm. 73), S. 140 meint, dass der Herold ein bereits bestehendes Buch 1463 überarbeitete und weiterführte, also nicht der ursprüngliche Verfasser ist. Mit dem Ritter Johann Overstolz von Efferen zählte auch ein Angehöriger eines ehemaligen städtischen Geschlechts zu den Ordensrittern. Unter den Ahnen des Koeyn van schoppendorp treten neben den Merode, Gymnich und Garstorp wieder die Hirtz auf. Siehe Heroldsbuch (wie Anm. 75), fol. 75r, 90r, 100v. Heroldsbuch (wie Anm. 75), fol. 118v–119r. Die Wappen der Eltern lassen ihn als Everhard vom Hirtz erkennen, Sohn der Elisabeth Hirtz von der Landskron und des Everhard (Schwartz) vom Hirtz, der erst ab 1490 als Ritter belegt ist. Unter Everhards Ahnen tauchen zudem die Kölner Geschlechter Hardevust, vom Horne, von Lyskirchen und Pantaleon sowie die landadligen Palant auf. Heroldsbuch (wie Anm. 75), fol. 119v. Bei ihm handelt es sich um Johann vom Hirtz, Sohn der Katharina Hardevust und des Johann vom Hirtz, der als Ritter seit 1452 belegt ist. Unter seinen Ahnen befinden sich Kölner (von Lyskirchen, Hardevust, de Cornu, Kleingedank) wie landadlige Geschlechter (vom Vorst, Elner, Raitz von Frentz, Letztere ursprünglich auch eine stadtkölnische Familie); ebd., fol. 119v–120r.
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Abb. 5: Ahnenprobe des Ritters Johann vom Hirtz 1463, sogenanntes Heroldsbuch des Jülicher St. Hubertusordens, Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. Ms. Germ. Qu. 1479, fol. 119v.
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Noch ein zweites wappengeschmücktes Buch ist Teil der Überlieferung des Hubertusordens, das sogenannte Bruderschaftsbuch.80 Es stellt eine einmalige Bestandsaufnahme des Ordens um 1481/82 dar, nennt aber keinen der beiden Hirtz. Im Falle des 1478/81 verstorbenen Ritters Johann verwundert dies nicht, wohl aber im Falle des bis in die 1510er Jahre belegten Everhard. Er war also entweder bereits aus dem Orden ausgeschieden oder wurde aus unbekannten Gründen übergangen (Abb. 5).81 Der zweite hier zu nennende höfische Ritterorden ist der klevische Antoniusorden. Auch seine Mitglieder sollten „van gueder rieter Schap boirdich“82 sein. Der einzige Kölner Ordensritter des Antoniusordens lässt sich diesmal aber nicht über einen Schriftbeleg, sondern durch ein Stifterbild identifizieren – womit wir zuletzt in die Kölner Ursulakirche zurückkehren. Denn bei diesem Bild handelt es sich um die Darstellung der Heimsuchung Mariens aus dem einst in St. Ursula hängenden Marienzyklus, der dem sogenannten Meister des Marienlebens zugeschrieben und heute größtenteils in der Alten Pinakothek in München aufbewahrt wird (Abb. 6).83 Gemäß dem Sujet (Lk 1,39–40) ist auf dem Bild der Heimsuchung zentral die Begrüßung Mariens durch ihre Cousine Elisabeth, die Mutter Johannes’ des Täufers, dargestellt. Links neben den Heiligen kniet ein Stifter, bekleidet mit einem langen schwarzen Mantel mit goldenem Innenfutter und Pelzkragen, einen schwarzen Hut vor die Brust gedrückt. Um seinen Hals liegt eine goldene Wellenbandcollane, an der zwei Taukreuze und ein goldener Löwe unter einer Taube hängen. Es ist diese Kette, die ihn als Mitglied des Antoniusritterordens ausweist.84 80 Das Bruderschaftsbuch des Hubertusordens wird in der Bayerischen Staatsbibliothek unter der Signatur Hss Cod.icon. 318 verwahrt; dazu von Nesselrode 2010 (wie Anm. 73), S. 143–146. Es war nicht auf Ergänzung angelegt, da zwischen den Einzelseiten kein Platz freigelassen war. 81 Bei den Ahnenproben sind Kölner Familien hingegen vertreten, so etwa die Lyskirchen unter den Ahnen des Heinrich von Vlatten; Bayerische Staatsbibliothek München, Hss Cod. icon. 318, fol. 70r. 82 Kruse/Paravicini/Ranft 1991 (wie Anm. 71), S. 264, zum Antoniusorden ebd., S. 258– 266. 83 Heute Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Alte Pinakothek, Inv. Nr. WAF 623. 84 Gelegentlich wurden Zweifel an der Zuschreibung dieser Ketten zum herzöglich-klevischen Antoniusorden geäußert, so etwa von Hartmut Boockmann: Die Stadt im späten Mittelalter, München 1994, S. 312 und Sven Lüken: Die Verkündigung an Maria im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Historische und kunsthistorische Überlegungen, Göttingen 2000, S. 374. Die Kette des Kölner Stifters zeigt jedoch die typischen Merkmale der Ordenskette und ähnelt stark jenen Ketten, mit denen Wilhelm von Nesselrode auf den um 1480 geschaffenen Chorfenstern des Klosters Ehrenstein und Herzog Adolph I. auf dem um 1650 entstande-
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Abb. 6: Stifter der Familie Hirtz mit Kette des Klevischen Antoniusordens. Heimsuchung Mariae des sogenannten Meister des Marienlebens, 1470/80.
Das große Vollwappen mit den rot-silbernen Balken und dem Hirsch als Helmzier ordnet den Stifter eindeutig der Familie Hirtz zu,85 dennoch ist seine Identität bis heute nicht eindeutig geklärt. Meist wird der Stifter mit Doktor Johann vom Hirtz identifiziert, mitunter auch mit dessen gleichnamigem Onkel und Ritter, dem bereits erwähnten Mitglied des Hubertusordens.86 Friedrich Gorissen hingegen verwies auf die (eingangs bereits nen Klever Rathausbild dargestellt sind; vgl. dazu von Nesselrode 2008 (wie Anm. 75), Abb. 40. – Peters 1985 (wie Anm. 72), S. 130. 85 Dasselbe Wappen ist den beiden Rittern des Hubertusordens beigegeben; Heroldsbuch (wie Anm. 75), fol. 118v, 119v. Auch in der Koelhoffsche Chronik (wie Anm. 11), fol. 58h ist es abgebildet. 86 Für Doktor Johann sprechen sich aus Brigitte Corley: Maler und Stifter des Spätmittelalters in Köln 1300–1500, Kiel 2009, S. 375. – Friedrich Gorissen: Der klevische Ritterorden vom h. Antonius, in: Kalender für das Klevische Land 1963, S. 29–49, hier S. 43. – Ernst Buch-
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zitierte) Passage der Koelhoffschen Chronik, die einen Everhard als Financier des Umbaus der Marienkapelle von St. Ursula nennt, und sah daher in ihm auch den Ordensritter.87 Zuvor hatte sich auch Hans Vogts bereits 1954 für diesen Everhard vom Hirtz ausgesprochen.88 Von Belang ist natürlich auch die Schaffung des Marienzyklus als solcher, den Marion Opitz um 1460 und Hans Schmidt aus stilkritischen Gesichtspunkten um 1465 datieren, Karen Künstler-Brandstädter indes vor 1458.89 Eine dendrochronologische Untersuchung des für die Tafel genutzten Holzes deutet allerdings auf den Zeitraum zwischen 1470 und 1480.90 In der Tat passt das Stifterbild, das einen Mann in fortgeschrittenem Alter zeigt, eher zu dem fünfmaligen Bürgermeister Everhard († 1475)91 als zu seinem Sohn Dr. Johann († 1495). Beide Männer sind nirgends sonst als Ritter belegt, jedoch weist die vergoldete Ordenskette des Stifters ihren Träger als solchen aus.92 Auch das Bildprogramm selbst stützt die These, dass es sich bei dem Stifter um den älteren Everhard zu handeln scheint. Zunächst einmal ist festzustellen, dass von allen Bildern des Marienzyklus nur auf der Heimsuchung ein Stifter dargestellt ist. ner: Das deutsche Bildnis der Spätgotik und der frühen Dürerzeit, Berlin 1953, S. 30 f. Für Ritter Johann votieren Boockmann 1994 (wie Anm. 84), S. 312. – Künstler-Brandstädter 1996 (wie Anm. 35), S. 221. – Schmidt 1978 (wie Anm. 52), S. 177. 87 Leider belegte Gorissen 1963 (wie Anm. 86), S. 43 seine Argumentation nur ungenügend. Er scheint auf eine schriftliche Überlieferung zurückgegriffen zu haben, die er aber nicht benennt. Ihm folgt Peters 1985 (wie Anm. 72), S. 131. Die Koelhoffsche Chronik (wie Anm. 11), fol. 100a datiert diese Baumaßnahmen in das Jahr 1491, allerdings verstarb Everhard bereits 1475. Heinrich Appel: Studien zur niederrheinisch-kölnischen Plastik der Spätgotik I, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 24 (1962), S. 227–260, hier S. 243, schlägt hingegen vor, die Aussage der Chronik so zu lesen, dass Dr. Johann Hirtz 1491 die Stiftung seines verstorbenen Vaters verwirklichte. Alternativ könnte der Stifter auch besagter Johann sein, oder aber das in der Chronik kolportierte Jahr der Stiftung ist falsch, wie Beuckers 1998 (wie Anm. 35), S. 315 f. und Nürnberger 2002 (wie Anm. 35), S. 104 meinen. 88 Vogts 1954 (wie Anm. 3), S. 523. 89 Opitz 2005 (wie Anm. 35), S. 410. – Schmidt 1978 (wie Anm. 52), S. 44 f. – KünstlerBrandstädter 1996 (wie Anm. 35), S. 220 spricht sich für vor 1458 aus, da Ritter Johann vom Hirtz, den sie für den Stifter hält, nur bis zu diesem Jahr belegt sei. 90 Annette Scherer: Neues zum Meister des Marienlebens, in: Begegnungen mit alten Meistern. Altdeutsche Tafelmalerei auf dem Prüfstand, hg. v. Frank Matthias Kammel, Nürnberg 2000, S. 123–137, hier S. 123 f. 91 Everhard war zwischen 1454 und 1474 fünfmal Bürgermeister, sechsmal Rentmeister und saß ebenso wie sein Sohn Everhard für die Gaffel Eisenmarkt im Rat; Deeters 2013 (wie Anm. 25), S. 348. 92 Peters 1985 (wie Anm. 72), S. 131. Den Rittertitel wiederum trugen Everhards Bruder Johann († vor 1481) und Everhards gleichnamiger Sohn († um 1513); zur Genealogie vgl. Abb. 4.
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Daher wird man davon ausgehen dürfen, dass dieses Motiv bewusst ausgesucht wurde. Der Stifter wird hier jedoch nicht, wie bei vergleichbaren Darstellungen üblich, von seinem Namenspatron begleitet und empfohlen, sondern von drei weiblichen Figuren. In der Mitte sind Maria und ihre Cousine Elisabeth dargestellt, rechts steht eine Magd. Nun war Everhard vom Hirtz mit einer Elisabeth aus dem Geschlecht der Hirtz von der Landskron verheiratet, Dr. Johann war ihr gemeinsamer Sohn.93 Auch dies erhellt die Identität des Stifters zunächst nicht entscheidend. Entweder ist es Everhard, der hier seiner bereits verstorbenen Frau einen stellvertretenden Platz im Heilsgeschehen einräumte, oder der Sohn, der unverheiratet blieb und durch die Wahl des Sujets seiner Mutter eine Reverenz erwies. Beziehen wir aber die anderen Anhaltspunkte mit ein, v.a. die Dendrodatierung, den Hinweis der Koelhoffschen Chronik und das Alter des Dargestellten, so deutet diese Kombination der Indizien auf Everhard d. Ä. vom Hirtz († 1475) hin. Unabhängig von der Identifikation des Stifters nehmen die vom Hirtz eine Sonderrolle in Köln ein, da sie als einzige Familie der Stadt Mitglieder in gleich zwei höfischen Ritterorden stellten.94 Ihr Beispiel illustriert somit, dass Familien der alten Geschlechter auch im 15. Jahrhundert noch Teil exklusiver adliger Kreise sein konnten.95 Dies ist gerade angesichts der im 15. Jahrhundert zunehmenden Konkurrenz adliger und städtischer Eliten ein beachtlicher Befund. Denn grundlegend lässt sich nicht nur im Rheinland, sondern in weiten Teilen des Reiches beobachten, wie die sozialen Hürden der Zugehörigkeit zum Adel immer weiter verschärft wurden und sich diese Abgrenzung vielerorts dezidiert gegen Aufsteiger aus dem urbanen Milieu richtete.96 Allerdings ist diese Abgrenzung parallel zum Wandel der Herrschaftsstruktur in vielen Städten zu sehen, wo im Laufe des 14. und frühen 15. Jahrhunderts zünftische Gruppen an die Macht kamen und die 93 Crossetti de Almeida 2015 (wie Anm. 7), S. 160. Gemeinsam sind ihre Wappen auch unter den Ahnen ihres Sohnes Everhard abgebildet; Heroldsbuch (wie Anm. 75), fol. 118v. 94 Kein Mitglied einer anderen Kölner Familie lässt sich in einem höfischen Ritterorden nachweisen. 95 Dabei dürfte es nicht von Nachteil gewesen sein, dass ein vom Hirtz bereits im 14. Jahrhundert Propst des Nideggener Kollegiatstifts war, wo der Jülicher Hubertusorden später seinen Sitz nahm; vgl. oben Anm. 18. 96 Dazu etwa Joseph Morsel: Die Erfindung des Adels. Zur Soziogenese des Adels am Ende des Mittelalters – das Beispiel Frankens, in: Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa, hg. v. Otto Gerhard Oexle/Werner Paravicini, Göttingen 1997, S. 312– 375. – Ein klassisches, wenn auch spätes Beispiel dieser Konkurrenz liefert Rudolfine Freiin von Oer: Der Münsterische ‚Erbmännerstreit‘. Zur Problematik von Revisionen Reichskammergerichtlicher Urteile, Köln/Weimar/Wien 1998.
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alten Geschlechter verdrängten. Gerade am Beispiel der Stadt Köln lässt sich erkennen, dass diese alteingesessenen Familien mit ihren über die Jahrhunderte gewachsenen Netzwerken gegenüber ihren jüngeren innerstädtischen Konkurrenten einen nicht zu unterschätzenden Vorsprung an symbolischem Kapital hatten. Kölner Familien wie die Hirtz, aber auch die Overstolz, Scherfgin oder Jude konnten noch im 15. Jahrhundert ohne erkennbare Hürden oder Konflikte auf Augenhöhe mit landadligen Akteuren agieren.97 Warum dem so war, lässt sich anhand eines letzten Aspekts darstellen.
Ritterbürtigkeit
Die Aufnahme der Hirtz in die beiden niederrheinischen Ritterorden, aus der sich ableiten lässt, dass die dafür notwendigen Ahnenproben vorlagen, verweist uns zuletzt auf ein eher abstraktes gruppenkonstituierendes Phänomen, das die Hirtz wie so manche andere Kölner Familie mit dem Landadel ihrer Zeit verband: die Ritterbürtigkeit. Dieser Begriff impliziert eine soziale Qualität des oder der Betreffenden, die nicht durch eine Auszeichnung zu Lebzeiten, wie es der Rittertitel war, sondern qua Geburt erworben wurde. Während der Rittertitel nur Männern verliehen wurde, konnten also auch Frauen ‚ritterbürtig‘ sein. Dies ist Teil des vielfach beschriebenen Prozesses der Formierung des niederen Adels. In groben Zügen gesprochen, nahm dieser seinen Anfang in einer Gruppe ritterlich (d.h. als gepanzerte Reiterkrieger) kämpfender Akteure, die vielfach auch individuell den Rittertitel trugen. Der in Kooperation und Konkurrenz zu Fürsten und Städten ablaufende Festigungsprozess dieser Gruppe führte dazu, dass das Kriterium der Abstammung immer mehr in den Vordergrund rückte. Die individuelle Ritterwürde blieb zwar ein wichtiges Merkmal sozialer Distinktion, mehr Gewicht erhielt aber die vager definierte ‚Ritterbürtigkeit‘, also die Zugehörigkeit zu einer als ebenbürtiges Mitglied dieser Gruppe akzeptierten Familie. In diesem Zuge entstanden im 15. Jahrhundert die territorialen Ritterschaften, deren Mitglieder nur zu einem kleinen Teil selbst den Rittertitel trugen. Männer, die diese Würde nicht erwarben, wurden als (Edel-)Knechte oder Knappen bezeichnet und galten dennoch uneingeschränkt als Teil dieser ritterbürtigen Elite. 97 Dies zeigt sich neben dem Empfang von fürstlichen Lehen etwa auch durch den Eintritt als Ritterbruder in den Deutschorden, der ähnliche Herkunftskriterien wie die o.g. höfischen Ritterorden aufgestellt hatte; Jansen 2021 (wie Anm. 4).
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Dieses Kriterium der Ritterbürtigkeit lässt sich auch für Mitglieder der Kölner Elite fassen, was hier erneut am Beispiel der Hirtz gezeigt sei. Es findet sich etwa im Schriftgut der 1388 durch den Rat der Stadt gegründeten Kölner Universität wieder. In deren ältestem Rotulus98, der einige knappe Informationen über die immatrikulierten Studenten verzeichnet, werden zum Jahr 1389 mehrere Söhne aus den führenden Geschlechtern der Stadt mit dem Prädikat ‚ritterbürtig‘ versehen, darunter Johannes und Rikolphus vom Hirtz als „ex utroque parente de militari genere“.99 Die Einträge lassen klar erkennen, dass die Bezeichnung allein auf der Herkunft und nicht auf einem späteren ‚ritterlichen‘ Lebenswandel beruhte, denn manche, wie Constantin von Lyskirchen, werden als „de militari genere“ bezeichnet, obgleich sie eine geistliche Karriere einschlugen.100 Ritterbürtigkeit wurde den Kölner Geschlechtern jedoch nicht unisono beigemessen und fehlt etwa bei den ebenfalls 1389 immatrikulierten Matthias und Johann Walrave oder Werner von der Aducht.101 Dies dürfte damit zusammenhängen, dass sich, anders als bei den Hirtz oder Lyskirchen, bei den Aducht überhaupt keine Ritter und bei den Walrave erst im 15. Jahrhundert Knappen nachweisen lassen. Nur wenig später nutzte der Ritter Hilger Quattermart von der Stesse dieselbe Begrifflichkeit, als er die Zusammensetzung des provisorischen Rates festhielt, der 1396 den Verbundbrief ausarbeitete. In seinem eigenhändig angefertigten Urkundenkopiar notierte er die Namen dieser 48 Männer, von denen er sechs als „militares“, also als Ritterbürtige, bezeichnet. Unter ihnen finden sich erneut die Hirtz, zudem die vom Spiegel, von der Ehren, von Lyskirchen und Overstolz.102 Diese Beispiele lassen somit erken98 HAStK, Best. 150, A 50, erhalten nur als Abschrift durch Bartholomäus Joseph Alfter († 1808). Ausgewertet, aber kaum zitiert in Die Matrikel der Universität Köln 1399 bis 1559, bearbeitet von Hermann Keussen. Erster Band: 1389–1446, Bonn 1892, S. 21 f. Zu den insgesamt sechs Rotuli, mit denen der Rat dem Papst zwischen 1389 und 1424 die neu immatrikulierten Studenten mitteilte, Erich Meuthen: Die alte Universität, Köln/Wien 1988, S. 61 f. Zur sozialen Herkunft der Kölner Studenten Rainer Christoph Schwinges: Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches, Stuttgart 1986, S. 341–486. Ritterbürtige, gleich ob aus Stadt oder Land, waren in den Aufnahmebedingungen gleichgestellt und mussten dieselbe Aufnahmegebühr von 7 Albus bezahlen. 99 HAStK, Best. 150, A 50, fol. 19v–20r. 100 Exemplarisch sei hier der ganze Eintrag zitiert: „Item Constantino nato Constantini de Lysenkirchen proconsulis Scabini, et Reddituarii Civitatis Coloniensis, de militari genere procrato clerico coloniensis de canonicatu sub exspectatione praebenda ac simplicis officii sine cura Eclesiae Sancti Andreae Coloniensis“; HAStK, Best. 150, A 50, fol. 19r. 101 Ebd., fol. 20r, 21r. 102 HAStK, Best. 2, B 16, fol. 24v. Dazu Herborn 1977 (wie Anm. 4), S. 301.
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nen, dass neben dem individuellen Rittertitel auch die Abstammung von einem Ritter nicht nur zur sozialen Distinktion beitragen konnte, sondern auch in der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft Kölns eine faktische Bedeutung hatte. Die Hirtz, die in St. Ursula so prominent als Stifter wie als Mitglieder diverser Bruderschaften in Erscheinung traten, gehörten zu einer besonderen Gruppe innerhalb der Kölner Bürgerschaft, die einen ritterlichen Lebenswandel pflegte. Gerade dieses Geschlecht führt uns dabei vor Augen, dass die betreffenden Akteure sich sowohl in der städtischen Politik wie auch in der Welt des Landadels und der Fürstenhöfe zu bewegen wussten. Die Stiftungen der Hirtz in St. Ursula wie in St. Maria im Kapitol sind letztlich auch als Produkt dieser herausgehobenen sozialen Rolle zu begreifen.
Zusammenfassung
Abschließend stellt sich die Frage, ob die politische und soziale Karriere der Familie vom Hirtz in irgendeiner Form mit dem Kölner Frauenstift St. Ursula zusammenhing, das sie so nachhaltig förderten. Hatte das Streben der Hirtz nach Ritterbürtigkeit gar das Ziel, dereinst ihre Töchter in dem angesehenen Stift unterbringen zu können? Nun, sollten sie dies bezweckt haben, war dies nicht von Erfolg gekrönt. Zwar lässt sich mit einiger Sicherheit erkennen, dass die Familie – und damit ihre Söhne wie auch Töchter – im 15. und 16. Jahrhundert als ritterbürtig galt. Dennoch war und blieb das Ursulastift – wie auch die anderen beiden Kölner Frauenstifte Maria im Kapitol und St. Cäcilien – nur freiadligen Frauen vorbehalten, was in den Nuancen der vormodernen Adelsstruktur letztlich einen entscheidenden Unterschied darstellte. So wird der Grund für die Verbindung der Hirtz wie auch anderer Kölner Familien zu St. Ursula eher in der überragenden Bedeutung, die die Heilige als Patronin der Stadt hatte, zu suchen sein. Ihre Stiftertätigkeit für die Ursulakirche diente im Kontext dieser sozialen Ambitionen vorrangig der Festigung und Visualisierung der familiären Position in der städtischen Elite, die sich durch das um 1461 gestiftete Marienschiff und dessen allgegenwärtigen Schmuck des Familienwappens ausdrückte.
Bürger im Frauenstift Zur Manifestation außerkonventualer Personen in der spätmittelalterlichen Sakraltopografie des Langhauses von St. Maria im Kapitol zu Köln Klaus Gereon Beuckers
In scharfer Zäsur trennt heute der Lettner mit der ihm aufgesetzten Orgel das Langhaus von St. Maria im Kapitol hermetisch von dem großartigen Trikonchos (Abb. 1). Der Lettner wurde als letzter Akt des Wiederaufbaus rechtzeitig zum ‚Jahr der Romanischen Kirchen in Köln‘ 1985 hierhin versetzt und 1991 um die Orgel ergänzt.1 Vorher hatte er seit Generationen zerteilt an der Westwand des Langhauses gestanden, wohin er 1765/67 im Zuge der Barockisierung der Kirche als Unterbau für eine Orgel gelangt war, als man den axialen Bezug des Gesamt raums auf den Hochaltar wiederherstellen wollte.2 Was auf den ersten Blick wie 1
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Vgl. Gisela Mühlens-Matthes: Zur Rückversetzung des Lettners zwischen die westlichen Vierungspfeiler, in: Köln. Die Romanischen Kirchen in der Diskussion 1946/47 und 1985, hg. v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 4), Köln 1986, S. 239–259. – Ulrich Krings/Otmar Schwab: Köln. Die Romanischen Kirchen. Zerstörung und Wiederherstellung (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 2), Köln 2007, S. 411–417. 1765/67 wurde zuerst nur die Westfront des Lettners als Brüstung der neuen Orgelempore vor der Langhauswestwand genutzt und die Langhauspfeiler mit barocker Kartuschenmalerei, die Apostelbüsten zeigt, gestaltet. Mit dem Abbruch des Frauenchores nach der Säkularisation wurde die eigentlich zum Verkauf vorgesehene Ostfront des Lettners in zwei Teile zerschnitten und an die westlichen Langhauswände gestellt, wo sie einen Teil der Bemalung verdeckten. Vgl. Horst Hahn: Zur Restaurierung der spätbarocken Malereifragmente in St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 15 (2000), S. 137–142. – Zur Barockisierung der Kapitolskirche vgl. Angela Kulenkampff: Dreikonchenanlage und Binnenchor der Stiftskirche im 17. und 18. Jahrhundert, in: Köln. Die Romanischen Kirchen von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 381–391. – Silke Eberhardt: Der ehemalige barocke Hochaltar von St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 15 (2000), S. 126–136. – Lucia Hagendorf-Nussbaum: St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 20 (2005) (Kölner Kirchen und ihre Ausstattung in Renaissance und Barock, Bd. 3), S. 114–174. – Die Aufstellung im Westen mit der Orgel zeigt das um 1838 angefertigte Aquarell der Weyerschen Inventarisierung.
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eine Entscheidung des Wiederaufbaus gegen die architektonische Einheit des Kirchenraums hin zu einer sukzessiven Aufwertung zum Konzertsaal gelesen werden könnte, war eine Setzung des 16. Jahrhunderts, als man hier eine hochaufragende Lettnerbühne erbaute, um unter dem westlichen Vierungsbogen eine deutliche Trennung beider Bereiche zu erzielen. Gestiftet wurde das in Mecheln gefertigte, 1524 mit großem Aufwand nach Köln transportierte Werk von einer Familiengruppe um die Brüder Georg und Nicasius Hackeney, die zum Kreis des Kölner Rates gehörte, der zu besonderen Anlässen regelmäßig im Trikonchos zusammenkam und sich so vom Langhaus, in dem der Frauenkonvent seinen Sitz hatte, abgrenzen konnte.3 Der Lettner von 1523 hatte einen Vorgänger, wie zuletzt Vivien Bienert noch einmal herausgearbeitet hat,4 von dem Reliquienweisungen stattfanden und auf dem bei feierlichen Anlässen, wie den Trauerfeierlichkeiten für im Amt verstorbene Bürgermeister, Dignitäre Aufstellung fanden.5 Hallenlettner gehörten im Spätmittelalter an vielen Orten zur Ausstattung von Konventskirchen, und auch in Köln hatte kurz vorher das Benediktinerkloster St. Pantaleon mit einer Stiftung von Abt Johannes Lüninck (amt. 1502–1514) sein
Vgl. Johann Peter Weyer: Kölner Alterthümer, hg. v. Werner Schäfke, 2 Bde., Köln 1993, Bd. 1, S. 39, Abb. I,9. 3 Zum Lettner vgl. Gisela Matthes: Der Lettner von St. Maria im Capitol zu Köln von 1523, Diss. Bonn 1967. – Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 2), S. 146–154. – Zuletzt auch Thesy Teplitzky: Geld, Kunst, Macht. Eine Kölner Familie zwischen Mittelalter und Renaissance, Köln 2012, S. 98–121. 4 Vivien Bienert: ‚Crux sub odaeo miraculosa‘. Leidenskruzifixe in Frauenkonventen: Der Gabelkruzifixus von St. Maria im Kapitol in Köln, in: Bildwerke für Kanonissen? Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhunderts, hg. v. Julia von Ditfurth/Adam Stead (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 2), Köln 2019, S. 63–103, hier S. 99 f. 5 Dies geht aus dem Bericht zur Gedächtnisfeier für Bürgermeister Johann von Breide 1471 hervor: „[…] gyngen sy die Joedengasse ave boven muyren bis zo sent Merien vur den middelsten Elter [Kreuzaltar], dae man boven up dat heyltom heraff tzoent, und stoenden der Burgermeister, Rentmeistere, alde Burgermeistere mit eyn deyl der andere heren vanme Raide an ghener syden int suyden, und die andere heren an dieser syden int norden und die prelaten stoenden boven an derselven syden, nemelich der Abt van Duytz, der proest Sent Joeris und der Dechen sent cunibert und der Dechen sent Mariengreden, alle die andern prelaten, Abte, Abdissen synt nyet nagefolgt. Die Abdisse sent Merien mit yren Joufferen stoenden vur yrem choir […].“ Zit. n. Leonard Ennen: Die Beerdigung des Kölner Bürgermeisters Johann von Breide 1471, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 16 (1865), S. 176–181, hier S. 179 f.
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Abb. 1: St. Maria im Kapitol zu Köln, Ansicht des Lettners mit Orgel von Westen.
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östlich gelegenes Chorgestühl mit einem Lettner vom Langhaus abgetrennt.6 In St. Maria im Kapitol war die Situation anders, da der Konventsbereich statt – wie üblich – im Osten am Sanktuarium hier im Westen lag.7 Der Lettner, der üblicherweise Sanktuarium und Chorgestühl vom westlichen Laienbereich trennte, zerschnitt hier die räumliche Verbindung von Konvent und Hochaltar und grenzte den Bereich einer Laiennutzung am Hochaltar von den Kanonissen ab. Wes Geistes Kind dieser Lettner von 1523 ist, zeigt seine Gestaltung: Wie bei vielen anderen Lettnern dieser Zeit werden die vertikalen Stützglieder durch eine horizontale Brüstung beantwortet, auf der sich figürliche Darstellungen oft unter Baldachinen befinden. Über eine solche Gestaltung verfügt auch der Kölner Lettner, der dies durch Zweifarbigkeit noch unterstreicht. Ungewöhnlich ist dabei die Heraushebung des in dunklem, marmorhaftem Kalkstein gebildeten Architravs, der über den Stützen als unterer Abschluss der Brüstung um große Rundschilde herumgeführt wird, die mit ihren weißen Füllungen so zum bestimmenden Moment der beiden Lettnerfronten werden. Ihre Größe drängt die darüber angeordneten Szenenfelder zusammen und marginalisiert deren Wirkung. Gefüllt sind diese Rundschilde mit den Wappen der an der Stiftung beteiligten Familien. Kein anderer bekannter oder erhaltener Lettner zeigt diese Form, vielmehr besitzen die von der Forschung zum Vergleich herangezogenen Lettner in Aarschot und Tessenderlo (um 1520/30), Walcourt (1531), Lier (1535/38) und Brou (1525/26) alle 6
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Zu Lettnern allgemein vgl. Monika Schmelzer: Der mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum. Typologie und Funktion (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 33), Petersberg 2004. – Immer noch grundlegend Erika Doberer: Die deutschen Lettner bis 1300, Diss. Wien 1946. – Vgl. auch Jan Schirmer: Gotische Chorabschrankungen in Burgund (Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Bd. 5), Göttingen 2001. – Zum Lettner von St. Pantaleon vgl. Walter Geis: Der Lettner in St. Pantaleon, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 6 (1991), S. 80–100. – Nicole Buchmann: St. Pantaleon, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 11 (1996) (Kölner Kirchen und ihre mittelalterliche Ausstattung, Bd. 2), S. 163–180, hier S. 176 f. Vgl. Klaus Gereon Beuckers: St. Maria im Kapitol zu Köln als Frauenkonventskirche, in: Architektur für Kanonissen? Gründungsbauten und spezifische bauliche Veränderungen von Frauenkonventskirchen im Mittelalter, hg. v. Julia von Ditfurth/Vivien Bienert (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 1), Köln 2018, S. 127–162. – Klaus Gereon Beuckers/Vivien Bienert: Frauenstifte – Männerstifte. Zur Frage einer architektonischen Spezifik von Frauenkonventskirchen im Früh- und Hochmittelalter, in: Frauenstifte – Männerstifte. Handlungsspielräume und Lebensweisen im Südwesten, hg. v. Oliver Auge/Sigrid Hirbodian/Frederieke Maria Schnack (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde), Ostfildern 2023 (im Druck).
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einen Aufbau aus reich verzierten Arkaden, die meist eine Brüstung mit Figurenbaldachinen tragen. Die Architravlösung und vor allem die inszenierende Herumführung um die Wappenmedaillons war ein spezieller Entwurf für Köln und so spezifisch, dass er auch keine Nachfolge gefunden hat.8 Der Lettner ist somit in seiner ungewöhnlichen Form ein deutliches Monument der Stifterfamilien, von konventfernen Laien. Dies wurde noch bestärkt, indem man auf der Ostseite das Programm der Heiligen nicht aus dem Kreis der in der Kapitolskirche verehrten oder in Reliquien vorhandenen Heiligen entwickelte, sondern bei ihrer Auswahl den Namenspatronen der Stifter folgt. Die Manifestation konventferner Personen im Kirchenraum einer Frauenkonventskirche ist keineswegs singulär, wie in Köln allein schon der Blick auf die Ausgestaltung der Marienkapelle durch die Familie des Bürgermeisters Johann von Hirtz und die Marienbruderschaft im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts an St. Ursula zeigt.9 In St. Maria im Kapitol sind die Hardenrath- und die Hirtzkapelle aus dem 15. Jahrhundert am Ostbau zu nennen.10 Die Forschung hat solche bürgerlichen Stiftungen und Kapellen bisher von denen an Pfarrkirchen oder Stifts- und Klosterkirchen männlicher Konvente nicht unterschieden.11 Dies ist angesichts der 8 Vgl. Matthes 1967 (wie Anm. 3), S. 38 f. 9 Eine monografische Bearbeitung hat die Kapelle mit ihrer bedeutenden Ausstattung bis heute nicht erfahren. Vgl. Karen Künstler-Brandstädter: St. Ursula, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 11 (1996) (Kölner Kirchen und ihre mittelalterliche Ausstattung, Bd. 2), S. 208–224, hier S. 219–223. – Klaus Gereon Beuckers: Köln. Die Kirchen in gotischer Zeit. Zur spätmittelalterlichen Sakralbautätigkeit an den Kloster-, Stifts- und Pfarrkirchen in Köln (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 24), Köln 1998, S. 174 f., 315 f. – Zum Altar vgl. Hans Martin Schmidt: Der Meister des Marienlebens und sein Kreis. Studien zur spätgotischen Malerei in Köln (Beiträge zu den Bau- und Kunstdenkmälern im Rheinland, Bd. 22), Düsseldorf 1978, S. 38–45. Vgl. zu den Stiftungen der Familie Hirtz in St. Ursula den Beitrag von Markus Jansen in diesem Band. 10 Zur Hardenrathkapelle vgl. v.a. Susanne Ruf: Stift und Welt. St. Maria im Kapitol zu Köln und die Stiftungen der Familie Hardenrath, in: Frauen, Kloster, Kunst. Neue Forschungen zur Kulturgeschichte des Mittelalters, hg. v. Jeffrey F. Hamburger, Turnhout 2007, S. 237– 246. – Susanne Ruf: Die Stiftungen der Familie Hardenrath an St. Maria im Kapitol zu Köln (um 1460 bis 1630). Kunst, Musikpflege und Frömmigkeit im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Bd. 8), Korb 2011. – Vgl. auch Beuckers 1998 (wie Anm. 9), S. 176–180, 183–187, 198 f. 11 Von grundlegender Bedeutung für die Erforschung spätmittelalterlicher Laienstiftungen in Köln ist Wolfgang Schmid: Stifter und Auftraggeber im spätmittelalterlichen Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Stadtmuseums, Bd. 11), Köln 1994, zur Hardenrathkapelle S. 334–364.
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besonderen Immunitätsvorstellungen weiblicher Konvente jedoch zu hinterfragen oder zumindest spezifisch zu untersuchen. In keinem anderen Fall in Köln (und meiner Kenntnis nach auch darüber hinaus) ist die Manifestation konventferner Laiengruppen so signifikant wie am Lettner von St. Maria im Kapitol mit seiner raumhohen Trennung zwischen Hochaltar und Konvent. Hier gebärdeten sich die Stifter – mitten im liturgischen Raum des Frauenkonventes – wie die Hausherren der Kirche. Dies war am Ende des Mittelalters der vorläufige Höhepunkt einer längeren Entwicklung, die hier mit Konzentration auf das Langhaus von St. Maria im Kapitol nachgezeichnet werden soll, um zu zeigen, wie der Sakralraum der Frauen dort zunehmend durch Laien und ihre markanten Stiftungsmanifestationen mitbestimmt wurde. Schon 2009 hat Susanne Ruf die Frage aufgeworfen, ob man angesichts von St. Maria im Kapitol von einer Entwicklung „[v]om stiftisch geprägten Kirchenraum zur bürgerlichen Kirche“ sprechen könne.12 Dafür hat sie die Stiftungen und Bestattungen des 15. Jahrhunderts zusammengestellt und ausgewertet, wodurch sie zeigen konnte, dass die stiftenden Familien nur teilweise in einem engeren Bezug zum Rat standen, sondern vor allem durch die Nähe ihres Wohnortes hier aktiv wurden, wesentliche den Rat prägende Gruppen des 15. Jahrhunderts aber gerade nicht in der Kapitolskirche auftraten. Damit ist die alte These, dass das Frauenstift aufgrund seiner Ratsnähe zum Ort prominenter Stiftungen geworden wäre, nicht mehr haltbar. Es stellt sich aber aus ganz anderer Perspektive die Frage, inwiefern diese Laienstiftungen Auswirkungen auf den liturgischen Raum des Frauenkonvents insbesondere im Langhaus gehabt haben. Dazu hat Susanne Ruf wenig gesagt, was hier – ausgehend von dem bei ihr nur gestreiften 13. Jahrhundert – in Fortsetzung ihrer Überlegungen versucht werden soll.13
Die sakrale Binnentopografie von St. Maria im Kapitol
Die Raumdisposition von St. Maria im Kapitol wurde schon während des um 1040 begonnenen Baufortgangs verändert. Der vollständige Neubau der Kirche anstelle 12 Susanne Ruf: Vom stiftisch geprägten Kirchenraum zur bürgerlichen Kirche? Tendenzen des Stiftungswesens im 15. Jahrhundert, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 203–218. 13 Vivien Bienert und Joachim Oepen sei für die Durchsicht des Textes und den freundschaftlichen Austausch zum Thema herzlich gedankt.
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des im Kern wohl immer noch bestehenden römischen Tempels erweiterte die Anlage östlich des Tempelpostamentes um einen Trikonchos mit herumgeführten Umgängen.14 Ostkonche und Vierung wurden über einer Krypta errichtet, die sich direkt an das Tempelfundament anschloss sowie als Substruktion unter den Querarmansätzen mit seitlichen Erweiterungen über einer Vierpass-Säule ergänzt wurde, was als Rezeption der Speyerer Vierstützenräume unter dem Querarm verstanden werden kann. Die östliche Kryptenwand, die über die römische Terrassenmauer zum Rhein hin vorkragte, wurde so massiv angelegt, dass man in ihrer Wandstärke kleine Kapellen einfügen konnte. Dennoch brach die Fundamentplatte unmittelbar westlich der Ostwand noch während des Baufortgangs. Dies führte zu einer längeren Verzögerung der Fertigstellung, vermutlich auch zu einer Reduzierung des Bauplans, der vielleicht einen Vierungsturm vorgesehen hatte. Anstelle des Tempels hatte man das Langhaus der Kirche etwa zeitgleich mit der Krypta errichtet, wie die dort noch weitgehend verbauten Großquader des Tempelmaterials bezeugen. Als die Arbeiten am Trikonchos wegen der Bauschäden vorerst zurückgestellt wurden, stellte man das Langhaus nahezu fertig, damit hier der Konvent seinen Sitz nehmen konnte. Dieser Bau war 1049 so weit vollendet, dass beim Besuch von Papst Leo IX. (amt. 1049–1054) in Anwesenheit des Kaisers und des Hofes mit sehr zahlreichen Bischöfen und Äbten der Kreuzaltar im Osten des Langhauses geweiht werden konnte.15 Er blieb bis zur Abschlussweihe 1065 der einzige Altar und musste deshalb die Funktionen eines Hochaltares für den Konvent übernehmen. Der Frauenkonvent richtete sich im Westen des Langhauses ein, wo ein direkter Zugang zu den Konventsgebäuden der Erschließung diente; die westlichen Seitenschiffjoche wurden als Nebenräume mit unter anderem sakristeihafter Nutzung (im Norden als Heiltumskammer) als Rempter vermauert, die dies bis heute er14 Zur Architektur der Kapitolskirche vgl. Hugo Rahtgens: Die Kirche S. Maria im Kapitol zu Köln, Düsseldorf 1913. – Hans Erich Kubach/Albert Verbeek: Romanische Baukunst an Rhein und Maas, 4 Bde., Berlin 1976/89, Bd. 1, S. 557–568. – Ulrich Krings: St. Maria im Kapitol, in: Köln. Die Romanischen Kirchen von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 345–380. – Ulrich Knapp: Der salische Neubau von St. Maria im Kapitol zu Köln – eine kritische Revision, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 71–105. – Beuckers 2018 (wie Anm. 7). 15 Zu den Weihen vgl. Rahtgens 1913 (wie Anm. 14), S. 40–43. – Vgl. auch Klaus Gereon Beuckers: Der salische Neubau von St. Maria im Kapitol. Zum Baukonzept in seinem historischen Kontext, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 49–70, hier S. 49.
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Abb. 2: St. Maria im Kapitol zu Köln, Rekonstruktion der hochmittelalterlichen Raumdisposition.
fahrbar machen und beispielweise in der Frauenkonventskirche Quedlinburg noch im Bauzustand des frühen 12. Jahrhunderts erhalten sind.16 Disposition und Dimensionierung des wohl von Anfang an eingeschrankten Chorbereiches der Kapitolsfrauen konnten vor einigen Jahren unter anderem aufgrund der Nachrichten zu Bestattungen rekonstruiert werden (Abb. 2).17 Er öffnete sich nach Osten in einem Mittelportal und war darin auf das weiter östlich in der Mitte des Langhauses gelegene Grab der vermutlich 725 verstorbenen Klostergründerin Plektrudis ausgerichtet, das von einer Lichtkrone überfangen wurde.18 Aus Sicht des Kon16 Zu Quedlinburg vgl. immer noch grundlegend Klaus Voigtländer: Die Stiftskirche St. Servatii zu Quedlinburg. Geschichte ihrer Restaurierung und Ausstattung, Berlin 1989, insb. S. 82–86. – Vgl. auch Hans-Joachim Krause: Zur Geschichte von Schatz und Schatzkammer der Stiftskirche St. Servatius in Quedlinburg, in: Der Quedlinburger Schatz wieder vereint, Ausst.-Kat. Kunstgewerbemuseum Berlin, hg. v. Dietrich Kötzsche (Patrimonia, Bd. 30), Berlin 1992, S. 20–36, insb. S. 25 f., 29, 32 f. 17 Vgl. Beuckers 2018 (wie Anm. 7), S. 137–159. 18 Für die Rekonstruktion der Sakraltopografie des Langhauses ist die Lokalisierung des Plektrudisgrabes entscheidend. Neigte die ältere Forschung dazu, den östlichen der beiden mero-
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ventes hinter dem Plektrudisgrab befand sich am östlichen Abschluss des Langhauses, vor der während der Bauzeit hier notwendigen Abmauerung zur Baustelle des Trikonchos, der Kreuzaltar. Am Kreuzaltar müssen die Kanoniker ihren Platz gefunden haben, bevor 1065 der Hauptaltar in der Ostkonche geweiht wurde und die Priester dorthin umzogen. Der Frauenkonvent blieb jedoch an seinem Ort und nutzte das Langhaus auch liturgisch, da sich dort mit dem Kreuzaltar nicht nur der eucharistische Bezugspunkt befand, an dem er sich zu bestimmten Anlässen versammelte und die Totenmessen gelesen wurden, sondern ebenso das Gründerinnengrab, deren liturgische Memoria zu den vornehmsten Pflichten des Konventes zählte. Nach Fertigstellung der Krypta gelangten die Frauen über die Verlängerung der Seitenschiffe in diese und nutzten sicherlich auch die Nebenaltäre und den Hochaltar im Ostbau zu bestimmten Anlässen. Der Hochaltar im Ostbau, vor dem sich das Gestühl der vom Frauenkonvent bestellten Kanoniker befand, dürfte nicht nur der Ort gewesen sein, an dem die für den Konvent gelesene Messe stattfand, sondern er war sicherlich auch der Ausgangspunkt der meisten wichtigen Prozessionen und Feiern der Hochfeste.19 Kernraum ihres liturgischen Alltags war jedoch wingischen Sarkophage, die Stefan Neu: St. Maria im Kapitol. Die Ausgrabungen, in: Köln. Die Romanischen Kirchen von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 331–344, hier S. 332, Fig. 152 dokumentiert hat, für die Gründerin in Anspruch zu nehmen, so ist dies mit dem Bauablauf kaum vereinbar. Denn dann hätte die Bestattung zwischen den beiden östlichen Freipfeilern des Langhauses gelegen, genau auf dem Punkt, an dem der Kreuzaltar stand, der zwischen 1049 und 1065 vor der Abmauerung des Langhauses zum Trikonchos angeordnet wurde. Von einer direkten Benachbarung des Kreuzaltares mit dem Plektrudisgrab ist aber in den Quellen nirgendwo die Rede (erst 1666 wurde das Gründerinnengrab hinter den Kreuzaltar unter den Lettner verlegt). Deshalb muss sich das Plektrudisgrab an der Stelle der westlichen Grabgrube befunden haben, die zwischen dem dritten Freipfeilerpaar von Osten und damit ziemlich genau in der Mitte zwischen dem Frauenchor und dem Kreuzaltar, in der damaligen optischen Mitte des Langhaues liegt. Vgl. Beuckers 2018 (wie Anm. 7), S. 147, Abb. 28 und hier Abb. 2. – Die Lokalisierung im zweiten Interkolumnium von Osten, die Martin Seidler: Das spätromanische Grabmal der Plektrudis. Kritische Betrachtung der bisherigen kunsthistorischen Thesen aufgrund des konservatorischen Befundes, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 187–194, hier S. 191, Abb. 4 einzeichnet, ist freie Erfindung und mit den archäologisch dokumentierten Grabgruben nicht vereinbar. 19 Dies lässt sich durch Analogien anderer Frauenkonvente, wie beispielsweise in Essen, erschließen, bei denen die liturgischen Vollzüge durch die Überlieferung eines Liber ordinarius, der aus der Kapitolskirche fehlt, besser dokumentiert sind. Zum Essener Liber ordinarius vgl. Jürgen Bärsch: Die Feier des Osterfestkreises im Stift Essen nach dem Zeugnis des Liber ordinarius (zweite Hälfte 14. Jahrhundert). Ein Beitrag zur Liturgiegeschichte der deutschen Ortskirchen (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kir-
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das Langhaus mit dem Kreuzaltar, dem Plektrudisgrab und dem eingeschrankten Chorbereich.
Zwischen Frauenchor und Plektrudisgrab
Im 12. Jahrhundert, zur Zeit der Formierung der städtischen Selbstverwaltung und damit der Ausbildung einer ratsnahen städtischen Elite, traten Kölner Bürger prominent in Anliegen des Frauenstiftes auf, wie zuletzt Joachim Oepen anhand der ältesten erhaltenen Urkunde des Kapitolsstiftes von 1154 ausgeführt hat.20 Aufgrund der sehr dünnen Überlieferung ist der Prozess einer Annäherung zwischen dem Rat der Stadt und dem Kapitolsstift allerdings nicht näher greifbar. Sie erfolgte offenbar parallel zur Etablierung einer städtischen Selbstverwaltung durch eine zunehmend fester gefügte Führungsschicht, die sich zuerst im Schöffenkolleg, ab dem Ende des 12. Jahrhunderts in der Richerzeche und dann im 1216 erstmals erwähnten Rat manifestierte, der sich vor allem ab 1268 zur städtischen Führungsgruppe formierte.21 Das im 12. Jahrhundert bereits mehrfach erwähnte Rathaus lag am Rande des Judenviertels und verfügte bis in das 15. Jahrhundert über keine Ratskapelle,22 weshalb kirchliche Aktivitäten des Rates einer anderen Heimat bedurften, die sie offenbar im benachbarten Kapitolsstift fanden. Jedenfalls traten
chengeschichtliche Forschung des Bistums Essen, Bd. 6), Münster 1997. – Zu den Essener Prozessionen vgl. insb. Jürgen Bärsch: ‚processiones et stationes fiunt quatuor modis in monasterio‘. Beobachtungen zu Theologie und Liturgie prozessionaler Vollzüge im Liber ordinarius des Frauenstifts Essen, in: Liturgie in mittelalterlichen Frauenstiften. Forschungen zum Liber ordinarius, hg. v. Klaus Gereon Beuckers (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 10), Essen 2012, S. 49–69. 20 Joachim Oepen: Adelige Stiftsdamen, bürgerliche Ministeriale und ein Bierbrauer. St. Maria im Kapitol und die Kölner Bürger in einer Urkunde von 1154, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 83 (2019), S. 16–31. 21 Vgl. Manfred Groten: Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung (Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster, Reihe A: Darstellungen, Bd. 36), Köln 1995, S. 290–309. 22 Zum Rathaus vgl. Peter Fuchs (Hg.): Das Rathaus zu Köln. Geschichte, Gebäude, Gestalten, Köln 21994 (OA 1973). – Walter Geis/Ulrich Krings (Hg.): Köln. Das gotische Rathaus und seine historische Umgebung (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 26), Köln 2000. – Zur ab 1424 auf dem Gelände der Synagoge erbauten Ratskapelle St. Maria in Jerusalem vgl. Beuckers 1998 (wie Anm. 9), S. 221–223 sowie die aktuellen Forschungen zum MiQua – Museum im Quartier: https://miqua.blog/ [26.06.2022].
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kurz nach der festen Formierung des Rates plötzlich Interventionen im Langhaus von St. Maria im Kapitol auf. Den Anfang machte die bischöflich bestätigte, also exzeptionelle Erlaubnis eines Erbbegräbnisses durch Äbtissin Hadwig von Wickrath (amt. 1245–1304)23 für die Familie des stadtprominenten Ritters Daniel Jude 1281.24 Die Lage des Familiengrabes, in dem 1281 seine Tochter und beispielsweise im 15. Jahrhundert weitere Familienmitglieder bestattet wurden,25 ist unklar, die ältere Forschung vermutete es in der Vierung.26 Daniel Jude stiftete allerdings zwei Jahre später, 1283, den Altar zu Ehren von Maria Magdalena „ad caput sepulchri quondam serenissime Blitrudis regine fundatricis e[i]usdem loci“ „iuxta sepulchrum sancte Plectrude“, also westlich des Plektrudisgrabes.27 Hier zeichnen Susanne Ruf und Joachim Oepen mit guten Gründen das Familiengrab ein;28 die Lokalisierung in die Vierung basierte nicht zuletzt auf der irrtümlichen Annahme, dass das Plektrudisgrab zu dieser Zeit dort gestanden habe.29 Über die Form dieser Grablege der Familie Jude, die über ver23 Die Amtsdaten nach Joachim Oepen: Köln. St. Maria im Kapitol, in: Nordrheinisches Klosterbuch. Lexikon der Stifte und Klöster bis 1815, Teil 3, hg. v. Manfred Groten u.a. (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 37.3), Siegburg 2022, S. 473–497. – Joachim Oepen sei für die Vorabeinsicht herzlich gedankt. – Vgl. auch Joachim Oepen: Die Totenbücher von St. Maria im Kapitol zu Köln. Edition und personengeschichtlicher Kommentar (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 32), Siegburg 1999, S. 475 f. 24 Urkunde des Erzbischofs Siegfrieds von Westerburg (amt. 1275–1297) im Pfarrarchiv. Vgl. Heinrich Schaefer: Inventare und Regesten aus den Kölner Pfarrarchiven, Bd. 3 (Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, Bd. 83), Köln 1907, S. 11, Nr. 35. – Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. 3.2: 1261–1304, bearb. v. Richard Knipping (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 21), Bonn 1913, S. 118, Nr. 2892. – Rahtgens 1913 (wie Anm. 14), S. 189. –Zu den Urkunden von St. Maria im Kapitol vgl. aktuell https://www.monasterium.net/mom/DE-AEK/MiK/fond?block=1 [29.03.2022]. Zur Person vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 384 f. 25 Es handelt sich um Ludwig Jude vor 1422, Johann Jude und Ehefrau Sophia Rotstock 1492. Vgl. Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 204 f. 26 Die ältere Literatur gelistet bei Joachim Oepen: Das liturgische Totengedenken an St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 219–236, hier S. 236, Anm. 95. 27 Zit. n. Heinrich Schaefer: Das Alter der Parochie Klein S. Martin – St. Maria im Kapitol und die Entstehungszeit des Marienstiftes auf dem Kapitol zu Köln. Eine kritische Studie zur Kölner Kirchengeschichte, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 74 (1902), S. 53–102, hier S. 99. – Vgl. auch Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 385. 28 Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 204, Abb. 1. – Oepen 2009 (wie Anm. 26), S. 232. 29 Dieser Irrtum geht auf Rahtgens 1913 (wie Anm. 14), S. 190 zurück und wurde durch Fried Mühlberg: Grab und Grabdenkmal der Plektrudis in St. Marien im Kapitol zu Köln, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 24 (1962), S. 21–96 weitergetragen.
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wandtschaftliche Beziehungen in den Konvent verfügte,30 ist nichts überliefert, da die archäologischen Untersuchungen, die um 1900 und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Kirche durchgeführt wurden, fast nur die römischen Bauten im Blick hatten und lediglich auf der Mittelachse zwei merowingerzeitlichen Gräbern etwas Beachtung schenkten, wovon dann eines Plektrudis zugewiesen wurde.31 In der etwa fünf Meter dicken Schuttstickung zwischen Kirchenfußboden und Tempelfundament wäre eine Gruft für die Familie Jude jedenfalls gut denkbar. Der Frauenkonvent hatte im 12. Jahrhundert eine innere Veränderung durchlaufen und sich von einer klösterlichen Gemeinschaft, die unter der Benediktsregel stand und Anfang des 11. Jahrhunderts noch wegen ihrer strengen Verfassung großen Eindruck auf die hl. Adelheid gemacht hatte, zu einem Stift gewandelt.32 Ob mit dieser Neuverfassung auch die Liturgie verändert worden ist, kann angesichts fehlender Schriftquellen zur Liturgie sowohl vor als auch nach der Umwandlung nicht entschieden werden.33 Von Bedeutung dürfte jedoch das zweite Laterankonzil 1139 gewesen sein, das in Kanon 27 Frauen und Männern ein gemeinsames 30 Vgl. Hugo Stehkämper: Bürger und Kirchen in Köln im Hochmittelalter (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 45), Köln 2007, S. 65. 31 Vgl. Rahtgens 1913 (wie Anm. 14), S. 15–32. – Neu 1984 (wie Anm. 18). – Zu den Sarkophagen vgl. Sebastian Ristow: Trapezförmige Sarkophage des frühen Mittelalters in Köln, in: Kölner Jahrbuch 32 (1999), S. 305–341, aus St. Maria im Kapitol Kat. Nr. 32–40, S. 332–336, der sog. Plektrudissarkophag Kat. Nr. 37, S. 335. – Laure-Anne Finoulst: Les sarcophages du haut Moyen Âge en Gaule du Nord. Production, diffusion, typo-chronologie et interprétations, 2 Bde., Diss. Brüssel 2012, Bd. 2, S. 116–123. 32 Vgl. Anna Maria Friederike Walterfang: Studien zur Geschichte des Stiftes St. Maria im Kapitol zu Köln, Diss. Bonn 1920, S. 24–29. – Frederick Marc Stein: The Religious Women of Cologne 1120–1320, Diss. Yale 1977, S. 25 f. – Toni Diederich: Stift – Kloster – Pfarrei. Zur Bedeutung der kirchlichen Gemeinschaften im Heiligen Köln, in: Köln. Die Romanischen Kirchen von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 17–78, hier S. 36. – Beuckers 2018 (wie Anm. 7), S. 132–137. 33 Das stiftische Selbstverständnis lässt sich erst aus den Statuten des 14. Jahrhunderts näher herauslesen, die Schaefer 1907 (wie Anm. 24), S. 98–101 publiziert hat. Kapitel 1 behandelt hier den Verzicht auf eine Profess im Sinne der Benediktsregel, Kapitel 2 formuliert das Recht der Kanonissen auf Eheschließung (nach Austritt aus dem Konvent), Kapitel 3 das Recht der Kanonissen auf persönlichen Besitz und Kapitel 4 das Recht auf persönliche Bezüge, während Kapitel 5 verfügt, dass das Gelübde nur auf Zeit abgelegt wird, solange die Kanonisse die Präbende bezieht. – Vgl. auch Franz J. Felten: Frauenklöster und -stifte im Rheinland im 12. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Frauen in der religiösen Bewegung des hohen Mittelalters, in: Reformidee und Reformpolitik im spätsalisch-frühstaufischen Reich, hg. v. Stefan Weinfurter (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 68), Mainz 1992, S. 189–300, hier S. 194.
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Abb. 3: St. Maria im Kapitol zu Köln, ältere Grabplatte der Stifterin Plektrudis, 12. Jahrhundert.
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Chorgebet untersagte34 und in vielen Frauenkonventskirchen zu einer Separierung der Konventschöre auf Querarmemporen führte, womit eine örtliche Flexibilität der Liturgie im Raum einschränkte wurde.35 Sicherlich hat diese räumliche Festlegung auch die Durchsetzung eines ortsfesten Chorgestühls für Frauen beschleunigt. Für die Kapitolskirche gab es keine räumliche Verlagerung und es ist unklar, ob der ebenerdige Frauenchor im westlichen Langhaus bauliche Veränderungen erfuhr. Sicherlich dürfte es jedoch eine zunehmende Konzentration der Konventsliturgie auf den eingeschrankten Chorbereich im Zuge der allgemeinen Entwicklung der Zeit gegeben haben. Ob die neue Verfassung als Frauenstift statt als Frauenkloster die Immunitätsvorschriften für die Kapitolsfrauen flexibler handhaben ließ und so eine Nutzung des inneren liturgischen Raumes der Frauen im Langhaus durch konventferne Personen erleichtert hat, ist aus den Quellen nicht ersichtlich, aber wahrscheinlich. Im 12. Jahrhundert war das Plektrudisgrab noch fester Bestandteil des konventualen
34 Conciliorum oecumenicorum decreta, hg. v. Giuseppe Alberigo u.a. / Dekrete der ökumenischen Konzilien, hg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn 2000, Bd. 2, S. 203. – Vgl. Edeltraud Klueting: Monasteria semper reformanda. Kloster- und Ordensreformen im Mittelalter (Historia profana et ecclesiastica, Bd. 12), Münster 2005 (ND 2011), S. 57. 35 Vgl. Irmingard Achter: Querschiff-Emporen in mittelalterlichen Damenstiftskirchen, in: Jahrbuch der Rheinischen Denkmalpflege 30/31 (1985), S. 39–54. – Gisela Muschiol: Liturgie und Klausur. Zu den liturgischen Voraussetzungen von Nonnenemporen, in: Studien zum Kanonissenstift, hg. v. Irene Crusius (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 167; Studien zur Germania Sacra, Bd. 24), Göttingen 2001, S. 129–148. – Adam Stead: Raum im Raum – Bemerkungen zu Querhausemporen in Frauenstiftskirchen im 11. und 12. Jahrhundert, in: Architektur für Kanonissen? Gründungsbauten und spezifische bauliche Veränderungen von Frauenkonventskirchen im Mittelalter, hg. v. Julia von Ditfurth/Vivien Bienert (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 1), Köln 2018, S. 71–96. – Beuckers/Bienert 2023 (wie Anm. 7).
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Selbstverständnisses gewesen. Hiervon zeugt die erste figürliche Grabplatte, die aufgrund der zeitgleichen, etwas gröberen Tympana in St. Caecilien und St. Pantaleon sowie dem wohl etwas jüngeren Retabel aus Brauweiler stilistisch in das dritte Viertel des 12. Jahrhunderts datiert werden kann (Abb. 3).36 Mit ihr wurde nicht nur das Grab neu gestaltet, sondern die Stifterin auch als Heilige proklamiert, was zuletzt Heribert Müller noch einmal herausgestellt hat.37 Plektrudis trägt ein eng anliegendes, unverziertes Gewand mit einem eng anliegenden Schleier ohne Haube. Vergleicht man diese Bekleidung mit den Darstellungen von Stiftsfrauen, die Thomas Schilp für das 10./11. Jahrhundert insbesondere aus dem Frauenstift Essen zusammengestellt hat,38 so wird die enge Übereinstimmung deutlich. Im Gegensatz zur jüngeren Grabplatte zeigte man Plektrudis hier nicht als Königin mit Krone oder bortenbesetzter Kleidung einer weltlichen Persönlichkeit (s. u.), sondern in der Tracht einer Sanktimonialen, und unterstrich damit ihre Gründungstat für den Konvent auch in der jetzt gültigen, stiftischen Verfassungsform. Ihre Betitelung als Heilige am oberen Rahmen durch S. Plectrvdis Regina gab dem weitere Autorität, wie die Zustimmung durch den Psalmtext auf dem Schriftband Domine dilexi decorum domvs tve (Herr, mich erfreut die Zierde Deines Hauses, Psalm 25[26],8) noch unterstrichen wurde. Bei einer solchen Programmatik handelt es sich um keine von außen erfolgte Zuschreibung, sondern sie kam aus 36 Vgl. Rainer Budde: Deutsche romanische Skulptur 1050–1250, München 1979, S. 68, Kat. Nr. 124. – Anton Legner: Deutsche Kunst der Romanik 1050–1250, München 1982, S. 171, Kat. Nr. 224. – Seidler 2009 (wie Anm. 18), S. 192. – Zur Grabstätte mit teilweise heute widerlegten Thesen vgl. auch Mühlberg 1962 (wie Anm. 29). – Friedrich Dahm: Die romanische Grablege der Plectrudis in der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol, in: Aachener Kunstblätter 60 (1994), S. 211–222. 37 Heribert Müller: Sancta Plectrudis Regina? Die Gründerin von St. Maria im Kapitol zu Köln: Eine Spurensuche am Ort, in: Bildwerke für Kanonissen? Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhunderts, hg. v. Julia von Ditfurth/ Adam Stead (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 2), Köln 2019, S. 29–61 (überarbeiteter Beitrag aus Harald Müller/Cristian Jaser/Thomas Woelki (Hg.): Eleganz und Performanz. Von Rednern, Humanisten und Konzilsväter. Johannes Helmrath zum 65. Geburtstag, Köln 2018, S. 141–169). 38 Thomas Schilp: Kleidung aus Seide in Frauengemeinschaften? Spannungsfelder von Norm und Wirklichkeit, in: Seide im früh- und hochmittelalterlichen Frauenstift. Besitz – Bedeutung – Umnutzung, hg. v. Thomas Schilp/Annemarie Stauffer (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 11), Essen 2013, S. 49–99. Besonders ähnlich ist die Tracht von Äbtissin Theophanu auf dem Theophanu-Einband (um 1045/51), Äbtissin Mathilde auf dem Jüngeren Mathilden-Kreuz (um 1051/54) und Äbtissin Svanhild sowie Pröpstin Brigida im Svanhild-Evangeliar (um 1070/80).
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dem Konvent selbst, der sich so seiner Tradition versicherte und sich legitimierte. Wäre es hier primär um eine Etablierung von Plektrudis als Heiliger mit übergeordneter Verehrung gegangen, so wäre mit einem anderen Text zu rechnen, der beispielsweise Plektruds gute Werke herausgestellt und sie so als Heilige legitimiert hätte. Dennoch war das Postulat der Heiligkeit mit Konsequenzen verbunden, denn eine Plektrudis-Verehrung hätte zwangsläufig eine Zugänglichkeit des Heiligengrabes für Pilgernde und Betende auch außerhalb des Konventes ermöglichen müssen. Mit der neuen Grabplatte manifestierte der Konvent über Plektrudis sein Alter und seine Legitimität, signalisierte mit dem Postulat ihrer Heiligkeit aber auch die Bereitschaft, die interne Nutzung des Langhauses für Außenstehende zu öffnen. Mit diesem Schritt startete der Einzug der Bürger in das Langhaus, der dann etwa hundert Jahre später durch die Gruft der Familie Jude greifbar wird. Die Erlaubnis einer Familiengrablege auf den wenigen Metern zwischen dem Mittelausgang aus dem Frauenchor und dem von der Lichtkrone überfangenen Stifterinnengrab war ein Eingriff in die Exklusivität der bisherigen Raumnutzung. Die Gruft musste für die Angehörigen zugänglich gehalten werden, hier fanden zudem beispielsweise Anniversar- und Gedächtnisfeiern statt, für die der Magdalenenaltar 1283 am Westende des Plektrudisgrabes gestiftet wurde (s.o.). Zudem wurde die Vikarie des Altares an einen Vikar übergeben, der nicht als Kanoniker Mitglied des Stiftes war und so in den Gedächtnismessen auch ohne Publikum konventferne Personen in das Langhaus brachte. Dieser prominente Raum östlich des Frauenchores, an dem sich die Frauen für feierliche Versammlungen aufstellten,39 war damit jetzt auch für Laien zugänglich geworden. Von hier aus machte diese Grabanlage Schule und weckte Begehrlichkeiten, ebenfalls nahe dem Plektrudisgrab am Chor der Frauen bestattet zu werden. Die Neugestaltung des Areals durch die Grablege und vor allem den Magdalenenaltar scheint nach der bisher gängigen Forschungslage auch das Plektrudisgrab selbst betroffen zu haben. Die sogenannte ‚Jüngere Plektrudisplatte‘ entstand kunsthistorisch in den 1270/80er Jahren nach französischen Anregungen (Abb. 4), also ziemlich genau zur Zeit der Veränderungen 1281/83. Ulrike Bergmann hat 39 So beispielsweise bei den Feierlichkeiten für den im Amt verstorbenen Bürgermeister Johann von Breide 1471. Vgl. Ennen 1865 (wie Anm. 5), S. 180: „Die Abdisse sent Merien mit yren Joufferen stoenden vur yrem choir mit yren Hoichtzytzmenteln, und dae was id upgeslagen mit swartzen und unden gedeckt mit kussen, dae die prelaten und heren stoenden, waren die bencke mit stoillaichen belaht und bedeckt, under der kronen was eyne hoygebeertz gemacht mit swartzen doich umbhangen […].“
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1988 die bisher jüngste Einordnung versucht und dabei dem Kölner Bildhauer die Übernahme schon leicht veralteter und teilweise vergröberter Formen bescheinigt.40 Auch wenn die Gewandführung unter dem Kirchenmodell der als Königin gezeigten Gründerin nicht ohne ein paar Unsicherheiten auskommt, die aus der Adaption einer Madonnen-Vorlage resultieren dürften, so findet sich insbesondere die Faltenanlage mit den elegant vor der rechten Körperseite geführten Schüsselfalten auch bei führenden Pariser Elfenbeinen der Zeit, von denen nur auf das Polyptychon aus der Sammlung Spitzer, heute im Toledo Museum of Art verwiesen sei (Inv. Nr. 1950.304; Abb. 5).41 Dort findet sich auch eine Grundlage für die auf der linken Körperseite fallenden Faltenbahnen, die in Köln durch das Modell anders gefasst werden mussten. Ein weiteres Problem des Bildhauers war die Ansichtigkeit: Ist Abb. 4: St. Maria im Kapitol zu Köln, jüngere Grabdas Elfenbein auf Frontalsicht angeplatte der Stifterin Plektrudis, 13. Jahrhundert. legt, so war bei einer Tumba zwar die Gesamtanlage bestimmend, aber darüber hinaus auch die Seitenansicht mit zu berücksichtigen. Es wurde ein breiter und flacher Rahmen gewählt, vermutlich um 40 Ulrike Bergmann: Die gotische Grabplatte der Plektrudis in St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 3 (1988), S. 77–88. – Vgl. auch Georg Maul: Restaurierungsbericht. Die gotische Reliefplatte der Plektrudis, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 197–200. 41 Vgl. Images in Ivory. Precious Objects of the Gothic Ages, Ausst.-Kat. The Detroit Museum of Arts, hg. v. Peter Barnet, Princeton 1997, S. 144–146 (Peter Barnet). – http://emuseum. toledomuseum.org/objects/54903 [22.03.2022].
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hier Kerzen oder auch einen Gitterkasten aufstellen zu können. Bemerkenswert sind die Leuchterengel oben, die nicht nur – im Gegensatz zu Weihrauchfässer schwingenden Engeln – eher eine seltene Ikonografie für Grabmäler sind, vor allem aber mit einer Aufstellung der Platte zu rechnen scheinen. Auch hier dürften Elfenbeine Pate gestanden haben. Neu ist die ikonografische Gestaltung Plektruds, die nicht mehr als Heilige in der Tracht einer Sanktimoniale wie im 12. Jahrhundert gezeigt wird, sondern als gekrönte Königin in weltlicher Tracht mit Tasselmantel und dem Kirchenmodell in der Linken, was die Forschung schon lange theAbb. 5: Mitteltafel des Elfenbein-Polyptychons im Mumatisiert hat. Bildimmanente Inseum of Art in Toledo, Inv. Nr. 1950.304, Paris um 1280. schriften fehlen ganz, dafür haben sich die Stifter am unteren Rahmen mit ihren Wappen verewigt. Auch wenn die farbliche Zuordnung der in drei Reihen angeordneten Turnierkragen nicht eindeutig ist, so wird das Wappen in der Forschung durchgängig mit Konstantin von Lyskirchen identifiziert, der 1274/76 und 1281/82 Bürgermeister von Köln war.42 Das große Problem ist die Tatsache, dass es damit zwei Grabplatten der Gründerin gegeben hat. Fried Mühlberg hatte 1962 daraus ein ab 1283 doppelgeschossiges Grabmal rekonstruiert, was Bergmann schon 1988 entkräften konnte, da der für die kleinere gotische Platte notwendige Rahmen bei einer solchen Konstruktion nicht bestand, wie Reste der Farbfassung auf den Kanten belegen.43 Martin Seidler hat 2007 auf der Tagung zu St. Maria im Kapitol die Platte statt Plektrudis Äbtissin Ida, der Bauherrin des salischen Neubaus, zugewiesen, dies aber nach heftigem 42 Zur Person vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 408 f. mit Diskussion des Wappens S. 409. 43 Mühlberg 1962 (wie Anm. 29), S. 89–92. – Bergmann 1988 (wie Anm. 40), S. 80.
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Widerspruch in der Schriftfassung nur noch sehr zurückhaltend als Möglichkeit erwähnt.44 Wenn es sich jedoch um Plektrudis handelt, woran die sonstige Forschung keine Zweifel hat, dann muss es seit den 1270/80er Jahren gleichzeitig zwei Plektrudisplatten gegeben haben. Die Verwendung der jüngeren Platte als stehendes Epitaph kann trotz der eigenartigen Leuchterengel aufgrund des Gesamttypus mit Kissen, wie er für Grabplatten zu dieser Zeit von Frankreich ausgehend etabliert ist, wohl ausgeschlossen werden.45 Offensichtlich ging die Errichtung des Magdalenenaltares durch Daniel Jude mit einer Neugestaltung des Grabmals einher, bei dem mit Konstantin von Lyskirchen eine zweite, politisch führende Persönlichkeit aktiv war. Bezeichnend ist, dass spätere Gräber der von Lyskirchen ebenfalls im unmittelbaren Umfeld lokalisiert werden können. So benennt ein Eintrag von 1429 die Bestattung eines Konstantin von Lyskirchen „prope sedilia cancellata seniorissae“,46 also unmittelbar östlich des Frauenchores an der Südseite, nur wenige Meter neben dem Plektrudisgrab.47 Ein weiterer Konstatin von Lyskirchen wurde hier vor 1469 „prope sedilia seniorissa“ bestattet.48 Da der Name ‚Konstantin‘ ein Leitname der Familie von Lyskirchen war, sollte man vorsichtig sein, die Personen im 13. und 15. Jahrhundert zu eng miteinander zu verbinden. Aber es wäre durchaus denkbar, dass sich schon der prominente, zwischen 1304 und 1306 verstorbene Bürgermeister, Bankier und enge Finanzberater der Erzbischöfe Siegfried von Westerburg (amt. 1275–1297) und Wikbold von Holte (amt. 1297–1304) sowie des Domkapitels, der nach der Schlacht von Worringen für die Stadt Köln die Finanzen regelte,49 mit der Stiftung der Grabplatte das Recht zu einer Bestattung hier erworben haben könnte. Eine doppelte Grabanlage mit zwei Tumbenplatten an verschiedenen Stellen erscheint abwegig und ist in den Quellen auch nirgendwo erwähnt, sodass man zwar nicht mit einem ‚Doppeldecker-Grab‘ wie Mühlberg, aber mit einer Über44 Seidler 2009 (wie Anm. 18), S. 194. 45 Zur Ikonografie von Grabplatten vgl. Kurt Bauch: Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jahrhunderts in Europa, Berlin 1976. – Hans Körner: Grabmonumente des Mittelalters, Darmstadt 1997, insb. S. 106–117. 46 Zit. n. Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 204, Nr. 9. – Zur Person vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 409f. 47 Zur Lokalisierung vgl. Beuckers 2018 (wie Anm. 7), S. 144 f. 48 Vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 409. 49 Vgl. Ulrike Höroldt: Studien zur politischen Stellung des Kölner Domkapitels zwischen Erzbischof, Stadt Köln und Territorialgewalten 1198–1332. Untersuchungen und Personallisten (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 27), Siegburg 1994, S. 213, Anm. 8, S. 223 und passim. – Groten 1995 (wie Anm. 21), S. 308. – Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 408.
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Abb. 6: Grab mit gotischem Gisant über dem Bernwardgrab des 11. Jahrhundert in St. Michael in Hildesheim, Ausschnitt des Kupferstichs aus der Gloriosa Antiquitas Hildensia von Johann Ludwig Brandes (nach 1724).
deckung der romanischen durch die gotische Platte rechnen muss. Dafür gibt es Beispiele, von denen nur auf die etwa gleichzeitige Liegefigur Bischof Bernwards von Hildesheim (amt. 993–1022) verwiesen sei, die unter Abt Heinrich von Wendhausen (amt. 1298–1331) in St. Michael in Hildesheim gestiftet wurde und bei der Bernward – wie Plektrudis – als Gründer eine modellhafte Abbreviatur der Kirche in seiner Linken hält.50 Die ebenfalls in einem hohen Relief ausgeführte Platte wurde über die romanische Grabplatte gelegt und aufgrund ihrer schmaleren Anlage mit einer eigenen Kastenform erhöht, wie ein Kupferstich von 1724 zeigt (Abb. 6). Eine solche Konstruktion ist auch in Köln denkbar, vielleicht von einem Gitter eingeschrankt, bis das Grab 1666 hinter den Kreuzaltar unter den Lettner versetzt wurde. Mit der Umgestaltung des Plektrudisgrabes durch die jetzt nicht mehr dezidiert auf den Frauenkonvent bezogene Darstellung der Gründerin als Königin und der Kontextualisierung der Platte durch die Stifterwappen in die Repräsentation 50 Vgl. Rainer Kahsnitz: Bischof Bernwards Grab, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Ausst.-Kat. Dom- und Diözesanmuseum sowie Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim, hg. v. Michael Brandt/Arne Eggebrecht, 2 Bde., Mainz 1993, Bd. 1, S. 383–396, hier S. 392. – Ein Vortrag zur Bernwardplatte von Hartmut Krohm auf dem Kolloquium zu St. Michael 2010 wurde nicht gedruckt. Zum Inhalt vgl. Angela Weyer: Einführung, in: 1000 Jahre St. Michael in Hildesheim. Kirche, Kloster, Stifter, hg. v. Gerhard Lutz/Angela Weyer (Schriften des Hornemann-Instituts, Bd. 14), Petersberg 2012, S. 12–20, hier S. 17–19. – https://www.hornemann-institut.de/de/epubl_detail_tagungen21_264.php [22.03.2022].
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der Kölner Familien, zu denen sicherlich auch markante Bezugnahmen auf die stiftende Familie Jude am Magdalenenaltar gehörten, war der Bereich östlich des Frauenchores von einem primär konventualen Raum zu einem Raum auch laikaler Repräsentation geworden. Die wohl bodenebenen Grabplatten und Epitaphien der Familien verstärkten das noch und markierten den für häufigere Besuche durch Laien geöffneten Bereich. Schon einige Jahre vor der Bestattung eines von Lyskirchen im Jahr 1429 wurde gegenüber an der Äbtissinnenseite im Norden „iuxta sedem cancellatam dominae abbatissae“ 1416 der Kölner Tuchhändler Hermann von Heymbach bestattet.51 Auch er stammte aus einer alten Kölner Familie und war von 1396 bis 1414 Ratsmitglied sowie 1404 wohl Bürgermeister gewesen, hatte intensiv für die Pfarrkirche St. Jakob gestiftet, ist dann aber 1405 als Mitglied der Marienbruderschaft an der Kapitolskirche bezeugt, was wohl zu der Auswahl dieses Grabortes führte. Seine Memorienstiftung zum 10. März enthielt Gaben an die Sanktimonialen, die Kanoniker und Vikare sowie den amtierenden Wöchner, zudem auch eine übliche Kerzenstiftung auf dem Grab für Allerheiligen und Allerseelen.52 Zusammen mit dem Grab von Konstantin von Lyskirchen waren spätestens ab den 1410/20er Jahren also seitlich des Mittelausgangs aus dem Frauenchor prominente Kölner Laien bestattet.
Die Seitenaltäre des Langhauses und der Kreuzaltar
Auch über den Bereich östlich des Frauenchores hinaus wurde das Langhaus für Bestattungen von Bürgern oft mit Ratsnähe genutzt, die sich vor allem im Be51 Zit. n. Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 204, Nr. 5. – Zur Person vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 359 f. 52 Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 121 f.: „Memoria Hermans von Heymbach, eyn ml weis, dat sal man dielen under junfern, canonichen ind vicarien inter presentes an semelen; dat superfluum ad altare Trium Regum. Ind der offerman; des die weche is, sall it den erven kunt doyn, ind da van sall der offerman eynesemele haven. Ind die custerie sall haven vier semelen vur die memorie zo beluchten ind up Alreheilgen ind Alreseldage eyn kertze up dat graff zo setzen. Ind vur dat ml weyss hait he eyn ornament in die kirche gegeven.“ – Die Kerze auf dem Grab an Allerheiligen war üblicher Brauch, wie in der Memorienstiftung für Äbtissin Iburg von Dadenberg (amt. 1418–1444), die im Kanissenchor bestattet wurde, explizit ausgesagt wird: „[…] ind ouch up Alreheiligendage ind Alreseelendage eyne kertze up dat graff setzen as dat gewoenlichen ind vur eyne abdisse voechlichen is […].“ Zit. n. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 121 f.
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reich der im 14. und 15. Jahrhundert neu gestifteten Seitenaltäre an den Langhauspfeilern befanden. Susanne Ruf und Joachim Oepen haben die Nachrichten für das 15./16. Jahrhundert zusammengestellt und kartografisch dokumentiert.53 Gut rekonstruierbar sind auf der Südseite vor dem westlichen Freipfeiler der Altar der Heiligen Jungfrauen um die hl. Ursula, bei dem 1404 Äbtissin Irmgard von Schöneck (amt. 1368–1404) bestattet wurde („iuxta altare S. Ursulae“),54 während hier sonst vor allem die Dignitärinnen des Frauenkonvents sowie wenige Kanoniker ihre letzte Ruhe fanden. Er scheint der älteste Altar an einem Langhauspfeiler gewesen zu sein.55 Der Altar einen Pfeiler östlich davon war der Gottesmutter geweiht, wie beispielsweise die Bestattung des Vikars Wilhelm Heister 1522 „ad altare beatae Mariae virginis“ belegt.56 Er wurde 1467 von der Familie Heister gestiftet, und Joachim Oepen konnte hierzu auch eine Fensterstiftung wahrscheinlich machen.57 Am dritten Freipfeiler von Westen auf der Südseite befand sich seit 1434 der Altar der Heiligen Jodocus, Matthias und Walburga, bei dem 1453 der Kölner Bürger Heinrich Hardefust „ad sacellum s. Matthiae“ bestattet wurde, der möglicherweise mit dem zwischen 1419 und 1434 amtierenden Bürgermeister identisch ist, jedenfalls aus einer der Ratsfamilien stammte.58 Am östlichen Freipfeiler der Südseite stand dann der 1473 neu geweihte Ägidiusaltar, bei dem schon 1471 Druda Junge, die Ehefrau des Ratsherrn Ägidius von dem Broich, „iuxta altare s. Aegidii“ an dem von ihnen gestifteten Altar ihr Grab fand,59 wie zwischen 1464 und 1471 bereits eine namentlich nicht benannte Kanonisse aus der Familie von Flodorp, deren Grablege zudem als „ad antiqua sedilia familiae Lyskirchen sub atrio saxo“, also am Umgang zur südlichen Konche, beschrieben wird.60 Weniger klar sind die Altarstellen auf der Nordseite. Gut belegt ist hier im Westen der Altar des Evangelisten Johannes neben dem Eingang in das Sakrarium, auf den schon die Beschreibung der Bestattung der Kanonisse Aleidis von Bet53 Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 204 f., Abb. 1, die Altäre in Abb. 3, S. 207. – Oepen 2009 (wie Anm. 26), S. 231, Abb. 10. 54 Die Zitate entstammen den Totenbüchern aus St. Maria im Kapitol nach Oepen 1999 (wie Anm. 23), zit. n. Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 204 f. – Zu Irmgard von Schöneck vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 454. – Nach Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 205 handelt es sich um die einzige Bestattung einer Äbtissin außerhalb des Frauenchores. 55 Vgl. Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 207. 56 Zur Person vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 363. 57 Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 363. – Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 207. 58 Zur Person vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 353. 59 Zur Druda und Ägidius von dem Broich vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 313. 60 Zur Person vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 173.
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Abb. 7: St. Maria im Kapitol zu Köln, Kreuzigungsdarstellung mit Stifter Kanonikus Heinrich von Berchem († 1508), nach 1481.
genhausen vor 1421 „iuxta sacellum Joh. Ev.“ Bezug nimmt.61 Am Pfeiler östlich davon stand seit der Zeit um 1430 der Nikolausaltar, an dem 1472 der Kanoniker, Theologieprofessor und Universitätsrektor Johann Heller bestattet wurde („ad altare s. Nicolai“), wie vorher vermutlich bereits 1455 der Kölner Ratsherr Johann von Dryveltz und seine Ehefrau Adelheid Junge dies für sich testamentarisch verfügt hatten.62 Der Neffe des aus Frankfurt stammenden Gelehrten, Jakob Heller, stiftete 1505/07 neben dem Altar das Seitenschifffenster neu, auf dem alle drei Stifter abgebildet sind.63 Er setzte damit eine Linie fort, die durch den Universitätsrektor und Kanoniker Heinrich von Berchem mit der Neustiftung des Johannesaltars 1495 gepflegt worden war, dem Berchem ebenfalls ein Fenster mit – in diesem Fall – einer Kreuzigung und Stifterdarstellung hinzugefügt hatte (Abb. 7).64 Das nördliche Seiten-
61 Zur Person vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 308 f. 62 Zu den Personen vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 320 f., 363 f. – Zur Datierung des Altares vgl. Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 207. 63 Vgl. Brigitte Lymant: Das Heller-Fenster in St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 3 (1988), S. 89–95. – Schmid 1994 (wie Anm. 11), S. 484–486. – Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 2), S. 132 f. 64 Vgl. Herbst des Mittelalters. Spätgotik in Köln und am Niederrhein, Ausst.-Kat. Kunsthalle Köln, hg. v. Gerd von der Osten, Köln 1970, Kat. Nr. 68, S. 66 (Herbert Rode). – Beuckers 2018 (wie Anm. 7), S. 215 f. – Zur Person vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 307 f.
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Abb. 8: St. Maria im Kapitol zu Köln, Ursula-Fenster, um 1500.
schiff war an seinem Westende damit auch zu einem Kanoniker- und Professorenbereich geworden. Altäre an den beiden östlichen Freipfeilern der Nordseite sind im Mittelalter nicht eindeutig überliefert,65 jedoch stand am Eingang zur Nordkonche schon im Umgang das Idagrab, das ebenfalls zahlreiche Bestattungen an sich zog. Da hier im östlichsten Langhausjoch der übliche Kirchenzugang vom Eligiusplatz (Pippinstraße) entlang des Stiftshospitals lag,66 dürfte dieser bei allen Zugängen in den 65 Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 2), S. 122, Abb. 7, Nr. 19 zeichnet am dritten Freipfeiler von Westen einen Idaaltar ein, obwohl Ida nie kanonisiert wurde, und am östlichen Freipfeiler einen Paulusaltar. Sie folgt dabei Rahtgens 1913 (wie Anm. 14), S. 191, Abb. 129, der jedoch die Altäre noch an den Seitenschiffwänden vermutet hatte und die Altarstelle des Paulusaltars offenlässt. – Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 207 lässt die beiden östlichen Altarstellen unbesetzt. 66 Zur Lage vgl. Hermann Keussen: Topographie der Stadt Köln im Mittelalter (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde; Preis-Schriften der Mevissen-Stiftung, Bd. 2), 2 Bde., Bonn 1910 (ND Düsseldorf 1986), Bd. 1, S. 62 f. (Pipinstrasse I).
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Trikonchos stark frequentierte Bereich besonders beliebt gewesen sein. Die teilweise im Verlauf des 15. Jahrhunderts überstifteten Altäre dürften wohl aber nur beim Ursulaaltar vor das 15. Jahrhundert zurückreichen. Sie wurden – mit Ausnahme des Ursulaaltars, der dem Konvent vorbehalten geblieben zu sein scheint, aber im frühen 16. Jahrhundert trotzdem mit einem neuen Fenster ausgestattet wurde, das einen (heute unbekannten) bürgerlichen Stifter mit seiner Frau und seinen Töchtern zeigt67 (Abb. 8) – spätestens im 15. Jahrhundert zu Graborten für Bürger, die zu den führenden Kölner Familien gehörten und dementsprechend auch oft einen Ratsbezug besaßen, ohne deshalb als eine Vertretung des Rates im engeren Sinne aufgefasst werden zu müssen. Überraschend wenige Bestattungen sind mit dem Kreuzaltar, der in den Quellen häufiger als „altare animarum“ (Seelenaltar) erscheint, verbunden.68 Susanne Ruf listet hier für das 15./16. Jahrhundert nur zwei Bestattungen, nämlich 1464 die der Kanonissen Lukardis von Milendonk, „haud procul ab altari animarum intra duas columnas“, und 1521 der Kanonisse Jutta von Harff, „iuxta altare animarum ad latus epositolae“,69 wobei beide Formulierungen auf eher seitliche Bestattungen hinweisen. Setzt man diese Überlieferung absolut, so war der Kreuzaltar auch in den Bestattungen konventual konnotiert und nicht Teil des bürgerlichen Bereiches. Dafür spricht auch eine Beobachtung, die kürzlich Viven Bienert bezüglich des Gabelkruzifixus gemacht hat, der Anfang des 14. Jahrhunderts hinter dem Kreuzaltar am vermutlich spätromanischen Lettner aufgehängt wurde.70 Der Kruzifixus ist mit seiner besonders eindrücklichen Leidenszeichnung einerseits auf frontale Fernsicht ausgerichtet, entwickelt andererseits seine Wirkung aber vor allem in 67 Vgl. Kat. Köln 1970 (wie Anm. 64), Kat. Nr. 73, S. 67 f. (Herbert Rode). – HagendorfNussbaum 2005 (wie Anm. 2), S. 131. 68 Die Identifizierung bereits bei Rahtgens 1913 (wie Anm. 14), S. 191 insb. mit Anm. 1. Er bezieht sich unter anderem auf die bereits 1291 belegte Abhaltung der Verstorbenenmesse (missa pro defunctis) hier. Vgl. Schaefer 1907 (wie Anm. 24), S. 14, Nr. 51. 69 Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 204 f., Abb. 1, Nr. 24 und 63. – Zu den Personen vgl. Oepen 2009 (wie Anm. 26), S. 356, 419. 70 Bienert 2019 (wie Anm. 4). – Die Datierung des Lettners, der dem von 1523 vorausging, ist nur Spekulation, jedoch dürfte er erst nach der Einwölbung des Langhauses, das die um 1200 begonnene Modernisierung der Ostteile in den 1240er Jahren abschloss, errichtet worden sein. Zu den Gewölben vgl. Rahtgens 1913 (wie Anm. 14), S. 83 f. – Klaus Gereon Beuckers: Die spätstaufische Langhauswölbung von St. Maria im Kapitol in Köln, in: Zugänge zu Archäologie, Bauforschung und Kunstgeschichte – nicht nur in Westfalen. Festschrift für Uwe Lobbedey zum 80. Geburtstag, hg. v. Mareike Liedmann/Verena Smit, Regensburg 2017, S. 207–220.
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der nahen Untersicht. Bienert hat dies durch eine niedrige Anbringung erklärt, die auch ohne Konkurrenz zu dem im östlichen Triumphbogen angebrachten, großen Triumphkreuz im Gewölbe möglich war, das sich, aus dem 12. Jahrhundert stammend, mit einer Umarbeitung des 13. Jahrhunderts im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg erhalten hat.71 War das Triumphkreuz auf Fernsicht angelegt, so war das Gabelkruzifix auf einen Kleinraum zwischen der Chorschranke und dem Kreuzaltar bezogen, der offenbar einer mystischen Versenkung in das Leiden Christi diente. Eine solche Frömmigkeitspraxis tritt im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert insbesondere bei Frauenkonventen auf und führte dort zu zahlreichen neuen Ikonografien wie der Pietà oder der Christus-Johannes-Gruppe.72 Nimmt man die Bestattungen von Kanonissen hier und den Charakter des Kruzifixus als mystisches Bildwerk zusammen, so behaupteten die Kapitolsfrauen mit dem Kreuzaltar den Osten des Langhauses für sich, bis der neue Lettner im 16. Jahrhundert dies grundlegend veränderte (s.o.). Dennoch blieb dieser Bereich nicht ohne bürgerliche Stiftungen: Im Stiftsprotokoll vom 2. Dezember 1765 wird verfügt, dass kupferne Stangen vom Kreuzaltar für ein Eisengitter am Frauenchor verkauft werden sollen. Die an den Stangen befindlichen Wappen der Familien Giyr und Groote sollten deshalb auf das Gitter übertragen werden.73 Möglicherweise handelte es sich bei den Stiftern um den 71 Zum Triumphkreuz vgl. Heinz Stafski/Egon Verheyen: Das Triumphkreuz aus St. Maria im Kapitol, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1963, S. 13–22. – Manuela Beer: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert, Regensburg 2005, Kat. Nr. 48, S. 661–664. – Frank Matthias Kammel: Kreuz und Kruzifixus, in: Mittelalter. Kunst und Kultur von der Spätantike bis zum 15. Jahrhundert, hg. v. Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Die Schausammlungen des Germanischen Nationalmuseums, Bd. 2), Nürnberg 2007, S. 125–137, hier S. 132 f. und Kat. Nr. 192, S. 403. 72 Ob die in den 1420/30er Jahren in den Totenbüchern bezeugte Episode einer Begine, die unter einem Kreuz sitzend ein Bild (Retabel?) öffnete und schloss, mit dieser Stelle zusammenhängt, ist nicht mehr zu klären. Vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 445. – Ruf 2009 (wie Anm. 12), S. 206 mit Anm. 33. 73 „[…] auch ist beliebt worden, die umb den Creutz altar gewesene kupferne stangen, nach guttbefinden des baw-Meisteren Herrn du Puys gegen ein, vor der fräwlein Chor newhinzustellendes eisernes gitter umb so mehr zu veräußeren, alß Herr Canonicus Huttanus sich erbotten, dieses nach dem zur approbation zu producirenden abriß gegen emfang obiger kupferner stangen verfertigen zu laßen, (…) und weilen genanndte kupfernerstangen und übrige um den Creutz altar gewesene zierathen von beyden familien von Geyr, und de Groote der kirchen seyndt verehrt – undt darauf deren wapen seyndt befunden worden – alß sollen in das newe eiserne gegitter ebenfals beyder familien wapen eingearbeitet werden.“ Zit. n. Matthes 1967 (wie Anm. 3), S. 14.
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Kölner Vogt und Bürgermeister Everhard Gir mit seiner Frau Elisabeth, die 1313 durch ihre Söhne eine Memorie am Altar St. Johannes Baptist in der Krypta gestiftet haben,74 also gleichzeitig zu der Entstehung des Kruzifixes am Kreuzaltar. Denkbar wäre jedoch auch eine Identifizierung mit einem Mitglied aus der Familie Geyr, die seit 1670 in Köln und dem Rheinland ansässig war, zumal sie mit der Familie Groote, die seit dem 16. Jahrhundert in Köln wohnte und am Ende des Jahrhunderts einen sehr schnellen wirtschaftlichen und politischen Aufstieg erlebte, versippt war.75 Ob die Stangen also eine Stiftung des frühen 14. Jahrhunderts waren, die später modernisiert oder ergänzt wurden, oder erst aus dem 17. Jahrhundert stammten und bereits im 18. Jahrhundert umfunktioniert wurden, ist nicht mehr mit letzter Gewissheit zu klären. Da der Kreuzaltar zugleich auch Fronaltar war, dürfte er im Mittelalter jedenfalls immer wieder für gewisse Zeiten auch Laien zugänglich gewesen sein. Über eine feierliche Öffnung des Retabels auf dem Kreuzaltar legt ein Erlass von Papst Bonifatius IX. (amt. 1389–1404) vom 3. November 1392 Zeugnis ab, der auf Antrag der Stadt Köln, also des Rates, zustande kam.76 In Verbindung mit dem Lettner erfuhr der Kreuzaltar eine grundlegende Veränderung, indem er um 1520 ein neues Retabel aus dem Stifterkreis des Lettners erhielt. Es zeigt als zentrales Bild den Marientod und auf den Flügeln die von ihren Namenspatronen vorgewiesenen Stifter der Familie Hackeney; das Retabel ist heute in der Alten Pinakothek in München verwahrt (Inv. Nr. WAF 150–152; Abb. 9).77 Der in Antwerpen tätige Maler Joos van Cleve arbeitete dabei eine Bildfindung aus, die er 1515 ebenfalls im Auftrag von Nicasius und Georg Hackeney für deren Hauskapelle am Neumarkt entwickelt hatte (heute Wallraf-Richartz-Museum Köln, Inv. Nr. WRM 0430).78 Das Bildmotiv war nicht nur einerseits durch 74 Vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 23), S. 339. 75 Zur Familie Groote vgl. Clemens Klug: Die Familie von Groote über mehrere Jahrhunderte in Köln angesehen und einflussreich, Hürth 1988. – https://de.wikipedia.org/wiki/Groote_ (Adelsgeschlecht) [21.03.2022]. – Joachim Oepen sei für den Hinweis herzlich gedankt. 76 Vgl. Leonard Ennen (Hg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 6, Köln 1879 (ND Aalen 1970), Nr. 66, S. 117 f. – Vom 14. November 1392 datiert ein Ablass von Bonifatius IX. für die Besuche in der Kapitolskirche an Mariä Heimsuchung: Nr. 113, S. 191 f. 77 Vgl. John Oliver Hand: Joos van Cleve. The Complete Paintings, New Haven 2004, S. 24– 26, 69–73 und Kat. Nr. 7, S. 116 f. sowie Kat. Nr. 47, S. 143. – Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 2), S. 138–142. – Joos van Cleve. Leonardo des Nordens, Ausst.-Kat. SuermondtLudwig-Museum Aachen, hg. v. Peter van den Brink, Stuttgart 2011, S. 31–34. 78 Vgl. Thesy Teplitzky: Joos van Cleve: Zwei Triptychen mit dem Tod Mariae. Überlegungen zu den Altären aus der Hackeneyschen Hauskapelle und St. Maria im Kapitol und zu ihrer Beziehung zum Haus Habsburg, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Ro-
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Abb. 9: Joos van Cleve: Marientod, Alte Pinakothek München Inv. Nr. WAF 150–152, durch die Brüder Nicasius und Georg Hackeney um 1520 gestiftetes Retabel vom Kreuzaltar von St. Maria im Kapitol zu Köln.
die ausführliche Darstellung der Stifter, die sich zu Seiten des Totenbettes Mariens den Aposteln anschlossen, sondern auch andererseits durch eine mariologische Ikonografie, die hier zu einem Bild des ‚Guten Sterbens‘ gewendet wurde, sehr passend für einen Memorienaltar der Familie. Der eigentliche Weihetitulus des Altares, nämlich das Heilige Kreuz, geriet dabei völlig in den Hintergrund, wie auch der Gabelkruzifixus hinter dem Retabel optisch verschwand und keinen Sichtkontakt vom Frauenchor aus mehr ermöglichte. Damit schlug das Retabel in die gleiche Kerbe wie der Lettner selbst, der bildlich die liturgische Disposition zugunsten einer Stifterrepräsentation zurückdrängte. Der Lettner war dabei nicht nur eine optische Schranke, sondern unter ihm befanden sich noch weitere Abgrenzungen, die zum östlich am Hochaltar stehenden Chorgestühl gehörten. Schon 1464 war als Stiftung des Kölner Neubürgers Johannes Hardenrath, der schon nach wenigen Jahren in den Rat aufgestiegen war, der Binnenchor der Ostkonche durch ein steinernes Maßwerkgitter eingeschrankt worden. Der Bereich zur Vierung war vermutlich offengeblieben, damit das im Vorchorjoch aufgestellte Kanonikergestühl bei den Feierlichkeiten des Rats als Ratsgestühl genutzt oder durch zusätzliche Bänke erweitert werden konnte. Spätestens als man 1666 das Plektrudisgrab in die Vierung östlich des Lettners verlegte, wurden die Schranken bis zum Lettner erweitert; eine Nachricht dazu manische Kirchen Köln 24 (2009), S. 303–315. – Vgl. auch Teplitzky 2012 (wie Anm. 3), S. 64–97.
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datiert von 1682.79 Es gab dann einen Westeingang hinter dem Kreuzaltar und seitliche Eingänge insbesondere im Norden für den üblichen Zugang, was aus den Totenfeierlichkeiten anlässlich der Exequien für Kaiser Karl VI. am 15. Dezember 1740 ablesbar ist.80 Spätestens ab dieser Zeit war der Lettner auch ebenerdig eine Schranke.
Im Kanonissenchor: Das Heilige Grab des Kanonikers Heinrich von Berchem
Im Bereich des eingeschrankten Konventschores der Frauen im Langhaus dürfte es im Laufe der Zeit ebenfalls zu Veränderungen gekommen sein. Da der Chor selbst nach der Säkularisation undokumentiert und vollständig abgeräumt wurde,81 sind alle Modernisierungen dort reine Spekulation. Es ist zu erwarten, dass im Laufe der Zeit die Chorsitze des 11. Jahrhunderts durch ein Gestühl mit Stallen ersetzt worden sind, was sicher auch zu einer Modernisierung des Raumes geführt haben 79 Vgl. Kulenkampff 1984 (wie Anm. 2), S. 383 mit Anm. 29. – Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 2), S. 124. – Die Eintragung eines Vierungsgestühls bereits für das Hochmittelalter bei Clemens Kosch: Kölns Romanische Kirchen. Architektur und Liturgie im Hochmittelalter (Große Kunstführer, Bd. 207), Regensburg 22005 (OA 2000), S. 66/67 ist falsch. 80 „Nach geendeter Vigilie kam die Frau Abtissin mit allen Stiftsdamen durch die Thür längs den Kreutz-Altar und setzte sich in’s Chor auff die für sie zubereitete Bank, die Canonici und Vicarii aber giengen durch die Thür hinterm hohen Altar und Chor auff ihren Platzen.“ Zit. n. Leonard Ennen: Zur Geschichte der Wahl und Krönung des Kaisers Karl VII., in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 17 (1866), S. 65–88, hier S. 78. 81 Beuckers 2018 (wie Anm. 7), S. 161 vermutete – dem Plan von Rahtgens 1913 (wie Anm. 14), S. 191 folgend – einen Abbruch des Chorgestühls bereits im Zuge der Barockisierung 1667/78. Dagegen spricht jedoch der Eintrag bei Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Historisch-geographisch-topographisches Stifts- und Closter-Lexicon oder Verzeichniß und Beschreibung aller Bisthümer, Collegiatkirchen, Abteien und Prälaturen […], Bd. 1: A–D, Leipzig 1792 (ND Hildesheim 1972), S. 814 f.: „Unter dem hohen Chore (denen zwei daselbst sind, einer für die Stiftsdamen, welcher in der unteren Kirche ist, der andere für die Canonicos, der oben bei dem hohen Altar ist) geht man in eine Gruft [Krypta], welche viele niedrige Säulen und kleinere Abtheilungen hat.“ Demnach muss der Kanonissenchor 1792 noch bestanden haben und wurde wohl erst nach der Säkularisation abgerissen. – 1828 war es vermutlich abgetragen: „Da das am westlichen Ende des Schiffs unter der Orgel des ehemaligen Damenchors sich befindende Gestühle den Raum der nunmehrigen Pfarrkirche beengte, so wurden an dieser Stelle alle, theils in der ganzen Kirche zerstreuten, theils in Magazinen aufgehobenen Denkmahle vereinigt.“ Zit. n. Karl Georg Jacob/Matthias Josef de Noël/Johann Jakob Nöggerath: Köln und Bonn mit ihren Umgebungen. Für Fremde und Einheimische. Aus den besten, und vorzüglich aus noch unbenutzten, Quellen bearbeitet, Köln 1828, S. 98. – Vivien Bienert sei für die Hinweise herzlich gedankt.
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Abb. 10: St. Maria im Kapitol zu Köln, durch Kanoniker Heinrich von Berchem († 1508) gestiftete Grablegungsgruppe im Westbau.
dürfte. Vermutlich wurde der Chor während der Wölbungsarbeiten im Langhaus in den 1240er Jahren nicht oder nur eingeschränkt genutzt; ein Umbau mit Chorgestühl in dieser Zeit wäre gut denkbar, womit das Gestühl zu den ältesten in Köln gehört hätte. Auch das Spätmittelalter wird nicht spurlos daran vorübergegangen sein. Inwiefern sich die liturgische Nutzung mit der sukzessiven Reduzierung der Konventsgröße und der abnehmenden Präsenz der Sanktimonialen vor Ort geändert hat, lässt sich nicht aus den Quellen erschließen. Ein Aspekt davon dürfte die Osterliturgie gewesen sein, die sehr wahrscheinlich in einer der Essener Liturgie nicht grundsätzlich verschiedenen Art durch das Ostergrab auf der Westempore bestimmt wurde, in dem man am Karfreitag ein Kreuz oder die Hostie bestattete
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und in der Osternacht feierlich erhob.82 In St. Maria im Kapitol war der dafür genutzte Altar auf der sehr hohen Westempore 1065 dem Heiligen Grab geweiht worden, was die Vermutung einer solchen liturgischen Nutzung stützt.83 Im Laufe der Zeit wurde diese hochmittelalterliche Liturgie lästig und durch andere Formen ersetzt. In vielen Konventen entstanden seit dem 14. Jahrhundert oft in den Seitenschiffen stattdessen Grablegungsgruppen, die manchmal auch der Bestattung der Hostie dienten.84 In St. Maria im Kapitol wurde – direkt unter der Westempore mit dem ehemaligen Heilig-Grab-Altar – eine solche Grablegungsgruppe durch den Stiftskanoniker Heinrich von Berchem gestiftet, der sich bereits 1485 durch die Neustiftung und Neuausstattung des Johannesaltares sowie des begleitenden Fensters verdient gemacht hatte (s.o.). Er selbst ließ sich als Kanoniker am rechten Rand der Gruppe darstellen, weshalb die Datierung der Skulpturengruppe meist mit seinem Tod 1508 verbunden wird (Abb. 10).85 Es ist nicht wahrscheinlich, dass in St. Maria im Kapitol erst um 1500 mit dieser neuen Grablegungsgruppe die alte Osterliturgie auf der Empore aufgegeben worden sein sollte, aber es ist durchaus denkbar, dass mit dem neuen Grab eine ausführlichere Karliturgie im Konvent wieder eingeführt oder bestärkt wurde. Die Bildformulierung folgt einerseits der klassischen Ikonografie, bringt jedoch in der starken Überbeugung der Figuren zu Christus ein ei82 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Die Westbauten ottonischer Damenstifte und ihre liturgische Funktion. Eine Skizze, in: Kunst und Kultur in ottonischer Zeit. Forschungen zum Frühmittelalter, hg. v. Andreas Ranft/Wolfgang Schenkluhn (More Romano. Schriften des Europäischen Romanik Zentrums, Bd. 3), Regensburg 2013, S. 73–118, zu St. Maria im Kapitol insb. S. 90–94. 83 Vgl. Beuckers 2013 (wie Anm. 82), S. 94. 84 Vgl. Annemarie Schwarzweber: Das Heilige Grab in der deutschen Bildnerei des Mittelalters (Forschungen zur Geschichte der Kunst am Oberrhein, Bd. 2), Freiburg im Breisgau 1940. – William H. Forsyth: The Entombment of Christ. French sculptures of the fifteenth and sixteenth centuries, Cambridge 1970. – Leonhard Küppers: Die Grablegung im Essener Münster, Recklinghausen 1976. – Markus Maisel: Sepulchrum Domini. Studien zur Ikonographie und Funktion großplastischer Grablegungsgruppen am Mittelrhein und im Rheinland (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 99), Mainz 2002. – Sylvie Aballéa: Les saints sépulcres monumentaux du Rhin supérieur et de la Souabe (1340–1400) (Sciences de l’histoire), Straßburg 2003. – Vgl. zuletzt auch MarieAnne Vannier: Les saints sépulcres alsaciens, Straßburg 2014. 85 Vgl. Wolfgang Stracke: St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 11 (1996) (Kölner Kirchen und ihre mittelalterliche Ausstattung, Bd. 2), S. 79–103, hier S. 94. – Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 2), S. 166 f. – Beuckers 2018 (wie Anm. 7), S. 160 f.
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genes, ungewöhnliches Handlungsmoment ein. Vergleicht man es mit der nahezu gleichzeitigen Grablege von 1509 in Groß St. Martin,86 so wird die dortige höfische Steifheit in St. Maria im Kapitol mit einer narrativen Unmittelbarkeit beantwortet, die Leonhard Küppers als „Hier Beweinung statt Grablegung“ charakterisiert hat.87 Eine kunsthistorische Würdigung der Kapitolsgruppe ist bislang nicht erfolgt,88 aber sie steht in einem größeren Kontext von Anbetungsbildern in Köln. Dazu sei nur auf das von dem Kanoniker und Universitätslehrer Gerhard ter Steegen, der 1429 auch als Kanoniker von St. Maria im Kapitol bezeugt ist, gestiftete Triptychon aus St. Andreas (heute Wallraf-Richartz-Museum, Inv. Nr. WRM 136–138, sog. De-Monte-Altar) von 1480 verwiesen. Es zeigt unter dem Einfluss von Rogier van der Weyden die Kreuzabnahme und Beweinung Christi aus der Hand des Meister des Marienlebens, der zehn Jahre zuvor die Hardenrathkapelle an der Kapitolskirche ausgemalt hatte.89 Auf jeden Fall griff der Theologe und Kanoniker mit dieser Stiftung in den innersten Bereich des Frauenchores hinein, wie es sonst durch keine andere bekannte Stiftung überliefert ist.
Schluss
St. Maria im Kapitol hatte seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert bis zur Langhauswölbung um 1240 umfangreiche bauliche Veränderungen erfahren. Unter Äbtissin Hadwig von Wickrath (amt. 1245–1304) wurde eine Neueinrichtung des Langhauses vollzogen, von der sowohl die Neugestaltung des Plektrudisgrabes als auch die des Kreuzaltares zeugt, dessen Kruzifixus schon Ägidius Gelenius 1636 Hadwig
86 Vgl. Maisel 2002 (wie Anm. 84), Kat. Nr. 11, S. 168–171. 87 Küppers 1976 (wie Anm. 84), Bildunterschrift Abb. 16. 88 Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 2), S. 167 meint verkennend: „Die künstlerische Qualität ist eher bescheiden, die Ausführungen der Personen wenig differenziert. Die Maßwerkformen sind allerdings auf der Höhe der Zeit.“ – Anders bereits Franz Kugler: Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte, Teil 2, Stuttgart 1854, S. 272: „In der westlichen Vorhalle das Hauptrelief einer Grablegung aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Handwerksarbeit, doch ganz sinnig ausgeführt. Recht artige weibliche Köpfe, noch mit der eigenthümlich kölnischen Rundform.“ 89 Vgl. Schmidt 1978 (wie Anm. 9), S. 19–32 und Kat. Nr. 8, S. 190. – Frank Günter Zehnder: Katalog der Altkölner Malerei (Kataloge des Wallraf-Richartz-Museums, Bd. 11), Köln 1990, S. 475–484, zur Person des Stifters dort S. 477 f. – Zur Ausmalung der Hardenrathkapelle vgl. Ruf 2011 (wie Anm. 10), S. 139–227.
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zuschrieb.90 Sie erfolgten beide unter Einbindung bedeutender Kölner Familien, die hierfür im Langhaus im Bereich zwischen dem (neu gebauten?) Frauenchor und dem Stifterinnenmonument Grablegen erhielten. Dies kann als sukzessives Vordringen konventfremder Personen in den Raum des Frauenkonventes und damit als eine Beeinträchtigung deren liturgischer Gestaltungsmöglichkeiten gelesen werden, umgekehrt jedoch auch als Instrumentalisierung externer Finanzmittel für die Belange des Stiftes. Bezeichnend ist, dass es für den Rest des Mittelalters bei diesen Hineinnahmen geblieben zu sein scheint. So ist am Kreuzaltar überhaupt keine Laienbestattung überliefert, und bei den Nebenaltären des Langhauses hielt man die Bestattungen aus dem Mittelschiff heraus und drängte sie in die Seitenschiffe. Das Langhaus blieb so primär liturgischer Raum der Frauen, was für den Ostbau bei weitem so nicht gelten kann. Erst mit dem Lettner von 1523 schwappte das laikale Repräsentationsbedürfnis über den Lettner und das Retabel dann auch in das Mittelschiff und zum Kreuzaltar. Eine solche Formulierung darf jedoch nicht verkennen, dass die Anwesenheit des Rates in der Kirche und auch anderer nicht-konventualer Personen an den Gräbern nur zeitlich beschränkt war. Der Konvent war an den meisten Tagen und Stunden alleiniger Nutzer seiner Kirche und dürfte jederzeit die Autorität besessen haben, für eine eigene Nutzung Personen, die nicht zum Konvent gehörten, aus der Kirche auszuschließen, die Türe einfach zuzumachen. Bildlichkeit manifestiert jedoch Präsenz, und die visuelle Prägung des Kirchenraumes durch Grabplatten, Epitaphien, Stifterdarstellungen etablierte konventfremde Personenkreise hier neben dem Konvent. Für die übergeordnete Frage einer Beeinträchtigung des konventualen Lebens und vor allem der Immunität der Frauen durch die Nutzung der Kirche durch Laien und deren Bestattung dort, die Besuche ihrer Familien nach sich zog, kann für St. Maria im Kapitol trotz der um 1280 scheinbar in eine andere Richtung zielenden Tendenz eine offenbar bewusste Freihaltung des inneren liturgischen Raumes mit dem Frauenchor, dem Kreuzaltar und dem Mittelschiff des Langhauses festgestellt werden. Die Frauen sorgten damit für eine Wahrung ihrer Räume, während sie den Ostbau offenbar (von Festnutzungen abgesehen) weitgehend für Laienrepräsentation öffneten.
90 Aegidius Gelenius: Starologia Coloniensis […], Köln 1636, S. 40. – Vgl. Stracke 1996 (wie Anm. 85), S. 89. – Bienert 2019 (wie Anm. 4), S. 101.
Gestiftete Glasmalerei Jakob von Brügge, seine Familie und der Kreuzgang der Kölner Frauenstiftskirche St. Cäcilien Julia Noll
Das Kölner Damenstift St. Cäcilien und sein Kreuzgang stellten wichtige Zeugnisse spätgotischer Kölner Kunst dar. Vor allem die Verglasung des Kreuzgangs bietet sich an, in einem Band zu Malerei für Kanonissen näher betrachtet zu werden. Das Damenstift St. Cäcilien, dessen Gründung in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts erfolgt war, befand sich im Pfarrbezirk St. Peter, südöstlich des Neumarkts. Nachdem im 10. Jahrhundert die ursprüngliche Kirche bereits durch einen Neubau ersetzt worden war, erfolgte im 12. Jahrhundert eine erneute Umgestaltung der Cäcilienkirche.1 Wann genau der Kreuzgang entstand, ist nicht bekannt. Seine Verglasung erhielt er in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Er war quadratisch angelegt und grenzte im Westen an die Stiftskirche. Nach der Schließung St. Cäciliens im Zuge der Säkularisation wurde der Kreuzgang um 1845 abgerissen und ist somit heute, im Gegensatz zur ehemaligen Stiftskirche, wo das Museum Schnütgen untergebracht ist, nicht mehr erhalten.2 Besonders ausführlich wurde in der Vergangenheit vor allem das Schicksal der Verglasung des Kreuzgangs untersucht. Ein Meilenstein gelang in diesem Zusammenhang Herbert Rode, der in einem 1959 im Kölner Domblatt erschienenen Aufsatz anschaulich darlegte, dass es sich bei einem in der Sakramentskapelle des Kölner Doms befindlichen christologischen Zyklus um die verloren geglaubte Kreuzgangverglasung von St. Cäcilien handelte.3
1
Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Köln. Die Kirchen in gotischer Zeit. Zur spätmittelalterlichen Sakralbautätigkeit an den Kloster-, Stifts- und Pfarrkirchen in Köln (Stadtspuren. Denkmäler in Köln, Bd. 24), Köln 1998, S. 237. 2 Vgl. Herbert Rode: Die Kreuzgangfenster von St. Cäcilien. Ein christologischer Zyklus in der Sakramentskapelle des Kölner Domes, in: Kölner Domblatt. Jahrbuch des ZentralDombau-Vereins 16/17 (1959), S. 79–96, hier S. 85, 87. 3 Vgl. dazu Rode 1959 (wie Anm. 2), S. 79–96.
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Die Odyssee jener Scheiben begann im Jahr 1794, als französische Revolutionstruppen die Stadt Köln einnahmen und besetzten. Im Zuge der anschließenden, von den Franzosen initiierten Säkularisation wurden zahlreiche Kölner Stifte und Klöster per Dekret Napoleons aufgelöst, ihre Gebäude profanen Zwecken zugeführt und die wertvollen Ausstattungsstücke, wie beispielsweise Glasmalereien, aus den Gotteshäusern entfernt.4 Auch St. Cäcilien teilte dieses Schicksal.5 Nach der Auflösung des Konvents erfolgte am 8. März 1803 der Ausbau der Glasfenster des Kreuzgangs. Deponiert wurden sie zunächst, wie auch eine Reihe anderer Glasmalereien, im ehemaligen Jesuitenkolleg, doch diese Maßnahme erwies sich nicht als ideale Lösung, denn viele Scheiben wurden durch die Schüler des Kollegs zerstört oder schwer beschädigt. 1823 wurde schließlich ein Teil der Scheiben dem Kölner Dom übergeben, um sie zur Ausbesserung und Wiederherstellung einiger Domfenster zu verwenden. Auf diese Weise gelangten die Scheiben aus dem Kreuzgang von St. Cäcilien in den Kölner Dom und fanden ihren Platz schließlich in der Sakramentskapelle.6 Über den Ausbau der Scheiben von St. Cäcilien war Protokoll geführt worden.7 Anhand dieses Protokolls rekonstruierte Rode Umfang und Bildprogramm der Kreuzgangverglasung. Er kam zu dem Ergebnis, dass der Kreuzgang aus 25 Fenstern bestand. 22 Fenster enthielten fünf Scheiben und drei Fenster drei Scheiben. Angelegt war der Zyklus nach Ansicht Rodes vermutlich typologisch. Zwei chris4
Vgl. dazu Georg Mölich/Joachim Oepen/Wolfgang Rosen: Klosterkultur und Säkularisation im Rheinland. Einleitende Bemerkungen, in: Klosterkultur und Säkularisation im Rheinland, hg. v. Georg Mölich/Joachim Oepen/Wolfgang Rosen, Essen 2002, S. 11–27, hier S. 20. – Joachim Deeters: Der Weg zum Ende. Maßnahmen gegen Kölner Klöster und Stifte vor der Säkularisation (1795–1801), in: ebd., S. 257–284. Ausführliche Informationen zu den Folgen der Säkularisation für die Kölner Kunstwerke und Kirchenschätze bei Susanne Blöcker: Der Ausverkauf der Kölner Schätze. Kunstwerke aus Kirchengütern im Zeitalter der Säkularisation, in: ebd., S. 373–394. 5 Von der Auflösung ausgenommen blieben lediglich die Bistümer, Pfarreien, Kathedralkapitel und Priesterseminare. Auch klösterliche Gemeinschaften, deren Betätigungsfelder in den Bereichen Unterricht oder Krankenpflege lagen, durften bestehen bleiben. Andere Einrichtungen, wie Klöster oder Kollegiatstifte, wurden in der Folgezeit aufgehoben, ihre Mitglieder zum Gehen aufgefordert und ihre Gebäude anderen Verwendungszwecken zugeführt. Vgl. dazu Mölich/Oepen/Rosen 2002 (wie Anm. 4), S. 20. Zur Chronologie der Vorgänge und zu den einzelnen Maßnahmen gegen die geistlichen Gemeinschaften Kölns vgl. Deeters 2002 (wie Anm. 4). 6 Vgl. Rode 1959 (wie Anm. 2), S. 80f. 7 Dieses befindet sich heute im Historischen Archiv der Stadt Köln (im Folgenden mit HAStK abgekürzt) unter der Signatur HAStK, Best. 350 (Französische Verwaltung (FV)), A 1595.
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tologischen Scheiben waren jeweils zwei alttestamentliche Entsprechungen beigegeben. Ergänzt wurde das Ganze wahrscheinlich durch Propheten- oder Aposteldarstellungen.8 Während Rode somit viel zu Bildprogramm, Gestaltung und Verbleib der Verglasung in Erfahrung brachte, liegt das Wissen um die Stifter der Scheiben noch größtenteils im Dunkeln. Im Fall von St. Cäcilien existieren keine schriftlichen Quellen, die über Glasmalereistiftungen für den Kreuzgang und die dazugehörigen Stifter berichten. Nur die Scheiben selbst können herangezogen werden, um Anhaltspunkte zu gewinnen. Dies hatte zur Folge, dass viel über die einstigen Wohltäter spekuliert wurde. Als mögliche Stifterin wurde beispielsweise Elsa von Reichenstein genannt, die 1456 ins Amt gekommene letzte Äbtissin des Cäcilienstifts vor dessen Umwandlung in ein Augustinerinnenkloster.9 Auch eine Beteiligung der kurkölnischen Ritter Rumschottel von Fritzdorf an der Finanzierung der Kreuzgangverglasung wurde aufgrund einer Wappendarstellung auf einer der St. Cäcilien zugewiesenen Scheiben im Kölner Dom vermutet.10 Trotz allem konnte bisher jedoch lediglich ein Stifter sicher identifiziert werden. Eine der in den Kölner Dom transferierten Scheiben trägt eine Stifterinschrift.11 Bis ins 19. Jahrhundert war am unteren Rand der Scheibe mit der Darstellung der Geburt Christi (Abb. 1) die Inschrift „[Ja]cop van brueck lysbet syn husfrau 146[.]“
8 Vgl. Rode 1959 (wie Anm. 2), S. 87–90. – Herbert Rode: Die mittelalterlichen Glasmalereien des Kölner Domes (Corpus Vitrearum Medii Aevi Deutschland, Bd. 4,1), Berlin 1974, S. 151. 9 Vgl. Ulrich Krings: St. Cäcilien. Das frühstaufische Bauwerk aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Seine Gestalt und die Geschichte seiner späteren Veränderungen, in: Köln. Die Romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. v. Hiltrud Kier/ Ulrich Krings (Stadtspuren. Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 235–255, hier S. 252. Ihm folgte Beuckers 1998 (wie Anm. 1), S. 237 und auch Tobias Kanngiesser: Hec sunt festa que aput nos celebrantur. Der Liber Ordinarius von Sankt Cäcilien, Köln (1488) (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 44), Siegburg 2017, S. 30. 10 Vgl. Rode 1974 (wie Anm. 8), S. 169. Es handelt sich dabei um eine Scheibe mit einer Darstellung des Durchzugs durchs Rote Meer. Das abgebildete Wappen zeigt zwei rote Pfähle und einen braungelben Balken auf weißem Grund und wurde von Rode als das der kurkölnischen Ritter Rumschottel von Fritzdorf identifiziert. 11 Heute befindet sich die betreffende Scheibe jedoch nicht mehr in der Sakramentskapelle des Kölner Doms, sondern im Depot der Glaswerkstatt der Dombauhütte. Nach freundlicher Mitteilung von Herrn Dr. Hartmut Scholz und Frau Dr. Ulrike Brinkmann.
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Abb. 1: Köln, Dom, Christusfenster (links), Geburt Christi, n XV, 1c, ehemals Sakramentskapelle.
gut zu lesen.12 Dank dieser Inschrift können ein Mann namens Jakob von Brueck und dessen Ehefrau als Stifter dieser Scheibe angenommen werden. Schon Rode hatte den Versuch unternommen, mehr über diesen Stifter in Erfahrung zu bringen, und identifizierte ihn schließlich als den Kölner Großkaufmann und Kürschner Jakob von Brügge. Er gibt an, dass dieser Kaufmann in Urkunden von 1446 und 1465 im Kontext der Frankfurter Messe und der Niederlande auftauche.13 Jedoch beließ es Rode bei diesen spärlichen Angaben. Er nahm keine ausführliche Vorstellung des Stifters vor und untersuchte auch nicht dessen 12 Vgl. Rode 1959 (wie Anm. 2), S. 84. – Rode 1974 (wie Anm. 8), S. 156. Heute ist die Inschrift kaum noch zu erkennen. Sie war um 1870 im Zuge von Wiederherstellungsmaßnahmen abgeschmirgelt worden. 13 Vgl. Rode 1959 (wie Anm. 2), S. 84. – Rode 1974 (wie Anm. 8), S. 155.
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Verbindung zu St. Cäcilien und damit auch nicht den Grund, warum er – offenbar zusammen mit seiner Ehefrau – genau dieses Gotteshaus für die gemeinsame Stiftung ausgewählt hatte.14 Wie von Rode richtig herausgestellt, ist Jakob von Brügge in Kölner Urkunden des 15. Jahrhunderts als Kaufmann fassbar. Er konzentrierte sich auf den Handel mit Pelzen und Fellen und importierte diese in großem Stil nach Köln. Zwischen 1452 und 1459 betrug die Menge seiner Einfuhren 163 Ballen und 16 Pack Felle. Hinzu kamen noch 3 Fass Buntwerk und zwei als „Schymmesen“ bezeichnete Packen mit Pelzwerk.15 Zusammen mit Jost von Aachen und Roprecht Jordan gehörte Jakob von Brügge zu den drei führenden Kölner Pelzimporteuren in der Mitte des 15. Jahrhunderts.16 Darüber hinaus kann auch nachgewiesen werden, dass er verschiedene Märkte und Messen besuchte. 1465 ist er beispielsweise auf dem Markt in Antwerpen belegt.17 Zur Frankfurter Messe reiste er im Jahr 1446. Auf dem Weg 14 Eine eingehende Untersuchung von Kölner Glasmalereistiftern wurde von der Verfasserin dieses Beitrags im Rahmen ihrer 2021 vorgelegten Dissertation vorgenommen. Im Zentrum der Arbeit standen die spätmittelalterlichen Glasmalereistifter und -stiftungen der Kölner Kirchen St. Maria ad Gradus, St. Barbara und St. Jakob. Neben der Rekonstruktion der Verglasung der jeweiligen Kirchen und der ausführlichen Vorstellung und sozialen Verortung der einzelnen Glasmalereistifter wurden auch die Verbindungen der Stifter zu den von ihnen bedachten Kirchen sowie ihre Beweggründe herausgearbeitet, eine bestimmte Kirche mit einer Stiftung zu fördern. Auch der in diesem Beitrag thematisierte Pelzhändler und Kürschner Jakob von Brügge gehört zu den im Rahmen der Dissertation untersuchten Glasmalereistiftern. Vgl. künftig Julia Noll: Zwischen Selbstdarstellung und Seelenrettung. Glasmalerei und ihre Stifter in Köln im 14. bis 16. Jahrhundert (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters, Bd. 18), Affalterbach, voraussichtlicher Erscheinungstermin 2023. 15 Vgl. Franz Irsigler: Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. Strukturanalyse einer spätmittelalterlichen Exportgewerbe- und Fernhandelsstadt (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte, Bd. 65), Wiesbaden 1979, S. 236. Nicht eindeutig zu klären ist, was die als „Schymmesen“ bezeichneten Packen genau enthielten. Franz Irsigler geht davon aus, dass es sich dabei möglicherweise um wertvolle Pelze, wie beispielsweise Zobel, gehandelt habe. Ausführliches dazu und auch zur Verpackungs- oder Wertgröße „Schymmese“ bei Wolfgang Herborn: Bürgerliches Selbstverständnis im spätmittelalterlichen Köln. Bemerkungen zu zwei Hausbüchern aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift für Edith Ennen, hg. v. Werner Besch u.a., Bonn 1972, S. 490–520, hier S. 520. – Irsigler 1979 (wie Anm. 15), S. 235. 16 Vgl. Irsigler 1979 (wie Anm. 15), S. 236. 17 Vgl. HAStK, Best. 20A (Briefbücher, Ältere Serie (BrB.)), A 27, fol. 212r. – Bruno Kuske (Hg.): Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs im Mittelalter. Bd. 2. 1450–1500 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 33.2),
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dorthin wurde er jedoch zusammen mit den Kölner Kaufleuten Wolf von Glesch und Goswin und Peter von Stralen überfallen und seiner Güter beraubt.18 Auch 1468 wurden ihm im Kontext eines Marktbesuchs Waren entwendet.19 Trotz dieser gelegentlichen Rückschläge scheint er seine Geschäfte immer weiter ausgebaut zu haben und wurde schließlich zu einem erfolgreichen Kölner Großkaufmann. Zudem kann Jakob von Brügge auch in der Politik der Stadt Köln nachgewiesen werden. Zwischen 1452 und 1486 ist er regelmäßig als Ratsherr belegt. Er hatte sich der Gaffel Buntwörter angeschlossen, die ihn zwischen 1452 und 1476 neunmal in den Rat entsandte. Im Jahr 1479 wurde er ins Gebrech kooptiert. 1483 und 1486 ist er schließlich nochmals als Vertreter der Gaffel Buntwörter im Rat bezeugt.20 Zur Herkunft des Glasmalereistifters können hingegen keine genauen Angaben gemacht werden. Vermutlich war er jedoch nicht in Köln gebürtig, sondern erwarb das Bürgerrecht erst, denn im Jahr 1442 ist ein „Jacob van Brecke“ als Kölner Neubürger fassbar.21 Obwohl nicht mit letzter Sicherheit zu klären ist, ob es sich bei dieser Person tatsächlich um den Glasmalereistifter handelt, ist es doch mehr als wahrscheinlich, denn in seinem Testament aus dem Jahr 1493 wird Jakob von Brügge als Kölner Bürger bezeichnet.22 Darüber hinaus spricht auch eine Urkunde von 1488 von ihm als Bürger Kölns. An diese Urkunde ist auch sein Siegel angehängt (Abb. 2) – obgleich beschädigt, ist seine Hausmarke deutlich zu erkennen.23 Ansässig war er im Pfarrbezirk St. Kolumba. 1491 befand sich ein Haus in der Herzogstraße, in unmittelbarer Nähe zum Haus „zu der Slyen“, später Haus „zum
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Bonn 1917, S. 157, Nr. 377. Mit ihm in Antwerpen war auch der Kölner Kürschner Jost von Aachen. Vgl. HAStK, Best. 20A (Briefbücher, Ältere Serie (BrB.)), A 18, fol. 89r. – Bruno Kuske (Hg.): Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs im Mittelalter. Bd. 1. 12. Jahrhundert bis 1449 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 33.1), Bonn 1923, S. 390, Nr. 1131. Vgl. HAStK, Best. 20A (Briefbücher, Ältere Serie (BrB.)), A 28, fol. 171v. – Kuske 1917 (wie Anm. 17), S. 194, Nr. 446. Bei diesen Waren handelte es sich um als „stroeffling“ bezeichnete Felle. Vgl. Joachim Deeters (Bearb.): Rat und Bürgermeister in Köln. 1396–1797. Ein Verzeichnis (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Heft 99), Köln 2013, S. 43, 277. Vgl. Hugo Stehkämper/Gerd Müller (Bearb.): Kölner Neubürger 1356–1798. Teil 1. Neubürger 1356–1640 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Heft 61), Köln 1975, S. 83, Nr. 1442,11. Vgl. HAStK, Best. 110B (Testamente Buchstabe B), U 3/980/1. Vgl. HAStK, Best. 160 (Armenverwaltung (AV)), U 2/128.
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Thorn“ genannt, in seinem Besitz.24 Dieses Haus hatten er und seine Ehefrau einige Zeit zuvor erworben.25 Dass Jakob von Brügge im Pfarrbezirk St. Kolumba lebte, wird zudem dadurch bekräftigt, dass er seit 1488 dort als Kirchmeister belegt ist.26 Auch zu den Lebensdaten des Jakob von Brügge lassen sich Anhaltspunkte gewinnen. Im Historischen Archiv der Stadt Köln haben sich Testamente erhalten, die er in den Jahren 1493 und 1495 aufgesetzt hatte. In beiden wird sein Zustand noch als gesund beschrieben. Geht man davon aus, dass er bereits 1442 das Kölner Bürgerrecht erwarb, war er in den 1490er Jahren in einem hohen Alter und ist mit großer Wahrscheinlichkeit bald darauf gestorben. Seinen Bestattungsort wählte er in der Kölner Pfarrkirche St. Kolumba, in dem Grab, in dem auch seine vor ihm verstorbene Ehefrau Paitza ihre letzte Ruhe gefunden hatte.27 Neben St. Cäcilien trat Jakob von Brügge auch an einer anderen Kölner Kirche als Glasmalereistifter in Erscheinung. In den 1450er oder 1460er Jahren stiftete er ein Glasfenster für das Kapitelhaus der Kartause St. Barbara. Dieses im Süden der Stadt gelegene Kloster war am 6. November 1451 von einem großen Unglück heimgesucht worden. Um die Mittagszeit war im Kloster ein Feuer ausgebrochen, welches das Kapitelhaus mitsamt der darin untergebrachten Bibliothek zerstört hatte.28 Nach der Katastrophe stand den Mönchen jedoch eine Reihe von Wohltätern zur Seite, die mit ihren großzügigen Schenkungen rasch einen Neubau ermöglichten. Vor allem der Kölner Kaufmann und Ratsherr Johann Rinck sowie dessen Sohn Peter taten sich in dieser Zeit als Förderer der Kölner Kartäuser hervor und trugen viel zum Bau und zur Ausstattung des neuen Kapitelhauses 24 Vgl. HAStK, Best. 160 (Armenverwaltung (AV)), U 1/673. – Hermann Keussen: Topographie der Stadt Köln im Mittelalter. Bd. 1 (Preisschriften der Mevissen-Stiftung, Bd. 2), Bonn 1910, S. 325f. b 22–27. In diesem Haus verfasste er 1495 auch eines seiner Testamente. Vgl. dazu HAStK, Best. 110B (Testamente Buchstabe B), U 3/981. 25 Vgl. HAStK, Best. 160 (Armenverwaltung (AV)), U 1/673. Wann genau das Haus gekauft worden war, lässt die Urkunde offen. Sie erwähnt lediglich, dass das Ehepaar das Haus „vurtzyden“ von Johann von Vilicke, Profess im Kölner Franziskanerkloster, erworben hatte. Dieser hatte es von seinen Eltern Reynart von Vilicke und Agnes geerbt. 26 Vgl. Tobias Wulf: Die Pfarrgemeinden der Stadt Köln. Entwicklung und Bedeutung vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 42), Siegburg 2012, S. 520, Nr. 177. Weitere Belege stammen aus den Jahren 1489 und 1492. 27 Vgl. HAStK, Best. 110B (Testamente Buchstabe B), U 3/980/1, U 3/980/2 und U 3/981. 28 Vgl. Bruno Kammann: Die Kartause St. Barbara in Köln. 1334 bis 1953. Kontinuität und Wandel. Ein Beitrag zur Kirchen- und Stadtgeschichte Kölns (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 33), Köln 2010, S. 150.
104 | Julia Noll Abb. 2: Köln, Historisches Archiv der Stadt Köln, Siegel des Jakob von Brügge mit einer Darstellung seiner Hausmarke, angehängt an Urkunde Best. 160 (Armenverwaltung (AV)), U 2/128 (1488).
bei.29 Bereits 1453 konnte der Bau begonnen und im Jahr 1455 vollendet werden. Im Erdgeschoss des neu errichteten Gebäudes, das sich aus sechs Jochen zusammensetzte, war der Kapitelsaal untergebracht. Die Bibliothek und Kleiderkammer des Klosters befanden sich im Obergeschoss.30 Im Zuge des Wiederaufbaus kam es auch zur Erneuerung der Verglasung. Zu diesem Zweck wurde eine Reihe von Fensterstiftungen getätigt, darunter auch die des Jakob von Brügge.31
29 Vgl. Wolfgang Schmid: Stifter und Auftraggeber im spätmittelalterlichen Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Stadtmuseums, Heft 11), Köln 1994, S. 50. 30 Vgl. Schmid 1994 (wie Anm. 29), S. 50. – Kammann 2010 (wie Anm. 28), S. 150. 31 Weitere Glasfenster stifteten Johann und Peter Rinck, der Ratsherr und Bürgermeister Hermann Scherfgin und die Tuchhändlerwitwe Sophia von Werd. Vgl. dazu Kartause Marienau Bad Wurzach, Annales Cartusiae Coloniensis, S. 121. – HAStK, Best. 233 (Kartäuser), RH 10, fol. 90r, 86v.
Gestiftete Glasmalerei | 105 Abb. 3: Köln, Historisches Archiv der Stadt Köln, Siegel des Jakob von Brügge mit einer Darstellung seiner Hausmarke, angehängt an Urkunde Best. 160 (Armenverwaltung (AV)), U 1/673 (1491).
Die besagte Stiftung ist im zweiten Wohltäterbuch32 des Kölner Kartäuserklosters verzeichnet.33 Zwar nennt die Quelle nicht den genauen Stiftungszeitpunkt, 32 Bei dem Secundus Liber Benefactorum handelt es sich um eines von zwei Wohltäterbüchern der Kölner Kartause St. Barbara. Er stammt vom Ende des 15. Jahrhunderts und umfasst Stifter und ihre Stiftungen von 1400 bis etwa 1460. Aufbewahrt wird das zweite Wohltäterbuch im Historischen Archiv der Stadt Köln, zu finden unter der Signatur HAStK, Best. 233 (Kartäuser), RH 10. Ausführliche Informationen zu dieser Quelle bei Joachim Deeters u.a. (Bearb.): Quellen zur Geschichte der Kölner Kartause, in: Die Kölner Kartause um 1500. Eine Reise in unsere Vergangenheit. Aufsatzband, hg. v. Werner Schäfke, Köln 1991, S. 10– 121, hier S. 68f. – Kammann 2010 (wie Anm. 28), S. 17. 33 Vgl. HAStK, Best. 233 (Kartäuser), RH 10, fol. 93v.
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doch vermeldet sie die Glasmalereistiftung in Verbindung mit einer Geldspende in Höhe von 40 Mark zum Wiederaufbau des Kapitelhauses. Da eine solche Stiftung erst nach dem Brand dieses Gebäudes notwendig geworden war, können beide Stiftungen in die Zeit nach 1451 datiert werden. Interessant ist bei dieser Glasmalereistiftung auch, dass die Quelle eine Beschreibung des gestifteten Fensters vornimmt und das dargestellte Bildprogramm wiedergibt. Es zeigte die Verkündigung an Maria. Die Erwähnung einer solchen Information stellt für Kölner Quellen eine Ausnahmeerscheinung dar. Nur sehr selten berichtet die schriftliche Überlieferung davon, was auf den gestifteten Glasfenstern zu sehen war. Für St. Barbara ist beispielsweise nur in einem einzigen anderen Fall das dargestellte Bildprogramm überliefert.34 Ähnlich sind die Befunde auch für andere Kölner Kirchen.35 Ob auf der Fensterstiftung des Jakob von Brügge für St. Barbara auch sein Wappen, eine Stifterdarstellung oder Inschriften vorhanden waren, ist hingegen nicht bekannt. Im Gegensatz zur Scheibe aus dem Kreuzgang von St. Cäcilien ist dieses Fenster auch nicht erhalten. Für seine Fensterstiftung für St. Barbara wandte Jakob von Brügge 15 oberländische Gulden auf. Neben dem Fenster und dem Geldbetrag zum Wiederaufbau des Kapitelhauses machte er zudem auch Stiftungen zur Aufbesserung der Mahlzeiten der Mönche. Nach Angaben des zweiten Wohltäterbuchs ließ er den Kartäusern
34 Es handelt sich dabei um die Verglasung des kleinen Kreuzgangs, die von Johann und Peter Rinck finanziert worden war. Die für die Geschichte des Kölner Kartäuserklosters relevanten chronikalischen Quellen Chronologia Cartusiae Coloniensis, Annales Cartusiae Coloniensis, Analecta ad conscribendum chronicon domus S. Barbarae und Cartusia Coloniensis eiusque benefactores berichten, dass Szenen des Alten Testaments dargestellt waren. Vgl. dazu Kartause Marienau Bad Wurzach, Chronologia Cartusiae Coloniensis, S. 127. – HAStK, Best. 233 (Kartäuser), RH 11, fol. 11r. – Kartause Marienau Bad Wurzach, Annales Cartusiae Coloniensis, S. 121. – HAStK, Best. 295 (Geistliche Abteilung – GA), 136, fol. 18v. – HAStK, Best. 295 (Geistliche Abteilung – GA), 136A, S. 154. – Johann Jakob Merlo (Bearb.): Aus der Chronologia Carthusiae Coloniensis, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 45 (1886), S. 27–52, hier S. 35. 35 Im Fall der Glasmalereistiftungen für das Kanonikerstift St. Maria ad Gradus wird beispielsweise nur bei drei der insgesamt 19 durch die Quellen belegten Glasmalereistiftungen der dargestellte Heilige genannt. Auf der Fensterstiftung des Johann Merll und seiner Ehefrau Bela Kannegießer war nach Angaben des Memorienbuchs die Jungfrau Maria dargestellt, auf der des Ehepaares Gottfried Palm und Kunigunde Johannes der Täufer und auf der des Johann von Bomel der hl. Stephanus. Vgl. dazu HAStK, Best. 251 (Mariengraden), RH 2, fol. 84r.
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auch Weintrauben und Käse zukommen. In ihren Aufzeichnungen bezeichnen die Mönche Jakob von Brügge als „bonus ac sincerus amic(us) n(oste)r“.36 Dass es sich bei diesem Stifter der Kölner Kartause tatsächlich ebenfalls um den Pelzhändler Jakob von Brügge handelt, wird dadurch bekräftigt, dass ihn der Secundus Liber Benefactorum als „pellifex“ bezeichnet.37 Es kam in Köln durchaus häufig vor, dass sich Handwerker auch dem Handel mit jenen Gütern zuwandten, die mit ihrer Tätigkeit in Verbindung standen. Für Kürschner war eine Tätigkeit im Pelzhandel somit mehr als naheliegend.38 Zudem lassen sich in der schriftlichen Überlieferung auch Hinweise darauf finden, wie Jakob von Brügge mit der Kölner Kartause in Verbindung kam und warum er gerade sie als Empfängerin seiner Glasmalereistiftung auswählte. Neben dem großen Ansehen, welches das Kloster aufgrund der strengen Lebensführung der Mönche und ihres gewissenhaften Umgangs mit den ihnen im Gegenzug für Stiftungen auferlegten Gebetsverpflichtungen genoss,39 spielte vermutlich auch ein anderer Stifter eine Rolle, denn es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Jakob von Brügge mit dem Hauptinitiator des Kapitelhausneubaus, Johann Rinck, bekannt war. Beide Männer stammten aus dem Pfarrbezirk St. Kolumba und wohnten nur unweit voneinander entfernt.40 Darüber hinaus war Rinck im Kirchspiel kein Unbekannter, sondern seit 1449 als Kirchmeister tätig.41 Auch Jakob von Brügge war gut in die Pfarrgemeinde integriert, was nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck kommt, dass er spätestens 1488 selbst als Kirchmeister von St. Kolumba bezeugt ist, seine Ehefrau in der dortigen Pfarrkirche bestattet wurde und auch er, nach Angaben seines 36 HAStK, Best. 233 (Kartäuser), RH 10, fol. 93v. 37 HAStK, Best. 233 (Kartäuser), RH 10, fol. 93v. 38 Als „Handwerker-Kaufleute“ bezeichnet diese Personen Franz Irsigler: Soziale Wandlungen in der Kölner Kaufmannschaft im 14. und 15. Jahrhundert, in: Miscellanea Franz Irsigler. Festgabe zum 65. Geburtstag, hg. v. Volker Henn u.a., Trier 2006, S. 107–123, hier S. 116, vgl. auch S. 114. 39 Vgl. dazu Werner Beutler: St. Barbara, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln e.V. 10 (1995), S. 103–117, hier S. 103. 40 Jakob von Brügge lebte, wie bereits erwähnt, in der Herzogstraße. Rincks Hauptwohnsitz, der Besitzkomplex „Unter Güldenwagen“, der sich aus den Häusern „zum Struysse“, „Niedecken“, „Heimbach“ und „zur goldenen Waage“ zusammensetzte, befand sich in der Hohe Straße. Vgl. dazu HAStK, Best. 160 (Armenverwaltung (AV)), U 1/673. – Keussen 1910 (wie Anm. 24), S. 325f. b 22–27. – Schmid 1994 (wie Anm. 29), S. 29. Zum Haus „zum Struysse“ vgl. Keussen 1910 (wie Anm. 24), S. 328 b 3, zum Haus „Niedecken“ ebd., S. 329 a 4, zum Haus „Heimbach“ ebd., S. 329 a 5 und zum Haus „zur goldenen Waage“ ebd., S. 329 a 6. 41 Vgl. Wulf 2012 (wie Anm. 26), S. 587, Nr. 947.
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Testaments, eine Bestattung in der Kolumbakirche wünschte.42 Hinzu kommt eine Urkunde, die bestätigt, dass Jakob von Brügge 1456, und damit zu einer Zeit, als Rinck nachweislich Kirchmeister war, in Angelegenheiten des Kirchspiels und der Kirchmeister involviert war.43 Es kann davon ausgegangen werden, dass Rinck, der selbst enge Verbindungen zur Kölner Kartause unterhielt und wie bereits erwähnt großen Anteil am Wiederaufbau des 1451 abgebrannten Kapitelhauses hatte, seinen Pfarrgenossen Jakob von Brügge als Stifter anwarb und dieser sich deshalb für eine Glasmalereistiftung für das Kapitelhaus von St. Barbara entschied.44 Doch zurück zur Kreuzgangverglasung von St. Cäcilien. Im Fall des Damenstifts ist die Quellenlage bei weitem nicht so gut wie für das Kartäuserkloster St. Barbara. Es gibt, wie bereits erwähnt, keine schriftlichen Quellen, die über die Stiftung der einzelnen Glasfenster berichten, und lediglich die Stifterinschrift der GeburtChristi-Scheibe liefert Hinweise auf einen der Wohltäter. Jedoch ist mit dieser Stifterinschrift auch ein Problem verbunden. Die auf der Scheibe vorhandene Inschrift nennt als Mitstifterin eine Frau namens „Lysbet“, die Jakob von Brügges Ehefrau gewesen sein soll. Der Blick in die schriftliche Überlieferung ergibt jedoch einen anderen Befund. Dort wird eine Frau namens Paitza von Heinsberg45 als die Ehefrau des Jakob von Brügge genannt. Ihre Eltern waren Volkwin von Heinsberg und Margareta von Alpen. Zudem hatte sie zwei Geschwister. Ihr Bruder Huber42 Vgl. HAStK, Best. 110B (Testamente Buchstabe B), U 3/980/1. – Wulf 2012 (wie Anm. 26), S. 520, Nr. 177. 43 Vgl. HAStK, Best. 30C (Centralverwaltung), C 31, fol. 23r. Jakob von Brügge und ein weiterer Mann wurden damit beauftragt, den Schreinsmeistern mitzuteilen, dass sie die Anschreinung der Pfarrgemeinde von St. Kolumba, vertreten durch die gegenwärtigen Kirchenmeister, an ein Haus, das die Gemeinde zur Erweiterung des Friedhofs erworben hatte, vornehmen sollten. 44 Zu den Beziehungen Johann Rincks zur Kölner Kartause vgl. Schmid 1994 (wie Anm. 29), S. 48–58. Der Umstand, dass Stifter andere Stifter anwarben und die Bekanntschaft mit einem anderen Stifter den Wohltäter bei der Auswahl der von ihm bestifteten Kirche beeinflussen konnte, wurde von der Forschung bisher kaum betrachtet. Im Rahmen der 2021 von der Verfasserin vorgelegten Dissertation zu den Glasmalereistiftern der Kölner Kirchen St. Maria ad Gradus, St. Barbara und St. Jakob konnte herausgearbeitet werden, dass viele Stifter miteinander in Verbindung standen und Beziehungen zueinander unterhielten. Die Art der identifizierten Beziehungen reichte von familiären, freundschaftlichen und beruflichen Kontakten über eine gemeinsame Herkunft bis hin zu gemeinsamen Interessen, Vorstellungen und Ansichten. Auch konkrete Anlässe, wie beispielsweise eine Aussöhnung nach einem Konflikt oder die Besiegelung eines Ehebündnisses konnten Stifter zusammenführen und Grund dafür sein, dass sie eine bestimmte Kirche mit einer Stiftung bedachten. 45 Bei „Paitza“ handelt es sich vermutlich um eine mundartliche Variante oder Koseform des Vornamens Beatrix.
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tus von Heinsberg war Konventspriester an der Kommende des Johanniterordens in Köln, St. Johann und Cordula. Hinzu kam eine Schwester mit Namen Adelheid, die mit Heinrich Forstbach verheiratet war.46 Wann genau die Ehe zwischen Jakob von Brügge und Paitza geschlossen worden war, geht aus der schriftlichen Überlieferung nicht hervor. Als seine Ehefrau belegt ist sie ab 1453.47 Aus der Verbindung gingen zwei Töchter hervor. Elisabeth, in den Quellen auch Lisbet genannt, heiratete Winand von Wickroide.48 Ihre Schwester Katharina wurde Nonne und trat in das Augustinerinnenkloster St. Maria zum Weiher außerhalb Kölns ein.49 Als dieses 1474 im Zuge des Neusser Krieges aufgegeben und abgebrochen werden musste, damit es von den Truppen Karls des Kühnen nicht als Stützpunkt gegen Köln genutzt werden konnte, zog sie mit ihren Mitschwestern nach Köln. Dort wurden die Nonnen von Kloster Weiher in St. Cäcilien untergebracht und das vormalige Damenstift, in dem sich nur noch wenige Kanonissen aufhielten, in ein Augustinerinnenkloster umgewandelt.50 Dass Paitza tatsächlich die Mutter von Jakobs Töchtern war, kommt in seinen Testamenten von 1493 und 1495 klar zum Ausdruck, denn dort werden Elisabeth und Katharina explizit als die Töchter Paitzas bezeichnet.51 Wann Paitza starb, ist nicht bekannt. Ein letzter Beleg für sie stammt aus dem Jahr 1491. In Jakobs Testament von 1493 wird sie bereits als 46 Vgl. HAStK, Best. 227 (Johann und Cordula), RH 2, S. 572. – HAStK, Best. 103 (Columba), U 1/1000. 47 Vgl. HAStK, Best. 103 (Columba), U 1/1000. 48 Vgl. HAStK, Best. 110B (Testamente Buchstabe B), U 3/980/1 und U 3/980/2. Elisabeth war 1509 noch am Leben, denn aus diesem Jahr datiert eine Bestätigung des Gerichts von St. Severin über den Verkauf eines erbpächtigen Hauses mit Hofstatt in der Ulregasse, den das Ehepaar Winand von Wickroide und Elisabeth von Brügge vorgenommen hatte. Vgl. dazu HAStK, Best. 102SV (Schreinsurkunden Severin (SV)), U 2/50. 49 Vgl. HAStK, Best. 270 (Weiher), U 1/198. – HAStK, Best. 1 (Haupturkundenarchiv (HUA)), U 2/13704. – HAStK, Best. 110B (Testamente Buchstabe B), U 3/980/1. – Irene Gückel: Das Kloster Maria zum Weiher vor Köln (1198–1474) und sein Fortleben in St. Cäcilien bis zur Säkularisation (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur, Bd. 19), Köln 1993, S. 363. – Klaus Militzer (Bearb.): Kölner Geistliche im Mittelalter. Bd. 2. Frauen (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Heft 96), Köln 2004, S. 107. 50 Die Äbtissin von St. Cäcilien, Elsa von Reichenstein, setzte sich gegen die Umwandlung des Damenstifts und die Unterbringung der Schwestern aus Kloster Weiher zur Wehr und strengte sogar einen Prozess in Rom an, der jedoch erfolglos blieb. Vgl. dazu Toni Diederich: Stift – Kloster – Pfarrei. Zur Bedeutung der kirchlichen Gemeinschaften im Heiligen Köln, in: Köln. Die Romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren. Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 17–78, hier S. 38. – Gückel 1993 (wie Anm. 49), S. 53–70. 51 Vgl. HAStK, Best. 110B (Testamente Buchstabe B), U 3/980/1 und U 3/981.
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verstorben bezeichnet. Folglich muss sie zwischen 1491 und 1493 gestorben sein. Bestattet wurde sie in der Pfarrkirche St. Kolumba.52 Außer Paitza ist in den schriftlichen Quellen keine Ehefrau des Jakob von Brügge bezeugt. Paitza wird ab 1453 bis mindestens 1491 als Jakobs Ehefrau bezeichnet und ist in diesem Zeitraum nachweislich am Leben. Auch in den Testamenten des Jakob von Brügge wird keine weitere Ehefrau erwähnt. Die Glasmalereistiftung lässt sich in die 1460er Jahre datieren und somit in eine Zeit, in der Paitza nach Angaben der schriftlichen Überlieferung die Ehefrau an Jakobs Seite war. Wie lässt sich dieser Befund nun erklären? Denkbar wäre, dass der Stifter der Scheibe aus St. Cäcilien nicht der Jakob von Brügge war, den Rode als Wohltäter identifiziert hat, sondern ein anderer, der eine Ehefrau namens Elisabeth (Lisbet) hatte. Diese Erklärung ist jedoch unwahrscheinlich, was eine Reihe von Argumenten verdeutlicht. Für den Kürschner und Pelzhändler Jakob von Brügge als Stifter der Geburt-Christi-Scheibe von St. Cäcilien sprechen zunächst einmal dessen Lebensdaten, die sich gut mit dem Stiftungszeitpunkt in Einklang bringen lassen. Hinzu kommt, dass in dieser Zeit in den Quellen kein anderer Mann ähnlichen Namens fassbar ist, der als Initiator der Stiftung in Frage käme. Zudem hatte der erwähnte Jakob von Brügge als erfolgreicher Pelzhändler und Großkaufmann die notwendigen finanziellen Mittel, um eine derartige Stiftung vornehmen zu können. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er auch für ein anderes Gotteshaus ein Glasfenster stiftete. Außerdem lässt sich im Fall des untersuchten Stifters ein Bezug zu St. Cäcilien herstellen. Jakob von Brügge lebte in der Herzogstraße und damit nicht weit entfernt von St. Cäcilien. Dass die räumliche Nähe zwischen Stifterwohnort und bestifteter Kirche die Entscheidung des Wohltäters zugunsten eines bestimmten Gotteshauses durchaus beeinflusst haben konnte, ist bereits von Wolfgang Schmid herausgearbeitet worden. Zahlreiche Stifter förderten Kirchen, die sich in der Nähe ihres Wohnhauses befanden, erlaubten diese es doch, sie schnell und einfach zu erreichen, beispielsweise zum Besuch von Messen oder Grabstätten.53 Auch dies würde somit dafür sprechen, dass es sich bei dem im Pfarrbezirk 52 Vgl. HAStK, Best. 160 (Armenverwaltung (AV)), U 1/673. – HAStK, Best. 110B (Testamente Buchstabe B), U 3/980/1. 53 Vgl. Wolfgang Schmid: Kunststiftungen im spätmittelalterlichen Köln, in: Materielle Kultur und religiöse Stiftung im Spätmittelalter. Internationales Round-Table-Gespräch. Krems an der Donau. 26. September 1988, hg. v. Gerhard Jaritz (Veröffentlichungen des Instituts für Mittelalterliche Realienkunde Österreichs, Bd. 12; Sitzungsberichte. Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse, Bd. 554), Wien 1990, S. 157–185, hier S. 177. – Wolfgang Schmid: Stifterfamilien im spätmittelalterlichen Köln. Die Rinck und ihr
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St. Kolumba ansässigen Pelzhändler Jakob von Brügge um den Glasmalereistifter von St. Cäcilien handelte. Schließlich sei noch auf einen weiteren Bezug des erwähnten Jakob von Brügge zu St. Cäcilien hingewiesen. Seine Tochter Katharina lebte ab 1475 in St. Cäcilien, wo die Augustinerinnen von Kloster Weiher nach der Räumung ihres Konvents untergebracht worden waren. Dass dieser Umstand Anlass zu einer Glasmalereistiftung geben konnte, zeigt ein anderer Fall. Im Jahr 1483 stiftete der Kölner Bürger Matthias (Theis) van Aiche ein Glasfenster für das Kölner Augustinerinnenkloster St. Maximin, wo seine beiden Töchter Gudula (Goitgin) und Agnes (Neisgin) als Nonnen lebten.54 Vielfach förderten und unterstützten Stifter Kirchen, wo Familienmitglieder untergebracht waren.55 Jedoch ist Jakob von Brügges Tochter erst ab 1475 in St. Cäcilien ansässig, nachdem die Nonnen des geräumten Klosters Weiher dort einquartiert worden waren, während die Schenkung der Geburt-Christi-Scheibe laut Inschrift bereits in den 1460er Jahren erfolgt war. Denkbar wäre, dass die Scheibe ursprünglich nicht für St. Cäcilien gestiftet worden war, sondern für Kloster Weiher, wo Katharina von Brügge bis 1474 lebte. Nachdem der Kölner Erzbischof Dietrich von Moers 1445 aufgrund der zunehmenden Verweltlichung und der damit einhergehenden Vernachlässigung der klösterlichen Pflichten durch die Konventualinnen die Reform des Klosters angeordnet hatte, erlebte dasselbe in den Jahren danach eine Zeit des Aufschwungs und der wirtschaftlichen Blüte. Zahlreiche Töchter angesehener und wohlhabender Kölner Bürger traten der Gemeinschaft zwischen 1445 und 1474 bei.56 Möglicherweise wurden in dieser Zeit des Wohlstands auch Baumaßnahmen in Angriff genommen, beispielsweise am Kreuzgang des Klosters. Als Finanziers der Verglasung dieses neuen Bauteils würde sich sicherlich niemand besseres anbieten als die Eltern und Verwandten der neuen Konventualinnen aus der Kölner Führungsschicht. Weiter ist es vorstellbar, dass die Schwestern nach der Aufgabe des Konvents 1474 diese erst kürzlich gestifteten und für sie sicher kost-
Verwandtenkreis, in: Das Münster 44,3 (1991), S. 238–240, hier S. 239. – Schmid 1994 (wie Anm. 29), S. 509. 54 Vgl. HAStK, Best. 253 (Maximin), RH 1, fol. 105r, 26r. 55 Auch dies wurde von Wolfgang Schmid im Rahmen seiner Arbeiten zu Stiftern im spätmittelalterlichen Köln nachgewiesen. Vgl. dazu Schmid 1990 (wie Anm. 53), S. 177. – Schmid 1994 (wie Anm. 29), S. 509. 56 Vgl. Gückel 1993 (wie Anm. 49), S. 51, 53.
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baren Scheiben mit nach Köln und schließlich mit nach St. Cäcilien brachten.57 Leider liegen keine schriftlichen Quellen vor, die diese Annahme bestätigen würden. Weder die Stiftung von Scheiben für Kloster Weiher noch deren Übernahme nach St. Cäcilien sind dokumentiert. Zudem war die Räumung des Weiherkonvents aufgrund der herannahenden Truppen Karls des Kühnen anscheinend sehr überstürzt erfolgt. Die Niederlegung des Klosters war am 1. August 1474 vom Rat für den folgenden Tag angeordnet worden. Gemäß der Klosterchronik wurden die Frauen am Abend darüber informiert, dass sie am nächsten Morgen gehen sollten. Die mit dem Abriss beauftragten Handwerker nahmen ihre Arbeit unverzüglich auf, sodass die Konventualinnen bei ihrer Flucht nur das Allernötigste mitnehmen konnten.58 Es ist schwer vorstellbar, dass sie in diesem Chaos Gelegenheit hatten, Glasmalereistiftungen nach Köln mitzunehmen. Geplant war, die restliche Ausstattung nachkommen zu lassen, wenn sie sich in Köln eingerichtet hatten, doch nach Angaben der Chronik hatten die Handwerker, die den Konventualinnen von Kloster Weiher alles andere als wohlgesonnen gegenüberstanden, da man ihnen nachsagte, trotz der 1445 durchgeführten Reform ein liederliches Leben zu führen, so große Freude an ihrer Abrisstätigkeit, dass sie alles zerstörten.59 Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass dabei auch etwaig vorhandene Glasmalereien zerstört wurden.60 Dennoch könnte möglicherweise auch ein Teil der Verglasung auf irgendeine Weise gerettet worden sein. Auch Hartmut Scholz zieht diese Möglichkeit in Betracht. Er weist darauf hin, dass die Scheiben der Kreuzgangverglasung, die Szenen der frühen Kindheit Christi enthalten, darunter auch die Geburt-Christi-Darstellung des Jakob von Brügge, aufgrund ihres Stilbildes zeitlich früher anzusetzen sind als ein Großteil der übrigen Scheiben.61 Folglich könnten diese Glasmalereien ursprünglich für Kloster Weiher gestiftet worden und aufgrund der Flucht der Konventualinnen nach St. Cäcilien gekommen sein. 57 Diese Überlegung brachte Hartmut Scholz im Manuskript zu St. Cäcilien für den in Vorbereitung befindlichen Corpus-Vitrearum-Band zu den Glasmalereien der Stadt Köln ins Spiel. Vgl. künftig Hartmut Scholz/Daniel Parello: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Köln – übrige Kirchen und Museen, Corpus Vitrearum Medii Aevi Deutschland, Bd. IV,2, voraussichtlicher Erscheinungstermin 2025, Kapitel Ehemals Stiftskirche St. Cäcilien. Ein besonderer Dank geht an dieser Stelle an Dr. Hartmut Scholz, der der Verfasserin sein Manuskript vorab zur Verfügung stellte. 58 Vgl. Gückel 1993 (wie Anm. 49), S. 55f. 59 Vgl. Gückel 1993 (wie Anm. 49), S. 56f. 60 Vgl. Scholz/Parello 2025 (wie Anm. 57). 61 Vgl. Scholz/Parello 2025 (wie Anm. 57).
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Allerdings darf auch eine andere Möglichkeit nicht außer Acht gelassen werden. Möglicherweise wurden die Scheiben der Kreuzgangverglasung auch erst nach der Übersiedlung der Schwestern von Kloster Weiher nach St. Cäcilien gestiftet. Das Damenstift St. Cäcilien befand sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in desolater Verfassung. Aufgrund von Geldmangel waren notwendige Renovierungsmaßnahmen an Kirche und Konventsgebäuden ausgeblieben, sodass sich diese in den 1470er Jahren in schlechtem baulichen Zustand befanden. Zudem waren zu dieser Zeit kaum noch Kanonissen in St. Cäcilien ansässig. Bei der Übergabe an die Gemeinschaft von Kloster Weiher lebten dort nur noch die Äbtissin Elsa von Reichenstein und ein junges Mädchen. Nach der Übernahme durch die Schwestern von Kloster Weiher wurde dann eine Instandsetzung der Gebäude in Angriff genommen.62 Im Historischen Archiv der Stadt Köln findet sich ein Schriftstück, das Jakob von Brügge mit diesen Baumaßnahmen in Verbindung bringt. Nachdem sich die Gemeinschaft von Kloster Weiher in St. Cäcilien niedergelassen hatte, bat sie den Rat der Stadt Köln darum, Renovierungsarbeiten an Stiftskirche und Konventsgebäuden durchführen zu dürfen. Der Rat entsandte daraufhin eine Gruppe von Vertretern, die eine Begutachtung der Anlage und der dortigen Zustände vornehmen und anschließend darüber berichten sollten. Einer dieser Gutachter war Jakob von Brügge.63 Obgleich das Schriftstück undatiert ist, muss es aus den ersten Jahren nach 1475 stammen, denn in dieser Zeit nahmen die Weiher-Schwestern die nötigen Baumaßnahmen an ihrem neuen Domizil vor. Es belegt, dass Jakob von Brügge wusste, in welchem Zustand sich das ehemalige Damenstift befand und unter welch schlechten Bedingungen seine Tochter und ihre Mitschwestern leben mussten. Vielleicht entschloss er sich nach dieser Besichtigung zu seiner Glasmalereistiftung, um die Gemeinschaft auf diese Weise zu fördern und zu unterstützen. Eventuell half er gar dabei, weitere Stifter anzuwerben, um ein Großprojekt wie die Verglasung des Kreuzgangs zu realisieren. Dieser Annahme läuft jedoch die Inschrift auf der von ihm gestifteten Geburt-ChristiScheibe zuwider, gibt sie doch als Stiftungszeitpunkt die 1460er Jahre an, was von der Forschung bisher zur Datierung herangezogen wurde. Schließlich lässt sich aber auch nicht ganz ausschließen, dass die Glasmalereistiftung von Anfang an für das Damenstift St. Cäcilien bestimmt war. Zwar bedachten bürgerliche Stifter im spätmittelalterlichen Köln Stiftskirchen in der Regel 62 Vgl. Gückel 1993 (wie Anm. 49), S. 59–64. 63 Vgl. HAStK, Best. 30C (Centralverwaltung), C 17, fol. 118v.
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eher selten, doch gibt es auch einige Ausnahmen.64 Zu nennen wäre beispielsweise Johann (I.) Hardenrath, der für die Kölner Stiftskirche St. Maria im Kapitol aufwendige Stiftungen tätigte, darunter die später nach ihm benannte Hardenrathkapelle mitsamt ihrer Ausstattung, zu der auch Glasmalereien zählten.65 Ausschlaggebend für seine Auswahl dieser Kirche als Stiftungsempfängerin war wohl vor allem deren räumliche Nähe zu seinem Wohnhaus am Marienplatz.66 Möglicherweise ist auch Jakob von Brügges Stiftungsmotiv in diesem Bereich zu suchen, denn er lebte, wie bereits erwähnt, nahe der Cäcilienkirche. Ein weiterer Wohltäter aus dem Bürgertum, der eine Stiftskirche als Stiftungsempfängerin auswählte, war der Weinhändler und Ratsherr Gottfried Palm. Dieser ließ der Kölner Stiftskirche St. Maria ad Gradus 1487 ein Glasfenster zukommen.67 In seinem Fall war es wohl die Bekanntschaft mit einem der dortigen Kanoniker, die ihn zur Auswahl dieser Kirche veranlasst hatte.68 Möglicherweise bestanden auch im Fall des Jakob von Brügge personelle Verbindungen zum Kölner Cäcilienstift, die seine Auswahl dieser Kirche als Stiftungsempfängerin erklären würden. Zwar liegen diesbezüglich keine Quellenbelege vor, gänzlich ausgeschlossen werden kann es jedoch nicht. Trotz all dieser Überlegungen bleibt jedoch das Problem mit der Inschrift, die eine andere Ehefrau als die in den Quellen belegte Paitza als Mitstifterin des Jakob von Brügge nennt. Bei einer eingehenden Untersuchung der Scheibe69 konnte die in den 1960er Jahren von Herbert Rode gemachte Lesung größtenteils bestätigt
64 Vgl. Schmid 1991 (wie Anm. 53), S. 239. – Schmid 1994 (wie Anm. 29), S. 510. 65 Vgl. dazu grundlegend Susanne Ruf: Die Stiftungen der Familie Hardenrath an St. Maria im Kapitol zu Köln (um 1460 bis 1630). Kunst, Musikpflege und Frömmigkeit im Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bd. 8), Korb 2011. 66 Vgl. Schmid 1994 (wie Anm. 29), S. 360. 67 Vgl. dazu HAStK, Best. 251 (Mariengraden), RH 2, fol. 84r. 68 Gottfried Palm kannte den Mariengraden-Kanoniker Johann von Bomel. In seiner Tätigkeit als Weinhändler verkaufte Palm 1479 Wein an Herzog Friedrich von Braunschweig-Lüneburg. Um die Bezahlung der Waren abzuwickeln, schickte Palm zwei Vertreter zum Herzog, darunter den Kanoniker Johann von Bomel. Dieser tat sich darüber hinaus auch selbst als Glasmalereistifter an St. Maria ad Gradus hervor. Vgl. dazu HAStK, Best. 251 (Mariengraden), RH 2, fol. 84r. – HAStK, Best. 20A (Briefbücher, Ältere Serie (BrB.)), A 32, fol. 104v. – Kuske 1917 (wie Anm. 17), S. 406, Nr. 770. 69 Ein besonderer Dank geht an dieser Stelle an Frau Dr. Ulrike Brinkmann und ihre Kolleginnen und Kollegen von der Dombauhütte des Kölner Doms, die der Verfasserin im September 2021 eine Untersuchung der erwähnten Scheibe ermöglicht haben.
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werden.70 Der Widerspruch zwischen Quellenbefund und Inschrift lässt sich somit nicht durch einen Lesefehler Rodes erklären.71 Die unterhalb der Geburt-Christi-Darstellung am unteren Rand der Scheibe verlaufende einzeilige Inschrift wird durch zwei Linien eingerahmt. Eine dort sorgfältig ausgeführte Minuskel ist kaum noch zu erkennen.72 Besonders schlecht erhalten ist der erste Teil der Inschrift, der den männlichen Stifter nennt. Bereits zu Beginn der Inschrift ist Textverlust zu beklagen. Dieser betrifft die ersten Buchstaben des Stiftervornamens und hinterlässt lediglich die Silbe cop. An dieser Stelle kann jedoch Rodes Ergänzung zu Jacop zugestimmt werden, da keine andere sinnvolle Vervollständigung des Namens denkbar ist. Besser erhalten ist die der weiblichen Stifterin gewidmete Partie der Inschrift. Auch hier kann Rodes Lesung bestätigt werden, obgleich ein von ihm nicht erwähnter quadrangel- oder paragraphenzeichenförmiger Worttrenner nach Lysbet zu ergänzen wäre. Nach dem besonders deutlich sichtbaren syn mit Schaft-s73 folgt das wieder schwächer erkennbare Wort husfrau. Den Abschluss bildet eine Jahreszahl. Zu erkennen sind der Schaft der 1 sowie eine schlingenförmige 4. Ebenfalls sichtbar ist der obere Teil des Bogens einer 6. Anschließend ist wieder Textverlust eingetreten. Verloren ist nicht nur der Rest der 6, sondern auch die komplette letzte Ziffer. Die Inschrift ist auf vier Glasteile verteilt, sodass sich schließlich folgende Lesung ergibt: [Ja]cop // van brueck // lysbet • syn // husfrau 146[.] Im Zuge der Untersuchung von Scheibe und Inschrift konnten darüber hinaus einige interessante Entdeckungen gemacht werden.74 Die genaue Betrachtung der Scheibe ergab, dass sich Glaston und -beschaffenheit der Glasstücke, auf denen der männliche Stifter genannt wird, von jenen der Stücke mit dem weiblichen
70 Zu ergänzen wäre lediglich ein quadrangel- oder paragraphenzeichenförmiger Worttrenner nach dem Namen Lysbet, den Rode bei seiner Wiedergabe der Inschrift nicht erwähnte. 71 Auch Dr. Tobias Kanngießer, der bei der Untersuchung der Scheibe im September 2021 zugegen war, konnte die Lesung Rodes bestätigen. 72 Die Inschrift war vermutlich im 19. Jahrhundert im Rahmen von Instandsetzungsmaßnahmen abgeschmirgelt worden. Vgl. dazu Rode 1959 (wie Anm. 2), S. 84. – Rode 1974 (wie Anm. 8), S. 156. 73 Auch bei Lysbet findet das Schaft-s Verwendung. 74 Erneut geht ein besonderer Dank an Frau Dr. Ulrike Brinkmann sowie auch an Frau Dr. Katrin Wittstadt, Frau Carola Mueller-Weinitschke und Herrn Dr. Tobias Kanngießer für ihre hilfreichen Kommentare, Ideen und Denkanstöße, die sie im Zuge der gemeinsamen Untersuchung der Scheibe im September 2021 geäußert haben.
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Stifternamen unterscheiden.75 Zudem fiel auf, dass auch der Fußboden Unregelmäßigkeiten aufweist. Die drei Fliesen, die am Fuß der Maria zu erkennen sind, unterscheiden sich von den übrigen Fliesen der Szene. Sie sind schwarz, weiß und wieder schwarz und deuten damit auf einen schachbrettgemusterten Fliesenboden hin. Der übrige Boden besteht jedoch aus Fliesen mit schwarzen und weißen Dreiecken, in denen sich jeweils ein Punkt in entgegengesetzter Farbe befindet. Die besagten abweichenden Fliesen sind Teil des Glasstücks mit dem Inschriftenteil lysbet • syn. Es entsteht der Eindruck, dass dieses Glasstück, wie auch das zweite, das die Stifterin näher charakterisiert, nicht zur übrigen Scheibe passt und wohl ursprünglich auch nicht zu dieser gehört hatte. Dieser Befund deckt sich mit dem Ergebnis der Quellenuntersuchung, wonach Jakob von Brügge keine Ehefrau mit Namen Elisabeth (Lisbet) hatte, sondern mit einer Frau namens Paitza verheiratet gewesen war. Anhand dieses Befundes kann nun folgende These aufgestellt werden: Das ursprünglich vorhandene Glasteil, das Paitzas Namen nannte und sie als Ehefrau des Jakob von Brügge bezeichnete, wurde zu irgendeinem Zeitpunkt beschädigt oder zerstört. Unklar ist, wann dies geschah. Vielleicht war es beim Umzug der Nonnen aus Kloster Weiher, vielleicht auch im Laufe der Geschichte von St. Cäcilien.76 Möglicherweise ging das Glasstück aber auch erst später, beispielsweise beim Ausbau der Scheiben aus dem Kreuzgang von St. Cäcilien, zu deren Zeit im ehemaligen Jesuitenkolleg oder bei der Übertragung in den Kölner Dom verloren.77 Die Inschrift wurde dann mithilfe eines Teils aus einer anderen Scheibe geflickt. Diese andere Scheibe war vermutlich Teil desselben Zyklus und selbst beschädigt, weshalb sie zur Ausbesserung herangezogen wurde. Sie war von einem
75 Freundlicher Hinweis von Frau Dr. Ulrike Brinkmann, Frau Dr. Katrin Wittstadt, Frau Carola Mueller-Weinitschke und Herrn Dr. Hartmut Scholz. Ein Dank geht auch an Herrn Felix Busse, den technischen Leiter der Glaswerkstatt des Kölner Doms, der diesen Befund im Nachhinein ebenfalls bestätigt hat. 76 Im Jahr 1561 kam es in St. Cäcilien beispielsweise zu einer Brandkatastrophe, wodurch einige der Klostergebäude zerstört wurden. Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass dabei auch der Kreuzgang und die dortige Verglasung Schaden nahmen, denn für 1562, 1579 und 1581 sind Instandsetzungsmaßnahmen an den Glasmalereien bezeugt. Vgl. dazu Rode 1959 (wie Anm. 2), S. 84. – Marion Opitz: St. Caecilia. In: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln e.V. 16/17 (2001/02), S. 163–173, hier S. 163. – Scholz/Parello 2025 (wie Anm. 57). 77 Nach Auskunft von Dr. Ulrike Brinkmann wäre sowohl eine Ergänzung im 16. als auch im 19. Jahrhundert vorstellbar. Da auch die schriftlichen Quellen keine Rückschlüsse auf den Zeitpunkt der Ausbesserung erlauben, muss diese Frage wohl vorerst offenbleiben.
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unbekannten Mann und seiner Ehefrau Elisabeth (Lisbet) gestiftet worden.78 Auf diese Weise wäre der Widerspruch zwischen den Quellenbefunden und der Inschrift der Scheibe aufzulösen. Geht man davon aus, dass die beiden die Ehefrau betreffenden Glasstücke ursprünglich nicht Teil der Geburt-Christi-Scheibe gewesen waren, hätte dies außerdem zur Folge, dass auch die in der Inschrift genannte Jahreszahl, die von der Forschung bisher zur Datierung der Scheibe und der gesamten Kreuzgangverglasung von St. Cäcilien herangezogen wurde, ursprünglich nicht zu besagter Scheibe gehörte. Folglich kann die Inschrift der Geburt-Christi-Scheibe nicht mehr ohne weiteres als Beleg dafür angeführt werden, den Kreuzgangzyklus von St. Cäcilien in die 1460er Jahre zu datieren. Dieser Umstand bietet nun den Vorteil, dass Überlegungen zum Entstehungszusammenhang der Scheibe nicht mehr strikt an die 1460er Jahre gebunden sind. Die betrachtete Scheibe könnte folglich vor 1474 für Kloster Weiher, wo Jakob von Brügges Tochter Katharina als Nonne lebte, gestiftet worden sein und nach der Räumung des Konvents ihren Weg nach St. Cäcilien gefunden haben. Sie könnte aber auch erst nach der Niederlassung der Weiher-Schwestern in St. Cäcilien und damit nach 1474 von Jakob von Brügge zur Ausstattung des neuen Domizils seiner Tochter in Auftrag gegeben worden sein. Schließlich wäre es aber auch denkbar, dass Jakob von Brügge die Scheibe irgendwann zwischen seiner Übersiedlung und Etablierung in Köln um die Jahrhundertmitte und 1474 dem nahe seinem Wohnhaus gelegenen Damenstift St. Cäcilien schenkte. Alle drei Szenarien sind vorstellbar. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass seine Glasmalereistiftung mit seiner Tochter Katharina in Zusammenhang stand, sodass die beiden ersten Überlegungen zu favorisieren sind. Aufgrund fehlender Quellenbelege sind letztgültige Aussagen jedoch schwierig. Abschließend sei noch auf eine andere interessante Entdeckung aufmerksam gemacht. Im Couronnement des sogenannten Christusfensters, eines im nördlichen Querhaus des Kölner Doms angesiedelten, einen Christuszyklus enthaltenden Halbfensters, befindet sich eine Scheibe, die eine weibliche Stifterfigur zeigt 78 Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass Jakob von Brügge eine Tochter mit Namen Elisabeth hatte. Obgleich nicht zu beweisen, wäre es doch vorstellbar, dass die zur Ausbesserung herangezogene Scheibe eine Stiftung der Elisabeth von Brügge und ihres Ehemanns Winand von Wickroide gewesen war. Als Schwester der Weiher-Nonne Katharina von Brügge hätte schließlich auch sie ein Motiv gehabt, ein Glasfenster für deren Kloster oder, nach dessen Räumung, für St. Cäcilien zu stiften.
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Abb. 4: Köln, Dom, nördliches Querhaus, Christusfenster, Couronnement, Detail: Stifterfigur.
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(Abb. 4). Die Frau ist kniend dargestellt und trägt einen schwarzen Mantel über einem rotvioletten Kleid. Ihr beigegeben ist ein Wappenschild mit einer Hausmarke, die von der Forschung bisher nicht eindeutig identifiziert werden konnte. Rode, der die Scheibe im Rahmen seines Corpus-Vitrearum-Bandes zu den Glasmalereien des Kölner Doms untersucht hatte, ordnete die Hausmarke, unter Berufung auf Bruno Kuske, einem Jakob von Osenbrugge zu, jedoch mit dem Hinweis, dass sie seitenverkehrt dargestellt sei.79 Die besagte Hausmarke ziert dessen Siegel, das an eine von ihm bezeugte Urkunde angehängt ist.80 Dieselbe Hausmarke wurde jedoch auch von dem im Rahmen dieses Beitrags thematisierten Jakob von Brügge geführt. Das entsprechende Siegel ist sowohl an eine von ihm bezeugte Urkunde von 1488 angehängt (Abb. 2) als auch an einem von ihm und seiner Ehefrau Paitza ausgestellten Schriftstück von 1491 (Abb. 3) zu finden.81 Neben der identischen Hausmarke sprechen auch derselbe Vor- und der ähnliche Nachname dafür, dass die beiden Personen identisch sind und der Glasmalereistifter augenscheinlich auch als Jakob von Osenbrugge bekannt war.82 Folglich deutet einiges darauf hin, dass diese Scheibe, die nach der Säkularisation aus einer der aufgelösten Kirchen Kölns in den Dom kam, ebenfalls eine Stiftung eines Familienmitglieds des Jakob von Brügge gewesen ist.83 79 Vgl. Rode 1974 (wie Anm. 8), S. 185, Nr. E 3. Kuske wies die Hausmarke Jakob von Osenbrugge zu. Vgl. dazu Bruno Kuske (Hrsg.): Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs im Mittelalter. Bd. 3. Besondere Quellengruppen des späteren Mittelalters (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 33.3), Bonn 1923, S. 379, Nr. 509 und Tafel V, Nr. 509. Eine Ende Januar 2022 vorgenommene Betrachtung der Scheibe aus der Nähe ergab, dass sie seitenverkehrt eingebaut worden war. Dies erklärt Rodes Befund, die Hausmarke Jakob von Osenbrugges sei auf der Scheibe seitenverkehrt dargestellt. Freundlicher Hinweis von Herrn Dr. Hartmut Scholz. 80 Die besagte Urkunde stammt von 1480 und trägt die Signatur HAStK, Best. 1 (Haupturkundenarchiv (HUA)), U 1/13541. 81 Vgl. HAStK, Best. 160 (Armenverwaltung (AV)), U 2/128 und U 1/673. 82 Möglicherweise könnten anhand dieser Namensvariante auch Rückschlüsse auf den Herkunftsort des Jakob von Brügge gezogen und ihm eine Herkunft aus der Stadt Osnabrück unterstellt werden. Verlässliche Belege diesbezüglich liegen jedoch nicht vor. Dass Kölner Neubürger aus Osnabrück stammten und die Stadt somit zum Migrationsraum Kölns im Mittelalter zählte, wies bereits Jochen Hermel nach, sodass es auch im Fall des Jakob von Brügge denkbar wäre, dass er aus Osnabrück nach Köln übergesiedelt war. Vgl. dazu Jochen Hermel: Die Einbürgerung Kölner Neubürger im 15. und 16. Jahrhundert. Frequenz, Herkunft, Integration, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 78 (2007), S. 37–70, hier S. 52. 83 Im Rahmen dieses Beitrags kann leider nicht ausführlich auf die Entstehungszusammenhänge dieser Scheibe eingegangen werden. Dies soll jedoch im Rahmen eines ande-
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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die im 19. Jahrhundert an den Kölner Dom übergebene Geburt-Christi-Scheibe eine Stiftung des Kürschners und Pelzhändlers Jakob von Brügge war. Dieser verfügte als Großkaufmann über das nötige Auskommen, um eine solche Stiftung zu finanzieren, und stiftete darüber hinaus weitere Fenster, was die schriftliche Überlieferung und eine Wappendarstellung belegen. Unklar bleibt, für welche religiöse Einrichtung er die Scheibe stiftete. In Frage kämen das einst vor den Toren Kölns gelegene Kloster Weiher, das Damenstift St. Cäcilien oder das nach 1474 in ein Augustinerinnenkloster umgewandelte St. Cäcilien. Zu allen drei Gotteshäusern hatte Jakob von Brügge einen Bezug und damit einen Grund, sie zu beschenken und damit zu fördern. Aus dem Stiftungsempfänger ergibt sich in diesem Fall auch der Stiftungszeitpunkt, sodass auch hier folglich mehrere Datierungsmöglichkeiten denkbar sind. Die bisherige Datierung auf die 1460er Jahre, die aufgrund der in der Inschrift erwähnten Jahreszahl vorgenommen worden war, ist nicht mehr ohne weiteres haltbar, da Zweifel daran bestehen, dass diese Passage der Inschrift ursprünglich Teil der Geburt-Christi-Scheibe war. Jakob von Brügge nahm die Glasmalereistiftung vermutlich zusammen mit seiner Ehefrau vor. Bei dieser handelt es sich jedoch nicht um die in der Inschrift genannte „Lisbet“, sondern um Paitza von Heinsberg. Die in der Inschrift erwähnte Elisabeth (Lisbet) war jedoch auch eine Glasmalereistifterin, die in den 1460er Jahren mit ihrem namentlich nicht bekannten Ehemann eine andere Scheibe, möglicherweise für denselben Zyklus, stiftete. Einige Indizien sprechen dafür, dass diese Scheibe zu einem unbekannten Zeitpunkt zur Ausbesserung der Geburt-ChristiScheibe benutzt wurde, womit die Nennung der falschen Ehefrau in der Stifterinschrift zu erklären wäre.
Fazit
Die vorstehenden Ausführungen mögen deutlich machen, wie wichtig eine eingehende Untersuchung des Stifters zur Interpretation seiner Stiftung ist. Aus der Biografie des Stifters ergeben sich dezidierte Hinweise darauf, zu welchen kirchlichen Einrichtungen er welche Verbindungen hatte und welche Kirchen folglich ren Beitrags der Verfasserin nachgeholt werden: Julia Noll: Neue Erkenntnisse zu einer Stifterscheibe des Christusfensters im Kölner Dom sowie zur Geburt Christi-Scheibe aus St. Cäcilien, in: Kölner Domblatt. Jahrbuch des Zentral-Dombau-Vereins 87 (2022), S. 250– 262.
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als Stiftungsempfängerinnen in Frage kamen. Aufgrund ihrer ausschließlich weiblichen, zudem im Unterschied zu Klöstern nicht zwangsläufig dauerhaft an das Stift gebundenen Mitglieder verfügten Frauenstiftskirchen über ein ganz eigenes soziales Umfeld und eine spezielle Klientel. Dies spiegelt sich auch in den Stiftern und der sozialen Zusammensetzung der Stifterkreise dieser Kirchen wider. Im Fall von St. Cäcilien bedeutete die Umwandlung in ein Augustinerinnenkloster im Jahr 1474 auch eine Wandlung der Klientel. Vieles spricht dafür, dass die Glasmalereistiftung des Jakob von Brügge und seiner Ehefrau in Verbindung mit deren Tochter, der Nonne Katharina, stand. Möglicherweise ist die Glasmalereistiftung eines der ersten Anzeichen für die neue Klientel von St. Cäcilien, die sich nun aus den Familien und Bekannten der Konventualinnen des Augustinerinnenklosters St. Maria zum Weiher zusammensetzte. Die Untersuchung des Stifters Jakob von Brügge samt seiner Familie und deren Glasmalereistiftung lässt die Entstehungszusammenhänge der Kreuzgangverglasung des ehemaligen Damenstifts St. Cäcilien in neuem Licht erscheinen. Das gibt Anlass, dieses bedeutende Zeugnis Kölner Kunst des Spätmittelalters mit einem erweiterten Blickfeld und neuen Perspektiven zu würdigen.
Gebete und Gesänge im Liber precum und Liber Ordinarius Zur Bedeutung der Hildesheimer Dompatrozinien für das spätmittelalterliche Chorfrauenstift Heiningen Jörg Bölling
Die Heininger Augustinerchorfrau Gesken Westfal hat um das Jahr 1500 auf dem oberen Umbug des Vorderdeckels einer heute als Liber precum, Gebetbuch, bezeichneten Handschrift ihren Namen als Besitzvermerk hinterlassen: „Dut bock hort tho henigen gesken westfal.“ Zu dieser heute – nach zwischenzeitlicher Nutzung an der 1810 aufgelösten Universität Helmstedt – in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel unter der Signatur „Cod. Guelf. 1397 Helmst.“ verwahrten Handschrift liegen bereits eine Reihe unveröffentlichter und veröffentlichter Studien sowie eine ausführliche bibliothekarische Handschriftenbeschreibung vor.1 1 Mai-Britt Wiechmann: Edition. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1397 Helmst., fol. 1r–17v. Editionshausarbeit für das Modul B.MNL.05. Betreuung: Prof. Dr. Thomas Haye, Georg-August-Universität Göttingen, Abteilung für lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit, Sommersemester 2015 (21.07.2015, unveröffentlicht). – Saskia Roth: Der Hochaltar des Hildesheimer Domes und sein Reliquienschatz. Der Ort und seine Geschichte (Quellen und Studien zur Geschichte und Kunst im Bistum Hildesheim, Bd. 13.1), Regensburg 2018 (ohne Rekurs darauf). – Jörg Bölling: Lippold von Steinberg, Pilger und Pilgerwesen im Dom, in: ZeitenWende 1400. Hildesheim als europäische Metropole, hg. v. Claudia Höhl/Gerhard Lutz/Felix Prinz, Regensburg 2019, S. 59–66 (noch ohne Kenntnis der beiden erstgenannten Veröffentlichungen). – Vorausgehende Hinweise würdigend und um Grafiken von Kristian Schlegel sowie SW-Ablichtungen ergänzend, jedoch leider nicht ganz fehlerfrei: Birgit Schlegel: Das Stift Heiningen und der Liber precum, in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 101 (2020), S. 265–274. – Die maßgebliche Handschriftenbeschreibung findet sich bei Bertram Lesser: Die mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil VII (in Vorbereitung; vgl. einstweilen seine Online-Beschreibung dieser Handschrift nebst Digitalisat des Codex: http://diglib.hab.de/?db=mss&list=ms&id=1397-helmst&catalog=Lesser [25.11.2022]). – Zum Chorfrauenstift Heiningen insgesamt siehe Katharina Mersch: Soziale Dimensionen visueller Kommunikation in hoch- und spätmittelalterlichen Frauenkommunitäten – Stifte,
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Angefertigt worden ist dieser Kodex dem aktuellen Forschungsstand nach im Hildesheimer Lüchtenhof, deren Fraterherren sich als Angehörige der spätmittelalterlichen Reformbewegung der Devotio moderna auch sonst als Schreiber von Handschriften verdient gemacht haben.2 Dieses Manuskript ist entweder kurz vor oder nach 1412 entstanden – eine Frage, der noch gesondert nachzugehen sein wird.3 Inhalt und Funktion des Liber precum werden gleich in der ersten Überschrift deutlich. Demnach richtet sich das handliche Büchlein im Oktavformat an eine Person, die die Altäre in der Hildesheimer Kirche, gemeint ist der Dom, der Frömmigkeit halber aufsuchen möchte: „Volens visitare altaria in ecclesia hildesemensi causa devocionis“.4 Der zunächst naheliegende Schluss, eine solche Person sei im Klerus des Domes oder in dessen Umfeld zu suchen, ist schnell zu entkräften: Wäre die Handschrift so etwas wie die Prozessionsanleitung für einen Domherrn oder Bischof gewesen, so fänden sich darin inhaltlich Hinweise auf die geleitete Gruppe sowie die Kleidung des Leiters und äußerlich wohl ein deutlich repräsentativerer Einband; nicht einmal für die Vorbereitung einer einzelnen Person auf eine Prozession, im Sinne der Kurzfassung eines Processionale, scheint diese Handschrift geeignet gewesen zu sein. Alle Indizien sprechen dafür, dass es sich um einen Text für die persönliche, rein private Andacht handelt, die allein vor Ort oder sogar ortsunabhängig nur im Geiste erfolgte, wie dies bei anderen aus Heiningen überlieferten, rein imaginären Pilgerführern nach Rom und Jerusalem eindeutig der Fall ist.5 Nachweislich besessen jedenfalls und höchstwahrscheinlich auch genutzt
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Chorfrauenstifte und Klöster im Vergleich (Nova Mediaevalia, Bd. 10), Göttingen 2012, S. 169–178, 287–289. Vgl. Bertram Lesser: Zwischen Kloster und Stadt. Das Semireligiosentum im spätmittelalterlichen Hildesheim, in: ZeitenWende 1400. Hildesheim als europäische Metropole, hg. v. Claudia Höhl/Gerhard Lutz/Felix Prinz, Regensburg 2019, S. 108–123, hier S. 109–120. Für die Zeit vor 1412 plädieren Wiechmann 2015 (wie Anm. 1) und Bölling 2019 (wie Anm. 1), dieser gefolgt von Lesser [2022] (wie Anm. 1) und Schlegel 2020 (wie Anm. 1). Zu Argumenten für eine Entstehung nach 1412 siehe Roth 2018 (wie Anm. 1). Zu dieser Frage siehe ausführlich unten Anm. 21–32. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 1397 Helmst., fol. 1r; Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 13 sowie einführend S. 3 und 6. Siehe in diesem Sinne bereits Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 10. – Bölling 2019 (wie Anm. 1), S. 63. Zu den einschlägigen Handschriften vgl. Robin Volkmar: Geistliche Pilgerfahrt, Ablassverzeichnis, Pilgerbüchlein? Zur Verwendung des Aflat to Iherusalem im Augustiner-Chorfrauenstift Heiningen. Bachelorarbeit Göttingen 2014 (unveröffentlicht). – Francesca Fabri: Il Trasporto della Macchina di Sancta Rosa: l’evento rituale, in: I tesori della Cattedrale di Acqui, hg. v. Enrico Ivaldi, Acqui Terme 2017, S. 67–73. – Kerstin Schnabel: Kat. 28: Anleitungen zu geistlichen Pilgerfahren nach Rom und Jerusalem (Süd-
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wurde der Kodex durch die Heininger Augustinerchorfrau Gesken Wesfal, die ihn auch weiteren Konventualinnen ihres Frauenstifts zugänglich gemacht haben mag. Aufgrund der Entstehungszeit und der Funktion bietet sich gleichwohl ein Vergleich zwischen diesem Zeugnis privater Andacht und dem Zeremonienbuch der kirchenamtlichen Liturgie der Hohen Hildesheimer Domkirche an: dem spätmittelalterlichen Liber Ordinarius.6 Dieser Kodex ist einem expliziten Eintrag zufolge am Vortag des Laurentius-Festes, also am 9. August, des Jahres 1473 angefertigt worden und wird durch das supralinear hinzugefügte Adjektiv „novus“ formal als Neufassung bezeichnet, was sich inhaltlich durch einige ergänzende Rückbezüge auf frühere und Novellierungen zu späteren Regelungen bestätigen lässt. Für die Frage der Prozessions- und Pilgerwege liegt ein solcher Vergleich bereits vor.7 Daher soll dieser Liber Ordinarius im Folgenden ausschließlich dazu herangezogen werden, die Besonderheit der Gebete und Gesänge des Liber precum herauszustellen. Schon eine kurze Prüfung der im Liber precum für Pilgerinnen und Pilger vorgesehenen Gebete und Gesänge macht zwei Dinge deutlich: Zum einen weichen diese Texte so sehr von denen der Domliturgie ab, dass es sich nicht um eine Kurzfassung des Liber Ordinarius oder eines womöglich verlorenen Processionale handeln kann, sondern um einen eigenständigen Führer für Pilgerinnen und Pilger, bei dem anstelle eines – nicht einmal rein imaginären – liturgischen Ablaufs die Patrozinien der Einzelaltäre im Vordergrund stehen. Zum anderen erfahren die Einzelaltäre durch die Wahl der Gebete und Gesänge im Rahmen dieses in sich geschlossenen, vom Liber Ordinarius unabhängigen Systems stellenweise eine Aufwertung gegenüber der generellen Festordnung des Liber Ordinarius, wenn man deren Verwendung in der generellen liturgischen Praxis einschließlich mündlicher
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niedersachsen, um 1450, nach 1479), in: Frauenwelten. Die Klöster Heiningen und Dorstadt. Ausst.-Kat. Dommuseum Hildesheim, hg. v. Claudia Höhl, Regensburg 2021, S. 140 f. Dombibliothek Hildesheim, Hs. 793. Auch aus dem Stift Heiningen ist ein – zudem in etwa zeitgleich entstandener – Liber Ordinarius überliefert, der sich bestimmt gewinnbringend vergleichend heranziehen ließe, allerdings noch der Forschung harrt. Siehe dazu Judith Tralles: Kat. 8: Liber Ordinarius aus dem Stift Heiningen (Heiningen, um 1460), in: Frauenwelten. Die Klöster Heiningen und Dorstadt. Ausst.-Kat. Dommuseum Hildesheim, hg. v. Claudia Höhl, Regensburg 2021, S. 100 f. Siehe dazu Jörg Bölling: Prozessions- und Pilgerwege der Hildesheimer Kathedrale im Spiegel mittelalterlicher Quellen. Godehard-Viten – Liber Ordinarius – Liber precum, in: Die Kathedrale im Kontext der mittelalterlichen Stadt. Liturgie und ihre sakraltopographischen Bezüge, hg. v. Jürgen Bärsch/Stefan Kopp (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen), Münster 2023 (im Druck).
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Frömmigkeitsformen, aber auch mit Blick auf die konkreten Texte des Liber Ordinarius des Domes, vergleichend einbezieht. Dazu gehört beispielsweise, dass Barbara in einer Weise geehrt wurde wie sonst nur die Gottesmutter Maria im dreimal täglichen Angelus-Gebet („Engel des Herrn“).8 Deshalb soll nun untersucht werden, welche Patrozinien im Liber precum durch einen Gesang, ein Gebet oder die gleichsam doppelte Verehrung in Gesang und Gebet eine gesteigerte Betonung erfahren. Einige Heilige werden durch Gebet und Gesang gegenüber den im Liber Ordinarius verbürgten liturgischen Fest- und Rangordnung hervorgehoben. Bei manchen Heiligen wiederum mögen – zumindest für ortskundige Ohren – Gesänge des Liber precum aufgrund ihrer im Liber Ordinarius zu anderen liturgischen Anlässen zu singenden Texte – wenn auch nicht unmittelbar sichtbar und beim Verlesen nicht zu hören – melodisch im Geiste mitgeklungen haben.
Betonte Heilige: Patrozinienaufwertung durch Gebete und Gesänge im Liber precum
Das erste Beispiel für die besondere Betonung von Heiligen bildet die zweite von insgesamt 39 Stationen (vgl. Abb. 1).9 Adressiert werden die Gebete und Gesänge hier an drei in Hildesheim bis heute besonders verehrte heilige Bischöfe: Godehard, Epiphanius und Bernward („De sancto Godehardo, Epiphanio et Bernwardo“). Auffallend ist hier zum einen, dass Bernward mitgerechnet wird, der in der Domliturgie sonst kaum eine Rolle spielt, allenfalls mit Blick auf seinen Patronatstermin, nicht aber hinsichtlich seiner Reliquien.10 Zum anderen, und dies ist hier entscheidend, erfolgt für alle drei Heiligen eine Aufwertung, nämlich durch die Antiphon: Deren Text samt entsprechender Melodie ist sonst für Apostelfeste vorgesehen und lässt die drei Hildesheimer Heiligen somit für geübte Augen wie Apostel erscheinen – und bei entsprechender zusätzlicher Vorbildung und Prägung wohl auch als solche erklingen:
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Vgl. hierzu bereits Bölling 2019 (wie Anm. 1), S. 63 f. mit Anm. 24. Der in Abb. 1 wiedergegebene Gesamtplan aller Stationen stammt – mit freundlicher Genehmigung der Autorin – von Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 29, in ähnlicher Weise nun auch wiedergegeben bei Bölling 2023 (wie Anm. 7). 10 Vgl. Bölling 2019 (wie Anm. 1), S. 62–64.
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„Isti sunt viri sancti, quos elegit dominus in caritate non ficta et dedit illis gloriam sempiternam, quorum doctrina fulget ecclesia ut sol et luna, alleluia.“11 Es bleibt damit aber nicht bei einer reinen Aufwertung der einzelnen Heiligen. Bemerkenswert ist darüber hinaus deren Kombination. Bildeten in den spätmittelalterlichen Prozessionen des Domes die Schreine der heiligen Bischöfe Godehard von Hildesheim und – bereits seit seiner Translation nach Hildesheim im Jahr 963 – Epiphanius von Pavia eine regelmäßige Zweiergruppe, so fügten sich später Bernward und Godehard zu einem Paar, vertreten durch ihre jeweiligen, in städtischen Prozessionen regelmäßig aufgesuchten Grablegen im Benediktinerkloster St. Michaelis und in der Kathedralkirche selbst, den beiden heutigen Hildesheimer Weltkulturerbe-Stätten.12 Spätere Geschichtsschreiber scheuten nicht einmal vor einem Vergleich mit Petrus und Paulus zurück.13 Interessant wäre in diesem Zusammenhang, der Frage nachzugehen, inwieweit sich Epiphanius und Godehard oder Bernward und Godehard als Zweierkombination im Abschnitt Communicantes des Canon missae, also in Sakramentaren und später in Messbüchern, finden, bei denen die beiden Apostelfürsten – nur von der Gottesmutter Maria überstrahlt – stets den Anfang machen, regionale Heilige aber mancherorts am Ende ergänzt werden, und zwar besonders gern wiederum in solchen Zweiergruppen.14 Die Kombination des heiligen Godehard mit dem lediglich seligen Bernhard in Kloster und Kirche St. Godehard bleibt jedenfalls eine Eigentümlichkeit der dortigen Benediktiner.15 11 Zu Recht schreibt schon Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 30, Anm. vii, hierzu: „Cantus-ID: 003449, eigentlich eine Antiphon für die Festtage der Apostel.“ Vgl. hierzu https:// cantusdatabase.org/sources [25.11.2022]. Im Liber usualis bildet der Gesang „Isti sunt viri sancti“ die Magnificat-Antiphon am Festtag der Heiligen Kyrill und Method (7. Juli); vgl. Liber usualis missae et officii pro dominicis et festis cum cantu gregoriano ex editione vaticana adamussim excerpto et rhythmicis signis in subsidium cantorum a Solesmensibus monachis diligenter ornato, Paris/Tournai/Rom 1937, S. 1552 f. Im Antiphonale Monasticum 1934 (ND 1995) ist diese Antiphon nicht aufgeführt. 12 Vgl. Bölling 2023 (wie Anm. 7). 13 Siehe etwa Adolf Bertram: Geschichte des Bisthums Hildesheim, 3 Bde., Hildesheim 1899–1925, Bd. 1, S. 88. 14 Siehe dazu Jörg Bölling: Zwischen Regnum und Sacerdotium. Historiographie, Hagiographie und Liturgie der Petrus-Patrozinien im Sachsen der Salierzeit (1024–1125) (Mittelalter-Forschungen, Bd. 52), Ostfildern 2017, S. 269–269 und zusammenfassend S. 355–360. 15 Siehe dazu Martina Giese: Zur Überlieferung der Viten Godehards und Bernhards I. von Hildesheim, in: Bischof Godehard von Hildesheim (1022–1038). Lebenslinien – Reformen – Aktualisierungen. Tagungsakten des Internationalen Symposiums 28.–30. Juni 2022 in Hildesheim, hg. v. Jörg Bölling/Monika Suchan/Thomas Scharf-Wrede, Regensburg 2023
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Abb. 1: Schematischer Grundriss der Patrozinien des Hohen Domes zu Hildesheim (nach Wiechmann 2015 [wie Anm. 1], S. 29). 1 capsa argentea mit Reliquien Christi und Mariens auf dem Chor, 2 Godehard, Epiphanius und Bernward, 3 Cantius, Cantianus, Cantianilla, 4 Oswald, 5 Speciosa, 6 Martin, 7 Grab Godehards, 8 Nikolaus, 9 Maria, 10 Kosmas und Damian, 11 Evangelist Johannes, 12 Petrus und Paulus, 13 Thomas Becket in der Sakristei, 14 Aller Patrone/Heiligen, 15 Empfängnis Mariä, 16 Elisabeth, 17 Vincent, 18 Barbara, 19 Silvester, 20 Erzengel, 21 Eusebius, 22 Katharina, 23 Simon und Judas, 24 Abdon und Sennen, 25 Fabian und Sebastian, 26 Bartholomäus, Policarp, Felician, Iuliana, Aldegundis, 27 Georg, 28 10.000 Märtyrer, 29 Johannes und Matthäus, 30 Hl. Drei Könige, 31 Aller Patrone/Heiligen, 32 Blasius, 33 Andreas, 34 Stephan, 35 Godehard auf dem Chor, 36 Cäcilia, 37 Anna im Kreuzgang, 38 Anna im Garten, 39 Laurentius
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Das zweite Beispiel betrifft die Station 3. Dort geht es um die sogenannten drei Cantianen („Antiphona sanctorum Cantia[norum]“), also Cantius, Cantianus und Cantianilla sowie Petronilla. Alle vier Heiligen sind auch sonst in Sachsen häufiger anzutreffen, insbesondere in Bremen.16 Im Hildesheimer Liber Ordinarius sind diese Heiligen gleich mehrfach vertreten. Gedacht wird der Ankunft ihrer Reliquien in Hildesheim am 1. April ebenso wie ihres – noch heute gesamtkirchlich gefeierten – Gedenktages am 31. Mai.17 Im Liber precum fällt nun nicht der Gesang der Antiphon, sondern das Gebet der Collecta auf: „COLLECTA Magnificet te, Deus, sanctorum tuorum Cancii, Canciani, Cancianille atque Petronille beata solempnitas, qua et illis gloriam sempiternam et opem nobis ineffabili providencia contulisti per dominum.“18 Wird den bischöflichen Hildesheimer Heiligen Epiphanius, Bernward und Godehard durch einen spezifischen Gesang akustisch die Aura von Aposteln verliehen, so erscheinen die Cantianen und Petronilla durch diesen Gebetstext buchstäblich wie in einem Wortgewebe („textus“) im Gewand von Evangelisten.19 Ob hier an ein Konzept von „textus evangelii“, wie die aus dem Evangelistar im Gottesdienst zu lesende Perikope in den verschiedenen liturgischen Büchern genannt wird,20 mitzudenken ist, sei dahingestellt. Entscheidend ist die Binnendifferenzierung gegenüber den Hauptpatronen des Domes: Deren Apostolizität klingt gleichsam geistig in den Ohren. Bei den etwas weniger prominenten Heiligen hingegen wird der Bezug lediglich über den Text hergestellt, anstelle von Aposteln sind nur Evangelisten
(im Druck). – Jörg Bölling: Godehard von Hildesheim (1022–1038). Bischof – Heiliger – Klosterpatron, in: 850 Jahre St. Godehard in Hildesheim, hg. v. Angela Weyer/Gerhard F. Lutz, 2023 (im Druck). 16 Vgl. Bölling 2017 (wie Anm. 13), S. 268–270 sowie resümierend S. 356 und 360. 17 Dombibliothek Hildesheim, Hs. 793, S. 4 (1. April: „Adventus reliquiarum Cancianorum“) und S. 5 (31. Mai: „Cancianorum martyrum“). 18 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1397 Helmst., fol. 2v. – Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 14. 19 Bereits Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 30, Anm. xiii bemerkt hierzu: „Ähnelt dem Kollektengebet bei Deshusses 2, Nr. 3191, das sich aber nicht an die Cantianen und Petronilla richtet, sondern an die Evangelisten.“ Vgl. dazu Jean Deshusses (Hg.): Le sacramentaire grégorien. Ses principales formes d’après les plus anciens manuscrits, Bd. 1–3, Fribourg 1971–1979. 20 Siehe dazu Thomas Lentes: „Textus Evangelii“. Materialität und Inszenierung des „textus“ in der Liturgie, in: „Textus“ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, hg. v. Ludolf Kuchenbuch/Uta Kleine (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 216), Göttingen 2006, S. 133–148.
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angedeutet, und schließlich fällt diese Anspielung sprachlich nicht so eindeutig aus wie die Wahl der entsprechenden Antiphonen bei den Hauptpatronen. Das dritte Beispiel ist das komplexeste. Hier geht es um gleich zwei Stationen, im Ablaufplan die Nummern 14 und 31 (vgl. Abb. 1). Es handelt sich anscheinend um dasselbe Patrozinium, nämlich dasjenige aller Patrone bzw. Allerheiligen. An beiden Stationen ist jeweils gleichlautend von „allen Patronen“ die Rede: „ad altare omnium patronorum“. Zwei Lösungen sind hier grundsätzlich denkbar: Entweder handelte es sich um zwei Stationen an ein und demselben Altar oder aber um zwei verschiedene, räumlich getrennt voneinander aufgestellte Altäre mit demselben Patrozinium. Als zweiter Altar kommt dabei derjenige in Betracht, der zusammen mit dem Nordparadies des Domes durch die Stiftung des Lippold von Steinberg im Jahr 1412 angebaut worden ist.21 Saskia Roth votiert im abschließenden kurzen Exkurs ihrer Dissertation zu genau dieser Handschrift für die erste Lösung.22 Sie argumentiert mit der Nennung der den Heiligen Andreas, Stephanus und Godehard geweihten Altäre, die durch den Umbau von 1412 aus dem „apsidenartigen Emporenraum nördlich des Hochchores“ in das Obergeschoss des Nordparadieses verlegt worden seien, wohingegen an deren ursprünglichem Ort, auf der vom Kirchenschiff aus noch heute sichtbaren Empore, nach 1412 ein Altar der vier Kirchenlehrer aufgestellt worden sei, der im Liber precum – in der Tat – nicht erwähnt wird.23 Für eine Entstehung nach 1412 spricht hingegen die bedeutende Rolle, die eben diesem 1412 neu errichteten Paradies beigemessen worden ist: Beide geistlichen Rundgänge, der erste mit den Stationen 1 bis 5 im Chor wie auch der zweite mit den Stationen 7 bis 29 durch Krypta und Kirche, gehen vom Nordparadies aus, und für den zweiten, deutlich längeren Gang ist sogar ein eigener Zwischenaufenthalt in eben diesem Paradies vorgesehen, dem daher Mai-Britt Wiechmann eine eigene Nummer vergeben hat. Im Liber precum heißt es hier: „Geh bitte zurück zum Paradies und besprenge dich mit Weihwasser!“24 Betrachtet man nun die Prozessionswege etwas genauer, so fallen weitere Details auf: Der Godehard-Altar
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Vgl. hierzu zuletzt Bölling 2019 (wie Anm. 1). Roth 2018 (wie Anm. 1), S. 183–187 mit Abb. 113 f. (S. 184 f.). Ebd., S. 187 mit Anm. 21–24. „Descendas versus paradysum et aspergas te aqua benedicta“. Siehe dazu bereits Bölling 2019 (wie Anm. 1), S. 63 mit Anm. 16 f., leider in Unkenntnis der kurz zuvor, Ende des Vorjahres, erschienen Diss. von Saskia Roth 2018 (wie Anm. 1) sowie ihres Katalogeintrags ebd., Nr. 21, Liber precum, S. 271 (mit nicht nummerierter Abb. auf S. 270).
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wird ausdrücklich mit dem Zusatz „in coro“ gekennzeichnet,25 was weniger auf eine Konche als vielmehr auf den seit 1412 bestehenden Godehard-Chor schließen lässt, der laut Liber Ordinarius von 1473 regelmäßig das Ziel von Prozessionen war.26 Hinzu kommt, dass erst im Jahr 1412, also zeitgleich zum Nordparadies, auch der Erzengel-Altar auf der westlichen Empore errichtet wurde.27 Für diesen Erzengel-Altar wie auch für das Nordparadies müssten jeweils Vorgänger angenommen werden, um den Termin vor 1412 zu halten: ein weniger gut ausgestatteter Altar im einen und ein bereits „Paradies“ genannter Vorbau im anderen Fall. Auch bei diesem dritten Beispiel mag nun die genauere Betrachtung der Gebete und Gesänge weiteren Aufschluss geben. Die jeweils gleichlautende Formulierung „ad altare omnium patronorum“ an beiden Stationen, Nr. 14 und Nr. 31, scheint darauf hinzudeuten, dass es sich um zwei Haltepunkte an ein und demselben Altar gehandelt hat. Diese Annahme ließe sich durch einen weiteren Befund untermauern: Geht man von zwei verschiedenen, räumlich getrennten Altären aus, so wäre der erste in der Prozessionsfolge mit der Nr. 14 am (auch buchstäblich räumlich) naheliegendsten und (ebenso prozedural zeitlich) ehesten als der Vorgänger des später nachweisbaren Allerheiligen-Altars, der zweite mit der Nr. 31 hingegen in der von Lippold von Steinberg gestifteten Kapelle der Dompatrone zu verorten.28 Die Gesangs- und Gebetstexte deuten nun aber in genau die andere Richtung. Die Antiphon von Station Nr. 14 listet die Dompatrone einzeln auf und betont, dass deren Patronat verehrt werde („patronatum simul veneramur“), ebenso das Kollektengebet, das zudem noch alle anderen nicht genannten Patrone berücksichtigt (vgl. „ac omnium aliorum patronorum nostrorum“) und deren Patrozinium (vgl. „patrocinio“) hervorhebt:
25 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1397 Helmst., fol. 15v. – Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 24. 26 Vgl. hierzu Jörg Bölling 2023 (wie Anm. 7), bei Anm. 142–145, zur liturgischen Nutzung des Godehard-Chors im Rahmen von Prozessionen ebd., Anm. 163 f. und 104 f. In diesem Sinne deutet den Begriff „chorus“ auch ohne Verweise auf den – gleichermaßen noch nicht edierten – Liber Ordinarius bereits Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 24, Anm. cxxxvii. 27 Dies betont, mit Verweis auf ältere Literatur, bereits Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 9 mit Anm. 17. 28 Vgl. bereits Bölling 2019 (wie Anm. 1), S. 63 mit Anm. 23 (zum Altar „Aller Heiligen“) und S. 64 mit Anm. 25 (zu Lippolds Stiftung von Altar und Kapelle „aller Patrone“).
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[Station 14] „AD ALTARE OMNIUM PATRONORUM ANTIPHONA Matris alme Christi, beatorum Petri Pauli coapostolorum, martirum, virginum [fol. 7r] confessorum, patronatum simul veneramur. Christe, dona nobis, te precamur, ut illorum glorie iungamur. VERSICULUS Letamini in domino … COLLECTA Deus, qui presentem ecclesiam beate Marie virginis et sanctorum apostolorum Petri et Pauli ac omnium aliorum patronorum nostrorum patrocinio decorasti, da nobis, quesumus, ut, quorum memoriam sub una commemoratione veneramur, eorum intercessione valida contra hostes visibiles protegi et dignis ipsorum meritis peccatorum veniam et vitam eternam mereamur per dominum.“29 Demgegenüber ist bei Station 31 in der Antiphon von allen Heiligen („omnes sancti“) die Rede, in der Kollekte sogar wörtlich von „aller Heiligen“ („omnium sanctorum“), der auch im Deutschen so üblichen Festbezeichnung von „Allerheiligen“: [Station 31] „AD ALTARE OMNIUM PATRONORUM Laudem dicite Deo nostro, omnes sancti eius, et, qui timetis Deum, pusilli et magni, quoniam regnavit dominus Deus noster omnipotens, gaudeamus et exultemus et demus gloriam Deo. VERSICULUS Iusti autem in perpetuum … COLLECTA Infirmitatem nostram, quesumus, domine, propicius respice et mala omnia, que iuste meremur, omnium sanctorum tuorum intercessione placatus averte per dominum.“30 Dieser Befund lässt zum einen darauf schließen, dass es sich um zwei inhaltlich verschiedene Stationen handelt, die in dieser Konstellation weniger auf einen einzigen als vielmehr zwei unterschiedliche Altäre hindeuten. Geht man also von zwei verschiedenen Altären aus, so lässt sich zum anderen aus deren jeweiligen Gebetstexten folgender Schluss ziehen: Zumindest der inneren Logik des Liber precum nach bildete wohl nicht der Altar mit der Nr. 14 einen Allerheiligenaltar, wie die spätere Nutzung eines dortigen Altars bis ins 20. Jahrhundert vermuten lassen
29 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 1397 Helmst., fol. 6v/7r. – Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 17. 30 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 1397 Helmst., fol. 14v. – Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 23.
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könnte,31 sondern der Altar mit der Nr. 31; umgekehrt diente dieser dann nicht den Dompatronen, sondern allen Heiligen, sodass die Steinbergkapelle – zumindest im Liber precum – nicht als Kapelle der Dompatrone, sondern als Allerheiligenkapelle aufgefasst wurde. Die Dompatrone wären – ihrer regelmäßigen liturgischen Funktion und bleibenden Bedeutung in heiliger Messe und Stundengebet nach sinnvollerweise – unmittelbar vor dem Hochchor samt Hochaltar und vor der Krypta mit dem Godehard-Grab verehrt worden. Die der Kirche vorgelagerte Kapelle hingegen hätte die passende Akustik für die sich an alle Heiligen richtenden Gesänge gehabt, wie sie später Komponisten wie Hans Leo Hassler (1564–1612) so eindrucksvoll mehrstimmig vertonen sollten.32 In allen drei Fällen, den Stationen 2, 3 und 14/31, spielten entweder Gebete, Gesänge oder beides eine zentrale Rolle. Zu diesen Texten soll nun der Liber Ordinarius vergleichend herangezogen werden, um die jeweilige mögliche lokale Wirkung der Gesänge und Gebete in der Kathedrale vor dem Hintergrund von deren sonstiger Verwendung in der Hildesheimer Domliturgie zu erörtern.
Mitklingende Vertonungen. Gesänge des Liber precum im Liber Ordinarius
Beleuchtet man den Gesang des ersten betonten Patroziniums der Heiligen Godehard, Epiphanius und Bernward, „Isti sunt viri sancti“ der zweiten Station, nun noch einmal mit Blick auf seine Verwendung im Liber Ordinarius, so fällt auf, dass er mit folgendem Kollektengebet an zahlreichen, insgesamt 27 Stellen vertreten ist, und zwar stets „in statione“, das heißt im Kirchenschiff nach dem Abstieg aus dem Chor und vor der Rückkehr dorthin. Eine solche kleine Prozession wird – im Unterschied zu den größeren, aus dem sonntäglichen Asperges erwachsenen, teilweise den Kirchenraum sogar überschreitenden Umgängen – nach der ersten, einen Sonn- oder besonderen Festtag am Vorabend buchstäblich einläutenden oder nach der den Festtag beschließenden zweiten Vesper unternommen. Termine sind die Osteroktav, Weißer Sonntag (eine Woche nach Ostern), der Vortag vor und der Samstag nach Christi Himmelfahrt, Pfingsten, der Samstag nach Pfingsten, der Dreifaltigkeitssonntag, Fronleichnam, Kreuzauffindung, der Vortag von Kirchweih, der Vortag von Mariä Aufnahme in den Himmel, der Vortag von Mariä 31 Vgl. Bölling 2019 (wie Anm. 1), S. 63 mit Anm. 23. Zur möglichen späteren Transferierung in das Nordparadies siehe ebd. 32 Siehe dazu bereits Bölling 2019 (wie Anm. 1), S. 64 mit Anm. 25.
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Geburt, das Fest des hl. Erasmus, wenn dieses auf einen Sonntag fällt, der Oktavtag von Mariä Geburt und das Fest des Erzengels Michael. Als vierte der insgesamt fünf Vesper-Antiphonen erklingt „Isti sunt viri sancti“ hingegen am Tag der – oben und weiter unten als zweites Beispiel behandelten – Cantianen, an Kosmas und Damian, zur ersten Vesper von Allerheiligen, am Oktavtag von Allerheiligen und an demjenigen von Allerseelen. Zu drei Anlässen ist dieser Gesang die feierliche Antiphon zum Magnificat, zu dem Canticum, dem Gesang Mariens aus dem Lukas-Evangelium, der den liturgischen wie auch musikalischen Höhepunkt einer jeden Vesper markiert: am Oktavtag von Peter und Paul, am Fest des hl. Dionysius und Gefährten und am Vortag von Simon und Judas.33 Ferner dient dieser Gesang an drei Terminen zum Gedenken an die nicht öffentlich gefeierten Heiligen, die man durch Suffragien, besondere Fürbittgebete, zusätzlich berücksichtigte: an Verklärung des Herrn (6. August) nach dem Magnificat und den Suffragien für den hl. Sixtus und Gefährten, am Oktavtag von St. Bartholomäus nach den Suffragien für Sixtus und Sinicius sowie Ägidius (an einem Sonntag auch als zweites Responsorium der dritten Nokturn), schließlich am Fest Kreuzerhöhung für die Heiligen Cornelius und Cyprianus, und zwar nach dem den Gottesdienst beschließenden „Benedicamus Domino“, während der Rückkehr der Prozession zum Hochchor. Im Hildesheimer Liber Ordinarius findet sich dieser Gesang folglich noch häufiger als andernorts und umfasst neben den Aposteln auch zahlreiche andere weibliche wie männliche Heilige. In qualitativer Hinsicht scheint die allgemeine Aufwertung der Heiligen Epiphanius, Bernward und Godehard zu apostelgleichen Gestalten also in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Bekanntheitsgrad der spezifischen Hildesheimer Domliturgie zu stehen. Doch wohl die wenigsten Nutzerinnen und Nutzer des Liber Precum werden die Antiphon „Isti sunt viri sancti“ vorrangig aus dem Liber Ordinarius der Hildesheimer Domkirche gekannt haben. Gleichwohl ergibt sich gerade bei besonderer Kenntnis der in der Hildesheimer Kathedrale üblichen Kirchenmusik ein besonderer Wiedererkennungseffekt, der wiederum – zumindest geistig in den Ohren – eine gewisse gemeinschaftsbildende Feierlichkeit evoziert haben mag.
33 Die im Liber usualis missae et officii (wie Anm. 11), S. 1552f. aufgeführte Verwendung als Magnificat-Antiphon am Festtag der Heiligen Kyrill und Method (7. Juli) ist hingegen nicht vorgesehen. Zur Bedeutung des Magnificat siehe Christiane Wiesenfeldt/Sabine Feinen (Hg.): Maria ‚inter‘ confessiones. Das Magnificat in der frühen Neuzeit (Epitome Musical), Turnhout 2017.
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Zum zweiten genannten Beispiel, dem der Cantianen, fällt der Befund komplett negativ aus: Weder die Antiphon noch das Kollektengebet findet sich im Liber Ordinarius des Domes – nicht einmal für Feste von Evangelisten, wo es am ehesten zu erwarten gewesen wäre. Wie bereits erwähnt, erklingt das beliebte „Isti sunt viri sancti“ im Hildesheimer Dom selbst an diesem Tag. Der Liber precum ging hier also buchstäblich in jeder Hinsicht und Hörgewohnheit eigene Wege. Bemerkenswert ist wiederum das dritte Beispiel der beiden Stationen zu den Dompatronen und allen Heiligen. Die Antiphon von Station 14, am Altar aller Patrone („Ad altare omnium patronorum“), erscheint im Liber Ordinarius nicht.34 Der folgende Versikel „Letamini in domino“ hingegen ist im Liber Ordinarius so oft vorgesehen, dass er beim Lesen wie ein Freude verströmender, jedoch letztlich unspezifischer „Evergreen“ erschienen und geistig in den Ohren erklungen sein mag. Das Kollektengebet dieser Station hingegen ist so spezifisch auf die Hildesheimer Dompatrone zugeschnitten, dass sich dafür gerade keine Entsprechungen in anderen einschlägigen Sakramentaren und Messbüchern finden lassen: „COLLECTA Deus, qui presentem ecclesiam beate Marie virginis et sanctorum apostolorum Petri et Pauli ac omnium aliorum patronorum nostrorum patrocinio decorasti, da nobis, quesumus, ut, quorum memoriam sub una commemoratione veneramur, eorum intercessione valida contra hostes visibiles protegi et dignis ipsorum meritis peccatorum veniam et vitam eternam mereamur per dominum.“35 Umso bemerkenswerter und letztlich folgerichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich eben diese Kollekte, „Deus, qui presentem ecclesiam“, im Liber Ordinarius der Hildesheimer Hohen Domkirche findet, und zwar passenderweise „am Fest der Dompatrone, das in jedem einzelnen Jahr am Sonntag Jubilate gefeiert wird“ („In festo patronorum ecclesie hildensemensis, quod annis singulis in dominica Jubilate peragetur“), also am vierten Sonntag der Osterzeit, und zwar zunächst in der ersten Vesper, dann noch einmal in der Festmesse. Bei Station 31 zeigt sich sogar eine besondere Form der Intertextualität: Alle drei Gebete, Antiphon, Versikel und Collecta, finden sich – zumindest in Teilen – im Liber Ordinarius.
34 Vgl. oben Anm. 29. 35 Vgl. oben Anm. 29. Bereits Wiechmann 2015 (wie Anm. 1) schreibt in diesem Sinne (S. 32, zu lviii): „Dieses Kollektengebet wendet sich speziell an die Patrone des Hildesheimer Domes, Maria, Petrus und Paulus. Da es auf diesen Kontext zugeschnitten ist, finden sich auch keine Entsprechungen.“
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Die – wie schon erwähnt – auch sonst vielfach vertonten Worte „Laudem dicite“ erscheinen im Liber Ordinarius bei verschiedenen Heiligenfesten. Auch der Versikel ist häufiger zu finden. Das Kollektengebet schließlich wird gern bei großen Prozessionen verwendet.36 Inwieweit all diese Gebete und Gesänge dazu dienten, die Liturgie und Frömmigkeitspraxis der Hildesheimer Kathedrale in der Heininger Stiftskirche, bestimmten dortigen Konventsräumen oder auch nur einzelnen Zellen geistig und geistlich zu vergegenwärtigen, im Einzelfall vielleicht sogar tatsächlich zu übernehmen, bleibt ein Forschungsdesiderat, bei dem zusätzlich der Heininger Liber Ordinarius vergleichend zu untersuchen ist. Die besondere Bedeutung weiblicher geistlicher Ämter, in Jurisdiktionsfragen auf Augenhöhe mit dem Bischofsamt, ist auch in dieser Hinsicht neu zu durchleuchten.37
Fazit
Einige Heilige wurden durch Gebete betont, andere durch Gesänge, manche auch durch beides. Godehard, Epiphanius und Bernward erhalten im Liber precum zum einen durch ihre einmalige Kombination in Form zweier sich um Godehard als gemeinsames Bindeglied gruppierender Zweiergruppen eine Betonung, zum anderen aber auch durch ihre sonst nur an Apostelfesten übliche Antiphon. Die Cantianen (Cantius, Cantianus und Cantianilla), die in Hildesheim neben dem 31. Mai als ihrem allgemeinen Festtag mit Blick auf die dortige Ankunft ihrer Reliquien auch am 1. April geehrt werden, erscheinen durch ein Gebet hervorgehoben, das für Evangelisten üblich ist. Allerdings korrespondiert die geringere Prominenz gegenüber den Aposteln mit einer geringeren Eindeutigkeit des liturgischen Bezugs, sodass es hier gegenüber den Hauptpatronen an – vielleicht gezielt so intendierter – Konturenschärfe fehlt. An den beiden Stationen für die Dompatrone sind 36 Vgl. dazu ausführlich Bölling 2023 (wie Anm. 7). 37 Zur Frage von – teilweise erst in jüngster Vergangenheit aufgegebenen jurisdiktionellen und liturgisch-performativen – Gemeinsamkeiten und – sakramententheologisch begründeten – Unterschieden zwischen Äbtissinnen- und Bischofsweihe siehe Sarah Röttger: Die Äbtissinnen und ihre Weihe. Stütze in der Diskussion um die Ordination von Frauen?, in: Frauen in kirchlichen Ämtern. Reformbewegungen in der Ökumene, hg. v. Margit Eckholt u.a., Freiburg im Breisgau/Göttingen 2018, S. 148–159. Siehe auch die Veröffentlichung ihrer einschlägigen Diss. theol.: Eine unerträgliche Weihe von Frauen? Zur Geschichte der Äbtissinnenweihe, Stuttgart 2022.
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Gesang und Gebet gleichermaßen von Bedeutung, was wiederum mit der Frage verbunden ist, ob der Liber precum vor oder nach 1412 entstanden ist und ob die beiden Stationen für ein und denselben oder aber für zwei verschiedene Altäre bestimmt sind. Setzt man einen zweiten Altarstandort voraus, so handelt es sich um den Kapellneubau im 1412 von Lippold von Steinberg gestifteten Nordparadies. In einem solchen Fall beherbergt allerdings den Gesängen und Gebeten zufolge der Altar im Kirchenschiff das Patrozinium der Dompatrone und die Steinbergkapelle dasjenige aller Heiligen – nicht umgekehrt, wie es in der späteren Tradition üblich werden sollte. Einige Gesänge des Liber precum mögen melodisch nach ihrer Vorlage im Liber Ordinarius mitgeklungen haben – die entsprechenden Vorkenntnisse vorausgesetzt. Im Gesang „Isti sunt viri sancti“ der Station der Heiligen Godehard, Epiphanius und Bernward klingen schier unüberschaubar zahlreiche im Liber Ordinarius bezeugte Kollektengebete sowie einige Antiphonen der Domliturgie mit an. Die Gebete lassen sich in zwei Kategorien aufteilen: einerseits in die im feierlichen Zentrum einer liturgischen Handlung stehenden Kollekten, andererseits in die Suffragien, die eine heilige Person lediglich zusätzlich – womöglich oft auch nur still gebetet – in Erinnerung rufen. Als feierlich vollzogene Kollektengebete erinnern diese Texte an kleine Prozessionen am Vorabend oder Abend bestimmter Festtage, bei denen sie jeweils zwischen dem Abstieg vom und dem Aufstieg zum Hochchor inmitten der Kathedralkirche zu hören sind. Als Suffragien, Fürbittgebete, hingegen sind diese Worte Heiligen gewidmet, die im liturgischen Kalender zwar verzeichnet sind, aber wegen einer terminlich kollidierenden anderen heiligen Person keinen eigenen öffentlichen Festtag haben. Die Gesänge der Antiphonen hingegen beleuchten den Festcharakter verschiedener Heiligenfeste als Kehrvers des vierten, also vorletzten der fünf Psalmen oder zur Rahmung des feierlichsten Moments der Vesper: des Magnificats, des neutestamentlichen Canticums der Gottesmutter Maria. Bei den beiden Stationen „Aller Dompatrone“, im ersten Fall mit Betonung des Dompatroziniums, im zweiten Fall hingegen mit Fokus auf allen Heiligen als Personen und Allerheiligen als Termin, ist das Kollektengebet der Dompatrone eine Hildesheimer Besonderheit, die sich auch im Liber Ordinarius als entsprechende Oration am Festtag der Dompatrone findet. Gesänge und Gebete des Allerheiligenpatroziniums wiederum finden sich an vielen verschiedenen Stellen des Liber Ordinarius – also ganz im Sinne einer buchstäblichen Anrufung aller Heiligen. Paradoxerweise verwischt hier eine Konkretisierung der Gebete und Gesänge auf der konzisen Grundlage des Liber Ordinairus des Domes – ungeachtet aller möglichen
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Wiedererkennungseffekte – die Grenzen eher, als dass dadurch schärfere Konturen hätten gewonnen werden können. Dies zeigt – abgesehen vom Kollektgebet für die Dompatrone – einmal mehr die große Unabhängigkeit des Liber precum vom Liber Ordinarius des Domes. Umso größere Bedeutung hatte der Liber precum offenbar, zumindest funktional betrachtet, für die Besitzerin dieses so unscheinbaren, gegenüber dem Heininger Liber Ordinarius aber deutlich schmuckvolleren und schöner geschriebenen Bändchens im Chorfrauenstift Heiningen selbst, wohl auch mit Blick auf weitere dortige Leserinnen. Anders als in den vielen Prozessionsordnungen und liturgisch-performativen Feiern hatte jede den Liber precum eigenständig zur Hand nehmende Frau im Stift Heiningen die Möglichkeit, selbst über die Verwendung der vorliegenden Texte zu entscheiden – geistig wie geistlich, durch persönlichen Mitvollzug oder auch still erinnerten Klang, jedenfalls gleichermaßen durch intertextuell vielfach verwobene und liturgisch mannigfaltig bedeutsame Gebete und Gesänge.
Die Windesheimer Reform im Frauenstift Fischbeck und ihre Auswirkungen auf das Musikleben (1450–1496) Achim Bonk
Einleitung: Stand der Forschung, Ausgangslage und Ziel
Das niedersächsische Stift Fischbeck ist idyllisch an der oberen Weser zwischen Hameln und Hessisch Oldendorf gelegen.1 Seine Gründung erfolgte im Jahr 955 im ehemaligen Bistum Minden, zunächst als congregatio sanctimonialium, also als Damenstift, das keiner speziellen Ordensregel folgte. Im hohen Mittelalter wurde es um 1260 zu einem Augustiner-Chorfrauenkloster umgewandelt.2 Zwei Jahrhunderte darauf erfolgte dann die sogenannte Windesheimer Reform,3 von der hier gehandelt werden soll. Ihre Grundlage war eine von den Niederlanden ausgehende religiöse Erweckungsbewegung, die von ihren Anhängern selbst als ,Devotio moderna‘, also etwa als erneuerte, zeitgemäße Frömmigkeit bezeichnet wurde. Bereits von ihren Anfängen im späten Mittelalter standen die Devotio moderna und die später auf ihrer Grundlage durchgeführten Windesheimer Reformen im 1
Dieser Aufsatz ist die um Anmerkungen ergänzte und erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser am 22. Februar 2021 im gemeinsamen Forschungskolloquium des Instituts für Geschichte und des Instituts für Katholische Theologie an der Universität Hildesheim gehalten hat. 2 Einen kenntnisreichen Überblick über die gesamte Stiftsgeschichte gibt Renate Oldermann, Stift Fischbeck. Eine geistliche Frauengemeinschaft in mehr als tausendjähriger Kontinuität (Schaumburger Studien, Bd. 64), Bielefeld 2005. 3 Vgl. hierzu etwa Wilhelm Kohl: Die Windesheimer Kongregation, in: Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, hg. v. Kaspar Elm (Berliner Historische Studien 14. Ordensstudien, Bd. 6), Berlin 1989, S. 83–106. – Kaspar Elm: Art.: Windesheim, Windesheimer Kongregation, in: Lexikon für Theologie und Kirche 10, Nachdr. der 3. Aufl. 1993–2001, Freiburg/Basel/Wien 2009, Sp. 1224–1225. – Jörg Bölling: Reform vor der Reformation. Augustiner-Chorherrenstiftsgründungen an Marienwallfahrtsorten durch die Windesheimer Kongregation (Vita Regularis. Abhandlungen, Bd. 61), Berlin 2014, S. 7–9.
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Fokus des historischen Interesses. Schon die Zeitgenossen bemühten sich um eine Erklärung für den beispiellosen Erfolg einer Bewegung,4 die sich von ihrem niederländischen Ursprungsgebiet schnell über weite Teile Nordwesteuropas ausbreitete, dabei über Westfalen auch Niedersachsen erreichte und auf ihrem Höhepunkt im 15. Jahrhundert nach Berechnungen des Archivars und Historikers Wilhelm Kohl etwa 30.000 bis 40.000 Personen umfasste.5 Seinen weitreichenden Einfluss verdankte Windesheim einerseits der Akzeptanz durch die Konzile von Konstanz und Basel, andererseits auch, „weil es sich vor allem durch eine neue Spiritualität auszeichnet[e] und durch Schriften einzelner Brüder weithin gewirkt hat. Das Windesheimer Kapitel kann ‚deshalb als die profilierteste Reformbewegung Mitteleuropas im 15. Jahrhundert bezeichnet werden.‘“6 Zwar ist die Literatur zur Windesheimer Reform und zu ihrem religiösen Fundament der Devotio moderna auf eine inzwischen unüberschaubare Zahl angewachsen, die regionale Forschungslage ist dabei in Bezug auf Frauenklöster jedoch durchaus unterschiedlich gewichtet.7 Es ist noch nicht lange, dass Frauenklöster 4
Vgl. Nikolaus Staubach: Zwischen partikularer Identität und universalem Anspruch. Einheit und Vielfalt der Devotio moderna, in: Die Devotio Moderna. Sozialer und kultureller Transfer (1350–1580). Bd. 1: Frömmigkeit, Unterricht und Moral. Einheit und Vielfalt der Devotio Moderna an den Schnittstellen von Kirche und Gesellschaft, vor allem der deutschniederländischen Grenzregion, hg. v. Dick E. H. de Boer/Iris Kwiatkowski, Münster 2013, S. 29–56, hier S. 30. 5 Vgl. Wilhelm Kohl: Die devotio moderna in Westfalen, in: Monastisches Westfalen. Klöster und Stifte 800–1800. Ausst.-Kat. Land Nordrhein-Westfalen, Münster, hg. v. Géza Jászai, Münster 1982, S. 203–207, hier S. 204. – Einen Überblick über diese Erneuerungsbewegung bieten etwa Kaspar Elm: Die Devotio Moderna im Weserraum, in: Kunst und Kultur im Weserraum 800–1600, Ausst.-Kat. Nordrhein-Westfalen, Corvey 1966, Bd. 1, Münster 21966, S. 251–256. – Kaspar Elm: Die ,Devotio moderna‘ und die neue Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: Die ‚Neue Frömmigkeit‘ in Europa im Spätmittelalter, hg. v. Marek Derwich und Martial Staub (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 205), Göttingen 2004, S. 15–29. – Erwin Iserloh: Die Devotio moderna, in: Handbuch der Kirchengeschichte, hg. v. Hubert Jedin, Freiburg 1973, Bd. 3, 2, S. 516–538. 6 Peter Ochsenbein: Spuren der Devotio moderna im spätmittelalterlichen Kloster St. Gallen, in: Peter Ochsenbein: Cultura Sangallensis. Gesammelte Aufsätze zu seinem 60. Geburtstag, hg. v. Ernst Tremp, St. Gallen 2000, S. 206–230, hier S. 208. Das Zitat im Zitat stammt aus: Beat Matthias v. Scarpatetti: Die Kirche und das Augustiner-Chorherrenstift St. Leonhard in Basel (11./12. Jh.–1525). Ein Beitrag zur Geschichte der Stadt Basel und der späten Devotio Moderna (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 131), Basel 1974, S. 212. 7 Vgl. etwa die Ergebnisse der Tagung: Die Devotio Moderna. Sozialer und kultureller Transfer (1350–1580), Bd. 1 (wie Anm. 4) – Bd. 2: Die räumliche und geistige Ausstrahlung der
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überhaupt das Interesse der Forschung auf sich ziehen.8 Was nun den nordwestdeutschen Raum betrifft,9 sticht insbesondere die seit den beginnenden 2000er Jahren forcierte Untersuchung der sechs Lüneburger Frauenklöster heraus10 – vor allem seit der Entdeckung der Lüner Briefbücher durch den Archivar Wolfgang Brandis in den 1990er Jahren11 und dann wieder 2007 nach Auffinden von knapp 3000 mittelalterlichen Notationen und Liedern, auch aus der Zeit der spätmittelalterlichen Devotio moderna, in überlieferten Musikhandschriften der Klöster, die als Resultat inzwischen auch zu Gehör gebracht werden konnten.12 Devotio Moderna – Zur Dynamik ihres Gedankenguts, hg. v. Iris Kwiatkowski/Jörg Engelbrecht, Münster 2013. 8 Vorreiter und Anstoßgeber waren seit Beginn der 2000er Jahre vor allem die ‚Essener Forschungen zum Frauenstift‘, hg. v. den verschiedenen Mitgliedern des Essener Arbeitskreises zur Frauenstiftsforschung, Essen 2004 f. – Vgl. auch Caroline Walker Bynum: Formen weiblicher Frömmigkeit im späteren Mittelalter, in: Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern. Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, in Kooperation mit dem Ruhrlandmuseum Essen, bearb. v. Jeffrey H. Hamburger/Robert Suckale u.a., München 2005, S. 118–129. – Heike Uffmann: Wie in einem Rosengarten. Monastische Reformen des späten Mittelalters in den Vorstellungen von Klosterfrauen (Religion in der Geschichte, Bd. 14), Bielefeld 2008 – Eckart Conrad Lutz: Arbeiten an der Identität. Zur Medialität der ‚cura monialium‘ im Kompendium des Rektors eines reformierten Chorfrauenstifts. Mit Edition und Abbildung einer Windesheimer ‚Forma investiendi sanctimonialium‘ und ihrer Notationen (Scrinium Friburgense, Bd. 27), Berlin/New York 2010. 9 Zur Definition des Begriffes ‚Nordwestdeutschland‘ im späten Mittelalter vgl. Edeltraud Klueting: Damenstifte im nordwestdeutschen Raum am Vorabend der Reformation, in: Studien zum Kanonissenstift, hg. v. Irene Crusius (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 167. Studien zur Germania Sacra, Bd. 24), Göttingen 2001, S. 317–348, hier S. 319 f. 10 Ebstorf, Isenhagen, Lüne, Medingen, Walsrode und Wienhausen; zu ihrer Geschichte siehe Ida-Christine Riggert: Die Lüneburger Frauenklöster (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Bd. 37. Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter, Bd. 19), Hannover 1996. 11 Einen Überblick bietet der Tagungsband: Weltbild und Lebenswirklichkeit in den Lüneburger Klöstern. IX. Ebstorfer Kolloquium vom 23. bis 26. März 2011, hg. v. Wolfgang Brandis/ Hans-Walter Stork. – Erschlossen und ediert werden die Forschungsergebnisse jetzt präsentiert in einem für Februar 2023 angekündigten Sammelband: Netzwerke der Nonnen. Kritische Edition der Briefsammlung der Lüner Benediktinerinnen (Hs. 15, ca. 1460–1555), hg. v. Eva Schlotheuber/Henrike Lähnemann (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation/ Studies in the Late Middle Ages, Humanism, and the Reformation, noch ohne Bandangabe), Tübingen [2023]. 12 In den Archiven der Frauenklöster entdeckten die Musikprofessorin Ulrike Volkhardt und die Musikwissenschaftlerin Ulrike Hascher-Burger im Zuge ihres Projekts zur Erschließung der Musik der mittelalterlichen Musik norddeutscher Klöster 2007 zahlreiche
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Derartige spektakuläre Funde können die Klöster der ehemaligen Mindener Diözese nicht vorweisen. Dies ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass zu den zahlreichen, in der ehemaligen Diözese Minden gelegenen Stiften und Klöstern – etwa Barsinghausen, Mariensee, Marienwerder, Möllenbeck, Wennigsen, Wülfinghausen, um nur einige zu nennen – außer einzelnen Kapiteln in Monografien13 oder Sammelbänden14 bislang keinerlei Spezialuntersuchungen zu dieser Geschichtsepoche vorliegen. Auch in den bisher zur Fischbecker Geschichte erschienenen Publikationen fand dieses Ereignis bislang nur wenig Aufmerksamkeit.15 Unter dem Eindruck des fundamentalen Wandels der Reformation hielt und hält man noch heute diese Reform für eine eher unbedeutende Episode in der bereits über 1025 Jahre andauernden Geschichte des Stifts, für eine Reform unter anderen. Diese Wahrnehmung besteht jedoch völlig zu Unrecht, wie im Folgenden zu erweisen sein wird.
bislang unbekannte Musikalien, teilweise mit Hinweisen zur Aufführungspraxis (vgl. http:// www.ulrikevolkhardt.de/d/klostermusik.html [13.11.2022]), die sie nach einer ausführlichen Dokumentation – vgl. hierzu die Buchveröffentlichung: Ulrike Hascher-Burger: Verborgene Klänge. Inventar der handschriftlich überlieferten Musik aus den Lüneburger Frauenklöstern bis ca. 1550. Mit einer Darstellung der Musik-Ikonografie von Ulrike Volkhardt, Hildesheim 2008, und die dazu erschienene Datenbank „Musica Devota“: Dr. U. Hascher-Burger (Utrecht University) (2019): Musica devota – Music in Manuscripts and Incunabula from the ambience of the Devotio Moderna – version January 2019. DANS, https://doi.org/10.17026/dans-xxz-6gsy [13.11.2022] – gemeinsam mit ihrem ‚Ensemble devotio moderna‘ auf 6 CDs einspielte, vgl. http://www.ulrikevolkhardt.de/d/cdspublikationen.html [13.11.2022]. Anm: Für die Hinweise auf die Internet-Speicherorte bin ich Frau Prof. Ulrike Volkhardt zu Dank verpflichtet. 13 Nur zwei Beispiele: Manfred Hamann: Zur Geschichte der Calenberger Klöster, in: Die Calenberger Klöster, hg. v. Manfred Hamann/Erik Ederberg, Hannover 1977, S. 9–58, hier S. 26–36. – Nicolaus Carl Heutger: Das Stift Möllenbeck an der Weser. Kanonissenstift, Windesheimer Chorherrenstift, Evangelisches Stift, Hildesheim 21987, S. 72–78. 14 Vgl. z.B. Herbert Pötter: Der Einfluss der devotio moderna auf den Kirchenbau und die Reformierung der Klöster in Norddeutschland, in: Mittelalter im Weserraum, Red. Dagmar Köhler, hg. v. Stift Fischbeck (Fischbecker Schriftenreihe. Veröffentlichungen aus dem Stift Fischbeck, Bd. 1), Holzminden 2003, S. 35–55. 15 Vgl. etwa Marie-Luise Helmbold: Geschichte des Stifts Fischbeck bei der Weser. Nach Urkunden des Stiftsarchivs und kritischer Benutzung anderer Quellen, Göttingen 1982, S. 33–39. – Am ausführlichsten aktuell Oldermann 2005 (wie Anm. 2), S. 64–82.
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Es beginnt schon mit der ausgesprochen vielfältigen Überlieferung aus dem Stift selbst: Rund 200 Urkunden,16 ein Memorien-17 sowie ein vollständiges Kapitelsbuch18 lassen sich der Reformperiode zuordnen, ebenso wie noch heute in Kirche und Kloster zu bewundernde bauliche und künstlerische Artefakte, wie z.B. Skulpturen des leidenden Christus oder der Apostel Petrus und Paulus.19 Erweiternd tritt noch die außerstiftische schriftliche Überlieferung hinzu, etwa der Bericht des Windesheimer Reformers und Historiografen Johannes Busch, auf den später noch zurückzukommen sein wird.20 Zusammengenommen sprechen alle diese Tradierungsstränge eine deutlich andere Sprache als die der Fischbecker Historiografie, in der bisher unbemerkt geblieben ist, dass der Reformzeitraum die am besten dokumentierte Periode des gesamten Mittelalters ist: Allein diese Tatsache deutet schon an, dass es sich bei dieser Reform eben nicht nur um ein wenig bedeutsames Ereignis, sondern um einen gravierenden Umbruch im Stiftsleben gehandelt hat; wie weitreichend dieser war, wird anhand der folgenden Ausführungen dargelegt werden. Im Ergebnis 16 UB Fischbeck – Urkundenbuch des Stifts Fischbeck, bearb. v. Heinrich Lathwesen/Brigitte Poschmann. Teil 1: 955–1470 (Schaumburger Studien, Bd. 39), Rinteln 1978; Teil 2: 1471–1559 (Schaumburger Studien, Bd. 40), Rinteln 1979. 17 Stift Fischbeck: Hs IVa, im Folgenden als FMb1 bezeichnet; es bildet die Vorlage für die in das Kapitelsbuch übernommene Version, im Folgenden: FMb2. Dieser Teil des Kapitelsbuches wurde von mir in einem Aufsatz separat publiziert: Achim Bonk: Das Fischbecker Memorienbuch von 1509, in: Concilium medii aevi (CMA) 7 (2004), S. 125–192, https:// cma.gbv.de/dr,cma,007,2004,a,06.pdf [25.07.2018]. – Das Original in: Kapitelsbuch des Stifts Fischbeck, Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek, Ms I, 190, fol. 139r–160r, Digitalisat unter: http://digitale-sammlungen.gwlb.de/resolve?id=1757010858 [06.10.2020]. 18 Ms I, 190 (wie Anm. 17). Diese handschriftlich überlieferten Texte des Memorien- und des Kapitelsbuches sind – obgleich bereits länger bekannt – sowohl von der Fischbecker wie auch der Niedersächsischen Landes- und Kirchengeschichtsforschung bislang unbeachtet geblieben. Siehe nun dazu Achim Bonk: Das Frauenstift Fischbeck und die Windesheimer Reform. Untersuchungen zum Kapitelsbuch Ms I, 190 der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover. Mit Editionsteil (Kirchengeschichtliche Quellen und Forschungen, Bd. 2), Hildesheim 2023. 19 Abbildungen bei Dagmar Köhler/Renate Oldermann: Evangelisches Damenstift Fischbeck (DKV-Kunstführer 211/3), München/Berlin 8o. J., S. 36. – Stefan W. Römmelt: Stift Fischbeck. Christliches Frauenleben in Geschichte und Gegenwart (Großer DKV-Kunstführer), Berlin/München 2012, S. 12, 56. 20 Vgl. Johannes Busch: Des Augustiner-Probstes Johannes Busch Chronicon Windeshemense und Liber de reformatione monasteriorum, hg. v. der Historischen Commission der Provinz Sachsen, bearb. v. Karl Grube (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Bd. 19), Halle 1886, http://archive.org/stream/chroniconwindes00buscgoog#page/ n430/mode/2up [30.06.2021], hier Kap. 37, S. 640–643.
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wird sich zeigen, dass die bisher verkannte Tragweite dieser Reform für die Sanctimonialen des Stifts gänzlich neu bewertet werden muss. Die günstige Quellenlage ermöglicht es nun, nicht nur die nach außen sichtbare Seite der Reform zu verfolgen, sondern anhand einer systematischen Analyse des Kapitelsbuches auch ihren „liturgischen Kern“ zu erfassen.
‚Kapitelsbuch‘ – Begriff und Funktion
Unter dem Begriff ‚Kapitelsbuch‘ ist ein Sammelband zu verstehen, der Lesungstexte für die tägliche Versammlung des gesamten Konvents am Morgen nach der Prim (nach sechs Uhr) bereithielt: ein Martyrolog, in dem nach kalendarischem Prinzip die im Stift bekannten Heiligen eingetragen waren; ein Evangelistar, das dem Jahreslauf folgend sowohl zu den beweglichen Festen wie Ostern, Pfingsten und Adventszeit als auch zu den feststehenden Heiligenfesten Lesungstexte aus dem Leben Jesu bot; einen Kommentar zur Augustinusregel, aus dem jeweils eine Passage vorgetragen wurde; den Abschluss bildet ein Memorienbuch, in dem die Namen der Verstorbenen aufgezeichnet waren, derer am betreffenden Tag gedacht werden sollte. Die genannten, alle im Zusammenhang mit der Windesheimer Reform entstandenen Bestandteile wurden zunächst einzeln angefertigt und Anfang des 16. Jahrhunderts zu dem heute vorliegenden Codex zusammengebunden. Es ist bekannt, dass die Windesheimer in allen von ihnen reformierten Konventen unter dem Aspekt „Einheitliches schafft Einheit“21 eine weitestgehende Normierung (uniformitas) für alle Bereiche des klösterlichen Lebens anstrebten. Daher müssten sich, so mein Ausgangspunkt, über die äußeren Spuren hinaus auch in den liturgischen Schriften Hinweise auf eine normierende Einflussnahme finden lassen. Eine solche Untersuchung ist bisher – soweit erkennbar – nur von dem niederländischen Philologen und Kodikologen Eef A. Overgaauw an 49 Martyro-
21 Klaus Schreiner: Verschriftlichung als Faktor monastischer Reform. Funktionen von Schriftlichkeit im Ordenswesen des hohen und späten Mittelalters, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. v. Hagen Keller/ Klaus Grubmüller/Nikolaus Staubach (Akten des Internationalen Kolloquiums 17.–19. Mai 1989), München 1992, S. 37–75; Wiederabdruck in: Klaus Schreiner: Gemeinsam leben. Spiritualität, Lebens- und Verfassungsformen klösterlicher Gemeinschaften in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters (Vita Regularis. Abhandlungen, Bd. 53), Münster 2013, S. 453– 507, hier S. 74.
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log-Handschriften der Diözesen Utrecht und Lüttich im Jahr 1993 durchgeführt worden.22 Die Untersuchung und Auswertung des Fischbecker Kapitelsbuches gliedert sich wie folgt: Grundlagen: „Monasteria semper renovanda“23 – Von der Notwendigkeit einer Reform in Fischbeck; Reform: „Memoria pristinae perfectionis“24 – Rückkehr zu neuen Idealen, „Zelum magnum pro sancta reformatione“25 – Äbtissin Armgard von Reden und der Reformer Johannes Busch; Liturgie: „Humiliate capita vestra Deo“26 – Das Kapitelsbuch und die neuen Formen der Liturgie, „Cum summa diligencia laudes Dei reboantes“27 – Musikleben; „Diuturnitas devote reformationis obsequii“ – Die Dauer der Reform; „Finis reformationis ante reformationem“ – Schlussbemerkung.
Grundlagen
„Monasteria semper renovanda“ – Von der Notwendigkeit einer Reform in Fischbeck Voraussetzung für den dauerhaften und ungestörten Dienst an Gott ist – das gilt für jede geistliche Einrichtung – eine gesunde ökonomische Basis. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts konnte hiervon jedoch keine Rede sein: Nicht nur Fischbeck, sondern zahlreiche Klöster im Reich hatten zu dieser Zeit, ausgelöst etwa durch mehrere aufeinanderfolgende Pestwellen oder eine Hungersnot in ganz Mitteleuropa, mit diversen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Für das mit einer 22 Vgl. Eef A. Overgaauw: Martyrologes manuscrits des anciens diocèses d’Utrecht et de Liège. Étude sur le développement et la diffusion du Martyrologe d’Usuard, 2 Bde (Middeleeuwse studies en bronnen, Bd. 30), Hilversum 1993. 23 Die Formulierung ist entlehnt dem Buchtitel von Edeltraud Klueting: Monasteria semper renovanda. Kloster- und Ordensreformen im Mittelalter (Historia profana et ecclesiastica, Bd. 12), Münster 2005. 24 Formulierung aus Nikolaus Staubach: Reform aus der Tradition. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Devotio moderna, in: Erfassen, Bewahren, Verändern (Akten des Internationalen Kolloquiums 8.–10. Juni 1995. Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 76), hg. v. Hagen Keller/Christel Meier/Thomas Scharff, München 1999, S. 171–202, hier S. 173. 25 Busch 1886 (wie Anm. 20), hier S. 642. 26 Rudolph Theodor Maria Van Dijk: De constituties der Windesheimse vrouwenkloosters vóór 1559. Bijdrage tot de institutionelle geschiedenis van het kapittel van Windesheim (Middeleeuwse Studies, Bd. III-1/2), 2 Bde., Nijmegen 1986, hier Bd. 2, S. 782. 27 Busch 1886 (wie Anm. 20), S. 641.
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Grundausstattung von 95 Hufen ohnehin eher ärmliche Fischbecker Stift lassen sich bereits seit der Mitte des 14. Jahrhundert zahlreiche Hinweise auf „not unde kummernis“28 finden, die zusätzlich noch durch die zahlreichen Fehden seiner Vögte, der Grafen von Schaumburg, sowie eine eigene Misswirtschaft verstärkt wurden. Der Niedergang zeigte sich denn auch deutlich sichtbar am Verfall von Kirche, Stiftsgebäude und Backhaus, die aufgrund der fehlenden Mittel über einen langen Zeitraum nicht instandgesetzt werden konnten. Dass diese Situation eine gewisse Vernachlässigung der Observanz und der liturgischen Verpflichtungen nach sich zog, ist wohl verständlich. Unterschiedlich hoher Privatbesitz, getrennte Mahlzeiten und die Unterbringung der Konventualinnen in Einzelzellen hatten zur weitgehenden Auflösung der vorgeschriebenen vita communis geführt; auch die Missachtung der monastischen Disziplin, beispielsweise durch Verletzung des Schweigegebots und der Kleidungsvorschriften, war an der Tagesordnung.
Reform
„Memoria pristinae perfectionis“ – Rückkehr zu neuen Idealen In dieser Zeit, noch bevor von einer offiziellen Reform die Rede sein konnte, muss Fischbeck bereits unter dem Abbatiat der von 1443 bis 1451 amtierenden und späterhin als erste der Reformäbtissinnen im Stift hochverehrten Kunigunde von Möllenbeck mit der eingangs erwähnten Devotio moderna in ersten Kontakt gekommen sein, die auf den Wanderprediger Geert Grote (1340–1384) aus Deventer zurückgeht und die als Ziel die Rückkehr zur idealen devotio antiqua, also zu den Anfängen christlicher Glaubenspraxis, anstrebte.29 Dabei richtete sich Grote in seinen Predigten nicht an eine bestimmte Zielgruppe, sondern an jede einzelne Person gleich welchen Standes, und forderte sie auf, ihre Lebensführung hin zu Armut, Demut und verinnerlichter Frömmigkeit zu ändern. Durch Lektüre der Heiligen Schrift, der Kirchenväter, der Heiligenviten und durch den Einsatz von Meditationstechniken sollte sich jeder Mensch auf einen persönlichen inneren Weg
28 UB Fischbeck 1978 (wie Anm. 16), S. 172 f., Nr. 160. 29 Zur Divergenz von Name und Ziel vgl. etwa Nikolaus Staubach: Von der persönlichen Erfahrung zur Gemeinschaftsliteratur. Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen geistlicher Reformtexte im Spätmittelalter, in: Ons geestelijk erf 68, 1994, S. 200–228, hier S. 200.
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zu Christus begeben, wie dies später etwa im berühmtesten Buch devoter Frömmigkeit, der „Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen, beschrieben wird.30 Zentrale Begriffe devoter Frömmigkeit waren die meditatio, die ständige Vergegenwärtigung von Leben und Wirken Christi, die als Weg hinführen sollte zu einer affectio, einer gefühlsmäßigen Hinwendung zu ihm mit ganzem Herzen, und schließlich zur compassio, dem Mit- und Nachempfinden seines Leidens. Zwei sich daraufhin ausprägende Gemeinschaftsformen trugen Grotes Ideale weiter: die Häuser der Brüder und Schwestern vom Gemeinsamen Leben, die grundsätzlich jedermann offenstanden und in denen nach hauseigenen consuetudines ohne Ablegung von Gelübden und ohne Privatbesitz gelebt wurde, und Klöster, in denen die Regel des heiligen Augustinus befolgt wurde. Das erste dieser Klöster wurde dann namengebend für die sich 1395 konstituierende Windesheimer Kongregation. Die ‚neue Frömmigkeit‘ entsprach offenbar den Bedürfnissen der Gläubigen des 15. Jahrhunderts, sie traf genau den Nerv der Zeit; zehntausende Menschen wandten sich ihr zu;31 die Zahl der Klöster der Kongregation belief sich im Jahr 1530 auf 83 Männer- und 13 Frauenkonvente.32
„Zelum magnum pro sancta reformatione“ – Äbtissin Armgard von Reden und der Reformer Johannes Busch Im Jahr 1435 erhielten die Windesheimer vom Basler Konzil den Auftrag, alle deutschen Augustiner- und Augustinerinnenklöster, unter ihnen seit der erwähn30 Thomas von Kempen: De imitatione Christi. Nachfolge Christi. Und vier andere Schriften. Lateinisch und Deutsch, hg. u. übersetzt v. Friedrich Eichler, München 1966. 31 Vgl. Kohl 1982 (wie Anm. 5), S. 204. 32 Vgl. Elm 2009 (wie Anm. 3), Sp. 1224. – Die geringe Zahl der Frauenklöster erklärt sich aus dem Umstand, dass sich die Kongregation als kontemplativen Orden sah, der sich nicht mit der geistlichen Fürsorge für die Frauen belasten wollte; vgl. Ernest Persoons: Lebensverhältnisse in den Frauenklöstern der Windesheimer Kongregation in Belgien und in den Niederlanden, in: Klösterliche Sachkultur des Spätmittelalters. Internationaler Kongress Krems an der Donau 18. bis 21. September 1978, hg. v. Heinrich Appelt (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl., Sitzungsberichte, Bd. 367. Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs, Bd. 3), Wien 21997, S. 73–111, hier S. 75. – Gerhard Rehm: Die Schwestern vom gemeinsamen Leben im nordwestlichen Deutschland. Untersuchungen zur Geschichte der Devotio moderna und des weiblichen Religiosentums (Berliner Historische Studien, Bd. 11. Ordensstudien, Bd. 5), Berlin 1985, hier S. 44 f. – Auch Fischbeck war nicht in die Kongregation inkorporiert.
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ten Reform des 13. Jahrhunderts auch Fischbeck, zu reformieren. Seit 1451 war der Windesheimer Chorherr und Historiograf Johannes Busch (ca. 1399–1480) mit dieser Aufgabe betraut, der zum Visitator in den Provinzen Thüringen und Sachsen ernannt worden war. Ihm verdanken wir unter anderem ein umfangreiches Quellenwerk über die von ihm durchgeführten Klosterreformen, den bereits erwähnten Liber de reformatione monasteriorum, in dem auch der Ablauf in Fischbeck ausführlich beschrieben wird, womit die geschilderte umfangreiche stiftseigene Überlieferung der Reformzeit noch wesentlich erweitert wird.33 In der Folge traf Johannes Busch wiederholt zu Visitationen im Stift ein, in dem seit 1452 Armgard von Reden als Nachfolgerin der erwähnten Äbtissin von Möllenbeck, von deren konkreten Reformbemühungen nichts bekannt ist, die Hauptverantwortung für die Reform nach den Grundsätzen des Windesheimer Ordinarius übernommen hatte. Armgard hatte zuvor als Nonne im Kloster Wülfinghausen die dort von Busch durchgeführte Reform miterlebt, wusste also genau, wie sie vorzugehen hatte. Busch beschreibt sie als Person, die von glühendem Eifer für die heilige Sache der Reform erfüllt war; und dieses zu erstrebende Idealbild verlor sie auch bis zu ihrem Lebensende nicht aus den Augen. So begründete sie noch 1470, 18 Jahre nach ihrem Amtsantritt, die Inkorporation der Fischbecker Kirche mit den Worten, dies geschehe nicht nur zur Ehre Gottes und des Kirchenpatrons, sondern auch „umme vortganges willen eyner gheystliken wise unser reformacien“.34 Armgard führte nun ihren Konvent nach den Maßgaben der Windesheimer Statuten, die Busch persönlich abgeschrieben und ihr eingehändigt hatte, zu der geforderten vita communis und Regelobservanz. Mit den baulichen Maßnahmen, die nötig waren, konnte sie allerdings in großem Umfang erst vier Jahre nach ihrem Amtsantritt beginnen, nachdem ihr Bruder Clawenberch in seinem Testament dem Stift die enorme Summe von 1200 Rheinischen Gulden zugesprochen hatte, mit Abstand die höchste Schenkung, die das Stift bis dahin erhalten hatte. Verwendet wurde diese Summe vornehmlich zur Wiederherstellung der verfallenen Gebäude von Kirche, Kloster und Backhaus, zur (Wieder-)Errichtung der Klausurmauer und auch für die künstlerische Ausgestaltung des Kircheninneren, z.B. durch die bereits in der Einleitung erwähnte Skulptur des ursprünglich auf dem Damenchor aufgestellten ‚Christus im Elend‘, die ihn mit Dornenkrone und gefesselten Händen darstellt, in der sich also besonders sein Leiden kurz vor seiner Kreuzigung wiederspiegelt, und die zwei geschnitzten Holzfiguren der Apostelfürsten Petrus 33 Vgl. Busch 1886 (wie Anm. 20), S. 640–643. 34 UB Fischbeck 1978 (wie Anm. 16), S. 224 f., Nr. 204.
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und Paulus, die ursprünglich an ihrem Altar in der Krypta aufgestellt waren. Die Bildwerke boten den Jungfrauen, während der Horen und des Gottesdienstes oder auch in ihrer freien Zeit, die Möglichkeit der inneren Versenkung und der Meditation; das Mitleiden mit Christus sollte zu einem echten, persönlichen Gebet führen, den Wunsch nach seiner imitatio im eigenen täglichen Leben in der Gemeinschaft wachhalten und auch Zuversicht geben: Die beiden Apostel hatten ja zunächst auch kein Leben ohne Irrtümer und Sünden gelebt.35 Die auch äußerlich sichtbare Erneuerung und die das tägliche Miteinander jetzt wieder neu prägende streng religiöse forma vivendi ließ das Stift einen gewaltigen Zustrom junger Mädchen erleben – die Zahl der Konventualinnen stieg in dieser Zeit auf 29 Personen an. Damit wurden zwangsläufig weitere Baumaßnahmen nötig: Der Jungfrauenchor wurde vom West- in den Südflügel verlegt, ein neuer Speisesaal im Obergeschoss des Klosters wurde eingerichtet und im Schlafsaal wurden die Einzelzellen entfernt und die Betten entlang der Wände aufgestellt. Für die Schulung der zumeist sehr jungen Mädchen, d.h. das Erlernen der lateinischen Sprache, die ja die Grundlage aller Liturgie, aller empfohlenen Lektüre und des Verständnisses der Gesänge war, ließ Busch 1463 aus dem von ihm bereits einige Jahre zuvor reformierten Hildesheimer Magdalenenkonvent drei Nonnen kommen, die für ein Jahr in Fischbeck blieben und die hierfür notwendige Unterrichtung der Konventualinnen übernahmen. Bei ihren Angehörigen war das Vertrauen in die liturgischen Leistungen der Nonnen, vor allem in ein zukünftig durchgeführtes verlässliches Gebetsgedenken, so weit wiederhergestellt, dass Stiftungen nun wieder reichlicher flossen, die trotz zahlreicher verbleibender wirtschaftlicher Probleme eine geregelte Versorgung der Klosterinsassen zeitweise wieder sicherstellen halfen. Von Fischbeck aus wurden – möglicherweise veranlasst durch Johannes Busch – jetzt auch Delegationen in die ebenfalls zur Mindener Diözese gehörenden Frauenklöster Barsinghausen, Wennigsen und Marienwerder, die sich anfänglich Buschs Visitationen widersetzt hatten, zur Hilfe bei der Umsetzung der Reform entsandt. Allerdings, so scheint es, waren dies gleichzeitig die letzten Beziehungen zu auswärtigen Klöstern, die auch nach Abschluss der Mission nicht weiter
35 Vgl. Rolf Gramatzki: Bemalte Kirchendecken. Wandel in Ornament und Sinngebung, in: Raumkunst in Niedersachsen. Die Farbigkeit historischer Innenräume. Kunstgeschichte und Wohnkultur, hg. v. Rolf-Jürgen Grote/Peter Königfeld, München 1991, S. 157–218, hier S. 183.
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aufrechterhalten wurden. Ich komme darauf noch in dem Kapitel zum Memorienbuch zurück.
Liturgie
„Humiliate capita vestra Deo“ – Das Kapitelsbuch und die neue Form der Liturgie Es waren, so kann man resümieren, deutlich spürbare Veränderungen im Fischbecker Stiftsalltag, die durch die Reform herbeigeführt wurden. Allerdings bedeutete die Windesheimer Klosterreform nicht allein eine Rückführung zu Observanz und vita communis, sie bedingte immer auch Veränderungen in der Liturgie, der geistlichen Existenzgrundlage allen Klosterlebens für den Dienst an Gott, an (auch gesungenen) Gebeten, Liedern sowie an der Messliturgie.36 Dabei strebte die Windesheimer Kongregation, wie bereits mehrfach betont, so wie in allen Bereichen klösterlichen Lebens auch in Bezug auf die schriftliche Vermittlung der spezifisch windesheimisch geprägten Spiritualität nach weitestgehender Einheitlichkeit. Hierfür hatte das Generalkapitel schon 1402 den Beschluss gefasst, alle in der Kongregation gebrauchten liturgischen Texte auf eine einheitliche Grundlage zu stellen.37 Das bedeutete auch für das Fischbecker Stift, dass neue Liturgica benötigt wurden, in den Fischbecker Schriftquellen der Reformzeit repräsentiert wesentlich durch das bereits erwähnte Kapitelsbuch mit seinen Einzeltexten. An dieser Stelle sei noch einmal die wesentliche Bedeutung hervorgehoben, die diesem Codex zukam, aus welchem dem versammelten Konvent täglich im Kapiteloffizium vorgelesen wurde. Inhaltlich diente es der Erfüllung der täglichen Memoria – dem Totengedenken also, zu dem alle Einzelschriften ihren Bezug haben. Im Martyrolog gedachte man der Heiligen des Tages, die Lesung aus dem Augustinus-Kommentar implizierte die Erinnerung an den Schöpfer der Regel, die Abschnitte des Evangelistars bewahrten das Gedächtnis Jesu und seines Heilswe36 Vgl. Riggert 1996 (wie Anm. 10), S. 319. 37 Vgl. Busch 1886 (wie Anm. 20), S. 308–313. – Hans Michael Franke: Der Liber Ordinarius der Regularkanoniker der Windesheimer Kongregation (Studia Vindesemensia, Bd. 2,1), Leverkusen-Opladen, Bonn 1981, S. 12 f., 15 – Johannes G. R. Acquoy: Het klooster te Windesheim en zijn invloed (Herdruk van de uitgave Utrecht 1875–1880. Nederlandse Herdrukken, Bd. 4), 3 Teile in 2 Bdn, Leeuwarden 1984, hier Teil 1, S. 205, 209 A. 1 – Van Dijk 1986 (wie Anm. 26), S. 911. – Nikolaus Staubach: Pragmatische Schriftlichkeit im Bereich der Devotio moderna, in: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 418–461, hier S. 448.
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ges, das Memorienbuch bildete den Abschluss mit dem aktuellen Totengedächtnis.38 Damit verbinden sich im Kapiteloffizium die Lebenden und die Toten aller Räume und aller Zeiten. Das täglich über viele Jahre wiederholte Ritual mit seinen Maßgaben für das regelkonforme Verhalten und seinen Beispielen vorbildhafter Nachfolge Christi übte natürlich auch auf die Persönlichkeits- und Bewusstseinsbildung der Konventualinnen einen nicht geringen Einfluss aus. Auf diese Weise konnte und sollte bei ihnen der Wunsch nach einer eigenen imitatio Christi befördert werden. Die Bedeutung, die dem Kapitelsbuch in dieser Funktion zukam – so ist anzunehmen – dürfte die Windesheimer veranlasst haben, auch hier normierend einzugreifen: Dafür bieten die erhaltenen Fischbecker Texte Hinweise in unterschiedlicher Intensität, wie meine im Folgenden vorgestellte Untersuchung der einzelnen Bestandteile ergab.
„Festivitates sanctorum apostolorum seu martirum“ – Das Martyrologium Das Martyrolog nimmt in dem insgesamt 80 Pergamentblätter in Folio umfassenden Gesamtcodex etwa die Hälfte des Raumes ein. In kalendarischer Form angelegt, enthält es ein Verzeichnis von Heiligen des Christentums, das über die Nennung des bloßen Namens hinaus häufig auch knappe Angaben zu ihrem standund beispielhaften Gottvertrauen macht. Als Verfasser des Martyrologs weist sich der 877 verstorbene Benediktinermönch Usuardus aus der Abtei Saint-Germain-des-Prés in Paris in seinem Widmungsbrief an Kaiser Karl den Kahlen aus. Usuard kompilierte aus älteren Martyrologien von Autoren wie etwa Ado oder Hieronymus eine eigenständige Version, die – wie sich anhand der großangelegten bereits erwähnten Untersuchung Eef A. Overgaauws nachweisen lässt – in regulierten Augustiner- bzw. Augustinerinnenklöstern verwendet wurden, die der Windesheimer Kongregation angehörten, ihr nahestanden oder von ihr reformiert worden waren. In einer Gruppe von 13 38 Dieser enge inhaltliche Bezug jedes einzelnen Textes im Kapitelsbuch zur Memoria ist bislang – soweit zu erkennen – noch nirgends deutlich zur Sprache gekommen, obgleich das Kapiteloffizium schon seit den frühesten Anfängen auch Ort des Totengedächtnisses war. Vgl. Philipp Hofmeister: Das Totengedächtnis im Officium Capituli, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 70 (1959), S. 189– 200, hier S. 198; zur Entstehung und Entwicklung des Totengedächtnisses im Kapiteloffizium ebd., S. 189–192.
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dieser Klöster erkannte Overgaauw zahlreiche übereinstimmende Abweichungen von Usuards Originalversion; auch für die Fischbecker Version, die Overgauuw zwar einsah, aber nicht einer eingehenden Untersuchung unterzog, vermutete er eine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe. Der von mir jetzt durchgeführte genaue Vergleich des Fischbecker Martyrologtextes mit der Gruppe der 13 Manuskripte aus Augustiner- und Augustinerinnenklöstern ließ tatsächlich eine recht große Zahl von Parallelen in Heiligenbestand, Wortlaut und Reihenfolge der Elogen, auch in gemeinsamen Abweichungen vom Grundtext des Usuard erkennen, die die Annahme rechtfertigt, dass die Fischbecker Textversion diesem selben Überlieferungsstrang folgte. Damit wird gleichzeitig auch der Versuch einer normierenden Einflussnahme der Windesheimer Kommission deutlich, die sich um die Erstellung von Grundtexten für alle ihr angeschlossenen bzw. zu ihrem Einflussbereich zählenden Klöster bemühte. Der Spielraum für die eigene Tradition war gering. Insgesamt nur 15 Heiligenfeste haben weder bei Usuard noch in der Windesheimer Gruppe eine Entsprechung; ich will sie hier nicht aufzählen, hingewiesen sei nur darauf, dass 13 von ihnen schon im Vorgänger-Martyrolog ihren Platz hatten; die übrigen beiden waren die Feste der heiligen Speciosa, deren Verehrung eigentlich nur auf den näheren Hildesheimer Raum beschränkt war, und von Felix und Regula, die in Sachsen eher unbekannt waren, jedoch schon seit alters her in Hildesheim verehrt wurden. Dieser letzte Umstand ist von Bedeutung für die Klärung der Frage nach Ort und Zeit der Entstehung des Manuskripts. Denn es dürfte nicht von der Hand einer Fischbecker Konventualin gefertigt worden sein. Grund für diese Annahme ist die Beobachtung, dass die drei Eigenfesttage des Stiftspatrons Johannes des Täufers (Vorstellung im Tempel, Ankunft der Reliquien und Ankunft des Zahns) nicht bereits in den Fließtext aufgenommen wurden, sondern später als Nachträge zu ihren Tagesdaten hinzugefügt wurden. Bei der jetzt sich auftuenden Frage ,Wer dann?‘ kommt die gerade geschilderte Beobachtung zum Tragen, die auf den Hildesheimer Raum als Herkunftsort des Fischbecker Textes deuten könnte. Ich gehe daher davon aus, dass entweder Johannes Busch, der seine reformerischen Wurzeln im Hildesheimischen hatte, den Fischbeckerinnen die Abschrift persönlich übergab – aus seiner Hand hatten sie ja auch die Statuten erhalten – oder aber sich der Text im Gepäck der drei Magdalenerinnen befand. Sie kommen als Schreiberinnen durchaus in Frage, da ihr Kloster häufiger zur Entsendung von Delegationen an andere frisch reformierte Stifte und Klöster aufgefordert wurde. Möglich, dass man in Voraussicht dieser Tatsache dergleichen Handschriften be-
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reits vorfertigte und dann am Zielort die lokal wichtigen Heiligenfeste, die ihre Vorlage nicht enthielt, ergänzte. Die Entstehungszeit des Martyrologs läge in diesem Fall zwischen 1440, dem Zeitpunkt der Reform des Magdalenerinnenklosters, und 1463, dem nachweisbaren Jahr ihres Eintreffens in Fischbeck. Die Nachträge des Fischbecker Eigenbestandes wären dann in dem einen Jahr ihres Aufenthalts im Stift vorgenommen worden.
„Partes de tempore et de sanctis“ – Das Evangelistar Das auf das Martyrolog folgende Evangelistar bietet insgesamt 178 Lesungstexte, die alle inhaltlich unterschiedliche Episoden aus dem Leben Christi schildern. Im Gegensatz zu den Evangeliaren, die die Texte aller vier Evangelien vollständig und ungekürzt enthalten, enthalten Evangelistare nur die tatsächlich vorgetragenen Lesungstexte. Evangelistare werden daher häufig auch als Perikopenbücher bezeichnet (der Begriff ist hergeleitet vom griechischen perikópein, abhauen, ausschneiden); als selbständige liturgische Handschriften haben sie eine lange Tradition, erste Exemplare sind bereits aus dem 6. Jahrhundert bekannt. Im Unterschied zum Martyrolog, das für die Heiligen ja feste Termine, meistens ihren Todestag angibt, hält ein Evangelistar auch für die beweglichen Feste des Jahres Lesungstexte, die ebenfalls im täglichen Kapiteloffizium rezitiert wurden, bereit. Jedes Evangelistar folgt einem festgelegten, dreigliedrigen Schema: Eröffnet wird es durch das sogenannte Temporale (Proprium de tempore), das Lesungstexte für die Sonn- und einige wenige Werktage sowie die beweglichen Feste enthält; sodann folgen im Sanctorale (Proprium de Sanctis) die Lesungstexte, die für den Vortrag mit Blick auf die zu feststehenden Terminen verehrten Heiligen bestimmt waren; die letzten beiden Perikopen des Fischbecker Sanctorale sind dem Kirchweihfest und seiner Oktav zugeordnet; der abschließende Teil eines Evangelistars wird als Commune sanctorum bezeichnet und enthält – geordnet nach den Heiligentypen Apostel, Märtyrer, Bekenner und Jungfrauen – Evangelienabschnitte für Heilige, die im Sanctorale nicht genannt sind. Dieses System erwies sich über die Jahrhunderte hinweg als außerordentlich praktisch: Konnte ein Kloster beispielsweise seinen Heiligenbestand durch zusätzliche Erwerbung von Reliquien erweitern, fand diesen Heiligen im Sanctorale jedoch nicht erwähnt, wurde es im Commune auf jeden Fall fündig.
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Die Untersuchung des Evangelistars konnte ich auf eine breite Grundlage stellen, um eventuelle Windesheimer Einflüsse bestimmen zu können. Ausgewählt habe ich – relativ willkürlich – Exemplare aus Klöstern, die mit Sicherheit dem Windesheimer Umfeld zuzurechnen sind (zwei Schriften aus Eberhardsklausen in Rheinland-Pfalz und eine aus Elsegem in Belgien), und ihnen drei Evangelistare aus früheren Jahrhunderten zur Seite gestellt: ein Frankfurter aus dem 14., ein Brandenburger und ein Braunschweiger aus dem 13. Jahrhundert. Das Hinzuziehen dieser wesentlich früher entstandenen Schriften ermöglichte es, etwa bestehende längere Traditionen zu erkennen. Der Abgleich von Temporale, Sanctorale und Commune Sanctorum mit ihren entsprechenden Gegenstücken in den überprüften Vergleichsschriften ergaben, dass zwar für jedes Kloster auch individuelle Züge erkennbar sind, jedoch zum überwiegenden Teil, was Reihenfolge, Textlänge der einzelnen Perikopen und Heiligenbestand betrifft, ein Rückgriff aller untersuchten Texte auf eine lange gewachsene gesamtkirchliche Tradition zu konstatieren ist; ein direktes Einwirken Windesheimer Elemente ließ sich nicht feststellen. Vielleicht hielt man einen solchen Eingriff in diesem Fall nicht für nötig oder nicht für besonders dringlich, da der Rückgriff auf bestehende anerkannte Traditionen ja durchaus im Sinne der Windesheimer war.
„Commentum super regulam sancti Augustini epischopi“ – Der Regelkommentar Den vorletzten Abschnitt im Kapitelsbuch bildet ein Augustinus-Kommentar, dessen Regel alle Windesheimer Klöster verfolgten; dies gilt auch für das Fischbecker Stift, das offiziell ja bereits durch eine Reform in der Mitte des 13. Jahrhunderts zu einem Augustinerinnenkloster umgewandelt worden war. Wie die Regel selbst bietet auch der Kommentar zu ihr Maßgaben für ein konfliktfreies Zusammenleben von unterschiedlichen Charakteren und Individuen, damit diese ihrer täglichen Aufgabe, dem intensiven Dienst an Gott, möglichst reibungslos und störungsfrei nachkommen konnten. Der Regelkommentar wurde von einem nicht genannten Autor verfasst. Ein sorgfältiger Vergleich mit dem Kommentar, der Hugo von St. Viktor bei Paris, einem Mönch aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, zugeschrieben wird und der in den Patrologiae Latinae gedruckt vorliegt, ergab jedoch trotz zahlreicher Varianten eine weitgehende Übereinstimmung in den Formulierungen des Tex-
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tes und der Abschnittsreihenfolge, sodass dessen Text mit einiger Sicherheit als Grundlage für die Fischbecker Redaktion angesehen werden kann.39 Wiederum Eef Overgaauw erkannte, dass diese Kommentarversion ausschließlich in Kapitelsbücher von der Kongregation von Windesheim angehörenden bzw. nahestehenden Klöstern Eingang fand;40 dazu passt, dass es in den Konstitutionen der Kongregation sogar eine Vorschrift gab, die besagte, dass zur Lesung im Kapiteloffizium nicht die Regel selbst, sondern ein Kommentar dazu herangezogen werden sollte.41 Diese beiden Umstände allein können damit schon den Nachweis für die Zugehörigkeit des Fischbecker Kapitelsbuches zum Windesheimer Einflussgebiet bilden. Auf der Grundlage der erwähnten gedruckten Version und von weiteren HugoKommentaren aus dem niedersächsischen Kloster Heiningen bei Braunschweig sowie dem Augustinerpriorat Elsegem in der Eifel ergaben meine Untersuchungen, sowohl was übereinstimmende wie abweichende Lesarten betrifft, eine derartige Inkongruenz der Texte aller drei Klöster, dass eine Aussage darüber, welcher dieser Überlieferungswege einem eventuell aus Windesheim stammenden Grundtext am nächsten kommen könnte, nicht möglich ist.
„Necrologium vel Menologium Visbecense“ – Das Memorienbuch Der letzte Abschnitt des Kapitelsbuches enthält ein Memorienbuch, das von der Klosterfrau Agnes von Klencke geschrieben und 1509 abgeschlossen wurde, die einzige datierte und die einzige im Stift selbst entstandene Schrift im Kapitelsbuch. Ich werde es im Folgenden als Fischbecker Memorienbuch 2 (FMb2)42 bezeichnen. Diese Version stellt gewissermaßen, nunmehr auf Pergament für den Gebrauch auf lange Dauer übertragen, die noch einmal überarbeitete Reinschrift eines Vorgängerexemplars dar, das um die Mitte des 15. Jahrhunderts auf Papier niedergeschrieben wurde und keinen Eingang in das Kapitelsbuch fand. Dieses Exemplar, das ich als FMb1 bezeichnet habe, ist noch erhalten und befindet sich noch heute
39 Vgl. Hugonis de S. Victore canonici regularis S. Victoris Parisiensis … opera omnia, hg. v. J. P. Migne, Paris 1854, Reprint Turnhout 1994 (Patrologiae Latinae, Bd. 176), Sp 881–924. 40 Vgl. Overgaauw 1993 (wie Anm. 22), S. 541. 41 Vgl. Van Dijk 1986 (wie Anm. 26), Bd. 2, S. 787, Z. 148. 42 Zur Beschreibung vgl. Bonk 2004 (wie Anm. 17), S. 126–134.
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im Fischbecker Stiftsarchiv.43 Von seiner Anlage her macht es den Eindruck eines rasch angefertigten Konzeptes, das möglichst schnell im täglichen Kapiteloffizium zur Verfügung stehen sollte. Da die Anlagezeit auch diese ältere Version eindeutig in den Zusammenhang mit der Windesheimer Reform rückt, habe ich es in meine Arbeit mit einbezogen. Beiden Memorienbüchern liegt als kalendarisches Grundgerüst ein im Wesentlichen übereinstimmender Heiligenkalender zugrunde, der selbst wiederum, so ergab ein Vergleich, ganz überwiegend dem Windesheimer Kalender folgte. Schon ein erster Überblick über das ältere Memorienbuch FMb1 zeigt einige deutliche Veränderungen im Vergleich zu der vor der Reform idealerweise geübten Praxis: Waren im älteren Martyrolog-Nekrolog vom Ende des 13. Jahrhunderts für jeden einzelnen Tag mehrere Heiligenfeste und ein oder – meistens – mehrere Verstorbene, insgesamt weit mehr als eintausend Personen, für die Memorienfeiern durchzuführen waren, verzeichnet, so wurde das kalendarische Grundgerüst jetzt auf nur noch 51 Tage des Jahres mit jeweils einem Heiligen und mit insgesamt 480 Namenseinträgen beschränkt. Diese deutliche Reduzierung der Gedenktage war die Folge einer Reorganisation des gesamten Gedenkwesens: Man orientierte sich jetzt fort von den Gedächtnisleistungen am jeweiligen Todestag einer Person hin zu einem festgelegten Gedenktag im Jahr, an dem dann ein Familien- und Gruppengedenken stattfand; zum Beispiel wurde am 18. Januar des Henning von Reden gedacht, dazu seiner Ehefrau, seines Vaters, seiner Mutter, seines Sohnes und seiner fünf Töchter, alle namentlich genannt und bei allen ohne Bezug auf ihren jeweiligen Todestag; oder es wurde, um ein zweites Beispiel zu nennen, am Folgetag vier verstorbener Fischbecker Priester gedacht. Lediglich wenige Äbtissinnen, Konventualinnen oder auch Konversen wurden ohne ihre Familienangehörigen erwähnt. Das Gebetsgedenken erfuhr also eine deutliche Umgestaltung. Dies trug sicher auch einer Überlastung des Konvents durch die Memorienfeiern nach dem zuvor praktizierten System Rechnung: Den nun noch bestehenden wenigen Verpflichtungen konnte man in der Folge wieder wesentlich gewissenhafter nachkommen. In der Reduzierung noch etwas weiter geht das jüngere Memorienbuch FMb2 im Kapitelsbuch, dessen Schreiberin jeweils nur eine Person, vermutlich den Stifter oder die Stifterin, namentlich nennt, auf die weitere namentliche Aufzählung
43 Vgl. Stiftsarchiv Fischbeck, Hs IVa.
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von Angehörigen jedoch verzichtet und sie unter dem Kürzel „et de progenie“ subsumiert; in der Summe enthält FMb2 daher lediglich noch 143 Namenseinträge. Ferner beschränkte man sich jetzt in beiden Memorienbüchern bei den Verpflichtungsübernahmen zur Abhaltung einer Memorienfeier im Hinblick auf den Konvent im Wesentlichen auf die kürzlich verstorbenen Mitglieder; Verpflichtungen aus vergangenen Jahrhunderten wurde – mit Ausnahme weniger Äbtissinnen – nicht mehr nachgegangen. Auch im Blick auf die Laien wurde der zukünftig zu kommemorierende Personenkreis beschränkt auf die Familien der Konventualinnen. Von dem einst – im Martyrolog-Nekrolog des 13. Jahrhunderts lassen sich noch Personen aus Klöstern wie Huysburg, Amelungsborn, Neuenheerse und noch weiteren erkennen – weitgespannten Beziehungsnetz ist nach der Neugestaltung des Gedenkwesens und den Memorienbüchern nichts mehr geblieben. Die Kontakte der Reformzeit zu den Magdalenerinnen und den drei erwähnten Calenberger Klöstern führten nicht zu engeren Beziehungen, sondern wurden nach Beendigung der jeweiligen Aufgaben sofort abgebrochen. Doch nicht allein für den Stiftskonvent wurden zukünftig Seelenmessen nach dem Tod abgehalten. Denn schon während Armgards Amtszeit und später noch unter ihren Nachfolgerinnen verlangten auch weiterhin etliche Laien für ihre Stiftung als Gegenleistung eine jährlich zu wiederholende Memorienfeier; ihre Namen sind jedoch in die Memorienbücher nicht aufgenommen worden. Für diesen Personenkreis wurden im Stift offenbar noch umfangreiche und ausführlichere Listen zu den Stiftungen geführt, die sogenannten ‚Memorienregister‘, in die neben den Namen aller zu gedenkender Personen einer Stifterfamilie möglicherweise auch Angaben zur Verwendung des Stiftungskapitals eingetragen wurden und die insbesondere auch etwaige von dem üblichen Procedere abweichende Sonderwünsche und -regelungen, beispielsweise die erwähnte Verlegung der Memorie auf einen festgelegten, vom Sterbetag abweichenden Termin, berücksichtigen mussten.44 Konkret erwähnt sind diese Listen in einer undatierten, zwischen 1484 und 1499 ausgestellten Geschäftsurkunde des Stifts, in der es von einem Ehepaar einen Geldbetrag ausleiht; als Gegenleistung werden – neben einer Zinszahlung auf Lebenszeit – jährlich zu wiederholende Memorienfeiern „tho troste den selen“ nach dem Tod namentlich genannter Familienangehöriger wie auch aller derjenigen, 44 Vgl. bspw. UB Fischbeck 1978 (wie Anm. 16), S. 196 f., Nr. 179: Johann von Leveste verfügte testamentarisch die „ewige memorien alle jar myt unsen presteren an dem dage der hilgen juncfr(uwe) sunte Agneten“. Grund für derartige Terminfestsetzungen war möglicherweise eine besondere Verehrung für eine(n) bestimmte(n) (Familien-)Heilige(n).
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„de in unsen memorien registern myt one bescreven syn, unde myt allen gennen, de uth dem slechte vorstorven sint“, zugesichert.45 Das Führen dieser Listen fiel vermutlich in den Aufgabenbereich des Küsters oder der Küsterin. Spätestens jetzt, nach Einführung der Reform, gab es auch unterschiedlich gestaltete und gewertete Memorienfeiern. In einer Vergleichsurkunde vom Dezember 1461 zwischen dem Stift und seinem in der Marienkapelle tätigen Kaplan wird zu dessen Pflichten auch die Abhaltung einer „grote[n] memorie“46, die die Durchführung von drei Totenmessen an seinem Altar umfasste, gerechnet. Das Testament des Fischbecker Backmeisters Heneke Snelle lässt kleinere Details zur Osterliturgie erkennen: Er stiftet z.B. der Kirche und dem „gemeynen volke“ zur Kommunion Wein sowie fünf Pfund Wachs für Kerzen, die auf dem Hl. Grab brennen sollten „van der tyt, alse dat cruce is to grave bracht so lange, went dat verbrant ys“.47 Die ausführlichste Beschreibung der aktuellen Totenliturgie enthält eine Memorienstiftung der Gräfin Elisabeth von Holstein-Schaumburg aus dem Jahr 1472: „[…] unde na oren beghere unde gotliker leve wille wi sunderlike bede ewichliken vor se bidden bi namen Psalmen, Miserere mei deus etc., Antiphen, Requiem eternam, Kirieleyson, christeel(eyson), kirieleyson, Pater noster, Et ne nos a porta inferi, Domine exaudi, Collecta, Quesimus Domine pro tua pietate et fidelium etc.“48
45 UB Fischbeck 1979 (wie Anm. 16), S. 80, Nr. 276. 46 UB Fischbeck 1978 (wie Anm. 16), S. 194–196, Nr. 178, hier S. 196. Die übliche Prozedur einer Memorie bestand aus einer Vigil am Vorabend und einer Seelenmesse am Folgetag; vgl. ebd. S. 203 f., Nr. 185, hier S. 204: „des avendes myt vigilien unde des anderen dages myt selemissen na sede unde wonheyt unses closters“. 47 UB Fischbeck 1978 (wie Anm. 16), S. 189 f., hier S. 190. – Mit dem Hl. Grab ist vielleicht das „auf Rollen laufende, steinernen Behältnis“ (Sarkophag?) gemeint, in dem laut Heinrich Siebern: Die Kunstdenkmale der Grafschaft Schaumburg (Kunstdenkmälerinventare Niedersachsens, Bd. 16), Neudruck d. Ausg. Marburg 1907, Osnabrück 1979, S. 48, die Marienstatue vom Altar des Damenchores gelegen hat; zumindest von Karfreitag an dürfte hier das erwähnte Kreuz zu Grabe gebracht worden sein, bis es dann in der Osternacht an seinem Standort in der Kirche wiedererrichtet wurde. Der Osterritus dürfte sich nicht wesentlich von den früheren Praktiken unterschieden haben. Vgl. UB Fischbeck 1978 (wie Anm. 16), S. 169 f., Nr. 158, die 1425 ausgestellte Urkunde, in der es heißt: „an der hilgen nacht to Paschen …, wen men dat cruse upghenomen heft“, hier S. 169; die Urkunde enthält noch weitere liturgische Angaben auch zu Gründonnerstag, Karfreitag, Fronleichnam und Weihnachten. 48 UB Fischbeck 1979 (wie Anm. 16), S. 7 f., Nr. 208, hier S. 8. Auch die Totenliturgie dürfte mit Ausnahme der Praxis der Gesangsaufführung von der Reform nicht wesentlich verändert worden sein.
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„Cum summa diligencia laudes Dei reboantes“ – Musikleben „Wir wissen und erkennen alle, dass süßer Gesang das menschliche Herz erfreut und ihm seine Freude wiederum ins Gedächtnis bringt. … Also wenn wir singen oder loben, bereiten wir den Weg Gott dem Herren, dadurch er zu uns durch die wundersame geistliche Geschichte der Offenbarung zu kommen begehrt. So wir aus grosser Freude des Herzens in dem göttlichen Dienst uns ergötzen und ihm Lob und Dank sagen, aus den inwendigen Gliedern herzlich aufstehend, mit grossem Ruf des Herzens zum Lob Gottes allezeit ertönend. Eine schauende Seele, in solcher Psalmodie und geistlichem Gesang in göttlicher Zucht gewohnt, hebt an zu jauchzen und in unaussprechlicher Freude … sich frei in Gott zu stellen. Und daraus entspringt, dass sich der Mensch allen irdischen Dingen entzieht und allein seine Dinge setzt in die Schau der himmlischen Dinge. … Mit solcher Lehre hat der Heilige Geist das von ihm auserwählte Gefäss, den heiligen Vater Notker, erfüllt ….“49 Dieses Zitat des Notger Balbulus weist bereits hin auf die besondere Bedeutung von Musik und Gesang im Stiftsalltag, die beide geeignet waren, „die innere Beteiligung“ an den liturgischen Handlungen „zu intensivieren und zu einer Vertiefung des Glaubens“,50 zu einer persönlichen inneren Gotteserfahrung zu gelangen und damit die Vorfreude auf das letzte Ziel, den Eintritt in den Himmel, zu steigern.51 Die Reform des liturgischen Gesangs beinhaltete nach den Vorstellungen der Windesheimer die Rückkehr zum cantico antiquo, zu einem einfachen, ernsthaften und andächtigen Gesangsmodell mit Einhaltung derselben Tonhöhe, des Tempos und der Pausen ohne melodische oder stimmliche Verzierungen oder auch eine
49 Hans Conrad Haller (1486/1490–1525): Die Legende des heiligen Notker, Cod. Sang. 590, 1522, S. 150–154, hier zitiert nach: Therese Bruggisser-Lanker: Musik und Liturgie im Kloster St. Gallen in Spätmittelalter und Renaissance (Abhandlungen zur Musikgeschichte, Bd. 13), Göttingen 2004, S. 1. 50 Dorothea Schröder, Klösterliches Musikleben, in: Mittelalter im Weserraum, Red. Dagmar Köhler, hg. v. Stift Fischbeck (Fischbecker Schriftenreihe. Veröffentlichungen aus dem Stift Fischbeck, Bd. 1), Holzminden 2003, S. 77–92, hier S. 88. 51 Vgl. Ulrike Hascher-Burger: „O qualis quantaque Leticia“. Das Bild des Himmels in einem Liederbuch der Brüder vom Gemeinsamen Leben, in: Between lay piety and academic theology. Studies presented to Christoph Burger on the occasion of his 65th birthday, hg. v. Ulrike Hascher-Burger/August den Hollander/Wim Janse (Brill’s Series in Church History, Bd. 46), Leiden 2010, S. 99–132, hier S. 102.
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Mehrstimmigkeit des Vortrags.52 Ein Gleichmaß des Gesangs wurde gefordert, keinerlei Ablenkungen sollten die innere gefühlsmäßige Beteiligung stören. Die gesangliche Vortragsweise unterschied sich auch darin, dass „an Festtagen hoch und feierlich (altius et solennius), an Aposteltagen gemäßigter (moderatius), an normalen Werktagen aber einfacher und tiefer (simplicius et bassius) zu singen“ war.53 Johannes Busch achtete in allen von ihm reformierten Klöstern darauf, dass die nun nach dem Windesheimer Ordinarius geltende uniformitas in der erneuerten Liturgie auch in den gesanglichen Partien während der Messfeiern und Stundengebete eingehalten wurde. „Sic ergo nunc in omnibus nobis sunt conformes“, schreibt er in seinem Bericht zum Kloster Steterburg; dabei diente als Grundlage für das Erreichen dieser uniformitas offenbar das Messformular des von ihm 1440 selbst reformierten Hildesheimischen Sülteklosters: „missale tamen pro summa missa una sororum more nostro ex missali de Sulta […] ut non solum in horis canonicis sed etiam in missis conventualibus sint nobis conformes“.54 In der Folge verloren die bislang geltenden Noten- und Liedhandschriften ihren Gebrauchswert und wurden durch solche ersetzt, die den Windesheimer Formularen entsprachen.55 In den Anfangsjahren der Reform hatte vielleicht Busch selbst – wenn nicht Äbtissin Armgard diese Aufgabe übernahm – die Konventualinnen in Fischbeck im Gesang des neuen Liedgutes unterrichtet. Denn er war nicht nur ein guter Sänger („bonam et sinceram vocem habet“),56 sondern er begann auch in von ihm reformierten Konventen sofort mit der eigenen Unterrichtung im Gesang.57 Wie intensiv sich diese Gesangsausbildung darstellen konnte, lässt sich am Beispiel der 52 Vgl. Schröder 2003 (wie Anm. 50), bes. S. 86, 88. – Vgl. zu diesem Aspekt auch Lutz 2010 (wie Anm. 8), S. 41. 53 Ulrike Hascher-Burger, In omnibus essent conformes? Windesheimer Reform und liturgische Erneuerung in niedersächsischen Frauenkonventen im 15. Jahrhundert, in: Church History and Religious Culture (CHRC), Bd. 93, 2013, S. 535–547, hier S. 541 mit Anm. 21. – Vgl. unten die Anm. 60. 54 Busch 1886 (wie Anm. 20), S. 607. – Vgl. Hascher-Burger 2013 (wie Anm. 53), S. 537 Anm. 6. 55 Vgl. Schröder 2003 (wie Anm. 50), S. 86. Eine Abbildung einer solchen Einbandmakulatur aus Fischbeck ist zu sehen ebd., S. 87 Abb. 2, oder auch als Vorsatzblätter, wie im neuen Kapitelsbuch. – Allgemein zu diesem Thema vgl. Andreas Traub/Annekathrin Miegel (Hg.): Musikalische Fragmente. Mittelalterliche Liturgie als Einbandmakulatur. Ausst.-Kat. Landesarchiv Baden Württemberg (Hauptstaatsarchiv Stuttgart), Stuttgart 2011. 56 Busch 1886 (wie Anm. 20), S. 396. – Vgl. Hascher-Burger 2013 (wie Anm. 53), S. 539. 57 Vgl. Hascher-Burger 2013 (wie Anm. 53), S. 539.
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Prämonstratenser in Magdeburg nachvollziehen: „Die enim ac nocte chorum cum eis visitavimus [et] […] cantavimus“.58 Und ebenso hatte er selbst die nach der Vergrößerung des Konvents nach Fischbeck entsandten Magdalenerinnen,59 die nicht nur für die Unterrichtung der neu hinzugekommenen Mädchen und Frauen im Lateinischen, sondern auch für ihre Ausbildung in den neuen Gesangsformen zuständig waren, persönlich musikalisch ausgebildet.60 Bei all dem kann es nicht verwundern, dass er sich auch in Fischbeck von den gesanglichen Leistungen des Konvents selbst ein Bild machen wollte; bei einem seiner Besuche versammelte sich der gesamte Fischbecker Konvent auf dem Chor zum Gesang: Die in der Darbietung der Sängerinnen spürbare Begeisterung, ihr aus vollem Herzen, dabei völlig den neuen Anforderungen entsprechendes gesungenes Lob Gottes steckte ihn geradezu an, sodass sich seine eigene Empfindung auch in seinem Urteil niederschlug: „[…] erant bene vociferate, cum summa diligencia laudes dei reboantes, nec cordibus parcentes nec vocibus“.61 In den zahlreichen Stiftungsurkunden zur Memoria, die auch liturgische Hinweise zu ihrer Durchführung beinhalten,62 erscheinen Bestimmungen, bei denen zwischen gelesenen und gesungenen Partien differenziert wird, nur in den seltensten Fällen. Konkrete Hinweise zur Aufführungspraxis fehlen ganz: Von den drei bereits erwähnten Messfeiern der „Großen Memorie“ sollten zwei gelesen und „de dridden misse scal de […] kaplan singen“.63 – Im Testament des bereits erwähnten Clawenberch von Reden (vgl. oben das Kap. über Äbtissin Armgard von Reden)
58 Busch 1886 (wie Anm. 20), S. 511. 59 Vgl. oben das Kap. über Äbtissin Armgard von Reden. 60 Vgl. Busch 1886 (wie Anm. 20), S. 580: „Divinis etiam cum eis interfuimus, quomodo in inclinationibus, stationibus, sessionibus et in ceteris ceremonialibus se habere deberent in choro, eas instruentes et, quomodo in festis precipuis altius et sollennius, in apostolicis festis moderatius et in ferialibus diebus simplicius et bassius cantare deberent, informantes, et ut nimiam protractionem sicut et nimiam festinantiam in cantu suo vitarent, sed magis morose et religiose cantantes se reformatas in cantu suo demonstrarent“. Das Beispiel zeigt deutlich, dass die Neuregelung der Liturgie bis ins Detail erfolgte, wenn Busch den Magdalenerinnen sogar die neuartige Art und Weise des Hinkniens, Stehens, Sitzens und ihrer gemessenen Bewegungen auf dem Chor nahebringen musste. 61 Busch 1886 (wie Anm. 20), S. 641. – Vgl. Nicolaus Carl Heutger: Niedersächsische Ordenshäuser und Stifte. Geschichte und Gegenwart. Vorträge und Forschungen, hg. v. Viola Heutger (Forschungen zur niedersächsischen Ordensgeschichte, Bd. 7), Berlin 2009, S. 158. 62 Vgl. die Beispiele im vorhergehenden Abschnitt. 63 Vgl. UB Fischbeck 1978 (wie Anm. 16), S. 194–196, Nr. 178, hier S. 196.
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findet sich unter anderem die Verfügung, dass die Vigil am Vorabend seiner Seelenmesse gesungen werden solle.64 Gelegentlich konnte der Gesang der Fischbeckerinnen während einer hl. Messe auch von dem sogenannten Plectrum, einem Portativ (eine kleine tragbare Handorgel),65 begleitet werden, besonders auch an Hochfesten, die mit einer feierlichen Prozession einhergingen: In der bereits zitierten Vergleichsurkunde des Stifts von 1461 mit seinem Kaplan in der Marienkapelle findet sich dazu folgender Passus: „Ok so scal he in groten festen uppe dem kore to der homisse und ifft des not were unde darto geeschet worde, so scal he dat plectrum66 uppe unsen kor dregen unde in den erliken festen processien […] gan […].“67 Orgeln waren von den Windesheimern ursprünglich bereits seit der Mitte des 15. Jahrhunderts mit einem Verbot belegt; begründet wurde dies mit durch das Orgelspiel verursachten Ablenkungen von der geforderten gravitas, dem Vortrag in ernsthafter und „unverzierter, unrhythmischer Weise“.68 Jedoch waren wie in Fischbeck in den meisten Klöstern dieser Zeit bereits Orgeln vorhanden,69 und die musikalische Begleitung des Gesangs durch das Orgelspiel wurde gänzlich anders gesehen und empfunden: Nach den Worten im vom Organisten Arnolt Schlick 1511 verfassten Spiegel der Orgelmacher und Organisten galt die Orgel als 64 Vgl. ebd., S. 178 f., Nr. 164, hier S. 178. 65 Für die Begriffs-Definition bin ich Herrn Prof. DDr. Bölling zu Dank verpflichtet. – Aus dem Benediktinerinnenkloster Ebstorf liegt eine Abbildung vor, die eine Nonne beim Spielen einer solchen Handorgel zeigt; vgl. Henrike Lähnemann: Per Organa. Musikalische Unterweisung in Handschriften der Lüneburger Klöster, in: Dichtung und Didax. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Henrike Lähnemann/Sandra Linden, Berlin 2009, S. 397–412, hier S. 399 Abb. 1. 66 Vgl. hierzu ausführlich im folgenden Abschnitt. 67 UB Fischbeck 1978 (wie Anm. 16), S. 194–196, hier S. 196. – Der Einsatz des Orgelspiels war im Mittelalter grundsätzlich auf Sonn- und Feiertage beschränkt; vgl. Ralf Lützelschwab: Wie Donner? Gedanken zur Perzeption von Orgelklang im Mittelalter, in: Akustische Dimensionen des Mittelalters, hg. v. Martin Clauss/Gesine Mierke (Das Mittelalter, Bd. 27/1), Heidelberg 2022, S. 68–90, hier S. 83. 68 Ulrike Hascher-Burger: Orgelspiel versus Orgelverbot: ein Paradigmenstreit im Umfeld der norddeutschen Klosterreform im 15. Jahrhundert?, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis: eine Veröffentlichung der Schola Cantorum Basiliensis, Lehr- und Forschungsinstitut für Alte Musik an der Musik-Akademie der Stadt Basel 35/36, Basel 2011/2012, S. 68–86, hier S. 71. – Vgl. Hascher-Burger 2013 (wie Anm. 53), S. 537–545. Orgelgebrauch während der liturgischen Feiern war nicht erst im Reformzeitalter umstritten, bereits im Hochmittelalter gab es Befürworter wie Gegner dieser Praxis; vgl. Lützelschwab 2022 (wie Anm. 67), S. 79–81. 69 Vgl. Schröder 2003 (wie Anm. 50), S. 82.
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„zier der kirchen“ und „fürnemlich dem gehör und gottes lop, die himmlischen ding zu betrachten“.70 Die Orgel galt als das „Instrument, das der menschlichen Stimme klanglich am nächsten kam“, und sie war geradezu „dazu prädestiniert, im Wechsel mit der Choralschola die entsprechenden Verse des Gregorianischen Chorals zu übernehmen und die Sänger zu entlasten“.71 Anders formuliert: „Idealiter verbanden Orgeln die irdische mit der himmlischen Sphäre. Orgelklang wurde als Mittel verstanden, einen Widerschein göttlicher Harmonie akustisch zu erleben bzw. zu durchleben.“72 Es kann daher nicht verwundern, dass sich in zahlreichen reformierten Klöstern Widerstand regte, sodass sich die Windesheimer Reformkongregation veranlasst sah, Anfang des 16. Jahrhunderts das Verbot des Orgelbesitzes aufzuheben.73 Obgleich das in Fischbeck verwendete Portativ dem in Fragen des Gesangs durchaus streng reagierenden Johannes Busch wohl nicht verborgen blieb, hielt er sich in diesem Punkt zurück; Äußerungen zu Orgelgebrauch bzw. -verbot liegen von ihm nicht vor; ebenso wenig wie von Äbtissin Armgard, für die trotz ihres rigiden Reformeifers der Gebrauch des Instruments nicht nur keinen Widerspruch zur musica devota darstellte, sondern dessen weiterer Einsatz an hohen Festtagen von ihr persönlich angeordnet wurde.74 Im Jahr 1510 muss es in Kirche, Kirchturm und Kloster größere Zerstörungen gegeben haben, von denen möglicherweise auch das Portativ oder eine bereits vorhandene Kirchenorgel betroffen war, wandte sich doch zu diesem Zeitpunkt das Stift an „gutherzige Leute um ein Almosen für die neue Orgel, für die Tür zum Jungfrauenchor und für die große Glocke“.75 Diese Orgel wurde offenbar auch nach der Einführung der Reformation weiter benutzt, möglicherweise bis zum 30-jährigen Krieg (1618–1648) mit seinen Plünderungen, Zerstörungen und der letztendli-
70 Zitiert nach Therese Bruggisser-Lanker 2004 (wie Anm. 49), S. 160. 71 Die sog. Alternatim-Praxis, vgl. ebd. – Vgl. hierzu auch Lützelschwab (wie Anm. 67), S. 81–83. 72 Lützelschwab 2022 (wie Anm. 67), S. 81. – Einen Überblick zur Geschichte und Liturgik des Gregorianischen Chorals bietet Bernhard K. Gröbler: Einführung in den Gregorianischen Choral, Jena 2005. 73 Vgl. Hascher-Burger 2011/12 (wie Anm. 68), S. 71 f. 74 Vgl. Anm. 69. – Anders z.B. im Kloster Ebstorf, in dem das Orgelspiel verboten und von den Nonnen schmerzlich vermisst wurde; vgl. wiederum den Bericht der Ebstorfer Nonne bei Schröder 2003 (wie Anm. 50), hier S. 87. 75 UB Fischbeck 1979 (wie Anm. 16), S. 87, Nr. 284. – Nach Helmbold 1982 (wie Anm. 15), S. 39, war diese „neue“ die erste Orgel in Fischbeck.
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chen Flucht des Konvents.76 Erst um 1670 war das Stift in der Lage, ein neues Instrument für die Kirche anzuschaffen. Errichtet wurde eine Orgel mit 13 Registern durch den Orgelbauer Christian Förner (1609–1678).77 Der jüngste Bau einer – noch heute gespielten – (Barock-)Orgel mit einem „Manual von zwölf Registern, einem Pedal von sieben und ein[em] Positiv von acht Registern im Umfang von vier Oktaven“78 sowie einigen Registern aus der Vorgänger-Orgel erfolgte dann 1736 durch den Orgelbauer Johann Adolf Berner aus Osnabrück.
„Diuturnitas devote reformationis obsequii“ – Die Dauer der Reform
Nur schwer abzuschätzen ist, wie lange die strenge Phase der Reform in Fischbeck andauerte. Allgemein ist bei den reformierten Chorfrauengemeinschaften (und anderen Klöstern) nach nicht allzu langer Zeit eine allmähliche Aufweichung der strengen Grundsätze im Klosteralltag bemerkbar.79 Es scheint, dass auch in Fischbeck noch unter der Reformäbtissin Armgard erste Abweichungen von Observanz und vita communis zutage traten, die sich möglicherweise unter ihrer Nachfolgerin80 noch verstärkten. Daraufhin sah sich der Mindener Bischof Heinrich III. gemeinsam mit seinem Bruder Graf Erich II. von Holstein-Schaumburg im Jahr 1485 berechtigt und veranlasst, das Stift nach der Regel des Augustinerordens zu reformieren.81 Dies bedeutete zunächst sicher noch einmal eine Verschärfung der Regeltreue, die sich rein äußerlich in dem nun endgültig zu tragenden offiziellen Habit der Augustinerinnen niederschlug.
76 Vgl. hierzu ausführlich wiederum Oldermann 2005 (wie Anm. 2), S. 131–147. 77 Vgl. Köhler/Oldermann o. J. (wie Anm. 19), S. 16. 78 Ebd., S. 20. – Vgl. dazu Renate Oldermann: Die Geschichte der Orgel in der Stiftskirche zu Fischbeck, in: Acta Organologica 27 (2001), S. 109–124. 79 Vgl. Gudrun Gleba: Die Ordensreformen im 15. Jahrhundert und ihre Umsetzung in den praktischen klösterlichen Alltag, in: Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung bis zur Aufhebung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 44. Quellen und Forschungen zur Kirchen- und Religionsgeschichte, Bd. 2), hg. v. Karl Hengst: Institutionen und Spiritualität Bd. 3, Münster 2003, S. 101–129, hier S. 129 – Schröder 2003 (wie Anm. 50), S. 82, 89. 80 Armgard von Reden blieb vermutlich bis zu ihrem Tod am 25. Januar 1483 im Amt, ihre Nachfolgerin Margarete von Schedelik urkundete erstmals am 15. März 1483; vgl. UB Fischbeck 1979 (wie Anm. 16), S. 48 f., Nr. 246. 81 Vgl. UB Fischbeck 1979 (wie Anm. 16), S. 56 f., Nr 254.
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Auch Privatbesitz war bereits unter Armgard wieder möglich: 1465 verkaufte das Stift Güter an den Vater Berthold der Priorin Elisabeth von Landesbergen gegen eine Rentenzahlung, die zunächst dem Stift, nach seinem Tod aber seiner Tochter bis zu deren Ableben zugutekommen sollte.82 Ganz deutlich wird diese Tatsache, wenn 1557 und 1559 der Hamelner Rat von den Stiftsdamen Rixa von Bennigsen und Lucke Kramer ein Darlehen erhält.83
„Finis reformationis ante reformationem“ – Schlussbemerkung
Mehr als ein Jahrhundert lang, von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Einführung der Reformation, folgten die Fischbecker Konventualinnen den Idealen der Devotio moderna, die ihnen einen neuen (erneuerten) religiösen Impetus verlieh, der zeitweise nahezu bis zur Perfektion in den klösterlichen Reformalltag umgesetzt wurde. Das erfolgte maßgeblich durch das Zusammenwirken zweier charismatischer Persönlichkeiten: den Windesheimer Vertreter Johannes Busch und die dem Kloster dreißig Jahre lang vorstehende Äbtissin Armgard von Reden. Die Durchschlagskraft, die die Windesheimer Reform zumindest während ihres Abbatiats entfaltete, konnte für die Nonnen intensiver und folgenreicher nicht sein: Alle Bereiche des klösterlichen Lebens erfuhren Neuerungen und Veränderungen in einem Ausmaß, dass sich ihre Wirkungen bis heute noch in zahlreichen Spuren in Kirche und Kloster ablesen und erfahren lassen. Durch die Wiederherstellung von Klostermauer, Reparaturen und Umbauten von Kloster, Wirtschaftsgebäuden und auch der Kirche mit ihrer neugestalteten figürlichen Ausstattung wurden der äußere Rahmen und die Voraussetzungen für die ungestörte Rückkehr zu den ursprünglichen Idealen eines Klosterlebens in Observanz, Keuschheit, Schweigen, Gesang und Gebet geschaffen. Diese ,äußerlichen‘ Maßnahmen ermöglichten außerdem selbst wiederum erst die Erfüllung der wesentlichen Aufgaben der Nonnen im ,Inneren‘: den immerwährenden Dienst an Gott, stündlich, täglich und in der Nacht über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Und dies galt nicht allein für die konventuale Gemeinschaft, auch der einzelnen Klosterfrau wurde jetzt über die gemeinschaftlich begangene Liturgie hinaus ein Weg eröffnet, ihre persönliche Vervollkommnung voranzutreiben. Private Meditation oder individuelles Gebet, z.B. vor den Bildwerken in der Kirche, boten ne82 Vgl. UB Fischbeck 1978 (wie Anm. 16), S. 201 f., Nr. 184. 83 Vgl. UB Fischbeck 1979 (wie Anm. 16), S. 175 f., Nr. 360 und S. 179 f., Nr. 363.
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ben ihrem idealerweise ohnehin dauerhaft auf Lob und Ehre Gottes ausgerichteten Klosterleben weitere Möglichkeiten, ihr persönliches Seelenheil zu erlangen. Und gerade auch die imitatio Christi war ja immer verbunden mit dem in seiner Auferstehung enthaltenen Hoffnungsgedanken, dass Gott ihr am Jüngsten Tag den Weg in den Himmel und die ewige Seligkeit gewähren würde – all dies ganz im Sinne Grotes, des Initiators der Devotio moderna, der sich in seiner ursprünglichen Intention zunächst an jede Einzelperson, jedes Individuum gewandt hatte. Mit dem Tod der beiden charismatischen Persönlichkeiten Johannes Busch (1479 oder 1480) und Armgard von Reden 1482 endete offenbar die intensive Phase der Reform. Nicht betroffen davon war jedoch offenbar die tief in den Herzen der Konventualinnen verwurzelte devote Frömmigkeit, die wohl als ein wesentlicher Grund für die Ablehnung der lutherischen Reformation im Stift durch die letzte vorreformatorische Fischbecker Äbtissin Catharina von Rottorp (1556–1580) und ihren Konvent anzunehmen ist.84
84 Zur Einführung der Reformation in Fischbeck vgl. ausführlich Oldermann 2005 (wie Anm. 2), S. 94–100.
„mit sticken budele zo machen ind der gelych sachen“ Überlegungen zur spätmittelalterlichen textilen Ausstattung des Stiftes St. Ursula in Köln – eine Annäherung Gudrun Sporbeck
Am 22. September des Jahres 1556 notierte der Kölner Ratsherr Hermann Weinsberg in seinem Tagebuch, er habe vom Rat der Stadt den Auftrag erhalten, für einen gräflichen Gesandten des spanischen Hofes Reliquien der 11.000 Jungfrauen zu beschaffen, und nach längerem Hin und Her habe er schließlich zwei Häupter bei den Predigern und bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben im Kloster Weidenbach erhalten.1 Dass dies möglich war, ist nicht nur dem Reliquienreichtum zu verdanken, der Köln durch die Jahrhunderte als Kirchenmetropole auszeichnete, sondern auch einem einzigartigen Beziehungsgefüge von Klöstern und Stiften, die die Stadttopografie prägten und zur Bedeutung Kölns für die europaweite Verbreitung des Ursulakultes beitrugen. Zu deren vornehmsten Institutionen zählte im Mittelalter neben dem Stift St. Gereon das hochadelige Damenstift St. Ursula. Wohl schon im 9. Jahrhundert war unweit der Alten Römerstraße auf dem Terrain eines weitläufigen römisch-fränkischen Gräberfeldes ein Kanonikerstift errichtet worden, das den Kult und die Verehrung der hl. Ursula beförderte. Die seit dem Mittelalter im ersten Chorjoch der Südwand der Kirche vermauerte Stiftungsinschrift des römischen Senators Clematius, aus der hervorgeht, dass er an der Stelle des Martyriums der heiligen Jungfrauen eine Kirche errichtet habe, mag ein grundlegender Impuls für die Entwicklung des Ursulakultes gewesen sein. Cherissa Casey hat zuletzt das authentizitätsstiftende Narrativ dieser Inschrift überzeugend entschlüsselt.2 1
Vgl. Johann Jakob Hässlin (Hg.): Das Buch Weinsberg. Aus dem Leben eines Kölner Ratsherrn, München 1960, 5. Aufl. Köln 1997, S. 226. 2 Cherissa Casey: Transmitting Sacred Authority through Stone. The Clematius Inscription and Cologne’s Cult of the Holy Virgins, in: Transmissions and Translations in Medieval Literature and Material Culture, red. v. Megan Henvey/Amanda Doviak/Jane Hawkes (Art and Material Culture in Medieval and Renaissance Europe, Bd. 17), Leiden 2021, S. 143–159.
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Die spätere Ansiedlung der Kanonissen aus Gerresheim, einem nahe Düsseldorf gelegenen Stift, ist urkundlich seit 922 bezeugt. Vor dem Einfall der Ungarn fliehend, hatte die Äbtissin Lantswind mit ihren Stiftsdamen mit Erlaubnis Erzbischofs Hermanns I. (amt. 889/890–924) Zuflucht in Köln gefunden und als größten Schatz den Schrein mit den Gebeinen des hl. Hippolytus retten und in den Besitz des neuen Stiftes überführen können.3 Bekanntlich sind die an diesem Ort im Zuge der Erweiterung der Kölner Stadtbefestigung 1106 und danach in den Jahren zwischen 1155 und 1164 bei systematischen Grabungen in großer Zahl gefundenen Gebeine mit der Legende um die britische Königstochter Ursula in Verbindung gebracht worden, die mit ihren 11.000 Gefährtinnen, von einer Pilgerreise aus Rom kommend, in Köln durch hunnische Horden das Martyrium an dieser Stelle erlitten haben soll.4 Die im 12. Jahrhundert wachsende Nachfrage und Verbreitung der Ursula-Reliquien mehrte den Wohlstand des Stiftes und benachbarter Institutionen, die mit der Weitergabe betraut waren bzw. – wie im Falle des angrenzenden Benediktinerinnenkonventes St. Makkabäer – in stetiger Konkurrenz die Hoheit über die Funde auf dem ager ursulanus für sich beanspruchten.5 Die unübersehbare Fülle des Gefundenen ließ St. Ursula neben dem Dom und St. Gereon zu einem zentralen Ort der Reliquienverehrung werden, dessen Raumkonzept die Reliquienpräsenz vielgestaltig in goldenen Wandnischen und -schränken, in Reliquienbüsten auf der Emporenbrüstung, in Truhen auf der Empore, in Sarkophagen, in Schreinen auf dem Hochaltar und schließlich im einzigartigen Schatzraum, der camera aurea, in wandhohen Gefachen und Ornamenten erfahrbar machten.6 3 Erich Wisplinghoff (Red.): Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100. Bd. 2: Elten – Köln, St. Ursula (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 57), Düsseldorf 1994, Nr. 317. 4 Vgl. Friedrich Vill: Wegweiser zur Kirche der h. Ursula in Köln, mit geschichtlichen Notizen über das Leben und den Martertod der heil. Ursula und ihrer Gefährtinnen, nebst einem Verzeichnisse über die in dieser Kirche aufbewahrten Reliquien, Gemälde, Denkmäler und Kunstgegenstände, Köln 1853, S. 18. – Ulrich Bock/Thomas Höltken: St. Ursula. 11000 Jungfrauen im Veedel, in: Drunter und drüber – der Eigelstein, hg. v. Mario Kramp/ Marcus Trier (Schauplatz Kölner Geschichte, Bd. 2), Köln 2014, S. 83 f. 5 Ulrich Bock/Thomas Höltken/Sven Seiler (†): Die Makkabäerkirche. Verschwundene Konkurrenz zu St. Ursula, in: Drunter und drüber – der Eigelstein, hg. v. Mario Kramp/ Marcus Trier (Schauplatz Kölner Geschichte, Bd. 2), Köln 2014, S. 89–93. 6 Zur mittelalterlichen Ausgestaltung der Goldenen Kammer vgl. Ulrike Bergmann: Die Goldene Kammer in St. Ursula, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Ro-
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Den farbigen Glasfenstern des gotischen Kirchenraums verwandt, bildeten die Textilien, die Gebein und Häupter umhüllten, eine diaphane Ebene, die das Sichtbare verbarg und andeutete – Schutz und Schmuck zugleich. Der folgende Beitrag widmet sich nun erstmals der Frage nach dem Profil der textilen Ausstattung des St.-Ursula-Stiftes in der Zeit des späten Mittelalters, wobei Reliquienfassungen und Paramente in den Blick zu nehmen sind.
Die textilen Reliquienfassungen
In den letzten Jahren sind vor allem die prominenten Seidenstoffe und textilen Hüllen der Reliquien des Frühmittelalters in den wissenschaftlichen Fokus gerückt. Erstmals im Zusammenhang würdigte Leonie von Wilckens im Rahmen der Kölner Ausstellung ‚Ornamenta Ecclesiae‘ 1985 drei Seidengewebe, die man 1871 bei der Öffnung des Hippolytusschreins gefunden hatte, und jene aus dem Sarkophag der Viventia. Sie ordnete sie einer Gruppe gemusterter Seiden byzantinischer oder syrischer Provenienz zu, die sie in die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts datierte, und vermutete, dass sie als Reliquienhüllen des hl. Hippolytus aus Rom nach Gerresheim gelangt waren (Abb. 1).7 Tracy Niepold hat diesen vier Seidenstoffen zuletzt 2013 und 2016 monografische Untersuchungen gewidmet und in detailreichen Einzelanalysen der Stoffmustergruppen mit Jagd- und Reiterszenen und der textiltechnologischen Merkmale die Hypothese von Wilckens’ bestätigt.8 Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass manische Kirchen Köln 11 (1996) (Kölner Kirchen und ihre mittelalterliche Ausstattung, Bd. 2), S. 225–231 sowie die bau- und ausstattungsgeschichtliche Untersuchung von Regina Urbanek: Die Goldene Kammer von St. Ursula in Köln. Zu Gestalt und Ausstattung vom Mittelalter bis zum Barock (Arbeitsheft der Rheinischen Denkmalpflege, Bd. 76), Worms 2010. 7 Vgl. Leonie von Wilckens: Seidengewebe mit Löwenjagd, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, 3 Bde., Ausst.-Kat., hg. v. Anton Legner, Köln 1985, Bd. 2, S. 340 (E 103). – Leonie von Wilckens: Seidengewebe mit Löwenjagd auf blauem Grund, in: ebd., Bd. 2, S. 340 (E 104). – Leonie von Wilckens: Seidengewebe mit Pferden, in: ebd., Bd. 2, S. 342 f. – Zur Viventia-Seide Leonie von Wilckens: Seide aus dem Viventia-Sarkophag, in: ebd., Bd. 2, S. 340–342 (E 105). 8 Tracy Niepold/Hedwig Röckelein: Frühmittelalterliche Seiden und Authentiken aus St. Ursula in Köln, in: Seide im früh- und hochmittelalterlichen Frauenstift. Besitz, Bedeutung, Umnutzung, hg. v. Thomas Schilp/Annemarie Stauffer (Forschungen zum Essener Frauenstift, Bd. 11), Essen 2013, S. 199–231, bes. S. 199–219. – Tracy Niepold: Die früh-
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Abb. 2: Gelbgrundiges Seidengewebe mit Pferden und menschlichen Gestalten (Detail), Sogdien, 8. Jahrhundert. Schatzkammer St. Ursula, Köln.
es sich um äußerst kostbare Seidengewebe aus verschiedenen byzantinisch geprägten Werkstätten handelt, die Abb. 1: Blaugrundiges Seidengewebe mit Greiaufgrund ihrer Musterbilder Ausdruck fenreitern, Byzanz, 8. Jahrhundert, Seidensamit. herrscherlicher Repräsentation waSchatzkammer St. Ursula, Köln. ren und als solche vielfach Eingang in westliche Kirchenschätze fanden, wo sie der Umhüllung der hochverehrten Reliquien dienten.9 Niepold schließt nicht aus, dass der Begründer des Stiftes Gerresheim, Gerricus, aus adeliger Familie stammend, selbst die Reliquien und die ihre Authentizität bestätigenden Seidenstoffe erhalten hat, um damit seine Stiftung auszustatten. Durch Veränderungen im späten 19. Jahrhundert finden sich keine Spuren, die Aufschluss über die ursprüngliche Dimension der Seiden bzw. eine mögliche Zweitverwendung zulassen. Während die Gebeine des Heiligen 1953 in einem um 1860 neu angefertig-
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mittelalterlichen Textilien aus St. Ursula in Köln, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 31 (2016), S. 53–72. Bislang nicht untersucht wurde der Aspekt einer möglichen Auswahl der Musterbilder im Hinblick auf die Umhüllung eines Märtyrers. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass auch der Schrein des hl. Viktor in Xanten, als Soldatenheiliger und Anführer der Thebäischen Legion verehrt, mit einer sogdischen Seide des 8./9. Jahrhunderts ausgekleidet ist, die Reiter- und Kampfszenen zeigt. Vgl. hierzu Gudrun Sporbeck: Textilien, in: Zu den Inhalten des Xantener Viktorschreins. Ergebnisse einer interdisziplinären Untersuchung vom Jahre 2013, red. v. Clive Bridger, Xanten 2019, S. 49–62.
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Abb. 3: Goldene Kammer, Ostwand, in der Ausstattung von 1695. St. Ursula, Köln.
ten Schrein nach Gerresheim rückgeführt wurden, verblieben die Seidenstoffe im Kirchenschatz von St. Ursula und werden seit 2005 auf der Westempore museal präsentiert (Abb. 2). Die zahlreichen Reliquienhäupter, die bis heute in den vergitterten Wandnischen des Chors von St. Ursula und bei den Büsten und Gefachen der Goldenen Kammer bewahrten werden, sind Gegenstand und Ausgangspunkt der Dissertation von Cherissa Casey (Abb. 3).10 Sie behandelt das Phänomen des textil gestalteten Reliquienhauptes als eine sich in Zusammenhang mit dem Ursulakult entwickelnde Kölner Invention in der Zeit des 13. bis 15. Jahrhunderts, wobei sie
10 Cherissa Casey: Stitching Sanctity and Sculpting Bones. The Materiality of Cologne’s 11,000 Holy Virgins and their Textile Skull Reliquaries. Bd. 2, Phil. Diss. University of York History of Art, October 2021.
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Abb. 4: Textil gefasste Schädelreliquie, unterseitig mit Polstern und zwei Schlaufen ausgestattet, Fassung 15. Jahrhundert mit jüngeren Zutaten. Goldene Kammer St. Ursula, Köln.
Abb. 5: Fragment einer Schädelmontage mit plastisch modelliertem Gesichtsfeld aus Leinengeweben, Köln, Ende 14./Anfang 15. Jahrhundert. St. Gereon, Köln.
sowohl textil gefasste Reliquienhäupter als auch textil gestaltete Reliquienmontagen aus Gebeinfragmenten untersucht. Das sich seit dem späten 12. Jahrhundert ausprägende Gestaltungskonzept eines textil gefassten Reliquienhauptes ist durch eine Frontseite charakterisiert, deren Schmuck in der Regel bis zur Augenpartie reicht und die Kalotte haubenartig umfängt, wobei die Stirnpartie als sogenannte fenestrella ausgebildet ist, die den Blick auf das Gebein freilässt bzw. diese Partie durch ein weißes Seidengewebe bedeckt. Die Unterseite des Hauptes ist jeweils abgeflacht und kann auf einem Kissen ruhen. Die in den geschnitzten Büsten bewahrten Häupter können zudem mit Bändern und Polstern zur Entnahme ausgestattet sein (Abb. 4).11 Ein Vergleich mit den in St. Gereon erhaltenen Reliquienhäuptern der Thebäischen Legion bestätigt diese Merkmale. Auch hier findet sich eine Gestaltung der Gesichtsfelder mit plastisch modellierten Nasen und betonten Augenpartien (Abb. 5).12 Sowohl Montagen als auch intakte Häupter bergen im Inneren in der Regel weiteres Gebein, das wiederum textil umhüllt ist. Der Fassung einer
11 Vgl. Regina Urbanek 2010 (wie Anm. 6), S. 76, Abb. 114. 12 Vgl. Gudrun Stracke-Sporbeck: ‚Et aliorum plurimorum sanctorum reliquie‘. Textile Ausstattung und Reliquienfassung im Stift St. Gereon, in: Colonia Romanica, Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 31 (2016), S. 97–112.
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Skulptur vergleichbar, ist immer eine Leinenhülle als Fond und Träger für die äußeren Seiden und gestickten Zierelemente zu finden. Die den Häuptern eingelegten Reliquienfragmente sind dabei ebenso in Schichten aus Leinenstoffen oder Seiden gehüllt und von weichem Füllmaterial umgeben, wobei nicht selten die gemusterte Oberseite einer Seide als besonders kostbare Zutat dem Gebein zugewandt verarbeitet ist.13 Der überwiegende Teil der heute in den Gefachen der Goldenen Kammer präsentierten Häupter ist barockisiert.14 Dabei ist in der Regel – das zeigen UrsulaReliquien und Häupter an anderen Orten – davon auszugehen, dass die mittelalterliche Fassung in der Neuzeit überfangen wurde, ohne die ältere zu entfernen. Dies zeigen beispielsweise die 40 um 1280 über die Zisterzienserabtei Altenberg in die westfälische Abteikirche Marienfeld gelangten Ursulahäupter15 ebenso wie die Märtyrerhäupter der Thebäer in Xanten. Auch diese im Hochaltar bewahrten Schädel erfuhren im 17. Jahrhundert eine vereinheitlichende Überfassung, die die darunter liegenden mittelalterlichen textilen Schichten bewahrte (Abb. 6, 7).16 In St. Ursula in Köln liegen bis heute allein 20 der insgesamt noch 600 Häupter in der spätmittelalterlichen Fassung vor und zeigen textile Seiden, Samte oder Stickereien des 13. bis 15. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich in der Regel um einfarbige oder in der Schattierung eines Damastgewebes gemusterte Seidenstoffe, die das Haupt in mehreren, oft unterschiedlichen Seiden bedecken, wobei die Front 13 Vgl. Stracke-Sporbeck 2016 (wie Anm. 12), S. 106, Abb. 12: offene Reliquienhülle mit innenliegendem Seidengewebe und Goldmalerei, Köln, 14. Jh. 14 Da sowohl die Jesuiten als auch die Ursulinen in Köln eine Werkstatt für die Anfertigung von Paramenten und sakralen Stickereien unterhielten, ist es denkbar, wie auch Casey vermutet, dass die vereinheitlichenden Goldstickereien der neu gefassten Reliquienhäupter in diesen Werkstätten entstanden sind. Vgl. Anton Legner: Kölnische Hagiophilie. Die Domreliquienschränke und ihre Nachfolgeschaft in Kölner Kirchen, in: Kölner Domblatt 51 (1986) S. 225–227. – Casey 2021 (wie Anm. 10), S. 144. – Zur Paramentenwerkstatt der Kölner Jesuiten vgl. Gudrun Sporbeck: Museum Schnütgen. Die liturgischen Gewänder, 11. bis 19. Jahrhundert. Bestandskatalog (Sammlungen des Museums Schnütgen, Bd. 4), Köln 2001, S. 46–49. 15 Vgl. Reinhard Karrenbrock: Heilige Häupter in textiler Zier. Das spätgotische Hochaltarretabel der Zisterzienser-Klosterkirche Marienfeld und sein verlorener Reliquienschrein, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 85/86 (2007/2008), S. 263–300. – Eine Publikation des Marienfelder Reliquienschatzes von Reinhard Karrenbrock und der Autorin ist in Vorbereitung. 16 Vgl. Gudrun Sporbeck: Kunstdenkmälerverzeichnis Xanten, Kath. Pfarrkirche St. Viktor: Hochaltar, Inventar der Reliquienhäupter der Predella, bearb. im Auftrag des Bistums Münster, (Mskr.) 2017.
174 | Gudrun Sporbeck Abb. 6: Reliquienhaupt aus der Schar der 11.000 Jungfrauen in textiler Fassung des 17. Jahrhunderts. Auf der abgeflachten Unterseite aufgenähte spätgotische Cedula. Predellenzone des Hochaltars, St. Viktor, Xanten.
Abb. 7: Reliquienhaupt aus dem Hochaltar der ehem. Zisterzienserabteikirche in Marienfeld. Unter der textilen Fassung des 17. Jahrhunderts ist die mittelalterliche Fassung des frühen 14. Jahrhunderts aus rötlicher Zendelseide mit darüberliegender Filethaube und seitlich unterlegter Miniatur einer Heiligen auf Goldgrund bewahrt. St. Mariä Himmelfahrt, Marienfeld/Westf.
jeweils eine besondere Ausschmückung erfuhr – mit angehefteten Pailletten, aufgeklebten Papierblüten oder feinen Goldstickereien. Die fenestrella ist dabei oft durch schmale, farbige Börtchen eingefasst. Vereinzelt liegen Häupter allein in Leinenhüllen vor, die in der Regel formabbildend exakt genäht und auf der Hinterhauptseite, einer Haube ähnlich, gefältelt wurden (Abb. 8). Die ausführliche Beschreibung der Gestaltung eines Reliquienhauptes oder einer Montage zielt auf die Frage nach der Anfertigung und Weitergabe. Es ist kaum vorstellbar, dass das erhobene Gebein ohne Hülle abgegeben wurde, wenngleich
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Abb. 8: Zwei Reliquienhäupter mit Leinenhülle (rechts) und textiler Fassung des 15. Jahrhunderts, mit jüngeren Zutaten, aufbewahrt im Schiff der hl. Ursula, St. Ursula, Köln.
Caesarius von Heisterbach dies beschreibt.17 Vielmehr werden die Reliquien analog zu Bestattungsriten und zum Schutz des Inhalts als Leinenkorpus abgegeben worden sein. Betrachtet man die Konvolute heiliger Häupter, die sich andernorts erhalten haben – in Xanten, in Städten der Diözese Lüttich (Sint-Truiden, Herkenrode), vor allem in den Zisterzienserfiliationen der Abteikirche Altenberg, Marienfeld, Kamp, aber auch im polnischen Ląd, wohin Reliquien der 11.000 Jungfrauen gelangten –, so ist überwiegend zu beobachten, dass jeweils am Ort vorhandene Seidenstoffe, Borten und Stickereien zur Ausschmückung verwendet wurden. Auf diese Weise bildeten sich Gestaltungskonzepte und eine ‚ortsgebundene Ästhetik‘ aus, die dem jeweiligen Reliquienschatz eine unverwechselbare Prägung verlieh. Im Hinblick auf die Herstellung der oft umfangreichen textilen Fassungen könnte darin ein Hinweis auf gemeinschaftliches Arbeiten der Kanonissen im Sinne kontemplativen Tuns liegen. Häufig ist dabei erkennbar, dass Stoffe sekundär verarbeitet wurden. Reiner Dieckhoff erwähnt aber auch im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Ausstattung des Kölner Domes eine Quelle des 14. Jahrhunderts, wonach eine Äbtissin von St. Ursula, Pyronetta von Arnsberg (1338–1366), den Stifterin17 Im 13. Jahrhundert berichtet Caesarius von Heisterbach, ein Zisterziensermönch sei nach Köln geschickt worden, um Häupter der hl. Jungfrauen zu erlangen. Gleich nachdem er mit dem kostbaren Gut in das Kloster zurückgekehrt sei, habe der Mönch die Häupter in Wein gewaschen und sie geküsst, worauf die Heiligen ihm in einer Vision erschienen seien. „Heri quando caput meum lavisti, tam amicabiliter me deosculatus es; ego tibi modo vicem rependam“; zit. n. Joseph Strange (Hg.): Caesarii Heisterbacensis. Dialogus miraculorum, Bd. II, Köln 1851, S. 155.
176 | Gudrun Sporbeck Abb. 9: Reliquienhaupt mit textiler Fassung aus rotem Seidensatin mit netzartig dekoriertem Gesichtsfeld in Goldstickerei und Pailletten, Italien und Köln, Anfang 15. Jahrhundert. Vergitterte Wandnische Chornordwand, St. Ursula, Köln.
Abb. 10: Reliquienhaupt mit textiler Fassung aus gemustertem, gelbgrundigem Seidengewebe mit ehem. Goldenen Drachen, Italien, 14. Jahrhundert. Gesichtsfeld und Kalotte sind kreuzförmig mit einer schmalen Brettchenborte mit farbigen Mustereinträgen geziert, Köln, 14. Jahrhundert. Vergitterte Wandnische, Chornordwand, St. Ursula, Köln.
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nen des Klaren-Altars, den Gräfinnen Philippa von Geldern († 1352) und Isabella von Geldern († 1354), um 1350 zwölf in kostbare Seiden gehüllte Häupter von den Gefährtinnen der hl. Ursula überließ, für die zwölf Büsten geschnitzt wurden.18 Für das Stift St. Ursula lassen sich daraus die Verfügbarkeit und das Vorhandensein kostbarer Seiden auch in spätmittelalterlicher Zeit ableiten, und die materiellen Verluste, die im Bereich der Paramente zu verzeichnen sind, können um das Spektrum der bei den Reliquienhüllen verarbeiteten Stoffe ergänzt werden (Abb. 9, 10). Bislang sind keine Quellen bekannt, die Aufschluss über eine Werkstatt im Stift oder die Anfertigung der textilen Fassungen der Häupter vor Ort belegen. Nach Gertrud Wegener und zuletzt Clemens Kosch befanden sich im 13. Jahrhundert etwa 40 Kanonissen im Stift, deren Anzahl in der Folgezeit auf etwa 28 sank.19 Seit dem 16. Jahrhundert waren neben der Äbtissin nur noch fünf Kanonissen bepfründet, 1562 hielt sich neben der Äbtissin lediglich eine Kanonisse im Stift auf.20 Die Auswahl der neu aufzunehmenden Sanctimonialen oblag allein der Äbtissin. Zu den Aufnahmebedingungen, die das Kapitel überprüfte, zählte ein Mindestalter von fünf bis sieben Jahren. Der regelmäßige Chordienst, das tägliche Stundengebet und das Erlernen des Chorgesangs zählten zu den ersten Pflichten. Darin wurden sie von den älteren Kanonissen unterwiesen, und erst im Alter von 14 Jahren durften sie beim Kapitel die Zulassung zur Residenz beantragen, die sie mindestens zwei Jahre einhalten mussten.21 Ob das Erlernen textiler Fertigkeiten zu den Aufgaben der jungen Mädchen gehörte und in welcher Regie die Anfertigung von Reliquienhüllen lag, deren Anzahl Friedrich Vill um 1853 noch mit 1760 bezifferte, ist nicht zu erfahren. Sicher ist eine Verbindung des Stiftes zu benachbarten Institutionen anzunehmen, unter anderem zu den Beginen, die sich in der Gasse ‚Hinter der Äbtissinnenküche‘ angesiedelt hatten.22 Diese dürften vielleicht als Laienschwes18 Reiner Dieckhoff: Die mittelalterliche Ausstattung des Kölner Domes, in: Der gotische Dom in Köln, hg. v. Arnold Wolff, Köln 1986, S. 58 f. 19 Vgl. Gertrud Wegener: Geschichte des Stiftes St. Ursula in Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins e.V., Bd. 31), Köln 1971, S. 105 f. – Clemens Kosch: Kölns Romanische Kirchen. Architektur und Liturgie im Mittelalter (Große Kunstführer, Bd. 107), Regensburg 2000, S. 75. 20 Wegener 1971 (wie Anm. 19), S. 84. 21 Vill 1853 (wie Anm. 4), S. 42 f. 22 Seit dem 13. Jahrhundert sind zahlreiche Beginenkonvente in der Umgebung von St. Ursula nachweisbar, die von wohlhabenden Patrizierfamilien begründet wurden. In direkter Abhängigkeit von St. Ursula standen der Beginenkonvent Brunstein in der Ursulastraße und der Konvent Wysse/Hant auf dem Kattenbug – Vgl. Wegener 1971 (wie Anm. 19), S. 76 f.
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tern dem Stift assoziiert gewesen sein. Letha Böhringer weist aber zu Recht darauf hin, dass die vermutete Ausübung textilen Handwerks, gar in Konkurrenz zu den Kölner Zünften, nicht zu belegen ist: „Die ideologische Vereinnahmung der Beginen als arbeitende, ‚nützliche‘ Gegenbilder zu müßigen Nonnen als ‚Betschwestern‘ geht auf Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts zurück, die von konfessionellen Vorurteilen geprägt sind.“23 Sie nennt jedoch eine andere Quelle, die Auskunft über die Vermittlung von Fertigkeiten innerhalb des Konventes gibt: Gegenüber dem Rat der Stadt rechtfertigt die Äbtissin Irmgard von Isenburg (1391–1438) 1407 den Aufenthalt einer Katharina im Stift, der den Protest der Wappenstickerzunft hervorgerufen hatte. Jene Katharina habe der Konvent aufgenommen „zo unsme gesynde“, damit sie die Konventualinnen und das Gesinde zu bestimmten Zeiten darin unterweise, „mit sticken budele zo machen ind der gelych sachen“.24 Die Äbtissin verweist darauf, dass es häufiger geschah, dass Personen zur Unterweisung der Stiftsdamen und des Dienstpersonals hinzugezogen wurden, die nicht dem Konvent angehörten: „[…] wir ouch allewege sulchen persone van sulchen kunsten gerne by uns gehadt hain“.25 Demnach kann vermutet werden, dass die adeligen Stiftsdamen, die – anders als die Beginen – Zugang zum Markt, zu Leinen wie auch zu kostbaren Seidenstoffen hatten, diese in gewissem Umfang selbst verarbeiteten und auch für die Abgabe vorbereiteten.26 Die Weitergabe der Reliquien an andere Institutionen schuf dabei ein ‚Netzwerk‘, das der Verbreitung des Ursulakultes diente und die Bedeutung des Stiftes manifestierte. Wegener verweist etwa darauf, dass Äbtissin Elisabeth von Westerburg (amt. 1304–1318) enge Beziehungen zum Dominikanerorden unterhielt, der sich um 1220 in der Nähe zum Stift ansiedelte. Nachdem sie dem Kloster und Albertus Magnus bedeutende Reliquien der hl. Jungfrauen geschenkt hatte, wurde das Stift 1296 in die Gebetsgemeinschaft der Dominikaner aufgenommen.27 23 Letha Böhringer: Wer produzierte die ‚Kölner Borten‘? Anmerkungen zu einer Neuerscheinung, in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte 61 (2014), S. 263–268, bes. S. 266. 24 „mit Sticken Beutelchen zu fertigen und dergleichen“ (Übers. Autorin). 25 Johann Jakob Merlo: Urkunden, Stadt und Erzstift Köln nebst den angrenzenden Territorien betreffend, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere die alte Erzdiözese Köln (AHVN) 24 (1872), S. 303 f., Nr. 23, hier zit. n. Böhringer 2014 (wie Anm. 23), S. 267. 26 Ich danke Letha Böhringer für einen hilfreichen Austausch zu diesem Thema. 27 Wegener 1971 (wie Anm. 19), S. 69. Überliefert ist die Abgabe von 300 Reliquienhäuptern an den Konvent.
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Dass dem Stift durchaus Konkurrenz erwuchs und viele Institutionen in der Stadt Reliquien der 11.000 Jungfrauen verbreiteten, wurde oben bereits angedeutet. Vor allem die Tätigkeit der Benediktinerinnen von St. Makkabäer ist hierbei quellenkundlich gut belegt. So erwarb Wilhelm van Rijckel (amt. 1249–1272), Abt der Benediktinerabtei Sint-Truiden in der Diözese Lüttich, zwischen 1270 und 1272 in Köln mehrere Reliquienkonvolute, insgesamt 120 Häupter. Als Vermittlerin wird dabei stets die im Makkabäerkloster lebende Nonne Hedwig von Soest genannt, während eine Begine namens Ermentrudis als ‚Zwischenhändlerin‘ und wohl als Begleiterin des Reliquientransports fungierte.28 Unter den in Sint-Truiden bewahrten Häuptern ist auf einer cedula festgehalten: „Im Jahr unseres Herrn 1271 […] haben die ehrwürdigen Schwestern Hawidis und Eulaco bei den heiligen Makkabäern in Köln, und Ermentrudis, Begine, uns diese Schädel vom Kollegium der 11.000 Jungfrauen geschenkt, deren Namen durch Alter und Nachlässigkeit verloren gegangen sind.“29
Paramente im Stift St. Ursula
Vielleicht sind „Alter und Nachlässigkeit“ auch für den heute nahezu vollständigen Verlust mittelalterlicher Paramente des ehemaligen Stiftes St. Ursula verantwortlich. Ganz sicher aber ist dies das Resultat der Aufhebung des Stiftes im Zuge der Säkularisation, der neu entfachten Sammelleidenschaft kenntnisreicher Theologen am Ausgang des 19. Jahrhunderts und der Kriege des 20. Jahrhunderts. Nach Anzahl der erhaltenen Fragmente und quellenbasiert ist der Umfang der spätmittelalterlichen Ausstattung mit Paramenten auf den ersten Blick kaum zu beantworten. Die Phase der reich dotierten Altäre und differenzierten liturgischen Formen lässt sich anhand des Erhaltenen nur ansatzweise abbilden.
28 Reinhild Stephan-Maaser: Jungfrauen auf Reisen. Reliquienhandel und Translationen entlang der Strecke Brügge–Novgorod, in: Transit Brügge–Novgorod. Eine Straße durch die europäische Geschichte, Ausst.-Kat. Ruhrlandmuseum Essen, hg. v. Ferdinand Seibt/Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter, Bottrop/Essen 1997, S. 216–223, bes. S. 216. 29 Vgl. E. Deconinck: Historische gegevens in verband met het textiel uit de Abdij van SintTruiden, in: Stof uit de kist. De middeleeuwse textielschat uit de abdij van Sint-Truiden, Leuven 1991, S. 39–47, bes. S. 45. – Stephan-Maaser 1997 (wie Anm. 28), S. 216.
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Die frühesten Darstellungen des Schatzes durch Friedrich Vill 185330und Franz Bock 185831 geben keinerlei Hinweise auf vorhandene kostbare Paramente, wie dies zu erwarten wäre. Bock verweist allein auf Altarvorhänge, die den Hochaltar bekleideten und im Zuge der Säkularisation in die Kölner Ratskapelle gelangten. Einige Gewänder wurden in den Aachener Dom verbracht. Ob Paramente durch Verkäufe in museale Sammlungen Europas gelangten – wie im Falle der Seidengewebe aus dem Hippolytusschrein geschehen – bedarf weiterer Recherche. Daher sind Hinweise aus dem Liber Ordinarius des ausgehenden 14. Jahrhunderts auszuwerten und zudem die oben genannten am Ort noch immer in großer Zahl erhaltenen Reliquienhäupter in den Blick zu nehmen. Nach Auswertung der wenigen Quellen, die sich zur mittelalterlichen Stiftsgeschichte von St. Ursula erhalten haben, verzeichnet Gertrud Wegener, dass aus der Frühzeit des Kölner Stiftes – vergleichbar dem Essener Damenstift – nur wenige Äbtissinnen namentlich überliefert sind. Hierzu gehört eine Äbtissin Gepa (Gepa I.), die wahrscheinlich in der Zeit von 1135 bis 1170 dem Stift vorstand und sowohl begütert als auch kirchenpolitisch einflussreich gewesen sein muss. Aus Aufzeichnungen aus den ersten Jahren ihrer Amtszeit geht hervor, dass sie bedeutende Erwerbungen für die Ausstattung des Kirchenbaus selbst finanzierte, wozu auch der Erwerb kostbarer Paramente und wertvollen Silbergeräts zählte.32 Dies ist umso bemerkenswerter, als sich offenbar keine weiteren Zeugnisse über Paramentenstiftungen aus den folgenden Jahrhunderten erhalten haben. Die einzigartigen Seidenstoffe aus dem Hippolytusschrein, wie auch die jüngere Seide des 10./11. Jahrhunderts aus dem Viventia-Sarkophag, mögen eine Vorstellung von der hochrangigen Ausstattung des Stiftes mit kostbarsten Luxusseiden in der Frühzeit vermitteln. Bezüglich der Entwicklung der Chorkleidung im Stift ist die im 11. Jahrhundert verfasste Vita der Gründungsäbtissin des Stiftes Vilich, Adelheid († um 1015 / vor 1021), von Bedeutung. Sie ist zuvor um 960 als Kanonisse an St. Ursula nach30 Vill 1853 (wie Anm. 4). 31 Franz Bock: Das heilige Köln: Beschreibung der mittelalterlichen Kunstschätze in seinen Kirchen und Sakristeien, aus dem Bereiche des Goldschmiedegewerkes und der Paramentik auf Wunsch des Vorstandes des christlichen Kunstvereins der Erzdiöcese Köln, Leipzig 1858, zu St. Ursula S. 3–25, Nr. 24–34. 32 Wegener 1971 (wie Anm. 19), S. 57 f. bezieht sich auf Theodor Josef Lacomblet: Die Besitzungen des Stiftes St. Ursula in Cöln und die Reihenfolge der Äbtissinnen und Dechantinnen desselben (Archiv für die Geschichte des Niederrheins, Bd. III), Düsseldorf 1860, S. 136 f.
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weisbar und folgte hier bereits den Statuten der Aachener Synode von 816, die sie später ebenso in Vilich durchsetzte.33 Thomas Schilp verweist auf die Bedeutung der Institutio sanctimonialium der Aachener Synode, die für religiöse Frauengemeinschaften verbindlich werden sollte und hochrangigen Stiftern die Schenkung kostbarer Pretiosen und Seidenstoffe empfahl.34 Hinsichtlich der Chorkleidung von Äbtissin und Sanctimonialen wurde dagegen auf Schlichtheit Wert gelegt. Erwähnt werden ein schwarzes Kleid und ein Schleier, der in der Kirche zu tragen sei. Schilp betont, dass es sich hier nicht um eine normative Vorschrift gehandelt habe, die gegen das luxuriöse Auftreten adeliger Stiftsdamen gerichtet war, sondern um einen Ausdruck demütiger Gesinnung. Noch für die Zeit des 14./15. Jahrhunderts kann Wegener eine vergleichbare Chorkleidung rekonstruieren.35 Mit Beginn der zweijährigen Residenz erhielt die Kanonisse ein weißes „rocklin und einen krantz auf sein bloess ausgepreidet haar.“ Sie hatte während des Chordienstes ein langes Untergewand und darüber ein halblanges weißes Gewand in der Art eines Rochetts zu tragen, das in den Quellen als „superpelliceum oder rocklin“ bezeichnet wird. Erst nach Vollendung der zweijährigen Residenzzeit erhielt die Kanonisse ihren schwarzen Chormantel mit Schleier und einen „Rantzen“. Anders als im Essener Stift oder an St. Maria im Kapitol in Köln lassen sich für St. Ursula keine Verbindungen zu einem Herrscherhaus ausmachen. Die Verbindungen zum Domkapitel hingegen sind durch familiäre Bezüge der adeligen Stiftsdamen zahlreich. Wegener konnte nachweisen, dass diese vorrangig aus dem rheinisch-westfälischen Adel stammten, wobei die Familien von Virneburg und Isenburg in der Zeit des ausgehenden Mittelalters besonders einflussreich waren.36 Daher wäre zu erwarten, dass St. Ursula auch in der Zeit des 14. und 15. Jahrhunderts mit Paramenten, mit denen professionelle Kölner Handwerkszünfte beauftragt wurden, in reicher Vielfalt und hoher Qualität ausgestattet gewesen ist. Der erhaltene Liber Ordinarius des Stiftes, den Gertrud Wegener ediert hat, lässt in der Vielzahl der liturgischen Feiern und Prozessionen in der Kirche und durch 33 Albert Gereon Stein: Die Pfarrei zur heiligen Ursula in Köln, vormals Pfarre von Maria Ablaß, Köln 1880, S. 55. – Wegener 1971 (wie Anm. 19), S. 97. 34 Thomas Schilp: Kleidung aus Seide in Frauengemeinschaften? Spannungsfelder von Norm und Wirklichkeit, in: Seide im früh- und hochmittelalterlichen Frauenstift. Besitz – Bedeutung – Umnutzung, hg. v. Thomas Schilp/Annemarie Stauffer (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 11), Essen 2013, S. 49–99, hier S. 64 f. 35 Wegener 1971 (wie Anm. 19), S. 106. 36 Wegener 1971 (wie Anm. 19), S. 118 f.
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die Stadt punktuell den untergegangenen Schatz aufscheinen.37 So verweist sie zudem auf zahlreiche Memorienstiftungen für die Sanctimonialen und einige Förderer der Stadtgesellschaft, auf Bittprozessionen, bei denen zahlreiche Fahnen mitgeführt wurden. Ohne dass dies ausdrücklich erwähnt wird, kann hierbei auch von Gewandstiftungen und Altarbekleidungen für die Anniversarfeiern ausgegangen werden. Die im Liber Ordinarius festgehaltenen Feiern des Kirchenjahres entsprechen in der liturgischen Ausgestaltung denen der anderen Stifte der Stadt. Andreas Odenthal hat in seiner Gegenüberstellung der Libri Ordinarii dreier Frauenstifte zuletzt auf die an St. Ursula ausgeprägte Interaktion Abb. 11: Kasel eines Ornats aus rotem Samt mit des Konventes und der Kleriker in der appliziertem gesticktem Kaselkreuz, Gold- und Liturgie verwiesen und gezeigt, dass Seidenstickerei mit Applikation, Köln, 16. Jahrhundert (Montage 19. Jahrhundert). St. Ursula, Köln es keine scharfe Trennung in der Nutzung der kirchlichen Teilräume gab.38 Nicht nur die zahlreichen geschmückten Altarstellen, auch die allgegenwärtigen gezierten Reliquien vermochten dabei zu einer verdichteten Sensualisierung des überzeitlich gültigen Glaubensgeschehens beitragen.
37 HAStK, Geistl. Abt. 24, fol. 55v–58v. – Gertrud Wegener: Der Ordinarius des Stiftes St. Ursula in Köln, in: Aus Kölnischer und Rheinischer Geschichte. Festgabe Arnold Güttsches zum 65. Geburtstag, hg. v. Hans Blum (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 29), Köln 1969, S. 115–132. – Wegener 1971 (wie Anm. 19), S. 120–130. 38 Andreas Odenthal: Exklusivität innerer und äußerer Räume. Zur liturgischen Nutzung der Damenstiftskirchen St. Ursula in Köln, Gerresheim und Nivelles, in: Zwischen Klausur und Welt. Autonomie und Interaktion spätmittelalterlicher geistlicher Frauengemeinschaften, hg. v. Eva Schlotheuber/Sigrid Hirbodian, Ostfildern 2022, S. 149–175.
Zur spätmittelalterlichen textilen Ausstattung des Stiftes St. Ursula in Köln | 183 Abb. 12: Dalmatik des Ornats aus rotem Samt mit applizierten Kölner Goldborten und Stifterwappen auf dem Querriegel, Köln, nach 1480; barockes gesticktes Allianzwappen am unteren Saum der Rückseite. St. Ursula, Köln.
Die am Ort bis heute überlieferten Fragmente alter Paramentenpracht datieren alle ins 15. Jahrhundert und sind teilweise in den musealen Kirchenschatz auf der Empore aufgenommen. Allein ein barockisierter Ornat aus dunkelrotem Samt ist mit Kölner gewebten Bortenstäben der Zeit um 1480 und einer gestickten Kreuzigung auf der Kasel geschmückt (Abb. 11, 12). Er zählt damit zu den wenigen erhaltenen Kölner Ornaten der Spätgotik.39 Ein fein differenziertes ikonografisches Programm verbindet die Gewänder, wobei die Dalmatiken mit gewebten Goldborten, die alternierend zwischen den Tituli ‚ihesus‘ und ‚maria‘ kleinteilige Blütenbäumchen, Sternrosetten und Rosenkränze zeigen, auf die Passion Christi bezogen sind. Weitere Abschnitte der Borte zieren die Ärmel, während der Querriegel auf der Rückseite der Dalmatiken das gewebte Allianzwappen der Familien Westerburg und Virneburg an prominenter Stelle trägt. Anlass für die Stiftung könnte die 39 Gudrun Sporbeck: Liturgical Vestments Adorned with Cologne Bands over the Centuries, in: Iconography of Liturgical Textiles in the Middle Ages, Riggisberger Berichte 18, AbeggStiftung, Riggisberg 2010, S. 183–193, bes. S. 190 f. – Marita Bombek/Gudrun Sporbeck (Hg.): Kölner Bortenweberei im Mittelalter. Corpus Kölner Borten (Corpus Kölner Borten, Bd. 1), Regensburg 2012, Kat. Nrn. 77.1, 77.2, S. 169–171.
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Abb. 13: Gesticktes Wappen in Gold- und Seidenstickerei der Familie von Virneburg mit Grafenkrone und Kartuscheneinfassung, Köln, 17. Jahrhundert. Schatzkammer St. Ursula, Köln. Abb. 14: Gestickter Besatz eines Chormantels mit stehenden Propheten in farbigen Nischenräumen (Detail), Gold- und Seidenstickerei, England, um 1470. Schatzkammer St. Ursula, Köln.
Wahl der Kanonisse Margareta von Westerburg zur neuen Äbtissin am 13. Januar 1486 gewesen sein.40 Ob die Applikation zweier gestickter Familienwappen mit roter und blauer Helmzier aus der Zeit des 18. Jahrhunderts mit der Erneuerung der Stiftung zusammenhängt oder eine jüngere Zutat ist, ist nicht zu entscheiden. Wenngleich die Familie Virneburg seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert nicht mehr in den Namenlisten des Konventes auftaucht, zeigt doch ein gesticktes Wappen mit Grafenkrone des 17. Jahrhunderts, dass die Familie auch in der Neuzeit das Stift weiterhin mit Paramentenschenkungen bedachte (Abb. 13). Unter den gestickten Fragmenten, die Eingang in den Schatz gefunden haben, findet sich der Abschnitt eines englischen Chormantelbesatzes, der in zwei Kolum40 Wegener 1971 (wie Anm. 19), S. 184.
Zur spätmittelalterlichen textilen Ausstattung des Stiftes St. Ursula in Köln | 185 Abb. 15: Antependium am Altar der Goldenen Kammer, Aufnahme vor 1899.
nen in Nischen stehende Propheten zeigt. Diese in mit Hermelin besetzte Mäntel gekleideten Männer blicken jeweils nach links und setzen ein antwortendes Gegenüber voraus. Sie sind in goldgelbe durchfensterte Nischen eingestellt, deren blaues Gratgewölbe von Zackentürmen bekrönt wird. Die aus England importierte Stickerei dürfte zeitgleich mit dem genannten Kölner Ornat entstanden sein (Abb. 14). Eine historische Aufnahme der Goldenen Kammer vor 1899 zeigt den dortigen Altar mit einem – heute verlorenen – Antependium des 19. Jahrhunderts geschmückt (Abb. 15). Auf dieses sind gestickte Besätze eines Ornates wohl niederländischer Provenienz appliziert und in der Horizontalen durch eine gestickte Weinlaubborte verbunden. Das Kaselkreuz im Zentrum zeigt eine volkreiche Passion in erweiterten Auszügen der Querarme. Die begleitenden Figurenstäbe bilden jeweils drei sich gegenüberstehende Figurenpaare in Nischenräumen ab, wobei je zwei Bortenstäbe der früheren Dalmatik zusammengesetzt wurden. Bei den ap-
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Abb. 16: Hl. Ursula als Schutzmantelheilige auf dem roten Antependium, Gold- und Seidenstickerei mit Applikation, Köln, um 1500. Gotische Sakristei, St. Gereon, Köln.
Abb. 17: Gestickte Distelzweige auf dem roten Antependium, Goldstickerei in Anlegetechnik mit ungedrehten, farbigen Seidenfäden, Köln, um 1500. Gotische Sakristei, St. Gereon, Köln.
plizierten jüngeren Wappen könnte es sich um die noch heute im Schatz erhaltenen handeln. Betrachtet man dieses Mosaik kleiner Fragmente, so ist damit doch das Spektrum der in rheinischen Kirchen um die Zeit des 15. Jahrhunderts vorhandenen Paramente in charakteristischer Weise umrissen. Neben den vornehmen Paramenten Kölner Produktion bereicherten in zunehmendem Maße auch Stickereien aus England und den Niederlanden die Sakristeien. In Anbetracht dieser ‚wenigen Fäden‘, die in die Vergangenheit des textilen Schatzes von St. Ursula führen, kann es als glückliche Fügung betrachtet werden, dass sich heute im Schatz von St. Gereon ein gesticktes Antependium des ausgehenden 15. Jahrhunderts befindet, das auf rotem Grund prominent eine Darstellung der hl. Ursula und ihrer Gefährtinnen im Typus der Schutzmantelheiligen zeigt (Abb. 16). Auf rotem Damastgrund in reicher Goldund Seidenstickerei ausgeführt, ist die Heilige von Abschnitten goldener Disteln mit farbigen Blütenständen umgeben, nach mittelalterlicher Symbolik Zeichen des Schutzes und der Wahrhaftigkeit. Ausgeführt ist diese äußerst qualitätvolle Stickerei Kölner Provenienz in feinster Lasurstickerei und Anlegetechnik (Abb. 17). Den
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Abb. 18: Gewebte Goldborte als oberer Abschluss des Antependiums (sog. Fürleger), mit gestickter Marienkrönung und Apostelreihen, Detail, Köln, um 1500. Gotische Sakristei, St. Gereon, Köln.
oberen Abschluss des Antependiums bildet eine um 1500 entstandene gewebte Kölner Goldborte mit einer gestickten Marienkrönung inmitten einer Apostelreihe, die von musizierenden Engeln auf schmalen Säulchen begleitet wird (Abb. 18). Der gute Erhaltungszustand dieses Paraments verrät nicht die Odyssee, die sich in der Zeit nach der Säkularisation abgespielt hat: Im Laufe des 19. Jahrhunderts gelangte es wohl in den Besitz der Pfarrkirche Alt St. Alban. Dass es sich dort nicht ursprünglich befunden hat, belegen die akribisch geführten Inventarverzeichnisse, die in den Jahren 1576 und 1598 angelegt wurden.41 Weder das Antependium noch die Goldborte, die zum Besten der Kölner Werkstätten gehört, wurden dort verzeichnet.42 1858 notiert Franz Bock in seinem Kunstverzeichnis der Kölner Kirchen zum Schatz von St. Alban: „Die Goldborte findet sich auf einem Vorhang von rotem Samt […] die jetzige stylwidrige Applikation“.43 Das rote Antependium hingegen erwähnt er nicht, auch in keiner anderen Kirche. Um 1921 gelangen das gestickte Antependium und die Goldborte separat in die Sammlung des Schnütgen-Museums, verzeichnet als Dauerleihgabe aus St. Alban. Die Neuordnung der Pfarrkirchen und die rechtliche Zuordnung St. Albans nach St. Gereon führte um das Jahr 2000 zur Übernahme des dortigen Paramentenschatzes und somit zur Aufnahme des Antependiums und der Goldborte in den Bestand von St. Gereon. Dort werden nun 41 Vgl. Gudrun Sporbeck: „herlig gewirckt mit wapenstickers werk“. Die Paramente der Kölner Stadtpfarrkirche St. Alban in den Inventaren des Kirchenschatzes von 1576 und 1598, in: das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 64/3 (2011), S. 194–202. 42 Bombek/Sporbeck 2012 (wie Anm. 39), Kat. Nr. 131, S. 262–265. 43 Bock 1858 (wie Anm. 31), S. 17.
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beide vereint museal präsentiert. Dadurch erst ist zu erkennen, dass die Dimensionen des gesamten Behangs mit den Maßen der goldenen Altartafel des 12. Jahrhunderts aus St. Ursula übereinstimmen, die sich heute im Museum Schnütgen befindet.44 Da sie höchstwahrscheinlich den im späten 13. Jahrhundert neu errichteten Hochaltar des Stiftes zierte, kann auch das rote gestickte Antependium in späterer Zeit am Hochfest der Patronin hier an zentraler Stelle und Bezug nehmend auf die sich darüber befindenden Reliquienschreine platziert worden sein. Die Stiftskirche, so überliefert der Liber Ordinarius, war an diesem Festtag das Ziel der Prozessionen der anderen Konvente der Stadt. Programmatisch und festlich wurde das Bild der Heiligen am Altar in ihre Mitte gestellt.
Fazit
Weder die am Ort erhaltenen Paramente noch die beispielhaft vorgestellten textilen Hüllen der Reliquien vermögen auch nur ansatzweise einen Eindruck von dem ursprünglich Vorhandenen zu vermitteln – dem Reichtum mittelalterlicher textiler Ausstattung, wie er der Würde und hochrangigen Bedeutung des Stiftes St. Ursula entsprach. Die in dem barockisierten Ornat des 15. Jahrhunderts aufscheinende Memorie zeigt, dass die im Stift vertretenen Adelsgeschlechter der traditionsgebundenen Verpflichtung zur Pflege und Erneuerung der Schenkungen noch in der Neuzeit nachkamen. Hinzu kamen Zustiftungen des Kölner Patriziats, mit denen wahrscheinlich nicht nur die zum Stift gehörende Pfarrkirche St. Maria Ablass, sondern das Stift selbst bedacht wurden. Die Fülle an Messgewändern, Ornaten, Fahnen, Bekleidungen für Heiligenfiguren in allen liturgischen Farben bis hin zur Altarwäsche, wie sie in erhaltenen Inventaren anderer Stadtkirchen belegt sind, können auch für St. Ursula vermutet werden. Besonders der textile mittelalterliche Schmuck der Reliquienhäupter vermag einen Eindruck von der ursprünglichen Qualität der Ausstattung zu vermitteln. Diese lässt sich an 20 Reliquienhäuptern erschließen, während bei allen übrigen, neuzeitlich überarbeiteten Reliquien die mittelalterliche Fassung zu vermuten,
44 Vgl. Karen Straub: Antependium aus St. Ursula, Köln, um 1170–1180, spätes 14./frühestes 15. und 19. Jahrhundert, in: Museum Schnütgen. Handbuch zur Sammlung, hg. v. Moritz Woelk/Manuela Beer, München 2018, Kat. Nr. 54, S. 94 f. (Inv.-Nr. G 564).
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aber nicht zugänglich ist.45 Die oft aus den Stoffen der Messgewänder in Zweitverwendung verarbeiteten Seiden und Samte wie auch die eigens mit besonderem Schmuck gefertigten Stickereien der Häupter, deren Anfertigung im Stift wahrscheinlich ist, führt über die Repräsentation auch zur Kunstfertigkeit der Kanonissen und leitet zu subtiler Hinwendung.
45 Im Zuge der noch nicht abgeschlossenen Restaurierungskampagne der Goldenen Kammer werden umfängliche textiltechnologische Untersuchungen durchgeführt (Atelier Dipl.Rest. Ulrike Reichert, Köln), die Ausgangspunkt weiterer textilhistorischer Auswertungen sein können.
Nadel, Faden, Pergament Textile Anteile in Manuskripten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Maria Schaller
Einleitung und Fragestellung – Farbige Vernähungen in der Engelberger Bibel
Zu einer der wertvollsten Handschriften der Stiftsbibliothek des benediktinischen Doppelklosters Engelberg zählt eine reich ausgestattete und illuminierte dreiteilige Bibel (Cod. 3–5) aus dem 12. Jahrhundert, die in der Amtszeit des Abtes Frowin (amt. 1143–1178) in dem von ihm eingerichteten Skriptorium entstand.1 Die so1
Zur Geschichte des benediktinischen Doppelklosters in Engelberg vgl. Robert Durrer: Die Kunstdenkmäler des Kantons Unterwalden, Zürich 1899–1928, Basel 21971, S. 102–230, hier S. 102–151 sowie die Beiträge Rolf de Kegels, so: Rolf De Kegel: Monasterium, quod duplices […] habet conventus. Einblicke in das Doppelkloster Engelberg 1120–1615, in: Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen. Religiöse Frauengemeinschaften in Süddeutschland. Beiträge zur interdisziplinären Tagung vom 21. bis 23. September 2005 in Frauenchiemsee, hg. v. Eva Schlotheuber/Helmut Flachenecker/Ingrid Gardill, Göttingen 2008, S. 181–201. Zur Engelberger Bibel und dem von Frowin initiierten Skriptorium vgl. v.a. Catalogus codicum manu scriptorum qui asservantur in Bibliotheca Monasterii O.S.B. Engelbergensis in Helvetia, hg. v. P. Benedictus Gottwald, Freiburg im Breisgau 1891, S. 12–17. – Rosy Schilling: Die Engelberger Bildhandschriften aus Abt Frowins Zeit in ihrer Beziehung zu burgundischer und schwäbischer Buchmalerei, in: Anzeiger für schweizerische Altertumskunde 35/2 (1933), S. 117–128. – Scriptoria medii aevi Helvetica = Denkmäler schweizerischer Schreibkunst des Mittelalters, hg. und bearb. v. Albert Bruckner: Bd. 8, Schreibschulen der Diözese Konstanz: Stift Engelberg, Genf 1950, S. 108–110. – Durrer 1971 (wie Anm. 1), S. 102–230, hier S. 188–222. – Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom Anfang des Mittelalters bis 1550, Bd. 2, Die Handschriften der Bibliotheken Bern-Porrentruy, bearb. v. Beat Matthias von Scarpatetti, Dietikon-Zürich 1983, Nr. 223–225, S. 83 f. – Martin Steinmann: Abt Frowin von Engelberg (1143–1178) und seine Handschriften, in: Der Geschichtsfreund 146 (1993), S. 7–36. – Christoph Eggenberger (Hg.): Die Bilderwelt des Klosters Engelberg. Das Skriptorium unter den Äbten Frowin (1143–1178), Berchtold (1178–1197), Heinrich (1197–1223), Luzern 1999, hier insbesondere die Beiträge von Anton von Euw, Kamla Zogg, Reto Bonifazi, Anna Stützle-Dobrowolska, Catherine Michel, Nicole Morlet und Christoph Eggenberger sowie dessen Schlussbetrachtungen. – Martin Steinmann: Die Bücher des Abtes Frowin. Ein Skriptorium in Engelberg?, in: Scriptorium 54/1 (2000), S. 9–13. – Susan Marti: Malen,
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genannte Frowin-Bibel zeigt eine Fülle auffälliger Vernähungen, die in aufwendiger Handarbeit unter Einsatz verschiedener Techniken auf den Pergamentseiten angebracht sind, und kann somit als Ausgangspunkt für einen an Genderfragen interessierten Beitrag dienen, der textile Anteile in Manuskripten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in den Blick nimmt (Abb. 1–4).2 Schreiben und Beten. Die spätmittelalterliche Handschriftenproduktion im Doppelkloster Engelberg, Zürich 2002. – Hugh Feiss: Frowin of Engelberg: his monastery, his scriptorium and his books, in: American Benedictine Review 56/1,2 (2005), S. 68–99, 194–212. – Susan Marti: Doppelklöster im Bild? Streiflichter auf den Buchschmuck südwestdeutscher Reformkonvente, in: Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen. Religiöse Frauengemeinschaften in Süddeutschland. Beiträge zur interdisziplinären Tagung vom 21. bis 23. September 2005 in Frauenchiemsee, hg. v. Eva Schlotheuber/Helmut Flachenecker/Ingrid Gardill, Göttingen 2008, S. 203–219, hier S. 213–215. – Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 3: Biblia latina vulgatae versionis cum prologis, https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/bke/0003 [16.09.2022]. – Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 4: Biblia latina vulgatae versionis cum prologis, https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/bke/0004 [16.09.2022]. – Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 5: Biblia latina vulgatae versionis cum prologis, https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/bke/0005 [16.09.2022]. 2 Zu farbigen Pergamentnähten in mittelalterlichen Handschriften vgl. Christine JakobiMirwald: Die Kreuzigungs- und Kreuzabnahmedarstellungen in Weingartner Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts, in: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung in Weingarten, 1094–1994. Festschrift zum Heilig-Blut-Jubiläum am 12. März 1994, hg. v. Norbert Kruse/ Hans Ulrich Rudolf, Sigmaringen 1994, S. 185–208, hier S. 200. – Christine M. Sciacca: Stitches, Sutures, and Seams: “Embroidered” Parchment Repairs in Medieval Manuscripts, in: Medieval Clothing and Textiles, Bd. 6, hg. v. Robin Netherton/Gale R. Owen-Crocker, Woodbridge 2010, S. 57–92. Der Beitrag basiert auf Sciaccas Dissertation, vgl. Christine M. Sciacca: The Gradual and Sacramentary of Hainricus Sacrista (Pierpont Morgan Library, M.711): Liturgy, Devotion, and Patronage at Weingarten. Ph.D. dissertation, Columbia University, 2008. – Irmgard Trummler: Reparatur oder Zierde. Stickereien in romanischen Seckauer Handschriften, in: Libri Seccovienses. Studien zur Bibliothek des Augustiner Chorherrenstiftes Seckau, hg. v. Thomas Csanády/Erich Renhart, Graz 2018, S. 179–186. – Thomas Csanády: Von rohen und kunstvollen Stichen. Pergamentvernähungen an mittelalterlichen Handschriften aus Seckau, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich 1 (2019), S. 7–19. – Astrid Breith/Thomas Csanády/Christine Jakobi-Mirwald: Pergamentnähte in mittelalterlichen Handschriften. Ein Tagungsbericht / Parchment Stitchings in Medieval Manuscripts. Résumé and Outlook, in: Künstliche Intelligenz und Bibliotheken, 34. Österreichischer Bibliothekartag Graz, 10. bis 13. September 2019, hg. v. Christina Köstner-Pemsel/Elisabeth Stadler/Markus Stumpf (Schriften der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare [VÖB], Bd. 15), Graz 2020, S. 381–389. – Christine Jakobi-Mirwald: Aus der Zeit gefallen – Das Weingartener Berthold-Sakramentar, in: Europäische Bild- und Buchkultur des 13. Jahrhunderts, hg. v. Christine Beier/ Michaela Schuller-Juckes, Wien 2020, S. 73–90, hier S. 77, 84–89. – Astrid Breith/Thomas Csanády/Christine Jakobi-Mirwald: Mehr als Reparatur. Pergamentnähte in mittelalterlichen Handschriften Zentraleuropas, in: Tracing Written Heritage in a Digital Age / Auf
Nadel, Faden, Pergament | 193 Abb. 1: Farbige Pergamentnaht, Cod. Engelberg, Stiftsbibliothek, Engelberger Bibel (1143–1178), cod. 3, fol. 244r.
Abb. 2: Farbige Pergamentnaht, Cod. Engelberg, Stiftsbibliothek, Engelberger Bibel (1143–1178), cod. 3, fol. 14r.
194 | Maria Schaller Abb. 3: Farbige Pergamentnaht, Cod. Engelberg, Stiftsbibliothek, Engelberger Bibel (1143–1178), cod. 4, fol. 73r.
Abb. 4: Farbige Pergamentnaht, Cod. Engelberg, Stiftsbibliothek, Engelberger Bibel (1143–1178), cod. 5, fol. 88r.
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In den drei Codices hat sich die beeindruckende Zahl von über 200 dieser einoder mehrfarbigen Pergamentnähte erhalten, wobei der erste Band der Engelberger Bibel mit Abstand am reichsten vernäht ist. Vor allem wurde Garn in den Farben Gelb, Rosé, Rot, Grün und Braun verwendet, darüber hinaus ist in Cod. 3 auch mit einem blau gefärbten Faden gearbeitet worden. Zumeist findet sich auf einem Blatt eine Naht, es können aber auch mehrere sein. Die Vernähungen zeigen sich sowohl im Binnenbereich der Pergamentseiten als auch an ihren Rändern und überdecken zuweilen die Schrift bzw. äußerst selten auch den Buchschmuck. Ausgehend von diesen ersten allgemeinen Beobachtungen soll zunächst der Forschungsstand zum Vorkommen sowie zur Terminologie und zu möglichen Funktionen farbiger Nähte in Handschriften wie der Engelberger Bibel skizziert werden. Die hierauf folgenden Überlegungen widmen sich der Frage, ob die Anfertigung, aber auch das spätere Betrachten und gegebenenfalls auch das Betasten dieser Vernähungen an Löchern, Rissen oder Schnitten im Pergament möglicherweise förderlich für eine Versenkung in die meditative Andacht gewesen sein könnte. Wie genau muss man sich den Herstellungsprozess vorstellen? Zu welchem den Spuren schriftlichen Kulturerbes im digitalen Zeitalter, hg. v. Ephrem A. Ishac/Thomas Csanády/Theresa Zammit Lupi, Wiesbaden 2021, S. 249–276. – Hannah Ryley: Re-using Manuscripts in Late Medieval England. Repairing, Recycling, Sharing (York Manuscript and Early Print Studies, Bd. 4), York 2022, S. 58 f. – Augusta Strand: A Medieval Book Mended with Silk Thread, https://web.archive.org/web/20131017052042/http:/www.ub.uu. se/en/Just-now/Projects/Completed-projects/A-medieval-book-mended-with-silk-thread/ [16.09.2022]. – Weltkulturerbe Stiftsbezirk St. Gallen: Herangezoomt –Bibel von Frowin von Engelberg, fol. 80v, https://www.stiftsbezirk.ch/userdata/Stiftsbezirk/Eintauchen/Virtuelles%20Entdecken/Herangezoomt/sch%C3%B6nsten%20Seiten%20der%20Schweiz/ antwort-1-bibel-frowin.pdf [16.09.2022]. Die Vernähungen werden darüber hinaus insbesondere von Erik Kwakkel auch in einigen Kleinbeiträgen in Blogs und sozialen Netzwerken wie Twitter diskutiert. Nicht zuletzt sei der Hinweis auf die Homepage Christine JakobiMirwalds gegeben, auf der umfangreiche Informationen und Materialien, u.a. ein PDF zu einer vorläufigen Terminologie von Pergamentnähten, bereitgestellt werden. Vgl. hierzu Christine Jakobi-Mirwald: Terminologie Pergamentnähte, 2022, https://jakobi-mirwald. de/onewebmedia/Terminologie%20Pergamentn%C3%A4hte%202022.pdf [16.09.2022]. Mein herzlicher Dank gilt Christine Jakobi-Mirwald für einen längeren Austausch zu dieser Thematik. Ich durfte überdies Einblick in einen auf ihrer Website angekündigten Aufsatz (gemeinsam mit Marina Bernasconi Reusser) sowie eine inzwischen veröffentlichte Kurzberichterstattung nehmen, wofür ich mich bei beiden Autorinnen ebenfalls sehr herzlich bedanken möchte. Vgl. Marina Bernasconi Reusser/Christine Jakobi-Mirwald: Rammendi – miniature – tessuti. Lavori da monache a Engelberg, in: Dans le manuscrit et en dehors, hg. v. Michele Tomasi u.a. (in Vorbereitung). – Marina Bernasconi Reusser/ Christine Jakobi-Mirwald: Miniature, cuciture ornamentali e ricami nel monastero di Engelberg (CH), in: Rivista di Storia della Miniatura 26 (2022), S. 231.
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Zeitpunkt wurden farbige Nähte auf den Pergamentseiten angebracht und wer war an ihrer Ausführung beteiligt? Basierend auf einem Überblick über weitere Beispiele für textile Anteile in Handschriften ist schließlich auszuloten, inwiefern eine ausführliche Untersuchung dieser Thematik nicht nur für die (kunsthistorische) Frauenstiftsforschung von Interesse wäre, sondern sich gerade (digital gestützte) interdisziplinäre und epochenübergreifende Zugänge als gewinnbringend erweisen dürften.
Zum Vorkommen farbiger Pergamentnähte in mittelalterlichen Handschriften
Die Pergamentnähte in der Frowin-Bibel sind kein singuläres Phänomen. So verzeichnete Christine Sciacca, die farbigen Vernähungen in Manuskripten 2010 einen ersten umfangreicheren Aufsatz gewidmet hat, 38 Handschriften mit Arbeiten dieser Art.3 Neben weiteren Codices, die unter Frowin und seinen Nachfolgern im Engelberger Skriptorium hergestellt wurden, dokumentiert Sciacca u.a. Exemplare aus Interlaken und der Diözese Lausanne, Weingarten, Zwiefalten, der Diözese Köln sowie der Region Elsass.4 Diese Aufstellung wird kontinuierlich erweitert, sodass inzwischen auch eine Vielzahl von Manuskripten mit Vernähungen aus dem österreichischen Raum bekannt ist.5 Nach aktuellem Forschungsstand wurden Bücher aus der Zeit des 8. bis 15. Jahrhunderts (vor allem aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert) vernäht,6 wobei farbige Pergamentnähte auf keine bestimmte Textgattung beschränkt sind und so etwa in theologischen Schriften und (kirchen-)historischen Abhandlungen, Grammatiken, Regelwerken oder liturgischen Texten nachgewiesen werden können.7
3 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 87–92. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. Trummler 2018 (wie Anm. 2). – Csanády 2019 (wie Anm. 2). – Breith/Csanády/ Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), hier insbesondere S. 382 f. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), mit einer aktualisierten und erweiterten Aufstellung im Anhang auf S. 268–272. 6 Vgl. Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 7. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 381. 7 Vgl. Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 11 sowie die Überblicke bei Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 87–92 und Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 264, 268–272.
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Terminologische Fragen
Einhergehend mit der zunehmenden Erschließung von Beständen standen und stehen in jüngeren Beiträgen vor allem Bemühungen um eine verbindliche Terminologie sowie Systematisierungsversuche in Form von Fragen- und Kategorienkatalogen im Mittelpunkt.8 Seitens der Forschung wurde betont, dass farbige Vernähungen ganz grundsätzlich von sogenannten Pergamenternähten unterschieden werden müssen, die im Herstellungsprozess des Beschreibstoffs an den noch feuchten Tierhäuten angebracht wurden, um Schäden wie Risse, Schnitte oder Löcher (etwa aufgrund von Narben, Verletzungen beim Abschaben der Haare oder zu großer Spannung im Rahmen) zu reparieren.9 Pergamenternähte weisen hierbei häufig gedehnte Einstichlöcher sowie charakteristische Verdickungen an den Rändern auf und können teilweise oder ganz zu sekundären Löchern aufgerissen sein, wie sich sehr gut anhand von Cod. 5, fol. 125r der Frowin-Bibel nachvollziehen lässt (Abb. 5).10 Die zumeist weißen oder beigefarbenen Fäden, bei denen es sich für gewöhnlich um Tiersehnen handelt, wurden oft beim Schleifen und Glätten der Häute abgerieben und sind heute zum Teil nur noch zu erahnen.11 Im Gegensatz zu diesen gröberen Arbeiten wurden die farbigen Vernähungen von sehr unterschiedlicher Qualität und Ausführung mithilfe von Seidenfäden am trockenen Pergament ausgeführt.12 Christine Jakobi-Mirwald, die erste Überlegungen zu einer begrifflichen Systematik durch Nacharbeitungen um wesentliche 8 Vgl. Csanády 2019 (wie Anm. 2), hier insbesondere S. 16–19. – Breith/Csanády/JakobiMirwald 2019 (wie Anm. 2), mit einer begrifflichen Systematik auf S. 388 f. – Breith/ Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2). – Jakobi-Mirwald 2022 (wie Anm. 2). 9 Vgl. Trummler 2018 (wie Anm. 2), S. 180 f. – Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 9 f. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 383 f. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 86. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 250 f. Allgemein zur Herstellung von Pergamentmanuskripten vgl. ferner Peter Rück: Pergament. Geschichte, Struktur, Restaurierung, Herstellung, Sigmaringen 1991. – Franziska Schnoor: Pergamentqualitäten. Prachthandschriften – Gebrauchshandschriften, in: Schafe für die Ewigkeit. Handschriften und ihre Herstellung. Ausst.-Kat. Stiftsbibliothek St. Gallen, St. Gallen 2013, S. 11–19, hier insbesondere S. 16 f. 10 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 65. – Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 9 f. – Breith/ Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 383 f. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 86. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 250 f. 11 Vgl. Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 10. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 384. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 251. 12 Vgl. Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 10 f. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 383. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 250.
198 | Maria Schaller Abb. 5: Pergamenternaht, Cod. Engelberg, Stiftsbibliothek, Engelberger Bibel (1143– 1178), cod. 5, fol. 125r.
Abb. 6: Übernähte Pergamenternaht, Cod. Engelberg, Stiftsbibliothek, Engelberger Bibel (1143–1178), cod. 5, fol. 80v.
Erkenntnisse bereichern konnte, hat unterstrichen, dass ab dem 12. Jahrhundert vor allem eine eng geführte Stoßnaht mit gezackter Kontur zum Einsatz kam.13 In der Bibel aus dem Engelberger Benediktinerkloster sind Nähte dieser Art eben13 Vgl. Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 383 f. – Breith/Csanády/ Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 251 f.
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falls die häufigsten (vgl. Abb. 1). Von den Vernähungen, die Jakobi-Mirwald in ihrer vorläufigen Terminologie beschreibt, finden sich in den drei Bänden weiterhin filigrane Kordeln aus Schlingstichen, mit denen Spalte am Seitenrand geschlossen wurden. Mitunter in Kombination mit den bereits genannten Stichen und Nahtformen lassen sich auch Vernähungen beobachten, die mithilfe des Hexen- und Geflechtstiches angefertigt wurden (vgl. Abb. 2 und 3) sowie ferner auch Schlingstichgewirke (vgl. Abb. 4).14 Die Vielfalt dieser teils anspruchsvollen und zeitintensiven Handarbeiten wirft die Frage nach möglichen Gründen für die Anbringung von farbigen Nähten in Manuskripten auf.
Reparatur und/oder Zierde?
Während die Funktionalität von Pergamenternähten vor allem bei Schäden an den Seitenrändern außer Frage steht, wird die Einordnung farbiger Vernähungen als (vermeintliche) Reparatur und/oder Zierde rege diskutiert.15 Tatsächlich konnte aufgezeigt werden, dass Nähte in buntem Garn u.a. der Stabilisierung von Löchern und Rissen dienten, jedoch vielfach auch an Stellen in mittelalterlichen Handschriften auftauchen, an denen sie keinen offensichtlichen praktischen Nutzen besitzen.16 Dies ist auch in der Frowin-Bibel der Fall, in der viele der Pergamenter14 Vgl. Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 384. – Breith/Csanády/ Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 251–253. – Jakobi-Mirwald 2022 (wie Anm. 2). – Vgl. weiterhin auch eine alternative Begrifflichkeit bei Sciacca 2010 (wie Anm. 2); für die Frowin-Bibel vor allem S. 90. Wie Thomas Csanády feststellt, wurden und werden die in den Manuskripten beobachteten Stiche und Nahtformen je nach fachlichem Hintergrund entweder mit Blick auf ihre Funktion oder nach ihrem Aussehen beschrieben. Bezeichnungen wie sawtooth stitches oder bull’s-eye pattern, die von der Kunsthistorikerin Sciacca genutzt werden, seien augenfällige, oft auch ergänzende Beschreibungen im Unterschied zu den von Restaurator*innen verwendeten Begriffen. Vgl. Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 19. 15 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), bei der die Konzeption der Vernähungen als Reparaturen bereits durch den Titel des Beitrages zum Ausdruck gebracht wird. Zum Ziercharakter der farbigen Nähte vgl. hier vor allem S. 60, 69, 73, 78–81, 84. – Trummler 2018 (wie Anm. 2). – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 387 f. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 87 f. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 252–255. 16 Vgl. Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 11, 16. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 387 f. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 251– 255. Zur Diskussion über Vernähungen an Schnitten, die der Entlastung von Verwerfungen auf den Pergamentseiten durch unterschiedliche Spannungsverhältnisse gedient haben sollen, vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 61, 63, 65, 75 f. – Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 15. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 85, 87 f.
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nähte mit gefärbten Fäden übernäht worden sind.17 Auf fol. 80v des dritten Bandes lassen sich dabei gestalterische Bezüge zwischen einer überarbeiteten Vernähung und der in unmittelbarer Nähe ausgeführten Initiale P beobachten (Abb. 6).18 Dass die Vorstellung, es handele sich bei Nähten in Manuskripten immer oder primär um Reparaturen, dringend differenziert werden muss, zeigt sich noch deutlicher mit Blick auf Cod. 3, fol. 181r (Abb. 7): Wie bei zahlreichen anderen Seiten dieses Bandes ist mithilfe einer Naht, die hier fast über die gesamte Länge des Blattes verläuft, ein Pergamentteil angesetzt worden – wohl um den unebenen Rand des Beschreibmaterials an die rechteckige Form des Buches anzupassen.19 Wurde hier durch die Anstückung vielleicht doch das Blättern der Seiten etwas erleichtert,20 haben Vernähungen wie auf fol. 120r einer in der Aargauer Kantonsbibliothek aufbewahrten Sammelhandschrift (MsWettF 9) aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts mit einer Reparatur nichts mehr zu tun (Abb. 8). Die Pergamenternähte sind hier zunächst herausgeschnitten worden, um die entstandenen Spalte in einem weiteren Schritt wieder kunstvoll zu vernähen.21 17 Zur Übernähung von Pergamenternähten vgl. Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 384. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 86. – Breith/Csanády/ Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 251 f. 18 Vgl. Weltkulturerbe Stiftsbezirk St. Gallen o.D. (wie Anm. 2). 19 Zu Anstückungen in Form von (z. T. rechtwinklig zugeschnittenen) Pergamentteilen, die vermutlich mitunter auch dazu dienen konnten, stärker beschädigte Stellen auszubessern, vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), v.a. S. 59–62 sowie 67, 71–74, 82 f und Tafel 4. – Trummler 2018 (wie Anm. 2), S. 182. – Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 14 f. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 86 f., insbesondere auch Anm. 61. – Breith/Csanády/JakobiMirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 253 f., 256 f., 263 f., 266. Es gibt darüber hinaus auch Beispiele wie eine Sammelhandschrift aus dem Kloster St-Denis bei Paris (?) von um 800 (Cod. Sang. 230, p. 175 f.) in der Stiftsbibliothek in St. Gallen, in denen Pergamentflicken in Löcher eingenäht wurden. Vgl. hierzu Kat. St. Gallen 2013 (wie Anm. 9), S. 16 f. – Trummler 2018 (wie Anm. 2), S. 183. – Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 15 f. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 86. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 254–257, 266. (Weitere) Beispiele beider Vernähungen finden sich bei Jakobi-Mirwald 2022 (wie Anm. 2). In der Engelberger Bibel ging es nie darum, durch die Anstückungen mehr Schreibfläche zu schaffen. Die angefügten Pergamentteile finden sich ausschließlich an den unbeschriebenen Blatträndern. 20 Vgl. Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 388. 21 Zu herausgetrennten Pergamenternähten vgl. Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 87, insbesondere Anm. 61. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 253, 255, 262, 265 f. Ausführlicher zu dem Manuskript vgl. Aarau, Aargauer Kantonsbibliothek, MsWettF 9: Petrus Comestor; Alexander de Villa Dei; Petrus Pictaviensis, https://www.ecodices.unifr.ch/de/list/one/kba/WettF0009 [16.09.2022].
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Abb. 7: Anstückung eines Pergamentteils mithilfe einer Vernähung aus buntem Garn, Cod. Engelberg, Stiftsbibliothek, Engelberger Bibel (1143–1178), cod. 3, fol. 181r.
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Abb. 8: Vernähung aus buntem Garn an einer zuvor herausgetrennten Pergamenternaht, Cod. Aargau, Kantonsbibliothek, Sammelhandschrift aus dem Zisterzienserkloster Maris Stella, Wettingen (2. Viertel 14. Jahrhundert), MsWettF 9, fol. 120r.
Der in Forschungsbeiträgen häufiger anzutreffende Begriff der ,Stickerei‘ sei dennoch, so Jakobi-Mirwald, eher zu vermeiden, da mit ihm ein Verzieren und Bedecken (von Stoff), jedoch kein Verbinden und Verschließen assoziiert wird, wenngleich auch der Ziercharakter ein wesentlicher Aspekt farbiger Nähte sei.22 Durch die Vernähungen am fertigen Pergament konnte eine profunde Kenntnis von Stichen und Nahtformen sowie technisches Geschick demonstriert werden. Die in die Arbeiten investierte Zeit verdeutlicht eine intensive Beschäftigung mit den Handschriften und bringt gleichermaßen ihre Wertschätzung zum Ausdruck.23 Nähte aus buntem Garn machen Löcher, Risse und andere Schäden im Pergament erst zum Thema, doch gerade dies dürfte eine ästhetische Aufwertung der Manuskripte bedeutet haben.24 Sind darüber hinaus noch weitere Funktionen denkbar?
22 Vgl. Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 252. 23 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 86. 24 Vgl. Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 267.
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Überlegungen zu weiteren Funktionen
Für das Weingartener Berthold-Sakramentar (New York, Pierpont Morgan Library, Ms M.710) aus dem frühen 13. Jahrhundert, das zu den Repräsentations- bzw. Schatzhandschriften des ehemaligen Benediktinerklosters zählt und im dortigen Skriptorium angefertigt wurde, ist bereits an früherer Stelle festgehalten worden, dass sich die Mehrzahl der farbigen Vernähungen auf den illuminierten Seiten finden.25 Bei genauerem Hinsehen erweisen sich dabei, wie Jakobi-Mirwald mit Gereon Becht-Jordens argumentiert, vermeintliche Risse im Pergament wie auf fol. 127r (Abb. 9) als Schnitte, die möglicherweise vorsätzlich angebracht wurden, um dem Prachtcodex durch die als ‚Würdezeichen‘ interpretierten Vernähungen ein „altes und ehrwürdiges, vielleicht auch materiell verletzliches Gepräge zu verleihen.“26 Diese Idee wird, so die Kunsthistorikerin weiter, durch die Tatsache bestärkt, dass das Berthold-Sakramentar insgesamt ausgesprochen konservativ gestaltet sei und weitere Archaismen aufweise.27 25 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 75, 80. Mit Blick auf diese Beobachtung lässt sich konkretisieren, dass die Vernähungen vor allem auf Seiten mit großflächigen Miniaturen im Sanktorale angebracht sind. Es handelt sich hierbei zudem größtenteils um sehr lange mehrfarbige Stoßnähte mit gezackter Kontur. Vgl. allgemein zum Berthold-Sakramentar v.a. Hanns Swarzenski: The Berthold Missal. The Pierpont Morgan Library MS710 and the Scriptorium of Weingarten Abbey, New York 1943. – Hanns Swarzenski/Felix Heinzer/ Hans Ulrich Rudolf (Hg.): Das Berthold-Sakramentar. Vollständige farbige FaksimileAusgabe im Originalformat von Ms. M.710 der Pierpont Morgan Library in New York, mit Interimskommentar und Kommentarband (Codices selecti, Bd. 100), Graz 1995–1999. – Das Berthold-Sakramentar. Ms. M.710 New York, Morgan Library & Museum [verkleinerte Studienausgabe des zuvor genannten Titels], Kommentar von William Voelkle/Christine Sauer/Frauke Steenbock (Glanzlichter der Buchkunst, Bd. 22,1 und 2), Graz 2013–2014. Ein Volldigitalisat steht bereit unter: The Morgan Library & Museum, The Berthold Sacramentary, https://www.themorgan.org/collection/berthold-sacramentary [16.09.2022]. Vgl. weiterhin Jakobi-Mirwald 1994 (wie Anm. 2). – Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 71–81. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2). 26 Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 88; vgl. weiterhin S. 87–89. Diese Hypothese äußerte Jakobi-Mirwald bereits in ihrem Aufsatz von 1994, der Begriff ‚Würdezeichen‘ ist hierbei von Gereon Becht-Jordens in die Diskussion um die farbigen Vernähungen eingebracht worden. Vgl. Jakobi-Mirwald 1994 (wie Anm. 2), S. 200, insbesondere auch Anm. 81. Vgl. außerdem Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 18 f. –Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 384 f. William Voelkle lehnt diesen Gedanken mit der Begründung ab, es gäbe keine Vorbilder; vgl. Voelkle/Sauer/Steenbock 2013–2014 (Anm. 25), S. 17, sowie Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 88. 27 Vgl. Jakobi-Mirwald 1994 (wie Anm. 2), S. 200. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 87–89.
204 | Maria Schaller Abb. 9: Farbige Pergamentnähte, Cod. New York, The Morgan Library & Museum, Berthold-Sakramentar (ca. 1215–1217), Ms M.710, fol. 127r.
Das Messbuch des Hainricus Sacrista (New York, Pierpont Morgan Library, Ms M.711) entstand nur wenig später in der Benediktinerabtei Weingarten und zeigt ebenso wie das Berthold-Sakramentar nahezu keine bzw. nur wenige Gebrauchsspuren.28 Nach Sciacca lassen sich alle „gestopften Reparaturen“29 – etwa 28 Zu den auffallend geringen Gebrauchsspuren beider Handschriften vgl. Jakobi-Mirwald 1994 (wie Anm. 2), S. 200 f. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 83. Zur Benennung des Hainricus-Codex vgl. ebd., S. 75, Anm. 13. Allgemein zu diesem Manuskript vgl. v.a. Hans Ulrich Rudolf (Hg.): Hainricus-Sakramentar/Hainricus-Sacrista-Sakramentar/Das Hainricus-Missale. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat von Ms. M.711 der Pierpont Morgan Library in New York, mit Erstkommenat, Kommentarband und Dokumentation (Codices selecti, Bd. 110), Graz 2005–2010. – Hans Ulrich Rudolf (Hg.): Ein Messbuch zu Ehren Mariens. Das Sakramentar des Hainricus Sacrista aus Weingarten. Einblicke in eine romanische Spitzenhandschrift aus dem Kloster Weingarten (heute Ms. M.711 der Pierpont Morgan Library New York), Graz 2005. – Sciacca 2010 (wie Anm. 2). Ein Volldigitalisat steht bereit unter: The Morgan Library & Museum, Hainricus Missal, https:// www.themorgan.org/collection/Hainricus%20Missal/158726 [16.09.2022]. 29 Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 79. Mit der Bezeichnung der farbigen Nähte als „darned repairs“ beziehen sich Sciaccas Beobachtungen m.E. auf die Verfüllung von Löchern mithilfe von Schlingstichgewirken.
Nadel, Faden, Pergament | 205 Abb. 10: Farbige Pergamentnähte, Cod. New York, The Morgan Library & Museum, Hainricus-Codex (ca. 1220– 1225/30), Ms M.711, fol. 77r.
auf fol. 77r (Abb. 10) – in einem Abschnitt beobachten, der die Messtexte für die Fastenzeit enthält und entsprechend der entbehrungsreichen Zeit im liturgischen Jahr lediglich sparsam eingesetzte Fleuronné-Initialen zeige.30 Dieser Mangel an Dekoration könne ein weiterer Grund sein, dass in diesem Teil des Manuskriptes auf Pergament von minderer bzw. gar „der schlechtesten Qualität“31 geschrieben wurde.32 Sciacca kommt damit zu dem Schluss: „Nonetheless, the creators of the manuscript evidently felt the need to mask the parchment’s flaws in this luxury manu30 Vgl. ebd., S. 79. Das Manuskript umfasst 148 Pergamentblätter. Schlingstichgewirke finden sich gehäuft ab fol. 68 bis fol. 85, aber auch noch einmal auf fol. 108. Auf fol. 66v beginnt die Vorfastenzeit (Septuagesima). Auf fol. 67r ist vom „Beginn der Fastenzeit“ die Rede. Als Ende der Fastenzeit kann fol. 80r angegeben werden, wobei das „Triduum Sacrum“ schon mit dem Gründonnerstag auf fol. 79v einsetzt. Ich danke Jörg Bölling für seine Hinweise zu diesem Abschnitt des Hainricus-Codex. 31 Ebd. 32 Vgl. ebd. Zur ‚Schein-Kostbarkeit‘ volkssprachiger Prachtbände des 13. Jahrhunderts vgl. demgegenüber Jürgen Wolf: Verzwickte Materialität. Kostbares Buch auf schlechtem Material. Beobachtungen zu volkssprachigen Zimelien, in: Materialität in der Editionswissenschaft, hg. v. Martin Schuberg, Berlin 2010, S. 323–332.
206 | Maria Schaller
script by accenting the pages with colorful silk threads, and in this way, the decorative embroidery seems to convey the great devotional importance of the Lenten season.“33 Wie die seitens der Forschung gemachten Beobachtungen zu den farbigen Nähten im Berthold-Sakramentar und im Hainricus-Codex belegen, scheinen Vernähungen am fertigen Pergament bereits im Fall zweier Manuskripte, die in knapper Folge von nur wenigen Jahren in der gleichen Klostergemeinschaft entstanden, sehr unterschiedliche Funktionen besessen zu haben.34 Der Vergleich verdeutlicht, dass in Zukunft vor allem Fallstudien nötig sind, um funktionale Aspekte dieser textilen Anteile in Handschriften in Abhängigkeit vom spezifischen Kontext insbesondere auch mit Blick auf die Wahl des verwendeten Beschreibstoffes und nachträgliche Eingriffe – etwa durch absichtsvoll gesetzte Schnitte – zu analysieren. Hierbei wäre eine nähere Auseinandersetzung mit der Frage wichtig, ob etwa durch eine Häufung in einzelnen Abschnitten oder die spezifische Positionierung von farbigen Pergamentnähten auf einem Blatt, aber auch ihre Gestaltung und die verwendeten Stiche und Nahtformen möglicherweise konkrete Bezüge zum Text, zu Noten oder zum Buchschmuck hergestellt wurden. Vereinzelt gibt es Hinweise darauf, dass farbige Vernähungen gleichsam als fest mit einem Blatt verbundene Lesezeichen nicht nur das Auffinden einer bestimmten Passage erleichtern, sondern die Bedeutung bestimmter Textstellen gegebenenfalls auch unterstreichen und als Merkhilfen fungieren konnten.35 Darüber hinaus wurde seitens der For33 Vgl. ebd., S. 80. 34 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 86. In diesem Sinne betont auch Jakobi-Mirwald, dass Nähte an fertigem Pergament funktional sehr unterschiedlich plausibel sind. Vgl. hierzu Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 253. 35 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 81. – Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 16 f. Csanády erwähnt eine farbige Naht, der definitiv kein ‚Reparaturhintergrund‘ zugrunde liege. Es handelt sich um eine gestickte Blume auf fol. 134 in einer in der Universitätsbibliothek Graz aufbewahrten Handschrift (Ms 392) aus dem Augustiner Chorherren- und Chorfrauenstift Seckau, die in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert wird. Dieses „Schmuckelement“ dürfte, wie Csanády argumentiert, „als Zeichen eines besonderen Textbezugs (Ps 119, 133; nach heutiger Zählung) gedient haben, wie man etwa in früheren Zeiten Blumen an bestimmten Buchstellen, die einem wichtig waren, eingelegt und gepresst hat“; ebd., S. 16. Der konkrete Bezug auf den oben erwähnten Psalm auf der Verso-Seite des Blattes ist m.E. in Frage zu stellen. Die Stickerei ist auch auf der Recto-Seite neben der auf Ps 119,128 folgenden Antiphone zu sehen, wohingegen sich die Vernähung auf der Verso-Seite eher in Höhe von Ps 119,134–135 findet. Ausführlicher zu dem Manuskript vgl. UBG, Ms 0392: Psalterium et hymnarium ad usum ecclesiae collegiatae in Seckau, urn:nbn:at:at-ubg:2-28707 [16.09.2022]. Vgl. ferner einen aus Konstanz stammenden Codex (C 371) aus dem 14. Jahrhundert in der Universitätsbibliothek in Uppsala, in dem unter einer rot-grünen Stoßnaht
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schung betont, dass auch Nähte aus buntem Garn nicht zuletzt als Werk zur Ehre Gottes zu verstehen seien.36 Inwiefern Vernähungen am fertigen Pergament ausgehend hiervon auch mit Meditationspraktiken verknüpft gewesen sein könnten, ist demgegenüber noch nicht ausführlicher besprochen worden.
Farbige Vernähungen als Ausgangspunkte für die meditative Andacht?
Es stellt sich nicht allein die Frage, ob bereits das wiederholte, rhythmische Durchbohren des Pergamentes mit Nadel und Faden die Versenkung in eine meditative Andacht – etwa über den spezifischen Inhalt einer Handschrift – befördern konnte. Auch beim späteren Blättern boten farbige Nähte die Möglichkeit, sich in ein Manuskript und die textilen Zufügungen zu vertiefen. Vor allem Löcher, die zum Teil intensiv bearbeitete Ränder aufweisen, jedoch selbst nicht verschlossen wurden (Abb. 11) oder aber mit filigranen Vernähungen ausgefüllt sind, durch die das folgende Blatt hindurchschimmert (Abb. 12), setzen starke visuelle und taktile Reize, die eine intensive Betrachtung, vielleicht auch ein imaginiertes Perforieren bzw. das tatsächliche Berühren der Pergamentnähte, in jedem Fall aber die eingehendere Beschäftigung mit der aufgeschlagenen Seite geradezu herausfordern.37 Gerade mit Blick auf das eingangs erwähnte Beispiel einer mit farbigen Nähten ausgestatteten Bibel als materiell greifbares Wort Gottes wäre damit einhergehend auch zu überlegen, welche Rolle die Vorstellung der Verkörperung Jesu Christi im Codex für das Verständnis dieser Vernähungen spielt.38 In metaphorischer Vermit gezackter Kontur auf fol. 135r eine Manicula eingezeichnet ist. Den Hinweis hierauf gab Marianne C. E. Gillion in einem Beitrag auf Twitter vom 16.02.2022. Ausführlicher zu dem Manuskript vgl. Strand o.D. (wie Anm. 2). Ein Volldigitalisat steht bereit unter: Universitätsbibliothek Uppsala (ALVIN), http://www.alvin-portal.org/alvin/view.jsf?pid=alvinrecord%3A55999&dswid=1572 [16.09.2022]. 36 Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 86. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 266. 37 Mit Blick auf diese Überlegungen wird deutlich, wie wichtig es ist, den Erhaltungszustand der Vernähungen genauer zu analysieren. Zudem ist immer auch die Frage nach dem konkreten Gebrauch und der damit verbundenen (eingeschränkten) Zugänglichkeit zu berücksichtigen. Allgemein zu den hier angeführten Beispielen vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 76, 78 f. – Strand o. D. (wie Anm. 2). 38 Zur Imagination des Buches als Gottessohn, insbesondere im Fall von Evangeliaren und Evangelistaren, vgl. Klaus Schreiner: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München/ Wien 1994, S. 154–171. – Horst Wenzel: Die Schrift und das Heilige, in: Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit,
208 | Maria Schaller Abb. 11: Farbige Pergamentnaht, Cod. New York, Public Library, Offiziumslektionar und Sanktorale aus dem Kloster Weingarten (ca. 1220), MS Spencer 1, fol. 7v.
Abb. 12: Farbige Pergamentnähte, Cod. Uppsala, Universitätsbibliothek, PredigtSammlung aus Konstanz (14. Jahrhundert), C 371, fol. 65r.
schränkung wurden die Pergamentseiten des Buches traditionell sowohl auf den Körper der Jungfrau Maria als auch auf den Körper des Gottessohnes bezogen, um insbesondere die Inkarnation und Passion des Erlösers zu beschreiben.39 Wie hierhg. v. Horst Wenzel/Wilfried Seipel/Gotthart Wunberg (Schriften des Kunsthistorischen Museums, Bd. 5), Wien 2000, S. 15–57, hier S. 34–36. – Bruno Reudenbach: Der Codex als Verkörperung Christi. Mediengeschichtliche, theologische und ikonographische Aspekte einer Leitidee früher Evangelienbücher, in: Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften, hg. v. Joachim Friedrich Quack/Daniela Christina Luft (Materiale Textkulturen, Bd. 5), Berlin/New York 2014, S. 229–244. – David Ganz: Buch-Gewänder. Prachteinbände im Mittelalter, Berlin 2015, hier v.a. S. 45–50. 39 Vgl. Schreiner 1994 (wie Anm. 38), S. 154–171. – Wenzel 2000 (wie Anm. 38), S. 34–36. – Reudenbach 2014 (wie Anm. 38), S. 241. – Ganz 2015 (wie Anm. 38), S. 48.
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bei das Leben des fleischgewordenen Logos ganz konkret mit der Produktion eines Manuskriptes gleichgesetzt werden konnte, beschreibt der französische Benediktinermönch Petrus Berchorius (um 1290–1362) in seinem Repertorium morale aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in der folgenden Weise:40 „Der menschgewordene Gottessohn wurde vom Vater diktiert, im Schoß Mariens vom Heiligen Geist auf jungfräuliches Pergament (pellis virginea) geschrieben, der Welt zur Kenntnis gebracht in der Offenbarung der Geburt, ‚korrigiert‘ (correctus) in der Passion, ‚abgeschabt‘ (rasus) bei der Geißelung, ‚punktiert‘ (punctatus) und durchstoßen bei der Durchbohrung der Wunden, auf ein Lesepult gestellt im Akt der Kreuzigung (super pulpito positus in crucifixione), ‚illuminiert‘ (illuminatus) […], durch die Vergießung des Blutes, ‚gebunden‘ (illigatus) in der Auferstehung und schließlich zur Disputation gestellt (disputatus) bei der Himmelfahrt, als die Engel frugen: ‚Wer ist jener König der Herrlichkeit?‘ […] Geöffnet und aufgeschlagen (apertus et explicatus) wird das ‚Christus-Buch‘ im letzten Gericht.“41 In den eben zitierten Zeilen offenbart sich, wie die zentralen Momente in der Vita des Gottessohnes und die bis ins kleinste technische Detail geschilderten handwerklichen Arbeitsgänge zur Herstellung einer Handschrift miteinander verschränkt werden. Wird der Beschreibstoff des göttlichen Codex hierbei zunächst als „jungfräulich“ – d. h. makellos und frei von Beschädigungen – beschrieben, setzt Berchorius die Wunden des in der Passion „korrigierten“, gegeißelten und gepeinigten und leidenden Erlösers in Analogie zu den Einstichlöchern oder Punkturen, die der Linierung der Seiten dienten.42 Es gibt zugleich aber auch Belege für die Konstruktion von Bezügen zwischen den Wunden Jesu Christi und bereits vorhandenen Schäden am Pergament.43 Ein 40 Vgl. Wenzel 2000 (wie Anm. 38), S. 34 f. – Reudenbach 2014 (wie Anm. 38), S. 241. Vgl. ferner Schreiner 1994 (wie Anm. 38), S. 163–171. 41 Zit. n. Wenzel 2000 (wie Anm. 38), S. 35. – Vgl. Reudenbach 2014 (wie Anm. 38), S. 241. Ich danke Bruno Reudenbach, der mich in einem anderen Kontext auf die metaphorische Verschränkung der Vita Jesu Christi mit der Produktion von Handschriften aufmerksam machte. 42 Ob zur Anbringung der Punkturen auf dem Pergament spezielle Instrumente wie Rädchen mit scharfen Spitzen genutzt wurden, bleibt umstritten. Vgl. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, Berlin u. a. 2014, S. 129. 43 Zahlreiche Beispiele mit entsprechenden Angaben zur weiterführenden Forschungsliteratur finden sich bei Elina Gertsman: The Absent Image. Lacunae in Medieval Books, University Park, Pennsylvania 2021, S. 142–146. Allgemein zu Bezügen zwischen Inhalt und Materialität mittelalterlicher Handschriften vgl. ferner die Beiträge von Sarah Kay, insbesondere: Original Skin: Flaying, Reading, and Thinking in the Legend of Saint Bartholomew and Other Works,
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Abb. 13: Pergamenternaht, die von einer Beschreibung der Seitenwunde Jesu Christi umschlossen ist, Cod. Paris, Bibliothèque nationale de France, Abschrift der Continuation Manessier des Perceval ou Le Conte du Graal von Chrétien de Troyes (13. Jahrhundert), BNF fr. 12576, fol. 220v.
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bemerkenswertes Beispiel hierfür stellt ein Manuskript aus dem 13. Jahrhundert im Besitz der Französischen Nationalbibliothek in Paris dar.44 So findet sich auf fol. 220v dieser Abschrift der Continuation Manessier des Perceval ou Le Conte du Graal von Chrétien de Troyes (um 1140–1190) ein ca. 3 cm langer, mit einer Pergamenternaht geschlossener Riss, der von einer Beschreibung der Seitenwunde des Gottessohnes umschlossen ist (Abb. 13).45 Vor dem Hintergrund der eben gemachten Beobachtungen gilt es näher zu untersuchen, ob Vernähungen am fertigen Pergament in spezifischen Fällen die Vorstellung vom „Christus-Buch“ auf besondere Weise evozierten und eine Meditation über die Passion des Gottessohnes widerspiegeln bzw. auch angeregt haben könnten. Lassen sich farbige Nähte in Handschriften möglicherweise just an Stellen finden, an denen das Leiden Jesu Christi beschrieben oder bildlich dargestellt wird? Es wäre etwa dem Hinweis Sciaccas auf einen Engelberger (?) Codex (Add. MS 22281) aus dem 14. Jahrhundert nachzugehen, der heute in der British Library in London aufbewahrt wird.46 So sollen die einzigen beiden farbigen Vernähungen in dem kombinierten Brevier und Psalter auf zwei gegenüberliegenden Seiten (fol. 85v und fol. 86r) angebracht sein, auf denen ganzseitige Miniaturen zum einen den Erlöser am Kreuz mit einer darunter knienden Nonne (wohl die Auftraggeberin des Manuskriptes) und zum anderen die Kreuzabnahme Jesu darstellen.47 Die Relevanz einer weiteren Auseinandersetzung mit den oben aufgeworfenen Fragen legt überdies ein Psalter (Cod. 61) in der Engelberger Stiftsbibliothek nahe, der um 1270/1330 (?) angefertigt worden ist und in dem die abstrakt-geometrischen Formen und Muster der Vernähungen bisweilen in das konkrete Symbol der Kreuin: Journal of Medieval and Early Modern Studies 36/1 (2006), S. 35–73. – Sarah Kay: Legible Skins: Animal Skins and the Ethics of Medieval Reading, in: postmedieval: A Journal of Medieval and Cultural Studies 2/1 (2011), S. 13–32. 44 Vgl. Nancy Vine Durling: Birthmarks and Bookmarks: The Example of a Thirteenth Century French Anthology, in: Exemplaria 16/1 (2004), S. 73–94, hier S. 76 f., 79. – Vgl. Gertsman 2021 (wie Anm. 43), S. 144. Ausführlicher zu dem Manuskript vgl. BnF. Département des Manuscrits, Français 12576: Chrétien de Troyes, Gaucher de Dourdan, Mennessier et Gerbert de Montreuil, Roman de Perceval le Gallois et continuations, https://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/btv1b105101697 [16.09.2022]. Den Hinweis auf Nancy Vine Durlings Aufsatz hat Christine Jakobi-Mirwald von Claudia Rabel erhalten und mir freundlicherweise weitergeleitet. 45 Vgl. Durling 2004 (wie Anm. 44), S. 76 f., 79. 46 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 84 f., 87. Ausführlicher zu dem Manuskript vgl. British Library: ADBREVIACIO coctidiana […], http://searcharchives.bl.uk/IAMS_VU2:LSCOP_ BL:IAMS032-002034754 [16.09.2022]. 47 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 84 f., 87.
212 | Maria Schaller Abb. 14: Farbige Pergamentnaht, Cod. Engelberg, Stiftsbibliothek, Psalter (um 1270/1330?), cod. 61, fol. 59v.
Abb. 15: Farbige Pergamentnaht, Cod. Engelberg, Stiftsbibliothek, Psalter (um 1270/1330?), cod. 61, fol. 98r.
Abb. 16: Farbige Pergamentnähte, Cod. Schaffhausen, Stadt- und Ministerialbibliothek, Abschrift der Abhandlungen des Kirchenvaters Augustinus über das Johannesevangelium aus dem Kloster Allerheiligen (kurz nach 1080), Min. 18, fol. 249v.
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zestheologie umzuschlagen scheinen (Abb. 14 und 15).48 Hierzu ließe sich auch eine kurz nach 1080 entstandene Abschrift der Abhandlungen des Kirchenvaters Augustinus über das Johannesevangelium (Min. 18) aus der Stadt- und Ministerialbibliothek in Schaffhausen anführen, in der Löcher im Pergament zum Teil mit gekreuzten Spannfäden ausgefüllt sind (Abb. 16).49
Herstellungsabläufe und Genderfragen
Für den vorliegenden Sammelband von besonderem Interesse ist schließlich die Diskussion über die an der Fertigung farbiger Pergamentnähte beteiligten Hände.50 Eine generelle Konzeption als ‚Frauenarbeit‘ haben jüngere Beiträge zunehmend in Frage gestellt.51 Tatsächlich lassen sich Manuskripte mit Nähten dieser Art (bisher) insbesondere im Umfeld der Doppelklöster von Ordensgemeinschaften bzw. auch des Reformkreises der Regularkanoniker und der daran angeschlossenen Frauenstifte verorten.52 Doch wenngleich etwa Formulierungen in Handschriften aus Seckau suggerieren, dass das Schneidern zu den Arbeiten der Chorfrauen zählte,53 wurde aufgrund fehlender, eindeutiger Quellen „umgekehrt ‚gegendert‘ […] gefragt, ob nicht auch Männer in Paramentenstickerei und anderen Handarbeiten erfahren gewesen sein können.“54 48 Zu dem kreuzförmigen Muster der farbigen Vernähungen im Cod. 61 vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 68–70, 84 f., 87, Tafel 3. Allgemein zu dem Manuskript vgl. Marti 2002 (wie Anm. 1), S. 105–112. – Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 84, 91. 49 Zu den teils kreuzförmigen Vernähungen in Min. 18 in Form von gekreuzten Spannfäden vgl. Jakobi-Mirwald 2022 (wie Anm. 2). Allgemein zu dem Manuskript vgl. Schaffhausen, Stadtbibliothek, Ministerialbibliothek, Min. 18: Augustinus, In Johannis evangelium tractatus, https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/sbs/min0018 [16.09.2022]. 50 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 84–86. – Trummler 2018 (wie Anm. 2), S. 179, 184. – Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 11–14. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 387. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 85 f. – Breith/Csanády/JakobiMirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 258. 51 Vgl. Trummler 2018 (wie Anm. 2), S. 179, 184. – Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 11 f. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 387. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 85 f. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 258. 52 Vgl. Sciacca 2010 (wie Anm. 2), S. 84–86. – Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 11 f. –Breith/ Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 258. 53 Vgl. Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 11 f. 54 Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 86. Dass nicht nur Nonnen, sondern auch Mönche elaborierte Stickereien anfertigten, zeigt Rozsika Parker am Beispiel des 1419 verstorbenen
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Eng verknüpft mit diesen Überlegungen sind Versuche, konkrete Aussagen über den genauen Zeitpunkt zu treffen, zu dem Vernähungen am fertigen Pergament auf den Seiten eines Manuskriptes angebracht wurden.55 Hinweise – wie Nähte aus buntem Garn, die beim Binden eines Buches übernäht wurden oder auch Farbspuren aufweisen, die ein nachträgliches Schreiben oder die spätere Anfertigung der Miniaturmalereien belegen – zeichnen ein äußerst heterogenes Bild.56 Arbeitsteilige Strukturen im Prozess der Handschriftenproduktion und die mögliche Einbindung von Frauen genauer zu konturieren bleibt – so das Resümee der Forschung – bei dem derzeitigen Kenntnisstand schwierig.57 Konnten Abläufe und beteiligte Hände im Laufe der Zeit möglicherweise sogar variieren und lassen sich damit nur punktuell festschreiben?58 Finden sich farbige Vernähungen eventuell doch auch in Manuskripten aus (semi-)religiösen (Frauen-)Kommunitäten, deren strukturelle Organisation von den eben beschriebenen Voraussetzungen für eine gemeinschaftliches Zusammenleben und künstlerisches Wirken abweicht?
Ordensbruders Thomas Selmiston auf, der unter Zeitgenossen als herausragender Stickkünstler galt; vgl. Rozsika Parker: The Subversive Stitch. Embroidery and the Making of the Feminine, New York 1989, S. 43 f. Ausführlicher zu Thomas Selmiston vgl. Glyn Davies: Embroiderers and the Embroidery Trade, in: English Medieval Embroidery. Opus Anglicanum, hg. v. Glyn Davies/Clare Browne/M. A. Michael, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum, New Haven/London 2016, S. 41–47, hier S. 46. 55 Vgl. v.a. Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 13 f. 56 Vgl. Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 13. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 85 f. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 258, 264 f. Angeregt wurde hierbei etwa auch die Überlegung, inwiefern Buchbinder farbige Vernähungen ausgeführt haben könnten. Vgl. Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 86, Anm. 58. – Breith/ Csanády/Jakobi-Mirwald 2019 (wie Anm. 2), S. 387. 57 Vgl. Csanády 2019 (wie Anm. 2), S. 11–14. – Jakobi-Mirwald 2020 (wie Anm. 2), S. 85 f. – Breith/Csanády/Jakobi-Mirwald 2021 (wie Anm. 2), S. 258, 267. 58 Im Hinblick auf die Wechselbeziehungen zwischen Textil- und Manuskriptproduktion in Engelberg weisen Christine Jakobi Mirwald und Marina Bernasconi Reusser in ihrem gemeinsamen Aufsatz (in Vorbereitung) darauf hin, dass eine Ausführung der Vernähungen durch Frauenhand (wie auch das Schreiben und Illuminieren der Manuskripte) in der Mitte des 14. Jahrhunderts sehr wahrscheinlich ist, da in der Gemeinschaft des Doppelklosters zu diesem Zeitpunkt mindestens 200 Nonnen, aber nur 20 Mönche lebten. Vgl. den Hinweis auf das mir vorliegende Manuskript des Aufsatzes in Anm. 2 dieses Beitrages.
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Weitere Beispiele für textile Anteile in Manuskripten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
Die in diesem Aufsatz näher betrachteten Pergamentnähte sind nur ein Beispiel für textile Anteile, die in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Manuskripten beobachtet werden können.59 So kamen Nadel und Faden nicht nur bei der Fertigung von Buchhüllen und beim Binden einer Handschrift zum Einsatz,60 sondern wurden im Herstellungsprozess – wie im Fall einer zweibändigen Bibel aus der Nürnberger Stadtbibliothek (Nürnberg StB Cent. III 40–41), die um 1437 und 1445 im dort ansässigen Dominikanerinnenkloster St. Katharina entstand – etwa auch genutzt, um Zettel mit Malanweisungen temporär an den entsprechenden Seiten zu fixieren.61 Sowohl im Berthold-Sakramentar (Abb. 17) als auch im Hainricus-Codex (Abb. 18) zeigen sich zusätzlich zu den in buntem Garn gefertigten Nähten farblich abgestimmte Velen aus dünnen (Seiden-)Geweben, die auch in vielen weiteren mittelalterlichen Manuskripten mit wenigen Stichen über Miniaturen und Initialen angeheftet wurden.62 59 Der folgende Überblick über weitere Beispiele erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es soll vielmehr darum gehen, die Vielfalt textiler Anfügungen in Manuskripten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu verdeutlichen. 60 Zu textilen Buchhüllen vgl. Ganz 2015 (wie Anm. 38). Vgl. ferner auch Oxford, Bodleian Library/University of Oxford: Textiles in Libraries: Context & Conservation series https:// podcasts.ox.ac.uk/series/textiles-libraries-context-conservation-series [16.09.2022]. 61 In der Nürnberger Bibel vermerkte eine Schreiberin namens Kunigunde Niklasin die Malanweisungen für die Bildinitialen auf kleinen Zetteln, die mit Fäden an den Unterrändern der betreffenden Seiten angeheftet wurden und erhalten geblieben sind (z.B. in Cent. III 40, fol. 96v: „Item do molt einen alten krancken man an eim pet und ein iunge frawen pringt im zu essen; dargestellt ist König David mit der Sunamitin Abisag“, III Rg 1,3). Vgl. hierzu Schneider 2014 (wie Anm. 42), S. 154 f. Für eine Abbildung vgl. Christine Sauer: Zwischen Kloster und Welt. Illuminierte Handschriften aus dem Dominikanerinnenkonvent St. Katharina in Nürnberg, in: Frauen – Kloster – Kunst. Neue Forschungen zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Beiträge zum Internationalen Kolloquium vom 13. bis 16. Mai 2005 anlässlich der Ausstellung ‚Krone und Schleier‘, hg. v. Jeffrey F. Hamburger u.a., Turnhout 2007, S. 113–129 mit Tf. 6 auf S. 483. 62 Zu Velen in Manuskripten vgl. Kathryn M. Rudy/Barbara Baert (Hg.): Weaving, Veiling, and Dressing: Textiles and Their Metaphors in the Late Middle Ages, Turnhout 2007 und hierin insbesondere den Beitrag Christine Sciacca: Raising the Curtain on the Use of Textiles in Manuscripts, S. 161–190. – Anna Bücheler: Ornament as Argument: Textile Pages and Textile Metaphors in Early Medieval Manuscripts, Berlin 2019, S. 74 f. – Morgan Simms Adams: Identifying Evidence of Textile Curtains in Medieval Manuscripts in the Morgan
216 | Maria Schaller Abb. 17: Textiler Schleier und farbige Pergamentnähte, Cod. New York, The Morgan Library & Museum, Berthold-Sakramentar (ca. 1215–1217), Ms M.710, fol. 86v.
Die Praxis, Pilgerzeichen und ähnliche Anhänger aus dünnem Metall in Bücher einzunähen, lässt sich vor allem in Handschriften des 15. und 16. Jahrhundert aus den südlichen Niederlanden, Nordfrankreich und England nachweisen, die von Lai*innen zur privaten Andacht genutzt wurden.63 In einem Stundenbuch aus der Library & Museum, in: Suave Mechanicals. Essays on the History of Bookbinding, Bd. 6, hg. v. Julia Miller, Ann Arbor 2020, S. 2–62. Aktuell befasst sich auch Henry Ravenhall mit diesem Thema. 63 Vgl. Megan H. Foster-Campbell: Pilgrimage through the Pages: Pilgrims’ Badges in Late Medieval Devotional Manuscripts, in: Push Me, Pull You. Imaginitive, Emotional, Physical, and Spatial Interaction in Late Medieval and Renaissance Art, hg. v. Sarah Blick/Laura D. Gelfand, Leiden 2011, S. 227–274. Kathryn M. Rudy: Sewing the Body of Christ: Eucharist Wafer Souvenirs Stitched into Fifteenth-Century Manuscripts, primarily in the Netherlands, in: Journal of Historians of Netherlandish Art 8/1 (2016), S. 1–47. – Hanneke van Asperen: The Book as Shrine, the Badge as Bookmark: Religious Badges and Pilgrims’ Souvenirs in Devotional Manuscripts, in: Domestic Devotions in the Early Modern World, hg. v. Marco Faini/Alessia Meneghin (Intersections, Bd. 59,2), Leiden 2018, S. 288–312. – Loretta Vandi: The Holy Land in Paris. Embroidering, Depicting, and Stamping the Passion in a Fifteenth-
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Abb. 18: Textiler Schleier und farbige Pergamentnaht, Cod. New York, The Morgan Library & Museum, Hainricus-Codex (ca. 1220–1225/30), Ms M.711, fol. 134r.
Zeit um 1470 in der Sammlung der Bibliothèque de l’Arsenal in Paris (MS 1176 A rés) ist ein solches aus Silberblech gefertigtes Bild der in Tarascon verehrten heiligen Martha von Bethanien zusammen mit einer in Gouache auf Pergament gemalten Veronika und einer Stickerei des von den Arma Christi gerahmten IHSMonogramms auf einer Pergamentseite arrangiert (Abb. 19).64 Nadel und Faden konnten schließlich auch dazu genutzt werden, um Druckgrafiken auf Seiten aus Papier zu befestigen. So finden sich in einem zwischen 1517 und 1523 gefertigten Gebetbuch aus der British Library (Add. MS 14042), das wahrscheinlich aus einer der Franziskaner-Terziarinnengemeinschaften von Herzogenbosch stammt, zum Teil handkolorierte Holzschnitte sowie Kupferstiche,
century Book of Hours (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, MS 1176 A rés.), in: Peregrinations: Journal of Medieval Art and Architecture 7/1 (2019), S. 43–86. – Hanneke van Asperen: Silver Saints. Prayers and Badges in Late Medieval Books, Turnhout 2021. 64 Vgl. Vandi 2019 (wie Anm. 63).
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Abb. 19: Pergamentseite mit eingenähten Symbolen der Passion Jesu Christi (Abzeichen mit der Darstellung der heiligen Martha aus Silberblech, Veronikabild in Gouache auf Pergament, Stickerei des von den Arma Christi gerahmten IHS-Monogramms), Cod. Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Stundenbuch (um 1470), MS 1176 A rés, Vorsatzblatt auf der Innenseite des Vorderdeckels.
die sowohl eingeklebt als auch mithilfe von farbigen Seidenfäden eingenäht sind (Abb. 20).65
65 Vgl. Hanneke van Asperen: Praying, Threading, and Adorning: Sewn-in Prints in a Rosary Prayer Book (London, British Library, Add. MS 14042), in: Rudy/Baert 2007 (wie Anm. 62), S. 81–120. Ausführlicher zu dem Manuskript vgl. London, British Library: Middle Dutch prayer-book […], https://searcharchives.bl.uk/primo_library/ libweb/action/display.do?tabs=detailsTab&ct=display&fn=search&doc=IAMS032002036465&indx=1&recIds=IAMS032-002036465&recIdxs=0&elementId=0&renderMod e=poppedOut&displayMode=full&frbrVersion=&dscnt=0&frbg=&scp.scps=scope%3A%2 8BL%29&tab=local&dstmp=1551748422280&srt=rank&mode=Basic&&dum=true&vl(fre eText0)=Add%20MS%2014042&vid=IAMS_VU2 [16.09.2022].
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Abb. 20: Handkolorierter Holzschnitt (um 1500) mit der Darstellung der Heiligen Familie und einer Terziarin im hortus conclusus, der auf der Papierseite des Manuskriptes eingenäht wurde, Cod. London, British Library, Gebetbuch aus einer der Franziskaner-Terziarinnengemeinschaften von Herzogenbosch (1517–1523), Add. MS 14042, fol. 61v.
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Velen und textile Registerknöpfe im Gerresheimer Evangeliar
Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit textilen Anteilen in Manuskripten als mögliche Perspektive auch für die (kunsthistorische) Erforschung von Frauenstiften interessant ist, offenbart sich mit einem abschließenden Blick auf das zwischen 1020 und 1040 datierte Gerresheimer Evangeliar im Besitz der katholischen Pfarrei St. Margareta in Düsseldorf-Gerresheim.66 Wie in den bereits genannten Weingartener Schatzhandschriften waren auch in diesem spätottonischen Prachtcodex einst Velen auf den illuminierten Seiten angeheftet. Drei noch erhaltene Schleier, die wie auf fol. 11v über (mit Gold und Silber gestalteten) Initialen und Lettern angebracht wurden (Abb. 21), weisen darauf hin, dass in diesem Beispiel Leinengewebe zum Einsatz kamen, wobei partielle Verfleckungen auf einen regen Gebrauch der Handschrift und das damit einhergehende Verhüllen und Enthüllen bestimmter Buchmalereien schließen lassen.67 Neben den noch im Manuskript verbliebenen Velen haben sich überdies vier von ursprünglich zwölf farbigen, textil gearbeiteten Textreitern an der Längsseite des Buchschnitts erhalten, mit deren Hilfe das rasche Auffinden ausgewählter Textstellen erleichtert wurde (Abb. 22).68 Nach Annemarie Stauffer sind die sogenannten Registerknöpfe im Gerresheimer Evangeliar „mit Sicherheit nicht bei der 66 Zu textilen Anteilen im Gerresheimer Evangeliar vgl. Annemarie Stauffer: Die Velen und Registerknöpfe des Gerresheimer Evangeliars, in: Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle, hg. v. Klaus Gereon Beuckers/Beate Johlen-Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 1) Köln/Weimar/Wien 2016, S. 97–102. Allgemein zum Gerresheimer Evangeliar vgl. zuletzt die einzelnen Beiträge des eben genannten Sammelbandes. Ein Volldigitalisat steht bereit unter: Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek mit Bibliothek St. Albertus Magnus: Evangeliar (Düsseldorf-Gerresheim, Kath. Pfarrei St. Margareta, ohne Signatur), https://digital.dombibliothek-koeln.de/hs/content/zoom/249369 [16.09.2022]. 67 Vgl. Stauffer 2016 (wie Anm. 66), S. 97–99. 68 Von den ehemals zwölf Textreitern haben sich nur die beiden obersten (rot/gelbgrün) und der letzte (grün) gut erhalten. Der Knopf an der sechsten Position (rot) ist stark beschädigt. An den übrigen Stellen finden sich lediglich Spuren der heute verloren gegangenen Reiter. Vgl. ebd., S. 99 f. Ein Überblick über die mithilfe der Knöpfe gekennzeichneten Seiten findet sich bei Stauffer 2016 (wie Anm. 66), S. 99. Ausführlicher zur Auswahl der Textstellen vgl. überdies auch Doris Oltrogge: Maltechnische und kodikologische Befunde zu Herstellung und Gebrauch des Gerresheimer Evangeliars, in: Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle, hg. v. Klaus Gereon Beuckers/Beate Johlen-Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 1) Köln/Weimar/Wien 2016, S. 65–96, hier S. 90–95.
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Abb. 21: Textiler Schleier aus Leinen über der mit Silber und Gold gestalteten P-Initiale, Cod. Düsseldorf-Gerresheim, Kath. Kirchengemeinde St. Margareta, Gerresheimer Evangeliar (1020–1040), ohne Signatur, f. 11v.
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Abb. 22: Textile Registerknöpfe, Cod. Düsseldorf-Gerresheim, Kath. Kirchengemeinde St. Margareta, Gerresheimer Evangeliar (1020–1040), ohne Signatur, Vorderschnitt mit Registerknöpfen.
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Anlage der Handschrift, sondern erst in der Zeit um 1400 entstanden.“69 Zur Unterstützung dieser These führt sie einen Beutel sowie eine Börse aus dem Kölnischen Stadtmuseum an, die beide wohl kurz nach 1400 in Köln oder den angrenzenden Gebieten zwischen Rhein und Maas hergestellt wurden und Schmuckknöpfe aufweisen, die in ähnlicher Weise wie die Textreiter in der Handschrift aus dem Gerresheimer Frauenstift gefertigt wurden. Es handele sich hierbei um Arbeiten, die in serieller Produktion entstanden, wenngleich für die Registerknöpfe des Evangeliars ein Goldfaden verwendet wurde, dessen außergewöhnliche Qualität, so Stauffer, als Zeichen einer hohen Wertschätzung des Manuskriptes bzw. eventuell auch als Hinweis auf eine Einzelanfertigung zu werten sei.70
Fazit und Forschungsausblick
Wie auch viele andere der hier aufgeführten Beispiele verdeutlichen die außergewöhnlichen Textreiter im Gerresheimer Evangeliar, dass die Untersuchung textiler Anteile in Manuskripten von unterschiedlichen Blickwinkeln und einer breit aufgestellten Expertise aus den verschiedenen Fachdisziplinen in besonderer Weise profitieren kann. Mit dem vorangegangenen Überblick über den Gebrauch von Nadel und Faden in mittelalterlichen wie frühneuzeitlichen Pergament- und Papierhandschriften zeigt sich zugleich, dass nicht allein interdisziplinäre, sondern auch epochenübergreifende Zugänge vielversprechend für eine zukünftige Beschäftigung mit dem in diesem Beitrag versammelten Material sind. Für eine Forschung, die sich auf (semi-)religiöse Frauengemeinschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit konzentriert, stellt sich hierbei etwa die Frage nach möglichen (Dis-)Kontinuitäten bei der Herstellung und dem Gebrauch von Büchern mit textilen Anteilen – auch im Hinblick auf Umstrukturierungsprozesse im Zuge der Reformation wie der Einrichtung von bi- und gemischtkonfessionellen (adeligen) Damenstiften. Hinsichtlich der in diesem Beitrag ausführlicher beleuchteten Vernähungen am fertigen Pergament offenbaren sich zudem gleichermaßen die Dringlichkeit einer noch zu optimierenden Verschlagwortung in Katalogen und virtuellen Handschriftenbibliotheken wie auch das Potenzial der Einrichtung einer digitalen Datenbank, um die zukünftige Erforschung dieser Thematik erfolgreich zu unterstützen. 69 Stauffer 2016 (wie Anm. 66), S. 100. 70 Vgl. ebd., S. 100–102.
Werkstattbericht aus der Stiftskirche St. Servatii in Quedlinburg Linda Herbst
Heute lässt sich für Besucher/-innen der Stiftskirche St. Servatii in Quedlinburg nur schwer nachvollziehen, dass der Quedlinburger Kirchenschatz einst zu den hochrangig ausgestatteten Frauenstiften des ottonischen Herrschaftsgebietes gehörte. Die wenigen erhaltenen Preziosen weisen aufgrund ihrer Materialität, Technik und ihres Gestaltungsanspruchs auf eine Institution von herrschaftlichem Rang hin, der nicht zuletzt durch die späteren Zuschreibungen der erhaltenen Objekte als Schenkungen der ottonischen Herrscherfamilie unterstrichen wurde. Weniger ist jedoch über den ebenso hochrangigen Reliquienbestand und die damit einhergehende Heiligenverehrung im Frauenstift bekannt. Ausführlich beschreibt die Eintragung in den Quedlinburger Annalen1 die Altarsituation zur Kirchenweihe am 24. September 1021.2 Für das Spätmittelalter wurde eine Reihe neuer Altäre gestiftet.3 Dennoch konnte die Reliquien- und Heiligenverehrung im Quedlinburger Frauenstift bisher nicht umfangreich erfasst werden. Im Rahmen der Neuausrichtung des Quedlinburger Stiftsberges und der damit einhergehenden Überarbeitung der Ausstellungskonzeption des Quedlinburger Kirchenschatzes entwickelten sich Fragestellungen zu den einst vorhandenen Altären und deren Heiligenverehrungen im Quedlinburger Frauenstift. Dies bot Anlass für die Evangelische Kirchengemeinde Quedlinburg, die noch im Bestand des Kirchenschatzes erhaltenen Reliquien vorbereitend systematisch zu erfassen. Im Frühjahr 2022 begann in einem ersten Schritt die Dokumentation der 1
Vgl. Martina Giese (Hg.): Die Annales Quedlinburgenses, MGH SS rer. Germ. 72, Hannover 2004, S. 561–566. 2 Vgl. Klaus Voigtländer: Die Stiftskirche St. Servatii zu Quedlinburg. Geschichte ihrer Restaurierung und Ausstattung, Berlin 1989, S. 182–183. – Christian Popp: Die Quedlinburger Kirchweihe im Jahre 1021. Neue Überlegungen zum altbekannten Weihebericht in den Annales Quedlinburgenses, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 72/2 (2016), S. 469–499. 3 Vgl. Voigtländer 1989 (wie Anm. 2), S. 188–191.
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Abb. 1–2: Reliquie aus dem Kästchen mit Walmdachdeckel (Kat. 15).
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vorhandenen Reliquien. Dazu wurden die Reliquien entnommen, fotografiert und beschrieben (Abb. 1 und 2). Erste Beobachtungen zu den textilen Hüllen sind von der zuständigen Textilrestauratorin dokumentiert worden. In den erhaltenen Reliquienbehältnissen des 13. bis 15. Jahrhunderts wurden zu einem bisher unbekannten Zeitpunkt Reliquien zur Aufbewahrung eingesetzt. Die Zusammentragung in den Behältnissen ist daher nicht mehr originär und hinsichtlich der Qualität und der Quantität sehr unterschiedlich. Diese erste Erfassung soll im Jahr 2022 abgeschlossen werden, um eine detailliertere Untersuchung vorzubereiten. Es stellt sich die Frage, ob die noch vorhandenen Reliquien weitere Rückschlüsse bzw. vertiefende Erkenntnisse zur mittelalterlichen Heiligenverehrung im Quedlinburger Frauenstift ermöglichen können.
Neue Forschungen zum Frauenstift Vreden Volker Tschuschke
Unter dem Titel „Heimatverein Vreden fördert Forschungen zum Frauenstift“ erschien 2011 ein Hinweis zu den damals begonnenen Forschungsprojekten zum Frauenstift Vreden von Hedwig Röckelein und ihren Schülerinnen in Göttingen.1 Etwa gleichzeitig setzte die neuerliche kunstgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Stiftskirche St. Felicitas und ihrer Barockisierung durch Julia von Ditfurth ein.2 Die Ergebnisse dieser Studien sind inzwischen teilweise vom Heimatund Altertumsverein der Vredener Lande e.V., teils aber auch in den Essener Tagungsbänden und in dieser Reihe veröffentlicht worden.3
1 Vgl. Sandra Lentfort/Volker Tschuschke: Heimatverein Vreden fördert Forschungen zum Frauenstift, in: Westmünsterland. Jahrbuch des Kreises Borken 2012, S. 121–122. 2 Vgl. Julia von Ditfurth: Wandel der Strukturen. Barockisierungsprozesse in Damenstiftsund Frauenklosterkirchen in Westfalen, Regensburg 2016. 3 Vgl. Julia von Ditfurth/Volker Tschuschke (Red.): Sankt Felicitas in Vreden. Verehrung – Kirche – Kirchenschatz (Beiträge des Heimatvereins Vreden zur Landes- und Volkskunde, Bd. 97), Vreden 2017. – Klaus Gereon Beuckers/Thomas Schilp: Vorwort der Herausgeber, in: Fragen, Perspektiven und Aspekte der Erforschung mittelalterlicher Frauenstifte. Beiträge der Abschlusstagung des Essener Arbeitskreises für die Erforschung des Frauenstifts, hg. v. Klaus Gereon Beuckers/Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 15), Essen 2018, S. 7–12, bes. S. 10–11. – Hedwig Röckelein: Reliquienbesitz und Heiligenkult. Methodologische Fragen diskutiert anhand der Vredener Stiftskirche, in: ebd., S. 291–309. – Christian Popp: Ut nulla femina ad altare praesumat accedere … Überlegungen zur kirchenrechtlichen Norm und zur liturgischen Praxis in Frauenstiften des Spätmittelalters und zum Quellenwert der Libri Ordinarii, in: ebd., S. 311–327. – Anna-Karina Renziehausen: Der Liber ordinarius des Stiftes Vreden – eine Handschriftenbeschreibung, in: ebd., S. 329–338. – Mai-Britt Wiechmann: Köln oder Münster? Liturgische Abhängigkeiten im Vredener Liber Ordinarius, diskutiert am Beispiel der Fronleichnamsliturgie, in: ebd., S. 339–348. – Hedwig Röckelein: Gründungsbauten von Frauenstiften und früher Reliquienkult. Eine Problemskizze anhand der Stiftskirchen in Gandersheim und Vreden, in: Architektur für Kanonissen? Gründungsbauten und spezifische bauliche Veränderungen von Frauenkonventskirchen im Mittelalter. Beiträge zur ersten Tagung des Forums für Frauenstiftsforschung vom 4. bis 5. November 2017, hg. v. Julia von Ditfurth/Vivien Bienert (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 1), Köln 2018, S. 21–34.
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Für Vreden bedeuteten diese Studien den Anschluss an die aktuelle Frauenstiftsforschung.4 Dennoch ist es keineswegs so, dass das Stift Vreden damit ‚ausgeforscht‘ wäre, dass es also nichts mehr zu untersuchen gäbe. Eine Arbeit zu Buchbesitz und Bildung der Vredener Stiftsdamen und Stiftskanoniker ist inzwischen von der Historischen Kommission für Westfalen zum Druck angenommen worden. Ein Desiderat bleibt vorläufig die Edition des Liber ordinarius und der Memorienbücher des Stifts. Erst dann könnten sie in ihrer gesamten inhaltlichen Breite von der Forschung gewinnbringend befragt werden: zur Rolle der Stiftsdamen in der Liturgie ebenso wie zur Verzahnung von Stift, Stadt und Bauerschaften, also den ländlichen Außenbezirken der Pfarrei bzw. der Einordnung des Stifts in im Laufe der Zeit wechselnde Bezugsfelder von anderen Stiften, Adelsgruppen und städtischem Patriziat. Ebenso wünschenswert wäre nach der Bearbeitung des Stiftsschatzes durch Lydia Zander und Kirstin Mannhardt die Beschäftigung mit zwei mittelalterlichen (Zeremonial-?) Schwertern.5 Da zu ihnen keine eindeutigen Schriftzeugnisse vorliegen, wären hier technische Untersuchungsmethoden erforderlich, wie sie etwa am Zeremonialschwert im Essener Münsterschatz oder bei frühmittelalterlichen Schwertern angewandt wurden.6 Diese Hinweise führen hinüber in den Bereich von Archäologie und Baugeschichte. Frühere Forschungen von Klaus Lange und Uwe Lobbedey aufgreifend, hat sich Finja H. Zander in ihrer Kieler Masterarbeit kürzlich mit der Hal-
4 Vgl. Julia von Ditfurth: Zur Frauenstiftsforschung aus kunsthistorischer Perspektive: Forschungsstand und Forschungsfragen, in: Architektur für Kanonissen? Gründungsbauten und spezifische bauliche Veränderungen von Frauenkonventskirchen im Mittelalter. Beiträge zur ersten Tagung des Forums für Frauenstiftsforschung vom 4. bis 5. November 2017, hg. v. Julia von Ditfurth/Vivien Bienert (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 1), Köln 2018, S. 9–20. 5 Vgl. Lydia Zander: Der Vredener Kirchenschatz. Eine Erfassung anhand der Quellen und Objekte, in: Sankt Felicitas in Vreden. Verehrung – Kirche – Kirchenschatz, red. v. Julia von Ditfurth/Volker Tschuschke (Beiträge des Heimatvereins Vreden zur Landes- und Volkskunde, Bd. 97), Vreden 2017, S. 149–170. – Lydia Zander: Die Elfenbeindosen aus dem Vredener Stiftsschatz, in: ebd., S. 171–188. – Kirstin Mannhardt: Die erhaltenen Goldschmiedearbeiten der ehemaligen Damenstiftskirche in Vreden, in: ebd., S. 189–225. 6 Vgl. Alfred Pothmann (Hg.): Das Zeremonialschwert der Essener Domschatzkammer (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen, Bd. 4), Münster 1995. – Ulrich Lehmann: Wurmbunte Klingen. Studien zu Konstruktion, Herstellung und Wertigkeit der frühmittelalterlichen Spatha in Westfalen (Veröffentlichungen der Altertumskommission für Westfalen, Bd. 21), Münster 2016.
Neue Forschungen zum Frauenstift Vreden |
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lenkrypta von St. Felicitas beschäftigt.7 Parallel dazu begannen in unmittelbarer Nachbarschaft die Bauarbeiten für das neue Pfarrhaus. Baubegleitend erfolgten in Abstimmung mit der LWL-Archäologie für Westfalen die archäologische Untersuchung des Bauplatzes durch die Mitarbeiter:innen der Salisbury GmbH und eine vom Heimat- und Altertumsverein der Vredener Lande e.V. in Auftrag gegebene Georadaruntersuchung des Kirchplatzes zwischen der Stiftskirche St. Felicitas und der Pfarrkirche St. Georg.8 Die Ergebnisse dieser kunsthistorischen und archäologischen Untersuchungen präzisieren das Bild der ehemaligen Stiftsfreiheit mit ihren beiden Kirchen ebenso wie die Grabungsbefunde, die vor einigen Jahren bei der Neugestaltung des Vorplatzes der benachbarten Bücherei und dem Umbau des früheren Hamaland-Museums zum kult Westmünsterland gemacht wurden. Daher plant der Heimat- und Altertumsverein der Vredener Lande e.V. aktuell einen Band, der diese Forschungsergebnisse und andere Bodenfunde, die bei Ausgrabungen der mittelalterlichen Burg anlässlich der Rathauserweiterung zutage traten, im Zusammenhang präsentiert und damit den bisherigen Forschungsstand aktualisiert.9 Bei Recherchen zur Unterstützung von Finja H. Zander stieß der Vereinsvorsitzende Guido Leeck im Winter 2021 zufällig im Nachlass Ferdinand von Quasts im Architekturmuseum der TU Berlin auf die Zeichnung einer „Casula in der
7
Vgl. Klaus Lange: Die Krypta der Essener Stiftskirche. Heuristische Überlegungen zu ihrer architektonisch-liturgischen Funktion, in: Essen und die sächsischen Frauenstifte im Frühmittelalter, hg. v. Jan Gerchow/Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 2), Essen 2003, S. 161–183. – Uwe Lobbedey: Die Frauenstiftskirche zu Vreden. Bemerkungen zur Architektur und Liturgie. Mit einem Anhang von Norbert Eickermann (†), in: ebd., S. 185–218. 8 Vgl. Heike Tausendfreund: Abschlussbericht 2020–2022 Vreden, Pfarrhaus St. Georg MKZ 3906,0023, Nottuln 2022. 9 Vgl. Hans-Werner Peine/Hermann Terhalle (Hg.): Stift – Stadt – Land. Vreden im Spiegel der Archäologie (Beiträge des Heimatvereins Vreden zur Landes- und Volkskunde, Bd. 69), Vreden 2005. – Otfried Ellger/Wolfram Essling-Wintzer: Stiftsimmunität und Stadtbefestigung in Vreden – eine Fortsetzungsgeschichte, in: Archäologie in WestfalenLippe 2014, S. 128–133. – Stefan Kötz: Ein Vredener Münzschatzfund aus der Spätphase des Dreißigjährigen Krieges, in: Archäologie in Westfalen-Lippe 2018, S. 168–171. – Birgit Grundmann/Kim Wegener/Andreas Wunschel: Der „schiefe Turm“ der Vredener Bischofsburg, in: Archäologie in Westfalen-Lippe 2019, S. 160–163. – Birgit Grundmann/ Heike Tausendfreund/Andreas Wunschel: Altes und Neues zur spätmittelalterlichen/ neuzeitlichen Stadtbefestigung Vredens, in: Archäologie in Westfalen-Lippe 2020, S. 161– 165.
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Stiftskirche von Vreden“ (Abb. 1).10 Nach Bestellung eines Scans dieser Zeichnung zeigte sich, dass es sich um die Perlenkasel handelt, dem nach der Sixtus-Kasel aus dem 7./8. Jahrhundert wertvollsten Parament des Vredener Kirchenschatzes.11 Die Zeichnung dürfte 1856 entstanden sein, als Ferdinand von Quast im Zusammenhang mit einer ersten Inventarisierung von Kunstdenkmälern und der Restaurierung des Antwerpener Altarretabels in St. Georg in Vreden war.12 Sie ist aber nicht nur deshalb bedeutsam, weil es die älteste Abbildung der Perlenkasel ist, deren Datierung wegen der stilistischen Einordnung der Tugendkreuzigung in das 14. oder frühe 15. Jahrhundert einerseits und der in die Zeit um 1500 gehörigen Stifterwappen der Äbtissin Maria Schenkin von Erbach (amt. 1466–1511, † 1518) andererseits unklar ist.13 Sie ist es auch deswegen, weil von Quast seine Zeichnung mit Erläuterungen zum Erhaltungs- bzw. Restaurierungszustand verschiedener Partien versehen hat. Damit ist diese Zeichnung nicht nur ein frühes Zeugnis der Textildenkmalpflege, sondern zugleich eine wichtige Quelle zur Vredener Perlenkasel. Beide, die Zeichnung und die Kasel selbst, verdienten es, sich mit ihnen zu beschäftigen und sie als Zeugnisse zu bzw. aus einem Frauenstift zum Sprechen zu bringen. Der Heimat- und Altertumsverein der Vredener Lande e.V. würde auch diese Forschungen zum Frauenstift im Rahmen seiner Möglichkeiten unterstützen. Heimat- und Altertumsverein der Vredener Lande e.V. Kirchplatz 14 48691 Vreden https://www.heimatverein-vreden.de/ [email protected] 10 Vgl. TU Berlin, Architekturmuseum, Inv.-Nr. 44207. 11 Vgl. Elisabeth Jägers u.a.: Die Sixtus-Kasel in Vreden. Untersuchung und Restaurierung einer mittelalterlichen Gewandreliquie (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen, Bd. 35), Bonn 1997. 12 Vgl. Wilhelm Elling (Red.): Der Antwerpener Altar in St. Georg, Vreden 1989; Hermann Terhalle: Die Beschreibung der beiden Vredener Kirchen (Stiftskirche und St. Georgskirche) aus dem Jahre 1855 von Pfarrer Albert Lorenbeck, in: Josef Lepping/Hermann Terhalle/Wolfgang Wispel: Quellen und Studien zur Geschichte Vredens und seiner Umgebung VI (Beiträge des Heimatvereins Vreden zur Landes- und Volkskunde, Bd. 79), Vreden 2010, S. 91–154, bes. S. 91–95. 13 Vgl. Volker Tschuschke: Verzeichnisse des Vredener Kirchenschatzes, in: Sankt Felicitas in Vreden. Verehrung – Kirche – Kirchenschatz, red. v. Julia von Ditfurth/Volker Tschuschke (Beiträge des Heimatvereins Vreden zur Landes- und Volkskunde, Bd. 97), Vreden 2017, S. 109–148, bes. S. 120–121.
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Transkription der Legende VREDEN Stickerei einer Casula der Stiftskirche In den Füßen des Pelikans gelbe Perlen – gelb[e] Perlen Links neben der Fides Die Muskulatur des Körpers mit hellem Zwirn abgenäht N(ota)bene die Haare sind von einer kortelartig zusammengedrehten Seide gemacht Die mit gelber Farbe gezeichneten Theile außer dem Lanzenschaft [und] dem des Schwammes und der Stöcke an den Füßen des Heilandes sind von vergoldetem Silberblech die genannten Theile von Goldbörtelchen Im Schwamm zwischen Christus und Spes Perlen Im Gewandsaum der [Mi]ser[i]cordia grüngelbe Perlen Links neben der Castitas mit Verweiszeichen + die Röschen von Goldperlen Im rechten Arm des hl. Johannes fahlgelb mit Gold Über seinem Buch fahlgelb mit Gold Auf seinem linken Ärmel gold
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In seinem Untergewand fahl als grün mit Gold Links von der Gottesmutter Auf dunkelrothem Sammetplüschgrunde ist die ganze Stickerei mit weißen ächten Perlen und zum Theil ziemlich Hochrelief genäht. Die mit Rotstift gemachten Contoure und Striche sind theils Goldbörtelchen, theils Goldfaden. ○ bedeutet Edelsteine in Fassung, es sind theils Ametiste, Topase, Saphire etc. etc. Granaten u(nd) Rubine, aber alles unbedeutende Steinchen. Alles was mit Farben angegeben, sind farbige Glasperlen. Die mit gelber Farbe gemachten Contouren bezeichnen alle die Theile, welche nicht ursprünglich der Stickerei angehören, sondern später am Ende des 15ten oder Anfang des 16ten Jahrh(underts) zugesetzt worden sind. Die feinen mit Schwarz gezeichneten Contoure sind mit schwarzer Seide genäht. Die Haare sind ebenfalls Seide, ebenso der rothe Mund der Figuren; dagegen ist das Blut und sonstige Roth an dem Christus von rothen Corallen. Die ächten Perlen sind übrigen[s] von ganz verschiedenen Größen. ○ Die größten ungefähr und ○ die kleinsten. Die Kreise sind in der Legende von unterschiedlicher Größe.
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Abb. 1: Ferdinand von Quast: Vreden. Stickerei einer Casula der Stiftskirche, ca. 1856.
Bildnachweise
Pavla Ralcheva Abb. 1–17: LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland, Silvia Margrit Wolf Abb. 18: Pavla Ralcheva Abb. 19: Bildarchiv Foto Marburg Abb. 20: Rheinisches Bildarchiv, rba_131091
Markus Jansen Abb. 1: Koelhoffsche Chronik (wie Anm. 11) Abb. 2–3: Foto: Markus Jansen, Köln Abb. 4: Grafik: Markus Jansen, Köln Abb. 5: Sogenanntes Heroldsbuch des Jülicher St. Hubertusordens, Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. Ms. Germ. Qu. 1479, fol. 119v Abb. 6: Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München, Inv.-Nr. WAF 623. Foto: Blauel Gnamm – ARTOTHEK
Klaus Gereon Beuckers Abb. 1 und 3: Archiv Förderverein Romanische Kirchen Köln e.V. Abb. 2: © Klaus Gereon Beuckers, Kiel Abb. 4, 7, 8: Ulrich Knapp, Leonberg Abb. 5. Toledo Museum of Art Abb. 6 (Detail): aus Kat. Hildesheim 1993 (wie Anm. 50), Bd. 1, S. 391. Abb. 9: Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München Abb. 10: Ursula Prinz, Kiel
238 | Bildnachweise Julia Noll Abb. 1: © Hohe Domkirche Köln, Dombauhütte; Foto: Glasrestaurierungswerkstatt. Abb. 2: Foto: Historisches Archiv der Stadt Köln. Urkunde HAStK, Best. 160 (Armenverwaltung (AV)), U 2/128, von der Verfasserin erstellter Bildausschnitt. Abb. 3: Foto: Historisches Archiv der Stadt Köln. Urkunde HAStK, Best. 160 (Armenverwaltung (AV)), U 1/673, von der Verfasserin erstellter Bildausschnitt. Abb. 4: © Hohe Domkirche Köln, Dombauhütte; Foto: Jennifer Rumbach.
Jörg Bölling Abb. 1: Grafik: Heiko von Ditfurth nach Wiechmann 2015 (wie Anm. 1), S. 29 und Hermann Engfer: Die Patrozinien des Domes, in: Der Hildesheimer Dom. Architektur – Ausstattung – Patrozinien, hg. v. Victor H. Elbern/Hermann Engfer/Hans Reuther (Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 41/42), Hildesheim 1974, S. 111–131, hier S. 112 f.
Gudrun Sporbeck Abb. 1, 2, 3, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 15 (Archiv Autorin), 16, 17: Gudrun Sporbeck Abb. 4: Urbanek 2010 (wie Anm. 6), S. 76, Abb. 114. Abb. 6, 18: Stephan Kube, Greven Abb. 5: Wilma Wilms, Köln Abb. 11, 12: Thomas Zwillinger, München
Maria Schaller Abb. 1, 2, 7: Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 3: Biblia latina vulgatae versionis cum prologis, https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/bke/0003 [16.09.2022] Abb. 3: Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 4: Biblia latina vulgatae versionis cum prologis, https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/bke/0004 [16.09.2022] Abb. 4, 5, 6: Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 5: Biblia latina vulgatae versionis cum prologis, https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/bke/0005 [16.09.2022]
Bildnachweise | 239
Abb. 8: Aargau, Aargauer Kantonsbibliothek, MsWettF 9: Petrus Comestor; Alexander de Villa Dei; Petrus Pictaviensis, https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/ kba/WettF0009 [16.09.2022] Abb. 9, 10, 17, 18: The Morgan Library & Museum, New York Abb. 11: Sciacca 2010 (wie Anm. 2), Fig. 3.16. Fotoaufnahme: Christine Sciacca Abb. 12: Uppsala, Universitätsbibliothek (ALVIN), C 371: Rusticanus de sanctis, http:// www.alvin-portal.org/alvin/view.jsf?pid=alvin-record%3A55999&dswid=1572 [16.09.2022] Abb. 13: Paris, BnF. Département des Manuscrits, Français 12576: Chrétien de Troyes, Gaucher de Dourdan, Mennessier et Gerbert de Montreuil, Roman de Perceval le Gallois et continuations, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b105101697 [16.09.2022] Abb. 14: Sciacca 2010 (wie Anm. 2), Plate 3. Fotoaufnahme: Christine Sciacca Abb. 15: Sciacca 2010 (wie Anm. 2), Fig. 3.11. Fotoaufnahme: Christine Sciacca Abb. 16: Schaffhausen, Stadtbibliothek, Ministerialbibliothek, Min. 18: Augustinus, In Johannis evangelium tractatus, https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/sbs/ min0018 [16.09.2022] Abb. 19: Vandi 2019 (wie Anm. 63), Fig. 3. Fotoaufnahme: Loretta Vandi Abb. 20: Van Asperen 2007 (wie Anm. 65), Plate 4 Abb. 21: Düsseldorf-Gerresheim, Kath. Kirchengemeinde St. Margareta, Evangeliar ohne Signatur, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:kn28-32683-p0028-0 [08.12.2022] Abb. 22: Düsseldorf-Gerresheim, Kath. Kirchengemeinde St. Margareta, Evangeliar ohne Signatur, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:kn28-32683-p0553-6 [08.12.2022]
Linda Herbst Abb. 1–2: Domschatzverwaltung, Elmar Egner M.A.
Volker Tschuschke Abb. 1: Technische Universität Berlin, Architekturmuseum, Inv.-Nr. 44207